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Scurrilitas

Das Lachen, die Komik und der Körper in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

0724
2017
978-3-7720-5543-0
978-3-7720-8543-7
A. Francke Verlag 
Hans Rudolf Velten

Die interdisziplinäre Studie befasst sich mit komischen Inszenierungen des menschlichen Körpers in der Vormoderne. Sie beschreibt Ansätze zu einer Theorie des Lachens über körperliche Komik; sie zeichnet Aufgaben und Funktionen von Possenreißern (scurrae) im Übergang von der antiken zur christlich-mittelalterlichen Kultur nach; sie arbeitet verschiedene Handlungsmuster körperlicher Komik in theatralen Gattungen wie Neidhart- und Fastnachtspiel, Geistlichem Spiel, Farce und Commedia dell'arte sowie in Erzähltexten der deutschen und europäischen Schwank- und Novellenliteratur des Spätmittelalters heraus. Im Zentrum steht ein performatives Verständnis dieser historischen Komikformen, das die Wechselbeziehung des komischen Vorgangs mit dem gemeinschaftlichen Lachen der Rezipienten profiliert und die grundlegende Verkörperung komischer Semantik in Aufführungen und Texten aufzeigt. Forschungsgeschichtlich erweitert sie das bislang geltende Paradigma sprachlicher Komik auf den Körper und macht seine Bedeutung für die Literatur- und Theatergeschichte in der Epoche zwischen 1300 und 1550 greifbar.

<?page no="0"?> ISBN978-3-7720-8543-7 Die interdisziplinäre Studie befasst sich mit komischen Inszenierungen des menschlichen Körpers in der Vormoderne. Sie beschreibt Ansätze zu einer Theorie des Lachens über körperliche Komik; sie zeichnet Aufgaben und Funktionen von Possenreißern (scurrae) im Übergang von der antiken zur christlich-mittelalterlichen Kultur nach; sie arbeitet verschiedene Handlungsmuster körperlicher Komik in theatralen Gattungen wie Neidhart- und Fastnachtspiel, Geistlichem Spiel, Farce und Commedia dell’arte sowie in Erzähltexten der deutschen und europäischen Schwank- und Novellenliteratur des Spätmittelalters heraus. Im Zentrum steht ein performatives Verständnis dieser historischen Komikformen, das die Wechselbeziehung des komischen Vorgangs mit dem gemeinschaftlichen Lachen der Rezipienten profiliert und die grundlegende Verkörperung komischer Semantik in Aufführungen und Texten aufzeigt. Forschungsgeschichtlich erweitert sie das bislang geltende Paradigma sprachlicher Komik auf den Körper und macht seine Bedeutung für die Literatur- und Theatergeschichte in der Epoche zwischen 1300 und 1550 greifbar. Velten Scurrilitas BIBL. GERM. 63 Hans Rudolf Velten Scurrilitas Das Lachen, die Komik und der Körper in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, BURKHARD HASEBRINK UND SUSANNE KÖBELE 63 <?page no="3"?> Hans Rudolf Velten Scurrilitas Das Lachen, die Komik und der Körper in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8543-7 <?page no="5"?> 7 11 1. 21 1.1. 21 1.2. 46 1.3. 67 2. 87 2.1. 94 2.2. 99 2.3. 112 2.4. 115 2.5. 120 126 135 3.1. 135 3.2. 140 3.3. 163 177 177 4.2. 180 4.3. 194 4.4. 213 5. 222 5.1. 222 5.2. 263 5.3. 282 295 5.5. 303 317 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Körper als Lachanlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lachtheorien ohne Körper? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper . . . . . Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit: historische und kulturelle Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturwissenschaftliche Positionen: Komik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die doppelte Leerstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bachtins ‚grotesker Körper‘ als Textmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rituelles Lachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. ‚Scurrilitas‘: Transgressionen des Possenreißers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. ‚Scurra‘ und ‚scurrilitas‘: Begriffs- und diskursgeschichtliche Aspekte . . . . . . . . Das Lachen und der Körper in der theologischen Literatur . . . . . . . . . . . . Scurra und scurrilitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter . . . . 4. ‚Ioculatores‘ und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter . . . . . . . 4.1. Der ‚ioculator‘ als Unterhalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperinszenierungen als Lachanlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hofnarren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schalksnarren als städtische Unterhalter: Spottturniere und Pritschmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers im Schauspiel . . . . . . . Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität . . Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel . . . . . . Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln 5.4. Farce und Sottie: Körper, Sprache und Lachen in der ‚actio‘ . . . . . . . . . . . Narren im Fastnachtspiel: Grotesksprünge als Grotesksprüche . . . . . . . . 5.6. Die lazzi der ‚Commedia dell’arte‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 6. 326 6.1. 326 6.2. 346 6.3. 380 404 436 469 7.1. 473 488 I. 488 II. 495 534 Erzählung, Imagination und Lachen - Die Literarisierung des komischen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Inszenierungsformen des komischen Körpers: Performance, Imagination und Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der listig-hässliche Held: Markolf als hybride Lachfigur . . . . . . . . . . . . . . Höfische Possenreißer bei Franco Sacchetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Die anderen zu Narren machen: Obszönität, Versehrung und Gelächter im ‚Neithart Fuchs‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Der Schwankheld als ‚scurra‘: Körperkomik und Ritual im ‚Pfaffen vom Kalenberg‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. ‚Scurrilitas‘ im 16. Jahrhundert: ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tendenzen der Diskursivierung und Semantisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Zeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 6 <?page no="7"?> Vorwort Diese Studie wurde im Wintersemester 2008 / 2009 von der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin als Habilitationsschrift angenommen. Sie wurde 2016 / 17 für den Druck grundlegend überarbeitet. Wichtige theoretische und methodische Anstöße verdankt sie dem Berliner DFG -Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen. Die mehrjährige interdisziplinäre Zusammenarbeit dort prägte sie nachdrücklich. Fachliche Anregungen erfuhr sie insbesondere durch die Mitarbeit im mediävistischen Projekt zum Lachen in Mittelalter und Früher Neuzeit, das von Werner Röcke und Hans-Jürgen Ba‐ chorski geleitet wurde. Ihnen möchte ich an erster Stelle danken: Werner Röcke, der die Studie von Beginn an unterstützt und sie gegen immer wieder aufkommende Zweifel verteidigt hat, Hans-Jürgen Bachorski, leider viel zu früh verstorben, der für den „Körper“ in dieser Arbeit verantwort‐ lich ist, und Katja Gvozdeva, die den germanisch-romanischen Austausch der Untersu‐ chung beförderte. Weitere Berliner Kolleginnen und Kollegen haben in unterschiedlicher Weise zur Entstehung der Studie beigetragen: Erika Fischer-Lichte, Sprecherin von Kulturen des Performativen, mit ihren Überlegungen zu Begriff und Methode der Performativität, Jens Roselt, Doris Kolesch und Clemens Risi in Gesprächen zu aufführungs- und theaterhisto‐ rischen Zusammenhängen, Gernot F. Müller mit Hinweisen auf die Romania, Ekkehard König und Christoph Wulf in Debatten um Begriffe und Theorien. Ihnen danke ich ebenso wie den Freunden und Kollegen aus der germanistischen Mediävistik, die meine Arbeit über die Jahre hinweg begleitet und sie in vielfacher Hinsicht angeregt haben: Sebastian Coxon und Stefan Seeber in Diskussionen über das Lachen der Vormoderne, Regina Toepfer und Cornelia Herberichs im Austausch über das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Schauspiel, Jan-Dirk Müller und Gerhard Wolf in frühen Debatten über Lachgemein‐ schaften, Christian Kiening für methodische Ratschläge zur Komik im Rahmen des SFB , Dietmar Peschel, Florian Kragl, Christiane Witthöft und Frimi Dimpel für ihre Anmer‐ kungen anlässlich eines Erlanger Vortrags zur Komik des Körpers, Ruth von Bernuth für den Austausch zu Fragen der Narrheit. Mit einigen an Lachen und Komik interessierten Neugermanisten und Historikern habe ich ebenfalls gern diskutiert: mit Uwe Wirth als Gast in meiner Kölner Forschungsklasse zur performativen Komik, mit Tom Kindt in einer lei‐ denschaftlichen Debatte über Humour Research auf dem Freiburger Germanistentag, mit Gerd Althoff und Jean-Claude Schmitt auf den Berliner Tagungen Lachgemeinschaften und Medialität der Prozession, mit Claudia Benthien und Doerte Bischoff in wiederkehrenden Tagungs- und Cafégesprächen. Großer Dank gebührt jenen, die sich mit der Studie selbst beschäftigt, sie gelesen und begutachtet und mir Ratschläge für die Überarbeitung gegeben haben. Dazu gehören in erster Linie Ursula Peters und Susanne Köbele, denen ich nicht allein für eine akribische und kritische Lektüre, sondern auch für die Aufnahme in die Reihe Bibliotheca Germanica herzlich danke. Auch bedanke ich mich den beiden anderen Reihenherausgebern, Hubert Herkommer und Udo Friedrich, dessen Mahnung, das Buch müsse jetzt endlich auf den <?page no="8"?> Markt, zur rechten Zeit kam. Weitere Leser und Leserinnen, denen ich danken möchte, sind Thomas Hack, dessen Nachfragen zur Einleitung mir unvergesslich bleiben, Antonio Piras, der mit seiner großen Kenntnis der patristischen Literatur das dritte Kapitel Korrektur gelesen hat, und Anna Campanile, die mich bei allen schwierigen Fragen beraten hat. Dank auch an meine Siegener Korrekturleser/ innen, Nathanael Busch und Anna Campanile. Ka‐ tharina Goubeaud, Theresa Specht und Monika Traut. Ein steter Begleiter dieser Studie war mein kürzlich verstorbener Doktorvater Helmut Brackert. Ferner möchte ich den Mitarbeitern der Staatsbibliothek zu Berlin (Ost und West) sowie der Herzog August-Bibliothek Wolfenbüttel für ihre Hilfsbereitschaft danken; ebenso Justus Wittich für die Bereitstellung eines Arbeitszimmers in der Niederurseler Begegnungsstätte „Der Hof “ in Frankfurt, wo 2007 das Kapitel 6.4. entstanden ist. Schließlich danke ich dem Francke Verlag und Lektor Tilmann Bub für seine unendliche Geduld bei der Fertigstellung des Manuskripts sowie für die immer freundliche und hilfs‐ bereite Kommunikation mit ihm. Der Geschwister Boehringer Stiftung Ingelheim danke ich für die großzügige Unterstützung der Drucklegung. Siegen und Frankfurt a. M., im April 2017 Hans Rudolf Velten Vorwort 8 <?page no="9"?> Für Anna und Carlo <?page no="11"?> 1 Homer: Ilias, V. 578-79 u. 597-600. Zit. nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Einleitung Das Hinken des Hephaistos Am Ende des ersten Gesanges der Ilias, an prominenter Stelle, erschallt das „unauslöschliche Gelächter“ (asbestos gelos) der Götter auf dem Olymp. Diese hatten sich - zum ersten Mal im homerischen Epos - versammelt, um das gemeinsame Mahl einzunehmen. Doch gibt es einen Anlass zum Streit: alle warten auf Zeus, der sich wegen eines Stelldicheins mit Thetis verspätet und von der eifersüchtigen Hera deswegen bei seiner Ankunft zur Rede gestellt wird. Zeus erwidert, sie müsse nicht alles wissen. Als sie widerspricht - es geht in Wirk‐ lichkeit um das Schicksal der Griechen und Troer - gemahnt er sie mit offener Drohung zum Schweigen. Alle sind betroffen; man hat noch nichts gegessen und muss diese peinliche Situation über sich ergehen lassen. In diesem Moment erhebt sich Hephaistos, Gott der Schmiedekunst und Sohn der Hera, und hält eine kleine Rede, halb zur Mutter, halb zu den Anwesenden gewandt, über die Unberechenbarkeit des Zeus, die er am eigenen Leib hatte spüren müssen. Er mahnt Hera zur Nachsicht, mit dem Hinweis auf die geringe Bedeutung der Menschendinge, und beschwört die Eintracht im Olymp: „Nichts ja geneußt man mehr von der Freude des Mahls, denn es wird je länger je ärger.“ Daraufhin beginnt er, der ganzen Götterversammlung reihum Nektar auszuschenken, was diese mit dem bekannten home‐ rischen Lachen quittiert: Jener schenkte nunmehr auch der übrigen Götterversammlung Rechts herum, dem Kruge den süßen Nektar entschöpfend Doch unermessliches Lachen erscholl den seligen Göttern Als sie sahn, wie Hephästos in emsiger Eil‘ umherging. 1 Worüber lachen die Götter hier? Ist es die Erleichterung über den beendeten Zank und den Beginn des Mahls, ein - mit Bachtin gesprochen - festliches Lachen, das Hierarchien löst? Ist es der Kontrast zwischen dem jetzigen, friedensstiftenden, und dem vergangenen Han‐ deln des Schmiedes, als er sich auf die Seite seiner Mutter geschlagen hatte und dafür - was allen bekannt ist - von Zeus fürchterlich bestraft wurde, gewissermaßen eine Hand‐ lungs-Inkongruenz, die seine Angst vor dem Göttervater offen legt? Oder ist das Lachen hier ambivalentes Zeichen für das weitere Schicksal der Akteure auf Erden? Sicherlich sind solche Vermutungen nicht falsch. Doch bei näherer Betrachtung des Verses wird deutlich, dass zunächst etwas anderes im Vordergrund steht, nämlich die Wahrnehmung einer körperlichen Szene: die Götter sahen, wie Hephaistos in emsiger Eil umherging. Sie lachen somit über den motorischen Vorgang des eilfertigen Ausschenkens durch den Schmied, der für diese Aufgabe denkbar schlecht gerüstet ist: er hinkt nämlich. Und wie der Hinkende rechts herum geht und dabei Nektar schöpft, zu schnell für seine körperliche Behinderung, löst sich die gereizte Spannung auf dem Olymp schlagartig auf <?page no="12"?> 2 In Übertragung des Modells der performativen Herstellung von Geschlecht ließe sich auch für kör‐ perliche Behinderungen sagen, dass sie als ein „Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen“, zu betrachten wären. Unter Materialisierung versteht Butler die sedimentierte Wirkung einer andauernd wiederholenden oder rituellen Praxis. Vgl. Butler, Judith: Körper von Ge‐ wicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M. 1997, S. 32. 3 Vgl. Garland, Robert: The Mockery of the Deformed and Disabled in Graeco-Roman Culture. In: Laughter down the centuries. Vol. I. Hg. von Siegfried Jäkel u. Asko Timonen. Turku 1994, S. 71-84. Garland führt eine Reihe griechischer und römischer Autoren und Textstellen an, um zu belegen, dass Gelächter über Verkrüppelung und Hässlichkeit sowohl in Alltagspraktiken als auch in der Komödie als üblich und zulässig beurteilt wurde. und schlägt in asbestos gelos um, ein unvorhersehbares Lachen aller, das zum Mahl überleitet und Gemeinschaft unter den Göttern stiftet: „Also den ganzen Tag bis spät zur sinkenden Sonne, schmausten sie, und nicht mangelt ihr Herz des gemeinsamen Mahles …“. Auch Musik hören die Götter und den Gesang der Musen, und als es Nacht wird, legt sich Zeus sogar zu seiner Gattin schlafen. Das von Hephaistos ausgelöste Lachen hat obsiegt, es hat Wirklichkeit verändert. Das Verlachen des Hinkenden zieht die gesamte negative Energie der vorherigen Szene auf sich und lässt sie sich entladen. Doch die sozialen Bedingungen des gemeinschaftlichen Auslachens stehen bei dieser Szene nicht im Vordergrund: Hephaistos ist fest in die Ge‐ meinschaft der Götter integriert. Die Frage lautet deshalb: wie ist das Lachen über seinen Körper zu verstehen? Wird der Schmied im Moment unvorsichtiger Bewegung Opfer von Schadenfreude, einer Schadenfreude, welcher der deformierte und defizitäre Körper als ein performativer Effekt sich wiederholender Normzuschreibungen zugrunde liegt (wie Judith Butler sagen würde), 2 oder hat Hephaistos die körperliche Materialisierung des Hinkens mit seinem Auftritt erst in Szene gesetzt? Ist er unfreiwilliger Sündenbock oder listiger Spaßmacher? Die Frage umfasst das weite Spannungsfeld von körperlicher Komik und kann wegen der unklaren Vorgeschichte der Figur des Gottes nicht vollständig beantwortet werden. In jedem Fall knüpft das Gelächter an die soziale Praxis im Altertum an, behinderte und kör‐ perlich entstellte Personen als Zielscheibe der Verspottung zu gebrauchen und dies mit der Hinführung zu einem sozialen Nutzen zu rechtfertigen. 3 Es wären somit die anwesenden Götter, die bei ihrer Wahrnehmung des hinkenden Schmiedes das Ritual des Verlachens als Ausweg aus der Situation gewählt hätten. Vieles spricht aber dafür, dass es sich hier um ein kunstfertiges Verfahren handelt, die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper zu lenken, eine Fähigkeit zur Herstellung einer lächerlichen Szene mit theatralen Mitteln, die dem strategischen Ziel dient, die peinliche Situation zu entschärfen und Frieden herzustellen. Das bringt Hephaistos in die Rolle des Possenreißers, desjenigen, der absichtlich mit seinen körperlichen Mängeln ‚auftritt‘ und somit Gelächter hervorrufen kann - was den kalku‐ lierten Nutzen der Schadenfreude nicht ausschließt. Hephaistos wird schließlich als der hinkende Künstler bezeichnet, der mit erfindungsreichem Verstande auch die Paläste der Götter gebaut hat. Einleitung 12 <?page no="13"?> 4 Nach Helmuth Plessner gehört zum Lachen ein Anlass: „Zum Lachen (…) gehört (…) die sinnvolle und sinnbewußte Beziehung der eruptiv ausbrechenden, zwangshaft abrollenden, symbolisch un‐ geprägten Äußerung auf einen Anlass.“ Plessner, Hellmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens. (1941). In: H. P.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Hg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Stöker. Frankfurt a. M. 2003, S. 201-388, hier S. 227. 5 Die geschicht des pfarrers vom Kalenberg. In: Narrenbuch. Hg. von Felix Bobertag. Berlin / Stuttgart 1884, S. 7-86. (V. 1697-1708). Der Ausgabe liegt der Augsburger Druck von 1473 zu Grunde. 6 Und dies, obschon die symbolische Mischung und Umkehrung der Stände auf dem Mistwagen, da nicht der Adel, sondern der Klerus obenauf sitzt, scheinbar kein Missvergnügen auslöst. Dass damit tatsächlich auch die Verkehrung der Stände gemeint ist, zeigen das „Übersehen“ und von oben He‐ rabschauen. Der Körper als „Lachanlass“ - Helmuth Plessner hat diesen salienten Begriff geprägt 4 - schließt jedoch die Anlagerung von kognitiven und sozialen Widersprüchen nicht aus: Körper und Lachen, Konflikt und Macht, Vergangenheit und Zukunft sind in dieser Passage aufs engste miteinander verbunden. Hephaistos trägt die Wirkung der Gewalt des Zeus als bleibenden körperlichen Makel, ist somit Sinnbild für die strafende Macht des Göttervaters, welcher die anderen noch nicht ausgeliefert waren, aber die Angst davor gleichwohl kennen. Er verhindert die Eskalation der Situation - bei der seine Mutter sicherlich die Leidtragende gewesen wäre - indem er die eigene Erniedrigung in mahnender, doch spie‐ lerischer Distanzierung vorführt, und zeigt somit die Labilität der Machtverhältnisse auf dem Olymp und in der Menschenwelt auf. Und weiter noch: der Hinkende erscheint hier als Sinnbild für den Dichter, welcher die Gesellschaft der Hörer zum Lachen bringen kann, indem er seine leiblichen Schwächen als Anlass zu ritueller Freude aufführt. Der Auftritt des seltzam hoffmann Ähnlich und doch ganz anders hat einer der bekanntesten literarischen Possenreißer des Spätmittelalters, der Pfarrer vom Kalenberg (Erstdruck Augsburg 1473), eine adlige Gesell‐ schaft zum Lachen gebracht, als er, eingeladen zur höfischen Jagd, wie folgt in den Hof des Herzogspalastes einfährt: Der pfarrer nam do zu der frist sein roß vnd setzt das auff den mist, das gleubet sicher ane Hass, vnd selber er auf das roß do saß, es würd im sawer oder süeß, zwen holtzschuch legt er an die füeß (…) sein füeß die thet er recken auff den mist wagen also geil, er wünscht im selber glück vnd heil. 5 Dieses sprachliche Bild von einem närrischen Auftritt, einer semantisch ebenso uneindeu‐ tigen Körperinszenierung, die zwischen Provokation und fastnächtlicher Belustigung steht, wird vom Fürstenpaar als bizarre Extravaganz, nämlich als „seltzam hoffweis“ goutiert. 6 Der Auftritt des „seltzam hoffmann“ 13 <?page no="14"?> 7 Baudelaire, Charles: Vom Wesen des Lachens. Einige französische Karikaturisten. Einige ausländi‐ sche Karikaturisten. In: C. B.: Sämtliche Werke / Briefe. Bd. 1. Hg. von Friedhelm Kemp u. Claude Pi‐ chois. München / Wien 1977, S. 301 f. 8 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften Bd. II,3.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 956. Selbst als der Pfarrer zu einem viel späteren Zeitpunkt die Fürstin begrüßt und sich dafür entschuldigt, er habe sie von seiner hohen Position aus „vber sehen“, lacht die Angespro‐ chene: „Die fraw die sprach vnd lacht in an: / Ir seidt ein seltzam hoffman“. (1739 f.) Hier spielt der Pfarrer einmal keinen Streich, sondern er agiert einzig und allein als Unterhalter der fürstlichen Gesellschaft, deren Freude er durch sein Kommen deutlich erhöht hat. Wie bei Hephaistos weisen auch hier die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, die sich aus den verschiedenen Möglichkeiten einer Semantisierung des körperlichen Lachanlasses ergeben, wiederum auf dessen Wirkungsmacht als theatrale Szene zurück, als komische Aufführung, welche sich der Wahrnehmung der Anwesenden in beweglichen Bildern vom Körper präsentiert. Lachanlass und Lachen entsprechen sich dabei in eigentümlicher Weise, sie sind direkt aufeinander bezogen. Die Wahrnehmung des Hinkenden im Zusammenhang mit seiner Ansprache und der gespannten Situation, sowie die Aufmerksamkeit für das seltsame Vehikel des Pfarrers sind es, die das Lachen unabhängig von seinem semantischen Verständnis auslösen. Diese Direktheit von körperlichen Lachanlässen beobachtete bereits Charles Baudelaire: Leander, Pierrot, Kassander vollführen die seltsamsten Gebärden (…) sie wirbeln mit den Armen umher, sie gleichen Windmühlen, die der Sturmwind umtreibt. (…) Dies alles geschieht unter schallendem Gelächter, in welchem eine ungeheure Zufriedenheit zum Ausdruck kommt. (…) Ihre Gebärden, ihr Geschrei, ihre Mienen, alles spricht. 7 Das Lachen als ein „Chaos der Artikulation“ (W. Benjamin) 8 ist eng mit der Aufmerksamkeit für und der Wahrnehmung von körperlichen Widerfahrnissen verbunden, mit dem Fallen und Stürzen, dem Hinken und Stolpern, dem Stottern, aber auch mit exaltierten und hy‐ pertrophen Formen der Gestik und Mimik. Phänomene der Desorganisation (Plessner), des Kontrollverlustes des Körpers setzen seine Beherrschung durch die Haltung, den Geist, die Vernunft temporär aus - ein Chaos der physiologischen Artikulation. Es ist das Potential dieser unfreiwilligen Aufführungen des aus der Rolle fallenden Körpers, welches für die künstlerische Inszenierung in mimetischem Spiel, in Tanz und Theater, aber auch für lite‐ rarische Texte in der Literatur der Vormoderne bedeutsam war. Fragestellung und Gegenstand Diese Studie hat die Komik des menschlichen Körpers als Lachanlass in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zum Gegenstand. Sie geht davon aus, dass der Körper zwischen 1300 und 1550 zu den wichtigsten und am häufigsten verbreiteten Ursachen für Gelächter gehörte, bisher aber nur in Ansätzen und nicht übergreifend untersucht worden ist. In den histori‐ schen Wissenschaften wurde, vereinfacht gesagt, diese Art von Komik bislang als Situa‐ tions- oder Bewegungskomik, als „niedere“ (skatologisch-obszöne) bzw. pauschal als Einleitung 14 <?page no="15"?> schwankhafte Komik, oder als Ausdruck einer vitalistisch-karnevalistischen Weltsicht ab‐ gehandelt. Mit Ausnahme der Arbeiten von Michail Bachtin (und einigen seiner Nachfolger) spielt der Körper hierbei immer nur eine marginale Rolle; er wird von den jeweiligen the‐ oretisch-methodischen Ansätzen zur Funktionsweise der Komik vereinnahmt und in seiner Wirkungsweise verdeckt. Dass der Körper in den letzten beiden Jahrzehnten im Zentrum der historisch-anthropologischen Forschung stand (was angesichts einer jahrzehntelangen lacune nur folgerichtig erscheint), hat bislang jedoch kaum zu einer vertieften Beschäfti‐ gung mit seiner Rolle für Lachen und Komik in den Kultur- und Literaturwissenschaften geführt. In einer Epoche, in der sich nicht nur der technische Übergang von der Manuskriptzur Druckkultur, sondern auch der mediale Wandel von einer maßgeblich performativen zu einer maßgeblich textgestützten Kultur vollzieht, ist der menschliche Körper als Lachanlass Dreh- und Angelpunkt komischer Aufführungen. Nicht nur in Fastnachts- und Neidhart‐ spielen, sondern auch an den Rändern des geistlichen Spiels sowie in zahllosen Zwischen‐ spielen, Solo- und Gruppenauftritten, vor allem aber in den omnipräsenten, doch denkbar schlecht belegten Aufführungen der Spielleute und Gaukler erscheint der Körper noch vor der Sprache als Zentrum der Komik und als Auslöser des Lachens. Doch war es fast aus‐ schließlich die Sprachkomik, die von der Forschung bisher untersucht wurde, während der Körper hinter der Schrift und den Texten verschwand; dennoch spielte er für die Entwick‐ lung einer textuellen „Lachkultur“, die in der monastischen Exempelliteratur, in epischen Randerscheinungen und höfischen Kurzerzählungen ihren Anfang nahm, eine entschei‐ dende Rolle. Die Arbeit stellt sich drei miteinander zusammenhängende Aufgaben: Erstens, den menschlichen Körper als komischen Lachanlass in rituellen und theatralen Praktiken sowie in literarischen Texten zunächst einmal nachzuweisen; zweitens, die Funktionsweise seiner spezifischen Komik systematisch und typologisch zu beschreiben; und drittens zu fragen, ob und inwiefern diese Komik als charakteristisch für die Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit bezeichnet werden kann. Diese Aufgaben bedürfen ausführlicher the‐ oretisch-methodischer Begründung und den Nachweis am literarischen und historischen Textmaterial. Sie sind mit einer Reihe von Problemen verbunden, deren Diskussion dieser Untersuchung als roter Faden dient: (1) Zunächst müssen die Begriffe Lachen und Komik (die bis heute in der Forschung immer wieder gleichgesetzt werden) in ihrer Funktion bestimmt und voneinander ge‐ schieden, sowie auf die historischen Gegebenheiten hin definiert werden. (2) Ferner muss anhand von Lach- und Wahrnehmungstheorien geklärt werden, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise Körper Lachen auslösen können und welche physiologischen und psychologischen Prozesse dabei wirksam werden. (3) Drittens sind die Körpertechniken (Gesten, Stimme, Motorik) der professionellen Unterhalter des Mittelalters, sowie Spieltechniken in Spätmittelalter und Früher Neuzeit zu untersuchen, da sie als kulturelles Substrat für literarische Inszenierungen von komischen Körpern von historischer Relevanz sind. (4) Dies sind unabdingbare Vorarbeiten zum wichtigsten Fragekomplex der Untersu‐ chung: wie lassen sich körperliche Lachanlässe in theatralen Aufführungen und narrativen Texten des Untersuchungszeitraums nachweisen und welche Bedeutung haben sie für diese Fragestellung und Gegenstand 15 <?page no="16"?> 9 Bisher wurde scurrilitas im theologischen Diskurs des Mittelalters als Zungensünde, für obszönes, vulgäres Sprechen, üble Nachrede, usw. verstanden. Ich werde hier zu beweisen suchen, dass ent‐ gegen bisheriger Annahmen es die Körperlichkeit und Normtransgression des scurra waren, die die scharfe Kritik von Rhetorik und Theologie dem Lachen gegenüber insgesamt ausgelöst hat. Dazu werde ich zunächst die Relationen zwischen Lachen und Körper in der theologischen Literatur seit den Kirchenvätern herausarbeiten, im zweiten Teil die Begriffs- und Diskursgeschichte von scurra und scurrilitas referieren und im dritten die Wirkungen der diskursiven Transformationen für die moralischen Verurteilungen der Unterhaltungsberufe analysieren. Aufführungen und Texte? Und weiter: Wie gelingt es dem Text, komische Körper zu in‐ szenieren, und welche performativen Strategien liegen dieser Inszenierung zugrunde? Das Hauptaugenmerk wird hier weniger auf deren Möglichkeiten zur Semantisierung und Symbolisierung, als mehr auf Apperzeption, Effekten der Präsenz und emotionaler Affi‐ zierung durch Bewegung und Gestik liegen. Lachen und Komik in Aufführung und Text: methodische Überlegungen Diese verschiedenen Aufgaben erfordern einen differenzierten methodischen Zugriff auf jedes einzelne Kapitel. So fragt das erste Kapitel nach den Voraussetzungen und Bedin‐ gungen für das Lachen über Körperliches anhand von historisch invarianten theoretischen Ansätzen, um in neunzehn abschließenden Paragraphen Ansätze zu einer performativen Theorie der Komik zu formulieren, mit Hilfe derer das Material untersucht werden soll. Nach dem zweiten Kapitel zum Stand der literatur- und kulturwissenschaftlichen For‐ schung zu Lachen und Komik in Mittelalter und Früher Neuzeit folgt im dritten Kapitel die Untersuchung der Diskursgeschichte des komischen Körpers von der Antike bis ins späte Mittelalter anhand des Begriffsfeldes der scurrilitas. 9 Im vierten Kapitel werden historische Zeugnisse zu Techniken und Verfahren der komischen Körperinszenierung, ihren Lizenzen, Protagonisten, Räumen und Zeiten, Formen und Repertoires zusammengefasst, um eine historische ‚Grammatik‘ von Bewegungen, Gesten und Lauten aufzustellen. Das fünfte Kapitel gilt der Rolle und der Bedeutung des Lachens über Körperliches in rituell-theatralen Rahmungen des weltlichen Spiels bis zur Commedia dell’arte. Hier geht es um die verschiedenen motorischen und proxemischen, gestischen und mimischen, stimmlichen und energetischen Mittel, mit welchen Körper in Aufführungen Lachen aus‐ gelöst haben, sowie die Art und Weise, mit der diese Mittel in den einzelnen historischen Spielformen je verschieden eingesetzt wurden. Das sechste Kapitel geht schließlich einlei‐ tend der Frage nach, ob und wie Texte ihren häufig selbst formulierten Anspruch, Lachen zu erregen, einlösen können, indem die Ergebnisse aus Kap. 1 zusammen mit einer Dis‐ kussion des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen imaginatio-Begriffes zu einem analy‐ tischen Instrumentarium der Wahrnehmung von Lachanlässen in Erzählungen zusammen‐ geführt werden. Damit kann dann in vier ausführlichen Fallstudien zu narrativen Texten des 15. Jahrhunderts, nämlich zum Salomon und Markolf-Komplex, zu Sacchettis Novellen, zur Schwankkompilation Neithart Fuchs’ und zu Philipp Frankfurters Pfaffe Kalenberg, die literarische Bedeutung von Körperinszenierungen für diese Texte untersucht werden. Im Einleitung 16 <?page no="17"?