Orthographische Varianten in der literalen Praxis
Empirische Untersuchung des Usus, der individuellen Repräsentationen und der Wirkung auf den Schreibprozess
0613
2016
978-3-7720-5532-4
978-3-7720-8532-1
A. Francke Verlag
Mirjam Weder
Seit der Revision der Rechtschreibreform von 2006 sind mehr orthographische Varianten explizit zugelassen als zuvor und das Phänomen der orthographischen Varianz rückt verstärkt in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Dieser Band untersucht die Auswirkungen der orthographischen Varianz auf die kollektive und individuelle literale Praxis. Zur kollektiven Praxis gehören dabei die im Sprachusus beobachtbaren Gebrauchspräferenzen und der Umgang in Regelwerken und Wörterbüchern. Dieser Teil der Untersuchung ist von der Frage geleitet, welche der jeweils zugelassenen Doppelformen sich aufgrund welcher Kriterien im Sprachgebrauch durchsetzen wird. Zur individuellen Praxis gehören die Auswirkungen auf den Schreibprozess sowie die mentalen Repräsentationen und subjektiven orthographischen Konzepte, welche die Variantenwahl im Schreiben steuern. Die Untersuchung zeichnet sich durch einen umfassenden Zugang zur Orthographie sowie durch die Methodenkombination Korpuslinguistik, Keystroke-Logging und Befragung aus.
<?page no="0"?> Orthographische Varianten in der literalen Praxis Empirische Untersuchung des Usus, der individuellen Repräsentationen und der Wirkung auf den Schreibprozess Mirjam Weder N° 95 <?page no="1"?> Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Heike Behrens, Nicola Gess, Alexander Honold, Gert Hübner, Martin Luginbühl und Ralf Simon Band 95 <?page no="3"?> Mirjam Weder Orthographische Varianten in der literalen Praxis Empirische Untersuchung des Usus, der individuellen Repräsentationen und der Wirkung auf den Schreibprozess <?page no="4"?> Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in the Germany ISSN 0067-4508 ISBN 978-3-7720-8532-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Max-Geldner-Fonds der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel. <?page no="5"?> Vorwort Die vorliegende Monographie ist eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Jahre 2012 an der Universität Basel eingereicht und im selben Jahr angenommen wurde. Im Laufe meines Projekts habe ich von verschiedenen Seiten viel Unterstützung erfahren dürfen. Mein tiefster Dank geht an meine Referentin Prof. Dr. Annelies Häcki-Buhofer für das Vertrauen in mich und mein Projekt sowie die fortwährende persönliche und fachliche Begleitung und Unterstützung. Ebenfalls zu allergrößtem Dank verpflichtet bin ich dem Ko-Referenten Prof. Dr. Thomas Lindauer, der dank seiner Expertise auf dem Gebiet der Orthographie ein anregender und im positiven Sinne herausfordernder Diskussionspartner war und der so manchen schwachen Punkt in der Argumentation aufgedeckt hat. Allfällige Mängel, die in der Arbeit noch auszumachen sind, liegen alleine in meiner Verantwortung. Mein herzlicher Dank geht auch an die Angehörigen des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim, mit denen ich mich während meines Forschungsaufenthaltes austauschen durfte, insbesondere an dessen Leiter Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ludwig Eichinger für sein wohlwollendes Interesse an meinem Projekt sowie an Dr. Kerstin Güthert, Geschäftsführerin des Rats für Deutsche Rechtschreibung, für den fachlichen Austausch und die Informationen u. a. zum Variantenbestand, die sonst nirgends greifbar gewesen wären, sowie an die Mitarbeiter des COSMAS-II-Teams, die mir bei korpustechnischen Fragen zur Verfügung gestanden haben. Zu danken habe ich auch Dr. Christine Beckert, die mir nicht nur als moralische Stütze all die Jahre zur Seite gestanden ist, sondern auch durch ihre akribisch genaue Lektüre wesentlich zu einer Differenzierung der theoretischen Teile beigetragen hat. Ohne die eigens für dieses Projekt programmierte Keystroke-Logging- Software Log&Replay wäre der experimentelle Teil des Projekts zum Einfluss von orthographischen Varianten auf den Schreibprozess nicht möglich gewesen. Unermesslichen Dank dafür gebührt René Bauer, dank dem diese Software überhaupt erst realisiert wurde und der mit zahlreichen Ideen für visuelle Darstellungen von Keystroke-Logging-Daten die enorm aufwendige Auswertung erheblich erleichtert und beschleunigt hat. Des Weiteren danke ich der Nachrichtenagentur pressetext, die es mir erlaubt hat, ihr Textarchiv für diese Untersuchung zu benützen. Last, but not least gilt mein allerherzlichster Dank auch allen Probanden und Probandinnen, die mir ihre wertvolle Zeit geschenkt haben, um an meinem Experiment teilzunehmen. Sie haben mir über die Teilnahme am Experiment hinaus in der Befragung und weiteren Gesprächen viele anregende <?page no="6"?> Einsichten in die alltäglichen Schreibpraktiken erwachsener Schreiber und Schreiberinnen sowie in Einstellungen zum Schreiben und Rechtschreiben gewährt, die mich zu weiterer Forschung inspirieren. Für die Drucklegung der Arbeit bin ich dem Max-Geldner-Fonds der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel zu Dank verpflichtet, der mir einen finanziellen Zuschuss gewährt hat. VI Vorwort <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems . . . . . . . . . . . . 7 2.1.1 Autonomieversus Dependenz-Hypothese . . . . . . . . . . . 7 2.1.2 Aufzeichnungsversus Erfassungsfunktion der Orthographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1.3 Graphie versus Orthographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.1.4 Usus - Norm - Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1.5 Prinzipien - Regeln - Einzelfestlegungen . . . . . . . . . . . . 17 2.2 Orthographie als literale Teilpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.3 Orthographie unter diachroner Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.4.1 Orthographische Kompetenz objektiviert in Textprodukten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.4.2 Orthographische Kompetenz als Teilprozess im individuellen Schreibprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.4.3 Mentale Repräsentation: Modellierung orthographischer Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.4.4 Subjektive orthographische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.4.5 Aufbau und Ausbau orthographischer Kompetenz . . . 46 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3 Zum Problem der orthographischen Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.1 Konzeptionen orthographischer Varianz: Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.2 Orthographische Varianz diachron gesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.3 Orthographische Varianz seit der Reform 1996/ 2006 . . . . . . . . 67 3.4 Gründe für orthographische Varianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.5 Bewertungen der orthographischen Varianz im Fachdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.5.1 Argumente kontra orthographische Varianz . . . . . . . . . . 72 3.5.2 Argumente pro orthographische Varianz . . . . . . . . . . . . . 76 3.5.3 Einstellung der Sprachgemeinschaft gegenüber Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 <?page no="8"?> 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.6.1 Gewichtete und gleichberechtigte Varianten . . . . . . . . . . 82 3.6.2 Darstellung im Regelwerk 1996 und Regelwerk 2006 . 83 3.6.3 Darstellung in der aktuellen Lexikographie . . . . . . . . . . 85 3.6.4 Umgang in den Medien und Nachrichtenagenturen . . 94 3.6.5 In der Volksschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.6.6 Umgang bei Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.6.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.7 Eine enge Definition orthographischer Varianten . . . . . . . . . . . 101 3.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4 Untersuchungsanlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.1.1 Phonem-Graphem-Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.1.2 Groß- und Kleinschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.1.3 Zusammen- und Getrenntschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.2 Gebrauchsfrequenzen im Vergleich verschiedener Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.3.1 Orthographische Varianten im Schreibprozess . . . . . . . 135 4.3.2 Variantenwahl und Begründungsmuster . . . . . . . . . . . . . 144 4.4 Zur untersuchten Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.4.1 Lese- und Schreibpraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.4.2 Orthographie- und schreibbezogenes Selbstkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.4.3 Repräsentation, Anwendung, Einschätzung Rechtschreibreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.4.4 Normorientierung in verschiedenen Textsorten, Domänen und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.4.5 Einstellungen gegenüber der orthographischen Varianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4.4.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.1 Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen . . . . . . . . . . . . 162 5.2.1 Einzelwortschreibungen: aufwendig/ aufwändig und selbständig/ selbstständig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.2.2 Fremdwortschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 5.2.3 Groß- und Kleinschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.2.4 Zusammen- und Getrenntschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . 178 5.3 Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 VIII Inhaltsverzeichnis <?page no="9"?> 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.1 Modellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 6.2.1 Ergebnisse Einzelwortschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 6.2.2 Ergebnisse Fremdwortschreibung ‹ tiell › / ‹ ziell › . . . . . . . 205 6.2.3 Ergebnisse Groß- und Kleinschreibung . . . . . . . . . . . . . . 206 6.2.4 Ergebnisse Zusammen- und Getrenntschreibung . . . . . 209 6.3 Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7 Variantenwahl und Begründungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 7.1 Begründungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 7.2 Umgang mit Analyse- und Kategorisierungsproblemen . . . . . 228 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen . . . . . . . . 230 7.3.1 Einzelwortschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 7.3.2 Fremdwortschreibung: ‹ ph › / ‹ f › -Varianz . . . . . . . . . . . . . . 238 7.3.3 Fremdwortschreibung ‹ tiell › - ‹ ziell › -Varianz: existentiell/ existenziell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 7.3.4 Groß -und Kleinschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 7.3.5 Zusammen- und Getrenntschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . 270 7.4 Zusammenfassung und abgeleitete Hypothesen . . . . . . . . . . . . 290 7.4.1 Einzelwortschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 7.4.2 Fremdwortschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.4.3 Groß- und Kleinschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 7.4.4 Zusammen- und Getrenntschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . 294 8 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 9 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Appendix A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Korpora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Zusammensetzung des virtuellen Korpus in DeReKo (COSMAS II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Appendix B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Einzelwortschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Fremdwortschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Groß- und Kleinschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Zusammen- und Getrenntschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Inhaltsverzeichnis IX <?page no="11"?> 1 Einleitung Orthographie gilt durch die explizite Normierung in der Kodifikation als sozial hochgradig verbindlich geregeltes System, dessen Einheitlichkeit hoch gewertet wird und das aus diesen Gründen eine geringe Variabilität aufweist (Nerius 1989: 276). Gleichwohl ist Varianz im graphischen System angelegt und Schreibungen werden erst im Zuge der orthographischen Normierung festgelegt (Neef 2005: 10). Aber auch die Norm kann Varianten vorsehen, so lassen sich bei einigen Fällen unter sprachsystematischer Perspektive nicht eindeutige Festlegungen treffen oder es müssen Kompromisse zwischen verschiedenen Ansprüchen an die Orthographie eingegangen werden, vgl. dazu etwa Gallmann (2004). Dies gilt heute ebenso für die Festlegungen durch den Rat für deutsche Rechtschreibung wie dies früher für die Redaktionen der Rechtschreibwörterbücher, allen voran der Duden und das Österreichische Wörterbuch, und noch viel früher für die zahlreichen orthographietheoretischen und -praktischen Schriften der verschiedenen Grammatiker, Verfasser von Wörterbüchern und Schulorthographien galt, die sich um die Normierung der deutschen Orthographie bemüht haben (z. B. Adelung, Grimm, Wilmanns, Sanders, Duden). Obwohl das Phänomen der orthographischen Varianz kein Novum darstellt, ist es erst seit der revidierten Fassung der Rechtschreibreform von 2006 verstärkt in den Fokus der öffentlichen Diskussionen rund um die deutsche Rechtschreibung und ihre Reform getreten. Obwohl schon in der sogenannten alten Rechtschreibung in einigen Fällen Varianten aufgeführt waren, sind seit der Rechtschreibreform von 1996 bzw. der revidierten Fassung von 2006 in allen Bereichen der deutschen Rechtschreibung mehr Varianten explizit zugelassen. So kann man heute beispielsweise regelkonform kennenlernen/ kennen lernen zusammen oder getrennt, potentiell/ potenziell sowohl nach der lateinischen Originalschreibung mit ‹ t › oder ins Deutsche integriert mit ‹ z › oder selbständig/ selbstständig nach der alten oder der reformierten Weise schreiben. Diese orthographische Freiheit wird nicht gleichermaßen positiv gewertet. Befürchtet wird etwa eine Gefährdung der Einheitlichkeit der deutschen Orthographie, eine hemmende Wirkung auf die Merkfähigkeit der Regeln sowie eine Beeinträchtigung der Lese- und Schreibprozesse (vgl. Kapitel 3.5.1). Demgegenüber steht die Auffassung, dass orthographische Normen in vielen Fällen Kompromisse zwischen systematischen Überlegungen, Berücksichtigungen des Sprachgebrauchs und der Sprachentwicklung sowie der sozio-kulturellen Eigenheiten der betreffenden Sprachgemeinschaft darstellen (vgl. 3.4). Von besonderem Interesse ist das Phänomen der orthographischen Varianz für die Weiterentwicklung der deutschen Orthographie, die seit der <?page no="12"?> Rechtschreibreform von den deutschsprachigen Ländern dem Rat für deutsche Rechtschreibung übertragen wurde. Der Rechtschreibrat hat den Auftrag, den Sprachgebrauch weiterhin zu beobachten und gegebenenfalls Änderungen am Regelwerk vorzunehmen. Dabei ist die Beobachtung des Schreibgebrauchs (Usus) und im Rahmen dessen die Entwicklung bei Variantenschreibungen besonders zentral (Vereinbarung 2006). In Bezug auf die Variantenfrage gibt es zwei Forschungsdesiderate: Erstens interessiert die Gebrauchspräferenz der jeweiligen Formen, d. h. die Frage danach, welche der jeweils zugelassenen Doppelformen sich im Sprachgebrauch durchsetzen wird und welche Kriterien dafür ausschlaggebend sind. Zweitens stellt sich die grundsätzliche und wesentlich komplexere Frage, ob orthographische Varianz prinzipiell wünschenswert ist, d. h. also die Frage nach den Vor- und Nachteilen im Umgang mit orthographischen Varianten in der kollektiven und individuellen Schreibpraxis einer Sprachgemeinschaft. Zur kollektiven Praxis gehört dabei der Umgang in den Kodifikationen (Regelwerken, Wörterbüchern), in Institutionen und Schulen; zur individuellen Praxis die mentalen Repräsentationen orthographischer Varianten, die Kriterien für die Variantenwahl, die Schwierigkeiten im Gebrauch sowie die Einstellungen der Schreibenden gegenüber der orthographischen Varianz. Die vorliegende Arbeit versucht einiger dieser Forschungslücken zu schließen, wobei verschiedene theoretische und empirische Zugänge gesucht werden. Im ersten Teil werden die orthographie-theoretischen Grundlagen aufgearbeitet und das Phänomen der Varianz darin verortet. Besonders im Fokus stehen verschiedene Konzeptionen orthographischer Varianz, die diachrone Aufarbeitung, die Fach- und Laieneinstellung sowie der Umgang in der Kodifikation und den Institutionen, wobei es festzustellen gibt, dass es an empirischen Untersuchungen in allen Bereichen außer der Untersuchung früherer Sprachstufen mangelt. Der zweite Teil, der empirische Teil, besteht aus drei Teiluntersuchungen: In der ersten Untersuchung werden Gebrauchsfrequenzen ausgewählter Varianten in verschiedenen Schreibkontexten und somit verschiedenen literalen Praktiken erhoben und kontrastiert. Es wurden anhand ausgewählter Varianten aus den Phänomenbereichen der Phonem-Graphem-Korrespondenz, der Groß- und Kleinschreibung sowie der Zusammen- und Getrenntschreibung korpuslinguistische Untersuchungen, d. h. Recherchen in großen elektronischen Textsammlungen vorgenommen. Ergänzend dazu werden Daten aus einem Schreibexperiment und einer Befragung einbezogen, die an einer Stichprobe von 44 Erwachsenen aus der Schweiz durchgeführt wurde. Diese Untersuchung ist von folgenden Fragen geleitet: - Welche Form wird bei den untersuchten Varianten präferiert? - Gibt es innerhalb der Phänomenbereiche musterhafte Präferenzen? 2 1 Einleitung <?page no="13"?> - Unterscheiden sich die Präferenzen im Vergleich der verschiedenen Datenquellen? - Wie verändern sich die Präferenzen über die untersuchten Zeiträume hinweg? Mit der Berücksichtigung mehrerer Datenquellen aus unterschiedlichen Sprachgebrauchsdomänen sollen Aussagen zum Sprachgebrauch breiter abgestützt gemacht werden können, als wenn nur eine Domäne berücksichtigt wird, wie dies oft in der Wörterbuchpraxis oder bei den Untersuchungen des Rats für deutsche Rechtschreibung gemacht wird. Die berücksichtigten literalen Praktiken umfassen das professionelle mediale Schreiben, das sich innerhalb enger verlagsinterner Richtlinien, den sogenannten Hausorthographien abspielt, das professionelle wirtschaftliche Schreiben in Firmen, das in Bezug auf die Orthographie weniger eng geführt ist als das mediale, sowie die individuellen Präferenzen einer Versuchsgruppe. In der zweiten Untersuchung soll die Wirkung orthographischer Varianten auf den Schreibprozess untersucht werden. Angestrebt wird eine Modellierung, die zu einem differenzierteren Verständnis davon führen soll, ob und wenn ja, wie und in welchem Ausmaß orthographische Varianten den Schreibfluss behindern können. Dieser Teil wird von folgenden Fragestellungen geleitet: - Wie lässt sich eine allfällige ‚ Störung ‘ des Schreibflusses durch orthographische Varianten modellieren? - Gibt es Unterschiede zwischen den untersuchten Varianten nach Repräsentation und Phänomenbereich? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde mit derselben Stichprobe von 44 erwachsenen Schreibern und Schreiberinnen ein computerbasiertes Schreibexperiment mit anschließend retrospektiver Verbalisierung durchgeführt. Die Auswertung der mittels Keystroke-Logging aufgezeichneten Schreib- und Revisionshandlungen sowie die in den Verbalisierungen (Stimulated Recall) zumindest teilweise zugänglichen, bewussten kognitiven Prozesse dienen dabei als Grundlage für eine datengeleitete Modellierung. Die dritte Untersuchung ist schließlich der kognitiven Dimension gewidmet, indem sie nach Gründen für die Präferenzen fragt. Leitfragen diese Teils sind: - Gibt es für die verschiedenen Phänomenbereiche Zusammenhänge zwischen präferierten Formen und Begründungen? - Hängen bestimmte Präferenzen mit bestimmten Begründungsmustern zusammen? - Wie sind die Begründungsmuster strukturiert? Zur Klärung dieser Frage wurde mit der gleichen Stichprobe eine Befragung durchgeführt wurde, in der nach Präferenzen und Begründungen für diese 1 Einleitung 3 <?page no="14"?> Präferenzen bei ausgewählten Varianten gefragt wurde. Mit diesem Verfahren können die im Schreibprozess zum größten Teil automatisiert ablaufenden orthographie-bezogenen kognitiven Prozesse in bewusste Entscheidungsprozesse überführt werden, die Einblick in mentale Repräsentationen orthographischer Regeln und Schemata sowie subjektive Konzepte verschaffen können. Diese mentalen Repräsentationen orthographischer Normen und subjektiver Konzepte wiederum sind Faktoren, die den zukünftigen Sprachgebrauch der Schreiber und Schreiberinnen steuern könnten. Es werden daher aus diesem Teil der Untersuchung Hypothesen abgeleitet, wie sich für die untersuchten Varianten und analoger Formen der Usus weiterentwickeln könnte. Mit der vorliegenden Untersuchung zu den Gebrauchspräferenzen orthographischer Varianten, zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibfluss sowie zu den mentalen Repräsentationen und subjektiven Konzepten soll gezeigt werden, wie mit der orthographischen Varianz in der literalen Praxis umgegangen wird. Es wird jedoch nur auf das Schreiben und nicht auf das Lesen fokussiert. Die Untersuchung von Leseprozessen würde ganz andere Untersuchungsmethoden bedingen. Abschließend sollen noch folgende Bemerkungen diese Arbeit im aktuellen Diskurs zur Rechtschreibreform einordnen: Die vorliegende Untersuchung erfolgt auf der Prämisse, dass für die ausgewählten Varianten je nach Perspektive, die auf die Orthographie als System und als Phänomen der Schriftkultur eingenommen wird, andere Schreibweisen bevorzugt werden müssen. Orthographische Varianten werden somit nicht als Ausdruck einer unzulänglichen Kodifikation gewertet, sondern als Kristallisationspunkt unterschiedlich wirkender Konzeptionen, Vorstellungen und Entwicklungen. Es ist und kann somit nicht Ziel dieser Arbeit sein, durch empirische Methoden quasi zu entscheiden, welche Form nun angemessener oder gar korrekter sei - was auch immer unter diesen Begriffen in Bezug auf die Orthographie zu verstehen ist. Ebensowenig wird angestrebt, mit dieser Arbeit eine Bewertung der Rechtschreibreform vorzunehmen. Es soll im Gegenteil versucht werden, nach dem zur Überhitzung neigenden Laien- und Fachdiskurs wieder stärker eine grundlagenwissenschaftliche Sichtweise auf die Orthographie bzw. das Phänomen der Varianz zu gewinnen. 4 1 Einleitung <?page no="15"?> 2 Theoretischer Hintergrund Varianz als Phänomen der Schreibung und Rechtschreibung trat vor allem seit der Reform (1996) bzw. noch stärker seit der Revision der Reform (2006) ins fachwissenschaftliche Interesse und öffentliche Bewusstsein. Die Äußerungen dazu zeigen meist, dass orthographische Varianz als Problem wahrgenommen wird, als Störfall der normalerweise eindeutig geregelten Schreibweisen von Lauten, Worten oder Wortgruppen. Unter orthographischer Varianz wird zunächst ganz rudimentär das „ Nebeneinander unterschiedlicher Schreibweisen “ (Gallmann 2004: 38) verstanden. Eine weitergehende Diskussion der verschiedenen Konzeptionen von orthographischer Varianz sowie eine Präzisierung des Begriffs folgt in Kapitel 3. In der vorliegenden Arbeit soll orthographische Varianz in einem umfassenden Kontext untersucht werden, wobei sowohl der kollektive als auch der individuelle Umgang mit der Varianz interessiert. Diese Unterscheidung wurde von Glück schon vor über 20 Jahren für Literalität im Allgemeinen formuliert (Glück 1987: 12): Unter Schriftlichkeit ist zweierlei zu verstehen: einerseits ein gesellschaftlicher Zustand, der durch die Analyse eines Kanons und der ihn begründenden Wert- und Normvorstellungen beschreibbar ist, andererseits eine individuelle Fähigkeit, die es den einzelnen Mitgliedern der betreffenden Gesellschaft erlaubt, sich in diesem Prozess der Schriftlichkeit funktional mehr oder weniger angemessen zu bewegen, sich literal zu verhalten. 1 Diese umfassende Sichtweise verlangt nach verschiedenen orthographietheoretischen Zugängen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden sollen. Dabei wird Orthographie nicht nur als strukturelle Eigenschaft der Schriftsprache oder als eine sprachformale Anforderung an Texte verstanden, sondern darüber hinaus sowohl unter sozio-kulturellen, kognitiven als auch subjektiven Aspekten betrachtet. Damit wird Orthographie einerseits aus der Perspektive der Textproduktion in einem Handlungsmodell des Schreibens eingebettet, das über eine Vorstellung von Schreiben als reine Fertigkeit oder Technik hinausgeht, analog etwa zu Feilke (2011) mit seiner Unterscheidung zwischen Struktur-, Handlungs- und Kulturaspekten literaler Kompetenz oder zu Wrobel (1995: 21), der davon ausgeht, dass für Schreibhandlungen „ kognitive, sprachliche und sozial-kommunikative Faktoren gleichermaßen eine Rolle spielen. “ Die kognitive Dimension - bei Feilke (2011) der Handlungsaspekt - zielt auf den Schreibprozess und die dabei ablaufenden kognitiven Prozesse. Dies 1 Der Begriff „ gesellschaftliche Zustand “ wird von Glück an anderer Stelle präziser mit „ dynamischer Prozess “ umschrieben Glück (1987: 13). <?page no="16"?> wird seit den frühen 80er-Jahre oft unter der Perspektive von Schreiben als Problemlösen betrachtet (Flower/ Hayes 1981; Bereiter/ Scardamalia 1987). Die sprachliche Dimension von Schreiben - entspricht dem Strukturaspekt bei Feilke (2011: 4) - bezieht sich auf die Verwendung der geschriebenen Sprache, dies umfasst schriftsprachliche Mittel und Formen ebenso wie die Einhaltung der Normen der geschriebenen Sprache. Unter der sozialen Dimension wird die Tatsache gefasst, dass Schreiben Teil einer soziale Interaktion ist, vgl. Wrobel (1995: 18 - 20) nach Nystrand (1989), und somit immer in soziale, aber auch kulturelle Zusammenhänge eingebettet ist; sie soll nachfolgend treffender als sozio-kulturelle Dimension bezeichnet werden. Hinzugefügt werden müsste noch eine Dimension, die hier die subjektive Dimension genannt wird und welche die habituelle und okkasionelle Schreibmotivation, die Emotionen, die Schreibende generell mit dem Schreiben und einem konkreten Schreibprozess assoziieren, sowie das Selbstkonzept als Schreiber bzw. Schreiberin umfasst, zusammenfassend dargestellt in Pajares (2003). Orthographie aus der Perspektive der Textproduktion wird also in ein mehrdimensionales Modell von Schreibhandeln eingebettet, das eine sprachlich-kommunikative Dimension, eine kognitive Dimension, eine sozio-kulturelle Dimension sowie eine subjektive Dimension umfasst. Andererseits wird Orthographie in einem umfassenden gesamtgesellschaftlichen Modell der Schriftlichkeit oder Literalität eingebettet (Glück 1987: 118): [. . .] ein umfassendes Modell der geschriebenen Sprachform [darf] nicht beschränkt werden [. . .] auf ein Modell seiner inneren, linguistischen Struktur, sondern [muss] ergänzt werden [. . .] durch Modelle über äußere Einflussfaktoren, also gesellschaftliche, politische, juristische, religiöse usw. Faktoren, die auf Schriftsysteme, ihre Entwicklung und vor allem ihre Verwendung einwirken. Dieses Literalitätsmodell steht in weiten Teilen der angelsächsischen Forschungstradition der New Literacies Studies nahe, vgl. etwa Barton (1994), Papen (2005); Prior (2008), wurde allerdings bis anhin zu Unrecht eher selten für orthographische Forschungsfragen berücksichtigt. Die Ausnahme bildet dabei Sebba (2009) und die im Band von Jaffe et al. (2012) versammelten Untersuchungen. Auf die Orthographie bezogen lassen sich auf diesem Hintergrund verschiedene Forschungszugänge unterscheiden, die im Folgenden skizziert werden sollen: - Systemperspektive: Orthographie als Teilsystem des (Schrift-)Sprachsystems, wobei für diese Untersuchung nur das Sprachsystem der Standardsprache berücksichtigt wird; - Sozio-kulturelle Perspektive: Orthographie als Teilpraxis der literalen Praxis einer Gemeinschaft bzw. eines Individuums; - Diachrone Perspektive: Orthographie als ein sich über die Zeit entwickeltes Produkt der literalen Praxis und Reflexion einer Sprachgemeinschaft; 6 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="17"?> - Kognitive Perspektive: Orthographie als Teilbereich des schriftsprachlichen Wissens und der Schreibkompetenz eines Individuums (mentale Repräsentationen) operationalisiert als Teil der Textqualität eines Textproduktes sowie als Teilprozess im individuellen Schreibprozess. Es ist nicht anzunehmen, dass eine dieser Perspektiven exhaustiv das Phänomen der orthographischen Variation zu beschreiben mag, fokussieren sie doch je andere Aspekte der Orthographie. Folglich sind alle vier Perspektiven im Rahmen dieser Arbeit bedeutsam und deren Grundbegriffe sollen nachfolgend mit Blick auf die orthographischen Varianten geklärt werden. 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems Orthographie kann als Teilsystem des (Schrift-)Sprachsystems beschrieben und in dieser Eigenschaft auf ihre strukturellen Eigenschaften hin untersucht werden. Unter Sprachsystem wird hier nur das Sprachsystem der Standardsprache gefasst, es wäre theoretisch aber auch denkbar, dies auch auf die Verschriftung von (Sub-)Varietäten auszudehnen, wie dies heute etwa in Computer Mediated Communication praktiziert wird. Konventionellerweise wird das orthographische System in folgende Teilbereiche gegliedert, vgl. dazu etwa das Amtliche Regelwerk (2006), wobei die Interpunktion nicht immer darunter gefasst wird: - Laut-Buchstaben-Beziehungen (Phonem-Graphem-Korrespondenzen) bzw. Buchstaben-Laut-Beziehungen (Graphem-Phonem-Korrespondenzen) - Groß-/ Kleinschreibung - Getrennt-/ Zusammenschreibung - Schreibungen mit Bindestrich - Zeichensetzung (Interpunktion) - Worttrennung Wenn von Orthographie als Teilsystem des Schriftsprachsystems die Rede ist, gilt es einige grundlegende Positionen und Aspekte auseinanderzuhalten. 2.1.1 Autonomieversus Dependenz-Hypothese Die Frage, ob die geschriebene Sprache als autonomes oder von der gesprochenen Sprache abhängiges System zu konzipieren sei, steht im Kern der meisten orthographietheoretischen Auseinandersetzungen, dazu unterscheiden sich auch die Forschungspositionen erheblich, vgl. zusammenfassend dazu Dürscheid (2006: 35 - 42), Neef (2005: 4 - 8), Gallmann (1985: 1 - 3) oder ausführlich Glück (1987: 57 - 110). Dabei lassen sich theoretisch zwei Extrem- 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 7 <?page no="18"?> Positionen unterscheiden, die jedoch praktisch kaum in diesen Extremen, sondern nur in verschiedenen Abstufungen erscheinen Neef (2005: 4 - 8): Die Autonomie-Hypothese geht davon aus, dass gesprochene und geschriebene Sprache als zwei Systeme zu verstehen sind, so etwa die Herausgeberinnen des Sammelbands Schriftsystem und Schrifterwerb (Bredel/ Müller/ Hinney 2010) oder Maas (1994). Einer moderaten Form der Autonomie-Hypothese folgt Gallmann (1985), der davon ausgeht, dass „ gesprochene und geschriebene Standardsprache als zwei eigenständige, aber aufeinander beziehbare Subsysteme der deutschen Sprache “ zu verstehen sind (Gallmann 1985: 3) 2 . Als Indizien für die Autonomie nennt er u. a. die Tatsache, dass sich nicht all intonatorischen Aspekte verschriften lassen und dass das Schriftsystem seinerseits „ graphische Mittel “ entwickelt hat, welche die Darstellung von Dingen erlauben, die in der mündlichen Sprache nicht ausgedrückt werden können, z. B. Tabellen oder dergleichen (Gallmann 1985: 2). Die Dependenz- Hypothese hingegen geht davon aus, dass die geschriebene Sprache ein Abbild der gesprochenen Sprache ist, wobei oft die gesprochene Sprache implizit mit „ Sprache an sich “ (Gallmann 1985: 3; Hervorhebung im Original) gleichgestellt wird. Diese Auffassung wird de Saussure, Paul sowie Bloomfield zugeschrieben (Glück 2000: 130). Einer moderaten Form der Dependenz-Hypothese folgt Neef (2005), der in der Schriftsprache keine „ Abbildfunktion “ (Neef 2005: 6) sieht sowie ganz grundsätzlich die „ Dichotomie von Autonomie und Dependenz “ als wenig fruchtbar erachtet (Neef 2005: 8). Er sieht als „ Kernfunktion von Schriftsystemen “ das „ Rekodieren “ , die „ Rekonstruktion des durch diesen Code vermittelten zugrundeliegenden Codes des Sprachsystems “ und schlägt deshalb das „ Rekodierungsmodell “ vor (Neef 2005: 7). Die Extremposition der Autonomie-Hypothese ist insofern zu verwerfen, als wohl niemand bestreiten kann, dass es in einer Alphabetschrift systematischen Bezüge zwischen Schriftzeichen und Phonemen gibt. Eine Extremform der Dependenzform ist ebenso zu verwerfen. Dass die geschriebene Sprache nicht nur die lautliche Form der Sprache in materielle Zeichen überführt, die dann im Leseprozess wieder in ihre lautliche Form zurückgeführt werden, dürfte schon daran einfach zu erkennen sein, dass nicht alle Schriftsysteme Laute oder Silben verschriften wie die Alphabet- oder Silbenschriften, sondern auch sogenannte Logogramme, d. h. Lexemschreibungen in logographische Schriften wie größtenteils das chinesische oder sumerische Schriftsystem. 2 Wie eingangs schon erwähnt, bleiben an dieser Stelle Schreibformen ausgeklammert, die Mündlichkeit verschriftlichen, wie z. B. die Mundartliteratur, die computerbasierte Kommunikation wie Chat oder informellen E-Mails oder Social Networks, oder gesprochene Sprache, die ein gesprochener Schreibstandard ist, wie zum Beispiel das Vortragen von Vortragsmanuskripten und dergleichen, Gallmann nennt diese Formen „ sekundär gesprochene Schreibstandardsprache “ respektive „ sekundär verschriftete Sprechtstandardsprache “ (Gallmann 1985: 3). 8 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="19"?> In der Frage nach Dependenz versus Autonomie ist eine Betrachtung der diachronen Dimension erhellend - darauf verweisen sowohl Glück (1987: 108/ 109) wie auch ausführlicher Knoop (1993). Während die geschriebene Sprache im europäischen Kulturraum früher vornehmlich als Vorlage für das Vorlesen/ Vortragen diente und somit subsidiär zur gesprochenen Sprache erschien, konnte sie sich mit dem Einsetzen der Sprachreflexion - im deutschen Sprachraum ab dem 18. Jahrhundert mit z. B. Herder oder Adelung - zunehmend von der gesprochenen Sprache lösen und insbesondere durch Normierung und Kodifikation einen eigenen Status erlangen (Knoop 1993). So lässt sich etwa an einem Schriftsystem wie dem deutschen diachron beobachten, dass im Zuge von Grammatikalisierungsprozessen der ursprünglich enge Bezug zur Phonologie durch den Einbezug anderer grammatischen Ebenen wie Morphologie und Syntax konkurrenziert wurde (Glück 2000: 3608). 3 Ebenfalls nicht vergessen werden darf, dass sich die heutige geschriebene Sprache im Normalfall - die aktuelle Tendenz in der computerbasierten Kommunikation Dialekt zu verschriften, bleibt hier ausgeklammert - auf ein abstraktes Konstrukt der Standardsprache bezieht, das regionale Varianten nivelliert. Abschließend lässt sich mit Nerius (2003: 2461) festhalten: Entwickelte Kultursprachen existieren normalerweise in zwei Ausprägungen: als gesprochene und als geschriebene Sprache. Beide Existenzweisen verfügen als Bestandteile einer Sprache über Gemeinsamkeiten in verschiedenen Teilbereichen, darüber hinaus besitzen sie jedoch bestimmte funktionale und strukturelle Besonderheiten, die sich überdies im Laufe der geschichtlichen Entwicklung durchaus verändern können. Somit erscheint eine gemäßigte Hypothese in Bezug auf Autonomie/ Dependenz als plausibel und wird auch dieser Arbeit zugrunde gelegt, indem von zwei Ausprägungen der Sprache, nämlich einer schriftlichen und einer mündlichen, ausgegangen wird, die sich zwar auf das gleiche Sprachsystem beziehen, aber doch ihrer eigenen Systemlogik folgend über Idiosynkrasien verfügen. 2.1.2 Aufzeichnungsversus Erfassungsfunktion der Orthographie Orthographie kann unter der Leser- oder der Schreiberperspektive betrachtet werden. So unterscheidet Nerius (2003: 2463) zwischen einer „ Erfassungsfunktion “ der Orthographie, die ein möglichst effizientes Dekodieren der Informationen und gegebenenfalls Überführen in lautliche Strukturen verlangt, und einer „ Aufzeichnungsfunktion “ , die ein möglichst effizientes 3 Anders jedoch Maas (1994: 4), der davon ausgeht, dass Schriftsysteme seit Beginn der Literalisierung in der westlichen Kultur als Systeme sui generis zu betrachten seien, da die ersten Texte Rechnungsbücher bzw. symbolische Texte gewesen seien, deren Funktion nicht das Verschriften mündlicher Sprache gewesen sei. 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 9 <?page no="20"?> Festhalten von Inhalten und Formen ermöglichen soll (Kodieren) und somit leicht handhab- und lernbar sein sollte. Beide Sichtweisen fokussieren je unterschiedliche Aspekte der Orthographie bzw. stellen andere Anforderung an die Orthographie. Ein Primat der Erfassungsfunktion wird und wurde vor allem von Gegnern der Rechtschreibreform vertreten, z. B. von Ickler (1997: 12), der in der „ Orientierung an den Bedürfnissen des Lesers [. . . den] Schlüssel zum Verständnis der Rechtschreibung und zur Beurteilung der Rechtschreibreform “ sieht. Eisenberg spricht gar von einer „ Leseorthographie “ , die sich im Rahmen der Herausbildung der „ leserorientierten (und zwar am leisen Lesen orientierten) Literalität “ herausgebildet habe (Eisenberg 2006: 138). Auch (Neef 2005) vertritt im Grunde in seiner umfassenden Arbeit zur Graphematik des Deutschen mit seinem Rekodierungsmodell ein auf den Leser fokussiertes Schriftsystem. Und Ossner (2006 b: 149) sieht Schreiben und Rechtscheiben vor allem im Dienste des Dekodierens: Die deutsche Orthographie ist eine, bei der der Schreiber im Dienste des Lesers steht. Worüber der Schreiber (möglicherweise) stöhnt, weil ihm besondere Kenntnisse abverlangt werden, darüber freut sich der Leser, der davon profitiert. Dies zeige sich insbesondere an folgenden Eigenheiten der deutschen Orthographie: Schemakonstanz (Stammschreibungen), Zusammenschreibung, Großschreibung von Substantiven sowie der Kommasetzung. Ähnlich auch Munske (2000: 60), der in einer Aufarbeitung seiner Mitwirkung an der Reform bzw. seinen Austritt aus der Kommission damit begründet, dass die Reform den Bedürfnissen des Lesers nicht entgegenkomme: In der jüngeren Entwicklungsgeschichte der Rechtschreibung hat vielmehr e i n e Funktion vorrangig Bedeutung erhalten: die syntaktische, morphologische und lexikalische Struktur des Deutschen für Leser schnell erkennbar zu machen. Fast alle Kompliziertheiten der Rechtschreibung finden eine Begründung, zumeist auch eine Rechtfertigung in dieser Hauptfunktion. Die Diskussion der Reform spitzte sich zu auf die Frage, wem sie dienen soll - dem Schreiber und Schreiblerner oder dem Leser? Für Leser gab es kaum Reformbedarf. Vielmehr mußten sie fürchten, aus lang geübten Gewohnheiten gerissen zu werden. Demgegenüber gibt es m. W. keine theoretische oder praktische Untersuchung, die explizit ein Primat der Aufzeichnungsfunktion von Orthographie vertritt. Diese Position existiert lediglich als eine von den Reformgegnern den Reformern zugeschriebene Position - wenn nicht gar von unterstellter Position gesprochen werden müsste, vgl. z. B. Ickler (1997). Die Aufzeichnungsfunktion tritt lediglich in der Gegenüberstellung und Verbindung auf, z. B. bei Nerius (2003: 2463), der die Herausbildung von Schriftsystemen als Ausbalancieren zwischen den Anforderungen der Aufzeichnungsfunktion und den Anforderungen der Erfassungsfunktion sieht, ähnlich auch bei Rahnenführer (1989: 289/ 290) oder unter sprachdidaktischer Perspektive bei Augst/ Dehn (2007: 24 ff.). 10 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="21"?> Zu kritisieren gibt es an den Positionen, die ein Primat der Erfassungsfunktion vertreten, dass fälschlicherweise davon ausgegangen wird, dass es für Schreibende das einfachste und effizienteste sei, wenn alle Formen lautgetreu verschriftet würden - als wäre der Schreibprozess lediglich ein Kodieren von lautlichen Strukturen. Dahinter versteckt sich wohl unreflektiert eine extreme Form der Dependenz-Hypothese. Neuere kognitive Untersuchung können jedoch zeigen, dass im Schreibprozess sowohl das Vorgehen von Kodieren von Lauten in Schriftzeichen ( ‚ sublexical process ‘ ) als auch das ganzheitliche Abrufen von Wortformen ( ‚ lexical process ‘ ) gewählt werden können, was als „ dual route “ (Zwei-Wege-Theorie) bezeichnet wird, vgl. dazu etwa Tainturier/ Rapp (2000: 263 ff.). So argumentieren denn auch Augst/ Dehn (2007) in ihrer Einführung in die Rechtschreibung und den Rechtschreibunterricht für die „ Zwei-Wege-Theorie “ , dass beim Schreiben (aber auch in umgekehrter Richtung beim Lesen) entweder via Abrufen eines Schreib- oder Graphemschemas (gespeicherte lexikalische Form) oder aber, falls kein Schreibschema abrufbereit ist, via Phonem-Graphem-Korrespondenz eine Schreibung erzeugt wird (Augst/ Dehn 2007: 39/ 40). Konkret bedeutet dies natürlich, dass auch Phänomene wie das Stammprinzip (Schemakonstanz bei Stamm- Morphemen) im Schreibfluss entlastend wirken können und deshalb nicht nur eine Erfassungsfunktion, sondern auch die Aufzeichnungsfunktion wahrnehmen. Wir können also festhalten, dass es geradezu unsinnig und empirisch nicht fundiert ist, der Orthographie lediglich eine Erfassungs- oder eine Aufzeichnungsfunktion zuzuschreiben; im Gegenteil muss davon ausgegangen werden, dass Orthographie sowohl das Aufzeichnen wie das Erfassen unterstützen soll. Es lassen sich jedoch Eigenheiten der Orthographie, insbesondere auch der deutschen Orthographie, festmachen, die eher das Aufzeichnen oder eher das Erfassen unterstützen. Sie wurden in (Augst/ Dehn 2007: 41) zusammengetragen und beinhalten u. a. für das Aufzeichnen die Phonem-Graphem-Korrespondenz und u. a. für die Erfassungsfunktion die Kommasetzung, die unterschiedliche Schreibung von Homonymen wie z. B. Lied-Lid (vgl. unten) sowie die Stammschreibung, die jedoch m. E. auch durchaus den Produktionsprozess entlasten kann. Dass diese beiden Perspektiven sich nicht unvereinbar gegenüberstehen müssen, sondern auch äußerst fruchtbar verbunden werden können, zeigt sich weitergehend auch in der optimalitätstheoretischen Arbeit von Wiese (2004), der eine Korrespondenz zwischen phonologischem Input und orthographischem Output sowie eine Korrespondenz zwischen orthographischem Input und phonologischem Output annimmt (Wiese 2004: 313/ 314). Die Frage nach der Bedeutung der Aufzeichnungsfunktion versus Erfassungsfunktion ist nicht nur aus einer orthographietheoretischen Perspektive von Interesse, sondern auch hinsichtlich der Konzepte, die orthographischen Entscheidungen zugrunde liegen. Im Rahmen dieser Untersuchung interessierte dann vor allem bezüglich dem Wahlverhalten bei orthographischen 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 11 <?page no="22"?> Varianten, ob eher die Erfassungs- oder die Aufzeichnungsfunktion im Vordergrund stehen. 2.1.3 Graphie versus Orthographie Eine grundlegende Abgrenzung im Rahmen der Betrachtung von Orthographie als Teilsystem des Schriftsprachsystems und insbesondere auch mit Blick auf die Frage nach den orthographischen Varianten ist diejenige in Graphie und Orthographie. Die Graphematik als Wissenschaft der Graphie beschäftigt sich mit der Erfassung und Beschreibung des Schriftsystems einer Sprache und wird oft - wenn auch nicht ganz adäquat - als schriftsprachliches Pendant zur Phonologie umschrieben, indem die jeweiligen Grundeinheiten Phonem bzw. Graphem analog gesetzt werden, vgl. etwa Dürscheid (2006: 125 ff.), Eisenberg (2005: 66) oder Rogers (2005: 10/ 11). Mit der Orthographie hingegen werden auf der Grundlage der graphematischen Analyse Normen festlegt und beschrieben. Mit anderen Worten geht es bei der Graphematik darum, innerhalb eines Schriftsystems mögliche Schreibungen mittels Analyse des betreffenden Schriftsystems zu isolieren - dies soll in Anlehnung an Neef (2005: 2) einen „ graphematischen Lösungsraum definieren “ genannt werden. Im Gegensatz dazu geht es bei der Orthographie darum, unter den möglichen Schreibungen die richtige auszuwählen und als Norm festzusetzen, d. h. um die Selektion innerhalb des graphematischen Lösungsraums und die Setzung einer Norm (Neef 2005: 10, Dürscheid 2006). Um das mit einem von Neef (2005: 10) angeführten, oft zitierten und hier leicht modifizierten Beispiel zu illustrieren: die Lautkette/ val/ lässt sich innerhalb des deutschen Schriftsystems schreiben als ‹ val › , ‹ vaal › , ‹ vahl › , ‹ wal › , ‹ waal › , ‹ wahl › , aber nicht als ‹ wul › , ‹ war › , ‹ fal › , ‹ schal › oder dergleichen (Groß-/ Kleinschreibung bleibt hier der Einfachheit halber ausgeklammert). Es liegt nun an der Orthographie in diesem Fall festzulegen, dass die korrekte Schreibung für das Säugetier ‹ Wal › und für die Entscheidungsmöglichkeit ‹ Wahl › ist. Der graphematische Lösungsraum hat sich konventionell herausgebildet und lässt sich deskriptiv beschreiben, orthographische Selektionen werden explizit geregelt (Fuhrhop 2007: 3, Neef 2005: 8) und sind somit präskriptiv. Es handelt sich aber bei der Orthographie nicht, wie dies bei Fuhrhop nachzulesen ist, um „ eine willkürliche Normierung “ (Fuhrhop 2006: 1), sondern, wie oben beschrieben, um eine Selektion innerhalb des graphematischen Lösungsraums. Dazu Neef (2005: 2/ 3): Jede Schreibung, die dazu geeignet ist, in regulärer Weise eine bestimmte Lautung erkennbar zu machen, ist eine graphematisch lizenzierte Schreibung für diese Lautung. Solche Schreibungen bilden den graphematischen Lösungsraum für eine bestimmte Lautung. Wenn dieser Lösungsraum genau ein Element enthält, ist zu vermuten, dass dieses die orthographisch korrekte Schreibung für die fragliche Lautung sein wird. Typischerweise enthält ein solcher Lösungsraum aber mehr als 12 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="23"?> ein Element. Dann ist die orthographische Komponente des Schriftsystems aufgerufen, aus der Menge graphematisch möglicher Schreibung die konventionell richtige auszuwählen. Die basalen Analyseeinheiten in der Graphematik sind, wie oben dargelegt, die Grapheme oder nach (Gallmann 1985) die graphischen Elemente. Die Auffassungen darüber, was als Graphem zu gelten hat, gehen auseinander. Der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen Ansätze dürfte sein, dass es sich hierbei um „ die kleinsten segmentalen Einheiten des Schriftsystems “ handelt (Eisenberg 2005: 66) bzw. um „ die kleinsten schreibsprachlichen Struktureinheiten, die sich sowohl formal wie funktional definieren lassen “ Gallmann (1985: 10). Grapheme dürfen jedoch nicht mit Buchstaben verwechselt werden; Buchstaben oder Buchstabenverbindungen bilden in Alphabetschriften lediglich die Elemente der Grapheme 4 . Hier zwei Beispiele für Grapheme: (1) Das Graphem ‹ a › repräsentiert das Phonem/ a/ oder/ ɑ : / . (2) Das Graphem ‹ sch › repräsentiert das Phonem/ ʃ / . Die Tatsache, dass die unter Beispiel (1) und (2) genannten Grapheme spezifische Phoneme repräsentieren, wird aus der Schreiberperspektive mit dem Begriff Phonem-Graphem-Korrespondenz (PGK) gefasst; aus der Leserperspektive mit Graphem-Phonem-Korrespondenz (GPK). Orthographische Systeme wie z. B. das Italienische, die eine relativ eindeutige, reguläre Phonem- Graphembzw. Graphem-Phonem-Beziehung aufweisen, werden flache orthographische Systeme genannt, Orthographien, die diesbezüglich sehr irregulär sind als tiefe, z. B. das Englische oder Französische; das Deutsche gilt als mitteltiefes orthographisches System, das heißt, dass die GPK bzw. PGK zu einem größeren Teil regulär und transparent sind (Augst 2004: 647). Den Graphembegriff definitorisch weitergehend und präziser zu fassen, erweist sich als äußerst schwierig, da damit verschiedene theoretische Vorannahmen verknüpft sind. Im Rahmen der Dependenz-Hypothese etwa erscheint das Graphem als „ die schriftliche Repräsentation eines Phonems “ (Dürscheid 2006: 129) oder einer Phonemverbindung, das mit Bezug auf das korrespondierende Phonem ermittelt wird, vgl. dazu auch (Günther 1988: 72). Im Rahmen einer extremen Autonomie-Hypothese hingegen ist ein Graphem „ die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der schriftlichen Sprache “ (Günther 1988: 72). Es ist genau dieser Punkt, der die oben erwähnte Gleichsetzung der Graphematik mit der Phonologie fragwürdig erscheinen lässt. Wird das Grapheminventar einer Alphabetschrift analog wie das Phoneminventar nur mittels Minimalpaar-Analyse bestimmt, verstellt dies den Blick auf die Tatsache, dass Grapheme eben doch Phoneme repräsentieren bzw. als Phoneme dekodiert werden können, wenn auch nicht aus- 4 Es wird hier darauf verzichtet, noch weitergehend zwischen Graphen, Graphemen und Phonographemen zu unterscheiden, wie dies in Nerius et al. (2007: 108) gemacht wird. 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 13 <?page no="24"?> schließlich, wie dies selbst Eisenberg als Vertreter der Autonomie-Hypothese annimmt (Eisenberg 1988). Wird hingegen das Verständnis von Graphemen auf ihre phonologische Repräsentationen verengt, ist es a) fraglich, wieso es den Graphembegriff überhaupt braucht, ist er doch lediglich die visuellmaterielle Repräsentation eines Phonems (Günther 1988: 76), b) taugt der Graphembegriff nur für Alphabetschriften (Dürscheid 2006: 130) und c) können für die deutsche Sprache spezifische Phänomene wie die Groß- Kleinschreibung, die Zusammen- oder Getrenntschreibung nur schwer im Rahmen der Graphematik geklärt werden. Konsequenterweise trennen sich an diesem Punkt auch die Positionen, was alles unter den Graphem-Begriff zu fassen sei. Während Neef (2005: 8) und Glück (1987: 23/ 24) letzen Endes nur diejenigen Einheiten dazu zählen, die phonologische Repräsentationen darstellen, gehören für Dürscheid (2006) auch Elemente dazu, welche sich auf die Größen Silben, Morpheme und syntaktische Phrasen beziehen, und bei Gallmann darüber hinaus auch Elemente, die sich auf Typographisches beziehen (Gallmann 1985: 11). Gallmann spricht allerdings übergreifend nicht von Graphemen, sondern von „ graphischen Mitteln “ . Er gliedert sie nach formalen Kriterien in Grapheme im engeren Sinne (Buchstaben, Hilfszeichen, Leerzeichen, Ziffern, Sonderzeichen und Diakritika), in lineare Supra-Segmentalia (u. a. Großschreibung, Schriftart, Auszeichnungen) sowie flächige Supragrapheme (u. a. Umrandungen, Einzüge, Zeilenende) (Gallmann 1985: 11); nach funktionalen Kriterien in Grundgrapheme, Ideogramme, Klassifikatoren, Grenzsignale, Satzintentionssignale, Auslassungssignale (Gallmann 1985: 18). Für die vorliegende Arbeit werden die oben genannten Positionen - v. a. Gallmann (1985), Dürscheid (2006) sowie Eisenberg (2005) - leicht modifiziert zu folgender Definition zusammengezogen 5 : Grapheme sind die kleinsten strukturellen Einheiten des Schriftsystems, die sich formal wie funktional definieren lassen. Dazu gehören Grapheme im engeren Sinne als Repräsentationen phonologischer Einheiten sowie Grapheme im weiteren Sinne als Repräsentationen silbischer, morphosyntaktischer oder syntaktischer Einheiten (z. B. Spatien, Großschreibung, Interpunktion). Darüber hinaus wird die Gesamtheit aller für eine Schriftsprache verfügbaren Grapheme als Grapheminventar bezeichnet, das Grapheminventar und die Regeln der Kombinatorik zu komplexeren Einheiten (Glück 2000: 3611) bilden das Schriftsystem einer Sprache. Bezogen auf die orthographischen Varianten lässt sich unter dieser Perspektive festhalten, dass Variation schon im graphematischen System angelegt ist und die Orthographie selektiv wirkt. 5 Rein typographische Mittel wie Schriftgrösse, Schriftauszeichnung u. v. a. m. werden hier im Gegensatz zu Gallmann (1985: 108) ausgeschlossen, da sie im Rahmen dieser Untersuchung nicht relevant sind. 14 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="25"?> 2.1.4 Usus - Norm - Kodifikation Eine zweite wichtige Unterscheidung, die im Rahmen der Betrachtung von Orthographie als Teilsystem des Schriftsprachsystems getroffen werden muss, ist diejenige in Usus - Norm - Kodifikation. Als Usus wird der tatsächlich beobachtbare Sprachgebrauch verstanden, der sowohl die Sprachhandlungen selbst als auch das Produkt dieser sprachlichen Handlung umfasst (Kohrt 1987: 330). Auf die Orthographie bezogen, sind dies die Schreibhandlungen als Produktion von Schreibungen sowie die Produkte der Schreibhandlungen, die Schreibungen, wie sie in allen real existierenden Kommunikationskontexten von kleineren, informellen Schreibanlässen wie etwa eine Notiz machen bis hin zur Produktion längerer, formaler Texte wie etwa ein wissenschaftlicher Aufsatz vorkommen. Der Begriff der Sprachnorm ist um einiges schwieriger zu fassen 6 und wurde, so Kohrt (1987: 190/ 191), lange Zeit in orthographie-theoretischen Arbeiten nicht angemessen gewürdigt, obwohl orthographische Normen als prototypische Systemnormen gelten, z. B. in Gloy/ Presch (1975: 19 f.) Die Vernachlässigung des Normbegriffs sei darauf zurückzuführen, dass lange Zeit die reine Deskription der Sprache als Hauptaufgabe der Linguistik angesehen wurde (Kohrt 1987: 191). Orthographische Normen sind Teil der sprachlich-kommunikativen Normen. Daher soll in einem ersten Schritt auf sprachlich-kommunikative Normen allgemein eingegangen werden, bevor dann spezifische Merkmale orthographischer Normen herausgearbeitet werden. 7 Allgemein sind sprachlich-kommunikative Normen als soziale Normen zu betrachten, da sie dem sprachlich-kommunikativen Handeln einer Sprachgemeinschaft zugrunde liegen (Hartung 1977 b: 11; Techtmeier 1987: 6; Gloy 2004). Es sind „ Auswahlgrößen aus der Gesamtheit der Möglichkeiten, welche die Sprache in einem bestimmten Zeitraum in einer Gemeinschaft für die Bildung und Verwendung sprachlicher Äußerungen besitzt “ (Nerius 1989: 268), vgl. dazu oben die analoge Abgrenzung von Graphematik und Orthographie. Es handelt sich dabei um Abstraktionen aus dem sprachlichen Handeln einer Gemeinschaft (Usus), die ihrerseits wiederum auf das individuelle sprachliche Handeln handlungsleitend (Nerius 1989: 268) bzw. regulierend (Nussbaumer 1991: 25) zurückwirken. Inhaltlich lassen sie sich unterteilen in „ sprachsystematische Normen “ , deren Einhaltung mit richtig-falsch bewertet werden, und Sprachgebrauchsnormen, deren Einhaltung mit angemessen-unangemessen beurteilt werden, vgl. Nussbaumer (1991: 26/ 27) in Anlehnung an u. a. Hartung (1977 a), Techtmeier (1987), Bartsch (1985). Strukturell lassen sich explizite von impli- 6 Vgl. auch Nussbaumer (1991: 17), der von einem „ Termini- und Begriffswirrwarr “ im Bereich Sprache-Norm spricht. 7 Für eine umfassende Diskussion des (Sprach-)Norm-Begriffs vgl. etwa Bartsch (1985), Takahashi (2004), Gloy (2004); Gloy/ Presch (1975). 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 15 <?page no="26"?> ziten sprachlich-kommunikativen Normen unterscheiden (Nussbaumer 1991: 22): Implizite Normen leiten das Sprachhandeln unbewusst und entspringen vergleichbar zu Konventionen einer „ stillschweigende[n] gemeinsame[n] Praxis “ (Nussbaumer 1991: 22). Explizite Normen hingegen - andernorts externe Normen genannt, z. B. Kohrt (1987: 330 - 341), Nerius (1989: 268) - sind metasprachlich objektivierbar gemachte (Kohrt 1987: 333) und in „ Normexplikationen, Normformulierungen, Normkodifikationen “ fixierte Normen (Nerius 1989: 268). 8 Eine Normkodifikationen ist somit eine offizielle Normformulierung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie einen „ überdurchschnittlich hohen Grad an Explizitheit “ aufweist und die Norm „ jeweils dauerhaft vergegenständlicht “ (Kohrt 1987: 337, Auszeichnung im Original). Die Normkodifikation soll „ dazu dienen, eine möglichst fehlerlose Befolgung der betreffenden Norm über die Zeit hinweg zu sichern “ (Kohrt 1987: 337). Sie weisen somit einen hohen Verbindlichkeitsanspruch auf (ebd.). Als Gegensatz zu externen Normen (hier als explizite Norm bezeichnet) postuliert Kohrt (1987: 330 - 341) interne Normen, die aber nicht äquivalent zu den impliziten Normen sind. Interne Normen sind „ (primär individuelle) mentale Repräsentationen fundamentaler sprachlicher Zusammenhänge “ , die Sprachhandlungen steuern und Sprachhandlungsprodukte formen bzw. im Rezeptionsprozess „ Erwartungen vorstrukturieren “ (Kohrt 1987: 331). In dieser Untersuchung werden Kohrts interne Normen fortan als mentale Repräsentationen von Sprachnormen bezeichnet, um eine Verwechslung mit dem Begriffspaar implizit-explizit zu vermeiden. Mentale Repräsentationen von orthographischen Normen umfassen sowohl implizite als auch verinnerlichte explizite Normen. Sie stehen somit in einem Wechselverhältnis zu den impliziten und expliziten Normen, die Abstraktionen aus dem sprachlichen Handeln sind, das von mentalen Repräsentationen gesteuert wird (Kohrt 1987: 334/ 335). Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass Normen und mentale Repräsentationen von Normen nicht übereinstimmen müssen, aber können, d. h. dass Schreiber und Schreiberinnen mentale Repräsentationen von orthographischen Normen haben, die nicht regelkonform sind und sich in Falschschreibungen objektivieren. Dazu gehören beispielsweise Übergeneralisierungen der Setzung von Dehnungs-h in allen Wörtern mit der Kombination von Vokal+Liquid (fühlen - kühlen - wühlen - *spühlen). Gerade aus diesem Spannungsfeld ergeben sich interessante Anhaltspunkte für die vorliegende Untersuchung. Mentale Repräsentationen von orthographischen Normen werden im Kapitel zur orthographischen Kompetenz näher ausgeführt, vgl. 2.4.3. 8 Interne Normen hingen können gemäß Kohrt (1987: 333) lediglich als „ Normdeskriptionen “ beschrieben werden, wobei Nerius aufgrund der präskriptiven Natur von Normen eine rein deskriptive Darstellung a priori auschliesst (Nerius 1989: 268). 16 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="27"?> Auf diesem Hintergrund können wir also orthographische Normen näher bestimmen als Sprachsystem-Normen, genauer als Normen des Schriftsprachsystems, die sich durch Selektivität als Auswahl aus dem graphematischen Lösungsraum, durch einen hohen Grad an Explizitheit durch die umfassende Kodifikation in Regelwerk und Wörterbuch und dadurch durch eine große soziale Verbindlichkeit auszeichnen. Orthographische Normen gelten daher nicht nur im Fach-, sondern auch im Laiendiskurs neben den grammatischen Normen als prototypische Fälle von expliziten Sprachsystemnormen, was zu einem überaus hohen Normbewusstsein (Nerius 1989: 276), einer Hochwertung der bzw. einem Streben nach Vereinheitlichung sowie zu einer geringen Variabiliät führt (Augst 2004: 647; Nerius 1989; Scheuringer/ Stang 2004: 10), vgl. dazu auch 2.3. Die umfassende Kodifikation der orthographischen Normen darf aber nicht verdecken, dass auch in der Orthographie implizite Normen wirken, die oft mit Prinzipien gleichgesetzt werden, vgl. unten, sowie mentale Repräsentationen orthographischer Normen das individuelle Schreibhandeln leiten, die nicht deckungsgleich mit den kodifzierten Normen sein müssen, aber können. Durch das hohe Normbewusstsein im Bereich der Orthographie wird jedoch orthographische Kompetenz oft mit einer vollkommenen Verinnerlichung der expliziten Regeln gleichgesetzt - ein Ideal, dem wahrscheinlich nicht einmal die besten Schreiber und Schreiberinnen gerecht zu werden vermögen (mehr zur orthographischen Kompetenz in 2.4.3). Es soll daher abschließend noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es wichtig ist, zwischen Usus (als dem tatsächlich beobachtbaren Sprachgebrauch) und der Kodifikation (der in einem Regelwerk festgehaltenen orthographischen Normen als Rechtschreibregeln sowie Einzelwortschreibungen) zu unterscheiden. 9 Der Begriff der orthographischen Norm schafft als theoretisches Konstrukt die Verbindung zwischen Usus und Kodifikation, in dem Normen einerseits als Abstraktion aus dem Usus, andererseits als Handlungsanleitung im Sprachhandeln verstanden werden. Für die vorliegende Untersuchung ist die Unterscheidung von Usus, Norm und Kodifikation insofern von Interesse, als je nach Definition die orthographische Varianz auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist. 2.1.5 Prinzipien - Regeln - Einzelfestlegungen Im vorangehenden Kapitel wurde die Kodifikation von orthographischen Normen gefasst als explizit gemachte dauerhafte Normformulierungen mit 9 Diese Unterscheidung wird von Reformkritikern, wie z. B. Bähr (1997), zu wenig beachtet, indem zu Unrecht die im Duden kodifizierte orthographischen Normen vor der Rechtschreibreform als Usus oder als geläufig darstellen, was der komplexen Verflechtungen von Usus und Kodifikation nicht gerecht wird. 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 17 <?page no="28"?> einem hohen Geltungsanspruch. Im Folgenden soll nun genauer auf Struktur und Inhalte dieser Kodifikation eingegangen werden. Generell wird zwischen Prinzipien und Regeln unterschieden: Prinzipien lassen sich als generalisierte und implizite Verschriftungsstrategien in (alphabetischen) Schriftsystemen fassen, die streng genommen empirisch mittels graphematischer Analysen des Usus isoliert werden müssen, sich aber auch theoretisch fassen lassen (Rahnenführer 1989: 285). Ein enges Verständnis der Prinzipien sieht sie als die Verbindung vom Schriftsystem zu anderen Ebenen das Sprachsystems wie Phonologie, Morphologie, Syntax (Nerius et al. 2007: 87), ein eher weiteres Verständnis der Prinzipien fasst auch Bezüge zu Sprachgeschichte und Etymologie oder auch zur Erfassungsfunktion des Schriftsystems darunter, vgl. dazu die Prinzipien in Gallmann/ Sitta (2004: 38 ff.). Orthographische Regeln hingegen sind als explizite Ausdeutungen der Prinzipien zu verstehen: Sie legen fest, welches Prinzip für welches Phänomen zu gelten hat, gegebenenfalls gewichten sie dabei konkurrenzierende Prinzipien. Während Prinzipien den impliziten Normen zuzurechnen sind, sind Regeln explizite Normen, sie bilden die Grundlage der Kodifikation. 2.1.5.1 Prinzipien Es wurden in der Forschung verschiedene Prinzipien definiert, wobei sowohl die Anzahl, die Art der Prinzipien, ihr Geltungsbereich als auch ihre jeweilige Stellung im Schriftsystem bzw. orthographischen System variieren kann. Schon Eisenberg (1983: 54) spricht von einem eigentlichen „ Prinzipienwirrwarr “ . Eine Übersicht der verschiedenen Prinzipien in verschiedenen orthographietheoretischen Ansätzen findet sich im Handbuch Orthographie von Nerius et al. (2007), eine kritische Diskussion des Prinzipienbegriffs in Kohrt (1987: 503 - 518) und in Glück (1987: 98 - 100) sowie eine geschichtliche Aufarbeitung im Rahmen von Orthographie-Theorien in Rahnenführer (1989: 291 - 295). Die Stellung der Prinzipien im System der Schriftsprache kann folgendermaßen verstanden werden Kohrt (1987: 503 - 518): - als implizit wirkende Handlungsanleitungen oder Maximen in einer konkreten Schreibhandlung, - als Richtlinie bei der Kodifizierung orthographischer Normen, - als Zusammenfassungen der orthographischen Regeln eines Sprachsystems, - unter optimalitätstheoretischer Perspektive: als Beschränkungen (Constraints), die im Schriftsystem alternative Schreibungen ausschließen (Wiese 2004). Prinzipien fungieren im Grunde als Bindeglied zwischen impliziten und expliziten Normen. Es handelt sich dabei um implizite orthographische Normen, die unter einer Perspektive gebündelt werden. Prinzipien gehören 18 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="29"?> somit in den Bereich der Graphematik, ihre Festsetzung und Gewichtung hingegen zur Orthographie. Es macht deshalb wenig Sinn, wie Rahnenführer (1989: 289/ 290) zwischen „ Prinzipien der Schreibung “ und „ orthographischen Prinzipien “ zu unterscheiden. Im Folgenden werden diejenigen Prinzipien aus der Literatur ausgewählt und dargestellt, die für die vorliegende Untersuchung relevant sind, vgl. die Übersicht in Tab. 1. Es mag vielleicht erstaunen, dass hier nur in Teilen der am meisten rezipierten Darstellung der Prinzipien aus Nerius et al. (2007) gefolgt wird. Dies soll vorgängig kurz begründet werden. Nerius et al. (2007: 85 ff.) versuchen, die Prinzipien in eine synchrone, systematische Ordnung zu bringen, die streng auf der Bilateralität des sprachlichen Zeichens aufbaut und der zufolge sich im Prinzipiengefüge zwei Grundprinzipien (Form, Inhalt) gegenüberstehen. 10 Die Systematizität dieses Vorschlags ist in der Grundanlage bestechend, jedoch für das Verständnis der orthographischen Normen, wie sie sich diachron herausgebildet haben, nicht optimal geeignet, da damit Aspekte nicht angemessen gewürdigt werden, die über Form- Inhalt-Zuordnungen hinausgehen und m. E. in der Herausbildung der orthographischen Norm durchaus eine wichtige Rolle spielen oder gespielt haben. Für die Untersuchung der orthographischen Variation in dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Prinzipien nicht einer stringent systematischen Ordnung entsprechen oder entsprechen müssen, da sie Bündelungen implizierter Normen sind und sich somit durchaus partiell überschneiden, aber auch konkurrenzieren können. Ebenso wird davon ausgegangen, dass auch Aspekte eine Rolle spielen, die über Form-Inhalt-Entsprechungen hinausgehen, so etwa diachrone Aspekte sowie die Erfassungsfunktion der Schriftsprache. Trotzdem wird in einigen Punkten auf das Prinzipiengefüge von Nerius et al. (2007) zurückgegriffen, aber als Ausgangspunkt Gallmann/ Sitta (2004: 38 ff.) genommen, wobei deren stark auf die Didaktik ausgerichtete Terminologie angepasst wird. 10 Nerius et al. (2007: 89) unterscheiden die Prinzipien grundlegend in ein phonologisches sowie ein semantisches Grundprinzip. Das phonologische Prinzip wird hier unverändert übernommen, das semantische Grundprinzip hingegen aufgelöst und abgewandelt. Es umfasst so Unterschiedliches wie das morphematische, das lexikalische, das syntaktische sowie das textuale Prinzip. M. E. sollte hier anstelle von einem semantischen Grundprinzip eher von einem Grundprinzip der Form-Funktion-Relation die Rede sein, um die linguistischen Analyse-Ebenen Morphologie, Syntax und Semantik nicht unnötig zu vermengen. In dieser Arbeit wird daher sowie aus den oben genannten Gründen auf die Dichotomie phonologisch-semantisch sowie auf die Formulierung von Grundprinzipien verzichtet. Vgl. für eine weitergehende systematische Kritik an diesem Modell auch Naumann (1990). 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 19 <?page no="30"?> Tab. 1: Übersicht der orthographischen Prinzipien, modifiziert nach Nerius et al. (2007: 85 ff.), Gallmann/ Sitta (2004: 38 ff.) Prinzip Unterprinzipien Phänomenbereiche Phonologische Prinzip phonematisches Prinzip Phonem-Graphembzw. Graphem-Phonem-Korrespondenzen syllabisches Prinzip Silbentrennung intonatorisches Prinzip Intonation, Pausen, Rhythmus morphologisches Prinzip - Morphem-Konstanz, Schema-Konstanz, Stammschreibung z. B.: Hand-Hände grammatisches Prinzip lexikalisches, morphosyntaktisches, syntaktisches Prinzip Groß-/ Kleinschreibung, Zusammen-Getrenntschreibung Interpunktion semantisches Prinzip Homonymie-Prinzip Disambiguierung; semantische Differenzierung von Homophonen visuelles Prinzip Erfassungsprinzip ästhetisches Prinzip Ästhetik und leichte Erfassbarkeit der graphischen Form etymologisches Prinzip - Herkunft sichtbar machen, betrifft v. a. PGK Das phonologische Grundprinzip, das Lautprinzip bei Gallmann/ Sitta (2004: 38 ff.), umfasst das phonematische, das syllabische und das intonatorische Prinzip (Nerius et al. 2007: 99 ff.). Das phonematische (Unter-)Prinzip besagt nichts anderes, als dass Grapheme Phoneme repräsentieren bzw. regelt die Phonem-Graphembzw. die Graphem-Phonem-Korrespondenzen, vgl. oben sowie für eine Übersichtsdarstellung aller für das Deutsche geltende PGK und GPK Nerius (1980: 120 ff.). Es gilt in einer Alphabetschrift als das dominanteste Prinzip, vgl. dazu auch die optimalitätstheoretische Arbeit von Wiese (2004). Es darf aber nicht von 1: 1-Relationen zwischen Phonem und Graphem ausgegangen werden; so können gewisse Phoneme wie z. B. / ɑ : / durch verschiedene Grapheme bzw. Graphemkombinationen ‹ a › , ‹ aa › , ‹ ah › repräsentiert werden, während ein Graphem auch verschiedene Phoneme repräsentieren kann, z. B. ‹ s › , das sowohl das stimmhafte/ z/ wie in Sonne, aber auch das stimmlose/ s/ wie in Haus wiedergeben kann. Das syllabische (Unter-)Prinzip bezieht sich auf Silben und Silbenstrukturen 20 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="31"?> (Nerius et al. 2007: 128 ff.). Es liegt primär der Worttrennung zugrunde, wird jedoch ebenfalls, wenn auch nicht ganz unumstritten, für andere Phänomene wie Kürzung (Doppelkonsonanten als Silbengelenk) oder Dehnung (silbenschließendes Dehnungs-h) herangezogen, vgl. etwa Eisenberg (1988, 2005). Da diese Phänomene für die Variantenfragen nicht relevant sind, wird auf eine weitergehende Ausführung der unterschiedlichen Positionen verzichtet und lediglich auf die Darstellung in Nerius (1980: 128 - 130) verwiesen. Des Weiteren gehört zum phonologischen Prinzip das intonatorische (Unter-) Prinzip, das sich auf Suprasegmentalia wie Intonation und Pausen bezieht, jedoch in der heutigen orthographischen Norm von untergeordneter Bedeutung ist (Nerius et al. 2007: 143 ff.). Es kommt bei der Interpunktion zum Tragen, wenn die Satzzeichen wie ‹ . › , ‹ ! › oder ‹ ? › die Intonation von Satzarten oder Gedankenstriche Pausen signalisieren. Im Usus lässt sich darüber hinaus auch beobachten, dass das intonatorische Prinzip nicht normgemäß für die Kommasetzung sowie die Zusammen- und Getrenntschreibung herangezogen wird, vgl. zu Letzterem Kapitel 7. Das morphologische Prinzip - und dies wird hier nun anders als bei Nerius et al. (2007) als eigenständiges Prinzip angesetzt - bezieht sich auf die konstante Gleichschreibung von Morphemen in allen Flexions- und Derivationsformen eines Lexems, z. B. Pluralformen wie Hand - Hände (die bei einer strikten Befolgung des phonematischen Prinzips als Hende geschrieben werden müsste), Verbformen sang - sänge (nicht senge) oder die Derivation Bruder - brüderlich, neutralisiert aber auch das Phänomen der Auslautverhärtung z. B. Tag - Tages (nicht Tak). Es wird oft auch morphematisches Prinzip, Morphem-Konstanz, Schema-Konstanz oder Stammschreibung genannt, vgl. auch Gallmann/ Sitta (2004: 39/ 40). Das grammatische Prinzip (Gallmann/ Sitta 2004: 41/ 42) ist weit gefasst und bezieht sich ganz allgemein auf die graphische Repräsentation grammatischer Phänomene. Dazu gehören graphische Repräsentation der Wortkategorie mittels Groß-/ Kleinschreibung, die graphische Differenzierung von Lexemen und Syntagmen mittels Getrennt-/ Zusammenschreibung (Spatien), die Schreibungen mit Bindestrich sowie die Interpunktion. Das grammatische Prinzip umfasst in etwa das lexikalische und syntaktische Prinzip bei Nerius et al. (2007). Diese Unterscheidung wird hier nicht übernommen, weil insbesondere das lexikalische Prinzip die Groß-/ Kleinschreibung nicht adäquat erklären kann, der ganz verschiedene Konzepte der Nominalität zugrunde liegen können, von denen das lexikalische nur eines davon ist, vgl. dazu Gallmann (1997). Das semantische Prinzip - dies wiederum anders als Nerius et al. (2007), die dem semantischen Prinzip alle Prinzipien außer den phonologischen unterordnen - bezieht sich auf die graphische Repräsentation von Bedeutungen bzw. Bedeutungsunterschieden, dies manifestiert sich eigentlich ausschließlich in der Disambiguierung, daher wird es auch Homonymie-Prinzip genannt (Gallmann/ Sitta 2004: 43). So differenzieren wir etwa graphisch 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 21 <?page no="32"?> bei Homophonen wie Lied (Musikstück), aber Lid (Augen-Lid) oder schwer fallen ( ‚ etw. fällt schwer auf den Boden ‘ ), aber schwerfallen ( ‚ etw. bereitet Mühe ‘ ). Das visuelle Prinzip, anderswo ästhetisches Prinzip genannt (Gallmann/ Sitta 2004: 44), zielt auf die Erfassungsfunktion von Schreibungen, es soll das einfache Dekodieren befördern durch die Vermeidung „ verwirrender Schriftbilder “ wie beispielsweise Doppelungen komplexer Grapheme wie ‹ schsch › oder ‹ chch › (Gallmann/ Sitta 2004: 44). Es wird hier neu visuelles Prinzip und nicht ästhetisches Prinzip genannt, weil es im Grunde nicht nur um schöne oder weniger schöne Schriftbilder geht, sondern um die Lesbarkeit und somit um die Erfassungsfunktion der Orthographie. Theoretisch wären hier die Unterprinzipien Lesbarkeitsprinzip und ästhetisches Prinzip denkbar. Zusätzlich soll hier ein etymologisches Prinzip 11 postuliert werden. Es betrifft vor allem die Schreibung von Lehn- und Fremdwörter, v. a. aus dem Lateinischen, Griechischen, aus den romanischen Sprachen und dem Englischen. Es tritt besonders dann in Erscheinung, wenn von der regulären deutschen Phonem-Graphem-Korrespondenz abweichende Schreibungen legitimiert werden sollen. So schreiben wir noch heute Rhythmus oder Action statt Rütmus oder Äktschn, wie dies eine reguläre deutsche Phonem-Graphem-Korrespondenz nahelegen würde. Diese Prinzip wird hier anders als bei Nerius et al. (2007) und Gallmann/ Sitta (2004) zusätzlich angenommen, weil es mit der Fremdwortschreibung einen nicht geringen Bereich der Rechtschreibung abdeckt und gerade für das Verständnis der Variantenschreibung im Bereich der Fremdwortschreibung zentral ist. Es gilt an dieser Stelle nochmals festzuhalten, dass in der vorliegenden Untersuchung, nicht von einer synchronen, systematischen Ordnung der Prinzipien ausgegangen wird, sondern davon, dass es sich hierbei um in der heutigen deutschen Orthographie beobachtbare Regularitäten handelt als Bündelung impliziter Normen, wie sie in der Herausbildung der orthographischen Norm gewirkt haben. Für die Frage der orthographischen Variabilität gilt es hier festzuhalten, dass gerade konfligierende Prinzipien zu Varianz führen. 11 Die Bezeichnung ‚ etymologische Prinzip ‘ wird manchmal auch etwas unglücklich anstelle der Bezeichnung ‚ morphologisches Prinzip ‘ verwendet, vgl. die zusammenfassende und kritische Darstellung dazu in Garbe (1980); diese Vorstellung des etymologischen Prinzips darf jedoch nicht mit der hier postulierten verwechselt werden. Ebenfalls nicht ganz deckungsgleich ist es mit dem in älteren orthographietheoretischen Arbeiten, v. a. auch aus dem 18. und 19. Jahrhundert (z. B. bei J. Grimm und H. Freyer) formulierten historischen Prinzip, das besagt, dass die Schreibung die Wortgeschichte abbilden soll; die englische Orthographie folgt beispielsweise dem historische Prinzip, in dem Schreibweisen beibehalten wurde, die nicht mehr der heutigen Aussprache entsprechen. In der deutschen Orthographie ist dies nur vereinzelt zu beobachten, so etwa in der ‹ ie › -Schreibungen in lieb oder biegen, in denen der mhd. Diphthong/ i e / nach der nhd. Monophthongierung beibehalten wurde und als Kennzeichnung des Langvokals reanalysiert wurde. 22 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="33"?> 2.1.5.2 Orthographische Regeln und Einzelfestlegungen Orthographische Regeln wurden oben als explizite Ausdeutungen von Prinzipien beschrieben. Sie lassen sich nach Kohrt (1987: 402) in generelle und singuläre Regeln unterscheiden: generelle Regeln sind einzelwortübergreifend und betreffen alle Vorkommnisse innerhalb eines Phänomenbereichs, wie etwa „ Substantive schreibt man groß “ (Amtliches Regelwerk 2006: § 55). Eine singuläre Regel wäre hingegen eine Einzelwortfestlegung wie „ Das Wort Hund schreibt man groß “ , wie sie im Wörterverzeichnis von Rechtschreibwörterbüchern oder im Wörterverzeichnis des Amtlichen Regelwerks aufgeführt werden. Gallmann/ Sitta (1997: 14) sprechen hier korrekter von „ Einzelfestlegungen “ ; der Begriff „ singuläre Regel “ ist ja in sich ein Widerspruch, denn der Begriff „ Regel “ impliziert die Anwendbarkeit auf mehrere Vorkommnisse innerhalb eines Phänomenbereichs. Im Folgenden wird daher von Regeln und Einzelfestlegungen gesprochen. Generelle und singuläre Regeln bzw. Regeln und Einzelfestlegungen bilden zusammen die sogenannte „ doppelte Kodifikation “ der Rechtschreibnorm (Kohrt 1987: 468). Diese doppelte Kodifikation ist vonnöten, weil Einzelfestlegungen einerseits nicht den gesamten Wortschatz einer Sprache zu umfassen vermögen, der potentiell indefinit ist, andererseits die generellen Regeln dermaßen präzise und umfassend formuliert sein müssten, dass keine Falschinterpretation bei einer Einzelwortschreibung denkbar wäre, dies wäre wohl schwer zu leisten; generelle Regeln ihrerseits werden dazu gebraucht, um das Wörterverzeichnis zu entlasten (Kohrt 1987: 469 - 491). Das Wörterverzeichnis in einem Rechtschreibwörterbuch oder im amtlichen Regelwerk ist somit mehr als nur eine „ bloße Sammlung objektsprachlicher Ausdrücke “ , sondern eine auf der korrespondierenden generellen Regel beruhende „ Rekonstruktion “ der expliziten Norm (Kohrt 1987: 424). Kohrt geht davon aus, dass es für die Orthographie(-Theorie) nicht von Bedeutung ist, ob jedem Wort nur eine einzige Wortform als richtige Schreibung zugewiesen wird, „ sondern wesentlich ist einzig und allein, dass für eine jede geschriebene Form eines Wortes unzweifelhaft determiniert werden kann, ob sie der betreffenden Rechtschreibnorm genügt oder nicht “ (Kohrt 1987: 433). Das Kriterium der „ Entscheidbarkeit “ überwiege das der „ Unverwechselbarkeit eines jeden Wortes durch die Singularität seiner graphischen Repräsentation “ (Kohrt 1987: 434). In der Konsequenz daraus ergibt sich für Rechtschreibregeln, dass sie Entscheidungs-Richtlinien sind. Abschließend sei noch auf eine Besonderheit der Kodifikation der orthographischen Regeln im amtlichen Regelwerk hingewiesen, die besonders auch für die Variantenfragen von Bedeutung ist. Rechtschreibregeln - sei dies im amtlichen Regelwerk oder in Rechtschreibwörterbüchern - haben Ausnahmen, die entweder mit Unterregeln oder mit Wortlisten weitergehend geregelt werden (Gallmann/ Sitta 1997: 4). Bei den Wortlisten lassen sich geschlossene Listen, in denen alle ausgenommenen Schreibungen aufgelistet 2.1 Orthographie als Teilsystem des Sprachsystems 23 <?page no="34"?> werden, von offenen unterscheiden, die beispielhaft einige der ausgenommenen Schreibungen aufführen (Gallmann/ Sitta 1997: 4). Orthographische Varianten können im Regelwerk sowohl im Regelteil als auch bei den Einzelfestlegungen erscheinen. Im aktuellen Regelwerk (2006) sind orthographische Varianten im Regelteil als Unterregeln oder in Ausnahmelisten aufgeführt, wie das folgende Beispiel zeigt: Für die Konsonantenschreibung in Fremdwörtern gibt es die Regel, dass fremdsprachige Phonem-Graphem-Korrespondenzen zugelassen sind (Regelwerk 2006: § 32). Die Unterregel lässt jedoch in diesem Bereich Variation zwischen fremdsprachiger und integrierter Phonem-Graphem-Korrespondenz zu (Regelwerk 2006: § 32, 2): Im Prozess der Integration entlehnter Wörter können fremdsprachige und integrierte Schreibung nebeneinanderstehen. Manche fremdsprachige Schreibungen sind nur noch fachsprachlich üblich. Diese Unterregel wird anschließend mit einer geschlossenen Auflistung der betroffenen Phonem-Graphem-Korrespondenzen und einer offenen Beispielsauflistung zur jeweiligen Phonem-Graphem-Korrespondenz ergänzt, z. B.: „ Laut [f] - Buchstaben: ph - Beispiele: Atmosphäre, Metapher, Philosophie, Physik “ . Die Tatsache, dass Varianten nur in Unterregeln oder Ausnahmelisten oder in einigen wenigen Fällen sogar nur als Einzelfestlungen in der Wörterliste auftreten, illustriert, dass sie im heutigen Verständnis des orthographischen Normensystems einen peripheren Status einnehmen und Varianten somit nicht ‚ die Regel ‘ , sondern eine Ausnahme darstellen, obwohl auch bei der Variantenschreibung das von Kohrt geforderte Kriterium der Entscheidbarkeit gewährleistet ist, indem nämlich nachschlagbar ist, dass zwei verschiedene Schreibungen der Norm entsprechen. 2.2 Orthographie als literale Teilpraxis Orthographie kann als Teilpraxis der literalen Praxis einer Gemeinschaft bzw. eines Individuums beschrieben werden, vgl. Sebba (2007). Dies bedeutet zuerst ganz grundsätzlich, dass Orthographie als Indikator für Literalität, für Schriftbeherrschung schlechthin zu fassen ist oder mit Augst (2004: 646) ausgedrückt ist sie „ der sichtbare Ausdruck der Literalität “ , der „ symbolhaft und nachprüfbar die Fähigkeit zur schriftlichen Kommunikation, die Beherrschung der geschriebenen Sprache, der Nachweis schulischer Bildung und die Teilhabe an Kultur “ anzeigt. Die Hochwertung der Orthographie bzw. die Gleichsetzung der Beherrschung ihrer Normen mit der Beherrschung der Schriftlichkeit allgemein ist auf ihre Eigenschaft als explizit geregelte Sprachsystem-Normen zurückzuführen, deren Einhaltung mithilfe von Wörter- 24 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="35"?> büchern, Regelwerken und heute auch mithilfe der automatischen Rechtschreibkorrektur nachgeprüft werden kann, vgl. 2.1.5. 12 Des Weiteren wird Orthographie innerhalb einer Sprachgemeinschaft auch als Kulturgut betrachtet. Scheuringer/ Stang (2004: 11/ 12) fassen dies mit Blick auf die Debatte um die Rechtschreibreform so zusammen: Denn bis heute ist Rechtschreibung nicht nur Mittel zum Zweck, beim geschriebenen Wort Einheitlichkeit und Verstehbarkeit innerhalb einer Sprache herzustellen und zu gewährleisten, sondern anderes mehr. Sie ist auch gesellschaftliche Realität mit Eigenleben, mit eigenem Stellenwert. [. . .] Gerade in den Diskussionen der letzten Jahre wurde wieder spürbar, dass für sehr viele die Rechtschreibung ein Wert für sich ist, ein Kulturgut, versehen mit Emotionen und mit Traditionen, die man lieb gewonnen hat und nicht mehr aufgeben möchte. Unter dieser Perspektive wird Orthographie in ein umfassendes Modell der Literalität eingebettet, das die sozio-kulturelle Situiertheit von Schreiben und Lesen fokussiert. Diese Vorstellung wurde vor allem von den Vertretern der sogenannten New Literacies Studies geprägt, u. a. von Barton (1994), Scribner/ Cole (1981), vgl. zusammenfassend Sturm/ Weder (2011) oder ausführlicher Prior (2008). Vertreter der New Literacies Studies unterscheiden zwischen einem autonomen und einem ideologischen Modell der Literalität (Street 1995: 28 f.), wobei das autonome Modell davon ausgeht, dass Schreiben wie auch Lesen eine kontextunabhängige Fertigkeit ist ( ‚ skill ‘ ), während das ideologische Modell Schreiben und Lesen in vielfältige soziale und kulturelle Kontexte eingebettet sieht, die unterschiedliche Anforderungen stellen, nach unterschiedlichen Formen der Kommunikation verlangen, aber auch verschiedene Möglichkeiten eröffnen (Barton et al. 2007: 14). Allerdings ist der Begriff ‚ ideologisch ‘ etwas unglücklich gewählt, wie Sebba (2007: 14) kritisiert, sind doch beide Modelle im Grunde ideologisch. Im Folgenden wird daher analog zu Sebba anstelle von einem ideologischen Modell von einem sozio-kulturellen Modell der Literalität die Rede sein (Sebba 2007: 14). Im Rahmen des sozio-kulturellen Modells der Literalität werden literale Praktiken ( „ literary practices “ ) von literalen Ereignissen ( „ literacy events “ ) unterschieden (Barton 1994: 33 ff.). Literale Ereignisse sind individuelle Lese- oder Schreibhandlungen. Literale Praktiken hingegen sind Muster, wie Lesen und Schreiben in wiederkehrenden Situationen praktiziert wird, und somit Konzepte geteilten sozio-kulturellen Wissens (Barton 1994: 37), wie z. B. ein Formular ausfüllen/ lesen, ein Kochrezept schreiben/ lesen, einen Aufsatz schreiben/ lesen, einen Geschäftsbrief schreiben/ lesen, einen Zeitungsartikel schreiben/ lesen, einen Roman schreiben/ lesen. Literale Praktiken konzeptualisieren somit die Verbindung zwischen den literalen Ereignissen und deren zugrundeliegenden sozio-kulturellen Konzepten (Barton et al. 2007: 15). Bezogen auf das Schreiben manifestieren sich literale Ereignisse bzw. 12 Zum Zusammenhang von mangelhafter orthographischer Kompetenz und deren Einschätzung durch die Gesellschaft vgl. auch 2.4.1. 2.2 Orthographie als literale Teilpraxis 25 <?page no="36"?> deren zugrundeliegenden literalen Praktiken in Texten bzw. in verschiedenen Textsorten. Im Kontext der New Literacy Studies und anderen ähnlich ausgerichteten Studien wurde wiederholt darauf hingewiesen sowie in verschiedenen empirischen, vor allem ethnographischen Studien für verschiedene Kulturkreise nachgewiesen, dass Erwachsene wie auch Jugendliche und Kinder in zahlreiche und ganz unterschiedliche literale Praktiken in verschiedenen Domänen involviert sind: Arbeitsplatz, Schule, Privat-/ Familienleben, soziale Gruppen oder Peer-Groups, vgl. dazu etwa Barton (2007), Heath (1983), Cohen/ White/ Cohen (2011) oder die Überblicksdarstellung in Moss (2009), für den deutschen Sprachraum: die Untersuchung literaler Praktiken im Arbeitsalltag in einem Schweizer Industriebetrieb Häcki Buhofer (1985), für Auszubildende in deutschen Industriebetrieben Efing (2010), für Berufsmittelschüler in der Schweiz (Wyss Kolb 1995), für die literalen Praktiken Jugendlicher in der Schweiz in den Ergebnissen der SNF-Studie Literale Resilienz, vgl. dazu Schneider (2009). Diese Untersuchungen zeigen insbesondere für das Schreiben, dass zu diesen literalen Praktiken nicht nur das Verfertigen längerer, planvoll konstruierter Texte für einen zeitlich und räumlich distanzierten Adressaten gehören - bei Häcki Buhofer (1985: 57) „ explizite Texte “ genannt - , sondern literale Praktiken im Alltag eine ganze Fülle unterschiedlicher Arten von Schreibhandlungen umfassen, die von öffentlich bis privat, von formell bis informell, von standardisiert bis nichtstandardisiert reichen können, z. B. hoch-standardisierte Textsorten wie etwa Formulare; informelle, kürzere wie Notizen für sich oder andere machen; längere, private wie Tagebuch-Einträge oder längere, halb-öffentliche wie Blog-Beiträge reichen können. Längere, geplante, formelle Texte sind somit nur als Prototypen des Schreibens zu verstehen, vgl. dazu Häcki Buhofer (1985: 17 - 63). Mit dem Aufkommen von Computer-basierter Kommunikation wie E-Mail, Chat oder Social Media hat zudem auch das Schreiben in der Freizeit an Bedeutung gewonnen, in anderen sozialen Schichten Verbreitung gefunden sowie sich neue Domänen erschließen können (Alvermann 2009), die insbesondere die Unterscheidung in private und öffentliche Kommunikation aufgeweicht haben dürften. Schreibhandlungen sind also als Ausdruck sozialer Praktiken zu begreifen; sie sind in alltägliche Aktivitäten eingebettet und wirken wiederum auf diese zurück. Schreiben wie auch Lesen ist somit etwas sozial Bedeutungsvolles, das sich mit Werten und Einstellungen verbindet (Barton 2007: 35): Literacy has a social meaning; people make sense of literacy as a social phenomenon and their social construction of literacy lies at the root of their attitude, their actions, and their learning. Es fragt sich nun, wie Orthographie sowie orthographische Varianz in einem sozio-kulturellen Modell der Literalität zu verorten ist. Ist Orthographie nur eine Teilfertigkeit (skill), auf die Schreibende zurückgreifen können, oder ist 26 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="37"?> sie darüber hinaus ebenso sozial bedeutsam wie die literalen Praktiken selbst? Sebba (2007: 26 ff.) plädiert für letzteres und somit dafür, Orthographie (die bei ihm das Schriftsystem miteinschließt) als soziale Praxis mit sozialer Bedeutung zu betrachten. Dies kann auf verschiedenen Ebenen des Schriftsystems bzw. der Orthographie beobachtet werden. Im Folgenden werden beispielhaft fünf Phänomene dargestellt. 1. Die sozio-kulturelle Bedeutung der Schriftsysteme und Orthographien zeigt sich insbesondere bei der Betrachtung emergenter Literalität in bis anhin nicht-literalisierten Kulturen besonders in ehemaligen Kolonien bzw. in der Verschriftung von bis anhin nicht verschrifteten Kultursprachen. Dabei steht die Wahl eines geeigneten Schriftsystem im Fokus, vgl. dazu die Beispiele in Sebba (2007: 76 ff.), wie etwa die Verschriftung der Apachensprache Navajo, bei der zwischen einer möglichst lautgetreuen oder einer am Englischen orientieren Verschriftung entschieden werden musste. Bei dieser Wahl zwischen der Orientierung an der Schriftkultur der dominanten Kultur versus der Herausbildung einer eigenständigen Schriftkultur wird das Gefüge von schriftsprachlichen Normen, Macht und Gesellschaft besonders deutlich. 2. Orthographie kann im Dienste der Konstruktion von Nationalstaatlichkeit stehen. Dies lässt sich im europäischen Kulturraum am Phänomen der Großschreibung illustrieren (Polenz 1999: 250, nach Maas 1992: 9 f.), die z. B. in den Niederlanden oder in Dänemark in Abgrenzung von Deutschland abgeschafft wurde und heute, da die deutsche Sprache als einzige die Großschreibung hat, als Symbol der nationalen schreibsprachlichen Identität Deutschlands gilt, wobei in diesem ideologischen Konstrukt die Plurizentrik der deutschen Sprache vollständig ausgeblendet bleibt. Die Gleichsetzung von Nomengroßschreibung und deutscher Kulturnation ist besonders in der Frage nach einer Reform der Groß-/ Kleinschreibung salient, bei der die Durchsetzung einer radikalen oder gemäßigten Kleinschreibung im deutschen Sprachraum aus Gründen der kulturellen Identität geradezu undenkbar scheint (Polenz 1999: 250 nach Munske 1995: 59 f.). 3. Die sozio-kulturelle Bedeutung der Orthographie zeigt sich aber nicht nur in Abgrenzung von anderen Sprachen und Kulturen, sondern auch innerhalb einer Kultursprache und deren Schriftsystem und Orthographie - hier geht es nun im Kern um Aspekte der Varianz. Orthographie, so Sebba (2007: 30 ff.), ist von einer stark wirkenden Konvention und einer potentiellen Variation geprägt (vgl. 2.1.4). Dabei lässt sich lizenzierte als innerhalb der orthographischen Norm zugelassene Variation von nicht-lizenzierter Variation als zwar im graphematischen Lösungsraum angelegte, aber nicht der orthographischen Norm entsprechende Schreibung unterscheiden (Sebba 2007: 30). Gerade diese Möglichkeit, zwischen Varianten eine Schreibung auszuwählen, offenbart die sozio-kulturelle Dimension der Orthographie, denn jede Wahl sprachlicher oder kommunikativer Art ist im Grunde sozial bedeutsam; diese Annahme bildet denn auch die Basis jeglicher sozio- 2.2 Orthographie als literale Teilpraxis 27 <?page no="38"?> linguistischen Untersuchungen in der Nachfolge Labovs (Eckert 2008). Polenz spricht in diesem Zusammenhang von der „ sozialen Symptomfunktion “ von Schreibweisen, die Konnotationen evozieren wie etwa „‚ richtig ‘ / ‚ falsch ‘ , ‚ gebildet ‘ / ‚ ungebildet ‘ , ‚ konformistisch ‘ / ‚ eigenwillig ‘ , ‚ modern ‘ / ‚ veraltet ‘ , usw. “ (Polenz 1999: 231; Hervorhebung im Original). Somit dienen Schreibweisen, dies umfasst sowohl lizenzierte als auch nichtlizenzierte Varianten, im Grunde dazu „ soziale Einschätzungen nahezulegen “ (Polenz 1999: 231). Dies kann einerseits eine vom Schreiber/ von der Schreiberin bewusst vorgenommen Identitätskonstruktion sein, andererseits aber auch eine Identitätszuschreibung durch den Rezipienten/ die Rezipientin. Sebba (2007: 30/ 31) illustriert diese Zusammenhänge anhand von nichtlizenzierter orthographischer Variation vor allem in Textsorten der Subkultur, z. B. Verschriftung von Nicht-Standard-Varietäten in Graffitis, wie z. B. in Irland I waz ERE oder in Spanien mit dem nicht normgerechten Gebrauch von ‹ k › statt ‹ q › in ke statt que, womit einerseits die Textsorten als subkulturell gerahmt werden, andererseits aber auch die Schreibenden sich als Mitglieder der Subkultur konstruieren. Analog können für das Deutsche folgende Beispiele für nicht-lizenzierte Variation angeführt werden: Nicht-Standard-Schreibungen in Fanzines (vgl. dazu die Untersuchung von Androutsopoulos 1999) oder Graffitis (z. B. Fr u A iheit), die durchgehende Kleinschreibung in Chats, die Verschriftung von Dialekt in Chats (Siebenhaar 2003), (Christen 2004) sowie sozial-kritische Parolen wie auf dem Poster des deutschen Künstlers Klaus Staecks von 1979, der mittels eines Verstosses gegen die orthographische Norm den Zusammenhang zwischen mangelndem Interesse an und mangelnden Ressourcen für die Bildung die Folgen vordemonstriert: „ Ein Volk das solche Boxer Fußballer Tennisspieler und Rennfahrer hat kann auf seine Uniwersitäten ruhig verzichten. “ 13 Literarisch wird die nicht-lizenzierte Variation oft ausgereizt, um einen kommunikativen Mehrwert zu schaffen oder soziale Aussagen zu treffen, vgl. etwa dazu Arno Schmidts kreative Orthographie 14 , 13 Dieser Hinweis wurde Dürscheid (2006: 165) entnommen. 14 z. B.: „ Nichts Niemand Nirgends Nie! : Nichts Niemand Nirgends Nie! : (die Dreschmaschine rüttelte schtändig dazwischen, wir konnten sagen & denken was wir wollten. Also lieber bloß zukukken.) “ Aus Arno Schmidts Kaff auch Mare Crisium (1960). Die nicht regelkonforme Großschreibung im ersten Satz, die orthographisch und typographisch fehlerhafte Setzung des Doppelpunktes nach dem Ausrufezeichen mit vorangehendem Leerschlag, das fehlende Komma vor dem Relativsatz und die an der dialektalen Lautung orientierte Verschriftung von zugucken verleihen dieser Passage ein Mehr an Bedeutung und Expressivität, das ohne diese orthographischen „ Verstösse “ , die als Ausreizung der graphematischen Möglichkeiten zu sehen sind, wohl nicht zu erreichen wäre. 28 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="39"?> die radikale Kleinschreibung in Elfriede Jelineks früheren Werken 15 oder die Inszenierung des Migrationshintergrundes bzw. die Konstruktion einer Deutschlerner-Identität beim Autor Zé do Rock 16 . Trivialere Anwendungen sind in Werbetexten zu finden, wie z. B. in verschiedenen Banken- und Versicherungswerbungen, die mit mehr oder minder originellen Schlagwörtern wie fairtrauen und fairsicherung werben. 17 Als Beispiel für die soziale Bedeutung lizenzierter Varianten kann für das Deutsche die Fremdwortschreibung herangezogen werden. Eine Verwendung der nicht-integrierten Schreibung von z. B. lateinischen oder griechischen Lehnwörtern (wie z. B. potentiell statt eingedeutscht potenziell oder Choreographie statt Choreografie) wird als Zeichen für den hohen Bildungsgrad des Schreibers/ der Schreiberin genommen, vgl. auch (Augst 2004: 649) zur Relatinisierung in der Fremdwortschreibung im Humanismus. Eine Verwendung für die nicht-integrierte Schreibung von französischen oder italienischen Lehnwörtern (z. B. Portemonnaie statt eingedeutscht Portmonee oder Spaghetti statt Spagetti) wird in der deutschsprachigen Schweiz - hier greifen wir Ergebnisse aus dem Kapitel 7 vorweg - als Eigenheit der Schreibpraxis eines mehrsprachigen Landes und somit als nationale schreibsprachliche Identität konstruiert, vgl. dazu auch Lindauer/ Sturm/ Schmellentin (2006: 16), die für den Orthographie-Unterricht an Schweizer Schulen explizit die Vermittlung der Originalschreibweisen empfehlen, oder den Auftrag der Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren an die zwischen 1986 und 1995 operierende Schweizer Arbeitsgruppe Rechtschreibreform typisch schweizerische Eigenheiten wie die Herkunftsschreibung französischer Lehnwörter oder die ‹ ss › statt ‹ ß › -Schreibung im Internationalen Arbeitskreis zu vertreten (Looser/ Sitta 1997: 47). Die angeführten Beispiele zeigen, dass mit lizenzierter und nicht-lizenzierter orthographischer Variation sowohl soziale und kulturelle Identität konstruiert, ein kommunikativer Mehrwert geschaffen als auch die Mitteilungen medial konzeptualisiert werden kann. Dies verweist darauf, dass Orthographie mehr ist als eine Technik für den Transport von Inhalten, sondern darüber hinaus eine soziale, kulturelle und kommunikative Funktion ausübt. 15 Elfriede Jelinek: Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft. (1972) oder Die Liebhaberinnen (1975). 16 z. B. die fast phonetische Verschriftung aus dem Klappentext zum Roman FOM WINDE VERFEELT: „ das buch hat der autor wärend des taxifarens gesriben. und ich bin der autor. ich bin for ferdammt langa zait in Porto Alegre, Brasilien, geboren, hab nix studirt und leb noc hoite, maistens in Myncen. “ http: / / www.zedorock.net/ winde.html (Zugang 1. 2. 2016). 17 Diese Beispiele wurden im Rahmen des von der Verfasserin geleiteten Seminars „ Deutsche Orthographie - Zwischen Sprachgebrauch, Normierung und Ideologie “ , 2009 am Deutschen Seminar der Universität Basel zusammen mit dem Studenten Timeo Studer erarbeitet und interpretiert. 2.2 Orthographie als literale Teilpraxis 29 <?page no="40"?> 4. Die Einbettung der Orthographie in einem sozio-kulturellen Modell der Literalität schärft auch den Blick dafür, dass die Einhaltung orthographischer Normen von der Art der literalen Praxis bzw. von der Textsorte abhängig ist. So bringt Sebba (2007: 47) verschiedene literale Praktiken in ein Kontinuum von hoch-reguliert (z. B. Schreiben für die Publikation, geschäftliches Schreiben), über ziemlich reguliert (Schreiben in der Schule, literarisches Schreiben), mittel reguliert (Privatbrief-Schreiben) bis zu am wenigsten reguliert (subkulturelles Schreiben). Damit einher geht ein Kontinuum von Fokussierung auf den Standard für die hoch-regulierten Texte bis zu einer Fokussierung auf den Nicht-Standard für die am wenigsten regulierten Texte. In der Tat würde z. B. ein korrekt nach orthographischen Normen verschriftetes Graffiti seltsam anmuten. Es kann also zusammenfassend mit Sebba (2007: 31) festgehalten werden, dass Variation innerhalb eines Schriftsystems auf den Charakter der Orthographie als soziale Praxis hinweist: This possibility of variation and deviation (licensed or unlicensed) from the conventional norms makes it reasonable to think of orthography as as social practice - a widespread und recurrent activity which involves members of a community in making meaningful choices, albeit from a constrained set of possibilites. Abschließend soll das Konzept von Orthographie als Teilpraxis der literalen Praxis in Anlehnung an Bartons Verständnis von literalen Praktiken konkretisiert werden. Barton umschreibt literale Praktiken folgendermaßen (Barton/ Tusting 2005: 22), zit. nach (Barton et al. 2007: 15): Literary practices are the general cultural ways of utilising written language which people draw upon in their lives. In the simplest sense literacy practices are what people do with literacy. However practices also involve values, attitudes, feelings and social relationships. This includes people ’ s awareness of literacy, constructions of literacy and discourse of literacy, how people talk about and make sense of literacy. These are processes internal to the individual; at the same time, practices are the social processes which connect people with one another, and they include shared cognitions represented in ideologies and social identities. Orthographische Praktiken als Teilpraktiken der literalen Praktiken allgemein ließen sich in Umformung von Bartons Zitat folgendermaßen umreißen: Orthographische Praktiken sind generelle kulturelle Weisen des Schriftsprachgebrauchs, derer sich Leute im Alltag bedienen. Im Grunde genommen sind orthographische Strategien, das, was die Leute im Alltag mit der Orthographie tun. Orthographische Praktiken involvieren aber auch Werte, Einstellungen, Gefühle und soziale Beziehungen. Dies schließt das Bewusstsein der Leute über die Orthographie, Konstruktionen der Orthographie, der Orthographie-Diskurs, wie Leute über Orthographie sprechen und wie sie ihr Bedeutung zuschreiben, mit ein. Dies sind internalisierte, individuelle Prozesse; gleichzeitig sind diese 30 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="41"?