> 10 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2005. 11 Vgl. Zumthor, Paul: La lettre et la voix. De la „littérature“ médiévale. Paris 1987; ders.: Körper und Performanz. In: Materialität der Kommunikation. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988, S. 703-713. 12 Maaßen, Irmgard: Text und / als / in der Performanz in der frühen Neuzeit: Thesen und Überlegungen. In: Theorien des Performativen. Hg. von Erika Fischer-Lichte u. Christoph Wulf. Paragrana. Interna‐ tionale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10 (2001), S. 285-301, hier S. 287. 13 Vgl. Velten, Hans Rudolf: Performativitätsforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hg. von Jost Schneider. Berlin / New York 2009, S. 549-572, hier S. 550. siebten und letzten Kapitel versuche ich anhand einiger Texte der ‚Narrenliteratur‘ des 16. Jahrhunderts in Form eines Ausblicks zu zeigen, wie körperliche Lachanlässe und die spe‐ zifische ‚Verkörperung‘ von Sprache durch Prozesse der Diskursivierung und Semantisie‐ rung zugunsten sprachlich-textueller Komikformen an Gewicht verlieren. Die Anlage dieser Studie lässt unschwer erkennen, dass ihr methodischer Schwerpunkt darin liegt, das in der Theaterwissenschaft entwickelte Performance-Modell für die Unter‐ suchung von Spielen und Texten der Vergangenheit fruchtbar zu machen, 10 denn ihre wich‐ tigsten Fragestellungen betreffen die Dynamik und Prozessualität von komischen Hand‐ lungen und Aufführungen (einschließlich Sprechhandlungen), ihre spezifische Materialität (Körperlichkeit, Stimmen), ihre Medialität (Rezipientenbezug, soziale Kontexte) und per‐ formative Ästhetik (Ereignischarakter, Emergenz). Dass mit dem Performance-Modell nicht nur Aufführungen, sondern auch Texte unter‐ sucht werden können, hat Paul Zumthor in seinen Arbeiten zur Theatralität und Vokalität der mittelalterlichen Dichtung seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gezeigt. 11 Er sieht das Potential des performativen Zugangs in der Erarbeitung der Bezüge des Textes auf seine Aufführung, in dem Sinne, dass am Text selbst Spuren für vorherige (und künftige) Aufführungen entdeckt werden können. Performativität erscheint hier als relationale Ka‐ tegorie, die nur in den Interaktionen mit, in den Übergängen und Bezugnahmen zur Tex‐ tualität zu fassen ist. Dadurch wird es möglich, textuelle und materielle kulturelle Praktiken, und nicht nur diejenigen der gleichen Sprache und Kultur, in einem methodischen und systematischen Zusammenhang zu analysieren. 12 So wegweisend dieser Ansatz insbesondere für die Erforschung des Aufführungsaspektes mittelalterlicher Dichtung ist, so deutlich liegen auch seine Grenzen zutage. Erkennt man wie Zumthor im (überlieferten) Text nur eine Reduktionsform eines durch die Aufführung gekennzeichneten ‚Werkes‘, lässt sich ihm kaum mehr als eine Dokumentations- und Quel‐ lenfunktion attestieren. Daher hat sich in den letzten Jahren ein Performativitätsbegriff herauskristallisiert, der die pragmatischen und aisthetischen Inszenierungs- und Vollzugs‐ dimensionen der Texte selbst in den Mittelpunkt stellt. Performativität erscheint so als eine besondere Qualität von Texten, die wie folgt beschreibbar ist: (1) als Manifestation von Präsenzeffekten, (2) als Auslösung affektiver und sozialer Wirkungen, und (3) als Zeigen ihrer je besonderen Medialität und deren Reflexion. 13 Es geht bei dieser Perspektive jedoch nicht einfach darum, dass in Texten Sprache zur Aufführung gebracht wird, oder dass Texte vorführen, wovon sie sprechen. Im dem Maße, wie Texte nicht mehr auf etwas Abwesendes verweisen, sondern es gegenwärtig, sinnlich wahrnehmbar machen können, gewinnen sie Attribute, die nicht mehr ihrem Zeichencha‐ Lachen und Komik in Aufführung und Text: methodische Überlegungen 17 <?page no="18"?> 14 Vgl. dazu Müller, Jan-Dirk (Hg.): Aufführung und Schrift in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Sym‐ posion 1994. Stuttgart / Weimar 1996, S. XIV. 15 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 263, s. auch S. 244-247. Fischer-Lichte stützt sich hier auf Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München 2000. rakter geschuldet sind und hermeneutischer Auslegung zuarbeiten, sondern als Teil einer somatisch-sinnlichen Praxis zu betrachten sind. Diese in den Text eingeschriebene und je‐ derzeit wieder erfahrbare ästhetische Praxis zu analysieren, steht im Mittelpunkt einer per‐ formativen Perspektive auf Literatur. Wissenschaftsgeschichtlich ist sie wie folgt zu begründen: Hermeneutische und zei‐ chentheoretische Ansätze haben sowohl für die Theaterästhetik, als auch für die literarische Ästhetik alles am Material Wahrnehmbare zum Zeichen erklärt und gedeutet. In dieser Perspektive von „Kultur als Text“ gibt es nichts im Kunstwerk, was jenseits der Signifi‐ kant-Signifikat-Relation existieren würde. 14 Problematisch daran ist, dass in Zeichenrela‐ tionen Handlungen immerzu etwas bedeuten. Dies ist gerade für das Verständnis von ko‐ mischen Aufführungen, wie ich zeigen werde, nicht zutreffend. Das Prügeln auf der Bühne, welches Gelächter auslöst, ist vielmehr aus seiner körperlichen Dynamik, seiner Präsenz und aus seinem theatralen Rahmen heraus zu verstehen, als über eine Zeichenbedeutung. Gerade das in einer Zeichenrelation Inkommensurable kann aus performativer Perspektive greifbar gemacht werden; dazu gehören die nicht-referentiellen Aspekte von Aufführungen wie motorische und proxemische Präsenz, Atmosphären sowie die Anwesenheit der an‐ deren Teilnehmer am Interaktionsprozess. Die Erscheinungsweise des Körpers selbst ist Bedeuten, und dieses Bedeuten wird in der Aufführung und durch die Aufführung als Er‐ eignis hervorgebracht. Auch bei der Rezeption eines Textes zeigt das Beispiel des komischen Körpers, dass dieser etwas vermittelt, was nicht eindeutig decodiert werden kann: häufig setzt er nämlich nur eine Aufführung, und nicht eine Aufführung von etwas in Szene. Die über die Zeichenbe‐ deutung hinausgehende Wahrnehmung seines phänomenalen Seins und seiner spezifischen Materialität, bzw. seiner Selbstreferentialität ist somit in einer semiotischen Analyse, die auf die Kommunikation von Bedeutung abzielt, schwer einzuholen. Wenn wir einem per‐ formativen Verständnis von Bedeutung folgen, sind Bedeutungen außerhalb von Zeichen‐ relationen zu verorten. Fischer-Lichte etwa definiert Empfindungen und Gefühle als Be‐ deutungen, da sie Bedeutungen als Bewusstseinszustände bestimmt: Ich gehe (…) davon aus, daß Gefühle körperlich hervorgebracht werden und nur als diese körper‐ lichen Artikulationen bewusst zu werden vermögen. Gefühle sind also Bedeutungen, die wegen dieser körperlichen Artikulationen von anderen wahrnehmbar und in diesem Sinne durchaus an‐ deren zu übermitteln sind, auch ohne daß sie in Worte ‚übersetzt‘ würden. 15 Wenn demnach Bedeutung in Aufführungen aus Wahrnehmungsprozessen emergiert, bleibt zu fragen, ob dieses Modell auch für Texte Gültigkeit besitzt. Was mich in dieser Annahme bestärkt, ist, dass alle Rezeptionsformen von Literatur an die auditive und visuelle sinnliche Wahrnehmung von Sprache gebunden sind. Denn auch ein Text wird durch den Vortrag, das Vorlesen und selbst noch das stille Lesen, welches Zumthor als „degré zero de Einleitung 18 <?page no="19"?> 16 Zumthor, Paul: Performance et lecture. In: P. Z.: Performance, réception, lecture. Québec 1990, S. 67-80. 17 „Es erfährt sie vielmehr in ihrem phänomenalen Sein, das sich ihm im Akt der Wahrnehmung ereignet. Der Zuschauer ist in seiner Wahrnehmung, und das heißt, vom Wahrgenommenen, leiblich affiziert. Aber er ‚versteht‘ es nicht.“ Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 271. 18 Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2003. 19 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 511. 20 Huber, Martin: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen 2003, S. 85. la performance“ bestimmte, gewissermaßen aufgeführt. 16 Insofern gilt auch für das Hören eines Textes - und das ist die vorrangige Rezeptionssituation von narrativen Texten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit -, dass die Bewusstwerdung sinnlicher Eindrücke, und seien es diejenigen, die sich aus Imaginationen ergeben, Bedeutung erzeugt. Das wahrneh‐ mende Subjekt kann im Moment der Wahrnehmung noch nicht kognitiv ‚verstehen‘, was es wahrnimmt, es nimmt zunächst eine Selbstreferentialität der Sinneseindrücke wahr. 17 Sprachliche Inszenierungen In den letzten Jahren hat der Begriff der ‚Inszenierung‘ als methodisches Konzept deshalb Karriere gemacht, weil er sowohl in historischen wie in literarischen Kontexten anwendbar ist, nämlich überall dort, wo ein Material von einer planenden, ordnenden Instanz abhängig ist, von einem Regisseur oder einem Autor. Gerd Althoff hat in seinen Studien zur Insze‐ nierung politischer Rituale überzeugend dargelegt, dass komplexe Strategien und Pläne der Realisierung mittelalterlicher Rituale und politischer Ereignisse zugrunde liegen. 18 Insze‐ nierung meint hier ebenfalls Plan und Ordnung, das Arrangement von Körpern und Ma‐ terial und den zeit-räumlichen Ablauf eines Rituals, also um bestimmte Kulturtechniken und -praktiken, mit denen etwas aufgeführt, zur Erscheinung gebracht wird. Dabei wirkt die Inszenierung häufig darüber, dass sie nicht als solche wahrgenommen wird, unterliegt also komplexen Steuerungs- und auch Täuschungsstrategien. Wenn der Inszenierungsbegriff für Aufführungen, Rituale oder auch Texte verwendet werden soll, wird er zu einer anthropologischen Kategorie, zu einem „Vorgang, der durch eine je spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Personen und Materia‐ lien etwas zur Erscheinung bringt, das seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag“. 19 Nach Iser muss der Inszenierung etwas vorausliegen, welches durch sie zur Er‐ scheinung kommt. Daher definiert er die Inszenierung auch als „Institution menschlicher Selbstauslegung“ und unterstreicht damit die anthropologische Dimension des ästhetischen Begriffes. Übertragen auf Texte heißt dies, dass sie Aufführungen, und somit auch komische Lachvorgänge, narrativ inszenieren und damit den Versuch machen, Körperlichkeit, Ma‐ terialität und Sinnlichkeit in Sprache und Schrift zu übertragen. Das in der Performance unmittelbar rezipierte Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmung, Bewegung und Sprache wird in der Literatur bewusst aufgenommen, reflektiert und kommuniziert. 20 Inszenie‐ rungen komischer Körper sind in Texten somit auf die Erzeugung bestimmter Wahrneh‐ mungs- und Vorstellungspotentiale ausgerichtet, die beim Leser die Teilhabe an einem Lachvorgang evozieren sollen. Sprachliche Inszenierungen 19 <?page no="20"?> 21 Krämer, Sibylle: Sprache - Stimme - Schrift. Sieben Thesen über Performativität als Medialität. In: Kulturen des Performativen. Hg. von Erika Fischer-Lichte u. Doris Kolesch. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7 (1998), H. 1. S. 33-57, hier S. 42. Es ist demnach wichtig, bei der Analyse von Texten auch die Handlungskontexte zu berücksichtigen, in denen die Sprache steht, und welche körperlichen und sinnlichen As‐ pekte sie transportiert. Diese können sowohl in diskursiven Beschreibungen von Körper‐ lichkeit enthalten sein, als auch in metakommunikativen oder selbstreferentiellen Aus‐ sagen. Das ist etwa an den verschiedenen mimikologischen Relationen zwischen Körper und Sprache abzulesen, insofern die als komisch ‚aufgeführte‘ Sprache körperliche Über‐ schüsse aufweist, mit denen Sprachnormen variiert, konterkariert und damit spielerisch destabilisiert und verunreinigt werden. Neben den deiktischen Funktionen (Bühler) und ihren mimikologischen Relationen (Genette) umfasst die Sprache auch klangliche und stimmliche Aspekte, an welchen ihr mimetisches Potential erkennbar ist. Die Verwendung der Sprache, mit welcher komische Körper inszeniert werden, ist somit unter der Maßgabe ihrer körperlichen Gegenwärtigkeit zu analysieren. Wenn die Sprache des Possenreißers sich als komisch, obszön, lächerlich „gebärdet“, dann ist sie gänzlich an den unmittelbaren Körper des Sprechenden und die Körperlichkeit und Materialität der Kommunikation ge‐ bunden, nicht als Signifikant, sondern als Bezug zur körperlichen Gegenwart dessen, der diese Worte ausspricht. Das heißt konsequenterweise, Sprache und auch ihre Bedeutungen als verkörperte zu begreifen. Damit wird der Aspekt des Vollziehens, der Leiblichkeit und Materialität von Sprache hervorgehoben, die Frage nach den stummen, vorprädikativen Formgebungen von Sinn. ‚Verkörperung‘ kennzeichnet dabei die Nahtstelle der Entstehung von Sinn aus nicht-sinnhaften Phänomenen. „Es ist die Medialität der Sprache, die alle Vorstellungen, das Sprechen sei ein intentionales, intersubjektiv kontrollierbares Zeichenhandeln, zu kurz greifen läßt. ‚Verkörperte Sprache‘ wird so zu einem Suchbegriff nach den materialen, den vorprädikativen Formgebungen unserer Sprachlichkeit“. 21 Die sprachliche Inszenierung von komischer Körperlichkeit ist auch deshalb eine so wichtige Kategorie, weil Aspekte der Performance wie materielle Kopräsenz, sinnliche Wahrnehmung von Emotionalität und körperliche Übertragung bei der Rezeption von Texten nur in reduzierter und medial veränderter Form gegeben sind. Dennoch tragen sprachliche Inszenierungen in Texten nicht ausschließlich semiotischen Charakter: auch sie können Präsenz erzeugende performative Strategien verwenden. Einleitung 20 <?page no="21"?> 1 Plessner, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens (1941). In: H. P.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Hg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Stöker. Frankfurt a. M. 2003, S. 201-388, hier S. 274. 2 Aus diesen Gründen wird Lachen in der Medizin heute wieder als therapeutisch wirkungsvolle Maß‐ nahme angesehen: es erhöht die Herzfrequenz und den Blutdruck, bringt den Kreislauf in Gang, erhöht die Sauerstoffzufuhr zu allen Organen, verursacht leichte Muskelanspannungen und -ent‐ spannungen. Dadurch regt es die Verdauung an, stimuliert das zentrale Nervensystem und entspannt die wichtigsten Lachmuskeln: Bauch, Zwerchfell, Schultern, Hals, Gesicht. Die mit Lachen verbun‐ dene progressive Muskelrelaxation hat deutliche Auswirkungen auf das körperliche Wohlbefinden, wie physiologische Studien belegen. Vgl. Karren, Keith J., Hafen, Brent Q., Smith, N. Lee, u. Frandsen, Kathryn J.: The Healing Power of Humor and Laughter. In: Mind / Body / Health. The Effects of Atti‐ tudes, Emotions, and Relationships. 3. Aufl. San Francisco 2005, S. 559-582, hier S. 570. 1. Der Körper als Lachanlass „Man teilt sich nie Gedanken mit: man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden.“ Nietzsche, Aphorismus aus Menschlich-Allzumenschliches 1.1. Lachtheorien ohne Körper? Das Lachen ist ein Phänomen körperlicher Eigenaktivität. Es gehört zu den unwillkürlichen körperlichen Vorgängen, die weder steuerbar noch völlig kontrollierbar sind, die, einmal in Gang gesetzt, eine der rationalen Kontrolle enteignete Dynamik entfalten, die bis zum Verlust der Selbstbeherrschung reicht: „Körperliche Vorgänge emanzipieren sich. Der Mensch wird von ihnen geschüttelt, gestoßen, außer Atem gebracht. Er hat das Verhältnis zu seiner physischen Existenz verloren, sie entzieht sich ihm und macht gewissermaßen mit ihm, was sie will“. 1 So formuliert Plessner anthropologisch als „körperliches Geschüt‐ teltwerden“ einen Sachverhalt, der sich physiologisch wie folgt beschreiben ließe: klonische Spasmen des Zwerchfells, Unterbrechung des Atems bis zur Atemnot - beides unterscheidet das Lachen vom Lächeln - Weitung der Arterien durch den Anstieg der Atemfrequenz und erhöhte Sauerstoffzufuhr, Kontraktionen der Gesichts- und Halsmuskulatur, Erröten des Gesichts, Anheben der Lider und Brauen, Runzeln der Haut an den äußeren Augenwinkeln, Heraustreten der Augen und Tränenfluss, erweiterte Nüstern und geblähte Wangen, Zu‐ rückwerfen des Kopfes und Biegen des Oberkörpers. 2 Gesten der Selbstberührung versu‐ chen die der Kontrolle entzogenen Vorgänge einzudämmen: man hält sich den Bauch, schlägt sich auf die Schenkel, krümmt den Oberkörper nach vorn oder hinten. Das Lachen als Grenzreaktion des Körpers hält auch die Sprache fest: sich vor Lachen biegen, krümmen, <?page no="22"?> 3 Vgl. dazu Jurzik, Renate: Die zweideutige Lust am Lachen. Eine Symptomanalyse. In: Lachen-Ge‐ lächter-Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln. Hg. von Dietmar Kamper u. Christoph Wulf, Frankfurt a. M. 1986, S. 39-51, hier S. 42 f. 4 Vgl. Barkhaus, Annette: Lachende Körper. Überlegungen zu einer Theorie des eigensinnigen Körpers. In: Der Körper in der Philosophie / Le corps dans la philosophie. Hg. von der Schweizerischen Philoso‐ phischen Gesellschaft. Bern 2003, S. 181-196. Barkhaus argumentiert, dass das Subjekt das Lachen als „körperliche Widerfahrnis“ erlebe. Die Widerfahrnis ist ein von Wilhelm Kamlah geprägter Be‐ griff, der in der philosophischen Anthropologie als Gegenbegriff zur Handlung dient. 5 Lachen zählt zwar zu den emotionalen Ausdrucksbewegungen, es ist von ihnen aber auch in cha‐ rakteristischer Weise getrennt: „Während Zorn oder Freude, Liebe und Haß, Mitleid und Neid usw. am Körper eine symbolische Ausprägung gewinnen, welche den Affekt in der Ausdrucksbewegung erscheinen läßt, bleibt die Äußerungsform des Lachens und Weinens undurchsichtig und bei aller Modulationsfähigkeit weitgehend in ihrem Ablauf festgelegt.“ Plessner, Lachen und Weinen, S. 225. 6 Die These, dass das Lachen symbolisch ungeprägt sei, ist für ein performatives Verständnis des La‐ chens wichtig, denn es vollzieht sich, ohne gleich Zeichen zu sein, ohne für etwas anderes zu stehen. Die Möglichkeit der semantischen Deutung besteht natürlich immediat. 7 Plessner, Lachen und Weinen, S. 368. wälzen, schütteln, platzen, zerbersten, zusammenbrechen, sich krank- oder totlachen usw. 3 Dabei macht sich der Körper visuell und akustisch für andere bemerkbar: Das Lachen kommt aus seinem Inneren, es kann als eine Art energetische Ausschüttung bezeichnet werden, als ein Prozess, in dem etwas von innen nach außen gelangt. Dieses ‚etwas‘ besteht jedoch nicht aus materiellen Körperflüssigkeiten wie etwa beim Niesen, sondern aus einem teils lautstarken rhythmischen Herauspressen von Luft, bei dem sich Energie von innen nach außen entlädt. Dieser energetische Prozess kann mit Lustempfinden einhergehen, in das sich bei anhaltendem starkem Lachen auch Schmerzen mischen können. Daher ist das Lachen auch anderen „Ausschüttungen“ des Körpers vergleichbar, die Lustempfinden be‐ wirken, wie das sich Entledigen von verbrauchten Substanzen, von Körperflüssigkeiten wie beim Spucken oder beim sexuellen Höhepunkt. Das Lachen und seine Wirkungen erfassen somit den gesamten Körper in unvermittelter und eruptiver Weise, das Lachen nimmt den Körper in Besitz, man könnte auch sagen, es widerfährt ihm. 4 Daraus folgt, dass es weder als instrumentelles Selbstverhältnis angesehen werden kann, noch als Emotion im klassischen Sinne. Der Körper fungiert beim Lachen nicht als Ausdrucksmedium für Gefühle wie Liebe, Zorn oder Trauer, sondern er ist es selbst, der agiert: Es liegt ein Prozess körperlicher Verselbständigung vor, der sich von jenem der körperlichen Symbolisierung deutlich unterscheidet. 5 Dieser autonomistische und emer‐ gente Charakter des Lachens verleiht ihm auch die charakteristische Gefühllosigkeit, welche häufig als Voraussetzung für seine Realisierung genannt wird (etwa der bekannte Bergsonsche Begriff der „Anästhesie des Herzens“). 6 Daraus folgt auch, dass Lachen kein Ausdruck einer inneren (Gemüts-)Verfassung ist, wie der Ausdruck von Emotionen etwa beim trällernden Pfeifen, sondern dass es einen äußeren Anlass, einen Lachanlass benötigt; niemand kann sich selbst zum Lachen bringen. Es ist somit in einen kommunikativen Akt eingebunden, auf den es gerichtet ist und aus dem es seine Legitimität bezieht. Das Lachen öffnet den Körper zur Welt, es ist Teil eines sozialen Vorgangs, wie Freud sagt, ein kommunikatives Geschehen: „Volle Entfaltung des Lachens gedeiht nur in Gemeinschaft mit Mitlachenden“, formuliert Plessner. 7 1. Der Körper als Lachanlass 22 <?page no="23"?> 8 “When we hear laughter, we tend to laugh in turn, producing a behavioural chain reaction that sweeps through a group, creating a crescendo of jocularity or ridicule.“ Vgl. Provine, Robert R.: Laughter. A Scientific Investigation. London / New York 2000, S. 129. Provine widmet der Ansteckung ein ganzes Kapitel („Contagious Laughter and the Brain“, S. 129-151), in welchem er allerdings zu belegen ver‐ sucht, dass sich die Ansteckung einer Verhaltensreaktion des Gehirns verdankt. Seine sonst nicht belegte, von der Neurobiologie inspirierte These, dass der Mensch einen „laugh-detector“, einen neuralen Kreislauf im Gehirn besitzt, der bei der akustischen Wahrnehmung von Lachen seinerseits einen Lachen produzierenden „laugh-generator“ in Bewegung setzt, ist hoch spekulativ und zeigt die Einengung des Problems auf kognitive Prozesse. 9 Vor allem die Theorien des Komischen gehen kaum auf Körper und Körperlichkeit ein: „ (…) das Lachen in seiner Körperlichkeit kommt nicht vor, auch nicht in den zahlreichen Theorien des Ko‐ mischen. Diese interessieren sich mehr für die logische Struktur des komischen Stimulus und die psychologischen Mechanismen der Reaktion darauf als für das Lachen selbst“. Pfister, Manfred: ‚An Argument of Laughter‘: Lachkultur und Theater im England der Frühen Neuzeit. In: Semiotik, Rhe‐ torik und Soziologie des Lachens. Hg. von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte u. Hans-Werner Ludwig. Tü‐ bingen 1996, S. 203-227, hier S. 204. Lachen ist Teil einer Kommunikationssituation, Teil der Interaktion mit anderen. Dass der Körper im Zentrum dieses Geschehens steht, ist am deutlichsten an der Tatsache zu erkennen, dass Lachen ansteckend ist: Wenn wir über Körperliches lachen, dann kommu‐ nizieren unsere Körper physiologisch, sie nehmen sich wahr und ‚stecken sich an‘. Diese Ansteckung erfolgt unwillkürlich, sie wurde auch als „Kettenreaktion“ bezeichnet, die eine Gruppe erfasst. 8 Schon allein der Blick auf das lächerliche Objekt (den Körper des Clowns etwa), verbindet uns mit diesem, denn der Blick fesselt und steigert die Aufmerksamkeit. Durch Blick und Gegenblick entsteht eine „interkorporelle“ (Merleau-Ponty) Verbindung, eine zwischenleibliche Kommunikation, die über die bloße sinnliche Wahrnehmung hi‐ nausgeht. Wie aber ist diese körperliche Kommunikation, in die das Lachen eingebunden ist und in der es sich im gemeinsamen Gelächter fortpflanzt, zu denken und zu beschreiben? Welche körperlichen Lachanlässe können unterschieden werden, und wie werden sie nicht nur sinnlich, sondern auch körperlich wahrgenommen? Am Beispiel des Blickes etwa sind in der Psychologie und in der Medientheorie Modelle entwickelt worden, wie Hypothesen über die Bewegungen des Körpers der anderen im Raum über die visuelle Wahrnehmung entstehen, die dann Reaktionen auf den eigenen Körper zur Folge haben (Innervations‐ theorien). Dabei wurde aber meist die akustische Wahrnehmung vernachlässigt, die im Falle des Lachens von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Das Lachen sowie die lächerli‐ chen Bewegungen und Laute, die mit ihm verbunden sind, werden körperlich übertragen und lösen ihrerseits Lachen aus. Wenn Lachen aus dieser Perspektive als eine mimetisch bestimmte körperliche Antwort auf lächerliche Situationen, die ihrerseits körperlich be‐ stimmt sind, gesehen werden kann, dann ist in Zweifel zu ziehen, ob die kognitive Wahr‐ nehmung bei Lachanlässen tatsächlich eine solch dominante Rolle spielt, wie von den Stu‐ dien zur Semantik des Lachens behauptet wird. Es ist daher auch wenig überraschend, dass die bisherigen ‚klassischen‘ Lachtheorien weitestgehend ohne den Körper ausgekommen sind; wenn sie ihn behandeln, dann spielt er eine untergeordnete Rolle. 9 Blickt man auf die Theorien der Antike, dann erkennt man hier bereits Fälle, in denen die Verdrängung der Körperlichkeit ein Phänomen der Rezeption ist. Ein berühmtes Beispiel 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 23 <?page no="24"?> 10 Obwohl Aristoteles bestimmte anthropologische Voraussetzungen für das Lachen definiert hatte, die mit Einschränkungen heute noch gültig sind (Lachen als proprium hominum, Lachen als Antwort auf einen Anlass), werden diese in den wenigen Sätzen zur Komödie nicht aufgenommen bzw. dis‐ kutiert. Es ist wahrscheinlich, dass sie im verloren gegangenen zweiten Buch der Poetik Eingang gefunden haben. 11 Aristoteles: Poetik. Griech./ Dt. Übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 17. 12 Noch Fuhrmann versteht unter dem „Hässlichen“ nichts Körperliches, sondern das „sinnlich wahr‐ nehmbare Schlechte“. Aristoteles: Poetik, Kommentar S. 108. 13 Für Platon legt das Verlachen soziale Positionen fest, besonders dann, wenn lächerliche Menschen gleichzeitig sozial schwache Menschen sind, solche, die sich gegen das Lachen nicht wehren können. Vgl. Platon: Philebos. In: Werke. Im Auftr. der Kommission für Klassische Philologie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hg. von Ernst Heitsch. Bd. 3,2. Übers. u. Kommentar von Dorothea Frede. Göttingen 1997, 49c. 14 Aristoteles mag hier von den Spaßmachern des griechischen Theaters beeinflusst sein, die vor allem mit gestischen und mimischen Deformationen das Publikum zum Lachen brachten. Vgl. dazu näher Kap. 3.2. hierfür ist die skizzenhafte Andeutung einer Komödientheorie in der aristotelischen Po‐ etik. 10 Aristoteles sieht im Hässlichen den wichtigsten Anlass des Lachens (5.1449a), was uns schlagartig das Hinken des Hephaistos ins Gedächtnis zurückruft, dessen körperliche Missbildung bereits Homer als lächerlich darstellte. Doch Aristoteles sieht im Hässlichen weniger eine soziale und anthropologische, als vielmehr eine ästhetische Kategorie: Die Komödie ist (…) Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Anblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächer‐ liche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz. 11 Auch wenn immer wieder betont worden ist, dass hier mit Hässlichkeit auch moralische und charakterliche Fehler gemeint sind, die keinen Schaden verursachen, 12 so ist doch am Beispiel der hässlichen und verzerrten Maske unschwer zu erkennen, dass Aristoteles das Lächerliche als Form innerhalb eines theatralen Als-ob-Rahmens denkt, in welchem die aufgeführte Lächerlichkeit keine Folgen hat. Fände das Lachen im sozialen Leben statt, wäre durchaus mit sozialen Veränderungen (Ehrverlust, Erniedrigung usw.) aufgrund des Ver‐ lachens von Hässlichkeit zu rechnen. Dies hatte Platon im Dialog Philebos deutlich gemacht, wo er das Lachen gerade wegen der negativen sozialen Implikationen (Freude am Verlachen bzw. an der eigenen Überlegenheit) ablehnt. 13 Auf dem Theater jedoch, in der Komödie, kann das Hässliche, das keinen Schaden anrichtet, nur körperlich dargestellt werden: Die „lächerliche Maske“ ist verzerrt und hässlich, d. h. die Fratze, das deformierte Gesicht des Lachenden wirkt auch als mimetischer Lachanlass. 14 Es geht Aristoteles um den Wahrneh‐ mungs- und Bildeindruck des Lächerlichen, den er in der Maske und im lächerlichen Körper erkennt. Sind bei Aristoteles theatrale Kategorien zu ästhetischen geworden, so wird das Lachen in Ciceros De oratore vor allem von rhetorischen Kategorien bestimmt. Seine Erörterungen, die ganz der Frage gewidmet sind, inwieweit der Redner das Lächerliche behandeln soll, haben folgerichtig die Rede und den Scherz in der Rede zum Thema; zwar werden wie in den Degradationsmodellen der Griechen auch körperliche Fehler und Gebrechen als Lach‐ 1. Der Körper als Lachanlass 24 <?page no="25"?> 15 Cicero, M. Tullius: De oratore. Über den Redner. Lateinisch / Deutsch. Übers. u. hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1976, II. Buch 239, S. 361: „Est etiam deformitatis et corporis vitiorum ridentur“. 16 „Vsus autem maxime triplex: aut enim ex aliis risum petimus aut ex nobis aut ex rebus mediis. Aliena aut reprendimus aut refutamus aut elevamus aut repercutimus aut eludimus. Nostra ridicule indi‐ camus et, ut verbo Ciceronis utar, dicimus aliqua subabsurda. Namque eadem quae si inprudentibus excidant stulta sunt, si simulamus venusta creduntur. XXIV. Tertium est genus, ut idem dicit, in decipiendis exspectationibus, dictis aliter accipiendis, ceteris, quae neutram personam contingunt ideoque a me media dicuntur“. Quintilian, Institutio oratoria. Buch 6, Kap. 3, 22 f. 17 Vgl. dazu ausführlich Kap. 3.2 18 „Es geziemt sich für den Redner keineswegs sein Gesicht zu verzerren und unsittliche Gesten zu machen, welche im Mimus Lachen zu erregen pflegen. Genauso wenig opportun sind unflätige Späße und solche, die auf den Theaterbühnen aufgeführt werden. Was das Obszöne angeht, muss es nicht nur aus seiner Sprache getilgt werden, sondern sollte noch nicht einmal angedeutet werden. Selbst wenn unser Gegner es verdient hätte, sollte unser Verhalten es [das Obszöne] auch als Spiel meiden.“ Quintilian, Inst. Orat. 6,3,29 (Übers. HRV). anlass genannt, doch geht es hier in der Hauptsache um die Lizenzen des Sprechens darüber bzw. die Grenzen der witzigen (verbalen) Verspottung. Die aristotelische Bestimmung des Lächerlichen als die Aufführung des Gemeinen und Hässlichen bezieht er auf den Witz und das Scherzen: „Einen recht hübschen Stoff zum Scherzen bieten auch Missgestalt und kör‐ perliche Gebrechen.