> Praktiken soziale Praktiken, die Leute miteinander verbinden, das schließt geteilte Kognitionen mit repräsentierten Ideologien und sozialen Identitäten mit ein. Es gilt hier hervorzuheben, dass Orthographie somit als Teil des alltäglichen Schreibhandelns betrachtet wird, bei dem nicht nur die Anwendung der orthographischen Normen im Schreibakt eine Rolle spielen, sondern auch Einstellungen, Werte, Gefühle und das Bewusstsein über Orthographie und deren Stellenwert im alltäglichen Schreibhandeln und innerhalb der Schriftkultur. Dies zeigt sich nicht in allen Belangen gleichermaßen deutlich, aber gerade hinsichtlich der Problematik der orthographischen Varianten ist dieser Ansatz besonders fruchtbar, was sich insbesondere auch an den aus Sebba (2007) angeführten Beispielen zu lizenzierten und nicht-linzensierten Varianten zeigt. 2.3 Orthographie unter diachroner Perspektive Orthographie als Teilpraxis der literalen Praxis zu konzeptualisieren, lenkt die Aufmerksamkeit auf den diachronen Aspekt der Herausbildung orthographischer Normen, indem Orthographie als ein sich über die Zeit entwickeltes Produkt der literalen Praxis und Reflexion einer Sprachgemeinschaft beschrieben werden. Es kann und soll an dieser Stelle nicht die ganze Geschichte der Herausbildung des deutschen Schriftsystems und der Geschichte der deutschen Orthographie dargestellt werden; dies wurde andernorts schon ausführlich geleistet, z. B. in Nerius et al. (2007: 287 - 350), Scheuringer (1996), Polenz (1999: 237 - 262), Ewald (2011), Nübling et al. (2010: 174 - 202), Scheuringer/ Stang (2004), Mentrup/ Steiger (2007) oder Maas (2011). Es sollen an dieser Stelle lediglich einige grundlegende Aspekte zusammengestellt werden, soweit sie für diese Arbeit relevant sind und auf deren Basis dann in Kapitel 3 die Variantenfrage abgehandelt werden kann. Grundsätzlich gilt es zuerst festzuhalten, dass die Herausbildung von orthographischen Normen stets im Rahmen der Literalisierung der Gesellschaft und ihrer literalen Praktiken insgesamt zu betrachten ist, vgl. dazu auch Maas (2011: 11). Die deutsche Orthographie hat sich in der Wechselwirkung von Usus, Reflexion und Kodifikation entwickelt (Nerius 1994: 725), wobei man unter Usus die literalen Praktiken und Ereignisse fassen könnte, und unter Kodifikation die schriftlich fixierten expliziten orthographischen Normen einer Sprachgemeinschaft und unter Reflexion die theoretischen Auseinandersetzungen mit orthographischen Fragen gemeint sind. (Scheuringer/ Stang 2004: 9) fassen dies so zusammen: [. . .] was richtig ist, ist natürlich das Produkt einer langen Entwicklung, die einerseits aus den Erscheinungsformen von Sprache selbst besteht und andererseits aus individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen Entscheidungen. 2.3 Orthographie unter diachroner Perspektive 31 <?page no="42"?> Die Untersuchung und Darstellung der Orthographie aus einer sprachhistorischen Perspektive widmet sich der diachronen Beschreibung von orthographischen Normen und Konventionen mit zweierlei methodischen Zugängen: Dies ist einerseits die Beobachtung des Usus an historischen Dokumenten. Andererseits ist dies die Rekonstruktion orthographischer Normen und Normkonzepte aus früheren Kodifikationen, aus orthographie-theoretischen Reflexionen von Grammatikern, Sprachkritikern, Pädagogen, Druckern etc. (z. B. orthographie-theoretische Schriften von Rudolf Raumer oder Jacob Grimm im 19. Jh.; die bayrische und preußische Schulorthographie, Konrad Dudens Wörterbücher; die I. und II. Orthographische Konferenz, die verschiedenen Duden-Auflagen im 20. Jahrhundert etc.) und gegebenenfalls auch aus Neukodifikationen einer Orthographie bzw. Anpassung einer Kodifikation, wie für die deutsche Orthographie die Reform von 1996/ 2006, vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung in Polenz (1999: 237 - 253). Orthographischer Wandel ist nur partiell mit anderen Sprachwandelphänomenen vergleichbar. Phonologische, morphologische, syntaktische, lexikalische, semantische oder pragmatische Sprachwandelprozesse etwa lassen sich im Rahmen von Rudi Kellers Sprachwandel-Theorie des Wirkens der unsichtbaren Hand (invisible hand) als Phänomene der dritten Art erklären (Keller 1994: 87 ff.). Es sind weder Naturphänomene, d. h. von der Natur geschaffene wie etwa eine Blumenwiese oder ein Flussbett, noch sind es Artefakte, d. h. von Menschen geschaffene Produkte wie z. B. eine Kirche oder ein Swimming-Pool. Phänomene der dritten Art sind Ergebnisse kollektiver Handlungen, die zwar mit spezifischen individuellen, sich teils deckenden Intentionen ausgeführt wurden, jedoch nicht dieses konkrete Ergebnis beabsichtigt haben (Keller 1994: 92) 18 Die deutsche Orthographie hingegen, wie sie heute im Usus und in der Kodifikation erscheint, ist das Produkt der Wechselwirkung zwischen Phänomenen der dritten Art und Kulturphänomenen. Ersteres betrifft den Usus und im Rahmen dessen die Herausbildung des Schriftsystems, der impliziten Normen und der Prinzipien; zweiteres die expliziten, kodifizierten Normen als institutionelle Setzungen. Diachron gesehen lässt sich aber feststellen, dass die Kodifikation zunehmend an Einfluss auf den Usus gewinnt, d. h. dass der Usus sich zunehmend an der Kodifikation orientiert und dadurch potentieller Wandel gebremst, wenn nicht gar verhindert wird (Nerius 1994: 724), was zur oben erwähnten geringen Variabilität und zum ausgeprägten Normbewusstsein führte. 18 Klassische Beispiele dafür sind etwa der Stau auf der Autobahn, den niemand beabsichtigt, aber durch die verlangsamte Fahrweise der einzelnen Lenker im dichten Strassenverkehr hervorgerufen wird, oder der Trampelpfad, der aus dem Bedürfnis vieler schnell z. B. eine Wiese zu überqueren resultiert, vgl. Keller (1994: 89/ 90). 32 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="43"?> Die Stationen der Geschichte der deutschen Orthographie werden daher konsequenterweise meist am Auftreten von Kodifikationen und Kodifikationsversuchen festgemacht. 19 Polenz (1999: 237) etwa unterscheidet zwei großen Phasen: die Phase bis 1900, in der die Kodifizierung und damit einhergehend die Vereinheitlichung dominierten, und die Phase von 1900 bis heute, in welcher der Ausbau und die Differenzierung der offiziellen Kodifikation im Mittelpunkt stand und noch immer steht. Den Übergang zwischen diesen beiden Phasen markierten die I. und II. Orthographische Konferenz sowie der einflussreiche Ur-Duden von Konrad Duden. Die zweite Phase war geprägt von den Wörterbuch-Redaktionen, allen voran die Duden- Redaktion sowie für Österreich die Redaktion des Österreichischen Wörterbuchs, welche die Orthographie in Eigenregie ständig weiterentwickelt und angepasst haben, wobei das Österreichische Wörterbuch generell liberaler vorging, vgl. dazu sowie zur lexikographischen Untersuchung von Lasselsberger (2000) Kapitel 3.2. Dies wurde erst im Zuge der Rechtschreib-Reform geändert, indem die Weiterentwicklung des Regelwerks an offizielle, von den deutschsprachigen Staaten beauftragte Organe (heute Rat für deutsche Rechtschreibung) delegiert wurde. Strenggenommen müsste somit hier eine neue Phase angesetzt werden. Heute obliegt es dem Rat für deutsche Rechtschreibung, den Usus zu beobachten und gegebenenfalls Änderungen am Regelwerk vorzunehmen. Dieser Auftrag wird im Statut des Rats für deutsche Rechtschreibung folgendermaßen konkretisiert (Vereinbarung 2006: § 1): - „ die ständige Beobachtung der Schreibentwicklung “ - „ die Klärung von Zweifelsfällen (der Rechtschreibung) “ - „ die Erarbeitung und wissenschaftliche Begründung von Vorschlägen zur Anpassung des Regelwerks an den allgemeinen Wandel der Sprache. “ Wenn im Folgenden nun von der „ alten Orthographie “ die Rede sein wird, dann ist damit immer vereinfachend die Orthographie gemeint, wie sie in der letzten Duden-Auflage vor der Reform von 1996 sowohl im Regelteil als auch im Wörterverzeichnis kodifiziert ist (Duden 1991). 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive Eine weitere Dimension, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist, ist die kognitive Dimension der Orthographie. Sie betrifft die in der Einleitung zum diesem Kapitel erwähnte „ individuelle Fähigkeit “ (Glück 1987: 12). Sie wird hier als diejenige Perspektive auf Orthographie gefasst, die Orthographie als Teilbereich des schriftsprachlichen Wissens und der Schreibkompetenz eines Individuums betrachtet. Im Fokus des Interesses steht die Frage nach der 19 Dies wird aber von Maas (2011) stark kritisiert, der vor allem den Usus als Grundlage der Herausbildung der deutschen Orthographie sieht. 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 33 <?page no="44"?> Organisation der mentalen Repräsentation von orthographischen Normen, Regeln, Regularitäten sowie die Prozesse des Abrufens in der Schreibhandlung selbst, im Rahmen des Schreibprozesses. In der Forschung wird unter dieser Perspektive vor allem der Orthographie-Erwerb im Rahmen des Schriftspracherwerbs (Thomé 1999; Scheele 2006), die Orthographie-Didaktik, die Anwendung orthographischer Normen v. a. im schulischen Schreiben untersucht, vgl. etwa Fay (2010). Diese Perspektive auf Orthographie ist im Rahmen dieser Untersuchung von Interesse, weil sie den Hintergrund darstellt, auf dem im Schreiben orthographische Entscheidungen getroffen werden, dies gilt sowohl für die Entscheidungen bei Schreibungen, die mit richtig/ falsch zu bewerten sind, als auch für Entscheidungen bei Variantenschreibungen. Was das Schreiben und Rechtschreiben Erwachsener betrifft, gibt es allerdings einen geradezu eklatanten Mangel an Theorie- und Modell-Bildung sowie empirischer Forschung. So ist weder hinreichend und ausführlich untersucht worden, über welche orthographische Kompetenzen Erwachsene verfügen, noch mit welchen Anforderungen an Schreiben und Rechtschreiben sie in Beruf und Privatleben konfrontiert werden, noch ob und wie die orthographische Kompetenz sich nach der Schulzeit weiterund/ oder zurückentwickelt, noch welche Einstellungen Erwachsene gegenüber Orthographie haben u. v. a. m. Überspitzt gesagt, wird zwar ausführlich sowohl in linguistischer, pädagogischer, didaktischer Hinsicht über Orthographie und deren Vermittlung in der Schule nachgedacht, aber die Bedürfnisse und Fähigkeiten erwachsener Schreiber, die ja das erworbene Wissen in Beruf und Freizeit effizient anwenden sollten, stehen in der Forschung nicht im Fokus. Die Ausnahmen bilden hier die Längsschnittuntersuchung im Rahmen der Großstudie LOGIK (Schneider/ Stefanek 2007), vgl. 2.4.5, die oben unter 2.2 genannten Studien zum Schreiben in Beruf wie etwa Efing (2010); Häcki- Buhofer (1985), wo Orthographie als sprachformale Anforderung im Schreiben thematisiert wird sowie einige wenige ausgewählte Studien zu Schreiben und Rechtschreiben in der Ausbildung, z. B. Wyss Kolb (1995). Im Folgenden werden zuerst orthographische Kompetenzen als Teil der Textqualität eines Textproduktes sowie als Anwendung im Schreibprozess behandelt, bevor auf die Modellierung orthographischer Kompetenz aus didaktischer Sicht sowie auf den Erwerb und Ausbau der orthographischen Kompetenz eingegangen wird. 2.4.1 Orthographische Kompetenz objektiviert in Textprodukten Orthographische Kompetenz von Individuen objektiviert sich in Textprodukten: Die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung orthographischer Normen lässt sich in literalen Ereignissen an den Textprodukten beobachten. Im Kontext der Schule wie in wissenschaftlichen Untersuchungen wird orthographische Kompetenz fast ausschließlich an diesen Textprodukten gemes- 34 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="45"?> sen oder erhoben. Dabei muss mit Fay (2010: 23) nach Ludwig (1995) unterschieden werden zwischen freiem Textschreiben, dem integrierten Schreiben, das sowohl Planen, Konzipieren als auch Verschriften umfasst, sowie Tests- oder Instruktionssettings, dem nicht-integrierten Schreiben, wobei das Verschriften entlastet von Planen und Konzipieren erfolgt: dazu gehören Diktate, Lückentexte, Einzelwortschreibungen und Morphem-Schreibungen, für Letzteres vgl. die Test-Batterie der Hamburger Schreibprobe (May/ Vielauf/ Malitzky 2001). Das integrierte Schreiben stellt ganz andere Anforderungen an die orthographische Kompetenz, die Fehlerquote ist hier allgemein höher, da andere Aufgaben wie Planen und Konzipieren die kognitiven Ressourcen besetzen (Fay 2010). Die Anzahl Fehler in den Textprodukten gilt einerseits als Indikatoren für die individuelle Rechtschreibkompetenz: So werden im Rahmen von Fehlerstatistiken Falschschreibungen ausgezählt und kategorisiert, vgl. den Forschungsüberblick in Scheele (2006), oder im schulisch-didaktischen Bereich mit sogenannten Sprachstands- oder Lernstandserhebungen die Rechtschreibkompetenz der Schüler und Schülerinnen erhoben (vgl. die Übersicht zu Rechtschreibtests in Herné 2006). Andererseits gilt die Anzahl Fehler aber auch als Indikatoren dafür, welche Bereiche der Rechtschreibung als schwierig zu gelten haben sowie als Grundlage für die Ausarbeitung von Entwicklungs- und Erwerbsmodellen wie in der Untersuchung der fortgeschrittenen Rechtschreibfertigkeiten von Scheele (2006). Auch im alltäglichen beruflichen, privaten oder halb-privaten Schreiben wird die Einschätzung der Schreibkompetenz anderer anhand von Textprodukten wie etwa einem Geschäftsbrief, einem Bewerbungsschreiben oder einem Arbeitsbericht vorgenommen. Dabei zeigt sich oft ein Transfer der Einschätzung der Rechtschreibkompetenz auf die Schreibkompetenz des Schreibenden generell, auf die inhaltliche Einschätzung des Textes, auf die Einschätzung der Kompetenz des Schreibenden global sowie auf dessen Schulbildung und dessen charakterliche Eigenschaften, vgl. etwa Augst (2004: 649), Giese (1989). In einer älteren Befragung von Ausbildungsleitern in mittleren und größeren Unternehmen Deutschlands konnte nachgewiesen werden, dass gute Rechtschreibkompetenz mit wünschbaren Eigenschaften wie gute Allgemeinbildung und große Lernbereitschaft verbunden wurde, jedoch weniger mit Intelligenz (Ruth 1985: 13). Aktuellere Studien liegen leider m. W. nicht vor, trotzdem dürften die Ergebnisse heute wohl in etwa ähnlich ausfallen. Wie der Transfer der Einschätzung der Rechtschreibkompetenz auf die Einschätzung anderer Aspekte diskursiv konstruiert wird, kann heute in Online-Diskussionsforen beobachtet werden, wenn Nicht- Standardschreibungen bei konfliktaffinen Diskussionsthemen oft zum Aufhänger für inhaltliche Kritik oder Abwertung des Verfassers/ der Verfasserin genommen werden (Weder 2008). So kommt auch Stetter (1995: 45) aufgrund der Analyse von Sprachberatungs-Anfragen zum Schluss, dass „ orthographische Kompetenz fraglos Bildungskapital im Sinne Bourdieus ist “ . 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 35 <?page no="46"?> In Bezug auf die Fragen nach den orthographischen Varianten interessiert hier natürlich weniger die Anzahl Richtig- und Falschschreibungen in den Textprodukten, sondern die Frequenz der gewählten Formen sowie die soziale Bedeutung, die der Verwendung bestimmter Formen zugeschrieben wird, vgl. 2.2. 2.4.2 Orthographische Kompetenz als Teilprozess im individuellen Schreibprozess Orthographische Kompetenz gelangt in der Schreibhandlung, im Schreibprozess zur Anwendung; damit wird diejenige Perspektive auf Orthographie eingenommen, die Orthographie als Teilprozess des individuellen Schreibprozesses betrachtet. Auch in diesem Bereich gibt es jedoch einige Forschungslücken zu verzeichnen. Während sich in der Schreibforschung in der Folge der einflussreichen Schreibprozess-Modelle von Flower/ Hayes (1981) sowie Bereiter/ Scardamalia (1987) 20 generell ein Trend weg von der Untersuchung von Textprodukten hin zur Untersuchung von Schreibprozessen oder der Kombination von beiden beobachten lässt (Latif 2008; Weder 2010), wurde dieser Paradigmenwechsel für orthographische Forschungsfragen (noch) nicht bzw. erst in Ansätzen nachvollzogen. Dies kommt wohl einerseits daher, dass das Auszählen und Klassifizieren von orthographischen Fehlern vermeintlich einfach und unproblematisch Einblick in die abgerufenen orthographischen Kompetenzen vermittelt. Andererseits mag es darauf zurückzuführen sein, dass die heute dominierenden Schreibprozessmodelle Orthographie nur ungenügend berücksichtigen, da die Modelle auf sogenannt hierarchie-höhere Prozesse wie Planen ( ‚ planning ‘ ) und Überarbeiten ( ‚ reviewing ‘ ), Kontrollieren/ Steuern ( ‚ monitoring ‘ ) fokussieren und hierarchie-niedere wie Wortfindung, Konstruktion von Satzplänen, Abrufen von Schreibungen (Orthographie), Graphomotorik eher vernachlässigen; hierarchie-niedrige Prozesse werden zwar beispielsweise in Hayes ‘ Modell unter Formulieren (translating) zusammengefasst, aber nicht genauer ausgeführt (Flower/ Hayes 1981). Sie werden allerdings oft in Einzelstudien ohne Bezug auf den gesamten Schreibprozess umfassende Modelle untersucht, vgl. zu diesem Defizit in der theoretischen Modellierung von Schreibprozessen auch die Diskussion in Alamargot/ Chanquoy (2001: 65 - 96) sowie Arfé et al. (2012). Die vorliegende Untersuchung kann mit dem Schreibexperiment aber gut zeigen (Kapitel 6), wie orthographische Unsicherheit den Schreibfluss empfindlich stören kann, was den Schluss nahelegt, dass weitergehende theoretische Modellierungen sowie deren empirische Überprüfung von großem Interesse wären. Was tun Schreibende, wenn sie im Rahmen von Schreibhandlungen orthographische Entscheidungen treffen, wie wirken bewusste 20 Vgl. die Übersicht der Schreibprozess-Modelle in Sieber (2006). 36 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="47"?> und automatisierte Prozesse zusammen, welche Wissensbestände werden aktiviert? Konfligieren Wissensbestände im Schreibprozess und welche wirken prioritär? Wir wirkt Orthographie auf den Schreibprozess? Dies ist nur eine Auswahl der ungeklärten Fragen, vgl. auch Fayol (2012: 41). Wie oben erwähnt gibt es einige Einzelstudien zu spezifischen orthographischen Forschungsfragen. Daraus sollen einige prominente und für die Untersuchung relevante herausgegriffen werden. Bei der Erforschung der Wortschreibung, oft Graphemschema genannt (Augst 1994: 30), bildet den Kern des Forschungsinteresses die Frage danach, ob eine Wortschreibung mittels Phonem-Graphem-Korrespondenz-Regeln ad-hoc generiert (sublexikalischer Zugriff) oder holistisch als lexikalische Einheit abgerufen wird (lexikalischer Zugriff). 21 Oben wurde schon erwähnt, dass experimentell nachgewiesen werden konnte, dass beide Strategien zum Einsatz gelangen, was mittlerweile als Zwei-Wege-Modell (dual-route) bezeichnet wird. Noch weitgehend ungeklärt ist hingegen, wie orthographische Phänomene, die über die Wortschreibung hinausgehen und an der Schnittstelle zur Grammatik anzusiedeln sind, im Schreibprozess verarbeitet werden, so z. B. Groß-/ Kleinschreibung, Getrennt-/ Zusammenschreibung. Augst (1994) nimmt in seiner theoretischen Modellierung der orthographiebezogenen kognitiven Prozesse an, dass aus dem lexikalischen und sublexikalischen Prozess ein Lexem resultiert, welches in einem nachgeschalteten morphographemischen Prozess in eine morphosyntaktische Wortform überführt wird. So würde zum Beispiel bei einer Nominalisierung des Verbs singen zuerst singen abgerufen, das anschließend als Nominalphrase das Singen rekodiert würde. Psycholinguistische Untersuchung zur französischen Orthographie weisen jedoch in eine andere Richtung: In mehreren experimentellen Studien zu der in der französischen Orthographie äußerst anspruchsvollen Verb- und Adjektivkongruenz konnte gezeigt werden, dass kompetente Schreiber und Schreiberinnen die Wortformen inklusive der Flexionsendungen probabilistisch nach den Variablen syntaktische Position und Frequenz abrufen und nicht aufgrund der syntaktischen Konstruktion ad-hoc generieren (Fayol 2012: 38 - 40). Beim automatisierten Abrufen von Schreibungen scheinen auch Effekte der Regularität und Frequenz ein Rolle zu spielen. So konnten Lambert et al. (2011) in einer Untersuchung mit Studierenden feststellen, dass in einer 21 Dass bei Wortschreibungen nicht, wie früher im Rahmen der sogenannten Wortbildtheorie angenommen wurde und heute noch von Laien angenommen wird, Wortbilder abgerufen werden, ist in der Forschung nun schon seit längerem widerlegt. Indizien, die gegen die Wortbildtheorie sprechen sind: a) beobachtbare Falschschreibungen weisen selten visuelle Ähnlichkeiten mit den Umrissen der korrespondierenden Normschreibung auf; b) der hohe normkonforme Input müsste theoretisch zu mehr Richtigschreibungen führen; c) schon Kinder können Kunstwörter nach orthographischen Regelmässigkeiten verschriften, vgl. Risel (2008: 35 - 40) in der Zusammenfassung von Scheerer-Neumann (1986). 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 37 <?page no="48"?> Abschreibaufgabe die Regularität der zu verschriftenden Wortform, d. h. eine reguläre Phonem-Graphem-Korrespondenz, sowie eine hohe Frequenz der Wortform die Latenz (d. h. die Pause vor dem Verschriften) signifikant verkürzten, was auf geringeren kognitiven Aufwand und somit auf eine automatisierte Produktion schließen lässt. Dass beim Rechtschreiben mehrere linguistische Wissensbestände auf komplexe Art interagieren, wurde in verschiedenen Untersuchungen zum Erwerb tiefer orthographischer Systeme wie dem Englischen und Französischen, aber auch für flache Orthographien wie dem Italienischen nachgewiesen, vgl. dazu die Übersichtsdarstellung in Arfé et al. (2012: 360 - 363). Im didaktischen Kontext wird hier von der zunehmenden Integration orthographischer Prinzipien ausgegangen: phonologisch, morphologisch, grammatisch, vgl. 2.1.6.1. Weitergehende empirische Untersuchungen zu orthographischen Repräsentationen und dem Abruf von Schreibungen, insbesondere auch spezifisch für die deutsche Orthographie, stehen jedoch noch aus. Weitere Einzelerkenntnisse aus der Schreibprozess-Forschung, die Hinweise für theoretische Modellierungen geben können, betreffen das Zusammenspiel von bewussten und unbewussten (automatisierten) Prozessen. So etwa untersuchte Uppstad/ Solheim (2007) die Schreibflüssigkeit bei norwegischen Primarschülern bei der Verdoppelung von Konsonanten. Die Ausgangsüberlegung dabei war, dass gute Rechtschreiber und Rechtschreiberinnen die Schreibungen schneller produzieren als schwächere. Es zeigte sich aber, dass gute Rechtschreiber und Rechtschreiberinnen vor den Doppelkonsonanten länger pausierten, was auf erhöhte kognitive Aktivität verweist, während schwächere Schreiber und Schreiberinnen eine durchschnittlich lange Produktionszeit aufwiesen. Daraus folgern Uppstad/ Solheim (2007: 85), dass orthographische Kompetenz im Schreibprozess ein flexibles Wechseln zwischen Automatisierung und Bewusstheit verlangt. Dieser Befund müsste allerdings noch an weiteren orthographischen Phänomenen in verschiedenen Orthographien bestätigt werden. Als gesichert darf jedoch die Annahme gelten, dass fehlende Automatisierung bei hierarchie-niedrigen Prozessen wie der Orthographie und/ oder der Graphomotorik (Handschrift, Tastatur) kognitive Ressourcen besetzt, die für hierarchie-höhere Prozess der Text-Generierung benötigt werden, dies wurde schon bei Flower/ Hayes (1981) festgestellt, vgl. auch McCutchen (1996) oder für eine Übersicht zu aktuelleren Arbeiten Alves et al. (2012). So konnten etwa Connelly et al. (2012) bei der Untersuchung der Schreibkompetenz und Schreibprozesse von elfjährigen Kindern einen positiven Zusammenhang zwischen der Textqualität, der Länge von sogenannten Bursts (Schreibaktivität am Stück zwischen Pausen und Korrekturhandlungen) sowie der Rechtschreibkompetenz nachweisen: je besser die Rechtschreibkompetenz, desto länger die Bursts (gemessen als Anzahl Wörter und als Operationalisierung von Schreibflüssigkeit) und desto besser die Qualität der produzierten Texte. 38 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="49"?> Zusammenfassend lässt sich aus diesen Einzeluntersuchungen festhalten: Im Schreibprozess werden Schreibungen entweder durch das Abrufen gespeicherter Informationen als Schreib- oder Graphemschemata (lexikalischer Prozess) oder durch die Anwendung von Regularitäten, Regeln, Analogien, Assoziationen (sublexikalischer Prozess) produziert. Dabei darf davon ausgegangen werden, dass verschiedene linguistische Wissensbestände zu Phonologie, Morphologie, Syntax involviert sind, flexibel zwischen bewussten und unbewussten Prozessen gewechselt werden muss, wobei automatisierte orthographische Entscheidungen auf probabilistischen Annahmen basieren, die von der Regularität sowie der Frequenz der zu verschriftenden Form gesteuert werden dürften. Wie die verschiedenen Wissensbestände zusammenwirken, ist aber noch ungeklärt; ebenso fehlt eine umfassende Modellierung, die als Bezugssystem für die Untersuchung spezifischer orthographischer Probleme wie der Variantenfragen herangezogen werden könnte. Für die Untersuchung der orthographischen Varianz stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess. Dabei interessieren in erster Linie die Prozesse des Abrufens sowie der Einfluss auf den Schreibfluss. Mangels geeigneter Modelle und Theorien wird deshalb in Kapitel 6 datengeleitet ein Modell zum Einfluss von orthographischen Varianten auf den Schreibfluss entwickelt, das auf der Grundlage einer didaktischen Modellierung von Schreibkompetenz basiert, die nachfolgend dargelegt wird. 2.4.3 Mentale Repräsentation: Modellierung orthographischer Kompetenzen Obwohl Orthographie schon seit längerem einen wichtigen Stellenwert in der Deutschdidaktik einnimmt, seit der Rechtschreibreform mehr oder weniger ihren Platz auch in der linguistischen Forschungslandschaft in der sogenannten Schriftlinguistik gefunden hat sowie als wichtiger Teilprozess im Schreibprozess zu gelten hat, liegt noch keine überzeugende Modellierung der Rechtschreibkompetenz vor. So muss Fay (2010: 13) insgesamt feststellen, dass „ derzeit im fachwissenschaftlichen Diskurs kein Konsens darüber besteht, was unter ‚ Rechtschreibkompetenz ‘ zu verstehen ist “ . Dies mag einerseits daher rühren, dass Orthographie ein explizit geregeltes Normensystem ist, so dass oft orthographische Kompetenz in völliger Vernachlässigung der komplexen kognitiven und sozio-kulturellen Dimension von Schreiben und Rechtschreiben simplifizierend mit der Kenntnis von Regeln und Einzelwortschreibungen der Phänomenbereiche Phonem-Graphem-Korrespondenzen, Groß-/ Kleinschreibung, Getrennt-/ Zusammenschreibung, Interpunktion gleichgesetzt wird. Andererseits mag es daher kommen, dass orthographische Kompetenz schwergewichtig in fachdidaktischen Publikationen mit starkem Praxisbezug behandelt wird, die oft darauf verzichten, ihr orthographie-didaktisches Vorgehen auf einem umfassenden Kompetenz- 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 39 <?page no="50"?> modell der Orthographie aufzubauen, sondern sich mit der Formulierung der zu erwerbenden Strategien begnügen. Etwas differenzierter wird orthographische Kompetenz im fachdidaktischen Diskurs ganz grundlegend mit der Fähigkeit gleichgesetzt, Texte richtig, d. h. gemäß der geltenden Rechtschreibnormen zu verfassen; dies wird gemeinhin als Können (knowing how) bezeichnet. Dafür sind Kenntnisse der orthographischen Normen und Regeln nötig, dies wird gemeinhin unter Kennen oder Wissen (knowing that) gefasst. Des Weiteren gehört aber auch die Überarbeitungskompetenz dazu, die Fähigkeit, über Schreibungen zu reflektieren, z. B. über die eigenen Schreibungen in einem verfassten Text nachzudenken und mit entsprechenden Strategien falls nötig Korrekturhandlungen vorzunehmen (Augst/ Dehn 2007). In den mittlerweile in Deutschland und der Schweiz entwickelten Bildungsstandards für die Schulsprache Deutsch erscheinen diese Aspekte in der Festsetzung der zu erreichenden orthographischen Kompetenz meist prominent, vgl. die Standards etwa für die Oberstufe in Deutschland (KMK 2003: 11 und 13) und der Schweiz (EDK 2011: 33). Dieses Verständnis von orthographischer Kompetenz greift viel zu kurz und kann komplexere Zusammenhänge, wie sie in den vorangehenden Kapitel insbesondere zur sozialen und kulturellen Dimension von Orthographie skizziert wurden, nicht befriedigend integrieren; dies betrifft für die vorliegende Untersuchung v. a. Probleme zur orthographischen Varianz, zu Fragen zum Umgang mit orthographischen Phänomenen jenseits der Dichotomie richtig/ falsch sowie zu Fragen zur Einstellung gegenüber Orthographie. Es soll anstelle dessen von einem psychologischen Kompetenzbegriff ausgegangen werden, der in der Folge von large-scale Schulleistungsstudien wie PISA oder DESI sowie im Zuge der Ausarbeitung nationaler Bildungsstandards in den deutschsprachigen Ländern in der pädagogischen, fachdidaktischen und bildungspolitischen Diskussion eine zunehmende Popularität und infolgedessen eine breite wissenschaftliche und praktische Auseinandersetzung erfahren hat, vgl. etwa Weinert (2001 a). 22 Diese umfangreiche Kompetenz-Debatte kann und soll jedoch an dieser Stelle nicht im Detail aufgerollt werden, vgl. für die Darstellung der verschiedenen Zugänge aber etwa Böhnisch (2008) oder Ossner (2006 a). Vielmehr soll ein auf der Grundlage der mittlerweile im deutschen Sprachraum anerkannten psychologischen Kompetenzdefinition Weinerts entwickeltes Modell orthographischer Kompetenz vorgestellt werden, das dieser Arbeit zugrunde gelegt wird. Weinert (2001 b: 27) definiert Kompetenzen als 22 Dieser Kompetenzbegriff darf nicht verwechselt werden mit dem Kompetenzbegriff, wie er konventionellerweise in der Linguistik als Kontrastierung von Kompetenz als Sprachfähigkeit und Performanz als Sprachverwendung verwendet wird. 40 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="51"?> die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. Auf die orthographische Kompetenz allgemein bezogen, gilt es festzuhalten, dass sie nicht nur eine kognitive Disposition ist (Kennen und Können), sondern auch soziale, motivationale und volitionale Aspekte umfasst, die insbesondere im Einsatz der orthographischen Kompetenz in literalen Ereignissen (Schreibhandlungen) eine Rolle spielen. Auf die Variantenfrage bezogen, gilt es festzuhalten, dass a) nach der mentalen Repräsentation der Varianten zu fragen ist (Kennen); b) nach dem Umgang mit der Varianz in Schreibhandlungen (Können) sowie c) nach der volitionalen, motivationalen und sozialen Bereitschaft, sich mit dem Phänomen der Varianz auseinanderzusetzen, mit der Varianz in konkreten literalen Ereignissen umzugehen. In weiterführenden Ausdifferenzierungen insbesondere der kognitiven Aspekte dieses Kompetenzbegriffs wurde auf der Grundlage von kognitionspsychologischen Modellen zu Wissen und Wissenserwerbs nach Mandl/ Friedrich/ Hron (1986) weitergehende Kompetenzmodelle zu Schreiben und Rechtschreiben ausgearbeitet, so etwa in Hinney (2011: 196), Hinney et al. (2008) oder (Becker-Mrotzek/ Schindler 2007) nach Ossner (2006 a), die bis anhin jedoch weder empirisch validiert noch systematisch auf das orthographische System bezogen wurden. Sie werden somit hier als Arbeitsgrundlage vorgestellt, auf der vor allem die Beobachtungen aus dem Schreibexperiment interpretiert werden sollen. Der nun folgenden Darstellung wird das Modell von Becker-Mrotzek/ Schindler (2007) nach Ossner (2006 a) zugrunde gelegt: Sie modellieren das Schreiben als Zusammenspiel der verschiedenen Teilkompetenzen Texte schreiben, Texte richtig schreiben, Texte motorisch schreiben, die sich wiederum in verschiedene Teilkompetenzen gliedern. In diesem Schreibmodell ergeben sich folgende orthographischen Wissensbestände für den Bereich Texte richtig schreiben (Becker-Mrotzek/ Schindler 2007: 24), vgl. Tab. 1, die Beispiel wurden von mir hinzugefügt: Das deklarative Wissen umfasst „ orthographische Kenntnisse “ (Becker- Mrotzek/ Schindler 2007: 24) als Wissen über Prinzipien, Regeln, Einzelwortschreibungen (Kennen oder knowing what) 23 , so z. B. die Kenntnisse der regulären deutschen Phonem-Graphem-Korrespondenzen (Der Laut / p/ wird mit dem Graphem ‹ p › verschriftet) oder die Regel Nomen werden großgeschrieben. 23 Becker-Mrotzek/ Schindler (2007: 13) bemerken hierzu etwas rätselhaft, dass deklaratives Wissen nur in selbst verfertigten Texten erforderlich ist, aber in anderen Schreibkontexten wie dem Diktatschreiben nicht zum Einsatz gelange. Diese Ansicht erscheint wenig überzeugend und ihr wird daher hier nicht gefolgt. 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 41 <?page no="52"?> Das deklarative Wissen wird als propositionale Netzwerkstruktur angenommen (Anderson 1982: 370). Das Problemlösewissen umfasst „ Prüfverfahren zur orthographischen Korrektheit und Angemessenheit “ (Becker-Mrotzek/ Schindler 2007: 24), d. h. also Strategien, um Schreibungen zu prüfen oder richtige Schreibungen herzuleiten (Können oder knowing-how), z. B. die Artikelprobe, um die Großschreibung abzuleiten, die Ableitung von Stammschreibungen (morphologisches Prinzip) oder das Wissen darum, wie und wo man bei Unsicherheiten nachschlagen kann. Das deklarative Wissen und das Problemlösewissen müssen gelernt werden (Ossner 2006 a: 10). Tab. 1: Übersicht der orthographischen Wissensbestände im Rahmen der Modellierung orthographischer Kompetenz gemäß Becker-Mrotzek/ Schindler (2007) nach Ossner (2006 a) Wissen Beschreibung Beispiele Deklaratives Wissen Wissen über Prinzipien, Regeln, Einzelwortschreibungen (Kennen oder knowing what) Regularitäten der PGK/ GPK; Nomen schreibt man groß Problemlösewissen Strategien zur Prüfungen von Schreibungen oder Herleitung richtiger Schreibungen (Können oder knowing how) die Artikelprobe für die Großschreibung; die Ableitung für Stammschreibungen (morphologisches Prinzip); Nachschlagehandlungen bei Unsicherheiten; Korrekturstrategien Prozedurales Wissen Routinen und Prozeduren als verdichtetes Problemlösewissen (Können oder knowing-how) automatisierte Wortformenproduktion als Abrufen von Schreibschemata oder automatisiertes Herstellen von PGK Metakognitives Wissen Reflektieren der orthographischen Prozesse; Steuerung und Kontrolle des Lernens; Sprachbewusstsein/ -heit volitionale, motivationale und soziale Aspekte Kenntnisse der Anforderung an orthographische Korrektheit der verschiedenen literalen Praktiken; Motivation zur Einhaltung orthographischer Normen; Wissen um die Bedeutung der Orthographie in einer Gesellschaft: Wissen um die eigene orthographische Kompetenz sowie die Fähigkeit bewusst darauf zurückzugreifen Das prozedurale Wissen hingegen umfasst „ orthographische Routinen “ (Können oder knowing-how) (Becker-Mrotzek/ Schindler 2007: 24) als Verdich- 42 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="53"?> tungen von Problemlösewissen und gehört ebenfalls zum Können/ knowing- How (Ossner 2006 a: 11). Die Herausbildung von Prozeduren und Automatismen setzen kognitive Ressourcen frei für konzeptionelle Anforderungen des Schreibprozesses (Becker-Mrotzek/ Schindler 2007: 15). Dazu gehören beispielsweise etwa das Abrufen von Schreibschemata als gespeicherte Wortformen oder das Herstellen von PGK für nicht gespeicherte Wortformen (Nerius et al. 2007: 425), vgl. dazu das Zwei-Wege-Modell. Das metakognitive Wissen schließlich betrifft das „ Reflektieren der orthographischen Prozesse “ (Becker-Mrotzek/ Schindler 2007: 24), das „ Wissen um die eigenen Kognitionen, Steuerung und Kontrolle des Lernens, Sprachbewusstheit “ (Hinney et al. 2008: 110), die bei Weinert genannten volitionalen, motivationalen und sozialen Aspekte der orthographischen Kompetenz (Ossner 2006 a: 11) sowie generell das Wissen über die Funktion der Schriftlichkeit bzw. im Rahmen dessen der Orthographie, vgl. dazu auch Friedrich (1996: 1251). Dazu gehört beispielsweise das Wissen darum, welche literalen Praktiken welche Anforderung an die orthographische Korrektheit implizieren; wie mit orthographischer Unsicherheit umgegangen wird, wie man sich orthographisches Wissen aneignet, falls nötig, oder wie man sich motivieren kann, sich mit Fragen der Orthographie auseinanderzusetzen, sowie generell Wissen um die Bedeutsamkeit der Orthographie in einer Gesellschaft. An diesen auf einem sprachdidaktischen Hintergrund entwickelten Modellen gibt es drei Punkte zu bemängeln: Erstens werden die soziokulturellen Aspekte der Orthographie sowie damit zusammenhängend die Frage nach der Funktion der orthographischen Kompetenz nicht adäquat modelliert. Die Unterbringung der sozio-kulturellen Aspekte der Orthographie im meta-kognitiven Wissen etwa vermag nicht vollständig zu befriedigen. Das Wissen um die soziale und kulturelle Bedeutsamkeit der Orthographie sowie alles Wissen, das sich auf Orthographie als Teilpraxis der literalen Praxis bezieht, wäre wohl teilweise im deklarativen Wissen anzusiedeln, was jedoch auch nicht zu überzeugen vermag, da damit System- Kenntnisse mit Kenntnissen der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen vermengt werden. Allerdings bleiben diese Modelle bezüglich dieser Aspekte der Orthographie etwas unspezifisch, die Funktion orthographischer Kompetenz findet überhaupt nirgends Erwähnung. Zweitens wird die Unterscheidung von Kenntnissen von expliziten und impliziten orthographischen Normen nicht adäquat abgebildet. Streng genommen gehören sie teils zum deklarativen Wissen, teils zum prozeduralen Wissen. Drittens differenziert dieses Modell nicht adäquat zwischen der Norm entsprechenden, orthographischen Regeln und der sogenannten inneren Regelbildung, den mentalen Repräsentationen orthographischer Normen, die, wie oben schon angesprochen, nicht mit den offiziell geltenden, in der Schule vermittelten Normen decken müssen. Dieser Aspekt wird im nächsten Unterkapitel gesondert abgehandelt, da sich dieses Konzept gerade für die Unter- 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 43 <?page no="54"?> suchung des Wahlverhaltens bei orthographischen Varianten als bedeutsam herausgestellt hat. 2.4.4 Subjektive orthographische Konzepte Die subjektive Seite mentaler Repräsentationen von orthographischen Normen wird bei Augst/ Dehn (2007: 42; Auszeichnung im Original) folgendermaßen umschrieben: Obwohl [. . .] jeder aus der Schule Rechtschreibregeln kennt, müssen wir mit allem Nachdruck feststellen, dass niemand die Regeln kennt, die der Schreiber anwendet! Die Aussage mag etwas überspitzt erscheinen, trifft aber doch den Kern des Phänomens der „ inneren Regeln “ bzw. der „ innere[n] Regelbildung “ (Eichler 1991), das in der pädagogischen Psychologie ähnlich, wenn auch nicht ganz deckungsgleich „ subjektive Theorien “ genannt wird (Groeben et al. 1988). Das Konzept der inneren orthographischen Regel ist nicht umfassend geklärt, es ist aber allen Ansätzen die Ausgangsüberlegung gemein, dass Schreibende bzw. Schreiblernende nach Regelmäßigkeiten und generalisierbaren Strategien suchen, die in der aktiven Auseinandersetzung mit der Schrift durch Assoziation, Analogie und Schlussfolgerung gebildet werden (Friedrich 1996: 1253). Innere Regeln und Regelbildung wurden daher besonders in Bezug auf die Entwicklung und Herausbildung der orthographischen Kompetenz im Rechtschreiberwerb unter dem lernpsychologischen Paradigma des Lernens als eigenaktiver Prozess der Ko-Konstruktion untersucht (Friedrich 1996: 1253), so etwa in Nickel (2006). Bei Kindern kann beispielsweise offenbar schon früh das Konzept Man schreibt, wie man analysierend spricht (Eichler 1991: 35) 24 und ein wenig später Wichtige Wörter schreibt man groß beobachtet werden (Eichler 1991: 35); diese ‚ Regeln ‘ entsprechen natürlich nicht vollkommen der orthographischen Norm, markieren aber doch einen wichtigen und notwendigen Entwicklungsschritt im Erwerb orthographischer Kompetenzen. Das aus der pädagogischen Psychologie stammende Konzept der subjektiven Theorien ist demgegenüber etwas weiter gefasst: Subjektive Theorien werden verstanden als Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das auch die objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt (Groeben et al. 1988: 19). Auf den Bereich der Orthographie heruntergebrochen, bedeutet dies, dass Schreibende eine subjektive, individuelle Sicht auf Struktur und Funktion der Orthographie, auf ihre Prinzipien, Regeln und Einzelfestlegungen einnehmen, die teils im Orthographieunterricht angeleitet, teils in der eigenen 24 Diese „ Regel “ wird auch als phonologische Bewusstheit bezeichnet (Küspert 1998). 44 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="55"?> Auseinandersetzung mit und im Gebrauch der Schriftlichkeit ko-konstruiert wird (entspricht den ‚ Kognitionen der Weltsicht ‘ ). Diese subjektiven Theorien steuern die literale Praxis, bilden die Grundlage für orthographische Entscheidungen sowie für Bewertungen und Einstellungen gegenüber der Orthographie oder z. B. auch Ereignissen wie der Orthographie-Reform. Dies wird hier fortan als subjektive Konzepte bezeichnet. Subjektive Theorien beziehen sich aber auch auf die subjektive Sicht auf die eigenen Schreib- und Rechtschreibkompetenzen (entspricht den ‚ Kognitionen der Selbstsicht ‘ ), was in der Lernpsychologie unter den Begriffen des Selbstkonzepts ( ‚ self-concept ‘ ) und der Selbstwirksamkeitsüberzeugung ( ‚ self-efficacy ‘ ) gefasst wird (Bong/ Skaalvik 2003). Subjektive Konzepte können durchaus auch kollektiv geteilte Annahmen sein. Sie werden fortan als Laienkonzepte bezeichnet. So gibt es heute beispielsweise das Laienkonzept „ Seit der Rechtschreibreform schreibt man viel mehr groß “ , was sich individuell in der Problemlöse- Strategie manifestiert „ Im Zweifelsfall schreib ich groß “ . Bei Laienkonzepten kommt es nicht so sehr drauf an, ob sie der orthographischen Norm entsprechen, als dass sie Handlungen leiten sowie die Herausbildung von Einstellungen beeinflussen. Es muss davon ausgegangen werden, dass auch beim Ausbau der orthographischen Kompetenz Jugendlicher und Erwachsener nebst meta-kognitiven Dispositionen individuelle subjektive Konzepte und Laienkonzepte eine eminent wichtige Rolle spielen. Leider gibt es auch dazu m. W. keine Untersuchung. Ein empirisch begründetes Modell würde aber gerade für die Untersuchung orthographischer Varianten in der literalen Praxis Erwachsener eine hilfreiche Orientierung bieten. In der Variantenfrage interessiert vor allem, welche subjektiven Konzepte der Wahl bei orthographischen Varianten zugrunde liegen. In Ermangelung eines Modells werden daher die Konzepte datengeleitet erarbeitet, vgl. Kapitel 7. Es wird in dieser Untersuchung aber explizit nicht von inneren Regeln o. Ä. gesprochen, sondern von subjektiven orthographischen Konzepten oder, wenn es sich um geteilte Konzepte handelt, von laienlinguistischen Konzepten. Bei der Variantenwahl zeigte sich nämlich in den Begründungen der Versuchpersonen - so viel sei vorweggenommen - , dass erwachsene Schreiber und Schreiberinnen über komplexe individuelle orthographische Konzepte verfügen, für deren Bezeichnung der Begriff „ innere Regelbildung “ geradezu irreführend wäre, weil sie von einer Systemorientierung ausgeht, die so im Rahmen dieser Untersuchung nicht gezeigt werden kann. Im Gegenteil spielen Faktoren wie Sprachbiographie, individuelle Habitualisierungen, Affekte und Emotionen eine ebenso wichtige Rolle. Dies sind alles Faktoren, die sehr wenig mit Regeln, Regelmäßigkeiten, der Orientierung an einer systemhaften Ordnung oder Analogiebildungen zu tun haben. Es gehört zu den Eigenheiten von subjektiven Konzepten bzw. inneren Regelbildungen, dass sie nur teilweise der bewussten Reflexion zugänglich sind. Zugriffe auf subjektive Konzepte bzw. innere Regelbildung geschehen 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 45 <?page no="56"?> durch Prozesse der Bewusstwerdung, die theoretisch mit dem schillernden Konzept der orthographischen Bewusstheit bzw. des orthographischen Bewusstseins als Teil der Sprachbewusstheit bzw. des Sprachbewusstseins gefasst werden; die beiden Begriffe werden teilweise synonym, teilweise in Abgrenzung voneinander verwendet und es herrscht noch kein Konsens, was genau darunter zu fassen ist, vgl. Andresen/ Funke (2006). Mit Nickel (2006) wird unter dem orthographischen Bewusstsein „ die Fähigkeit, als Schreiber/ in die eigenen mentalen Prozesse bei der Konstruktion einer gewählten Schreibweise willkürlich steuern, reflektieren und darüber Auskunft geben zu können, also die eigene metasprachliche Theorie sich selbst bewusst, und damit Reflexions- und Modellierungsprozessen zugänglich machen zu können “ (Nickel 2006: 202). Dieses Bewusstsein ist nach Domänen strukturiert: phonologisch, semantisch, morphologisch, syntaktisch, grammatisch und pragmatisch (Nickel 2006: 202). Dem gegenüber ist orthographische Bewusstheit willkürlicher, systematischer, abstrakter und „ setzt somit intentional eine Reflexion über den Aufbau und die Funktionsprinzipien von Sprache in Gang, aber auch über die eigene kognitive Aktivität, mit deren Hilfe Lösungsprozeduren bewusst und reflektierend eingesetzt werden können (eine Regel anwenden, Analogien aufbauen, Eselsbrücken anwenden . . .) “ (Nickel 2006: 202). Es wird hier auf eine weitergehende Diskussion des komplexen und umstrittenen Bewusstseins-/ Bewusstheitskonzept verzichtet, weil es für die vorliegende Untersuchung im Grunde nur relevant ist, um das methodische Vorgehen bei der Begründung der Variantenwahl theoretisch zu verankern. Orthographisches Bewusstsein erklärt, wie Schreibende Zugang zu den eigenen subjektiven Konzepten finden bzw. wie forschungsmethodisch darauf zugegriffen werden kann. Die Verbalisierungen der Versuchspersonen sind als Prozesse des orthographischen Bewusstsein oder der Bewusstheit zu verstehen und geben somit Einblick in die subjektiven Konzepte der Versuchspersonen. 2.4.5 Aufbau und Ausbau orthographischer Kompetenz Die vorliegende Untersuchung befasst sich nicht mit dem Orthographie- Erwerb, daher sollen hier nur diejenigen Aspekte herausgegriffen werden, die für die Untersuchung relevant sind. Der Erwerb der orthographischen Kompetenz wird in den meisten deutschsprachigen Arbeiten zum Thema auf der Grundlage von Frith (1986) als Stufenmodell konzipiert, bei denen die Abfolge der Stufen als Anwendung bzw. Ablösung bestimmter Strategien gefasst wird. Die Abfolge der Strategien gliedern sich in die logographemische Phase (visueller Zugang zu bzw. Abruf von Schreibungen), die alphabetische Phase (v. a. Anwendung des phonologischen Prinzips) sowie die orthographische Phase (Entdecken und Anwenden des morphologischen und grammatischen Prinzips), vgl. die Übersichtsdarstellung in Augst/ Dehn (2007: 58 ff.) oder die Zusammenfassung in Thomé (2006). Der Kerngedanke 46 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="57"?> dieser Modelle lässt sich mit Friedrich (1996: 1254) folgendermaßen zusammenfassen: Rechtschreiberwerb wird in diesem Modell als Weg von assoziativen, perzeptiven zu analytischen, kognitiven Strategien beschrieben, i. e. als Weg vom ganzheitlichen Worbildlernen über die Berücksichtigung von Strukturprinzipien (der sequentiellen phonetischen, dann phonemischen Orientierung) zur Entdeckung der orthographiespezifischen Graphemstruktur der geschriebenen Sprache. Die Stufenmodelle bilden aber die in der Kompetenzmodellierung genannten Wissensbestände bzw. deren Zusammenspiel im Erwerb nur unvollständig ab, vgl. zu einer Kritik an diesen Modellen (Critten/ Pine 2009). Dies betrifft insbesondere die Herausbildung und den Ausbau von Automatismen, wie schon oben in 2.4.2 dargelegt, die geradezu als Kern der ausgebauten orthographischen Kompetenz bei Jugendlichen und Erwachsenen zu gelten haben: „ Wer viele Wörter in verschiedenen Schreibsituationen richtig automatisiert schreibt, verfügt über Rechtschreibkompetenz. “ Hinney et al. (2008: 111). In Anlehnung an die lernpsychologische Modellierung von Erwerb von Fertigkeiten durch Anderson (1982) beschreibt Hinney (2011: 197) diesen Prozess folgendermassen: Wie alle Fertigkeiten lässt sich auch Rechtschreiben als eine mehrstufige Entwicklung darstellen, in deren Verlauf Lernende als Novizen (Schriftlernende) zum automatisierten Handlungswissen als Experten (Schriftkundige) voranschreiten. Zu unterscheiden sind: die Phase des Wissenserwerbs und der Wissenskompilation und die Phase der Automation [. . .]. Der Wissenszuwachs im Bereich der Rechtschreibung wird also als Aufbau von Automatismen gefasst, d. h. der Verdichtung von deklarativem Wissen in Prozeduren (Hinney 2011: 197). Dies führt dazu, dass fortgeschrittene (Recht-) Schreiber/ -innen die Regeln, denen sie folgen, nicht oder nur schwer explizieren können (Augst 1989). Allerdings gilt auch gerade für den frühen Erwerbsprozess das Umgekehrte. So verankern Critten/ Pine (2009) ihre Untersuchung des frühen Rechtschreiberwerbs von Kindern im lernpsychologischen fundierten Representational-Redescription Modell (Karmiloff-Smith 1992), das Lernen als ein Umschreiben ( ‚ rediscription ‘ ) von impliziten zu expliziten Repräsentationen konzeptualisiert. Auf die Orthographie bezogen heißt dies, dass Kinder im Erwerb zuerst qua implizite Strategien verschriften, d. h. gemäß subjektiven Konzepten, die dann langsam von expliziten Strategien abgelöst werden, dies konnten Critten/ Pine (2009) für den Erwerb morphologischer Strategien bei englischsprachigen Kindern nachweisen. Auch Uppstad/ Solheim (2007) gehen davon aus, vgl. die Beschreibung der Studie oben, dass orthographische Kompetenz nicht nur mit Automatisierung gleichzusetzen ist, sondern das gute Rechtschreiber und Rechtschreiberinnen flexibel zwischen automatisierter und bewusster Wortformenproduktion wechseln können. 2.4 Orthographie unter kognitiver Perspektive 47 <?page no="58"?> Generell können wir als Quintessenz aus diesen Studien festhalten, dass Orthographie-Erwerb als Aus- und Umbau von impliziten und expliziten Strategien als Anwendungen der in 2.1.5 genannten Prinzipien verstanden werden kann. Der Ausbau der Schreib- und Rechtschreibkompetenz dürfte mit Eintritt ins Erwachsenenalter aber mitnichten abgeschlossen sein, da die Begegnung mit neuen Kommunikationsformen und Textsorten auch neue kommunikative und sprachliche Anforderungen stellt und demzufolge auch das orthographie-bezogene schriftsprachliche Wissen und Können sowie die orthographie-bezogenen subjektiven Konzepte umgeschichtet, ausgebaut oder gar abgebaut werden. Zu vermuten ist hier etwa der Abbau von deklarativem Wissen, aber auch der Ausbau von Prozeduren und Automatismen sowie Problemlöse-Strategien. Es wurden oben schon erwähnt, dass die Rechtschreibleistungen und -kompetenzen Erwachsener - dies gilt nicht nur für den deutschen Sprachraum - erstaunlicherweise sehr selten untersucht wurden; und wenn, dann standen schwach bis gar nicht literalisierte Erwachsene im Fokus des Interesses, vgl. dazu etwa auch Cheville/ Finders (2008) oder adoleszente Schreiber und Schreiberinnen in der Ausbildung, so etwa in der etwas älteren Untersuchung von Wyss Kolb (1995) 25 . Die Ausnahme bildet hier aber die Münchner Längsschnittstudie LOGIK (Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen), die im Zeitraum von 1987 - 2004 in regelmäßigen zeitlichen Abständen „ kognitive, motivationale und soziale Entwicklungsmerkmale[..] “ ausgehend von vierjährigen Kindern bis zum Erwachsenenalter (23 Jahre) untersucht hat (Helmke/ Schrader 2012). Im Rahmen dieser Untersuchung wurden auch Rechtschreibleistungen mittels Wort-, Satz- und Lückendiktaten erhoben (Schneider/ Stefanek 2007: 79). Die Auswertungen der Rechtschreibleistungen konnten zeigen, dass die individuellen Divergenzen in der Rechtschreibleistung über die Jahre stabil blieben, die Variablen weibliches Geschlecht sowie das Bildungsniveau die Rechtschreibleistungen positiv beeinflussten; dieser Zusammenhang blieb auch über die Jahre hinweg stabil. Erstaunlicherweise konnte kein bedeutsamer Anstieg der Rechtschreibleistung vom Jugendalter zum frühen Erwachsenenalter festgestellt werden (Schneider/ Stefanek 2007). Allerdings muss hier bemerkt werden, dass in dieser Untersuchungsanlage die Herausbildung von Prozeduren und Automatismen sowie die Anwendung von Problemlöse-Strategien nicht isoliert werden können. Es liegt auf der Hand, dass sowohl für die Weiterentwicklung der Rechtschreibkompetenz (sei dies nun ein Zuwachs an Kompetenzen oder 25 Wyss Kolb untersuchte die Texte von Schweizer Lehrlingen nach dem Zürcher Textraster und kam zu folgendem Ergebnis: Im Schnitt betrifft jeder dritte sprachliche Fehler die Orthographie, insgesamt wurden allerdings 98 % aller Wörter korrekt geschrieben, es liess sich kein Zusammenhang zwischen orthographischen und anderen sprachlichen Fehlern feststellen, über 60 % aller Fehler betrafen die Groß- und Kleinschreibung sowie die Zusammen- und Getrenntschreibung (Wyss Kolb 1995: 157 - 167). 48 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="59"?> gar ein Verlust bestimmter Kompetenzen) als auch für die Herausbildung orthographischer Konzepte und Selbstkonzepte gerade auch nach der obligatorischen Schulzeit individuelle Faktoren eine große Rolle spielen, so etwa die Bedeutung des Schreibens/ Rechtschreibens im Berufs- und im Privatleben, die positive Erfahrung der eigenen Rechtschreibkompetenz bzw. die negative Erfahrung der eigenen ungenügenden Rechtschreibkompetenz. So stellt Risel (1997: 48) schon für Schüler fest, dass sich die orthographische Selbsteinschätzung im Spannungsfeld von „ allgemeinem Selbstwertgefühl “ und „ kumulative[n] Rechtschreibleistungen mit Lerngeschichte “ herausbildet. Dieser Zusammenhang könnte sich für erwachsene Schreiber und Schreiberinnen mit sich kumulierenden „ Schreiberfahrungen “ durchaus noch verschärfen bzw. abschwächen, je nachdem, welche Rolle Schreiben und Rechtschreiben im privaten und beruflichen Alltag spielt. Bezüglich des Selbstkonzepts ist gerade auch bei der Generation der Umlernern und Umlernerinnen, welche die Rechtschreibung noch nach dem alten System gelernt haben, eine gewisse Verunsicherung in der Selbstkonzeption der eigenen orthographischen Kompetenz zu vermuten. Während wohl bei vielen retrospektiv die Schulleistung als positiv in Erinnerung sein dürfte, sehen sie sich nun mit dem Gefühl konfrontiert, die Regeln nicht mehr zu kennen. Diese Überlegungen müssen allerdings mangels empirischer Daten hypothetisch bleiben. 2.5 Zusammenfassung Die Untersuchung des kollektiven und individuellen Umgangs mit der orthographischen Variation, wie es das Forschungsinteresse dieser Arbeit ist, impliziert verschiedene Perspektiven auf Orthographie, die in diesem Kapitel eingeführt sowie die damit verbundenen Konzepte und Grundbegriffe erläutert und problematisiert wurden. Zum ersten ist dies diejenige Perspektive, die Orthographie als Teilsystem des (Schrift-)Sprachsystems beschreibt. Im Rahmen dieser Untersuchung wird das Schriftsprachsystem - gemeint ist hier nur das System der Standardsprache - als System sui generis betrachtet, das sich jedoch auf das System der gesprochenen Sprache beziehen lässt (moderate Autonomie-Hypothese). Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass das System der Schriftsprache und folglich auch der Orthographie eine Aufzeichnungs- und eine Erfassungsfunktion gleichermaßen wahrnimmt. Es muss zwischen Graphie als im Sprachgebrauch konventionell herausgebildete, mögliche Schreibungen und der Orthographie als präskriptive Setzung innerhalb dieser graphematischen Möglichkeiten unterschieden werden. Diese graphematischen Möglichkeiten sind im Grunde die Voraussetzung für orthographische Varianz. Dies führt weiter zur Unterscheidung des Usus, d. h. des Sprachgebrauchs als kollektive Schreibhandlungen der Sprachgemeinschaft, vom Konzept der Norm und der Kodifikation. Ortho- 2.5 Zusammenfassung 49 <?page no="60"?> graphische Normen sind Sprachsystem-Normen und, wie alle sprachlichkommunikativen Normen, soziale Normen. Es existieren implizite Normen, die das Sprachhandeln unbewusst leiten, sowie explizite Normen, die in Regelwerken und Wörterbüchern festgehalten, d. h. kodifiziert sind. Durch diese Kodifikation zeichnen sich orthographische Normen durch einen hohen Grad an Explizitheit und sozialer Verbindlichkeit aus, was im Vergleich mit anderen sprachlichen und kommunikativen Normen zu einer Hochwertung der Einheitlichkeit sowie einer geringen Variabilität führt. Die orthographischen Normen sind doppelt kodifiziert, indem sowohl Regeln als auch Einzelwortschreibungen festgelegt sind. Die Festlegung der Regeln ist von den orthographischen Prinzipien geleitet, die als Bündelung beobachtbarer Regularitäten, d. h. impliziter Normen, sowie als implizite Handlungsanleitungen im Schreibhandeln fungieren. Es wird hier nicht davon ausgegangen, dass Prinzipien eine systematische Ordnung der heutigen deutschen Orthographie beschreiben oder beschreiben müssen, sondern dass sie durchaus widersprüchlich sein können. Deshalb wurde für die vorliegende Untersuchung ein phonologisches, ein morphologisches, ein grammatisches, ein semantisches, ein visuelles und ein etymologisches Prinzip angenommen. Die zweite Perspektive auf Orthographie, Orthographie als Teilpraxis der literalen Praxis einer Gemeinschaft bzw. eines Individuums, fokussierte auf die soziale und kulturelle Bedeutsamkeit der Orthographie, wie sie in den New Literacy Studies für das Schreiben und Lesen allgemein herausgearbeitet wurde. Orthographie wird unter dieser Perspektive als Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs betrachtet, wobei nicht nur Kenntnisse und Anwendung der orthographischen Normen, sondern auch Einstellungen, Werte, Gefühle gegenüber der Orthographie und deren Stellenwert im alltäglichen Schreibhandeln und innerhalb der Schriftkultur eine Rolle spielen. Besonders fruchtbar erweist sich diese Zugangsweise dafür, wenn die soziale und kulturelle Bedeutsamkeit von Varianten - seien dies sogenannte lizenzierte Varianten als in der orthographischen Norm zugelassene, seien dies sogenannte nichtlizenzierte Normen als in der orthographischen Norm nicht zugelassene Varianten - in einem größeren Zusammenhang verstanden werden soll. Dabei zeigt sich, dass mit lizenzierter und nicht-linzensierten orthographischen Varianten sowohl soziale und kulturelle Identität konstruiert, ein kommunikativer Mehrwert geschaffen als auch die Mitteilungen medial konzeptualisiert werden können. Die dritte Perspektive ist die Betrachtung der Orthographie als ein sich über die Zeit entwickeltes Produkt der literalen Praxis und Reflexion einer Sprachgemeinschaft. Bei der diachronen Perspektive stehen insbesondere der Abbau der graphematischen und orthographischen Varianten sowie die Herausbildung der orthographischen Norm als Wechselwirkung zwischen Usus, orthographie-theoretischer Reflexion und Kodifikation im Vordergrund. Somit nimmt die Orthographie innerhalb der Sprachwandelphänomene eine besondere Stellung ein, indem sie in Bezug auf die Herausbildung des graphematischen 50 2 Theoretischer Hintergrund <?page no="61"?> Systems als Phänomen der dritten Art und in Bezug auf die präskriptive Setzung und Kodifikation der orthographischen Norm als Kulturphänomen zu gelten hat. Für Letzteres spielt im deutschen Sprachraum Konrad Duden und sein Wörterbuch eine herausragende Rolle, bis mit der Rechtschreibreform von 1996 die Weiterentwicklung der orthographischen Norm an offizielle, von den deutschsprachigen Staaten beauftragte Organe delegiert wurde (heute Rat für deutsche Rechtschreibung). Schließlich wurde mit der vierten Perspektive, der kognitiven Perspektive, Orthographie als Teilbereich des schriftsprachlichen Wissens und der Schreibkompetenz eines Individuums thematisiert. Die orthographische Kompetenz lässt sich in der Textqualität eines Textproduktes sowie im Teilprozess des individuellen Schreibprozess von Individuen beobachten. Im Fokus des Interesses steht die Frage nach der Organisation der mentalen Repräsentation von orthographischen Normen, Regeln, Regularitäten sowie die Prozesse des Abrufens im Schreibprozess. In Ermangelung eines empirisch fundierten Modells orthographischer Kompetenz wurde hier auf ein fachdidaktisches Kompetenzmodell zurückgegriffen, das Schriftsprachbzw. orthographische Kompetenz als Ensemble verschiedener Wissensbeständen beschreibt: deklaratives Wissen (knowing that), Problemlösewissen, prozedurales Wissen (knowing how) sowie metakognitives Wissen. Ergänzt werden muss diese Modellierung mit den subjektiven orthographischen Konzepten, welche die subjektive, individuelle Sicht von Schreibenden auf Struktur und Funktion der Orthographie umfassen, die in der literalen Praxis handlungsleitend wirken und auf deren Basis orthographische Entscheidungen ebenso getroffen wie Bewertungen und Einstellungen gegenüber der Orthographie vorgenommen werden. 2.5 Zusammenfassung 51 <?page no="63"?> 3 Zum Problem der orthographischen Varianten Was die wissenschaftliche Untersuchung der orthographischen Varianten betrifft, bestehen noch einige Forschungsdesiderate. Varianz in der Schreibung und Rechtschreibung wurde bis anhin nur in wenigen Arbeiten bezüglich ausgewählter Bereiche untersucht: synchron vor allem theoretisch, z. B. Jacobs (2007) mit der Behandlung der Varianten im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung, theoretisch-anwendungsorientiert z. B. Gallmann (2004) mit Empfehlungen für den Umgang in Medien, Verlagen und der Druckindustrie sowie Erklärungen zu den Überlegungen des Rechtschreibrats; Lindauer/ Sturm (2006) und Lindauer et al. (2006) zum Umgang mit Varianz im Schulunterricht sowie Kürschner (2000, 2002) zum Umgang in der Lexikographie. Wenn die Varianzfrage empirisch angegangen wurde, dann v. a. unter lexikographischer oder diachroner Perspektive. Lexikographische Untersuchungen beschäftigen sich mit der Kodifikation der deutschen Rechtschreibung, d. h. mit Rechtschreibwörterbüchern, z. B. (Bramann 1987), Muthmann (1994), Gabler (1983, 1992), Lasselsberger (2000). An der Schnittstelle von lexikographischer und diachroner Perspektive steht die Untersuchung von Güthert (2011), die Varianten in der Fremdwortschreibung vom aktuellen Regelwerk ausgehend rückwärts in älteren Kodifikationen untersucht. Weitere sprachgeschichtliche Untersuchungen von graphischer und orthographischer Varianz fokussieren vor allem auf den frühneuhochdeutschen Usus, der als besonders variantenreich gilt, und innerhalb des Frühneuhochdeutschen vornehmlich auf die Beschreibung des Abbaus von schreiblandschaftlichen oder anders motivierten Varianten im Rahmen der Herausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache, z. B. in älteren Untersuchungen von Rieke (1998), Fleischer (1966), Kettmann (1987) und (1996), Moser (1977), oder in neueren Untersuchungen, in denen die Graphemsysteme oder Teilbereiche der Graphemsysteme früherer Sprachstufen herausgearbeitet wurden, z. B. das graphematische Forschungsprojekt der Uni Duisburg zur rheinmaasländischen Schreibsprache zwischen 1350 und 1650, vgl. dazu Mihm (2007 a) und (2007 b), Elmentaler (2003) oder Voeste (2008). Für die diachrone Untersuchung hat sich dabei als methodischer und epistemologischer Knackpunkt die Frage danach herausgestellt, wie aus schreibsprachlicher Variation auf lautliche Gegebenheiten geschlossen werden kann bzw. umgekehrt. Empirische Untersuchungen des aktuellen Usus gibt es nur vereinzelt, so z. B. die korpuslinguistischen Untersuchungen zur Fremdwortschreibung von Schmidt (2011) in einem Teilkorpus des Deutschen Referenzkorpus (COSMAS II) oder die punktuellen Untersuchungen des Sprachgebrauchs, die vom Rat für deutsche Rechtschreibung seinem Auftrag gemäß (vgl. <?page no="64"?> Kapitel 2.3) durchgeführt werden. Der Rat führt korpuslinguistische Recherche des öffentlichen-medialen Schreibgebrauchs durch, in denen er an ausgewählten Formen überprüft, ob und in welchem Ausmaß sich die reformierten Schreibungen, u. a. auch neue und hergebrachte Variantenschreibungen, durchsetzen. Allerdings beschränkt er sich bei der Datenbasis auf die im Deutschen Referenzkorpus (COSMAS II) zugänglichen Quellen sowie die Korpora der Wörterbuchredaktionen von Duden und Wahrig (Krome 2011), (Rechtschreibrat 2010). Alle drei Korpora sind vorwiegend aus Medientexten zusammengesetzt und bilden somit nur einen Ausschnitt des Usus ab. Ebenfalls testete der Rat einmalig Schüler und Schülerinnen der Oberstufe in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Belgien, wobei sie aus verschiedenen angebotenen Schreibungen die in ihren Augen richtige wählen mussten (Ossner 2011, Rechtschreibrat 2010). Die Resultate dieser Untersuchungen, soweit sie bekannt sind, werden unten direkt im Vergleich mit den Ergebnissen dieser Untersuchung vorgestellt. Aus synchroner Perspektive dringende Forschungsdesiderate sind Untersuchungen zur Gebrauchspräferenzen der orthographischen Varianten im aktuellen alltäglichen (beruflichen oder privaten) Schreiben. Ebenso wünschenswert wäre eine Untersuchung der Einschätzung und Akzeptanz der orthographischen Variabilität durch die Sprachgemeinschaft in allen sozialen Gruppen, d. h. nicht nur punktuelle Aussagen ausgewählter Exponenten, die sich im Feuilleton zur Orthographie-Reform geäußert haben wie etwa Schriftsteller, Journalisten, Sprachkritiker. Ebenso Forschungsdesiderat ist die Untersuchung der mentalen Repräsentationen von Varianten in den verschiedenen Bereichen (Graphem-Phonem-Korrespondenz, Groß-/ Kleinschreibung, Zusammen-/ Getrenntschreibung) bei den Schreiber und Schreiberinnen. Diese Aspekte bilden die notwendige Grundlage dafür, einschätzen zu können, ob in der Orthographie Variabilität grundsätzlich wünschenswert ist und wie bei künftigen Überarbeitungen des Regelwerkes vorgegangen werden müsste. Nachfolgend soll zuerst der Begriff der orthographischen Varianz problematisiert und geklärt, ein Verständnis für die diachronen Unterschiede der graphischen und orthographischen Varianz entwickelt, die Gründe für die Varianz im aktuellen Regelwerk diskutiert, der Umgang mit der Varianz in der Kodifikation untersucht sowie die Bewertungen und Einschätzung im Fachdiskurs wiedergegeben werden. 3.1 Konzeptionen orthographischer Varianz: Forschungsüberblick Auf den ersten Blick scheint eine Definition orthographischer Varianten relativ unproblematisch zu sein. So wird etwa orthographische Varianz als 54 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="65"?> das „ Nebeneinander unterschiedlicher Schreibweisen “ Gallmann (2004: 38) oder orthographische Varianten als „ unterschiedliche Schreibungen bei konstanter Bedeutung und konstanter Lautung “ (Nerius 1989: 227) definiert. Der Vergleich verschiedener Konzeptionen von orthographischer Varianz zeigt, dass darunter zwar Ähnliches, aber durchaus nicht immer das Gleiche gefasst wird. Für eine systematische Aufarbeitung des Begriffes soll hier in einem ersten Schritt die graphematische von der orthographischen Varianz unterschieden werden. Es wurde in Kapitel 2.1.3 Graphie als alle innerhalb eines Schriftsystems denkbaren Schreibungen - von Neef (2005: 10) der „ graphematische Lösungsraum “ genannt - von Orthographie als Selektion und präskriptive Normsetzung innerhalb dieses Lösungsraumes unterschieden. Die Schreibvarianten innerhalb des graphematischen Lösungsraums werden als graphematische Varianten (Neef 2005: 12 - 15) bzw. bei Sebba (2007: 30) als nichtlizenzierte Varianten bezeichnet (vgl. 2.2). Wie oben dargestellt, sind es gerade nicht-lizenzierte Varianten, die sich aufgrund graphematischer Möglichkeiten anbieten, aber orthographisch nicht zugelassen sind, die sich für die Konstruktion sozialer Identitäten oder sprachspielerisch und kreativ ausreizen und mit Mehrwert versehen lassen. Es soll hier aber nicht mehr auf weitergehende Differenzierungen der graphematischen Variation eingegangen werden, da diese vor allem für diachrone Untersuchungen der historischen Schreibsprachen von Bedeutung ist. 26 Orthographische Varianten demgegenüber sind von der orthographischen Norm explizit erlaubte Schreibungen, wie sie zum Beispiel im aktuellen Regelwerk zugelassen sind, z. B. aufwendig/ aufwändig oder eine seit längerem zugelassene Variante aufgrund/ auf Grund, bei Sebba (2007: 30) als lizenzierte Varianten bezeichnet. Eine Konzeption orthographischer Varianz (d. h. der lizenzierten Varianz) kann im weiteren oder im engeren Sinne vorgenommen werden. Es sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass dem empirischen Teil dieser Arbeit eine enge Definition von orthographischer Varianz zugrunde gelegt wird, die weiter unten genauer dargelegt und begründet werden soll (vgl. 3.7). Einer Definition im weiteren Sinne folgt beispielsweise Jacobs (2007), der orthographische Varianten in der Zusammen- und Getrenntschreibung aus optimalitätstheoretischer Sicht hinsichtlich des Schriftsystems untersucht. Er 26 Weitergehende Differenzierungen finden sich z. B. in den sprachhistorischen Arbeiten von Fleischer (1966: 15 - 17); Mihm (2007 b: 219), der zwischen graphischer, graphematischer, phonisch interpretierbarer und semantisch interpretierbarer Variation unterscheidet, oder in Elmentaler (2003: 133 ff.), der bei seinen graphematischen Analysen neben der freien, kontextunabhängigen auch gewisse kontextbedingte, koartikulative Varianten einschliesst und grundsätzlich davon ausgeht, dass graphematische Variation zuerst als Reflex lautlicher Variation zu interpretieren sei, bevor man weitere Interpretationen in Betracht ziehen könne, wobei sie in einem engeren Sinne gar keine graphematische Variation mehr wären, sondern phonetische oder phonologische. 3.1 Konzeptionen orthographischer Varianz: Forschungsüberblick 55 <?page no="66"?> geht von folgenden vier Formen der orthographischen Varianz aus Jacobs (2007: 45 - 53): disambiguierende, konstruktionsbedingte, freie und systembedingte Varianten, die im Folgenden definiert werden sollen 27 : 1. Disambiguierende Varianten: „ Disambiguierende Schreibvarianten sind unterschiedliche Schreibungen für semantisch verschiedene, aber im Hinblick auf die Lautsegmentfolge gleiche Ausdrücke. “ (Jacobs 2007: 47) Als Beispiel hierzu nennt er Moor versus Mohr sowie die Kommasetzung in Ich rate ihm, schnell zu helfen versus Ich rate, ihm schnell zu helfen. Die disambiguierende Varianz könne sich entweder intendiert ergeben (z .B. bei der Abgrenzung Moor von Mohr) oder epiphänomenal (z. B. Ich rate ihm, schnell zu helfen versus Ich rate, ihm schnell zu helfen), wobei zweiteres als Nebeneffekt anderweitig wirkender Mechanismen zu verstehen ist, hier eine andere syntaktische Konstruktion (Jacobs 2007: 47 ff.). Es muss darauf hingewiesen werden, dass diese Definition Unterschiede in Prosodie, jedoch nicht in den Phonemsegmenten zulässt, so z. B. in schwer fallen im Sinne von ‚ schwer auf den Boden fallen ‘ gegenüber schwerfallen im Sinne von ‚ Schwierigkeiten bereiten, nicht leicht sein ‘ . 2. Konstruktionsbedingte Varianten: Konstruktionsbedingte Varianten liegen nach Jacobs (2007: 48/ 49) dann vor, wenn eine Schreibweise nur in einer bestimmten grammatischen Konstruktion vorkommen kann, während die andere nur in einer anderen grammatischen Konstruktion vorkommen kann, als Beispiel bringt er hier Milch versus milch, wobei letzteres nur als Zweitglied eines Kompositums vorkommen kann (Kuhmilch), ersteres hingegen nur als Objekt (Milch holen) oder als erstes Glied eines Kompositums (Milchschokolade), was Jacobs hier jedoch nicht erwähnt. Damit ergibt sich für die zwei möglichen Schreibungen eine kategorielle grammatische Differenzierung. 3. Freie Schreibvarianten: „ Freie Schreibvarianten sind unterschiedliche Schreibungen desselben Ausdrucks “ (Jacobs 2007: 50), die weder konstruktionsbedingt sind noch eine disambiguierende Funktion ausüben (Jacobs 2007: 50/ 51). Als prototypische Beispiele gelten hier die Fremdwortschreibung und die Kommasetzung. Die unterschiedlichen Schreibformen können, so Jacobs (2007: 50), auf „ Verschriftungsregeln unterschiedlichen Allgemeinheitsgrads zurückgeführt werden “ , z. B. bei Fremdwortschreibung punktuelle Festlegungen für Einzellexeme. In dieser Kategorisierung gehen freie Schreibvarianten auf Kann-Regeln zurück, im Gegensatz zu disambiguierenden Varianten, die auf Muss- Regeln zurückgehen (Jacobs 2007: 51). Die Variation bei den freien Varianten ist intendiert und nicht epiphänomenal. 27 Jacobs (2007) formale Definition wird hier der Verständlichkeit halber natürlichsprachlich wiedergegeben. 56 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="67"?> 4. Systembedingte Varianten: Systembedingte Variation liegt nach Jacobs (2007: 52) dann vor, wenn zwei Schriftsystem existieren, dies kann synchron (z. B. deutschschweizerische Besonderheiten der deutschen Orthographie in Abgrenzung zu österreichischen oder bundesdeutschen) oder diachron sein (z. B. zugelassene Schreibungen vor und nach der Rechtschreibreform von 1996). Jacobs (2007) eher weite Auffassung von orthographischer Varianz lässt sich ungenügend von einem graphematischen Verständnis als die Summe aller in einem Schriftsystem möglichen Schreibweisen abgrenzen, wie oben dargelegt wurde. Zu kritisieren gibt vor allem auch Jacobs ’ systembedingte Varianz, die den Variationsbegriff über die Systemgrenze hinaus synchron und diachron öffnet. Es macht keinerlei Sinn, eine systemorientierte Sichtweise auf die Orthographie einzunehmen, um dann verschiedene orthographische Systeme quasi in einem Übersystem zusammenzuführen. Dies würde insbesondere auch unter der Berücksichtigung mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Schreibungen das Feld der Variation unendlich öffnen, da ja somit alle in der Geschichte der deutschen Sprache je aufgetretenen Schreibweisen als Varianten zu gelten hätten. Diachrone Varianten sollten deshalb nicht in einem sprachepochenübergreifenden System zusammengezogen werden. Ebenfalls zu kritisieren gibt Jacobs ’ (2007) konstruktionsbedingte Varianz, die dazu führen würde, dass ein großer Teil der Lexeme der deutschen Sprache als orthographische Varianten betrachtet werden müssen, da sie konstruktionsbedingt variant geschrieben werden können: So kann z. B. jedes Substantiv theoretisch als Zweitglied in einem Kompositum verwendet werden (Varianz Groß-/ Kleinschreibung); jede nicht-nominale Wortkategorie (Pronomen, Verb, Präposition, Partikel) kann satzinitial oder nominalisiert verwendet werden, was zu einer Varianz in der Groß-/ Kleinschreibung führen würde. Das Grundproblem der Konzeption von konstruktionsbedingter Variation liegt m. E. darin, dass nicht zwischen Lexemen als Grundeinheiten des Wortschatzes und der syntaktischen Wortformen als der Verwendung eines Lexems in einer syntaktischen Konstruktion unterschieden wird. Hier gilt es zu fragen, auch welcher Ebene die orthographische Variation anzusetzen wäre. Mit dem gleichen Problemen behaftet ist Neefs Definition von orthographischer Variation (Neef 2005: 12 - 15), der allerdings die konstruktionsbedingte Variation mit einer weiteren Differenzierung innerhalb der orthographischen Variation abgrenzt. So unterscheidet er zwischen orthographischen Variation, die er als „ orthographische Polygraphie “ bezeichnet, die im Grunde diachron bedingt sei Neef (2005: 12); als Beispiele nennt er hier Alptraum/ Albtraum oder Bouclé/ Buklee. Diese kontrastiert er mit „ systematischen Schreibungsvarianten, die sich prinzipiell für jedes Wort finden lassen “ Neef (2005: 12). Hier listet er als Beispiel denkbare Schreibweisen für das Pronomen deren auf: deren, Deren, DEREN, de-ren, De-ren, DE-REN,? der ’ n, 3.1 Konzeptionen orthographischer Varianz: Forschungsüberblick 57 <?page no="68"?> *DEren, *dehren etc. (Neef 2005: 13 - 15). Von diesen Formen zähle deren als Normalform der orthographischen Repräsentation, die Nennform, die ohne Einschränkungen verwendet werden könne. Alle anderen Schreibungen sind in gewisser Art und Weise markiert bzw. nur in bestimmten Konstruktionen denkbar, so kann z. B. Deren nur am Satzanfang stehen, was durch die Orthographie geregelt sei. Die mit Asterisk markierten Formen sind orthographisch ausgeschlossen, aber graphematisch möglich. Neef (2005) unterscheidet also noch eine stellungsbedingte Variation im konkreten Sprachgebrauch, was wieder zu einer unbefriedigenden Vermengung von Lexemen und syntaktischen Wortformen führt. Da die satzinitiale Großschreibung mit einer eigenen Regel festgelegt wird, sollte sie nicht als Variante bei jeder Schreibung aufgeführt werden. Eine engere Konzeption vertritt Muthmann, der 1994, also vor der Rechtschreibreform, mit seiner Monographie „ Doppelformen in der deutschen Sprache der Gegenwart. Studie zu den Varianten in Aussprache, Schreibung, Wortbildung und Flexion “ die in Bezug auf das analysierte Material größte Untersuchung orthographischer, phonologischer und morphologischer Variation vorlegte (Muthmann 1994). Seine Untersuchung basiert auf seiner Arbeit zum Rückläufigen deutschen Wörterbuch (Muthmann 1988) und besteht folglich zum größten Teil aus Wortlisten. Der Zusammenstellung der Liste legt er folgende Definition von Varianz zugrunde, die bei ihm Doppelformen heißen (Muthmann 1994: 4): Unter ‚ Doppelformen ‘ werden im eigentlichen Sinne variierende ‚ Formen ‘ eines Wortes verstanden, sei es eine variierende Lautgestalt eines Wortes oder eine variierende Schriftgestalt oder eine Variation in beiden; aber es wird immer davon ausgegangen, dass es sich nach Meinung der Sprechenden und Schreibenden um das gleiche Wort mit gleicher Bedeutung handelt. Im Folgenden soll auf Muthmannns orthographische Varianten fokussiert werden, die anderen beiden Kategorien werden nicht berücksichtigt. Orthographische Variation definiert er, wie oben zitiert, als „ variierende Schriftgestalt “ eines Wortes, bei dem es sich nach Ansicht der Sprecher und Sprecherinnen um das „ gleiche Wort mit gleicher Bedeutung “ handelt (Muthmann 1994: 4), wobei sich dies für die Schreibungen formseitig als „ variierende Grapheme bei gleichbleibendem Phonem “ manifestiert (Muthmann 1994: 9). Jacobs (2007) disambiguierende und konstruktionsbedingte Varianz würde bei Muthmann also nicht zur orthographischen Variation zählen. Bei der Durchsicht seiner Wortlisten der orthographischen Varianten fällt auf, dass er nur auf Einzelwortschreibungen, d. h. auf Varianz in der Phonem-Graphem-Korrespondenz, fokussiert und innerhalb derer vorwiegend auf die Fremdwortschreibung und in geringerem Maße auf sprachgeographische Varianten (Muthmann 1994: 115 - 158). Ausgespart bleiben Varianten in der Groß- und Kleinschreibung, der Zusammen- und Getrenntschreibung, der Schreibungen mit Bindestrich, der Silbentrennung sowie der 58 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="69"?> Interpunktion. Dies mag wohl darauf zurückzuführen sein, dass er die Doppelformen rein lexikographisch erfasst, d. h. nur auf die Kodifikation zielt. Trotzdem scheint der Geltungsbereich einer solchermaßen konzipierten orthographischen Varianz zu eingeschränkt. Analog zu Muthmann (1994) vertreten auch Gabler (1992), (1986), (1992) sowie Gallmann (2004) und Nerius (1989) eine enge Konzeption orthographischer Varianz. Allerdings gehen sie von einem größeren Geltungsbereich aus. Gabler untersuchte orthographische Variation in verschiedenen Duden-Auflagen und im Österreichischen Wörterbuch. Sie definiert orthographische Varianten folgendermaßen Gabler (1992: 376): Graphemfolgen, die zur Materialisierung ein und derselben Bedeutung (eines Morphems, eines Wortes, eines Lexems, eines Satzes) in der geschriebenen Sprache dienen. Diese Graphemfolgen unterscheiden sich in bezug auf ein oder mehrere Grapheme bzw. in der Anordnung der Grapheme, beziehen sich aber auf dieselbe Phonemfolge. Orthographische Variation umfasst also wie bei Muthmann (1994) nur diejenigen Doppelschreibungen, die für ein und dasselbe Lexem bzw. für dieselbe Wortgruppe stehen, die sowohl formseitig, d. h. phonologisch sowie inhaltsseitig, d. h. semantisch, kongruent sind. In der Konsequenz gelten hier anders als in Jacobs (2007) Paare wie schwer fallen im Sinne von ‚ schwer auf den Boden fallen ‘ gegenüber schwerfallen im Sinne von ‚ Schwierigkeiten bereiten, nicht leicht sein ‘ nicht als orthographische Varianten, da hier die zwei Schreibungen einen semantischen Unterschied kodieren. Analog gilt ebenfalls das Paar zurzeit ( ‚ momentan ‘ ) und zur Zeit ( ‚ zu einem historischen Zeitpunkt ‘ ) nicht als Variante. Offen hingegen lässt diese Definition, ob die konstruktionsbedingte Varianz im Sinne Jacobs (2007) ein- oder auszuschließen ist. Auch Gallmann (2004) vertritt eine enge, wenn auch nicht explizit gemachte Vorstellung orthographischer Varianz. Wie eingangs des Kapitels 2 schon erwähnt, definiert er Varianz nur rudimentär als „ Nebeneinander unterschiedlicher Schreibweisen “ (Gallmann 2004: 38). Erst in der Diskussion seiner Unterteilung der vier verschiedenen Variationsbereichen - die eigentlich die Gründe für die Varianz darlegen und daher weiter unten in 3.4 dargestellt werden - sowie der korrespondierenden Beispiele wird ersichtlich, dass es sich dabei um orthographische Varianten im engeren Sinne handeln muss (Gallmann 2004: 38 ff.). Aus den aufgeführten Beispielen wird klar, dass Gallmann der Definition von Gabler nahesteht, dass also gilt: orthographische Variation impliziert phonologische und semantische Kongruenz. Analog zu Gabler (1983: 237 - 240) umfassen seine Beispiele folgende Teilbereiche (Gallmann 2004) 28 : 28 Nerius (1989) hingegen erwähnt die Schreibungen mit/ ohne Bindestrich sowie mit/ ohne Apostroph nicht. 3.1 Konzeptionen orthographischer Varianz: Forschungsüberblick 59 <?page no="70"?> - alternierende Graphem-Phonem-Korrespondenzen wie ‹ eu › / ‹ ö › in Friseur/ Frisör - die Groß- und Kleinschreibung wie tausende von Menschen/ Tausende von Menschen - Zusammen- und Getrenntschreibung wie unter Tage/ untertag, Dank sagen/ danksagen, an Hand/ anhand - die Worttrennung wie hin-auf/ hi-nauf - die Schreibung mit/ ohne Bindestrich wie Maßstab/ Maß-Stab oder Schifffahrt/ Schiff-Fahrt - die Schreibungen mit/ ohne Apostroph wie das wackernagelsche/ Wackernagel'sche Gesetz oder heilge/ heil'gen - Interpunktion wie die Kommasetzung in ich werde euch nächste Woche, vielleicht auch schon diese (,) besuchen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Konzeptionen orthographischer Varianz in der extensionalen und intensionalen Bestimmung unterscheiden. Ersteres betrifft die Frage danach, welche Bereiche der Orthographie zur orthographischen Varianz gehören. Intensional unterscheiden sich die Konzeptionen von orthographischer Varianz darin, welche Kriterien gegeben sein müssen, damit von einer orthographischen Varianz gesprochen werden kann. Zu kritisieren gibt es an einigen Darstellungen, dass nicht differenziert wird zwischen graphematischer und orthographischer Varianz sowie zwischen Lexemen und deren normgerechten Schreibung, wie sie in der Kodifikation festgehalten wurde, und syntaktischen Wortformen, wie sie im Sprachgebrauch verwendet werden. Für die vorliegende Untersuchung wird davon ausgegangen, dass unter der Perspektive von Orthographie als System nur als orthographische Varianten bezeichnet werden kann, was sich auf die Schreibung von Lexemen und nicht auf die syntaktischen Wortformen bezieht, somit wird die Variation in der Kodifikation angesiedelt und nicht im Usus, wie dies etwa graphematische Untersuchungen mit sprachhistorischem Fokus tun. 3.2 Orthographische Varianz diachron gesehen An dieser Stelle soll in der Form eines Exkurses das Phänomen der orthographischen Varianten unter diachroner Perspektive behandelt werden. Allerdings wäre es ein zu großes Unterfangen, die graphematische und orthographische Varianz sprachhistorisch umfassend aufzuarbeiten. Der diachrone Rückblick auf das Problem der graphematischen und orthographischen Varianz soll an dieser Stelle vielmehr illustrieren, dass die orthographische Varianz nach der II. Orthographischen Konferenz von 1902 und der Einführung eines amtlichen Regelwerks, auf dem dann auch die Duden- Rechtschreibung aufbaute (vgl. 2.3), nicht zu vergleichen ist mit der graphi- 60 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="71"?> schen und orthographischen Variabilität früherer Sprachepochen. Diese Herleitung ist insofern von Interesse, weil in der Frage der Einstellung gegenüber der heutigen orthographischen Varianz wie auch gegenüber der Reform das Argument aufgetaucht ist, dass die Einheitlichkeit der deutschen Sprache (wieder) gefährdet sei (vgl. 3.5). Was aber früher graphische und orthographische Varianz umfasste, ist mit der heutigen orthographischen Varianz ebenso wenig vergleichbar wie die Gründe für die Varianz sowie die Einstellung hinsichtlich der orthographischen Varianz. Die orthographische Praxis war in frühneuhochdeutscher Zeit von großer Uneinheitlichkeit sowie regionalen, institutionell und individuell variierenden Praktiken geprägt (Hartweg/ Wegera 2005; Voeste 2008: 28 ff.). Bei der fnhd. graphischen Varianz handelt es sich vor allem um Varianz in der Phonem-Graphem-Korrespondenz im Erb-, aber auch im Lehnwortschatz sowie dann im Buchdruck zusätzlich um typographische Varianz (z. B. große Typenapparate mit zahlreichen Ligaturen, Abbreviaturen etc., vgl. dazu Voeste (2008). Die Groß-/ Kleinschreibung war erst in der Herausbildung begriffen. Dies soll an zwei Beispielen illustriert werden, die aus der Datensammlung von Voeste (2008) stammen, welche die graphische Varianz als Innovationsphänomen des Fnhd. in 30 gedruckten Chroniken aus 30 verschiedenen Druckerstädten des deutschen Sprachraumes aus dem 16. Jahrhundert untersuchte. In ihren Daten findet sich ein Druck aus der Bamberger Chronik von 1532, in dem im gleichen Abschnitt das Lexem Frauen im Plural Genitiv als frauen, als frawen sowie als frawenn verschriftet wurde, sowie die gedruckte Münchner Chronik (1501), in welcher der Pfalzgraf einmal als pfalltzgraf, als pfaltzgraf oder als pfaltzgraff erscheint (Voeste 2008: 38). Die ältere Forschung betrachtete diese Varianz oft als regellos, willkürlich oder schlimmer als Resultat der Nachlässigkeit der Schreiber/ Drucker oder der Profitgier der Drucker, welche eine möglichst hohe Anzahl gesetzter Lettern in Rechnung stellen wollten. Erst in der neueren Forschung entdeckte man in der graphischen Variabilität sprachlich-kommunikative Funktionalitäten, vgl. zu diesem Paradigmenwechsel in der Bewertung der fnhd. Schriftlichkeit etwa Hartweg/ Wegera (2005: 123), Voeste (2008), Elmentaler (2003: 132/ 133), Mihm (2007 b), aber auch schon Moser (1977) oder Fleischer (1966). Die Vielzahl der genannten Gründe für die große graphische und orthographische Variabilität der fnhd. Sprachstufe ist aber im Grunde doch nur Reflex davon, dass die Absenz einer überregional anerkannten Norm graphische und orthographische Handlungsspielräume eröffnete, die dann je nach Schreibkanzlei, Druckoffizin, Autor, Drucker, Korrektor auf verschiedene Art und Weise und mit unterschiedlicher Motivation und Intention ausgenutzt werden konnte. Mögliche Gründe fassen Hartweg/ Wegera (2005: 123/ 126) in folgenden fünf Punkten zusammen: 3.2 Orthographische Varianz diachron gesehen 61 <?page no="72"?> 1. „ Regionale bedingte Variation: Den verschiedenen Schreibsprachen und Schreibergewohnheiten liegen unterschiedliche mundartliche Gegebenheiten zugrunde [. . .], die in der Schriftlichkeit ihren Niederschlag finden. “ (Hartweg/ Wegera 2005: 123) 2. „ Soziale bedingte Variation: Verschiedene Schreiber in der gleichen Region orientieren sich beim Schreiben - je nach sozialer Herkunft und Ausbildung - mehr oder weniger an ihrer regionalen Sprache. “ (Hartweg/ Wegera 2005: 123) 3. „ Durch die Textsorte bedingte Variation: Ein Schreiber kann sich in Abhängigkeit von der Textart (etwa deren Öffentlichkeitsgrad) mehr oder weniger an seiner gesprochenen Sprache orientieren. Verschiedene Textarten unterliegen zudem unterschiedlichen Konventionen. “ (Hartweg/ Wegera 2005: 126) 4. „ Durch Sprachveränderung (sprachhistorisch) bedingte Variation: Sprachliche Veränderungen, sei es durch Wandel der zugrunde liegenden regionalen Varietät, bedingen Variation in der Schriftlichkeit. Der Ausgleichsprozess innerhalb der fnhd. Schreibsprachen bedingt durch zunehmenden Kontakt auch kleinräumig orientierter Schreibtraditionen mit benachbarten oder bereits überregional wirksamen (z. B. der kaiserlichen Kanzlei) in einzelnen Landschaften zunächst eine (vorübergehende) Vergrößerung des Variantenbestandes. “ (Hartweg/ Wegera 2005: 126) 5. „ Individuelle Variation: Ein Schreiber kann sich vorhandener Varianten in unterschiedlichem Maße bedienen. Er kann sich auf eine festlegen (lassen) oder verschiedene selbst im gleichen Text in unterschiedlichem Maße einsetzen. Dabei kann sich der Anteil einer jeden Variante innerhalb eines Textes sequenzenweise ändern. “ (Hartweg/ Wegera 2005: 126) Voeste (2008: 31) erachtet die oben genannten Gründe nicht als ausreichend, um die graphematische Variation innerhalb von Einzeltexten, oft auch auf der gleichen Seite oder der gleichen Zeile, sowie die Tatsache zu erklären, dass auch so hochfrequente Wörter wie die, in, bei unterschiedlich geschrieben worden seien. So etwa listet sie für in folgende graphematische Varianten auf: ‹ i › , ‹ in › , ‹ inn › , ‹ yn › , ‹ ynn › auf (Voeste 2008: 31). Sie geht aufgrund ihrer Untersuchung davon aus, dass es auch eine stilistisch motivierte Variation geben muss, d. h. dass Alternanz und die Vermeidung von Wiederholungen zu innovativen Schreibweisen und einer Zunahmen der Formenvielfalt in der frühen Neuzeit geführt habe Voeste (2008: 32/ 33). 29 Bemerkenswert ist an der Argumentation von Voeste (2008) die im Vergleich mit der modernen Einstellung ganz anders geartete Beurteilung der Varianz als ästhetisch, abwechslungsreich und wünschenswert, was für heutige Verhältnisse nur noch für die Wahl der Lexeme sowie die Satzstellung gilt (so etwa in der Aufsatzdidaktik oder im literarischen Schreiben). 29 Vgl. dazu auch Elmentaler (2003: 319), der die graphematische Varianz als Ausdruck eines Schreibstils bezeichnet. 62 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="73"?> Ab dem 15. Jahrhundert und mit dem Aufkommen und der Durchsetzung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern setzen erste Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Schriftsprache ein (Scheuringer 1996: 16 ff.; Giesecke 1991) und orthographie-theoretische Auseinandersetzungen um die ideale Orthographie nehmen zu. Die orthographie-theoretischen Positionen spalteten sich in eine auf den Sprachgebrauch, die Tradition ausgerichtete, z. B. Freyer, aber auch der Lexikographe Sanders (Nerius et al. 2007: 322 - 326 und 362), eine dem historisch-etymologischen Prinzip folgende, z. B. Grimm, Weinhold, und eine mehr oder weniger gemäßigt dem phonologischen Prinzip folgende, z. B. Raumer, Wilmanns, Duden, (Polenz 1999: 240/ 241), wobei die phonologische Position meist auch Setzungen in Bezug auf eine korrekte Lautung vorzunehmen hatte, was angesichts der zahlreichen landschaftlichen Aussprachevarianten im deutschen Sprachraum heikel war. Ab dem 18 Jh. bis Mitte 19. Jh. war vor allem Adelung mit seinen sprachtheoretischen Schriften und seinem Wörterbuch einflussreich, der die drei genannten Positionen vereint sehen will (Scheuringer 1996: 51 ff.). Im 19. und 20. Jahrhundert setzte sich für die deutsche Sprache allgemein ein Streben nach Einheitlichkeit der Sprachnormen durch, das sich im „ Ersetzen von Variantentoleranz durch immer strengere Variantenreduzierung “ manifestiert und von politischen und sozialen Faktoren angetrieben wurde (Polenz 1999: 232): die Orientierung an der hochgewerteten französischen und lateinischen Sprachkultur, die sich durch geringe Variabilität auszeichnen; durch die Industrialisierung, Urbanisierung sowie das Ansteigen der Mobilität und Migration; durch die zunehmende Bedeutung der literalen Praktiken im Alltag insbesondere auch in der sozial aufsteigenden Mittelschicht sowie durch den Einfluss des Ideals des Nationalstaates, das eine einheitliche Nationalsprache impliziert (Polenz 1999: 232/ 233). Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 gab es nun auch politische Strukturen, welche die Einführung einer einheitlichen Orthographie organisatorisch angehen konnten, so wurde etwa die I. Orthographische Konferenz 1876 durchgeführt, die jedoch nicht zu einer Einigung zu führen vermochte (Nerius et al. 2007: 342/ 343). Was die Kodifizierungen anbelangt, erzielte im 19. Jahrhundert in Ermangelung einer für den gesamten deutschen Sprachraum verbindlichen Regelung v. a. die preußische, aber auch die bayrische Schulorthographie breitere Wirkung und größere Geltung (Scheuringer 1996: 80). Darauf basierend, erarbeitete Konrad Duden 1880 schließlich das folgenreiche Werk „ Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache “ , der sogenannten Ur-Duden, der vor allem auf die Bedürfnisse von Schreibenden ausgerichtet war, schnell und ohne Umweg über eine Regelwerk eine die Schreibung einer konkreten Wortform nachschlagen zu können (Nerius et al. 2007: 366/ 367). Wohl aus diesen Gründen und weil es die beiden wichtigsten Schulorthographien verband, erfreute es sich großer Akzeptanz auch außerhalb der Schule in Druck- und Verlagswesen (Nerius et al. 2007: 367). 3.2 Orthographische Varianz diachron gesehen 63 <?page no="74"?> Mit der II. Orthographischen Konferenz in Berlin (1901) konnte auf der Grundlage der Vorschläge Konrad Dudens eine verbindliche Regelung geschaffen werden, die allerdings auf vielen Kompromissen, der Auslassung heikler Fälle sowie der Zulassung von vielen Schreibvarianten, insbesondere in der Fremdwortschreibung, beruhte (Nerius et al. 2007: 350; Bramann 1987: 325). 1902 wurden die Ergebnisse im Buch „ Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis “ veröffentlicht und im Deutschen Reich sowie der Schweiz und Österreich als verbindlich erklärt (Polenz 1999: 240). Sie wurde fortan „ deutsche Einheitsorthographie “ genannt (Scheuringer 1996: 87). Die Verbreitung der nun überregional verbindlichen kodifizierten Rechtschreibnorm geschah vornehmlich qua Wörterlisten (d. h. Wörterbüchern wie dem Duden) und nicht amtlicher Rechtschreibregeln (Polenz 1999: 240; Nerius et al. 2007: 364 ff.). Dies führte dazu, dass in neuen Auflagen die Wortlisten ständig erweitert, Einzelfestlegungen getroffen, die nicht immer einer systematischen Logik folgten, sowie Varianten aufgenommen wurden (Polenz 1999: 241). Insbesondere das Druckgewerbe wünscht sich hier aber eindeutigere Festlegungen, worauf 1903 der sogenannte Buchdrucker-Duden „ Rechtschreibung der Buchdruckereien deutscher Sprache “ veröffentlicht wurde, der im umfangreichen Maße Variantenreduktion vorangetrieben hat (Dudenredaktion o. J.; Nerius et al. 2007: 366 ff.). 1915 - das war schon nach Dudens Tod - wurden das „ Orthographische Wörterbuch “ und der Buchdrucker-Duden zum „ Duden - Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter “ verschmolzen. Es wurden Schreibvarianten reduziert sowie zusätzliche Regelungen für die Zeichensetzung sowie die Zusammen- und Getrenntschreibung getroffen (Dudenredaktion o. J.). Dies bildete nun die Grundlage für die im 20. Jahrhundert geltende deutsche Orthographie, so dass im Jahre 1955 von der Kultusministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschlands folgender Beschluss gefällt wurde: „ In Zweifelsfällen sind die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich “ (zitiert in Nerius et al. 2007: 373). In der Schweiz wurde der Duden schon früher als verbindlich anerkannt. Somit wurde der Duden- Verlag als ein marktwirtschaftliches Unternehmen fast über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg für die deutschsprachigen Länder mit Ausnahme Österreichs zur normierenden Instanz in orthographischen Fragen und somit zum Synonym für Rechtschreibung schlechthin. Wenn von der deutschen Orthographie vor der Reform, oft die alte Orthographie oder die Einheitsorthographie genannt, die Rede ist, dann dürfen zwei Punkte nicht vergessen werden: Erstens galt, wie oben erwähnt, die sogenannte alte Rechtschreibung im Duden nur für die Bundesrepublik Deutschland (bzw. für die DDR) und die Schweiz. Österreich hingegen hatte ein eigenes offizielles Wörterbuch, das teils anders kodifiziert und weiterentwickelt wurde als der Duden und somit 64 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="75"?> eine andere Norm abbildetet, vgl. dazu die kontrastive Untersuchung des Dudens und des Österreichischen Wörterbuchs von Lasselsberger (2000). Zweitens war die sogenannte „ alte Orthographie “ mitnichten einheitlich und invariabel, wie dies vielleicht mit den Bezeichnungen Einheitsorthographie oder alte Orthographie impliziert werden könnte. Im Gegenteil wurden das Regelwerk und die Einzelwortfestlegungen über die Jahre und die verschiedenen Auflagen des Dudens und des Österreichischen Wörterbuches hinweg Schritt für Schritt verändert und somit war die Reform nicht der erste und einzige Eingriff in die deutsche Orthographie, wie Lasselsberger (2000) nachweisen kann. Die Duden-Redaktion wie auch die Redaktion des Österreichischen Wörterbuchs entwickelte die deutsche Orthographie auf der Grundlage des amtlichen Regelwerks weiter, indem sie in Regeldarstellung und Wörterlisten von Auflage zu Auflage Änderungen und Ergänzungen vornahmen (Nerius et al. 2007: 375). Dies betraf einerseits die Reduktion von Varianten, die im Regelwerk von 1901 zugelassen waren, anderseits in der Formulierung von Regeln für Bereiche, die im amtlichen Regelwerk nicht oder nur teilweise geregelt waren: Zusammen- und Getrenntschreibung, Interpunktion sowie teilweise Bereiche der Groß-/ Kleinschreibung und der Worttrennung (Nerius et al. 2007: 375). Der Hintergrund dieser Änderungen wird in Nerius et al. (2007: 375) folgendermaßen umrissen: Ziel und Richtung dieser Ausweitung waren eine möglichst lückenlose Erfassung aller Bereiche der Orthographie in der kodifizierten Norm und eine möglichst genaue Normierung aller erwartbaren Schreibungsfälle. Die Eingriffe - Lasselsberger (2000: 171) nennt sie „ schleichende Reformen “ - wurden jedoch von beiden Wörterbüchern nicht in der gleichen Art und Weise vorangetrieben. Das Österreichische Wörterbuch zeigt sich etwa im Vergleich zum Duden wesentlich liberaler und ließ in schwierigen, unklaren Fällen häufig Doppelschreibungen zu, vgl. v. a. Lasselsberger (2000: 169 - 171). So wurde z. B. im Österreichischen Wörterbuch schon seit der 36. Auflage bei in bezug auf auch die Schreibung in Bezug auf zugelassen in Analogie zu mit Bezug auf. Der Duden hingegen ließ stets nur die Schreibung in bezug auf zu (Lasselsberger 2000: 219). Heute ist nur noch die Großschreibung gültig. Gabler (1983) hat in verschiedenen Rechtschreib-Wörterbüchern Anzahl und Art der aufgeführten Varianten untersucht. Die diachrone Entwicklung hat sie in ausgewählten Duden-Auflagen (1880, 1902, Buchdrucker-Duden 1907, 1915, 1941, 1957, 1976) anhand der Stichworte unter den Buchstaben C (besonders reich an Fremdwörtern) sowie F und S untersucht. Erwartungsgemäß zeigte sich ein Rückgang der Varianten, allerdings nicht gleichmäßig (Gabler 1983: Thesen, 16): Die Abnahme der orthographischen Varianten erfolgt nicht kontinuierlich, sondern unterliegt starken Schwankungen. Diese ergeben sich aus der unterschiedlichen Haltung der Wörterbuchverfasser zur Anzahl und Zusammensetzung der 3.2 Orthographische Varianz diachron gesehen 65 <?page no="76"?> aufzunehmenden Stichwörter, insbesondere zur Aufnahme von Fremd- und Fachwörtern und in neueren Auflagen zur Aufnahme von österreichischen und schweizerischen Schreibungen. Bei Gablers vergleichenden Untersuchung der Varianten in verschiedenen Ausgaben des Großen Dudens, des Duden Rechtschreibwörterbuchs sowie des Österreichischen Wörterbuchs hat sich herausgestellt, dass die orthographische Varianz in diesen Wörterbüchern sich auf sehr wenige Lemmata beschränkt (Gabler 1983). So übersteigt bei keinem der untersuchten Wörterbücher der Anteil der Varianten 1 % aller Lemmata, konkret lag für den Leipziger Duden (1976) der Anteil der Varianten bei 0.83 %, beim Mannheimer Duden (1980) bei 0.79 % und beim Österreichischen Wörterbuch bei 0.83 %; darin eingeschlossen sind Variantenschreibungen bei Eigennamen. In Bezug auf die Verteilung der Varianten auf die Phänomenbereiche sind in der Fremdwortschreibung am meisten zu finden (Gabler 1983: Thesen, 8 ff.). Somit kann die deutsche Rechtschreibung vor der Reform als relativ variantenarm bezeichnet werden. Der kursorische Durchgang durch die Geschichte der deutschen Orthographie unter der Perspektive der Varianz soll aufzeigen, dass die in frühneuhochdeutscher Zeit beobachtbare graphische und orthographische Varianz auf das Fehlen einer überregional verbindlichen Norm zurückzuführen ist, was den Druckern und Schreibern erlaubte, aus sprachgeographischen, sozialen, textsortenbedingten, sprachhistorischen, individuellen, aber auch aus stilistischen Gründen (Vermeidung von Wiederholung, Abwechslung) ihre Schreibweisen zu variieren (Hartweg/ Wegera 2005; Voeste 2008). Es lassen sich folglich für diese Zeit zwei gegenläufige Tendenzen beobachten: Variantenausbau als Folge der genannten pragmatischen Gründe und der sprach- und orthographie-theoretischen Reflexionen sowie Variantenabbau als Selektion im Rahmen der Herausbildung eines Usus und als Folge der im 15. Jahrhundert einsetzenden, vom Buchdruck beförderten Bestrebung nach Vereinheitlichung. Grundsätzlich anders präsentiert sich die Situation nach der II. Orthographischen Konferenz und der Kodifikation der Ergebnisse in einem offiziell ratifizierten Regelwerk. Die darauf in Erscheinung tretende orthographische Variation war auf Unterspezifikationen dieses Regelwerks zurückzuführen. Die Wörterbuch-Redaktionen des Dudens und des Österreichischen Wörterbuchs nahmen dies auf Wunsch v. a. des Druckgewerbes zum Anlass, im Verlauf des 20. Jahrhunderts von Auflage zu Auflage eindeutigere Regeln zu formulieren und den Variantenabbau voranzutreiben, wobei die Duden-Redaktion radikaler vorging als das Österreichische Wörterbuch (Lasselsberger 2000). 66 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="77"?> 3.3 Orthographische Varianz seit der Reform 1996/ 2006 Die Entwicklung der Orthographie nach dem Zweiten Weltkrieg war geprägt von der Vereinheitlichungsbestrebungen der Wörterbuchverlage, wie oben dargelegt, sowie von den nun wieder aufkommenden Reform- Bestrebungen, für eine umfassende Darstellung der verschiedenen Bemühungen um eine Orthographie-Reform im 20. Jahrhundert vgl. den Sammelband von Augst et al. (1997), für ein zusammenfassende Darstellung Nerius et al. (2007: 375 - 402), für die Schweiz Looser (1995). Nach verschiedenen Anläufen, Reform-Empfehlungen, Vorarbeiten, Konferenzen konkretisierten sich erste Reformpläne in der Gründung von länderspezifischen Forschungsgruppen und Kommissionen (Nerius et al. 2007: 394 ff.), die 1980 zum Internationalen Arbeitskreis für Orthographie zusammengeschlossen wurden, der gemeinsam Vorschläge für eine Neuregelung auszuarbeiten hatte (Nerius et al. 2007: 395). Nach Überarbeitungen dieser Vorschläge, die nach etlichen Anhörungen, öffentlichen Protesten und Einwänden vor allem der deutschen Kultusminister erfolgten, gaben schließlich die deutschsprachigen Länder 1996 in Wien eine „ Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung “ ab, die nebst der Einführung des neuen Regelwerks für die Schule ab August 1998 auch die Einsetzung einer Zwischenstaatlichen Kommission vorsah, welche die Einführung der Neuregelungen begleiten und die künftige Sprachentwicklung beobachten sollte (Nerius et al. 2007: 398). In der Folge wurde das amtliche Regelwerk von 1996 veröffentlicht (Regelwerk 1996), das einerseits darauf abzielte, „ die Systemhaftigkeit “ der deutschen Orthographie und „ den Generalisierungsgrad ihrer Regeln “ zu stärken sowie „ bestimmte Fehlerquellen oder Ungereimtheiten, die sich im Verlauf der Geschichte ergeben haben “ auszumerzen, andererseits das Regelwerk zu entschlacken und übersichtlicher zu gestalten (Blüml et al. 1991: 4/ 5). Trotzdem wurden auch hier bei einigen Schreibungen Doppelschreibungen zugelassen, Dies waren einerseits Varianten, wie sie schon in der alten Rechtschreibung, d. h. dem Duden (1991) aufgenommen waren (wie z. B. aufgrund/ auf Grund) sowie länderspezifische Varianten, andererseits wurden neue Varianten eingeführt, z. B. wurden in der Fremdwortschreibung in einigen Fällen neu integrierte Formen neben den Herkunftsschreibungen zugelassen, wie etwa Spaghetti/ Spagetti oder existentiell/ existenziell; bei der Zusammen-/ Getrenntschreibung standen nun Formen wie infrage kommen neben dem bisherigen in Frage kommen; in der Groß-/ Kleinschreibung war nun etwas Anderes neben etwas anderes erlaubt, vgl. dazu Regelwerk (1996). Die zunehmende Opposition gegen die neuen Regeln aus den Reihen der Journalisten, Lehrer, Schriftsteller, Politiker, aber auch Sprachwissenschaf- 3.3 Orthographische Varianz seit der Reform 1996/ 2006 67 <?page no="78"?> ter 30 , führte dazu, dass 2004 der Rat für Deutsche Rechtschreibung geschaffen wurde, dem neu nicht nur Sprachwissenschafter und Didaktiker angehörten, sondern auch Vertreter anderer an der Orthographie interessierter Berufsgruppen (Nerius et al. 2007: 399; Güthert 2006/ 2011). Der Rat erhielt als Auftrag, zuerst eine konsensuelle Lösung auf der Basis des amtlichen Regelwerks 2004 zu entwickeln. Dies bedeutete, Entweder-oder-Positionen aufzugeben und für eine ausgewogene Berücksichtigung der Interessen der Schulen, in denen die Regeln der Rechtschreibreform zum Teil seit dem Schuljahr 1996/ 97 gelehrt werden, einerseits und der professionellen Schreiber andererseits Sorge zu tragen. Als Ergebnis wurde eine Regelung anvisiert, die systematischer als die alte Rechtschreibung, aber näher am Schreibgebrauch als die Rechtschreibreform ist. (Güthert 2006/ 2011: 2) Die Überarbeitung des Regelwerks erfolgte somit im Spannungsfeld des Bemühens um Systematizität und der Berücksichtigung des Usus, wobei die Formulierung oben impliziert, dass unter Usus der Sprachgebrauch der professionellen Schreiber und Schreiberinnen zu verstehen ist. 31 Diesem Auftrag folgend legte der Rechtschreibrat 2006 eine Revision des Regelwerks vor, das in den Bereichen Zusammen- und Getrenntschreibungen, Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung, Wortrennung Anpassungen und Änderungen vorsah, vgl. die detaillierte Darstellung im Bericht des Rats für deutsche Rechtschreibung (Rechtschreibrat 2006). Neben anderen Änderungen wurden bei einigen reformierten Schreibungen alte Schreibungen als Varianten wieder zugelassen: in der Zusammen- und Getrenntschreibung ist nun z. B. neben kennen lernen wieder kennenlernen zugelassen oder bei den resultativen Prädikativen neben kaputt machen wieder kaputtmachen; in der Groß-/ Kleinschreibung ist nun wieder Schwarzes Brett neben schwarzes Brett oder recht haben neben Recht haben zulässig (die für die vorliegende Untersuchung relevanten Bereiche werden in Kapitel 4 detaillierter besprochen). Die neuen, revidierten Regeln erschienen 2006, die ersten Anpassungen in der Fremdwortschreibung 2011 (Regelwerk 2006). 30 Vgl. für eine Zusammenfassung der fachlichen Kritik an der Reform Dürscheid (2006: 195 ff.) sowie für eine umfassende Aufarbeitung des medialen Diskurses Stenschke (2005). 31 Diese Sichtweise ist aus zweierlei Gründen problematisch: Erstens impliziert sie, dass professionelle Schreiber die deutsche Orthographie am besten verstehen und anwenden. Hier liesse sich aber einwenden, dass professionelle Schreiber (hier sind wohl v. a. Journalisten und Schriftsteller gemeint) sich die geltenden Schreibweisen allenfalls am besten angeeignet und am besten verinnerlicht haben, sonst wären sie kaum in einer schreibenden Profession tätig. Zweitens existieren für die meisten Zeitungen und Zeitschrift hauseigenen Orthographien oder man orientiert sich an Leitfäden, vgl. Kapitel 3.6.4, was dazu führt, dass Untersuchung des medialen Schreibens vor allem die Präferenzen der Leitfäden abbilden. 68 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="79"?> Heute liegt gemäß Auszählung der Wahrig-Redaktion die Anzahl der Variantenschreibungen in ihrem Rechtschreibwörterbuch (Wahrig 2006 a) bei gut 3'000 Formen bei rund 125'000 Lemmata 32 , die Worttrennung ausgenommen (Krome 2011: 41). Fast die Hälfte aller Fälle betrifft die Zusammen-/ Getrenntschreibung, ca. 30 % die Phonem-Graphem-Korrespondenz; bei der Fremdwortschreibung sind zu 90 % Fremdwörter aus dem Lateinischen und Griechischen betroffen, zu 8 % aus dem Französischen und Englischen und zu 2 % andere Sprachen (Krome 2011: 41). Diese Zahlen dürften in etwa auch den anderen Wörterbüchern entsprechen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass erst mit der Rechtschreibreform von 1996 bzw. der Revision der Reform von 2006 orthographische Varianten im offiziellen Regelwerk systematisch in allen Bereichen dargestellt, festgesetzt und geregelt werden. Die heutige orthographische Varianz ist folglich als Handlungsspielraum innerhalb des Regelwerks und somit innerhalb klarer Begrenzungen zu betrachten und kann nicht mit der Varianz vor der II. Orthographischen Konferenz verglichen werden. Dennoch muss festgehalten werden, dass der Variantenbestand mit der Reform 1996 und der Revision der Reform 2006 gegenüber der alten Rechtschreibung erhöht wurde. 3.4 Gründe für orthographische Varianz Es wurde im vorangehende Kapitel 2.1.4 dargelegt, dass Varianz im graphischen System angelegt ist und im Zuge der orthographischen Normierung auf eine Form festgelegt wird. Es stellt sich nun die Frage, wieso in einigen Fällen die graphematische Varianz orthographisch nicht eindeutig festgelegt werden kann. Die Ursachen für die Existenz orthographischer Varianten sieht Nerius (1994: 723) ganz grundlegend folgendermaßen: Das Auftreten orthographischer Varianten kann verschiedene Ursachen haben; in ihnen können sich sprachliche Entwicklungen auf anderen Ebenen des Sprachsystems oder Grenz- und Übergangsfälle zwischen verschiedenen Kategorien oder Klassen widerspiegeln, sie können aber auch Resultat einer unzureichenden Kodifizierung und Regelformulierung sein, wie das etwa bei der Kodifizierung der Groß- und Kleinschreibung von Eigennamen in der orthographischen Regelung des Dudens der Fall ist. Orthographische Varianz gründet also in der Sprachentwicklung, innerhalb des Sprachsystems selbst oder in einer unzureichenden Regulierung in der Kodifikation. Gallmann (2004) differenziert hier in der Zusammenstellung der Gründe für die Varianz im amtlichen Regelwerk bzw. Wörterverzeichnis 32 Wobei natürlich ein Lemma mehrere Varianten umfassen kann, so dass man die beiden Zahlen nicht direkt in ein Verhältnis stellen kann. 3.4 Gründe für orthographische Varianz 69 <?page no="80"?> (2006) weiter aus und führt die Aufnahme von Doppelformen ins amtliche Regelwerk auf vier Zusammenhänge zurück: - sachbedingte (im Sprachsystem angelegte) Varianz - komplexitätsbedingte Varianz - traditionsbedingte Varianz - konzeptbedingte Varianz Sachbedinge Varianz ist „ im Sprachsystem oder in der Sprachentwicklung “ angelegt (Gallmann 2004: 38). Dazu zählt er etwa Univerbierungstendenz bei festen Wendungen mit Präpositionen, vgl. dazu die unten aufgeführten Beispiele (3), (4), (5) aus Gallmann (2004: 39). Diese Entwicklung ist nicht bei allen möglichen Fällen gleichermaßen fortgeschritten, da „ das Festwerden von Wortverbindungen und das Verschmelzen zu einem einzigen Wort zwar Hand in Hand gehen können, dies aber keineswegs müssen “ (Gallmann 2004: 39). Bei den unten aufgeführten Beispielreihen steht Bsp. (3) für eine fortgeschrittene Univerbierung, Bsp. (4) für einen unklaren Status der Entwicklung und Bsp. (5) für nicht univerbierte Formen. (3) beizeiten, vonnöten (sein), zunichte (machen) (4) in Frage stellen/ infrage stellen, imstande sein/ im Stande sein, an Stelle/ anstelle (5) in Anbetracht (der Sachlage), im Hinblick (auf die Erwartungen) Vor der Reform wurde in diesen Fällen die semantische Transparenz als Entscheidungskriterium herangezogen, die jedoch laut Gallmann (2004: 39) wenig Entscheidungssicherheit brachte, so etwa in den Fällen zutage treten - zu Rande kommen, wo nicht auf den ersten Blick einsichtig ist, wieso zutage treten im übertragenen Sinn und zu Rande kommen näher an der wortwörtlichen Bedeutung sein sollte. Komplexitätsbedingte Varianz ergibt sich dann, „ wenn der Gegenstand zwar in eindeutige, sachlich fundierte Regeln gefasst werden kann, aber für den größten Teil der Regelanwender zu komplex ist “ (Gallmann 2004: 41). Als Beispiel nennt er hier die Kommasetzung beim Infinitiv, die sich leicht mit der Regel fassen ließe, dass satzwertige Infinitive vom Hauptsatz abgetrennt werden müssen, eine Unterscheidung, die den meisten Sprachbenützer nicht leicht fällt (Gallmann 2004: 41). Hinter der komplexitätsbedingten Variation steckt eine grammatische Schwierigkeit (Gallmann 2004: 41). Traditionsbedingte Varianz ergibt sich demgegenüber aus der Tatsache, dass Änderungen in vertrauten Schreibweisen schlecht akzeptiert werden, was damit zusammenhängt, dass „ ein ungewohntes Schriftbild beim routinierten Lesern vom Inhalt des Gelesenen ablenkt - mag es sich nun um einen gewöhnlichen Tippfehler oder eben auch um eine neue, logischere Schreibung handeln “ (Gallmann 2004: 43). Ähnlich geht Honvault (1995: 11 ff.) in seiner Untersuchung der französischen graphischen und orthographischen Variation von einem „ principe visuo-sémiographique “ ( ‚ einem visuell-semio- 70 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="81"?> graphischen Prinzip ‘ ) an der Leser-Schrift-Schnittstelle aus, das nach Dauerhaftigkeit und Stabilität verlange. Dies steht im Gegensatz zu sprachsystematischen Überlegungen, die eine Weiterentwicklung der Orthographie fordern würden (Honvault 1995: 15). Deshalb wurden in der Reform der deutschen Orthographie gewisse neue Schreibweisen, die besser der Systematik der deutschen Orthographie entsprechen, nur als Varianten eingeführt (Gallmann 2004: 43). Dies betrifft insbesondere den Bereich der Fremdwortschreibung, wo zwischen Ursprungsschreibungen und integrierter Schreibung unterschieden werden kann, wobei die Integration immer eine Anpassung an die konventionellen deutschen Phonem-Graphem-Korrespondenzen impliziert. Als Beispiel nennt Gallmann neue integrierte Fremdwortschreibung wie substanziell oder Potenzial (statt substantiell und Potential), die neben der Integration in das deutsche graphematische System den Vorteil haben, dass das morphologische Prinzip der Schemakonstanz eingehalten werden kann (zu Substanz und Potenz) (Gallmann 2004: 43). Konzeptionsbedingte Varianz schließlich ist ein Reflex davon, dass sich in der wissenschaftlichen Beschreibung der Orthographie Unterschiede in den zugrundeliegenden Konzeptionen ergeben können (Gallmann 2004: 44). Eine Beispielgruppe ist die Verbindung von Superlativen mit der Präposition aufs wie in aufs Schärfste/ schärfste, aufs Äußerste/ äußerste, bei denen heute sowohl großwie auch kleingeschrieben werden darf. Die Varianten gehen auf eine konzeptionell unterschiedliche Beurteilung der festen Wendungen aus Präposition und nominalisiertem Adjektiv zurück. 33 Die Verbindung wurde früher entweder gemäß ihrem grammatischen Bau als Präpositionalgruppe mit einem Nomen als Kern, d. h. mit einer Nominalisierung (Großschreibung) oder gemäß der Funktion der ganzen Wortgruppe als Adverbiale, d. h. als lexikalisierte Einheit (Kleinschreibung) gefasst (Gallmann 2004: 44). In der alten Rechtschreibung war die Zuteilung zu Präpositionalgruppe oder Lexikalisierung uneinheitlich, vgl. Gallmanns Beispiele unter (6) und (7), das zusätzlich herangezogene Kriterium der übertragenen versus wörtlichen Bedeutung nicht immer eindeutig (Gallmann 2004: 45), vgl. weiter Gallmanns Beispiele unter (8) und (9). (6) ins reine schreiben (7) ins Lächerliche ziehen (8) Der Jäger traf ins Schwarze (wörtlich: groß) (9) Der Redner traf ins schwarze (übertragen: klein) Bei der Neureglung wurde laut Gallmann (2004: 45) ein einheitliche Regelung angestrebt, die aufgrund grammatischer und nicht semantischer Kriterien die Großschreibung in jenen Fällen vorschreibt, in denen eine Präposition und ein 33 Vgl. die Beispiele in der Kreuztabelle bei Gallmann (2004: 44): feste Fügung: sich von Gemüse ernähren, sich von Süssem ernähren versus von oben kommen; feste Wendung: in Anbetracht der Lage, sich im Freien aufhalten, sich im Verborgenen aufhalten versus von vornherein. 3.4 Gründe für orthographische Varianz 71 <?page no="82"?> Artikel Nominalität anzeigen. Als problematische Restgruppe verblieb lediglich die Verbindung von Präposition und Superlative, bei der nun sowohl Großwie auch Kleinschreibung zugelassen ist. Wir können also zusammenfassend festhalten, dass in denjenigen Fällen, in denen es nicht gelingt, die graphematisch möglichen Schreibungen auf eine einzige orthographische Normschreibung festzulegen, Faktoren der Sprachentwicklung, der Komplexität, der Berücksichtigung der Gewohnheiten der Sprachbenützer sowie der unterschiedlichen grammatischen Konzepten eine Rolle spielen. 3.5 Bewertungen der orthographischen Varianz im Fachdiskurs Obwohl es zur Frage der orthographischen Varianz fast keine Fachliteratur gibt, gehen doch die Meinungen dazu auseinander, ob im orthographischen Regelwerk Varianten aufgenommen werden sollten oder nicht. An den Argumenten zeigen sich grundlegende Unterschiede in der theoretischen Konzeption der (deutschen) Orthographie. Die Prämissen, die sich dahinter verstecken, sind fast ebenso interessant wie das Phänomen der orthographischen Varianz selbst und lassen sich auf einige der in Kapitel 2 genannten unterschiedlichen Auffassungen zu Struktur und Funktion der Orthographie zurückzuführen. Es sollen hier entlang der Prämissen, auf denen die Bewertungen mehr oder minder explizit beruhen, die Argumente für bzw. gegen die orthographische Varianz aufgeführt werden. Die meisten stammen aus Schriften, d. h. Stellungsnahmen zur Rechtschreibreform von 1996 34 und sind aus der theoretischen, der angewandten Linguistik sowie der Fachdidaktik hervorgegangen. Es handelt sich meist um Einzeläußerungen, die weder ausreichend ausgeführt oder in umfassende theoretische Konzepte eingebettet noch empirisch abgesichert sind. 3.5.1 Argumente kontra orthographische Varianz 1. Einheitlichkeit: Schreibungen müssen stets einheitlich sein: d. h. immer die gleiche Form in der gleichen Sprachgemeinschaft sowie immer die gleiche Form im gleichen Text. Im Kapitel 2.1 wurden orthographische Normen als Sprachsystem-Normen beschrieben, die wie alle sprachlich-kommunikativen Normen soziale Normen sind, aber durch die Kodifikation in Regelwerken und Wörterbüchern einen hohen Grad an Explizitheit und sozialer Verbindlichkeit erlangt 34 Die Argumente stammen somit aus einer Zeit, in der das Schreiben sich noch nicht in dem Masse medial ausdifferenziert hat, wie dies heute mit verschiedenen digitalen Schreibumgebungen der Fall ist. 72 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="83"?> haben, was im Vergleich mit anderen sprachlichen und kommunikativen Normen zu einer Hochwertung der Einheitlichkeit sowie einer geringen Variabilität führt. Heute gehören die orthographischen Normen somit zu den am strengsten geregelten Sprachsystem-Normen, die mit richtig/ falsch bewertet werden. Die Existenz orthographischer Varianten hingegen rückt orthographische Normen in die Nähe von Sprachgebrauchsnormen, die mit angemessen/ nicht angemessen bewertet werden. Auf diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass auch im Fachdiskurs die orthographische Varianz als Bedrohung der Einheitlichkeit angesehen wird, die das Resultat langjähriger Ausgleichsprozesse und Vereinheitlichungsbemühungen ist. So etwa Scholze-Stubenrecht (1995: 56 ff.), der das Thema der Einheitlichkeit der sprachlichen Normen aus Sicht der Duden-Sprachberatung folgendermaßen darstellt: Auch wenn absolute Einheitlichkeit niemals zu erreichen sein wird und vielleicht auch gar nicht erreicht werden sollte, ist nach unserer Meinung sowohl aus sprachdidaktischer Sicht wie auch unter dem Aspekt der Kommunikationsoptimierung eine grundsätzliche Standardisierung und Vereinheitlichung bestimmter Bereich der Sprache eine Notwendigkeit. Wir sehen die entscheidende Leistung Konrad Dudens ja gerade darin, daß er mit seinem orthographischen Wörterbuch zum Entstehen einer Einheitsschreibung im deutschen Sprachraum erheblich beigetragen hat, und wir würden jede substantielle Aufweichung dieser Einheitlichkeit als eine ernstzunehmende Gefahr betrachten. Derzeit beschränken sich bewußte Abweichungen von der geltenden orthographischen Norm auf wenige überschaubare Fälle, die das Funktionieren des allgemeinen Rechtschreibstandards nicht gefährden. Aus dem Zitat wird deutlich, dass die Einheitlich der heutigen Orthographie als Errungenschaft, hier sogar Errungenschaft Konrad Dudens dargestellt wird, die es gegenüber „ Aufweichung “ zu verteidigen gilt, die als „ ernstzunehmende Gefahr “ bezeichnet wird. Schon das Vokabular deutet auf die Dringlichkeit des Anliegens. 2. Erfassungsfunktion: Orthographie ist primär für den Leser da, sie soll eine möglichst eindeutige und effiziente Dekodierung der Inhalte ermöglichen. Dazu braucht es einheitliche Schreibweisen. Diese Position setzt die Erfassungsfunktion zentral und geht davon aus, dass das schnelle und effiziente Dekodieren im Leseprozess nur bei einer möglichst einheitlich gehaltenen Schreibung möglich ist. Die Einheitlichkeit garantiere eine reibungslose Kommunikation, stelle „ eine zügige, von Missverständnissen und Rückfragen weitgehend befreite schriftliche Kommunikation im öffentlichen Alltagsleben “ sicher (Scholze-Stubenrecht 1995: 56 ff.). Auch Bähr (1997: 28) hält in seinem kritischen Kommentar zu den neuen Regeln der Reform von 1996 fest: Die leichte Wiedererkennbarkeit (= die Konstanz) sprachlicher Zeichen ist das oberste Prinzip. Nur bei größter äußerer Notwendigkeit sollten einzelne Ände- 3.5 Bewertungen der orthographischen Varianz im Fachdiskurs 73 <?page no="84"?> rungen vorgenommen werden, nicht aus einer durch die Neuformulierung abstrakter Regeln künstlich geschaffenen Notwendigkeit. Selbst Glinz (1987: 29), der im Prinzip für einen gemäßigten Umgang mit der orthographischen Norm und dem Einheitlichkeitsanspruch eintritt, sieht Einheitlichkeit als eine der grundlegende Funktionen der Orthographie bzw. der Schriftlichkeit im Lesen und Schreiben: Grundsätzlich ist es für eine störungsfreie schriftliche Kommunikation wichtig, daß gleiche Wörter immer gleich und im ganzen Sprachgebiet einheitlich geschrieben werden (auch wenn man sie evtl. etwas verschieden ausspricht). Wenn man nämlich beim Lesen einer graphischen Wortgestalt begegnet, die einem unvertraut vorkommt, stockt man einen Augenblick; die Aufmerksamkeit wird vom Erfassen des Textinhalts abgelenkt und auf die unvertraute Form der graphischen Wortgestalt gelenkt. Dadurch entsteht eine wenn auch kurze Lesehemmung. Und wenn man beim Schreiben immer neu überlegen muss, wie man nun ein Wort schreiben soll, hemmt das den Schreibfluss erheblich. Man kann sich einen Begriff davon machen, indem man etwas genau nach Gehör zu schreiben versucht, z. B. einen Satz aus einer Mundart oder Umgangssprache, der anders klingt als in der Standardsprache. Eine einheitliche Orthographie bringt für Glinz allerdings nicht nur für die Erfassung, sondern auch für die Aufzeichnung Vorteile, indem der kognitive Aufwand in der Produktion bzw. der Rezeption verringert wird. Stetter (1997: 74) geht sogar noch einen Schritt weiter und bringt die Eindeutigkeit der Dekodierbarkeit mit der Eindeutigkeit des Denkens in Zusammenhang: Die Forderung der Eindeutigkeit unserer Zeichen hat ihren Sinn nicht nur in der Eindeutigkeit ihrer Lesbarkeit für eine unüberschaubare Öffentlichkeit. Sie liegt tiefer: Man kann in nicht eindeutigen Schreibungen nicht eindeutig denken. Dies gilt für Varianten, die angeblich das Schreiben erleichtern: Schenke oder Schänke. Diese Schlussfolgerung basiert er auf strukturalistischen Überlegungen zur Natur des sprachlichen Zeichens, die besagen, dass jede Änderung des Zeichenausdrucks auch einen Änderung des Zeicheninhalts nach sich zieht. Dies kann jedoch für die Graphie und Orthographie nur bedingt gelten. Schon ein kursorischer Blick in die Geschichte der Orthographie vermag zu zeigen, dass diese Zusammenhang jeglicher realistischen Grundlage entbehrt, es müsste ja davon ausgegangen werden, dass in früheren Sprachstufen, in der orthographische Varianz den Normalfall darstellte, niemand sich eindeutig verständigen und folglich, in der Konsequenz der Argumentation Stetters, niemand eindeutig denken konnte. Die Frage nach der effizienteren Dekodierbarkeit kann mit Rückgriff auf psycholinguistische Modelle des Leseprozesses etwas relativiert werden. So kann heute auf der Grundlage verschiedener experimenteller Untersuchungen davon ausgegangen werden, dass drei Strategien für das Dekodieren von Einzelwörtern eingesetzt werden können (Christmann/ Groeben 1999: 74 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="85"?> 148 - 151): der direkte lexikalische Abruf von bekannten und frequenten Wörtern aus dem Lexikon, ohne dass Buchstabe für Buchstabe prozessiert wird; für unbekannte oder niederfrequente Wörter der indirekte Abruf über das phonologische Dekodieren sowie für komplexe Wörter der Abruf über die morphologische Struktur. Der lexikalische Abruf ganzer Wortformen ist gegenüber kleineren Abweichungen auf Buchstabenebene resistent, dies zeigt sich insbesondere auch bei Tippfehlern. Allerdings konnte in einer kleiner angelegten Blickbewegungsstudie, die den Einfluss der neuen Orthographie auf den Lesefluss von Kindern und Erwachsenen untersucht hat, festgestellt werden, dass unvertraute Schreibungen eher länger fixiert wurden und somit den Leseprozesse stören können; dies betraf v. a. neue Getrenntschreibungen bei Erwachsenen und für die gleichen Formen alte Zusammenschreibungen bei Kindern (Engl 2005). Dies deutet darauf hin, dass das Problem weniger bei den orthographischen Varianten als bei der Vertrautheit der Schreibweisen liegen dürfte. Ebenso kann angenommen werden, dass nicht alle Phänomenbereiche der Rechtschreibung im Leseprozess gleichermaßen salient sind: Phänomene der Phonem-Graphem-Korrespondenzen dürften salienter sein als die Groß-/ Kleinschreibung, die wiederum salienter sein dürfte als die Zusammen- und Getrenntschreibung. Weitergehende empirische Untersuchungen, die speziell auf den Einfluss von Varianten auf den Leseprozess zugeschnitten sind, stehen jedoch noch aus. 3. Aufzeichnungsfunktion: Orthographische Normen müssen genaue, eindeutig zu befolgende Handlungsanleitungen sein, sonst verunsichern sie den Schreibenden und belasten den Schreibprozess. Wie schon oben im Zitat von Glinz angesprochen, kann zu viel orthographische Freiheit im Schreibprozess kognitive Ressourcen besetzen, indem orthographische Entscheidungen getroffen werden müssen. Diese orthographischen Entscheidungen werden noch dadurch erschwert, dass nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Schreiber und Schreiberinnen die Varianten umfänglich repräsentiert haben. So argumentiert Zemb (1997: 260) als Präsident des Dachverbandes der Schweizer Lehrer und Lehrerin in einer kritisch bis polemischen Darstellung der Rechtschreibreform von 1996, dass die „ Variantenvermehrung insgesamt die Fehlerquellen “ erhöht hat. Dies komme daher, dass nicht einsehbar sei, bei welchen Schreibungen Varianten vorgesehen seien, welche Variante jeweils Hauptvariante sei und dass einige Varianten nur auf Zeit toleriert seien. Die mit der Variantenregelung beabsichtigte Entlastung des Schreibenden trete daher nicht ein (Zemb 1997: 260): Insgesamt wird die ‚ schreiblernfreundliche ‘ novellierte Varianten-Regelung voraussichtlich zu einer erhöhten Schreibverwirrung führen, von der nur Schreibtisch-Didaktiker meinen, sie könne das Aufmerksamkeitspotential für andere, wichtigere Dinge freimachen bzw. frei machen. 3.5 Bewertungen der orthographischen Varianz im Fachdiskurs 75 <?page no="86"?> Bähr sieht daher als wichtigsten Zweck der Orthographie die „ Eindeutigkeit “ , so dass „ für jeden Sachverhalt ein optisches (graphisches) Zeichen “ gilt. Mit Ausnahme der Fremdwortschreibung müsse Variantenreduktion betrieben werden, denn „ Toleranzen, Freiräume und Doppelformen führen zur Verunsicherung “ (Bähr 1997: 28). Bei diesem Argument stellt sich ebenfalls die Frage nach der mentalen Repräsentation von Varianten sowie der Salienz der verschiedenen orthographischen Phänomenbereiche. Des Weiteren könnten hier unterschiedliche Schreibbiographien, Schreibgewohnheiten sowie durch das Schreiben in digitalen Schreibumgebungen geänderte Einstellungen gegenüber orthographischen Normen eine Rolle spielen. Ebenfalls wäre es nötig, diese Behauptung mithilfe kognitiver Schreibprozess-Modelle zu überprüfen. Im Gegensatz zur Leseforschung stehen jedoch umfassende Modellierungen der orthographie-bezogenen Schreibprozesse noch aus, wie schon in 2.4.2 festgestellt wurde. Diesem Argument ist denn auch ein Teil der vorliegenden Untersuchung gewidmet. 4. System-Perspektive: Eine Orthographie muss eine möglichst ausdifferenzierte Kodierung ermöglich, sie muss so viele Unterschiede semantischer, kategorieller oder struktureller Art wie möglich eindeutig kodieren können. Diese Auffassung taucht vor allem bei der Frage der Zusammen- und Getrenntschreibung bei Verbindungen von Verben und Verben oder Adjektiven mit Verben/ Partizipien, bei denen in der alten Rechtschreibung semantisch differenziert und bei wörtlicher Bedeutung getrennt und bei übertragener Bedeutung zusammengeschrieben wurde, z. B. sitzen bleiben/ sitzenbleiben oder kaltstellen/ kalt stellen. Im neuen Regelwerk 2006 wird hier vermehrt die Entscheidung dem Schreibenden überlassen, z. B. mit der Ausnahmeregelung in § 34 (2.2) E 5 oder § 34 (4) E 7 (Regelwerk 2006). Damit wird die eindeutige Kodierung semantischer Unterschiede, d. h. die Disambiguierung in diesen Fällen faktisch aufgehoben. Dies führe, so Jacobs (2007: 44) in seinem Artikel zum (Un-)Sinn der Schreibvarianten, „ zu einem in seiner Ausdrucksfähigkeit verarmten System “ . Damit impliziert er, dass das System der geschriebenen Sprache in diesen Fällen eindeutiger verfahren müsste als die gesprochene Sprache, die ja über dieses Mittel der Disambiguierung nicht verfügt. Dem muss allerdings entgegengehalten werden, dass jedem Sprachsystem, sei es noch so genau und detailliert geregelt, gewisse Ambiguitäten inhärent sind, die nur unter Berücksichtung des Kontexts aufgelöst werden können. 3.5.2 Argumente pro orthographische Varianz Die Argumente, die für die orthographische Varianz sprechen, sind grosso modo äquivalent zu den oben dargelegten Gründen von Gallmann (2004), weshalb im heutigen Regelwerk orthographische Varianten aufgenommen wurde. Sie werden deshalb hier nur noch kurz genannt. 76 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="87"?> 1. Einheitlichkeit und Wandel: Sprache wandelt sich, daher ist es nur natürlich, dass zumindest für eine gewisse Zeit, verschiedene Schreibweisen parallel existieren. Diese Position entspricht der oben vorgestellten traditions- und sachbedingten Varianz, vgl. 3.4. Gabler (1983) sieht denn auch orthographische Varianten wie alle sprachlichen Varianten als „ Ausdruck der sprachlichen Entwicklung “ und somit als „ dynamisches Moment “ in der ansonsten verbindlich fixierten und starren Kodifikation, z. B. die Tendenz zur Univerbierung oder die Integration von Fremdwörtern, die meist auch von phonologischer und morphologischer Integration begleitet werden. Die Existenz orthographischer Varianten kann auch gezielt für die Weiterentwicklung der Orthographie ausgeschöpft werden, wie Honvault (1995) für die Graphie und Orthographie des Französischen vorschlägt, da sie für Flexibilität und Fortschritt sorgen können, ohne sogleich hergebrachte und vertraute Schreibweisen verbieten zu müssen. 2. Usus versus Systemorientierung: Eine Orthographie soll Rücksicht auf den Usus nehmen, auch wenn dadurch in Kauf genommen werden muss, dass Variantenschreibungen entstehen, die nicht systemkonform sind. Dieses Argument liegt der Arbeit des heutigen Rats für deutsche Rechtschreibung zugrunde und wurde schon in 3.3 sowie bei Gallmanns traditionsbedingter Varianz ausgeführt (Gallmann 2004), vgl. 3.4. Es handelt sich dabei um eine pragmatische Sichtweise, welche die Gewohnheit der Sprachgemeinschaft und sprachgeographische Gepflogenheiten sowie sprachsystematische Überlegungen gleichermaßen berücksichtigen will - dieses Verfahren brachte den Verfassern des reformierten als auch des revidierten Regelwerks (1996/ 2006) den Vorwurf der „ Unfähigkeit “ ein, „ eindeutige Unterscheidungskriterien herauszufinden “ (Ickler 1997: 129). Doch auch Honvault (1995) nennt den Kompromiss zwischen Berücksichtigung der gewohnten Schreibbilder und der System-Orientierung als Grundbedingung einer Weiterentwicklung der französischen Orthographie. Eine solcherart gesteuerte Weiterentwicklung der Orthographie nimmt allerdings in Kauf, inkonsistente Festsetzungen zu machen. 3. Aufzeichnungsfunktion: Es gehört zur Freiheit des Schreibenden, dass er zwischen möglichen Schreibungen auswählen kann sowie je nach Situation und Textsorte die eine oder andere Schreibweise wählen kann. Mit dieser Argumentation werden orthographische Varianten zu individuellen, stilistischen Ausdrucksmitteln wie in der fnhd. Sprachstufe (vgl. 3.2). In seiner didaktischen ausgerichteten Würdigung früherer Reformvorschläge hat Balhorn orthographische Varianten als „ Entscheidungsspielräume “ bezeichnet, wobei er allerdings die orthographische Varianz nur dann zugelassen sehen will, wenn sie die Erfassung nicht stört (Balhorn/ Brügelmann 1989: 27; Kleinschreibung im Original): Tendenziell zeigen sich in den reformvorschlägen entscheidungsspielräume für den Schreiber. Es soll ihm überlassen bleiben, ob er in bestimmten fällen etwas als ein oder als zwei einheiten verstanden wissen will oder ob er an bestimmter stelle 3.5 Bewertungen der orthographischen Varianz im Fachdiskurs 77 <?page no="88"?> ein komma setzt oder nicht. Die ausdrückliche zulassung von schreibvarianten nicht in sehr wenigen fällen, sondern überall dort, wo keine gewichtigen einschränkungen für leser zu erwarten sind, würde positive folgen für das normverständnis von schreibern haben. Analog ist im Vorwort zur Wörterliste, welche die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 2003 als Kompromiss vorgeschlagen hatte, folgende Bemerkung zu den in ihren Vorschlägen vorgesehenen Varianten zu lesen Meier (2003: 7): Dem eiligen Leser sei auch hier darauf hingewiesen, daß das häufige Vorkommen von Varianten nicht etwa ein Ausdruck von Unentschiedenheit ist, sondern mögliche Differenzierungen und damit Freiheiten des Schreibers markiert. Solche Differenzierungen waren schon vor der Neuregelung grundsätzlich möglich, sind aber aufgrund eines wohl langsam herangewachsenen falsches Verständnisses der Eintragungen des Duden vielfach nicht wahrgenommen worden. Auch der Vierte Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission schreibt in der Stellungnahme zur Frage, ob Varianten zukünftig abgebaut werden sollten, dass in linguistisch begründbaren Fällen der Variantenschreibung die Festsetzung auf eine Schreibung „ einer Bevormundung der Schreibenden “ gleichkäme (Zwischenstaatliche Kommission 2003: 12), vgl. auch Gallmann (2004: 38). Orthographische Varianten stellten „ für die Schreibenden einerseits eine Bereicherung dar und vermindern die Gefahr des fehlerhaften Schreibens, doch vermehrt sich andererseits auch die Zahl der einzuprägenden Schreibungen, sofern nicht auf klare Regeln zurückgegriffen werden kann. Die Zahl der Variantenschreibungen sollte daher überschaubar gehalten werden und auf begründbare Fälle beschränkt bleiben “ (Zwischenstaatliche Kommission 2003: 12). Der Hinweis auf die Beschränkung der Varianten macht deutlich, dass doch die meisten der oben genannten Argumente im Grunde eine gemäßigte Sichtweise auf die orthographischen Varianten einnehmen und die orthographische Freiheit in klare Grenzen gesetzt sehen möchten. Auch Glinz (1987: 29 ff.), der unter der Kapitelüberschrift „ Vernünftige Grenzen des Einheitlichkeits-Anspruchs in der Rechtschreibung “ das in seinen Augen zwar grundsätzlich gerechtfertigte, aber in der heutigen Anwendung übersteigerte Bedürfnis nach Uniformität in der Rechtschreibung zu relativieren versucht, sieht die orthographische Varianz nur in klar definierten Bereichen (Glinz 1987: 29/ 30): Die grundsätzliche Forderung nach voller Einheitlichkeit in der Schreibung aller Wörter und in der Setzung aller Satzzeichen gilt aber nur im Rahmen gewisser vernünftiger Grenzen. Ihr gegenüber steht nämlich eine andere grundlegende Tatsache: was der Mensch hervorbringt, mit der Hand oder mit dem Kopf, weist bei aller grundsätzlichen Gleichartigkeit immer auch kleine Unterschiede auf. Wesentlich ist, daß ein gewisser Spielraum für kleine Verschiedenheiten nicht über- 78 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="89"?> schritten wird. [. . .] Es verlangt ja auch niemand, dass alle Buchstabenformen, in Druck und Handschrift, genau gleich sein sollten. In der Extremform hingegen erscheint das Argument der Freiheit des Schreibers/ der Schreiberin als vollständig Loslösung von der orthographischen Norm, so etwa Leiss/ Leiss (1997) in ihrem Buch „ Die regulierte Schrift. Plädoyer für die Freigabe der Rechtschreibung. “ Wenn man die Reichweite und Verbindlichkeit der orthographischen Norm in Betracht zieht - das amtliche Regelwerk gilt ja nur für die Schule und Behörden - wirft dies die Frage auf, wieso die Freiheit des Schreibenden in einem Regelwerk verankert werden muss. 3.5.3 Einstellung der Sprachgemeinschaft gegenüber Varianten Was die fachliche Einschätzung der Einstellung der Sprachgemeinschaft gegenüber orthographischer Varianz betrifft, scheint es eine Art opinio communis zu sein, dass die Sprachgemeinschaft bzw. die Gesamtheit der Sprachbenützer orthographische Varianz als unerwünscht betrachtet. Es kann beobachtet werden, dass sich hier der Fachdiskurs vom supponierten Laiendiskurs nur wenig unterscheidet. Allerdings muss hier gleich einschränkend angefügt werden, dass die hier wiedergegebenen Positionen alle älteren Datums sind und somit natürlich neuere Entwicklung wie die mediale Ausdifferenzierung der alltäglichen Schreibpraxis in digitalen Medien nicht berücksichtigt. 35 So bemerkte etwa Nerius (1994: 723) noch vor der Reform: Insgesamt aber sind Varianten in der Orthographie nach allgemeinem Verständnis unerwünscht. Offensichtlich wird es im Interesse einer eindeutigen und raschen Informationsentnahme aus geschriebenen Texten als unzweckmäßig und störend angesehen, wenn die Orthographie mehr als ein absolutes Minimum an Varianten enthält, selbst wenn solche Varianten das Verständnis des Textes keineswegs generell behindern. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Stabilität ist aber offenbar so groß, daß die Variabilität in der Orthographie seit der Kodifizierung der einheitlichen deutschen Orthographie nie mehr einen größeren Umfang erlangen konnte. Im Grunde kann man sogar sagen, daß der jüngere Kodifizierungsprozess der deutschen Orthographie nicht zuletzt die fortgesetzte Reduzierung der orthographischen Variabilität zum Ziel gehabt hat. Das ist natürlich auch für Orthographiereformüberlegungen von großer Bedeutung, und eine Reform, die diesen Prozess etwa umkehren wollte, hätte sicher wenig Realisierungschancen. In ihrer diachronen Untersuchung der graphischen und orthographischen Varianz (vgl. 3.2) charakterisiert Voeste die „ Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache “ als „ nationales Symbol “ , das „ von Sprachrichtern und 35 Neuere Untersuchungen, welche die Frage nach der Einstellungen gegenüber orthographischer Varianz thematisieren, liegen m. W. nicht vor. 3.5 Bewertungen der orthographischen Varianz im Fachdiskurs 79 <?page no="90"?> Puristen als schützenswertes Kulturgut streng bewacht “ werde, was den Umgang mit orthographischer Varianz erschwere (Voeste 2008: 27/ 28): Orthographie im modernen Sinne, d. h. nicht einfach regelgeleitetes, sondern standardisiertes, normiertes, überprüfbares Schreiben geht einher mit einem rigiden Normbewusstsein, dass nur eine einzige Schreibweise als korrekte anerkennt: variatio non delectat. Als Indiz für die Abneigung der Sprachbenützer gegen orthographische Varianz können die Erfahrungen aus den Sprachberatungsstellen herangezogen, wie beispielsweise aus der Duden-Sprachberatung (Scholze-Stubenrecht 1995) oder vom Grammatischen Telefon (Stetter 1995), vgl. den Sammelband Biere/ Hoberg (1995) zu den „ Bewertungskriterien in der Sprachberatung “ . 36 Stetter, der in seinem Aufsatz das Vorgehen einer normativen mit dem einer empfehlenden Sprachberatung kontrastiert, schildert folgende Erfahrungen (Stetter 1995: 45): Die Erfahrungen der Sprachberater zeigen relativ eindeutig, daß für die betreffenden Fragenden das Gegebensein von Schreibalternativen meist unerwünscht ist. Dies hängt damit zusammen, daß orthographische Kompetenz fraglos Bildungskapital im Sinne Bourdieus ist. [. . .] Es dient dazu, den sozialen Rang des Kapitalinhabers zu definieren, und im Konfliktfall - Paradigma: Chef ‚ gegen ‘ Sekretärin - ist eine eindeutige Regelung in dieser Hinsicht funktionaler, stabilisiert etwa die Stellung der Sekretärin gegenüber dem Chef oder umgekehrt. [Stetter ergänzt in der Fussnote 18] Dieser Konfliktfall ist durch viele Anrufe am Grammatischen Telefon belegt. Oftmals rufen Sekretärinnen, deren orthographische Kompetenz in der Regel hoch ist, aus keinem anderen Grund an, als die Korrektheit der von ihnen gewählten Schreibweise durch eine ‚ legitimierte ‘ Instanz bestätigen lassen. Dahinter steckt immer ein sozialer Konflikt. Dass Rechtschreibfragen am Arbeitsplatz oft einen sozialen Konflikt implizieren, konnte auch Häcki Buhofer (1985) in ihrer teilnehmende Beobachtung der Schriftlichkeit in einem Schweizer Industriebetrieb feststellen. Diese Beobachtungen illustrieren die soziale Bedeutung der Orthographie, wie oben in 2.2 ausgeführt wurde. Eine systematische Untersuchung der Einstellung der Sprachgemeinschaft gegenüber orthographischen Varianten steht allerdings noch aus. Die Indizien aus der Sprachberatung sind zwar für sich genommen aufschlussreich, erlauben aber nur partiell Rückschlüsse auf die gesamte Sprachgemeinschaft. Ist doch anzunehmen, dass gerade diejenigen Leute anrufen, die ein stark ausgeprägtes Normbewusstsein haben und der Orthographie eine große Bedeutung beimessen, vgl. dazu auch die Aussage Stetters, dass die Ratsuchenden vor allem aus Berufen stammen, in denen Schreiben und Rechtschreiben einen wichtigen Stellenwert einnimmt, z. B. Sekretärinnen, Texter, Journalisten (Stetter 1995: 42). Er selbst weist denn auch darauf hin, dass die Akzeptanz von sprachlichen Normen stark von der individuellen 36 Leider sind hierzu nur ältere Darstellungen verfügbar. 80 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="91"?> Biographien geprägt sei (Stetter 1995: 53). Außerdem ist zu vermuten, dass sich mit der zunehmenden Verwendung der automatischen Rechtschreibkorrektur sowie mit der Ausweitung der Schreibpraktiken in digitalen Medien, bei denen Schnelligkeit oft mehr im Vordergrund steht als das Einhalten sprachlicher Normen, die Wahrnehmung der Bedeutung der orthographischen Normen verändert hat. 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation Da jedes Individuum in seiner individuellen literalen Praxis in übergeordnete literale Praktiken der Sprachgemeinschaft eingebettet ist, interessiert es an dieser Stelle, wie gewisse Institutionen und Organe mit dem Phänomen der orthographischen Varianz umgehen bzw. den Umgang mit der Varianz regeln. Im Zentrum dieses Kapitels steht somit die Frage nach dem Umgang in der Kodifikation, in öffentlichen Institutionen und in der Schule. Dies betrifft insbesondere: a) das offizielle Regelwerk inkl. Wörterliste b) die kommerzielle Lexikographie, insbesondere die Rechtschreib-Wörterbücher Duden, Wahrig, Österreichisches Wörterbuch c) die elektronischen Korrekturprogramme d) die Print-Medien und besonders auch die Nachrichtenagenturen als Hauptlieferantinnen für viele Publikationen in Print und digitaler Form (Online-Magazine und Zeitungen, große Newsportale) e) staatliche Institutionen, d. h. Bund und Behörden, als Emittenten einer großen Anzahl von Schriftdokumenten für den internen und externen Gebrauch f) die Schule als Vermittlerin der offiziellen orthographischen Regeln Es kann an dieser Stelle ebenfalls nicht untersucht werden, wie das Individuum mit Ressourcen wie beispielsweise den Wörterbüchern umgeht bzw. mit Vorgaben der Institutionen agiert. Dies würde Beobachtungen des alltäglichen Schreibens voraussetzen. Stattdessen soll thematisiert werden, ob und wenn ja, welche Empfehlungen diese Institutionen herausgeben. Somit lässt sich der Einfluss dieser dem Individuum übergeordneten normierenden Instanzen mit der Ausnahme der Schule/ Ausbildung nicht oder nur sehr schwer messen. Es soll zuerst mit einer kurzen allgemeinen Einführung in die Behandlung von orthographischen Varianten in der Lexikographie die theoretische Basis gelegt werden, auf der anschließend die Analyse der oben aufgeführten Werke und Institutionen erfolgt. Die Darstellung des Umgangs mit Varianz in diesen bzw. durch diese Institutionen und Organe fokussiert analog zum 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 81 <?page no="92"?> empirischen Teil dieser Arbeit lediglich auf die Bereiche der Phonem-Graphem-Korrespondenz, der Zusammen- und Getrenntschreibung sowie der Groß- und Kleinschreibung; ausgeklammert bleiben die Interpunktion sowie die Trennung. 3.6.1 Gewichtete und gleichberechtigte Varianten In Wörterbüchern wie auch im offiziellen Regelwerk lassen sich mit Kohrt (1987: 428 - 440) die Grundoperationen des Gebots, des Verbots und der Erlaubnis (Kohrt 1987: 429) unterscheiden. Dies Grundoperatoren sind jedoch pragmatisch erweiterbar (Kohrt 1987: 431/ 432): Jenseits des Zentrums normativer Festsetzungen, die jeweils das Gebotene, das Verbotene und/ oder das Erlaubte spezifizieren, gibt es also einen ‚ erweiterten Bereich ‘ von Aussagen, die das grundsätzliche Erlaubte weiter evaluieren und teils mehr, teils minder explizite Hinweise geben, wie man die betreffenden Formen verwenden solle [. . .] Der normative Bereich eines grundsätzlichen ‚ Ja/ nein ‘ , eines ‚ Richtig/ Falsch wird durch das zusätzliche Feld eines ‚ Sowohl-als-auch, a b e r ‘ in gewisser Weise erweitert, ohne daß er deshalb in seinem Kern direkt betroffen würde. Die Dichotomie Richtig/ Falsch wird also um eine Dimension des ‚ Sowohlals-auch, aber ‘ erweitert. Im Duden fallen darunter Angaben in runden Klammern zu sprachgeographisch eingeschränkten oder Angaben wie veraltet, vgl. Duden (2006: Hinweise für die Wörterbuch-Benützung). Ebenso zählt dazu die Frage nach der Variantenführung. Kohrt nennt vier Stadien der Normierung eines Wortes (Kohrt 1987: 439/ 440): a) Das Wort ist im Rechtschreibwörterbuch nicht aufgeführt, d. h. jegliche Verschriftung, die innerhalb des Schriftsystems herleitbar ist, ist erlaubt. b) Verschieden Schreibformen stehen gleichberechtigt und unbewertet nebeneinander, alle anderen Verschriftungsformen müssen von da qua Implikatur als falsch gelten. c) Die verschiedenen aufgeführten Formen werden markiert. d) Das Rechtschreibwörterbuch verzeichnet nur noch eine Form, die gebotene Form. Der Übergang von a) zu d) „ markiert dabei den Übergang von der ‚ Schreibung/ Graphie ‘ überhaupt zur ‚ Rechtschreibung/ Orthographie “ (Kohrt 1987: 440). Allerdings muss hier darauf hingewiesen werden, dass es auch Fälle gibt, wo eine gebotene Form auf zwei ausgeweitet wurde, so etwa bei der Doppelschreibung aufgrund/ auf Grund. Wir können also festhalten, dass es in der Kodifikation grundsätzlich zwei Arten der Behandlung orthographischer Varianten gibt. Einerseits gibt es Varianten, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen und im Folgenden 82 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="93"?> gleichberechtigte Varianten genannt werden (bei Kohrt das Stadium b). Andererseits gibt es Varianten, bei denen eine Variante als die bevorzugte bzw. die Hauptform gilt und die andere die Nebenform darstellt (bei Kohrt Stadium b); diese sollen im Rahmen dieser Arbeit in Anlehnung an (Kürschner 2000) gewichtete Varianten genannt werden, wobei die eine Hauptform und die andere Nebenform genannt wird. 3.6.2 Darstellung im Regelwerk 1996 und Regelwerk 2006 Im Regelwerk (1996) wurde noch mit gewichteten Varianten gearbeitet, d. h. dass Hauptvon Nebenvarianten unterschieden wurden, vgl. dazu Zabel (1997) oder kritisch Kürschner (2000). Die Darstellung im Wörterverzeichnis erfolgte nach dem Prinzip der Variantenführung, die im Vorwort folgendermaßen dargelegt wird (Regelwerk 1996: 15): Sofern sich bei Varianten eine Hauptvariante (im Sinne einer empfohlenen, zu bevorzugenden Schreibung) und eine Nebenvariante (im Sinne einer auch möglichen Schreibung) unterscheiden lassen, wird auf die Hauptvarianten verwiesen, zum Beispiel Anchovis s. Anschovis, während bei der Hauptvariante die Nebenvariante nur genannt wird: Anschovis, auch Anchovis. Analog wird verfahren, wenn fachsprachliche Schreibungen auftreten, zum Beispiel Ether s. Äther; Äther, fachsprachlich Ether. Zu beachten ist, dass sich die Schweiz und Österreich in Bezug auf die Schreibung stärker an der Herkunftssprache orientieren (Bevorzugung der Fremdschreibung). Gleichberechtigte Varianten stehen ohne Verweis nebeneinander, zum Beispiel räkeln, rekeln und rekeln, räkeln. Bei der Variantenführung war vor allem die Fremdwortschreibung betroffen, wie sich der zitierten Passage entnehmen lässt. So wurde etwa bei der Gruppe der Fremdwortschreibungen mit Ursprungsgraphem ‹ ph › versus integriertes Graphem ‹ f › die integrierte Schreibung Fotografie als Hauptform und die Ursprungsschreibung Photographie als Nebenform gelistet. Es gab allerdings auch andere Doppelformen, so etwa die neu geschaffene Variante selbständig/ selbstständig oder die hergebrachten Varianten aufwendig/ aufwändig oder bei Verbindungen von Präpositionen mit Nomen z.B: „ aufgrund, auch auf Grund “ oder „ anstelle, auch an Stelle “ (Regelwerk 1996). Die Variantenführung in der Fremdwortschreibung aber war besonderer Kritik ausgesetzt 37 . Erste Vorschläge des Internationalen Arbeitskreises sahen eine „ gezielte Variantenführung “ vor, bei der jeweils die integrierte Schreibungen als Haupt- und die Ursprungsschreibungen als Nebenvarianten gesetzt werden und regionale oder fachsprachliche Besonderheiten markiert werden sollten (Zabel 1997: 146). Dieses Vorgehen wurde weitgehend kritisiert - wahrscheinlich nicht zuletzt auch, weil man sich stark an den Schriftbildern der neu geschaffenen integrierten Schreibungen störte - , so 37 Die Diskussion um die Fremdwortschreibung und Variantenführung kann geradezu prototypisch gelesen werden für eine Reform der Orthographie schlechthin. 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 83 <?page no="94"?> dass man vom Prinzip der gezielten Variantenführung abrückte und die Variantenführung nun nach dem Kriterium der supponierten Akzeptanz vornahm. Nun setzte man die integrierte Schreibung nur bei jenen Varianten, bei denen eine hohe Akzeptanz für die integrierte Schreibung erwartet wurde, bei den anderen wurde die Ursprungsschreibung als Hauptform gesetzt. Wie nicht anders zu erwarten war, wurde auch diese Form der Variantenführung kritisiert, so z. B. von Kürschner (2000: 148), der sich an der Intransparenz und Inkonsequenz dieser Variantenführung störte, bei der einmal die Fremdwortschreibung einmal die integrierte Form als Hauptform genommen würde, z. B. Hauptform Frottee, Nebenform Frotté, und das andere Mal die Fremdschreibung, z. B. Hauptform Chicorée, Nebenform Schikoree (Kürschner 2000: 152). Noch verwirrender findet Kürschner (2000: 153) die Schreibungen mit ‹ ph › / ‹ f › , wo bei Wörtern mit -phon/ -fon die Fremdschreibung mit ‹ ph › bevorzugt wird, während bei Wörtern mit -phot/ fot, die eingedeutschte Schreibweise mit ‹ f › die Hauptform ist. Bei Telefon/ telefonieren hingegen gilt nur die Schreibung mit ‹ f › . (Kürschner 2000: 154): Wenn man angesichts diese buntscheckigen Bildes noch bedenkt, dass zahlreiche weitere Bildungen mit graph/ graf im aW [amtlichen Wörterverzeichnis, Anmerkung MW] gar nicht erwähnt sind, ist deutlich, welche Memorierbzw. Nachschlagearbeit einer leisten müsste, der auch in diesem Bereich regelungskonform schreiben möchte. Als Lösung des Problems schlägt er vor, bei Fremdwörtern konsequent die integrierte Form als Hauptvariante zu nehmen, bei deutschen Lexemen die Stammschreibung, bei der Groß- und Kleinschreibung die Großschreibung, bei der Zusammen- und Getrenntschreibung die Zusammenschreibung vor der Bindestrich-Schreibung und vor der Getrenntschreibung (Kürschner 2000: 156). Auch Bähr (1997: 29) kritisiert die Variantenführung bei Fremdwörtern, dies v. a. bei jenen Fällen, in welchen auch integrierte Schreibungen vorgesehen sind, die bis anhin im Duden nach gar nicht belegt waren, z. B. Varietee zu Varieté. Bei Fremdwörtern würde er lieber einfach eine Markierung „ eindeutschend “ sehen: „ Diese Formulierung erlaubt die freie Sprachentwicklung und schreibt die Entwicklung (auch die Annahme einer suggerierten Form) nicht zwingend vor “ Bähr (1997: 29/ 30). Das Prinzip der Variantengewichtung bzw. -führung im Regelwerk (1996) wurde im überarbeiteten Regelwerk (2006) zugunsten der gleichberechtigten Darstellung bei Varianten aufgegeben. Bei den Fremdwörtern ist der Rechtschreibrat nun gemäß seinem Auftrag daran, den Usus bei Fremdwortschreibungen zu beobachten und nichtgebräuchliche Varianten abzubauen und neue Varianten (wieder) einzuführen, so empfiehlt er z. B. die Streichung der Varianten Myrre oder Sketsch sowie die Wiederaufnahmen der Schreibungen Crème und Caprice (Empfehlungen 2010). 84 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="95"?> Die wichtigsten Punkte aus der Betrachtung der Darstellung von Varianten in der Kodifikation seien hier nochmals festgehalten: Kodizes, sei dies ein amtliches Regelwerk und Wörterverzeichnis, sei dies ein Wörterbuch wie der Duden oder das Östereichische Wörterbuch, haben die Möglichkeit, Varianten entweder gleichberechtigt nebeneinander zu stellen oder eine Variantenführung vorzunehmen, indem entweder aufgrund systematischer Kriterien oder Kriterien des Sprachgebrauchs Haupt- und Nebenformen festgelegt werden. Nebenformen können zusätzlich markiert werden in Bezug auf sprachgeographische Einschränkungen (z. B. „ vor allem in Österreich gebräuchlich “ ), auf diachrone oder sprachintegrative Kriterien (z. B. „ veraltet “ , „ eindeutschend “ ) oder auf Einschränkungen im Verwendungskontext (z. B. „ fachsprachlich “ ). Im reformierten Regelwerk von 1996 verfolgte man das Prinzip der Variantenführung, das jedoch für das revidierte Regelwerk von 2006 wieder aufgegeben wurde. 3.6.3 Darstellung in der aktuellen Lexikographie 3.6.3.1 Duden Rechtschreibwörterbuch Der Duden gehört auch nach der Rechtschreib-Reform, in deren Rahmen ihm den quasi-amtlichen Status des „ maßgebend in allen Zweifelsfällen “ entzogen wurde, noch immer zu den meist benutzten Rechtschreib-Wörterbüchern (in print und online) in Deutschland und der Schweiz. 38 Die Dudenredaktion hat schon in der 21. Auflage (Duden 1996) im Vorwort ihr Unbehagen über die Variantenfrage Ausdruck verliehen (Duden 1996: Vorwort): So sinnvoll derartige Freiräume unter bestimmten Gesichtspunkten sein können, so sehr bergen sie die Gefahr in sich, die Einheitsschreibung auszuhöhlen. Die Durchsetzung und Bewahrung einer einheitlichen Schreibung im Deutschen hat der Duden seit jeher als seine Hauptaufgabe betrachtet. Die Einheitsschreibung fördert die schriftliche Verständigung, verhindert Missverständnisse und Fehler bei der Entschlüsselung - auch der maschinellen - schriftlicher Nachrichten. Sie erhöht die Lesegeschwindigkeit und erleichtert das Textverstehen. Nicht zuletzt dient sie dem ganzen grafischen Gewerbe, und das nicht nur bei der Ausbildung und Schulung von Redakteuren, Setzern und Korrektoren. Deshalb ist es das Ziel der vorliegenden Neuauflage des Rechtschreibdudens, das amtliche Regelwerk im Hinblick auf klare Entscheidungen auszulegen, die der Zielsetzung der Neuregelung gerecht werden und dem Benutzer dabei doch verlässliche Schreibungen vorgeben. Auch hier zeigen sich wiederum die unter 3.5.1 angeführte Argumente der Gefährdung der Einheitlichkeit der deutschen Sprache sowie der Behinderung 38 Vgl. zur Geschichte des Dudens und der Herausbildung seiner Vormachtstellung Nerius et al. (2007) oder Lasselsberger (2000). 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 85 <?page no="96"?> des Lese- und Schreibprozess. In der 21. Auflage des Dudens (1996) wird die Variantenführung des offiziellen Regelwerkes von 1996 übernommen. Als im revidierten Regelwerk (2006) das Prinzip der Variantenführung aufgegeben wurde, hält die Dudenredaktion an der Variantenführung fest. Sie hat sich für die 24. Auflage (Duden 2006) entschieden, dem Benutzer zwar anzugeben, wo Varianten zugelassen sind, also jeweils beide Schreibweisen aufzulisten, aber doch Empfehlungen abgegeben, welche zu bevorzugen sind. Sie übernimmt somit die Variantenführung. Dazu schreibt Matthias Wernke, Leiter der Duden-Redaktion, im Vorwort (Duden 2006): Aus den letzten Regeländerungen ergeben sich jedoch zahlreiche neue Fälle, in denen es den Schreibenden überlassen bleibt, zwischen zwei zulässigen Schreibungen zu wählen. Solche Schreibvarianten werden im Alltag da zum Problem, wo Wert auf eine einheitliche Rechtschreibung gelegt wird. Das betrifft alle schreibenden Berufe, das grafische Gewerbe, aber auch die Schreibkultur in Unternehmen und jeden Einzelnen. Wer nicht wissen will, wie er schreiben kann, sondern wie er schreiben soll, dem hilft das amtliche Regelwerk allein nicht weiter, und die Entwicklung einer eigenen ‚ Hausorthographie ‘ ist ein mühsames und unsicheres Geschäft. Deshalb hat sich die Dudenredaktion dazu entschlossen, im neuen Duden immer dort, wo die Regeln mehrere Schreibungen zulassen, die von ihr empfohlene gelb zu unterlegen. Wer sich an die Duden-Empfehlungen hält, stellt eine einheitliche Rechtschreibung sicher, die auch anderen leicht zu vermitteln ist. [. . .] Die Duden- Redaktion ist davon überzeugt, mit den Duden-Empfehlungen einen wichtigen Beitrag zur Vereinheitlichung der neuen Rechtschreibung zu leisten und Ihnen damit die Handhabung der neuen Orthographie und den Schreiballtag entscheidend zu erleichtern. Die Gründe für die Variantenpriorisierung liegen also im supponierten Anliegen der Duden-Benutzer, eine einheitliche Rechtschreibung pflegen zu wollen. Es soll den Schreibenden die Entscheidung abgenommen werden, welche Variante nun zu wählen ist, sowie sichergestellt werden, dass jeweils im Text oder in verschiedenen Textprodukten des selben Urhebers jeweils die gleiche Variante gewählt wird; damit soll intra- und intertextuelle orthographische Einheitlichkeit hergestellt werden. Außerdem kann so z. B. in Betrieben sichergestellt werden, dass alle Textprodukte aus einer Institution oder Firma einheitlich gehalten sind, was dem heutigen Anspruch an Coporate Identity entgegenkommen dürfte. Dieses Vorgehen des Dudens wurde allerdings kritisiert. So etwa vom Vorsitzenden des Rechtschreibrats, Hans Zehetmair in einem Interviewe mit der Zeitung Die Welt 39 : 39 Peter, Joachim (2006): „ Duden unterläuft Beschlüsse des Rechtschreibrats “ . Interview mit Hans Zehetmair. Die Welt vom 28. Juli 2006, Zugang unter: http: / / www.welt.de/ print-welt/ article232 144 (Zugang 1. 2. 2012). 86 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="97"?> Mir fehlt dazu jegliches Verständnis! Der Duden-Verlag war in allen Sitzungen des Rats für deutsche Rechtschreibung vertreten und hat die Beschlüsse fast ausnahmslos mitgetragen. Nun stelle ich fest, daß einige Neuregelungen des Rats, insbesondere im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung, durch die Variantenempfehlung unterlaufen werden. Bei den Kriterien für die Bevorzugung bestimmter Varianten orientiert sich die Duden-Redaktion am Usus, an der Erfassungs- und Aufzeichnungsfunktion, wobei der Leseprozess sowie der Schreibprozess durch eindeutige Handlungsanweisungen erleichtern werden soll (Duden 2006: 18): Erstens soll nach Möglichkeit der tatsächliche Schreibgebrauch, wie ihn die Dudenredaktion beobachtet, berücksichtig werden. Zweitens wollen wir den Bedürfnissen des Lesenden nach optimaler Erfassbarkeit der Texte möglichst umfassend gerecht werden. Und drittens sollen auch die Bedürfnisse der Schreibenden nach einfacher Handhabbarkeit der Rechtschreibung weitgehend befriedigt werden. Diese Gesichtspunkte, die nicht selten im Widerspruch zueinander stehen, waren sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Es gibt Bereiche, wo die Dudenredaktion den Schreibenden überzeugt die neuere Schreibvariante empfehlen kann, und andere, in denen sie eher zur konservativen Variante rät. Den Sprachgebrauch erhebt die Duden-Redaktion mit Korpus-Recherchen. Wie sie aber Schreibungen konkret auf ihre „ optimale Erfassbarkeit “ und die einfache „ Handhabbarkeit “ hin überprüft, ja diese Kriterien überhaupt erst operationalisiert, bleibt jedoch unklar. Die Duden-Redaktion macht jedoch für jede Fallgruppe mehr oder weniger die Richtlinien bei der Variantenführung transparent. Sie werden hier zusammengefasst dargestellt, vgl. (Duden 2006: 17 - 20): Bei der Fremdwortschreibung priorisiert die Duden-Redaktion im Normalfall eher die integrierte Schreibung, was zu einer Stärkung der regulären deutschen Phonem-Graphem-Korrespondenz und somit des phonologischen Prinzips sowie zu einer Stärkung des Stammprinzips führt: - ‹ ee › statt für ‹ é › in französischen Lehnwörtern wie Frottee oder Dragee (Stärkung des phonologischen Prinzips) - ‹ f › statt für ‹ ph › in Wörtern aus dem Griechischen wie Telefon, Megafon, Fotografie, fotokopieren, Grafikerin, Geografie, fantastisch; außer es handelt sich um Fachvokabular wie Phonologie, Phonometrie, Photon etc., die der Duden weiterhin mit ‹ ph › zu schreiben empfiehlt. (Stärkung des phonologischen Prinzips) - eher ‹ z › statt ‹ t › in -tial/ -zial oder -tiell/ -ziell, wenn ein Grundwort mit ‹ z › vorliegt, wie etwa bei existenziell (zu Existenz) (Stärkung des phonologischen und des morphologisches Prinzip) Bei den anderen Fremdwortschreibungen (z. B. ‹ c › / ‹ k oder ‹ ch › / ‹ sch › ) wird individuell verfahren, da „ sich kaum eine systematische Richtlinie aufstellen “ 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 87 <?page no="98"?> lässt (Duden 2006: 18), so etwa für Fälle wie Code/ Kode oder Check/ Scheck/ Cheque. Bei der Zusammen- und Getrenntschreibung bevorzugt der Duden bei mehr Fallgruppen die Zusammenals die Getrenntschreibung, konkret bei fünf der von Duden aufgeführten Gruppen die Zusammenschreibung und bei nur zwei Gruppen die Getrenntschreibung. Das ausschlaggebende Argument scheint hier der Usus zu sein. Zusammenschreibungen empfiehlt er für fast alle Verbindungen (Duden 2006: 19): - Fügungen wie mithilfe statt mit Hilfe - für Verbindungen von Substantiv und Partizip wie gewinnbringend statt Gewinn bringend - für substantivierte Verbindungen mit Partizip als zweitem Bestandteil wie Alleinerziehend statt allein Erziehend, da sich hier „ eine Reihe von Zusammensetzungen im Schreibgebrauch fest etabliert “ hat (Duden 2006: 19) - für Verbindungen aus Adjektiv oder Adverb mit einem Partizip, z. B. vielsagend statt viel sagend, da es sich hier um einige „ geläufige “ handelt (Duden 2006: 19) - für Verbindungen mit Zahlen Achtzigerjahre statt achtziger Jahren, da die Zusammenschreibung „ schon länger üblichen Wörtern wie ‚ Sechserpack ‘ oder ‚ Zweierbeziehung “ vorgegeben ist. “ (Duden 2006: 19) Konsequente Getrenntschreibung bei: - Verb-Verbindungen wie stehen lassen (statt stehenlassen), auch bei übertragener Bedeutung 40 , da die „ Grundregel, nach der zwei Verben getrennt geschrieben werden, [. . .] eindeutig und einfach “ sei (Duden 2006: 19); die einzige Ausnahme bildet hier kennenlernen, bei dem der Duden Zusammenschreibung empfiehlt. - bei Verbindungen von Adjektiv und Verb bei wörtlicher Bedeutung wie z. B. klein schneiden statt kleinschneiden Bei der Schreibung mit Bindestrich empfiehlt der Duden (2006: 19/ 20) den Bindestrich: - bei „ längeren, unübersichtlichen sowie bei nicht eindeutigen Zusammensetzungen “ wie beim Beispiel Lotto-Annahmestelle oder Druck-Erzeugnis. - bei Zusammensetzungen aus zwei Farbadjektiven empfiehlt der Duden semantisch zu differenzieren und im Falle der Zusammenschreibung wie etwa blaurot (für bläuliches Rot) Farbtöne auszudrücken, während die Bindestrich-Schreibung blau-rot (ein Kleid in Blau und Rot) das Vorkommen zweier Farben bezeichnen soll. 40 An dieser Priorisierung scheint sich Zehetmair besonders zu stossen, nennt er doch das Beispiel sitzen bleiben/ sitzenbleiben im oben genannten Interview als Beleg für die Absicht des Dudens, die Beschlüsse des Rates in der amtlichen Regelung zu unterlaufen. 88 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="99"?> - bei Anglizismen, die aus Verb und Präposition bzw. Adverb bestehen, wird eine Bindestrich-Schreibung empfohlen (z. B. Sit-in, Make-up), da eine Zusammenschreibung „ zu sehr ungewohnten und schlecht leserlichen Schriftbildern führen würde “ (Duden 2006: 20), außer das Wort wird bereits im Englischen zusammengeschrieben wie Blackout oder Countdown. - Ableitung von Städtenamen auf -er werden nach Duden besser ohne Bindestrich geschrieben, da so „ das Schriftbild des zugrunde liegenden Namens besser bewahrt wird “ (Duden 2006: 20). Zusammenfassend lässt sich also zu den Duden-Empfehlungen im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung sowie zur Bindestrich-Schreibung, die als Teilbereich der Zusammen- und Getrenntschreibung betrachtet werden kann, sagen, dass der Duden die Zusammenschreibungen bevorzugt und dies meist aufgrund des Usus, aber auch bei gewissen Fällen aufgrund des in der alten Rechtschreibung geltende Kriteriums der „ übertragenen Bedeutung “ . Als Richtlinie dient also vor allem der Usus, die Stärkung einer Regel gelingt nur bei den Verb-Verb-Verbindungen. Bei Varianten in der Groß- und Kleinschreibung tendiert der Duden zur Großschreibung, insbesondere dann, wenn der fraglich Begriff von einem Artikel begleitet wird (Duden 2006: 20), wie zum Beispiel in den Fällen auf das Beste, jedem das Seine, von Neuem, oder wenn die syntaktische Stellung nahelegt, dass es sich beim Begriff um ein Objekt handeln muss, wie in Adieu sagen analog zu die Wahrheit sagen. Dies führt zu einer Stärkung der Regel der Großschreibung von Substantivierungen (Amtliches Regelwerk 2006: § 57). Ebenso empfiehlt der Duden die Großschreibung bei Hunderte/ Tausende/ Dutzende in Syntagmen wie Hunderte fleißiger Ameisen, „ da vor allem die Kleinschreibung von ‚ Dutzende ‘ sehr ungewohnt sein dürfte “ (Duden 2006: 20), also aufgrund des Argument des Usus. Ebenso auf den Usus bezieht er sich für die Empfehlung der Kleinschreibung bei etwas anderes statt etwas Anderes, da dies „ mit dem bisherigen Sprachgebrauch [übereinstimmt] “ und die Großschreibung im amtlichen Regelwerk auch „ nur als Ausnahme betrachtet “ wird (Duden 2006: 20). Nicht erklärt wird jedoch, wieso der Duden empfiehlt, recht geben oder recht haben kleinzuschreiben. Was die Zeichensetzungen betrifft, macht der Duden im Kapitel „ zur Wörterbuchbenutzung “ keine Angaben, dazu muss der Regelteil konsultiert werden. Kurz gesagt, der Duden verfolgt in seinem Rechtschreibwörterbuch (Duden 2006) die Strategie der Variantenführung, wobei er bei der Fremdwortschreibung das phonologische und morphologische Prinzip stärkt, bei der Groß- und Kleinschreibung die Artikelprobe und in allen anderen Fällen sowie in der Zusammen- und Getrenntschreibung dem von ihm beobachteten Usus folgt. 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 89 <?page no="100"?> In diesem Zusammenhang gibt es zu fragen, inwiefern die vom Duden empfohlenen Varianten den Usus zukünftig beeinflussen, der ja nicht von der Kodifikation bzw. den Duden-Empfehlungen als abgekoppelt betrachtet werden kann. Da der Duden immer noch das beliebteste Nachschlagwerk ist sowie mit dem Duden-Korrektor eine Software stellt, die äußerst vielfältig eingesetzt wird, ist es nicht abwegig zu vermuten, dass sich in Zukunft die Duden-Varianten als die häufigeren herausstellen werden. Dies gilt allerdings nur für diejenigen Textsorten, bei denen sich die Schreibenden besonders um korrekte Orthographie und Interpunktion bemühen und deshalb auf Hilfsmittel wie Nachschlagewerke und automatische Korrekturprogramme zurückgreifen. Dies wird bei der Diskussion der Ergebnisse dieser Untersuchung zu berücksichtigen sein. 3.6.3.2 Wahrig Rechtschreibwörterbuch und Kompaktwörterbuch Auch das Rechtschreibwörterbuch Wahrig (1996) folgte der Variantenführung des Regelwerks von 1996. Was die revidierte Fassung des Regelwerkes (2006) ohne Variantengewichtung betrifft, gibt der Wahrig (2006 a) im Gegensatz zum Duden (2006) keine durchgehenden Variantenempfehlungen ab, sondern nur in einigen ausgewählten Fällen. In den Hinweisen zur Benutzung wird Folgendes angegeben (Wahrig 2006 a: 11): Sind bei einem Wort mehrere Schreibvarianten möglich, werden darüber hinaus in mit einem Ausrufezeichen versehenen Tipp-Infokasten zu paradigmatischen Fällen Schreibempfehlungen gegeben. Diese verhelfen zum einen dazu, verschiedene Bedeutungsebenen eines Wortes abzugrenzen, zum anderen verweisen sie auf die Schreibung hin, die im Schreibgebrauch die weiter verbreitete Variante ist. Das Rechtschreibwörterbuch Wahrig (2006 a) setzt also auf die Häufigkeit sowie Bedeutungsdifferenzierung für seine im Wesentlichen weniger strikt gehandhabte Variantenpriorisierung. Für die Ermittlung des Usus kann die Wahrig-Redaktion wie die Duden-Redaktion auf ein eigenes digitales Korpus zurückgreifen. Obwohl der Wahrig ja nicht in allen Fällen Varianten empfiehlt, gibt es doch ein subtile Variantenführung, die durch die Platzierung von Erklärungen und Infokästen sowie die Reihenfolge der Angaben innerhalb der Zusatzangaben zu den einzelnen Lemmata erfolgt. Bei einer völlig unmarkierten Darstellung der beiden Schreibweisen müsste man davon ausgehen, dass die weiterführenden Informationen bei beiden Lemmata aufgeführt würden bzw. aus ökonomischen Gründen jeweils bei der Schreibweise aufgeführt würde, die alphabetisch zuerst aufgelistet werden muss. Dies ist etwa bei aufwändig/ aufwendig der Fall, wo der Wahrig (2006) folgende Angaben macht: (10) aufwändig auch: aufwendig aufwendig = aufwändig 90 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="101"?> Die Redaktion verfährt jedoch nicht immer gleich. Bei der Variante existenziell/ existenziell beispielsweise, bei der Wahrig (2006 a) keine Variante priorisiert, steht unter existentiell, das ja im Wörterverzeichnis vor existenziell aufgelistet werden muss, lediglich folgender Eintrag, wobei die reformierte Schreibweise existenziell jeweils blau gefärbt ist: (11) „ existentiell [-tsj ε˙ l] = existenziell “ Erst unter existenziell jedoch steht die Explikation mit der Bedeutungsbeschreibung, auch hier wieder ist die reformierte Schreibweise blau: (12) „ existenziell auch: existentiell die Existenz, das Dasein betreffend, darauf beruhend “ Der zughörige Infokasten ist gerade vor existenziell aufgeführt, also auch nicht unter existentiell, das alphabetisch zuerst kommen würde. Somit wird indirekt eine Haupt- (existenziell) von einer Nebenform (existentiell) unterschieden, obwohl im Infokasten beide als gleichwertig dargestellt werden (Wahrig 2006 a: 372): existenziell/ existentiell: Dieses aus dem Lateinischen entlehnte Wort gehört zu einer Reihe von Fremdwörtern, für die zwei Schreibungen existieren, eine fremdsprachige (existentiell) und eine eingedeutschte (existenziell). Die Schreibung mit z ist immer dann möglich, wenn ein zugehöriges Substantiv vorhanden ist, das auf -z endet: Existenz - existenziell, Substanz - substanziell. [. . .] Gleichermaßen verfährt der Wahrig denn auch mit jenen Formen, bei welchen er eine Variantenpriorisierung vornimmt. Noch auffälliger wird diese Praxis bei Lemmata, bei denen die Doppelschreibungen im Anfangsbuchstaben zu finden sind, z. B. Fotographie/ Photographie. Es werden nämlich bei den - wie man annehmen muss - bevorzugten Varianten die Infokästen platziert und beim Lemma, bei dem die weniger bevorzugte Varianten aufgeführt werden, wird lediglich auf das andere Lemma verwiesen. So ist der Infokasten (ein neutraler ohne Ausrufzeichen) zu Fotografie/ Photographie bei Fotografie aufgeführt, unter Photographie hingegen wird lediglich auf Fotografie verwiesen, wo dann der Infokasten zu finden ist. Bei den Fremdwörtern unterscheidet die Redaktion konsequenterweise in den Hinweisen zur Benutzung zwischen Haupt- und Nebenvarianten Wahrig (2006 a): Fremdwörter: Gibt es für ein Fremdwort mehrere zulässige Schreibungen, so gelten diese generell als gleichberechtigt. Stehen die Varianten an alphabetisch gleicher Stelle, so wird die integrierte Variante - also die Variante, die in ihrer Schreibung an das Deutsche angeglichen ist - in der Regel an erster Stelle aufgeführt, und es wird mit auch auf die andere Variante hingewiesen, z. B. Geografie auch: Geographie. Stehen die Varianten an alphabetisch unterschiedlicher Stelle, z. B. Disko auch: Disco, so findet sich der Haupteintrag mit der 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 91 <?page no="102"?> Worterklärung meist unter der integrierten Variante. Bei der anderen Variante wird mit = auf den Haupteintrag verwiesen: Disco = Disko. Denkbar ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Wahrig-Redaktion nicht eine Variante bevorzugen will, sondern die Zusatzinformationen zu den Lemmata da platziert, wo sie annimmt, dass die meisten Benutzer das Wort suchen. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass eine Schreibung jeweils dominanter dargestellt wird. Ebenfalls zu berücksichtigen ist im Falle der Groß- und Kleinschreibung sowie der Zusammen- und Getrenntschreibung die Reihenfolge der Angaben. So sind bei Lemma weiter die beiden Schreibweisen in der Reihenfolge aufgeführt, wobei die Großschreibung blau als reformierte Form markiert ist: „ bis auf weiteres oder: Weiteres “ . Bei der Darstellung der Zusammen- und Getrenntschreibung fällt auf, dass nicht konsequent entweder die Zusammen- oder die Getrenntschreibung an erster Stelle steht. So ist beispielsweise beim Lemma weit verbreitete/ weitverbreitet zuerst die getrennte Form angeführt und bei bekanntmachen/ bekannt machen oder außerstande/ außer Stande zuerst die zusammengeschriebene: (13) weit verbreitet auch: weitverbreitet bekanntmachen/ bekannt machen Es ist hier zu vermuten, dass der durchschnittliche Benutzer einfach die erste Form wählt; mit Gewissheit lässt sich dies jedoch nicht sagen. Die Wahrig-Redaktion gab 2006 jedoch zusätzlich zum Rechtschreibwörterbuch auch das Kompaktwörterbuch Ein Wort - eine Schreibung. Die Wahrig- Hausorthografie von A bis Z. Orthografischer Wegweiser für eine einheitliche und stringente Rechtschreibung heraus. Das Kompaktwörterbuch verfolgt eine durchgehende Variantenpriorisierung und ist gemäß Vorwort speziell auf die Zielgruppe Medien, Werbeagenturen und andere Unternehmen zugeschnitten ist, „ die auf eine einheitliche, konsistente Schreibweise angewiesen sind und die eine eigene Hausorthografie brauchen “ sowie für „ Privatpersonen, die einen guthandhabbaren Leitfaden mit Empfehlungen zu einer homogenen und sinnorientierten Schreibung möchten “ (Wahrig 2006 b: Vorwort). Die explizit gemachten Richtlinien der Variantenführung orientieren sich an der Wortbedeutung (dies betrifft insbesondere die Bedeutungsdifferenzierung), am Usus sowie an der einfachen Anwendbarkeit: „ Ziel ist eine systematische, leicht durchschaubare Handhabung der Rechtschreibung “ (Wahrig 2006 b: 13). Der Usus wird im redaktionseigenen Korpus ermittelt, der vor allem aus Medientexten zusammengesetzt ist, es bleibt aber wie auch schon bei der Duden-Redaktion unklar, wie die leichte Anwendbarkeit erhoben bzw. operationalisiert wird. Bei der Fremdwortschreibung empfiehlt die Wahrig-Redaktion anders als die Duden-Redaktion eher die Ursprungsschreibung, da sie eher dem Usus entspreche, außer bei „ stark allgemeinsprachlich geprägtem Wortschatz “ , wo 92 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="103"?> sie die integrierte Schreibung empfiehlt, so z. B. bei Fotografie (Wahrig 2006 b: 13/ 14). Bei Stammschreibungen wie aufwendig/ aufwändig wird die hergebrachte Schreibung priorisiert (Wahrig 2006 b: 13). Bei der Zusammen- und Getrenntschreibung wird v. a. die Zusammenschreibung empfohlen, „ wodurch der starken Kritik an vielen obligatorischen Getrenntschreibungen der Regelung von 1996/ 2004 Rechnung getragen wird “ (Wahrig 2006 b: 14). Bei der Groß-/ Kleinschreibung bevorzugt die Wahrig-Redaktion für Verbindungen von Adjektiv und Nomen mit idiomatisierter Bedeutung die Großschreibung, z. B. das Schwarze Brett (Wahrig 2006 b: 14). Die Zusammenstellung macht deutlich, dass die Wahrig-Redaktion mit dem Kompaktwörterbuch faktisch die meisten Neuerungen der Rechtschreibreform in jenen Fällen rückgängig macht, in welchen das offizielle Regelwerk (2006) durch die Zulassung von Variantenschreibungen einen Handlungsspielraum lässt. Das Kompaktwörterbuch ist inzwischen vergriffen. Die neuste Ausgabe des Rechtschreibwörterbuchs (Wahrig 2011) enthält aber zusätzlich zum eigentlichen Wörterbuchteil eine Liste mit Variantenempfehlungen, die den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen entspricht, vgl. unten. 3.6.3.3 Das Österreichische Wörterbuch Österreich besitzt mit dem Österreichischen Wörterbuch (im Folgenden als ÖWB abgekürzt) im Gegensatz zu Deutschland und der Schweiz schon seit der II. Orthographischen Konferenz „ das einzige wirkliche amtliche Wörterbuch im deutschen Sprachraum “ (Herberg 1993: 339); der Duden war hingegen nur durch das ‚ Stillhalte-Abkommen ‘ von 1955 quasi-amtlich. Die 35. Auflage des ÖWB kam 1979 in einer stark überarbeiteten Form heraus, die sehr viel Kritik auslöste (Lasselsberger 2000: 55). Viele der Änderungen mussten in der folgenden 36. Auflage (1985) zurückgezogen werden (Lasselsberger 2000: 50). Dies beinhaltete u. a. auch Regeländerungen, Schreibänderungen und Schreibvarianten (Fussy 1990: 18, zitiert in Lasselsberger 2000: 50). Die Varianten waren hauptsächlich in komplexen, teilweise unklar geregelten Bereichen zu finden (Lasselsberger 2000: 106). Seit der kontrovers eingeschätzten 35. Auflage lässt sich jedoch gemäß Lasselsberger beobachten, dass die Redaktion des ÖWB sich bemühte, die heiklen Fälle durch die Freigabe von Doppelschreibungen „ zu entschärfen “ (Lasselsberger 2000: 16), dabei ging sie in einigen Fällen über die Regelung des Dudens hinaus und griff der Rechtschreibreform vor, z. B. bei in Bezug auf (Lasselsberger 2000: 16), das der Duden bis zur Reform nur klein vorsah. Das ÖWB zeichnet sich also schon vor der Reform durch einen liberalen Umgang mit orthographischen Varianten aus. Diese Tradition führt das ÖWB auch seit der Revision der Reform 2006 weiter (Österreichisches Wörterbuch 2006). Die Varianten entsprechen dem offiziellen Regelwerk (2006) und sind 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 93 <?page no="104"?> jeweils gleichberechtigt im Wörterverzeichnis aufgeführt. Die Gleichberechtigung wird mit dem Gleichzeichen = angezeigt, eine allfällige Nebenform mit „ auch: “ So steht etwa bei den Variante aufgrund/ auf Grund: (14) unter a: auf Grund = aufgrund: auf G. (= aufgrund) eines Bescheides (15) unter g, unter dem Lemma „ Grund “ : Grund, der, -[e]s/ Gründe: auf G. (= aufgrund); . . . Für die Variante selbständig/ selbstständig ist die Variante sowohl unter ‹ st › „ selbständig = selbstständig “ aufgeführt als auch unter ‹ stst › „ selbstständig = selbständig “ . Oder Thunfisch/ Tunfisch ist sowohl unter ‹ t › „ Tunfisch = Thunfisch “ als auch unter ‹ th › „ Thunfisch = Tunfisch “ aufgeführt. 3.6.3.4 Automatische Rechtschreibkorrektur Da heute der Großteil der Textproduktion am Computer erfolgt, spielt die automatische Rechtschreibkorrektur eine wichtige Rolle. Daher ist es von besonderem Interesse, wie die Korrekturprogramme mit der Variantenfrage umgehen bzw. umgehen können. Die meisten Benutzer werden heute mit den in Textverarbeitungsprogrammen wie OpenOffice oder MS Word oder Layoutprogrammen wie InDesign vorinstallierten Wörterbüchern arbeiten bzw. mit vom Betriebssystem vorgegebenen Wörterbüchern z. B. für Mail-Programme etc. Die Textverarbeitungs- und Layout-Programme erlauben lediglich eine Einstellung nach alter oder neuer Rechtschreibung, weitere Einstellungen können nicht vorgenommen werden. Die vom Betriebssystem zur Verfügung gestellten Wörterbücher erlauben keine Differenzierung. Leider geben die produzierenden Firmen keine Auskunft über den Umgang mit orthographischen Varianten. 41 Punktuelle Überprüfungen in MS Word haben je nach Version kein einheitliches Bild ergeben, manchmal werden Varianten als Fehler markiert, manchmal nicht. Der Hunspell Checker in OpenOffice hingegen akzeptierte alle eingegeben Varianten problemlos, auch komplexere der Groß-/ Kleinschreibung oder Zusammen-/ Getrenntschreibung. Für professionelle Schreibende bieten die Wörterbuch-Verlage Duden und Wahrig auch Korrekturprogramme an, mit deren Hilfe nach der verlagseigenen Variantenführung korrigiert werden kann. 3.6.4 Umgang in den Medien und Nachrichtenagenturen Medienverlage und Nachrichtenagenturen gehörten schon bei der Reform von 1996 zu den prononciertesten Kritikern des neuen Regelwerks (Stenschke 2005). Sie messen offenbar der intra- und intertextuellen Einheitlichkeit größte Bedeutsamkeit zu, vgl. auch Gallmann/ Sitta (2007: 50). Dies zeigt sich einerseits daran, dass viele Zeitungen nach selbst erstellten Hausorthographien schreiben, die teils in Übereinstimmung, teils in Abgrenzung vom 41 Anfragen der Verfasserin wurden leider nicht beantwortet. 94 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="105"?> amtlichen Regelwerk Schreibweisen eindeutig und für den Redaktionsalltag verbindlich festlegen. Dies war insbesondere nach der Reform von 1996 der Fall: In Deutschland sind dies etwa die Zeitungen Die Woche, deren Hausorthographie jedoch mehrheitlich dem amtlichen Regelwerk von 1996 verpflichtet war, sowie Die Zeit, Die Frankfurter Allgemeine, Rheinischer Merkur (Zwischenstaatliche Kommission 2001: o. S.), in der Schweiz die Neue Zürcher Zeitung, die jedoch mit ihrem Vademecum schon seit längerer Zeit und bis heute eine ganz eigene Orthographie pflegte (NZZ 2007). Seit der Revision der Reform folgen die meisten Zeitungen der neuen Regelung. So gibt beispielsweise die FAZ, die bis dato noch immer nach der alten Rechtschreibung publiziert hatte, in einem Artikel vom 02. 12. 2006 42 bekannt, dass sie ab dem 1. 1. 2007 dem neuen Regelwerk folgen werde: Die Redaktion wird dabei nach Möglichkeit die wieder zugelassenen Schreibweisen der bewährten Rechtschreibung verwenden. Dieser Schritt dient der Einheitlichkeit der Rechtschreibung. Er wurde möglich, weil Einwände der Reformgegner im reformierten Regelwerk berücksichtigt wurden. [. . .] Die Reform der Rechtschreibreform erlaubt in den meisten Fällen wieder die Verwendung bewährter Schreibweisen, wie sie vor der Reform gebräuchlich waren und außerhalb der Schulen immer noch gebräuchlich sind. In zahlreichen Fällen nennen die Wörterbücher mehrere zulässige Varianten, wobei die Redaktion des „ Wahrig “ in der Regel die bewährten Schreibweisen empfiehlt, während die Duden-Redaktion entgegen den Empfehlungen des Rates für Rechtschreibung überwiegend der reformierten Schreibweise den Vorzug gibt. In Zweifelsfällen werden sich die F. A. Z. und FAZ.NET deshalb künftig vor allem an Wahrigs Wörterbuch „ Die deutsche Rechtschreibung “ orientieren. Es wird deutlich, dass dieser Schritt im Dienste der Wahrung der Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung vollzogen wurde und dass dabei die im Regelwerk neu zugelassenen Varianten als Anlass genommen werden, vor allem die althergebrachten Schreibungen zu verwenden, dabei folgt die FAZ- Redaktion den Empfehlungen des Wahrig Kompaktwörterbuchs. Heute folgen die meisten Zeitungs- und Zeitschriftenverlage den im Jahre 2007 veröffentlichten Variantenempfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen, eine Liste dieser Empfehlungen sowie die Richtlinien können online eingesehen werden (Nachrichtenagenturen 2007: o. S.), vgl. zu einer systematischen und kritischen Darstellung der sogenannten Agenturschreibweisen und ihre Umsetzung Osterwinter (2011). Die Variantenführung der Nachrichtenagenturen folgt „ [i]m Interesse einer möglichst einheitlichen Schreibung in den Medien und den Schulen “ dem amtlichen Regelwerk (2006) und orientiert sich weitergehend an den Empfehlungen der Duden- und der Wahrig-Redaktion (Nachrichtenagenturen 2007: o. S.). In jenen Fällen, in welchen die beiden Wörterbuch-Verlage 42 http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ in-eigener-sache-f-a-z-passt-rechtschreibung-an- 1382591.html (1. 2. 2016). 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 95 <?page no="106"?> unterschiedliche Varianten priorisieren, empfehlen die Agenturempfehlungen meist die althergebrachte Schreibweise (Nachrichtenagenturen 2007). Konkret empfehlen sie bei der Fremdwortschreibung die integrierte Schreibungen nur für alltäglichen Wortschatz, wie Biografie, aber nicht für den Fachwortschatz. Des Weiteren empfehlen die Agenturen die Zusammen- und Getrenntschreibung für die Kodierung semantischer Unterschiede (sitzenbleiben/ sitzen bleiben), dies jedoch mit wenigen Ausnahmen nur in Fällen, in denen dies vor der Reform vorgesehen war (Nachrichtenagenturen 2007: o. S.). Gemäß eigenen Angaben umfassen ihre Empfehlungen somit ca. 80 % althergebrachte Schreibweisen (Nachrichtenagenturen 2007: o. S.). Im Jahre 2006 trat in der Schweiz mit der Organisation Schweizer Orthographische Konferenz eine weitere Organisation auf, die ihres Zeichens „ die von der Rechtschreibreform beschädigte Einheitlichkeit und Sprachrichtigkeit der Rechtschreibung in Presse und Literatur der Schweiz wiederherzustellen “ beabsichtigt (SOK 2008). Eine Arbeitsgruppe der SOK bestehend aus Vertretern der Presse und Verlage sowie einigen wenigen Sprachwissenschaftern erarbeitete Empfehlungen für Presse und Verlage, „ für die Wiederherstellung einer einheitlichen und sprachrichtigen Rechtschreibung “ (SOK 2008: o. S.). Dass diese angestrebte Einheitlichkeit vor allem darin besteht, die Schreibweisen vor der Reform wiederherzustellen, lässt sich an der ersten emittierten Empfehlung vom Juni 2006 ablesen (SOK 2008: o. S.): Die SOK empfiehlt, den Grundsatz ‚ Bei Varianten die herkömmliche ‘ einzuhalten. Die Anwendung dieses Grundsatzes fördert eine einheitliche und sprachrichtige Rechtschreibung. Ergänzt wird dieser Leitsatz mit Wörterlisten für diejenigen Fälle, in denen dies nicht gelten soll, wobei man sich grundsätzlich am Vademecum der Neuen Zürcher Zeitung angelehnt hat (SOK 2008). Die Empfehlungen der SOK werden sowohl vom Verband Schweizer Presse 43 als auch von der Konferenz der Chefredaktoren 44 unterstützt. Wieso genau dieser Grundsatz die Einheitlichkeit fördern soll, wird jedoch aus den Ausführungen nur teilweise ersichtlich. So wird etwa darauf verwiesen, dass große Medienhäuser in Deutschland auch diesem Prinzip folgen würden, was jedoch insofern nicht vollständig korrekt ist, als, wie oben dargelegt, die meisten Verlage sich heute an den Agenturschreibweisen orientieren, die in einem ersten Schritt den Empfehlungen der Rechtschreibwörterbücher Duden und Wahrig folgen und erst in einem zweiten Schritt die herkömmliche Schreibweisen favorisieren. Während also selbst innerhalb der Druckerzeugnisse der Medien und Verlage in den deutschsprachigen Ländern somit nur partiell eine Einheitlichkeit erreicht wird, verschärfen sich, folgen die Redaktionen den SOK-Empfeh- 43 Medienmitteilung des Verbands Schweizer Medien vom 11. 9. 2008. 44 Medienmitteilung der Konferenz der ChefredakturInnen der Schweizer Print und elektronischen Medien vom Juli 2008. 96 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="107"?> lungen, die Unterschiede der in der schulischen Instruktion vermittelten Rechtschreibung von der medialen Praxis erheblich. Auch im grafischen Gewerbe sieht man anscheinend Bedarf, eine einheitliche Verwendungsweise bei Variantenschreibungen zu gewährleisten. Hierzu hat in der Schweiz die Paritätische Berufsbildungsstelle für visuelle Kommunikation (PBS) in Bern eine Broschüre zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung herausgegeben (Gallmann/ Sitta 2007), die einerseits eine Übersicht zu den neuen Regeln und andererseits einen 15-seitigen Teil mit Empfehlungen für die Variantenschreibungen beinhaltet. Dieser Teil - der den sprechenden Titel „ Varianten: Die Qual der Wahl “ trägt - soll vor allem „ die Entscheidung für eine bestimmte einheitliche Form “ erleichtern (Gallmann/ Sitta 2007: 3). Die Variantenführung erfolgt nach der Richtlinie, einzelne Regeln zu stärken und dabei trotzdem Bedeutungsdifferenzierungen zu ermöglichen sowie den Usus zu berücksichtigen. Wo sinnvoll, wird auf die Variantenpriorisierung im Duden verwiesen, z. B. im Bereich Zusammen- und Getrenntschreibung bei Adjektiv-Verb-Verbindungen, bei denen das Adjektiv in der Funktion eines resultativen Prädikativ steht, vgl. Regelwerk (2006: § 34 32.31). An den hier vorgestellten Hausorthographien und Variantenempfehlungen zeigt sich das in den Medien und Verlagen ausgeprägte Bedürfnis nach einheitlichen Schreibweisen. Mit dem Argument der Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung werden denn auch die erarbeiteten Variantenempfehlungen legitimiert, wobei dies nur in denjenigen Fällen zu überzeugen mag, in denen die Empfehlungen innerhalb des offiziellen Regelwerks erfolgen. Es fällt auf, dass vor allem in Deutschland mit den Agenturschreibweisen sowie in der Schweiz mit den SOK-Empfehlungen Variantenempfehlungen herausgegeben werden, aus Österreich ist m. W. nichts Vergleichbares bekannt. 3.6.5 In der Volksschule Nebst den Wörterbüchern und dem Umgang in der Presse ist es auch von Interesse, wie in der Schule, im Schreib- und Rechtschreibunterricht mit der orthographischen Varianz umgegangen wird. Da das Bildungssystem der Schweiz föderalistisch bzw. dasjenige Deutschlands analog über die „ Kulturhoheit der Länder “ geregelt ist und die kantonalen Lehrplänen den Lehrkräften doch auch Spielraum gewähren, was die konkrete Gestaltung des Rechtschreibunterrichts angeht, wird hier nicht versucht, die Vermittlung der durch Variantenschreibung betroffenen Bereiche darzustellen, sondern es werden nur die Empfehlungen thematisiert, die von den übergeordneten Instanzen vermittelt werden, so für die Schweiz die Schweizerische Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK), für Deutschland Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz), und für Österreich das Bun- 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 97 <?page no="108"?> desministerium für Unterricht, Kunst, Kultur (bmuk). Alle drei Länder haben die revidierte Version des Regelwerks von 2006 als verbindlich für die Schule vorgeschrieben, wobei in Österreich das Österreichische Wörterbuch als Unterrichtsgrundlage gilt. 45 In der Schweiz wurde von der EDK für die Schulen der Deutschschweiz eine Broschüre mit Empfehlungen herausgegeben: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Ergänzt mit fachlichen Empfehlungen für die Vermittlung der Regeln im Unterricht (Lindauer et al. 2006). Dort werden einerseits die neuen Regeln vermittelt und andererseits Vorschläge für die Variantenpriorisierung abgegeben. Die Variantenführung folgt dem Prinzip der Regelstärkung (Lindauer et al. 2006: 10): Dort, wo es im Rahmen der geltenden Orthographie möglich ist, Varianten mit einer leicht zu operationalisierenden Regel zu erfassen, wird diese Regel vorgeschlagen für die Vermittlung in der Schweizer Schule. So soll etwa an der Schule die Regel, dass Verb+Verb-Verbindungen getrennt geschrieben werden, durchgängig vermittelt werden, obwohl in einigen Fällen die Zusammenschreibung zugelassen wird. Ebenfalls soll auf die besondere Sprachsituation der Schweiz mit ihrer Mehrsprachigkeit bei der Fremdwortschreibung von französischen und italienischen Wörtern insofern Rücksicht genommen werden, als die Ursprungsschreibung zu bevorzugen ist (Lindauer et al. 2006: 16), vgl. dazu auch 2.2, sowie für lateinische Lehnwörter die integrierte Schreibungen (substanziell statt substantiell). Für die Groß-/ Kleinschreibung wird die Großschreibung der Nomen und Nominalisierungen gestärkt, so auch in Verbindungen wie vor Kurzem, ohne Weiteres, aufs Beste etc. In Österreich liegt mit Wie schreibt man recht eine ähnlich Informationsbroschüre für Lehrpersonen und andere Interessierte vor, in der jedoch keine Variantenführung vorgenommen wird (bmuk 2006). Für Deutschland liegt keine solche Publikation und folglich keine eigens für die Schulpraxis erstellten Vorgaben für die Variantenpriorisierung vor. 3.6.6 Umgang bei Behörden Einzig in der Schweiz ist der Umgang mit orthographischen Varianten für den Schriftverkehr der Bundesverwaltung zentral geregelt und in einem Leitfaden zur Rechtschreibung festgelegt, der für „ Schreiberinnen und Schreiber innerhalb der Bundesverwaltung [. . .] die verbindliche ‚ Hausorthographie ‘ der Bundesverwaltung “ darstellt und für die Behörden auf Ebene der Kantone und Gemeinden als Richtlinie empfohlen wird (Bundeskanzlei 2012: 45 Pressemitteilung Kultusminsterkonferenz vom 2. 5. 2006: http: / / www.kmk.org/ presseund-aktuelles/ pm2006/ beschluss-der-kultusministerkonferenz.html (1. 2. 2016); Mitteilung bmuk: http: / / www.bmukk.gv.at/ rechtschreibung (1. 2. 2016); Mitteilung EDK: http: / / www.edk.ch/ dyn/ 20018.php (1. 2. 2016). 98 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="109"?> 7). Der Leitfaden orientiert sich prinzipiell am Regelwerk (2006), verfolgt aber das Prinzip der Variantenführung. Dies aus dreierlei Gründen: Erstens sollen die vom Bund publizierten Texte „ äußerlich möglichst einheitlich erscheinen “ ; zweitens könnten Variantenschreibungen subtile Bedeutungsunterschiede insinuieren, was insbesondere in rechtsrelevanten Texten unerwünscht sei; drittens wolle man die deutschschweizerische Praxis stärken, bei französischen und italienischen Fremdwörtern eher die Ursprungsschreibung zu wählen (Bundeskanzlei 2012: 10). Des Weiteren verfolgt man bei der Zusammen-/ Getrenntschreibung das Kriterium der übertragenen Bedeutung, die restlichen Bereiche sind in detaillierten Einzelregelungen festgelegt, die hier nicht im Detail wiedergegeben werden. Für Deutschland wird im dritten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission die Umsetzung des Regelwerks (1996) beim Bund und in den Behörden der einzelnen Bundesländer dargestellt (Zwischenstaatliche Kommission 2001: Kapitel 3). Der Bericht kann für den untersuchten Zeitraum feststellen, dass beim Bund sowie in fast allen Bundesländern die neue Orthographie verbindlich ist und in dreizehn Bundesländern die Variantenschreibungen freigestellt sind, wobei jedoch in einigen Bundesländern auf eine einheitliche Schreibweise innerhalb eines Textes bestanden wird. Der Umgang der Bundesländer nach der Revision der Reform von 2006 ist (noch) nicht dokumentiert. Auch für Österreich liegen keine Angaben vor, sodass davon ausgegangen werden muss, dass weder auf Bundesnoch auf Länderebene Vorgaben zu Variantenführungen existieren. 3.6.7 Zusammenfassung Ein Blick auf den Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation, den Medien sowie den öffentlichen Institutionen zeigt deutlich, dass der Handlungsspielraum, den das offizielle Regelwerk mit der Freigebung der Varianten - im Regelwerk 1996 noch als gewichtete, im Regelwerk 2006 schließlich als gleichberechtigte Varianten - den Schreibenden überlässt, offenbar einen ausgeprägten Regelungsbedarf in verschiedenen Bereichen nach sich zieht. Im Kern steht dabei die Forderung nach einer einheitlichen deutschen Orthographie. In der Lexikographie ist der Duden schon seit der ersten Auflage nach der Rechtschreibreform von 1996 dem supponierten Bedürfnis der Wörterbuchbenützer nach eindeutigen Empfehlungen nachgekommen und nimmt seither eine Variantenführung vor, die allerdings innerhalb des im Regelwerks angelegten Handlungsspielraums erfolgte. Die Variantenführung erfolgt auf der Grundlage des redaktions-internen Korpus sowie aufgrund wenig transparenter Kriterien wie der einfachen Handhabung und der leichten Erfassbarkeit. Der Wahrig hingegen, als großer Duden-Konkurrent, nimmt nur in einigen ausgewählten Fällen Variantenpriorisierung vor bzw. legte ein eigenes Kompaktwörterbuch mit Variantenempfehlungen vor. In der neusten Ausgabe des Rechtschreibwörterbuchs 3.6 Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation 99 <?page no="110"?