“ 15 Es ist hier nicht der Körper selbst, der als Lachanlass fungiert, son‐ dern er liefert lediglich den „Stoff “ für verbale, rhetorisch mehr oder weniger kunstvolle Scherzreden und witzige Aussprüche. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei der zweiten einflussreichen rhetorisch bestimmten Theorie des Lachens in der Antike, Quintilians Institutio oratoria. Im Anschluss an Cicero macht Quintilian deutlich, wie sehr seine Überlegungen auf das Erregen von Lachen durch den Redner bezogen sind. Er unterscheidet drei Weisen, um Lachen zu erregen: (1) das Verspotten anderer bzw. der Worte anderer, (2) die Selbstironie, (3) die Täuschung von Erwartungshaltungen. 16 Körperliche Lachanlässe werden ganz ähnlich wie bei Cicero zwar genannt („Item ridicula aut facimus aut dicimus“) doch als unangemessen abgelehnt. 17 Quintilian ist noch rigoroser in Bezug auf die Grenzen des Witzes und der Komik: Alles, was nur in die Nähe von Bühnenkomik oder gestischer Komik führt, soll vermieden werden: Oratori minime convenit distortus vultus gestusque, quae in mimis rideri solent. Dicacitas etiam scurrilis et scaenica huic personae alienissima est: obscenitas vero non a verbis tantum abesse debet, sed etiam a significatione. Nam si quando obici potest, non in ioco expro‐ branda est. 18 Quintilian lehnt es aus leicht verständlichen Gründen ab, über obszöne und theatrale Komik zu handeln, weil diese in ihrer Körperlichkeit kein angemessenes Thema sei. Die Verzer‐ rungen des Körpers und die dicacitas scurrilis werden dem Theater zugeschrieben und somit einem sozialen Ort, der außerhalb der Grenzen rhetorischer (und theoretischer) Zustän‐ digkeit liegt und in der Folge nicht zu behandeln sei. In gewisser Weise übernehmen die meisten philosophischen Lachtheorien bis ins 20. Jahrhundert hinein Quintilians Auslas‐ sung des Körpers und konzentrieren sich auf die Sprache, den verbalen Scherz und Witz, oder auf das Lächerliche und Komische allgemein. 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 25 <?page no="26"?> 19 Hobbes, Thomas: On the Human Being (1658). In: Th.H.: The English Works. Vol. 4. Part 1. Chapter 12: “Affections or disturbances of the mind“. Dt.: Vom Menschen. Vom Bürger. Eingel. u. hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1959, S. 33. 20 Thomas Hobbes, Leviathan 6.21. Hervorh. H.R.V. 21 Abgesehen davon, dass die Überlegenheitstheorie Hobbes’ bereits im 18. Jahrhundert starker Kritik ausgesetzt war - Francis Hutcheson stellte klar, dass nicht jedes Gefühl der Überlegenheit sich im Lachen äußert - wird das Überlegenheitsgefühl heute als eine von vielen Reaktionen auf Lachanlässe verstanden. Hutcheson, Francis: Reflexions upon Laughter, Glasgow 1750. 22 In der Tat ist der Begriff „Vergleichstheorie“ besser als „Überlegenheitstheorie“ für den Hobbesschen Ansatz geeignet, da es sich immer um eine Vergleichung des Lächerlichen mit der eigenen Erfahrung bzw. dem eigenen Ich handelt. Überlegenheits- und Inkongruenztheorien Thomas Hobbes erklärt in seinem Traktat über den Menschen die Entstehung des Lachens aus einer plötzlichen Überlegenheit heraus: „Laughter is nothing else but a sudden glory arising from some sudden conception of some eminency in ourselves by comparison with the infirmity of others.“ 19 Er formuliert damit die erste Superioritätstheorie des Lachens und verlegt so den Fokus vom lächerlichen Objekt in das wahrnehmende Subjekt und vom Theater bzw. der Rede in den Bereich der Affekte und des gesellschaftlichen Konflikts. Mit dieser Position verlässt Hobbes die Ebene des Körpers vollkommen und behandelt das La‐ chen als (negativ bewertete) soziale Funktion: Es soll andere einschüchtern, indem es sie erniedrigt. Der Körper ist zwar als Lachanlass noch spürbar, auch das Lachen selbst wird mit der Metapher der Grimasse bezeichnet, doch beides wird gewissermaßen entmaterial‐ isiert. Im Leviathan schreibt Hobbes zusammenfassend: Sudden glory is the passion which maketh those grimaces called laughter; and is caused either by some sudden act of their own that pleaseth them; or by the apprehension of some deformed thing in another, by comparison whereof they suddenly applaud themselves; who are forced to keep themselves in their own favour by observing the imperfections of other men. And therefore much laughter at the defects of others is a sign of pusillanimity. 20 Das Lachen ist hier zur Grimasse geworden und der Lachanlass die Wahrnehmung einer Deformation; welche Art Deformation jedoch gemeint ist, wird nicht gesagt. Hobbes be‐ dient sich zwar Körpermetaphern, um das Lachen zu beschreiben, diese zielen in ihrer abstrakten Anwendung jedoch auf eine Generalisierung: Mit „some deformed thing“ scheinen viele Arten des Normfernen und Minderen gemeint zu sein. 21 Hobbes’ Ausfüh‐ rungen beruhen im Grunde auf der Wahrnehmung eines Vergleichs im sozialen Leben. 22 Sie gehen nicht auf die Wurzeln dieser Wahrnehmung ein, sie unterscheiden auch nicht zwischen Körper und Aussehen, Geist und sozialer oder ethnischer Herkunft des lächerli‐ chen Gegenübers, sie rechnen nicht mit seiner Täuschung und Verstellung (im Falle des Possenreißers), sondern sind ganz auf den lustvollen Affekt des Lachens selbst bezogen. Im Körper erkennt Hobbes keinen eigenständigen Lachanlass. Ganz ähnlich verhält es sich mit einer anderen Variante des Vergleichs, den sogenannten Katastrophentheorien, bei denen das Lachen nicht aus Überlegenheit, sondern aus über‐ 1. Der Körper als Lachanlass 26 <?page no="27"?> 23 Das Lachen ist in diesen Modellen der Ausdruck für die Erleichterung, der Katastrophe entronnen zu sein: „Die Lust des Lachens resultiert also nicht aus Überlegenheit, sondern daher, dass wir von einem Abgrund mit heiler Haut davongekommen sind. (…) Phylowie Ontogenese des Lachens können deutlich machen, dass das Lachen seine Kehrseite in Bedrohungen hat. Es steht mit den die Zivilisation prägenden Triebkonflikten in enger Beziehung.“ Jurzik, Die zweideutige Lust am Lachen, S. 44. 24 Baudelaire, Charles: Vom Wesen des Lachens. Einige französische Karikaturisten. Einige ausländi‐ sche Karikaturisten. In: C. B.: Sämtliche Werke / Briefe. Bd. 1. Hg. von Friedhelm Kemp u. Claude Pi‐ chois. München / Wien 1977, S. 284-305, S. 286. 25 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. 2 Bde. Zürich 1977, hier 2. Bd. Kap. 8. 26 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frank‐ furt a. M. 1974. Paragraph 54, S. 270-276. 27 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 271. Zur Bisoziation Koestlers s.unten Kap. 1.2 28 Als ein Beispiel zitiert Kant den Witz über den Indianer, der sich nicht über den Schaum des Bieres wundert, der aus der Flasche dringt, sondern darüber, wie er in die Flasche hineingekommen sei. wundener Angst resultiert. 23 So formuliert Charles Baudelaire in seinem Essay Vom Wesen des Lachens (1855): „Fest steht (…), daß das menschliche Lachen aufs engste mit der Kata‐ strophe eines frühen Falles, einer physischen und moralischen Erniedrigung verknüpft ist.“ 24 Am Beispiel des Sturzes veranschaulicht Baudelaire, dass Lachen nicht nur der Scha‐ denfreude, sondern der Freude an der eigenen Vermeidung des Sturzes entspringe. Auch bei dieser subjektbezogenen Theorie geht es um die Verarbeitung einer sinnlichen Wahr‐ nehmung, bei der die somatischen Bezüge des Vorgangs nicht in Erscheinung treten. Hierzu gehört schließlich auch die These, dass Lachen aus einem Gefühl der Unterlegenheit heraus entsteht (Verlegenheitslachen), ein Versuch, Lachen über die Selbstwahrnehmung (und hier wiederum nicht über den eigenen Leib) zu erklären. Das wahrnehmende Subjekt steht auch bei den Inkongruenztheorien im Mittelpunkt. Die erste Inkongruenztheorie wurde von Schopenhauer formuliert: Das Lachen entstehe plötzlich in der Wahrnehmung einer „Inkongruenz zwischen einem solchen Begriff und dem durch denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen dem Abstrakten und dem Anschaulichen.“ 25 Mit diesem Konflikt zwischen Verstand und Intuition schließt Scho‐ penhauer indirekt an Kants berühmte Definition des Lachens als eines Affektes, der aus der „plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts“ entstehe, an. 26 Kant hatte im Lachanlass etwas „Widersinniges“ bemerkt, eine Inkongruenz von Erwartung und ihrer Enttäuschung. Kants und Schopenhauers Inkongruenzthesen machten deshalb Karriere, weil sie sich auch zur Bestimmung des Komischen als einer plötzlichen Nebeneinander‐ stellung oder „Bisoziation“ (Koestler) inkompatibler Regeln, Codes oder Logiken eigneten, deren Erscheinen eine anfängliche Verwirrung auslösten, gefolgt von einer raschen An‐ passungsleistung und einer Auflösung des Problems. Es handelt sich dabei um einen zwei‐ stufigen kognitiven Wahrnehmungsprozess, der über die Erkenntnis eines Widerspruchs als Spiel mit der Vorstellung (Kant) verläuft und gerade durch seine Absorption von Auf‐ merksamkeit Lachen hervorruft. Dabei spielt der Körper, bei Kant etwa eine bedeutende Rolle als Resonanzboden, wenn die Belebung durch das Lachen als eine körperliche und als „Spiel von der Empfindung des Körpers zu ästhetischen Ideen“ bezeichnet wird. 27 An Körperliches als Lachanlass jedoch scheint Kant weniger gedacht zu haben; auch ihm schwebt das Komische einer heiter gestimmten Konversation als Idealfall für das Lachen vor, wie sein Beispiel eines witzigen Missverständnisses zeigt. 28 Inkongruenztheorien 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 27 <?page no="28"?> 29 James English macht darauf aufmerksam, dass lächerliche Inkongruenzen ihr Fundament in sozialen Inkongruenzen haben; Lachen benötige den Konflikt, was man daran erkennen könne, dass weder im Paradies noch in utopischen Gesellschaften gelacht werde. English, James F.: Comic Transactions. Literature, Humor, and the Politics of Community in Twentieth-Century Britain. Cornell 1994, S. 9. 30 Ewald Hecker: Die Physiologie und Psychologie des Lachens und des Komischen. Ein Beitrag zur expe‐ rimentellen Psychologie für Naturforscher, Philosophen und gebildete Laien. Berlin 1873, S. 241 ff. 31 Schon Plessner weist auf die Mängel des Heckerschen Ansatzes hin: „Es bietet heute keine Schwie‐ rigkeiten mehr, die Unhaltbarkeit der physiologischen und psychologischen Stützen an Heckers Theorie nachzuweisen.“ Plessner, Lachen und Weinen, S. 284. 32 Spencer, Herbert: The physiology of laughter. In: Essays: Scientific, Political and Speculative. Vol. II. New York 1891, S. 452-466. Spencer nennt drei Hauptwege, auf die sich die nervöse Energie verteilt: Innervation der Gefäßverengung (daher Erröten und Erbleichen), Innervation des motorischen Sys‐ tems und drittens Assoziation von der Emotion verwandten Ideen und Gefühlen. Für das Lachen ist der zweite Weg entscheidend. nennen zwar hin und wieder auch Körperliches als gegensätzlich, doch der eigentliche Auslöser des Lachens ist eine Vorstellungsleistung bei der Wahrnehmung der Inkongruenz. Kritiker haben angemerkt, dass die Inkongruenzthese nicht mehr als ein Aspekt des komi‐ schen Vorgangs ist, eine bindende Spannung, die auf einen Widerspruch im Sozialen hin‐ deutet, und der für die Situation konstitutiv ist. 29 Auch vor diesem Hintergrund ist es er‐ klärlich, dass keine Überlegenheits- oder Inkongruenztheorie ein methodisch brauchbares Instrument für die Untersuchung körperlicher Lachanlässe enthält. Psychologische Entlastungstheorien In weiten Bereichen stimmen die Entlastungsmodelle des Lachens mit den Inkongruenz‐ theorien überein (Lachen als Reaktion eines wahrnehmenden Subjekts, kognitive Verar‐ beitung des Anlasses), sie konzentrieren sich aber vornehmlich auf die psychologischen Prozesse des Lustgewinns bzw. der Unlustvermeidung beim Lachen. So erkennt Ewald He‐ cker - im Anschluss an Kants und Vischers ontologische Auffassungen vom Lächerlichen als eines Hin- und Herschwankens zwischen Lust und Unlust - das Lachen als eine inter‐ mittierende, rhythmisch unterbrochene, freudige Gefühlserregung, der eine intermittie‐ rende Sympathicusreizung zugrunde liegt. 30 Lachen erscheint so als ein Reflex, ein Schutz‐ mechanismus des Körpers bei ambivalenten Situationen, die gleichzeitig angenehme und unangenehme Gefühle provozieren. 31 Auch wenn Hecker damit das Lachen als Reaktion auf physische Reize wie den Kitzel und auf das Komische als analoge Strukturen mitei‐ nander in Verbindung bringen kann, und somit das Augenmerk auf den auslösenden Mo‐ ment legt, so hat er keinerlei Versuche unternommen, den Lachreiz des fremden Körpers in sein System einzubeziehen. Schon vor Hecker hatte Herbert Spencer die wichtigen Zusammenhänge von Physiologie und Psychologie beim Lachen erkannt. In seinem kurzen doch sehr einflussreichen Essay The Physiology of Laughter (1860) erscheint das Lachen als Phänomen psychischer Entlas‐ tung im Sinne der Entladung einer zuvor akkumulierten übergroßen psychischen Spannung bzw. eine Abfuhr nervöser Energie. 32 Spencer geht davon aus, dass starke Emotionen wie Angst und Aggression „nervöse Energie“ produzieren, welche akkumuliert wird und in der Lachsituation abgeführt werden kann. Das Lachen stellt sich ein, wenn die Aufmerksamkeit eines emotional „aufgeladenen“ Organismus durch einen wenig bedeutenden Vorfall ab‐ 1. Der Körper als Lachanlass 28 <?page no="29"?> 33 „Laughter naturally results only when consciousness is unawares transferred from great things to small - only when there is what we may call a descending incongruity“. Spencer: The physiology of laughter, S. 463. 34 Als ebenfalls von Spencer und von Kant beeinflusst gilt der Ansatz von Theodor Lipps, dessen Aufsatz Komik und Humor von 1898 häufig zu den psychologischen Lachtheorien gerechnet wird, weil er psychologische mit ästhetischen Elementen verbindet und einen beträchtlichen Einfluss auf Freud ausübte. Allerdings streift Lipps das Lachen nur am Rande und trennt es, ungleich vielen seiner Vorgänger, deutlich von der Komik. S. unten die Diskussion der Komiktheorien. Lipps, Theodor: Komik und Humor. Eine psychologisch-aesthetische Untersuchung. Hamburg / Leipzig 1898. 35 Bliss, Sylvia H.: The Origin of Laughter. The American Journal of Psychology 26 (1915), S. 236-246, S. 239. gelenkt wird, der weniger emotionalen Aufwand benötigt („descending incongruity“). 33 Spencer erklärt dies mit Hilfe von energetischen Metaphern des Strom- und Wasserkreis‐ laufes, die den emotionalen „Stau“ und nachfolgende Entladung von Spannung plausibel machen können. Der Lachanlass erhält in dieser Perspektive die Funktion eines Reizes für die Öffnung eines muskulär-motorischen Ventils, durch welches überschüssige Energie entweichen kann. Das energetische Modell Spencers ist zwar stark kritisiert worden, hat als Denkmodell für die Relation von nervösen, motorischen und energetischen Aspekten des Lachens jedoch seine Berechtigung. Leider ist das Prinzip des energetischen Ausgleichs nur auf die einzel‐ menschliche Psyche anwendbar, und nicht auf die energetischen Prozesse zwischen anwe‐ senden Körpern, was es für unsere Zwecke nur wenig brauchbar macht. Trotzdem muss sein Einfluss auf die nachfolgenden psychologischen Erklärungsmodelle des Lachens bis zu Freud konstatiert werden. 34 Etwas anders als Spencer versteht Sylvia H. Bliss in ihrem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel The Origin of Laughter die psychologischen Mechanismen des Lachens. Ausgehend vom Konflikt zwischen natürlichen und sozialen Trieben sieht sie im Lachen das Ergebnis einer plötzlich aufgehobenen Repression: „Laughter is the result of suddenly released re‐ pression, the physical sign of subconscious satisfaction.“ 35 Diese Aufhebung der Triebun‐ terdrückung stellt sie in einen an Darwin angelehnten phylogenetischen Rahmen, in wel‐ chem der Mensch schrittweise seine Triebe und Instinkte verdrängt hat. Bei Bliss wird eine Schwäche vieler psychologischer Ansätze deutlich, dass nämlich das Lachen lediglich als ein „physisches Zeichen“ innerpsychischer Vorgänge gewertet wird. Die sichtbaren phy‐ siologischen Phänomene sind nur ein Ausdruck der dahinter liegenden seelischen Vor‐ gänge, welche jedoch nur skizzenhaft beschrieben werden können. Verhaltens- und Sozialmodelle Während bei Bliss phylogenetische Aspekte des Lachens eher angedeutet bleiben, spielen sie bei biologisch und ethologisch motivierten Untersuchungen eine größere Rolle. Die dabei analysierten Zusammenhänge von tierischem und menschlichem Verhalten sind in Bezug auf die Körperlichkeit des Lachens insofern von Bedeutung, als entwicklungsbiolo‐ gische Modelle eventuell Hinweise auf historische Prozesse der sozialen Bedeutung des Lachens geben können. 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 29 <?page no="30"?> 36 Dies ist bei Pferden, Graugänsen, Enten und Gimpeln beobachtet worden. Bei den Gänsen führt im Werbezeremoniell das Männchen eine Performance auf, bei der es einen vermeintlichen Angreifer in die Flucht schlägt (um seine Kraft zu zeigen). Dabei lässt es ein Triumphgeschnatter verlauten. Vgl. im Anschluss an Konrad, Lorenz u. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Grundriß der vergleichenden Ver‐ haltensforschung. Ethologie. 8. Aufl. München 1999, S. 242-255. 37 Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, S. 249. 38 Grammer, Karl u. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: The Ritualisation of Laughter. In: Natürlichkeit der Sprache und der Kultur. Acta Colloquii. Hg. von Walter A. Koch. Bochum 1990. Bochumer Beitr. zur Semiotik (18), S. 192-214, hier S. 195. 39 Jefferson hat die in der Komik- und Humorforschung vorherrschende Ansicht korrigiert, Lachen folge immer auf einen humoristischen Stimulus. Jefferson, Gail: A Technique for Inviting Laughter and its Subsequent Acceptance / Declination. In: Everyday Language. Studies in Ethnomethodology. Hg. von George Psathas. New York 1979, S. 79-96. Die Ethologen Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeld deuten das Lachen als ein ins‐ tinktives „ritualisiertes Verhalten“, das einer ursprünglichen Drohbewegung (etwa dem Zähnezeigen) die Aggression nimmt und sie in ein spielerisches Necken (spielerisches Zu‐ beißen) oder in Grußgebärden verwandelt. Solchen Gebärden liegen ethologisch aggressive Verhaltensweisen zugrunde, die aber mit Spielsignalen gekoppelt und somit entschärft werden. 36 So Eibl-Eibesfeld: Es ist ziemlich sicher, dass im Lachen Aggression steckt. Die rhythmische Lautäußerung erinnert an ähnliche Lautäußerungen, mit denen viele Primaten einer Gruppe gemeinsam gegen einen Feind drohen (‚hassen‘). Ein solches gemeinsames Drohen verbindet die Mitglieder einer Gruppe. (…)Außerhalb der Gruppe Stehende berührt ein solches Lachen eher unangenehm, ja, wenn es den Charakter des Auslachens trägt, wirkt es ausgesprochen aggressiv, herausfordernd. Lachen scheint in seiner ursprünglichen Funktion gegen Dritte zu verbinden. 37 Zum Gruppendrohen kommt in der Entwicklung des Lachens ein körperliches Merkmal hinzu, das sogenannte ‚entspannte Mundoffengesicht‘ („relaxed open mouth display“), dem eine spielerische Beißintention zugrunde liegt. Es ist bei jungen Primaten häufig anzu‐ treffen und hier ein metakommunikatives Signal, welches das mit ihm verbundene Ver‐ halten als Spottaggression oder Spiel kennzeichnet: „(…) a common pattern during play among primate infants, which is a metacommunicative signal, designating the behaviour with which it is associated as mock aggression or play.“ 38 Das entspannte Mundoffengesicht ist ein Merkmal ritualisierten Verhaltens, dessen Funktionen Vereinfachung, Wiederer‐ kennbarkeit und Eindeutigkeit des Signals sind. Auch beim Menschen können solche ritu‐ alisierten Merkmale beobachtet werden: Neben dem gesprächsbegleitenden Lachen als Sti‐ mulus können auch bestimmte mimische und gestische Verhaltensweisen eine spielerische / scherzhafte Situation signalisieren (Zwinkern, Brauenziehen), wie etwa beim ironischen Sprechen. Initiallachen etwa evoziert in der Regel Reaktionslachen, und Lach‐ partikel in Äußerungen sind oft Lachsignale: was jetzt kommt, ist spielerisch gemeint, es darf gelacht werden. 39 Der soziale Sinn einer spielerischen Markierung liegt vor allem in der Vermeidung eines Gesichtsverlustes: Gerade in Begegnungen mit Unbekannten und dominanten Partnern (auch in Geschlechterbeziehungen) können risikoreiche Handlungen als scherzhaft ausge‐ geben werden, um im Fall der Ablehnung Frustration und Rangminderung zu verhin‐ 1. Der Körper als Lachanlass 30 <?page no="31"?> 40 Zahlreiche Studien untersuchen die Geschlechterunterschiede beim Lachen; immer wieder wird be‐ tont, dass in gemischten Gruppen Frauen häufiger lachen als Männer, vor allem beim punktuellen Lachen, wohingegen Männer häufiger den Lachanlass liefern. Lachen wird als Indikator für Interesse gesehen, hat bei risikoreichen geschlechtlichen Begegnungen auch taktische Funktionen. Vgl. Grammer u. Eibl-Eibesfeld, The Ritualisation of Laughter, S. 212; Kotthoff, Helga: Das Gelächter der Geschlechter. Humor und Macht in Gesprächen von Frauen und Männern. Frankfurt a. M. 1988; sowie weitere Untersuchungen zum Thema. 41 Provine, Laughter. A Scientific Investigation, a. a. O. Provine wird auf dem Klappentext als „the world’s leading scientific expert on laughter“ beschrieben. Das Buch fasst mehr als 40 Beiträge aus zehnjäh‐ riger Arbeit zusammen. 42 „Laughter, I found, is an ancient vocal relic that coexists with modern speech - a psychological and biological act that predates humor and speech and is shared with our primate cousins, the great apes“. Provine, Laughter, S. 2. 43 Provine, Laughter, S. 2. Vgl. sein Kap. „Tickling Relationships“, S. 99-128. dern. 40 In allen Fällen trägt das Lachen zum Abbau von Aggression bei. Das Lachen als körperliches, ritualisiertes Markierungssignal bei der Interaktion dient somit der Festigung der Gemeinschaftskohäsion durch Korrektur und Anpassung normüberschreitenden Ver‐ haltens. Die wichtige Rolle des Lachens als Mittel der Kohäsionssteigerung von Gemein‐ schaften werde ich weiter unten noch genauer betrachten, und zwar im Zusammenhang mit Gemeinschaften der Vormoderne. Dort diskutiere ich auch die wichtigsten sozial aus‐ gerichteten Theorien von Lachen und Komik. Festzuhalten ist einstweilen, dass die etho‐ logische Lachforschung zwar anderen Erkenntnisinteressen als unseren nachgeht, ihre Be‐ funde zur Rolle körperlichen Verhaltens in der Interaktion aber genutzt werden können. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang noch die Arbeit des Psychologen und Verhaltensforschers Robert Provine. 41 Mit Hilfe neurobiologischer Modelle und soziologi‐ scher Feldforschung versucht er, das Lachen als Verhaltens- und Kommunikationsform au‐ ßerhalb gängiger Schemata wie Witz, Komik und Humor zu bestimmen: Lachen als lautli‐ cher Bestandteil der Rede, der älter als die Sprache selbst ist und auf ritualisierte Kommunikationsformen verweist. 42 Im Anschluss an die Ethologie (v. a. van Hooff) erklärt Provine dies entwicklungsbiologisch: Erst der aufrechte Gang habe den Thorax befreit und es möglich gemacht, die für den Menschen typischen Lachlaute auszustoßen. Damit erklärt Provine auch den Kitzel als ältesten Lachstimulus: „From tickling, an ancient stimulus for laughter, we learn of laughters‘ descent from the ritualized panting of rough-and-tumble play“ 43 Die Ergebnisse von Provines Feldforschung bestätigen, dass Lachen ein vorprogram‐ mierter Marker für Spiel und die Bestätigung sozialer Bindung ist: In Gesprächen konnte häufiger als reaktionsförmiges das redebegleitende Lachen und Lach-Sprechen (laugh-speak) festgestellt werden. Zahlreiche Formen des Lachens ohne Komik wurden identifiziert, bei denen Lachen als ungeplant, emergent und nicht zensierbar erscheint. Weitere Aspekte des Lachens als menschliches Sozialverhalten sind seine ansteckende Wirkung sowie seine therapeutische Funktion. Provine hat sich mit seiner Anti-Humor-These zwar ein ergiebiges Terrain erarbeitet, indem er das Lachen als Phänomen ernst nimmt und es sehr weitläufig definiert (so ist auch ein einzelner Lacher „ha“ als Lachen zu bezeichnen). Andererseits bedeutet dies auch, dass der gesamte Sektor der professionellen Unterhaltung (der für unser Thema entscheidend ist) ausgeklammert werden muss: Das geplante, intentionale Erregen von Lachen, das Lä‐ 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 31 <?page no="32"?> 44 Einen Überblick über die Forschung gibt Attardo, Salvatore: Linguistic Theories of Humor. Berlin / New York 1994; sowie Raskin, Victor (Hg.): The primer of Humor Research. Berlin / New York 2008. 45 Schon im 18. Jh. war die Sprache ins Zentrum der Lachtheorien gerückt: Hutcheson: Reflexions upon Laughter, S. 50; Beattie, James: An Essay on Laughter and Ludicrous Composition. In: J. B.: The Phi‐ losophical and critical works of Sir James Beattie. Vol. 1: Essays (1776). Hg. von Bernhard Fabian. ND Hildesheim 1975. 46 Raskin, Victor: Semantic Mechanisms of Humor. Dordrecht / Boston / Lancaster 1985, S. 99 ff. cherlichmachen hat hier keinen Ort. Was die Übertragung des Lachens angeht, argumen‐ tiert er rein neurobiologisch und beachtet die psychosozialen Implikationen der Kommu‐ nikation zwischen Körpern kaum. Humor Research: Skriptsemantische Theorien und ihre Varianten Ein Großteil der heutigen Forschung zum Lachen und zur Komik findet im Rahmen se‐ mantischer Modelle der Sprache statt. Hier hat sich sogar ein eigenes Forschungsfeld kon‐ stituiert, die Humorforschung (Humor Research) um die Zeitschrift Humor. International Journal of Humor Research, deren wichtigste Vertreter die Gründer und ehemaligen He‐ rausgeber Victor Raskin und Salvatore Attardo sind. Der Humorforschung und den mit ihr verbundenen linguistisch-semantischen Theorien (zunächst die SSTH - Semantic Script Theory of Humor, dann die GTVH - General Theory of Verbal Humor) liegen zwei Prä‐ missen zugrunde: (1) Sie gehen von der Annahme aus, dass Lachen immer einen Akt der Erkenntnis vo‐ raussetzt: Erkenntnis über Situationen, über andere, über sich selbst. Lachen hängt somit von einer vorangehenden kognitiven Operation ab. So verstanden erschließt sich das Lachen über komische Strukturen (semantischer Kontrast, semantische In‐ kongruenz), und die „Skripts“ (als kognitive Organisationsformen von Wissen) von Witz und Komik sind die Hauptgegenstände der Humorforschung. 44 (2) In untrennbarem Zusammenhang mit der ersten Prämisse steht die zweite: Witz und Komik sind sprachliche Phänomene. Die Linguistik liefert operationalisierbare Mo‐ delle, 45 mit denen das spezifische Arrangement syntaktischer und semantischer Ele‐ mente als Kontrast, Überlappung oder Inkongruenz beschreibbar ist. Raskin und Attardo stellen ihre Humortheorie auf der Basis von semantischen Textstruk‐ turen schriftlicher Witze auf. Sie erstellen sogenannte skriptsemantische Humormodelle, bei denen die Überlappung (oder Bisoziation) von zwei oder mehreren kognitiven Mustern (bzw. „Skripts“, „Rahmen“ oder „Schemata“) im Mittelpunkt steht. Die Skripts stellen meist große Gegensätze dar, sie müssen in einem Oppositionsverhältnis, dem des Widerspruchs oder dem der Uneindeutigkeit zueinander stehen. Das Entscheidende ist, wie das Switching, der Übergang von einem Skript zum anderen, erfolgt. In jedem Fall kommt es zu einer „komischen Überlappung der Deutungsrahmen.“ 46 Dieser Ansatz kann heute als der international bekannteste innerhalb der Erforschung von Witz und Komik bezeichnet werden. Obwohl er im angloamerikanischen Sprachraum über die Zeitschrift Humor weit verbreitet und anerkannt ist, wurde er in Deutschland spät 1. Der Körper als Lachanlass 32 <?page no="33"?> 47 Etwa durch Helga Kotthoff und durch Kindt, Tom: Literatur und Komik: Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, 1). Berlin / New York 2011. 48 Vgl. die Kritik bei Kotthoff, Helga: Spaß verstehen. Zur Pragmatik von konversationellem Humor. Tü‐ bingen 1998, S. 50. 49 Vgl. Oring, Elliott: Parsing the joke. The General Theory of Verbal Humor and appropriate incon‐ gruity. In: Humor. International Journal of Humor Research 24.2 (2011), S. 203-222, hier S. 218. 50 Vgl. z. B. Ritchie, Graeme D.: The Linguistic Analysis of Jokes. London 2004, S. 69-75. 51 Vgl. dazu Apte, Mahadev L.: Disciplinary boundaries in humorology: an anthropologist’s rumina‐ tions. In: Humor: International Journal of Humor Research 1 (1988), S. 5-25. Humor als interdiszipli‐ näres Forschungsfeld verlangt nach Apte die Einrichtung einer eigenen akademischen Disziplin oder einer Forschungsrichtung „Humorologie“. 52 Beispielsweise: „Humor (…) depends on the perception of an appropriate incongruity; that is the perception of an appropriate relationship between categories that would ordinarily be regarded as incongruous“. Oring, Elliott: Engaging Humor. Urbana / Chicago 2003, S. 2. Viele englische und ame‐ rikanische Humorstudien leiden auch darunter, dass ihre Verfasser keine fremdsprachlichen Texte zu lesen in der Lage sind. Nicht-englischsprachige Literatur wird immer nur in Übersetzung zitiert und zeitgenössische Arbeiten nicht zur Kenntnis genommen. Ärgerlich wird es, wenn gerade fremd‐ sprachliche Ansätze falsch und unzureichend dargestellt werden, um sie umso besser widerlegen zu können. 53 Glenn, Phillip: Laughter in Interaction. Cambridge 2003, S. 23. und nur wenig rezipiert, 47 was nicht auf Desinteresse oder Rückständigkeit zurückzuführen ist, sondern auf die Skepsis gegenüber dezidiert universalistischen Modellen. Dies hatte bereits in den 1990er Jahren zu Kritik geführt: Abgesehen davon, dass hier das Lachen auf Effekte der Sprache und ihrer Semantik verkürzt wird, ist auch die sprachliche Analyse einseitig auf schriftliches Material bezogen, wohingegen die pragmatischen Dimensionen der Sprache (Gebrauch, soziale Funktion, Wirkung, redebegleitende Gesten) kaum berück‐ sichtigt werden. Deshalb kommt es zu „einer klaren Beschneidung des Kreativen“ (Kot‐ thoff), indem etwa der für Witze zentrale Aspekt des Überraschungseffekts bei der Poin‐ tenanalyse kaum eine Rolle spielt. 