> (Wahrig 2011) ist allerdings eine gesonderte Liste mit Empfehlungen angehängt. Die Richtlinien der Variantenführung betreffen die Bedeutungsdifferenzierung, den Usus, untersucht am redaktions-internen Korpus, sowie die einfache Anwendbarkeit. Das Österreichische Wörterbuch hingegen verzichtet völlig auf eine Variantenführung. Besonders ausgeprägt zeigt sich das Bedürfnis nach Einheitlichkeit in Medienverlagen und Nachrichtenagenturen, die entweder eigene Hausorthographien mit entsprechend enger Variantenführung erstellen, z. B. die Neue Zürcher Zeitung, oder sich an in der Nachfolge des Regelwerkes 2006 erstellten Richtlinien zu Variantenführungen anschlossen, so an die sogenannten Agenturschreibweisen von 2007 sowie für die Schweiz an die Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK). Die Prinzipien der Variantenführungen im medialen Kontext zeichnen sich dadurch aus, dass die im Regelwerk neu zugelassenen Varianten zum Anlass genommen werden, zu den althergebrachten Schreibungen zurückzukehren, teilweise werden sogar Schreibungen wieder eingeführt, die im Regelwerk gar nicht mehr vorgesehen sind. Die Variantenführung sowie die Rückkehr zu den althergebrauchten Schreibungen werden mit der Wahrung der Einheitlichkeit der deutschen Orthographie und dem Usus begründet. Dieses Argument vermag allerdings in jenen Fällen wenig zu überzeugen, in welchen vom Regelwerk abweichende Schreibungen präferiert werden. Damit wird die Variantenvielfalt in der gesamten Sprachgemeinschaft gesehen de facto vergrößert, obwohl diese Institutionen sich nicht nur um eine einheitliche Rechtschreibung in ihrem Geltungsbereich bemühen, sondern sich recht eigentlich der Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung verschrieben haben. Auch die angeführte Berücksichtigung des Usus beinhaltet einen ganz wesentlichen und heiklen Aspekt. Sowohl die Wahrigals auch die Duden- Redaktion ermitteln den Usus, der als Grundlage für die Variantenführung dient, an eigenen Korpora, die jedoch vorwiegend aus Medien-Texten zusammengesetzt sind, ähnlich auch die Recherchen des Rats für deutsche Rechtschreibung (vgl. 3.3). In Anbetracht der Tatsache, dass die Medien sich heute vorwiegend auf die Agenturschreibweisen stützen, die sich ihrerseits wiederum auf die Empfehlungen der beiden Wörterbuchverlage stützen, sind die Ermittlungen des Usus in den genannten Korpora im Endeffekt nur die Überprüfung dessen, ob die Medien die Empfehlungen der beiden Wörterbuch-Verlage auch umsetzen. Was den Umgang der Behörden mit dem Problem der orthographischen Varianten betrifft, liegt zur Zeit nur für die Schweiz eine verbindlicher Leitfaden vor, der bei Varianten für den Schriftverkehr auf Bundesebene verbindliche Festlegungen trifft, jedoch für die kantonale Ebene nur empfehlenden Charakter hat (Bundeskanzlei 2012). Auch für die Schule gibt es nur für die Schweiz Empfehlungen für den Umgang mit den orthographi- 100 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="111"?> schen Varianten, die von der EDK herausgegeben wurde (Lindauer et al. 2006). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der medialen und öffentlichen bzw. institutionellen Textproduktion das Bedürfnis nach klaren Regeln bzw. einheitlicher Schreibungen ausgeprägt genug ist, um diverse Organe und Institutionen dazu zu bewegen, eigene Leitfäden für eine einheitliche Schreibung herauszugeben, insbesondere trifft dies auf die Medien, den Bund und das Schulwesen zu, allerdings nicht für alle deutschsprachigen Länder gleichermaßen ausgeprägt. Österreich zeichnet sich im Vergleich mit Deutschland und der Schweiz in offiziellen und institutionellen Kontexten durch einen äußerst liberalen und gelassenen Umgang mit der Variantenfrage aus. Weder sind im Österreichischen Wörterbuch, das für die Schule als verbindlich gilt, oder in der Rechtschreib-Broschüre für Lehrpersonen Varianten priorisiert oder überhaupt erst als Problem dargestellt, noch sind aus der Regierung, noch aus der Presse und dem Druckereigewerbe Leitfäden bekannt, die Variantenempfehlungen abgeben. Ganz anders in der Schweiz, die in allen genannten Bereichen Leitfäden mit Variantenempfehlungen vorzuweisen hat. In Deutschland zeigt sich das Bedürfnis der Variantenpriorisierung vorwiegend in den Medienverlagen. 3.7 Eine enge Definition orthographischer Varianten Zum Abschluss des Kapitels zum Problem der orthographischen Varianten soll eine enge Definition orthographischer Varianten vorgenommen werden, die dieser Untersuchung zugrunde gelegt wird. In der vorliegenden Arbeit wird von Gablers (1992) Definition ausgegangen, die aber mit einigen weiteren Einschränkungen versehen wird, um die bei Jacobs (2007) eingeschlossene a) konstruktionsbedingte sowie b) systembedingte Varianz auszuschließen (vgl. 3.1). Ad a) Es gelten somit beispielsweise diejenigen Fälle nicht als Varianten, in denen die Schreibung von der syntaktischen Stellung abhängt, wie die Zusammen- und Getrenntschreibung in der Fallgruppe § 33 (1) E im Regelwerk (2006), in der die Form Gewähr leisten und gewährleisten scheinbar gleichwertig nebeneinander gültig sind, aber de facto je nach syntaktischer Verwendung zusammen oder getrennt geschrieben werden. Bei Verbindung mit einem Akkusativobjekt schreibt man zusammen und bei Verbindung mit einem Präpositionalobjekt mit für getrennt, vgl. Beispiele (16) und (17): (16) Sie leistet Gewähr für einen reibungslosen Ablauf der Geschäfte. Sie muss für einen reibungslosen Ablauf Gewähr leisten. (17) Sie gewährleistet einen reibungslosen Ablauf der Geschäfte. 3.7 Eine enge Definition orthographischer Varianten 101 <?page no="112"?> Ad b) Ebenfalls anders als bei Jacobs (2007) sollen ältere Schreibweisen, die seit der Reform nicht mehr gültig sind, nicht als Varianten betrachtet werden. So werden die Paare in Bezug auf und in bezug auf nicht als Varianten betrachtet, weil laut Regelwerk (2006) nur die Großschreibung, aber vor der Reform im Duden nur die Kleinschreibung gültig war (anders im Österreichischen Wörterbuch, das schon früher seiner liberalen Haltung entsprechend beide Formen zuließ). Auch keine Varianten sind in Anlehnung an Gabler (1992) und Lasselsberger (2000: 60) verschiedene andere Variationsphänomen: das Auftreten/ Nicht-Auftreten von Fugen-s, von apokopierten Formen (holperig/ holprig), verschiedenen Pluralendungen (Parks/ Pärke) u. a. morphologische Varianten wie beispielsweise die Formvarianten in Muthmann (1994). Wir gelangen also in Anlehnung an Gabler (1992) zur folgenden Definition, die in dieser Arbeit gelten soll: Orthographische Varianten sind verschiedene Graphemfolgen, die in der jeweils geltenden regionalen Standardaussprache phonologisch gleich bzw. hinreichend ähnlich realisiert werden, um als gleich zu gelten, die gleiche Bedeutung aufweisen, in einer gleichen syntaktischen Konstruktion stehen können sowie zum gleichen historischen Zeitpunkt in der offiziellen Kodifikation der Rechtschreibung zur Verschriftung eines Lexems oder eines Syntagmas zugelassen sind, sich jedoch hinsichtlich eines Graphems oder mehrerer Grapheme, der Groß- oder Kleinschreibung, eines Spatiums oder eines Bindestriches unterscheiden. Als orthographische Varianten gelten sowohl gleichberechtigte nebeneinander in der oben dargelegten Weise existierende Schreibformen als auch Varianten, die sich in Haupt- und Nebenformen scheiden lassen. Ausgeklammert bleiben bei dieser Definition die Interpunktion, d. h. die Kommasetzung, sowie die Trennung, denen andere Überlegungen zugrunde liegen. So ist es generell strittig, ob die Interpunktion überhaupt zur Orthographie zählt und nicht nur zu Stilistik. Außerdem macht die Integration der Interpunktion in eine Betrachtung der orthographischen Variation wenig Sinn. So lassen sich unendlich viele Satzkonstruktion mit anderer Zeichensetzung versehen, man denke hier etwa an den Strichpunkt, der wahlweise für das Komma oder den Punkt stehen kann, oder an die Möglichkeit Teilsätze in Hauptsätze umzuwandeln, was eine Änderung der Interpunktion nach sich zieht. Die Interpunktion wird besser unter den Stichworten Liberalisierung, Stilistik oder Syntax behandelt als unter der orthographischen Varianz. Die Trennung hingegen ist, obwohl orthographisch geregelt, in der konkreten Schreibhandlung typographisch, d. h. hier durch die Anordnung in einem Layout und dessen Platzbeschränkungen bedingt und von daher auch nur bedingt von orthographischem Interesse. So bestimmt auch den Ort 102 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="113"?> der Trennung im Wortinnern innerhalb der geltenden orthographischen Regeln die Zeilenlänge und nicht andere Überlegungen. 46 Problematisch bleibt hingegen die Frage danach, wie mit dem Kriterium der lautlichen Gleichheit (Gabler Phonemstruktur) umgegangen werden soll, insbesondere regional unterschiedliche Aussprachen stellen hier ein Problem dar. Es muss von einem theoretischen Konstrukt einer empirisch kaum nachzuweisenden normalisierten standardsprachlichen Aussprache ausgegangen werden, was im Rahmen dieser Arbeit eine nützliche Vereinfachung ist, aber keineswegs als Aussage über die Realitäten im deutschen Sprachraum genommen werden darf. 3.8 Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde das Problem der orthographischen Varianten, wie es in der bisherigen Forschung dargestellt wurde, sprachsystematisch sowie diachron aufgearbeitet. Im Kern stand die Frage nach der Definition der orthographischen Varianten. Bisherige Konzeptionen orthographischer Varianz unterscheiden sich einerseits in der extensionalen Bestimmung mit der Frage danach, welche Teilbereiche der Orthographie überhaupt erfasst werden, andererseits in der intensionalen Bestimmung mit der Frage danach, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit von orthographischer Variation gesprochen werden kann. Diese Untersuchung geht in Bezug auf die extensionale Bestimmung davon aus, dass eine für die heutige Variation geltende Definition orthographischer Varianten fast alle Teilbereiche der deutschen Orthographie umfassen soll mit Ausnahme von Interpunktion und Worttrennung am Zeilenende. In Bezug auf die intensionale Bestimmung wird von einer engen Definition von orthographischer Varianz ausgegangen, im Rahmen derer nur jene Fälle als orthographische Varianten gelten, welche phonologisch und semantisch kongruent sind, sowie synchron in einem offiziellen Regelwerk als Varianten zugelassen sind. Somit wird orthographische Varianz in der offiziellen Kodifikation verortet und nicht etwa im Usus, wie dies in graphematischen Untersuchungen älterer Sprachstufen der Fall ist. Dieses unterschiedliche Verständnis in einer synchronen Untersuchung, wie der vorliegenden, und einer diachronen Untersuchung der graphischen und orthographischen Varianz kommt von den unterschiedlichen Voraussetzungen der orthographischen Varianz früherer Sprachstufen und der heutigen Zeit. Vor der II. Orthographischen Konferenz resultierte orthographische Variation vor allem aus dem Fehlen einer überregional geltenden Norm, was es den Schreibern und Druckern vor allem in der fnhd. Zeit 46 Anders sieht Neef (2005: 14) den Trennstrich als orthographisch, weil im Regelwerk festgelegt. 3.8 Zusammenfassung 103 <?page no="114"?> erlaubte, die graphematische Variation pragmatisch auszuschöpfen. Parallel setzten ab dem 15. Jahrhundert erste Vereinheitlichungsbemühungen ein, gefördert durch den Buchdruck u. a. Faktoren. Dies führte zu den entgegengesetzten Tendenzen des Variantenausbaus sowie des Variantenabbaus. Mit dem ersten offiziellen anerkannten Regelwerk, das die Ergebnisse der II. Orthographischen Konferenz kodifizierte, wurden einige Schreibvarianten abgebaut, andere wiederum erlaubt und die Regelung vieler Fälle offen gelassen. Dies führte dazu, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Wörterbuch-Redaktionen des Dudens und des Österreichischen Wörterbuchs v. a. auf Wunsch des Druckgewerbes von Auflage zu Auflage eindeutigere Regeln formuliert und Varianten abgebaut haben, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß, wie die Untersuchung von Lasselsberger (2000) zeigte. Erst mit der Rechtschreibreform von 1996 bzw. der Revision der Reform von 2006 wurde nun die orthographischen Varianten im offiziellen Regelwerk festgelegt und geregelt - die Variation ist somit durch den engen Rahmen des Regelwerks begrenzt. Der Variantenbestand hat sich mit der Reform 1996 und der Revision der Reform 2006 gegenüber der alten Rechtschreibung etwas erhöht. Die Gründe für die Zunahme bzw. für die heutige orthographische Variation liegen in der Sprachentwicklung, in der Komplexität der grammatischen Konzepte, welche der orthographischen Regelung zugrunde liegen, in der unterschiedlichen Interpretation grammatischer Phänomene durch die Wissenschaft sowie in der Rücksicht auf die Vertrautheit der Sprachbenützer mit gewissen Schriftbildern. Während das Regelwerk von 1996 noch das Prinzip der gezielten Variantenführung verfolgt, sind im aktuell geltenden Regelwerk von 2006 die Varianten gleichwertig nebeneinander gestellt. In der fachlichen Einschätzung der orthographischen Varianz gehen die Positionen auseinander: Dies betrifft einerseits die Frage nach dem Verhältnis von Einheitlichkeit und Wandel. Während die einen die heutige Homogenität der deutschen Orthographie als kulturelle Errungenschaft sehen, die es zu bewahren gibt, sehen andere gerade in den orthographischen Varianten eine Möglichkeit, der Dynamik des Sprachwandels folgend, neue Formen einzuführen und gleichzeitig dem Usus Rechnung zu tragen. Andererseits betreffen die Einschätzungen die Aufzeichnungs- und Erfassungsfunktion der Orthographie: Während die einen durch einheitlich gehaltene Schreibweisen sowohl den Lesewie auch den Schreibprozess entlastet sehen, schätzen andere die individuelle Freiheit des Schreibenden, zumindest in denjenigen Fällen, wo die Varianz systembedingt oder sprachwandelbedingt auftritt, zwischen möglichen Schreibungen zu wählen. Systematische Erhebungen der Laieneinstellungen gegenüber orthographischer Varianz stehen jedoch noch aus. Das Sprachhandeln von Individuen ist in übergeordnete literale Praktiken der Sprachgemeinschaft eingebunden, daher wurde in diesem Kapitel auch zusammenfassend dargestellt, wie mit der orthographischen Varianz in verschiedenen Domänen umgegangen wird. Dabei zeigt sich ein ausgeprägte 104 3 Zum Problem der orthographischen Varianten <?page no="115"?> Bedürfnis nach Einheitlichkeit, dem insbesondere die Wörterbuch-Verlage Duden und Wahrig entgegenkommen, wobei ersterer eine durchgehende Variantenführung praktiziert und zweiterer nur eine partielle bzw. die Variantenführung in eigene Nachschlagewerke oder Wortlisten auslagert. Das ÖWB hingegen verzichtet auf eine Variantenführung. Ein ebenso ausgeprägtes Streben nach Einheitlichkeit zeigt sich auch in den Medienverlagen und Nachrichtenagenturen, die eigene Richtlinien herausgeben. Was den Umgang mit der orthographischen Varianz in Behörde und Schule betrifft, existieren nur für die Schweiz Richtlinien (Bundeskanzlei) bzw. Empfehlungen (EDK). Die bisherige Erforschung orthographischer Variation war auf diachrone sowie lexikographische Untersuchungen sowie auf einzelne theoretische Abhandlungen beschränkt. Empirische Studien gibt es nur vereinzelt, wobei jeweils auf den Usus der Fremdwortschreibung fokussiert wurde. Vor allem der Rat für deutsche Rechtschreibung führte seinem Auftrag gemäß punktuelle Beobachtungen des Usus durch, vor allem mit Recherchen in medientextlastigen Korpora und einer einzigen Untersuchung mit Schülern und Schülerinnen. Wie eingangs des Kapitels dargelegt, gibt es aber noch einige Forschungsdesiderate zu verzeichnen: Dies betrifft u. a. einerseits den Usus sowie die Einschätzung und Akzeptanz von Schreibenden mit unterschiedlichem Ausbildungs- und Berufshintergrund in unterschiedlichen Schreibkontexten. Andererseits ist von Interesse, wie die orthographischen Varianten bei unterschiedlichen Schreibenden repräsentiert sind, nach welchen Kriterien zwischen zwei Schreibungen gewählt wird und wie die Varianten im individuellen Schreibprozess wirken. 3.8 Zusammenfassung 105 <?page no="117"?> 4 Untersuchungsanlage Im vorangehenden Kapitel wurden die Forschungsdesiderate dargelegt, die, insbesondere aus der Perspektive der Schreibenden, empirische Untersuchungen des Usus, der individuellen Repräsentation sowie der Auswirkung auf den Schreibprozess betreffen. Konsequenterweise soll daher in der vorliegenden Untersuchung orthographische Varianz auf der Grundlage der in Kapitel 2 eingeführten Perspektiven in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Dazu werden drei verschiedene empirische Zugänge gesucht, die in diesem Kapitel genauer erläutert werden sollen. Im ersten empirischen Zugang werden die Gebrauchsfrequenzen in der kollektiven Praxis (Usus) untersucht, wobei verschiedene literale Praktiken kontrastiert werden sollen. Anschließend wird auf das Individuum und auf dessen individuellen Umgang mit der Varianz fokussiert, indem die individuellen Repräsentationen untersucht werden, die sich im Schreibprozess (zweiter empirischer Zugang) sowie bei der Variantenwahl (dritter empirischer Zugang) beobachten lassen. Die Erhebungen erfolgen einerseits in öffentlich zugänglichen, linguistischen und selbst erhobenen Korpora, vgl. die Beschreibung der Korpora in 4.2. Andererseits wurden die Daten aus einem Schreibexperiment sowie einer Befragung von Versuchspersonen gewonnen, wobei diese Stichprobe 44 Versuchspersonen aus der Schweiz zwischen 30 - 50 Jahren mit verschiedenen Ausbildungs- und Berufshintergründen umfasst 47 , vgl. für eine detailliertere Beschreibung dieser Stichprobe Kapitel 4.4. Die Untersuchung erfolgt auf der Grundlage ausgewählter Varianten aus dem Bereich der Graphem-Phonem-Korrespondenz mit Fremdwortschreibungen und zwei Einzelwortschreibungen, die als Fahnenwörter der Rechtschreibreform gelten, aus dem Bereich der Klein-/ Großschreibung sowie dem Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung. Im Folgenden werden zuerst die ausgewählten Bereiche und Fallgruppen aufgeführt und dargelegt, aufgrund welcher Überlegungen es sich hierbei um orthographische Varianten handelt. Anschließend wird das Vorgehen für die verschiedenen empirischen Zugänge vorgestellt und zum Abschluss die untersuchte Stichprobe genauer beschrieben. 47 An dieser Stelle sei der damaligen studentischen Hilfskraft Andrea Spiess herzlich gedankt für die tatkräftige Unterstützung bei der Rekrutierung von Versuchspersonen und der Durchführung der Datenerhebung. <?page no="118"?> 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten Zugelassene Variantenschreibungen sind sehr zahlreich und in vielen Regelungsbereichen anzutreffen. Bei der Auswahl der Varianten für eine Untersuchung eröffnen sich prinzipiell zwei Möglichkeiten: entweder nach streng quantitativen Kriterien, indem hochfrequente Lexeme ausgewählt werden, oder nach qualitativen Kriterien, indem nach theoretischen Überlegungen diejenigen Formen ausgesucht werden, bei denen sich aufgrund der bisherigen Forschung bestimmte Zusammenhänge vermuten lassen. Für die vorliegende Untersuchung wurden beide Zugänge kombiniert eingesetzt. Es ist ein Hauptanliegen dieser Untersuchung, nicht nur auf einen Teilbereich zu fokussieren, um möglichst verschiedene Facetten des Problems der orthographischen Varianten zu untersuchen. Die verschiedenen Phänomenbereiche unterscheiden sich doch wesentlich in Aspekten der Salienz und Repräsentation. So ist etwa anzunehmen, dass orthographische Phänomene in der Phonem-Graphem-Korrespondenz salienter und besser repräsentiert sind als in gewissen Bereichen der Groß-/ Kleinschreibung oder der Zusammen-/ Getrenntschreibung. Es wurden deshalb folgende Phänomenbereiche in die Untersuchung eingeschlossen, die in den folgenden Unterkapiteln genauer diskutiert werden: - Phonem-Graphem-Korrespondenz mit zwei Einzelwortschreibungen sowie der Fremdwortschreibung, - Zusammen- und Getrenntschreibung, - Groß- und Kleinschreibungen. Nicht berücksichtigt wurde somit die Bindestrich-Schreibung, die Trennung, die Interpunktion, bei der insbesondere im Bereich der Kommasetzung einige Varianten zugelassen sind, sowie Eigennamen oder geografische Namen. Die Berücksichtigung verschiedener Phänomenbereiche bringt den Nachteil mit sich, dass nur eine geringe Anzahl von Varianten pro Phänomenbereich abgefragt werden konnte. Die Auswahl der Varianten innerhalb der Phänomenbereiche erfolgte nach Regelungsbereich aus dem Amtlichen Regelwerk (d. h. nach den Paragraphen aus dem Regelwerk 1996) und innerhalb dessen nach Gebrauchshäufigkeiten. Für die Bestimmung der Gebrauchshäufigkeiten wurde die lexikographische Ressource Wortschatz Leipzig 48 herangezogen, die automatisiert die Häufigkeitsklassen der Lemmata aus den konsultierten Datenquellen errechnet. So konnte für jeden Regelungsbereich der Untersuchung die frequenteste Form ermittelt werden, ausgenommen einiger Formen der Zusammen- und Getrenntschreibung, für die der Wortschatz Leipzig keine Häufigkeiten ermitteln konnte. Zusätzlich zur Häufigkeit wurde jedoch auch darauf geachtet, dass die berücksichtigten 48 http: / / wortschatz.uni-leipzig.de (1. 2. 2016). 108 4 Untersuchungsanlage <?page no="119"?> Regelungsbereiche bzw. innerhalb derer die ausgewählten Formen neue Varianten, d. h. Varianten, die seit der Reform von 1996 und der Revision der Reform von 2006 neu im Regelwerk aufgenommen wurden, als auch althergebrachte Varianten umfassen. Die ausgewählten Varianten konnten allerdings für die drei empirischen Zugänge nicht gleichermaßen berücksichtigt werden. Während in der korpuslinguistischen Untersuchung (K) alle ausgewählten Varianten eingeschlossen werden konnten, musste für die Erhebungen mit der Stichprobe ausgewählt werden. Da die Erhebungsinstrumente Schreibexperiment (E) und Befragung, d. h. Abfrage nach Formen (A), relativ zeitaufwendig sind, wäre es für die Versuchspersonen nicht zumutbar gewesen, sie über 50 oder mehr Formen abzufragen. Somit wurden in diesen beiden empirischen Zugängen jeweils andere Formen abgefragt. Für die Varianten aus dem Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung sowie für einige Fälle der Groß- und Kleinschreibung mussten zudem bei der Abfrage mehrere Konstruktionsvarianten vorgelegt werden, so etwa bei kennenlernen/ kennen lernen- Konstruktionen mit Infinitiv, mit zu+Infinitiv, mit finiter Form sowie mit dem Partizip II, da hier unterschiedliche Präferenzen und Einschätzungen vermutet werden. Ebenfalls wurden bei einigen Fällen der Phonem-Graphem- Korrespondenz verschiedene Items abgefragt, um den lautlichen Einfluss zu prüfen. Mit welchem Instrument welche Varianten und Konstruktionsvarianten abgefragt wurden, ist in den jeweiligen Unterkapiteln angegeben. Im Folgenden werden die einzelnen Phänomenbereiche und die ausgewählten Varianten dargestellt. 4.1.1 Phonem-Graphem-Korrespondenz 4.1.1.1 Einzelwortschreibungen Es gibt eine Reihe von Lexemen, die recht eigentlich als Fahnenwörter der Rechtschreibreform gelten können, weil sie besonders umstritten sind und deshalb im Diskurs zur Rechtschreibreform prominent erscheinen (z. B. Gämse, Stängel). Sie wurden in die Untersuchung aufgenommen, da sie v.a in Bezug auf die sozio-kulturelle Dimension der Orthographie von Interesse sind, da sich an ihnen die Auseinandersetzungen zur Orthographiereform besonders heftig entzünden. Es wurden von diesen Fahnenwörtern folgende zwei Variantenschreibungen für die Untersuchung aufgenommen: aufwendig/ aufwändig sowie selbständig/ selbstständig. Für beide Formen waren schon seit der Reform von 1996 Variantenschreibungen zugelassen. 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 109 <?page no="120"?> Tab. 2: Untersuchte Varianten im Bereich der Einzelwortschreibung. R2006 = Regelwerk 2006; R1996 = Reformierte Schreibung im Regelwerk 1996; AR = Alte Rechtschreibung; Duden = Variantenempfehlung Duden (2006); Wahrig = Variantenempfehlung Wahrig Hausorthographie (2006 b); NA = Empfehlung der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen (2007); K = Korpusrecherche; E = Experiment; A = Abfrage. Variante R2006 R1996 AR Duden Wahrig NA Instr. aufwendig/ aufwändig ‹ e › / ‹ ä › (gleichberechtigt) ‹ e › ‹ e › ‹ e › ‹ e › K/ E/ A selbstständig/ selbständig ‹ st › / ‹ stst › (gleichberechtigt) ‹ st › ‹ stst › ‹ stst › ‹ stst › K/ E/ A Die Varianz der Form aufwendig/ aufwändig ergibt sich aus der unterschiedlichen Ableitungsrichtung: aufwendig wird vom Verb aufwenden, aufwändig vom Nomen Aufwand abgeleitet. Es handelt sich folglich gemäß der Terminologie Gallmanns sowohl um eine sachbedingte Varianz, da Derivationen in der Morphologie der deutschen Sprache von verschiedenen Wortkategorien gebildet werden können, aber auch um konzeptionsbedingte Varianz, da im Fachdiskurs Uneinigkeit darüber herrscht, welche Ableitungsrichtung für die Schreibung des Adjektivs herangezogen werden soll (Gallmann 2004). In Tab. 2 sind die Schreibweisen aus den verschiedenen Regelwerken und Empfehlungen zusammengestellt 49 sowie in der letzten Spalte angegeben, in welchem Teil der Erhebung (Erhebungsinstrument) die Varianten berücksichtigt wurden. 4.1.1.2 Fremdwortschreibungen Bei der Fremdwortschreibung geht es im Wesentlichen um das für Entlehnungsprozesse grundlegende Probleme der Integration ins Sprachsystem, d. h. der Grad der Anpassung von fremden Lexemen an das deutsche Sprachsystem in Bezug auf Phonologie, Morphologie und eben auch Graphie und Orthographie. In sprachkultureller Hinsicht lässt sich darüber hinaus ein Bedürfnis beobachten, die deutsche Sprache vor fremden phonologischen, morphologischen, graphematischen und orthographischen Eigenschaften zu bewahren (Fuhrhop 2011 b: 145). Für die deutsche Sprache sind vor allem Lehnwörter aus dem Lateinischen und Altgriechischen sowie Fremdwörter aus modernen europäischen Sprachen (Englisch, Französisch, Italienisch) bedeutsam. Im Umgang mit der Fremdwortschreibung eröffnen sich drei denkbare und auch schon seit jeher gebräuchliche graphematische Strategien (Zabel 1987: 102 ff.): 49 Das OWB gibt keine Empfehlung ab, daher wurde es nicht in die Tabelle aufgenommen. 110 4 Untersuchungsanlage <?page no="121"?> 1. Phoneme, die der deutschen Sprache fremd sind, d. h., nicht Bestandteil des deutschen Phonemsystems sind, werden mit Graphemen der Herkunftssprache dargestellt. 2. Phoneme, die ebenfalls zum deutschen Phonemsystem gehören, werden mit Graphemen der Herkunftssprache dargestellt. 3. Phoneme, die ebenfalls zum deutschen Phonemsystem gehören, werden mit Graphemen des deutschen Graphemsystems dargestellt (d. h. graphematisch integriert). Es ist bezeichnend für tiefe bis mittel-tiefe orthographische Systeme, wie das deutsche oder das französische orthographische System, dass sie eher zur Bewahrung der Ursprungsschreibungen tendieren. Flache Orthographien wie die spanische oder türkische hingegen neigen eher zur Integration, wie Meisenberg (1992, zit. in Fuhrhop 2011 b: 148/ 149) feststellt. Die Varianz in der Fremdwortschreibung in der deutschen Orthographie lässt sich auf vier Gründe zurückführen: Erstens ist es schwierig zu entscheiden, ab welchem Zeitpunkt im Entlehnungs- und Integrationsprozess ein Fremdwort als in den deutschen Wortschatz integriert zu betrachten ist. So schrieb schon Konrad Duden in das Vorwort seines ersten orthographischen Wörterbuchs (Duden 1880: XI): Das zweite Gebiet, auf welchem der Lage der Dinge nach eine diktatorische Feststellung der Schreibung nicht möglich ist, bildet das große, leider übergroße Reich der Fremdwörter. Das Urteil darüber, ob ein Fremdwort in den allgemeinen Gebrauch des Volkes übergegangen ist und demnach einen Anspruch darauf hat, der deutschen Schreibung teilhaftig zu werden, wird oft schwankend sein [. . .]. Die alte Rechtschreibung nennt hier das Kriterium der Häufigkeit (Duden 1996: 29, R52). Auch in der korpuslinguistischen Untersuchung von Schmidt (2011) zur ‹ ph › / ‹ f › -Varianz kann gezeigt werden, dass frequente Fremdlexeme eher graphematisch und orthographisch integriert werden als weniger frequente. Abgesehen vom Frequenzkriterium spielt auch der Status der morphologischen Integration eine Rolle: morphologisch integrierte Fremdlexeme werden eher graphematisch und orthographisch integriert als andere. Für die Festlegung der orthographischen Norm scheint das Frequenzkriterium relativ einfach operationalisierbar 50 und daher eine gute Entscheidungsgrundlage, allerdings gilt dies nur auf der Ebene der Einzelfestlegungen, da so nicht ganze Bereiche von einer einheitlichen Regel erfasst werden könnten. Deshalb ist das Frequenzkriterium für den Sprachbenützer wenig praktikabel, da es dazu führt, dass viele Schreibungen nachgeschlagen werden müssen. Zweitens wird die orthographische Integration von Fremdgraphemen ins reguläre deutsche System der Phonem-Graphem-Korrespondenzen durch 50 Es gibt auch hier einige kritische Aspekte, was die Untersuchung der Häufigkeit prinzipiell sowie die Berücksichtigung verschiedener Schreibkontexte betrifft. 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 111 <?page no="122"?> das Festhalten an gewohnten und vertrauten Schriftbildern verzögert. Die Berücksichtigung der Erfassungsfunktion der Orthographie und das Bedürfnis nach Systemorientierung führt daher zu einem Konflikt zwischen phonologischem und etymologischem Prinzip (vgl. Kapitel 2.1.5 und 3.4), in dessen Folge mit der Zulassung von Varianten in der Terminologie Gallmanns eine traditionsbedingte Varianz geschaffen wird (Gallmann 2004). Drittens lassen sich Unterschiede in verschiedenen Sprachgebrauchsdomänen finden. So konnte beispielsweise Schmidt (2011: 328/ 329) in seiner korpuslinguistischen Untersuchung zur ‹ ph › / ‹ f › -Varianz feststellen, dass Fremdlexeme aus dem Fach- oder Bildungswortschatz seltener integriert werden. Der Fachwortschatz zeichnet sich durch die bewusste Verwendung von Fremdwörtern in der Ursprungsschreibung aus, um mit eindeutigen, von der Alltagssprache klar abgegrenzten Begrifflichkeiten operieren zu können. Daher steht heute beispielsweise Fotografie neben Photosynthese. Dass der Fach- und Bildungswortschatz von der graphematischen Integration ausgeklammert bleibt, beeinträchtigt die Akzeptanz von Reformen im Bereich der Fremdwortschreibung und verhindert, dass ganze Phänomenbereiche einheitlich geregelt werden können - auch dies befördert die Zulassung von Varianten. Und viertens ist die Frage nach der Wahl der integrierten oder der Ursprungsschreibung auch immer mit sozialen und kulturellen Konnotationen verbunden (vgl. 2.2), so wird die Wahl der Ursprungsschreibung mit Attributen wie Bildungsgrad, Fremdsprachenkenntnissen und Internationalität assoziert. Die heftige Ablehnung der Fremdwortschreibung der Reform von 1996 lässt sich wohl nicht zuletzt darauf zurückführen, vgl. dazu Stenschke (2005). Offenbar sah sich schon Konrad Duden in der Wörterbuchausgabe von 1902 genötigt, die an der II. Orthographischen Konferenz freigegebenen Varianten in der Fremdwortschreibung für die Grapheme ‹ c › / ‹ k › bzw. ‹ c › / ‹ z › im Vorwort zu rechtfertigen (zitiert in Zabel (1987: 122): „ Den Gelehrten, die sich über Formen wie Akzent, Kuvert u. dgl. entsetzten, stellte man nach wie vor Accent, Couvert zur Verfügung. “ Im amtlichen Regelwerk (2006) sind gemäß Güthert (2011: 23) im Bereich der Fremdwortschreibung 263 Varianten aufgeführt, davon entfallen die meisten in absteigender Reihenfolge auf folgende Graphem-Paare (ebd.): 1. ‹ ph › / ‹ f › z. B. -graph/ graf, phon/ fon, phot/ fot 2. ‹ c › / ‹ k › z. B. Code/ Kode 3. ‹ é(e) › / ‹ ee › z. B. Exposé/ Exposee 4. ‹ t › / ‹ z › in Stämmen z. B. existentiell/ existenziell 5. eine Sammelgruppe sekundärer Assimilation (durch die Anpassung der Leseaussprache erwirkte Integration) z. B. Sorbet/ Sorbett 6. ‹ ch › / ‹ sch › z. B. Chicorée/ Schikoree 7. sowie weitere vereinzelte Fälle 112 4 Untersuchungsanlage <?page no="123"?> Es wurde aus diesem Bereich auf die Fremdwortschreibung lateinischgräzistischen Ursprungs fokussiert. Die anderen Bereiche betreffen vor allem Fremdwörter französischen Ursprungs, die in der geschrieben Sprache tendenziell wenig frequent sind. Im Bereich der lateinisch-gräzistischen Fremdwörter wurden die Graphempaare ‹ ph › / ‹ f › sowie ‹ t › / ‹ z › in Stämmen, d. h. ‹ tiell › / ‹ ziell › ausgewählt. Für eine Übersicht der gewählten Formen sowie der Empfehlungen vgl. Tab. 3. Tab. 3: Untersuchte Varianten im Bereich der Fremdwortschreibung. R2006 = Regelwerk 2006; R1996 = Reformierte Schreibung im Regelwerk 1996; AR = Alte Rechtschreibung; Duden = Variantenempfehlung Duden (2006); Wahrig = Variantenempfehlung Wahrig Hausorthographie (2006 b); NA = Empfehlung der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen (2007); K = Korpusrecherche; E = Experiment; A = Abfrage. Variante R2006 R1996 AR Duden Wahrig NA Instr § 32 (2) ‹ ph › / ‹ f › Delfin/ Delphin ‹ ph › (= Hauptvariante) ‹ f › ‹ ph › ‹ f › ‹ f › ‹ f › K/ A fantastisch/ phantastisch ‹ f › (= Hauptvariante) ‹ ph › ‹ ph › (= Hauptvariante) ‹ f › ‹ f › ‹ f › ‹ f › K/ A § 32 (2) ‹ t › / ‹ z › potenziell/ potentiell ‹ ziell › (= Hauptvariante) ‹ tiell › ‹ t › ‹ z › ‹ z › ‹ z › K/ E existentiell/ existentiell ‹ ziell › (= Hauptvariante) ‹ tiell › ‹ t › ‹ z › ‹ z › ‹ z › K/ A Die Doppelschreibungen von ‹ ph › / ‹ f › wurden gewählt, da sie am meisten Lexeme für die graph/ phon/ phot-Stämme (39) sowie für vier weitere Fälle umfassen und vor allem auch hochfrequente Lexeme betreffen. Konkret wurden die Lexeme Delphin/ Delfin und phantastisch/ fantastisch in die Untersuchung aufgenommen. Die ‹ ph › -Schreibung geht auf die lateinische Umschrift des griechischen Graphems Φ (phi) zurück und steht in einer Reihe mit ‹ th › und ‹ rh › , die alle eine ausgeprägte Integrationstendenz aufweisen, was wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass sie mit regulären deutschen Graphemen ‹ f › , ‹ t › und ‹ r › verschriftet werden können, vgl. auch Schmidt (2011: 315 ff.) und Eisenberg (2011). Während sich also unter sprachsystematischer Perspektive eindeutige Gründe für eine Integra- 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 113 <?page no="124"?> tion ausmachen lassen, wird eine umfassende Integration durch sozio-kulturelle Gründe verhindert, die von Schmidt (2011) unter den Stichworten „ humanistische Tradition “ und „ Internationalität “ zusammengefasst werden: Ersteres meint die „ Loyalität gegenüber den alten Prestigesprachen Griechisch und Latein “ , zweiteres die Loyalität gegenüber den „ modernen Prestigesprachen Englisch und Französisch “ , die als einzige der europäischen Sprachen die ‹ ph › -Schreibung beibehalten haben Schmidt (2011: 315/ 316). Die ‹ tiell › / ‹ ziell › - Varianz wurde gewählt, da sie in Bezug auf die Anzahl der betroffenen Lexeme an vierter Stelle rangiert; in Bezug auf die Anzahl der durch die Reform von 1996 und 2006 neu zugelassenen Varianten kommt sie an dritter Stelle, indem die Doppelschreibungen von zwei auf zwölf Lexeme ausgedehnt wurden. Des Weiteren ist die ‹ tiell › / ‹ ziell › -Varianz aus strukturellen Gründen von Interesse, da sie nicht nur aus dem Konflikt zwischen phonologischem und etymologischem Prinzip resultiert, sondern auch das morphologische Prinzip eine Rolle spielt, da die Stämme der zugehörigen Nomen auf/ z/ auslauten. Aus diesem Bereich wurden die Variante existentiell/ existenziell ausgewählt, bei der sich die ‹ z › -Schreibung morphologisch relativ eindeutig von Existenz ableiten lässt, sowie die Variante potentiell/ potenziell, bei der sich die ‹ z › -Schreibung weniger eindeutig sowohl von Potential/ Potenzial als auch von Potenz ableiten lässt. 4.1.2 Groß- und Kleinschreibung Im Regelwerk (2006) wird schon aus den Überschriften des Kapitels zur Großschreibung von Wörtern und Wortgruppen der Problembereich deutlich: „ Substantive und Desubstantivierungen “ (Regelwerk 2006: 57) sowie „ Substantivierungen “ (Regelwerk 2006: 61). Es geht bei den schwierigen Fällen der Groß-/ Kleinschreibung und damit auch bei den Varianten um die peripheren Bereiche der Wortkategorie Nomen, d. h. um das Problem des Wortkategorienwechsels. Kern des Problems ist die Frage, welche Kriterien gegeben sein müssen, damit eine Wortform den nominalen Status zugeschrieben bekommt bzw. verliert. Die angewendeten Kriterien lassen sich dabei auf unterschiedliche Vorstellungen darauf zurückzuführen, wie Nominalität definiert wird, vgl. dazu etwa Maas (1994), Gallmann (1997) oder Günther/ Gaebert (2011). Die Variantenschreibungen im Bereich der Groß- und Kleinschreibung gehören somit in der Terminologie Gallmanns zur konzeptionsbedingten Varianz (vgl. 3.4). Problematisch an der Regelung der Nomengroßschreibung und der Diskussion, die ihre Reform begleitet hat, ist die Vermengung unterschiedlicher Kriterien: die wissenschaftliche Kriterien der „ linguistischen Rekonstruktion der Großschreibungsregeln “ (Zabel 1992), die Kriterien der Darstellungadäquatheit im Regelwerk (Verständlichkeit, Exhaustivität) sowie die Kriterien der didaktischen Umsetzbarkeit. Aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive geht es um eine stringente Rekonstruktion der Regulari- 114 4 Untersuchungsanlage <?page no="125"?> täten, wobei in der bisherigen Forschung eine Bestimmung der Nominalität bzw. der Großschreibung aufgrund semantischer, lexikalischer, morphosyntaktischer und syntaktischer Kriterien kontrovers diskutiert wird, vgl. dazu etwa die Darstellungen in Eisenberg (1981), Maas (1992), Munske (1995; 1997), Gallmann (1997), Augst (1997), Ewald/ Nerius (1997), Günther/ Gaebert (2011). In Bezug auf die Verständlichkeit der Regelformulierungen für den Schriftsprachgebrauch sowie die didaktische Eignung geht es um Operationalisierungen, die insbesondere in den oben genannten peripheren Bereichen der Nomengroßschreibung problematisch sein können, vgl. dazu auch Maas (1992). Im Folgenden soll der Problembereich anhand der Beschreibung prototypischer und peripherer Fälle der Nomengroßschreibung nachgezeichnet werden, die Argumentation ist an Maas (1992), Augst (1997), Ewald/ Nerius (1997), Munske (1997) und Gallmann (1997) angelehnt. Prototypische Vertreter der Wortkategorie Nomen bzw. prototypische Fälle der Nomengroßschreibung, wie in Beispielsatz (1) die syntaktischen Wörter Chefin, Mitarbeitern, Flasche (aber nicht: Wein), erfüllen bestimmte syntaktische, morphosynaktische, lexikalische und semantische Kriterien, die nachfolgend erläutert werden: Das syntaktische Kriterium wurde inbesondere von Maas (1992) elaboriert und als zentrales Prinzip der linguistischen Rekonstruktion der Großschreibung etabliert. Das syntaktische Kriterium besagt, dass ein syntaktisches Wort als Nomen bestimmt und demzufolge großgeschrieben werden muss, wenn es den Kern einer Nominalphrase bildet, im Beispiel (1) unschwer an der Einbettung in die Determinansphrasen Die Chefin, den Mitarbeitern, eine Flasche Wein zu erkennen. Dieses Kriterium gilt auch für in andere Phrasen eingebettete Nominalphrasen (Maas 1992: 165). Damit nicht auch Pronomen großgeschrieben werden, die für Nominalgruppen stehen, vgl. Bsp. (2), erweitert Maas das syntaktische Kriterium um das Kriterium der Expandierbarkeit, das besagt, dass der Kern einer Nominalphrase nur dann ein Nomen ist, wenn er mit einem Attribut wie einem Artikel, einem vorangestellten Adjektiv oder einer nachgestellten Nominalgruppe erweitert werden kann (Maas 1992), vgl. dazu Bsp. (3). (1) Die Chefin schenkt ihren Mitarbeitern eine Flasche Wein. (2) Sie schenkt ihnen eine Flasche Wein. (3) Die Chefin [dieser Firma] schenkt ihren [fleißigen] Mitarbeitern eine [teure Flasche] Wein. Beim Kriterium der Expandierbarkeit - auch Attribuierungsprobe genannt (Gallmann 1997: 230) - handelt es sich um eine Operationalisierung, die im Orthographie-Unterricht oft auf die Artikelprobe reduziert erscheint. Zentral an dieser Probe ist, dass die syntaktische Struktur nicht verändert werden darf. Wird die Artikelprobe vom syntaktischen Kontext gelöst durchgeführt, handelt es sich eigentlich um ein lexikalisches Kriterium, das weiter unten 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 115 <?page no="126"?> vorgestellt wird und das insbesondere von Maas verworfen wird (Maas 1992). Mit dem syntaktischen Kriterium wird die Wortkategorie bzw. die Großschreibung am syntaktischen Kontext festgemacht. Gallmann nimmt in einer Differenzierung des syntaktischen Kriteriums weiter ein „ syntaktisch-paradigmatisches Konzept “ (Gallmann 1997: 229) an, das den vorliegenden syntaktischen Kontext verlässt und besagt, dass „ [ein] Ausdruck, der in gleicher Form auch als Subjekt oder Objekt auftreten kann, [. . .] nominalen Charakter [hat] “ (ebd.). Es handelt sich dabei neben der oben erwähnten Attribuierungsprobe um eine weitere Form der Operationalisierung, nämlich um eine Ersatzprobe, wie in Gallmanns Beispielen (4) und (5) (ebd.): (4) Die Leute standen Schlange. - Die Schlange wurde immer länger. (5) Das gefiel Jung und Alt. - Jung und Alt amüsierten sich. Das lexikalische Kriterium - bei Gallmann (1997: 220) das „ lexematisch-paradigmatische Konzept “ genannt - ist erfüllt, wenn eine Wortform auf ein Lexem zurückgeführt werden kann, das ein Nomen ist. Diese Kategorisierung ist folglich auf der Ebene Lexem bzw. im Lexikon angesiedelt. Die Prüfung, ob es sich bei einer analysierenden Wortform um ein Nomen handelt oder nicht, kann darüber erfolgen, ob sie einem nominalen Paradigma, einem Lexem im Lexikon zugewiesen werden kann, wie dies in Beispielsatz (1) bei allen Nomen (Chefin, Mitarbeitern, Flasche, Wein) gegeben ist. Da diese Kriterium vom syntaktischen Kontext abstrahiert, ist es åumstritten, so bemerkt etwa Munske, dass der „ Wortgebrauch in den Texten “ für eine Groß- oder Kleinschreibung ausschlaggebend sei und nicht die „ lexikalische Wortart “ , was sich besonders deutlich an Nominalisierungen zeige (Munske 1997). Das morphosyntaktische Kriterium, vgl. bei Gallmann (1997: 210) das „ morphosyntaktische Konzept “ , ist erfüllt, wenn eine Wortform typisch nominale Merkmale wie Genus, Numerus, Kasus trägt. Dieses Kriterium bezieht sich somit auf syntaktische Wörter und nicht auf Lexeme. Nominalität manifestiert sich in denjenigen Markierungen am Wort, die auf die Einpassung in eine syntaktische Struktur, konkret in eine Nominalphrase, zurückzuführen sind, vgl. z. B. in Beispielsatz (1) die Kasus- und Numerusmarkierung bei Mitarbeitern. Weitere morphologische und morphosyntaktische Markierungen können Derivationssuffixe sein wie in Bsp. (6) oder ein Flexionssuffix wie in Bsp. (7) (beide Beispiele aus Gallmann 1997: 214 - 219). (6) Sie schätzt Genauigkeit. (7) Sie weiß Genaueres. Das semantische Kriterium bezieht sich darauf, dass Nomen auf „ Gegenstände, Lebewesen und abstrakte Begriffe im Kontrast zu allen übrigen Wörtern und Wendungen “ (Munske 1997) sowie als Eigennamen und Gattungsnamen auf Individuen oder Gattungen referieren; es nimmt also die Bezeichnungs- und 116 4 Untersuchungsanlage <?page no="127"?> Referenzfunktion von Nominalphrasen in den Blick. Munske (1997: 415) sieht die Bedeutung des semantischen Kriteriums darin, dass es erlaubt, in verschiedene Referenzarten zu differenzieren, konkret um Nomen im engeren Sinne von nominal gebrauchten Pronomen, Kardinal- und Ordnungszahlen zu unterscheiden, da sie bloß verweisen oder quantifizieren; sowie nominal gebrauchte, semantisch ausgebleichte Adjektive in adverbialen Wortverbindungen von anderen Nomen und Nominalisierungen zu unterscheiden. Er schlägt daher als Alternative zum neuen Regelwerk vor, diese Formen wieder kleinzuschreiben (im voraus, des langen und breiten). Bei Gallmann (1997: 232) wird das semantische Kriterium das „ wortsemantische Konzept “ genannt und ebenso wie bei Ewald/ Nerius (1997) auf das Merkmal der Gegenständlichkeit eingeschränkt; diese Einschränkung erfolgt, um genau die bei Munske genannten Fallgruppen aus der alten Rechtschreibung zu beschreiben. Im Orthographie-Unterricht auf der Unterstufe erscheint dieses Kriterium auf die Faustregel heruntergebrochen: „ Was man anfassen kann, schreibt man groß “ (Gallmann 1997: 233). Gallmann billigt aber dem semantischen Kriterium in seiner eingeschränkten Form nur „ unterstützende Wirkung “ zu (Gallmann 1997: 232), aber keine weitere Funktion bei der Rekonstruktion der Groß- und Kleinschreibung oder deren Kodifizierung im Regelwerk. Wenn das semantische Kriterium allerdings nicht nur auf Gegenständlichkeit eingeschränkt wird, kann es dafür eingesetzt werden, die prototypischen Fälle der Konkreta von den semantisch weniger prototypischen Fällen der Abstrakta zu trennen. Diese Unterscheidung kann didaktisch fruchtbar gemacht werden, indem im Orthographie-Erwerb zuerst mit den prototypischen Fällen begonnen wird, um dann später weniger prototypische Fälle zu behandeln. Es kann also gesagt werden, dass das semantische Kriterium sich als nur eingeschränkt nützlich erweist und seine Operationalisierung nur bei Konkreta befriedigend gelingt. Streng genommen sind aber auch das morphosyntaktische und das lexikalische Kriterium nur Indizien für das erst genannte syntaktische Kriterium, da sie sich aus dieser zentralen Eigenschaft von Nomen und Nominalphrasen ableiten. Aus einer sprachwissenschaftlichen deskriptiven Perspektive ist es folglich unbefriedigend, wenn morphosyntaktische Merkmale sowie Attribuierungs- und Ersatzproben zur Beschreibung der Großschreibung herangezogen werden. Allerdings handelt es sich bei ihnen wie beim semantischen Kriterium um nützliche Operationalisierungen, die im Regelwerk zur besseren Verständlichkeit eingesetzt werden können oder sich als didaktische Verfahren für den Rechtschreibunterricht eignen, vgl. dazu auch Augst (1997) und (Zabel 1992). Syntaktische Wörter, für die alle der oben genannten Kriterien zutreffen, sind prototypische Nomen, deren Schreibung problemlos für die Rechtschreibung zu regeln sowie für die meisten Schreiber problemlos anzuwenden ist. Je weniger Kriterien aber zutreffen, desto schwieriger wird die 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 117 <?page no="128"?> Zuordnung, es handelt sich dann um schwierige und/ oder periphere Fälle der Wortkategorie Nomen bzw. der Nomengroßschreibung. Für die vorliegende Untersuchung wurden Varianten aus den Bereichen Desubstantivierung (Regelwerk 2006: § 56) sowie Substantivierung (Regelwerk 2006: § 58) ausgewählt, vgl. die Zusammenstellung in Tab. 4, die wiederum zusammen mit der jeweiligen Form die Schreibung nach der alten und der reformierten Rechtschreibung sowie die Empfehlungen der Wörterbücher auflistet. Im Bereich der Desubstantivierung gibt es im Regelwerk 2006 nur eine Variante, die dem Paragraphen § 56 untergeordnet ist, der besagt (Regelwerk 2006): Klein schreibt man Wörter, die formgleich als Substantive vorkommen, aber selbst keine substantivischen Merkmale aufweisen. Damit sind diejenigen syntaktischen Wörter gemeint, die auf ein nominales Lexem zurückgeführt werden können, aber nicht als Kopf einer Nominalphrase auftreten und keine nominalen morphosyntaktischen Merkmale tragen wie z. B.: leid sein, freund sein; kraft (seines Amtes), ein bisschen. Solche peripheren Bereiche der Nomen entstehen durch die Sprachwandelphänomene der Grammatikalisierung oder Idiomatisierung (Munske 1997). Die einzige Variantenschreibung in diesem Bereich ist in der Ausnahme E2 festgelegt: recht/ Recht bzw. unrecht/ Unrecht behalten, bekommen, geben, haben, tun. Auch bei dieser Form könnte man nach einem lexikalischen Kriterium davon ausgehen, dass ein Nomen vorliegt, das zum Paradigma das Recht gehört. Allerdings ist es semantisch nicht identisch und der Satzglied-Status unklar. Wird recht/ Recht als Akkusativobjekt betrachtet, was Nominalität implizieren würde, dann müsste es gemäß dem syntaktischen Kriterium artikel- oder attributfähig sein - die Setzung eines Artikels oder Attributs verändert allerdings den Sinn der Konstruktion: ein recht/ Recht behalten, bekommen, geben, haben bezieht sich auf ein Recht im juristischen Sinne o. Ä. Demgegenüber lässt es sich mit dem Adverb sehr erweitern, was auf ein Adjektiv hindeutet: sehr recht/ Recht geben, haben, wobei die Erweiterung für die Verben behalten und bekommen semantisch fragwürdig ist. Der Bestimmung als Adjektiv widerspricht allerdings die Tatsache, dass die Verben behalten, bekommen, geben und haben zweiwertig sind und ein Akkusativobjekt verlangen. Der Wortkategorie-Status von recht/ Recht ist also unklar und somit die Wahl der Groß- oder Kleinschreibung frei gegeben. Die restlichen sechs Varianten betreffen Ausnahme- und Spezialfälle im Bereich der Substantivierung von Adjektiven, Partizipien und Pronomen, sie wurden aus dem § 58 entnommen, dessen Hauptregel lautet (Regelwerk 2006: § 58): In folgenden Fällen schreibt man Adjektive, Partizipien und Pronomen klein, obwohl sie formale Merkmale der Substantivierung aufweisen. 118 4 Untersuchungsanlage <?page no="129"?> Damit sind also syntaktische Wörter gemeint, die als Kopf einer Nominaphrase auftreten und daher morphosyntaktisch nominale Merkmale tragen können, die aber nicht auf ein lexikalisches Nomen, sondern auf eine andere Wortkategorie zurückzuführen sind. Dazu gehören Fälle wie Superlative mit am, die mit Wie? erfragt werden können: Dieser Weg ist am steilsten. Analog zu diesem Muster können auch feste adverbiale Verbindungen mit aufs kleingeschrieben werden (aufs genaueste/ Genaueste), die sonst gemäß § 57 (1), in dem die Substantivierung geregelt werden, großgeschrieben würden, da sie syntaktische und morphosyntaktische Merkmale der Nominalisierung aufweisen, d. h. Flexionssuffixe sowie Artikelfähigkeit, wobei die Attributfähigkeit eher fraglich erscheint. Zwei weitere Varianten wurden dem Paragraphen § 58 3.2 entnommen, der besagt, dass bestimmte feste Verbindungen aus Präposition und dekliniertem Adjektiv ohne vorangehenden Artikel kleingeschrieben werden, aber auch großgeschrieben werden können, z. B. von neuem/ Neuem, von weitem/ Weitem. Es wurden daraus die Varianten auf weiteres/ Weiteres und seit längerem/ Längerem gewählt. Nominale Merkmale sind in diesen Verbindungen die Flexionsendungen, womit das morphosyntaktische Kriterium erfüllt wäre, nicht-nominale Merkmale die mangelnde Artikel- oder Attributfähigkeit, womit das syntaktische Kriterium nicht erfüllt wird. Pronomen werden prinzipiell kleingeschrieben, auch wenn sie morphosyntaktische Merkmale der Nominalisierung aufweisen und als Stellvertreter für Nomen, d. h. Objekte, fungieren (Regelwerk 2006: § 58 (4)). In der Ausnahme E3 wird jedoch sowohl Großwie auch Kleinschreibung zugelassen, wenn die Pronomen mit einem Artikel verbunden werden, somit wirkt hier das syntaktische Kriterium. Aus diesen Fällen wurde die Variante das seine/ das Seine ausgewählt. Ebenfalls prinzipiell kleingeschrieben werden unbestimmte Zahladjektive, auch wenn sie Flexionssuffixe aufweisen, die auf Nominalisierung hindeuten würden, z. B. wie viel, wenig, (der, die, das) andere (Regelwerk 2006: § 58 (5)). In der Ausnahme E4 wird jedoch festgehalten, dass es dem Schreibenden überlassen ist, ob er das verwendete Zahladjektiv als nominalisiert betrachten möchte oder nicht. Aus diesen Fällen wurde die Schreibung etwas anderes/ Anderes ausgewählt. 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 119 <?page no="130"?> Tab. 4: Untersuchte Varianten im Bereich der Groß-/ Kleinschreibung. R2006 = Regelwerk 2006; R1996 = Reformierte Schreibung im Regelwerk 1996; AR = Alte Rechtschreibung; Duden = Variantenempfehlung Duden (2006); Wahrig = Variantenempfehlung Wahrig Hausorthographie (2006 b); NA = Empfehlung der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen (2007); GS = Großschreibung, KS = Kleinschreibung; K = Korpusrecherche; E = Experiment; A = Abfrage. R2006 R1996 AR Duden Wahrig NA Instr § 56 E2 recht/ Recht geben GS KS KS GS KS K/ A § 58 (2) E 1 & § 57 (1) aufs genaueste/ aufs Genaueste KS/ GS KS GS GS GS K/ E § 58 3.2 auf weiteres/ Weiteres KS KS GS KS k. A. K/ A § 58 3.2 seit längerem/ seit Längerem KS KS GS KS KS K/ E § 58 (4) E3 das seine/ Seine GS/ KS GS GS GS GS K/ A § 58 (5) E4 etwas anderes/ Anderes KS/ GS KS KS KS KS K/ A § 58 (6) E5 mehrere tausend/ Tausend KS/ GS KS GS GS k. A. K/ E Die letzte Variante aus dem Bereich der Groß-/ Kleinschreibung betrifft die Kardinalzahlen, die ebenfalls prinzipiell kleingeschrieben werden (Regelwerk 2006: § 58 (6)). Allerdings wird auch hier in der Ausnahme E5 die Großschreibung zugelassen, wenn die Kardinalzahl eine unbestimmte Menge bezeichnet, da sie dann als Zahlsubstantive gelten, die gemäß § 55 (5) großgeschrieben werden. Aus diesen Fällen wurde das Beispiel mehrere tausend/ Tausend ausgewählt. 4.1.3 Zusammen- und Getrenntschreibung Bei der Zusammen- und Getrenntschreibung geht es allgemein um die Entscheidung, ob es sich bei einer Wortverbindung wie z. B. das schnelle Boot oder das SCHNELL-BOOT oder bei den orthographischen Varianten kennen lernen/ kennenlernen oder aufgrund/ auf Grund um ein Syntagma, d. h. um eine Wortgruppe, oder um ein einzelnes Wort handelt, vgl. dazu die Einleitung in den Bereich im Regelwerk (2006: 35). Die Unterscheidung zwischen Wort und Syntagma ergibt sich im Prinzip daraus, nach welchen Kriterien das 120 4 Untersuchungsanlage <?page no="131"?> Konzept Wort bestimmt wird. Wenn bei einer Wortverbindung ein einzelnes Lexem vorliegt, dann müsste sich diese Wortverbindung als Ganzes gemäß den Kriterien verhalten, die für die Bestimmung eines Wortes aufgestellt werden sowie diejenigen Flexionseigenschaften aufweisen, die zu der jeweiligen Wortkategorie gehören. Falls es sich bei einer fraglichen Wortverbindung um ein Syntagma handelt, dann müssten sich die einzelnen Glieder der Verbindung gemäß den Kriterien verhalten, die für die Bestimmung eines Wortes aufgestellt werden und alle Glieder müssten sich in Bezug auf die Flexionseigenschaften gemäß der ihnen zugewiesenen Wortkategorie verhalten. Allerdings ist schon der Wortbegriff per se alles andere als unproblematisch. Grundsätzlich muss zwischen einem lexikalischen und syntaktischen Wort unterschieden werden, vgl. Eisenberg (2006: 15/ 16) und Duden (2009: 130): Das lexikalische Wort (Lexem) bezeichnet eine Wortschatzeinheit wie etwa einen Eintrag in einem Wörterbuch (Lemma) oder als kognitive Größe einen Eintrag im mentalen Lexikon (z. B. tanzen); das syntaktische Wort ist demgegenüber diejenige Wortform, die im Satz erscheint und mit Mitteln der Flexion in die syntaktische Struktur eingepasst wird (z. B. tanze, tanzst, tanzten, getanzt). Ein Lexem vereinigt die verschiedenen Wortformen zu einem Wortparadigma (Eisenberg 2006: 16). Die Unterscheidung zwischen lexikalischem und syntaktischem Wort ist für Probleme der Zusammen- und Getrenntschreibung nicht unerheblich, da je nach Argumentation auf das Lexem oder auf die Wortform referiert wird. Was ein lexikalisches und/ oder ein syntaktisches Wort ist, kann mit ganz unterschiedlichen, aber nicht gleichermaßen überzeugenden Kriterien bestimmt werden: graphematisch, phonologisch, semantisch, morphosyntaktisch, vgl. Wurzel (2000), Gallmann nennt noch das lexikalisch-paradigmatische Kriterium (Gallmann 1999: 271). 51 Es ist gerade eine der Schwierigkeiten der alten Rechtschreibung, aber auch teils der revidierten Fassung der Reform sowie der begleitenden theoretischen Diskussion, dass je nach Art der Wortgruppe verschiedene Kriterien herangezogen werden. Im Folgenden werden diese Kriterien der Wortbestimmung kurz vorgestellt und anschließend in Bezug zu den für diese Untersuchung ausgewählten Formen gesetzt (für eine ausführlichere Übersicht und kritische Diskussion der verschiedenen Ansätze vgl. ebd. sowie Fuhrhop (2007). Das graphematische Kriterium geht davon aus, dass alles, was zwischen zwei Spatien steht, ein Wort bildet. Es liegt auf der Hand, dass für eine Diskussion von Zusammen- und Getrenntschreibung diese Wortkonzeption 51 Dass diese Kriterien einander im Schreiben ergänzen und stützen können, zeigt die Arbeit von Bredel zur historischen Herausbildung des syntaktischen Prinzips in der Zusammen-/ Getrenntschreibung sowie zu den Erwerbsmechanismen im Zuge des Schrifspracherwerbs. Sie kann aufzeigen, dass der Erwerb der Zusammen- und Getrenntschreibung vom prosodischen über das morphologische und lexikalische Bootstrapping zum syntaktischen Prinzip führt (Bredel 2006: 149). 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 121 <?page no="132"?> wenig fruchtbar ist, da gerade die Frage nach den Wortgrenzen vorgängig zur Festlegung der Schreibung zu klären ist, vgl. dazu auch Maas (1994: 130). Phonologische Kriterien beziehen sich auf den Wortakzent oder die Pausierung - Kriterien, die für die Abgrenzung von zweigliedrigen Komposita gegenüber Verbindungen von attributivem Adjektiv und Nomen in der Regel problemlos funktionieren (vgl. das Beispiel oben das schnelle ˈ Boot versus das ˈ Schnellboot), aber innerhalb anderer syntaktischen Konstruktionen nicht immer gleichermaßen deutlich zu hören ist; Wurzel nennt hier als Beispiel die abgeschwächte Betonung von Pronomina in Phrasen wie ˈ ritt er versus Komposita wie ˈ Ritter (Wurzel 2000: 31; Gallmann 1999: 275) das dreigliedrige Kompositum Siebenmeilenstiefel gegenüber der Phrase sieben Meilen weit - in keinem der beiden Beispielen markiert die Phrasierung einen Unterschied zwischen Syntagma und Wort. Pausengliederung, so auch Maas (1994: 131), kann nach Gruppen von mehreren Wörtern erfolgen oder innerhalb eines Wortes auftreten; allerdings können Spatien anzeigen, wo allenfalls eine Pause gemacht werden könne. Des Weiteren ergeben sich sowohl bei einer graphematischen als auch bei einer phonologischen Wortbestimmung erhebliche Schwierigkeiten bei den Partikelverben wie einsehen oder zusammenfalten, die in Formen wie (8) und (9) zusammengeschrieben oder gesprochen werden, also sowohl lexikalisch wie auch graphematisch und phonologisch ein Wort sind, aber eben auch getrennt geschrieben oder gesprochen werden können, wie in (10) und (11), wo dann gefragt werden müsste, ob es sich hier, da phonologisch und graphematisch getrennte Formen vorliegen, ebenfalls um zwei syntaktische Wörter handelt. (8) Er muss seinen Fehler einsehen. (9) Sie haben die Blätter zusammengefaltet. (10) Er sah seinen Fehler ein. (11) Sie falteten die Blätter zusammen. Das phonologische Kriterium wird im Regelwerk (2006: § 33) etwa zur Bestimmung von Präfixverben, d. h. untrennbaren Verbindungen von Präposition + Verb oder Adverb + Verb wie durchbrechen oder unterstellen herangezogen, bei denen die Betonung auf dem zweiten Glied liegt. Das semantische Kriterium bezieht sich darauf, dass das Wort als eine in sich abgeschlossene Bedeutungseinheit aufgefasst wird, d. h. eine in sich abgeschlossene Bezeichnung oder Referenz auf eine außersprachliche Größe vorliegt. Dieses Kriterium führt jedoch zu Abgrenzungsproblemen zur nächstkleineren Einheit, dem Morphem als kleinster bedeutungstragender Einheit, und zu größeren Einheiten wie den idiomatischen Wortverbindungen (Phraseologismen), deren Bedeutung sich nicht aus der Summe der Bedeutungen der einzelnen Wörter ergibt, sondern nur durch die Lesart der Wortverbindung als Gesamtes (Burger 2010: 30). Als Beispiel sei hier der Phraseologismus jmdn. übers Ohr hauen angeführt, dessen Bedeutung ‚ jmdn. 122 4 Untersuchungsanlage <?page no="133"?> betrügen ‘ durch die Kombination aller Bestandteile ausgedrückt wird, obwohl natürlich hier niemand ernsthaft davon ausgehen würde, dass es sich dabei um ein einzelnes Wort handelt. Des Weiteren können gerade Komposita aus mehrteiligen Wortkonzepten aufgebaut sein. Genau das Kriterium der semantischen Unterscheidbarkeit wird teilweise aber auch in den orthographischen Regelungen herangezogen, um über die Getrenntbzw. die Zusammenschreibung eine Bedeutungsdifferenzierung zwischen wortwörtlicher und idiomatischer Leseart auszudrücken. In der alten Rechtschreibung war etwa in diesen Fällen die Rede davon, dass „ ein neuer Begriff “ entsteht, der mittels Zusammenschreibung als solcher markiert werden sollte, z. B. bei Verb-Verb-Verbindungen in Fällen wie sitzen bleiben ( ‚ sich nicht wegbewegen ‘ ) versus sitzenbleiben ( ‚ nicht versetzt werden ‘ ) (Duden 1991: 62/ R205). Aber auch in der Revision der Reform von 2006 gibt es noch einzelne solcher Paragraphen, z. B. § 34 2.2 für Fälle wie krank schreiben/ krankschreiben oder schwer fallen/ schwerfallen. Morphosyntaktische Kriterien umfassen verschiedene Aspekte, davon werden hier nur diejenigen Kriterien aufgelistet, die von Maas (1992), Gallmann (1999), Wurzel (2000), Fuhrhop (2007) aufgenommen und/ oder entwickelt wurden 52 , oder auf die in der vorliegenden Erhebung von den Probanden und Probandinnen direkt oder indirekt Bezug genommen wird: Das Wortbildungskriterium - bei Fuhrhop (2007) das „ morphologische Prinzip “ - besagt, dass „ Verbindungen aus zwei oder mehr Stämmen [. . .] zusammengeschrieben [werden], wenn sie aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind “ (Fuhrhop 2007: 167). Problematisch an diesem Kriterium ist, dass damit das Problem auf die Ebene der Wortbildung verlagert wird, auf der wiederum genauer präzisiert werden muss, wann denn überhaupt eine Wortbildung vorliegt oder nicht; dies ist insbesondere bei Sprachwandelphänomenen, die beispielsweise Varianten wie auf Grund/ aufgrund betreffen, nicht ganz einfach zu bestimmen. Kriterium der Nichtunterbrechbarkeit: „ Echte morphologische Wörter haben die Eigenschaft, dass sie nicht durch lexikalisches Material unterbrechbar sind; typische Phrasen haben diese Eigenschaften nicht. “ (Wurzel 2000: 39) Diese Bestimmung ist eine Weiterentwicklung von Bloomfield (1933: 180), der hier aber lediglich, und wie Wurzel (2000: 34 f.) anmerkt, zu wenig präzise von anderen Formen spricht, da dies streng genommen Flexionsmorpheme wie geeinschließen würde, so dass Formen wie im obigen Beispiel (9) somit als unterbrechbar und fälschlicherweise als zwei Wörter klassifiziert würden (Wurzel 2000: 34 f.). Eingrenzung auf „ lexikalisches Material “ schließt solche 52 Entgegen der vereinzelten Argumentationen in den genannten Werken, wird hier davon ausgegangen, dass der Wortbegriff aufgrund der höchst unterschiedlichen morphosyntaktischen Systemen verschiedener, insbesondere außereuropäischer Sprachen nur in Bezug auf eine Einzelsprache bzw. auf eine einzelnen Sprachgruppe oder einen Sprachtyp befriedigend zu klären ist. 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 123 <?page no="134"?> Fälle aus, greift allerdings bei mehrgliedrigen Komposita des Typs Bundesverfassungs-gericht nicht, wie er selbst kritisch anmerkt (Wurzel 2000: 34). Kriterium der einheitlichen Flexion: „ Echte morphologische Wörter, die flektierbar sind, haben die Eigenschaft, dass sie über eine einheitliche Flexion verfügen; typische Phrasen haben diese Eigenschaft nicht. “ (Wurzel 2000: 39) So lässt sich etwa die Wortverbindung maßregeln nur nach dem verbalen Paradigma flektieren (ich maßregle, du maßregelst, er/ sie/ es maßregelt. . .; ich maßregelte, du maßregeltest. . .), womit ihr gemäß diesem Kriterium eindeutig Lexemstatus zugewiesen wird. Dieses Kriterium entspricht in etwa Gallmanns Wortkonzept als „ lexikalisch-paradigmatische Einheit “ (Gallmann 1999: 277). Das syntaktische Kriterium besagt, dass „ [m]orphologische Wörter [. . .] grammatische Einheiten [sind], die auch syntaktisch Wortstatus haben. “ , d. h. Konstituenten auf der Ebene X 0 darstellen . (Wurzel 2000: 39). An diesem Kriterium gibt es gemäß Fuhrhop (2007: 12) zu kritisieren, dass nicht klar ist, wie dieser syntaktische Wortstatus zu bestimmen ist. Sie selbst geht davon aus, dass es sich dabei um syntaktisch analysierbare Einheiten handelt, die „ in syntaktischer Relation zu anderen Einheiten in einem Satz stehen “ (Fuhrhop 2007: 167). Gallmann präzisiert diese Vorstellung, indem er syntaktische Wörter als diejenigen Einheiten im Satz definiert (Phrasenkerne), die zu einer Phrase XP projiziert werden können oder eine syntaktische Position besetzen, die nicht projiziert, ein sogenanntes Kopfadjunkt 53 wie das Element Blau im Syntagma die Farbe Blau (Gallmann 1999: 272 ff.). Es ist Fuhrhop (2007: 6 f.) sicher zuzustimmen, dass der Wortstatus mittels eines prototypen-theoretischen Ansatzes zu fassen ist, auch wenn hier im Gegensatz zu Fuhrhop, die nur ein morphologisches und syntaktisches Prinzip annimmt, von mehreren Kriterien ausgegangen wird. Die drei Kriterien der Ununterbrechbarkeit, der einheitlichen Flexion sowie des syntaktischen Status erlauben es etwa Wurzel (2000: 40 f.) zu einem abgestuften Wortbzw. Phrasenbegriff zu kommen: Echte morphologische Wörter > morphologische Semiwörter > Phrasen mit partiellen Worteigenschaften > typische Phrase Echte morphologische Wörter erfüllen die Kriterien der Nichtunterbrechbarkeit und der einheitlichen Flexion und haben in der Folge auch eindeutig syntaktischen Wortstatus; Wurzel nennt hier als Beispiele Mittwoch oder radfahren (in Kontaktstellung). Morphologische Semiwörter erfüllen demgegenüber lediglich das Kriterium der einheitlichen Flexion und eines der beiden anderen Kriterien, z. B.: Sie fahren oft Rad (Distanzstellung von radfahren) erfüllt das Kriterium der Nichtunterbrechbarkeit nicht, ebenso das Komposita wie im obigen Beispiel Bundes-verfassungs-gericht; allerdings erfüllen auch gewisse Syntagmen wie saure Gurke das Kriterium der Nicht- 53 Vgl. zu einer Kritik am Begriff des Kopfadjunkts (Bredel/ Günther 2000). 124 4 Untersuchungsanlage <?page no="135"?> unterbrechbarkeit, deswegen werden sie zu den Phrasen mit partiellen Worteigenschaften gezählt. Einen anderen Zugang zur Größe Wort wählt Maas (1994: 133), indem er die Wortgrenzen mit den drei Operationen Einschub (Erweiterbarkeit), Substitution (Ersetzbarkeit) und Permutation (Umstellbarkeit) ermittelt. Ein Einschub ist eine Ergänzung mit lexikalischem Material auf der syntagmatischen Achse, vgl. Beispiel (12) nach Maas (1994: 133). Eine Substitution erfolgt auf der paradigmatischen Achse, indem ein Elemente durch ein anderes lexikalische Element ersetzt wird, vgl. Beispiel (13) (ebd.). Permutation ist eine Umstellung auf der syntagmatischen Ebene und lässt sich in Beispiel (14) (ebd.) illustrieren. Allerdings ist die Umstellbarkeit ein heikles Kriterium, lassen sich doch Syntagmen wie das haus oder das große Haus beispielsweise nicht isoliert permutieren, dafür die Glieder von trennbaren Verben schon. Aus diesen Operationen lässt sich nun gemäß Maas schließen, dass Wortgrenzen als „ syntaktische Sollbruchstellen “ fungieren, an denen in der Produktion der Äußerungen Revisionsmöglichkeiten bestehen (Maas 1994: 133) - damit verortet Maas den Wortbegriff im Sprachproduktionsprozess und definiert Wort als „ kleinste freie (freibewegliche), insofern isolierbare interpretierbare Einheit einer Äußerung “ (Maas 1994: 134). (12) Das Haus ist rot. Das große Haus dahinten ist sehr rot. (13) Das Haus ist rot. Ein Auto war blau. (14) Das Haus ist rot. Rot ist das Haus. In der Tab. 5 werden die Kriterien zusammengefasst, die in den verschiedenen Konzepten zur Bestimmung eines syntaktischen Wortes herangezogen werden. Sie sollen anschließend an den problematischen Fällen durchgespielt werden. Die Probleme bei der Zusammen- und Getrenntschreibung tauchen in jenen Fällen auf, in welchen die Kriterien nicht zu eindeutigen Analysen bzw. zu unterschiedlichen Lösungen führen; dies ist in den peripheren Bereichen der Zusammen-/ Getrenntschreibung der Fall. Es betrifft erstens die im Deutschen beobachtbaren Univerbierungs- und Inkorporierungstendenzen, d. h. Sprachwandelphänomene, bei denen sich Syntagmen zu neuen Lexemen verfestigen; zweitens die Rückbildungen (Fuhrhop 2007: 158); beide gehören zu Gallmanns sachbedingter Varianz. Drittens gibt es unterschiedliche syntaktische Analysen, was zur konzeptionsbedingter Varianz führt (vgl. 3.4). Es wurden drei Falltypen aus diesem Problembereich ausgewählt: 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 125 <?page no="136"?> Tab. 5: Kriterien für die Bestimmung eines syntaktischen Wortes. Bereich Kriterium Graphematisch durch Spatien getrennt (Wurzel 2000) Phonologisch durch Phrasierung als Einheit markiert (Wurzel 2000) Semantisch bezeichnen semantische Einheit (Wurzel 2000) Morphologisch ● durch Wortbildung entstanden (Fuhrhop 2007) ● Nichtunterbrechbarkeit durch lexikalisches Material (Wurzel 2000) ● einheitliche Flexion (Wurzel 2000) bzw. zu einem Flexionsparadigma gehörend (Gallmann 1999) Syntaktisch syntaktischer Wortstatus (Wurzel 2000) durch: ● syntaktische Relation zu anderen Einheiten im Satz (Fuhrhop 2007) ● durch die Möglichkeit der Projektion oder Adjungierung (Gallmann 1999) durch syntaktische Sollbruchstellen markiert (Maas 1994): ● Erweiterbarkeit (mit lexikalischem Material) ● Ersetzbarkeit (mit lexikalischem Material) ● Umstellbarkeit im Satz 1. Trennbare Verbindungen mit einem Verb als Zweitglied (Regelwerk 2006: § 34) Die Frage der Zusammen- oder Getrenntschreibung betrifft bei den trennbaren Verben nur die Kontaktstellung. d. h. den Infinitiv, das Partizip und die finite Form in Verbzweitstellung. In der alten Rechtschreibung wurde in diesen Fällen oft das Kriterium der übertragenen Bedeutung oder der Betonung als Entscheidungskriterium herangezogen. - Adjektiv-Verb-Verbindungen (Resultativa): Bei der ausgewählten Form kaputtmachen/ kaputtmachen lässt sich mit dem phonologischen und semantischen Kriterium keine eindeutige Entscheidung darüber treffen, ob es sich um ein Lexem oder zwei Lexeme handelt. Die morphologischen Kriterien jedoch werden erfüllt: Es handelt sich um ein Wortbildungsprodukt, es lässt sich nicht durch lexikalisches Wortmaterial unterbrechen, es lässt sich auf ein einheitliches verbales Flexionsparadigma zurückführen. Syntaktisch bleibt es jedoch unklar, ob es sich um ein Adverbiale (Möglichkeit der Projektion) oder um eine Verbpartikel (keine Möglichkeit der Projektion) handelt. Syntaktische Sollbruchstellen gemäß Maas sind in Bezug auf die Ersetzbarkeit (schön machen) sowie die Umstellbarkeit im Satz gegeben, die Erweiterbarkeit (sehr/ stark kaputt machen) ist möglich, erscheint jedoch beim Lexem sehr wenig idiomatisch. 126 4 Untersuchungsanlage <?page no="137"?> - Nomen-Verb-Verbindungen: Auch bei den ausgewählten Formen achtgeben/ Acht geben und haltmachen/ Halt machen vermag das phonologische Kriterium keinen Aufschluss über eine Zusammen- oder Getrenntschreibung zu geben. In Bezug auf die anderen Kriterien schreibt das Regelwerk (2006: § 34 3) vor, dass geprüft werden müsse, ob das Nomen die Eigenschaften selbständiger Nomen verloren habe, dazu gehören sicher morphologische und syntaktische Eigenschaften, ob es auch semantische Eigenschaften miteinschließt, bleibt unklar. In Bezug auf die morphologischen Kriterien lässt sich wiederum sagen, dass die Formen durch Wortbildung entstanden sind, nicht durch lexikalisches Material unterbrochen werden können und auf ein einheitliches verbales Flexionsparadigma zurückgeführt werden können - dies sind alles Indizien dafür, dass eine Inkorporation vorliegt. Syntaktisch gesehen ist jedoch gerade die Frage nach der Projektionsmöglichkeit und den Sollbruchstellen unklar, lassen sich doch die Bestandteile ACHT und HALT nicht mit Attributen oder einem Artikel erweitern (*die Acht/ *die große Acht geben/ ? viel Acht geben), jedoch im Satz umstellen und auch mit lexikalischem Material so ersetzen, dass die Ersatzkonstruktion an dieser Position projektsfähige syntaktische Wörter vorsieht (viele, gute Hinweise/ einen Apfel geben). - Verb-Verb-Verbindungen: Aus dieser Gruppe wurde die Wortverbindung kennenlernen/ kennen lernen ausgewählt. Auch hier kann wiederum das phonologische Kriterium wenig Aufschluss geben, das semantische hingegen schon: Werden KENNEN und LERNEN als zwei Lexeme interpretiert, dann sollte aus diesen beiden Bestandteilen keine eigene, neue Bedeutung entstehen wie etwa bei tanzen lernen oder stricken lernen. Das ist hier jedoch nicht der Fall, die Wortverbindungen ist eine eigenständige semantische Einheit, was auf eine Inkorporation hindeutet. Bei den morphologischen Kriterien kann wieder davon ausgegangen werden, dass es sich um ein Wortbildungsprodukt handelt, dass die beiden Teile nicht durch lexikalisches Material unterbrochen werden dürfen und die Verbindung auf ein einheitliches verbales Flexionsparadigma zurückgeführt werden kann, da nur das zweite Glied LERNEN konjugiert wird. In Bezug auf die syntaktischen Kriterien zeigt sich, dass sich nur LERNEN in einer syntaktischen Relation zu anderen Einheiten im Satz befindet, da es projizieren kann, der Bestandteil KENNEN jedoch nicht, was auch daran ersichtlich ist, dass er in dieser Konstruktion nicht flektiert werden kann. Des Weiteren kann KENNEN in dieser Konstruktion nicht erweitert werden, aber ersetzt (singen lernen) und wie alle trennbaren Verben umgestellt werden. 2. Adjektiv-Adjektiv/ Partizip-Verbindungen (Regelwerk 2006: § 36) Aus diesem Regelbereich wurden die Varianten weitverbreitet/ weit verbreitet sowie schwerverständlich/ schwer verständlich gewählt. Phonologisch gesehen 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 127 <?page no="138"?> sind hier beide Aussprachevarianten möglich: Betonung auf dem ersten Glied oder auf beiden Gliedern, wiederum kein schlüssiges Kriterium für die Festlegung der Zusammen- oder Getrenntschreibung. Semantisch gesehen handelt es sich beim ersten Glied um einen graduierenden Bestandteil, es lässt sich aber nicht ablesen, ob daraus auf eine semantisch Einheit zu schließen ist, da auch ein Attribut graduierende Bedeutung haben kann. Im morphologischer Hinsicht lässt sich sagen, dass es das Produkt eines Wortbildungsprozesses sein könnte (aber nicht unbedingt sein muss), dass die Wortverbindung nicht durch lexikalisches Material unterbrochen werden darf, sich aber nicht einem einheitlich Flexionsparadigma zuordnen lässt, da bei der Komparation sowohl das Erstwie auch das Zweitglied flektiert werden kann: ein schwerer verständlicher Text, der am schwersten verständliche Text, ein schwerverständlicherer Text, der schwerverständlichste Text. In Bezug auf die syntaktischen Kriterien kann das erste Glied SCHWER bzw. WEIT nicht frei im Satz bewegt werden, allerdings ist es erweiterbar (ein sehr schwer verständlicher Text). Es gibt also sowohl im morphologischer wie auch syntaktischer Hinsicht Indizien für beide Schreibweisen, daher sind beide zugelassen. 3. Mehrteilige Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen (Regelwerk 2006: § 39) Aus diesem Paragraphen wurden zwei Wortverbindungen mit adverbialer Funktion (außerstande/ außer Stande, infrage/ in Frage), zwei Präpositionen (aufgrund/ auf Grund, zugunsten/ zu Gunsten) und die einzige Konjuktion, die als orthographische Variante im Regelwerk (2006) aufgeführt ist (so dass/ sodass), ausgewählt. Es handelt sich gemäß Gallmann (2004: 38) um sachbedingte Varianz, da es um Sprachwandelprozesse geht. Auch bei diesen Fällen kann aufgrund phonologischer Kriterien nicht entschieden werden, ob es sich um ein oder zwei syntaktische Wörter handelt. Semantisch gesehen kann jedoch festgestellt werden, dass die Bedeutung der Nomen (Stande, Frage, Grund, Gunsten) ausgebleicht ist und in der Verbindung des Nomens mit der Präposition eine neue Bedeutung entsteht, die grammatischer und nicht mehr lexikalischer Art ist. Bei der Konjunktion sodass/ so dass ist dieser Prozess weniger ausgeprägt, da SO semantisch gesehen schon ausgebleicht ist. In Bezug auf die morphologischen Kriterien lässt sich sagen, dass diese Verbindungen sehr fest sind und nicht durch lexikalisches Material unterbrochen werden dürfen und dass sie als Verbindung unflektierbar sind, obwohl bei den Wortverbindungen mit adverbialer Funktion und bei den Präpositionen ein Nomen zur Wortverbindung zählt, das jedoch für sich genommen nicht flektiert werden darf. Dies wären Indizien für eine Univerbierung und daher für die Zusammenschreibung. Dem steht allerdings entgegen, dass es unklar ist, wie weit der Univerbierungsprozess schon fortgeschritten ist, d. h. ob schon ein Wortbildungsprodukt oder eine fest Wortverbindung vorliegt. Auch die syntaktischen Kriterien, die eine 128 4 Untersuchungsanlage <?page no="139"?> Getrenntschreibung der syntaktischen Wörter anzeigen würden, werden nur teilweise erfüllt. So kann etwa zwischen den Gliedern kein weiteres lexikalisches Material eingefügt werden oder auch nicht im Satz umgestellt werden - dies spricht für eine Univerbierung. Die Frage aber, ob die beiden Glieder projizieren können oder ob sie sich in der vorliegenden Konstruktion ersetzen lassen können, lässt sich nicht so einfach beantworten. So sind etwa Ersetzungen bei auf Grund denkbar (auf der Basis, auf der Grundlage), allerdings scheint die Konstruktion semantisch und syntaktisch nicht äquivalent. Aus diesen Gründen wird hier die Schreibung freigegeben. Die Gründe für die Varianten in der Zusammen- und Getrenntschreibung liegen also in Faktoren des Sprachwandels sowie in definitorischen Unterschieden des Wortkonzepts. Eine Zusammenstellung der ausgewählten Varianten im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung sowie der vorgeschriebenen Schreibungen im alten und reformierten Regelwerk und der Empfehlungen der Wörterbuchredaktionen findet sich in Tab. 6. Tab. 6: Untersuchte Varianten im Bereich der Zusammen-/ Getrenntschreibung. R2006 = Regelwerk 2006; R1996 = Reformierte Schreibung im Regelwerk 1996; AR = Alte Rechtschreibung; Duden = Variantenempfehlung Duden (2006); Wahrig = Variantenempfehlung Wahrig Hausorthographie (2006 b); NA = Empfehlung der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen (2007); GetrS = Getrenntschreibung, ZS = Zusammenschreibung; K = Korpusrecherche, E = Experiment; A = Abfrage; mit * markierte Formen sind nicht direkt aufgeführt, lassen sich aber aufgrund der Richtlinien erschließen. R2006 R1996 AR Duden Wahrig NA Instr § 34 2.1 kaputtmachen/ kaputt machen *GetrS GetrS (wörtlich)/ ZS (übertragen) GetrS GetrS (wörtlich)/ ZS (übertragen) GetrS (wörtlich)/ ZS (übertragen) K/ A § 34 3 E6 achtgeben/ Acht geben GetrS ZS ZS ZS ZS K/ E § 34 3 E6 haltmachen/ Halt machen GetrS ZS ZS ZS ZS K/ E § 34 4 E7 kennenlernen/ kennen lernen GetrS ZS ZS ZS ZS K/ A § 34 E5 bekanntmachen/ bekannt machen GetrS ZS GetrS ZS ZS K/ E 4.1 Phänomenbereiche und Fallgruppen der untersuchten Varianten 129 <?page no="140"?> R2006 R1996 AR Duden Wahrig NA Instr § 36 2.1 weitverbreitet/ weit verbreitet ZS (attributiv)/ GetrS (prädikativ) ZS (attrib.)/ GetrS Betonungsprinzip (v. a. prädik.; erw. attrib.) ZS GetrS Getrs K/ E § 36 2.2 schwer verständlich/ schwerverständlich *GetrS ZS (attrib.)/ GetrS Betonungsprinzip (v. a. prädik.; erw. attrib.) GetrS GetrS k. A. K/ E § 39 E3 1 außerstande/ außer Stande ZS (= Hauptv.)/ GetrS ZS ZS ZS k. A. K/ E § 39 E3 1 infrage/ in Frage ZS (= Hauptv.)/ GetrS GetrS TS ZS ZS K/ A § 39 E3 2 so dass/ sodass ZS (= Hauptv.)/ GetrS GetrS ZS (österr.) ZS GetrS GetrS K/ E § 39 E3 3 aufgrund/ auf Grund ZS (= Hauptv.)/ GetrS GetrS (= Hauptv.)/ ZS ZS ZS ZS K/ E § 39 E3 3 zugunsten/ zu Gunsten ZS (= Hauptv.)/ GetrS ZS ZS ZS ZS K/ E 4.2 Gebrauchsfrequenzen im Vergleich verschiedener Korpora Im ersten Teil der Erhebung werden Gebrauchsfrequenzen der ausgewählten orthographischen Varianten aus verschiedenen Datenquellen zu verschiedenen Erhebungszeitpunkten kontrastiert. Die Gebrauchsfrequenzen werden einerseits mit den Methoden der Korpuslinguistik (Reppen/ Biber 2011), konkret mit einem korpus-basierten Verfahren (Tognini-Bonelli 2001: 65 - 83) 130 4 Untersuchungsanlage <?page no="141"?> erhoben, andererseits mit einem experimentellen Setting, einer Schreibaufgabe, sowie einer Abfrage von Präferenzen für vorgelegte Formen. Folgende Fragestellungen leiten diesen Teil der Untersuchung: 1. Präferenzen 1.1. Welche Form wird jeweils präferiert? 1.2. Gibt es innerhalb der Phänomenbereiche musterhafte Präferenzen? 1.2.1. Fremdwortschreibung: Ursprungsschreibung versus integrierte Schreibung? 1.2.2. Getrennt-/ Zusammenschreibung? 1.2.3. Groß-/ Kleinschreibung? 2. Unterscheiden sich die Präferenzen im Vergleich der verschiedenen Datenquellen? 3. Verändern sich die Präferenzen über die untersuchten Erhebungszeiträume hinweg? 4. An welchem Regelwerk (alte Rechtschreibung, reformierte Rechtschreibung, Wörterbuchempfehlungen) orientieren sich die Schreiber bei neuen Varianten? Die Daten umfassen zum einen folgende Korpora (vgl. auch Tab. 7): das öffentliche zugängliche Deutsche Referenzkorpus des Instituts für deutsche Sprache (DeReKo; COSMAS II), das vor allem das professionelle mediale Schreiben abbildet; das selbst zusammengestellte, opportunistische Korpus pressetext, das v. a. Pressemitteilungen von im deutschen Sprachraum operierenden Firmen sowie einige wenige von der Firma pressetext selbst redigierte Texte enthält und somit das professionelle bzw. das semi-professionelle Schreiben von Firmen abbildet. 54 Zum anderen wurden Gebrauchspräferenzen innerhalb der untersuchten Stichprobe erhoben. Einerseits mit einem Schreibexperiment in der Form einer Diktataufgabe, für eine detailliertere Darstellung des Schreibexperiments vgl. 4.3.1. Die Versuchspersonen wurden vorgängig nicht darüber informiert, dass das Forschungsinteresse bei einer orthographischen Fragestellung lag. Somit liegen Daten zu spontan produzierten Präferenzen vor bzw. dazu vor, was die Versuchspersonen in der aktuellen Schreibsituation für richtig und angemessen halten, was im Folgenden spontane Wahl genannt wird. 55 In einem zweiten Schritt, die Versuchspersonen waren nun über das Forschungsinteresse informiert, wurden ihnen Varianten zur Bewertung vorgelegt. Damit wurde erhoben, welche Formen die Probanden präferieren, 54 Die international tätige Nachrichtenagentur pressetext hat freundlicherweise erlaubt, die von ihnen distribuierten Meldungen für Recherchen zu benutzen (www.pressetext.ch). 55 Entgegen der ursprünglichen Erwartung haben nur zwei Probanden vermutet, dass es bei dieser Aufgabe um orthographische Fragestellungen ging, von daher kann davon ausgegangen werden, dass in dieser Aufgaben orthographische Probleme nicht übermäßig fokussiert wurden. 4.2 Gebrauchsfrequenzen im Vergleich verschiedener Korpora 131 <?page no="142"?> wenn sie auf orthographische Probleme fokussieren, im Folgenden wird dies die problemfokussierte Wahl genannt, vgl. für eine detailliertere Beschreibung dieses Vorgehens 4.3.2. Das Vorgehen mit der problemfokussierten Wahl hat den Vorteil, dass die Versuchspersonen nicht zu erraten versuchen, welches die normgerechte Schreibweise ist, sondern aufgrund individueller Präferenzen selbst eine Entscheidung treffen, da sie ja darüber informiert sind, dass bei der zu beurteilenden Form beide Schreibweisen als korrekt gelten, die sie nun nach individuellen Präferenzen bewerten können. Damit unterscheidet sich dieses Vorgehen vom Vorgehen des Rats für Rechtschreibung bei seiner Befragung von Schüler und Schülerinnen zu Rechtschreibpräferenzen am Ende der obligatorischen Schulzeit (Ossner 2011), da dort explizit dazu aufgefordert wurde, die richtige (! ) Lösung anzustreichen. Die Ergebnisse aus einer so gestellten Frage geben nur scheinbar Einsicht in wirkliche Präferenzen, sondern besagen schlicht und einfach nur, was die Schüler und Schülerinnen für der Norm entsprechend halten. Daher sind auch Aussagen wie die folgende zur Präferenz der Schüler und Schülerinnen bei der Zusammenschreibung kennenlernen/ kennen lernen heikel: „ Man kann sehen, dass die Schüler/ -innen der linguistischen Analyse folgen “ (Ossner 2011). Die Daten aus den Korpusrecherchen und der Erhebung bilden ein Kontinuum der literalen Praktiken ab, das vom hoch-regulierten medialen Schreiben (vgl. 2.2), das in Bezug auf Orthographie eng geregelt ist (vgl. 3.6.4), über sehr reguliertes in der Firmenkommunikation 56 bis hin zum individuellen Schreiben verschiedener Sprachbenützer aus verschiedenen Berufen mit unterschiedlichen Schreibbiographien und Einstellungen reicht. Für die korpuslinguistischen Recherchen wurden drei Zeitabschnitte gebildet: - t1 für die Zeit vor der Reform 1. 8. 1993 - 1. 8. 1995 - t2 für die Zeit nach der Reform 1996 1. 8. 2000 - 1. 8. 2002 - t3 für die Zeit nach der Revision der Reform 2006 1. 8. 2006 - 1. 8. 2008. 56 Es ist natürlich davon auszugehen, dass auch die PR- und Kommunikations-Abteilungen insbesondere der größeren, internationalen Konzerne Sprachregelungen haben, die jedoch eher Eigennamen der Firmen und ihrer Abteilungen, der Produktenamen sowie weiteres fachspezifisches Vokabular betreffen dürften; Bereiche also, die von den untersuchten Varianten nicht betroffen sind. In Bezug auf die Orthographie kann denn auch das vorliegende pressetext-Korpus zeigen, dass es sich hierbei um weniger eng geführte orthographische Gebrauchsweisen handelt, dies zeigt sich z. B. daran, dass es im Korpus einige Texte gibt, in denen bei den Varianten beide Schreibweisen erscheinen, was im medialen Schreiben spätestens beim Korrektorat berichtigt würde. So gibt es im DeReKo (COSMAS II) keinerlei solche Belege, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass der Textproduktion eine eigene Instanz des Korrektorats nachgeschaltet ist. 132 4 Untersuchungsanlage <?page no="143"?> Für t3 wird somit die sogenannte Übergangszeit erfasst, die am 1. 8. 2008 abgelaufen ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass in den linguistischen Korpora die Quellen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung eintreffen. Für das opportunistische pressetext-Korpus liegen für den Zeitraum t1 keine Daten vor. Die Erhebungen bei den Versuchspersonen erfolgten im Zeitraum 1. 8. 2008 - 1. 8. 2010. Im DeReKo (COSMAS II) wurden für die gewählten Erhebungsperioden virtuelle Korpora zusammengestellt. Es handelt sich um deutsche, österreichische und schweizerische Zeitungen (u. a. Mannheimer Morgen, die tageszeitung, das St. Galler Tagblatt, Salzburger Nachrichten), Zeitschriften (u. a. Spiegel oder Bordmagazin der Lufthansa) sowie einige wenige belletristische Werke und Sachbücher. Wie angegeben, wurde immer mit dem Stichtag 1.8. gearbeitet, wobei für die Belletristik und Sachbücher jeweils das ganze Jahr genommen wurde. Die genaue Zusammenstellung der Quellen kann dem Appendix A entnommen werden. Tab. 7: Zusammenstellung der Datenquellen für die Gebrauchsfrequenzen im Vergleich, Angaben zu den Erhebungsperioden, der Zusammensetzung der Korpora sowie Angaben zur Stichprobe. Dokumente in COSMAS II = die Quellen z. B. Mannheimer Morgen oder Hannoversche Allgemeine, wobei ein Dokument bei der Printpresse normalerweise einem einzelnen Monat, seltener einem ganzen Jahrgang, entspricht; Texte in COSMAS II = Einzeltexte, d. h. einzelne Ausgaben, beim pressetext-Korpus entspricht ein Text einer Meldung. Datenquelle Erhebungsperiode Anzahl Dokumente Anzahl Texte Anzahl token COSMAS t1 1. 8. 1993 - 1. 8. 1995 221 495'516 110'239'215 COSMAS t2 1. 8. 2000 - 1. 8. 2002 141 624'366 169'879'182 COSMAS t3 1. 8. 2006 - 1. 8. 2008* 378 2'622'608 584'220'949 pressetext t2 1. 8. 2000 - 1. 8. 2002 - 21'845 6'652'498 pressetext t3 1. 8. 2006 - 1. 8. 2008 - 19'343 9'188'285 Stichprobe (44 VPN): a) Experiment: spontane Wahl b) Befragung: problemfokussierte Wahl 1. 1. 2008 - 1. 8. 2010 - - - 4.2 Gebrauchsfrequenzen im Vergleich verschiedener Korpora 133 <?page no="144"?> Die konsultierten Korpora sind zwar von der Anzahl token her sehr groß, aber von der Zusammenstellung der Textsorten her nicht ausgewogen (Lemnitzer/ Zinsmeister 2006: 52 ff.). Auch die Stichprobe mit 44 Versuchspersonen ist nicht groß genug, um für sich genommen repräsentativ zu sein. Folglich vermag keine dieser Datenquellen alleine als repräsentativ gelten, sondern sie bilden jeweils nur ausgewählte Ausschnitte der sprachlichen Realität ab. Mit der Konstrastierung der verschiedenen Daten hingegen soll eine Annäherung an den Usus erreicht werden, die mit der Berücksichtigung nur einer einzigen Datenquellen schwer zu leisten wäre. Des Weiteren kann mit diesem Vorgehen punktuell überprüft werden, inwiefern die vom Rat für Deutsche Rechtschreibung vorgenommenen Recherchen in DeReKo (COSMAS II), im Duden- und Wahrig-Korpus, die alle vorwiegend Medientexte enthalten, verallgemeinerbare Aussagen zum Usus machen können, da doch das mediale Schreiben von allen Formen des beruflichen Schreibens das am engsten geregelte ist, vgl. auch zur Problematik des Vorgehens, den Usus in medienlastigen Korpora zu ermitteln, die Ausführung in Kapitel 3.6.7 sowie aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft Korpus des Rechtschreibrats Krome (2011: 49/ 50). 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation In diesem Teil der Untersuchung stehen die mentalen Repräsentationen des Individuums im Vordergrund (vgl. 2.4.3). Dies betrifft einerseits den Einfluss der orthographischen Varianten auf die orthographie-bezogenen kognitiven Prozesse im Schreibprozess und somit auf den Schreibfluss insgesamt. Damit soll das in Kapitel 3.5.1 vorgestellte Argument geprüft werden, wonach orthographische Varianten im Schreibprozess kognitive Ressourcen besetzen. Andererseits interessieren das Wahlverhalten und die Begründungsmuster bei der problemfokussierten Wahl, d. h. in denjenigen Fällen, in denen die Versuchspersonen darüber informiert sind, dass mit den zu beurteilenden Formen zwei zugelassene Schreibungen vorliegen und die Wahl im Grunde ohne weitere Berücksichtigung normativer Erwartungen vorgenommen werden kann. Methodisch wird dabei mit folgenden Erhebungsinstrumenten gearbeitet: computer-basierte Schreibprozess-Analyse eines Schreibexperiments (keystroke-logging), retrospektiven Verbalisierungen (Stimulated Recall), die Zugang zu kognitiven Prozessen verschaffen sollen, und der Befragung zu Variantenwahl und den Begründungen. Die Instrumente werden im Folgenden genauer vorgestellt. 134 4 Untersuchungsanlage <?page no="145"?> 4.3.1 Orthographische Varianten im Schreibprozess Als Argument gegen die Aufnahme von orthographischen Varianten im Regelwerk wird verschiedentlich angeführt, dass Varianten im Schreibprozess kognitive Ressourcen besetzen, da im Schreibprozess Entscheidungen getroffen werden müssen (vgl. 3.5.1). Dieses Argument soll mit Hilfe eines Schreibexperiments geprüft werden und in Bezug zu mentalen Repräsentationen, zu orthographie-bezogenen kognitiven Prozessen im Schreibprozess sowie zur Salienz der verschiedenen Phänomenbereiche der Orthographie gesetzt werden. Es wurde in Kapitel 2.4.2 darauf hingewiesen, dass es an Untersuchungen zur Rolle der Orthographie im Schreibprozess mangelt. Einzig das Abrufen von Wortschreibungen wurde untersucht und festgestellt, dass dabei zwei Wege eingeschlagen werden können: der lexikalische als Abrufen ganzer Schreibschemata oder der sublexikalische als Erzeugung von Schreibungen mit der Anwendung von Phonem-Graphem-Korrespondenz-Regeln und anderer Regularitäten. Weitergehend fehlt eine umfassende Modellierung der orthographie-bezogenen Prozesse im Schreibprozess, die als Grundlage für die Untersuchung der Varianten herangezogen werden könnte. Die Untersuchung basiert daher auf folgenden Ausgangsüberlegungen, basierend auf den wenigen Erkenntnissen, die in Kapitel 2.4 vorgestellt wurden: Rechtschreiben bei Erwachsenen ohne diagnostizierte Schreib- oder Rechtschreibprobleme heißt im Grunde, zwischen möglichen Formen auszuwählen. Im besten Fall geschieht dies automatisiert mittels Prozeduren, die auf probabilistischen Annahmen basieren, die von der Regularität sowie der Frequenz der zu verschriftenden Form gesteuert werden. Bei unklaren Fällen muss auf das deklarative Wissen oder Problemlösestrategien zurückgegriffen werden. Orthographie-bezogene Prozesse schreibkompetenter Erwachsener sind somit als Zusammenspiel von unbewussten, automatisierten und bewussten Prozessen zu verstehen. Eine Untersuchung von spezifischen orthographischen Phänomenen wie der Varianten im Schreibprozess fokussiert folglich zuerst auf die Unterscheidung von automatisierten Verschriftungen und bewussten Prozessen, wobei davon ausgegangen wird, dass bewusste Prozesse den Schreibfluss hemmen, da sie kognitive Ressourcen besetzten, die eigentlich für hierarchiehöhere Prozesse wie Planen, Ideen generieren und organisieren etc. gebraucht werden, vgl. 4.2.4. Kurz gesagt, soll anhand ausgewählter Formen untersucht werden, ob und wenn ja, welche orthographische Varianten den Schreibfluss stören. Dies wird in zwei Schritten untersucht: 1. Modellierung von „ Störungen des Schreibflusses “ durch orthographische Schwierigkeiten. 2. Gibt es Unterschiede zwischen den abgefragten Formen nach Repräsentation und Phänomenbereichen? 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation 135 <?page no="146"?> Untersuchungen des Schreibprozesses sind methodisch besonders anforderungsreich. Es sollen daher zuerst die Grundlagen der Schreibprozessforschung dargestellt werden. 4.3.1.1 Methoden der Schreibprozess-Forschung Für die Untersuchung von Schreibprozessen hat sich mittlerweile eine Reihe von Forschungsmethoden etabliert. Es lassen sich dabei die direkten Beobachtungen der Schreibhandlungen selbst von indirekten Zugängen zu kognitiven Prozessen unterscheiden, vgl. die Zusammenstellung in Tab. 8, ergänzt nach Spelman Miller (2006: 24): Die Schreibhandlungen können online, d. h. synchron, während des Schreibens beobachtet werden, dies geschieht meist computer-basiert, oder off-line, nach dem Schreiben durch die Analyse von Schreibprodukten untersucht werden. Zugang zu kognitiven Prozessen können durch Verbalisierung gewonnen werden, zeitlich mit dem sogenannten Think-aloud, wie dies Flower und Hayes in ihren Untersuchungen angewendet haben (Flower/ Hayes 1981, zit. in Eigler 1996: 999) oder offline mit der retrospektiven Verbalisierung des sogenannten Stimulated Recall (Gass/ Mackey 2000). Tab. 8: Methoden der Schreibprozessforschung, modifiziert nach Spelman Miller (2006: 24). Schreibhandlungen kognitive Prozesse online (synchron) Tastaturschreiben: Keystroke- Logging; Handschreiben: Graphic Tablet; zusätzliche Datenquellen: Eye- Tracking, Video-Aufnahmen zeitgleiches Verbalisieren (Think-aloud) offline (asynchron) Textproduktanalyse retrospektives Verbalisieren (Stimulated Recall) Die Auswertung der Textprodukte gibt nur ansatzweise Einblick in die Schreibprozesse, insofern, als sie lediglich Spuren abbilden, die interpretiert werden müssen (Eigler 1996: 997/ 998). Die Online-Beobachtung hingegen bildet den dynamischen Verlauf der Schreibhandlung direkt ab, gibt indessen aber ebenfalls nur indirekt Einblick in die involvierten kognitiven Prozesse. Daher werden Beobachtungsmethoden meist mit Methoden der Verbalisierung kombiniert, vgl. Perrin (2006), Sullivan/ Lindgren (2006). Der Vorteil der Verbalisierungsmethoden liegt darin, dass kognitive Prozesse veräußerlicht und somit der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich gemacht werden; allerdings darf nicht davon ausgegangen werden, dass Verbalisierungen kognitive Prozesse vollumfänglich abbilden. Insbesondere umstritten ist die Frage danach, wie Verbalisierungen Einblick in die unbewussten kognitiven 136 4 Untersuchungsanlage <?page no="147"?> Prozesse zu geben vermögen (Eigler 1996: 999). Verbalisierungsdaten gelten somit eher als Grundlage für Hypothesengenerierung, denn Hypothesenprüfung (Eigler 1996: 1000). Des Weiteren gibt es Unterschiede zwischen Online- (Think-aloud) und Offline-Verbalisierungsmethoden (Stimulated Recall). Ein Vorteil des Think-alouds liegt darin, dass durch das zeitgleiche Verbalisieren der Einblick in die kognitiven Prozesse wesentlich direkter (wenngleich noch immer über die Verbalisierung gefiltert) erfolgt als bei einer retrospektiven Methode. Als Nachteil des Think-alouds ist die Tatsache zu werten, dass das zum Schreibprozess parallel verlaufende Verbalisieren direkt auf die Vorgänge selbst zurückwirkt, indem es etwa den temporalen Verlauf der Textproduktion beeinflusst und unter Umständen sogar die Schreibhandlung selbst beeinflusst (Eigler 1996: 1000; Janssen/ van Waes/ van den Berg 1996). Der Vorteil des Stimulated Recalls hingegen liegt darin, dass der Schreibprozess als solcher nicht gestört wird. Der Nachteil besteht darin, dass das retrospektive Interview ein subjektives Erinnern des Probanden ist, das natürlich Lücken, Ungenauigkeiten, bewusste oder unbewusste Auslassungen oder retrospektive Konstruktionen aufweist, vgl. für eine umfassende Darstellung kritischer Punkte Gass/ Mackey (2000: 105 ff.) und Börner (1995: 74 ff.). 4.3.1.2 Schreibexperiment Für die Untersuchung des Schreibprozesses und den Zugang zu den orthographie-bezogenen kognitiven Prozessen, die den Schreibprozess steuern, wurde die Methodenkombination von Online-Beobachtung und Offline- Verbalisierung gewählt. Dazu wurde ein Schreibexperiment am Computer aufgesetzt, bei dem die Versuchspersonen einen Diktattext verschriften mussten, den die Versuchspersonen selbst von einem Audio-File in ihrem Tempo abspielen konnten. Mittels eines selbst entwickelten Tools Log&Replay, das ähnlich wie andere Keystroke-Logging-Software funktioniert, z. B. Input- Log von Leijten/ Van Waes (2006), wurden alle Schreib-, Lösch- und Revisionsoperationen sowie das Bedienen des integrierten Audio-Players für die Wiedergabe des Diktattextes in einem Log mit Zeitangabe protokolliert sowie in der Form eines Films aufgenommen. Für das Aufdecken der kognitiven Prozesse im Schreibprozess wurde die Methode des Stimulated Recalls angewendet (Gass/ Mackey 2000). Dabei wurde den Versuchspersonen als Stimulus die eigene Schreibsitzung vorgespielt, wie sie in Log&Replay als Film aufgenommen wurde. Ein Screenshot des Interfaces von Log&Replay für die Schreibaufgabe bzw. des Replays findet sich in Abb. 1. 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation 137 <?page no="148"?> Abb. 1: Screenshot des Eingabe-Interfaces Log&Replay mit integriertem Audio-Player. Die Replay-Funktion spielt den Film der Schreibsitzung im selben Fenster ab. Der Output des Schreibexperiments besteht folglich aus vier Komponenten, die für die Analyse herangezogen werden können: 1. Schreibprodukt: Der statische Text als Endprodukt des Schreibprozesses, der auf die präferierte Variante untersucht wurde und somit als Datenquelle für die Gebrauchsfrequenzen diente. 2. Log-File: Ein detailliertes Log-File mit dem temporalen Verlauf der Textproduktion mit allen Schreib-, Lösch- und Revisionsoperationen, den Audio-Operationen sowie mit genauen Zeitangaben zu allen Aktionen. 3. Replay: Film der Schreiboperationen, der dynamisch den Verlauf der Textproduktion wiedergibt. 4. Verbalisierungen: Protokoll aller Äußerungen aus dem Stimulated Recall. Als Schreibaufgabe diente ein Diktat mit einem journalistischen Text aus einer Konsumentenzeitschrift über das Thema des Rentenvorbezugs für den 138 4 Untersuchungsanlage <?page no="149"?