48 Weitere Kritikpunkte betreffen den Skriptbegriff, die Konsistenz von Oppositionsverhältnissen, die Tauglichkeit abstrakter Witzmodelle 49 und - für unsere Fragestellung bedeutsam - die Übertragbarkeit der Modelle auf frühere histori‐ sche Epochen und Texte. 50 Allerdings sind die Ergebnisse zur Funktionsweise von Witzen und Sprachkomik aus linguistischer Sicht durchaus beachtlich, nur können sie keinen An‐ spruch auf Komik und Lachen insgesamt erheben. Durch die Etablierung eines interdisziplinären Forschungsfeldes „Humor“ hat der Begriff selbst eine ungeheure Ausdehnung erfahren, der seine ursprüngliche, aus der Säftelehre entstandene Bedeutung einer erbaulichen, subjektiven Fähigkeit der scherzhaften Kom‐ munikation weit überschritten hat. 51 Die Humor Studies folgen einem problematischen Hu‐ morbegriff, der als gemeinsamer Nenner Lachen, Komik, Witz und Humor in einer Art anthropologischer Superstruktur („humor as a cultural universal“) zusammenfasst, wo je‐ weils nach Blickwinkel der Untersuchung sprachlich-semantische, psychologische oder kognitionstheoretische Prämissen vorherrschen. 52 Oder es kommt zu Hybridisierungen, wie in einer interaktionstheoretischen Studie zum Lachen: „Humor may be better under‐ stood as a complex response to stimuli - internal and external - combining elements of superiority, incongruity, or release.“ 53 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 33 <?page no="34"?> 54 Kipf, Johannes Klaus: Mittelalterliches Lachen über semantische Inkongruenz. Zur Identifizierung komischer Strukturen in mittelalterlichen Texten am Beispiel mittelhochdeutscher Schwankmären. In: Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Anja Grebe und Nikolaus Staubach. Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 104-128; kritisch dazu auch: Hamilton, Theresa: Der Mechanismus des Humors. Eine linguistisch-narratologische Schnittstelle von Vormoderne und Moderne. In: Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250-1750). Hg. von Stefan Biessenecker u. Christian Kuhn. Bamberg 2012, S. 71-98, hier S. 84-86. 55 „Humor ist eine Praxis, eine existierende lebensweltliche Praxis, und er ist eine Praxis, die vollzogen, performed wird, sowohl in alltäglichen Witzen als auch anspruchsvoller und theatralischer in stand up comedies oder anderen Formen öffentlich ausgeübter Komik“. Critchley, Simon: Der Humor - Ein herrlich unmögliches Thema. In: Performativität und Praxis. Hg. von Jens Kertscher u. Dieter Mersch. München 2003, S. 141-152, hier S. 142. Der Aufsatz ist eine Zusammenfassung seines Bandes On Humour. London 2002, einer divulgativen Arbeit, die dem Laien das Thema näher bringen soll. Dem‐ entsprechend kann man hier nicht von neuen Ergebnissen, sondern von einer Aneinanderreihung bekannter vereinfachter Thesen sprechen. Die wenigen eigenständigen Gedanken werden nicht ausgeführt; etwa: „the root of comic (is) a person acting like a person“. 56 Wirth, Uwe: Vorbemerkungen zu einer performativen Theorie des Komischen. In: Performativität und Praxis. Hg. von Jens Kertscher u. Dieter Mersch. München 2003, S. 153-174, hier S. 172. 57 Dagegen wäre mit James English einzuwenden, dass Humor nicht von geglückter oder gescheiterter Kommunikation abhängt, sondern eine soziale Praxis ist, die die „ausgeklügelte Idiotie“ (Lacan) des Kommunikationsparadigmas unterbricht und problematisiert. English, Comic Transactions, S. 14. Es ist kaum zu übersehen, dass solche unscharfen methodischen Konzeptualisierungen für die Fragestellung dieser Arbeit kaum zweckdienlich sind. Ein semantisch-sprachlicher Humorbegriff ist eventuell für frühneuzeitliche Formen des Witzes, für Facetien zumal fruchtbar zu machen, wie dies Johannes Kipf angedeutet hat. 54 Die Tatsache jedoch, dass es sich hier um immer neue Varianten der Kontrast- und Inkongruitätstheorie der Komik handelt, dass weiterhin kaum zwischen Komik und Lachen getrennt wird, und dass es hier nicht oder nur äußerst marginal um den Körper geht, machen solche Ansätze kaum brauchbar für eine historische Anthropologie der Körperkomik. Dasselbe gilt für Versuche, die Searlesche Sprachakttheorie für sprachliche Komik zu nutzen. So versuchen Simon Critchley und Uwe Wirth jeweils eine performative Theorie des Humors vorzulegen: Während Critchley den Humor als aufgeführte Praxis sieht, die zum Lachen bringt, 55 versucht Wirth durch die Verbindung von sprechakttheoretischen Überlegungen und der Freudschen Theorie der Aufwanddifferenz die Skizze einer Poin‐ tentheorie zu entwerfen: „Komik entsteht, sobald sich konventionale Unglücksfälle und performative Aufwandsdifferenz überlappen.“ 56 Wirth erkennt in der Mehrdeutigkeit der tonalen Aspekte von Wort-Token (Pierce) und der Überlappung von propositionaler und pragmatischer Ebene („performativer Widerspruch“) die Möglichkeit des komischen Rah‐ menbruchs, und bezieht somit die tonalen und phatischen Elemente der sprachlichen Am‐ bivalenz mit ein. Auch wenn dies in die Richtung einer Einbeziehung des Körpers in Scherzverhältnisse geht, so verharrt die Theorie doch im sprachlich-semantischen Feld, ähnelt somit den bisherigen Konvergenztheorien und ist selbstverständlich ontologisch: Für Wirth funktioniert das Komische so und nicht anders. 57 Freilich sind die Humorstudien nicht nur auf skriptsemantische Analysen beschränkt. Für Arbeiten, die Witze und Scherzen in mündlicher Kommunikation untersuchen, sind das Lachen und seine sozialen Funktionen im Gespräch die wichtigsten Untersuchungsgegen‐ stände. Chapman und Foot konnten zeigen, dass Lachen durch das Lachen anderer deutlich 1. Der Körper als Lachanlass 34 <?page no="35"?> 58 Vgl. Foot, Hugh C. u. Chapman, Antony: The Social Responsiveness of Young Children in Humorous Situations. In: Humour and Laughter: Theory, Research and Applications. Hg. von Anthony J. Chapman u. Hugh C. Foot. London u. a. 1976, S. 187-214, hier S. 188. 59 Kotthoff, Helga: Konversationelle Karikaturen. Über Selbst- und Fremdstilisierungen in Alltagsge‐ sprächen. In: Lachgemeinschaften. Hg. von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten. Berlin / New York 2005, S. 331-351. 60 Kotthoff, Spaß verstehen, S. 105. 61 Vgl. Partington, Alan: The linguistics of laughter: a corpus-assisted study of laughter-talk. London 2006, S. 82-110. verstärkt wird und dass Lachanlässe effektiver wirken, wenn mehrere Personen anwesend sind; dagegen kann eine nicht lachende Person im Raum dazu beitragen, dass Lachen un‐ terdrückt wird. 58 Sie schließen damit an ethologische Ergebnisse zum Sozialverhalten des Lachens an und bestätigen die Bedeutung von gruppendynamischer Präsenz bei Lachvor‐ gängen, ein Aspekt, auf den ich später noch zurückkommen werde. In Deutschland hat vor allem Helga Kotthoff in ihren Arbeiten zur Scherzkommunikation verschiedene sprachliche Formate des ‚Humors‘ untersucht. Ihr geht es um die gruppen‐ dynamischen Effekte von scherzhafter Rede: „Formate wie Frotzeln und Necken, sich Mo‐ kieren, spaßiges Lästern und Spotten, witzige Bemerkungen, Situationsparodien oder wit‐ zige Fiktionalisierungen sind dialogisch.“ 59 Kotthoffs Material sind Tonbandmitschnitte von Gesprächen, anhand derer sie unter Anwendung der Griceschen Konversationsmaximen plausibel macht, dass das Gelingen konversationeller Komik hochgradig von geteilten Wis‐ sensbeständen und Intimität abhängig ist und dass soziale Typisierungen und die Kommu‐ nikation von Wertungen eine große Rolle in der Scherzkommunikation spielen. Lachen sei auf Grund seiner Multifunktionalität jedoch kein verlässlicher Gradmesser für Komik. 60 Die Ergebnisse der Gesprächsforschung sind zwar wenig kompatibel mit der historische Kör‐ perforschung, zeigen aber nicht nur, dass das Lachen in komplexe verbale und nonverbale Interaktionsprozesse eingebunden ist, sondern auch, dass in der scherzhaften Kommuni‐ kation über ironische und parodistische Sprechweisen lächerliche Karikaturen verbal und imaginativ aufgeladen werden. Die linguistische Gesprächsforschung zeigt, dass es außerordentlich schwierig ist, Sprachkomik innerhalb struktureller semantischer Modelle zu bestimmen. Das Lachen in‐ nerhalb der konversationellen Interaktion entzieht sich einer semiotischen Bestimmung weitgehend, denn die Phoneme des Lachens kann man eben nicht als bedeutungsdifferen‐ zierende Elemente definieren, sie bleiben hoch ambivalent und unbestimmt. Betrachtet man das Lachen unter dem Signans-Aspekt, so besitzt es eine komplexe Struktur: Es hat nicht nur akustische Qualität, sondern manifestiert sich als ein Zusammenspiel von sprachlichen und parasprachlichen Zeichen, wobei vor allem dem Gesichtsausdruck eine besondere Be‐ deutung zukommt. 61 Fietz machte schon vor längerer Zeit auf die Schwierigkeit auf‐ merksam, das Zusammenspiel von akustischen und körpersprachlichen Elementen des La‐ chens im Rahmen eines verifizierbaren kommunikativen Codes in den Blick zu nehmen. Dies gilt auch für das Lachen in schriftlichen Texten, auch wenn die semantische Band‐ breite des Wortfeldes Lachen den Eindruck vermittelt, es folge festgelegten Konventionen: „So lassen sich zwar die sprachlichen Bezeichnungen für ‚lachen‘ phonologisch und se‐ mantisch analysieren als referentielles Sprechen über das Lachen, aber diese Analyse leistet 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 35 <?page no="36"?> 62 Fietz, Lothar: Möglichkeiten und Grenzen einer Semiotik des Lachens. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Vergleichende Studien zum Funktionswandel des Lachens vom Mittelalter zur Gegenwart. Hg. von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte u. Hans-Werner Ludwig. Tübingen 1996, S. 8. Davon sind semiotische Erklärungsmodelle der Komik bzw. der Komödie zu unterscheiden. Vgl. etwa Warning, Rainer: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning. München 1976, S. 279-333. Jauß lehnt eine semiotische Interpreta‐ tion der Komödie ab: Jauß, Hans Robert: Das lebensweltliche und das fiktionale Komische. In: Das Komische. Hg. Von Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning. München 1976, S. 361-372, hier S. 362 f. 63 Fietz, Möglichkeiten und Grenzen einer Semiotik des Lachens, S. 9 f. Fietz verweist auf die Vielfalt möglicher Wirkungen im Kommunikationsprozess, was durch die Bandbreite der Verben bereits veranschaulicht wird: anlachen, auslachen, verlachen, lachen mit, lachen über usw. 64 Ebd., S. 14 f. nur mittelbar etwas zur Decodierung des Lachens als symptomatisches Zeichen.“ 62 In diesem Sinne hatten sowohl Bühler als auch Jakobson das Lachen als emotives Zeichen verstanden, das auf die Innerlichkeit des Lachenden hinweist. Damit ist jedoch über seine wichtige Funktion im Kommunikationsprozess noch nicht genügend gesagt: Als Zeichen verstanden, verweist das Lachen nicht nur zurück auf eine Emotion oder Haltung des Lachenden, sondern spielt eine eminente Rolle im Kommunikationsprozess zwischen Individuen im Sinne eines Zeichens, das zwischenmenschliche Beziehungen anbahnen, stiften, aber auch stören oder (…) unterbrechen kann. 63 Diese Rolle von Lachen (und Komik) im Kommunikationsprozess umfasst somit die gesamte sprachlich vermittelte Interaktion der Beteiligten, und nicht nur dies: Eine semiotische Signifikat-Analyse des Lachens muss also notwendigerweise neben den inner‐ subjektiven Emotionen die sie stimulierenden extrasubjektiven Ridicula umfassen, die historisch jeweilig sind und die allein über die kulturellen, gesellschaftlichen und moralischen Konventionen erschließbar werden, aufgrund derer Lachen erlaubt, diszipliniert oder gar verboten ist. 64 Eine genaue semiotische Analyse von Lachvorgängen und den sie auslösenden Lachan‐ lässen in Texten kann daher Aufschluss über die komplexe Zeichenbedeutung des Zusam‐ menspiels von Sprache und Körper beim Lachen geben. Das semiotische Modell ist somit als Untersuchungsinstrument wichtig wie gleichzeitig unzureichend; mit ihm lassen sich Lachvorgänge und ihre Anlässe im Rahmen einer Kommunikationssituation als sprach‐ lich-körperliche Zeichenprozesse beschreiben, jedoch werden durch die Polyvalenz der Lachsignale bestimmte Analyse-Axiome dieser Situation (wie das Sender-Emp‐ fänger-Schema oder der Decodierungsprozess) mehr oder weniger deutlich gestört und sind somit keine zuverlässigen Instrumente mehr. Bergson Einer der wichtigsten theoretischen Texte zum Lachen, die den Körper maßgeblich behan‐ deln, ist Henri Bergsons Essay Le rire von 1900 (auch wenn Bergson das Lachen aus der Perspektive des Komischen untersucht, s. u.). Bergson definiert: „Stellungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers sind in dem Maße komisch, als uns dieser Körper 1. Der Körper als Lachanlass 36 <?page no="37"?> 65 Bergson, Henri: Le rire. Essais sur la signification du comique [1900]. Dt. Das Lachen. Meisenheim a.G. 1948, S. 21. Viele übergreifende und einleitende Beispiele Bergsons sind aus dem Bereich der kör‐ perlichen Komik genommen: der fallende Fußgänger, Wiederholung einer sinnlosen Geste, Maske‐ rade, Grimassen, die sinnlosen Handlungen des Buchhalters usw. 66 Ebd., S. 11 u. 14. Sein zentrales Bild ist dabei der Mensch als Gliederpuppe. Das Lachen über sie ist ein Lachen über ihre Bewegungen, welche eine Mechanisierung des Lebendigen zeigen: der Körper wird zur Maschine (Wiederholungskomik, Marionettenkomik, Automatismus der Abläufe). 67 Ebd., S. 14-18. 68 Ebd., S. 32 f. 69 Bergson stellt sich etwa das Komische im Gesichtsausdruck als Grimasse, als Erstarrtes, Masken‐ haftes vor. „So sind Automatismus, Starrheit, angewöhnter und beibehaltener Tick die letzten Ursa‐ chen, die eine Gesichtsbildung lächerlich erscheinen lassen.“ Ebd., S. 19. dabei an einen bloßen Mechanismus erinnert.“ 65 Die folgende berühmte Definition des Ko‐ mischen als eines „méchanisme plaqué sur le vivant“ stützt sich in ihren Exempeln vor allem auf die komische Bildersprache des Körpers: Als Urszene des Lachens dient Bergson der Stolpernde, Stürzende. Lächerlich an ihm ist die mechanische Steifheit, eine Trägheit, wo wir Geschmeidigkeit und vitale Spannung fordern. Für Bergson liegt der das Lachen erregende Moment in einer Art Erstarrung, einem Automatismus. 66 Diese bis heute einsichtigen und erfolgreichen Formulierungen beziehen ihre Schlagkraft aus ihrer eigentümlichen Mischung von Metaphern, die gleichermaßen anthropologische, physikalische und ästhetische Wertigkeit besitzen, und jeweils auf Körperliches bezogen sind (Steifheit / Elastizität, Mechanisches / Lebendiges, Spannung / Starrheit, Trägheit / Rüh‐ rigkeit, Automatismus / Flexibilität). Ein großer Vorteil dieser Mischung ist es, dass sie so‐ wohl für den Körper, als auch für den Geist und das soziale Leben verwendet werden kann. So werden die Dummheit oder die Zerstreuung als mangelnde mentale bzw. interaktive Geschmeidigkeit, übertriebener Individualismus in der Gruppe als Automatismus inter‐ pretiert. 67 Das Lachen ist dann jeweils die soziale Geste, mit der die individuelle Unvoll‐ kommenheit oder Abweichung korrigiert wird. Dabei ist der menschliche Körper bei Bergson Ausgangspunkt und gewissermaßen Ur‐ stoff des Lachens. Deutlich wird dies an einer psychologischen Bedingung für das Lachen, die Bergson erwähnt: der abrupte Wechsel der Aufmerksamkeit, der an den komischen Rahmenbruch der semantischen Lachtheorien erinnert. Die Aufmerksamkeit wird dabei plötzlich vom Seelischen auf das Körperliche verlagert. „Wir lachen somit über einen Men‐ schen, den sein Körper belästigt“, so Bergson. Er und die Sorge um ihn stören das Ernsthafte und Tragische und können es zu Fall bringen. „Deshalb trinken und essen die Helden der Tragödie nicht. Ja, wenn möglich, setzen sie sich auch nicht. Sich mitten in einer patheti‐ schen Rede setzen, hieße sich daran erinnern, dass man einen Körper hat.“ 68 So verbirgt sich der Körper für Bergson auch hinter Handlungs- und Sprachkomik, er ist ein ständiger Gefahrenherd für ernsthafte Rede, für zeremonielles und rituelles Handeln. Doch ist es nicht das Hässliche des Körpers, wie in den antiken Theorien, woraus sich das Komische speist, sondern seine Disproportionen und Deformationen, die auf Steifheit und Automatismus hindeuten, d. h. auf die unwillkürlich scheinende Ausführung von Bewe‐ gungen, die von der Norm der Lebendigkeit abweichen. 69 Bergson fragt dann, warum gewisse Missbildungen (etwa der Buckel) lächerlich sind und andere nicht und gibt folgende Antwort: „Jede Abnormität kann komisch werden, die von 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 37 <?page no="38"?> 70 Ebd., S. 18. 71 Auch wenn Bergson hier die Vorstellung als Fähigkeit des Geistes nicht behandelt, so wird dies an seinen gewählten Formulierungen deutlich: „wir sehen dann vor uns“, „stellen wir uns vor“ usw. 72 Ähnlich noch bei Stierle, der sich in seinem Modell der Komik der Fremdbestimmtheit stark an Bergson anlehnt; auch hier soll das Komische ontologisch („Systematik des Komischen“) bestimmt werden, auch Stierle geht es um einen umfassenden, definitorischen Begriff von Komik, der auf jede Form der Komik, im Leben und in der Kunst, übertragbar ist. Vgl. Stierle, Karl-Heinz: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning. München 1976, S. 237-268. 73 Vgl. dazu meinen Beitrag zur Komik der sich verselbständigenden Sexualorgane in der mittelalter‐ lichen Märenliteratur: Velten, Hans Rudolf: Groteske Organe. Zusammenhänge von Obszönität und Gelächter bei spätmittelalterlichen profanen Insignien im Vergleich zur Märenliteratur. In: Erotik, aus dem Dreck gezogen. Hg. von Winkelman u. Wolf. Amsterdamer Beiträge für Ältere Germanistik 59 (2004), S. 235-263. 74 Vgl. dazu Mongin, Olivier: Éclats de rire. Variations sur le corps comique. Charlie Chaplin, Buster Keaton, Jacques Tati, Les Marx Brothers, Laurel et Hardy, Jerry Lewis, Louis de Funès Raymond Devos, Rufus, Pierre Desprogues, Philippe Caubère et quelques autres. Paris 2002, S. 319 ff. einem Menschen mit normalen Gliedern allenfalls nachgeahmt werden könnte.“ 70 Dies ist ein entscheidender Punkt von Bergsons Theorie, denn nicht der körperliche Makel selbst ist es, der das Lachen erzwingt, sondern die in ihm liegende Möglichkeit zur Nachahmung, d. h. die Fähigkeit, menschliche Bewegungen und Formen aufzuführen, wird zur Bedingung für das Lachen über Abnormitäten. Bergson nennt das, in Bezug auf die Nachahmung und die Vorstellung des Buckligen, „mit dem Körper Grimassen schneiden“. Entscheidend ist also in der Wahrnehmung des Buckligen die Vorstellung von seiner Imitation. 71 Dieser As‐ pekt erscheint sehr wichtig für ein performatives Verständnis von körperbestimmten Lach‐ vorgängen, wie ich es weiter unten genauer entwickeln werde. Ansonsten erscheint Bergsons Theorie in vielen Aspekten zwar interessant, doch ins‐ gesamt definitorisch zu eng und begrifflich zu unscharf. Das Mechanische, was sich über Lebendiges legt, als archetypische Funktion des Komischen anzusehen, ist, wie alle Onto‐ logien des Komischen, schlichtweg zu generalisierend. 72 Aber es funktioniert schon deshalb nicht, da auch Unbelebtes, was belebt wird, komisch wirken kann: zum Beispiel sich ver‐ selbständigende Körperteile, die sprechen und tanzen, oder Gegenstände, die beginnen, menschliche Bewegungen und Handlungen auszuführen. 73 Dazu kommen deutliche kultur- und gegenwartsbezogene Momente, wenn als Modell für seine Theorie ein anthropomor‐ phisiertes Marionettentheater erscheint, ein literarisches Motiv aus der Literatur der Ro‐ mantik; auch der um 1900 aufkommende komische Stummfilm mit seinen schnellen, stakkatoförmigen Bewegungen hat vermutlich als Muster gedient. 74 Freud Sigmund Freud hat in seinem berühmten Buch über den Witz (Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, 1905) die psychologischen Ansätze weitergeführt und sie mit psycho‐ 1. Der Körper als Lachanlass 38 <?page no="39"?> 75 Der Traum arbeitet mit ähnlichen Mitteln wie der Witz: Verdichtung und Verschiebung. Die Traum‐ arbeit hat ihre Entsprechung in der „Witzarbeit“, die psychische Verarbeitung des komischen An‐ lasses. Für Freud ist der Witz eine kulturell erlaubte Möglichkeit, wie im Traum die (Angst-)Barriere zum „Es“ zu überwinden: Witze befriedigen den „Spieltrieb“ (sogenannte ‚harmlose‘ Witze); sie ge‐ horchen dem Sexualtrieb oder dem Aggressionstrieb („tendenziöse“ Witze). Vgl. dazu das Kapitel „Die Beziehung des Witzes zum Traum und zum Unbewussten“. Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1940). Gesammelte Werke Bd. 6. Frankfurt a. M. 1999, S. 181-205. Aus heutiger Sicht vgl. dazu Armonies, Wilfried u. Kupke, Christian: Jenseits des binaristischen Prinzips. Zur psychoanalytischen Theorie des Witzes. Fragmente 46 (1994), S. 91 ff. 76 Dies findet auch die Zustimmung Plessners; er sieht Freuds Theorie aber nur im Fall des tendenziösen Witzes angebracht, denn nur hier ist von einem großen Hemmungsaufwand die Rede. Auch meint er, dass sich der Witz seine Spannung selbst schafft. Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, S. 321. 77 In keinem der drei Hauptkapitel des Witzbuches steht der Körper im Vordergrund, auch wenn einige paradigmatische Beispiele aus der Situationskomik gewählt sind. 78 „Wir haben ohne Schwierigkeiten gefunden, daß das Komische sich sozial anders verhält als der Witz. Es kann sich mit nur zwei Personen begnügen. (...) Der Witz wird gemacht, die Komik wird gefunden, und zwar zu allererst an Personen, erst in weiterer Übertragung auch an Objekten, Situationen u. dgl.“. Weiter unten wird diese Unterscheidung noch erweitert: „Der Witz ist sozusagen der Beitrag zur Komik aus dem Bereich des Unbewußten“. Freud, Der Witz, S. 206 u. 237. 79 „An das Problem des Komischen selbst wagen wir uns nur mit Bangen heran“. Ebd., S. 215. analytischen Erfahrungen sowie Ergebnissen seiner Traumdeutung verbunden. 75 Stärker als auf das Lachen konzentriert sich Freud jedoch auf Witz und Komik. Dabei erkennt auch er im menschlichen Geist ein Depot psychischer Energie, mit einem entscheidenden Un‐ terschied zu Spencer: Die Abfuhr seelischer Erregung resultiert nicht aus einem Surplus an Energie, sondern aus der plötzlichen Aufhebung einer Hemmung. Denn um Hemmungen aufrechtzuerhalten, ist ein großer Energieaufwand nötig, welcher plötzlich entlastet wird, wenn wir einen Witz hören. Komik und Witz eröffnen einen Lustgewinn, der aus dem ersparten Aufwand resultiert, unsere Lust und unsere Triebe zu unterdrücken. Freud geht davon aus, dass Triebunterdrückung und Körperdisziplinierung einen kontinuierlichen Aufwand an psychischer Energie erfordern, die wir im Moment des Lachens nicht mehr benötigen. Wir können diese Energie ablachen und uns für kurze Zeit vom Zwang erleich‐ tern, die Unterdrückung ersparen (ersparter Hemmungsaufwand). 76 Freilich ist für Freud die Rolle des Körpers bei Witz und Komik begrenzt; es geht ihm vor allem um die psychologischen Reaktionsmechanismen auf einen komischen Reiz und somit um kognitive und seelische Vorgänge. 77 Doch im letzten Kapitel „Der Witz und die Arten des Komischen“ sind zwei Aspekte seiner Theorie zu finden, die für das Körperthema von nicht zu unterschätzender Relevanz sind: die Beschreibung der physiologischen In‐ nervationsleistung bei der Aufwandersparnis und die ontogenetisch verstandene Thematik der Disziplinierung des Körpers, die bei Freud mit der Triebunterdrückung und der Lust zur Kindlichkeit einhergeht. Entscheidendes Kriterium für eine vom Körper ausgehende Komik ist für Freud die The‐ orie der „Aufwanddifferenz“. Er rechnet sie dem Komischen zu, das er deutlich vom Witz unterscheidet. 78 Sie ist der Versuch, den Lustgewinn aus der Wahrnehmung anderer Körper als lächerliche Körper mit Hilfe des Vergleichs zwischen wahrgenommenem Subjekt und Ich zu erklären. Beim Komischen, dem sich Freud nach eigenen Angaben nur mit Bangen annähert, 79 unterscheidet er zunächst zwei Arten, die Bewegungskomik und die „geistige“ 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 39 <?page no="40"?> 80 Ebd., S. 216 f. 81 Bei der „geistigen Komik“ ist es genau umgekehrt. Hier ist der Aufwand zu gering im Vergleich zu dem, was von uns erwartet wurde. 82 Freud, Der Witz, S. 219. 83 Ebd., S. 221. Komik. Uns interessiert vor allem seine Position zur ersteren, die er folgendermaßen ein‐ leitet: Wir wählen die Komik der Bewegungen, weil wir uns erinnern, daß die primitivste Bühnendar‐ stellung, die der Pantomime, sich dieses Mittels bedient, um uns lachen zu machen. Die Antwort, warum wir über die Bewegungen der Clowns lachen, würde lauten, weil sie uns übermäßig und unzweckmäßig erscheinen. Wir lachen über einen allzu großen Aufwand. (...) Auf welche Weise gelangen wir aber zum Lachen, wenn wir die Bewegungen eines anderen als übermäßig und un‐ zweckmäßig erkannt haben? Auf dem Wege der Vergleichung, meine ich, zwischen der am anderen beobachteten Bewegung und jener, die ich selbst an ihrer Statt ausgeführt hätte. 80 Die Lust an der Bewegungskomik geht demnach aus der Differenz zwischen wahrgenom‐ mener Bewegung und der als angemessen geltenden Vorstellung bei uns selbst, kurz, aus der Vergleichsdifferenz zweier Aufwandseinschätzungen hervor. 81 An Freuds Argumenta‐ tion ist bemerkenswert, dass hier eine physiologische Reaktion, das Lachen, sich aus dem Vergleich zwischen sinnlicher Wahrnehmung und einer kognitiven Operation ergibt, die er nicht klar festlegt: Erfolgt der Vergleich mit einer verinnerlichten leiblichen Norm oder mit der an Stelle des lächerlichen Körpers ausgeführten imaginierten Bewegung? Und mehr noch: Führen wir die Bewegung dann tatsächlich ansatzweise aus, als eine physiologische Reaktion, oder bleibt der Vergleich völlig auf der Vorstellungsebene? Freud versucht, auf diese Fragen mit der physiologischen Theorie der Innervation zu antworten: Hier weist uns die Physiologie den Weg, indem sie uns lehrt, daß auch während des Vorstellens Innervationen zu den Muskeln ablaufen, die freilich nur einem bescheidenen Aufwand entspre‐ chen. Es liegt aber jetzt sehr nahe anzunehmen, daß dieser das Vorstellen begleitende Innervati‐ onsaufwand zur Darstellung des quantitativen Faktors der Vorstellung verwendet wird, daß er größer ist, wenn eine große Bewegung vorgestellt wird, als wenn es sich um eine kleine handelt. Die Vorstellung der größeren Bewegung wäre also hier wirklich die größere, d. h. von größerem Aufwand begleitete Vorstellung. 82 Bei der Apperzeption einer fremden Bewegung wird somit ein gewisser Aufwand benötigt, um sie zu verstehen: Ich (...) verhalte mich bei diesem Stück des seelischen Vorganges ganz so, als ob ich mich an die Stelle der beobachteten Person versetzte. Wahrscheinlich gleichzeitig fasse ich aber das Ziel dieser Bewegung ins Auge und kann durch frühere Erfahrung das Maß von Aufwand abschätzen, welches zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. (...) Bei einer übermäßigen und unzweckmäßigen Bewegung des anderen wird mein Mehraufwand fürs Verständnis in statu nascendi, gleichsam in der Mobilmachung gehemmt, als überflüssig erklärt und ist für weitere Verwendung, eventuell für die Abfuhr durch Lachen frei. 83 1. Der Körper als Lachanlass 40 <?page no="41"?> 84 Darauf hat bereits Karl-Heinz Stierle hingewiesen: „Durch meinen Innervationsaufwand kontrolliere ich gleichsam an meiner durch Erfahrung gewonnenen Norm den Verlauf und das Gelingen einer fremden Handlung.“ Stierle, Komik der Handlung, S. 248. 85 Vgl. dazu English: Comic in Transaction, S. 15 ff. 86 Plessner, Helmuth: Laughing and Crying: A Study of the Limits of Human Behaviour. Übers. von J. S. Churchill u. Marjorie Grene. Evanston 1970; frz. 1995, ital. 2000. Einzig die span. u. die niederl. Übers. erfolgten bereits 1960 u. 1965. Nach Freud ist es also die Hemmung einer Einschätzung des Innervationsaufwands, die das Lachen auslöst, eine komplizierte wie interessante Theorie der konsensuellen Körperin‐ nervation durch imaginierten Mitvollzug. Dennoch bleiben viele Fragen offen: Die gleich‐ zeitige Erfassung des Zieles der fremden Bewegung bleibt ohne weitere Analyse eine Hy‐ pothese, das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele wird nicht in Einzelheiten erläutert. Ferner sind noch die Bedingungen für die Abfuhr des Überschusses unklar, und ebenso dunkel ist, was mit „früherer Erfahrung“ gemeint ist. Wenn die Erfahrung als Wert ins Spiel kommt, dann müsste auch eine durch sie gewonnene Norm existieren. 84 Trotzdem liefert diese psychoanalytische Anwendung physiologischer Vorgänge ein methodisches Instrumentarium, um die Wirkung körperlicher Komik, zumindest im wahrnehmenden Subjekt, zu beschreiben. Noch aus einem anderen Grund, der für das performative Verständnis von Lachvor‐ gängen bedeutsam ist, ist Freuds Witztheorie interessant: Sie ist prozessual organisiert, indem sie anerkennt, dass Witze und Komik etwas tun (Witzarbeit) und nicht einfach etwas „sagen“, also etwas bedeuten. Sie verändern soziale Situationen, sie manipulieren, sie re‐ organisieren menschliche Beziehungen. Für Freud ist die Witzarbeit ein interaktiver sozi‐ aler Prozess, der nicht von den Bedürfnissen oder Intentionen irgendeiner Person gesteuert wird, sondern durch die Relationen aller Teilnehmer bzw. Gruppen des komischen Aus‐ tauschs zueinander. 85 Plessner Von den Lachtheorien ist Hellmuth Plessners 1941 entstandener Essay Lachen und Weinen diejenige, die dem Körper den breitesten Raum widmet. Aus diesem Grunde ist sie für meine Überlegungen von überragender Bedeutung und verdanken dem Essay viel. Plessners The‐ orie unterscheidet sich fundamental von den vorangegangenen theoretischen Entwürfen zum Lachen, weil seine anthropologische Perspektive tatsächlich interdisziplinär angelegt ist. So nimmt er nicht nur ästhetische und philosophische Studien auf, sondern auch psy‐ chologische, entwicklungsbiologische und phänomenologische. Es gibt bis heute keinen weiter reichenden Versuch, das Lachen in seiner ganzen phänomenalen Breite zu untersu‐ chen. Leider hat die relativ späte und wenig erfolgreiche englische Übersetzung nicht aus‐ gereicht, um Plessner im angloamerikanischen Sprachraum und somit weltweit bekannter zu machen. 