> Erwerb von Wohneigentum (vgl. Abb. 2), ein Thema, das viele Schweizer und Schweizerinnen in dieser Altersgruppe (30 - 50) interessieren dürfte, mehr zur Stichprobe unter 4.4. Der Text wurde mit 14 orthographischen Varianten aus den Bereichen Phonem-Graphem-Korrespondenz, der Zusammen- und Getrenntschreibung sowie der Groß- und Kleinschreibung versehen, vgl. die kursiv gedruckten Formen in Abb. 2. In der Schweiz ist es seit längerem/ Längerem möglich, Geld aus der Pensionskasse für Wohneigentum einzusetzen. Davon machen jährlich mehrere tausend/ Tausend Schweizer Gebrauch. Der Zustupf aus der Pensionskasse zugunsten/ zu Gunsten der Hauskäufer ist oft nötig, weil potentielle/ potenzielle Käufer nicht über genügend Ersparnisse verfügen. Vor allem jüngere Familien sind außer Stande/ außerstande, Mittel für einen Immobilienkauf aufzutreiben. Seit 1995 ist schon viel Geld aus der Vorsorge in Wohneigentum geflossen. Hauskäufer sind sich aber zu wenig im Klaren darüber, dass der Vorbezug dieser Gelder ihre Altersrente schmälern wird. Wer im Alter die volle Leistung will, muss das Geld unbedingt zurückzahlen. Bis anhin geschieht dies selten. Meist wird das Geld nur dann an die Vorsorgeeinrichtung zurückgezahlt, wenn es gesetzlich vorgeschrieben ist. Dies ist nur beim Verkauf der Liegenschaft der Fall. Nicht zutreffend ist die weitverbreitete/ weit verbreitete Annahme, dass die späteren Sozialabgaben das Loch bis zum Pensionsalter schon wieder stopfen würden. Kaufinteressenten sollten sich daher mit den Bedingungen des Vorbezugs bekanntmachen/ bekannt machen, auch wenn diese oft schwerverständlich/ schwer verständlich erscheinen. Gerade Familien müssen dringend Acht geben/ achtgeben, das Geld zurückzuzahlen. Dies bedingt eine aufwändige/ aufwendige Finanzplanung, so dass/ sodass nicht aufgrund/ auf Grund des Vorbezugs Lücken in der Vorsorge entstehen. Wer auch im Alter ein finanzielles Polster haben möchte, sollte seine Vorsorgesituation rechtzeitig aufs genaueste/ Genaueste prüfen. Wer dies selbstständig/ selbständig nicht kann, holt sich Beratung bei Pensionskassen, Banken und unabhängigen Spezialisten. Abb. 2: Diktattext aus der Schreibaufgabe, modifiziert nach einem Artikel aus einer Konsumentenzeitschrift 57 . Bei der Durchführung des Experiments wurde darauf geachtet, den Versuchspersonen ein möglichst angenehmes Umfeld zu schaffen. So konnten sie etwa wählen, wo das Experiment durchgeführt werden sollte: an der Universität, bei ihnen zu Hause oder am Arbeitsplatz oder in wenigen ausgewählten Fällen bei der Versuchsleiterin zu Hause. Ebenfalls war es ihnen freigestellt, ob sie an einem Mac oder PC, auf der Laptop-Tastatur oder einer externen Tastatur schreiben wollten und ob sie einen Kopfhörer für das Abhören benützen wollten. Vor dem Experiment wurden sie aufgefordert, 57 Pensionskasse: Milliardenbezüge fürs Eigenheim. In: Beobacher 9/ 2008, S. 4. 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation 139 <?page no="150"?> sich mit der Tastatur und Maus vertraut zu machen und probehalber einige Sätze zu tippen. Anschließend wurden sie in die Benützung des Tools eingeführt. Sinn und Zweck des Experiments wurde nicht preisgegeben, die Versuchspersonen wurden einfach dahingehend instruiert, den Text in ihrem Tempo so zu verschriften, wie sie es für richtig halten. Fragen danach, ob nach alter oder neuer Rechtschreibung, ob Kommas gesetzt werden müssten oder nicht und andere Fragen wurden nicht beantwortet. Im Anschluss an die Verschriftung wurde den Versuchspersonen ihre eigene Schreibsitzung als Film abgespielt mit der Aufforderung, alles wiederzugeben, was beim Schreiben Schwierigkeiten bereitet habe (freier Stimulated Recall). Die Verbalisierungen wurden direkt von der Versuchsleiterin protokolliert, aber nicht wortwörtlich transkribiert. Es wurden lediglich Propositionen festgehalten. Anschließend wurde der Text mit fett anmarkierten Variantenschreibungen vorgelegt und nach der Einschätzung der Varianten gefragt (problemfokussierter Stimulated Recall), es wurde jedoch nicht weiter darauf bestanden, wenn die Versuchspersonen sich dazu nicht äußern wollten. Abb. 3 zeigt einen Auszug einer Visualisierung eines Log-Files einer Schreibsitzung. Abb. 3: Auszug aus dem Log-File einer Schreibsitzung, aufgenommen in Log&Replay. Die Zahlen zeigen die Produktionszeiten bzw. Interkey-Intervalle des darüberstehenden Buchstabens in ms, für Löschoperationen stehen Löschzeichen, für das Betätigen des Audio-Players Play-/ Stopp-/ Schnellvorlauf-Zeichen. Die Grauschattierungen der Buchstaben deuten das Verhältnis zum durchschnittlichen Interkey-Intervall in einer vergleichbaren linguistischen Einheit an: je dunkler, desto größer die Latenz. 140 4 Untersuchungsanlage <?page no="151"?> 4.3.1.3 Operationalisierungen Wie in den oben genannten Fragestellungen formuliert, soll der Schreibprozess auf Störungen oder „ disfluencies “ , wie sie bei Wengelin (2006: 110) genannt werden, hin untersucht werden. Störungen können theoretisch operationalisiert werden als: 1. Revisionen (Lindgren/ Sullivan 2006), bestehend aus zwei zu unterscheidenden Teilprozessen (Fitzgerald 1987: 484): a. Der Identifikation einer Diskrepanz zwischen beabsichtigtem und produziertem Text und Planen der Änderungen; dies ist nur mittels Eye-Tracking oder Verbalisierung beobachtbar. b. Der Revisionshandlung selbst als Ausführung des Änderungsplans, wie sie bei einem Experiment mit Keystroke-Logging im Logfile sichtbar sind. 2. Latenzen in der Wortformenproduktion, d. h. verlängerte Produktionszeiten, wie sie als Intervalle zwischen zwei Tastenanschlägen (Interkey- Intervalle) beim Keystroke-Logging gemessen werden können, vgl. Spelman Miller (2006), Wengelin (2006), Weingarten/ Nottbusch/ Will (2004). Die Revisionshandlungen sind im Log-File als Löschungen, Ersetzungen, Umstellungen oder Ergänzungen sichtbar. Von der Revision können sowohl sprachformale als auch konzeptuelle Aspekte betroffen sein. Sie erfolgen online, d. h., es wird direkt von der Cursor-Positionen an rückwärts gelöscht und geändert (vgl. Abb. 4), oder offline, d. h. nach beendigtem Satz, Absatz oder Text, so dass eine Cursor-Bewegung eine oder mehrere Zeilen rückwärts beobachtbar ist, bevor die Revisionshandlung einsetzt. Die Identifikation und Interpretation von orthographischen Revisionen für die untersuchten Varianten hat sich als problemlos erwiesen. Auch die vermutete problematische Abgrenzung von Tippfehlern gelang in fast allen untersuchten Fällen mit folgender nach Stevenson/ Schoonen/ de Glopper (2006) modifizierten Richtlinie ohne Probleme. Als Tippfehler gelten nach diesem Verfahren alle Fälle, in denen: - der falsche Buchstabe nicht der orthographischen Norm entspricht; - der falsche Buchstabe nicht einer im Grapheminventar der betreffenden Sprache möglichen Schreibung entspricht; - der falsche Buchstabe mit einem auf der Tastatur benachbarten Buchstaben vertauscht wurde; - die Buchstaben-Folge im Wort vertauscht wurde; - die Korrektur hoch-automatisiert erfolgte. Die Definition und Interpretation von Latenzen haben sich im vorliegenden Schreibexperiment jedoch als heikel herausgestellt, vgl. dazu auch die Ausführungen in Weder (2010). Eine Latenz wird definiert als ein überdurchschnittlich verlängertes Intervall zwischen zwei Tastenanschlägen, im Fol- 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation 141 <?page no="152"?> genden Interkey-Intervall (IKI) genannt (Weingarten et al. 2004: 532), in Abb. 4 erscheinen diese Latenzen als dunkler eingefärbte Buchstaben. Für die Berechnung der durchschnittlichen Interkey-Intervalls müssen verschiedene Faktoren beachtet werden: die individuelle Tippgeschwindigkeit; der Kontext des Tastenanschlags; die Position des Interkey-Intervalls in der sprachlichen Einheit (Spelman Miller 2006: 27), da z. B. IKI vor einem Satz länger sind als vor einem Wort und vor einem Wort wiederum länger als innerhalb eines Wortes; die Art der linguistischen Grenze, da z. B. IKI im Wortinnern länger sind, wenn Morphem- und Silbengrenze zusammenfallen (Nottbusch/ Weingarten/ Sahel 2007: 41). Des Weiteren gibt es Frequenz- und Wortlängeneffekte zu beachten (Weingarten et al. 2004: 538), so konnte für die vorliegenden Schreibexperimenten einen Wortlängeneffekt von r = 0143 (p<0.01) bei N = 4'993 errechnet werden. Auch können sprachexterne Störungen nie ausgeschlossen werden. Während viele dieser Einflussvariablen noch mehr oder weniger zur kontrollieren wären, gibt es bei der Interpretation von Latenzen grundsätzliche Probleme. Abb. 4: Der Auszug aus dem Log-File zeigt für die Verschriftung der Variante potentiell/ potenziell zwei Online-Revisionen. Es wird davon ausgegangen, dass Latenzen einen erhöhten kognitiven Aufwand signalisieren, d. h. die bevorstehende Aufgabe ist nicht oder nicht genügend automatisiert, vgl. Spelman Miller (2006), Wengelin (2006), Wengelin (2007); dies betrifft sowohl hierarchie-niedere als auch hierarchiehöhere Prozesse. Latenzen können aber auch ein Anzeichen dafür sein, dass der bis anhin produzierte Text wiedergelesen und geprüft wird, von Hayes (1996) als „ reading to evaluate “ bezeichnet, vgl. auch (Wengelin/ Leijten/ Van Waes 2010). Das heißt für die Interpretation der vorliegenden Daten, dass auch bei einer sehr ausgeprägten Latenz wie z. B. in Abb. 4 bei der Produktion des Graphems ‹ z › in der orthographischen Variante potentiell/ potenziell doch nicht mit absoluter Sicherheit darauf geschlossen werden kann, dass die beobachtete Latenz von der betreffenden orthographischen Schwierigkeit evoziert wurde. Aus diesen Gründen wird auf die Auswertungen der Latenzen verzichtet. Die Modellierung der Störung des Schreibprozesses erfolgt somit auf der Basis der Revisions-Analysen sowie der Daten aus dem Stimulated-Recall. 142 4 Untersuchungsanlage <?page no="153"?> 4.3.1.4 Einschränkungen des methodischen Vorgehens Das gewählte empirische Vorgehen mit einem Schreibexperiment birgt einige problematische Aspekte. Zum Schreibexperiment gilt es grundsätzlich zu bemerken, dass eine Form der Labor-Schreibsituation geschaffen wurde, die nicht das alltägliche Schreiben abbildet, das ja meist integriertes, freies Schreiben ist. Des Weiteren wurde mit dem Diktat eine Aufgabenform des nicht-integrierten Schreibens gewählt, die für die meisten Erwachsenen im alltäglichen Schreiben nur eine marginale Rolle spielen dürfte, mit Ausnahme einiger weniger Versuchspersonen aus dem kaufmännischen Bereich, die angaben, regelmäßig Tonaufnahmen verschriften zu müssen. Die Diktatform wurde gewählt, weil diejenigen Lexeme, bei denen Doppelschreibungen zugelassen sind, nicht frequent genug sind, um durch die Beobachtung von alltäglichem Schreiben oder durch das Sammeln von Textdokumenten aus dem beruflichen und privaten Schreiben auf eine ausreichend große Anzahl vergleichbarer Formen für eine angemessene Auswertung zu kommen. Ein zweiter Punkt betrifft die automatische Rechtschreibkorrektur, die heute im beruflichen und privaten Schreiben mit dem Computer eine wichtige Rolle spielt. Die Korrekturfunktion steht in Log&Replay nicht zur Verfügung. 58 Ebenfalls nicht verfügbar waren andere Strategien, die Erwachsene bei orthographischen Problemen heranziehen, so etwa das Nachschlagen im Rechtschreibwörterbuch oder das Konsultieren von Arbeitskollegen und -kollegen, vgl. 4.4. Diese Einflüsse konnten in diesem Setting nicht geprüft werden, die Versuchspersonen waren für die Schreibaufgabe ganz auf ihre eigene orthographische Kompetenz angewiesen. Ebenfalls soll an dieser Stelle noch einmal auf die problematischen Aspekte der Methode des Stimulated Recalls hingewiesen werden: Die Quantität und Qualität der erinnerten und wiedergegebenen Probleme hängen erheblich von den kognitiven Ressourcen, der Verbalisierungsfähigkeiten sowie der Motivation der Versuchspersonen ab. Es muss also davon ausgegangen werden, dass nicht alle kognitiven Prozesse auch wiedergegeben werden, dies trifft in besonderem Maße für unbewusste, automatisierte Prozesse zu. Allerdings sollen diese Daten nicht quantitativ ausgewertet werden, sondern dienen als Grundlage für eine Modellierung, wobei es nicht notwendig ist, dass alle orthographie-bezogenen Prozesse aller Versuchspersonen vorliegen müssen. Des Weiteren kann der Stimulus, hier der Film der Schreibsitzung, in der Recall-Handlung kognitive Prozesse auslösen, so dass über ein aktuell wahrgenommenes Problem berichtet wird, das im Schreibprozess selbst gar nicht aufgetaucht ist. Einige Versuchspersonen 58 Die einzige Keystroke-Logging-Software, die es erlauben würde, in einem Textverarbeitungsprogramm mit automatischer Rechtschreibkorrektur aufzunehmen, konnte aufgrund von Software-Konflikten mit dem Audio-Player sowie aufgrund von Problemen mit der Replay-Funktion, die für den Stimulated-Recall wesentlich ist, nicht eingesetzt werden. 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation 143 <?page no="154"?> haben dies aber metakommunikativ markiert, so dass zumindest diese Fälle von der Interpretation ausgeschlossen werden können. 4.3.2 Variantenwahl und Begründungsmuster Mit derselben Stichprobe wurde gleich im Anschluss an das Schreibexperiment eine Befragung durchgeführt. Dabei wurden Sätze mit Variantenschreibungen vorgelegt und nach der Präferenz und der Begründung der Präferenz gefragt. Bei diesem empirischen Teil ging es im Prinzip darum, die im Schreiben bzw. Verschriften zum größten Teil automatisierten orthographischen Prozeduren bei orthographischen Entscheidungen aufzubrechen und in bewusste Prozesse oder Problemlöse-Strategien zu überführen (vgl. 2.4). Somit werden die mentalen Repräsentationen orthographischer Normen, Regeln und Regelmäßigkeiten sowie die individuellen, subjektiven orthographischen Konzepte, die beide orthographischen Entscheidungen zugrunde liegen, in der Form von Begründungen verbalisiert und einer Untersuchung zugänglich. Es handelt sich bei diesem Teil der Untersuchung, anders als im freien Schreiben oder im Schreibexperiment, um eine problemfokussierte Wahl insofern, als die Versuchspersonen darüber in Kenntnis gesetzt wurden, dass bei den vorgelegten Sätzen effektiv beide Formen nach dem neusten Regelwerk normgerecht sind. Im freien, integrierten Schreiben hingegen muss davon ausgegangen werden, dass orthographische Entscheidungen in erster Linie davon abhängen, ob die Schreibenden bei der zu verschriftenden Form eine Variantenschreibungen repräsentiert haben. In Bezug auf die verbalisierten mentalen Repräsentationen der Versuchspersonen gilt es zu beachten, dass die Argumentationen Verbalisierungen subjektiver orthographischer Konzepte laienlinguistischer Natur sind und sich deshalb auf eigene Kategoriensysteme beziehen, die nicht deckungsgleich sein müssen mit der fachwissenschaftlichen Argumentation (vgl. 2.4.4). Sie werden hier untersucht und systematisch dargestellt, weil sie orthographische Entscheide im alltäglichen Schreiben steuern und somit Prädiktoren für die Variantenwahl im alltäglichen Schreiben sind. Das methodische Vorgehen in diesem Teil der Untersuchung ist hypothesengenerierend (Kelle/ Kluge 2010). Auf dem Hintergrund der Tatsache, dass das Regelwerk vom Rat für deutsche Rechtschreibung unter Berücksichtigung des Usus weiterentwickelt werden soll (vgl. 2.3) sind - nebst der Schule als Instanz der Schreibsozialisation sowie der Variantenführung in der Lexikographie - orthographische Entscheidungen, die den Sprachgebrauch Erwachsener steuern, von besonderem Interesse als Prädiktoren dafür, in welche Richtung der Sprachgebrauch bei den abgefragten Formen in Zukunft gehen könnte. Insbesondere ist auch von Interesse, ob sich bei musterhaften Präferenzen für die Teilbereiche der Orthographie auch musterhafte Begründungen zeigen, d. h., ob beispielsweise Präferenzen in der Groß-/ Kleinschreibungen oder Fremdwortschreibungen auch mit bestimmten Begrün- 144 4 Untersuchungsanlage <?page no="155"?> dungsmustern 59 zusammenhängen. Da im Rahmen dieser Arbeit nur ausgewählte Formen untersucht werden konnten, können so mit gebotener Vorsicht Rückschlüsse auf Präferenzen für andere Formen aus dem gleichen Bereich gezogen werden. Dieser Teil der Erhebung wurde somit von folgenden Fragestellungen geleitet: 1. Zusammenhänge Präferenz und Phänomenbereich: Gibt es für die verschiedenen Phänomenbereiche präferierte Begründungen und typische Begründungsmuster? 2. Zusammenhänge Präferenz und Begründungsmuster: Hängen bestimmte Präferenzen, z. B. der Großschreibung oder der integrierten Fremdwortschreibung, mit bestimmten Begründungsmustern zusammen? Und manifestieren sich eindeutige Präferenzen auch in eindeutigen Begründungsmustern? 3. Struktur der Begründungsmuster: Sind die Begründungsmuster eindeutig und ausgeprägt, d. h., gibt es viele Nennungen in einer Kategorie, oder divergieren und konkurrenzieren sich die Begründungen? 4. Fach- und Laienkonzepte: Welche subjektiven orthographischen Konzepte, welche Laienkonzepte treten zutage? Decken sich die Begründungsmuster mit denen des Fachdiskurses? Es interessieren hier also weniger die absoluten Zahlen, sondern die Verteilungen der Begründungen auf die Kategorien. Im Folgenden wird das Vorgehen im Detail beschrieben: Den Versuchspersonen wurden als Stimulus Kärtchen mit jeweils zwei Sätzen vorgelegt, die, abgesehen von den orthographischen Varianten, vollständig identisch waren. Die Variante war jeweils in Rot gedruckt, so dass die Versuchspersonen schnell auf das Wesentliche fokussieren konnten, vgl. Abb. 5. Es wurden insgesamt 13 Varianten abgefragt, eine Übersicht aller abgefragten Sätze in Tab. 9. Es wurden zwei Sets von Kärtchen erstellt (Set A und B), in denen jeweils die Reihenfolge der Varianten vertauscht wurde, so dass Positionseffekte ausgeschlossen werden konnten. Die Kärtchen wurden für jede Befragung neu gemischt, die präsentierte Reihenfolge war somit zufällig und stets anders. 59 Unter Begründungsmuster wird hier die Verteilung aller für eine Variante genannten Begründungen auf verschiedene Kategorien verstanden, im Gegensatz zu den individuellen Einzelbegründungen einer Versuchsperson. 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation 145 <?page no="156"?> Abb. 5: Einzelkärtchen für die Abfrage von Einzelwortschreibungen von Set A und Set B; Varianten jeweils in Rot gedruckt (verkleinerte Abbildung). Bei einigen Formen wurden mehrere Kärtchen mit verschiedenen Satzpaaren zur gleichen Form gleichzeitig vorgelegt; dies vor allem für die Zusammen- und Getrenntschreibung, um Konstruktionseffekte zu prüfen, sowie für einige wenige Fremdwortschreibungen, um Kontexteffekte zu prüfen. So wurde etwa bei der Variante phantastisch/ fantastisch sowohl prädikativ als auch attributiv abgefragt, wobei bei letzterem das nachfolgende Nomen eine reguläre deutsche Phonem-Graphem-Korrespondenz aufweist (fantastische Ferien). Somit wurde geprüft, ob die Versuchspersonen hier die ‹ f › -Schreibung aufgrund einer phonologischen Analogie bevorzugen würden Abb. 6. Abb. 6: Kärtchen für die Abfrage der Variante phantastisch/ fantastisch in zwei verschiedenen syntaktischen Stellungsvarianten aus Set A, verkleinerte Darstellung. Zusammen mit dem Vorlegen der Kärtchen wurde den Versuchspersonen folgende Fragen gestellt: „ Welche Form würden Sie wählen? “ Falls sich eine Versuchsperson nicht für eine Form entscheiden konnte, wurde darauf hingewiesen, dass in einem konkreten Schreibanlass auch für eine Form entschieden werden müsste und dass es bei den Varianten kein richtig oder falsch gebe. Trotzdem mochten sich nicht alle Versuchspersonen bei allen Formen auf eine Form festlegen, dies wurde als „ weiss nicht “ kategorisiert. Nach erfolgter Wahl wurde nachgefragt mit: „ Aus welchen Gründen haben Sie sich für diese Form entschieden? “ Wenn hier keine Antwort erfolgte, wurde nicht weiter nachgefragt. Um die Versuchspersonen nicht in ihren individuellen Konzeptualisierungen zu stören, wurde einfach zur Kenntnis 146 4 Untersuchungsanlage <?page no="157"?> genommen, welche Gründe sie angaben, es wurde nicht nachgehakt. Auch bei unstimmigen, unlogischen oder unter normgrammatischer Perspektive falschen Begründungen wurde nicht nachgefragt. Tab. 9: Varianten mit den jeweiligen Beispielssätzen, die den Versuchspersonen zur Beurteilung vorgelegt wurden. Legende: E = Einzelwortschreibung; FS = Fremdwortschreibung; GKS = Groß-/ Kleinschreibung; ZGS = Zusammen-/ Getrenntschreibung; § = Paragraphen-Nummer aus dem amtlichen Regelwerk 2006. Bereich § type Beispielsatz 1 Beispielsatz 2 E aufwendig/ aufwändig Die Reparatur war sehr aufwendig. Die Reparatur war sehr aufwändig. selbständig/ selbstständig Viele Angestellte träumen davon, sich selbständig zu machen. Viele Angestellte träumen davon, sich selbstständig zu machen. FS § 32 2 Delphin/ Delfin Alle Kinder mögen Delfine. Alle Kinder mögen Delphine. Flussdelphine sind vom Aussterben bedroht. Flussdelfine sind vom Aussterben bedroht. § 32 2 phantastisch/ fantastisch Die Aussicht ist fantastisch. Die Aussicht ist phantastisch. Es waren phantastische Ferien. Es waren fantastische Ferien. § 32 2 existentiell/ existenziell Eine gute Vorsorge ist existentiell. Eine gute Vorsorge ist existenziell. GKS § 56 E2 recht/ Recht geben In diesem Fall muss ich dir recht geben. In diesem Fall muss ich dir Recht geben. Sie gibt ihm immer Recht. Sie gibt ihm immer recht. § 58 3.2 auf weiteres/ Weiteres Der Bahnbetrieb wurde bis auf weiteres eingestellt. Der Bahnbetrieb wurde bis auf Weiteres eingestellt. § 58 5 E3 das seine/ Seine Jeder trug das seine zum Gelingen bei. Jeder trug das Seine zum Gelingen bei. § 58 5 E4 etwas anderes/ Anderes Sie wollte etwas ganz anderes tun als ihre Eltern. Sie wollte etwas ganz Anderes tun als ihre Eltern. 4.3 Erhebung der individuellen Repräsentation 147 <?page no="158"?> Bereich § type Beispielsatz 1 Beispielsatz 2 ZGS § 34 2.1 kaputtmachen/ kaputt machen Sie hatten nicht vor, das Auto kaputtzumachen. Sie hatten nicht vor, das Auto kaputt zu machen. Die Kinder haben das Spielzeug nicht absichtlich kaputt gemacht. Die Kinder haben das Spielzeug nicht absichtlich kaputtgemacht. Sie wollten die Leiter kaputtmachen. Sie wollten die Leiter kaputt machen. Peter will verhindern, dass sein kleiner Bruder das Auto kaputtmacht. Peter will verhindern, dass sein kleiner Bruder das Auto kaputt macht. § 34 3 E6 Halt machen/ haltmachen Sie wollen kurz vor der Grenze Halt machen. Sie wollen kurz vor der Grenze haltmachen. Ohne haltzumachen, fuhren sie bis ans Mittelmeer. Ohne Halt zu machen, fuhren sie bis ans Mittelmeer. Sie hatten auf der Passhöhe Halt gemacht. Sie hatten auf der Passhöhe haltgemacht. Er sagt, dass er auf der Reise jeweils gerne Halt macht. Er sagt, dass er auf der Reise jeweils gerne haltmacht. § 34 4 E7 kennenlernen/ kennen lernen Sie möchte ihn näher kennen lernen. Sie möchte ihn näher kennenlernen. Sie hoffte, ihn näher kennenzulernen. Sie hoffte, ihn näher kennen zu lernen. Sie hatte ihn an einem Konzert kennengelernt. Sie hatte ihn an einem Konzert kennen gelernt. Er hofft, dass er sie in den Ferien besser kennen lernt. Er hofft, dass er sie in den Ferien besser kennenlernt. § 39 E3 1 infrage/ in Frage Niemand stellt die neuen Regeln infrage. Niemand stellt die neuen Regeln in Frage. 148 4 Untersuchungsanlage <?page no="159"?> Die Wahl der Variante wurde auf einem Fragebogen von der Versuchsleiterin direkt während des Gesprächs notiert. Es lag schon nach den Prätests ein Kodierschema für die Begründungen vor, so dass diese, soweit möglich, ad hoc kategorisiert werden konnten. Zusätzlich wurden die Begründungen möglichst wortgetreu, aber nur stichwortartig festgehalten, aber nicht aufgenommen und wortwörtlich transkribiert, d. h. es wurden nur Propositionen notiert, da die Begründungen in sich meist nicht sehr komplex und größtenteils erwartbar waren. Die Gespräche wurden alle in Schweizerdeutsch geführt, notiert wurde jedoch in der Standardsprache. Zusätzlich wurden den linguistischen Konventionen entsprechend Grapheme mit Spitzklammern ‹ x › sowie Phoneme mit Schrägstrichen/ x/ ausgezeichnet. In Ermangelung theoretischer Modellierungen oder empirischer Untersuchungen von orthographischen Kompetenzen und orthographie-bezogenen subjektiven Theorien Erwachsener sowie der Logik der qualitativen Methode folgend wurde für diese Teiluntersuchung datengeleitet ein Kategorienmodell entwickelt, das in der Darstellung der Ergebnisse vorgestellt wird (Kapitel 7). 4.4 Zur untersuchten Stichprobe Die Stichprobe für das Schreibexperiment sowie für das Abfragen der Varianten umfasst 44 Personen im Alter zwischen 30 - 50 Jahren mit verschiedenen Ausbildungs- und Berufshintergründen. Die Auswahl der Altersgruppe stellt die Einheitlichkeit der Stichprobe sicher, indem alle Versuchspersonen die obligatorische Schulzeit bzw. das Gymnasium abgeschlossen hatten, bevor die Rechtschreib-Reform in Kraft trat. Aus dem gleichen Grund wurden nur Versuchspersonen aufgenommen, welche die letzten sechs Jahre ihrer Schulzeit in der Schweiz verbracht hatten. Des Weiteren wurden nur Versuchspersonen berücksichtigt, die sich als einigermaßen geübt im Umgang mit Computer und Textverarbeitung bezeichneten. Es hat sich als sehr schwierig herausgestellt, erwachsene Versuchspersonen für die Teilnahme an der Untersuchung zu gewinnen. Dies ist einerseits auf die für die anvisierte Altersgruppe typische zweifache Belastung von Erwerbs- und Betreuungsarbeit innerhalb der Familie zurückzuführen, was die Bereitschaft mindert, Zeit für Forschung zur Verfügung zu stellen. Andererseits sind auch nur Personen einer Teilnahme an einem Schreibexperiment gegenüber aufgeschlossen, die von sich selbst ein eher positives Selbstkonzept als Schreiber oder Schreiberin haben. Besonders die Rekrutierung von Männern war unter diesem Gesichtspunkt sehr aufwendig. Es wurden zwei Verfahren gewählt: Zwei Drittel der Versuchspersonen wurden aus dem erweiterten Netzwerk der Verfasserin sowie der studentischen Hilfskraft rekrutiert, die einen Teil der Schreibexperimente durchgeführt hat. Es wurde jedoch darauf geachtet, dass keine direkten Familienmitglieder 4.4 Zur untersuchten Stichprobe 149 <?page no="160"?> oder Bekannten untersucht wurden. Ein Drittel wurde über eine Online- Ausschreibung rekrutiert und entlöhnt. Tab. 10: Übersicht Versuchspersonen nach Altersgruppe, Geschlecht, Sprache, Schulberufsausbildung sowie Berufsgruppe, N = 44. Alterskategorie Geschlecht < 35 11 (25 %) weiblich 25 (57 %) 35 - 40 17 (39 %) männlich 19 (43 %) 41 - 45 7 (16 %) Sprache > 45 9 (20 %) Deutsch/ Schweizerdeutsch 41 Bilingue (Deutsch/ Schweizerdt. + andere Sprache) 3 Berufsgruppe (mod. nach ISOC) Schul-/ Berufsausbildung (= letzter Schul-/ Berufsabschluss) Erziehung/ Bildung 10 Obligatorische Schulzeit 1 Gesundheits-/ Sozialwesen 7 Berufsausbildung 5 Administration/ Kauf. Bereich 7 Berufsmittelschule/ Fachmittelschule 1 Journalismus/ Kommunikation 5 Gymnasium 2 Kunst/ Unterhaltung 3 Höhere Berufsausbildung 4 Finanz-/ Versicherungsdienstleistungen 2 Fachhochschule/ Technikum 11 Sicherheit/ Verteidigung/ Schutz 2 Pädagogische Hochschule 6 Wissenschaft 2 Universität/ ETH 12 Baugewerbe/ Landschaftsarchitektur 2 Promotion 2 Information/ Kommunikation (IKT) 1 Personalwesen 1 Handwerk/ Herstellung 1 Sonstige 1 150 4 Untersuchungsanlage <?page no="161"?> Die Stichprobe ist nicht ganz ausgewogen: Stärker vertreten sind die Altersgruppe 30 - 40, das weibliche Geschlecht, Versuchspersonen mit Ausbildungsabschlüssen im tertiären Bereich sowie Berufsgruppen im Bereich Ausbildung/ Erziehung. Eine Übersicht über die Stichprobe nach Altersgruppe, Geschlecht, Schul-/ Berufsbildung sowie Berufsgruppe findet sich in Tab. 10. Es ist allerdings gerade für Fragen nach der orthographischen Varianz sinnvoll, Versuchspersonen zu berücksichtigen, die entweder aufgrund ihrer Ausbildung oder ihres Berufes eine gewisse Schreibgewohnheit aufweisen, ohne dass sie jedoch professionelle Schreiber oder Schreiberinnen sein müssten, da es sich bei vielen Varianten um eher schwierige Formen wie z. B. Fremdwörter handelt. Es würde daher wenig Sinn machen, Personen zu untersuchen, die generell Mühe mit Schreiben und Rechtschreiben haben und/ oder bei denen Schreiben im Alltag nur wenig Bedeutung hat. Die Versuchspersonen wurden zu ihren literalen Praktiken und Einstellungen befragt, darin insbesondere die orthographie-bezogenen. Dies umfasst Lese- und Schreibgewohnheiten, Umgang mit und Stellenwert der Rechtschreibung, erinnertes Selbstkonzept in Bezug auf Schreiben und Rechtschreiben in der Schule, Kenntnis und Einstellung zu Rechtschreibreform und zur Variantenfrage. Die Stichprobe zeigt sich in Bezug auf die abgefragten Items als relativ homogen. Es wurden Korrelations- und Faktorenanalysen durchgeführt, um zu ermitteln, ob sich innerhalb der Stichprobe Typen oder musterhafte Verhalten und Einstellungen herauskristallisieren. 60 Dies war jedoch nicht der Fall. Es wurde daher auf weitergehende Auswertungen und Korrelationsanalysen mit den erhobenen Gebrauchsfrequenzen und den Daten aus dem Schreibexperiment verzichtet. Im Folgenden eine kurze Darstellung der literalen Praktiken und Einstellungen als Hintergrund für die nachfolgenden empirischen Teile. 4.4.1 Lese- und Schreibpraktiken Die Angaben zu Lesegewohnheiten zeigen, dass die Versuchspersonen eine ausgeprägte und vielfältige Lesepraxis pflegen, allerdings gemäß eigener Einschätzung pro Textsorte im Schnitt nur rund 30 Min. pro Tag aufwenden (vgl. Abb. 7). 61 Es erstaunt denn auch nicht, dass 70 % die Frage, ob sie Lesen 60 Für diese statistischen Auswertungen habe ich mich mit Michael Mittag beraten, dem an dieser Stelle für seine Unterstützung herzlich gedankt sei. 61 Als interessante Anekdote sei hier erwähnt, dass die Items zu Lesegewohnheiten erst nach den Prätests in die Befragung aufgenommen wurden, weil die Versuchspersonen des Prätests ein ausgeprägtes Bedürfnis an den Tag legten, hierzu ergänzende Angaben zu machen. Dies wurde als Ausdruck eines gewisses Unbehagens oder einer Befürchtung gewertet, dass ihre literalen Gewohnheiten nicht angemessen dargestellt werden, wenn nur auf das Schreiben fokussiert wird. 4.4 Zur untersuchten Stichprobe 151 <?page no="162"?> als ihr Hobby bezeichnen würden, mit „ ja “ oder „ eher ja “ beantworten, während nur 18 % mit „ nein “ , „ eher nein “ beantworten. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Lesegewohnheiten k.a. > 2 Std. 1-2 Std. 31-60 Min. < 30 Min. nie Abb. 7: Selbstberichte Lesegewohnheiten der Versuchspersonen. N = 44, k. a. = keine Antwort/ weiß nicht. Schreiben und Redigieren im Beruf ist in dieser Stichprobe vor allem als Mittel zum Zweck bedeutsam, dies gilt sowohl für die aktuelle als auch die frühere Arbeitssituation, vgl. Abb. 8. Mit diesem Item sollte zwischen professionellen, geübten und wenig geübten Schreibern und Schreiberinnen unterschieden werden. Auf die Frage, ob sie sich als jemanden bezeichnen würden, der in der Freizeit viel schreibt, antworteten 41 % der Versuchspersonen mit „ ja “ , „ eher ja “ und 56 % mit „ nein “ , „ eher nein “ . Womit Lesen in der Freizeit gegenüber Schreiben in der Freizeit bevorzugt wird. 152 4 Untersuchungsanlage <?page no="163"?> 0 5 10 15 20 25 30 Stellenwert Schreiben im Beruf Schreiben längerer Texte (aktuell) Korrigieren, Redigieren (aktuell) Schreiben längerer Texte (früher) Korrigieren, Redigieren (früher) Abb. 8: Selbstberichtete Bedeutung des Schreibens im Beruf (N = 44); aktuell = in der aktuellen Arbeitssituation; früher = in der früheren Arbeitssituation; k. a. = keine Anwort/ weiß nicht. 4.4.2 Orthographie- und schreibbezogenes Selbstkonzept Der Großteil der Versuchspersonen zeigt ein positives Selbstkonzept von sich als Schreiber bzw. Schreiberin (vgl. dazu 2.4.4). Dies zeigte sich an den Items zur Motivation, dem erinnerten Selbstkonzept in Bezug auf das Schulfach Deutsch sowie der Selbsteinschätzung zur nachschulischen Kompetenzentwicklung in Schreiben und Rechtschreibung (vgl. dazu das in 2.4.5 monierte Forschungsdesiderat): Die Frage „ Schreiben Sie gerne im Beruf “ bzw. „ Schreiben Sie gerne in der Freizeit “ wurde dementsprechend positiv beantwortet und dürfte auf das oben erwähnte Problem zurückzuführen sein, dass sich für ein Schreibexperiment nur Personen zur Verfügung stellen, die ein positives Selbstkonzept von sich als Schreibende haben: Rund 59 % (Beruf) bzw. 65 % (Freizeit) antworteten zustimmend bis sehr zustimmend, 36 % (Beruf) bzw. 25 % (Freiheit) relativierten mit „ je nach Situation gerne “ und nur 4.5 % (Beruf) bzw. 9 % (Freizeit) äußerten gegenüber dem Schreiben eine negative Einstellung. 4.4 Zur untersuchten Stichprobe 153 <?page no="164"?> 0 5 10 15 20 25 Selbstkonzept Schulfach Deutsch Aufsätze Orthographie Diktate Abb. 9: Erinnerte Selbstwahrnehmung Schulfach Deutsch in Bezug auf Aufsatzschreiben. Orthographie und Diktate. (N = 44). Ebenfalls auf ein positives Selbstkonzept verweisen die Antworten zu den Fragen nach dem erinnerten Selbstkonzept in Bezug auf den Deutschunterricht: 86 % geben an, dass sie das Schulfach Deutsch „ gerne “ , „ sehr gerne “ mochten, dem gegenüber stehen nur 14 %, die es nicht oder eher nicht gerne mochten. Bezogen auf die didaktischen Formen Aufsatz, Orthographie und Diktat ergibt sich eine ähnlich positive Einschätzung der erinnerten Selbstwahrnehmung, vgl. Abb. 9, bei dem die Versuchspersonen angaben, wie leicht oder schwer ihnen die betreffende Form gefallen ist. Auch der Ausbau der Schreib- und Rechtschreibkompetenz nach der Schulzeit wurde überraschend positiv eingeschätzt: 84 % der Versuchspersonen schätzen, dass sie in Bezug auf das Schreiben allgemein viel oder einiges dazugelernt hätten, 66 % in Bezug auf Rechtschreiben; demgegenüber schätzten nur 9 % (Schreiben) und 18 % (Rechtschreiben) ihre Schreibbzw. Rechtschreibkompetenz im Vergleich zur Schulzeit als gleich ein und lediglich 7 % (Schreiben) und 6 % (Rechtschreiben) hatten den Eindruck, dass sie einiges vergessen hätten. Die angegebenen Gründe für die positive Entwicklung der nachschulischen Schreib- und Rechtschreibkompetenz sind äußerst vielfältig und v. a. in den schreibgezogenen Anforderungen im Beruf sowie im Studium (Semesterarbeiten, Diplomarbeiten) begründet. Einzelne Nennungen beziehen sich auch auf das Schreiben in der Freizeit, das von Liebesbriefen über Tagebücher bis zu Gedichteschreiben reicht. 154 4 Untersuchungsanlage <?page no="165"?> 4.4.3 Repräsentation, Anwendung, Einschätzung Rechtschreibreform Im Zusammenhang mit dem Ausbau der Rechtschreibkompetenz ist es auch von Interesse, ob und wie sich die Versuchspersonen über die Rechtschreibreform informiert haben, wie sie sie einschätzen und ob sie sich bemühen, diese auch anzuwenden. Es wurden ja nur Versuchspersonen ausgewählt, welche die obligatorische Schulzeit schon abgeschlossen hatten, bevor die Rechtschreibreform in Kraft trat: 59 % der Versuchspersonen gaben an, sich über die Inhalte der Rechtschreibreform von 1996 informiert zu haben; für die Revision der Reform von 2006 sinkt dieser Wert auf 43 %. Dabei seien die Medien und die Wörterbücher die wichtigsten Quellen gewesen. Was die Einschätzung der Reform betrifft, schätzen sie 43 % als positiv bis sehr positiv ein, 30 % als eher bis sehr negativ und 27 % trauen sich darüber kein Urteil zu. Was die Anwendung der neuen oder alten Rechtschreibregeln betrifft, spaltet sich die Stichprobe in zwei Lager: 43 % der Versuchspersonen gaben an, dass sie versuchen würden, nach den neuen Regeln zu schreiben, 54 %, dass sie dies nicht versuchen. 59 % der Versuchspersonen bezeichneten die Aussage „ Ich schreibe nach den alten Regeln der alten Rechtschreibung “ als vollkommen bis eher zutreffend, während 36 % sie als eher oder gar nicht zutreffend bezeichneten. Gemäß eigenen Angaben bemühen sich folglich etwas weniger als die Hälfte aller Versuchspersonen bewusst, die neuen Regeln anzuwenden und etwas mehr als die Hälfte schreibt nach der alten Rechtschreibung. Es soll hier jedoch noch einmal einschränkend darauf hingewiesen werden, dass dies nur bedingt Rückschlüsse auf die eigentliche Schreibpraxis erlaubt, sondern nur wiedergibt, was die Versuchspersonen als Präferenzen berichten. Es könnte durchaus sein, dass einige der neuen Rechtschreibung folgen, ohne sich dessen bewusst zu sein; dies könnte allerdings nur die Beobachtung des individuellen Usus zeigen. Die Rechtschreibreform scheint allerdings das doch im Grunde eher positive orthographie-bezogene Selbstkonzept der Versuchspersonen, wie es oben dargestellt wurde, etwas erschüttert zu haben: 54 % der Versuchspersonen geben an, dass sie seit der Rechtschreibreform nicht mehr wüssten, wie man korrekt schreiben muss. Allerdings gehen trotzdem 50 % davon aus, dass die Rechtschreibreform einiges vereinfacht habe. 4.4.4 Normorientierung in verschiedenen Textsorten, Domänen und Medien In Bezug auf die Bedeutung, die der Orthographie in verschiedenen Textsorten, Domänen und Medien zugemessen wird (vgl. dazu 2.2), zeigt sich die untersuchte Stichprobe als relativ homogen normorientiert, vgl. Abb. 10. Dies trifft insbesondere für alle berufsrelevanten Textsorten zu, wobei die Unterschiede zwischen papier- und computerbasierter Kommunikation nicht ganz so ausgeprägt sind, wie man annehmen könnte. Der Stellenwert, welcher der 4.4 Zur untersuchten Stichprobe 155 <?page no="166"?> Rechtschreibung zugemessen wird, scheint somit eher von der Domäne (Arbeit, Freizeit) sowie vom Adressatenbezug (Kunden/ Mitarbeitende) und weniger vom Medium geprägt. Dieses Normbewusstsein zeigt sich auch in der hohen Zustimmung bei der Frage, ob sie es peinlich fänden, wenn jemand viele Rechtschreibfehler mache. Hier antworteten 77 % der Befragten zustimmend bis sehr zustimmend und nur 23 % lehnten diese Aussage ab. Es muss hier allerdings einschränkend angemerkt werden, dass bei einer Befragung wie der vorliegenden Effekte der sozialen Erwünschtheit nicht ausgeschlossen werden können. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Stellenwert Orthographie in versch. Textsorten und Domänen k.A: ganz unwichtig eher unwichtig eher wichtig sehr wichtig Abb. 10: Stellenwert der Rechtschreibung in verschiedenen Textsorten und Domänen (N = 44). Es wurde ebenfalls erhoben, ob die Motivation, im Beruf (d. h. also in der stark normorientierten Domäne) orthographisch korrekt zu schreiben, intrinsisch oder extrinsisch motiviert ist. Bei der extrinsischen Motivation wurde unterschieden zwischen einer expliziten extrinsischen Motivation, bei der im Beruf explizit darauf geachtet wird, ob korrekt geschrieben wird, sowie einer impliziten extrinsischen Motivation, bei der davon ausgegangen wird, dass orthographische Korrektheit beim Schreiben im Beruf erwartet wird. Auch hier zeigt sich wiederum das ausgeprägte Normbewusstsein innerhalb dieser Stichprobe (vgl. Abb. 11): 98 % der Befragten gaben an, dass es ihnen persönlich wichtig sei, orthographisch korrekt zu schreiben, d. h., dass sie eine hohe intrinsische Motivation aufweisen - allerdings sind auch bei dieser 156 4 Untersuchungsanlage <?page no="167"?> Frage Effekte der sozialen Erwünschbarkeit nicht auszuschließen. Die Antworten zeigen allerdings auch, dass die untersuchten Personen offenbar zum größten Teil in einer Arbeitssituation stecken, in der sowohl explizit orthographische Korrektheit eingefordert wird (70 %) als auch implizit (96 %) von einem orthographisch korrekten Schreiben ausgegangen wird. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Motivation trifft gar nicht zu trifft eher nicht zu trifft eher zu trifft voll und ganz zu Abb. 11: Angaben zu extrinsischer und intrinsischer Motivation (N = 44). Wie sich diese starke Normorientierung in der alltäglichen Schreibpraxis manifestiert, kann mit einer Befragung allerdings nur indirekt erhoben werden. Die Versuchspersonen wurden dazu nach Problemlösestrategien bei Rechtschreibproblemen im beruflichen (d. h. also in der stark normorientierten Domäne) befragt, da das Schreibexperiment in dieser Hinsicht ebenfalls nur beschränkt Einsicht zu geben vermag (vgl. Kapitel 6). Die Problemlösestrategie deutet darauf hin, dass die hohe Normorientierung sich in der beruflichen Schreibpraxis nicht gleichermaßen deutlich in Handlungen niederschlägt. Abb. 12 zeigt beispielsweise, dass bei orthographischen Schwierigkeiten gemäß eigenen Angaben der Versuchspersonen oft einfach nach Gefühl geschrieben wird, gefolgt von der automatischen Rechtschreibkorrektur, dem Nachschlagen in den Wörterbüchern sowie dem Ersetzen des fraglichen Lexems mit einem inhaltlich äquivalenten Lexem und dem Nachfragen bei Arbeitskollegen/ -innen. Einfach irgendwie zu schreiben, die richtige Schreibweise zu googlen oder eine Rechtschreibregeln nachzuschlagen wird weniger oft bis fast gar nie genannt. 4.4 Zur untersuchten Stichprobe 157 <?page no="168"?> 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Problemlösestrategien bei orthographischen Schwierigkeiten nie sehr selten eher selten eher selten sehr selten Gefühl autom. Korrektur Wörterbuch Lexemersatz Arbeitskollegen Rechtschreibregel googlen irgendwie Abb. 12: Problemlösestrategien bei orthographischen Schwierigkeiten im Beruf (N = 44), nach absteigender Nennung und Häufigkeit sortiert. 4.4.5 Einstellungen gegenüber der orthographischen Varianz Der letzte Teil der Beschreibung der Stichprobe ist den Einstellungen gegenüber den orthographischen Varianten gewidmet. Um standardisiert mit geschlossenen Fragen und Likert-Skalen arbeiten zu können, wurde vorgängig das Spektrum der Einstellungen erhoben, wie sie im medialen Diskurs erscheinen, wobei es sich jedoch nicht um eine Diskursanalyse im engeren Sinne handelt. Die Recherchen erfolgten in der Medien-Datenbank GBI-/ Genios und Lexis-Nexis 62 , indem nach den Stichworten Rechtschreibreform, Orthographie und Varianten gesucht wurde. Die relevanten Treffer wurden ausgewertet und nach Aussagen zu orthographischen Varianten durchsucht, die eine affektive oder evaluative Komponente enthielten. In einem zweiten Schritt wurden aus diesen Aussagen Items für den Fragebogen konstruiert. Die Auswertung zeigt (vgl. Abb. 13), dass in dieser Stichprobe vor allem das Bedürfnis nach der innertextuellen Einheitlichkeit sehr ausgeprägt ist: 84 % der Versuchspersonen stimmen der Aussage eher bzw. voll und ganz zu, dass es vor allem wichtig sei, dass innerhalb desselben Textes einheitlich geschrieben werde. Was die individuelle Schreibpraxis betrifft, wurde als positive Eigenschaft der orthographischen Varianz von 64 % der Befragten die Freiheit geschätzt, die damit dem Schreibenden zugestanden wird. Eher 62 http: / / www.genios.de (1. 2. 2016); http: / / www.lexisnexis.com (1. 2. 2016). 158 4 Untersuchungsanlage <?page no="169"?> negativ eingeschätzt wird hingegen die Auswirkung auf die Merkfähigkeit sowie auf den Schreibprozess: Je 57 % geben an, dass sie sich zwei Formen schlechter einprägen können sowie im Schreibprozess nicht darüber nachdenken mögen, welche Form sie nun wählen sollten. 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Einschätzung der orthographischen Varianz k.A. trifft gar nicht zu trifft eher nicht zu trifft eher zu trifft voll und ganz zu Abb. 13: Einschätzung der orthographischen Varianz (N = 44). Was die Einschätzung der orthographischen Varianz in Bezug auf den kollektiven Usus betrifft, ist das Bild weniger deutlich. Die Aussage „ Wenn man orthographische Varianten zulässt, schreibt bald jede und jeder so, wie es ihm/ ihr gefällt “ wurde von 43 % der Befragten als voll und ganz bzw. eher zutreffend bezeichnet. 41 % sehen den Nutzen der Varianten vor allem für schwächere Schreiber und Schreiberinnen. Abschließend sollen zwei freie Kommentare kontrastiert werden, die als prototypisch für den Zwiespalt der meisten Versuchspersonen gelten können und zeigen, dass seit der Rechtschreibreform bei allen orthographischen Fragen der Diskurs zur Rechtschreibreform stets mitzudenken ist: (15) „ Bin tatsächlich etwas verunsichert. Hab das Gefühl, dass viele v. a. junge Leute denken, jetzt könne man so schreiben, wie man redet, ohne Interpunktion. Ich fand die Rechtschreibung früher bis auf ein paar Spezialregeln ziemlich klar und einfach. Regeln mit 2 richtigen Varianten sind blöd! “ (16) „ Varianten stören mich zwar, es würde mich dennoch stören, wenn das, was ich gelernt habe, keine Gültigkeit mehr hätte. Insofern trage ich zwei Herzen in meiner Brust. “ 4.4 Zur untersuchten Stichprobe 159 <?page no="170"?> Es zeigt sich in beiden Äußerungen ein subjektives Konzept, wie eine Orthographie idealiter beschaffen sein soll, nämlich eindeutig und klar geregelt, dies führt zu einer grundsätzlich negativen Einschätzung der Varianz. Varianz wird dabei - nur teilweise den Tatsachen entsprechend (vgl. dazu Kapitel 3) - stark mit der Rechtschreibreform in Verbindung gebracht, die das orthographie-bezogene Selbstkonzept empfindlich erschüttert hat. Die Folgerungen, die aus diesen Annahmen gezogen werden, sind allerdings unterschiedlich: Die eine Position thematisiert vor allem die Auswirkungen auf die (Recht-)Schreibkultur und prognostiziert einen Usus der Beliebigkeit. Die andere Position betont die Freiheit im eigenen Schreibhandeln, die ein durch die Rechtschreibreform beeinträchtigtes Selbstkonzept wieder herstellen kann. 4.4.6 Zusammenfassung Die Stichprobe für das Schreibexperiment, das Abfragen der Varianten sowie der Befragung zu den Einstellungen umfasste 44 Personen im Alter zwischen 30 - 50 Jahren mit verschiedenen Ausbildungs- und Berufshintergründen, wobei Ausbildungen im tertiären Bereich sowie die Beschäftigung im Bildungsbereich etwas überwiegen. Die Stichprobe zeigt sich in ihren literalen Praktiken und Einstellungen als relativ homogen und zeichnet sich durch eine äußerst ausgeprägte Normorientierung sowie ein eher hohes orthographie-bezogenes Selbstkonzept aus, das jedoch durch die Rechtschreibreform etwas erschüttert wurde. Nur in Bezug auf die Anwendung der neuen bzw. alten Rechtschreibung zeigen sich Unterschiede, wobei je die Hälfte der Versuchspersonen angibt, die alte bzw. die neue Rechtschreibung zu verwenden. Was die Einstellungen gegenüber der orthographischen Varianz betrifft, wird vor allem die innertextuelle Einheitlichkeit hochgewertet. Des Weiteren wird einerseits vor allem in Bezug auf die eigene Schreibpraxis die Freiheit geschätzt, welche die orthographische Varianz dem Schreibenden zugesteht, andererseits wird in Bezug auf die kollektive Praxis eine Kultur der Beliebigkeit befürchtet. 160 4 Untersuchungsanlage <?page no="171"?> 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen 5.1 Methodische Vorbemerkungen Der erste Teil der Untersuchung ist den Gebrauchsfrequenzen gewidmet. Dabei werden aus vier verschiedenen Datenquellen die Frequenzen für die ausgewählten Varianten ermittelt und kontrastiert. Hier noch einmal die Zusammenstellung der Datenquellen, vgl. für eine detailliertere Beschreibung des genauen Vorgehens und der Zusammensetzung der Korpora 4.1.2: - DeReKo-Korpus/ COSMAS: t1 (vor der Reform), t2 (nach der Reform 1996), t3 (nach der Revision der Reform) - pressetext: t2 (nach der Reform 1996), t3 (nach der Revision der Reform) - Erhebung Stichprobe (44 VPN): ● Experiment spontane Wahl 1: die in der Schreibaufgaben erstgewählte Schreibung spontane Wahl 2: die in der Schreibaufgabe endgültigen Schreibung ● Befragung: problemfokussierte Wahl (Die Versuchspersonen waren über das Vorliegen einer Variante informiert.) Wie schon erwähnt sollen mit den vier Datenquellen verschiedene literale Praktiken abgebildet werden, die das Kontinuum von professionellen Schreiben in den Medien, über professionelles, berufliches Schreiben in Firmen hin zu individuellem Schreiben abbilden sollen. Im Schreibexperiment und in der Befragung wurden jeweils nicht alle Formen erhoben, sondern die Formen wurden auf die beiden Instrumente aufgeteilt mit Ausnahme der beiden Fahnenwörter aufwendig/ aufwändig und selbständig/ selbstständig. Da das pressetext-Korpus mit sechs Millionen token (t1) bzw. 9 Millionen token (t2) eher klein ist, konnte nicht für alle Formen eine ausreichende Anzahl Belege gefunden werden, es werden nur diejenigen Fälle in die Auswertung aufgenommen, für die sich im jeweiligen Zeitabschnitt 10 oder mehr Belege finden lassen. In den Korpusrecherchen wurden jeweils alle Flexionsformen und Komposita in die Recherche eingeschlossen. Es wurde nicht die absolute Anzahl der Treffer gezählt, sondern die Anzahl Texte, in denen die eine oder andere Form erscheint. Diese Zahl ist weitaus aussagekräftiger, denn mehrfaches Auftreten der gleichen Form in einem Text verzerrt das Verhältnis. Es wurden alle Treffer manuell ausgewertet und Falschtreffer ausgeschlossen. <?page no="172"?> Folgende Fragestellungen leiten diesen Teil der Untersuchung: 1. Präferenzen 1.1. Welche Form wird jeweils präferiert? 1.2. Gibt es innerhalb der Phänomenbereiche musterhafte Präferenzen? 1.2.1. Fremdwortschreibung: Ursprungsschreibung versus integrierte Schreibung? 1.2.2. Getrennt-/ Zusammenschreibung? 1.2.3. Groß-/ Kleinschreibung? 2. Unterscheiden sich die Präferenzen im Vergleich der verschiedenen Datenquellen? 3. Verändern sich die Präferenzen über die untersuchten Erhebungszeiträume hinweg? 4. An welchem Regelwerk (alte Rechtschreibung, reformierte Rechtschreibung, Wörterbuchempfehlungen) orientieren sich die Schreiber bei neuen Varianten? In den folgenden Unterkapiteln werden die Gebrauchsfrequenzen für jeden Phänomenbereich gesondert dargestellt. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 5.2.1 Einzelwortschreibungen: aufwendig/ aufwändig und selbständig/ selbstständig Bei den beiden Fahnenwörten aufwendig/ aufwändig und selbständig/ selbstständig zeichnen sich unterschiedliche Tendenzen ab. Bei aufwendig/ aufwändig (vgl. Abb. 14) zeigt sich im medialen Schreiben (DeReKo/ COSMAS II) analog zur offiziellen Regelung vor der Reform (t1) eine deutliche Präferenz mit fast 100 % für die damals korrekte Schreibung aufwendig, bemerkenswerterweise ist aber doch zweimal die nicht zugelassene Form aufwändig zu verzeichnen. Mit der Reform von 1996 (t2) kommen nun beide Formen mit einer leichten Tendenz zur hergebrachten Schreibung vor. Im pressetext-Korpus ist das Verhältnis für diesen Zeitraum ähnlich. Für den Erhebungszeitraum nach der Revision der Reform (2006) zeigen jedoch diese beiden Korpora unterschiedliche Tendenzen. Während beim DeReKo die althergebrachte Schreibung wieder häufiger verwendet wird (von 54 % auf 63 %), ist der Trend im pressetext-Korpus gerade gegenläufig, hier überwiegt nun die reformierte Schreibung mit 61 %. Das professionelle mediale Schreiben folgt somit tendenziell eher den Empfehlungen der Wörterbuchredaktionen, der Nachrichtenagenturen und der SOK (Schweizer Orthographischen Konferenz). 63 Das professionelle wirtschaftliche Schreiben 63 Die Empfehlungen sind in 4.1.1 aufgeführt. 162 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="173"?> in Firmen tendiert demgegenüber eher Richtung reformierte Schreibung. Noch deutlicher bildet sich diese Tendenz beim Wahlverhalten der untersuchten Stichprobe ab. Im spontanen Schreiben im Schreibexperiment wird sowohl bei der Erstverschriftung als auch bei der im endgültigen Text belassenen Schreibung die reformierte Form aufwändig häufiger gewählt und zwar in einem Verhältnis von 65 % zu 35 %. Bei der problemfokussierten Wahl, d. h. in denjenigen Fällen, in denen die Versuchspersonen darüber informiert waren, dass eine Variante vorliegt, hat sich dieses Verhältnis zugunsten der althergebrachten Schreibung wieder etwas verschoben. Dies könnte darauf hindeuten, dass bei repräsentierter Varianz die althergebrachte wieder etwas an häufiger verwendet würde und die beiden Formen in etwa gleich oft präferiert werden. Ganz anders sieht das Bild bei der Schreibung selbständig/ selbstständig aus. Während sich analog zur orthographischen Norm wiederum im DeReKo die Schreibung selbständig vor der Reform überwiegt und trotzdem noch 62 Falschschreibungen zu beobachten sind, ist nach der Reform von 1996 ein völliges Umkehren festzustellen. Schon im Erhebungszeitraum t2 wird in einem Verhältnis von 60: 40 die reformierte Schreibung bevorzugt, in t3 ist dieses Verhältnis mit 78: 22 noch ausgeprägter. Bei pressetext t2 und t3 sind die gleichen Tendenzen zu beobachten. Somit folgen sowohl das professionelle mediale Schreiben als auch das professionelle wirtschaftliche Schreiben den Empfehlungen von Duden und Wahrig, wenn auch nicht der SOK. Bemerkenswert ist, dass in pressetext t2 auch in drei Texten beide Formen gleichzeitig auftreten. Die individuellen Präferenzen weisen in die umgekehrte Richtung: Sowohl bei der spontanen Wahl als auch bei der problemfokussierten Wahl überwiegt die alte Schreibung mit 76 % bis 80 %. Dass die Präferenz auch bei repräsentierter Varianz in dieser deutlichen Form beibehalten wird, lässt vermuten, dass sich hier der Usus im individuellen Schreiben in diesem Verhältnis einpendeln könnte. Dies müsste jedoch an einer größeren Stichprobe überprüft werden. Was sich bei dieser Form aber nun deutlich zeigt, ist, dass sich der Usus in verschiedenen literalen Praktiken doch erheblich unterscheiden kann und Rückschlüsse von Erhebungen in linguistischen Korpora wie dem DeReKo (COSMAS), die v. a. das mediale Schreiben abbilden, auf den Usus allgemein heikel sind. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 163 <?page no="174"?> Abb. 14: Gebrauchsfrequenzen für aufwendig/ aufwändig im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 2298, t2 = 4366, t3 14'408; N_pressetext t1 = 327, t2 = 367; N_Stichprobe spontane Wahl = 40, problemfokussierte Wahl = 44. Abb. 15: Gebrauchsfrequenzen selbständig/ selbstständig im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 2911, t2 = 4597, t3 13'335; N_pressetext t1 = 477, t2 = 442; N_Stichprobe spontane Wahl = 41, problemfokussierte Wahl = 44. 164 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="175"?> 5.2.2 Fremdwortschreibung 5.2.2.1 ‹ ph › - ‹ f › -Varianz Die ‹ ph › / ‹ f › -Varianz kann als gut repräsentierte Varianz gelten, da in vielen Fällen, vor allem bei den Stämmen -phon oder -phot schon vor der Reform beide Schreibungen zugelassen waren. Aus diesem Bereich wurden deshalb und da die -phon oder -phot-Stämme anderweitig schon gut dokumentiert sind, so etwa in den korpuslinguistischen Studien von Schmidt (2011) und Krome (2011), mit Delphin/ Delfin und phantastisch/ fantastisch zwei andere Fälle ausgewählt. Bei phantastisch/ fantastisch war schon in der alten Rechtschreibung die integrierte Schreibung als Nebenvariante, bei der Reform (1996) als Hauptvariante zugelassen. Bei Delphin/ Delfin wurde die ‹ f › -Schreibung erst mit der Reform von 1996 als Nebenvariante zugelassen. Bei Delphin/ Delfin (vgl. Abb. 16) zeigen die Gebrauchsfrequenzen in DeReKo (COSMASS II) für t1 als den Zeitabschnitt vor der Reform der normgemäß eine deutliche Präferenz für die Ursprungsschreibung, wobei jedoch in vier Fällen von total 439 eine nicht der alten Rechtschreibung entsprechende integrierte Schreibung auftritt. Mit der Reform von 1996 wird die integrierte Schreibung leicht (58 %) bevorzugt, obwohl sie nur als Nebenvariante zugelassen wäre. Diese Tendenz setzt sich dann für t3 fort, wobei die Präferenz für die integrierte Schreibung nun mit 71 % schon deutlich ausgeprägt ist. Dies entspricht in etwa den Resultaten von Schmidts korpuslinguistischer Untersuchung ebenfalls in DeReKo (COSMAS II) an einem Subkorpus für den Zeitraum 2007/ 2008, der mit 81 % ebenfalls eine deutliche Präferenz der integrierten Schreibung ermittelt hat Schmidt (2011: 321). 64 Analog präsentieren sich die Gebrauchsfrequenzen in pressetext t2 und t3, wobei hier die Präferenz der integrierten Schreibung und der Rückgang der Ursprungsschreibung noch prägnanter sind, so dass nur noch in 17 % der Fälle die ‹ ph › -Schreibung gewählt wird. Im medialen sowie im professionellen Schreiben von Firmen wird somit den Empfehlungen der Wörterbücher sowie der Nachrichtenagenturen gefolgt. Ganz anders sehen die Präferenzen in der untersuchten Stichprobe bei der problemfokussierten Wahl aus. Es wurden hier zwei Items abgefragt: das Simplex Delphin/ Delfin sowie das Kompositum Flussdelphin/ Flussdelfin. Das Kompositum wurde gewählt, um zu prüfen, ob allenfalls die Nähe zu einer regulären deutschen Phonem-Graphem-Korrespondenz wie in flusszu einer Präferenz für die integrierte Schreibung führen würde. Die Präferenzen für die beiden Formen wurden addiert, es hat jeweils nur eine Versuchsperson beim Kompositum jeweils die andere Form vorgezogen. Zusammengerechnet für die beiden Items wurden in der untersuchten Stichprobe mit 61 % 64 Die unterschiedlichen Prozentzahlen sind wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass der vorliegenden Untersuchung ein anderes Subkorpus sowie ein anderer Zeitabschnitt des DeReKo zugrunde liegt. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 165 <?page no="176"?> relativ deutlich die Ursprungsschreibung präferiert. Die Gründe dafür sind nicht unmittelbar einsichtig und werden in der Diskussion der Begründungen der Versuchspersonen in Kapitel 7 vorgestellt. Abb. 16: Gebrauchsfrequenzen Delphin/ Delfin im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 439, t2 = 825, t3 2'318; N_pressetext t1 = 18, t2 = 23; N_Stichprobe Versuchspersonen = 44; N_problemfokussierte Wahl = 84 (keine Wahl pro Konstruktion: 2). Abb. 17: Gebrauchsfrequenzen phantastisch/ fantastisch im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 1419, t2 = 2523, t3 9'204; N_pressetext t1 = 35, t2 = 60; N_Stichprobe Versuchspersonen = 44, N_problemfokussierte Wahl = 86 (keine Wahl: pro Konstruktion 1). 166 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="177"?> Bei phantastisch/ fantastisch (vgl. Abb. 17) zeigen die Recherchen in DeReKo (COSMAS II) im Vergleich der drei Zeitabschnitte vor der Reform, nach der Reform von 1996 und nach der Revision der Reform von 2006 im Einklang mit der jeweils geltenden offiziellen Regelung einen deutlichen Rückgang der Ursprungsschreibung. Die Verhältnisse von rund 79: 21 für die Ursprungsschreibung in t1 und 80: 20 bzw. 83: 17 für t2 und t3 bilden auch die Variantenführung des jeweiligen Regelwerkes deutlich ab. Dies entspricht in etwa auch den Resultaten von Schmidt (2011: 320), der für die Jahre 2007/ 2008 in einem DeReKo-Subkorpus eine fast ebenso deutliche Präferenz (79 %) für die integrierte Schreibung mit ‹ f › ermittelt hat. Beim pressetext-Korpus ist der Rückgang der Ursprungsschreibung noch deutlicher zu sehen: von 49 % im Zeitraum nach der Reform 1996 auf 12 % nach der Revision der Reform von 2006. Bei der Versuchsgruppe wurden hier ebenfalls zwei Items abgefragt, um wiederum den Einfluss einer benachbarten regulären deutschen Phonem- Graphem-Korrespondenz zu prüfen: Die Aussicht war phantastisch/ fantastisch sowie Es waren phantastische/ fantastische Ferien. Die Präferenzen entsprechen den in den beiden Korpora ermittelten Gebrauchsfrequenzen, wobei jedoch die Präferenz für die integrierte Schreibung nicht gleichermaßen ausgeprägt ist (38: 62). Eine Versuchsperson hat die Präferenz von ‹ f › auf ‹ ph › gewechselt, interessanterweise für die Phrase phantastische Ferien. Es lässt sich somit keinen Einfluss des lautlichen Kontexts feststellen. Anders als bei Delphin/ Delfin zeigt sich folglich für phantastisch/ fantastisch in allen Datenquellen eine deutliche Integrationstendenz, womit sie auch den Empfehlungen der Wörterbücher und der Nachrichtenagenturen folgen, und wir können davon ausgehen, dass bei dieser Form das Regelwerk dem Usus entspricht und in der Terminologie Kromes der im Usus bereits „ angebahnten “ Entwicklung folgt (Krome 2011: 47/ 48). 5.2.2.2 ‹ tiell › - ‹ ziell › -Varianz Bei der Varianz ‹ tiell › - ‹ ziell › in der Fremdwortschreibung folgen die im DeReKo (COSMAS II) ermittelten Gebrauchsfrequenzen zu t1 für potentiell/ potenziell zu 100 %, aber für existentiell/ existenziell nur zu 86 % der alten Rechtschreibung, somit sind also für t1100 von total 708 Formen nicht der Norm entsprechend verschriftet (vgl. Abb. 18 und Abb. 19). Mit der Aufnahme der ‹ ziell › -Schreibung als Hauptvariante im Regelwerk von 1996 hingegen wird nun für potentiell/ potenziell deutlich mit 84 % (t2) und 93 % (t3) die integrierte Schreibweise bevorzugt, für existentiell/ existenziell mit 85 % (t3) und 92 % (t3). Die gleiche Tendenz zeigt sich im pressetext-Korpus, in dem die integrierte Schreibung der beiden Formen zu t2 mit 73 % (potenziell) und 80 % (existenziell) und zu t3 mit und zu t3 mit 86 % (potenziell) und 78 % (existenziell) deutlich stärker vertreten ist. Trotzdem lässt sich auch bei dieser Form ein geringfügig schwankender Gebrauch im pressetext-Korpus 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 167 <?page no="178"?> beobachten, da in vier Texten (t2) bzw. in neun Texten (t3) beide Schreibweisen im selben Text erscheinen. Abb. 18: Gebrauchsfrequenzen potentiell/ potenziell im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 3117, t2 = 4527, t3 13'870; N_pressetext t1 = 384, t2 = 633; N_Stichprobe spontane Wahl = 41. Im Gegensatz dazu zeigt sich bei den Versuchspersonen aus der Stichprobe eine deutliche Präferenz für die Ursprungsschreibung bei der spontanen Wahl potentiell/ potenziell mit 71 % sowie ein leichte Präferenz bei der problemfokussierten Wahl existentiell/ existenziell mit 53 %. Dies dürfte teils auf die Unterschiede im Wahlmodus (spontan versus problemfokussiert) sowie auf die bei existenziell naheliegendere Ableitung vom Nomen Existenz zurückzuführen sein. Wiederum zeigt sich beim Vergleich der verschiedenen Datenquellen, dass sich bei der Variantenwahl Unterschiede zwischen dem professionellen Schreiben in den Medien und den Firmen zu den individuellen Präferenzen zeigen - eine weiteres Indiz dafür, dass der Usus nicht nur in Korpora ermittelt werden darf, die hauptsächlich aus Medientexten aufgebaut sind. 168 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="179"?> Abb. 19: Gebrauchsfrequenzen existentiell/ existenziell im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 708, t2 = 1129, t3 2'724; N_pressetext t1 = 20, t2 = 18; N_Stichprobe spontane Wahl = 41. 5.2.3 Groß- und Kleinschreibung 5.2.3.1 recht geben/ Recht geben (§ 56 E2) Bei der Verbindung von Nomen und Verb in der Form recht geben/ Recht geben handelt es sich um einen Fall aus der Regelungsbereich der Desubstantivierungen. Nach dem lexikalischen Kriterium handelt es sich bei recht/ Recht um ein Nomen, weil es auf ein nominales Lexem zurückgeführt werden kann (das Recht); eine Bestimmung nach syntaktischen Kriterien hingegen führt nicht zu einem eindeutigen Resultat (vgl. 4.1.2): Da recht/ Recht nicht artikel- oder attributfähig ist, ist es nicht eindeutig als Kern einer Nominalphrase bestimmbar; demgegenüber lässt es sich mit sehr erweitern, was für eine Bestimmung als Adjektiv in adverbialer Funktion spricht. Im Regelwerk 1996 wurde nur die Großschreibung zugelassen, im Regelwerk 2006 in Anerkennung des unklaren Status der Wortkategorie jedoch Groß- und Kleinschreibung. Bei dieser Form empfiehlt Duden die Klein- und Wahrig, die Nachrichtenagenturen und die SOK die Großschreibung. Diese beiden Formen wurden in der Versuchsgruppe mit zwei Konstruktionen abgefragt: eine Kontaktstellung mit der Infinitiv-Konstruktion und eine Distanzstellung mit der finiten Form; dies um zu prüfen, ob die topologische Nähe oder Distanz zum Verb die Präferenzen beeinflusst: - Kontaktstellung: In diesem Fall muss ich dir recht/ Recht geben. - Distanzstellung: Sie gibt ihm immer recht/ Recht. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 169 <?page no="180"?> Die Verteilung der Gebrauchsfrequenzen in den Zeiträumen t1 - t3 im DeReKo (COSMAS) 65 sind in etwa ein Abbild der jeweils geltenden Regelung (vgl. Abb. 20): Vor der Reform dominiert der Norm entsprechend die Kleinschreibung. Allerdings sind doch 12 % der insgesamt 708 Belege großgeschrieben und in zwei Fälle wird sogar weder der alten noch der neuen Regelung entsprechend zusammengeschrieben. Dieses Verhältnis wechselt für den Zeitraum nach der Reform (t2) in 77 % Großschreibungen versus 23 % nun nicht mehr der Norm entsprechenden Kleinschreibung. Mit der Revision der Reform 2006 und der Zulassung von Groß- und Kleinschreibung präsentieren sich die Frequenzen ausgeglichen mit 57 % Großschreibung zu 43 % Kleinschreibung sowie vier Belegen für die immer noch nicht der Norm entsprechende Zusammenschreibung. Abb. 20: Gebrauchsfrequenzen recht geben/ Recht geben/ rechtgeben im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 708, t2 = 1095, t3 2'739; N_pressetext t1 = 20, t2 = 18; N_Stichprobe Versuchspersonen = 44, problemfokussierte Wahl = 78 für beide Konstruktionen zusammengerechnet. Die Versuchsgruppe tendiert bei dieser Form für die beiden Konstruktionen Kontakt- und Distanzstellung zusammengerechnet eher zu Großschreibung (69 %) und analysiert somit recht/ Recht als Nomen. Die Kleinschreibung wird demgegenüber von knapp einem Drittel gewählt (31 %). 65 Für den Zeitraum t3 in DeReKo (COSMAS II) konnten aufgrund der hohen Anzahl Treffer, worunter viele Falschtreffer waren (ein Recht haben auf; ein recht schönes Leben haben), die nur bei manueller Durchsicht sowie bei genauer Lektüre entdeckt werden, nicht alle Belege vollständig geprüft werden. Es wurde deshalb analog dem Verfahren der Duden-Redakion (Münzberg 2011: 188), von ausgewerteten 50 % hochgerechnet. 170 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="181"?> Dieses Bild differenziert sich etwas, wenn die Präferenzen für die Konstruktionen gesondert ausgewertet werden: In der Kontaktstellung wird die Großchreibung von 30 Versuchspersonen präferiert, dies ist eine deutliche Präferenz gegenüber den elf Versuchspersonen, welche die Kleinschreibung gewählt haben. Drei Versuchspersonen konnten sich nicht für eine der beiden Formen entscheiden. Für die Distanzstellung sehen die Präferenzen ein bisschen anders aus: Während hier 16 Versuchspersonen die Kleinschreibung bevorzugen, stehen dem nur noch 24 Versuchspersonen gegenüber, welche die Großschreibung gewählt haben. Konkret haben zehn Versuchspersonen für die Distanzstellung eine andere Präferenz als für die Kontaktstellung. Einmal wurde von der Kleinschreibung auf die Großschreibung gewechselt; sechsmal von der Großschreibung auf die Kleinschreibung; zweimal von der Großschreibung auf keine Präferenz und einmal von keine Präferenz auf die Großschreibung. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Präferenz für die Großchreibung in der Kontaktstellung ausgeprägter ist als für die Distanzstellung. Dies könnte darauf hindeuten, dass in der Distanzstellung recht als Verbpartikel eines trennbaren Verbs analysiert wird, was allerdings eine Zusammenschreibung im Infinitiv impliziert (vgl. dazu auch die Darstellung der Begründungen in Kapitel 7). 5.2.3.2 aufs genaueste/ Genaueste (§ 58 (2) E1 & § 57 (1)) Da die feste adverbiale Verbindung aufs genaueste/ aufs Genaueste wenig frequent ist, konnte in DeReKo (COSMAS II) für den Erhebungszeitraum vor der Rechtschreibreform von 1996 (t1) sowie aus dem Pressetext für t2 und t für eine Auswertung nicht genügend Belege ermittelt werden. Es liegen somit nur zwei Datenquellen für den Gebrauch nach der Reform vor: das mediale Schreiben und die im Schreibexperiment erhobenen Daten zur spontanen Wahl. Die Tendenz zur Großchreibung ist sowohl für das mediale Schreiben als auch für das individuelle Schreiben deutlich sichtbar, vgl. Abb. 21. Für das individuelle Schreiben ist sie allerdings weniger ausgeprägt. So wählen im Schreibexperiment bei der ersten Verschriftung zwölf Versuchspersonen die Kleinschreibung (29 %), in der endgültigen Version, d. h. nach Revisionen, sind es gar 15 Versuchspersonen (37 %). Diese Tendenzen entsprechen in etwa den Resultaten aus der Erhebung von Ossner (2011), die er für den Rechtschreibrat an Schulen (Oberstufe) aus den drei deutschsprachigen Ländern sowie Belgien durchgeführt hat (vgl. Kapitel 3): Bei der abgefragten Form aufs herzlichste/ aufs Herzlichste bezeichneten rund 75 % der Schüler und Schülerinnen die Großschreibung als korrekt. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 171 <?page no="182"?> Abb. 21: Gebrauchsfrequenzen aufs genaueste/ aufs Genaueste; aufs genauste/ aufs Genauste im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t2 = 24, t3 23; N_Stichprobe spontane Wahl = 41. 5.2.3.3 Feste Verbindungen aus Präpositionen und dekliniertem Adjektiv: auf weiteres/ auf Weiteres und seit längerem/ seit Längerem (§ 58 3.2) Die Formen auf weiteres/ auf Weiteres sowie seit längerem/ seit Längerem sind alle demselben Paragraphen des Regelwerks (58.3.2) entnommen und werden somit zusammen besprochen. Es handelt sich hierbei um feste Verbindungen von Präposition und dekliniertem Adjektiv mit adverbialer Funktion. Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat aus dieser Fallgruppe die Verbindungen mit der Präposition im (z. B. im Allgemeinen, im Folgenden) umfassend und einige weitere Fälle punktuell in den Korpora DeReKo, Duden und Wahrig untersucht und dabei festgestellt, dass die Präferenzen innerhalb dieser Untergruppe unterschiedlich ausfallen, was er darauf zurückführt, dass die einzelnen Formen unterschiedlich idiomatisiert bzw. lexikalisiert sind (Rechtschreibrat 2010: 18). Im Gegensatz zur vorangehend besprochenen Form aufs genaueste/ aufs Genaueste zeigt sich bei den hier untersuchten Formen auf weiteres/ auf Weiteres sowie seit längerem/ seit Längerem kaum eine Tendenz zur Großschreibung. Dies trifft vor allem für die Form seit längerem/ seit Längerem zu. Für das mediale Schreiben ist in den beiden Erhebungszeitpunkten t1 (vor der Reform) und t2 (nach der Reform 1996) keine Großschreibung belegt; dies entspricht der alten bzw. der reformierten Norm. Entsprechend tauchen die ersten Belege für die Großschreibung seit dem revidierten Regelwerk (2006) auf, sind aber gegenüber der Kleinschreibung mit lediglich 15 % noch 172 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="183"?> marginal. Die Entwicklung im pressetext-Korpus verläuft ähnlich, wobei mit 10 % zum Zeitpunkt t3 noch geringfügig weniger Belege für die Großschreibung auszumachen sind. Auch das individuelle Wahlverhalten im Schreibexperiment bildet die Präferenz für die Kleinschreibung deutlich ab, indem bei der Erstverschriftung bloß 13 %, bei der endgültigen Wahl dann 15 % der Versuchspersonen die Großschreibung gewählt haben. Offenbar nehmen hier nur wenige Schreibende die Flexionsendungen als Indikator für eine Nominalisierung wahr oder, folgt man der Argumentation des Rats für deutsche Rechtschreibung, gehen von einer lexikalisierten Wendung aus. Die deutliche Präferenz der Kleinschreibung lässt sich wahrscheinlich darauf zurückführen, dass die Großschreibung erst seit der Revision der Reform von 2006 als Variante zugelassen ist. Von den Wörterbüchern empfiehlt auch nur der Duden die Großschreibung; Wahrig, die Nachrichtenagenturen sowie die SOK empfehlen die Kleinschreibung. Abb. 22: Gebrauchsfrequenzen seit längerem/ seit Längerem im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 1097, t2 = 1640, t3 = 5466; N_pressetext t1 = 98, t2 = 118; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 40, spontane Wahl 2 = 41. Analog lauten auch die Regeln und Empfehlungen bei der Verbindung auf weiteres/ auf Weiteres, bei der auch erst seit der Revision der Reform 2006 die Großchreibung als Variante zugelassen ist. In den beiden Korpora zeigt sich wiederum eine nur geringe Tendenz zur Großschreibung, die jedoch für den Erhebungszeitraum nach der Revision der Reform im DeReKo (COSMAS II) 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 173 <?page no="184"?> doch auf 31 % ansteigt und auch den für diese Form durchgeführten Recherche des Rats für deutsche Rechtschreibung entspricht (Rechtschreibrat 2010: 19). Im pressetext-Korpus ist sie hingegen auch für t3 mit 9 % noch immer sehr gering. Ganz anders liegen jedoch die Präferenzen innerhalb der untersuchten Stichprobe bei der problemfokussierten Wahl: Bei der Abfrage der Varianten, bei der die Versuchspersonen über das Vorliegen einer Variante informiert waren, sind die Präferenzen nun fast ausgeglichen in einem Verhältnis von 52 % für Kleinschreibung und 48 % für die Großschreibung. Offenbar wird die Wortkategorie von weiteres/ Weiteres bei fast der Hälfte der Versuchspersonen als nominalisiert wahrgenommen. Die Gründe dafür werden auch in Kapitel 7 dargelegt. Abb. 23: Gebrauchsfrequenzen auf weiteres/ auf Weiteres im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 725, t2 = 1138, t33360; N_pressetext t1 = 52, t2 = 22; N_Stichprobe spontane Wahl = 42 (keine Wahl: 2). 5.2.3.4 das seine/ das Seine § 58 (4) E3 Bei der Form das seine/ das Seine, eine Form aus der Gruppe der Verbindungen von Pronomen mit Artikel (§ 58 4 E3) handelt es sich um eine eher niederfrequentes Lexem, es können daher nur das DeReKo (COSMAS II) sowie das Wahlverhalten der Versuchsgruppe berücksichtig werden, da im pressetext- Korpus für eine Auswertung nicht genügend Belege vorhanden sind. In beiden Datenquellen zeigt sich ein deutliche Präferenz für die Großchreibung, das im Korpus selbst über die drei Zeitstufen hinweg stabil bleibt. Das Verhältnis bewegt sich dabei zwischen 74 % und 80 % bei der Groß- 174 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="185"?> schreibung zu 20 - 26 % bei der Kleinschreibung (vgl. Abb. 24). Es erstaunt, dass im Erhebungszeitraum vor der Reform (t1) doch in 25 % der Fälle kleingeschrieben wurde, da in der alten Rechtschreibung die Großschreibung vorgeschrieben war. Erst im Regelwerk 1996 und 2006 wurde die Kleinschreibung als Variante aufgenommen. Die Präferenz für die Großschreibung dürfte also daher kommen, dass sie schon in der alten Rechtschreibung vorgesehen war, sowie aktuell auch von den beiden Wörterbüchern Duden und Wahrig sowie der Nachrichtenagenturen empfohlen wird. Was das individuelle Wahlverhalten in der Versuchsgruppe betrifft, sei hier der Diskussion der Begründungen in Kapitel 7 vorweggenommen, dass ein weiterer Grund für die klare Präferenz beim individuellen Wahlverhalten das syntaktische Kriterium sein dürfte, das mit der Artikelprobe in diesem Fall besonders einfach anzuwenden ist und seit der Reform gestärkt worden ist. Abb. 24: Gebrauchsfrequenzen auf weiteres/ auf Weiteres im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 55, t2 = 99, t3 = 110; N_Stichprobe problemfokussierte Wahl = 42 (keine Wahl: 2). 5.2.3.5 etwas anderes/ etwas Anderes § 58 (5) E4 Gerade anders als beim nominalisierten Pronomen das seine/ das Seine verlaufen die Präferenzen bei der Nominalisierungen des unbestimmten Zahladjektivs in der Verbindung etwas anderes/ etwas Anderes. Bei dieser Form zeigt sich in allen Datenquellen außer der Versuchsgruppe eine stark ausgeprägte Präferenz der Kleinschreibung. Für den Erhebungszeitraum vor der Reform (t1) entspricht die Kleinschreibung der alten Rechtschreibung, trotzdem 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 175 <?page no="186"?> erscheint in diesem Zeitraum neunmal die Großschreibung und somit eine Falschschreibung. Die Reform von 1996 ließ nun sowohl Großwie auch Kleinschreibung zu. Dies stieß offenbar im medialen Schreiben nicht auf große Akzeptanz, erhöht sich doch der Anteil der Großschreibung im DeReKo lediglich auf 10 % und fällt nach der Revision der Reform sogar wieder auf 2 % ab. Ähnlich präsentieren sich die Zahlen für das professionellen wirtschaftliche Schreiben, bei dem sich sogar für t3 keine einzige Großschreibung feststellen lässt. Damit folgen die Gebrauchsfrequenzen im medialen und wirtschaftlichen Schreiben den Empfehlungen der Wörterbücher und Nachrichtenagenturen. Das Wahlverhalten der Stichprobe bei der problemfokussierten Wahl zeigt demgegenüber ausgeglichene Präferenzen: in 51 % der Fälle wurde die Kleinschreibung gewählt, in 49 % die Großschreibung, offenbar sehen hier die Hälfte der Versuchspersonen eine Nominalisierung, entweder aus syntaktischen Gründen (Kern einer Nominalphrase) oder aus morphosyntaktischen Gründen (nominale Flexionsmerkmale). Des Weiteren zeigt sich bei dieser Form wiederum, dass für die Ermittlung des Usus mehrere Datenquellen hinzugezogen werden sollten. Abb. 25: Gebrauchsfrequenzen auf weiteres/ auf Weiteres im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 1172, t2 = 2184, t3 = 6294; N_pressetext t1 = 10, t2 = 16; N_Stichprobe problemfokussierte Wahl = 43 (keine Wahl: 1). 5.2.3.6 mehrere tausend/ Tausend § 58 (6) E5 Das Lexem tausend/ Tausend als bestimmtes Zahladjektiv kann schon seit der Reform 1996 in Fällen großgeschrieben werden, in denen es eine unbestimmte Menge bezeichnet und somit als Zahlsubstantiv gilt. In den beiden Korpora wurde die Form in der Verbindung mehrere/ einige/ viele tausend/ Tausend mit 176 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="187"?> einem Nomen abgefragt, im Schreibexperiment lediglich in der Verbindung mehrere Tausend Schweizer. Für das mediale Schreiben, wie es im DeReKo (COSMAS II) abgebildet wird, sind für die Zeit vor der Reform 1996 einige Großschreibungen, d. h. für diesen Zeitraum Falschschreibungen belegt, konkret sind es 59 in den total 901 Fällen, in denen die Wendung in einer der oben genannten Verbindung auftaucht (vgl. Abb. 26). Der neue Regelung von 1996 entsprechend, nehmen aber die Zahl der Großschreibungen für die Zeiträume t2 und t3 zu, wobei für die letztere Erhebungsperiode schon ein Drittel aller Fälle großgeschrieben wird. Im pressetext-Korpus, der das professionelle Schreiben in Firmen abbildet, ist der Anteil etwas geringer (29 % bzw. 28 %) und zwischen t2 und t3 auch kein Anstieg zu beobachten. Generell kann aber trotzdem für beide Korpora für alle drei Untersuchungsperioden die Präferenz der Kleinschreibung belegt werden, womit sich im Usus die Empfehlungen der beiden Wörterbuchverlage Duden und Wahrig (noch) nicht durchgesetzt haben. Demgegenüber ist das Wahlverhalten im Schreibexperiment ausgeglichener, wenn auch immer noch ganz leicht die Kleinschreibung präferiert wird. In der ersten Verschriftung wählen 59 % die Kleinschreibung, in der endgültigen Fassung hingegen 68 %, d. h. bei total 41 Versuchspersonen haben vier auf die Kleinschreibung gewechselt. Dies deutet darauf hin, dass die Wortkategorie nicht eindeutig zu bestimmen ist, was sich an den Revisionshandlungen, die in Kapitel 6 besprochen werden, auch zeigen wird. Abb. 26: Gebrauchsfrequenzen auf mehrere tausend/ mehrere Tausend im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 901, t2 = 1544, t3 = 5'999; N_pressetext t1 = 69, t2 = 95; N_Stichprobe spontane Wahl = 41. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 177 <?page no="188"?> 5.2.4 Zusammen- und Getrenntschreibung Die Zusammen- und Getrenntschreibung ist nicht nur einer der schwierigsten Bereiche der Rechtschreibung, sondern neben der Fremdwortschreibung auch derjenige Bereich, der am meisten Varianten aufweist. Es wird im Folgenden nach Fallgruppen diskutiert und dargestellt. Für die Verb-Verbindungen wurden jeweils in den Korpus-Recherchen alle Flexionsformen abgefragt, ebenso in den Verbindungen mit adjektivischem zweiten Bestandteil. 5.2.4.1 Verbindungen mit Verben (§ 34): kaputtmachen/ kaputt machen; achtgeben/ Acht geben; haltmachen/ Halt machen; bekanntmachen/ bekannt machen; kennenlernen/ kennen lernen Die Form kaputtmachen/ kaputt machen gehört zur Gruppe der resultativen Prädikativen, d. h. der Zusammensetzungen mit einem adjektivischen ersten Bestandteil, der das Resultat der in der Verbindung ausgedrückten Handlung ausdrückt. Diese Gruppe kann gemäß Regelwerk 2006 (§ 34 2.1) getrennt oder zusammengeschrieben werden. Wenn eine idiomatisierte Bedeutung vorliegt wird allerdings zusammengeschrieben, wobei im Zweifelsfall das Urteil, ob eine idiomatisierte Bedeutung vorliegt oder nicht, dem Schreibenden überlassen ist. In der alten Rechtschreibung war bei dieser Form bei der idiomatisierten Verwendung die Zusammenschreibung vorgesehen, vgl. den Beleg aus COSMAS (1); dies empfehlen auch die Wahrig-Hausorthographie sowie die Nachrichtenagenturen. Im Regelwerk 1996 hingegen wurde hier nur getrennt geschrieben, was auch heute noch von Duden empfohlen wird. (1) „ Auf diese Weise kann ein Politiker kaputtgemacht werden “ , so der Richter im - nicht rechtskräftigen - Urteil. (N93/ OKT.39 546 Salzburger Nachrichten, 29. 10. 1993; Wie man Politiker „ kaputtmacht “ ) Die Korpus-Recherchen erfolgten auch hier wieder mit Berücksichtigung aller Flexionsformen, trotzdem konnten für diese Form im pressetext-Korpus keine ausreichende Anzahl Belege für eine Auswertung gefunden werden, daher werden hier nur die Frequenzen aus DeReKo (COSMAS II) sowie aus der Befragung der Versuchspersonen, denen die beiden Varianten zur Wahl vorgelegt wurden (problemfokussierte Wahl), ausgewertet (vgl. Abb. 27). Im hier untersuchten Teilkorpus aus DeReKo (COSMAS II) kann für den Zeitraum vor der Reform eine deutliche Tendenz zur Getrenntschreibung ausgemacht werden, wobei diese Schreibung rund drei Viertel aller Treffer ausmacht. Die Durchsicht der Treffer darauf, ob bei den 26 % der Belege mit Kleinschreibung eine idiomatisierte Bedeutung vorliegt, was auf eine der alten Regelung entsprechende Norm hinweisen würde, hat vor allem gezeigt, dass in dieser Verbindung die Grenzen zwischen wortwörtlicher und idiomatisierter Verwendung dermaßen fließend ist, dass in zahlreichen Fällen 178 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="189"?> keine Entscheidung getroffen hat. Im Zeitraum t2 nach 1996 steigt die Anzahl der Zusammenschreibung auf knapp über die Hälfte, für den Zeitraum nach 2006 auf über 70 % an. Abb. 27: Gebrauchsfrequenzen der Variante kaputtmachen/ kaputt machen geben im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 382, t2 = 549, t3 = 1640; N_Stichprobe problemfokussierte Wahl = 173 für alle vier abgefragten Konstruktionen zusammengerechnet. Ganz anders das Wahlverhalten der Versuchspersonen, die bei dieser Form mit einer deutlichen Mehrheit von 84 % die Getrenntschreibung wählen. Diese Präferenz wurde anhand von vier Beispielssätze in wortwörtlicher Bedeutung ermittelt: eine Konstruktion mit Infinitiv, zu+Infinitiv, Partizip II sowie eine finite Form: - Infinitiv: Sie wollten die Leiter kaputtmachen/ kaputt machen. - zu+Infinitiv: Sie hatten nicht vor, das Auto kaputtzumachen/ kaputt zu machen. - Partizip II: Die Kinder haben das Spielzeug nicht absichtlich kaputtgemacht/ kaputt gemacht. - finites Verb in der Endstellung: Peter will verhindern, dass sein kleiner Bruder das Auto kaputtmacht/ kaputt macht. Die Präferenz für die Getrenntschreibung ist beim Infinitiv mit 37 Fällen, beim Partizip II mit 38 sowie bei der finiten Form mit 39 am ausgeprägtesten. Einzig für die Stellungsvariante mit zu+Infinitiv ist die Präferenz geringfügig 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 179 <?page no="190"?> weniger ausgeprägt, nämlich 32-mal Getrenntschreibung versus 10-mal die Zusammenschreibung. 31 Versuchspersonen haben für alle vier Stellungsvarianten ihre Präferenz behalten, davon haben nur zwei durchgehend eine Präferenz für die Zusammenschreibung, demgegenüber haben 29 eine durchgehende Präferenz für die Getrenntschreibung. Letztere ist also eindeutig bevorzugt. 13 Versuchspersonen haben die Präferenz gewechselt. Von diesen 13 Versuchspersonen haben acht bei der Konstruktion mit zu+Infinitiv die Zusammenschreibung gewählt, davon haben fünf Versuchspersonen nur bei dieser Konstruktion die Zusammenschreibung gewählt und bei allen anderen Konstruktionen die Getrenntschreibung. Obwohl die Zahlen hier gering sind, scheint dies doch ein Indiz dafür zu sein, dass die zu+Infinitiv-Konstruktion für knapp die Hälfte aller Fälle im Kern der Unsicherheit bei der Variante kaputtmachen/ kaputt machen steht. Die Variante bekanntmachen/ bekannt machen gehört im Regelwerk in die gleiche Fallgruppe wie kaputtmachen/ kaputt machen (§ 34 E5). Für das mediale Schreiben (COSMAS) zeigen sich zwischen den drei Zeitabschnitten deutliche Verschiebungen im Verhältnis von Zusammenzur Getrenntschreibung: In t1 überwiegt mit 65 % die Getrenntschreibung, die nach alter Regelung nur für die wortwörtliche Bedeutung vorgesehen war, nach der Reform 1996 steigt die Anzahl der Getrenntschreibungen stark auf 98 % an. Nach der Revision der Reform von 2006 verkehrt sich dieses Verhältnis ins Gegenteil und es wird wieder deutlich die Zusammenschreibung bevorzugt. Damit folgt das mediale Schreiben den Empfehlungen der Wahrig-Redaktion sowie den Nachrichtenagenturen, Duden empfiehlt hier die Getrenntschreibung. Anders sehen die Verteilungen bei pressetext-Korpus aus, wobei jedoch einschränkend darauf hingewiesen werden muss, dass die geringe Anzahl Treffer für diese Form mit N = 11 (t2) bzw. N = 17 (t2) nur wenig aussagekräftig sind. Es zeigt sich jedoch für t3, dass nur noch die Getrenntschreibung verwendet wird. Analog dazu ist das Wahlverhalten der Versuchsgruppe im Schreibexperiment zu sehen, das eine deutliche Präferenz der Getrenntschreibung zeigt mit jeweils rund 85 %. Mit der gebotenen Vorsicht kann hier also festgestellt werden, dass das mediale Schreiben als das orthographisch am engsten geregelte zur Zusammenschreibung neigt, während das professionelle wirtschaftliche Schreiben wie auch das individuelle Schreiben zur Getrenntschreibung tendiert. 180 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="191"?> Abb. 28: Gebrauchsfrequenzen der Variante bekanntmachen/ bekannt machen im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 444, t2 = 1116, t3 = 3043; N_pressetext t1 = 11, t2 = 17; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 39, spontane Wahl 2 = 36 (3 bzw. 5 falsche Lexeme in der Verschriftung). Die Varianten achtgeben/ Achtgeben und haltmachen/ Halt machen stehen für die Fallgruppe von Zusammensetzung von Verben und denominalisiertem ersten Bestandteil (§ 34 3 E6), wobei bei dieser Form die Zusammen- oder Getrenntschreibung freigelassen ist, weil zwar morphologische Indizien für eine Inkorporation vorliegen, aber syntaktisch nicht eindeutig geklärt werden kann, ob ACHT oder HALT in einer syntaktischen Relation zu anderen Einheiten im Satz steht und somit die Wortgrenzen und die Wortkategorie nicht eindeutig bestimmt werden kann. Es handelt sich hiermit um eine konzeptionsbedingte Varianz (vgl. 3.4). Für die Variante achtgeben/ Acht geben sind im gewählten Subkorpus des DeReKo (COSMAS II) für die Zeitabschnitte t1 und t2 mit jeweils 51 bzw. 50 nur wenige Belege zu finden, im pressetext gab es gar keine. Die Resultate sind daher mit Vorsicht zu interpretieren. Für den Zeitabschnitt vor der Reform überwiegt im DeReKo die Getrenntschreibung der Norm entsprechend, allerdings sind doch 20 % nicht normgerechte Schreibweisen zu verzeichnen, davon 4 % Getrenntmit Großschreibung sowie 16 % Getrenntmit Kleinschreibung. Getrenntmit Großschreibung wäre in der alten Regelung in jenen Fällen zugelassen gewesen, in denen eine Erweiterung in der Form allergrößte Acht geben vorliegt. Dies war jedoch in den Belegen nicht der Fall. Die Verteilung der 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 181 <?page no="192"?> Präferenzen wechseln für den Zeitraum t2, was zeigt, dass in 80 % der Fälle der in der Reform von 1996 vorgeschriebenen Getrenntschreibung gefolgt wird. Allerdings sind noch immer 20 % Zusammenschreibungen sowie 12 % Falschschreibungen zu verzeichnen. Ganz anders verteilt sind die Ergebnisse aus dem Schreibexperiment: Die Versuchspersonen wählen hier am deutlichsten die heute und auch früher nicht zugelassen Getrennt- und Kleinschreibung (49 %), gefolgt von der Getrennt- und Großschreibung (37 %) vor der Zusammenschreibung, die nur gerade 15 % ausmacht. Bei dieser Form scheint die Unsicherheit, die sich im medialen Schreiben nur ansatzweise andeutet, deutlich. Abb. 29: Gebrauchsfrequenzen der Variante achtgeben/ Acht geben/ *acht geben im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 51, t2 = 50, t3 = 241; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 40, spontane Wahl 2 = 41. Auch für die Varianten haltmachen/ Halt machen zeigt sich, wie in der Abb. 30 deutlich wird, dass schon vor der Reform relativ häufig die Getrenntschreibung auftrat, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nicht der Norm entsprach: im medialen Schreiben (COSMAS) zu t1 sind 14 % der Belege Getrenntmit Großschreibungen und 24 % Getrenntmit Kleinschreibung, eine Schreibvariante, die zu keinem Zeitpunkt der Norm entsprach. Die normgerechte Zusammenschreibung taucht in 63 % der Belegen auf. Für den Zeitraum t2 nach der Reform überwiegt im medialen Schreiben mit 85 % die normgemäße Getrenntmit Großschreibung, die Zusammenschreibung kann nur noch in 182 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="193"?> 4 % der Fälle beobachtet werden, allerdings sind immer noch 11 % der Fälle in der falschen Getrenntmit Kleinschreibung. Die Daten aus dem pressetext-Korpus sind aufgrund einer niedrigen Belegzahl (N t1 = 11, N t2 = 6) nur wenig aussagekräftig. Dennoch erstaunt, dass im professionellen wirtschaftlichen Schreiben zu t2 nur in 5 von 11 Fällen die normgerechte Getrenntmit Großschreibung erscheint, im Zeitraum t3, in dem beide Schreibungen zugelassen sind, sind es dann noch 2 von 6 Belegen. Auffällig ist, dass sowohl zu t2 wie auch zu t3 fast die Hälfte aller Belege die nicht normgerechte Getrenntmit Kleinschreibung aufweisen. Bei der problemfokussierten Wahl durch die Probanden fällt die Präferenz deutlich aus: 91 % wählen die Getrenntmit Großschreibung. Diese Präferenz zeigt sich in allen Konstruktionen deutlich: beim Infinitiv mit 37: 3 Fällen, bei zu+Infinitiv mit 37: 5, beim Partizip mit 38: 4 und bei der finiten Form mit 41: 3. Die Getrenntmit Kleinschreibung wurde nicht zur Auswahl geboten, da es sich auch nach dem aktuellen Regelwerk (2006) um keine regelkonforme Schreibung handelt. Abb. 30: Gebrauchsfrequenzen der Variante haltmachen/ Halt machen/ *halt machen im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 238, t2 = 412, t3 = 1196; N_pressetext t2 = 11, t3 = 6; N_Stichprobe problemfokussierte Wahl 1 = 168. Abschließend soll noch die Fallgruppe der Verb-Verb-Verbindungen mit der Variante kennenlernen/ kennen lernen (§ 34 4 E7) dargestellt werden. Es handelt sich hier ebenfalls um eine konzeptionsbedingte Varianz, bei der die Frage nach Syntagma versus re-analysiertes Verb im Zentrum steht. Gemäß Regelwerk ist bei übertragener Bedeutung die Schreibung freigestellt, wobei man sich hier durchaus fragen könnte, in welcher Konstruktion kennenlernen/ 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 183 <?page no="194"?> kennen lernen überhaupt wortwörtlich gebraucht werden kann. Es ist jedenfalls keine Konstruktion analog zu stricken lernen, tanzen lernen, schwimmen lernen denkbar, vgl. dazu auch Fuhrhop (2007: 94). Die Häufigkeiten im DeReKo (COSMAS II) geben die jeweilige Regelung wieder (Abb. 31). Im Zeitraum t1 ist mit 99 % Zusammenschreibungen in allen Belegen die Einhaltung der alten Norm gewährleistet. Für t2 sinkt die Anzahl der kleingeschriebenen Belege auf 15 %, die Getrenntschreibung dominiert entsprechend dem Regelwerk 1996. Für t3 jedoch sind die Präferenzen fast ausgeglichen und entsprechen somit der Freigabe im Regelwerk 2006. Anders wiederum die Verhältnisse im pressetext-Korpus. Im Zeitraum t2 dominiert noch immer die für diesen Zeitraum nicht zugelassene Zusammenschreibung mit 78 %, bei t3 sind die Tendenzen jedoch analog zu DeReKo fast ausgeglichen mit einer leichten Tendenz zur Getrenntschreibung. Abb. 31: Gebrauchsfrequenzen der Variante kennenlernen/ kennen lernen im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 2484, t2 = 6069, t3 = 23'334; N_pressetext t1 = 112, t2 = 144; N_Stichprobe problemfokussierte Wahl = 169 für alle Konstruktionen (keine Wahl: 7). Die Präferenzen bei dieser Variante wurden in der Stichprobe in der Befragung ermittelt, es liegt also eine problemfokussierte Wahl vor. Es wurden ebenfalls vier Konstruktionen abgefragt: eine Form mit Infinitiv, eine Form mit zu+Infinitiv und eine mit Partizip-II sowie eine finite Form in Verbendstellung: 184 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="195"?> - Infinitiv: Sie möchte ihn näher kennen lernen/ kennenlernen. - Infinitiv+zu+Infinitiv: Sie hoffte, ihn näher kennenzulernen/ kennen zu lernen. - Partizip II: Sie hatte ihn an einem Konzert kennengelernt/ kennen gelernt. - finites Verb in der Endstellung: Er hofft, dass er sie in den Ferien besser kennen lernt/ kennenlernt. Für alle Konstruktionen zusammengerechnet zeigt sich eine leichte Präferenz für die Getrenntschreibung mit 53 %, das entspricht in absoluten Zahlen 89 Fällen. In sechs Fällen wurde keine Entscheidung getroffen. Diese Präferenz gilt allerdings nur für die Konstruktion mit zu+Infinitiv sowie etwas weniger deutlich für die Konstruktion mit Partizip II. Bei der reinen Infinitiv-Konstruktion (in absoluten Zahlen 21: 21) sowie in der finiten Form (23: 21) ist keine bis fast keine Tendenz auszumachen ist: beide Formen werden gleichermaßen gewählt. Bei den Formen zu+Infinitiv wird die Getrenntschreibung etwas (25: 17) sowie bei Partizip II (22: 19) geringfügig bevorzugt. Die Präferenzen bei kennenlernen/ kennen lernen sind jedoch instabil: Knapp die Hälfte aller Versuchspersonen (20) haben zwischen den Konstruktionsvarianten die Präferenz gewechselt, 24 Versuchspersonen haben sie zwischen den verschiedenen Formen beibehalten. Die Gründe dazu werden im Kapitel 7 mit den Begründungen dargelegt. Abschließend lässt sich für die Variante kennenlernen/ kennen lernen festhalten, dass die Präferenzen mit Ausnahme des pressetext-Korpus in allen Datenquellen ausgeglichen sind. Dies widerspricht den Erhebungen von Ossner (2011), die er für den Rechtschreibrat in Schulen (Oberstufe) aus den drei deutschsprachigen Ländern sowie Belgien durchgeführt hat (vgl. Kapitel 3); 64 % der getesteten Schülern und Schülerinnen bewerteten die zusammengeschriebene Form als korrekt. Allerdings muss hier nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Frage nach der Korrektheit einer Form bei verschiedenen angebotenen Items eine andere Erhebungsmethode darstellt als die hier gewählte, in der die Versuchspersonen über das Vorliegen einer Variantenschreibung informiert waren und somit ihre Wahl frei von normativen Erwartungen treffen konnten. 5.2.4.2 Verbindungen mit einem adjektivischen oder adjektivisch gebrauchten zweiten Bestandteil (§ 36): weitverbreitet/ weit verbreitet; schwerverständlich/ schwer verständlich Bei den Formen weitverbreitet/ weit verbreitet und schwerverständlich/ schwer verständlich handelt es sich um Verbindungen mit einem adjektivisch verwendeten Partizip. Im Regelwerk (2006) wird es bei diesen Formen freigestellt, sie als Zusammensetzungen oder als Syntagmen zu analysieren, daher ist sowohl die Zusammenals auch die Getrenntschreibung zulässig. Die Variante weitverbreitet/ weit verbreitet (§ 36 2.1) wurde im Schreibexperi- 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 185 <?page no="196"?> ment attributiv abgefragt, die Variante schwerverständlich/ schwer verständlich (§ 36 2.2) prädikativ. Wie in Abb. 32 ersichtlich, liegen die Präferenzen bei schwerverständlich/ schwer verständlich eindeutig bei der Getrenntschreibung (für das pressetext- Korpus konnten nicht genügend Belege ermittelt werden, daher wurde es nicht aufgenommen): Im medialen Schreiben, wie es der DeReKo (COSMAS II) abbildet, finden sich nur für die Zeit vor der Reform 5 % der Belege mit Zusammenschreibung, davon alle in attributiver Funktion. Folglich wird die Getrenntschreibung mit 95 % der Belege zu diesem Zeitpunkt präferiert. Darunter finden sich etwa die Hälfte in prädikativer Funktion, wo die Schreibung gemäß der alten Regelung und dem Betonungsprinzip entsprechend freigestellt wäre. Mit der Regelung 1996 ist nur noch die Getrenntschreibung erlaubt, was sich auch in t2 entsprechend abbildet: es gibt nur noch einen Beleg für die Zusammenschreibung. Auch mit der Zulassung der Varianten mit dem Regelwerk 2006 ist keine Zunahme der Zusammenschreibung zu beobachten. Das Wahlverhalten im Schreibexperiment zeigt ähnliche Tendenzen, nur zwei Versuchspersonen wählen die Zusammenschreibung. Es lässt sich somit festhalten, dass bei dieser Form, wohl vor allem auch in prädikativer Funktion, keine Tendenz zur Re-Analyse beobachtbar ist, und von einem Syntagma ausgegangen wird. Abb. 32: Gebrauchsfrequenzen der Variante schwerverständlich/ schwer verständlich im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 126, t2 = 135, t3 = 397; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 41, spontane Wahl 2 = 41. 186 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="197"?> Bei der Variante weitverbreitet/ weit verbreitet hingegen zeigt sich eine deutlichere Tendenz zur Zusammenschreibung, wenn sie auch noch immer nicht die präferierte Form darstellt. Im DeReKo (COSMAS II) kann für die Zeit vor der Reform (t1) ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Zusammen- und Getrenntschreibung beobachtet werden, wobei attributiv der alten Regelung entsprechend überwiegend zusammengeschrieben wird und nur in 39 von total 445 Belegen für die Zusammenschreibung eine prädikative Verwendung zu finden ist. Die Getrenntschreibung, die 48 % aller Belege für diese Form in diesem Zeitraum ausmacht, verteilt sich zu gut einem Drittel auf die attributive und zu zwei Dritteln auf eine prädikative Funktion, auch dies widerspricht der alten Regelung nicht, da ja gemäß dem Betonungsprinzip hier beide Schreibweisen zugelassen sind. Für den Zeitraum nach der Reform bleiben die Verhältnisse in etwa gleich und erst nach der Revision der Reform zeigt sich eine deutliche Zunahme der Getrenntschreibung auf 90 %. Beim pressetext-Korpus sind die Tendenzen ähnlich, allerdings ist der Rückgang der Zusammenschreibung für den Zeitraum t3 noch stärker: von 36 % (t2) auf 6 % (t1). Demgegenüber sind die Präferenzen in der Stichprobe ausgewogen: Sowohl bei der ersten Verschriftung als auch bei der endgültigen Wahl im Schreibexperiment wird fast gleich oft zusammengeschrieben wie getrennt. Die Interpretation dieses Resultats ist etwas schwierig: Wahrscheinlich wählte hier die Hälfte der Versuchspersonen die Zusammenschreibung aufgrund der in prädikativer Stellung häufigeren Betonung beider Bestandteile. Abb. 33: Gebrauchsfrequenzen der Variante weitverbreitet/ weit verbreitet im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 860, t2 = 205, t3 = 3'486; N_pressetext t1 = 102, t2 = 159; N_Stichprobe spontanen Wahl 1 = 39, spontane Wahl 2 = 41. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 187 <?page no="198"?> 5.2.4.3 Verbindungen Präpositionen mit Nomen in adverbialer Verwendung: infrage/ in Frage, außerstande/ außer Stande (§ 39 E3 1) Bei den Verbindungen von Präpositionen mit Nomen in adverbialer Verwendung handelt es sich nach Gallmann (2004) um eine sachbedingte Varianz (vgl. 3.4), da bei dieser Gruppe eine Univerbierungstendenz zu beobachten ist, die jedoch nicht alle Vertreter in dieser Gruppe gleichermaßen erfasst sowie nicht von allen Sprachbenützern gleichermaßen wahrgenommen wird. Die Korpusrecherchen sowie das Wahlverhalten innerhalb der untersuchten Stichprobe zeigen für die Form infrage/ in Frage eine äußerst schwache Tendenz zur Zusammenschreibung. Dies ist für den Zeitraum vor der Reform im DeReKo (COSMAS II) wenig erstaunlich, da damit ja der Norm entsprechend verschriftet wird. Mit der Reform von 1996 und der Revision von 2006 steigt aber die Anzahl der Zusammenschreibungen, liegt jedoch noch immer unter einem Viertel aller Belege für dieses Form, womit insbesondere für t2 die Variantenführung des Regelwerks 1996 nicht abgebildet wird. Im pressetext-Korpus sind die Tendenzen ähnlich, wobei die Zusammenschreibung im Zeitabschnitt nach der Revision von 2006 noch weniger häufig auftritt, nämlich nur in 6 % der Fälle. Auch die Versuchsgruppe konnten sich hier bei der problemfokussierten Wahl nicht für die Zusammenschreibung erwärmen. Nur gerade eine Person zieht sie der Getrenntschreibung vor. Es lässt sich festhalten, dass bei dieser Form die reformierte Zusammenschreibung sich nicht oder noch nicht durchgesetzt hat, noch wird den Empfehlungen der Wörterbuchredaktionen oder der Nachrichtenagenturen gefolgt. Es zeigt sich also, dass bei dieser Verbindung eine schwache bis gar keine Univerbierungstendenz im Usus auszumachen ist. Ganz anders sieht dies für die Form außerstande/ außer Stande aus, wo sich die Tendenzen seit der Reform 1996 und der Zulassung der Getrenntschreibung als Nebenvariante in den beiden Datenquellen DeReKo (COSMAS II) sowie den im Schreibexperiment ausgewerteten Verschriftungen relativ ausgeglichen präsentieren (im pressetext-Korpus lagen nicht genügend Belege für eine Auswertung vor). Bei t1 im DeReKo (COSMAS II) deuten die 4 % der Falschschreibungen schon an, dass diese Verbindung durchaus nicht als lexikalisierte Einheit angenommen wird, wie dies die Regelung der alten Rechtschreibung mit der Vorschrift der Zusammenschreibung insinuiert. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, dass seit der Zulassung der Getrenntschreibung in t2 Zusammenschreibungen nur noch die Hälfte und in t3 sogar nur noch einen Drittel aller Belege ausmachen. Auch das Wahlverhalten der Stichprobe deutet in die ähnliche Richtung; wurde doch sowohl in der Erstverschriftung als auch in der endgültigen Wahl in etwas über 50 % der Fälle die Zusammenschreibung und in knapp 50 % die Getrenntschreibung gewählt. 188 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="199"?> Abb. 34: Gebrauchsfrequenzen der Variante infrage/ in Frage im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 5378, t2 = 6901, t3 = 22'051; N_pressetext t2 = 209, t3 = 225; N_Stichprobe problemfokussierte Wahl = 44. Auf dem Hintergrund der Tatsache, dass im Gegensatz zu infrage/ in Frage schon in der alten Rechtschreibung die Zusammenschreibung vorgeschrieben war, woraus man auf eine gewisse Gewohnheit und Vertrautheit mit dieser Schreibung schließen könnte, und im Regelwerk von 1996 die Zusammenschreibung als Hauptvariante festgesetzt wurde sowie heute beide Wörterbücher die Zusammenschreibung empfehlen, scheint sich der Usus hier geradezu eigensinnig zu entwickeln. Allerdings stehen diese Befunde in Einklang mit denen von Ossner (2011), der für den Rechtschreibrat Erhebungen an Schulen (Oberstufe) in den drei deutschsprachigen Ländern sowie Belgien durchgeführt hat (vgl. Kapitel 3): Die Schüler und Schülerinnen bewerteten bei der Form instand/ in Stand aus der gleichen Fallgruppe im Test ebenfalls die Getrennt- und Großschreibung tendenziell häufiger als die korrekte Form; die konkreten Werte für diese Präferenz sind allerdings nicht verfügbar. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 189 <?page no="200"?> Abb. 35: Gebrauchsfrequenzen der Variante außerstande/ außer Stande/ *außer stande im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 235, t2 = 200, t3 = 371; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 41, spontane Wahl 2 = 41. 5.2.4.4 Verbindungen Präpositionen mit Nomen in präpositionaler Verwendung: aufgrund/ auf Grund, zugunsten/ zu Gunsten, (§ 39 E3 3) Wie bei der vorangehenden Fallgruppe handelt es sich bei den Verbindungen von Präpositionen mit Nomen in präpositionaler Verwendung ebenso um eine sachbedingte Varianz, bei der Univerbierungstendenzen erwart- und teilweise auch schon deutlich beobachtbar sind. Anders als in der Verbindung von Präpositionen mit Nomen in adverbialer Verwendung wird in der Kodifikation die Univerbierungstendenz bei den untersuchten Formen aufgrund/ auf Grund sowie zugunsten/ zu Gunsten als fortgeschrittener eingestuft. Aus diesem Grund war die Zusammenschreibung für zugunsten schon in der alten Rechtschreibung vorgeschrieben, außer in der Postposition, d. h. wenn sie der Nominalphrase nachgestellt war; mit der Reform von 1996 wurde die Zusammenschreibung als Hauptvariante festgelegt. Bei der Form aufgrund/ auf Grund war gemäß der alten Regelung die Zusammenschreibung als Nebenvariante zugelassen; in reformierten Regelwerk wurde sie zur Hauptvariante. Im heutigen Regelwerk stehen sie gleichberechtigt nebeneinander. Aufgrund dieser Behandlung in der Kodifikation ist nun erwartbar, dass auch die Gebrauchspräferenzen eher zur Zusammenschreibung neigen. Dies trifft für die Form aufgrund/ auf Grund etwas deutlicher zu, ist jedoch nicht für alle untersuchten Zeitabschnitten und alle Datenquellen gleichermaßen deutlich. 190 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="201"?> Im DeReKo (COSMAS II) spiegelt sich für den Zeitraum vor der Reform mit dem Verhältnis von 84: 16 für die Zusammenschreibung die alte Regelung von Haupt- und Nebenvariante. Mit der Reform von 1996 jedoch nehmen die Getrenntschreibungen zu, wohl in einer übergeneralisierenden Anwendung der für die Rechtschreibreform als typisch geltenden Großschreibung in Zweifelsfällen. Für den Zeitabschnitt t3 lässt sich wieder ein Rückgang auf 21 % beobachten. Im pressetext-Korpus hingegen zeigt sich in t2 und in t3 noch deutlicher die Dominanz der Zusammenschreibung. Überraschenderweise sind die Präferenzen der Versuchspersonen aus der untersuchten Stichprobe ausgeglichen: 54 % wählen im Schreibexperiment in der ersten Verschriftung die Zusammenschreibung und 46 % die Zusammenschreibung, bei der endgültig gewählten Form sind die Unterschiede nur minim. Die Falschschreibung *auf grund erscheint nur in den beiden Korpora, allerdings nur in geringer Anzahl, gemessen an der hohen Anzahl der Belege. Ähnlich wie bei aufgrund/ auf Grund, aber etwas weniger ausgeprägt erscheint auch für die Form zugunsten/ zu Gunsten die Zusammenschreibung häufiger, wobei sich im DeReKO (COSMAS II) wiederum das Muster der Zunahme der Getrenntschreibung für t2 und dem anschließenden Rückgang für t3 zeigt. Im pressetext-Korpus erscheint die Präferenz für die Zusammenschreibung weniger ausgeprägt als für aufgrund/ auf Grund mit einem Verhältnis von 69: 31 (t1) und 72: 28 (t2). Die Versuchsgruppe wiederum zeigt eine relativ ausgeglichenes Wahlverhalten, wobei jedoch zwei Versuchspersonen von der Zusammenschreibung in der ersten Verschriftung zur Getrenntschreibung in der endgültigen Wahl gewechselt haben. Falschschreibungen der Form *zu gunsten erscheinen wiederum nur in den beiden Korpora, allerdings ebenfalls in nur geringer Anzahl, gemessen an der hohen Anzahl der Belege. Der Befund, dass die Versuchsgruppe sowohl für aufgrund/ auf Grund als auch für zugunsten/ zu Gunsten keine Präferenz für die Zusammenschreibung zeigt, obwohl die Zusammenschreibung schon seit längerem in der deutschen Orthographie vorgeschrieben bzw. zugelassen ist und somit als vertraut gelten könnte, ist etwas schwierig zu interpretieren. Es muss jedoch davon ausgegangen werden, dass diese Verbindungen weitaus weniger deutlich lexikalisiert wahrgenommen werden, als dies im Fachdiskurs, der Lexikographie und beim professionellen Schreiben den Anschein macht. Es könnte an dieser Stelle auch durchaus hinterfragt werden, ob überhaupt von der Zusammenschreibung eins zu eins auf die mentale Repräsentation einer lexikalisierten Form geschlossen werden darf oder ob die Schreibung hier einfach - sozusagen morphologisch ‚ blind ‘ - der Anweisung des Wörterbuchs, der Hausorthographie o. Ä. folgt. Während die Versuchsgruppe, die ja im Schreibexperiment auf keine Hilfsmittel wie ein Wörterbuch oder eine automatische Rechtschreibkorrektur zurückgreifen konnte, im Zweifelsfall eher zu einer Form der morphologischen Analyse neigt. 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 191 <?page no="202"?> Diese Vermutung wird von den Erhebungen von Ossner (2011: 95) gestützt, die er für den Rechtschreibrat in Schulen (Oberstufe) aus den drei deutschsprachigen Ländern sowie Belgien durchgeführt hat (vgl. Kapitel 3): Die getesteten Schüler und Schülerinnen bewerteten für die analoge Form mithilfe/ mit Hilfe ebenfalls die nicht lexikalisierte Form als korrekt, allerdings sind keine konkreten Zahlen verfügbar. Abb. 36: Gebrauchsfrequenzen der Variante aufgrund/ auf Grund/ *auf grund im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 12'577, t2 = 18'134, t3 = 65'458; N_pressetext t1 = 1'844, t2 = 2'290; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 41, spontane Wahl 2 = 41. 192 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="203"?> Abb. 37: Gebrauchsfrequenzen der Variante zugunsten/ zu Gunsten/ *zu gunsten im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 3'994, t2 = 7'067, t3 = 20'545; N_pressetext t1 = 195, t2 = 184; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 41, spontane Wahl 2 = 41. 5.2.4.5 so dass/ sodass (§ 39 E3 2) Die Konjunktion so dass/ sodass ist in der Terminologie Gallmanns eine sachbedingte Varianz, indem sich hier eine Univerbierungstendenz abzeichnet, die jedoch noch nicht als im Usus allgemein anerkannt gelten kann (vgl. 3.4). In der alten Rechtschreibung war schon in Österreich die Zusammenschreibung zugelassen, mit der Reform von 1996 wurde die Zusammenschreibung als Haupt- und die Getrenntschreibung als Nebenvariante festgelegt. Der Duden empfiehlt hier als einziger die Zusammenschreibung, Wahrig, die Nachrichtenagenturen und die SOK weiterhin die Getrenntschreibung. Die Gebrauchsfrequenzen im medialen Schreiben bilden die Regelungen und Empfehlungen nicht entsprechend ab: Im DeReKo (COSMAS II) finden sich für alle drei Zeiträume t1 - t3 bei rund einem Drittel aller Belege die Zusammenschreibung. Während dies aufgrund der Korpuszusammensetzung, die ja auch österreichische Quellen enthält (vgl. Appendix), für t1 einleuchtend erscheint, wäre doch mit der Rechtschreibreform von 1996 ein Anstieg der Zusammenschreibung zu erwarten gewesen. Anders die Entwicklung im pressetext-Korpus: Hier steigt die Frequenz der Zusammenschreibung vom Zeitraum nach der Reform (t2) zu nach der Revision der 5.2 Gebrauchsfrequenzen nach Phänomenbereichen 193 <?page no="204"?> Reform (t3) von null auf 46 %. Offenbar hat hier die Zusammenschreibung erst nach einer gewissen Verzögerung Einzug in den Schreibgebrauch gefunden. Die Präferenzen der untersuchten Stichprobe wurden bei dieser Form im Schreibexperiment erhoben. Die Zusammenschreibung wird hier von weniger als einem Viertel gewählt, wobei die Präferenz bei der Erstverschriftungen geringfügig höher liegt, als schließlich bei der endgültig im Text belassenen Form. Die Konjunktion so dass/ sodass wird also nicht durchgehend re-analysiert, die Univerbierungstendenz hat sich nicht oder noch nicht durchsetzen können. Die weitere Entwicklung bleibt hier abzuwarten. Abb. 38: Gebrauchsfrequenzen der Variante so dass/ sodass im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. N_COSMAS t1 = 5'983, t2 = 11'911, t3 = 41'710; N_pressetext t1 = 533, t2 = 771; N_Stichprobe spontane Wahl 1 = 41, spontane Wahl 2 = 40. 5.3 Zusammenfassung und Diskussion In diesem Kapitel stand der Vergleich der Gebrauchspräferenzen für die ausgewählten Varianten in verschiedenen Datenquellen im Zentrum, die verschiedene literale Praktiken und somit allenfalls Unterschieden in den verschiedenen Präferenzen abbilden sollten: Bei den Texten im Korpus DeReKo (COSMAS II) handelt es sich vorwiegend um professionelles mediales Schreiben, das innerhalb enger orthographischer Richtlinien erfolgt; beim selbst zusammengestellten pressetext-Korpus wird ein in Bezug auf die Orthographie weniger geregeltes, aber doch professionelles wirtschaftliches 194 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="205"?> Schreiben in Firmen und Institutionen abgebildet; bei der Versuchsgruppe handelt es sich um Personen aus verschiedenen Berufen mit verschiedenen Ausbildungshintergründen, vgl. 4.1.1., die das individuelle Schreiben abbilden sollen. Für Letzteres wurden im Schreibexperimente das spontane und in einer Befragung das problemfokussierte Wahlverhalten geprüft, indem den Versuchspersonen die Varianten zur Auswahl vorgelegt wurden. Zusätzlich gibt es zu den Daten aus der Versuchsgruppe festzuhalten, dass sie sowohl im Schreibexperiment als auch in der Befragung auf ihre eigene Rechtschreibkompetenz angewiesen waren. Die aus diesen vier Quellen ermittelten Gebrauchsfrequenzen wurden kontrastiert, um festzustellen, ob die Präferenzen innerhalb der Phänomenbereichen musterhaft sind, über verschiedene Zeitabschnitte hinweg sowie zwischen den verschiedenen Datenquellen einheitlich sind und den jeweils geltenden Regelwerken entsprechen. Bei den Einzelwortschreibung aufwendig/ aufwändig sowie selbständig/ selbstständig zeigen sich in den verschiedenen Datenquellen unterschiedliche Präferenzen, was sowohl die Orientierung an der reformierten Schreibweisen betrifft, als auch die Präferenzen im Vergleich der verschiedenen Datenquellen. Bei den untersuchten Fremdwortschreibungen zeigt sich in den beiden Korpora eine Tendenz Richtung Integrationsschreibungen. Das Wahlverhalten der Versuchsgruppe hingegen ist damit nur bei der Form phantastisch/ fantastisch ansatzweise identisch. In den restlichen Fällen zeigt sich im Gegensatz zum professionellen Schreiben das Verhältnis zwischen Wahl der Ursprungsschreibungen und der integrierten Schreibung ausgeglichen bis leicht Richtung Ursprungsschreibung tendierend. Bei der Groß-/ Kleinschreibung kann keine einheitliche Tendenz für den ganzen Bereich jedoch ansatzweise für Fallgruppen ausgemacht werden. So zeigt sich etwa bei den bestimmten und unbestimmten Zahladjektiven eine Präferenz für die Wahl der Kleinschreibung in allen Datenquellen außer der Versuchsgruppe bei etwas anderes/ Anderes; ebenfalls eine Präferenz für die Kleinschreibung ist bei der Fallgruppe Präposition+dekliniertes Adjektiv beobachtbar, wobei auch hier die Versuchsgruppe bei einer Form (auf weiteres/ Weiteres) ausgeglichen wählt. Insgesamt zeigen sich nur in vier Fällen aus verschiedenen Fallgruppen ähnliche Tendenzen zwischen dem professionellen Schreiben und den individuellen Präferenzen. Bei den Varianten im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung zeigt sich eine mehr oder weniger ausgeprägte Präferenz für die Getrenntschreibung in allen Datenquellen. Die Ausnahmen sind hier in der Fallgruppe Präpositionen+Nomen in adverbialer Verwendung zu finden, in der die Zusammenschreibung präferiert wird bzw. bei der Stichprobe bei zugunsten/ zu Gunsten eine ausgeglichene Tendenz festzustellen ist, ebenfalls tritt bei der Verb-Verb-Verbindung kennenlernen/ kennen lernen die Zusammen- und Getrenntschreibung gleich oft auf und bei den Formen kaputtmachen/ kaputtmachen sowie bekanntmachen/ bekannt machen zeigt DeReKo (COSMAS II) eine 5.3 Zusammenfassung und Diskussion 195 <?page no="206"?> abweichende Tendenz zur Großschreibung. Die vorliegenden Daten können somit das Fazit im Bericht des Rats für Rechtschreibung, dass sich bedingt durch den zweimaligen Wechsel von 1996 und 2006 bei der Zusammen- und Getrenntschreibung noch keinen Usus herausgebildet hat (Rechtschreibrat 2010: 18), nicht bestätigen. Im Gegensatz zeigt sich eher, dass sich der Usus im medialen Schreiben, wie ihn der Rat beobachtet, bei einigen Formen entgegen der Tendenz in den anderen Datenquellen entwickelt. Insbesondere die Versuchspersonen zeigen keine Präferenz für univerbierte Formen. Da jedoch der Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung viele Fälle umfasst, müsste dies an weiteren Formen überprüft werden. Es kann methodisch das Fazit gezogen werden, dass bei der Ermittlung der Gebrauchspräferenzen mehrere Datenquellen hinzugezogen werden sollten. So zeigen sich sowohl abweichende Präferenzen zwischen den beiden Korpora, die professionelles Schreiben in den Medien bzw. in Firmen abbilden, als auch zum Wahlverhalten der untersuchten Stichprobe. Die vorliegende Erhebung hat nur exemplarischen Charakter, da nur ausgewählte Formen untersucht sowie eine eingeschränkte Stichprobe berücksichtigt werden konnte. Falls das Regelwerk dahingehend weiterentwickelt werden soll, dass auf der Grundlage von Beobachtungen des Sprachgebrauchs Varianten abgebaut werden, wären weitergehende Untersuchungen dringend nötig. Als große Herausforderungen für weitergehende korpuslinguistische Auswertungen sind die Phänomenbereiche Groß- und Kleinschreibung sowie Zusammen-/ Getrenntschreibung zu sehen. Viele Falschtreffer erfordern ressourcenintensives, manuelles Auszählen, insbesondere auch, wenn wie mit dem vorliegenden pressetext-Korpus, kein annotiertes Korpora vorliegt. Darüber hinaus wäre es auch wünschenswert, neben korpuslinguistischen Recherchen weitere Erhebungsmethoden zu berücksichtigen. Insbesondere auch solche, die Präferenzen in spontanen Verschriftungen, wie sie mit dem vorliegenden Schreibexperiment produziert wurden, mit einer problemfokussierten Wahl wie in der Befragung kontrastieren. Solche Untersuchungsanlage sind zwar in der Auswertung auch ressourcen-intensiv, geben aber doch eine ganze andere Perspektive wieder. 196 5 Ergebnisse Gebrauchsfrequenzen <?page no="207"?> 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess In diesem Kapitel soll untersucht werden, ob sich ein Einfluss von orthographischen Varianten auf den Schreibprozess zeigen lässt. Ausgangspunkt für diesen Teil der Untersuchung ist eines der Argumente, die gegen die Zulassung von orthographischen Varianten im Regelwerk angeführt werden, wie in 3.5.1 dargelegt wurde: Varianten würden im Schreibprozess kognitive Ressourcen besetzen, da sie keine eindeutigen Handlungsanweisungen seien und deshalb hierarchie-niedere Prozesse besetzen. Dieses Argument soll nun mit Hilfe eines Schreibexperiments geprüft werden. Die Leitfrage dieses Untersuchungsteils lautet, inwiefern orthographische Varianten den Schreibfluss stören können. Dies wird in zwei Schritten untersucht: 1. Modellierung von „ Störungen des Schreibflusses “ durch orthographische Schwierigkeiten 2. Untersuchung der Unterschiede zwischen den abgefragten Formen nach Repräsentation und Phänomenbereichen 6.1 Modellierung Die Ausgangsüberlegungen zur Modellierung von „ Störungen des Schreibflusses “ wurden schon in 3.5.1 dargelegt: Rechtschreiben bei Erwachsenen geschieht in Normalfall automatisiert mittels Prozeduren. Bei Zweifelsfällen, d. h. wenn Schreiber für eine zu verschriftende Form konfligierende orthographische Schemata repräsentiert haben, muss auf das deklarative Wissen oder Problemlösestrategien zurückgegriffen werden, dies beeinträchtigt den Schreibfluss, da kognitive Ressourcen besetzt werden. Folglich basiert eine Modellierung des Einflusses von orthographischen Varianten oder anderen orthographischen Problemen auf den Schreibfluss auf denjenigen Momenten im Schreibprozess, in denen automatisiertes Verschriften von bewussten Prozessen durchbrochen wird, wenn etwa orthographische Probleme oder die Möglichkeit einer Varianz wahrgenommen werden. Als Datenquellen dienten das Logfile aus dem Schreibexperiment mit den Revisionshandlungen sowie die retrospektiven Verbalisierungen des Stimulated Recall. 66 Es wurde in 3.5.1 schon dargelegt, dass Störungen des Schreibflusses als Revisionshandlungen (Löschungen, Ersetzungen, Ergän- 66 Der Diktattext ist in 3.1.1 abgebildet. <?page no="208"?> zungen, Umstellungen) sowie Latenzen operationalisiert werden können. In der vorliegenden Untersuchung wird auf die Revisionshandlungen fokussiert (vgl. 3.5.1), die in Bezug gesetzt werden zu den Verbalisierungen. Die Latenzen als verlängerte Interkey-Intervalle (IKI), vgl. 3.5.1, werden nur punktuell, v. a. für die Unterscheidung von orthographischen Revisionen und Revisionen von Tippfehlern hinzugezogen. Für die Modellierung wurden in einem ersten Schritt alle Revisionshandlungen pro Form zusammengetragen, ausgezählt und nach Online- und Offline-Revisionshandlungen unterschieden. Bei Online-Revisionshandlungen wird direkt im Schreibfluss von der Cursor-Position an rückwärts gelöscht und geändert; eine Offline-Revisionshandlung erfolgt nach Abschluss des Satzes, Absatzes oder Texts, indem mit Pfeiltasten oder der Maus an die entsprechenden Stellen navigiert und die Form geändert wird (vgl. 3.5.1). Die Kategorisierung soll an der Form aufs genaueste/ aufs Genaueste illustriert werden. So revidiert beispielsweise eine Versuchsperson in einer einzelnen Revisionshandlung online von Kleinin die Großschreibung, vgl. Abb. 39. Abb. 39: Screenshot einer Online-Revision bei der Form aufs genaueste/ Genaueste (P18). Dies wurde als eine Online-Revision gezählt. Die erste Schreibung scheint von den Interkey-Intervallen her automatisiert zu erfolgen, allenfalls könnten schon bei aufs eine Latenz auszumachen sein. 67 Die Revision in die Großschreibung erfolgt online, aber nicht hochautomatisiert direkt nach dem falschen Buchstaben wie etwa bei Tippfehlern. Der Einfluss auf den Schreibfluss ist als eher gering einzustufen, diese Einschätzung wird von den Verbalisierungsdaten gestützt, es werden im Stimulated Recall keine Schwierigkeiten genannt. Eine andere Versuchsperson (P33) revidiert bei der Form aufs genauste/ aufs Genauste zuerst online, dann offline am Textende nach folgendem Schema mehrmals die Schreibung: (1) online: Genauste > genauste offline am Ende der Schreibaufgabe: (genauste) > Genauste > genauste > Genauste > genauste > Genauste > genauste Diese Revisionshandlungen (eine online, sechs offline) deuten doch auf eine erhebliche Störung des Schreibflusses hin, die jedoch darauf zurückzuführen 67 Bei dieser Versuchsperson liegt der IKI-Mittelwert für ‹ a › in Wort-initialer Stellung bei 187 ms und für ‹ g › bei 304 ms. Somit liegt für aufs eine Latenz vor und für geneine automatisierte Verschriftung. 198 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="209"?> sein dürfte, dass hier zwischen zwei Schreibweisen geschwankt wird, d. h. dass zwei konfligierende orthographische Schemata vorliegen. Wäre die Variantenschreibung repräsentiert gewesen, wäre wahrscheinlich der Entscheid für die eine oder andere Form nach mindestens zwei Revisionen gefallen. Dieser Eindruck wird durch die Verbalisierung bestätigt, indem die beiden konfligierenden orthographischen Schemata genannt werden. 68 In einem zweiten Schritt wurden alle Verbalisierungen aus dem Stimulated Recall zusammengestellt, welche die orthographischen Varianten betreffen. Für die Analyse wurde das Kompetenzmodell aus Kapitel 2.4.3 hinzugezogen, das zwischen deklarativem Wissen, Problemlösewissen, prozeduralem Wissen und metakognitivem Wissen unterscheidet. Die Verbalisierungen wurden nach folgenden Aspekten eingeteilt, wobei diese Aspekte auch in der Kombination auftreten können: - Nennung einer Repräsentation einer Variantenschreibung - Nennung konfligierender orthographischer Schemata - Wissensbestand, auf den rekurriert wird Bei der Nennung einer Repräsentation der Varianz wurden neben den Äußerungen aus dem Stimulated Recall, der anhand des Films der Schreibsitzung erfolgte, auch Verbalisierungen aus dem fokussierten Stimulated Recall hinzugezogen, der nach Vorlegen des Diktattextes mit fett hervorgehobenen Varianten erfolgte (vgl. 3.5.1). Die Kategorisierungen der Verbalisierungen werden am Beispiel der Form aufwendig/ aufwändig vorgestellt: Beispiel (2) steht für ein konfligierendes Schreibschema ‹ e › / ‹ ä › und damit verbunden der Konflikt alte/ neue Rechtschreibung, der dann mit Rückgriff auf das deklarative Wissen aufgelöst wird. Beispiel (3) steht für eine (vermeintliche) Falschrepräsentation, die im Korrekturdurchgang am Ende des Textes mithilfe des deklarativen Wissens aufgedeckt wird, das sich hier ebenfalls auf die alte und neue Rechtschreibung bezieht. Beispiel (4) steht für metakognitives Wissen, indem nicht nur repräsentierte Normen, sondern darüber hinaus auch die individuelle Praxis sowie eine Bewertung der Norm genannt werden. Die beiden Wissensbestände tauchen oft auch in der Kombination auf wie in (5) und sind bei einigen Fällen nicht ganz zu trennen. An diesen Beispielen wird ersichtlich, dass die Versuchspersonen in diesen Fällen keine Variantenschreibung repräsentiert haben, sondern davon ausgehen, dass die ‹ e › -Schreibung für die alte und die ‹ ä › -Schreibung für die neue Rechtschreibung steht. 68 Es wäre von Interesse hier in einem eigenen Schreibexperiment zu prüfen, ob bei repräsentierter Varianz überhaupt Revisionen auftreten und wenn ja, wie viele. 6.1 Modellierung 199 <?page no="210"?> (2) „ Alte oder neue Rechtschreibung? Mit ‹ e › oder ‹ ä › ? Aber neu mit ‹ ä ›“ (P39) (3) „ Habe ich am Schluss korrigiert; ist mir nicht spontan in den Sinn gekommen, dass es ja neu mit ‹ ä › geschrieben wird “ (P 13) (4) „ Mit ‹ ä › ist das sehr logisch, habe es so übernommen, früher war es mit ‹ e › , obwohl ich es immer noch komisch finde “ (P1) (5) „ Habe es mit ‹ e › gelernt, habe gedacht, ich mache es nach der neuen Rechtschreibung mit ‹ ä › , dann hat es mich aber doch gestört und ich habe wieder ‹ e › gemacht “ (P19) Problemlösestrategien tauchen in den Verbalisierungsdaten eher selten auf und wenn doch, dann immer in Zusammenhang mit konfligierenden orthographischen Schemata, vgl. dazu Bsp. (6) zur Frage nach der Groß- oder Kleinschreibung bei aufs genaueste/ aufs Genaueste. (6) „ Groß- oder kleinschreiben? Habe es ausprobiert, würde es hier umgehen und schreiben ‚ genau prüfen ‘ ; habe es im 2. Durchgang nochmals angeschaut “ (P7) In einem dritten Schritt wurde schließlich aus der Kombination der Analyse der Revisionshandlungen und der Verbalisierungen eine Modellierung vorgenommen, vgl. Abb. 40. In diesem Modell wird auf der obersten Ebene, der Ebene der kognitiven Prozesse, zwischen einer vollständig automatisierten Produktion und einer bewussten Produktion von Wortformen unterschieden. Eine als eher gering einzustufende Beeinträchtigung des Schreibflusses ist dabei das Abrufen von deklarativen und metakognitiven Wissensbeständen, da damit lediglich die gewählte Schreibung als der Norm entsprechend (deklarativ) oder als einer individuellen, kollektiven oder institutionellen Praxis o. Ä. entsprechend (metakognitiv) bestätigt wird. Bei repräsentierter Variantenschreibung sind zwei Fälle denkbar: a) Es liegt die Repräsentation einer Variante vor, die Verschriftung erfolgt aufgrund einer individuellen, kollektiven oder institutionellen Praxis. Die Auswirkung auf den Schreibfluss ist als gering einzustufen. b) Es liegt die Repräsentation einer Variante vor, die Verschriftung wird durch Entscheidungsprozesse beeinträchtigt, da keine entsprechende Praxis repräsentiert ist. Hier sind Beeinträchtigungen des Schreibflusses zu erwarten. (Dieser Fall entspricht dem eingangs des Kapitels genannten Argument.) 200 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="211"?> Abb. 40: Modell zum Einfluss von orthographischen Schwierigkeiten auf den Schreibfluss. IKI = Interkey-Intervall. Problematischer sind diejenigen Fälle, wo konfligierende orthographische Schemata vorliegen und Problemlösestrategien eingesetzt werden müssen: Problemlösestrategien können darin bestehen, dass auf die eigene orthographische Kompetenz rekurriert wird, indem etwa Proben, Merksätze, Analogie-Bildungen etc. eingesetzt werden (vgl. dazu das Kapitel 7), oder aber auf andere, externe Hilfsmittel zurückgegriffen wird, wie die automatische Rechtschreibkorrektur oder Rechtschreibwörterbücher, vgl. dazu die in 4.4.4 dargestellten Präferenzen dieser Stichprobe. Im vorliegenden Fall waren die Versuchspersonen jedoch ganz auf die eigene Kompetenz angewiesen. Die Problemlösestrategie kann dazu führen, dass die gewählte Schreibung bestätigt wird oder dass eine Online-oder Offline-Revisionshandlung ausgelöst wird. Dies wäre somit eine erhebliche Beeinträchtigung des Schreibflusses. Bei konfligierenden orthographischen Schemata sind in Bezug auf die orthographischen Varianten ebenfalls zwei Fälle denkbar: a) Die orthographische Variante ist nicht repräsentiert und es liegt lediglich ein Konflikt zwischen zwei Schreibweisen vor. Der Schreibfluss ist zwar erheblich beeinträchtigt, aber nicht aufgrund der Varianz. b) Es liegt sowohl ein Konflikt zwischen zwei denkbaren Schreibweisen als auch in Bezug auf die Frage vor, ob es sich um eine Variante handelt oder nicht. Es liegt eine varianzbedingte Beeinflussung des Schreibflusses vor. 6.1 Modellierung 201 <?page no="212"?> Wenn sich also viele der untersuchten Varianten bei den deklarativen/ metakognitiven sowie bei den konfligierenden Repräsentationen jeweils unter dem Fall b) einordnen ließen, wäre von einer großen Beeinträchtigung des Schreibflusses auszugehen. Wenn sich viele der Varianten beim Abrufen von deklarativen oder metakognitiven Wissensbeständen mit einer repräsentierten individuellen, institutionellen oder kollektiven Praxis einordnen ließen, wäre von einer geringen Beeinträchtigung des Schreibflusses auszugehen. Orthographische Formen, bei denen Varianz vorliegen würde, die aber voll automatisiert verschriftet werden, beeinträchtigen den Schreibfluss nicht. In einem nächsten Schritt gilt es folglich zu fragen, wo und wie sich die in der Schreibaufgabe enthaltenen Varianten in dieses Modell einordnen. 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen Im Folgenden werden die Ergebnisse aus der Analyse der Revisionshandlungen sowie der Verbalisierungsdaten dargestellt. Was die Darstellung der Verbalisierungsdaten betrifft, wurde schon in Kapitel 4.3 erwähnt, dass nicht wortwörtlich transkribiert wurde, sondern lediglich die Propositionen in die Standardsprache übersetzt wurden. 6.2.1 Ergebnisse Einzelwortschreibungen 6.2.1.1 aufwendig/ aufwändig Wie in Kapitel 5 dargestellt, wurde bei der Variante aufwendig/ aufwändig in 14 Fällen die ‹ e › -Schreibung und in 26 Fällen die reformierte ‹ ä › -Schreibung gewählt. Wenn wir die Prozesse des Verschriftens betrachten (Tab. 11), zeigt sich, dass mit nur vier Revisionen, d. h. mit einfachen Revisionen von vier Versuchspersonen, der Schreibfluss nicht erheblich gestört wurde. Die Revisionsrichtungen sind dabei ausgeglichen. Im Stimulated Recall hingegen wurden diese Varianten 11-mal erwähnt. Dies bedeutet, dass ein Viertel der Versuchspersonen bei dieser Form ein Problem wahrnehmen: Dabei dominiert aber das Abrufen von deklarativem Wissen in Bezug auf alte versus neue Rechtschreibung mit neun Nennungen, vgl. Bsp. (7) und (8). Nur zweimal wird explizit ein Konflikt genannt, einer bleibt unaufgelöst, vgl. (9), während der andere mit dem deklarativen Wissen aufgelöst wird, vgl. (10). 202 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="213"?> Tab. 11: Variante aufwendig/ aufwändig: Revisionshandlungen und Verbalisierungen. AR = alte Rechtschreibung, NR = neue Rechtschreibung Revisionshandlung Anzahl einfache Revision online 2 mehrfache Revision online - einfache Revision offline 2 mehrfache Revision offline - Total Revisionen 4 Revisionsrichtung e > ä 2 ä > e 2 Verbalisierungen Abruf deklaratives Wissen AR/ NR und/ oder metakognitives Wissen 9 Konflikt und deklaratives Wissen 1 Konflikt 1 Total 11 (7) „ Mit ‹ ä › ist das sehr logisch, habe es so übernommen, früher war es mit ‹ e › , obwohl ich es immer noch komisch finde “ (P1) (8) „ Ich habe es mit ‹ e › gelernt, habe gedacht, ich mache es nach der neuen Rechtschreibung mit ‹ ä › , dann hat es mich aber doch gestört und habe wieder ‹ e › gemacht (P19) (9) „ Ich habe es ein Weilchen mit ‹ ä › geschrieben; letzthin sagte mir jem., man schreibe es wieder mit ‹ e › , habe es aber nicht überprüft “ (P7) (10) „ Alte oder neue Rechtschreibung? ob mit ‹ e › oder ‹ ä › ? aber neu mit ‹ ä ›“ (P39) Keine der Versuchsperson gibt auf irgendeine Art zu erkennen, dass diese Form als Variante repräsentiert wäre, d. h. dass im aktuellen Regelwerk zwei Schreibungen zugelassen sind. Die beobachteten minderen Beeinträchtigungen des Schreibflusses scheinen also nicht auf die Variantenschreibung zurückzuführen, sondern darauf, dass diese Form als Fahnenwort der Rechtschreibreform offenbar im Schreibprozess kognitive Prozesse auslöst, die sich auf deklaratives Wissen in Bezug auf die Rechtschreibreform beziehen. 6.2.1.2 selbständig/ selbstständig Bei der Variante selbständig/ selbstständig wurde mit 31: 10 die ursprüngliche Schreibung mit ‹ st › häufiger gewählt. Diese relativ eindeutige Präferenz bildet sich auch im Schreibprozess ab. Auch bei dieser Form zeigt sich im Schreibexperiment in nur wenigen Fällen eine Störung des Schreibflusses: Drei Versuchspersonen haben revidiert, wobei die Revisionsrichtungen in allen Fällen von der alten zur neuen Schreibung führte und in zwei Fällen wieder zurück zur alten Schreibweise. 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 203 <?page no="214"?> Die Mehrfachrevision offline ist offenbar darauf zurückzuführen, dass mehrere Schriftbilder ausprobiert wurden, so gab denn auch die Versuchsperson in der Verbalisierung ein konfligierendes orthographisches Schema in Verbindung mit einer Problemlösestrategie an, vgl. Bsp. (11). In dieser Äußerung kommt auch zum Ausdruck, dass Rechtschreibregeln immer noch mit dem Duden gleichgesetzt werden, obwohl ja heute ein offizielles Regelwerk vorliegen würde. (11) „ Ich bin nicht sicher, ob man ‹ stst › schreibt nach neuem Duden, auf ‹ stst › gewechselt, um zu schauen, wie es aussieht “ (P0) Auch in den anderen Verbalisierungen zeichnet sich bei selbständig/ selbstständig wiederum etwas deutlicher ab, dass doch bei einigen Versuchspersonen bei dieser Form ein Problem repräsentiert ist: (12) „‹ st › oder ‹ stst › ? früher nur ‹ st › ; heute wusste ich es nicht “ (P7) (13) „ Heute ist es ‹ stst › , habe aber ‹ st › genommen “ (P34) (14) „ Wir haben wir kürzlich Diskussion gehabt, ob ‹ st › oder ‹ stst › ; haben dann nachgeschaut und gesehen, dass beides richtig ist, das habe ich vorher nicht gewusst “ (P19) (15) „ Es wäre auch anders möglich: ‹ stst ›“ (P6) Tab. 12: Variante selbständig/ selbstständig. Revisionshandlungen und Verbalisierungen. AR = alte Rechtschreibung, NR = neue Rechtschreibung Revisionshandlung Anzahl einfache Revision online 1 mehrfache Revision online - einfache Revision offline - mehrfache Revision offline 2 Total 3 Revisionsrichtung st > stst 1 st > stst > st 2 stst > st - stst > st > stst - Verbalisierungen Variante 2 Abruf deklaratives Wissen AR/ NR und/ oder metakognitives Wissen 2 Konflikt und deklaratives Wissen 2 Konflikt und Problemlösestrategie 1 Konflikt 2 Total 9 204 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="215"?> Zwei nannten einen unaufgelösten Konflikt zwischen zwei Schreibweisen, z. B. (12), einen durch die Rechtschreibreform ausgelösten Konflikt, zwei bezogen sich auf deklaratives Wissen zur Rechtschreibreform (13) und zwei hatten offenbar bei dieser Form die Variantenschreibung repräsentiert, vgl. (14) oder (15). 6.2.2 Ergebnisse Fremdwortschreibung ‹ tiell › / ‹ ziell › Die Fremdwortvariante potentiell/ potenziell wurde 29-mal mit der Ursprungsschreibung und nur 11-mal mit der integrierten Schreibung verschriftet, vgl. Kapitel 5. Auch hier gibt es in Bezug auf die Revisionshandlungen keinen Hinweis darauf, dass der Schreibfluss durch diese Form besonders beeinträchtigt worden wäre (vgl. Tab. 13). Es wurde nur von drei Versuchspersonen revidiert, zweimal einfach online und einmal mehrfach online. Die einfachen Revisionshandlungen führen einmal von der Ursprungsschreibung zur integrierten Schreibung und einmal in umgekehrter Richtung. Die mehrfache Revisionshandlung, mit der die integrierte Schreibung zur Ursprungsschreibung und wieder zurückgewechselt, wird in der Verbalisierung mit einem Konflikt zwischen ‹ tiell › - und ‹ ziell › -Schreibung begründet, der nicht mit deklarativem Wissen aufzulösen war. Bei den Verbalisierungen fällt im Gegensatz zu den Einzelwortschreibungen aufwendig/ aufwändig sowie selbständig/ selbstständig auf, dass hier einerseits der Konflikt ohne deklaratives Wissen genannt wird (drei Nennungen) wie in Bsp. (16) oder im vorangehenden Absatz beschrieben. Andererseits ist diese Form bei drei Versuchspersonen als Variante repräsentiert, wie etwa in Bsp. (17) oder in Bsp. (18). Bei Letzterem zeigt sich nun zum ersten Mal deutlich, dass bei einer repräsentierten Variantenschreibung tatsächlich auch Entscheidungsprozesse eintreten können, die den Schreibfluss beeinträchtigten könnten, wobei diese Versuchsperson offenbar nach der aktuellen kollektiven Praxis sucht, die sie jedoch nicht repräsentiert hat. Dieser Fall muss somit als Beeinträchtigung des Schreibflusses eingestuft werden und bildet den einzigen in diesem Experiment beobachteten Beleg, bei dem das eingangs des Kapitels genannten Argument zutreffend ist. Des Weiteren ist nur bei einer Versuchsperson explizit deklaratives Wissen zu beobachten, das sich auf die neue Rechtschreibung bezieht, und eine institutionelle Praxis im Umgang mit den betreffenden Formen angibt (19). (16) „‹ z › oder ‹ t › ? passiert mir immer “ (P21) (17) „ Ich habe auch schon gehört, das ‹ t › und ‹ z › richtig sind “ (18) „ Ich wusste, dass ‹ z › und ‹ t › richtig sind; habe überlegt, welches gängiger und neuer ist, dann fiel mir ein: ‹ z › , da Stammschreibung “ (P4) (19) „ muss im Geschäft nach der neuen Rechtschreibung schreiben, daher habe ich hier ‹ z › gewählt “ (P12) 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 205 <?page no="216"?> Tab. 13: Variante potentiell/ potenziell. Revisionshandlungen und Verbalisierungen. Revisionshandlung Anzahl einfache Revision online 2 mehrfache Revision online 1 einfache Revision offline - mehrfache Revision offline - Total 3 Revisionsrichtung t > z 1 t > z > t - z > t 1 z > t > z 1 Verbalisierungen Variante 3 Abruf deklaratives Wissen und/ oder metakognitives Wissen 1 Konflikt und deklaratives Wissen - Konflikt und Problemlösestrategie - Konflikt 3 Total 7 6.2.3 Ergebnisse Groß- und Kleinschreibung 6.2.3.1 aufs genaueste/ aufs Genaueste Bei der Variante aufs genaueste/ aufs Genaueste wurde von 29 Versuchspersonen die Großschreibung und nur von 12 die Kleinschreibung gewählt. Somit wird die reformierte Form präferiert. Im Vergleich mit den Einzelwort- und der Fremdwortschreibungen sind deutlich mehr Revisionshandlungen zu beobachten (Tab. 14). Zehn Versuchspersonen haben hier von der Großin die Kleinschreibung bzw. umgekehrt revidiert, wobei auffällt, dass drei davon mehrfach revidieren, darunter eine sechsmal. Mit diesem Muster stimmen auch die Verbalisierungen überein: Fünf Versuchspersonen nennen als Problem die konfligierenden Schreibeschemata, vgl. etwa (20), davon kann dies eine mit einer Problemlösestrategie (Ausprobieren) ansatzweise auflösen (21). Nur zwei beziehen sich auf deklaratives Wissen, einmal wird die Großschreibung als korrekt bezeichnet und mit der Problemlösestrategie der Artikelprobe gerechtfertigt (22); das andere Mal wird die Großschreibung ohne weitere Angaben als korrekt bezeichnet, wobei dies allerdings der im Schreibexperiment gewählten Schreibung widerspricht. 206 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="217"?> (20) „ Ich habe überlegt, ob es groß- oder kleingeschrieben wird? “ (P39) (21) „ Groß- oder kleinschreiben? habe es ausprobiert, würde es hier umgehen und schreiben ‚ genau prüfen ‘ ; habe es im zweiten Durchgang nochmals angeschaut “ (P7) (22) „ Großschreiben, da auf DAS Genauste “ (P1) Aus den Revisionshandlungen und den Verbalisierungen kann geschlossen werden, dass mindestens ein Viertel der Versuchspersonen den strittigen Wortkategoriestatus von genaueste/ Genaueste erfasst hat und keine der Versuchspersonen zu erkennen gibt, dass bei dieser Form die Variantenschreibung repräsentiert wäre. Die Beeinträchtigung des Schreibflusses lässt sich somit auf konfligierende Schreibschemata und nicht auf eine repräsentierte Varianz mit Entscheidungshandlungen zurückführen. Erschwerend kommt allerdings noch ein weiteres orthographisches Schema hinzu, nämlich die Setzung eines Apostrophs bei der mit dem Artikel verschmolzenen Präposition aufs. Dies wird fünfmal genannt, davon dreimal als Konflikt. 6.2.3.2 mehrere tausend/ mehrere Tausend In Bezug auf das Revisions- und das Verbalisierungsverhalten zeigt sich bei der Form mehrere tausend/ mehrere Tausend ein ähnliches Bild, wobei aber bei dieser Form häufiger die Kleinschreibung und somit die alte Schreibung gewählt wurde (28: 13). Auch hier zeigt sich, dass bei einem Viertel der Versuchspersonen die Groß- und Kleinschreibung als zwei konfligierende Schreibschemata repräsentiert sind. Zehn Versuchspersonen nehmen eine Revisionshandlung vor, davon fünf eine mehrfache, wobei eine Versuchsperson tatsächlich 5-mal zwischen der Klein- und der Großschreibung wechselt. In der Verbalisierung wird dieser Konflikt denn auch explizit gemacht, vgl. (23). (23) „ Klein oder groß? ist glaube, ich habe es großgeschrieben, Kleinschreibung sieht komisch aus “ (P33) (24) „ Ich glaube es wird kleingeschrieben wegen Schweizer “ (P1) (25) „ Groß- oder kleingeschrieben? Ich schaue, was besser aussieht “ (P17) Neun Versuchspersonen nennen denn auch im Stimulated Recall den Konflikt Groß-/ Kleinschreibung ohne weitere Angaben. Nur zwei geben dazu auch eine Problemlösestrategie an: Eine Versuchsperson verweist auf die hier abgefragten Phrase „ mehrere tausend Schweizer “ (24) und verweist damit indirekt auf das phrasensemantische Konzept der Nominalität von Gallmann (vgl. 4.1.2), bei der geprüft wird, ob das fragliche Wort als Kern eines Subjekts oder Objekts gelten kann und somit nominalen Status hätte. Dies ist bei dieser Form nicht der Fall, weil Schweizer den Kern des Subjekts ist, somit ließe sich die Kleinschreibung ableiten. Die zweite Problemlösestrategie, die genannt wird, bezieht sich auf das Ausprobieren von Schriftbildern (25). Bei dieser Form zeigt sich somit eine relativ deutliches Potential, den Schreibprozess beeinträchtigen zu können. Das Problem liegt jedoch darin, 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 207 <?page no="218"?> dass zwei konfligierende orthographische Schemata vorliegen, die Varianz scheint überhaupt nicht repräsentiert zu sein. Tab. 14: Varianten Groß-/ Kleinschreibung aufs genaueste/ aufs genaueste; seit längerem/ seit Längerem; mehrere tausend/ mehrere Tausend. Revisionshandlungen und Verbalisierungen. N = 41. KS = Kleinschreibung, GS = Großschreibung. aufs genaueste/ Genaueste mehrere tausend/ Tausend seit längerem/ Längerem Revisionshandlung Anzahl Anzahl Anzahl einfache Revision online 3 2 1 mehrfache Revision online 1 einfache Revision offline 4 3 2 mehrfache Revision offline 1 3 - online & offline mehrfach 1 2 - Total 10 10 3 Revisionsrichtung - - - KS > GS 5 - 2 KS > GS > KS - 1 - KS >. . .. . . GS - 2 - GS > KS 2 5 1 GS > KS > GS 1 2 - GS >. . .. > KS 1 - - GS >. . .. > GS 1 - - Verbalisierungen Variante - - - Abruf deklaratives Wissen und/ oder metakognitives Wissen 2 - 1 Konflikt und deklaratives Wissen - - - Konflikt und Problemlösestrategie 1 2 - deklaratives Wissen und Problemlösestrategie 1 - Konflikt 4 9 3 Total 11 11 4 208 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="219"?> 6.2.3.3 seit längerem/ seit Längerem Bei der Form seit längerem/ seit Längerem zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Großschreibung, wobei 35 Versuchspersonen groß- und lediglich sechs kleingeschrieben haben. Dieses doch eher deutliche Wahlverhalten widerspiegelt sich auch in den Revisionshandlungen und Verbalisierungsdaten (Tab. 14). Gerade dreimal wird revidiert: einmal mit einer einfachen Online- Revisionshandlungen und zweimal mit einer einfachen Offline-Revisionshandlung. Allerdings lässt sich dem Logfile entnehmen, dass zusätzlich zwei Versuchspersonen am Ende der Schreibaufgabe den Cursor auf das Graphem ‹ l › gesetzt, aber nichts revidiert haben. Diese Fälle wurden aber nicht gezählt, da das Setzen des Cursors keine eindeutigen Rückschlüsse zulässt, auch wenn es hier doch etwas auffällig erscheint. Im Stimulated Recall wird diese Form nur von vier Versuchspersonen als Problem bezeichnet. Dreimal wird der Konflikt genannt, vgl. etwa Bsp. (26) und einmal wird auf deklaratives Wissen in Bezug auf die alte Rechtschreibung verwiesen (27). (26) „ Problem: groß oder klein? “ (P) (27) „ Ich wusste hier, dass dies [Kleinschreibung] die alte Rechtschreibung ist “ (P) Im Gegensatz zu den anderen Formen der Groß-/ Kleinschreibung, die im Schreibexperiment aufgenommen wurden, zeigt sich bei dieser Form also nur bei ganz wenigen Versuchspersonen eine Beeinträchtigung des Schreibflusses. Ebenfalls gibt keine der Versuchspersonen zu erkennen, dass sie hier eine Variantenschreibung repräsentiert hätte. 6.2.4 Ergebnisse Zusammen- und Getrenntschreibung Die Diskussion der folgenden Fälle der Zusammen- und Getrenntschreibung wird nach der Art der Verbindung sowie des Paragraphen im Regelwerk (2006) zusammengefasst dargestellt. 6.2.4.1 Verbindungen mit Verben (§ 34): achtgeben/ Acht geben; bekanntmachen/ bekannt machen Bei den Varianten aus dem Bereich § 34 (Verbindungen mit Verben) zeigen sich bei beiden gewählten Formen achtgeben/ Acht geben sowie bekanntmachen/ bekannt machen eine deutliche Tendenz zur Wahl der Getrenntschreibung (vgl. Kapitel 5): Die Variante bekanntmachen/ bekannt machen wurde 33-mal getrennt geschrieben und nur sechsmal zusammen; viermal wurde das Lexem ersetzt und als vertraut machen verschriftet, was auch zur Getrenntschreibung gerechnet werden könnte. Die Variante achtgeben/ Acht geben wurde in 35 Fällen getrennt geschrieben, davon aber in 20 Fällen mit der weder in der alten noch in der neuen Rechtschreibung zugelassenen Kleinschreibung (acht 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 209 <?page no="220"?> geben). So ähnlich sich diese beiden Formen in Bezug auf die gewählte Form verhalten, so unterschiedlich wirken sie im Schreibprozess. Bei der Form bekanntmachen/ bekannt machen lässt sich in den aufgezeichneten Schreibsitzungen keine einzige Revision beobachten, auch im Stimulated Recall wird diese Form kein einziges Mal als Problem genannt. Daraus lässt sich relativ eindeutig schließen, dass bei dieser Form keine konfligierenden Schreibschemata repräsentiert sind, auch nicht in Bezug auf eine allfällige Variantenschreibung. Bei achtgeben/ Acht geben hingegen zeichnen sich bei einigen Versuchspersonen doch erhebliche Störungen des Schreibflusses ab. Sieben Versuchspersonen nehmen Revisionshandlungen vor, wovon drei Mehrfachrevisionen sind. Zusätzlich wird einmal offline der Cursor nochmals auf das Graphem ‹ a › gesetzt und einmal wird ‹ a › gelöscht und wieder hingeschrieben; die letzten beiden Fällen wurden jedoch nicht gezählt, da nicht mit Sicherheit darauf geschlossen werden kann, dass hier eine Revisionshandlung intendiert war. Die Revisionsrichtungen zeigen jedoch, dass der Konflikt stärker die Groß-/ Kleinschreibung betrifft als die Frage nach Zusammen- und Getrenntschreibung; es wird nur in einem Fall von Getrenntin die Zusammenschreibung revidiert. Bei den Verbalisierungen betreffen acht Nennungen konfligierende Schreibschemata, davon beziehen sich sechs ausschließlich auf den Konflikt Groß-/ Kleinschreibung, vgl. die Beispiele (28), (29), (30). Nur zwei Versuchspersonen nennen den Konflikt zwischen Zusammen-/ Getrenntschreibung und eine davon in Kombination mit der Groß- und Kleinschreibung (31). (28) „ Ich wusste das nicht, schrieb es groß; vielleicht hat es gewechselt “ (P29) (29) „ Groß oder klein? Schaue ich sonst nach, wenn ich schreibe “ (P20) (30) „ Groß- oder kleingeschrieben? ist mir peinlich, weil ich ja Deutschlehrer war; aber nicht dafür ausgebildet “ (P5) (31) „ Zusammen? Oder getrennt und groß? “ (P39) Nur eine Versuchsperson scheint bei achtgeben/ Acht geben eine Variante repräsentiert zu haben (32), wobei sie aber einfach auf diejenige Schreibweise zurückgreift, von der sie meint, sie so gelernt zu haben. Damit scheint auch bei repräsentierter Varianz keine größere Entscheidungsprobleme vorzuliegen. Eine einzige Versuchsperson bezieht sich auf die eigene individuelle Schreibpraxis (33) in Kombination mit deklarativem Wissen in Bezug auf die Wortkategorie von acht, wobei offensichtlich eine Falschrepräsentation vorliegt, handelt es sich doch um das nur in festen Wendungen auftretende Lexem die Acht. (32) „ könnte man auch anders schreiben, habe es aber so [Acht geben] gelernt “ (P6) (33) „ Das Wort habe ich noch nie separat geschrieben; ‚ acht ‘ ist Zahl, daher klein, obwohl es ja eigentlich von Achtsamkeit (Substantiv) kommt “ (P27) 210 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="221"?> Für die Form achtgeben/ Acht geben lässt sich also sagen, dass einige Versuchspersonen durch ein orthographisches Problem im Schreibfluss gestört wurden. Das Problem lässt sich jedoch weder auf die Frage nach der Repräsentation einer Variante noch auf die Frage nach einem Konflikt zwischen Zusammen- und Getrenntschreibung, welcher der Varianz zugrunde liegt, zurückführen, sondern stammt aus einem Konflikt zwischen Groß- und Kleinschreibung in der Getrenntschreibung. Tab. 15: Variante achtgeben/ Acht geben. Revisionshandlungen und Verbalisierungen. N = 41. GetrS = Getrenntschreibung, ZS = Zusammenschreibung, KS = Kleinschreibung, GS = Großschreibung. Revisionshandlungen einfache Revision online 2 mehrfache Revision online 2 einfache Revision offline 2 mehrfache Revision offline online & offline mehrfach 1 Total 7 Revisionsrichtung GetrS (mit KS) > GetrS (mit GS) 3 GetrS (mit KS) > GetrS (mit GS) > GetrS (mit KS) 1 GetrS (mit KS) > GetrS (mit GS) > GetrS (mit KS) > GetrS (mit GS) 1 GetrS (mit GS) > GetrS (mit KS) 1 GetrS (mit GS) > GetrS (mit KS) > ZS 1 Verbalisierungen Variante 1 Abruf deklaratives Wissen und/ oder metakognitives Wissen 1 Konflikt 8 Total 10 6.2.4.2 Verbindungen mit einem adjektivisch gebrauchten Partizip (§ 36): weitverbreitet/ weit verbreitet; schwerverständlich/ schwer verständlich Bei den Formen weitverbreitet/ weit verbreitet und schwerverständlich/ schwer verständlich haben sich unterschiedliche Frequenzen gezeigt, vgl. Kapitel 5. Das im Schreibexperiment attributiv getestete weitverbreitet/ weit verbreitet wurde ausgeglichen 21-mal getrennt geschrieben und 20 zusammen. Beim prädikativ getesteten schwerverständlich/ schwer verständlich hingegen wurde die Getrenntschreibung (39) gegenüber der Zusammenschreibung (2) bevor- 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 211 <?page no="222"?> zugt. Auch in Bezug auf die Auswirkung im Schreibprozess verhalten sich diese beiden Formen leicht unterschiedlich. Bei schwerverständlich/ schwer verständlich gibt es nur eine Revision, welche die Versuchsperson aber in der Verbalisierung mit einem Tastaturproblem erklärt und somit nicht gezählt wurde. Ebenfalls gibt es keine Verbalisierungen zu dieser Form. Somit kann davon ausgegangen werden, dass hier weder konfligierende Schreibschemata noch Probleme mit einer allfällig repräsentierten Varianz vorliegen, was sich schon mit der eindeutigen Präferenz der Getrenntschreibung angedeutet hat. Bei weitverbreitet/ weit verbreitet hingegen sind einige wenige Revisionshandlungen sowie ebenso wenige Nennung im Stimulated Recall zu verzeichnen: Es wird insgesamt von drei Versuchpersonen revidiert, einmal mit einer einfachen Online-Revision und zweimal mit einer einfachen Offline- Revision. In zwei Fällen führt die Revision von der Getrenntzur Zusammenschreibung, im anderen Fall vice versa. In den Verbalisierungen hingen wird nur zweimal ein Konflikt genannt, vgl. (34) und (35), wobei im letzteren Beleg eine Form von deklarativem Wissen abgerufen wurde, das leider in dieser Äußerung nicht weiter ausgeführt wurde. (34) „ Zusammen- oder getrennt? habe getrennt gewählt, entspricht wahrscheinlich der Reform, war aber unsicher “ (P13) (35) „ Getrennt oder zusammen? Ich habe dann gedacht, dass das getrennt geschrieben wird “ (P4) Was die Revisionshandlungen sowie die Verbalisierungen bei den Formen schwerverständlich/ schwer verständlich in prädikativer Verwendung sowie weitverbreitet/ weit verbreitet in attributiver Verwendung betrifft, lassen sich bei Ersterem keine Beeinträchtigungen des Schreibprozesses ausmachen, was dem einheitlichen Wahlverhalten bei dieser Form entspricht. Bei Zweiterem zeigen sich nur bei wenigen Versuchspersonen Revisionen und Verbalisierungen, was aufgrund der ausgeglichenen Präferenzen für die Zusammenbzw. die Getrenntschreibung bei der Verschriftung etwas erstaunt. Es kann folglich für die Formen weitverbreitet/ weit verbreitet sowie schwerverständlich/ schwer verständlich das Fazit gezogen werden, dass hier die Variantenschreibung den Schreibfluss nicht stört und somit problemlos ist. 212 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="223"?> Tab. 16: Variante weitverbreitet/ weit verbreitet. Revisionshandlungen und Verbalisierungen. N = 41. GetrS = Getrenntschreibung, ZS = Zusammenschreibung. GetrS = Getrenntschreibung, ZS = Zusammenschreibung. Revisionshandlungen einfache Revision online 1 einfache Revision offline 2 Total 3 Revisionsrichtung ZS > GetrS 2 GetrS > ZS 1 Verbalisierungen Variante - Abruf deklaratives Wissen und/ oder metakognitives Wissen - Konflikt und deklaratives Wissen 1 Konflikt 1 Total 2 6.2.4.3 Verbindungen Präpositionen mit Nomen (§ 39): aufgrund/ auf Grund, zugunsten/ zu Gunsten, außerstande/ außer Stande Bei den im Schreibexperiment abgefragten Varianten bei Verbindungen von Präpositionen mit Nomen in präpositionaler Verwendung (aufgrund/ auf Grund, zugunsten/ zu Gunsten) sowie in adverbialer Verwendung außerstande/ außer Stande zeigt sich eine leichte Tendenz Richtung Wahl der Zusammenschreibung (vgl. Kapitel 5). Die gewählten Formen bei der Variante aufgrund/ auf Grund verteilen sich mit 23 Fällen auf die Zusammenschreibung, 18 auf die Getrenntschreibung sowie einem Fall auf die weder in der alten noch in der neuen Rechtschreibung zugelassene Form der Getrennt- und Kleinschreibung (auf grund). Bei der Variante außerstande/ außer Stande wählten 21 Versuchspersonen die Zusammenschreibung, 17 die Getrenntschreibung mit Großschreibung von Stande sowie zwei Personen die Getrenntschreibung mit Kleinschreibung von stande, die jedoch weder im Regelwerk (2006) noch in der alten Rechtschreibung zugelassen wäre. Bei der Variante zugunsten/ zu Gunsten hingegen wird die Zusammenschreibung (20) genau so oft gewählt wie die Getrenntschreibung mit Großschreibung (20), einmal wird die weder in der alten noch in der neuen Rechtschreibung korrekte Getrenntschreibung mit Kleinschreibung gewählt. Bei diesen drei Varianten interessiert es, ob sich bei der Form aufgrund/ auf Grund, die schon in der alten Rechtschreibung als Variante zugelassen war, im Schreibprozess andere Revisionshandlungen und kognitive Prozesse beobachtbar sind als bei den anderen beiden Formen, die erst seit der Reform 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 213 <?page no="224"?> als Varianten zugelassen sind. Der Vergleich der Revisionshandlungen der drei Formen zeigt für alle drei Formen eine eher wenig ausgeprägte Neigung bei diesen Formen zu revidieren, vgl. Tab. 17. Dies trifft vor allem für aufgrund/ auf Grund zu, bei dem nur je zwei einfache online bzw. offline Revisionshandlungen zu beobachten sind. Demgegenüber wird bei außerstande/ außer Stande von sechs Versuchspersonen revidiert, wovon drei Revisionshandlungen aus mehreren Teilrevisionen bestehen und auf eine größere Unsicherheit hinweisen. Bei zugunsten/ zu Gunsten haben fünf Versuchspersonen Revisionshandlungen vorgenommen, wovon zwei mehrfach revidiert haben. Interessant ist nun hier der Vergleich der Revisionsrichtungen: Während bei aufgrund/ auf Grund zwischen den beiden zugelassenen Schreibungen revidiert wird, wird bei außerstande/ außer Stande sowie zugunsten/ zu Gunsten bei der Getrenntschreibung auch von der Großin die Kleinschreibung des nominalen Bestandteils und vice versa revidiert. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass mit dem nominale Bestandteil Grund ein relativ frequentes und gut repräsentiertes Nomen zu erkennen ist, während die beiden anderen nur als seltene Flexionsformen existieren: Stande (Dat., Sing.) zu Stand und Gunsten (Dat., Pl.) zu Gunst. Während also bei aufgrund/ auf Grund eher weniger und nur einfach revidiert wird, haben doch zehn Versuchspersonen diese Form im Stimulated Recall als Schwierigkeit genannt: Sieben Versuchspersonen nennen hier einen Konflikt zwischen Zusammen- und Getrenntschreibung, fünf davon einen unaufgelösten, z. B. (36) oder (37), wobei bei Letzterem die Form in ein ganzes Paradigma verwandter Formen gestellt wird, deren orthographische Schwierigkeit offenbar auf wenig Gegenliebe stösst. Eine Versuchsperson kann den Konflikt mit Rückgriff auf deklaratives Wissen auflösen, hier die in der alten Rechtschreibung häufige Regel „ Bei wortwörtlicher Bedeutung getrennt, bei übertragener Bedeutung zusammen “ (38). Nur eine Versuchsperson hat diese Form ansatzweise als Variante repräsentiert, wobei dieses Wissen auf die Beobachtung des Usus zurückzuführen ist und die Getrenntschreibung offenbar als minderwertig eingeschätzt wird (39). (36) „ Ich wusste es nicht, stört mich mit Getrenntschreibung, schreibe das oft noch falsch nach alter Rechtschreibung; gewisse Sachen kann man noch auf beide Arten schreiben, aber einmal klein, einmal getrennt ist chaotisch, sicher nicht mehr korrekt “ (P29) (37) „ doofe Wörter, habe ich mal gelernt, haben nun alle gewechselt “ (P37) (38) „ Ich habe kurz gezögert, mich aber für Zusammenschreibung entschieden; groß und getrennt wäre es in Bedeutung ‚ auf Grund laufen ‘ (z. B. ein Schiff) “ (P1) (39) „ Getrennt geschrieben sieht neudeutsch aus; habe es auch schon häufige zusammengeschrieben gesehen “ (P11) 214 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="225"?> Tab. 17: Varianten Getrennt-/ Zusammenschreibungen § 39 (Regelwerk 2006) aufgrund/ auf Grund, außerstande/ außer Stande; zugunsten/ zu Gunsten. Revisionshandlungen und Verbalisierungen. N = 41. ZS = Zusammenschreibung, GetrS = Getrenntschreibung; GS = Großschreibung, KS = Kleinschreibung. aufgrund/ auf Grund zugunsten/ zu Gunsten außerstande/ außer Stande Revisionshandlungen einfache Revision online 2 mehrfache Revision online einfache Revision offline 2 3 3 mehrfache Revision offline 2 2 online & offline mehrfach 1 Total 4 5 6 Revisionsrichtung ZS > GetrS 1 2 1 ZS > GetrS > ZS 1 ZS > GetrS (mit KS) > GetrS 1 ZS >. . ... ZS 1 GetrS › ZS 2 1 GetrS (mit KS) > ZS 1 GetrS (mit KS) > ZS > GetrS (mit KS) 1 GetrS (mit KS) > GetrS (mit GS) 1 1 GetrS (mit KS) > ZS > GetrS 1 Verbalisierungen Variante 1 Abruf deklaratives Wissen und/ oder metakognitives Wissen 3 Konflikt und deklaratives Wissen 1 1 Konflikt und Problemlösestrategie 1 Konflikt, metakognitivesWissen, Problemlösestrategie 1 Konflikt, Variante 1 Konflikt 5 4 4 Total 10 5 7 Im Vergleich werden zugunsten/ zu Gunsten sowie außerstande/ außer Stande in den Verbalisierungen etwas weniger oft genannt. Es überwiegen bei diesen Formen Nennungen, die auf konfligierende Schemata verweisen und teil- 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 215 <?page no="226"?> weise auch auf eine Unsicherheit, ob hier auch beide Schreibweisen zugelassen sein könnten, vgl. für außerstande/ außer Stande (40). Dabei geben zwei Versuchspersonen eine Form von Globallösung für diese Fälle an: In der Aussage (41) erscheint diese Globallösung als deklaratives Wissen, da die Versuchsperson sich auf ein dem Duden entnommenes Wissen stützt, das sie nun vermutlich auf alle schwierigen Fälle der Zusammen- und Getrenntschreibung überträgt; in der Aussage (42) erscheint die Globallösung als Problemlösestrategie und metakognitives Wissen, weil die Versuchsperson sich die Strategie „ im Zweifelsfall immer getrennt “ als individuelle Praxis im Umgang mit schwierigen Fällen angeeignet hat. (40) „ Ich habe mich gefragt, wie ich das schreiben soll: evtl. auch Zusammenschreibung möglich, weiss es gar nicht “ (P9) (41) „ Getrennt oder zusammen? Hier war ich unsicher; glaube, dass beides möglich ist, aber heute kann man ja einfach nach Duden allgemein getrennt schreiben “ (P37) (42) „ Ich habe mehrmals überlegt, ob zusammen oder getrennt (klassischer Duden-Fall); meine Regel: wenn möglich getrennt und Nomen groß, im Zweifelsfall Duden “ (P13) Bei zugunsten/ zu Gunsten verweisen von den fünf Nennungen vier auf die konfligierenden orthographischen Schemata, vgl. dazu die Äußerung in (43). Eine andere Verbalisierung zeigt, dass diese Form als Variante repräsentiert ist (44). Da weder ein Konflikt verbalisiert wird noch im Logfile eine Revisionshandlung zu beobachten ist, kann davon ausgegangen werden, dass dies ein Abrufen von deklarativen Wissensbeständen ist, die den Schreibfluss kaum beeinträchtigen dürfte. (43) „ Getrennt oder zusammen? Diese Wörter [gemeint sind die Schreibweisen, MW] sind neu “ (P4) (44) „ Früher war das klein und zusammen, jetzt getrennt und groß als Variante, da generell Tendenz zu Großschreibung “ (P1) Die Variantenschreibungen bei Verbindungen von Präpositionen mit Nomen in präpositionaler Verwendung (aufgrund/ auf Grund, zugunsten/ zu Gunsten) sowie in adverbialer Verwendung außerstande/ außer Stande scheinen den Schreibfluss nur bei einem geringeren Teil der Versuchspersonen zu beeinträchtigen. Die Störungen scheinen aber auf konfligierende Schreibschemata zurückzuführen zu sein und nicht auf Entscheidungsschwierigkeiten bei Variantenschreibungen, da nur einzelne Versuchspersonen angeben, bei diesen Formen die Varianten repräsentiert zu haben. Der Konflikt betrifft nicht nur die Zusammen- und Getrenntschreibung, sondern auch die Groß- oder Kleinschreibung des nominalen Bestandteils der Verbindung, dies gilt besonders für zugunsten/ zu Gunsten und außerstande/ außer Stande, jedoch weitaus weniger für aufgrund/ auf Grund. 216 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="227"?> 6.2.4.4 Konjunktionen (§ 39): so dass/ sodass Die Konjunktion so dass/ sodass wird im Schreibexperiment häufiger getrennt geschrieben als zusammen, und zwar in einem Verhältnis von 31: 9. Im Schreibexperiment sind bei dieser Form nur fünf Revisionshandlungen auszumachen (Tab. 18), wobei bei einer ein Tippfehler nicht ausgeschlossen werden kann. Die Revisionsrichtung erfolgt immer von der Zusammenzur Getrenntschreibung, nur die einzige mehrfache Revision wechselt wieder zur Zusammenschreibung zurück. Im Stimulated Recall wird die Form siebenmal genannt, wobei nur in vier Fällen auf einen Konflikt verwiesen wird. Bei zwei Personen ist die Varianz repräsentiert. Bei einer als Abruf aus dem deklarativen Wissensbestand, indem einfach darauf verwiesen wird, dass es sich hierbei um eine Variante handle (diese Nennung stammt aus dem zweiten fokussierten Recall), vgl. (45). Dies dürfte jedoch den Schreibfluss nicht weiter gestört haben, da es sich dabei lediglich um ein Abrufen des deklarativen Wissens handelt, ergänzt mit einer individuellen Praxis, das auch nicht zu einer Revisionshandlung führte. Bei der anderen Versuchsperson wird die Varianz als Teil eines Konflikts genannt, vgl. (46), was auf eine Beeinträchtigung des Schreibprozesses hindeutet, allerdings kommen auch hier keine Revisionen vor. (45) „ Hier habe ich beide Möglichkeiten gekannt, würde ich aber nie zusammenschreiben. “ (P6) (46) „ Getrennt oder zusammen? Gibt beides, glaube ich. “ (P0) (47) „ Zusammen oder getrennt? Inhaltlich komische Verbindung, hätte lieber damit geschrieben “ (P20) Zwei Versuchspersonen stören sich an der Form generell und nennen die im Kapitel 4.4.4 vorgestellte Form des Lexemsersatz bei orthographischen Schwierigkeiten (47). Eine weitere hat die Getrenntschreibung fälschlicherweise als reformierte Schreibweise repräsentiert (P10), womit sie auf ein Laienkonzept verweist, das die Getrenntschreibung (und meist auch die Großschreibung) übergeneralisierend mit der Rechtschreibreform in Zusammenhang bringt, was der Tendenz nach, aber nicht in jedem Fall korrekt ist. Dieser Fall wurde aber auch als Abruf des deklarativen Wissens und somit als geringe Beeinträchtigung des Schreibprozesses eingestuft. Eine weitere bezeichnet die Zusammenschreibung als ihre „ eigene Version “ (P17) und somit als individuelle Praxis. Die geringe Anzahl beobachteter Revisionshandlungen sowie die geringe Anzahl Verbalisierungen, die entweder konfligierende Schreibschemata nennen, ohne dass dazu eine deklarative oder Problemlösestrategie genannt würde, deuten darauf hin, dass bei dieser Form keine größere Beeinträchtigung des Schreibflusses zu erwarten sind. 6.2 Ergebnisse zu den Phänomenbereichen 217 <?page no="228"?> Tab. 18: Variante so dass/ dass. Revisionshandlungen und Verbalisierungen. N = 41. GetrS = Getrenntschreibung, ZS = Zusammenschreibung. Revisionshandlungen Anzahl einfache Revision online 1 mehrfache Revision online - einfache Revision offline 2 (3) mehrfache Revision offline 1 Total 4 (5) Revisionsrichtung ZS > GetrS 4 ZS > GetrS > ZS 1 Verbalisierungen Variante 1 Abruf deklaratives Wissen und/ oder metakognitives Wissen 2 Konflikt und Problemlösestrategie 2 Konflikt, Variante 1 Konflikt 1 Total 7 6.3 Zusammenfassung und Diskussion In diesem Kapitel sollte aufgezeigt werden, wie Varianten im Schreibprozess wirken können. Hintergrund war dabei das Argument, das verschiedentlich gegen die Aufnahme von Varianten im Regelwerk angeführt wird, dass nämlich Varianten den Schreibprozess stören, indem Schreibende gezwungen werden, Entscheidungen zu treffen, was kognitive Ressourcen besetzt, die für hierarchie-höhere Prozesse benötigt werden (vgl. 3.5.1). Dieses Argument sollte anhand der aus dem Schreibexperiment gewonnenen Daten geprüft und auf die mentale Repräsentationen und kognitiven Prozesse bezogen werden. Dazu wurde in einem ersten Schritt datengeleitet eine Modellierung vorgenommen, die den Einfluss von orthographischen Phänomenen auf den Schreibprozess abbilden (vgl. Abb. 40). Dabei wurden verschiedene Beeinträchtigungsgrade des Schreibflusses unterschieden: Die automatisierte Wortformenproduktion als keine Beeinträchtigung; das Abrufen von deklarativen und/ oder metakognitiven Wissensbeständen als eine eher geringfügige Beeinträchtigung, das im Schreibprozess auch rückversichernd wirken kann, und als größte Beeinträchtigung das Vorliegen konfligierender Schreibschemata, das sich im Schreibprozess als einfache oder mehrfache Revisionen manifestieren kann. In Bezug auf die Varianten wäre 218 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="229"?> somit von folgenden Fällen auszugehen, wenn keine vollständig automatisierte Verschriftung vorliegt (vgl. auch Abb. 41): Abruf deklaratives Wissen - Es liegt keine Repräsentation eine Variante vor, die Verschriftung erfolgt mit Rückgriff auf deklaratives Wissen. - Es liegt die Repräsentation einer Variante vor, die Verschriftung erfolgt mit Rückgriff auf eine individuellen, institutionelle oder kollektive Schreibpraxis o. Ä. - Es liegt die Repräsentation einer Variante vor, die Verschriftung wird durch Entscheidungsprozesse beeinträchtigt. Konfligierende Schreibschemata - Die orthographische Variante ist nicht repräsentiert und es liegt lediglich ein Konflikt zwischen zwei Schreibweisen vor. - Es liegt neben konfligierenden orthographischen Schemata auch ein Konflikt in Bezug auf das Vorliegen einer Variante vor, was eine größere Beeinträchtigung des Schreibprozesses nach sich zieht. Abb. 41: Modell zum Einfluss von orthographischen Varianten auf den Schreibfluss; je dunkler die Färbung des Kastens, desto größer die Beeinträchtigung des Schreibflusses. 6.3 Zusammenfassung und Diskussion 219 <?page no="230"?> Auf der Grundlage dieses Modells wurden die im Schreibexperiment aufgenommenen Varianten im Schreibprozess der Versuchspersonen untersucht. Dabei zeigt sich, dass bei einigen Formen keine bis gar keine Revisionshandlungen zu beobachten waren und auch im Stimulated Recall keine Schwierigkeiten verbalisiert wurden. Dies betraf besonders Formen, bei denen sich in Wahlverhalten eine eindeutige Präferenz abzeichnet: Bei seit längerem/ seit Längerem etwa zeigen sich auch im Schreibprozess nur wenige Revisionshandlungen bzw. wird die betreffende Form in der Verbalisierung selten als Problem genannt. Bei den Formen bekanntmachen/ bekannt und schwerverständlich/ schwer verständlich in prädikativer Funktion waren gar keine Revisionshandlungen zu beobachten und es wurden keine Probleme verbalisiert. Dies deutet darauf hin, dass weder die Variantenschreibung repräsentiert ist, noch konfligierende Schreibschemata vorliegen und die Verschriftungen mit großer Wahrscheinlichkeit automatisiert erfolgten. Bei den anderen Formen liegen bei mehr oder weniger Versuchspersonen deutlich konfligierende Schreibschemata vor, was sich in einfacheren Fällen als einfache Revisionshandlungen beobachten lässt, z. B. bei weitverbreitet/ weit verbreitet, in komplexeren als mehrfache Revisionshandlungen, z. B. bei aufs Genaueste/ aufs genaueste. Die Verbalisierungen zeigen aber in den meisten Fällen, dass die Revisionshandlungen das Resultat konfligierender orthographischer Schemata sind. Die anderen Nennungen betreffen vor allem deklaratives Wissen in Bezug auf die Unterschiede alte und neue Rechtschreibung. Besonders ausgeprägt ist dies bei den Fahnenwörtern der Rechtschreibreform aufwendig/ aufwändig sowie selbständig/ selbstständig, bei denen die Beeinträchtigungen des Schreibflusses somit weniger mit der Frage nach der Repräsentation der Varianz zu tun hat, sondern auf das bei Fahnenwörtern besonders saliente deklarative Wissen in Bezug auf neue Schreibweisen. Nur ganz wenige Versuchspersonen haben bei einigen Formen die Varianz repräsentiert, so etwa drei Versuchspersonen bei potentiell/ potenziell. Hier ist denn auch die einzige Nennungen zu verzeichnen, die auf Entscheidungsprozesse verweist, die sich an den Kriterien neu und gängig orientieren. Bei den anderen repräsentierten Varianten wird die Variante einfach als solche identifiziert oder es wird vereinzelt auf eine individuelle Praxis verwiesen, wie etwa bei der Form achtgeben/ Acht geben. In Bezug auf die verschiedene Phänomenbereiche lassen sich auch Unterschiede in der Salienz beobachten. Dabei zeigten sich, wie zu erwarten war, bei Phonem-Graphem-Korrespondenz und der Groß- und Kleinschreibung mehr Konflikte zwischen verschiedenen Schreibweisen als bei der Zusammen- und Getrenntschreibung. Dieser Teil der Untersuchung hat somit differenzierter als das eingangs genannte Argument zeigen können, wie orthographische Varianten den Schreibprozess beeinflussen können. Es hat sich allerdings bei den ausgewählten Formen gezeigt, dass die Beeinträchtigung nur sehr selten auf die Repräsentation einer Variante, sondern auf das Vorliegen konfligierender 220 6 Ergebnisse zum Einfluss orthographischer Varianten auf den Schreibprozess <?page no="231"?> orthographischer Schemata zurückzuführen ist: Kurz gesagt, es liegt einfach eine orthographische schwierige Form vor, bei der die wenigsten eine Varianz vermuten. Im Rahmen eines Schreibexperiments können allerdings nur eine begrenzte Anzahl von Varianten untersucht werden. Angesichts der doch großen individuellen sprachbiographischen Unterschiede zwischen erwachsenen Schreibern und Schreiberinnen, die eine Generalisierung erschweren, können nur mit gebotener Vorsicht Rückschlüsse auf andere Formen gezogen werden. Ebenfalls muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Methode des Stimulated Recalls in Bezug auf die Quantität und Qualität der retrospektiven Verbalisierungen von kognitiven Prozessen auf hierarchieniederer Ebene einige Defizite aufweist (vgl. 4.3.1). Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Versuchspersonen alle Schwierigkeiten, die sie während der Schreibaufgabe hatten, auch verbalisiert haben. Es ließ sich aber doch mit dem gewählten Vorgehen einer datengeleiteten Modellierung und der Diskussion examplarisch ausgewählter Varianten eine differenziertere Sicht auf die Wirkung von Varianten im Schreibprozess gewinnen. Hinsichtlich der Weiterentwicklung der Orthographie kann auf der Grundlage dieses Untersuchungsteils gefolgert werden, dass die Zulassung von Varianten weder einen ausgeprägten negativen noch ausgeprägten positiven Effekt auf den Schreibprozess hat. Varianten behindern den Schreibfluss nicht, weil sie Varianten sind, dazu sind sie einerseits zu wenig repräsentiert, andererseits können auch bei repräsentierten Varianten im Schreibprozess auf prozeduralisierte individuelle, institutionelle oder kollektive Praktiken zurückgegriffen werden, ohne dass dazu ausgedehnte Entscheidungsprozesse durchlaufen werden müssen. Andererseits tragen sie aber auch bei schwierigen Formen nicht zu einer Verflüssigung des Schreibprozesses bei, da bedingt durch die geringe Repräsentation trotzdem konfligierende Schreibschemata vorliegen. Anders sieht es natürlich bezüglich des Textproduktes aus: Mit der Zulassung von Varianten nehmen die nicht normgerecht verschrifteten Schreibungen ab, wobei dies nur für jene Fälle gilt, bei welchen nich noch eine dritte, nicht normgerechte Schreibung existiert wie etwa bei achtgeben/ Acht geben, das in dieser Stichprobe häufig als acht geben verschriftet wurde. 6.3 Zusammenfassung und Diskussion 221 <?page no="233"?> 7 Variantenwahl und Begründungsmuster In den vorangehenden Kapiteln wurde einerseits der Usus untersucht, indem Gebrauchsfrequenzen in verschiedenen Datenquellen kontrastiert wurden, andererseits die Auswirkungen von Varianten auf die Prozesse des Verschriftens dargestellt. In diesem Kapitel geht es nun darum aufzuzeigen, aufgrund welcher subjektiven orthographischen Konzepte Varianten präferiert oder abgelehnt werden. Wie in Kapitel 4.3.2 dargelegt, wurden dafür die Versuchspersonen gebeten, zwischen in Satzpaaren angebotenen Varianten zu wählen und ihre Wahl zu begründen. Die Begründungen geben Zugang zu mentalen Repräsentationen orthographischer Normen und subjektiven orthographischen Konzepten, die im alltäglichen Schreiben orthographische Entscheide steuern und somit als Prädiktoren für die Variantenwahl im alltäglichen Schreiben gelten können. Es wurde für diese Teiluntersuchung datengeleitet ein Kategorienmodell entwickelt, das die häufigsten Begründungen umfasst, da es bis anhin keine theoretischen Modellierungen oder empirischen Untersuchungen von orthographischen Kompetenzen und orthographie-bezogenen subjektiven Theorien Erwachsener gibt (vgl. 2.4). Im Folgenden wird zuerst das Kategoriensystem vorgestellt sowie der Umgang mit Analyse- und Kategorisierungsproblemen transparent gemacht. Anschließend werden die einzelnen Formen gesondert besprochen. In der Zusammenfassung und Diskussion werden die Ergebnisse nochmals gerafft dargestellt und zu Hypothesen verdichtet, welche Faktoren als Prädiktoren für die zukünftige Entwicklung des Usus dienen könnten. 7.1 Begründungskategorien Es haben sich bei dieser Untersuchung sieben grundlegende Dimensionen herauskristallisiert, die sich ihrerseits in Kategorien und Kriterien gliedern, vgl. Tab. 19, die alle Kategorien mit zugehöriger Erklärung und Ankerbeispielen auflistet. Die Dimensionen decken sich teilweise mit den im Fachdiskurs postulierten orthographischen Prinzipien, die in Kapitel 2.1.5 eingeführt wurden. Systemdimension: Zur Systemdimension werden all jene Begründungen gezählt, welche eine Sichtweise auf Orthographie als System einnehmen, das nach logischen oder argumentativ herleitbaren Regelmäßigkeiten funktioniert. Darunter fallen sowohl das morphologische, das phonologische als <?page no="234"?> auch das grammatische Prinzip. Für die vorliegende Untersuchung wurde unterschieden in: - Morphosyntax: Form-Funktion-Zuordnungen morphosyntaktischer Art, d. h. Überlegungen zu Schreibungen aufgrund Wortart-Kategorien, Re- Analyse, Univerbierungen, aber auch grammatischer Proben, wie die Artikel- oder Ersatzprobe. Diese Kategorie entspricht dem morphologischen Prinzip. - Phonologie: Phonem-Graphem-Korrespondenzen, aber auch Suprasegmentalia. Dies entspricht in etwa dem phonologischen Prinzip. Es wird in dieser Dimension nicht zwischen richtigen und falschen Begründungen unter normgrammatischer Perspektive unterschieden. Diachronie: Zur Dimension der Diachronie gehören alle Begründungen, die sich auf Phänomene des Sprachwandels, der Etymologie von Wörtern oder des Sprachvergleichs beziehen, indem etwa dafür argumentiert wird, dass die Schreibung die Herkunft des Wortes deutlich machen soll. Diese Dimension deckt sich mit dem oben eingeführten etymologischen Prinzip. Semantik/ Pragmatik: Zur Semantik/ Pragmatik werden Begründungen gezählt, die Bedeutung-Form-Zuordnungen vornehmen. Dies kann die Bedeutungsdifferenzierung, die Disambiguierung, aber auch die Informationsstruktur im Satz betreffen, indem etwa argumentiert wird, dass wichtige Wortformen hervorgehoben werden müssen. Im Kern entspricht diese Dimension dem semantischen Prinzip bzw. geht darüber hinaus, indem die Informationsstruktur eingeschlossen wird. Unspezifisches System/ Bewusstsein: Es gibt in den vorliegenden Daten eine Reihe von inhaltlich unterspezifizierten Begründungen, die sich auf eine systemhafte Sichtweise auf Orthographie zurückführen lassen, ohne dass genau klar wird, auf welchen Teilbereich die Versuchspersonen sich damit beziehen. Es wurde, wie erwähnt, in der Befragung bewusst darauf verzichtet, bei unklaren Aussagen nachzuhaken, um individuelle Konzeptualisierungen nicht zu stören. Da es hier um Laien-Begründungen geht, wurde für diese Fälle ein behutsames Vorgehen der Kategorisierung gewählt und folglich eine Dimension vorgesehen, die solche Fälle zusammenfasst. Dies betrifft Aussagen zur Logik und Einfachheit der präferierten Form, was auf ein orthographisches Bewusstsein über den Systemcharakter der Orthographie schließen lässt, auch wenn es sich bei diesem System um ein subjektives Konstrukt handelt. Andererseits betrifft es aber auch Analogie- Schlüsse, die auf ein subjektives orthographisches Konzept verweisen, dass ähnliche oder gleiche Wörter sich auch in der Schreibung ähnlich oder gleich verhalten sollten. Norm-Orientierung: Zur Dimension der Norm-Orientierung gehören all jene Begründungen, die sich auf eine orthographische Norm beziehen, ohne dies explizit zu machen. Dazu gehören Begründungen, die global auf den 224 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="235"?> schulischen Orthographie-Unterricht verweisen oder sich explizit an der neuen oder alten Rechtschreibung orientieren. Produktion (= Aufzeichnungsfunktion): Unter die Produktionsdimension fallen alle jene Begründungen, welche vor allem die Aufzeichnungsfunktion der Orthographie fokussieren (vgl. Kapitel 2.1.2), indem die Schreibenden und ihre individuellen Gewohnheiten ins Zentrum gestellt werden. Dazu gehören Begründungen, die auf Gewohnheiten, Habitualisierungen oder die Intuition verweisen, wobei die Gewohnheit durchaus auch bewusstes Wahlverhalten umfassen kann. Rezeption (= Erfassungsfunktion): Die Rezeptionsdimension umfasst alle jene Argumentationen, die in der Begründung die Erfassungsfunktion der Orthographie, d. h. die leichte Dekodierbarkeit zentral stellen. Dazu gehört die Wirkung des Schriftbilds, z. B. ein zu langes, unübersichtliches Schriftbild (Leserlichkeit) oder ein hässliches Schriftbild (Ästhetik). Diese Dimension deckt sich mit dem visuellen Prinzip. Die Kategorien sind nicht ganz trennscharf, so beispielsweise die Kategorien Ästhetik und Leserlichkeit. Versuchspersonen gaben hier folgende Gründe an 69 : (1) „ Sieht besser aus “ (P1, P33). „ Gefällt mir besser “ (P22). „ Einfacher zum Anschauen, zum Lesen “ (P7). „ Großschreibung klarer, verständlicher “ (P28). „ Besser, klarer “ (P4). Es ist hier unklar, ob „ besser “ schöner oder leserlicher darstellt, denn es wird einmal mit „ besser, klarer “ in Verbindung gebracht (P28), was darauf hindeutet, dass die Versuchsperson hier eine „ bessere Leserlichkeit “ meint, aber mit „ sieht besser aus “ (P33) scheint eher eine ästhetische Begründung vorzuliegen. Es kommt aber auf den Ebenen der Kategorie nicht so sehr darauf an, weil diese beiden Ausprägungen unter die Dimension ‚ visuelle Begründungen ‘ gefasst werden. Des Weiteren könnte die Versuchsperson in solchen Fälle auch meinen, dass die Schreibung vom Gefühl her besser passt, dies wurde jedoch nur in die Kategorie ‚ Intuition ‘ aufgenommen, wenn explizit Gefühl, Bauchgefühl oder Intuition genannt wurde. Die Versuchspersonen können durchaus die Dimensionen abwägen oder gegeneinanderstellen, so kommt vor, dass angegeben wird, dass eigentlich Form X aufgrund morphologischer Kriterien logischer sei, aber aus Gewohnheit hier die Form Y gewählt würde. Die Begründungen können sowohl als PRO ( „ Ich habe die Form X gewählt, weil . . . “ ) als auch als KONTRA ( „ Ich habe die Form Y nicht gewählt, weil . . . “ ) erscheinen. Pro- und Kontra- Begründungen werden in den Tabellen und der Diskussion gesondert aufgeführt. 69 Mit P1 o. ä. wird jeweils auf eine bestimmte Versuchsperson verwiesen. 7.1 Begründungskategorien 225 <?page no="236"?> Tab. 19: Dimensionen, Kategorien und Kriterien der Begründungen bei der problemfokussierten Wahl. Dimens. Kategorie Kriterien Erklärung Ankerbeispiel System Morphosyntax grammatische Proben Die Form wurde aufgrund einer Probe wie der Artikelprobe, Ersatzprobe, Frageprobe etc. gewählt. „ das Recht, ist ein Nomen “ , P15 morphologisch, morphosyntaktisch, Wortkategorien, Ableitungen Die Form wurde aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Wortartkategorie oder aufgrund anderer morphologischen und/ oder morphosyntaktischen Überlegungen gewählt. „ kommt von Aufwand “ , P3; “ Substantivierung “ , P1; „ sind für mich 2 Wörter “ , P2 Phonologie phonologisch Die Form wurde aufgrund von Überlegungen zu Phonem-Graphem- Korrespondenz gewählt. „ man spricht es so aus, nicht st +st “ , P32 Suprasegmentalia Die Form wurde aufgrund von Überlegungen zu Phrasierung, Pausen im Sprechfluss oder der Betonung gewählt. „ GS setzt Betonung, wird verständlicher “ , P28 Diachronie Etymologie/ Sprachgeschichte sprachhistorisch, etymologisch, sprachvergleichend Die Form wurde aufgrund sprachgeschichtlicher Herleitungen, etymologischen Abstammungen von Lexemen oder kontrastiven Vergleichen zu verwandten Sprachen oder anderen Überlegungen zum Sprachwandel gewählt. „ in der CH mit Einfluss von Ital. und Franz. wissen wir, welche Wurzeln das Wort hat, und sind geprägt “ , P6 Semantik Semantik/ Pragmatik semantisch, pragmatisch Die Form wurde aufgrund der Bedeutung bzw. der Bedeutungsdifferenzierung zwischen verschiedenen Formen gewählt. Die Form wurde gewählt, um gewisse Teilbedeutungen besser zu fokussieren. „ GS wirkt zu wichtig, verwirrend “ , P8 226 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="237"?> Dimens. Kategorie Kriterien Erklärung Ankerbeispiel unspezifisches System/ Bewusstheit Analogie PRO Analogie Die Form wurde aufgrund der Schreibungen von analogen, ähnlichen Formen gewählt. „‹ f › wie in Telefon “ , P10 KONTRA Analogie Die Form wurde aufgrund einer Abgrenzung von Schreibungen von ähnlichen Formen gewählt, also als Kontrastierung und/ oder Desambiguierung. „ mit ‹ f › sieht es aus wie Fanta “ , P30 Logik PRO + logisch, richtig Die Form wird aufgrund einer nicht näher benannten Logik gewählt. „ korrekter “ , P9 KONTRA - logisch, richtig Die nicht gewählte Form widerspricht einer nicht näher benannten Logik. „ sieht falsch aus “ , P9 Einfachheit PRO + einfach Die gewählte Form erscheint aus nicht näher benannten Gründen einfacher. „ einfacher “ , P7 KONTRA - einfach Die nicht gewählte Form erscheint aus nicht näher benannten Gründen komplizierter, umständlicher. „‹ stst › umständlich “ , P14 Norm- Orientierung Instruktion so gelernt in der Schule, Ausbildung etc. Die gewählte Form wurde so in der Schule gelernt. „ Deutschlehrer. . . hat uns beigebracht: rechtens wird KS; mit Recht GS “ , P39 AR alte Rechtschreibung Die Form wurde gewählt, weil sie der alten Rechtschreibung entspricht. „ hoffe, dass es nach AR so richtig war “ , P5 NR neue Rechtschreibung Die Form wurde gewählt, weil sie der neuen Rechtschreibung entspricht. „ bewusst umgelernt, habe mich visuell daran gewöhnt, <st> immer noch schöner “ , P13 7.1 Begründungskategorien 227 <?page no="238"?> Dimens. Kategorie Kriterien Erklärung Ankerbeispiel Produktion Habitualisierung Gewohnheit, Vertrautheit Die Form wurde gewählt, weil sie vertrauter ist. „ schreibe es immer mit ‹ ph ›“ P14; „ ist mir vertrauter “ P44 Intuition Intuition, (Bauch-) Gefühl Die Form wurde intuitiv gewählt. „ vom Gefühl her “ , P12 Rezeption Visualität PRO + ästhetisch Das Wortbild der gewählten Form erscheint schöner. „ sieht besser aus als Verb “ , P8 PRO + leserlich Das Wortbild der gewählten Form erscheint leserlicher. „ Schriftbild übersichtlicher “ , P40 KONTRA - ästhetisch Das Wortbild der nicht gewählten Form erscheint nicht schön, hässlich, abschreckend. „‹ stst › sieht komisch aus “ , P0; „ gruusig “ , P17 KONTRA - leserlich Das Wortbild der nicht gewählten Form erscheint unleserlich. zu langes Wort, P38 Weiteres Weiteres andere Begründungen Diverse Begründungen, die sich nicht einer Kategorie zuordnen lassen. nicht kategorisierbare Begründungen Begründungen, die nicht kategorisiert werden konnten, da sie unklar sind bzw. mehreren Kategorien zugeordnet werden können. weitere Bemerkungen Meist Bemerkungen zur Modalität der Wahl, wie spontan etc. 7.2 Umgang mit Analyse- und Kategorisierungsproblemen Das Kategorisieren und Analysieren laienlinguistischer Argumente birgt einige komplexe Probleme. So werden oft mehrere Aspekte genannt, teilweise auch solche, welche für die Wahl der anderen Form sprechen würden. Wurden für die Wahl mehrere Gründe aus verschiedenen Kategorien 228 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="239"?> genannt, wurden sie auch mehrfach in den einzelnen Kategorien gezählt. Waren es widersprüchliche Gründe, wurden zwar alle Überlegungen notiert und festgehalten, aber nur die für die Wahl ausschlaggebenden Begründungen wurden auch kategorisiert und für die Analyse berücksichtigt. So nennt z. B. eine Versuchsperson als Grund für ihre Wahl von aufwendig folgende Überlegungen als Grund: „ Mit ‹ e › ist mir vertrauter; ‹ ä › wäre logischer von Aufwand “ (P8). Dies wurde also unter „ Vertrautheit “ kategorisiert, weil dieses Kriterium den Ausschlag für die Wahl gab. Es wurde schon oben darauf hingewiesen, dass Laienbegründungen vage und unterspezifiziert oder unklar sein können. Einerseits machen es solche Vagheiten oft schwierig, zwischen Kategorien zu trennen und verlangen etwas an Interpretation. So begründet eine Versuchsperson die Wahl der Getrenntschreibung bei kaputtmachen/ kaputt machen so: „ Zwei Sachen sind optisch getrennt, man spricht es zwar zusammen aus “ (P27). Hier vermengen sich visuelle Kategorien mit morphosyntaktischen und wahrscheinlich auch semantischen. Dieser Fall wurde bspw. als morphosyntaktisch kategorisiert, weil im Grunde eine Analyse von morphologischen Einheiten vorliegt. Andererseits muss aber auch mit den Kategorisierungen innerhalb laienlinguistischer Begründungen differenziert umgegangen werden. So kann jemand zum Beispiel eine Form als „ logischer “ empfinden, was aber noch lange nicht heißt, dass diese „ Logik “ auch sprachsystematisch, z. B. morphosyntaktisch oder phonologisch begründet ist, sie könnte auch unter semantischem Gesichtspunkt oder nach einem anderweitigen Kriterium logisch sein, z. B. einem subjektiven orthographischen Konzept, das nur teilweise einem bewussten Zugriff zugänglich ist. Daher wurden die Kategorien „ Logik “ , „ Einfachheit “ und „ Gefühl, Intuition “ gesondert behandelt, obwohl sie per se genommen wenig aussagekräftig sind. Völlig unklare oder unverständliche Begründungen schließlich wurden in eine Kategorie „ nicht-kategorisierbar “ aufgenommen. Laien koppeln Begründungen oft mit analogen Formen in der Form von musterhaften Reihen. Diese wurden jeweils nicht zusätzlich unter „ Analogie “ gezählt, in diese Kategorie fallen nur Entscheidungen, die ausschließlich aufgrund von Analogie-Überlegungen entstanden sind, und nicht diejenigen Fälle, bei denen ein anderes Kriterium genannt wird. Eine Versuchsperson stellt z. B. bei der Form Delphin die etymologische Herkunft in eine Reihe mit gleichen Fällen: „ Höre ich als Fremdwort, daher ‹ ph › wie Telephon, Photographie “ (P30); eine andere erinnert sich an die schulische Instruktion „ habe es so gelernt wie Photo “ (P23). Diese Begründungen erfolgen aber hauptsächlich aufgrund etymologischer Kriterien, die zusätzlich genannten Fälle funktionieren zwar nach dem gleichen Muster, aber die Analogie zu diesen Formen ist nicht das ausschlaggebende Kriterium. Nicht alle Versuchspersonen rechtfertigen ihre Wahl mit Gründen, sondern eher mit einer Modalität der Wahl, z. B. gibt eine Versuchsperson zur Wahl der Form selbständig an: „ Das habe ich spontan gewählt “ (P 22); eine 7.2 Umgang mit Analyse- und Kategorisierungsproblemen 229 <?page no="240"?> andere Versuchsperson zur Wahl phantastisch: „ Das habe ich spontan mit ‹ ph › gewählt; ich weiß, dass beides richtig ist, schaue aber, dass es im Text einheitlich ist, wenn das Wort oft vorkommt “ (P13); wieder eine andere gibt zu ihrer Wahl kaputtzumachen an: „ bin zwiespältig “ (P43). Dies sind keine eigentlichen Begründungen, sie wurden daher in einer Kategorie „ Weitere Bemerkungen “ zusammengefasst und nur dann ausgewertet, wenn sie für die Analyse erhellend waren. Gleiches gilt für Überlegungen dazu, ob die Varianten bekannt gewesen waren oder nicht. Es fällt auf, dass sich einige Versuchspersonen auch in diesem Setting keine eigene Wahl zutrauen und angeben, dass sie dies nachschauen müssten. Etliche hatten auch Mühe zu verinnerlichen, dass man hier ganz nach Lust und Laune wählen dürfte und suchten nach der korrekten Form und der entsprechend korrekten Begründung. Dies zeigt, dass Varianz in der Orthographie sich für viele nicht mit den subjektiven orthographischen Konzepten vereinbaren lässt. Bei Versuchspersonen, die sich nicht für eine Wahl entscheiden konnten, wurden alle genannten Begründungen für die eine oder andere Form aufgenommen, aber nicht ausgezählt, sie wurden gesondert ausgewertet und werden in die nachfolgende Darstellung nur dann einbezogen, wenn sie einen weiteren, neuen oder vertiefenden Aspekt eröffnen. Wenn in einer Erhebung mehrere Formen nacheinander abgefragt werden, ist es unvermeidbar, dass sich gewisse Quervergleiche und Analogieschlüsse zu den abgefragten Varianten einstellen. Wird doch im Setting der Befragung orthographisches Wissen fokussiert, wie dies wahrscheinlich im alltäglichen, integrierten Schreiben kaum der Fall wäre. Es handelt sich also hierbei um eigentliche Artefakte, weil sie ja im freien Schreiben wahrscheinlich nicht genau diese Formen präsent hätten. Der Effekt wurde jedoch dadurch gemindert, dass die Reihenfolge der präsentierten Sätze zufällig war. Die betreffenden Antworten wurden nicht berücksichtigt. Andere Analogie- Begründungen, die sich auf andere Formen bezogen, die nicht im Experiment oder in der Abfrage vorkamen, wurden jedoch in der Kategorie „ Analogie “ aufgeführt. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen dargestellt. Im Gegensatz zu den Schreibexperimenten waren hier keine Ausfälle zu verzeichnen, somit konnten alle Daten aller Versuchspersonen ausgewertet werden. Die Anzahl Versuchspersonen war somit N = 44, die Anzahl genannter Begründungen variieren pro Form. Bei einigen Varianten wurden pro Form 2 - 4 verschiedene Stellungs- und Konstruktionsvarianten abgefragt (z. B. bei rechthaben/ Recht haben). Die Begründungen wurden für diese Fälle zusammengerechnet bzw. werden einzeln diskutiert, wo sich 230 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="241"?> aufgrund der Konstruktion oder Stellung die Präferenzen und damit einhergehend auch die Begründungen verschieben. In der folgenden Darstellung wird nicht jedes einzelne Argument für oder gegen eine Form im Wortlaut wiedergegeben, sondern es werden die Tendenzen als Häufigkeiten dargestellt sowie einzelne prototypische oder auffällige Begründungen im Wortlaut herausgegriffen. Für eine Aufschlüsselung aller genannten Kategorien vgl. Appendix B. Wie in Kapitel 4.3 schon erwähnt, wurden die Begründungen nicht wortwörtlich transkribiert, sondern es werden lediglich die Propositionen der Begründungen in die Standardsprache übersetzt wiedergegeben sowie allfällige affektive und/ oder epistemische Markierungen notiert; letztere weil sie den Grad der Urteilssicherheit anzeigen, erstere weil sie zu den individuellen orthographischen Konzepten gehören. Weitere Kommentare der Versuchspersonen, z. B. ob sie gewusst haben, dass diese oder jene Form als Variante existiert o. Ä., bleiben hier ausgeklammert. Es werden nur Begründungen für die Wahl (PRO) bzw. Begründungen für die Nicht- Wahl (KONTRA) gelistet. Wenn Wörter oder Satzteile in eckigen Klammern angegeben sind, bedeutet dies, dass - sie zum besseren Verständnis von der Verfasserin ergänzt wurden, wobei darauf geachtet wurde, nicht zu interpretieren, sondern nur zu ergänzen, was im Kontext der Befragung klar war, aber in der reinen Niederschrift nicht genügend klar hervortritt; - einzelne Wörter/ Bezeichnungen (z. B. bei Nennungen von Ausbildungseinrichtungen) anonymisiert wurden, die zu einer Identifikation der Versuchsperson führen könnten. Werden Wörter oder Satzteile mit dem Begriff Artefakt gekennzeichnet, dann handelt es sich um eine durch das Forschungsdesign induzierte Bemerkung, was v. a. bei Analogieschlüssen der Fall war. Eine Versuchsperson hat bei allen Formen ihre Wahl damit begründet, dass sie hoffe, dass die betreffende Form nach der alten Rechtschreibung so geschrieben wurde. Wenn also die gleiche Begründung bei allen abgefragten Formen auftaucht, handelt es sich nicht um einen Fehler, sondern um ein konsistentes Begründungsverhalten. 7.3.1 Einzelwortschreibungen 7.3.1.1 aufwendig/ aufwändig Bei der Einzelwortschreibung aufwendig/ aufwändig, einer konzeptionsbedingten Varianz, findet sich, wie in Kapitel 5 schon beschrieben, eine geringe Präferenz der reformierten Schreibung aufwändig (24) gegenüber der althergebrachten Schreibung aufwendig (20). Im Fachdiskurs wird die 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 231 <?page no="242"?> Varianz bei dieser Form mit zwei unterschiedlichen Ableitungsrichtung im Bereich der Morphologie begründet: Ableitung vom Nomen Aufwand versus Ableitung vom Verb aufwenden. Es soll geprüft werden, ob die untersuchte Stichprobe in ihren Begründungsmustern diese zwei unterschiedlichen Ableitungsrichtungen repräsentiert hat. Die Begründungen 70 für die Wahl der reformierten Schreibung aufwändig liegen mit 19 Nennungen (von total 28 Begründungen für diese Präferenz) deutlich im Bereich der Morphologie (Abb. 42). Das Stammprinzip scheint gut repräsentiert: 16-mal wird die Ableitung von Aufwand angeführt, zweimal die falsche Ableitung von Wand und einmal unbestimmt auf den Stamm verwiesen wird, vgl. typische Antworten in Bsp. (1), (2), (3): (1) „ Von Aufwand “ (P36); „ Logischer, da von Aufwand “ (P1); „ Neue Rechtschreibung, finde ich gut, Ableitungsprinzip Aufwand-aufwändig “ (P22); „ Mit ‹ e › schöner, aber schreibe es trotzdem mit ‹ ä › , da Ableitung von Aufwand gut nachvollziehbar ist “ (P41). (2) „ Kommt von Wand “ (P32). (3) „ Wortstamm ist wichtig “ (P14). Zweithäufigste Begründung für die Wahl von aufwändig ist eine Orientierung an einer Norm, und zwar der neuen Rechtschreibung ohne weitergehende Begründung: Sieben Versuchspersonen geben an, aufwändig zu schreiben, da man es nun nach der neuen Rechtschreibung so schreibe. Dabei geben alle sieben Versuchspersonen an, dass sie diese Form bewusst umgelernt hätten, vgl. typische Antworten unter (4), und eine Versuchsperson bringt die ‹ ä › - Schreibung übergeneralisierend mit der Rechtschreibreform in Verbindung, vgl. (5). Das Umlernen scheint jedoch nicht gleichermaßen akzeptiert worden zu sein, vgl. Bsp. (6): (4) „ Habe es bewusst umgelernt “ (P1). „ Früher habe ich es mit ‹ e › geschrieben, jetzt mit ‹ ä ›“ (P24). „ Am Anfang ungewohnt, nun umgewöhnt; ‹ e › -Schreibung stört “ (P32). „ Am Anfang hat man darüber gespottet, jetzt ist es Gewohnheit: habe es bis ca. 1998 mit ‹ e › geschrieben, dann Gewohnheit gewechselt, mit ‹ ä › wurde immer vertrauter, da man es mehr geschrieben sah “ (P6). (5) „ Habe gelernt, dass seit der neuen Rechtschreibung oft mit ‹ ä › geschrieben wird, wie z. B. Gämse, ein Wort, das ich bei meiner Arbeit beim Tierschutz oft brauche “ (P21). (6) „ Widerwillig, ‹ e › schöner, aber sonst bewusste Entscheidung für ‹ ä › , weil ich weiss, dass es nach der neuen Rechtschreibung ‹ ä › ist; als Kind war es mühsam, von Aufwand zu aufwendig zu kommen “ (P43). 70 Tabellarische Darstellungen mit allen Begründungen pro Kategorie finden sich im Appendix B. 232 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="243"?> Die Antworten in (4), (5) und (6) sind darüber hinaus von Interesse, da sie zeigen, wie eng selbst orthographische Konzepte an schreibbiographische Faktoren gekoppelt sind. Weitere einzelne Nennungen verteilen sich auf andere Kategorien, so gibt beispielsweise jemand an, die Form aufwändig aus Gewohnheit ( „ ist hängen geblieben, ist logisch “ , P16) bzw. aus Gründen einer nicht näher bestimmten Logik gewählt zu haben ( „ zu sehr gewöhnt “ , P39). 5 10 15 20 25 Phonologie Weiteres Logik Instruktion Habitualisierung Visualität NR Morphologie aufwendig/ aufwändig aufwendig aufwändig Abb. 42: Varianten aufwendig/ aufwändig. Anzahl Begründungen pro Kategorie verteilt auf die gewählte Form. N VP = 44; N Begr_total = 49, N Begr_ä = 28; N Begr_e = 21. Die Begründungen für die Wahl der hergebrachten Schreibung aufwendig sind demgegenüber heterogener auf verschiedene Kategorien verteilt. Es fällt auf, dass darunter kaum Begründungen zu finden sind, die das Sprachsystem betreffen. So erscheint zum Beispiel das morphologische Kriterium der Stammschreibung, welches bei der reformierten Schreibung aufwändig prägnant auftrat, bei der ‹ e › -Schreibung nur gerade dreimal in total 21 Begründungen für diese Präferenz: einmal wird die Ableitung von Aufwendung und zweimal die Ableitung von wenden angeführt wird, vgl. (7). Die direkte Ableitung vom Verb aufwenden wird nicht ein einziges Mal genannt: (7) „ Wie Aufwendung “ (P2). „ Wortstamm ist wenden, nicht Wand, in diesem Fall vom Verb “ (P10). „ Hat nichts mit Wand zu tun; kommt von wenden, man sagt ja nicht wänden “ [VP spricht mit wänden mit/ æ/ aus] (P27). 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 233 <?page no="244"?