86 Trotz seiner Wichtigkeit soll hier der Essay nicht referiert werden, sondern es sollen kurz diejenigen Aspekte herausgestellt werden, die für die vorliegende Studie von Bedeutung sind. Plessner sieht die Ursache des Lachens nicht allein in seinen Anlässen, sondern „ebenso sehr in dem Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, das seine Existenz in der 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 41 <?page no="42"?> 87 „Die seltsam undurchsichtige Äußerungsweise des menschlichen Körpers muß aus dem Verhältnis des Menschen zu seinem Körper (nicht etwa aus dem problematischen ‚Verhältnis‘ des Geistes zum Körper, der Seele zum Leib, also isolierter Entitäten) begriffen werden. Natürlich verlangt diese Auf‐ gabe ebenso eine besondere Fassung menschlichen Wesens wie eine besondere Kennzeichnung seiner körperlichen Situation.“ Plessner, Lachen und Weinen, S. 228 u. 240. 88 Ebd., S. 273. 89 Ebd., S. 276. 90 Ebd., S. 36. 91 „Nur solche Grenzlagen reizen zum Lachen, die, ohne bedrohend zu sein, durch ihre Nichtbeant‐ wortbarkeit es dem Menschen zugleich verwehren, ihrer Herr zu werden und mit ihnen etwas an‐ zufangen.“ Ebd., S. 328. 92 Denn der Mensch habe kein eindeutiges Verhältnis zu seinem Körper, sondern ein doppeldeutiges, er ist gleichzeitig „leibhaftes Wesen“ und „Wesen im Körper“. In der Gebrochenheit („Bruch zwischen sich und sich“) und Unergründlichkeit im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper liegt, so Plessner, die Ursache des Lachens. Ebd., S. 235. 93 „Der Körper als Schauplatz physiologischer Mechanismen wird nicht von Witz oder Reue getroffen und in Erregung versetzt, sondern auch wieder nur von physischen ‚Reizen‘, die (...) akustischer oder optischer Art sind.“ Ebd., S. 231. Welt nun einmal bestimmt.“ 87 Plessner sieht im Lachen eine Grenzerfahrung des Menschen, bei der der Lachende sich seinem Körper überlässt und somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn verzichtet. Das unwillkürliche Ins-Lachen-Geraten sei ein „eigentüm‐ lich selbständiger Prozess, der (...) sich häufig der Dämpfung und Steuerung bis zur völligen Erschöpfung entzieht, ein Verlust der Beherrschung, ein Zerbrechen der Ausgewogenheit zwischen Mensch und physischer Existenz.“ 88 So verstanden erscheint Lachen als Kontroll‐ verlust, bei dem gewissermaßen der Körper die Antwort für den außer sich geratenen Menschen übernimmt, „nicht mehr als Instrument von Handlung, Sprache, Geste, Gebärde, sondern als Körper.“ 89 Folgerichtig widerspricht Plessner der These, das Lachen habe symbolische Prägung; vielmehr trete es als „unbeherrschte und ungeformte Eruption(en) des gleichsam verselbs‐ tändigten Körpers in Erscheinung.“ 90 Die auf der Unwillkürlichkeit des Lachens gründende Emanzipiertheit des Körpers bezeichnet Plessner als Exzentrik. Im Gegensatz zum Sprechen und zum Handeln als kontrollierte Akte verliere die Person beim Lachen ihre Beherrschung, sie antworte damit auf eine eigentlich unbeantwortbare, doch nie bedrohliche Situation. 91 Die exzentrische Position des Menschen im Lachen charakterisiert Plessner mit dem Span‐ nungsverhältnis zweier Körperordnungen, dem „Leib sein“ und dem „Körper haben“, zwi‐ schen denen kontinuierlich vermittelt werden muss. 92 Mit der berühmt gewordenen Un‐ terscheidung gelingt es Plessner, phänomenologische Modelle der Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty, Waldenfels) anschließbar zu machen, ein wichtiger Aspekt für die Trag‐ weite seiner Theorie. Plessners Studie enthält vier zentrale Thesen, die für die Untersuchung des Körpers als Lachanlass grundlegend sind: (1) Der Mensch lacht nicht in erster Linie, weil er Personen, Dinge, Handlungen und Sätze lächerlich findet, 93 sondern weil ihm die Herrschaft über den Körper verloren geht, weil das Verhältnis zu seinem Körper nicht eindeutig und ungebrochen ist. Den Gedanken des Verlusts der Körperbeherrschung beim Lachen lässt Plessner bei der Untersuchung der Lachanlässe jedoch fallen. Wenn zahlreiche Lachanlässe direkt oder in‐ 1. Der Körper als Lachanlass 42 <?page no="43"?> 94 „Unsere Untersuchung liegt in der Linie einer Theorie des menschlichen Ausdrucks.“ Ebd., S. 213. Und weiter: „Lachen und Weinen als Ausdrucksformen begreifen heißt, vom Menschen als Ganzes ausgehen, nicht vom Partikularen, das sich quasi selbständig aus dem Ganzen loslösen lässt wie Körper, Seele, Geist, Sozialverband. (...) Ausdrucksformen sind demnach Formen des Verhaltens zu anderen, zu sich, zu Dingen und Ereignissen, zu allem was Menschen begegnen kann.“ Ebd., S. 223 f. 95 Ebd., S. 249. 96 Ebd., S. 225. 97 Vgl. dazu einerseits die mediävistische Gestenforschung, wie sie etwa in dem Band: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Hg. von Margreth Egidi u. a. Tübingen 2000 oder in Jean-Claude Schmitts schon zum Klassiker gewordenen Die Logik der Gesten. Stuttgart 1992 zum Ausdruck kommt; ande‐ rerseits die mediävistische Emotionenforschung, wie z. B. Kasten, Ingrid u. Jaeger, Stephen C. (Hg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter - Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Selected Papers from the International Conference, September 6-8, 2002. Red. Mitarbeit: Hendrikje Haufe und Andrea Sieber. Trends in Medieval Philology 1. Berlin 2003. direkt körperlicher Natur sind (wie Bergson feststellte), liegt es nahe, auch bei ihnen eine Entsprechung des Kontrollverlusts zu indizieren. Aus dieser Perspektive wäre die Desor‐ ganisation des eigenen Körpers im Lachen die Reaktion auf den wahrgenommenen Kon‐ trollverlust des anderen Körpers durch fremde Ursachen. Körperliche Lachanlässe gleichen dem Lachen sehr: Ihr Außer-Sich-Geraten ohne Gefährdung, ein Schütteln und eine De‐ formation, ein Verlust bzw. Verzicht der Herrschaft über den Körper. Das Modell der Des‐ organisation lässt sich gar auf die Sprache übertragen: Stottern, Stammeln, Wort- und Satz‐ verdrehungen produzieren, Versprecher usw. sind sprachliche Formen des Kontrollverlustes. Zwischen Lachanlässen und dem Lachen als Überforderungen des Kör‐ pers bzw. Scheitern der Körperhaltung scheinen somit engere Zusammenhänge als bisher angenommen zu bestehen. Gerade dies erscheint für professionelle Lustigmacher ein fruchtbares Feld zu sein, denn sie nutzen diese körperlichen Formen des Kontrollverlustes in der Imitation, um absichtlich Lachen zu erregen. (2) Plessner zählt das Lachen weder zu den Gesten noch zu den Emotionen, sondern bezeichnet es als kommunikative Ausdrucksbewegung. 94 Dem Lachen eigne ein rein ex‐ pressiv-reaktiver Charakter, der auf das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper hin‐ deutet: „Expressivität ist eine ursprüngliche Weise, damit fertig zu werden, daß man einen Leib bewohnt und zugleich ein Leib ist.“ 95 Insofern steht das Lachen zwar in der Nähe der emotionalen Ausdrucksbewegungen, ist von ihnen aber auch in charakteristischer Weise getrennt: Während Zorn oder Freude, Liebe und Haß, Mitleid und Neid usw. am Körper eine symbolische Ausprägung gewinnen, welche den Affekt in der Ausdrucksbewegung erscheinen läßt, bleibt die Äußerungsform des Lachens und Weinens undurchsichtig und bei aller Modulationsfähigkeit weitgehend in ihrem Ablauf festgelegt. 96 Die These, dass das Lachen symbolisch ungeprägt ist, bedeutet einen wichtigen Schritt zu einem performativen Verständnis des Lachens: Lachen vollzieht sich, ohne gleich Zeichen oder Geste zu sein, ohne für etwas anderes zu stehen. Dagegen sind Gesten und Emotionen codierbar, lassen sich eindeutig signifizieren, unterliegen der Steuerung und der Kontrolle. Während die Codierung und Disziplinierung von Gesten und von Emotionalität schon im Mittelalter deutlich erkennbar ist, 97 entzieht sich das Lachen jedoch solchen Prozessen der Steuerung aus den genannten Gründen. Allerdings kann Lachen als körperliche Aus‐ 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 43 <?page no="44"?> 98 Vgl. dazu Krüger, Reinhard (Hg.): Drei Untersuchungen zur Körpersprache im französischen Mittel‐ alter. Berlin 2003, S. 7 (Einleitung). 99 Plessner, Lachen und Weinen, S. 262. 100 Ebd., S. 333. 101 Ebd., S. 297 (Hervorh. HRV). drucksreaktion vom Menschen simuliert und in Abwesenheit seiner üblichen Ursachen hervorgebracht und gezeigt werden. Es handelt sich dabei um eine „Inszenierung körper‐ licher Artikulationen und damit um die Transformation einer Körperreaktion in ein kör‐ persprachliches Zeichen.“ 98 Hat die Körperreaktion einmal den Status eines Zeichens er‐ halten, dann unterliegt sie als simulierte physiologische Körperreaktion allen Verfahren der sozialen Kodifizierung. So können körpersprachliche Äußerungen in der Literatur durchaus kulturellen Ursprung haben und müssen mit dem Lachen als Ausdrucksbewegung nicht unbedingt korrelieren. Hier gilt es genau zwischen alltäglicher Praxis und ihrer Diskursi‐ vierung in den literarischen Repräsentationssystemen zu unterscheiden. In diesem Zusammenhang kommt noch ein weiterer Aspekt zum Vorschein, den Plessner nicht berührt: Lachen ist trotzdem häufig mit der Äußerung anderer Emotionen verbunden (Freude, Jubel, Hass, Neid, Liebe usw.) und hat dann jeweils unterschiedliche Funktionen. Da sich diese Emotionen ebenfalls körperlich zeigen, ist der Zusammenhang mit den Emo‐ tionen, den Plessner angerissen hat, weiterzuverfolgen. (3) Als echte Ausdrucksgebärde ist das Lachen ansteckend; es zieht uns in seiner Un‐ mittelbarkeit, seiner Unwillkürlichkeit in Bann: Wir können echtem Lachen und Weinen gegenüber nur mit Überwindung unbeteiligte Zuschauer bleiben. Stärker als jedes andere mimische Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen und machen uns zu Partnern ihrer Erregung, ohne dass wir wissen, warum. 99 Es ist der akustische Eindruck, dem sich der Körper nicht entziehen kann, sodass er ebenso ins Lachen fallen muss, an der Erregung teilhaben muss. Die ansteckende Wirkung des Lachens beschreibt Plessner ebenso körperlich; sie ist eine der stärksten Argumente für eine Kommunikation der Körper beim Lachen. Leider geht Plessner über die Konstatierung dieses wichtigen Sachverhaltes nicht hinaus, sodass er uns später noch weiter beschäftigen wird. (4) Normbruch, komischer Konflikt und situative Überforderung. Plessner bestimmt das Verhältnis zwischen Lachen und Komik situativ; es gibt keine generischen komischen Lachanlässe, sondern der Mensch lacht, wenn er mit einer Situation nicht fertig wird: Im Lachen quittiert der Mensch eine Situation. Er beantwortet sie mit ihm direkt und unpersönlich. Er gerät in einen anonymen Automatismus. Er selbst lacht eigentlich nicht, es lacht in ihm, und er ist gewissermaßen nur Schauplatz und Gefäß für diesen Vorgang. 100 Hier ist das Komische eine Qualität seiner Erscheinung, es entsteht sozusagen aus der Si‐ tuation heraus. Es ist keine Frage, dass nicht jede Situation, die den Menschen überfordert, zum Lachen oder Weinen führt. Entscheidend für das Lachen ist der „komische Konflikt“, der überall dort entstehen kann, „wo eine Norm durch die Erscheinung, die ihr gleichwohl offensichtlich gehorcht verletzt wird.“ 101 Das Lachen sei nicht, wie Bergson vermutet hatte, 1. Der Körper als Lachanlass 44 <?page no="45"?> 102 Ebd., S. 299. Hier knüpft Plessner an Friedrich Georg Jünger an: „Nur durch die Beziehung auf eine Regel, der es widerstreitend gegenübertritt, ergibt sich das Komische.“ Jünger, Friedrich Georg: Über das Komische (1936). Zürich 1948. 103 Plessner, Lachen und Weinen, S. 297. 104 So kann man Plessner vorwerfen, dem Zusammenhang von Anlass und Form des Lachens nicht genügend nachgegangen zu sein, die (häufig negative) Wirkung des Verlachens anderer ausgelassen, den Aspekt der Überraschung bei der Komik sowie die kathartische Funktion des Lachens unter‐ schlagen zu haben usw. Auch verfällt er in eine Theorie, die dezidiert anthropologisch ausgerichtet ist, von Zeit zu Zeit in ontologische Argumentationen und dies in einer teils essentialistisch anmu‐ tenden Sprache: „Exzentrisch zur Umwelt, im Durchblick auf eine Welt, steht der Mensch zwischen Ernst und Unernst, Sinn und Sinnlosigkeit …“ Ebd., S. 299. eine Strafe für soziale Devianz, sondern „eine elementare Reaktion gegen das Bedrängende des komischen Konflikts.“ 102 Weil Normverletzungen, so Plessner, sich im Laufe der Geschichte mit den Normen wandeln, so wechselt auch das, was eine Gesellschaft komisch findet. Während Lachen von Plessner als anthropologisch universal gedacht wird, ist Komik historisch und kulturell variabel. Allerdings versäumt er es zu sagen, warum die Verletzung einer Norm komisch sei. Die Formulierung des Verletzens bei gleichzeitiger Zugehörigkeit erklärt hier nichts, die Wirkung der Gegensinnigkeit wird nicht erläutert. Nur an einer Stelle, wenn er über die Komik von Tieren spricht, unterscheidet Plessner zwischen der tierischen Erscheinung und „einer Idee oder Norm, die wir in unserer Einbildungskraft (aus Gründen der Gewohn‐ heit und ästhetischer Vorurteile) an die Erscheinung herantragen.“ 103 Der Aspekt der sub‐ jektiven Wahrnehmung von Komik und ihren Funktionsweisen, auf welchen sowohl se‐ mantische Inkongruenztheorien wie auch psychologische Theorien so viel Wert legen, wird nicht weiter behandelt. Plessner wagt sich an eine Differenzierung zwischen kognitiver Verarbeitung und körperlicher Übertragung bei der Komik nicht heran. Richtig bleibt je‐ doch, dass der Mensch als komisch wahrgenommenen Situationen gegenüber nicht unbe‐ teiligt bleiben kann: Sie bedrängen, überfordern ihn, versetzen ihn in eine Grenzlage und machen ihn unfähig zur Antwort. Ausgehend von dem, was Plessner erreicht hat, kann die Frage der Wahrnehmung von körperlicher Komik angegangen werden, nicht mehr und nicht weniger. Selbstverständlich ist Plessners Theorie auch nicht frei von Fehlern und Unstimmigkeiten, die hier nicht einzeln aufgezählt werden müssen. 104 Trotzdem kann sie für sich das Verdienst reklamieren, in der Untersuchung der Relation von Lachen und Körper am weitesten vorgedrungen zu sein und wichtige Ergebnisse geliefert zu haben. In den Analyseteilen werde ich an verschiedenen Stellen Plessners und Freuds Thesen auf‐ greifen und mit ihnen arbeiten. Plessners Studien verdeutlichen noch einmal die Schwierigkeiten, das Lachen in einem übergreifenden und alle Aspekte einschließenden Ansatz zu erfassen. Deshalb ist es auch nicht der Anspruch und das Ziel dieser Arbeit, eine neue körperzentrierte Lachtheorie zu formulieren; vielmehr ist es nur möglich, die Bedingungen und Voraussetzungen zu be‐ schreiben, die die tragende Rolle des Körpers im komischen Vorgang betonen. Was keine der bislang diskutierten Theorien tatsächlich erörtert, ist die Tatsache, dass der Körper als Lachanlass immer auch ein theatraler und ereignishafter Körper ist. Er wird im Moment seiner Lächerlichkeit (also im Moment des Lachens der Anderen) zum theatralen Ereignis, zur Aufführung. Und das aus mehreren Gründen: erstens durch die Anwesenheit der Lach‐ 1.1. Lachtheorien ohne Körper? 45 <?page no="46"?> 105 So resümiert Elisabeth Arend in ihrer Studie zum Lachen in Boccaccios Dekameron: „Aus der Sicht der modernen Erzählforschung hat sich die Trennung der Untersuchungsgegenstände Lachen und Komik also als äußerst fruchtbar erwiesen.“ Arend, Elisabeth: Lachen und Komik in Giovanni Boccacios Decameron, Frankfurt a. M. 2004, S. 423. 106 In sozialpsychologischen Untersuchungen wird zwischen „humorous laughter“ und „social laughter“ unterschieden, wobei Lachen kein Indikator mehr für Komik ist, sondern Komik nur einer von vielen Lachstimuli. Vgl. Chapman u. Foot: Humour and Laughter, S. 1-10. Zum „non-humorous laughter“ zählen auch pathologische Formen des Lachens, die auf Gehirnschäden zurückzuführen sind. enden, denn sie sind Zuschauer und Zuhörer, zweitens durch die Emergenz des Lachens selbst, die - wie bei der Aufführung eines Musikstücks - unmittelbaren Einfluss auf die Performance hat und sie verändern kann, und drittens durch die Tatsache, dass ein lächer‐ liches Ereignis sofort versprachlicht und weitererzählt wird. Beim Weitererzählen wird vielfach vom Erzähler gelacht, da er den komischen Vorgang beim Erzählen ins Gedächtnis zurückruft und nochmals lebhaft vorstellt. Diese Mediatisierung erster Ordnung könnte bereits bedeuten, dass der lächerliche Körper semiotisiert worden ist, d. h. ein Gegenstand der kulturellen Codierung geworden ist. Auf diese Fragen werde ich im Folgenden näher eingehen. Zuvor muss aber noch eine wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen La‐ chen und Komik, wie bei Plessner eben angedeutet, behandelt werden. 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis Komik, Lachen und Humor sind in der Theorie immer wieder vermischt und häufig meta‐ phorisch oder je nach Bedarf verwendet worden. So heißt die Studie Bergsons zwar „Das Lachen“, doch vom ersten Moment an handelt sie vom Komischen: „Vom Komischen im Allgemeinen“; „Komische Formen und Bewegungen“; „Umfang des Komischen“; „Situations- und Wortkomik“; „Charakterkomik“. Für Bergson, und das gilt in hohem Maß für die philosophisch-ästhetische Tradition insgesamt, bilden Lachen und Komik eine untrennbare Einheit; wer über das Lachen schreibt, hat die Komik im Sinn. Nicht viel anders verhält es sich in der Literaturwissenschaft, die sich allermeist mit der Verwendung einsinniger Strukturverhältnisse (Komik erzeugt und ist die Ursache von Lachen) zufrieden gibt und auf eine methodische Trennung der Begriffe verzichtet. Indessen deutet alles darauf hin, dass Lachen und Komik trotz ihrer komplexen Zusam‐ menhänge unterscheidbare Phänomene und methodisch folglich als zwei unterschiedliche Untersuchungsgegenstände anzusehen sind. 105 Wie verhalten sich Lachen und Komik zu‐ einander? Zunächst ist hier festzustellen, dass das Lachen der primordiale Begriff ist, und das aus mehreren Gründen: Komische Vorgänge und Handlungen werden mit Lachen quit‐ tiert, das Lachen ist notwendige Antwort für das Komische und geradezu sein Maßstab, doch wurde neben dem Komischen eine Vielzahl anderer Lachanlässe festgestellt und un‐ tersucht. Neben verwandten Phänomenen wie Witz und Humor auch Freude und Spiel (etwa bei Kindern), Verlegenheit und Verzweiflung, Kitzel, Nervosität und Entlastung nach einer Anspannung usw. 106 Die Konversationsanalyse hat ergeben, dass Lachen Sprechakte wie Angeberei, Herausforderungen, anzügliche und emotionsgeladene Äußerungen be‐ gleitet, dass es bei Fragen, unterstützenden Aussagen, oder Bemerkungen zum Gruppen‐ 1. Der Körper als Lachanlass 46 <?page no="47"?> 107 Glenn, Laughter in Interaction, S. 25. 108 Vgl. dazu Haug, Walter: Das Komische und das Heilige. In: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1987, S. 257-74, hier S. 258ff und Haug, Walter: Schwarzes Lachen. In: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. von Walter Haug. Tübingen 2003, S. 357-369, hier S. 358. 109 „Überhaupt läßt sich nichts Entgegengesetzteres auffinden als die Dinge worüber die Menschen lachen.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Bd. II, S. 552. 110 Schmidt, Siegfried J.: Komik im Beschreibungsmodell kommunikativer Handlungsspiele. In: Das Ko‐ mische, Hg. von Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning. München 1976, S. 165-190. verhalten vorkommt. „There appears to be growing acknowledgement that many factors, internal and external, affect or stimulate laughter. Treating it solely as a response to a stimulus produces only incomplete understandings.“ 107 Lachen ist der Komik auch deshalb vorgeordnet, weil es zu den transhistorischen und transkulturellen anthropologischen Ausdrucksformen des menschlichen Körpers gehört; die Komik dagegen ist historisch und kulturell gebunden und stark variabel. Daraus folgt als methodische Konsequenz, dass einerseits Lachtheorien, die nur die Komik betrachten, unvollständig sind, und andererseits Komiktheorien nicht ohne das Lachen, ihren Refe‐ renzpunkt, auskommen. Walter Haug hat es mehrfach in Bezug auf Literatur und Kultur des Mittelalters betont: Die Voraussetzung für eine Theorie des Komischen ist eine Theorie des Lachens. 108 Daran ändert auch nichts, dass Komik zuweilen auch nur ein Lächeln, Schmunzeln oder Freude / Amüsiertheit auslöst, und kein Lachen. Denn dies sind schwä‐ chere Varianten des Lachens, die von der subjektiven Wahrnehmung des Komischen ab‐ hängen (ich komme später darauf zurück). Wenn wir über das Komische und sein Verhältnis zum Körper sprechen, tun wir das immer in Abhängigkeit der Bedingungen des Lachens, und somit der kulturellen, histori‐ schen und vor allem situativen Kontexte, in welchen dieses erscheint. Daher ist das Komi‐ sche auch nicht objektivierbar, sondern als Referent einer lachenden Antwort ein stark relationales Phänomen. Dass es keine identischen Strukturmuster der Komik geben kann und somit auch keine objektiven ästhetischen Voraussetzungen für ontologisch ausgerich‐ tete Komiktheorien, 109 hatte schon Siegfried J. Schmidt bemängelt, der es als obsolet ansah, eine übergreifende Komiktheorie zu erstellen. Denn diese sei nur möglich, wenn es gelänge, anthropologische, psychologische und soziologische Gesetzmäßigkeiten zu finden, die eine ahistorische Personen- und Konstellationstypik aufzustellen erlaubten, welche zeitlos gül‐ tige Strukturen komischer Gegebenheiten und Wirkungen darstellen könnte. Stattdessen verweist auch Schmidt auf die Relevanz kultureller Kontexte und mahnt die historische, soziokulturelle Relativität des Komischen an. Ein kontextdeterminierter Begriff wie Komik sei aus logischen Gründen nicht ahistorisch definierbar. Man könne höchstens Struktur‐ muster erarbeiten, mit deren Hilfe komische Kommunikationsprozesse analysiert werden können. 110 Es ist also keineswegs so, dass Lachen nur als einfacher Indikator von Witz oder Komik angesehen werden darf (wie in ästhetisch ausgerichteten Komiktheorien häufig der Fall) 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 47 <?page no="48"?> 111 Schon Plessner stellte fest, dass die Theorien zum Lachen in Philosophie, Ästhetik und Psychologie sich auf das Lachen als Anlass bezogen, nicht auf das Lachen selbst. „Lachen und Weinen spielen in ihren Studien die Rolle von Indikatoren, die den Ablauf einer Reaktion anzeigen.“ Plessner, Lachen und Weinen, S. 212 f. 112 Vgl. dazu Bachorski, Hans-Jürgen, Röcke, Werner, Velten, Hans Rudolf u. Wittchow, Frank: Perfor‐ mativität und Lachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10 (2001), S. 157-190, hier S. 157 ff. 113 Ein Beispiel für die Tilgung performativer Elemente in Theatertexten ist die Abänderung des lang‐ gezogenen Stöhnens am Schluss von Shakespeares Hamlet zugunsten des Sinnspruches „and the rest is silence“ in der Druckfassung von 1823. Vgl. dazu Pfister, Manfred: An Argument of Laughter: Lachkultur und Theater im England der Frühen Neuzeit. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Hg. von Lothar Fietz, Joerg O. Fichte u. Hans-Werner Ludwig. Tübingen 1996, S. 203-227. 114 „Die Dissoziierung von Kunst und Leben erweist sich angesichts des Komischen als besonders prob‐ lematisch.“ Stierle, Komik der Handlung, S. 373. und somit als quantité negligeable, als Neben- oder Zusatzprodukt des Komischen. 111 Lachen und Komik (als Lachanlass) gehören in einen interaktiven Zusammenhang, in eine die Komik erst konstituierende Kommunikationssituation. 112 Diese „Kommunikationssituation des Komischen“ ist nicht nur durch das Lachen als Antwort auf das Komische charakter‐ isiert, und insofern als Vorgang und prozesshafte Abfolge, sondern sie wird vom Lachen geradezu bestimmt und eingerahmt. Das Lachen in seinen verschiedenen Ausprägungen ist gewissermaßen nicht nur der Respons, sondern auch der Ton der Komik, ihre Modula‐ tion. Komik kann somit immer nur über ihre kulturellen und historischen, vor allem aber über ihre situationalen und okkasionalen Bedingungen definiert werden. Das Lachen ist hierbei die wichtigste, sodass sich für jede Frage nach dem Komischen zunächst die Frage nach seiner Einbettung in Lachkontexte stellt. Dagegen setzen die meisten ästhetischen Komik‐ theorien das Lachen voraus, ohne die jeweilige Relation des Komischen zu ihm zu unter‐ suchen: Indem sie auf das literarische Kunstwerk, hauptsächlich auf die schriftliterarischen Formen der Komödie, den komischen Roman bzw. kürzere Prosaformen (Schwank, Novelle, Anekdote, Witz usw.) bezogen sind, thematisieren sie das Lachen, wenn überhaupt, nur am Rande. Häufig ist es auch der Schriftfassung zum Opfer gefallen. 113 Keine Frage, dass mit dem Lachen als körperliche Ausdrucksform auch der menschliche Körper selbst stark ver‐ nachlässigt wird; an seiner Stelle geht es um Handlungs-, Situations- und Figurenkomik usw., also um Unterformen eines ontologisch gefassten Komischen. So spielt der Körper auch in den vielleicht elaboriertesten komiktheoretischen Ansätzen des Bandes VII der Konstanzer Forschergruppe Poetik und Hermeneutik mit dem Titel Das Komische kaum eine Rolle. Dies hat auch damit zu tun, dass im Vorwort trotz aller Vorbe‐ halte die explizite Frage nach dem „Generalisierungspotential des Komischen“ noch immer im Fokus steht. Karl-Heinz Stierle versucht etwa, die Struktur des Komischen aus der Struktur der Handlung zu entwickeln, indem er zunächst Komik der Handlung und Komik des Sprachhandelns als eine spezifische Form des Handelns miteinander in Beziehung setzt. Damit ist er zwar ein Wegbereiter eines performativen Verständnisses von Komik, doch auch dieser Ansatz bleibt einem übergeordneten Strukturbegriff von Komik verhaftet. Die Schwierigkeiten, Komik strukturell zu fassen, beginnen bereits mit der wichtigen Frage nach dem Verhältnis von lebensweltlicher und ästhetischer Komik. 114 In Anknüpfung an Étienne Souriaus Vorschlag, das Lächerliche der Lebenswelt und das Komische der Kunst 1. Der Körper als Lachanlass 48 <?page no="49"?> 115 Souriau, Étienne: Le risible et le comique. Journal de psychologie normale et pathologique 41 (1948), S. 142-169; vgl. auch Dupréel, Etienne: Le problème sociologique du rire. Revue philosophique de la France et de l’Étranger 106 (1928), S. 213-260. 116 Jauß, Hans Robert: Zum Problem der Grenzziehung zwischen dem Lächerlichen und dem Komischen. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning. München 1976, S. 361-372, hier S. 366. 117 Jauß, Zum Problem der Grenzziehung, S. 369. 118 „Das Komische vermag zu erheitern, ohne dass darüber gelacht werden muß.“ Jauß, Zum Problem der Grenzziehung, S. 369. 119 Dies ist ein Versuch von Jauß, Ritter gegen Plessner einerseits und gegen die französischen Komik‐ theorien von Souriau und Dupréel andererseits in Stellung zu bringen, indem deren Annahmen auf die Lebenswelt reduziert werden. Beide hatten sich für eine Definition des Komischen aus dem La‐ chen ausgesprochen, Dupréel aus soziologischer, Souriau aus ästhetischer Perspektive. Vgl. dazu Ritter, Joachim: Über das Lachen (1940). In: J. R.: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974, S. 62-92. 120 Souriau, Le risible et le comique. Zit. nach Jauß, S. 370. zuzurechnen, 115 betont Hans Robert Jauß die „ästhetische Einstellung“ als rezeptionsästhe‐ tisches Mittel, das für die Komik zum definiens wird, indem „das lebensweltlich Lächer‐ liche (...) der ästhetischen Einstellung ans Licht der Komik treten kann.“ 116 Komik liegt nach Jauß also immer dann vor, wenn die ästhetische Einstellung in der „Gegensinnigkeit einer Situation“ einen komischen Konflikt zwischen zwei verschiedenen Daseinsebenen ent‐ deckt. Dadurch gewinne die ästhetische Einstellung „die Freiheit eines Abstands, der uns mit der bedrohlichen Situation wenigstens auf der ästhetischen Ebene fertig werden läßt.“ 117 Eine überlange Nase, eine zufällige Ähnlichkeit, oder die fremde Kleidung eines Außenseiters sind demnach nicht komisch, sondern nur lächerlich, sie rufen ein soziales Lachen, ein Verlachen hervor. Komisch ist eine Situation nach Jauß aber erst dann, wenn die ästhetische Einstellung eine zufällige oder geheime Gegensinnigkeit an ihr entdeckt, was auch zur Folge hat, dass sie nicht unbedingt mit Lachen, bzw. mit dem Lachen aller quittiert werden muss. 118 Eine auf solche Weise vom Lachen entkoppelte Komik kann auch die soziale Schärfe des Lachens nicht mehr besitzen, denn sie wird durch die ästhetische Einstellung quasi herausgefiltert. Dies erklärt Jauß mit Hilfe der Komiktheorie Joachim Ritters: Die Gegensinnigkeit einer Situation beruht darauf, dass am Konflikt der verschie‐ denen Daseinsebenen das „Nichtige im offiziell Geltenden“ teilhat. Das Nichtige sorgt dafür, dass der Konflikt nicht mehr ernsthaft und somit entschärft ist. Damit entkoppelt Jauß nicht nur das Komische vom Antwortcharakter des Lachens, sondern er schlägt das performative Element der Komik, welches bei Aristoteles noch the‐ atral gefasst war, existenzphilosophisch dem Nichtigen zu. 119 Abgesehen davon, dass Jauß den logischen und kommunikativen Status der „ästhetischen Einstellung“ und wer sie wann besitzt nicht näher erläutert (außer der Erwartung der Gegensinnigkeit), möchte ich am Beispiel des klassischen körperlichen Lachanlasses, nämlich des Sturzes zeigen, dass der Versuch, die Komik als ästhetisches Phänomen sozusagen heilig zu sprechen, zum Scheitern verurteilt ist. Wann ist der Sturz eines ungeschickten Menschen komisch? , fragt Jauß im Hinblick auf Souriaus Einschätzung, dass ein Sturz an sich nicht genügt, um Lachen auszulösen, sondern dass es der Interferenz mit einer zweiten Ebene bedarf, nämlich der Wahrnehmung als einer Form von „unwillentlicher Akrobatik“ oder inszeniertem Missgeschick etwa beim Clown. 120 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 49 <?page no="50"?> 121 Jauß, Zum Problem der Grenzziehung, S. 370. 122 Vgl. dazu Kap. 5.2. Jauß fragt zunächst mit Recht nach der Instanz, die solche Interferenzen perzipiert und aufdeckt, kümmert sich dann aber nicht um die Probleme der Wahrnehmung. Stattdessen bestimmt er mit der ästhetischen Einstellung eine Instanz, die Vorleistungen für die Wahr‐ nehmung des Komischen erbringt, „damit im Verhalten des Stürzenden oder in der Um‐ ständlichkeit des Clowns das Komische aufscheinen kann.