> Mit je fünf Nennungen von total 21 genannten Begründungen treten demgegenüber am häufigsten die Kategorien Instruktion (die Form wurde so in der Schule gelernt) und die Kategorie Visualität (ästhetischer Eindruck und/ oder Leserlichkeit) auf. Was die visuelle Wahrnehmung betrifft sind drei der fünf Begründungen gegen die ‹ ä › -Schreibung gerichtet, wobei die ‹ ä › -Schreibung als fremd bis abstoßend empfunden wird, vgl. die Begründungen in (8) wobei für eine Versuchsperson das Graphem ‹ ä › generell negativ markiert ist. Weniger affektiv markierte Begründungen beschreiben die ‹ e › -Schreibung als schöner oder besser, wobei hier explizit Morphologie gegen den visuellen Eindruck ausgespielt wird, vgl. die Begründungen in (9): (8) „ Sieht komisch aus, denke immer Rechtschreibreform mit ‹ e › ist normal “ (P7). „ Stellt mir Nackenhaare auf “ (P11). „ Sieht nicht Deutsch aus, ‹ ä › macht generell Mühe “ (P33). (9) „ Für mich sieht es mit ‹ e › schöner aus, auf Redaktion muss ich es aber mit ‹ ä › schreiben “ (P23). „ Kommt von Aufwand, aber ‹ e › gefällt mir besser “ (P31). Bei den Begründungen in der Kategorie Instruktion, vgl. (10), fällt auf, dass teils ganz explizite Erinnerungen an den schulischen Unterricht vorhanden sind. Eng mit der schulischen Instruktion zusammenhängen dürfte wohl auch die zweithäufigste Kategorie Habitualisierung (vier Nennungen), also Vertrautheit mit dieser Form, vgl. Bsp. (11): (10) „ Habe es so gelernt “ (P7). „ Als Kind habe ich das immer mit ‹ ä › geschrieben, Lehrer sagte immer mit ‹ e › (P26); [habe die Schreibung mit ‹ e › ] in der Primarschule in den Kopf geprügelt bekommen “ (P11). (11) „ Ist mir vertrauter; ‹ ä › wäre logischer von Aufwand “ (P8). Die restlichen Begründungen verteilen sich auf die Kategorien Phonologie, Logik, der Orientierung an der neuen Rechtschreibung und andere (jeweils eine Nennung). Die phonologische Begründung bestand darin, dass die Versuchsperson fälschlicherweise die ‹ ä › -Schreibung für die Schreibung des Phonems/ æ/ und nicht/ e / hält, analog zur Begründung einer anderen Versuchsperson, vgl. Beispiel (7) oben - ein in der Schweiz häufiger Fehlschluss - , was, wie auch in diesem Fall, oft auf den Einfluss des Schweizerdeutschen zurückgeführt wird, wo in den meisten Dialekten tatsächlich aufwendig/ aufwendig (wie auch aufwenden) mit kurzem/ æ/ gesprochen wird. Eine Versuchsperson hält die ‹ e › -Schreibung nach der neuen Rechtschreibreform für richtig, allerdings hält auch sie ‹ ä › für „ logischer, weil von Aufwand “ (P34). Eine weitere Versuchsperson, die im Journalismus tätig ist, hält sich einfach und praktisch an die Hausorthographie der Publikation, bei der sie arbeitet. Zusammenfassung: Für die Varianten aufwendig/ aufwändig lässt sich sagen, dass die Schreibungen mit ‹ ä › aus morphologischen Gründen, nämlich als Ableitung von Aufwand, einleuchten - sie werden sogar teilweise in den 234 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="245"?> Argumenten für die ‹ e › -Schreibungen als eigentlich logischere Variante genannt, obwohl sie als weniger vertraut und ästhetisch weniger schön eingestuft werden. Dies zeigt zweierlei: Erstens wird offenbar auch in orthographie-bezogenen Laienkonzepten dem Stammprinzip einen hohen Stellenwert beigemessen. Zweitens ist offenbar fast bei der Hälfte aller Versuchspersonen die Ableitung vom Nomen Aufwand präsenter als die Ableitung vom Verb aufwenden, die kein einziges Mal genannt wird, dafür aber Ableitungen von wenden oder Aufwendung. In diesem Zusammenhang wäre weitergehend zu prüfen, ob generell, d. h. auch bei anderen Formen, Ableitungen von Nomen besser repräsentiert sind als Ableitungen von Verben oder anderen Wortkategorien. Dass es sich bei der Form aufwändig um ein Fahnenwort der Rechtschreib-Reform handelt, zeigt sich darin, dass ein Viertel aller Begründungen für die ‹ ä › -Schreibung sich darauf beziehen, dass man sich hier an der neuen Rechtschreibung orientiere, wo explizit das Umlernen erwähnt wird. Demgegenüber halten diejenigen Versuchspersonen an der ‹ e-Schreibung fest, die sich diese Form offenbar mit einer gewissen Mühe angeeignet hatten, in dieser Schreibung eine gewisse Habitualisierung aufweisen und sich teils konkret an die schulische Instruktion erinnern. Das Festhalten an der hergebrachten Schreibung wird zudem dadurch gestützt, dass die ‹ ä › -Schreibung aus ästhetischen Gründen abgelehnt wird, wobei sie teilweise übergeneralisierend mit der Rechtschreibreform in Verbindung gebracht wird. Die Wahl zwischen der ‹ e › versus ‹ ä › -Schreibung vollzieht sich also zwischen den konkurrenzierenden Prinzipien morphologisches Prinzip (Stamm-Prinzip) mit der Ableitung vom Nomen versus Orientierung an einer gelernten Norm, die habitualisiert wird und deren Umsetzung aufgrund von visuellen Gründen gestützt wird. 7.3.1.2 selbständig/ selbstständig Die Variante selbständig/ selbstständig ist ebenfalls eine konzeptionsbedingte Varianz insofern, als die Schreibung ‹ st › auf den Stamm selb- (z. B. in derselbe, selber, selbiger) sowie die Phonologie und die Schreibung ‹ stst › auf dem Stamm selbst- (z. B. in selbstverständlich, selbstherrlich) zurückgeführt werden kann. Die Versuchspersonen präferieren deutlich die hergebrachte Form selbständig (34) gegenüber der reformierten Schreibung selbstständig (10). Dies deckt sich auch mit den Spontanschreibungen aus dem Schreibexperiment (31: 10). Einige Versuchspersonen wählten in der Befragung mit einer gewissen Erleichterung die Schreibung selbständig, als sie bemerkten, dass diese nach dem neusten Regelwerk wieder zugelassen ist. Die Begründung für die Wahl der hergebrachten Form selbständig (vgl. Abb. 43), liegt vor allem in der visuellen Wahrnehmung mit 11 von total 40 Nennungen für diese Präferenz sowie in Überlegungen zu systemhaften Aspekten der Orthographie, nämlich in der Phonologie mit 10 Nennungen. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 235 <?page no="246"?> Für Letzteres wird 9-mal die Phonem-Graphem-Korrespondenz genannt, vgl. Bsp. (12), sowie einmal die Suprasegmentalia, vgl. Bsp. (13): (12) „ Man sagt ja nicht selbst+ständig; obwohl ‹ stst › logischer wäre, es gibt natürlich viele Wörter mit selbst (Selbstvertrauen), aber wegen Aussprache nicht ‹ stst ›“ (P3). „ Man spricht es so aus, nicht st+st “ (P32). (13) „ Entspricht mehr dem Fluss der Sprache, aber ‹ stst › wäre logischer “ (P8). Zwei Versuchspersonen bezeichneten eine Aussprache von ‹ stst › als „ Zungenbrecher „ (P28, P37), zwei andere sehen hier wieder den Einfluss des Dialektes (P39, P20). 1 1 1 3 5 8 10 11 1 1 5 1 2 5 10 15 Diachronie Analogie Logik NR Intuition Weiteres Morphologie Einfachheit Instruktion Phonologie Visualität selbständig/ selbstständig selbständig selbstständig Abb. 43: Variante selbständig/ selbstständig. Anzahl Begründungen pro Kategorie verteilt auf die gewählte Form; Einzelnennung wurden zusammengefasst. N VP = 44; N Begr_total = 50, N Begr_st = 40; N Begr_stst = 10. In der Kategorien der Visualität halten sich die Begründungen für die Wahl der ‹ st › -Schreibung aufgrund der Akzeptanz des Schriftbilds in Bezug auf Ästhetik und Leserlichkeit (PRO-Argumente) sowie aufgrund der Ablehnung des Schriftbilds der ‹ stst › -Schreibung in Bezug auf Ästhetik und Leserlichkeit (KONTRA-Argumente) in etwa die Waage. Das Schriftbild von selbstständig wird ablehnend als „ komisch “ (P0), „ furchtbar “ (P10), „ gruusig “ (P17) sowie „ hässlich “ (P23) bezeichnet; die Leserlichkeit wird mit „ liest sich nicht gut, holperig “ (P34) umschrieben. Demgegenüber sieht man Vorteile im Schriftbild von selbständig, weil es „ kürzer “ (P37), „ an- 236 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="247"?> genehmer zu lesen “ (P34) sowie „ flüssiger “ (P6) sei; ästhetisch überzeugt es vor allem mit allgemeinen Attributen wie „ schöner “ (P14), „ besser “ (P19, P0), obwohl letztere beiden Versuchspersonen zugestehen, dass die Schreibung mit ‹ stst › „ logischer “ wäre. Die dritthäufigste genannte Kategorie der Versuchspersonen, welche die hergebrachte Form selbständig gewählt haben, ist mit acht Nennungen die schulische Instruktion. Einige verbinden damit, wie auch schon bei der Variante aufwendig/ aufwändig, konkrete Erinnerungen an Unterrichtsituationen, wo ihnen dies beigebracht worden sei, vgl. Bsp. (14): (14) „ Wurde mir so eingetrichtert; als Kind schrieb ich ‹ stst › , Lehrer hat mich korrigiert “ (P36). Die wenigen Versuchspersonen, welche die reformierte Schreibung selbstständig gewählt haben, begründeten ihre Wahl mit der Morphologie (5 Nennungen von total 10), und zwar aufgrund der Analyse von selbstständig als Kompositum, vgl. Bsp. (15). Die zwei Nennungen aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung gehen in die gleiche Richtung: zwei Versuchspersonen empfinden das Schriftbild von selbständig als unvollständig, vgl. Bsp. (16). Sowohl die morphologischen als auch die visuellen Begründungen deuten darauf hin, dass für diese Versuchspersonen das Lexem selboffenbar nicht als eigenes Wort gilt, wohl weil es heute fast nur noch als gebundenes und semantisch wenig durchsichtiges Präfix auftritt (z. B. derselbe) oder stilistisch markiert in restringierten Kontexten, z. B. der Selbige. (15) „ Zwei Wörter “ (P30, 31). „ Habe das Gefühlt, dass das mit nur ‹ st › falsch ist, da nicht beide Wörter ganz stehen “ (P21). „ Sieht zwar ‚ wüst ‘ aus, ist aber genauer, da es zwei Wörter sind “ (P27). (16) „‹ st › sieht abgeschnitten aus “ (P30). „ Fehlt etwas “ (P38). Zusammenfassung: Bei der Variante selbständig/ selbstständig gründet die klare Präferenz für die Wahl der hergebrachten Form mit ‹ st › in der Koppelung von mehreren sich gegenseitig stützenden Kriterien. Die reguläre deutsche Phonem-Graphem-Korrespondenz in Kombination mit der visuellen Überlegenheit, was sowohl die Leserlichkeit als auch die Ästhetik betrifft, in Kombination mit der ausgeprägten Erinnerung an die schulische Instruktion begünstigt augenscheinlich die klare Präferenz für die althergebrachte Schreibung. Bei der Form selbständig/ selbstständig lässt sich also beobachten, dass bei denjenigen Fällen, wo die alte Schreibung auch im Bereich des Systems eine einsichtige Logik hat, hier nämlich die Phonem-Graphem-Korrespondenz, gekoppelt mit weiteren begünstigenden Faktoren, sich die alten Schreibungen halten. Im Gegensatz zur Variante aufwendig/ aufwändig, bei der die Ableitung von Aufwand logischer erscheint und daher die reformierte Schreibung bevorzugt wird. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 237 <?page no="248"?> 7.3.2 Fremdwortschreibung: ‹ ph › / ‹ f › -Varianz Die Varianten im Bereich der Fremdwortschreibung sind traditionsbedingt, d. h. das Regelwerk geht einen Kompromiss ein zwischen einer an der Systematik orientierten Schreibweise und einer auf Gewohnheit beruhenden Schreibweise, vgl. 3.4. Bei der Fremdwortschreibung zeigt sich das an zwei konfligierenden Prinzipien: Das erste ist das phonologische Prinzip, das die Anpassung der Schreibweise an eine reguläre deutsche Phonem-Graphem- Korrespondenz verlangt, das zweite ist das etymologische Prinzip, das die Herkunft des Wortes transparent machen und somit konservieren soll und der vertrauten Schreibweise entspricht. 7.3.2.1 Delphin/ Delfin und Flussdelphin/ Flussdelfin Die Präferenz bei der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz bei Delfphin/ Delfin bzw. dem Kompositum Flussdelfin/ Flussdelphin tendiert mit 25: 17 geringfügig Richtung Ursprungsschreibung mit ‹ ph › . Zwei Versuchspersonen konnten sich nicht für eine der beiden Formen entscheiden. Jeweils eine Versuchsperson hat beim Kompositum jeweils die andere Form vorgezogen. Bei den Begründungsmustern soll geprüft werden, ob sich bei der untersuchten Stichprobe der Konflikt zwischen etymologischem und phonologischem Prinzip des Fachdiskurses abbildet. Das Kompositum Flussdelphin/ Flussdelfin wurde gewählt, um zu prüfen, ob allenfalls die Nähe zu einer regulären deutschen Phonem-Graphem-Korrespondenz wie in flusszu einer Präferenz für die integrierte Schreibung führen würde und ob sich die Begründung für diese Form Richtung phonologisches Prinzip verschieben würde. Der im Fachdiskurs dominante Konflikt zwischen Phonologie versus Etymologie bildet sich in den Begründungsmustern nur zu einem geringen Teil ab (vgl. Abb. 44). Zu erwarten wäre gewesen, dass die Präferenz für die Ursprungsschreibung mit etymologischen Begründungen und die Präferenz für die integrierte Schreibung mit phonologischen Begründungen einhergeht. Dominant sind jedoch die Kategorien Habitualisierung und Visualität, knapp gefolgt von Etymologie sowie mit fünf bzw. vier Nennungen Instruktion und mit nur je zwei Nennungen Phonologie. Es fällt auf, dass die drei am häufigsten genannten Kategorien Habitualisierung, Visualität und Etymologie von den Versuchspersonen, welche die Ursprungsschreibung gewählt haben, ebenso häufig genannt werden wie von denjenigen, welche die integrierte Schreibung gewählt haben. Im Folgenden werden die Begründungen für die jeweilige Präferenz gesondert diskutiert. Da die Begründung sowohl für das Simplex als auch für das Kompositum zum größten Teil deckungsgleich ausfallen, werden sie hier zusammengefasst diskutiert und die Abweichungen angegeben. 238 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="249"?> 1 1 1 1 5 6 8 8 1 1 1 1 4 5 10 8 4 5 4 8 1 1 4 5 4 6 0 5 10 15 20 25 30 35 Einfachheit NR Semantik Analogie AR Intuition Phonologie Instruktion Diachronie Visualität Habitualisierung ph-f-Varianz: Delphin/ Delfin Delphin Flussdelphin Delfin Flussdelfin Abb. 44: ph-f-Varianz, Varianten Delphin, Flussdelphin/ Delfin, Flussdelfin. Anzahl Begründungen pro Kategorie, zusammengerechnet für die beiden abgefragten Formen. N VP = 44; N Begr_total = 106, N Begr_ph = 62; N Begr_f = 44. Die Begründungsmuster für die Wahl der ‹ ph › -Schreibung liegen vor allem in der visuellen Wahrnehmung mit für beide Formen zusammengerechnet 18 Nennungen. Die ursprüngliche ‹ ph › -Schreibung vermag dreimal (Simplex) bzw. viermal (Kompositum) ästhetisch zu überzeugen, vgl. (17). Die integrierte Schreibung wird fünfmal (Simplex) bzw. viermal (Kompositum) als ungewohnt (18), störend oder schrecklich (19) abgelehnt: (17) „ Schöner “ (P15, P39). „ Besser “ (P36). „ Sieht normaler aus “ [nur für Kompositum] (P38). (18) „ Ungewohnt “ (P28). „ So eingeprägt, bin sehr visuell, mit ‹ f › sieht komisch aus “ (P13). (19) „‹ f › stört mich “ (P8). „ Schrecklich, ‹ ph › -Schreibung eigentlich absurd, ist ja ein/ f/ (P37). „ Sieht ‚ biireweich ‘ [d. h. blöd, MW] aus “ (P6). Der Aspekt der Leserlichkeit wird nur beim Kompositum genannt (zwei Nennungen), in der Wahrnehmung dieser beiden Versuchspersonen lässt das Fremdgraphem ‹ ph › offenbar den Wortstamm deutlicher hervortreten (20). 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 239 <?page no="250"?> (20) „ Wegen Wortlänge; weil man nun Delphin alleine sieht “ (P34). „‹ ph › -Schreibung stört nicht, obwohl es zusammengesetztes Wort ist, kann es aber mit ‹ ph › leichter lesen “ (P43). An zweiter Stelle wird die Kategorie der Habitualisierung genannt, mit je acht Nennungen für das Simplex bzw. das Kompositum. Dabei lassen sich neutrale Aussagen von affektiv markierten unterscheiden. Typische unmarkierte Begründungen sind etwa die Aussagen in (21), affektiv markierte in (22). Die affektiven Markierungen konstruieren ein bestimmtes Begründungsverhalten: Wer sich selbst als Fan einer Sache bezeichnet, unterstreicht mit dieser Wortwahl die affektive Komponente und orientiert sich weniger an einer Systemlogik; ähnlich diejenige Versuchsperson, die ihre Präferenz als nostalgisch bezeichnet. Dass eine orthographische Wahl durchaus domänenspezifisch unterschiedlich erfolgen kann, zeigt sich im Beispiel (23): Die Versuchsperson gibt an, dass sie für sich selbst die ‹ ph › -Schreibung wählen würde, sich aber im beruflichen Kontext - hier die Schule - nach der Variantenführung im Duden richten würde. Ähnlich ist der Fall bei derjenigen Versuchsperson in Beispiel (24), welche während der Befragung eine Diskrepanz zwischen dem eigenen habitualisierten, orthographischen Wahlverhalten und ihrer eigentlichen Einschätzung feststellt. (21) „ Ich schreibe immer mit ‹ ph ›“ (P14). „ Gewohnheit, vertrauter “ (P15). „ Gewohnheit “ (P18). (22) „ Nostalgie “ (P39). „ Ich bin ‹ ph › -Fan “ (P11). (23) „ Für mich mit ‹ ph › , für die Schule würde ich im Duden nachschlagen, was rot ist “ (P22). (24) „ Gewohnheit, aber mit ‹ f › gefällt mir besser, in Zukunft schreibe ich das mit ‹ f ›“ (P2). Die Vertrautheit und Gewohnheit einer Form dürften eng mit der visuellen Wahrnehmung zusammenhängen. Dies gilt ebenso für die Kategorie Instruktion: fünfmal wird darauf verwiesen, dass man es in der Schule so gelernt habe (25). Auch die Erinnerung an die Schulzeit kann mit Gefühlen verbunden sein: Eine Versuchsperson erinnert sich bei dieser Form explizit an den Stolz auf die eigene orthographische Kompetenz in der Schulzeit (26). Diese Antworten verweisen auf die sozio-kulturelle Bedeutung von orthographischen Varianten in der Fremdwortschreibung (vgl. 2.2), wobei sich Versuchspersonen mit der Wahl der Ursprungsschreibung als besonders sprachkompetent konstruieren. (25) „ Das habe ich so gelernt “ (P29, P31). „ Ich habe es mit ‹ ph › gelernt “ (P6). „ Ich habe es so gelernt, wie Photo “ (P23). 240 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="251"?> (26) „ Als Kind war ich stolz, dass ich es mit ‹ ph › schreiben konnte; genau gleich bei meinem Cousin Raphael “ (P43). Sprachhistorische bzw. etymologische Gründe wurden 6-mal genannt. Für die Ursprungsschreibung scheint vor allem zu sprechen, dass die Herkunft des Wortes sichtbar gemacht wird sowie die Analogie zu anderen Fremdwörtern wie Telephon etc. hergestellt wird (27). In der Antwort (28) zeigt sich, wie ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen der Wahl der Ursprungsschreibung und der Mehrsprachigkeit der Schweiz, wobei die Mehrsprachigkeit eines Landes offenbar ein ausgebauteres Verständnis von sprachhistorischen bzw. sprachvergleichenden Zusammenhängen impliziert, vgl. dazu 2.2. (27) „ Wegen Herkunft des Wortes “ (P29). „‹ ph › -Schreibung hilft zu erkennen, dass es etwas Fremdes ist “ (P17). „ Höre ich als Fremdwort, daher ‹ ph › wie Telephon, Photographie “ (P30). (28) „ In der Schweiz, mit Einfluss von Italienisch und Französisch, wissen wir, welche Wurzeln das Wort hat, und sind geprägt “ (P6). (29) „ Verdeutschung ist unschön; Engl./ Franz. mit ‹ ph ›“ (P28). Zwei Versuchspersonen betonen, dass Delphine „ spezielle “ Tiere seien, die - so die Argumentation - auch eine „ spezielle “ Schreibung verdienen. Die Begründung unter (30) verknüpft diese Argumentation mit dem etymologischen Prinzip, daher wird sie hier auch zur Etymologie gezählt. Die Begründung unter (31) wurde in die Kategorie Semantik im weiteren Sinne gezählt, weil sie noch stärker die Form-Inhalt-Beziehung fokussiert. Beiden aber liegt ein bemerkenswertes subjektives orthographisches Konzept zugrunde: „ Spezielle Dinge werden speziell geschrieben “ . Dies zeigt auf, wie Laienkonzeptualisierung holistisch, aber durchaus einer Systemlogik folgend funktionieren kann. (30) „‹ ph › wirkt spezieller, erinnert mich an Delphi, Ursprung von Wort wäre mit ‹ f › nicht mehr sichtbar “ (P8). (31) „ Spezielles Tier, urtümliches Wort, etwas, das es seit ewig gibt, daher spezielle Schreibweise “ (P27). Andere Gründe für die Wahl der ‹ ph › -Schreibung verteilen sich auf Einzelnennungen in den Kategorien alte Rechtschreibung, neue Rechtschreibung, Gefühl/ Intuition, Logik sowie Analogie mit anderen Formen der ‹ f › / ‹ ph › - Varianz, nämlich dem Eigennamen Philipp selbst. Auch die Gründe für die Wahl der ‹ f › -Schreibung liegen vor allem in der Habitualisierung mit für beide Formen insgesamt 14 Nennungen, vgl. (32). Vier Versuchspersonen geben an, bewusst umgelernt zu haben (33). (32) „ Bei Delfinen hat man sich an ‹ f › gewohnt “ (P20). „ Gleich wie Foto, immer mit ‹ f › , habe sogar kürzlich etwas gelesen über Delphine (mit ‹ ph › ), ist mir negativ aufgefallen “ (P21). 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 241 <?page no="252"?> (33) „ Früher habe ich das mit ‹ ph › geschrieben, jetzt immer mit ‹ f ›“ (P24). „ Habe es mir mit ‹ f › angewöhnt, ‹ ph › sehr alt “ (P33). „ So schreibe ich es, gelernt mit ‹ ph ›“ (P44). „ Schreibe es seit langem mit ‹ f ›“ , P3. An zweiter Stelle werden sprachhistorische Gründe genannt (10-mal). Dabei wird der Aspekt der Integration des einstigen Lehnwortes fokussiert bzw. wird die ‹ ph › -Schreibung als veraltet bezeichnet: (34) „ Wahrscheinlich schon länger verdeutscht “ (P0). „ Eindeutschung “ (P10). „ Wie Photographie/ Fotografie; früher mit ‹ ph › , heute mit ‹ f ›“ (P40). „ Veraltet “ (P1, P21). Die dritthäufigsten Nennungen entfallen in die Kategorie Visualität mit für beide Formen zusammengerechnet 8 Nennungen: Für beide Formen je zweimal wird die integrierte Schreibung als visuell positiv dargestellt (35). Demgegenüber wird die ‹ ph › -Schreibung pro Form je einmal als komisch (36) bzw. nur beim Kompositum als gestelzt bezeichnet (37), wobei diese Versuchsperson für das Kompositum die Präferenz auf die integrierte Schreibung gewechselt hat: (35) „ Schöner, passt besser zum Tier “ (P41). „ Schlanker “ (P42). (36) „ Komisch “ (P10). (37) „‹ ph › Schreibung wirkt hier gestelzt; ‹ f › wirkt hier besser “ (P8). Bemerkenswert ist, dass die Unterschiede zwischen den Begründungen für das Simplex versus die Begründungen für das Kompositum in der Leserlichkeit liegen. Zwei Versuchspersonen bevorzugen die ‹ ph › -Schreibung aufgrund der Leserlichkeit (38). Die ‹ ph › -Schreibung scheint für sie den Stamm optisch besser hervorzuheben: (38) „ Wegen Wortlänge, weil man nun Delphin alleine sieht “ (P34). „‹ ph › -Schreibung stört nicht, obwohl es ein zusammengesetztes Wort ist, kann es aber mit ‹ ph › leichter lesen “ (P43). Lediglich vier Versuchspersonen begründen ihre Wahl der integrierten Schreibung sowohl beim Simplex als auch beim Kompositum phonologisch. Sie bevorzugen offensichtlich eine reguläre deutsche Phonem-Graphem- Korrespondenz gegenüber einer orthographischen Markierung der Etymologie (39): (39) „ Wenn man ‹ f › hat, braucht es kein ‹ ph ›“ (P7). „ Man spricht es als/ f/ aus “ (P32). „ Man sagt/ f/ , ‹ ph › unlogisch “ (P33). „‹ ph › hat nichts mit/ f/ zu tun “ (P10). 242 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="253"?> Eine einzelne Versuchsperson wählt die integrierte Schreibung, weil sie nach der neuen Rechtschreibung so richtig und „ einfacher “ (P4) sei, sonst gibt es keine weiteren Einzelnennungen. Zum Schluss sollen noch die Begründungen jener zwei Versuchspersonen genannt werden, welche jeweils für das Kompositum eine andere Schreibweise bevorzugt hatten als für das Simplex: Eine Versuchsperson zieht für das Kompositum die Schreibung mit ‹ f › vor mit der Begründung: (40) „ Die ‹ ph › Schreibung wirkt hier gestelzt; ‹ f › wirkt hier besser “ (P8). Die andere Versuchsperson, die beim Simplex die ‹ f › -Schreibung, aber beim Kompositum die ‹ ph › -Schreibung vorzieht, begründet: (41) „ Wegen der Wortlänge; weil man nun Delphin alleine sieht “ (P34). Alle anderen Versuchspersonen sind bei der ersten Wahl geblieben. Damit kann auch die eingangs gestellte Frage, ob der gleiche Laute/ f/ im gleichem Wort mit Vorliebe mit dem gleichen Graphem verschriftet wird, verneint werden. Diese Argumentation tritt auch in den Begründungen überhaupt nicht auf. Die sowohl von Laien als auch Experten geforderte Einheitlichkeit in der Handhabung der deutschen Orthographie bezieht sich offenbar nur auf die Ebene der Wortschreibung, jedoch nicht auf die Ebene der Phonem- Graphem-Korrespondenz. Zusammenfassung: Der im Fachdiskurs vorherrschende Konflikt zwischen etymologischem versus phonologischem Prinzip tritt in den Begründungen dieser Stichprobe nicht prägnant in Erscheinung. Es fällt auf, dass sowohl für die Wahl der Ursprungsschreibung als auch für die Wahl der integrierten Schreibung die am häufigsten genannte Kategorie Habitualisierung sowie die am dritthäufigsten genannten Kategorie Etymologie/ Sprachgeschichte mehr oder weniger in gleichem Maße genannt werden. Der visuelle Eindruck sowie die Instruktion werden demgegenüber häufiger von denjenigen Versuchspersonen genannt, welche die Ursprungsschreibung präferieren. Phonologische Gründe werden vor allem für die Wahl der integrierten Schreibung angeführt. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Wahl der Schreibvarianten habitualisiert erfolgt, wobei sich innerhalb dieser Kategorie das Lager in Bewahrer und bewusste Umlerner spaltet. Sprachgeschichtliche Begründungen treten sowohl in der Argumentation für die ursprüngliche Schreibung (Herkunft transparent machen) als auch in der Argumentation für die integrierte Schreibung bzw. gegen die Ursprungsschreibung auf (ist schon lange eingedeutscht). 7.3.2.2 phantastisch/ fantastisch und phantastische Ferien/ fantastische Ferien Bei der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz in phantastisch/ fantastisch wird mit einem Verhältnis von 17: 26 für beide abgefragten Formen zusammengerechnet die integrierte 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 243 <?page no="254"?> Schreibung mit ‹ f › bevorzugt. Dies ist noch deutlicher in der Kombination phantastische Ferien/ fantastische Ferien, wo zwei Lexeme aufeinanderfolgen, die mit dem gleichen Phonem beginnen. Hier haben 28 Versuchspersonen die integrierte Schreibung gewählt gegenüber 15, welche die Ursprungsschreibung beibehalten haben. Es haben also zwei Versuchspersonen die Präferenz von ‹ ph › auf ‹ f › gewechselt. Die Gründe für diesen Wechsel sind nicht ohne Weiteres einsichtig. Eine Versuchsperson gibt bei der Form phantastische Ferien an: „ Hat hier nicht mehr mit dem Phänomen der Phantasie zu tun “ (P6), die andere meint, sie habe es „ so gelernt “ (P36). Eine Versuchsperson mochte sich bei beiden Fällen nicht entscheiden. Da die Begründungen für die beiden abgefragten Formen fast deckungsgleich waren, werden hier, wie bei Delphin/ Delfin, die beiden Formen zusammen besprochen, abweichende Begründungen sind einfach kontrastiv dargestellt. 1 1 2 3 4 4 2 3 1 2 2 4 4 3 3 1 1 2 2 3 1 4 6 8 1 1 2 2 2 1 3 1 4 6 7 5 10 15 20 25 Semantik Einfachheit Gefühl, Intuition Logik NR Morphologie Instruktion AR Phonolgoie Analogie Visualität Diachronie Habitualisierung ph-f-Varianz: phantastisch/ fantastisch phantastisch phantastische Ferien fantastisch fantastische Ferien Abb. 45: ph-f-Varianz, Varianten phantastisch, phantastische Ferien/ fantastisch, fantastische Ferien. Anzahl Begründungen pro Kategorie pro Formen. N VP = 44; N Begr_total = 98, N Begr_ph = 39; N Begr_f = 59. Wie bei Delphin/ Delfin soll bei den Begründungsmustern geprüft werden, ob sich bei der untersuchten Stichprobe der Konflikt zwischen etymologischem und phonologischem Prinzip des Fachdiskurses abbildet. Die Wortverbin- 244 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="255"?> dung phantastische Ferien/ fantastische Ferien wurde gewählt, um zu prüfen, ob das gleiche Phonem/ f/ im Wortanlaut des Lexems Ferien, eine reguläre deutsche Phonem-Graphem-Korrespondenz, zu einer Präferenz für die integrierte Schreibung in phantastisch/ fantastisch führen würde und ob sich die Begründung für diese Form Richtung phonologisches Prinzip verschieben würde. Die häufigsten Nennungen für beide Formen zusammengenommen sind in absteigender Reihenfolge im Bereich der Habitualisierung (Gewohnheit, Vertrautheit), der Sprachgeschichte/ Etymologie, des visuellen Eindrucks, der Analogie sowie der Phonologie zu finden (vgl. Abb. 45). Die Konkurrenz zwischen dem etymologischen Prinzip für die Ursprungsschreibung und dem phonologischen Prinzip für die integrierte Schreibung ist wie schon bei Delphin/ Delfin nicht gleichermaßen deutlich abgebildet wie im Fachdiskurs. Phonologische Begründungen für die integrierte Schreibung erscheinen erst an vierter Stelle. Überraschenderweise dominieren nebst Habitualisierung sprachgeschichtliche Begründungen für die integrierte Schreibung, indem die ‹ ph › -Schreibung als veraltet bezeichnet wird. Nachfolgend werden die Begründungen für die Wahl der integrierten und der ursprünglichen Schreibung gesondert diskutiert. Die meisten Begründungen für die Wahl der integrierten Schreibung fantastisch sowie fantastische Ferien liegen mit zusammengerechnet 16 Nennungen in der Gewohnheit und Vertrautheit (Habitualisierung) mit dieser Variante. Typische Antworten wie etwa unter (42) bezeichnen das Schriftbild der integrierten Schreibung als gewohnter, vertrauter bzw. die ‹ ph › -Schreibung als ungewohnt (43); andere, wie in (44), verweisen auf einen habitualisierten Umgang in der Produktion, wobei sich wiederum einige zu einem bewussten Umlernen bekennen (45): (42) „ Schriftbild ist mir vertrauter “ (P2). „ Schriftbild ist mir gewohnter “ (P7). (43) „‹ ph › weniger gewöhnt “ (P4). (44) „ Ich habe es immer so geschrieben “ (P38). (45) „ Früher mit ‹ ph › , jetzt immer mit ‹ f ›“ (P24). „ Ich habe es mir angewöhnt “ (P33). Die zweithäufigsten Nennungen entfallen auf den Bereich der Sprachgeschichte/ Etymologie oder des Sprachvergleichs. Die Versuchspersonen bezeichnen die ‹ ph › -Schreibung als veraltet bzw. die ‹ f › -Schreibung als moderner (46), eine Versuchsperson bezeichnet fantastisch nicht als alt genug, will wahrscheinlich damit sagen, dass es später in die deutsche Sprache entlehnt wurde (47). Weitere Versuchspersonen ziehen wiederum den Vergleich zum Französischen und Englischen (48). Bemerkenswert ist, dass hier keine einzige Nennung thematisiert, dass mit der ‹ f › -Schreibung der Bezug zur Herkunft des Wortes verloren ginge. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 245 <?page no="256"?> (46) „‹ ph › ist veraltet “ (P28). „‹ f › ist moderner, ‹ ph › ist antiquiert “ (P1). „ Wie bei Delfin immer mit ‹ f › [Artefakt], ‹ ph › veraltete Form “ (P21). (47) „ Ist nicht so ein altes Wort, erinnert an fantasy; ‹ ph › wäre hier nostalgisch, aber fantastisch ist nicht alt genug, in vielen anderen Sprachen ist es auch ‹ f ›“ (P27). (48) „ Französisch auch mit ‹ f › , ‹ ph › ist künstlich “ (P42). „ In Französisch/ Englisch auch ‹ f › ; medizinische Ausdrücke, die ich im Beruf gebrauche, schreibe ich aber mit ‹ ph ›“ (P32). Diese Antworten zeigen, dass es sich bei der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz beim Lexem phantastisch-fantastisch um eine gute repräsentierte Varianz handelt. Die ‹ ph › - Schreibung gilt bei dieser Stichprobe als veraltet und die ‹ f › -Schreibung als moderner. Aussagen wie von der Versuchsperson P32 in Bsp. (48) zeigen zusätzlich, dass erwachsene Schreibende bei gut repräsentierten Variantenschreibungen sogar die Kompetenz zeigen, domänenspezifisch zu differenzieren und eine Variante gezielt im fachsprachlichen Kontext verwenden. An vierter Stelle werden phonologische Begründungen für die Wahl der integrierten Schreibung geltend gemacht, für beide abgefragte Formen zusammengerechnet sechs Nennungen. Zwei Versuchspersonen beziehen sich dabei auf die Phonem-Graphem-Korrespondenz (49). Einmal wird ein bisschen vage auf phonotaktische Gründe verweisen (50): (49) „‹ ph › als/ f/ habe ich nie recht verstanden “ (P7). „ Man kann ‹ ph › -Schreibung nicht herleiten “ (P42). (50) „ In Kombination mit/ a/ -Laut klarer “ sei (P20). Acht Nennungen, d. h. für jede Form je vier, sind visueller Art: Die integrierte Schreibung wird einmal als „ schöner “ (P41) bzw. „ einfacher zu lesen/ schreiben “ (P32) bezeichnet, während die ‹ ph › -Schreibung zweimal ästhetisch abgelehnt wird (51): (51) „ Stört mich von der Schrift her “ (P26). „‹ ph › im Wort (im Wortinnern, Anm. MW) finde ich noch gewohnter als bei Wortanfang, bei Substantiv stört mich ‹ f › mehr “ (P20). Weiter werden zweimal für jede Form morphologische Gründe angeführt, konkret die Ableitung vom Nomen Fantasie (52): (52) „ Fantasie schreibt man auch mit ‹ f ›“ (P3). „ Fantasie “ (P25). Zwei Versuchspersonen bekennen sich zur neuen Rechtschreibung und somit zu einer Vereinfachung (53). Sie scheinen aber unzutreffenderweise davon auszugehen, dass diese beiden Varianten erst seit der Rechtschreibreform zulässig sind. (53) „ Nach neuer Rechtschreibung vereinfachen “ (P4). „ Ich habe gemeint, man soll ‹ ph › nach neuer Rechtschreibung vermeiden “ (P12). 246 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="257"?> Weitere Einzelnennungen entfallen auf die Kategorien Einfachheit, Logik, Intuition, Analogie (zum Wort Telefon, P10), Instruktion sowie Semantik. Der semantische Grund (54) - im Grunde eigentlich an der Schnittstelle Morphologie-Semantik - wird von einer Versuchsperson angeführt, die für phantastisch die ‹ ph › -Schreibung aufgrund der Ableitung von Phantasie bevorzugt hat. Bei der Wortverbindung fantastische Ferien wechselt sie nun die Präferenz, weil sie in dieser Verwendungsweise die Ableitung von Phantasie nicht mehr als gegeben sieht, da das Lexem hier eine andere Bedeutung habe. Wahrscheinlich ist hier die übertragene Bedeutung gemeint, obwohl dies natürlich genau gleich für das Beispiel mit phantastisch zutrifft. (54) „ Hat hier nicht mehr mit dem Phänomen der Phantasie zu tun “ (P6). Die am häufigsten genannten Kategorien bei der Wahl der Ursprungsschreibung mit ‹ ph › betreffen die visuelle Wahrnehmung sowie die Analogiebildung mit je acht Nennungen, d. h. pro Form jeweils vier. Im Bereich der visuellen Wahrnehmung wird pro Form je dreimal der bessere ästhetische Eindruck hervorgehoben (55), (56); letztere Begründung liegt an der Schnittstelle zur Etymologie. Demgegenüber wird die ‹ f › -Schreibung einmal abgewertet mit dem Adjektiv banal (57): (55) „ Gefällt mir besser “ (P19). „ Schöner “ (P39). (56) „ Eleganter, sieht mehr nach Fremdwort aus “ (P8). (57) „‹ f › wirkt banal “ (P8). Hervorzuheben gibt es Begründungen, die mit Analogien bzw. unerwünschten Analogien zu tun haben. Drei Versuchspersonen sehen in der integrierten Schreibung eine ungewünschte Nähe zum Namen des Süßgetränkes Fanta. Deutlich zeigt sich hier, dass aus laienlinguistischer Sicht Orthographie eine disambiguierende Funktion hat, auch bei potenziell verwechselbaren Formen, die nur zwei gemeinsame Silben aufweisen (fantastisch und Fanta sind ja nur in Bezug auf zwei Silben gleich). (58) „ Fanta ist ein Getränk, mit ‹ f › zu anglisiert “ (P17). „ Mit ‹ f › sieht es aus wie Fanta “ (P30). „‹ f › sieht aus wie Fanta “ (P34). Ebenfalls im Bereich der Analogie argumentiert jene Versuchsperson, welche einen Vornamen hat, der mit ‹ ph › geschrieben wird, und besonders allergisch auf Falschschreibungen des Namens mit ‹ f › reagiert; daher bevorzugt sie die ‹ ph › Schreibungen in allen ‹ ph › - ‹ f › -Varianten. Am zweithäufigsten, nach Visualität und Analogie, wird auf die Gewohnheit oder Vertrautheit (Habitualisierung) verwiesen (59). Auch hier tritt wieder die in der ph-f-Varianz häufig erwähnte affektiv markierte „ Nostalgie “ auf (60): 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 247 <?page no="258"?> (59) „ Ic schreibe immer mit ‹ ph ›“ (P14). „ Ich bin es gewohnt “ (P15). (60) „ Nostalgie “ (P39). Mit Habitualisierung eng zusammenhängen dürften auch diejenigen Begründungen, die sich auf die alte Rechtschreibung berufen (zusammengerechnet für beide Formen fünfmal) sowie auf die schulische Instruktion (zusammengerechnet viermal). Erstaunlicherweise wird aber für die Ursprungsschreibung nur zweimal (phantastisch) bzw. dreimal (phantastische Ferien) eine etymologische Begründung genannt, wobei die Beibehaltung von ‹ ph › die Herkunft des Wortes deutlich machen soll (61). Die Nennung in (62) spielt wahrscheinlich darauf an, wann bzw. woher das Wort in die deutsche Sprache gekommen ist. Es ist zu vermuten, dass, wenn es sich um ein griechisches Lehnwort handeln würde, die ‹ ph › -Schreibung zu bevorzugen wäre, und es später aus einer anderen Sprache wie dem Englischen ins Deutsche gekommen wäre, die ‹ f › - Schreibung zu bevorzugen wäre - dies muss aber hier Spekulation bleiben, da die Versuchsperson nicht weiter ausführt: (61) „ Herkunft der Wörter sind mir sehr wichtig “ (P29). „ Ein Fremdwort, denke ich, in Fremdsprache ‹ ph › , Bezug zu Ursprung wichtig, sonst geht Wurzel des Wortes verloren “ (P30). (62) „ Müsste man im Großen Duden schauen, was das Wort bedeutet “ (P17) [nur für fantastische Ferien]. Bei der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz sind auch die weiteren Kommentare von Interesse, die keine Begründungen für oder gegen eine Wahl darstellen, da sie auf die Repräsentation der abgefragten Varianz sowie auf laienlinguistische Konzepte verweisen. Die Aussage unter (63) zeigt, dass bei Variantenschreibungen die Einheitlichkeit sehr hoch gewertet wird, vgl. dazu auch die Resultate aus der Befragung zur Einstellung in 4.4, in der 37 von 44 Versuchspersonen der innertextuellen orthographischen Einheitlichkeit hohe Bedeutung zumessen. An der Bemerkung einer anderen Versuchsperson lässt sich die eingangs erwähnte Funktion der Orthographie als Symptom sozialer Distinktion beobachten, vgl. (64). (63) „ Da habe ich spontan mit ‹ ph › gewählt; ich weiß, dass beides richtig ist, schaue aber, dass es im Text einheitlich ist, wenn das Wort oft vorkommt (P13). (64) „‹ f › würde jemand nehmen, der nicht so gut in Deutsch ist, die schreiben, wie sie reden “ (P34). Zusammenfassung: Die ‹ ph › - ‹ f › -Varianz stellt die am besten repräsentierte Varianz dar. Versuchspersonen zeigen sogar teilweise einen ausgeprägten habitualisierten Umgang in ihrer orthographischen Wahl. Die hohe Anzahl an Nennungen im Bereich der Habitualisierung - sowohl für die ‹ ph › als auch die ‹ f › -Schreibung - deutet darauf hin, dass in alltäglichen Schreiben die orthographischen Entscheidungsprozesse mit großer Wahrscheinlichkeit 248 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="259"?> automatisiert ablaufen. Dies ist ein Anzeichen dafür, das Schreibende durchaus mit Varianz umgehen können. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die ‹ ph › - ‹ f › -Varianz in der deutschen Orthographie schon seit längerem zugelassen ist sowie dass sie hochfrequente Lexemen wie Telephon/ Telefon, Photographie/ Fotografie umfasst, im Gegensatz zur ‹ t › - ‹ z › -Varianz bei potentiell/ potenziell oder existentiell/ existenziell (vgl. dazu auch die korpuslinguistische Untersuchung von Schmidt 2011). Dies sind alles Faktoren, die einen habitualisierten Umgang mit diesen Varianten fördern können. Somit unterscheiden sich die Begründungen in großen Teilen von den Begründungen des Fachdiskurses, der hier zwischen den konfligierenden Prinzipien Etymologie versus Phonologie ausgeht. Weitaus häufiger wird, wie erwähnt, auf Gewohnheit und Vertrautheit sowie die visuelle Wahrnehmung verwiesen. Sprachhistorische Begründungen treten häufiger auf als Argument für die integrierte Schreibung, indem die hergebrachte Schreibung als veraltet abgelehnt wird. Bemerkenswertes Votum für die Beibehaltung der ‹ ph › -Schreibung ist die beabsichtigte Unterbindung einer unerwünschten Analogiebildung zu Fanta. 7.3.3 Fremdwortschreibung ‹ tiell › - ‹ ziell › -Varianz: existentiell/ existenziell Die Wahl bei der Fremdwortschreibung existentiell/ existenziell ist mit 18-mal für die ursprüngliche ‹ t › -Schreibung und 21-mal für die integrierte ‹ z › - Schreibung ausgeglichen. Fünf Versuchspersonen konnten sich nicht für eine Form entscheiden. Stellvertretend für alle Versuchspersonen, die sich hier zu keiner Präferenz durchzuringen vermochten, sei die Aussage in Bsp. (65) angeführt. Die Antwort widerspiegelt prototypisch, wie konfligierende Schreibweisen bei der ‹ t › / ‹ z › -Varianz verunsichern. (65) „ Gemeines Wort, schreibe ich mal so und mal so, wie potenziell “ (P41). Das Argumentationsmuster für die Wahl der integrierten Schreibung existenziell entstammt vor allem sprachsystematischen Überlegungen (vgl. Abb. 46): Morphologische Gründe, d. h. die Ableitung vom Substantiv Existenz, werden insgesamt sechsmal genannt, vgl. Beispiele unter (66); ebenso häufig werden aber phonologische Gründe angeführt, konkret wird auf die Phonem- Graphem-Korrespondenz verwiesen als die für das Deutsche reguläre Korrespondenz zwischen der Affrikate/ ts/ und dem Graphem ‹ z › , vgl. Beispiele in (67); eine andere Versuchsperson verweist auf die Probleme, die mit einer nicht regulären Phonem-Graphem-Korrespondenz einhergingen. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 249 <?page no="260"?> (66) „ Kommt von Existenz “ (P3). „ Ableitung Existenz “ (P39). (67) „ Egal, ob altes ‹ t › , man spricht/ z/ aus “ (P28). „‹ t › spricht man nicht als/ ts/ aus; auch wegen den Fremdsprachigen, die es dann als/ t/ aussprechen “ (P27). Vier Versuchspersonen wählen die integrierte Schreibung in Analogie zu anderen Fremdwörtern wie Telefon, Katastrofe (sic), Foto, kommerziell, potenziell; letzteres dürfte aufgrund des Untersuchungsdesigns erwähnt worden sein und gilt somit streng genommen als Artefakt, zeigt aber trotzdem, dass hier das Bedürfnis nach Einheitlichkeit und Systemhaftigkeit ausgeprägt ist. Auch diese Begründungen sind demzufolge in einem weiteren Sinne systemhaft, wenn auch weniger spezifisch als phonologische und morphologische Gründe. (68) „ Über ‹ t › als Ersatz vorgestellt; Photo schreibe ich auch mit ‹ f › statt mit ‹ ph ›“ (P26). (69) „ Wenn ich es mit anderen Wörtern vergleiche wie kommerziell, potenziell “ (P36). (70) „‹ t › ähnlich wie Telefon und Katastrophe “ (P1). Zwei Versuchspersonen sehen einen Vorteil in der Integration, d. h. plädieren hier gegen die Beibehaltung der Ursprungsschreibung, daher wurden diese beiden Argumente in die Kategorie Etymologie gezählt: (71) „ Verdeutschtes Wort, sonst noch halb Französisch oder Englisch “ (P0). „‹ z › macht Sinn, ist eine Eindeutschung “ (P10). Drei Versuchspersonen beziehen sich in ihren Begründungen auf die neue Rechtschreibung, vgl. (72), wobei sich auch hier wieder das bewusste Umlernen zeigt (73). Diejenige Versuchsperson, welche über alle Formen hinweg auf die alte Rechtschreibung verweist, tut dies auch hier, wobei sie zugibt, dass sie nicht mehr sicher sei, ob es alte Rechtschreibung sei, es aber hoffe (P5). (72) „ Neue Rechtschreibung eher mit ‹ z ›“ (P9). „ Neue Rechtschreibung “ (P12). (73) „ Inzwischen schreibe ich es eher mit ‹ z ›“ (P42). Die weiteren Kategorien wie Einfachheit „ erscheint mir einfacher “ (P16) und Instruktion „ habe es so gelernt “ (P19) werden je einmal erwähnt. 250 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="261"?> 1 2 2 3 2 1 7 1 1 1 3 1 3 6 6 1 AR Einfachheit Visualität Instruktion NR Diachronie Analogie Phonologie Morphologie Habitualisierung existentiell/ existenziell existentiell existenziell Abb. 46: Variante existentiell/ existenziell. Anzahl Begründungen pro Kategorie, verteilt auf die gewählte Form; Einzelnennung in verschiedenen Kategorien wurden zusammengefasst. N VP = 44; N Begr_total = 41, N Begr_t = 18; N Begr_z = 23. Als Gründe für die Wahl der ursprünglichen Schreibung mit ‹ tiell › werden vor allem die Habitualisierung (7-mal) genannt. Ganz anders als im Fachdiskurs scheinen etymologische Begründungen mit drei Nennungen weniger salient. Die weiteren Gründe verteilen sich mit je einer oder zwei Nennungen u. a. auf die Kategorien wie Instruktion, Analogie und Visualität. Bei der Kategorie Habitualisierung lassen sich, wie bei der ‹ ph › - ‹ f › - Varianz, mehr oder weniger neutrale Aussagen zur Gewohnheit der Form (74) von affektiv markierten unterscheiden, indem die Versuchspersonen ihre eigene Präferenz in diesem Fall als nostalgisch bzw. altmodisch wahrnehmen, vgl. (75). Damit zeigt sich ein - zwar nicht explizit benanntes - Bewusstsein, dass die ‹ t › -Schreibung die ältere und die ‹ z › -Schreibung eine neuere Schreibung ist. Weitere Aussagen spielen die beiden Schreibweisen explizit gegeneinander aus, indem darauf hingewiesen wird, dass die Schreibung mit ‹ z › auch in Frage käme oder dass gar die integrierte Schreibung die logischere Variante sei (76). (74) „ Ich bin es so gewohnt “ (P18). „ Gewohnheit “ (P38). ‹ t › -Schreibung sehr gut verankert, ich überlege gar nicht, ob richtig/ falsch (P13). (75) „ Ich bin hier altmodisch, so gewohnt “ (P14). „ Nostalgische Gründe “ (P11). 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 251 <?page no="262"?> (76) „ Ich habe es immer mit ‹ t › geschrieben, aber das andere kommt auch in Frage, ist auch vertraut (P2). „ Nicht logisch eigentlich, würde es aber mit ‹ t › schreiben “ (P15). Die im Fachdiskurs dominante Begründung der Etymologie wird, wie oben erwähnt, nur von drei Versuchspersonen explizit genannt (77), zweimal wird der Bezug zum Lateinischen und einmal zum Französischen hergestellt. Auch diese Begründungen sind affektiv markiert: bei der integrierten Schreibung scheint für diese Versuchspersonen der Bezug zum Herkunftswort nicht mehr direkt sichtbar zu sein, was als Verlust wahrgenommen wird. (77) „ Vom Latein, schade, wenn das wegfällt “ (P29). „ Herkunft von Wort geht verloren, kommt aus dem Lateinischen existentia, unbewusst eher, sieht zu verdeutscht aus “ (P30). „ Von l'éxistence oder Existenz “ (P6). Eng zur Kategorie Habitualisierung zu zählen sind auch Begründungen im Bereich der Instruktion, die hier zweimal genannt werden (78). Die visuelle Wahrnehmung dürfte auch mit einer gewissen Gewohnheit zusammenzuhängen. Diese Kategorie wird hier zweimal genannt (79), wobei die ‹ t › - Schreibung einmal visuell besser zu überzeugen vermag bzw. die ‹ z › -Schreibung als weniger schön bewertet wird. (78) „ Ich habe es so gelernt “ (P23). „ So gelernt “ (P31). (79) „ Gefällt mir optisch besser “ (P21). „ Nicht schön “ (P31). Dass der berufliche Hintergrund der Versuchspersonen sich bis auf ihre orthographischen Konzepte auswirkt, zeigt sich deutlich in der Kategorie Analogie, die zweimal als Begründung herangezogen wird. Die erste Versuchsperson (80), unschwer als Lehrperson zu erkennen, präferiert für sich selbst die Ursprungsschreibung, bewertet aber die integrierte Schreibung als einfacher für die Schüler und Schülerinnen, wobei etwas vage auf die Phonem-Graphem-Korrespondenz verwiesen wird. Die zweite Versuchsperson rekurriert auf das berufliche Fachvokabular, in dem offenbar die Ursprungsschreibweisen Usus sind (81). (80) „ Müsste ich analog zu ‹ ph › / ‹ f › mit ‹ t › schreiben; wenn ich schreibe, dann mit ‹ t › , aber für Schüler sicher leichter mit ‹ z › , vielleicht als Laut und nicht GR? Wenn Schüler schon über existenzielle Dinge nachdenken, sollte man es ihnen einfach machen “ (P17). (81) „ Hier sieht man auch unterschiedliche Schreibweisen; im Beruf Retention (Regenwasser) “ (P40). 252 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="263"?> Zusammenfassung: Die Begründungsmuster zeigen, dass die Präferenz der Ursprungs-Schreibung mit ‹ tiell › vor allem der Gewohnheit entspringt und die integrierte Schreibung mit ‹ ziell › vor allem aufgrund sprachsystematischer Überlegungen morphologischer und phonologischer Art gewählt wird. Damit heben sich die Laienbegründungen von linguistischen Begründungen bzw. den Begründungen des Rechtschreibrates für die Varianz ab: die Varianz wird in diesen Fällen auf zwei konfligierende Prinzipien zurückgeführt, nämlich auf das phonologische Prinzip, was zu einer integrierten Schreibung führen würde, versus etymologisches Prinzip, das den Ursprung des Wortes sichtbar machen soll. Etymologische Gründe geben nur drei Versuchspersonen an. 7.3.4 Groß -und Kleinschreibung Der Bereich der Groß- und Kleinschreibung ist der konzeptionsbedingten Varianz zuzuordnen, wobei die linguistische Analyse verschiedenen Kriterien der Nominalität folgen kann: syntaktischen, morphosyntaktischen, lexikalischen oder semantischen (vgl. dazu 4.1.2). Es soll daher geprüft werden, ob auch in den system-bezogenen Begründungen der untersuchten Stichprobe verschiedene Nominalitätskriterien auszumachen sind oder ob sich die Begründungen aufgrund der Komplexität dieses Bereiches auf andere Kategorien verlagern. 7.3.4.1 recht geben/ Recht geben Auch bei der Variante recht geben/ Recht geben handelt es sich um eine konzeptionsbedingte Varianz, da hier die grammatischen Analysen der Wortkategorie von recht/ Recht variieren können, je nachdem, ob man ein syntaktisches, morphosyntaktisches oder lexikalisches Kriterium anwendet (vgl. 4.1.2). Wie in 4.3.2 dargelegt, wurden bei der Form recht geben/ Recht geben zwei Konstruktionen abgefragt: eine Kontaktstellung mit der Infinitiv-Konstruktion und eine Distanzstellung mit der finiten Form, um Stellungseffekte zu kontrollieren. - Kontaktstellung: In diesem Fall muss ich dir recht/ Recht geben. - Distanzstellung: Sie gibt ihm immer recht/ Recht. In der Kontaktstellung wird die Großschreibung von 30 Versuchspersonen präferiert, dies ist eine deutliche Präferenz gegenüber 11 Versuchspersonen, welche die Kleinschreibung gewählt haben. Für die Distanzstellung sehen die Präferenzen jedoch anders aus: Während in der Distanzstellung 16 Versuchspersonen die Kleinschreibung bevorzugen, stehen dem nur noch 24 Versuchspersonen gegenüber, welche die Großschreibung gewählt haben. Die Präferenz für die Großschreibung ist in der Kontaktstellung ausgeprägter als in der 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 253 <?page no="264"?> Distanzstellung. Im Folgenden werden die Begründungen dargestellt (Abb. 47). Die Präferenz der Großschreibung wird sowohl in der Kontaktwie auch der Distanzschreibung vor allem morphosyntaktisch begründet, nämlich 39-mal von total für beide Stellungen zusammengerechneten 53 Begründungen für die Großschreibung. Die morphosyntaktische Begründung besteht vor allem in der Anwendung einer grammatischen Proben, der Artikel-Probe (31 Nennungen für beide Stellungen zusammengerechnet), vgl. Beispiele für typische Antworten in (82). Auch wenn nur „ das Recht “ genannt wird, wird dies als Durchführung einer grammatischen Probe, nämlich der Artikelprobe gewertet. Es liegt also eine Anwendung des syntaktischen Konzepts vor, allerdings scheint es dabei nicht aufzufallen, dass mit dem Einsetzen eines Artikels auch die Satzbedeutung geändert wird. Die Abgrenzung zur Kategorisierung von Recht als Nomen, was als morphosyntaktische Begründung kategorisiert wird, ist fließend, handelt es sich ja auch bei der Artikelprobe um eine Unterform einer morphosyntaktischen Kategorie, die hier nur getrennt wird, weil es aus didaktischen Überlegungen von Interesse ist, ob und v. a. welche grammatischen Proben die Versuchspersonen durchführen. Fünf weitere Versuchspersonen geben eine andere Form der morphosyntaktischen Begründung an, nämlich eine Wortkategorisierung ohne Artikelprobe, wobei sich jedoch in den Formulierungen widerspiegelt, dass die nominale Kategorisierung doch nicht ganz so eindeutig ist und es sich hierbei eher um eine Annäherung an ein Nomen handelt, vgl. (83). (82) „ Das Recht “ (P3). „ Das Recht, Nomen “ (P15). „ Großschreibung besser, weil Substantiv, man könnte ergänzen: ‚ Muss ich dir das Recht geben ‘“ (P27). (83) „ Ist ein Substantiv “ (P10). „ Substantivierung “ (P16). „ Wie ein Substantiv “ (P21). „ Ein vererbtes Substantiv “ (P34). (84) „ Weil es einfacher ist, man muss sich nicht überlegen, ob es Adjektiv ist. Großschreibung, obwohl man fragen kann wie? “ (P4). 254 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="265"?> 1 1 1 4 5 1 1 1 2 2 5 7 1 1 1 1 1 1 23 1 1 1 1 1 1 1 1 16 10 20 30 40 50 60 Analogie Einfachheit Phonologie Instruktion AR Weiteres Logik Intuition Visualität Semantik Morphologie recht geben/ Recht geben recht geben gibt ... recht Recht geben gibt ... Recht Abb. 47: Variante recht geben/ Recht geben. Anzahl Begründungen pro Kategorie der beiden Konstruktion. Einzelnennung und andere Begründungen wurden zusammengefasst. N VP = 44; N Begr_total = 80, N Begr_KS = 28; N Begr_GS = 52. Dass die Wortkategoriebestimmung von recht/ Recht in dieser Wortverbindung eine regelrechte Knacknuss ist, zeigen auch diejenigen Antworten, welche die Unsicherheit bezüglich der Wortkategorie von recht/ Recht thematisieren, so etwa in (84). Die Versuchsperson findet die Großschreibung „ einfacher “ , betont aber gleichzeitig die Unsicherheit bezüglich der Wortkategorie von recht/ Recht. Die Großschreibung erscheint hier als eine Form der „ Globallösung “ für derartige Zweifelsfälle. Bei den Begründungen von vier Versuchspersonen wird deutlich, dass die Frage nach Klein- oder Großschreibung in dieser Variante nicht nur mit der Wortkategorie von recht/ Recht zusammenhängt, sondern dass damit auch Überlegungen zur Wortgrenze und somit zur Zusammen- und Getrenntschreibung eng verknüpft werden. (85) „ Wenn man ein zusammengesetztes Wort auseinandernimmt, geht es um das Recht “ (P10). „ Großschreiben, so dass man die Fragmente vom Wort sieht “ (P17). (86) „ Das Recht, eigentlich aber ‹ rechtgeben ›“ (P32). „ Konsequenter wäre bei Kleinschreibung die Zusammenschreibung “ (P37). (87) „ Die Großschreibung setzt Betonung, wird verständlicher “ (P28). Die Begründungen in (85) zeigen, dass die Großschreibung die Getrenntschreibung unterstützen soll und vice versa bzw. linguistisch ausgedrückt, 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 255 <?page no="266"?> dass die Großschreibung eine Interpretation als Syntagma und die Kleinschreibung eine Interpretation als Re-Analyse impliziert. Noch deutlicher wird dies in den Begründungen in (86), hier geben zwei Versuchspersonen an, dass eigentlich die (nach dem neusten Regelwerk nicht regel-konforme) Zusammenschreibung zu bevorzugen wäre bzw. dass bei Kleinschreibung eine Zusammenschreibung konsequenter wäre. Dies entspricht der Regelung in der alten Rechtschreibung, die offenbar bei diesen Versuchspersonen noch repräsentiert ist, wenn auch nicht explizit als solche deklariert wird. In eine ähnliche Richtung geht die einzige suprasegmentale Begründung für die Wahl der Großschreibung in der Kontaktstellung, vgl. (87). Die Versuchsperson nimmt wohl an, dass die Großschreibung die Wortgrenzen verdeutlicht, was ebenfalls auf die enge Verknüpfung der Frage nach Groß-/ Kleinschreibung mit der Frage nach der Wortgrenze hindeutet. Die weiteren Begründungen sind Einzelnennungen in verschiedenen weiteren Kategorien (Semantik, Visualität, Intuition, Logik, Instruktion, Einfachheit, Analogie, Phonologie), die hier nicht alle gesondert besprochen werden. Es werden aber daraus zwei herausgegriffen; die eine, weil sie latent wirkende orthographische Konzepte zeigt, die andere, weil sie fachdidaktisch von Interesse ist. (88) „ Kleinschreibung ist missverständlich (zu rechnen) “ (P28). (89) „ Der Deutschlehrer an der [Berufsschule] hat uns beigebracht: rechtens wird kleingeschrieben, mit Recht groß “ (P39). Eine Versuchsperson sieht bei der Kleinschreibung die Gefahr einer Verwechslung mit dem Lexem rechnen, vgl. (88) aus der Kategorie Analogie. Hinter dieser im ersten Moment etwas abwegig erscheinenden Argumentation steckt ein orthographisches Konzept, das besagt, dass die Funktion der Orthographie u. a. in der Desambiguierung liegt, auch wenn in diesem konkreten Fall die Verwechslung nicht augenfällig erscheinen mag. Eine weitere Versuchsperson vermag sich daran zu erinnern, dass diese Schreibung mit einem Merkspruch gelernt wurde (89), nur leider passt natürlich keine der genannten Formen zum hier vorliegenden Fall. Die Aussage ist jedoch unter fachdidaktischer Perspektive von Interesse, zeigt sie doch, dass Merksprüche anfällig für unzulässige Übergeneralisierungen sind, wenn, wie im vorliegenden Fall, ein orthographisch schwieriges Problem vorliegt. Die Wahl der Kleinschreibung in der Kontaktstellung wird, wie die Großschreibung auch, vor allem morphosyntaktisch begründet (11 Nennungen von total 28 Nennungen für beide Stellungen zusammengerechnet). Dabei überwiegt die Bestimmung der Wortkategorie ohne Nennung einer grammatischen Probe. Den Versuchspersonen fällt es jedoch deutlich schwerer, die Wahl morphosyntaktisch zu begründen, was sich auch in den vorsichtigen, teils unklaren Formulierungen ausdrückt, vgl. (90); der Bezug zum Schweizerdeutschen der letztgenannten Begründung scheint geradezu rätselhaft. 256 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="267"?> (90) „ Mehr Adjektiv als Nomen “ (P0). „ Es bezieht sich nicht auf ‚ das Recht ‘“ (P44) „ Ich sehe das nicht als Nomen ‚ das Recht ‘ , eher als Adjektiv “ ; im Schweizerdeutschen ‚ Du häsch recht ‘ , dadurch mehr ein Adjektiv (P8). (91) „ Ich gebe ja nicht ‚ das Recht ‘ wie Substantiv/ Sache; kommt mir eher vor, wie man es nicht allgemein ohne geben sagen kann “ (P7). (92) „ Dass Zusammenschreibung nicht möglich ist, ist unlogisch, ist nicht ‚ das Recht ‘ , ist ein Verb (P34). Wie oben schon bei den Argumenten für die Großschreibung diskutiert wurde, zeigt sich hier ebenfalls der enge Zusammenhang der Bestimmung der Wortkategorie mit dem Festlegen der Wortgrenzen: Eine Versuchsperson geht in ihrer Begründung offenbar von einer Lexikalisierung aus, da das Syntagma sowohl strukturell wie auch von der übertragenen Bedeutung her als Einheit dargestellt wird (91). Eine weitere Versuchsperson meint ebenfalls, dass die Kleinschreibung mit der Zusammenschreibung einhergehen sollte (92). Es lässt sich keines der im Fachdiskurs verwendeten Konzepte der Nominalität feststellen, das hier in Abgrenzung zur Anwendung gelangen würde. Anders als bei der Großschreibung gibt es bei der Wahl der Kleinschreibung auch vier semantische Begründungen. Dabei geht es dreimal um eine semantische Abgrenzung vom Lexem Recht im juristischen Sinne, vgl. die Begründungen in (93), sowie einmal um die Opposition abstrakt/ konkret wie in (94), eine ähnlich Argumentation wie in Bsp. (91) oben: (93) „ Großschreibung von Recht ist im Sinne von Jurisprudenz, daher Kleinschreibung, obwohl es konsequent Großschreibung wäre “ (P1). „ Großschreibung wäre sonst juristisch das Recht (P8). „ Recht gleich Justiz, sonst Kleinschreibung, besser zum Unterscheiden “ (P41). (94) „ Vom Gefühl her wie ‚ Sie liegt richtig ‘ , man gibt ja nicht etwas, abstrakt “ (P29). Drei Versuchspersonen wählen die Kleinschreibung aus ästhetischen Gründen. Eine Person lehnt die Großschreibung als „ holperig “ (P34) ab, eine zweite begründet ihre Wahl der Kleinschreibung etwas vage mit „ optisch “ (P40). Die dritte Versuchsperson spielt den visuellen besseren Eindruck der Kleinschreibung gegen die Urteilssicherheit bei der Großschreibung aus (95). Diese Begründung macht deutlich, was bei den Begründungen zur Großschreibung schon aufgefallen ist: Den Versuchspersonen fällt es deutlich leichter, die Großschreibung zu begründen, weil mit der Artikelprobe eine einfache und vermeintlich sichere Operationalisierung für die Einteilung in die Wortkategorie Nomen vorliegt, von der einfach die Großschreibung abgeleitet werden kann. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 257 <?page no="268"?> (95) „ Besser, bei Großschreibung fühle ich mich sicher, dass es stimmt; dann überlege ich, ob das andere schöner ist; im Fluss fällt es weniger auf, dann eher Kleinschreibung “ (P43). Wie oben dargestellt, haben einige Versuchspersonen die Präferenz zwischen den Stellungen gewechselt. An dieser Stelle sollen deshalb die Argumente für den Wechsel diskutiert werden. Von der Kleinschreibung in der Kontaktstellung zur Großschreibung in der Distanzstellung wechselt diejenige Versuchsperson, die schon in der Kontaktstellung Unsicherheit bekundet und dann dort aus ästhetischen Gründen die Kleinschreibung gewählt hat (vgl. oben). Den Wechsel zur Großschreibung begründet sie mit der größeren Entscheidungssicherheit bei der Großschreibung: (96) „ Da fällt es auf am Satzende, exponiert, da bin ich eher unsicher und wähle Großschreibung “ (P43). (97) „ Ich finde, dass man es hier kleinschreibt, da es nicht Juristensprache ist “ (P23). Der häufigere Wechsel von der Großschreibung bei der Kontaktstellung zur Kleinschreibung bei der Distanzstellung begründet eine Versuchsperson semantisch, vgl. (97), zwei begründen mit „ Intuition “ (40) bzw. „ intuitiv “ (P2), eine weitere etwas vage „ vom Verb her “ (P6), eine weitere kann „ keinen logischen Grund “ angeben (P32). Eine Versuchsperson, die schon bei der Kontaktstellung davon gesprochen hat, dass Recht hier „ wie ein Substantiv “ sei, wechselt nun zur Kleinschreibung mit der Begründung, dass es in dieser Stellung hier noch mehr das „ Verb rechtgeben “ sei (P21), womit auf die Zusammenschreibung verwiesen wird. Es wäre hier weitergehend zu prüfen, ob dies damit zusammenhängen könnte, dass mit den Verbpartikeln von trennbaren Verben im Deutschen in der Distanzstellung ein analoges syntaktisches Muster vorliegt, was eine Re- Analyse der Wortverbindung als Verb begünstigt. In eine ähnliche Richtung geht eine der beiden Versuchspersonen, die bei der Distanzstellung keine Präferenz mehr haben, während sie in der Kontaktstellung noch die Großschreibung gewählt haben, vgl. (98). (98) „ Kann beide akzeptieren, ‚ das Recht ‘ steht hier nicht im Vordergrund, Betonung auf ‚ geben ‘“ (P30). Zusammenfassung: Bei der Groß- und Kleinschreibung in der Wortverbindung recht/ Recht geben wird die Urteilssicherheit der Personen dieser Stichgruppe durch den zweifelhaften Status der Wortkategorie sowie, eng damit verknüpft, die Frage nach der Wortgrenze stark beeinträchtigt. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass rund ein Viertel der Versuchspersonen zwischen den Stellungsvarianten die Präferenz wechselt, sondern auch in den Begründungen, in denen teilweise explizit die Verunsicherung angesprochen wird. Es erstaunt daher wenig, dass morphosyntaktische Begründungen überwiegen, 258 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="269"?> die allerdings nicht den im Fachdiskurs genannten Konzepten der Nominalität folgen, sondern sich auf das Benennen der Wortkategorie Nomen bzw. kein Nomen und auf die Anwendung der Artikelprobe beschränken. Dabei zeigen Versuchspersonen, welche die Kleinschreibung gewählt haben, deutlich mehr Schwierigkeiten, ihre Wahl zu begründen. Weiter wird die Wahl der Kleinschreibung semantisch begründet, wobei verschiedentlich ein orthographisches Konzept zutage tritt, dass die Funktionalität der Orthographie als Differenzierung von semantisch Unterschiedlichem impliziert, wobei es hier vor allem um die Differenzierung von Recht im juristischen Sinne versus einer übertragenen Bedeutung von recht/ Recht geht. Diejenigen Versuchspersonen, welche die Großschreibung gewählt haben, zeigen sich vor allem in der Anwendung der Artikelprobe sicher, die bei der Wahl der Großschreibung am häufigsten angewandt wird. Keine der Versuchspersonen thematisiert jedoch dabei, dass mit dem Setzen des Artikels die Konstruktion semantisch umgedeutet wird, somit also die Anwendung der Artikelprobe nicht ganz unproblematisch ist. Einige Begründungen deuten auch darauf hin, dass hier die Zusammenschreibung eigentlich näher liegen würde, insbesondere bei der Kleinschreibung, die offenbar auf eine Re-Analyse der Wortverbindung hindeutet. Dies könnte auch erklären, wieso die Präferenzen für die Distanzstellung sich etwas von der Großschreibung weg hin zur Kleinschreibung bewegen. 7.3.4.2 auf weiteres/ auf Weiteres Auch bei den Varianten auf weiteres/ bis auf Weiteres liegt eine komplexitätsbedingte Varianz vor. Die Präferenzen zwischen der Groß- und Kleinschreibung sind fast ausgewogen, mit einer leichten Tendenz Richtung Kleinschreibung: 23 Versuchspersonen wählen die alte Kleinschreibung auf weiteres, welche auch im Regelwerk 1996 aufgeführt ist. Demgegenüber bevorzugen 19 Versuchspersonen die Großschreibung, die mit dem Regelwerk 2006 als Variante eingeführt wurde und auch die heutige Duden- Empfehlung darstellt. Zwei Versuchspersonen konnten sich nicht auf eine Variante festlegen. Die Gründe für die Wahl der Kleinschreibung wie auch der Großschreibung (vgl. Abb. 48) liegen zur Hälfte im Bereich der Morphosyntax mit zusammengerechnet 18 Nennungen von total 38. Dabei zeigt sich die morphosyntaktische Argumentation vor allem für die Wahl der Großschreibung mit elf Nennungen als Hauptargument (gewählt wurde die Form 19-mal), die Begründungen für die Wahl der Kleinschreibung verteilen sich auf verschiedene Kategorien. Im Folgenden werden die Gründe für die Wahl der Klein- und Großschreibung gesondert diskutiert. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 259 <?page no="270"?> 1 1 1 1 1 2 2 4 6 6 1 1 1 2 11 5 10 15 20 Weiteres Analogie AR Intuition NR Instruktion Semantik Logik Visualität Habitualisierung Morphologie auf weiteres/ auf Weiteres auf weiteres auf Weiteres Abb. 48: Variante bis auf weiteres/ Weiteres. Anzahl Begründungen pro Kategorie. Einzelnennung und andere Begründungen wurden zusammengefasst. N VP = 44; N Begr_total = 39, N Begr_KS = 24; N Begr_GS = 15. Die Begründungen für die Wahl der Kleinschreibung verteilen sich fast zu gleichen Teilen auf die Kategorien Morphosyntax (7 Nennungen) und Habitualisierung (6 Nennungen); des Weiteren wird der visuelle Eindruck genannt (4 Nennungen) sowie die Semantik/ Pragmatik angeführt (2 Nennungen). Die restlichen sechs Begründungen verteilen sich auf verschiedene Kategorien, wobei sich hier wiederum zeigt, dass in denjenigen Fällen, in denen systembezogene Begründungen eher schwerer fallen, auf andere Bereiche ausgewichen wird. Als morphosyntaktische Begründungen wird dreimal eine grammatische Probe genannt: die Artikelprobe, die in diesen Fällen nicht angewendet werden kann, so wie in Bsp. (99), und eine Frageprobe (100). Ansonsten wird einfach die Wortkategorie Substantiv angegeben (101). Dabei ist aber festzustellen, dass der unklare Status der Wortkategorie von weiteres in dieser festen Verbindung auffällt (102), es ist hier zu vermuten, dass hier eine reine Bestimmung der Wortkategorie nach dem lexikalischen Kriterium dem syntaktischen Kriterium gegenübergestellt wird. Deutlicher wird diese Kontrastierung in jenen Begründungen, vgl. (103), welche explizit den Satzgliedstatus Objekt versus Adverbiale (Zeitangabe) kontrastieren, wobei nicht ganz klar wird, ob in das Konzept Objekt nicht auch zusätzlich noch eine Kon- 260 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="271"?> trastierung von Abstrakta versus Konkreta hineinspielt. Mit dieser Objekt- Adverbiale-Kontrastierung wird impliziert, dass Objektpositionen von Nomen besetzt werden und daher Großschreibung gilt (entspricht dem syntaktischen Kriterium), während Adverbiale von Adverbien oder Adjektiven besetzt werden, die klein geschrieben werden. Mit dieser Begründung wird Form und Funktion von Satzgliedern verwechselt (die Variante bis auf weiteres/ Weiteres im vorliegenden Beispiel ist der Form nach eine Präpositionalphrase, der Funktion nach eine Adverbiale) sowie übersehen, dass ein Adverbiale bzw. Zeitangabe durchaus auch eines oder gar mehrere Nomen enthalten kann, vgl. dazu auch Gallmann (1997: 228). Es ist zu vermuten und wäre weitergehend zu untersuchen, ob in solchen Fällen Konzepte prototypischer Formen von Satzgliedern zu orthographischen Regeln der Rechtschreibung verallgemeinert werden. (99) „ Der/ die/ das geht nicht voran “ (P26). (100) „ Kein Substantiv, man fragt: Wie ist er eingestellt? “ (P37). (101) „ Ist kein Substantiv (P32). (102) „ Das ist doch kein Substantiv, bloss weil es substantiviert ist “ (P10). (103) „ Für mich hat es ‚ das Weitere ‘ nicht viel mit Substantiv zu tun, sondern ist eine Zeitangabe “ (P20). „ Grammatikalisch einfach zu begründen (auf das weitere); ist keine Sache, sondern etwas Zeitliches, ist kein Objekt “ (P7). Ebenso häufig wie morphosyntaktische Gründe werden Gründe der Habitualisierung genannt. Die Kleinschreibung erscheint „ vertrauter “ (P2, P44) bzw. das Schriftbild „ vertrauter “ (P27); zwei Versuchspersonen geben an, aus „ Gewohnheit “ (P24, P41) kleinzuschreiben oder weil man das „ früher so geschrieben “ habe (P7). Eine Versuchsperson kann sich hier die Großschreibung gar nicht vorstellen und nennt analoge Formen (104). (104) „ Schriftbild ist mir vertrauter, besser; kann mir GS nicht vorstellen (wie weiteres, anderes, einiges), (P27). In Bezug auf die visuelle Beurteilung wird die Kleinschreibung als besser oder schöner eingeschätzt (105), wobei einer Versuchsperson explizit die Visualität mit der Systemdimension kontrastiert (106): (105) „ Gefällt mir besser (P38). „ Sieht besser aus “ (P11). „ Schöner von der ‚ Satzästhetik ‘ her “ (P34). (106) „ Nicht konsequent, aber schöner “ (P14). Zweimal wird eine pragmatische Begründung angegeben: Die Großschreibung würde Unwichtiges hervorheben (107). Die beiden Begründungen deuten darauf hin, dass Orthographie in laienlinguistischen Konzepten offenbar auch Informationsstrukturen abbilden soll, womit ein in der Geschichte der Orthographie altes Konzept wieder reaktiviert wird. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 261 <?page no="272"?> (107) „ Die Großschreibung ist wie zu wichtig, es ist ja kein Objekt “ (P7). „ Die Großschreibung wirkt zu wichtig, verwirrend “ (P8). Die Einzelnennungen verteilen sich auf die Kategorien Logik, schulische Instruktion, nach alter Rechtschreibung und Gefühl, Intuition. Die Wahl der Großschreibungen geschieht mit elf Nennungen deutlich aufgrund morphosyntaktischer Eigenschaften der Wortverbindung. Siebenmal werden grammatische Proben genannt oder durchgeführt. Sechsmal ist dies die Artikelprobe (108), es gelangt also das syntaktische Kriterium zur Anwendung, und einmal wird darauf hingewiesen, dass hier ein Affix vorliegt, das als Substantiv-Markierung diene, womit das morphosyntaktische Konzept angewendet wird (109): (108) „ Das Weitere “ (P36, P40, P42). „ Bis auf das Weitere, wie Nomen “ (P33). „ Ist für mich ein Nomen, bis auf das Weitere “ (P15). „ Artikel drin, der weggelassen wurde; sonst kommt man auf Idee, es sei weiterer Bahnbetrieb “ (P28). (109) „ Wegen/ s/ , bis auf das Weitere “ (P39). Viermal wird eine Konversion gesehen, wobei der Wechsel der Wortartkategorie nur dreimal als eindeutig angesehen wird (110); eine Versuchsperson hat jedoch auch hier Zweifel (111). (110) „ Substantivierung “ (P1). „ Substantiviert “ (P12). „ Hat genug, dass man es als Substantiv erkennen kann “ (P17). (111) „ Generell Großschreibung, ist eigentlich nicht logisch; weiter ist gar nicht Nomen; nach Präposition sollte Großschreibung sein; ist aber nicht so klar wie im Weiteren “ (P4). Zwei Versuchspersonen geben an, dass die Großschreibung logischer sei, wobei eine anfügt, dass sie es so gelernt habe. Weitere Einzelnennungen verteilen sich auf die Kategorien Semantik, Instruktion und neue Rechtschreibung. Hinter der semantischen Begründung, vgl. (112), könnte sich wiederum eine syntaktische verbergen, dies kommt jedoch aus der Äußerung nicht klar hervor: (112) „ Zeitangabe, bis auf Mittag “ (P3). Zusammenfassung: Die Wahl der Großbzw. der Kleinschreibung bei der Variante bis auf weiteres/ Weiteres folgt zwei unterschiedlichen Begründungsmustern. Die Großschreibung wird vor allem aus morphosyntaktischen Gründen gewählt: Das Lexem Weiteres wird als Substantivierung analysiert, wobei für diese Stichprobe mit der Artikelprobe eine offenbar einleuchtende Operationalisierung der Wortartbestimmung gegeben ist. Demgegenüber lässt sich bei der Präferenz der Kleinschreibung ein Begründungsmuster der Diversität beobachten, das sich aufgrund der morphologisch nicht 262 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="273"?> eindeutig bestimmbaren Wortart des Lexems weiteres fast gleichmäßig auf verschiedene andere, nicht systembezogene Begründungskategorien verteilt. Die Unsicherheit bei der Bestimmung der Wortkategorie zeigt sich besonders deutlich in den abwägenden Formulierungen in den morphosyntaktischen Begründungen, wobei nur einmal die Artikelprobe angewendet wird und ansonsten eher versucht wird, syntaktisch zu argumentieren. 7.3.4.3 das seine/ das Seine Bei den Varianten das seine/ das Seine ist die bevorzugte Form die Großschreibung. 31 Versuchspersonen haben sie der Kleinschreibung vorgezogen, die nur von 11 Versuchspersonen gewählt wurde; zwei konnten sich nicht auf eine der beiden Formen festlegen. Die Wahl der Großschreibung wird fast ausschließlich morphosyntaktisch begründet (vgl. Abb. 49). Von den 31 Versuchspersonen, welche die Großschreibung gewählt haben, geben 24 als Grund die Wortkategorie Nomen an. Davon führen 18 Versuchspersonen für diese Bestimmung eine Artikelprobe durch, vgl. typische Antworten dazu in (113) und (114); eine Versuchsperson bezieht sich dabei explizit auf eine Regel aus dem Rechtschreibunterricht (115). Eine weitere Versuchsperson wiegt ästhetische gegenüber morphosyntaktischen Gründen ab, wobei die Artikelprobe schließlich den Ausschlag für die Großschreibung gibt (116). Eine andere Versuchsperson führt eine Ergänzungsprobe oder eine Form der syntaktischen Probe durch, dies allerdings nicht ganz korrekt (117). (113) „ Das Seine “ (P6). „ Das, daher Großschreibung (P9). „ Das “ (P25). (114) „ Wegen Artikel ist es ein Nomen “ (P4). „ Mit Artikel groß “ (P28). (115) „ Habe gelernt, wenn man Artikel voranstellen kann, wird es großgeschrieben “ (P31). (116) „ Das Seine, nicht sein+Substantiv [d. h. kein Possessivpronomen, Anm. MW], aber die Kleinschreibung wäre optisch schöner “ (P34). (117) „ Ist ein Nomen; kann es ergänzen mit sein eigenes Bett “ (P3). Sechs Versuchspersonen beziehen sich lediglich auf die Wortkategorie Nomen, ohne dabei explizit eine Probe durchzuführen - ob sie die Probe innerlich durchgeführt haben, ohne zu verbalisieren, kann aber im Rahmen dieser Versuchsanordnung nicht ausgeschlossen werden. Entweder wird dabei einfach die Wortkategorie genannt, vgl. Beispiele in (118), oder es wird explizit der Wortkategorie-Wechsel thematisiert wie in (119), wo dieser Wechsel zugleich als Schwierigkeit thematisiert wird. Wie im oben genannten Fall wiegt eine Versuchsperson zwischen ästhetischen und morphosyntaktischen Überlegungen ab und findet schließlich in der Wortkategorie das ausschlaggebende Kriterium für die Großschreibung (120). 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 263 <?page no="274"?> (118) „ Das Seine ist Substantiv “ (P36). „ Ist Substantiv, hat Funktion von Substantiv “ (P32). (119) „ Substantivierung “ (P1). „ Substantivierung, hier hatte ich früher Mühe und bin nun froh “ (P16). „ Substantivierung, da finde ich, muss man konsequent sein “ (P17). (120) „ Nach langem Überlegen Großschreibung; optisch gefällt Kleinschreibung besser, wäre aber zu unsicher, beim Lesen würde mich Großschreibung stören, aber dann überlege ich, aha, das ist ein Nomen “ (P43). Wie bei der Variante recht haben/ Recht haben scheint die Artikelprobe offenbar die am leichtesten durchzuführende grammatische Probe zu sein, die auch schnell aus den deklarativen Wissensbeständen abgerufen werden kann, um orthographische Urteile bei weniger frequenten Formen zu fällen. Da der Artikel in der Konstruktion schon steht, wirken hier das morphosyntaktische und das syntaktische Kriterium relativ problemlos angewendet, was zu einer deutlichen Präferenz führt. Die letzten drei Bemerkungen deuten an, dass eine konsequente Großschreibung bei Fällen, in denen die Artikelprobe angewendet werden kann bzw. in denen der Artikel schon in der Konstruktion enthalten ist und somit die Wortkategorie in der Wahrnehmung der Versuchspersonen eindeutig nominal zu bestimmen ist, positiv wahrgenommen wird und die Urteilssicherheit bei orthographischen Zweifelsfällen erhöht. Den zweiten Rang belegt mit allerdings nur zwei Nennungen die Kategorie Visualität: eine Versuchsperson wählt die Großschreibung, weil sie besser lesbar und schneller fassbar, gemeint ist hier wohl dekodierbar, sei (121); eine andere lehnt die Kleinschreibung als „ komisch “ (P0) ab. (121) „ Verständlichkeitsgründe, lesbarer als Kleinschreibung; Kleinschreibung wäre fast wie falsch, Aussage wird schneller fassbar, wenn großgeschrieben “ (P21). Weitere einzelne Begründungen für die Großschreibung verteilen sich auf die Kategorien Semantik/ Pragmatik, wobei dahingehend argumentiert wird, dass die Großschreibung die „ Wichtigkeit “ von Seine hervorheben würde (P8), auf die Kategorie Analogie, d. h. der Unähnlichkeit zwischen zwei Formen, wobei die Großschreibung gewählt wird, weil die Kleinschreibung „ missverständlich “ und mit dem Possessivpronomen „ verwechselbar “ sei (P14), auf die Kategorie der Logik/ Korrektheit, wobei die Großschreibung schlicht „ richtiger “ scheint (P33) sowie auf die Kategorie Schule, wobei sich eine Versuchsperson erinnert, dies so gelernt zu haben (P23). 264 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="275"?> 1 1 2 1 3 1 1 1 1 1 2 1 24 5 10 15 20 25 30 Habitualisierung Intuition Logik AR Instruktion Semantik Visualität Analogie Morphologie das seine/ das Seine das seine das Seine Abb. 49: Variante das seine/ das Seine. Anzahl Begründungen pro Kategorie. N VP = 44; N Begr_total = 41, N Begr_KS = 10; N Begr_GS = 31. Die Begründungen für die Wahl der Kleinschreibung verteilen sich auf sechs Kategorien, wobei keine deutlich dominiert. Dies deutet darauf hin, dass in Fällen, wo keine sprachsystematischen Begründungen salient sind, die Begründungen sich tendenziell eher auf mehrere unterschiedliche Kategorien verteilen. So findet zum Beispiel nur eine Versuchsperson eine Begründung in der Wortkategorie: „ kein Substantiv “ (P37) - wieso es kein Substantiv sein sollte, wird jedoch nicht weiter begründet. Die häufigste Nennung betrifft aber eine unbeabsichtigte Analogie: Drei Versuchspersonen sehen bei der Großschreibung eine Verwechslungsgefahr mit dem französischen Fluss Seine und bevorzugen daher die Kleinschreibung, vgl. Beispiele in (122). Auch hier zeigt sich wieder, dass in laienlinguistischen orthographischen Konzepten Disambiguierung durchaus eine Rolle spielt. (122) „ Großschreibung erinnert mich an Seine, der Fluss (P7). „ Großschreibung sieht aus wie die Seine, der Fluss “ (P10). „ Mit Großschreibung sieht es wie die Seine aus, der Fluss; instinktiv Kleinschreibung, würde aber denken, dass es großgeschrieben wird “ (P30). Zwei Versuchspersonen wählen die Kleinschreibung aus semantisch-pragmatischen Gründen. Eine Begründung bezieht sich auf die Informationsstruktur (vgl. dazu oben die Variante auf weiteres/ Weiteres), wobei geltende gemacht wird, dass die Großschreibung auf weiteres/ Weiteres zu viel Bedeutung verleihen würde (123). Eine andere Versuchsperson sieht in dieser Form einen festen Ausdruck, was die Kleinschreibung implizieren würde (124). 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 265 <?page no="276"?> (123) „ Wenn ‚ seine ‘ plötzlich groß wäre, würde es zu viel Bedeutung einnehmen; mit Großschreibung würde ich ‚ Seine ‘ mehr betonen “ (P27). (124) „ Fester Ausdruck, spezielle Wendung “ (P10). Eine weitere Versuchsperson wählt die Kleinschreibung „ aus Gewohnheit “ (P2), eine andere aus der Intuition heraus (125), eine weitere findet die Kleinschreibung aus ästhetischen Gründen überlegen (126). (125) „ Bei Kleinschreibung fehlt Substantiv, Konstruktion ohne Substantiv; seine ist für mich kein richtiges Substantiv, würde mir das aber nicht überlegen, sondern gefühlsmäßig klein schreiben “ (P20). (126) „ Stimmiger im Wortbild “ (P41). Zusammenfassung: Bei der Variante das seine/ das Seine zeigt sich, dass einleuchtende syntaktische und morphosyntaktische Gründe die Urteilssicherheit positiv beeinflussen können, besonders wenn, wie mit der Artikelprobe, eine einfache Operationalisierung gegeben ist. Da der Artikel in der Konstruktion schon enthalten ist, können hier das syntaktische und morphosyntaktische Kriterium relativ problemlos angewendet werden, was zu einer deutlichen Präferenz der Großschreibung führt. Wie sich schon oben bei der Variante bis auf weiteres/ Weiteres zeigte, verteilen sich die Begründungen für die Kleinschreibung, bei der keine einfach handhabbaren Proben vorliegen, in verschiedene, nicht systembezogene Kategorien. 7.3.4.4 etwas anderes/ etwas Anderes Bei den Varianten etwas anderes/ Anderes sind die Präferenzen ausgeglichen. 21 Versuchspersonen haben die Kleinschreibung gewählt, 22 die reformierte Schreibung, die Großschreibung, eine Versuchsperson konnte sich für keine der beiden Formen entscheiden. Die Frage nach Groß- oder Kleinschreibung von anderes/ Anderes ist im Kern die Frage danach, ob das unbestimmte Zahladjektiv anderes hier als Substantivierung oder als Adjektiv angenommen wird. Dies bildet sich aber in den Begründungsmustern der untersuchten Stichprobe nur für die Großschreibung deutlich ab, vgl. Abb. 50. Die Begründungen für die Präferenz der Kleinschreibung verteilen sich demgegenüber auf verschiedene Kategorien, darunter vor allem Morphologie, Habitualisierung, Visualität, Instruktion, Semantik und Intuition. Im Folgenden werden die Begründungsmuster für die beiden Varianten gesondert diskutiert. 266 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="277"?> 1 1 1 2 2 3 2 5 5 1 1 2 1 3 18 5 10 15 20 25 Phonologie Analogie Logik AR Intuition Semantik Visualität Instruktion Habitualisierung Morphologie etwas anderes/ etwas Anderes etwas anderes etwas Anderes Abb. 50: Variante etwas anderes/ etwas Anderes. Anzahl Begründungen pro Kategorie. N VP = 44; N Begr_total = 48, N Begr_KS = 22; N Begr_GS = 26. Die Wahl der Großschreibung wird mit insgesamt 18 Nennungen vor allem morphosyntaktisch begründet, d. h. die Wortartkategorie ist ausschlaggebend. Elf Versuchspersonen nehmen explizit eine grammatische Probe vor, die Artikelprobe, vgl. prototypische Beispiele in (127); syntaktische Begründungen liegen hier offenbar ebenfalls nahe. Sieben verweisen lediglich auf die Kategorie Nomen/ Substantiv (128) und (129) bzw. den Wechsel der Wortkategorie deutlich markierend auf Nominalisierung/ Substantivierung (130). (127) „ Artikel davor, also GS “ (P14). (128) „ Das Andere, Nomen “ (P15). „ Das Andere “ (P18). „ Das Andere, etwas Anderes “ (P20). (129) Ist Substantiv, die Großschreibung haben wir ja noch (P28). (130) „ Etwas mit Pronomen wird großgeschrieben; darauf bin ich sensibilisiert, dann kommt ein nominalisiertes Wort “ (P42). „ Großschreiben, da Nomen, substantiviert “ (P12). „ Als Substantivierung einfach erkennbar “ (P17). Die morphosyntaktischen Begründungen zeigen aber auch Abstufungen in der Begründungssicherheit: Mit epistemischen Markierungen wie in den Beispielen unter (131) wird angezeigt, dass die Wortartkategorie nicht eindeutig bestimmbar ist bzw. dass das betreffende Wort kein prototypisches 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 267 <?page no="278"?> Exemplar der Wortkategorie Nomen ist. Eine Versuchsperson erfasst offenbar den graduellen Status der Nominalität sehr präzise und schlägt vor, dass man Abstufungen der Großschreibung einführt (132). Hier ist wahrscheinlich gemeint, dass prototypische Fälle, z. B. Konkreta, die eindeutig als Nomen kategorisiert werden können, großgeschrieben werden, die Nominalisierung mittelgroß und alle weiteren Formen klein. (131) „ Sieht wie Nomen aus “ (P33). „ Bringe es mit Substantiv in Verbindung “ (P11). „ Hier würde ich zögern, aber für die Großschreibung entscheiden, da es substantiviert ist “ (P1). (132) „ Ich schlage vor, dass man Abstufungen von Großschreibungen hat (kleinmittel-groß) “ (P44). Weitaus weniger Begründungen entfallen auf weitere Kategorien: schulische Instruktion (drei Nennungen), Semantik (2 Nennungen) sowie je eine Nennung für Phonologie bzw. Suprasegmentalia, Intuition und Visualität. Bei den semantischen Begründungen zeigt sich wiederum, dass es bei laienlinguistischen Argumentationen sehr schwierig ist, zwischen morphosyntaktischen und semantischen Argumenten zu trennen. So argumentiert eine Versuchsperson für die Großschreibung einerseits grammatisch mit einer Form der Ersatzprobe (133), wenn auch keine korrekte, andererseits semantisch, indem die Wendung mit einem ähnlichen Nomen ersetzt wird. Das zweite semantische Argument, vgl. (134), bezieht sich auf die Differenz Gegenständlichkeit versus Handlung. Diese Begründung erstaunt auf den ersten Blick, deutet sie doch an, dass nur Konkreta großgeschrieben werden sollten. Dies darf aber nicht als laienlinguistisches orthographisches Konzept für eine Regelung der Groß-/ Kleinschreibung nach Konkreta/ Abstrakta missverstanden werden, sondern ist wohl eher eine Faustregel für schwierige Formen, die sich an prototypischen Fällen der Großschreibungen orientiert, wie sie in der Unterstufe vermittelt werden: Man schreibt groß, was man anfassen, riechen, schmecken oder ertasten kann. Vgl. dazu auch das wortsemantische Kriterium, das in 4.1.2 ausgeführt wurde. (133) „ Etwas Anderes, andere Tätigkeit “ (P3). (134) „ Etwas Gegenständliches, keine Handlung “ (P44). (135) „ Etwas Anderes [VP betont A] “ (P13). Die phonologische Begründung betrifft die Suprasegmentalia und geht offenbar davon aus, dass Betontes im Satz großgeschrieben wird. Dahinter dürfte sich wiederum dasjenige Laienkonzept verbergen, das besagt, dass Wichtiges im Satz großgeschrieben wird - was wichtig ist, zeigt sich in der Wahrnehmung dieser Versuchsperson an der Betonung (135). Bei den Begründungen für die Wahl der Kleinschreibung zeigt sich, wie eingangs erwähnt, kein ähnlich deutliches Muster, was darauf hinweist, dass für Laien die Kleinschreibung generell schwieriger systembezogen zu 268 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="279"?> begründen ist. Die zwei am häufigsten genannten Kategorien sind Morphosyntax sowie Habitualisierung (je 5 Nennungen). Innerhalb der Kategorie Morphosyntax wird von drei Versuchspersonen auf die Wortkategorie verwiesen: Zwei davon sehen hier ein Adjektiv (P10, P25), eine gibt einfach an, dass es sich hier nicht um ein Substantiv handle (P39). Zwei Versuchspersonen führen eine Form der grammatischen Probe durch, vgl. (136) und (137), wobei die zweite Probe nicht ganz schlüssig ist: (136) „ Der/ die/ das kann nicht vorangestellt werden “ (P26). (137) „ Kein Substantiv, das Andere “ (P37). Ebenso häufig wie die Morphosyntax wird aber auch auf die Gewohnheit und Vertrautheit mit dieser Form verwiesen (Habitualisierung), vgl. (138), (139), (140). Interessant ist auch hier wieder, dass der Gegensatz einer logischeren Form (die Großschreibung) versus eine vertrautere Form (die Kleinschreibung) konstruiert wird. Dies dürfte wiederum auf die bei den Versuchspersonen gut repräsentierte Artikelprobe zurückzuführen sein. In der Begründung (140) zeigt sich, dass bei schwierigen Fällen in der Groß-/ Kleinschreibung, wo systembezogene Begründungen eher schwerfallen, gerne auf Globallösungen zurückgegriffen wird, indem einfach alles entweder Groß- oder kleingeschrieben wird, was sich nicht ganz klar bestimmen lässt. (138) „ Gewohnheit “ (P2, P41). „ Die Kleinschreibung ist mir vertrauter “ (P27). (139) „ Ist zwar nicht logisch, aber mache es immer so “ (P24). (140) „ Bin hier unsicher, eine Zeitlang habe ich alles großgeschrieben, jetzt wieder alles klein “ (P32). Mit der Kategorie Habitualisierung zusammenhängend sind die Kategorien schulische Instruktion sowie Intuition. Diese werden je zweimal als Grund für die Präferenz der Kleinschreibung genannt, vgl. (141), (142), wobei sich eine Versuchsperson explizit an eine musterhafte Reihe erinnert. (141) „ Habe es so gelernt “ (P31). (142) „ Anderes, übriges schreibt man klein, weil ich es mir mal so gemerkt habe “ (P19). Drei Versuchspersonen bevorzugen die Kleinschreibung aus visuellen Gründen: eine Versuchsperson findet, die Großschreibung wirke „ komisch “ (P0), zwei andere überzeugt die Kleinschreibung aus ästhetischen Gründen: „„ KS ist schöner “ (P7) und „ sieht normaler aus “ (P32) aus. Weitere einzelne Nennungen entfallen auf die unspezifischen Kategorien Logik sowie Analogie, wobei letztere ( „ gibt Regel, wie etwas großes “ , P31) eine Musterbildung beinhaltet. Zusammenfassung: Bei der Variante etwas anderes/ etwas Anderes wird deutlich, dass morphosyntaktische Begründungen vor allem für die Großschreibung herangezogen werden; die Artikelprobe für die Großschreibung 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 269 <?page no="280"?> als Anwendung des syntaktischen Kriteriums ist offenbar gut repräsentiert und scheint den Versuchspersonen einleuchtend. Allerdings zeigt sich auch bei einigen Versuchspersonen eine gewisse Unsicherheit gegenüber der Bestimmung der Wortkategorie, die sich in epistemischen Markierungen manifestiert. Dem eindeutig morphosyntaktisch dominierten Begründungsmuster für die Großschreibung steht für die Kleinschreibung ein auf mehrere Kategorien verteiltes Begründungsmuster gegenüber. Dabei zeigt sich neben morphosyntaktischen Argumenten eine ausgeprägte Habitualisierung, die eng mit der Orthographie-Instruktion in der Schule zusammenhängen dürfte. Der Gegensatz Zahladjektiv versus nominalisiertes Zahladjektiv wird somit nur in den Begründungen der Großschreibungen abgebildet. 7.3.5 Zusammen- und Getrenntschreibung Die Varianten im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung sind (vgl. dazu 4.1.3): a) sachbedingt, vgl. Kapitel 2.4, indem etwa feste Verbindungen von Präpositionen mit Nomen im deutschen einer Univerbierungstendenz unterliegen, indem die Wortgruppe als Einzellexem re-analysiert wird; b) konzeptionsbedingt, wenn syntaktische und morphologische Kriterien, nicht zu eindeutigen Entscheidungen führen können. Es gilt in diesem Teil der Untersuchung folglich zu prüfen, ob die Versuchspersonen bei a) die Univerbierungstendenz und bei b) die unterschiedlichen morphologischen oder syntaktischen Analysemöglichkeiten repräsentiert haben. 7.3.5.1 kaputtmachen/ kaputt machen Bei der Variante kaputtmachen/ kaputt machen ist die Varianz konzeptionsbedingt (vgl. 4.1.3), indem der syntaktische Status von kaputt unklar ist: Entweder wird er als Verbteil analysiert oder als Adverbiale. Es wurden vier Konstruktionen abgefragt: eine Konstruktion mit Infinitiv, eine mit zu+Infinitiv, mit Partizip II sowie mit einer finiten Form (Tab. 20). Es liegt in den gewählten Beispielsätzen keine idiomatisierte Bedeutung vor, was in der alten Rechtschreibung zur Zusammenschreibung geführt hätte. Wie oben dargelegt, wählen die Versuchspersonen insgesamt in allen vier Konstruktionen zusammengerechnet 146-mal die Getrenntschreibung, demgegenüber aber nur 27-mal die Zusammenschreibung; 3-mal wurde keine Wahl getroffen. Beim Infinitiv (37), beim Partizip II (38) sowie bei der finiten Form ist die Präferenz für die Getrenntschreibung am ausgeprägtesten. Einzig für die Stellungsvariante mit zu+Infinitiv ist die Präferenz geringfügig weniger ausgeprägt, nämlich 33-mal Getrenntschreibung versus 10-mal die Zusammenschreibung. 270 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="281"?> Tab. 20: Abgefragte Konstruktionen der Varianten kaputtmachen/ kaputt machen. Infinitiv Sie wollten die Leiter kaputtmachen. Sie wollten die Leiter kaputt machen. zu+Infinitiv Sie hatten nicht vor, das Auto kaputtzumachen. Sie hatten nicht vor, das Auto kaputt zu machen. Partizip II Die Kinder haben das Spielzeug nicht absichtlich kaputt gemacht. Die Kinder haben das Spielzeug nicht absichtlich kaputtgemacht. finites Verb in der Endstellung Peter will verhindern, dass sein kleiner Bruder das Auto kaputtmacht. Peter will verhindern, dass sein kleiner Bruder das Auto kaputt macht. 31 Versuchspersonen haben für alle vier Stellungsvarianten die Präferenz behalten, davon haben nur zwei durchgehend eine Präferenz für die Zusammenschreibung, demgegenüber haben 29 eine durchgehende Präferenz für die Getrenntschreibung. Letztere ist also eindeutig bevorzugt. Die Präferenz gewechselt haben 13 Versuchspersonen. Von diesen 13 Versuchspersonen haben 8 bei der Konstruktion mit zu+Infinitiv die Zusammenschreibung gewählt, davon haben 5 Versuchspersonen nur bei dieser Konstruktion die Zusammenschreibung gewählt und bei allen anderen Konstruktionen die Getrenntschreibung. Obwohl die Zahlen hier gering sind, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass die zu-+Infinitiv-Konstruktion für knapp die Hälfte aller Fälle im Kern der Unsicherheit bei der Variante kaputtmachen/ kaputt machen steht. Dreimal werden als Grund explizit die zu-Partikel genannt (P39, P28, P43), wobei eine Versuchsperson zusätzlich die Wortlänge nennt sowie generell angibt, bei dieser Form unsicher zu sein (P43). Eine Versuchsperson wählt hier die Zusammenschreibung, weil sie vermutet, dass dies nach der alten Rechtschreibung auch so geschrieben wurde (P5). Eine weitere kann keinen Grund angeben für den Wechsel zur Zusammenschreibung bei zu+Infinitiv (P23). Sowohl die Wahl der Zusammenals auch der Getrenntschreibung scheint auf eine Koppelung von morphosyntaktischen und visuellen Faktoren zurückzuführen zu sein (vgl. die Übersichtsdarstellung in Abb. 51). Im Folgenden werden nun die Begründungsmuster für die Zusammenbzw. Getrenntschreibung dargelegt. Auch hier sind die Begründungen nicht immer trennscharf in Kategorien einteilbar. Da die Begründungen sich zwischen den vier Konstruktionen nur geringfügig unterscheiden, werden sie für die Diskussion zusammengezogen; wo Abweichungen vorliegen, werden sie extra dargestellt. Die Zahlen beziehen sich auf die addierten Begründungen für alle vier Beispielsätze. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 271 <?page no="282"?> Für die Wahl der Zusammenschreibung bei der Variante kaputtmachen/ kaputt machen wurden in allen vier Beispielssätzen zusammengenommen total 29 Begründungen angeführt. Die Begründungen betreffen vor allem die Morphologie (13 Nennungen), die visuelle Wahrnehmung (6 Nennungen) sowie die Phonologie bzw. die Suprasegmentalia (5 Nennungen). Die Antworten für morphosyntaktische Begründungen mit mehr oder minder einleuchtender Nennung von Wortartkategorie in Bsp. (143) oder eher allgemein wie in Bsp. (144), womit gemeint ist, dass hier nicht ein Syntagma vorliegt, sondern dass kaputt+machen als lexikalisierte Einheit re-analysiert wird. Bei der zu+Infinitiv-Konstruktion wird noch zusätzlich die Partikel zu genannt (vgl. Bsp. (145), dies sind beides Versuchspersonen, die für die zu +Infinitiv-Konstruktion die Präferenz gewechselt haben, vgl. oben. Bei diesen Versuchspersonen scheint ein subjektives orthographisches Konzept vorzuliegen, das besagt, dass zwei lexikalische Elemente, zwischen denen die Infinitivpartikel zu steht, zusammengeschrieben werden. (143) „ Ist kein Nomen “ (P8). „ Ein Verb “ (P32). (144) „ Einheit “ (P30). (145) „ Mit Infinitivpartikel ist die Zusammenschreibung ok “ (P28). „ Ich weiss, dass bei zu+Inf. zusammengeschrieben wird “ (P 43). 1 1 5 1 2 13 6 3 4 5 7 3 7 12 12 16 46 55 10 20 30 40 50 60 70 Einfachheit NR Semantik Weiteres Phonologie AR Logik Instruktion Habitualisierung Morpho-Syntax Visualität kaputtmachen/ kaputt machen Total ZS Total GetrS Abb. 51: Variante kaputtmachen/ kaputt machen. Anzahl Begründungen pro Kategorie für alle Konstruktionsvarianten zusammengerechnet. N VP = 44; N Begr_total = 199, N Begr_GetrS = 170; N Begr_ZS = 29. ZS = Zusammenschreibung, GetrS = Getrenntschreibung. 272 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="283"?> Die Versuchspersonen, die mit dem visuellen Eindruck argumentieren, empfinden die Zusammenschreibung als „ besser “ (P8) bzw. „ flüssiger “ (P6). Auch die Wortlänge kann ein Faktor sein für die Wahl der Zusammen- oder Getrenntschreibung. So gibt eine Versuchsperson an, die für die zu+Infinitiv- Konstruktion die Präferenz gewechselt hat, dass sie nach Wortlänge entscheide, vgl. (146). (146) „ Bei kurzen Wörtern eher Zusammenschreibung, bei langen zu lang, hier ist es ein Grenzfall “ (P43). (147) „ Satzfluss “ (P34). „ Man sagt es im Fluss als ein Wort “ (P42). (148) „ Sie wollen es kaputt machen, zerstören. “ (P3). Begründungen aus dem Bereich der Phonologie bzw. Suprasegmentalia beziehen sich darauf, ob zwischen den beiden syntaktischen Wörtern kaputt und machen eine Pause auftritt oder nicht, vgl. (147). Dabei handelt es sich um einen Zirkelschluss. Sprechpausen treten natürlich dann auf, wenn eine Wortgrenze supponiert wird (vgl. 4.1.3). Da die Sätze nicht vorgesprochen wurden, verweist diese Argumentation nur darauf, dass die Versuchspersonen hier selbst in der Aussprache eine Wortgrenze setzen und daher von zwei bzw. bei der Form mit dem zu+Infinitiv von drei Lexemen ausgehen. Weitere einzelne Begründungen beziehen sich auf die Gewohnheit, die Orientierung an der alten Rechtschreibung sowie auf die Semantik. So nimmt eine Versuchsperson als Grund für die Zusammenschreibung der Infinitiv- Konstruktion eine Form der semantischen Ersatzprobe an, vgl. (148). Es zeigt sich hier wiederum, dass bei Laienbegründungen nicht immer trennscharf zwischen morphosyntaktischen und semantischen Begründungen unterschieden werden kann, funktioniert diese Probe doch im Grunde auch als Ersatzprobe, indem mit einem Lexem aus der gleichen Wortkategorie ersetzt wird und somit darauf geschlossen werden kann, dass es sich hier um eine Univerbierung handelt. Für die Wahl der Getrenntschreibung wurden für alle vier Konstruktionen zusammen total 170 Begründungen genannt. Die häufigsten Begründungen für die Wahl der Getrenntschreibung sind im Visuellen zu suchen, mit in allen vier Beispielssätzen zusammengerechnet 55 Nennungen, wobei 8 Nennungen aufgrund der Ästhetik, 23 aufgrund der Leserlichkeit, 9 Nennungen aufgrund einer ästhetischen Ablehnung der Zusammenschreibung sowie 15 Nennungen aufgrund einer Ablehnung der Zusammenschreibung aus Gründen der Leserlichkeit erfolgen. Die Leserlichkeit spielte bei der Präferenz der Zusammenschreibung, wie oben dargelegt, mit 6 Nennungen eine geringere Rolle. Versuchspersonen, welche die Getrenntschreibung ästhetisch vorteilhafter finden, bezeichnen sie als „ schöner “ (P33) oder als „ besser verteilt “ (P38). Versuchspersonen, welche die Getrenntschreibung als leserlicher bezeichnen, finden sie einfach „ besser lesbar “ (P21), „ übersichtlicher “ (P36), „ Schriftbild 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 273 <?page no="284"?> übersichtlicher “ (P40); als „ einfacher zum Lesen und Verstehen “ (P4). Zwei Versuchspersonen finden die Tendenz der deutschen Sprache zu langen Wörtern (Kompositionsprinzip) eher negativ, vgl. Beispiel (149): (149) „ Wir haben im Deutschen schon genug Schlangenwörter. Getrennt geschrieben wäre es verständlicher “ (P28). „ Klarer; im Deutschen Tendenz zu langen Wörtern, kurz ist klarer “ (P37). Damit gehen die Kontra-Begründungen einher, d. h. jene Begründungen, welche die Zusammenschreibung aufgrund der Leserlichkeit oder des ästhetischen Eindrucks ablehnen. Die Zusammenschreibung wird als „ zu lange “ (P36, P33) bzw. als ein „ zu langes Wort “ (P38) betrachtet. Unter ästhetischem Gesichtspunkt erscheint sie „ komisch “ (P10) bzw. mit starker Ablehnung als „ heftig “ (P29). Für alle vier Beispielssätze zusammengerechnet wurden 43-mal morphosyntaktische Gründe genannt, das sind zwischen 8- und 13-mal pro Beispielsatz. Im Kern der Begründungen liegt die Frage danach, ob es sich hier um ein Syntagma oder um ein re-analysiertes Verb handelt. Dass dies einzelne Versuchspersonen Kriterien teilweise gegeneinander abwiegen, vgl. die Beispiele in (150), sowie andere Versuchspersonen die einzelnen Komponenten oder die Wortartkategorie nennen, vgl. Beispiele in (151), deutet darauf hin, dass das der Schreibung zugrundeliegende morphologische Problem repräsentiert ist. (150) „ Sind für mich zwei Wörter “ (P2). „ Adjektiv und Verb sind zwei Wörter; man könnte hier auch sagen, dass es ein Verb ist (P3). „ Zwei Sachen sind optisch getrennt, man spricht es zwar zusammen aus (P27). (151) „ Kaputt ist ein eigenständiges Wort “ (P13). „ Adjektive + Verb “ (P14). „ Machen ist für mich ein einzelnes Wort “ (P19). „ Kaputt machen ist kein Verb “ (P20). (152) „ Wie haben sie es gemacht? Kaputt, also Adjektiv also Getrenntschreibung “ (P18). (153) „ Wie ist etwas? Kaputt, dann Getrenntschreibung; Gewicht auf Verb? Dann Zusammenschreibung “ (P44). Grammatische Proben hingegen scheinen in diesem Fall wenig präsent, sie werden ja auch im Rechtschreibunterricht für diese Fälle kaum eingesetzt. Nur eine Versuchsperson nimmt eine grammatische Probe vor, vgl. (152). Die Probe besteht hier wohl darin, dass man die Komponenten getrennt abfragen kann, was auf die Getrenntschreibung hindeuten soll. 71 In diese Richtung geht denn auch die Argumentation der zweiten Versuchsperson, die eine gram- 71 Allerdings könnte man hier genauso gut zurückfragen: Was haben sie gemacht? - Etwas kaputt gemacht. 