“ 121 Warum soll aber die komische Wahrnehmung eines Sturzes einer „ästhetischen Einstel‐ lung“ und nicht einer allgemein perzeptiven, mimetischen oder praktischen Einstellung geschuldet sein? Jauß gibt darauf keine Antwort, schlimmer noch, weder erläutert er seinen Begriff (wer besitzt wann und in welchem Rahmen eine ästhetische Einstellung, und was heißt das? ), noch diskutiert er ihn im Licht des Wahrnehmungsproblems. Jauß überträgt lediglich das Rezeptionsmodell der Komödie auf alle komischen Situationen: In der Ko‐ mödie kann durchaus von einer „ästhetischen Einstellung“ als Rahmungsfaktor der Rezep‐ tion gesprochen werden, wohingegen es bei textferneren Formen wie etwa bei den Ver‐ körperungen und Aufführungen von Gauklern und Possenreißern im Mittelalter schon durch die fehlende Illusionsbildung problematisch werden dürfte. Auch deshalb ist ein on‐ tologischer Komikbegriff für jene zahlreichen, zwischen Lebenswelt und Kunst angesie‐ delten Performances gerade im Mittelalter ungeeignet. Noch im Stegreiftheater gehören inszenierte Stürze zum Programm: In Perruccis Kompendium über die lazzi der Commedia dell’arte kann man nachlesen, wie intensiv sie geübt und ausgespielt wurden. 122 Denn Stürze gehören zu den ältesten Lachanlässen des mimischen Theaters, sie werden um des Lachens willen inszeniert. Hier greifen die Jaußschen Kategorien nicht: Sind solche inszenierten Stürze noch Lebenswelt oder schon Kunst? Nur wenn das Letztere zutrifft, könnte man nach Jauß von Komik sprechen, und dann müsste ein Sturz nicht nur Gegen‐ sinnigkeit ausdrücken, sondern auch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Daseinsbereichen (was im Witz durchaus funktioniert, nicht aber bei körperlicher Komik). Zudem ist in Commedia-Aufführungen die ästhetische Rahmung kaum oder nur schwach ausgebildet, zumindest schwächer als in der klassischen Komödie. Für vormoderne (und genauso wenig für postmoderne) Aufführungen ist Jauß’ Konzept der ästhetischen Einstellung auf gar keinen Fall zu gebrauchen; inszenierte Stürze sind vielmehr performative als ästhetische Mittel der Aufführung. Ohne den ästhetischen Rahmen der Komödie taugen sie nicht zur Illusionsbildung. Und schließlich: Wenn Jauß’ Vorschläge triftig wären, dann dürften wir über die Komik der Komödie gar nicht lachen, sondern nur schmunzeln, da wir „auf der ästhetischen Ebene mit ihr fertig werden“. Es ist deshalb auch nicht überraschend, wenn der menschliche Körper in seiner anthropologi‐ schen Kontingenz in Jauß’ Konzept nicht vorkommt und gewissermaßen als Kategorie ausgeschlossen wird. Wie wir am Beispiel des Sturzes gesehen haben, geht er völlig in Handlungs- und Situationskomik auf, er wird Komiktheorien unterworfen, die von der 1. Der Körper als Lachanlass 50 <?page no="51"?> 123 Ein grundsätzlicher Fehler der Jaußschen Überlegungen ist, dass er Ritters Definitionen, die für sprachliche Komik gedacht sind, auf die Komik im Ganzen überträgt. Ritter sagt nämlich zur Relation zwischen dem Ausgegrenzten und der Lebensordnung: „Aller Witz, alle auf das Komische und das Lachen abzielende Rede sind in diesem Sinn gleichsam das grobe oder kunstvoll feine Mittel, durch das diese geheime Beziehung herausgearbeitet und sichtbar gemacht wird.“ Ritter, Über das Lachen, S. 77. 124 Beim Komischen geht es vielmehr um ganze Szenen und Systeme symbolischen Austauschs, deren bestimmendes Merkmal die Verbindung zum Lachen ist. Gesprochene Worte oder gemachte Gesten sind an und für sich noch keine Komik und kein Witz, wenn sie nicht mit Lachen verbunden sind. Vgl. English: Comic Transactions, S. 5 ff. sprachlichen Semantik ausgehen (Ritters „geheime Zugehörigkeit des Nichtigen zum Da‐ sein“). 123 Für Jauß entstammt das Komische dem Bereich der Kunst und setzt ästhetische Einstel‐ lung voraus; es ist gewissermaßen ein rezeptionsästhetischer Effekt. Damit hat er das Ko‐ mische von aller sozialen Verantwortung enthoben, es kann mit dem Verlachen nicht mehr in Verbindung gebracht werden, es erscheint restlos entschärft, unterhaltend und erbaulich, idealisiert. Es ist auch nicht vom Lachen oder seinen situativen Kontexten abhängig, son‐ dern erscheint wesenhaft an eine Art Ästhetisierung durch einen unspezifisch bleibenden Betrachter gebunden - die ästhetische Rahmung des Lächerlichen macht es zur Komik. Dagegen muss auch grundsätzlich eingewandt werden, dass der Rückgriff auf ästhetische Systeme keine ausreichende Klärung erbringt, weil sie zumeist aus Prämissen abgeleitet sind, deren generelle und ausnahmslose Geltung selten zweifelsfrei angenommen werden kann und deren Überschreitung oder Verletzung das Phänomen des Komischen zu einem guten Teil überhaupt erst konstituiert. Was die Diskussion der Jaußschen Komiktheorie immerhin zeigt, ist zweifelsfrei die Tatsache, dass bei der Bestimmung von Komik ihre Wahrnehmung die entscheidende Rolle spielt. Der komische Vorgang ist nicht an sich komisch, sondern erst in der Wahrnehmung der Anwesenden und Beteiligten. Hier stellt sich nun die Frage, ob nach Jauß und Stierle das Komische nicht die Erfahrung des Handelnden, sondern die des Betrachters betrifft, oder ob die Wahrnehmung des Komischen nicht den Betrachter sozusagen zum Handelnden oder zumindest zum Teilhaber macht. Zweifel an der Jaußschen These sind zumindest an‐ gebracht; für Plessner etwa ist das Komische eine Qualität seiner Erscheinung, es ist also etwas, das im Kommunikationsprozess emergiert. Komik ist auch keine Äußerung, wie in semantisch orientierten Arbeiten vielfach behauptet, sondern ein Ereignis, das sich in seiner Gegensinnigkeit als prozesshaft und kontingent herausstellt. Daher ist es so labil und lässt sich strukturell nur sehr schwer fassen. Die Wahrnehmung des Komischen muss ebenfalls der Differenz von Lebenswelt und Kunst Rechnung tragen, denn es ist etwas anderes, ob ich über „vorgefundene Komik“ (Freud), eine komische Performance oder einen (ge‐ machten) komischen Text lache. 124 Und die Frage nach der Wahrnehmung muss bezüglich eines Vorgangs, eines Ereignisses gestellt werden, in dem sich semantische und performa‐ tive Elemente überlagern können, um Ambivalenz oder Widersprüchlichkeit auszulösen. Wahrnehmung des Komischen „A jest’s prosperity lies in the ear 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 51 <?page no="52"?> 125 Genette, Gérard: Morts de rire. In: G. G.: Figures V. Paris 2002, S. 146. 126 So Rainer Warning: „Es ist, als ob Strukturen allein noch keine Komik, noch kein Lachen begründen oder genauer: als ob es keine Struktur eines komischen Gegenstandes an sich gebe, als ob vielmehr der Gegenstand sich erst jenseits seiner Struktur, nämlich in seiner jeweiligen Wahrnehmung als ‚lächerlich‘ erweise.“ Warning, Rainer: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974, S. 115. 127 Genette, Morts de rire, S. 157. 128 Ebd. of him that hears it, never in the tongue of him that makes it (…)“ Shakespeare: Love’s Labour’s Lost V, 2 Die These, dass das Komische nicht an sich existiert, sondern in der Wahrnehmung derer, die es hören und sehen, zieht sich von Shakespeare über Jean Pauls Vorschule der Ästhetik („das Komische wohnt nie im Objekt, sondern im Subjekte“) und Charles Baudelaire („Le comique, la puissance du rire, est dans le rieur et nullement dans l’objet du rire“) bis zu Gérard Genette: „insister sur le caractère subjectif de l’effet du comique (...), un caractère que chacun éprouve tous les jours et que la plupart des théories du comique oublient tout aussi souvent“. 125 Danach gibt es keine komischen Objekte oder Strukturen, sondern es gibt nur komische Relationen, in denen die Wirkung des Komischen allein am lachenden Subjekt erfasst werden kann. 126 Derjenige, der auf der Bananenschale ausrutscht, nimmt das Ereignis meist keineswegs komisch, nur derjenige, der anwesend ist und es wahrnimmt. Das Komische ergibt sich hier nicht einfach aus der Betrachtung, sondern aus einem Akt der Aufmerk‐ samkeit, es ist „purement attentionel“, wie Genette es ausdrückt. 127 Auch in dem Falle, dass wir es mit einer geplanten Inszenierung, dem willentlich Komischen, zu tun haben (comique intentionnel) muss die Aufmerksamkeit beim Adressaten gegeben sein, um sein Ziel, das Lachen, zu erreichen: „Le comique volontaire, lui, est évidemment intentionnel - mais, pour atteindre son but, il doit aussi devenir attentionnel chez son destinataire.“ 128 Genette relativiert damit die alte Trennung zwischen willentlicher und unfreiwilliger Komik, indem beide, das Inszenierte wie das Ungeplante, erst durch die Aufmerksamkeit des wahrnehmenden Rezipienten zur Komik werden. Diese eher banale Feststellung hat jedoch weit tragende Konsequenzen für unseren Gegenstand, denn die Komik des seinen Körper benutzenden professionellen Possenreißers oder Schauspielers ergibt sich in diesem Verständnis aus dem Zusammenspiel von Inszenierung und Emergenz. Er benutzt seinen Körper als Werkzeug, um das Lachen des Rezipienten zu erregen, d. h. sein Körper fungiert als eine Art physiologisches, psychologisches und kognitiv wirkendes Ansteckungsorgan. Am Grunde des komischen Lachanlasses liegt eine Art Wahrnehmungsstimulus des an‐ deren, dessen Aufmerksamkeit gebannt und dessen Wahrnehmung so motiviert werden soll, damit er lacht. Wir können den komischen Vorgang deshalb auch als eine kommuni‐ kative Handlung bezeichnen, die in dem Moment gelingt, wenn sie Lachen auslöst. Ein wichtiger Aspekt dieser Wahrnehmung des komischen Vorgangs ist der Überraschungsef‐ 1. Der Körper als Lachanlass 52 <?page no="53"?> 129 Vgl. Iser, Wolfgang: Das Komische: Ein Kipp-Phänomen. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preis‐ endanz und Rainer Warning. München 1976, S. 399-402. 130 Haug, Das Komische und das Heilige, S. 260. Haug setzt hinzu: „Nur das terroristische System ist ohne Komik, weil es das, was es ausschließt, radikal unterdrückt; es verhindert die Selbstrelativierung mit Gewalt, es muss deshalb alles tun, um die prekärste Einbruchstelle, die Komik, zu vermauern.“ fekt, die Verblüffung. Sie ist kein Bestandteil des Vorgangs selbst, sondern ein von ihr aus‐ gelöster Effekt im Rezipienten. 129 Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass das Komische als isoliertes Phänomen nicht zugänglich ist. Es wird allein vom jeweiligen Horizont der Lachenden her verständlich: Sie und ihre Relationen zum komischen Vorgang müssen stärker in die Untersuchungen zur Komik einbezogen, wenn nicht zum zentralen Gegenstand der Komikforschung werden. Deshalb sind Plessners Überlegungen zum Lachen und zur Desorganisation des Körpers im Lachen so wichtig für die Erfassung von körperlich motivierter Komik. Es reicht hier auch nicht aus, wie Walter Haug vorschlägt, die Kollision von Normen oder die Unvollkommen‐ heit des Daseins vom Objekt ins Subjekt zu verlagern: Im Komischen gewinnt der Mensch Distanz zu seiner eigenen Unvollkommenheit. Er kann lachend mit ihr fertig werden. Das Komische ist also nicht etwas objektiv Gegebenes, sondern es ist eine subjektive Möglichkeit, sich der wesensmäßigen Unvollkommenheit des Menschen zu stellen. 130 So richtig dieser aus einer Plessnerschen Perspektive heraus formulierte (gewissermaßen vom Lachen zur Komik verschobene) Satz auch sein mag, er besagt noch nicht sehr viel. Es fehlt ihm der Aspekt der Übertragung der komischen Handlung, des komischen Gedankens, vor allem fehlt ihm der Bezug zum Lachen. Haug hätte auch erwähnen müssen, dass das Komische zumindest eine subjektive Möglichkeit ist, mit dem Gegebenen etwas anzu‐ fangen, mit ihm zu arbeiten, es zu bearbeiten (das was Freud in Bezug auf den Witz als Witzarbeit bezeichnet hat). Was passiert mit dem von der Wahrnehmung komisierten Körper im Akt der Wahrnehmung? Wird er, wie Freud vermutet hat, objektiviert und somit zu einem verkehrten Körper? Und entsteht die Komik gar aus dieser Objektivierung des Verkehrten? Dieses sind nur einige Fragen, die sich stellen, wenn man der Prämisse der Komik als Resultat von aufmerksamer Wahrnehmung folgt. Bevor ich mich mit ihnen beschäftige, muss noch eine wichtige Unterscheidung des Komischen angesprochen werden: die zwi‐ schen körperlicher und sprachlicher Komik. Komik und Sprache Von allen Formen der Komik ist die Sprachkomik - vielleicht weil sie dem Witz besonders nahesteht - am eingehendsten untersucht worden. Disziplinen wie die Humorlinguistik oder die interaktionale Linguistik widmen sich in hohem Maße der syntaktischen Poin‐ tenstruktur und dem sprachlichen Humor. Auch die literaturwissenschaftlichen Untersu‐ chungen zu Komik und Humor bei einzelnen Autoren oder in den Gattungen konzentrieren 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 53 <?page no="54"?> 131 Olbrechts-Tyteca, Lucie: Le comique du discours. Brüssel 1974; Kohlmayer, Rainer: Sprachkomik bei Wilde und seinen deutschen Übersetzern. In: Europäische Komödie im übersetzerischen Transfer. Hg. von Fritz Paul u. a. Tübingen 1993, S. 345-384. 132 Mit wenigen Ausnahmen, wie etwa Benz, Lore: Zur Verquickung von Sprachkomik, Körperwitz und Körperaktion im antiken Mimus. Zeitschrift für Germanistik N. F. 11 (2001), S. 261-273. sich vorwiegend auf die sprachliche Komik. 131 Es sind mannigfaltige Kategorien des Komi‐ schen in der Sprache aufgestellt worden: semantische und syntagmatische Interferenzen, Phraseologien, Wortspiele, Wörtlich-Nehmen, Ironie, dialektale und soziolektale Komik, Wiederholungen, Automatismen, Klischees und viele andere mehr. Dabei ist das Körperliche an der Sprache geflissentlich übersehen worden. Ähnlich der Komik des Körpers, der Gebärden und der Gestik im Allgemeinen, haben die Zusammen‐ hänge von Sprache und Körper im Komischen bislang nur wenig Interesse seitens der For‐ schung gefunden. 132 Dies liegt vermutlich daran, dass man Körper- und Sprachkomik bisher aus heuristischen Gründen strikt getrennt hat und ihre Verquickung wenig beachtete. Die Trennung macht nur dann Sinn, wenn aus thematischen Gründen eines der beiden Systeme im Vordergrund steht (wie bei dieser Arbeit), doch ist bei der Wahrnehmung des komischen Vorgangs der Körper häufig nicht von der Sprache zu trennen: Komische Sprache kann nicht nur durch Sprachartistik, Klangphantasie und semantische Inkongruenz Lachen aus‐ lösen, sie löst dadurch Lachen aus, indem sie körperlich hervorgebracht wird. Der komische Effekt der klassischen Redekomik in der Komödie resultiert nicht selten aus dem körperli‐ chen Substrat einer sprachlichen Semantik, die den menschlichen Leib, seine Triebe und Begierden, Bedürfnisse und Schamzonen betrifft. Mehr noch als die Körpersemantik sind es allerdings in der sprachlichen Kommunikation enthaltene materiale, phonetische und phatische Effekte, die direkt vom Körper her‐ kommen und die Verankerung der Sprache im Körper, jenseits von aller Semantik, deutlich machen. So weist etwa das Stottern, ein klassischer Topos der Situationskomik, auf die Produktion und Materialität der Sprache hin, auf ihre Artikulation als einen leiblichen Vor‐ gang. Stottern ist ein physischer Mangel, der im Kommunikationsprozess der Sprache, wo es auf die Übertragung von Semantik ankommt, die Aufmerksamkeit weg von der Nachricht und hin zum Körper lenkt. Der Körper bricht in die Sprache ein; nicht Syntax und Semantik stehen mehr im Vordergrund, sondern der Akt des Sprechens selbst. Das Stottern wird somit zum Störfaktor der Nachrichtenübermittlung, ebenso wie andere Ausdrucksweisen und -gebärden des Sprechens, wie eine außergewöhnliche Stimme oder Stimmlage, das Schreien, Stöhnen, Schluchzen, Lachen und Weinen dieser Stimme. Sie alle verweisen uns auf den Körper, und was diese Stimme äußert wird daher weniger Gewicht haben, als die Art, wie sie es äußert, da die Aufmerksamkeit auf die Stimme selbst gerichtet ist. Das Stottern oder eine komische Stimme sind somit Körperphänomene der Sprache. Man kann sie auch als performative Phänomene bezeichnen. Dazu gehören auch Ausrufe, In‐ terjektionen, unartikuliertes Sprechen wie Stammeln oder Nuscheln sowie alles, was Bergson mit „Rhythmus der Rede“ bezeichnet: das abgehackte oder mit Pausen versehene statt flüssige Sprechen, die aus der Reihe fallende Prosodie, die unübliche Betonung. Diese Körperlichkeit der Sprache wird umso gravierender, wenn es sich um zeremonielle oder rituelle Sprechakte handelt, die dadurch beeinträchtigt werden oder sogar scheitern können. Wichtig für den Umgang mit diesen phatischen und phonetischen Dimensionen 1. Der Körper als Lachanlass 54 <?page no="55"?> 133 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Frz. übers. u. eingeführt durch e. Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin 1966, S. 217. Vgl. dazu auch Braungart, Georg: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995, S. 36 ff. Merleau-Ponty schließt hier an die Unter‐ suchungen Wilhelm Wundts an, der den Ursprung der Sprache aus der Gebärde abgeleitet und eine Theorie der Gebärdensprache als Vorstufe der Lautsprache entwickelt hatte. Wundt, Wilhelm: Völ‐ kerpsychologie. Bd. 1: Die Sprache. Berlin 1857. 134 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 218 f. 135 Vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M. 2000. (Engl. Orig.: Excitable Speech, New York / London 1997). der Sprache ist ihre Flüchtigkeit und Spurenlosigkeit. Selbst wenn sie in Texten teils mar‐ kiert werden (etwa Ausrufe oder stockendes Sprechen), sind sie in der Regel dort nicht mehr aufzufinden, sondern Teil der Aufführung oder des Ereignisses. Dass es sie gibt, und dass sie auf das körperliche Substrat der Sprache verweisen, muss jedenfalls auch bei der Analyse komischer Vorgänge in Texten immer einkalkuliert werden. Die Beziehung zwischen Sprache und Körperlichkeit ist auch phänomenologisch unter‐ sucht worden, und zwar im Kapitel über Sprache als leibliche Gebärde in Maurice Mer‐ leau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung; hier stellt sie sich jedoch als wesentlich elementarer dar. Für Merleau-Ponty ist das Wort eine körperliche Erscheinung. Vorausset‐ zung dafür ist, dass das Sprechen eine Möglichkeit unter anderen ist, den Leib zu modifi‐ zieren. Es ist die Verlängerung des Armes, der Gestik, eine Erweiterung der Leibessynthese. Die Sprache ruht auf der unmittelbaren Leiblichkeit und ist ihre Entfaltung, nicht ihre Depravation: „In Wahrheit ist das Wort Geste, und es trägt seinen Sinn in sich wie die Geste den ihren.“ 133 Im Wort wie in der Geste ist der Sinn „inkarniert“. Somit ist auch Kommuni‐ kation für Merleau-Ponty keine Übertragung, also En- und Decodierung von Informati‐ onen, sondern die Übernahme der in der Gebärde realisierten Intention des Gegenübers, der Nachvollzug. Merleau-Ponty erläutert das am Beispiel der Drohgebärde: Um etwa eine zornige oder drohende Gebärde zu verstehen, muss ich mir nicht erst die Gefühle in die Erinnerung rufen, die ich selbst einmal hatte, als ich dieselben Gebärden machte. (...) Fremd‐ psychisches wird nicht durch Analogieschlüsse verstanden, sondern unmittelbar, und das heißt, von Körper zu Körper, durch Übernahme der Intention des anderen. Dann ist es, als wohnten seine Intentionen meinem Leibe inne und die meinigen seinem Leibe. 134 Da die Sprache ähnlich wie die Gebärde den Körper und seine Grenzen überschreitet, kann sie auch unmittelbar körperlich wirken. Es gibt zahlreiche Beispiele von Auseinanderset‐ zungen, wo sich verbale und körperliche Ebene miteinander verbinden, wo Sprache nicht nur Handlung ist, sondern auch körperliche Wirkung zeitigt. So ist beispielsweise der kör‐ perliche Effekt von hasserfülltem Sprechen („hate speech“) gut belegt; hier ist es vor allem die Intensität von Lautstärke und Sprechgebärde, die körperlich wirkt und die nicht selten körperliche Reaktionen hervorruft (körperliche Gewalt auf Grund von sprachlicher Ge‐ walt). 135 Austin hat solche Wirkungen von Sprache als „perlokutive Sprechakte“ bezeichnet, doch wurden sie immer nur in Bezug auf ihre Semantik interpretiert, weniger auf ihre performativen, körperlichen Effekte. In der Leiblichkeit der Rede und der Leiblichkeit ihrer Wirkungen treffen sich die Theorien Austins und Merleau-Pontys. Nicht zuletzt deshalb rekurriert Butler in hohem Maß auf phänomenologische Ansätze. Gemeinsam ist diesen Perspektiven, dass sie in der Analyse von Kommunikation weit über den Austausch von 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 55 <?page no="56"?> 136 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 220 u. 233. 137 Plessner, Lachen und Weinen, S. 305. 138 Vgl. Bachorski / Röcke / Velten / Wittchow, Performativität und Lachkultur, S. 182. 139 Jauß, Zum Problem der Grenzziehung, S. 363. Zeichen bzw. die Übermittlung von Nachrichten hinausgehen, dass der direkte Bezug von Handlung und Effekt wichtiger ist als die Suche nach einer vermittelnden Instanz wie dem Denken oder dem Verstand. „Durch meinen Leib verstehe ich den anderen“, sagt Mer‐ leau-Ponty, und fügt hinzu: „Man sah nicht, dass letzten Endes der Leib selbst das Denken, die Intention werden muß, die er uns je bedeutet, soll er sie ausdrücken können. Er ist es, der zeigt, er ist es, der spricht.“ 136 Zurück zur Komik: Wenn das gewalttätige Wort nur dann wirkt, wenn es „verkörpert“ wird, muss dies auch für das komische Wort gelten. Plessner hat dies bei der Untersuchung des Witzes als Ausdrucksform der Sprache bereits angedeutet: „Im Flusse der Rede tritt unversehens ihre gewissermaßen körperliche Außenseite hervor. Man zerkaut die Worte, spielt mit ihnen wie mit Fremdkörpern: das Phänomen des komischen Wettstreites ist da.“ 137 Selbst der Witz, der in hohem Maß auf seinen semantischen Begleittext rekurrieren muss, besitzt demnach eine körperliche Grundlage: Es ist das Spiel mit den Wortkörpern der Sprache, die semantisch nicht fassbare Mehrsinnigkeit, die Verballhornung von Worten, der Nonsense und künstliche Wortbildungen. Die Körper der Worte werden deformiert, umgestellt, wirken somit grotesk und fremd, ergeben neue und Mehrfachbedeutungen. Se‐ mantische Aspekte sind somit selbst bei Witzen nicht so dominant, wie man landläufig annimmt. Komische Wirkung hingegen, so Plessner, braucht keine Erläuterung: Sie spricht durch sich selbst, sie gibt nichts zu verstehen. Methodisch ergibt sich daraus eine stärkere Beachtung des Körpersubstrats bei der Sprachkomik; es geht darum, die Austauschprozesse, die das Komische als Semantisches mit dem Komischen als Performativem unterhält, näher zu analysieren oder, da diese Tren‐ nung eine künstliche ist, wie semantische und performative Elemente das Komische be‐ stimmen. 138 Semantik Zur Semantik im komischen Vorgang schreibt selbst Jauß (in Bezug auf die Komödie), die Semantik sei überfordert. Denn die „komische Botschaft“ sei keine Botschaft mit decodier‐ barem Inhalt. Was das Publikum lachend beantworte sei „die komische Kollision als solche“, womit Jauß den Zusammenbruch des normativen Weltverständnisses bei der Berührung mit der nichtigen Gegenwelt der Komödie meint. Die „lachende Antwort“ des Publikums sei auch kein eigentliches Decodieren einer Botschaft, geschweige denn deren Interpreta‐ tion, sondern etwas semantisch nur sehr schwer Greifbares: (...) wer nur mehr lachend ‚quittiert‘, erteilt dem ‚Sender‘ (wie gerade das so prägnante Bild des ‚Quittierens‘ verrät) keine eigene Antwort, unbeschadet dessen, daß er im Nachhinein darüber reflektieren kann, ob ihm der komische Anlaß seines Lachens wohl auch eine praktische Einsicht eröffnet hat. Das spezifische Vergnügen am komischen Vorgang läßt sich denn auch nicht mehr semiotisch erklären (...). 139 1. Der Körper als Lachanlass 56 <?page no="57"?> 140 Iser, Das Komische: Ein Kipp-Phänomen, S. 399. 141 Ebd. 142 Bedeutung entsteht in Kommunikationsprozessen aus den Beziehungen zwischen Zeichen(mittel) und Zeichenbenutzern und dem (Zeichen-)Objekt, also dem, was sie für den jeweiligen Benutzer bezeichnen. 143 Vgl. etwa Könneker, Barbara: Wesen und Wandlung der Narrenidee. Heidelberg 1969 und Mezger, Werner (Hg.): Narren, Schellen und Marotten. Elf Beiträge zur Narrenidee. Kulturgeschichtliche For‐ schungen 3. Remscheid 1984. 144 Die logisch einsichtigste Definition von Sinn gibt Gilles Deleuze, der ich mich hier anschließe: „Der Sinn ist das Ausdrückbare oder das Ausgedrückte des Satzes und untrennbar damit das Attribut des Dingzustandes. Eine Seite wendet er den Dingen zu, eine andere den Sätzen. (…) Er ist genau die Grenze zwischen den Sätzen und den Dingen.“ Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Aus dem Frz. von Bernhard Dieckmann. Frankfurt a. M. 1993, S. 41. (Frz. Orig.: Logique du sens. Paris 1969). Diese Auffassung scheint auch Wolfgang Iser zu teilen, wenn er grundsätzliche Zweifel an der gängigen Praxis anmeldet, Komik über Oppositionsverhältnisse zu erklären. Dies setze das Interesse an der Bedeutung absolut. Ganz ähnlich wie Jauß merkt er an: Vielleicht aber ist das Komische durch semantische Bestimmungen gar nicht einzufangen; und wenn wir heute über so viele Bedeutungen des Komischen verfügen, so liegt der Verdacht nahe, dass sich in ihnen nur historisch bedingte Füllungen einer vorwiegend pragmatisch funktionier‐ enden Struktur spiegeln. 140 Als methodische Konsequenz schlägt er vor: „Daher empfiehlt es sich, Konstellationen des Komischen weniger von ihren Positionen, sondern mehr von dem Geschehenscharakter her zu denken, der sich durch die aufeinander bezogenen Positionen ergibt.“ 141 Mit dem Verweis auf den Geschehenscharakter des Komischen macht Iser schon in den siebziger Jahren auf die Notwendigkeit einer performativen Theorie des Komischen auf‐ merksam, die den Prozess der Bedeutungsübertragung zunächst unberücksichtigt lässt. Wie marginal diese Position vor dreißig Jahren war, zeigt, dass sie bis heute kaum Nachfolger gefunden hat. Noch immer gehen die meisten Analysen literarischer und theatraler Komik vom Primat der Semantik aus, wo komische Handlungen immer in ihrer kulturellen, sym‐ bolischen, religiösen, mythologischen, sozialen usw. Bedeutung untersucht werden, sich gegen andere Bedeutungen stellen, sie in sinnreichen Anspielungen, Witzen, bedeutungs‐ vollen Gesten usw. unterlaufen. 142 Im Übrigen wird häufig übersehen, dass auch ein Zeichen für unterschiedliche Benutzer unterschiedliche Bedeutung haben kann; nichts ist ein Zei‐ chen, wenn es nicht von jemandem als solches verstanden wird. Die Bedeutung an sich, die einem Zeichen beigegeben ist, gibt es nicht; Bedeutung konstituiert sich in diesem dyna‐ mischen Prozess nur im jeweiligen Rezipienten, den das Zeichenmittel findet. Dies gilt auch für die älteren Epochen, in denen gerade der Narrenfigur immer wieder die Gegenläufigkeit und Gegensinnigkeit von Bedeutungen attestiert wurden. 143 Viel mehr als Widerspruch und Opposition verkörpert der Narr den närrischen, d. h. sinnzerstöreri‐ schen Umgang mit Bedeutungen, er ist derjenige, der das Komische als Geschehen insze‐ niert und es dabei ambiguisiert und dekonstruiert. Gegen Sinn und Bedeutung wird nicht angegangen, sie werden spielerisch zersetzt und entwertet, Sinnangebote werden im Spiel unterlaufen. 144 Dies alles geschieht in komischen Vorgängen, bei denen Körper und Sprache in der Leiblichkeit des Sprechens eine eigentümliche, enge Beziehung eingehen. 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 57 <?page no="58"?> 145 Derrida, Jacques: L’écriture et la différence. Paris 1967, S. 376. 146 Douglas, Mary: The social control of cognition: some factors in joke perception. Man 3 (1968), S. 364-381: „All jokes have this subversive effect on the dominant structure of ideas. (...) The joke is an image of the relaxation of conscious control in favour of the subconscious. (...) This joke pattern needs two elements: the juxtaposition of a control against that which is controlled, this juxtaposition being such that the latter triumphs“. S. 364. Es scheint deshalb so, dass sich das Semantische bei der Komik nicht nur nicht vom Performativen separieren lässt, mehr noch, es geht vollkommen im Performativen auf. Die Mehrdeutigkeit des Komischen ist eine Rezeptionsleistung der Anwesenden, sie entsteht im Geschehen, im Vorgang, in der Situation selbst, an der diese teilhaben, und ist somit niemals strukturell greifbar. Greifbar ist nur der vom Körper ausgehende spielerische Um‐ gang mit Sinn und Bedeutung in der Komik, bei der auf sprachliche Signifikanz verzichtet wird, wie Jacques Derrida es formuliert: Le rire seul (…) n’éclate que depuis le renoncement absolu au sens, depuis le risque absolu de la mort, depuis ce que Hegel appelle négativité abstraite. Négativité qui n’a jamais lieu, qui ne se présente jamais puisqu’à le faire elle réamorcerait le travail. Rire qui à la lettre n’apparaît jamais puisqu’il excède la phénoménalité en général, la possibilité absolue du sens. 145 Das Lachen ist aus postmoderner Perspektive nicht mit der Negativität gleichzusetzen, die ihm Hegel noch zugeschrieben hat, aber auch nicht mit dessen Variation, dem Nichtigen, dem „der Lebensordnung schlechthin Entgegenstehenden“, als das es Ritter identifiziert hat. Das Lachen ist vielmehr gar kein Teil diskursiver Ordnungen, es erscheint dort nicht, es steht außerhalb von Zeichen- und Diskurssystemen als Reaktion des Körpers auf deren Verwirrungen, Verknotungen und Unzulänglichkeiten im komischen Vorgang, aber auch den Sieg des Körpers über die Sprache, das Wort, die Bedeutung, den Sinn. Konstitutiv für das Lachen sind die Triebe und Begierden des Körpers, deren Artikulation es beantwortet und vor denen der Körper des Lachenden kapituliert, weil er sich selbst darin erkennt. Denn der Körper hat sich im Komischen mit den Zeichenprozessen des Dis‐ kurses verbunden, ohne jedoch Bedeutung zu erzeugen wie die Sprache, die den Körper im Augenblick der Bedeutungserzeugung abgeschüttelt hat und deren Botschaften körperlos sind. Der Körper spricht im Komischen ohne Bedeutung, er ist die Botschaft selbst. Mary Douglas hat das anhand der skatologischen Komik gezeigt: Sie erreicht ihre Wirkung da‐ durch, dass der Bezug eines Ereignisses zu einem körperlichen Muster die Würde seines moralischen Musters zerstört, und somit Bedeutung zunichte gemacht wird, damit der Körper im Vordergrund stehen kann. 146 Was resultiert daraus für die Bestimmung von Sprachkomik? Prinzipiell lässt sich sagen, dass das Ambivalente, Widersprüchliche und Absurde im Sprachspiel letztlich auf den Körper und seine Widerständigkeit verweisen. De- und Rekomposition von Worten, ihre Mischung und Verrätselung, die syntagmatischen Deformationen, asyndetischen Phonemf‐ ragmente und ihre lautlichen Dissonanzen in der komischen Rede tendieren zur Streichung sprachlicher Signifikanz und verweisen auf den Ort ihrer Artikulation, den menschlichen Körper. Sie sind insofern Indikatoren für sprachliche scurrilitas. Dass die körperliche scur‐ rilitas ebenso bedeutungszersetzend ist, hat am eindrücklichsten Alfred Polgar angesichts der körperlichen Komik Charlie Chaplins beschrieben: 1. Der Körper als Lachanlass 58 <?page no="59"?> 147 Polgar, Alfred: Chaplin. Der neue Chaplin. In: Charlie Chaplin. Eine Ikone der Moderne. Hg. von Dorothee Kimmich. Frankfurt a. M. 2003, S. 33-40, hier S. 34. Vgl. auch Clayton, Alex: The body in Hollywood slapstick, Jefferson (N. C.) 2007. 148 Die Bisoziationstheorie ist Teil einer größer angelegten Theorie der Kreativität, die nach Koestler ähnlichen Bedingungen folgt wie das Lachen. Koestler, Arthur: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Bern / München 1966 (Engl. Orig.: The act of creation, New York 1964), v.a. Kap. 1. 149 Vgl. dazu überblickend Ceccarelli, Fabio: Sorriso e riso. Saggio di antropologia biosociale. Torino 1988, S. 300-338. Ein Beispiel aus der interaktionalen Linguistik: Helga Kotthoff formuliert im An‐ schluss an Koestler und Goffman, dass die Semantik der Witzpointe „auf der Herstellung einer spe‐ zifischen, überraschenden Bisoziation von aufgerufenen Rahmen (basiert)“, wobei ein Rahmen etab‐ liert wird, „der mittels eines Triggers überraschend gewechselt werden kann“. Kotthoff, Spaß verstehen, S.148. Und hier steckt der eigentlichste Kern von Chaplins sieghafter Komik. Seine Schlapfen, sein Wat‐ schelgang, sein viel zu kleiner Hut, sein Schnurrbart, der nur die Oberlippe deckt … welche Be‐ deutung haben sie? - Meiner bescheidenen Meinung nach: gar keine. Das ist ihre tiefe Bedeutung. In ihrer Sinnlosigkeit ruht ihr Sinn. 147 Eine Rahmentheorie des Komischen: der komische Modus Wenn Komik demnach weder ontologisch und strukturell, noch historisch und kulturell definiert werden kann, wie ist dann der Gebrauch des kategorialen Begriffs zu rechtfer‐ tigen? Kann nicht alles (jeder Satz, jede Geste) komisch werden, wenn es in einer be‐ stimmten Situation die Logik des Sinns überschreitet und daher von Lachen quittiert bzw. begleitet wird? Aber wo liegt hier genau die Abhängigkeit der Komik vom Lachen? Ich mache den Versuch, diese Frage zu beantworten, indem ich auf einen Aspekt der Lach- und Komiktheorie zurückgreife, den ich bisher nur am Rande erwähnt habe: die Rahmentheorie. Verbunden sind damit Namen wie Gregory Bateson und Erving Goffman, bezogen auf das Lachen auch Arthur Koestler und Mary Douglas. Koestler hatte bereits in den 1960er Jahren mit seiner (in Deutschland wenig beachteten) Bisoziationstheorie Lachen und Humor einem Wechsel zwischen zwei kommunikativen Rahmen zugeschrieben, dem „serious mode“ und dem „humorous mode“. Beides wurde im Hinblick auf die Pointenstruktur des Witzes formuliert, indem sich während des Erzählens eines Witzes eine Erwartung aufbaut, die in der Pointe dann plötzlich enttäuscht wird, indem der ernsthafte Rahmen in einen unernsten umschlägt. 148 Freilich ist bei Koestler dieser Umschlag einer kognitiven Operation geschuldet, ein Ansatz, dem bis heute viele semantische Lachtheorien folgen. 149 Daher betrachtet die Bisoziationstheorie und ihre Va‐ rianten Witz und Komik unabhängig von ihrem sozialen Vorgang; sie nimmt an, dass La‐ chen lediglich eine manifeste Antwort auf die psychologische Erfahrung von „Humor“ ist. Erweitert man jedoch die Rahmentheorie auf menschliche Interaktion insgesamt, so wird der Rahmenwechsel - und nicht nur in Bezug auf die Untersuchung der sozialen Effekte des Lachens - wesentlich ergiebiger. Lachen wird dabei nicht mehr nur als Reaktion auf Komik und Witz angesehen, sondern als eine Markierung seiner Referenten als Spiel und Nicht-Ernst. Komik würde auf diese Weise mit Lachen nicht nur beantwortet, sondern markiert, das Lachen hätte die Funktion eines frame-markers. Es sind die Rahmentheorien 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 59 <?page no="60"?> 150 Bateson, Gregory: A Theory of Play and Fantasy. In: G.B.: Steps to an Ecology of Mind. Chicago 1972. Zit. nach Glenn, Laughter in interaction S. 28. 151 Glenn, Laughter in interaction, S. 28. 152 In seiner Rahmenanalyse (1977) beschreibt Goffman soziale Darstellungsformen, mit deren Hilfe die Gesellschaftsmitglieder sich gegenseitig anzeigen, in welchen erkennbaren, weil typisierbaren Hand‐ lungszusammenhängen sie sich gemeinsam mit ihren jeweiligen Interaktionspartnern zu befinden glauben. Sie rekurrieren dabei ganz selbstverständlich auf ein zwar individuell erworbenes, aber immer schon als kollektiv verfügbar und wirksam unterstelltes „implizites Wissen“ über das, was „man“ wann, wo, mit wem tut, reden und verabreden kann oder nicht kann. Vgl. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M. 1977. von Bateson (1972) und Goffman (1974), die einer solchen Perspektive vorgearbeitet haben. Der englische Anthropologe und Biologe Bateson hatte herausgefunden, dass es für Men‐ schen und Tiere einen „Spielrahmen“ mit speziellen Signalen (framing markers) geben müsse, die den anderen bedeuteten „das ist Spiel“. Spiel wiederum wird von Bateson als ein inhärent paradoxer Rahmen angesehen, der gleichzeitig ernsthafte und nicht-ernste Inter‐ pretation verlange. 150 Wie erkennen die Teilnehmer einer Interaktion aber den Spielrahmen? Nach Bateson wird er vor allem mit Hilfe metakommunikativer Signale angezeigt: Gesten, Bewegungen, aber auch Stimmungszeichen wie Augenzwinkern, Lächeln und Lachen. Dabei können sich auch Widersprüche und Paradoxien zwischen den metakommunikativen Signalen und dem Kommunizierten selbst ergeben, die Bestandteile des Spiels, aber nur innerhalb des Spiel‐ rahmens möglich sind. Lachen als Markierung für den Spielrahmen wurde im Anschluss an Bateson in mehreren Studien belegt (Metakommunikation durch Lachen): Lachsignale können von allen Teilnehmern ausgesendet werden, müssen allerdings von den anderen akzeptiert werden: „One may laugh not only to ratify an ongoing comic frame, but also to help bring one about“. 151 Das gut funktionierende Lach-Signal hat die Wirkung, dass beide Interaktionspartner bereit sind, mit Normen, Rollen und Beziehungen zu experimentieren. Auch für Goffman sind die Batesonschen Begriffe der Metakommunikation und der Rahmung in seiner Sozialtheorie der Alltagserfahrung zentral. 152 Er ist der Auffassung, dass jede Kommunikation in mehreren Existenzschichten verwirklicht wird. In Gesprächen werde grundsätzlich mitkommuniziert, welcher Status der eigenen Rede zukommt; so werde in der scherzhaften Kommunikation ein Theaterrahmen erzeugt, innerhalb dessen ein Spiel mit Inkongruenzen stattfinden kann. Alle Handlungen in diesem Spiel verweisen auf ihren Kontext, den Rahmen, aus dem sie erst verständlich werden, selbst wenn sie widersprüchlich bzw. sinnlos sein sollten: Widersprüchlichkeit und Sinnlosigkeit (der Komik etwa) werden durch den Rahmen perspektiviert und enthebbar gemacht, denn der Rahmen wertet Sinnlosigkeit als Spiel. Der Rahmen ist in der Interaktion immer schon beigegeben, seine Leistungsfähigkeit besteht hauptsächlich in der Identifizierung, Differenzierung und Relationierung von Kon‐ texten und Kontextebenen. Somit sind nach Goffman Rahmen als Sinnträger des Gesche‐ hens bedeutsam. Der Handelnde bedient sich des Rahmens als einer mehr oder weniger komplexen generellen (Meta)-Verstehensanweisung. Sie konstituiert einen Wirklichkeits‐ 1. Der Körper als Lachanlass 60 <?page no="61"?> 153 Vgl. Goffman, Rahmen-Analyse, S. 49 ff. Goffman unterscheidet aber Rahmen (frame) von Rahmung (framing). Das Begriffspaar steht für die Differenz von sozialem Sinn und sinnaktualisierender Praxis: Rahmen sind relativ stabile Erzeugungsstrukturen von Sinn, sie sind autonom und immun gegenüber der faktischen Interaktion. Dagegen dienen Rahmungen der Umsetzung von Sinn, die gegenüber den Primärrahmen kontingent, subjektiv anforderungsreich, offen und anfällig sind. 154 Zur Rolle von Goffmans Rahmentheorie in der Gesprächsanalytik vgl. Kotthoff, Spaß verstehen, S. 161 ff. 155 An die Stelle von Austins Unterscheidung zwischen ernsthaften und nicht-ernsthaften Sprechakten tritt bei Goffman der Begriff des Rahmenwechsels, der sich auf die Transformationsmöglichkeiten von institutionellen Rahmenbedingungen, Inszenierungsrahmen und Interpretationsrahmen be‐ zieht. 156 Vgl. Kotthoff, Spaß verstehen, S. 39. 157 Goffman, Rahmen-Analyse, S. 55. raum als Möglichkeitsraum, der in jeder Situation schrittweise abzuarbeiten ist. 153 Die Grundidee der Rahmentheorie besteht somit darin, dass Handlungen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang ihrer Wahrnehmungsgeschichte verstanden und bewertet werden. 154 Im Falle inszenierter Körper- oder Sprachkomik würde ein Primärrahmen (Menschen verhalten sich körperlich und sprachlich situationsangemessen, d. h. Normen und Konven‐ tionen entsprechend) und seine gewöhnlichen Bedeutungen durch die Vereinbarung „das ist Spiel“ außer Kraft gesetzt, eine spielerische Rahmung tritt ein. 155 Dies geschieht mit Hilfe von Rahmungssignalen, wie etwa dem offenen Spielgesicht bei Tieren (Lorenz) oder dem redebegleitenden Lachen im scherzhaften Gespräch. Aus dieser Perspektive wäre das La‐ chen des Sprechers ein Signal dafür, dass seine Äußerung spielerisch aufgefasst werden soll, denn ihr ernsthafter Sinn wird durch das Sprecher-Lachen unterlaufen; Sprecher-Lachen fungiert so „auch als Einladung, ins Spiel einzusteigen.“ 156 Noch ist die Vereinbarung des Rahmenwechsels unter der Devise „das ist Spiel“ allerdings keine zwingende Voraussetzung für die Möglichkeit von Komik. Sie muss noch spezifiziert werden, damit etwas als komisch wahrgenommen werden kann, es fehlt eine Vereinbarung: „das ist zum Lachen“. Für solche Fälle der mehrfachen Rahmentransformation führt Goffman den Begriff des Moduls (key) ein: Darunter verstehe ich das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die be‐ reits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird. Den entsprechenden Vorgang nennen wir Modulation. 157 Dieses rahmentheoretische Schlüsselkonzept umfasst die ganze Fülle von Möglichkeiten, primär sinnvolle Aktivitäten gemeinsam „als etwas ganz anderes“ zu betrachten und ent‐ sprechend zu handeln. Der Rahmen und die ihm zugrunde liegenden Vereinbarungen erlauben demnach dem Komischen als etwas dem Primärrahmen Angehöriges, doch Modifiziertes aufzutreten bzw. zu emergieren. Etwas wird als komisch wahrgenommen, wenn es beiden Rahmen angehört, und somit zunächst Wiederholung und Variation, dann aber auch Devianz, Abweichung ist. Schon Plessner hatte angenommen, dass die Wahrnehmung einer Abweichung von der Regel durchaus zur Wahrnehmungsstruktur des Komischen gehöre: „Nur durch die Bezie‐ hung auf eine Regel, der es widerstreitend gegenübertritt, ergibt sich das Komische.“ Dabei 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 61 <?page no="62"?> 158 Plessner, Lachen und Weinen, S. 302. 159 Douglas, The social control of cognition, S. 365. 160 Ontologisch formuliert hat diesen Sachverhalt Odo Marquard: Komisch sei und zum Lachen bringe, „was im offiziell Geltenden das Nichtige und im offiziell Nichtigen das Geltende sichtbar werden läßt“; in gewisser Weise schließt dies an Ritters Theorie von der „geheimen Zugehörigkeit des Nich‐ tigen zum Dasein im Lachen“ an. Marquard, Odo: Exile der Heiterkeit. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning. München 1976, S. 133-152, hier S. 144. 161 Kotthoff hat dies anhand von konversationellen Karikaturen gezeigt: Nicht echte Personen werden verlacht, sondern die Karikaturen, die sich eine Lachgemeinschaft von ihnen macht. Die Erzeugung der Karikaturen erfolgt in der Konversation. Vgl. Kotthoff, Konversationelle Karikaturen, S. 334. übernimmt der Zuschauer die Rolle desjenigen ein, der die Norm verkörpert: „Der Zu‐ schauer ist hier nicht nur das bloße Auge, das fertige Bilder aufnimmt, sondern das Maß und die Regel, die Vergegenwärtigung der Norm, vor der allein das Schiefe schief, das Krumme krumm erscheint.“ 158 Wenn Plessner in diesem Beispiel mit der Wahrnehmung von regelabweichenden Formen argumentiert, hat er einen Begriff gewählt, der sich für viele Arten der Komik anbietet, die Sprach- und Körperkomik, aber auch für die emergente Komik von Situationen und Hand‐ lungen. So versteht auch die Anthropologin Mary Douglas in ihrer Untersuchung von Scherzhandlungen (jokes) das Komische als ein Spiel mit (wahrgenommenen) Formen: „By this stage we seem to have a formula for identifying jokes. A joke is a play upon form. It brings into relation disparate elements in such a way that one accepted pattern is challenged by the appearance of another which in some way was hidden in the first.“ 159 Halten wir fest: Das Lachen erscheint in zwei Modulationen; als Markierung der Spiel-Rahmung und als übergeordnetes Ziel der komischen Rahmung. Es ist nicht mehr nur als Reaktion auf komische Vorgänge zu verstehen, sondern es „regiert“ einen spezifischen spielerischen Modus des Seins, den lächerlichen oder komischen Modus. Im komischen Modus ist alles aufgehoben, was auch dem Primärrahmen der Welt der Norm und des Ernstes angehört; die soziale, religiöse und verwandtschaftliche Zugehörigkeit, Verhaltens- und Bewegungsregeln, die zahlreichen Formen der Anpassung an Gegebenes oder Gebo‐ tenes einschließlich der Unterdrückung der Triebe. Der komische Modus ist ein durch Rah‐ mentransformation etablierter Spielrahmen, in welchem Formen, die auch dem Primärrahmen angehören, durch ihre Wahrnehmung als Wiederholung, mimetische Nach‐ ahmung und Normabweichung komisch werden können. Dies wird durch die Konsequenz‐ losigkeit des Spielrahmens erreicht: ein „als-ob“-Tun ohne Folgen, bei dem kategoriale Festlegungen und klare Bedeutungsverhältnisse ambivalent geworden sind, weil alles in Frage steht und nichts mehr gilt. 160 Deshalb sind Hyperbeln elementarer Bestandteil des Komischen: Sie entstehen aus der Lust an der Provokation als Konsequenz der garantierten Folgenlosigkeit des Spielrahmens. Ähnlich verhält es sich mit Karikaturen: Sie werden im komischen Modus wahrgenommen, und daher können sie mit den gröbsten Deformationen und Übertreibungen versehen werden; das Lachen bezieht sich dann auf diese Modulation des Primärrahmens wie auf „echte Personen“, welche von ihren diskursiven oder imagi‐ nären Wiederholungen überwuchert werden. 161 Es löst dabei die Ambivalenz auf und sig‐ nalisiert, dass es nicht um Angriff geht, sondern nur um Spiel. Komik führt so gesehen eine modale Existenz, es muss keine wesenhaft oder essentiell komischen Handlungen und Äußerungen geben, Handlungen und Äußerungen sind dann 1. Der Körper als Lachanlass 62 <?page no="63"?> 162 Hegel hatte das Lächerliche noch ganz in die Verfügungsgewalt des Individuums gelegt: „Diesem Standpunkte gemäß stellt sich ein Individuum nur dann als lächerlich dar, wenn sich zeigt, es sei ihm in dem Ernste seines Zwecks und Willens selber nicht Ernst; so dass dieser Ernst immer für das Subjekt selbst seine eigene Zerstörung mit sich führt…“ Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil: Die Poesie. Hg. von Rüdiger Bubner. Stuttgart 1971, S. 339. 163 Dieser Spielcharakter kann etwa auch durch den performativen Widerspruch signalisiert werden, wenn der Inhalt eines Sprechaktes nicht mit seiner Performanz übereinstimmt. 164 Bergson, Das Lachen, S. 78. Die komischen Figuren dürfen das Gemüt nicht bewegen, sondern müssen Kühlheit ausstrahlen; dies tun sie nach Bergson, indem sie eine Starrheit und Steifheit transportieren. 165 Goffman, Rahmen-Analyse, S. 36. 166 Bergson, Das Lachen, S. 78 f. komisch, wenn sie aus der Perspektive der Rahmung „zum Lachen“ wahrgenommen werden. 162 Dass dies so ist, können wir daran erkennen, dass ein kulturell Außenstehender deshalb nicht über komische Vorgänge lachen kann, weil er den komischen Modus nicht wahrgenommen hat. Dadurch wird Komik nicht strukturell oder ontologisch beschreibbar, sondern modal, kontext- und situationsbezogen, aufführungsbezogen, wie eine Rahmung, eine Klammer, die sich im Alltag auftut und dann wieder schließt. Insofern als er eine in ihrer Dauer und Zusammensetzung kontingente Spiel- und Auf‐ führungsrahmung bezeichnet, ist der komische Modus performativ. Er setzt mit Spielsig‐ nalen (wie den von Bateson genannten) ein, die den anderen Beteiligten den Spielcharakter des Gesagten und Getanen mitteilen 163 und endet erst dann, wenn diese Spielsignale aus‐ bleiben oder konterkariert werden. Ein komischer Modus ist deshalb immer ein Spiel-Modus, bei dem allerdings die Ambivalenz zum ernsthaften Rahmen beibehalten wird. So kann es auch zu der Bergsonschen Beobachtung der „Anästhesie der Herzen“ kommen, die Stillstellung oder Ausklammerung anderer Gefühle. Der komische Modus erlaubt kein Mitleid, keine Trauer, keinen Ärger. Bergson nennt das „unser Gefühl einschläfern“, und er sieht den Grund dafür in ästhetischen Strategien, der Isolierung einer bestimmten Emp‐ findung in einer Person und die Zuweisung einer „parasitären, selbständigen Existenz.“ 164 Wenn aber eine Situation im komischen Modus wahrgenommen wird, sind alle Emotionen der Wirklichkeit, wie auch die ihrer Wirkungen automatisch ausgeschlossen, ohne dass eine ästhetische Isolierung des komischen Objekts stattfinden muss. Entscheidend für die Ausschließung von Emotionen im komischen Modus ist dessen Zentriertheit. Goffman unterscheidet zwischen unzentrierten und zentrierten Interakti‐ onen; nur bei letzteren kämen die Teilnehmer überein, ihre Aufmerksamkeit für eine ge‐ wisse Zeit auf einen bestimmten Brennpunkt zu richten. 165 Im komischen Modus ist dieser Brennpunkt das komische Ereignis oder der komische Vorgang. Dass die visuelle Wahr‐ nehmung des Körpers und seiner Gesten leicht zu einem Anziehungspunkt der Aufmerk‐ samkeit werden können, hatte bereits Bergson erkannt. 166 Der Körper ist deshalb ein Agent des komischen Modus, weil er wegen seines ständigen Vorhandenseins nicht in einem ein‐ zigen Rahmen behandelt werden kann, deshalb immer den Primärrahmen mit sich führt und damit ein systematisches Interaktionsrisiko, einen Unsicherheitsfaktor darstellt. Als solcher zieht er sofort die Aufmerksamkeit auf sich, sobald seine Bewegungen, sein Habitus oder seine akustische Wahrnehmbarkeit vom primären Rahmen abweichen. Häufig ist der komische Modus mit einem spontanen, vielfach überraschenden Rah‐ menbruch verbunden. So hatte Stierle in seiner Handlungstheorie der Komik die komische 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 63 <?page no="64"?> 167 Stierle, Komik der Handlung, S. 246. 168 Ebd., S. 251 f. 169 Jauß, Zum Problem der Grenzziehung, S. 366. 170 So geschehen 1836 in einem Petersburger Theater. Als hinter den Kulissen ein Feuer ausbricht, stürmt ein Schauspieler auf die Bühne, um die Zuschauer zu warnen und zum Verlassen des Hauses aufzu‐ fordern. Unglücklicherweise handelt es sich um die komische Figur der Truppe, und die Alarmierung wird von den Zuschauern mit schallendem Gelächter quittiert. Kostbare Minuten vergehen und Hunderte von Zuschauern werden Opfer der Flammen. Vgl. Roselt, Jens: Chips und Schiller. Lach‐ gemeinschaften im zeitgenössischen Theater und ihre historischen Voraussetzungen. In: Lachge‐ meinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Werner Röcke u. Hans Rudolf Velten. Berlin / New York 2005, S. 225-241, hier S. 241. Situation als Konsequenz des Zusammenbruchs einer kommunikativen Situation interpre‐ tiert: Durch einen „komischen Umschlag“ treten zwei Aufmerksamkeitsfelder zueinander in Beziehung, die die beobachtende Person überfordern und sie vor ein Paradox stellen (Paradoxie der Aufmerksamkeit). 167 Die „Enthebbarkeit“ des Komischen, also seine Scha‐ denlosigkeit, sei ein Resultat dieses Paradoxes und somit eine „elementare Ästhetisierung“; „durch Enthebung wird das komische Faktum irrealisiert, insofern als es in die Perspektive bloßer Betrachtung gebracht wird.“ 168 Dieser aus der Perspektive der Komödientheorie heraus formulierte Gedanke macht den komischen Modus zu einem ästhetischen Vorgang. Dies trifft dann zu, wenn es um den Rezipienten als Zuschauer einer Bühnensituation geht, die dieser betrachten und sich von ihr distanzieren kann. Der komische Modus hingegen ist nicht auf Theatersituationen be‐ schränkt, sondern wird ebenso in Performances und alltäglichen Kommunikations- und Handlungssituationen wirksam. Was Stierle als Ästhetisierung des Betrachters bezeichnet, ist im komischen Modus die von Aufmerksamkeit begleitete Wahrnehmung der Modulation oder des Rahmenbruchs. Der komische Modus allein kann - ganz ohne Ästhetisierung - den „Unernst des komischen Konflikts“, wie Jauß sagt, verbürgen, d. h. der Ernst all dessen, was Mitleid, Verachtung oder Ekel auslösen könnte, ist aus dem Spielraum des Lachens verbannt. 169 Es ist durchaus nicht leicht, gegen die Vereinbarungen des komischen Modus zu ver‐ stoßen. Wenn die lustige Person einer Komödie auf einmal „Feuer, Feuer“ ruft, und die Zuschauer dazu anhält, das Theater zu verlassen, wird ihr niemand Glauben schenken. Sie kann die Zuschauer nicht davon überzeugen, dass sie den Rahmen gewechselt hat, und jetzt auf einmal ernsthaft spricht, denn die Signale des komischen Modus sind zu stark. 170 Statt sich in Sicherheit zu bringen, werden die Zuschauer vom Lachen beherrscht: Das Lachen bestimmt die Szene, und die Warnung wird als komische Interferenz mit der Grausamkeit der Wirklichkeit aufgefasst. Herstellung von Gemeinschaft im Lachen Noch vom heutigen Standpunkt betrachtet ist das Lachen weit mehr als ein subjektiver Gefühlsausdruck bzw. ein individuelles Verhalten. Es ist ebenso sehr eine Form der (sozi‐ alen) Kommunikation. Deshalb erscheinen mir, wie oben (1.2.) ausgeführt, ontologische und essentialistische Versuche, das Lachen vornehmlich als eine Funktion komischer Vor‐ gänge zu beschreiben (wie sie vor allem in der Philosophie und der Psychologie, aber auch 1. Der Körper als Lachanlass 64 <?page no="65"?> 171 Ich habe 2005 zusammen mit Werner Röcke „Lachgemeinschaften“ als Arbeitsbegriff für das ge‐ meinsame, identitätsstiftende Gelächter im Rahmen eines interdisziplinären Sammelbandes vorge‐ schlagen. Vgl. Röcke / Velten (Hg.): Lachgemeinschaften, Einleitung. Seitdem fand der Begriff in den historischen Disziplinen vielfach als Grundlage für die Analyse der Sozialität des Lachens und der Rezeptionsforschung Verwendung. Vgl. z. B. den Band Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250-1750). Hg. von Stefan Biessenecker und Christian Kuhn. Bamberg 2012. 172 Douglas, The social control of cognition, S. 365 ff. Diesen Sonderfall beschreibt der Schriftsteller Ro‐ bert Gernhardt: „Das Auflachen des Einsamen ist ein so unheimliches wie zweideutiges Hohnlachen, bei welchem nicht auszumachen ist, wen es auslacht“. Gernhardt, Robert: Was gibt’s denn da zu lachen? Kritik der Komiker, Kritik der Kritiker, Kritik der Komik. Zürich 2000, S. 463. 173 Für Bergson hat das Lachen einen sozialen Sinn: Es ist Korrektiv und Strafe für die menschliche Vorliebe, aus der Reihe zu tanzen und die Konventionen und Regeln der Gemeinschaft zu missachten. Lachen ist eine „soziale Geste“, bei der die mangelnde Anpassung verlacht wird. Bergson, Das La‐ chen, S. 36. 174 Die sozialpsychologische Lachforschung hatte schon in den 70er Jahren des 20. Jhs. die Bedeutung der Präsenz von Anderen als Lachstimulus und Einflussfaktor für das Lachen belegen können. So formulierten Osborne, Kate A. u. Chapman, Antony J. in ihrer Studie: Suppression of Adult Laughter: An Experimental Approach. In: It’s a Funny Thing, Humour. Hg. von Antony J. Chapman u. Hugh Foot. New York 1977, S. 429-32, hier S. 426: „Subjects paired with a cooperative confederate who laughed when subjects did and was generally responsive, provided by far the greatest amount of laughter. Subjects exposed to the same humor stimulus materials who were alone laughed less often“. Diese Aussagen werden auch von der Wirksamkeit jener Praxis gestützt, mit Hilfe von eingespielten Lachsalven in den Aufnahmestudios der Radio- und Fernsehsender (canned laughter) das Publikum zum Mitlachen zu bewegen. 175 Bergson, Das Lachen, S. 10. der Linguistik anzutreffen sind), als unzureichend, um die komplexen sozialen Funktions- und Wirkungsweisen des Phänomens zu erfassen. Voraussetzung für die Annahme von „Lachgemeinschaften“ 171 ist die Auffassung, dass fast alles Lachen gemeinsames Lachen - oder, um mit Douglas zu sprechen, „social response“ ist, während „private laughing“ den Status eines Sonderfalls haben dürfte. 172 Wenn das Lachen weniger eine individuelle Ausdrucksreaktion bzw. das Resultat einer rein subjektiven Wahrnehmung komischer Sachverhalte, sondern ein „sozialer Vorgang“ (Freud), ein Gruppenphänomen ist (Bergson), 173 das ursächlich der Gegenwart des Anderen bedarf (niemand kann sich selbst zum Lachen bringen), 174 dann muss es auch im Hinblick auf Fragen untersucht werden, die weniger seine symbolischen und kognitiven Dynamiken betreffen, sondern vor allem die Kontexte und interaktionalen Prozesse (Situationen, Orte, Okkasionen), in welche es eingebettet ist. „Das freieste Lachen“, schrieb Bergson, „setzt immer ein Gefühl der Gemeinsamkeit, fast möchte ich sagen, der Hehlerschaft mit anderen Lachern, wirklichen oder auch nur vorgestellten, voraus.“ 175 Der Sozialpsychologe Phillip Glenn nimmt diese von Bergson hervorgehobene gemeinschaftsbildende Funktion des La‐ chens zum Anlass für weitere Forschungen: Laughter proves important socially as a means to show affiliation with others. (...) One of laughter’s most important features lies in its shared nature: that it is produced primarily in the presence of and for the benefit of other persons. (...) Shared laughter serves some important functions: it provides, at least temporarily, a group unity or awareness, a psychic connection of all the laughers. It can be induced as a means of displaying this group togetherness. It allows for the expression and maintenance of group values and standards, via the subjects and situations to which it refers. 1.2. Lachen und Komik - Unterscheidung und Verhältnis 65 <?page no="66"?> 176 Glenn, Laughter in interaction, S. 29 f. Nach Glenn ist gemeinsames Lachen nicht gleichbedeutend mit unisono-Lachen: Es gibt dabei keinen Einsatz, keinen Rhythmus, keine Abstimmung untereinander. Sobald jemand lacht, können die anderen wie und wann sie wollen mitlachen, ohne als asynchron oder herausfordernd wahrgenommen zu werden. Vgl. ebd., S. 53 f. 177 Ebd., S. 84. 178 Jefferson, A Technique for Inviting Laughter, S. 80. 179 Vgl. Kotthoff, Spaß Verstehen, S. 212. 180 Plessner, Lachen und Weinen, S. 262. Vgl. auch Freud, Der Witz, S. 169: „Das Lachen gehört zu den im hohen Grade ansteckenden Äußerungen psychischer Zustände; wenn ich den anderen durch die Mitteilung meines Witzes zum Lachen bringe, bediene ich mich seiner eigentlich, um mein eigenes Lachen zu erwecken.“ 181 Plessner, Lachen und Weinen, S. 332 f. It can boost morale and ease internal hostilities and differences. Laughing at people or things external to the group can strengthen boundaries, solidifying members in their group identity against outsiders. 176 Durch gemeinsames Lachen entsteht für Glenn eine gemeinsame, ähnliche Wahrnehmung der komischen Situation. „Shared laughter can display co-orientation or alignment of laug‐ hers, remedy interactional offenses, and provide a sequential basis for displays of conver‐ sational intimacy. Extended shared laughter marks an episode of celebration in talk.“ 177 Dabei ist es wichtig zu betonen, dass das gemeinsame Lachen nicht immer auf einen ko‐ mischen Stimulus folgt; schon Jefferson hatte darauf hingewiesen, dass Lachen mitunter selbst als Stimulus für Gelächter fungiert. 178 Initiallachen evoziert dann in der Regel Reak‐ tionslachen. Lachpartikel in Äußerungen sind oft Lachsignale, die das Folgende in einen lächerlichen bzw. komischen Modus setzen. 179 Daher auch die ansteckende Wirkung des Lachens, die gerade für die Funktionsweisen des gemeinsamen Lachens bedeutungsvoll ist. Dass Lachen ansteckend ist, bedeutet, dass es uns in seinen Bann zieht. Plessner: „Wir können echtem Lachen und Weinen gegenüber nur mit Überwindung unbeteiligte Zuschauer bleiben. Stärker als jedes andere mimische Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen und machen uns zu Partnern ihrer Erregung, ohne dass wir wissen, warum.“ 180 Deshalb muss die psychophy‐ sische Übertragbarkeit des Lachens, seine Ansteckungskraft, als einer der wichtigsten As‐ pekte des gemeinschaftlichen und somit auch des rituellen Lachens angesehen werden. Das Lachen als Antwort, so Plessner, löst sich in gewisser Weise vom Menschen als Person. Es ist dann nicht mehr „mein Lachen“, vielleicht ausgenommen die Klangfarbe, die zu mir als Person, aber auch zu meinem Geschlecht, zu meinem Alter, zu meiner Stimmung passen kann, sondern es löst sich von mir, um sich mit dem Lachen der anderen zu vereinigen, es wird zu einem anonymen Lachen, was ein Grund für seine Ansteckung ist: Im Lachen wird er (der Mensch) gewissermaßen anonym - ein Grund für die ansteckende Kraft, die ihm innewohnt. (...) Im Lachen quittiert der Mensch eine Situation. Er beantwortet sie mit ihm direkt und unpersönlich. Er gerät in einen anonymen Automatismus. Er selbst lacht eigentlich nicht, es lacht in ihm, und er ist gewissermaßen nur Schauplatz und Gefäß für diesen Vorgang. 