274 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="285"?> matische Probe vornimmt, sich allerdings beim Partizip II nicht auf eine Präferenz festlegen konnte, vgl. (153). Weitere Begründungen für die Wahl der Zusammenschreibungen liegen in der Gewohnheit bzw. Vertrautheit mit der Getrenntschreibung (16 Nennungen in allen vier Beispielssätzen zusammen). Hier zeigt sich deutlich, dass die Wahl der Zusammen- und Getrenntschreibung mangels fehlender einfacher Proben mit Globallösungen individuell habitualisiert wird, vgl. dazu die Beispiele in (154): (154) „ Schreibe in Zweifelsfällen eher getrennt “ (P12). „ Bin gewohnt “ (P15). „ Konsequent Getrenntschreibung “ (P16). „ Schreibe grundsätzlich zusammengesetzte Verben getrennt “ (P21). Unspezifische Angaben zur Logik oder Korrektheit werden 12-mal für alle vier Beispielssätze zusammen genannt, vgl. (155), eine Versuchsperson findet in allen Beispielen, außer der zu+Infinitiv-Konstruktion, die Getrenntschreibung „ einfacher “ (P7): (155) „ Richtiger “ (P9). „ Sieht richtiger aus “ (P29). „ Getrenntschreibung macht mehr Sinn, Zusammenschreibung geht nicht (P11). 12-mal wird auf den Deutschunterricht verwiesen, wobei hier besonders auffällt, dass diese Begründung oft genannt ist, wenn keine sprachsystematischen Gründe genannt werden können. 7-mal (2 Versuchspersonen in fast allen Beispielen, außer der zu+Infinitiv-Konstruktion) ein Verweisen auf die alte Rechtschreibung: „ Hoffe, dass es nach der alten Rechtschreibung so richtig war “ (P5) und „ Ist, glaube ich, alte Rechtschreibung, die ich gelernt habe und gewohnt bin “ (P15). Eine Versuchsperson gibt für alle vier Beispielsätze die neue Rechtschreibung als Grund an, wobei deutlich wird, dass dieser Versuchsperson die grundlegenden Prinzipien der Rechtschreibreform bekannt sind, vgl. (157). Damit einhergehen dürften die Begründungen zweier Versuchspersonen, welche die Getrenntschreibung als „ moderner “ (P6, P1) bezeichnen, was hier aber unter weitere Begründungen kategorisiert wird, da aus dieser Aussage das Bezugssystem für altmodisch-modern nicht mit Sicherheit zu erschließen ist. (156) „ Habe ich gelernt “ (P15). „ Weiss nicht warum, wahrscheinlich auch so gelernt “ (P19). „ Zusammenschreibung stört mich, vielleicht weil ich es so gelernt habe (P26). (157) „ In der neuen Rechtschreibung Tendenz, Wörter zu trennen “ (P13). Auch bei der Getrenntschreibung werden semantische (158) bzw. pragmatische Gründe (159) genannt (zusammengerechnet für alle vier Beispielssätze 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 275 <?page no="286"?> fünf Mal). Einerseits wird das semantische Merkmal Belebtheit [+/ - ] angeführt. Obwohl es durchaus Sprachsysteme, wie etwa das russische, gibt, die Belebtheit als grammatische Kategorie aufweisen (Glück 2000: 103), ist eine solche Begründung im Kontext der deutschen Orthographie unbekannt. Andererseits wird auf die Informationsstruktur verwiesen, insofern als die Wichtigkeit einer einzelnen Komponente dadurch hervorgehoben wird, dass sie getrennt geschrieben werden solle. Dieses Argument tauchte schon oben bei der Groß- und Kleinschreibung auf und es überrascht einigermaßen, dass es auch bei der Getrennt- und Zusammenschreibung wieder genannt wird, wenn auch nur von einer Person. (158) „ Etw. ist kaputt, aber nicht jemand ist kaputt; kein Infinitiv “ (P7). (159) „ Kaputt ist so wichtig, zusammengehängt nimmt Wichtigkeit “ (P17). Im Gegensatz zur Zusammenschreibung wird in der Kategorie Suprasegmentalia vor allem die Betonung und nicht die Phrasierung genannt, allerdings nur von zwei Versuchspersonen in allen Beispielen, außer dem Partizip II (insgesamt 3 Nennungen): „ Betonung liegt auf kaputt “ (P30) und einfach „ Betonung “ (P43). Obwohl hier die Anzahl der Nennungen sehr gering ist, könne an dieser Stelle vermutet werden, dass die Betonung für die Getrenntschreibung, aber die Phrasierung für die Zusammenschreibung zu sprechen scheint. Dass sich dies durchaus nicht ausschließen muss, sieht man auch an den oben genannten Begründungen unter (150), die argumentieren, dass man es zwar zusammen ausspreche, es sich aber trotzdem (morphologisch) um zwei Dinge handle. Abschließend sei in (160) noch jene Begründung genannt, die einmal mehr zeigt, wie groß das Spektrum der Begründungen ist und welche Zusammenhänge sich in individuellen orthographischen Konzepten zeigen können; hier geht es um die Markierung von Umgangssprachlichkeit. (160) „ Kaputt sehr umgangssprachlich, auch daher alleine und nicht angehängt “ (P17). Zusammenfassung: Bei der Variante kaputtmachen/ kaputt machen ist bei fast allen Versuchspersonen der morphologische Zweifelsfall (Syntagma versus re-analysiertes Verb) repräsentiert, was sich mehr oder minder explizit in den Formulierungen ausdrückt. Damit decken sich Laienbegründungen mit dem Fachdiskurs. Sowohl die Wahl der Zusammenals auch der Getrenntschreibung scheint auf eine Koppelung von morphologischen und visuellen Begründungen zurückzuführen zu sein. Allerdings ist bei der weniger präferierten Zusammenschreibung die Anzahl Nennungen pro Kategorie folgerichtig weniger häufig. Doch zeigt dies, dass die Wahl der Getrennt- oder Zusammenschreibung hauptsächlich auf eine unterschiedliche morphologische Analyse sowie auf einen unterschiedlich wahrgenommenen visuellen Eindruck zurückzuführen ist. Die deutliche Präferenz für die Getrenntschreibung wird von weiteren normorientierten Begründungen (schulische 276 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="287"?> Instruktion, Orientierung an Regeln der alten bzw. der neuen Rechtschreibung) sowie habitualisierter Globallösung (hier Getrenntschreibung bei komplexen Formen) gestützt. 7.3.5.2 haltmachen/ Halt machen Bei der Variante haltmachen/ Halt handelt es sich, wie in 4.1.3 dargelegt, um eine sach- und konzeptionsbedingte Variante, da der morphosyntaktische und syntaktische Status der rückgebildeten Form HALT nicht eindeutig geklärt werden kann. Die Verbindung ist fest, so dass sie nicht durch anderes lexikalisches Material unterbrochen werden kann, und auf ein einheitliches verbales Flexionsparadigma zurückzuführen, beides Indizien für eine Inkorporation. Allerdings ist der erste Bestandteil erweiterbar (einen Halt machen, einen langen Halt machen), d. h. er verfügt über die Möglichkeiten der Projektion, was ein Hinweis auf eine eigenständiges syntaktisches Wort wäre. Folgende Beispielsätze wurden zur Beurteilung vorgelegt: Tab. 21: Abgefragte Konstruktionen der Varianten haltmachen/ Halt machen. Infinitiv Sie wollten kurz vor der Grenze haltmachen. Sie wollten kurz vor der Grenze Halt machen. zu+ Infinitiv Ohne haltzumachen, fuhren sie ans Mittelmeer. Ohne Halt zu machen, fuhren sie ans Mittelmeer. Partizip II Sie hatten auf der Passhöhe haltgemacht. Sie hatten auf der Passhöhe Halt gemacht. Finites Verb in der Endstellung Er sagt, dass er auf der Reise jeweils gerne haltmacht. Er sagt, dass er auf der Reise jeweils gerne Halt macht. Die Präferenzen bei dieser Form liegen, wie in 5.2.4.1 schon dargestellt, eindeutig bei der Getrenntmit Großschreibung. Über die vier Konstruktionen hinweg bevorzugten die Versuchspersonen in 91 % der Fälle die Getrenntschreibung und nur 9 % die Zusammenschreibung (N = 168). Am deutlichsten ist diese Präferenz bei der finiten Konstruktion, bei der mit 41: 3 die Wahl der Getrenntschreibung überwiegt. Bei der Infinitiv-Konstruktion und bei der zu+Infinitiv-Konstruktion wird mit 37: 5 bzw. 37: 3 und bei der Partizip-Konstruktion mit 38: 4 die Getrenntschreibung aber kaum weniger bevorzugt. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 277 <?page no="288"?> 1 3 1 5 6 4 5 8 8 12 21 18 69 0 20 40 60 80 Alte Rechtschreibung Instruktion Habitualisierung Weiteres Logik Visualität Semantik Morphosyntax haltmachen/ Halt machen Total ZS Total GetrS Abb. 52: Variante haltmachen/ Haltmachen. Anzahl Begründungen pro Kategorie zusammengerechnet für alle vier Konstruktionsvarianten. Einzelnennung und andere Begründungen wurden zusammengefasst. N VP = 44; N Begr_total = 160, N Begr_GetrS = 146; N Begr_ZS = 13. ZS = Zusammenschreibung, GetrS = Getrenntschreibung. Mit 75 Nennungen sind die morphosyntaktischen Begründungen am häufigsten, davon wird 69-mal die Getrenntschreibung und nur 6-mal die Zusammenschreibung begründet. Bei den morphosyntaktischen Begründungen für die Getrenntschreibung wird in 11 Fällen auf eine Form der Artikelprobe zurückgegriffen, mit der der nominale Status von HALT bestimmt und somit die Getrenntschreibung begründet wird, z. B. in Beispiel (161) als eine aus dem Satz gelöste Artikelprobe, in Beispiel (162) eine syntaktisch eingepasste. Weitere Proben sind Frageproben, wie in (163), bei denen wahrscheinlich geprüft werden soll, ob es sich bei HALT um den Kern einer Nominalphrase handelt: (161) „ der Halt, als Nomen “ (P4) (162) „ einen Halt machen, einlegen “ (P3) (163) „ Man kann mit was zurückfragen; etwas, was sie machen wollen “ (P27) Die übrigen morphosyntaktischen Begründungen für die Getrenntschreibung sind Feststellungen, dass es sich hierbei um zwei Wörter handle, aber ohne weitergehende Begründung. Bei der Zusammenschreibung sind morphosyntaktische Begründungen meist einfach die Feststellung, dass es sich hierbei um ein Wort bzw. ein Verb handelt. Eine Versuchsperson differenziert zwischen einer Konstruktion mit 278 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="289"?> Artikel, die getrennt geschrieben werden müsste, wahrscheinlich weil dann der nominale Status von HALT durch die Artikelprobe deutlich wird, von einer artikellosen Konstruktion wie der vorliegenden, die getrennt geschrieben werden müsse (164). Eine andere sieht offenbar bei zu+Infinitiv-Konstruktion im Partikel zu eine Art Verbindungsglied und folglich ein morphologisches Indiz, dass hier zusammengeschrieben werden muss (165). (164) „ Das ist ein Verb und ein Wort; wenn es heissen würde ‚ einen Halt machen ‘ dann wäre es getrennt geschrieben “ (P32) (165) „ Wenn zu-Partikel ist es Verbindung, die zusammengeschrieben wird, das ist logisch “ (P31) Die semantischen Begründungen - die zweithäufigste Kategorie mit 18 Nennungen für die Getrenntschreibung und 5 für die Zusammenschreibung - gehen für beide Schreibenweisen in die unterschiedlichsten Richtungen. Eine Versuchsperson differenziert etwa im Wahlverhalten, ob im vorliegenden Satz ihrer Wahrnehmung nach eher die Tätigkeit des Anhaltens (166) oder der Halt (167) im Vordergrund steht, ersteres impliziert die Zusammenschreibung, da Verben Tätigkeiten ausdrücken und das Nomen HALT somit ins Verb inkorporiert wird; zweiteres impliziert die Getrenntschreibung, weil der nominale Status gewahrt werden muss. Dass die Frage nach der Zusammen- oder Getrenntschreibung im Grunde die Frage nach dem Status der Wortkategorie von HALT ist, wird auch in Beispiel (168) deutlich, in dem geprüft wird, ob das HALT semantisch gesehen noch zu den Nomen gezählt werden kann. In Beispiel (169) steht die Zusammen- oder Getrenntschreibung fast schon in einem indexikalischen Verhältnis zur konkreten Bedeutung der Wortverbindung, indem die Versuchsperson angibt, dass bei längerem Halt getrennt und bei kürzerem Halt zusammengeschrieben werden soll. (166) „ Die Tätigkeit steht im Vordergrund, daher die Zusammenschreibung “ (P30) (167) „ Der Halt steht im Vordergrund, daher die Getrenntschreibung “ (P30) (168) „‚ Halt ‘ ist begrifflich, substantiell “ (P28) (169) „ Zusammenschreiben, wenn schnell haltgemacht und dann weitergefahren wird; wenn es getrennt geschrieben wird, ist es ein längerer Halt “ (P38) Die dritthäufigste Begründung betrifft die visuelle Wahrnehmung, dabei überzeugt vor allem die Getrenntschreibung, die als einfacher, schöner und besser wahrgenommen wird, vgl. (170), (171), (172). Die Zusammenschreibung wird demgegenüber von zwei Versuchspersonen als „ komisch “ (P9, P10) betrachtet. (170) „ Getrennt geschrieben vereinfacht es das Lesen, für 1. Klässler und auch für mich selbst “ (P4) (171) „ Getrennt geschrieben sieht es schöner aus “ (P14) (172) „ Getrennt geschrieben sieht besser aus, sympathischer “ (P6) 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 279 <?page no="290"?> Als weitere Gründe, v. a. für die Wahl der Getrenntschreibung werden unspezifiziert Logik, Habitualisierungen sowie die Orientierung an der alten Rechtschreibung herangezogen. Zusammenfassung: Bei der Variante haltmachen/ Halt machen gründet die deutliche Präferenz für die Getrenntschreibung in morphosyntaktischen Gründen. Die morphosyntaktische Argumentation betrifft v. a. die Wortkategorie von HALT, die meist mit einer Form der Artikelprobe als nominal bestimmt wird, was für die Versuchspersonen die Getrenntschreibung impliziert. Am zweiter Stelle folgen die semantischen Begründungen, die für beide Schreibungen sehr unterschiedlich sind. Für die Getrenntschreibung fällt wiederum auf, dass semantische Begründungen herangezogen werden, um eine wortkategorielle Bestimmung von HALT als Nomen vorzunehmen. Es hat sich also gezeigt, dass die Versuchspersonen bei dieser Varianten keine Inkorporation wahrnehmen, da der erste Bestandteil entweder aus morphosyntaktischen oder aus semantischen Gründen als Nomen wahrgenommen wird. Die Präferenz für die Getrenntschreibung wird - dies ist die dritthäufigste Kategorie - von einem überlegenen visuellen Eindruck gestützt. 7.3.5.3 kennenlernen/ kennen lernen: Visuelle Wahrnehmung versus Morphosyntax Bei der Variante kennenlernen/ kennen lernen handelt es sich ebenfalls um eine konzeptionsbedingte Varianz, bei der genauso die Frage nach Syntagma versus re-analysiertes Verb im Zentrum steht (vgl. 4.1.3). In der alten Rechtschreibung war die Zusammenschreibung vorgeschrieben, da in der Zusammensetzung eine neue, idiomatisierte Bedeutung vorliegt (vgl. etwa als Gegensatz dazu singen lernen). Auch bei dieser Variante wurden vier Konstruktionen abgefragt: eine Form mit Infinitiv, eine Form mit zu+Infinitiv und eine mit Partizip-II sowie eine finite Form in Verbendstellung (Tab. 22). Tab. 22. Abgefragte Konstruktionen der Varianten kennenlernen/ kennen lernen. Infinitiv Sie möchte ihn näher kennen lernen. Sie möchte ihn näher kennenlernen. zu+Infinitiv Sie hoffte, ihn näher kennenzulernen. Sie hoffte, ihn näher kennen zu lernen. Partizip II Sie hatte ihn an einem Konzert kennengelernt. Sie hatte ihn an einem Konzert kennen gelernt. Finites Verb in der Endstellung Er hofft, dass er sie in den Ferien besser kennen lernt. Er hofft, dass er sie in den Ferien besser kennenlernt. 280 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="291"?> Es wurden aus allen vier Konstruktionen zusammengerechnet insgesamt 80mal die Zusammenschreibung und 89-mal die Getrenntschreibung gewählt. In sechs Fällen wurde keine Entscheidung getroffen. Diese leichte Präferenz für die Getrenntschreibung gilt allerdings nur für die Konstruktion mit zu +Infinitiv sowie etwas weniger deutlich für die Konstruktion mit Partizip II. Bei der reinen Infinitiv-Konstruktion (21: 21) sowie in der finiten Form (23: 21) ist keine bis fast keine Tendenz auszumachen: beide Formen werden gleichermaßen gewählt. Bei den Formen zu+Infinitiv wird die Getrenntschreibung etwas (25: 17) sowie bei Partizip II (22: 19) geringfügig bevorzugt. Ganz anders als bei Ossner (2011: 92), in dessen Studie 61 % der 245 befragten Oberstufenschüler die Zusammenschreibung als richtig ausgewählt hatten. Allerdings ist für diese Studie nicht bekannt, in welcher Stellung abgefragt wurde. Außerdem konnten die Schüler und Schülerinnen nur bei einem vorgegebenen Satz eine Form ankreuzen, die sie für richtig hielten; es wurde ihnen somit die Möglichkeit benommen, Varianten zuzulassen oder je nach Konstruktion die Präferenz zu wechseln. Verschiedene Konstruktionen können jedoch unterschiedliche Einschätzungen nach sich ziehen. Dies zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung deutlich: Die Präferenzen bei kennenlernen/ kennen lernen haben sich als instabil erwiesen: Knapp die Hälfte aller Versuchspersonen (20) haben zwischen den Konstruktionsvarianten die Präferenz gewechselt, 24 Versuchspersonen haben sie zwischen den verschiedenen Formen beibehalten. Das Bedürfnis, konstruktionsbedingt verschiedene Varianten zu wählen, kann jedoch durch andere Faktoren überlagert werden, so z. B. durch das Bedürfnis nach Einheitlichkeit. So gibt eine Versuchsperson an, dass sie eigentlich bei der finiten Form die Getrenntschreibung bevorzugen würde, aber die Einheitlichkeit zwischen den Konstruktionsvarianten höher gewichtet: „ Hier [bei der finiten Form, MW] eigentlich eher getrennt, widerstrebt mir aber von der Logik, wenn nicht alle gleich sind “ (P8). Der Vergleich der Begründungsmuster für die Wahl der Zusammen- oder der Getrenntschreibung widerspiegelt die Ausgeglichenheit der Präferenzen (vgl. die Übersicht zu den genannten Kategorien Abb. 53). Die am häufigsten genannte Kategorie für beide Varianten in allen Konstruktionen zusammengerechnet ist Morphosyntax (46 Nennungen von total 162 Nennungen, je 23 für Zusammenschreibung und Getrenntschreibung). Dass Morphosyntax als Argument für die Zusammenschreibung und Getrenntschreibung gleichermaßen angeführt wird, illustriert, dass die Einschätzungen des morphologischen Status der Verb-Verb-Verbindung in den Grammatikalitätsurteilen dieser Stichprobe auseinanderklaffen. Damit deckt sich der Laienmit dem Fachdiskurs. Das heißt jedoch nicht, dass die Versuchspersonen Verb-Verb- Verbindungen als morphologische Zweifelsfälle repräsentiert haben, sondern dass sie die Morphologie der Verb-Verb-Verbindung jeweils anders einschätzen. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 281 <?page no="292"?> 3 1 4 6 3 7 4 9 3 5 6 23 3 3 5 3 9 9 33 23 Diachronie Weiteres AR Logik NR Instruktion Phonologie Semantik Intuition Habitualisierung Visualität Morpho-Syntax kennenlernen/ kennen lernen Total ZS Total GetrS Abb. 53: Variante kennenlernen/ kennen lernen. Anzahl Begründungen pro Kategorie zusammengerechnet für alle vier Konstruktionsvarianten. Einzelnennung und andere Begründungen wurden zusammengefasst. N VP = 44; N Begr_total = 162, N Begr_GetrS = 88; N Begr_ZS = 74. ZS = Zusammenschreibung, GetrS = Getrenntschreibung. In Konkurrenz zur Morphosyntax tritt die visuelle Wahrnehmung. Sie ist ausschlaggebend für die Wahl der Getrenntschreibung mit 33 Nennungen von total 88 Nennungen für alle Konstruktionen zusammengerechnet. Dabei entfallen 26 Antworten auf die Leserlichkeit: 17-mal wird die bessere Lesbarkeit der Getrenntschreibung hervorgehoben und 9-mal die mindere Lesbarkeit der Zusammenschreibung. Typische Antworten zur besseren Lesbarkeit der Getrenntschreibung: (173) „ Übersichtlicher “ (P31). „ Einfacher fürs Lesen “ (P4). „ zwei Wörter, klarer “ (P27). Typische Antwort zur schlechteren Lesbarkeit: (174) „ Zu lange “ (P36). „ Zu langes Wort “ (P41). „ Schlangenwort “ (P42). „ Kennen kommt nicht heraus, Wurm “ (P40). 282 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="293"?> 2 2 5 1 7 2 7 6 3 15 5 10 20 30 Habitualisierung Visualität Morpho-Syntax kennenlernen, kennenzulernen/ kennen lernen, kennen zu lernen kennenlernen kennenzulernen kennen lernen kennen zu lernen Abb. 54: Variante kennenlernen/ kennen lernen. Anzahl Begründungen für die Kategorien Morphosyntax, Visualität, Habitualisierung für die beiden Konstruktionsvarianten Infinitiv und zu-Infinitiv. N VP = 44; N Begr_total = 162, N Begr_GetrS = 88; N Begr_ZS = 74. Besonders oft wird die Kategorie der Lesbarkeit bei der Konstruktion mit zu +Infinitiv genannt (15-mal), vgl. dazu Abb. 54, wo die häufigsten Begründungen für die beiden Konstruktionsvarianten Infinitiv und zu-Infinitiv einander gegenüberstellt werden: Sechs Versuchspersonen heben die bessere Lesbarkeit der Getrenntschreibung hervor, vier die Unleserlichkeit der Zusammenschreibung. Drei empfinden die Zusammenschreibung als ästhetisch ansprechender, vgl. Bsp. (175) und zwei die nicht-gewählte Zusammenschreibung als visuell minderwertig, vgl. (176). (175) „ Gefällt mir besser “ (P38). „ Sympathischer “ (P11). „ Schöner zu lesen “ (P42). (176) „ Schlimm, kenne es aber so “ (P11). „ Kennenlernen gibt es zwar als Verb, ZS aber nicht verständlich & nicht schön “ (P20). Anders als bei den vorangehenden Formen wird jedoch bei der visuellen Wahrnehmung die Infinitiv-Partikel nicht explizit genannt. Es könnte vermutet werden, dass die Leserlichkeit mit der Wortlänge von kennenzulernen zusammenhängt und weniger mit der Anzahl Lexeme (hier drei), die univerbiert werden; dies müsste jedoch weitergehend geprüft werden. Eine Versuchsperson gibt an: „ Schreibe grundsätzlich zusammengesetzte Verben getrennt, ist besser lesbar “ (P21). Auch hier erscheint der bei kaputtmachen/ kaputt machen gezeigte habitualisierte Umgang mit schwierigen Formen der Zusammen- und Getrenntschreibung im Sinne von „ Globallösungen “ . 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 283 <?page no="294"?> Die am zweithäufigsten genannte Kategorie für die Wahl der Getrenntschreibung ist die Morphosyntax (23 Nennungen). Hier wird hervorgehoben, dass es sich um zwei Verben bzw. zwei (bei zu+Infinitiv drei) Lexeme handelt. Typische Antworten in Bsp. (177): (177) „ kennen ist ein Verb und lernen ist ein Verb “ (P4). „ Infinitiv “ (P16). „ Wörter, klarer “ (P27). „ 3 Wörter “ (P31). Nicht alle Antworten in dieser Kategorie sind gleichermaßen nachvollziehbar, vgl. Bsp. (178): So sagt etwa eine Versuchsperson, sie schreibe hier getrennt, weil es im Infinitiv auch getrennt sei (P16). Zwei Versuchspersonen nehmen eine Form einer grammatischen Probe vor, nämlich eine Umformungsprobe: (178) „ Kann es auseinandernehmen “ (P10). „ Umformung: ich lerne ihn kennen; von Sprachstamm her deutlich getrennt geschrieben “ (P11). Unter normgrammatischer Perspektive ist diese Probe allerdings in diesem Kontext wenig aussagekräftig, würde eine solche Umstellungsprobe doch dazu führen, dass beispielsweise alle zusammengesetzten Verben, z. B. Partikelverben, auch in der Kontaktstellung getrennt geschrieben werden müssten. Die dritthäufigste Kategorie, die für die Wahl der Getrenntschreibung genannt wurde, ist die der Gewohnheit und Vertrautheit. Typische Antworten in Bsp. (179): (179) „ Ist bei mir gespeichert “ (P26). „ Schriftbild hat sich mir so eingeprägt “ (P40). Bei der Getrenntschreibung gälte es weitergehend zu prüfen, ob diese Vertrautheit nicht daher stammt, dass die beiden Verben auch alleine auftreten können. Dies konnte jedoch im Rahmen dieser Versuchsanlage nicht differenziert werden. Die vierthäufigste Kategorie betrifft das Gefühl bzw. die Intuition. Typische Antworten hier: (180) „ Habe einfach das Gefühl, das wird getrennt geschrieben “ (P18). „ Intuitiv; macht mehr Sinn, verstehe Satz besser und schneller “ (P43). „ Zusammenschreibung wäre neutraler, Getrenntschreibung mehr nach Gefühl “ (P30). Die übrigen Nennungen verteilen sich auf die anderen Kategorien. Bemerkenswert ist hier, dass offenbar Suprasegmentalia eine Rolle spielen können: 284 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="295"?> (181) „ Aussprache ist getrennt “ (P37). „ Wegen Aussprache von Satz mit Betonung “ (P34). Dabei handelt es sich wiederum um einen Zirkelschluss. Hängen doch die Sprechpausen systematisch davon ab, ob man hier eine Wortgrenze wahrnimmt oder nicht. Da die Sätze nicht vorgesprochen wurden, verweist eigentlich diese Argumentation nur darauf, dass die Versuchspersonen hier selbst in der Aussprache eine Wortgrenze setzen und daher morphosyntaktisch von zwei bzw. bei der Form mit dem zu+Infinitiv von drei Wörtern ausgehen. Weitere einzelne Nennungen verteilen sich auf die anderen Kategorien. Bemerkenswert informiert etwa zeigt sich eine Versuchsperson, eine Journalistin, die bewusst nach dem neusten Regelwerk schreibt (182): (182) „ Wurde bei Reform auseinandergenommen, weil es die Differenzierung nicht mehr gibt; zugunsten von Ausdrücken, wo Unterscheidungen fehlen, wieder zusammen “ (P7). Begründungen für die Wahl der Zusammenschreibung liegen, wie schon erwähnt, am deutlichsten in der Morphosyntax. Grammatische Proben werden aber hier erwartungsgemäß keine vorgenommen oder erwähnt. Die Begründungen beschränken sich typischerweise auf die Nennung, dass es sich hierbei um ein Verb handle, vgl. (183): (183) „ Gehört zusammen “ (P3). „ Ist ein Verb “ (P8). „ Ein Wort, ein Verb “ (P33). Die zweithäufigsten Nennungen betreffen die Semantik. Typische Antworten unter (184): (184) „ Eine Bedeutung, nicht zusammengesetzte Bedeutung von ‚ kennen ‘ und ‚ lernen ‘“ (P32). „ Gehört in meinen Gedanken zusammen, ‚ lernen ‘ sagt, dass ‚ kennen ‘ noch nicht fertig ist; gibt es bei Getrenntschreibung nicht “ (P17). Man folgt hier also der Argumentation der alten Rechtschreibung: Wenn keine wortwörtliche Bedeutung der beiden Teile vorliegt, sondern eine übertragene abzuleiten ist, wird zusammengeschrieben. An dritter Stelle wird die schulische Instruktion genannt (7 Nennungen). Drei Versuchspersonen geben bei verschiedenen Formen an, dass sie dies in der Schule so gelernt haben. Auch bei der Zusammenschreibung spielt der visuelle Eindruck eine Rolle, wenn auch mit nur 6 Nennungen eine weitaus weniger bedeutsame als bei der Getrenntschreibung. Hier ist es vor allem eine Versuchsperson (P6) für die vielen Nennungen verantwortlich, die sowohl für die Zusammenschreibung als auch die Getrenntschreibung optische Gründe geltend macht, vgl. Bsp. (185). Eine bessere Lesbarkeit nimmt bei der Zusammenschreibung nur 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 285 <?page no="296"?> eine Versuchsperson wahr, und zwar sowohl bei der finiten als auch der Partizip-II-Konstruktion, vgl. Bsp. (186). (185) „ Flüssiger “ (P6). „ Optisch [oder Intuition] “ (P6) [wobei diese Versuchspersonen die gleiche Argumentation auch für die Getrenntschreibung verwendet]. (186) „ Liest sich besser “ (P36). Mit dem visuellen Eindruck parallel laufen Eindrücke der Phrasierung: Suprasegmentalia werden 4-mal genannt, vgl. Bsp. (187). Auch bei der Zusammenschreibung gilt, was bei der Getrenntschreibung schon gesagt wurde: Die Entscheidung, ob hier zusammen ausgesprochen wird oder nicht, hängt natürlich damit zusammen, ob man eine Wortgrenze supponiert oder nicht. Diese Versuchspersonen tun dies offenbar nicht. (187) „ Klingt zusammengeschrieben “ (P42). „ Satzfluss “ (P34). Ebenso viele Nennungen (6) von zwei Versuchspersonen entfallen auf die Kategorie der nicht näher bestimmbaren Logik, vgl. Bsp. (188). Wie bei der Getrenntschreibung spielt auch hier die Gewohnheit oder Vertrautheit eine gewisse Rolle (5 Nennungen), vgl. Bsp. (189): (188) „ Stimmt für mich “ (P29). „ Korrekter “ (P9). (189) „ Die Zusammenschreibung ist mir vertrauter; schreibe beides “ (P44). „ Gewohnheit “ (P9). Zusammenfassung: Die Präferenzen bei der Variantenschreibung der Verb- Verb-Verbindungen kennenlernen/ kennen lernen sind mit Ausnahme der zu +Infinitiv-Konstruktion ausgeglichen. Bei den Begründungsmustern konkurrenzieren sich die Kategorien Morphologie und visuelle Wahrnehmung deutlich. Die morphosyntaktischen Begründungen repräsentieren den Fachdiskurs insofern, als entweder für ein Syntagma oder für ein re-analysiertes Verb argumentiert wird. Allerdings können morphologische Überlegungen nicht zu einer eindeutigen Präferenz für eine der Varianten beitragen. Dies zeigt, dass im Grammatikalitätsurteil der befragten Versuchspersonen der morphosyntaktische Status dieser Verbindung nicht einmal einer Tendenz nach einheitlich bestimmt wird. Das führt dazu, dass visuelle Kriterien (Leserlichkeit, ästhetischer Eindruck) dominanter werden. Am deutlichsten ist dies bei der Konstruktion mit zu+Infinitiv sichtbar, bei der zusammen mit der Präferenz für die Getrenntschreibung auch die Anzahl der Begründungen in der Kategorie Visualität ansteigen. Im Gegensatz zur Regelung in der alten Rechtschreibung spielen semantische Überlegungen eine weniger ausgeprägte Rolle. 286 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="297"?> 7.3.5.4 infrage/ in Frage Die Varianz der Schreibung bei infrage/ in Frage ist sachbedingt, d. h. in der Sprachentwicklung, hier der Univerbierungstendenz angelegt (vgl. 4.1.3). Es stellt sich die Frage, ob in den Begründungen der Versuchspersonen der Konflikt zwischen der Interpretation als Syntagma und der Re-Analyse zu einem Lexem abgebildet wird. Bei der Variante infrage/ in Frage zeigt sich eine deutliche Präferenz für die Getrenntschreibung in einem Verhältnis von 43: 1, d. h. nur einmal wurde die Zusammenschreibung infrage gewählt. Die Versuchsperson, welche die Zusammenschreibung gewählt hat, gibt als Begründung an, dass ihr das Schriftbild „ vertrauter “ erscheine und sie eine Analogie zur Form mithilfe sehe (P34). 1 1 1 1 2 2 2 4 4 5 14 16 5 10 15 20 Phonologie Analogie Semantik AR Habitualisierung Logik Instruktion Weitere Morphologie Visualität infrage/ in Frage infrage in Frage Abb. 55: Variante infrage/ in Frage. Begründungen für die präferierte Form in Frage, verteilt auf die Kategorien. N VP = 44; N Begr_total = 51, N Begr_GetrS = 49; N Begr_ZS = 2. Bei den anderen 43 Versuchspersonen liegen die Gründe für die Wahl der Getrenntschreibung vor allem im Bereich der visuellen Eigenschaften mit 16 Nennungen von total 49 angeführten Begründungen sowie in der Morphologie mit 14 Nennungen (vgl. dazu Abb. 55). Zusammengenommen machen also die beiden Kategorien rund 2/ 3 aller Begründungen für diese Präferenz aus. Die morphosyntaktische Argumentation dreht sich hauptsächlich um die Frage nach der Wortkategorie von FRAGE. Wird FRAGE als 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 287 <?page no="298"?> Nomen analysiert, impliziert dies die Getrenntschreibung; diese Argumentation geschieht in acht Fällen - wie schon bei den Varianten der Groß-/ Kleinschreibung - mit Hilfe der Artikelprobe, wie etwa unter (190). Die Artikelprobe lässt sich jedoch im vorliegenden Fall nicht korrekt anwenden, kann doch in dieser Wortverbindung kein bestimmter oder unbestimmter Artikel eingeschoben werden, ohne die Grammatikalität des Syntagmas zu beeinträchtigen (*in die/ eine Frage stellen). Etwas weniger häufig wird in der Kategorie Morphosyntax argumentiert, dass eine Re-Analyse - hier als Lexikalisierung - ausgeschlossen sei, vgl. Bsp. (191). (190) „ Die Frage ist ein Substantiv “ (P1). „ Nomen die Frage “ (P8). (191) Eine Frage, kann man nicht verbinden (P3). Ist für mich kein Wort (P15). Wenn man es zusammenschreiben würde, ist es ein neues Wort (P28). Was die Visualität der Zusammenschreibung betrifft, ist vor allem die Ablehnung der Zusammenschreibung prononciert. Zehnmal wird die Zusammenschreibung als visuell minderwertig bezeichnet, wobei die Attribute von „ ungewohnt “ (P30) über „ verwirrend “ (P27), „ fremd “ (P42), „ komisch “ (P6, P14, P32, P38) bis hin zum stark affektiv markierten „ schrecklich “ (P37, P40) reichen. Eine Versuchsperson gibt an, dass sie die Zusammenschreibung noch nie gemocht habe (P44). Demgegenüber wird die Getrenntschreibung dreimal als visuell vorteilhafter beurteilt, vgl. in (192), und ebenso häufig wird die bessere Leserlichkeit hervorgestrichen, vgl. (193). (192) „ Sieht besser aus “ (P1, P33). „ Gefällt mir besser “ (P22). (193) „ Einfacher zum Anschauen, zu lesen “ (P7). „ Klarer, verständlicher “ (P28). „ Besser, klarer “ (P4). Die weiteren Begründungen verteilen sich weniger prägnant auf diverse weitere Kategorien. Weitere Versuchspersonen begründen ihre Wahl von in Frage damit, dass sie es so gelernt hätten (vier Nennungen), und - wohl damit zusammenhängend - weil es in der alten Rechtschreibung so geschrieben worden sei (zwei Nennungen) und weil sie nichts anderes gekannt hätten (zwei Nennungen). Viermal wird eine nicht näher spezifizierte Logik angeführt, wobei zweimal die Zusammenschreibung als unlogisch, falsch und zweimal die Getrenntschreibung als logischer bezeichnet wird, wobei eine Versuchsperson anfügt, dass es „ jeder Erstklässler “ so schreiben würde (P17). Aus semantischen bzw. pragmatischen Gründen sehen drei Versuchspersonen einen Vorteil in der Getrenntschreibung: (194) „ Stelle es mir bildlich vor; ich stelle eine Frage, ist daher konkret “ (P11). 288 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="299"?> (195) „ Würde ich nie so [Zusammen- und Kleinschreibung] schreiben, so geht ‚ Frage ‘ unter “ (P21). „ Frage als Nomen prägnant in der Verwendung “ (P43). Aus Argument (194) geht hervor, dass die Versuchsperson zwischen einer konkreten und übertragenen Bedeutung differenzieren soll. Dieses Konzept stammt wahrscheinlich noch aus der alten Rechtschreibung, wo die übertragene Bedeutung oft als Kriterium für eine Zusammenschreibung genommen wurde, so etwa wie heute noch in Verbindungen wie schwerfallen - schwer fallen. Die pragmatischen Begründungen, vgl. (195), sind dahingehend zu interpretieren, dass bei einer Zusammenschreibung und demzufolge bei der Kleinschreibung von frage die Bedeutsamkeit dieses lexikalischen Elements in der Verbindung verloren geht. Hier tritt wieder die schon bei der Groß-/ Kleinschreibung aufgetretene Bedeutung der Markierung der Informationsstruktur auf. Und abschließend sei als Anekdote noch die Aussage einer Versuchsperson erwähnt, die unter ungewollten Assoziationen oder Analogieschlüssen ‚ leidet ‘ , was letztlich ebenfalls darauf hindeutet, wie fremd offenbar die Zusammenschreibung für die deutsche Rechtschreibung anmutet: (196) „ Sieht aus, wie etw. Französisches, Aussprache [ ɛ ̃ n ̰ fraʒə ] [VP imitiert französische Aussprache] “ (P37). Zusammenfassung: Bei der Variante infrage/ in Frage basiert die deutliche Präferenz für die Getrenntschreibung auf der Kombination von morphologischen und visuellen Gründen: diese beiden Kategorien machen 2/ 3 aller Begründungen aus. Morphosyntaktisch vermag in dieser Stichprobe die Analyse des Syntagmas in zwei lexikalische Einheiten einleuchtender zu erscheinen als eine Re-Analyse. Die Univerbierungstendenz bei festen Verbindungen mit Präpositionen ist also für die vorliegende Form nicht repräsentiert. Dies rührt nicht zuletzt daher, dass sich hier eine offenbar weit verbreitete grammatische Probe, die Artikel-Probe, einfach anwenden lässt - wenn auch unter normgrammatischer Perspektive nicht ganz angemessen. Verstärkt wird dieser Effekt durch die zum Teil stark affektiv gefärbte Wahrnehmung der Visualität der Zusammenbzw. Getrenntschreibung. Die Bevorzugung der Getrenntschreibung aus visuellen Gründen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Zusammenschreibung als reformierte Schreibung weniger vertraut und gewohnt erscheint. Es ist also zu vermuten, dass bei Formen, bei denen nach morphosyntaktisch einsichtigen und einfachen Kriterien vorgegangen werden kann - wie die einfache Möglichkeit, mittels der Artikelprobe die Wortkategorie Nomen zu bestimmen, die eine Getrenntschreibung impliziert - , die alten Schreibungen bevorzugt werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich hier die Duden-Empfehlung der Zusammenschreibung durchsetzen wird. 7.3 Ergebnisse zu den orthographischen Begründungen 289 <?page no="300"?> 7.4 Zusammenfassung und abgeleitete Hypothesen In diesem Kapitel wurde untersucht, aufgrund welcher subjektiver orthographischer Konzepte Varianten präferiert oder abgelehnt werden. Den Versuchspersonen wurden dazu Varianten zur Wahl vorgelegt. Anschließend wurden sie zu den Gründen ihrer Präferenz befragt. Die Begründungen geben Einblick in die mentale Repräsentationen orthographischer Normen sowie die subjektiven orthographischen Konzepte, die im alltäglichen Schreibhandeln orthographische Entscheidungen steuern und somit als Prädiktoren für die Variantenwahl betrachtet werden können. Gefragt wurde nach Zusammenhängen von Präferenzen und Begründungsmustern nach Phänomenbereich, nach der Struktur der Begründungsmuster, d. h. der Verteilung der Begründungen auf einzelne Kategorien, sowie nach Übereinstimmungen der Begründungsmuster mit Argumenten aus dem Fachdiskurs. Auf der Grundlage der erhobenen Daten wurde ein Kategorienmodell entwickelt, das die häufigsten Begründungen umfasst und sich nur teilweise mit den im Fachdiskurs postulierten orthographischen Prinzipien deckt, vgl. für eine Übersicht der Kategorien die Tab. 19. 7.4.1 Einzelwortschreibungen Die beiden abgefragten Varianten aufwendig/ aufwändig und selbständig/ selbstständig können als Fahnenwörter der Rechtschreibreform bezeichnet werden. Die Versuchspersonen zeigten für aufwendig/ aufwändig ein geringfügige Präferenz für die neue Schreibung mit ‹ ä › , bei selbständig/ selbstständig hingegen eine deutliche Präferenz für die alte Schreibung mit ‹ st › . Die Begründungsmuster erhellen die Gründe für die unterschiedliche Beurteilung der beiden Formen. Bei aufwendig/ aufwändig lassen sich die fast ausgeglichenen Präferenzen dadurch erklären, dass die reformierte Schreibung in der Systemdimension mit dem morphologischen Prinzip (Ableitung von Aufwand) zu überzeugen vermag. Das Stammprinzip ist offenbar gut repräsentiert. Die althergebrachte Schreibung hingegen wird v. a. durch die Habitualisierung gestützt, die eng mit der Erinnerung an die schulische Instruktion sowie der ebenfalls häufig genannten negativen Einschätzung des visuellen Eindrucks der abgelehnten ‹ ä › -Schreibung zusammenhängen dürfte. Bei selbständig/ selbstständig hingegen vermag die reformierte Form in der Systemdimension nicht zu überzeugen, da die Verdoppelung der Grapheme ‹ stst › phonologisch nicht realisiert wird. Gestützt wird die klare Präferenz der althergebrachten Form zusätzlich von dem positiv eingeschätzten visuellen Eindruck, was sowohl die Leserlichkeit als auch die Ästhetik betrifft, sowie einer ausgeprägten Erinnerung an die schulische Instruktion. 290 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="301"?> Auf der Grundlage der Diskussion der Präferenzen und der daran gekoppelten Begründungsmuster dieser beiden Einzelwortschreibungen kann folgende Hypothese für die Entwicklung des Usus der betreffenden und analoger Formen im individuellen Schreiben abgeleitet werden: Einleuchtende Kriterien in der Systemdimension (Phonologie, Morphologie) in Kombination mit Habitualisierung, der schulischen Instruktion sowie einem vorteilhaften visuellen Eindruck führen zu eindeutigen Präferenzen der althergebrachten Formen (selbständig). Treten die Kriterien in der Systemdimension allerdings in Konflikt mit Habitualisierung, schulischer Instruktion und visuellem Eindruck, dann führt dies zu ausgeglichenen Präferenzen zwischen alter und reformierter Schreibung (aufwendig/ aufwändig). 7.4.2 Fremdwortschreibungen Bei der Fremdwortschreibung wurde mit der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz eine gut repräsentierte und in frequenten Lexemen erscheinende und mit der ‹ t › - ‹ z › -Varianz eine weniger gut repräsentiert Varianz abgefragt, vgl. dazu auch Schmidt (2011). Bei der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz zeigen sich in den Präferenzen geringe Unterschiede bei den Lexemen Delphin/ Delfin bzw. Flussdelphin/ Flussdelfin gegenüber dem Lexem phantastisch/ fantastisch bzw. phantastische Ferien/ fantastische Ferien. Während Delphin (Ursprungsschreibung) leicht präferiert wird, ist fantastisch (integrierten Schreibung) etwas deutlicher bevorzugt. Die gute Repräsentation der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz zeigt sich in den Begründungsmustern, indem die Kategorien Habitualisierung und, damit zusammenhängend, Visualität sowohl für die Ursprungsschreibung als auch die integrierte Schreibung in etwa gleich oft genannt wurden. Die Wahl der Ursprungsschreibung Delphin wird vereinzelt auch mit affektiven, nostalgischen Faktoren begründet. Der Konflikt zwischen etymologischem und phonologischem Prinzip des Fachdiskurses ist bei der untersuchten Stichprobe nicht im selben Maße repräsentiert. Diachrone Begründungen treten sowohl in der Argumentation für die ursprüngliche Schreibung (Herkunft transparent machen) als auch in der Argumentation für die integrierte Schreibung bzw. gegen die Ursprungsschreibung auf (ist schon lange eingedeutscht). Die Präferenz der integrierten Schreibung bei phantastisch/ fantastisch lässt sich denn auch darauf zurückführen, dass das Lexem als besser in den deutschen Wortschatz integriert wahrgenommen wird. Phonologische Begründungen treten nur vereinzelt bei der Wahl der integrierten Schreibung auf, und dies auch nicht bei jenen Beispielen (Flussdelphin/ Flussdelfin und phantastische Ferien/ fantastische Ferien), bei welchen ein lautlicher Kontext geschaffen wurde, der das Bewusstsein auf phonologische Merkmale lenken sollte. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Wahl der Schreibvarianten bei 7.4 Zusammenfassung und abgeleitete Hypothesen 291 <?page no="302"?> einer gut repräsentierten Varianz wie der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz habitualisiert erfolgt, wobei sich innerhalb dieser Kategorie das Lager in Bewahrer und bewusste Umlerner spaltet. Auch bei der ‹ tiell › - ‹ ziell › -Varianz sind die Präferenzen fast ausgeglichen, mit einer leichten Tendenz Richtung integrierter Schreibung. Als Grund für die Präferenz der Ursprungsschreibung mit ‹ t › wird vor allem die Gewohnheit, für die Präferenz der integrierten Schreibung mit ‹ z › werden hingegen vor allem sprachsystematische Begründungen angeführt, die einerseits die Morphologie betreffen mit der Ableitung von Existenz - hier zeigt sich wiederum, dass das Stammprinzip relativ gut repräsentiert ist - , andererseits die Phonologie betreffen mit der regulären deutschen Phonem-Graphem- Korrespondenz: Affrikate/ ts/ korrespondiert mit dem Graphem ‹ z › . Etymologische Gründe geben nur drei Versuchspersonen an. Auch hier bildet sich der Fachdiskurs nicht vollständig ab, der hier vor allem den Konflikt zwischen phonologischer Integration und dem etymologischem Prinzip sieht. Darüber hinaus zeigt sich bei der Fremdwortschreibung punktuell, wie die Wahl der Ursprungsschreibungen zur sozialen und kulturellen Konstruktion verwendet werden können. Dabei treten insbesondere zwei Aspekte hervor: nationalsprachliche Identität und Bildungsgrad. Beim Ersteren geht es darum, dass das sprachliche Selbstkonzept von Schweizer und Schweizerinnen stark über die Situation der staatlich-institutionellen Mehrsprachigkeit gespiesen wird (vgl. Kapitel 2.2). Dies zeigt sich daran, dass Versuchspersonen davon ausgehen, dass in einem mehrsprachigen Land wie der Schweiz die Affinität zu Ursprungsschreibungen besonders groß sei. Bei Zweiterem geht es darum, dass Kenntnisse der Ursprungsschreibungen als Indikator für den Ausbildungsgrad genommen werden. Für die Fremdwortschreibung kann aus der Diskussion der Beispiele der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz und ‹ tiell › - ‹ ziell › -Varianz folgende Hypothesen abgeleitet werden, die den Usus dieser und analoger Formen beeinflussen werden: 1. Bei gut repräsentierten Varianzen wie der ‹ ph › - ‹ f › -Varianz wird habitualisiert zwischen den Schreibungen gewählt, wobei je nach Lexem und je nachdem, wie der Status der Integration des Lexem in den deutschen Wortschatz wahrgenommen wird, die Präferenzen leicht Richtung Ursprungsschreibung bzw. leicht Richtung integrierter Schreibung tendieren können. 2. Bei weniger gut repräsentierten wie der ‹ tiell › - ‹ ziell › -Varianz treten sprachsystematische Begründungen stärker in den Vordergrund, was die Präferenzen Richtung integrierter Schreibung verschiebt. 292 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="303"?> 7.4.3 Groß- und Kleinschreibung Die Varianzen in der Groß-/ Kleinschreibung sind konzeptionsbedingt insofern, als die Analyse des Wortkategorie je nachdem, welches Kriterium der Nominalität angewendet bzw. nicht angewendet wird, anders ausfallen kann. Bei der Wahl der Großschreibung dominiert das morphosyntaktische und damit zusammenhängend das syntaktische Kriterium mit der offenbar für die meisten Versuchspersonen leicht anwendbaren Operationalisierung der Artikelprobe die Begründungsmuster. Somit fällt besonders in jenen Fällen die Begründung der Wahl der Großschreibung leicht, in denen der Artikel schon in der Phrase enthalten ist (das seine/ das Seine), was denn auch zu deutlichen Präferenzen der Großschreibung führt. In den anderen Fällen, in denen sich die Präferenzen zwischen Groß- und Kleinschreibung ausgeglichener gestalten (auf weiteres/ auf Weiteres; etwas anderes/ etwas Anderes), wird zwar die Wahl der Großschreibung ebenfalls vorwiegend mit der Artikelprobe begründet, es zeigt sich jedoch in epistemischen Markierungen, dass die Analyse der Wortart hier nicht ganz so eindeutig erfolgt. Dass die Wahl der Kleinschreibung deutlich schwieriger mit der Wortkategorie begründet werden kann, zeigt sich daran, dass die Begründungen sich auf verschiedene Kategorien außerhalb der Systemdimension verteilen, so werden die Habitualisierung, die schulische Instruktion, die Visualität etc. herangezogen. Auch bei der Variante recht haben/ Recht haben wird die Großschreibung vor allem mittels der Artikelprobe begründet, wobei jedoch übersehen wird, dass damit die Konstruktion semantisch umgedeutet wird. Im Gegensatz zu den anderen abgefragten Varianten in diesem Bereich wird die Kleinschreibung ebenfalls eher morphosyntaktisch begründet, wobei die gewählten Formulierungen in der Argumentation deutlich mehr Unsicherheit bekunden. Weiter wird die Wahl der Kleinschreibung semantisch begründet, wobei vor allem die Disambiguierung zu Recht im juristischen Sinne dominiert. Die Unsicherheit in der Bestimmung der Wortkategorie zeigt sich besonders deutlich daran, dass rund ein Viertel der Versuchspersonen die Präferenz innerhalb der beiden abgefragten Konstruktionen wechselt. Dabei wird deutlich, dass die Frage nach der Wortkategorie in dieser Variante eng mit den Fragen nach der Wortgrenze verbunden ist. Einige Begründungen deuten denn auch darauf hin, dass hier die Zusammenschreibung eigentlich näher liegen würde, insbesondere bei der Kleinschreibung, die offenbar auf eine Re- Analyse der Wortverbindung hindeutet. Dies könnte auch erklären, wieso die Präferenzen für die Distanzstellung sich etwas von der Großschreibung weg hin zur Kleinschreibung bewegen. Weitere punktuelle Beobachtungen im Bereich der Groß-/ Kleinschreibung entstammen subjektiven orthographischen Konzepten, welche die Informationsstruktur betreffen. So wird in einigen Fällen die Großschreibung abgelehnt, weil sie Unwichtiges hervorhebe, was verwirrend sei. Damit wird bemerkenswerterweise ein Prinzip aus der Orthographie-Geschichte auf- 7.4 Zusammenfassung und abgeleitete Hypothesen 293 <?page no="304"?> genommen, das insbesondere bei der Herausbildung der Nomengroßschreibung ab dem 14. Jahrhundert eine Rolle gespielt hat. Ebenfalls zeigt sich, dass bei Zweifelsfällen der Groß-/ Kleinschreibung gerne auf „ Globallösungen “ zurückgegriffen wird. Für die Groß- und Kleinschreibung kann auf der Grundlage der untersuchten Formen folgende Hypothese für den Usus dieser und analoger Formen abgeleitet werden: 1. Bei Varianten, bei denen die Artikelprobe als Operationalisierung eindeutig anwendbar ist, zeigt sich eine deutliche Präferenz für die Großschreibung. 2. Bei Varianten, bei denen die Artikelprobe nicht eindeutig anwendbar ist, treten andere nicht-systembezogene Gründe in den Vordergrund und die Präferenzen zwischen Groß- und Kleinschreibung zeigen sich ausgeglichen. 7.4.4 Zusammen- und Getrenntschreibung Die Varianten im Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung ergeben sich einerseits aus sachbedingten Gründen, dies betrifft die Univerbierungs- und Inkorporationstendenz, andererseits aber auch aus konzeptionsbedingten Gründen, wobei der Entscheidung für die Zusammen- oder die Getrenntschreibung unterschiedliche syntaktische und morphologische Analysen zugrunde gelegt werden, welche die Einschätzung als Syntagma oder als re-analysiertes Lexem betreffen. Bei der Variante kaputtmachen/ kaputt machen tendiert die Präferenz Richtung Getrenntschreibung, wobei jedoch der morphosyntaktische Zweifelsfall Syntagma versus re-analysiertes Verb deutlich repräsentiert ist, was zu einer weniger ausgeprägten Präferenz führt. Sowohl die Wahl der Zusammenals auch der Getrenntschreibung scheint auf eine Koppelung von morphosyntaktischen und visuellen Begründungen zurückzuführen zu sein. Die deutliche Präferenz für die Getrenntschreibung wird von weiteren normorientierten Begründungen (schulische Instruktion, Orientierung an Regeln der alten bzw. der neuen Rechtschreibung) sowie habitualisierten Globallösung bei Zweifelsfällen gestützt. Bei der Variante haltmachen/ Halt machen hingegen lässt sich eine ausgeprägt Präferenz für die Getrenntschreibung feststellen, die vorwiegend morphosyntaktisch und etwas weniger häufig semantisch begründet wird und die zusätzlich aus visuellen Gründen bevorzugt wird. Im Kern der Argumentation steht meist die Frage nach dem wortkategoriellen Status des ersten Bestandteils HALT, der mittels Artikelprobe, aber auch in einigen Fällen 294 7 Variantenwahl und Begründungsmuster <?page no="305"?> mit semantischen Kriterein als nominal bestimmt wird, was für die Versuchspersonen ein Indiz dafür ist, dass es sich um keine Inkoporation handelt. Die Präferenzen bei kennenlernen/ kennen lernen sind demgegenüber mehr oder minder ausgeglichen, wobei sich jedoch für die vier Konstruktionsvarianten leichte Abweichungen ergeben. Bei den Begründungsmustern konkurrenzieren sich die Kategorien Morphologie und visuelle Wahrnehmung deutlich. Die morphosyntaktischen Begründungen repräsentieren den Fachdiskurs insofern, als entweder für ein Syntagma oder für ein re-analysiertes Verb argumentiert wird. Allerdings können morphologische Überlegungen nicht zu einer eindeutigen Präferenz für eine der Varianten beitragen. Dies verleiht visuellen Kriterien (Leserlichkeit, ästhetischer Eindruck) mehr Bedeutung. Am deutlichsten ist dies bei der Konstruktion mit zu +Infinitiv sichtbar, bei der zusammen mit der Präferenz für die Getrenntschreibung auch die Anzahl der Begründungen in der Kategorie Visualität ansteigen. Im Gegensatz zur Regelung in der alten Rechtschreibung spielen semantische Überlegungen eine weniger ausgeprägte Rolle. Für die Variante infrage/ in Frage ist die Univerbierungstendenz nicht repräsentiert, was sich in einer sehr deutlichen Präferenz für die Getrenntschreibung manifestiert. Die Wahl der Getrenntschreibung wird mithilfe der Artikelprobe begründet, da Getrenntschreibung gleichzeitig Großschreibung impliziert. Die Artikelprobe erweist sich wie schon bei der Groß-/ Kleinschreibung als einfach anwendbar, wenn auch nicht ganz adäquat eingesetzt. Gestützt werden die morphologischen Begründungen durch einen ausgeprägt positiv wahrgenommenen visuellen Eindruck der Getrenntschreibung. Für die Zusammen- und Getrenntschreibung kann auf der Grundlage der untersuchten Formen folgende Hypothesen für die Entwicklungs des Usus dieser und analoger Formen abgeleitet werden: 1. Bei Varianten, bei denen morphosyntaktisch einfache Operationalisierungen wie die Artikelprobe herangezogen werden können (wobei Großschreibung Getrenntschreibung impliziert) und diese mit einem überlegenen visuellen Eindruck und weiteren Faktoren wie der Habitualisierung gekoppelt werden, führt dies zu einer deutlichen Präferenz der Getrenntschreibung. 2. Bei Varianten, bei denen die morphosyntaktische Analyse komplex ist, aber der visuelle Eindruck der Getrenntschreibung (d. h. die Wortlänge) positiver eingeschätzt wird, zeigt sich eine mäßige Präferenz der Getrenntschreibung. 3. Bei Varianten, bei denen die morphosyntaktische Analyse komplex ist und keine visuelle Überlegenheit der Getrenntschreibung wahrgenommen wird, erscheinen die Präferenzen zwischen der Getrennt- und Zusammenschreibungen ausgeglichen. 7.4 Zusammenfassung und abgeleitete Hypothesen 295 <?page no="307"?> 8 Schlusswort Orthographische Normen zeichnen sich durch einen hohen Grad an Explizitheit und sozialer Verbindlichkeit aus, was im Vergleich mit anderen sprachlichen und kommunikativen Normen zu einer ausgeprägten Hochwertung der Einheitlichkeit sowie einer geringen Variabilität führt. Varianz ist allerdings schon im Schriftsprachsystem angelegt, indem sich im Usus konventionell mögliche Schreibungen als graphematische Varianten herausgebildet haben, aus denen in der Orthographie die jeweils als korrekt zu geltende Form ausgewählt und präskriptiv festgesetzt wird. Diese Festsetzungen und die Weiterentwicklungen der orthographischen Normen sind in vielen Fällen Kompromisse zwischen sprachsystematischen Überlegungen, Berücksichtigungen der Entwicklungen im Sprachgebrauch und der Gewohnheiten der Sprachgemeinschaft und nicht zuletzt auch Kompromisse zwischen unterschiedlichen grammatischen Konzepten, die orthographischen Entscheidungen zugrunde gelegt werden können (Gallmann 2004). Diese Faktoren führen in vielen Fällen dazu, dass in der Kodifikation Varianten zugelassen sind. Während die vielfältige graphische Varianz älteren Sprachstufen, insbesondere des Frühneuhochdeutschen, durch das Fehlen einer überregionalen orthographischen Norm bedingt ist, liegt nach der II. Orthographischen Konferenz von 1902 mit der Kodifikation der Ergebnisse im deutschen Sprachraum erstmalig ein offizielles und von allen deutschsprachigen Ländern anerkanntes Regelwerk vor, das allerdings nicht alle Bereiche regelt und viele Varianten zulässt. Trotzdem ist somit erstmalig die orthographische Varianz durch die Grenzen eines offiziellen Regelwerks beschränkt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde von den Wörterbuch-Redaktionen des Dudens und des Österreichischen Wörterbuchs im Zuge von Vereinheitlichungsbestrebungen systematisch Variantenabbau vorangetrieben, von der Duden-Redaktion etwas weitergehend als vom Österreichischen Wörterbuch (Lasselsberger 2000). Mit der Rechtschreibreform von 1996 wurden neben althergebrachten Varianten neue zugelassen: Dies betrifft vor allem länderspezifische Varianten, Varianten in der Fremdwortschreibung, indem neue integrierte Schreibwesen neben der Ursprungsschreibungen stehen, wie auch ausgewählte Formen in der Zusammen- und Getrenntschreibung sowie der Groß- und Kleinschreibung. Bei der Revision der Reform von 2006, die im Grunde als Reaktion auf die aus verschiedenen Kreisen geäußerte Kritik auf das Regelwerk von 1996 zu sehen ist, wurde im neu zusammengesetzten Rechtschreibrat verstärkt der Kompromiss zwischen Systematisierung und Usus gesucht. Dies führt dazu, dass nebst anderen Änderungen nun bei einigen reformierten Schreibweisen <?page no="308"?> wieder die alte zugelassen wird und sich somit der Variantenbestand wiederum leicht erhöht hat. Für den aktuellen Stand der Rechtschreibung gibt es nun zwei Aspekte, die der genaueren Untersuchung bedürfen und als Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung dienten. Der erste liegt in dem an den Rat für Rechtschreibung delegierten Auftrag, den Usus weiterhin zu beobachten und Anpassungen am Regelwerk vorzunehmen. Dabei stehen die orthographischen Varianten besonders im Fokus. Es eröffnet sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie der Schreibgebrauch zu beobachten ist und welche Folgerungen aus den Beobachtungen gezogen werden sollten. Der zweite Aspekt liegt in der komplexen Frage, wie sich orthographische Varianz auf die literale Praxis auswirkt. Im Laien-, teils aber auch im Fachdiskurs wird der Varianz in der neuen Rechtschreibung negative Auswirkungen zugeschrieben. Dabei tritt einerseits - entsprechend der eingangs angesprochenen hohen Explizitheit und Verbindlichkeit der orthographischen Norm - ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Einheitlichkeit zutage, das in der Zulassung von Varianten einen kulturellen Zerfall der Schriftkultur befürchtet. Dahinter versteckt sich eine Vorstellung über die Einheitlichkeit der deutschen Sprach- und Schrifsprachkultur, die nie der schriftsprachlichen Realität entsprochen hatte. Andererseits vermutet man Einschränkungen beim Erwerb und der Merkfähigkeit der Regeln sowie negative Auswirkungen auf den Schreibprozess. Es liegen bis anhin erst wenige wissenschaftliche Untersuchung zur orthographischen Varianz vor, die vor allem eine theoretische, eine anwendungsorientierte oder eine diachrone Perspektive einnehmen. Empirische Untersuchungen des aktuellen Usus hingegen erfolgen nur in wenigen korpuslinguistischen Studien, etwa in denjenigen vom Rat für deutsche Rechtschreibung, die aber vorwiegend auf die mediale Schreibpraxis fokussieren, die jedoch in Bezug auf die Orthographie innerhalb enger hausinterner Regelungen erfolgt. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Auswirkungen der orthographischen Varianz auf die kollektive und individuelle literale Praxis zu untersuchen. Zur kollektiven Praxis gehört dabei der Umgang in den Kodifikationen (Regelwerken, Wörterbüchern), in Institutionen und Schulen sowie der allgemeine Usus, d. h. die im Sprachgebrauch beobachtbaren Gebrauchspräferenzen. Zur individuellen Praxis gehören die mentalen Repräsentationen und subjektiven orthographischen Konzepte, welche die Variantenwahl steuern, sowie die Auswirkungen auf den Schreibprozess. Was den Umgang mit der orthographischen Varianz in der Kodifikation und in öffentlichen Institutionen betrifft, hat sich mit der Übersicht in Kapitel 3.6 gezeigt, dass seit dem Regelwerk 2006 in verschiedenen Bereichen ein ausgesprochener Regelungsbedarf an den Tag gelegt wird, der die neuen Freiräume wieder einschränken soll. Dies geschieht meist mit Bezug auf die gefährdete Einheitlichkeit der deutschen Sprache und betrifft insbesondere 298 8 Schlusswort <?page no="309"?> die Lexikographie (mit Ausnahme des Österreichischen Wörterbuchs), die mit Variantenführung dem supponierten Bedürfnis nach Einheitlichkeit nachkommt, sowie die Medienverlage und Nachrichtenagenturen, die mit eigenen Hausorthographien eine enge Variantenführung pflegen, oder ihre orthographische Praxis an die Empfehlungen der Nachrichtenagenturen von 2007 oder in der Schweiz an den Empfehlungen der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK) anschließen. Besonders letztgenannte Empfehlung zeichnet sich dadurch aus, dass die im aktuellen Regelwerk zugelassenen Varianten als Anlass zur Rückkehr zur alten Schreibweisen genommen werden. Für die Schweiz liegen zusätzlich für den Orthographie-Unterricht in der Schule sowie den Schriftverkehr in den Behörden Leitfäden mit Variantenpriorisierungen vor. Der erste empirische Teil der Untersuchung war den Gebrauchsfrequenzen in der literalen Praxis gewidmet, der aufgrund der vielen Varianten auf die Untersuchung exemplarischer Formen aus dem Bereich der Phonem- Graphem-Korrespondenz, insbesondere der Fremdwortschreibung, der Groß-/ Kleinschreibung sowie der Zusammen- und Getrenntschreibung beschränkt werden musste. Für die Untersuchung wurden verschiedene Datenquellen berücksichtigt, um verschiedene literale Praktiken vergleichen zu können. Erhoben wurde einerseits im DeReK (COSMAS II), dem größten deutschsprachigen Korpus, das vorwiegend das mediale Schreiben abbildet, und im eigens zusammengestellten pressetext-Korpus, welches das professionelle Schreiben (PR, Marketing) in Firmen abbildet. Andererseits wurde mittels eines Schreibexperiments sowie einer Befragung von 44 Versuchspersonen (30 - 50 J.) mit verschiedenen Ausbildungs- und Berufshintergründen aus der Schweiz individuelle Präferenzen erhoben. Diese Stichprobe war relativ homogen in Bezug auf die selbstberichteten literalen Praktiken und Einstellungen sowie in Bezug auf eine äußerst ausgeprägte Normorientierung sowie ein eher hohes orthographie-bezogenes, jedoch durch die Rechtschreibreform leicht beeinträchtiges Selbstkonzept. Sowohl im Schreibexperiment als auch in der Befragung waren die Versuchspersonen auf ihre eigene Rechtschreibkompetenz angewiesen, womit im Gegensatz zu den Korpora individuelle Präferenzen abgebildet werden. Die Daten aus diesen vier Quellen wurden für die Ermittlung der Gebrauchsfrequenzen kontrastiert, um festzustellen, ob die Präferenzen innerhalb der Phänomenbereichen musterhaft sind, über verschiedene Zeitabschnitte hinweg sowie zwischen den verschiedenen Datenquellen einheitlich sind und den jeweils geltenden Regelwerken oder den Empfehlungen der Wörterbücher und Nachrichtenagenturen entsprechen. Die Ergebnisse bei den untersuchten Varianten zeigen nur in wenigen Fällen eindeutige und einheitliche Tendenzen. Die Resultate für die einzelnen Bereiche sind in der Zusammenfassung am Ende des betreffenden Kapitels dargestellt und sollen hier nicht noch einmal wiedergegeben werden (vgl. 5.3). An dieser Stelle soll aber festgehalten werden, dass die Präferenzen im Vergleich der verschie- 8 Schlusswort 299 <?page no="310"?> denen Datenquellen erwartungsgemäß nur in wenigen Fällen einheitlich sind. Die Versuchsgruppe zeigte in mehr Fällen ausgeglichene Präferenzen zwischen den zur Verfügung stehenden Schreibungen als die beiden Korpora, die öfters zur einen oder anderen Schreibung neigen. Die größten Unterschiede sind zwischen dem medialen Schreiben (DeReKo/ COSMAS II) sowie dem individuellen Wahlverhalten der Versuchsgruppe auszumachen. Die Gebrauchspräferenzen im pressetext-Korpus zeigen öfters, aber nicht in allen Fällen eine ähnliche Tendenz wie im DeReKo. Ebenfalls nicht einheitlich ist die Orientierung an der Variantenführung der Wörterbücher und Nachrichtenagenturen. Als methodisches Fazit kann aus diesen Ergebnissen festgehalten werden, dass bei der Ermittlung des Usus verschiedene Datenquellen hinzugezogen werden sollten, die verschiedene literale Praktiken abbilden. Dies ist insbesondere in jenen Fällen von herausragender Bedeutung, in denen der Rat für deutsche Rechtschreibung aufgrund seiner Recherchen im DeReKo sowie in den Korpora der Duden- und Wahrig-Redaktion, die alle drei fast ausschließlich das mediale Schreiben abbilden, Varianten abzubauen beabsichtigt. In zweiten empirischen Teil wurde die Auswirkung der Varianz auf den Schreibprozess untersucht. Dazu wurde mit derselben Stichprobe von 44 erwachsenen Schreibern und Schreiberinnen ein computerbasiertes Schreibexperiment mit anschließend retrospektiver Verbalisierung durchgeführt. Damit sollte das gegen die orthographische Varianz angeführte Argument aufgegriffen werden, dass orthographische Varianten die Schreibenden zu orthographischen Entscheidungen zwingen, die den Schreibprozess kognitiv belasten und somit den Schreibfluss stören. Das Experiment wurde auf die mittels Keystroke-Logging aufgezeichneten Schreib- und Revisionshandlungen sowie der in den Verbalisierungen zumindest teilweise zugänglichen, bewussten kognitiven Prozesse hin ausgewertet. Auf dieser Datengrundlage wurden anschließend die Auswirkungen orthographischer Schwierigkeiten auf den Schreibfluss modelliert, wobei sich verschiedene Beeinträchtigungsgrade des Schreibflusses ausmachen ließen. In einem zweiten Schritt wurden die einzelnen Varianten in diesem Modell verortet. An dieser Stelle soll ein allgemeines Fazit gezogen werden, die Ergebnisse für die einzelnen Phänomenbereiche sind am Ende das Kapitels schon zusammenfassend dargestellt worden (vgl. 6.3): Mit dem Schreibexperiment ist es gelungen, ein differenzierteres Verständnis dafür zu gewinnen, wie orthographische Varianten - und wahrscheinlich orthographische Schwierigkeiten generell - im Schreibprozess Erwachsener wirken können. Für die untersuchten Varianten hat sich dabei herausgestellt, dass es selten die Varianz ist, die den Schreibfluss hemmt, da sie bei den untersuchten Versuchspersonen schwach bis gar nicht repräsentiert ist. Vielmehr sind es konfligierende orthographische Schemata, da es sich ja bei allen Varianten im Kern um orthographische Zweifelsfälle handelt. In den seltenen Fällen, in denen die Versuchspersonen eine Varianz repräsentiert haben bzw. eine 300 8 Schlusswort <?page no="311"?> solche verbalisieren, verhindern individuelle Praktiken eine größere Störung des Schreibflusses. Es konnte nur bei einer Versuchsperson bei einer Form ein variantenbedingter Entscheidungskonflikt ausgemacht werden. Die konkreten Ergebnisse pro Form müssen jedoch mit einer gewissen Vorsicht interpretiert werden, da die Methoden der retrospektiven Verbalisierung für die Beobachtung hierachie-niederer Prozesse nur bedingt geeignet ist und nur einige wenige Varianten abgefragt werden konnten. Es kann aber mit der gebotenen Vorsicht gefolgert werden, dass die Zulassung von orthographischen Varianten im Regelwerk sich nicht bis auf den individuellen Schreibprozess auswirken dürfte, weder im positiven noch im negativen Sinne. Es wären jedoch weitere empirische Überprüfungen des entwickelten Modells nötig. Im dritten und letzten empirischen Teil wurde untersucht, aufgrund welcher mentalen Repräsentationen orthographischer Normen bzw. subjektiver orthographie-bezogener Konzepte Varianten präferiert oder abgelehnt werden. Den Versuchspersonen wurden dazu Varianten zur Wahl vorgelegt und anschließend nach den Gründen für die Präferenz gefragt. Die Begründungen geben eine Vorstellung davon, welche Faktoren im alltäglichen Schreiben die orthographische Wahl steuern und können somit als Prädiktoren für die Variantenwahl gelten. Auf der Grundlage der erhobenen Daten wurde ein Kategorienmodell der Begründungen entwickelt, das sich nur teilweise mit den im Fachdiskurs postulierten orthographischen Prinzipien und Konzepten deckt. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass mentale Repräsentationen die orthographische Norm nicht direkt abbilden, sondern ko-konstruierte Aneignungen orthographischer Normen und Muster darstellen. Auf der Grundlage des Kategoriensystems wurde nach Zusammenhängen von Präferenzen und Begründungsmustern nach Phänomenbereich, nach der Struktur der Begründungsmuster, d. h. der Verteilung der Begründungen auf einzelne Kategorien, sowie nach Übereinstimmungen der Begründungsmuster mit Argumenten aus dem Fachdiskurs gefragt. Die Ergebnisse zu den einzelnen Phänomenbereichen wurden zu Hypothesen zur zukünftigen Entwicklung des Usus der untersuchten und anloger Formen verdichtet. Die Ergebnisse und Hypothesen wurden schon in der Zusammenfassung in 7.4 dargestellt. An dieser Stelle sollen lediglich einzelne auffällige Tendenzen und Merkmale genannt werden, welche die Perspektive über die untersuchten Formen hinaus öffen. Systemorientierte Begründungen werden dann hinzugezogen, wenn sie einfach und einleuchtend sind, in diesen Fällen geben sie aber oft den Ausschlag für eine eindeutige Präferenz innerhalb der Versuchsgruppe. Dazu gehören v. a. die Phonem-Graphem-Korrespondenz sowie die Begründungen der Wortkategorie mittels der einfach handhabbaren Artikelprobe als Operationalisierunge für das syntaktische Kriterium, dies jedoch oft in übergeneralisierender Weise. In denjenigen Fällen, wo systemorientierte Begründung komplex wären, dies gilt etwa für Begründungen der Klein- 8 Schlusswort 301 <?page no="312"?> schreibung oder der Zusammenschreibung, weichen die Versuchspersonen auf eine Reihe von nicht systembezogenen Begründungen aus, welche sich auf die Gewohnheit, die schulische Instruktion oder das visuelle Prinzip beziehen. Womit hiermit die häufigsten Kategorien genannt wären. Ebenfalls lässt sich bei komplexen Zweifelsfällen in der Groß-/ Kleinschreibung sowie der Getrennt-/ Zusammenschreibung ein individuelle Praxis beobachten, die in der Anwendung von Globallösungen besteht, wie z. B. „ im Zweifelsfall immer getrennt “ , die als Übergeneralisierungen der Grundprinzipien der Rechtschreibreform interpretiert werden können. Des Weiteren lässt sich in Bezug auf die Fremdwortschreibung bei dieser Versuchsgruppe beobachten, dass Varianz zur Konstruktion einer sozialen Identität dienen kann: So wird verschiedentlich die Verwendung der Ursprungsschreibungen bei Fremdwörtern lateinisch-griechischen Ursprungs mit Eigenschaften wie hoher Bildungsgrad assoziert oder die Ursprungsschreibung französischer und italienischer Fremdwörter als schweizerische nationale schreibsprachliche Identität konstruiert. Insgesamt zeigt dieser Teil der Erhebung eine reiche individuelle orthographische Praxis, die darauf verweist, dass auch nach Abschluss der Schule der Ausbau der Schreib- und Rechtschreibkompetenz nicht als abgeschlossen gelten kann, da berufsbezogene Anforderungen und individuelle literale Gewohnheiten zu einem Aus- und Umbau der mentalen Repräsentationen und orthographie-bezogenen subjektiven Konzepte führt, der sich in vielfältigen Begründungen manifestiert, die sich gegen Verallgemeinerung sperren. Zusätzlich wird die Interpretation dadurch erschwert, dass es an empirischen Untersuchungen und theoretische Modellierungen der Rechtschreibkomptenz Erwachsener mangelt, die als Refrenzrahmen für orthographische Untersuchungen gelten könnten. Zum Abschluss sei nochmals darauf hingewiesen, dass die vorliegende Untersuchung zur orthographischen Varianz in der literalen Praxis nur ausgewählte Varianten auf einer eingeschränkten Datenbasis untersuchen konnte. Weitergehende Untersuchungen sind nötig, vor allem auch hinsichtlich der angestrebten Weiterentwicklung des Regelwerks und des angestrebten Variantenabbaus. Diese sollten mit Vorteil jeweils auf einen ausgewählten Teilbereich der Orthgoraphie fokussieren, damit innerhalb der einzelnen Phänomenbereiche mehr Formen berücksichtigt werden können. Dabei sollte ebenfalls auf die Kombination verschiedener Erhebungsmethoden gesetzt werden, um verschiedene literale Praktiken abbilden zu können. 302 8 Schlusswort <?page no="313"?> 9 Literatur Alamargot, Denis und Chanquoy, Lucile (2001): Through the Models of Writing. Dordrecht/ Boston/ London: Kluwer Academic Publisher. (= Studies in Writing 9) Alvermann, Donna E. (2009): New Literacies. Schnittmengen der Interessen von Heranwachsenden und der Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea und Cornelia Rosebrock (Hrsg.): Literalität: Bildungsaufgabe und Forschungsfeld. Weinheim/ München: Juventa, S. 91 - 101. 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Virtuelles Korpus t1 Umfang Erhebungsperiode 1. 8. 1993 - 1. 8. 1995 Anzahl Dokumente*: 221 Anzahl Texte*: 495'516 Anzahl token 110'239'215 Quellen - COMPUTER ZEITUNG - Der Spiegel - Die Presse - die tageszeitung - Die Zeit - Mannheimer Morgen - Neue Kronen-Zeitung - Salzburger Nachrichten - stern - Lufthansa Bordbuch (dt.) - Bernhard Schlink: Der Vorleser, [Roman] - Elke Bolz: Typ & Frisur, (1993) - Günter Kunz: Texte für den Anrufbeantworter, (1993) - Heinz-Rolf Lückert: Angst und Panik, [Ratgeber], (1993) - Martin Walser: Ohne einander, [Roman], (1993) - Siegfried Lenz: Die Auflehnung, [Roman], (1994) - Walter Schild: Besser Videofilmen, (1994) - Werner Schwanfelder: Alles, was man über Vermögensbildung wissen muß, (1994) <?page no="330"?> Virtuelles Korpus t2 Umfang Erhebungsperiode 1. 8. 2000 - 1. 8. 2002 Anzahl Dokumente: 141 Anzahl Texte: 624'366 Anzahl token 169'879'182 Quellen - Berliner Zeitung - Die Presse - die tageszeitung - Die Zeit (Online-Ausgabe) - Kleine Zeitung - Mannheimer Morgen - Salzburger Nachrichten - St. Galler Tagblatt - Tiroler Tageszeitung - Vorarlberger Nachrichten - Zürcher Tagesanzeiger - Barin Bhattacharyya: Das einsame Land, [Erzählungen], (2001) - Birgit Biehl: Splitter im Sand, [Erzählung], (2001) - Dirk Blotzheim: Ernst Jüngers „ Heldenehrung “ , [Sachbuch], (2000) - Georg Fündgens: Ticket nach Babylon, [Kurzgeschichten], (2002) - Heinrich Schneeweiß: Zwischen Picknick-Service und Showbusiness, [Erzählungen], (2001) - Klaus Schlesinger: Trug, [Roman], (2000) - Peter Soppa: Der Yeti - oder so geht Leben, [Sachbuch], (2000) - Petra Tataryn: „ Kinderphilosophie “ im Literaturunterricht, [Sachbuch], (2001) - Rigo Baladur: Der stille Tod, [Sachbuch], (2001) - Szendrödi, Gyözö: Jacques Hilarius Sandsacks Psychoschmarotzer, [Roman], (2001) - Winfried Paarmann: Das Marienkäferkind, [Erzählungen], (2000) 320 Appendix A <?page no="331"?> Virtuelles Korpus t3 Umfang Erhebungsperiode 1. 8. 2006 - 1. 8. 2008 Anzahl Dokumente: 378 Anzahl Texte: 2'622'608 Anzahl token 584'220'949 Quellen - Berliner Zeitung - Braunschweiger Zeitung - Burgenländische Volkszeitung - Die Rheinpfalz - Die Südostschweiz - die tageszeitung - Die Zeit (Online-Ausgabe) - Hamburger Morgenpost - Hannoversche Allgemeine - Mannheimer Morgen - Meldungen der Deutschen Presse-Agentur - Niederösterreichische Nachrichten - Nürnberger Nachrichten - Rhein-Zeitung - spektrumdirekt - St. Galler Tagblatt - VDI Nachrichten - Angela Planert: Seleno, [Roman], (2006) - Dirk Seliger: Fabeln, [Fabeln], (2006) - Dirk und Anke Seliger: Baron Münchhausens wahre Lügen, [Erzählung], (2006) - Gudrun Billowie: Kasimir sucht das Glück, [Erzählung], (2006) - Jeannette Blechschmidt: Karla, [Geschichte], (2006) - Jutta Dietrich: Ich bin okay! , [Sachbuch, Ratgeber], (2006) - Jutta Dietrich: Sprung ins Leben, [Roman], (2006) - Karl H. Grossmann: Rattengift und Bimbes, [Kriminalroman], (2006) - Olaf Friedrich: Meine Dates, meine Frauen und ich . . ., [Roman], (2006) - Rudi W. Berger: Spitzenrausch, [Roman], (2006) - Sigrid Ramge: Strahlenkinder, [Roman], (2006) Korpora 321 <?page no="332"?> Appendix B Einzelwortschreibungen Tab. 1: Variante aufwendig/ aufwändig: Anzahl Begründungen pro Kategorie bzw. Unterkategorie verteilt auf die gewählte Formen. N VP = 44; N Begründungen = 49. Dimension Kategorie aufwendig aufwändig Total System Morphosyntax 3 19 22 grammatische Proben morpho-syntaktisch, Wortkategorien 3 19 Phonologie 1 - 1 phonologisch 1 - Suprasegmentalia - - Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie - - - Semantik Semantik/ Pragmatik - - - unspezifiziertes System Analogie (PRO/ KONTRA) - - - Logik 1 1 2 PRO + logisch, richtig - 1 KONTRA - logisch, richtig 1 - Einfachheit (PRO/ KONTRA) - - Norm-Orientierung Instruktion 5 - 5 Alte Rechtschreibung - - - Neue Rechtschreibung 1 7 8 Produktion Habitualisierung 4 1 5 PRO Gewohnheit, Vertrautheit 4 1 KONTRA - Gewohnheit, Vertrautheit - - Intuition - - - <?page no="333"?> Dimension Kategorie aufwendig aufwändig Total Rezeption Visualität 5 - 5 PRO + ästhetisch 2 - PRO + leserlich - - KONTRA - ästhetisch 3 - KONTRA - leserlich - - Weiteres Andere 1 - 1 andere Begründungen 1 - nicht kategorisierbare Begründungen - - Total Begründungen 21 28 49 Tab. 2. Variante selbständig/ selbstständig: Anzahl Begründungen pro Kategorie bzw. Unterkategorie verteilt auf die gewählte Formen. N VP = 44; N Begründungen = 50. Dimension Kategorie aufwendig aufwändig Total System Morphosyntax - 5 5 grammatische Proben - - morpho-syntaktisch, Wortkategorien - 5 5 Phonologie 10 1 11 phonologisch 9 1 10 Suprasegmentalia 1 - 1 Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie 1 - 1 Semantik Semantik/ Pragmatik - - - unspezifiziertes System Analogie - 1 1 PRO + analogisch - 1 1 KONTRA - analogisch - - Logik 1 - 1 PRO + logisch, richtig - - KONTRA - logisch, richtig 1 - 1 Einfachheit 5 - 5 PRO +einfach 1 - 1 KONTRA - einfach 4 - 4 Einzelwortschreibungen 323 <?page no="334"?> Dimension Kategorie aufwendig aufwändig Total Norm-Orientierung Instruktion 8 - 8 Alte Rechtschreibung - - - Neue Rechtschreibung - 1 1 Produktion Habitualisierung (PRO/ KONTRA) - - Intuition 1 - 1 Rezeption Visualität 11 2 13 PRO + ästhetisch 3 - 3 PRO + leserlich 3 - 3 KONTRA - ästhetisch 4 2 6 KONTRA - leserlich 1 - 1 Weiteres Andere 3 - 3 andere Begründungen 1 - 1 nicht kategorisierbare Begründungen 2 - 2 Total Begründungen 40 10 50 Fremdwortschreibung Tab. 3. Variante Delphin/ Delfin: Anzahl Begründungen pro Kategorie bzw. Unterkategorie verteilt auf die gewählten Formen. N VP = 44. Dimension Kategorie Delphin Flussdelphin Total Delfin Flussdelfin Total Total System Morphosyntax - - - - - - - Phonologie - - - 4 4 8 8 phonologisch - - - 4 4 8 8 Suprasegmentalia - - - - - - - Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie 6 5 11 5 5 10 21 324 Appendix B <?page no="335"?> Dimension Kategorie Delphin Flussdelphin Total Delfin Flussdelfin Total Total Semantik Semantik/ Pragmatik 1 1 2 - - - 2 unspezifiziertes System Analogie 1 1 2 - - - 2 PRO + analogisch 1 1 2 - - - 2 KONTRA - analogisch - - - - - - - Logik - - - - - - - Einfachheit - - - 1 1 2 2 PRO +einfach - - - 1 1 2 2 KONTRA - einfach - - - - - Norm- Orientierung Instruktion 5 4 9 - - - 9 Alte Rechtschreibung 1 1 2 - - - 2 Neue Rechtschreibung - - - 1 1 2 2 Produktion Habitualisierung 8 8 16 8 6 14 30 PRO +gewohnt, vertraut 8 8 16 8 6 14 30 KONTRA - gewohnt, vertraut - - - - - - - Intuition 1 1 2 - - - 2 Rezeption Visualität 8 10 18 4 4 8 26 PRO + ästhetisch 3 4 7 3 2 5 12 PRO + leserlich - 2 2 - - - 2 KONTRA - ästhetisch 5 4 9 1 2 3 12 KONTRA - leserlich - - - - - - Weiteres Andere - - - - - - - Total Begründungen 31 31 62 23 21 44 106 Fremdwortschreibung 325 <?page no="336"?> Tab. 4. Variante phantastisch, phantastische Ferien/ fantastisch, fantastische Ferien: Anzahl Begründungen pro Kategorie bzw. Unterkategorie verteilt auf die gewählte Formen. N VP = 44. Dimension Kategorie phantastisch phantastische Ferien Total fantastisch fantastische Ferien Total Total System Morphosyntax 1 - 1 2 2 4 5 grammatische Proben - - - morpho-syntaktisch, Wortkat. 1 - 1 2 2 - - Phonologie - - - 3 3 6 6 phonologisch - - - 3 3 6 6 Suprasegmentalia - - - - - - - Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie 2 3 5 6 6 12 17 Semantik Semantik/ Pragmatik - 1 1 1 unspezifiziertes System Analogie 4 4 8 1 1 2 10 PRO + analogisch 1 1 2 1 1 2 4 KONTRA - analogisch 3 3 6 - - - 6 Logik - - - 1 2 3 3 PRO +logisch - - - - 1 1 KONTRA - logisch - - - 1 1 1 Einfachheit - - - 1 1 2 2 PRO +einfach - - - 1 1 2 2 KONTRA - einfach - - - - - - 326 Appendix B <?page no="337"?> Dimension Kategorie phantastisch phantastische Ferien Total fantastisch fantastische Ferien Total Total Norm- Orientierung Instruktion 2 2 4 - 1 1 5 Alte Rechtschreibung 3 2 5 - - - 5 Neue Rechtschreibung - - - 2 2 4 4 Produktion Habitualisierung 3 3 6 8 8 16 22 PRO +gewohnt, vertraut 3 3 6 7 7 14 20 KONTRA - gewohnt, vertraut - - - 1 1 2 2 Intuition 1 1 2 - - - 2 Rezeption Visualität 4 4 8 4 4 8 16 PRO + ästhetisch 3 3 6 1 1 2 8 PRO + leserlich - - - 1 1 2 2 KONTRA - ästhetisch 1 1 2 2 2 4 6 KONTRA - leserlich - - - - - - Weiteres Andere - - - - - - - Total Begründungen 20 19 39 28 31 59 98 Fremdwortschreibung 327 <?page no="338"?> Tab. 5. Variante existentiell/ existenziell: Anzahl Begründungen pro Kategorie bzw. Unterkategorie, verteilt auf die gewählte Formen. N VP = 44. Dimension Kategorie existentiell existenziell Total System Morphosyntax 1 6 7 grammatische Proben - - morpho-syntaktisch, Wortkategorien 1 6 7 Phonologie - 6 6 phonologisch - 6 6 Suprasegmentalia - - Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie 3 1 4 Semantik Semantik/ Pragmatik - - - unspezifiziertes System Analogie 2 3 5 PRO + analogisch 2 3 5 KONTRA - analogisch - - - Logik - - - PRO + logisch, richtig - - - KONTRA - logisch, richtig - - - Einfachheit 1 1 2 PRO +einfach 1 1 2 KONTRA - einfach - - - Norm-Orientierung Instruktion 2 1 3 Alte Rechtschreibung - 1 1 Neue Rechtschreibung - 3 3 Produktion Habitualisierung 7 1 8 PRO +gewohnt, vertraut 8 - - KONTRA - gewohnt, vertraut - - - Intuition - - - 328 Appendix B <?page no="339"?> Dimension Kategorie existentiell existenziell Total Rezeption Visualität 2 - 2 PRO + ästhetisch 1 - 1 PRO + leserlich - - - KONTRA - ästhetisch 1 - 1 KONTRA - leserlich - - - Weiteres Andere - - - Total Begründungen 18 23 41 Groß- und Kleinschreibung Tab. 6. Variante recht geben/ Recht geben in beiden Satzkonstruktionen (Kontakt- und Distanzstellung): Anzahl Begründungen pro Kategorie pro Konstruktion für die Wahl der Kleinschreibung (KS) bzw. der Großschreibung (GS). N VP = 44. Anzahl gewählter Formen: KS: = 27; GS = 54; keine Wahl: 7. Dimension Kategorie/ Unterkategorie KS GS Kontakt Distanz Total KS Kontakt Distanz Total GS Total System Morphosyntax 5 7 12 23 16 39 51 grammatische Proben - - - 17 14 31 31 morphosyntaktisch, Wortkategorien 5 6 11 6 2 8 19 Phonologie - - - 1 1 2 2 phonologisch - - - - - - - Suprasegmentalia - - - 1 1 2 2 Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie - - - - - - - Semantik Semantik/ Pragmatik 4 5 9 - 1 1 10 Groß- und Kleinschreibung 329 <?page no="340"?> Dimension Kategorie/ Unterkategorie KS GS Kontakt Distanz Total KS Kontakt Distanz Total GS Total unspezif. System Analogie (PRO/ KONTRA) - - - 1 1 2 2 PRO + analogisch - - - - - - - KONTRA - analogisch - - - 1 1 2 2 Logik - 1 1 1 1 2 3 PRO + logisch, richtig - 1 1 1 1 2 3 KONTRA - logisch, richtig - - - - - - - Einfachheit (PRO/ KONTRA) - - - 1 1 2 2 PRO + einfach - - - 1 1 2 2 KONTRA - einfach - - - - - - - Norm- Orient. Instruktion - - - 1 1 2 2 Alte Rechtschreibung 1 1 2 - - - 2 Neue Rechtschreibung - - - - - - - Produktion Habitualisierung (PRO/ KONTRA) - - - - - - - Intuition - 2 2 1 - 1 3 Rezeption Visualität 1 2 3 - 1 - 4 PRO + ästhetisch 1 1 2 - - - 2 PRO + leserlich - - - - - - - KONTRA - ästhetisch - 1 1 - 1 - 1 KONTRA - leserlich - - - - - - - 330 Appendix B <?page no="341"?> Dimension Kategorie/ Unterkategorie KS GS Kontakt Distanz Total KS Kontakt Distanz Total GS Total Weiteres Andere Begründungen 1 1 2 - 1 1 3 Total 12 19 31 29 24 53 84 Tab. 7. Variante bis auf weiteres/ Weiteres: Anzahl Begründungen pro Kategorie für die Wahl der Kleinschreibung (KS) und der Großschreibung (GS). N VP = 44; N Begr_total = 38. Anzahl gewählter Formen: KS: = 23; GS = 19; keine Wahl: 7. Dimension Kategorie auf weiteres auf Weiteres Total System Morphosyntax 6 11 17 grammatische Proben 3 7 10 morphosyntaktisch, Wortkategorien 3 4 7 Phonologie - - - phonologisch - - - Suprasegmentalia - - - Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie - - - Semantik Semantik/ Pragmatik 2 1 3 unspezifiziertes System Analogie - - - PRO + analogisch - - - KONTRA - analogisch - - Logik 2 2 4 PRO + logisch, richtig 1 2 3 KONTRA - logisch, richtig 1 - 1 Einfachheit - - - PRO +einfach - - - KONTRA - einfach - - - Groß- und Kleinschreibung 331 <?page no="342"?> Dimension Kategorie auf weiteres auf Weiteres Total Norm-Orientierung Instruktion 1 1 2 Alte Rechtschreibung 1 - 1 Neue Rechtschreibung - 1 1 Produktion Habitualisierung 6 - 6 PRO +gewohnt, vertraut 6 - 6 KONTRA - gewohnt, vertraut - - - Intuition 1 - 1 Rezeption Visualität 4 - 4 PRO + ästhetisch 4 - 4 PRO + leserlich - - - KONTRA - ästhetisch - - - KONTRA - leserlich - - - Weiteres Andere 1 - 1 andere Begründungen 1 - 1 nicht kategorisierbare Begründungen - - - Total Begründungen 24 14 38 Tab. 8. Variante das seine/ das Seine: Anzahl Begründungen pro Kategorie bzw. Unterkategorie verteilt auf die gewählte Formen. N VP = 44. Dimension Kategorie das seine das Seine Total System Morphosyntax 1 24 25 grammatische Proben - 18 18 morphosyntaktisch, Wortkategorien 1 6 7 Phonologie - - - Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie - - - Semantik Semantik/ Pragmatik 2 1 3 332 Appendix B <?page no="343"?> Dimension Kategorie das seine das Seine Total unspezifiziertes System Analogie 3 1 4 PRO + analogisch - - - KONTRA - analogisch 3 1 4 Logik - 1 1 PRO + logisch, richtig - 1 1 KONTRA - logisch, richtig - - - Einfachheit - - - Norm-Orientierung Instruktion - 1 1 Alte Rechtschreibung - 1 1 Neue Rechtschreibung - - - Produktion Habitualisierung 1 - 1 PRO +gewohnt, vertraut 1 - - KONTRA - gewohnt, vertraut - - - Intuition 1 - 1 Rezeption Visualität 1 2 3 PRO + ästhetisch 1 - 1 PRO + leserlich - 1 1 KONTRA - ästhetisch - 1 1 KONTRA - leserlich - - - Weiteres Andere 1 - 1 andere Begründungen - - - nicht-kategorisierbar 1 - 1 Total Begründungen 10 31 41 Groß- und Kleinschreibung 333 <?page no="344"?> Tab. 9. Variante etwas anderes/ etwas Anderes: Anzahl Begründungen pro Kategorie bzw. Unterkategorie verteilt auf die gewählte Formen. N VP = 44. Dimension Kategorie etwas anderes etwas Anderes Total System Morphosyntax 5 18 23 grammatische Proben 2 11 13 morphosyntaktisch, Wortkategorien 3 7 10 Phonologie - 1 1 phonologisch - - - Suprasegmentalia - 1 1 Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie - Semantik Semantik/ Pragmatik 2 2 4 unspezifiziertes System Analogie 1 - 1 PRO + analogisch 1 - 1 KONTRA - analogisch - - - Logik 1 - 1 PRO + logisch, richtig 1 - 1 KONTRA - logisch, richtig - - - Einfachheit - - - Norm-Orientierung Instruktion 2 3 5 Alte Rechtschreibung 1 - 1 Neue Rechtschreibung - - - Produktion Habitualisierung 5 - 5 PRO +gewohnt, vertraut 5 - - KONTRA - gewohnt, vertraut - - - Intuition 2 1 3 Rezeption Visualität 3 1 4 PRO + ästhetisch 2 - 2 PRO + leserlich - - - KONTRA - ästhetisch 1 1 2 KONTRA - leserlich - - - 334 Appendix B <?page no="345"?> Dimension Kategorie etwas anderes etwas Anderes Total Weiteres Andere - - - Total Begründungen 22 26 48 Groß- und Kleinschreibung 335 <?page no="346"?> Zusammen- und Getrenntschreibung Tab. 10. Variante kaputtmachen/ kaputt machen in allen vier Satzkonstruktionen (Infinitiv, zu +Infinitiv, Partizip II, finite Form): Anzahl Begründungen pro Kategorie pro Konstruktion für die Wahl der Zusammenschreibung (ZS) bzw. der Getrenntschreibung (GetrS). N VP = 44; N Begründungen = 199. Anzahl gewählter Formen: ZS: = 27; GetrS = 146. Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total System Morphosyntax 3 5 3 2 13 11 8 14 13 46 59 grammatische Proben - - - - - 1 - 1 1 3 3 morphosyntaktisch, Wortkategorien 3 5 3 2 13 10 8 13 12 43 56 Phonologie 1 2 1 1 5 1 1 - 1 3 8 phonologisch - - - - - - - - - - - Suprasegmentalia 1 2 1 1 5 1 1 - 1 3 8 Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie - - - - - - - - - - - Semantik Semantik/ Pragmatik 1 - - - 1 1 1 2 1 5 6 unspezif. System Analogie (PRO/ KONTRA) - - - - - - - - - - - Logik - - - - - 3 3 3 3 12 12 PRO + logisch, richtig - - - - - 3 3 3 3 12 12 336 Appendix B <?page no="347"?> Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total Einfachheit (PRO/ KONTRA) - - - - - 1 - 1 1 3 3 PRO + einfach - - - - - 1 - 1 1 3 3 KONTRA - einfach - - - - - - - - - - - Norm-Orient. Instruktion - - - - - 3 3 3 3 12 12 Alte Rechtschreibung - 1 - - 1 2 1 2 2 7 8 Neue Rechtschreibung - - - - - 1 1 1 1 4 4 Produktion Habitualisierung 1 - 1 - 2 4 4 4 4 16 18 PRO Gewohnheit, Vertrautheit 1 - - - 1 4 4 4 4 16 17 KONTRA - Gewohnheit, Vertrautheit - - 1 - 1 - - - - - 1 Intuition - - - - - - - - - - - Rezeption Visualität 1 2 1 2 6 13 14 15 13 55 61 PRO + ästhetisch 1 2 1 2 6 2 2 2 2 8 14 PRO + leserlich - - - - - 6 5 6 6 23 23 KONTRA - ästhetisch - - - - - 2 2 3 2 9 9 KONTRA - leserlich - - - - - 3 5 4 3 15 15 Weiteres Andere Begründungen - - 1 - 1 3 1 1 2 7 8 Zusammen- und Getrenntschreibung 337 <?page no="348"?> Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total Total 7 10 7 5 29 43 37 46 44 170 199 338 Appendix B <?page no="349"?> Tab. 11. Variante haltmachen/ Halt machen in allen vier Satzkonstruktionen (Infinitiv, zu +Infinitiv, Partizip II, finite Form): Anzahl Begründungen pro Kategorie pro Konstruktion für die Wahl der Zusammenschreibung (ZS) bzw. der Getrenntschreibung (GetrS). N VP = 44; N Begründungen = 160. Anzahl gewählter Formen: ZS: = 15; GetrS = 153. Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total System Morphosyntax 1 3 1 1 6 18 17 16 18 69 75 grammatische Proben - - - - - 11 10 9 11 41 41 morphosyntaktisch, Wortkategorien 1 3 1 1 6 7 7 7 7 28 33 Phonologie 1 1 - 1 phonologisch - 1 - - 1 - - - - - 1 Suprasegmentalia - Semantik Semantik/ Pragmatik 2 2 1 5 2 5 5 6 18 23 unspezif. System Analogie (PRO/ KONTRA) - - - - - - - - - - - Logik - - - - - 3 3 3 3 12 12 PRO + logisch, richtig - - - - - 2 2 2 1 7 7 Kontra - logisch, richtig - - - - - 1 1 1 1 4 4 Einfachheit (PRO/ KONTRA) - - - - - - 1 1 PRO + einfach - - - - - 1 - 1 1 KONTRA - einfach - - - - - - - - - - - Zusammen- und Getrenntschreibung 339 <?page no="350"?> Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total Norm-Orient. Instruktion - - - - - 2 1 1 1 5 5 Alte Rechtschreibung - - - 1 1 1 1 4 4 Neue Rechtschreibung - - - - - Produktion Habitualisierung - - 2 2 2 2 8 8 PRO Gewohnheit, Vertrautheit - - - 2 2 2 2 8 8 KONTRA - Gewohnheit, Vertrautheit - - - - - - - - Intuition - - - - - - - - - - - Rezeption Visualität 1 1 5 6 5 5 21 22 PRO + ästhetisch 2 3 2 2 9 9 PRO + leserlich - - - - - KONTRA - ästhetisch - 1 - - 1 3 3 3 3 12 13 KONTRA - leserlich - - - - - Weiteres Andere Begründungen - 1 - 1 2 2 2 2 8 9 Total 2 6 3 2 13 35 37 146 160 340 Appendix B <?page no="351"?> Tab. 12. Variante kennenlernen/ kennen lernen in allen vier Satzkonstruktionen (Infinitiv, zu +Infinitiv, Partizip II, finite Form): Anzahl Begründungen pro Kategorie pro Konstruktion für die Wahl der Zusammenschreibung (ZS) bzw. der Getrenntschreibung (GetrS). N VPn = 44; N Begründungen = 162. Anzahl gewählter Formen: ZS: 80; GetrS: 89. Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total System Morphosyntax 5 7 6 5 23 6 5 6 6 23 46 grammatische Proben - - - - - 2 1 2 2 7 - morphosyntaktisch, Wortkategorien 5 7 6 5 23 4 4 4 4 16 - Phonologie 1 1 - 2 4 1 1 2 1 5 9 phonologisch - - - - - - - 2 1 - - Suprasegmentalia 1 1 2 4 1 1 - - 5 - Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie 1 1 1 1 3 - - - - 3 Semantik Semantik/ Pragmatik 2 1 4 2 9 - 1 1 1 3 12 Zusammen- und Getrenntschreibung 341 <?page no="352"?> Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total unspezif. System Analogie ( PRO/ KONTRA) - - - - - - - - - - - Logik 2 1 1 2 6 - - - - - 6 PRO + logisch, richtig 2 1 1 2 6 - - - - - - KONTRA - logisch, richtig - - - - - - - - - - - Einfachheit (PRO/ KONTRA) - - - - - - - - - - - Norm-Orient. Instruktion 1 1 2 3 7 - - - - - 7 Alte Rechtschreibung 1 1 1 1 4 - - - - - 4 Neue Rechtschreibung 1 1 1 3 1 1 1 - 3 6 Produktion Habitualisierung 2 - 2 1 5 2 3 2 2 9 14 PRO Gewohnheit, Vertrautheit 2 - 2 1 5 2 3 2 2 9 - KONTRA - Gewohnheit, Vertrautheit - - - - - - - - - - Intuition 1 - 2 3 1 2 3 3 9 12 342 Appendix B <?page no="353"?> Dimension Kategorie/ Unterkategorie ZS GetrS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total ZS Inf. zu +Inf. Part. II finit Total GetrS Total Rezeption Visualität 2 - 1 2 6 7 15 7 4 33 39 PRO + ästhetisch - - - 1 2 3 1 - 4 - PRO + leserlich 2 - 1 1 4 4 6 4 3 17 - KONTRA - ästhetisch - - - - - 1 2 1 - 3 - KONTRA - leserlich - - - - - 2 4 2 1 9 - Weiteres Andere - - - 1 1 1 1 1 3 4 andere Begründungen - - - 1 1 1 - 1 1 3 - nicht kategorisierbar - - - - - - - - - - - Total 19 14 18 23 74 19 28 23 18 88 162 Zusammen- und Getrenntschreibung 343 <?page no="354"?> Tab. 13. Variante infrage/ in Frage: Anzahl Begründungen pro Kategorie für die Wahl der Zusammenschreibung (ZS) bzw. der Getrenntschreibung (GetrS). N VP = 44; N Begründungen = 51. Anzahl gewählter Formen: ZS: = 2; GetrS = 43. Dimension Kategorie das seine das Seine Total System Morphosyntax - 13 13 grammatische Proben - 8 8 morphosyntaktisch, Wortkategorien - 5 6 Phonologie - 1 1 phonologisch - - - Suprasegmentalia - 1 1 Etymologie Sprachgeschichte, Etymologie - - Semantik Semantik/ Pragmatik - 3 3 unspezifiziertes System Analogie 1 2 3 PRO + analogisch 1 1 2 KONTRA - analogisch - 1 1 Logik - 4 4 PRO + logisch, richtig - 2 2 KONTRA - logisch, richtig - 2 2 Einfachheit - - - PRO +einfach - - - KONTRA - einfach - - - Norm-Orientierung Instruktion - 4 4 Alte Rechtschreibung - 2 2 Neue Rechtschreibung - Produktion Habitualisierung 1 2 3 PRO +gewohnt, vertraut 1 2 3 KONTRA - gewohnt, vertraut - - - Intuition - - - 344 Appendix B <?page no="355"?> Dimension Kategorie das seine das Seine Total Rezeption Visualität - 16 16 PRO + ästhetisch - 3 3 PRO + leserlich - 3 3 KONTRA - ästhetisch - 10 10 KONTRA - leserlich - - - Weiteres Andere - 2 2 Total Begründungen 2 49 51 Zusammen- und Getrenntschreibung 345 <?page no="356"?> Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur herausgegeben von Heike Behrens, Nicola Gess, Annelies Häcki Buhofer, Alexander Honold, Gert Hübner und Ralf Simon Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / narr-starter.de/ magento/ index.php/ reihen/ basler-studien-zur-deutschen-spracheund-literatur.html? limit=36 67 Annelies Häcki Buhofer / Karl Philipp Moritz (Hrsg.) Literaturwissenschaftliche, linguistische und psychologische Lektüren 1994, 141 Seiten €[D] 14,- ISBN 978-3-7720-1985-2 68 Heinrich Löffler (Hrsg.) Alemannische Dialektforschung Bilanz und Perspektiven 1994, XII, 322 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-1986-9 69 Christoph Grolimund Die Briefe der Stadt Basel im 15. Jahrhundert Ein textlinguistischer Beitrag zur historischen Stadtsprache Basels 1994, XII, 262 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-7720-1987-6 70 Helmut Puff Von dem schlüssel aller Künsten/ nemblich der Grammatica Deutsch im lateinischen Grammatikunterricht 1480-1560 1995, 424 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-1988-3 71 Lorenz Hofer Zur Dynamik urbanen Sprechens Studien zu Spracheinstellungen und Dialektvariation im Stadtraum 2002, VIII, 480 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2670-6 72 Lorenz Hofer Sprachwandel im städtischen Dialektrepertoire Eine variationslinguistische Untersuchung am Beispiel des Baseldeutschen 1997, XIV, 306 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-7720-2671-3 73 Beatrice Bürkli Sprachvariation in einem Großbetrieb Eine individuenzentrierte Analyse anhand sprachlicher Tagesläufe 1999, XII, 444 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2672-0 74 Petra Leuenberger Ortsloyalität als verhaltens- und sprachsteuernder Faktor Eine empirische Untersuchung 1999, XII, 308 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-2673-7 75 René Schumacher ‘Metapher’ Erfassen und Verstehen frischer Metaphern 1997, 271 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-2674-4 <?page no="357"?> 76 Angelo Garovi Rechtssprachlandschaften der Schweiz und ihr europäischer Bezug 1999, 201 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-7720-2675-1 77 Domenica Cameron Kognitive Aspekte der Sinndominanz in innerer Sprache und Lyrik Grundlage und Entwicklung des Denkens jenseits der Worte 1998, VIII, 220 Seiten €[D] 34,- ISBN 978-3-7720-2676-8 78 Maurizio Pinarello Die italodeutsche Literatur Geschichte - Analysen - Autoren 2002, 339 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-2677-5 79 Regula Schmidlin Wie Deutschschweizer Kinder schreiben und erzählen lernen Textstruktur und Lexik von Kindertexten aus der Deutschschweiz und Deutschland 1999, X, 427 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2678-2 80 Annelies Häcki Buhofer (Hrsg.) Vom Umgang mit sprachlicher Variation Soziolinguistik, Dialektologie, Methoden und Wissenschaftsgeschichte Festschrift für Heinrich Löffler zum 60. Geburtstag 1999, 390 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2679-9 81 Antonella Nicoletti Übersetzung als Auslegung in Goethes West-östlichem Divan im Kontext frühromantischer Übersetzungstheorie und Hermeneutik 2002, X, 430 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-2680-5 82 Thomas Lehmann Augen zeugen Zur Artikulation von Blickbezügen in der Fiktion 2002, 630 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-2681-2 83 Annelies Häcki Buhofer (Hrsg.) Spracherwerb und Lebensalter 2002, VIII, 358 Seiten €[D] 44,- ISBN 978-3-7720-2682-9 84 Gisela Bürki Wenn Kinderbuch-Väter sprechen ... Eine gesprächslinguistische Analyse zum Vaterbild im Kinderroman (1945-2000) 2004, 326 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8050-0 85 Brigit Eriksson Bildungsstandards im Bereich der geprochenen Sprache Eine Untersuchung in der 3., der 6. und der 9. Klasse 2006, 260 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-8164-4 86 Alexander G. Höhne Spiegelmetaphorik in Rudolf Steiners „Vier Mysteriendramen“ Textsemantische Untersuchungen 2006, 692 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8165-1 87 Hans-Peter Hodel Sprachaufenthalte Perspektiven und Unterschiede im außerschulischen Sprachlernen 2006, 343 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8171-2 <?page no="358"?> 88 Andreas Georg Müller Mit Fritz Kocher in der Schule der Moderne Studien zu Robert Walsers Frühwerk 2007, 187 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-8172-9 89 Barbara Indlekofer Friedrich Hölderlin Das Geschick des dichterischen Wortes Vom poetologischen Wandel in den Oden „Blödigkeit“, „Chiron“ und „Ganymed“ 2007, 236 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8197-2 90 Christine Beckert Schreibend und lesend Textkompetenz entwickeln Eine sozialisationstheoretisch orientierte Untersuchung des Erwerbs von Schriftlichkeit bei Jugendlichen 2011, 302 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8402-7 91 Sonja Böni Reflexionen des Ikonischen Jean Pauls narrative Bildlogik in seinen Satiren und seinem Romanerstling 2012, 249 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8458-4 92 Annina Fischer Motivationen im frühen Zweitspracherwerb 2013, 220 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8492-8 93 Christina Cuonz Sprachliche Werturteile von Laien Eine sozio-kognitive Analyse 2014, XVI, 509 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8521-5 94 Tobias Roth Wortverbindungen und Verbindungen von Wörtern Lexikografische und distributionelle Aspekte kombinatorischer Begriffsbildung zwischen Syntax und Morphologie 2014, 240 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-7720-8529-2 95 Mirjam Weder Orthographische Varianten in der literalen Praxis Empirische Untersuchung des Usus, der individuellen Repräsentationen und der Wirkung auf den Schreibprozess 2016, X, 345 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8532-1 96 Jacqueline Reber Strukturen und Muster in der Namenwelt Quantitative und qualitative Untersuchungen zum Toponymenbestand der beiden Solothurner Amteien Dorneck-Thierstein und Oltgen-Gösgen 2014, XII, 282 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8533-8 97 Fabian Grossenbacher Dialektik des Bildlichen Zum Sprachdenkens Walter Benjamins 2016, 398 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-7720-8542-0 <?page no="359"?> ISBN 978-3-7720-8532-1 www.francke.de Seit der Revision der Rechtschreibreform von 2006 sind mehr orthographische Varianten explizit zugelassen als zuvor und das Phänomen der orthographischen Varianz rückt verstärkt in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Dieser Band untersucht die Auswirkungen der orthographischen Varianz auf die kollektive und individuelle literale Praxis. Zur kollektiven Praxis gehören dabei die im Sprachusus beobachtbaren Gebrauchspräferenzen und der Umgang in Regelwerken und Wörterbüchern. Dieser Teil der Untersuchung ist von der Frage geleitet, welche der jeweils zugelassenen Doppelformen sich aufgrund welcher Kriterien im Sprachgebrauch durchsetzen wird. Zur individuellen Praxis gehören die Auswirkungen auf den Schreibprozess sowie die mentalen Repräsentationen und subjektiven orthographischen Konzepte, welche die Variantenwahl im Schreiben steuern. Die Untersuchung zeichnet sich durch einen umfassenden Zugang zur Orthographie sowie durch die Methodenkombination Korpuslinguistik, Keystroke-Logging und Befragung aus. N° 95