181 Plessner formuliert hier Mechanismen des gemeinsamen Lachens, die tief im kulturellen Gedächtnis des Menschen verwurzelt sind. Denn die Teilhabe des Individuums an der im Lachen erzeugten Gemeinschaft schafft ein akustisch und körperlich erfahrenes, psycho‐ 1. Der Körper als Lachanlass 66 <?page no="67"?> 182 Röcke / Velten, Lachgemeinschaften, Einleitung, S. XIII-XXI. Vgl. auch Fietz, Möglichkeiten und Grenzen einer Semiotik des Lachens, S. 11: „Indem mehrere Personen über etwas lachen, versichern sie sich gegenseitig der Akzeptanz des jeweiligen gemeinsamen Systems von Wertsetzungen. Mit diesem Akt wird nicht nur festgestellt, was ‚lachhaft‘ ist und was nicht, sondern vielmehr ein ge‐ meinsamer Bezugspunkt zu einem kulturellen Code geschaffen, mittels dessen eine verbale Kom‐ munikation erfolgreich ablaufen kann.“ 183 Seit den Arbeiten Michel Foucaults, der den Körper als Schnittpunkt gesellschaftlicher Repräsenta‐ tionen und repressiver Diskurse massiv aufgewertet hatte, ist er immer stärker zum Thema kultur‐ wissenschaftlicher Untersuchungen in Literatur-, Theater-, Kunst- und Filmwissenschaft sowie in Gender- und Postcolonial-Studies geworden; hier nur eine kleine Auswahl aus den zahlreichen Ver‐ öffentlichungen: Fischer-Lichte, Erika u. Fleig, Anne (Hg.): Körper-Inszenierungen: Präsenz und kul‐ tureller Wandel. Tübingen 2000; Genge, Gabriele (Hg.): Sprachformen des Körpers in Kunst und Wis‐ senschaft. Tübingen / Basel 2002; Nöth, Wilfried u. Hertling, Anke (Hg.): Körper-Verkörperung-Entkörperung. Kassel 2005; Buchheim, Thomas u. a. (Hg.): Sōma. Körperkonzepte und körperliche Existenz in der antiken Philosophie und Literatur, Hamburg 2013; Antunes, Gabriela u. Reich, Björn (Hg.): (De)formierte Körper: die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, Göttingen 2012. Weitere Arbeiten im Überblick über die historisch-anthropologischen Studien zum Körper im Mittelalter in Kap. 1.4. physisches Gemeinschaftsgefühl, in dem bleibende Überzeugungen verortet, Gegner und normferne Verhaltensweisen ausgegrenzt und soziale Positionen bestimmt werden können. 182 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper Bisher habe ich einfach von ‚dem Körper‘ gesprochen, ohne näher zu bestimmen, was ich darunter verstehe. Während der Arbeit an dieser Studie ist immer deutlicher geworden, dass der menschliche Körper als Lachanlass eine theoretisch-methodologische Diskussion der Begrifflichkeit und der damit zusammenhängenden Vorannahmen erfordert, damit die Begriffe als Instrumentarien der Untersuchung fundiert und arbeitstauglich sind. Ohne Umschweife weiterhin von ‚dem Körper‘ zu sprechen, wäre weder systematisch noch his‐ torisch angemessen. Gerade bei einem sogenannten ‚Modebegriff ‘ scheint dies mehr als notwendig zu sein: zu groß sind noch die Vorurteile gegenüber seiner Untersuchung, auch auf Seiten von Philologen, Sprachwissenschaftlern und Historikern. Der menschliche Körper, um es gleich ohne Umschweife zu sagen, ist nicht nur ein seriöses Untersuchungs‐ feld auch für historisch arbeitende Disziplinen, sondern er steht geradezu im Zentrum kul‐ turwissenschaftlicher Analysen. 183 Um die Vielfalt der disziplinären Zugänge zum Körper einzuschränken, bedarf es meh‐ rerer methodologischer und begrifflicher Entscheidungen. Vor allem müssen die sozialen und kulturellen Bedingungen für körperliche Aufführungen in der Vormoderne diskutiert werden, denn Körperkonzepte sind diskursive, imaginäre Konstruktionen, die historischer 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 67 <?page no="68"?> 184 „Car le corps a une histoire. La conception du corps, sa place dans la société, sa présence dans l’i‐ maginaire et dans la réalité, dans la vie quotidienne et dans les moments exceptionnels ont changé dans toutes les sociétés historiques.“ Le Goff, Jacques u. Truong, Nicolas: Une Histoire du Corps au Moyen Âge. Paris 2003, S. 5. Ähnlich auch Vigarello, Georges: Histoire du corps. Vol. 1: De la Renaissance aux Lumières. Paris 2005: „Une attention historique au corps restitue d’abord le coeur de la civilisation matérielle, modes de faire et de sentir, investissements techniques, confrontation aux éléments (…).“ S. 7. 185 Der Topos von der inflationären Rede über den Körper existiert mindestens schon seit Beginn der 1980er Jahre, wenn Starobinski in seiner Konstanzer lecture anmerkt, dass überall nur noch vom Körper die Rede sei, „als hätte man ihn nach langem Vergessen wieder entdeckt: Körperschema, Körpersprache, Körpergefühl, Befreiung des Körpers sind zu Schlagworten geworden.“ Starobinski, Jean: Kleine Geschichte des Körpergefühls. Konstanz 1987, S. 3; vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller, der den Grund für die Aufmerksamkeit für das Körperthema im Verschwinden des Körpers sieht: „Die Konjunktur, die gegenwärtig das Thema Körper genießt, ist unter mediengeschichtlichem Aspekt Kompensation der durch die neuen Technologien noch weiter fortgeschrittenen Verdrängung des Körpers.“ Müller, Jan-Dirk: Medialität. Frühe Neuzeit und Medienwandel. In: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik. Hg. von Kathrin Stegbauer, Herfried Vögel u. Michael Waltenberger. Berlin 2004, S. 49-70, hier S. 51. Dass das Körperthema inzwischen eine breitere Resonanz erfahren hat, zeigt das Thema des 15. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Ar‐ beitskreises für Barockforschung 2016: „Der Körper in der frühen Neuzeit: Praktiken - Rituale - Performanz“. 186 Ich gebrauche den Begriff im weiteren Sinne als Oberbegriff für diejenigen Geistes- und Sozialwis‐ senschaften, die die Untersuchung ihrer Gegenstände in Fragen der Gesamtkultur einbetten. Vgl. dazu meinen zus. mit Claudia Benthien hg. Band: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 14-22. Veränderung unterliegen: Der Körper hat eine Geschichte. 184 Daher ist auch die aus einem logozentrischen Wissenschaftsverständnis heraus geäußerte Polemik, die die ‚Wiederent‐ deckung‘ des Körpers immer noch hervorruft, einigermaßen fehl am Platz, denn sie ver‐ kennt seine fundamentale Bedeutung in den jeweiligen Disziplinen, deren Erkenntnis einer jahrhundertelangen Verdrängung und Vernachlässigung in den Wissenschaften ein Ende gesetzt hat. 185 Dabei wird der Körper ganz unterschiedlich in Fachperspektiven einge‐ bunden: als Kommunikationsmedium und Träger von Zeichensystemen, als rituelles Me‐ dium symbolischer Bedeutungen, als soziales Medium in den verschiedensten Handlungs‐ vollzügen, als diskursive oder repräsentative Größe wie als leibliches Phänomen. In den Kulturwissenschaften 186 hat sich im Anschluss an Foucault ein Körperbegriff he‐ rausgebildet, der nicht ‚den Körper‘ an sich, sondern seine diskursiven Praktiken und In‐ szenierungen in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Für Forschungsfelder wie Geschlech‐ terdifferenz, den historischen Wandel von Subjekt- und Identitätsvorstellungen, die Emotionengeschichte, wie überhaupt für die an anthropologischen Theorien orientierte Erforschung von Religion, Politik, Literatur und Kunst im Mittelalter und früher Neuzeit ist die kulturelle Konstruktion des Körpers in schriftlichen Texten bedeutsam geworden. Körper erscheinen hier als Produkte und Effekte diskursiver Praktiken und semantischer Prozesse: Die Aufmerksamkeit liegt dabei nicht auf der Frage, wie der Körper in der Ver‐ gangenheit tatsächlich beschaffen war - sie wird als methodisch nicht lösbar bewertet -, sondern wie Menschen in verschiedenen historischen Perioden und verschiedenen Gesell‐ schaften sich sprachlich über ihn verständigten. Der Körper wird somit über diskursive Körperbilder wahrgenommen, die an phantasmatischen Idealisierungen ausgerichtet sind 1. Der Körper als Lachanlass 68 <?page no="69"?> 187 So die einflussreichste Theoretikerin für die Konstruktion von Geschlecht, Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M. 1997 (Engl. Orig.: Bodies That Matter. New York 1993), hier S. 19-49. 188 Zum Verhältnis Körper und Schrift vgl. Peters, Ursula: Historische Anthropologie und mittelalter‐ liche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1992, S. 63-86; Wenzel, Horst (Hg.): Gespräche - Boten - Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Berlin 1997. Zu jenem von Psyche und Körper: Roper, Lyndal: Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1995 (Engl. Orig.: Oedipus and the devil: witchcraft, sexuality and religion in Early Modern Europe. London 1994) sowie Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003. 189 Dies unterstreicht Carolyn Walker-Bynum in ihrem Beitrag: Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin. Historische Anthropologie 4 (1996), H. 1, S. 1-33, hier S. 6 f. Vgl. auch Coupland, Justine u. Gwyn, Richard (Hg.): Discourse, the Body, and Identity. Basingstoke / New York 2003. 190 Ich gebrauche den Begriff der Inszenierung im literarisch-anthropologischen Sinne nach Iser, der sich seinerseits auf Plessner stützt. Vgl. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 504-515; zum Inszenierungsbegriff als sol‐ chem vgl. Fischer-Lichte, Erika: Inszenierung. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. von Erika Fi‐ scher-Lichte, Doris Kolesch u. Matthias Warstat. Stuttgart / Weimar 2005, S. 146-153. 191 Vgl. z. B. Althoff, Gerd: Spielregeln des Politischen: Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. und über normative kulturelle Praktiken produziert werden. 187 Darin spielen die Erfahrung und das Wissen vom Körper (Körpergedächtnis) nicht nur zur Decodierung der Bilder von ihm, sondern auch als psychisches Reservoir für die Geschichte der Wahrnehmung eine wichtige Rolle. 188 Demnach gibt es auch nicht ‚den Körper‘ im Mittelalter, sondern an bestimmte Textgat‐ tungen und historische Praktiken gebundene Körperdiskurse. 189 Diese Diskurse „insze‐ nieren“ ihren Gegenstand auf verschiedene Weise: 190 etwa als leidenden und gemarterten Körper des Heiligen, als Medium der Gotteserfahrung, als höfisch schönen Leib der Dame und des Helden oder auch als sterbenden Körper. Das gilt besonders für historische Ana‐ lysen, wo nicht nur nach den Funktionsweisen des Körpereinsatzes in menschlichen In‐ teraktionen, sondern gerade nach dem Symbolgehalt ihrer Kommunikation gefragt wird. 191 In dieser Perspektive werden kulturelle Praktiken, Situationen der Aufführung von Kör‐ perlichkeit (Rituale, höfisches Zeremonialhandeln, Herrschaftsgesten, Spiele) gesehen: Auch hier steht der Körper nicht einfach für sich, sondern seine Präsenz ist sichtbares und erfahrbares Zeichen innerhalb der symbolischen Repräsentationen der jeweiligen sozialen Situation, des jeweiligen kulturellen Zusammenhangs. Die Textwissenschaften unterscheiden sich hier von anthropologischen und theaterwis‐ senschaftlichen Zugängen zum Körper, die empirisch beobachtbare Interaktionen unter‐ suchen. Während der Text alleine aus sprachlichen Zeichen (‚Textwelt‘) besteht, die im Akt des Hörens oder Lesens durch die Rezipienten verarbeitet werden, kommen bei face-to-face-Interaktionen bzw. (theatralen) Aufführungen zur auditiven auch die visuelle, teils sogar olfaktorische und taktile Wahrnehmungsqualität des menschlichen Körpers hinzu. Darüber hinaus bestehen größere Unterschiede in der Situationalität von Textre‐ zeption und Aufführungsrezeption, wie etwa die Anwesenheit und die Teilhabe anderer Körper und habitualisierte Praktiken gemeinsamen Vollzugs. In der Aufführung sind es 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 69 <?page no="70"?> 192 Vgl. dazu Fischer-Lichte, Erika, Ästhethik des Performativen, Frankfurt a. M. 2007, S. 19-30. Kritik am semiotischen Körperkonzept äußerte Fischer-Lichte auch schon vorher: „In der Welt als Text ver‐ schiebt sich die Bedeutung des Körpers hingegen regelmäßig auf die Ebene des Signifikanten, wo‐ durch ihm letztlich nur die Materialität eines beliebigen Zeichens zugebilligt wird. Als Träger von Sinn ist er zwar bedeutend, steht aber zugleich immer für etwas anderes. In diesen Prozessen ist der Körper Instrument.“ Fischer-Lichte, Erika u. Fleig, Anne (Hg.): Körper-Inszenierungen: Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen 2000, Einleitung, S. 11. Dass die Semiotik heute noch einem völlig se‐ miotisierten Körperbegriff folgt, zeigt der letzte Internationale Semiotik-Kongress, der sich mit der Körperlichkeit der Zeichen beschäftigte. Vgl. dazu Nöth u. Hertling, Körper - Verkörperung - Ent‐ körperung, S. 10-13. 193 Csordas stützt sich dabei auf die Phänomenologie und ihre Begrifflichkeit: “It will not do to identify what we are getting at with a negative term, as something non-representational. We require a term that is complementary as subject to object, and for that purpose suggest ‚being in the world‘, a term from the phenomenological tradition that captures precisely the sense of existential immediacy to which we have already alluded.“ Csordas, Thomas (Hg.): Embodiment and Experience. The existential ground of culture and self. Cambridge 1994, S. 10. In der angloamerikanischen Philosophie gibt es im Anschluss daran und an den Pragmatismus Deweys eine lebhafte Debatte zur Bedeutung (meaning), die erst durch körperliche Interaktion und geteilte Sprache hervorgebracht werde; vgl. Johnson, The Meaning of the Body, S. 266 ff. 194 Ganz ähnlich ist die Kritik von soziologischer Seite, nämlich von Pierre Bourdieu formuliert worden. Er hat mit seinem Konzept des Habitus den Körper zur Grundlage der Welterschließung in Form von Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen gemacht. Er zeigt, wie das Subjekt sich gesellschaft‐ liche Strukturen einverleibt und welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen. Die Individuen ent‐ wickeln subjektive Entsprechungen zu den gesellschaftlichen Strukturen, indem sie soziale Fähig‐ keiten, praktisches Wissen und Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster im Habitus amalgamieren und mit diesem verkörpern. Der Körper erscheint so immer als Teil der sozialen Welt, und diese ist in ihm körperlich geworden. Daraus ist auch die Bedeutung performativer Vollzüge für das Gelingen kultureller Kommunikation abzuleiten. Vgl. Bourdieu, Pierre: Einsetzungsriten. In: P. B.: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Aus dem Frz. von Hella Beister. Wien 1990, S. 84-94. nicht allein Zeichen, die wahrgenommen werden, sondern auch die Präsenz und Energetik des Körpers, seine Unverfügbarkeit, durch die er sich einer klaren semiotischen Bestim‐ mung entzieht. Dies veranlasste die jüngere theatergeschichtliche Forschung bei ihren Aufführungsanalysen nicht allein von Semiotik, sondern auch von der Performativität des Körpers zu sprechen. 192 Die theaterwissenschaftliche Position Fischer-Lichtes stützt sich dabei auch auf Arbeiten der kritischen Kulturanthropologie, die schon seit längerem Zweifel an der Textmetapher hegten, die durch Clifford Geertz („Kultur als Text“) in die Anthropologie eingeführt worden war. Wenn Geertz die Lesbarkeit des Körpers unter‐ streicht, rückt dadurch seine Performativität - das in der Aufführung Erfahrene, nicht in Bedeutungen Aufgehende - in den Hintergrund. Seit den 1990er Jahren ist in der Anthropologie eine Gegenbewegung zum Geertzschen Modell, aber auch zur klassischen Ethnographie entstanden, die sich auf phänomenologi‐ sche Ansätze beruft. Während im semiotischen Körperverständnis der Körper als Objekt oder Medium von Symbolbildungsprozessen, als Oberfläche für und Produkt von kultur‐ ellen Einschreibungen verstanden wird, forderte der US -amerikanische Anthropologe Thomas Csordas einen Zugang zum Körper, der ihm das Recht auf Handlungsfähigkeit und leibliches „In-der-Welt-Sein“ nicht abspricht. 193 Er kann damit als Agens, wenn nicht sogar als Akteur berücksichtigt werden, als „Agent produktiver Körper-Inszenierungen.“ 194 Csordas kritisiert in erster Linie den repräsentationalen Charakter des wissenschaftlichen 1. Der Körper als Lachanlass 70 <?page no="71"?> 195 „Already the human science literature is replete with references to the body as a kind of readable text upon which social reality is ‚inscribed‘. In such accounts the body is a creature of representation, as in the work of Foucault, whose primary concern is to establish the discursive conditions of pos‐ sibility for the body as an object of domination. What about the body as a function of being-in-the-world, as in the work of Merleau-Ponty, for whom embodiment is the existential of possibility for culture and self ? “ Csordas, Embodiment, S. 12. 196 Fischer-Lichte, Verkörperung, S. 20. 197 Vgl. Butler, Judith: Performative Acts and Gender Constitution. In: Performing Feminism. Feminist Critical Theory and Theatre. Hg. von Sue-Ellen Case. Baltimore / London 1990, S. 270-282. 198 Vgl. Fischer-Lichte u. Fleig, Körper-Inszenierungen, S. 11. 199 Vgl. ebd., S. 12 f. Körperbegriffs, der den empirischen und phänomenalen Körper perspektivisch aus‐ blende. 195 Repräsentation sei als nominaler Terminus immer die Repräsentation von etwas (anderem), während das In-der-Welt-Sein einen Zustand beschreibe, der auf Existenz und gelebte Erfahrung zurückgeht. Für alle Repräsentationen, die von diesem Körper bestehen, schlägt Csordas dagegen den Begriff der Verkörperung (embodiment) vor, der den mensch‐ lichen Körper als kulturellen Körper bezeichnet. Verkörperung meint ein methodologisches Feld, „(which is) defined by perceptual experience and mode of presence and engagement in the world.“ Komplementär zum Text stehe dem Körper eine vergleichbare paradigmati‐ sche Position in der Kulturtheorie zu, die ihn aus der Unterordnung vom Paradigma des Textes lösen kann. 196 Damit ist im Begriff des embodiment ein performatives Verständnis von Kultur angelegt, wie es beginnend mit Butlers Performative Acts and Gender Constitution (1988) in den 1990er Jahren in verschiedenen Disziplinen entwickelt wurde. Gegenüber der semiotischen Behandlung des Körpers beachtet eine performative das Wechselverhältnis zwischen Ein‐ schreibung und Konstruktion und beschreibt Identität als eine durch wiederholte körper‐ liche Handlungen und Zeichen performativ hergestellte Konstruktion. 197 Bestimmte Kör‐ perhaltungen und Körperbewegungen sind nicht Ausdruck von vorgängigen Gefühlen und Vorstellungen, sondern sie erzeugen diese und bringen ihre Bedeutung allererst hervor. Somit ist der performative Körper weder der biologische, noch der existenzielle Körper, aber auch nicht der diskursive, sondern einer, der in der Aufführung erscheint und das Imaginäre des diskursiven Körpers in sich trägt. 198 Jede Aufführung des Körpers hat dem‐ zufolge mit dessen spezifischer performativen Leiblichkeit, mit seiner Präsenz und Leben‐ digkeit zu rechnen; der performative Körper ist derjenige, der dem zeichenhaften, diskur‐ siven widersteht: „Die Eigendynamik körperlicher Prozesse in der kulturellen Praxis zu betonen bedeutet, sie tatsächlich als Gewicht zu verstehen, das die Einschreibung, Diszip‐ linierung und Fragmentierung des Körpers durch die Macht der Diskurse erschwert.“ 199 Ein auf soziale Interaktion und theatrale Aufführungen gründendes performatives Kör‐ perverständnis ist jedoch für die auf Textüberlieferung und -analyse basierende (ältere) Literatur- und Geschichtswissenschaft allem Augenschein nach von geringem Nutzen. Es ist kaum zweifelhaft, dass literarische und Gebrauchstexte keine phänomenalen, sondern diskursiv geschaffene Zeichen-Körper zum Gegenstand haben, da die Textwelt zunächst allein aus sprachlichen Zeichen besteht. Daher muss jede Rede über Präsenz oder embodi‐ 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 71 <?page no="72"?> 200 Es ist daher nicht sinnvoll, in den Literaturwissenschaften Performativität gegen Zeichenhaftigkeit auszuspielen, da sie auf sprachlichen Zeichen gründet. Vgl. dazu Schulz, Armin: Die Verlockungen der Referenz. Bemerkungen zur aktuellen Emotionalitätsdebatte. Beiträge zur Geschichte der deut‐ schen Sprache und Literatur 128, H. 3, S. 472-495. 201 Gumbrecht, Hans Ulrich: The Body versus the Printing Press. Media in the Early Modern Period. Poetics 14 (1985), S. 209-227, hier S. 215. Ähnlich auch: Beginn von Literatur / Abschied vom Körper? In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen 1450-1650. Hg. von Gisela Schmolka-Koerdt. München 1988, S. 15-50. 202 Vgl. zu den verschiedenen Ansätzen, der Präsenz- und Emotionalitätsdebatte überblickend Peters, Ursula: ‚Texte vor der Literatur‘. Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Phi‐ lologie. Poetica 39 (2007) S. 59-88; zur Zeichenhaftigkeit von Emotionen Philipowski, Katharina: Erzählte Emotionen, vermittelte Gegenwart. Zeichen und Präsenz in der literaturwissenschaftlichen Emotionstheorie. PBB 130.1 (2008), S. 62-81. 203 Vgl. Rhetorica ad Herennium III, 16-24 (28-40). Die Neurowissenschaft benutzt den Begriff anders, vgl. Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern, Göttingen 2004. ment in Texten von der sprachlichen Zeichenstruktur ausgehen. 200 Wie kann man in Texten (genauer: in Texten der Vergangenheit) die Präsenz oder das „In-der-Welt-Sein“ des Körpers nachvollziehen oder gar belegen? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Literaturwissen‐ schaft seit mindestens drei Jahrzehnten, seit Hans Ulrich Gumbrecht den Körper in vor‐ modernen Texten als „vehicle for the condition of meaning“ gekennzeichnet hat. 201 Sie ist seither in vielfacher Weise innerhalb der Debatte um die Alterität vormoderner Literatur diskutiert und auf unterschiedliche Gegenstände und Gattungen angewandt worden: auf die geistliche Literatur mit dem zentralen Stichwort der „Realpräsenz“ des Christuskörpers, auf die Liedlyrik (Kopräsenz von Körpern in der Aufführungssituation), auf die doppelte Bezugnahme von Körper und Schrift in rituellen und zeremoniellen Akten allgemein und insbesondere prominent auf das Thema der Emotionalität. 202 Dabei geht es allerdings in erster Linie um Bedingungen und Funktionen einer vormodernen Zeichenpraxis, ihre spe‐ zifischen Möglichkeiten der (auch auratischen) Re-Präsentation durch Schrift, und weniger um die Rezeption und Wahrnehmung von Texten beim Hören und Lesen. Die Prozesse der neuronalen Verarbeitung von Bildern und Tönen sind freilich auch keine Aufgabe der Me‐ diävistik, dennoch sind sie für die hier ausgelegte Fragestellung besonders bedeutsam. Denn „Präsenz des Körpers“ verstehe ich bezogen auf körperliche Lachanlässe auf zwei verschie‐ dene Weisen: (1) Auf eine physische Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern von Lach‐ vorgängen in solchen Aufführungen, die gemeinsam vollzogen werden, und (2) auf die Vorstellung dieser Kopräsenz bei der Rezeption von in Schriftsprache gefassten Repräsen‐ tationen solcher Lachvorgänge in literarischen Aufführungs- oder Lektüresituationen. Im Prozess der Rezeption von Zeichen und ihrer Verarbeitung im Gehirn scheint nämlich nicht nur der Informationsgehalt dieser Zeichen eine Rolle zu spielen, sondern auch die in den Zeichen verkörperten Imaginationen. Das Konzept der Bilderzeugung durch Vorstellungs‐ kraft ist bereits in der Antike bekannt, etwa im Rahmen der ars memorativa, wenn die wahrgenommenen Bilder sich mit gespeicherten zu inneren Bildern (imagines) ver‐ binden. 203 Wenn nun die Zeichenstruktur von Texten nicht allein die Bedeutung von Zei‐ chen, sondern auch die repräsentierten Körper, ihre Bewegungen in Form von anschauli‐ chen Bildern und Handlungen „verlebendigt“, dann sind sie auch in der Lage, beim Hörer / Leser Emotionen zu evozieren, Sympathien zu steuern, Gelächter auszulösen. 1. Der Körper als Lachanlass 72 <?page no="73"?> 204 Vgl. dazu Suerbaum, Almut u. Gragnolati, Manuele (Hg.): Aspects of the Performative in Medieval Culture (Trends in Medieval Philology 18). Berlin / New York 2010, S. 6-8. 205 Und auf meinen Aufsatz: Performativitätsforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hg. von Jost Schneider. Berlin / New York 2009, S. 549-572. 206 Ebd., S. 551. 207 Zu diesem Problemkomplex genauer dann in Kap. 6. 208 Mellmann, Katja: Emotionalisierung. Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emoti‐ onspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006, S. 42-78, hier S. 78. 209 Vgl. dazu Reichold, Anne: Die vergessene Leiblichkeit. Zur Rolle des Körpers in ontologischen und ethi‐ schen Personentheorien. Paderborn 2004, S. 194 ff. Eine solche Qualität von Texten nenne ich „Performativität“. Ich beziehe mich dabei auf eine Definition, die ich vor einigen Jahren als Ergebnis aus der Methodendiskussion in Theaterwissenschaft und Philosophie speziell in Bezug auf literarische Texte (des Mittel‐ alters) formuliert habe. Performativität von Texten heißt: (1) dass sie Effekte von Präsenz zeitigen und vollziehen, 204 (2) dass sie affektive und soziale Wirkungen auslösen und (3) dass sich an ihnen eine je besondere Medialität zeigt, die zwischen Schrift und der Vokalität und Körperlichkeit der Aufführung oszilliert. 205 Texte sind demnach dann performativ, wenn sie „Teil einer somatisch-sinnlichen Praxis“ sind, 206 wenn ihre sprachlichen Reprä‐ sentationen auf die emotionale Teilhabe am Gehörten und die Imagination seiner Gesche‐ hensstruktur (Performanz) abzielen, wobei auch das Gegenwärtigwerden von Atmo‐ sphären und Stimmungen einzuschließen ist. Sprachliche Zeichen gehen im Kommunikationsprozess nicht in Informationen und Bedeutungen auf, sondern können über die Imagination der Rezipienten bestimmte Wirkungen - etwa Lachen - in ihnen auslösen. 207 Dies wird seit einiger Zeit auch von Seiten der emotionspsychologisch arbei‐ tenden Literaturwissenschaft bezüglich der Stimulierung von Emotionen durch Texte be‐ stätigt. So hat etwa Katja Mellmann in ihrer Studie zur Auslösung emotionaler Programme durch literarische Texte im Akt der Rezeption zeigen können, dass fiktionalen Handlungen eine Attrappenwirkung zugeschrieben werden kann, dergestalt, dass durch textuelle Sti‐ muli und „lektürebegleitende (...) Imaginationsbildung“ Emotionsprogramme beim Leser ausgelöst werden können. 208 Körper und Leib Den terminologischen Unterschied zwischen Leib und Körper kennen weder die englische noch die romanischen Sprachen. Es ist zwar auch in diesen Sprachen immer wieder versucht worden, die Differenz nachzuvollziehen - das bekannteste Beispiel dafür ist vermutlich Sartres Unterscheidung zwischen corps-pour-soi (Leib als lebendige Einheit) und corps-pour-autrui (Körper als physikalisch-chemischer Organkomplex) 209 - doch kommen diese Sprachen mit dem Einheitsbegriff des Körpers recht gut aus, ohne dass dieser auf physikalische Kategorien allein beschränkt wäre. Der Leibbegriff, das zeigt Sartres Beispiel, hat vor allen Dingen in der philosophischen Phänomenologie und der philosophischen Anthropologie seinen Ort und ist dort auch entwickelt worden (Husserl, Scheler, Gehlen). Doch schon für Merleau-Ponty, einen der wichtigsten Wahrnehmungstheoretiker, existiert 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 73 <?page no="74"?> 210 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Der in der deutschen Übersetzung gebrauchte (und von M.-P. autorisierte) Leibbegriff ist somit das Pendant zu corps, ohne dessen Semantik von Körper mitzutragen. 211 So erkennt Reichold die Differenz von Leib und Körper folgendermaßen: „Körper bezeichnet den physikalisch-chemischen Organkomplex des Menschen, der in einer anatomischen Sichtweise ana‐ lysiert werden kann. Leib ist die lebendige Einheit, die sich als Subjektivität erlebt und von anderen als Subjektivität erlebt wird. Der Körper kann mit den Kategorien der Physik vollständig erfasst werden, während der Leib sowohl aus der Innen-, als auch aus der Außenperspektive nur als leben‐ dige Einheit eines Subjekts erfasst werden kann.“ Reichold, Die vergessene Leiblichkeit, S. 195. 212 Böhme, Gernot: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985, S. 114. 213 Für Sartre ist der Körper des anderen ein „Körper in Situation“. Sartre, Jean-Paul: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Aus dem Frz. übers. von Hans Schöneberg. Reinbek 1971 (Frz. Orig.: L’imaginaire. Paris 1940), S. 608. 214 Merleau-Ponty nennt diesen Prozess einen „Akt der Wiedererinnerung“. Phänomenologie der Wahr‐ nehmung, S. 42 ff. 215 Wahrnehmen ist nach Merleau-Ponty kein Urteilen, sondern das „Erfassen eines dem Sinnlichen eigenen Sinnes, das vor dem Urteilen liegt.“ Das Bewusstsein findet im Wahrnehmen Objekte, Hand‐ lungen, Vorgänge bereits vor („Beisein bei den Dingen“). Ebd., S. 57. 216 Husserl, Edmund: Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften. Hg. von Bernhard Waldenfels. S. 149-160, hier S. 149. nur der Begriff corps, der damit auch alles, was ‚Leib‘ im Deutschen meint, umfasst. 210 Insofern ist nicht einzusehen, warum im Deutschen außerhalb phänomenologischer Stu‐ dien - wo er genau umrissene Funktionen hat 211 - der Leibbegriff verwendet werden soll. Dennoch ist es erhellend, die Begriffsdichotomie Körper / Leib im Deutschen näher zu betrachten, damit möglichst viele Perspektiven auf den Körper und seine Funktionen zur Sprache kommen, die für die hier verfolgte Fragestellung weiterführend sind. Gernot Böhme macht in seinen Vorlesungen zur Anthropologie folgende Unterscheidung: „Leib beschreibt gegenüber dem Körper ein Surplus, das sich durch Selbstwahrnehmungserleb‐ nisse auszeichnet. Körper, das ist auch der Körper des anderen, hingegen ist Leib primär mein eigener.“ 212 Böhme schließt an die Tradition der Phänomenologie an, wo „Leib“ immer zuerst auf den eigenen Leib bezogen ist, während mit Körper der „andere Körper“ als Bezugs‐ zentrum einer Situation, 213 als Körper der Fremderfahrung gemeint ist. Die Wahrnehmung des „anderen Körpers“ jedoch erwächst nicht nur aus der Situation, in der sich die Körper befinden: Diese sind bereits in einem „Horizont“ von Erinnertem zu verorten. 214 Sie ist demnach keine objektiv-photographische Aufnahme eines Gegebenen, sondern vollzieht sich bereits in einem Bedeutungs-Kontext. 215 Beide, Leib und Körper, sind nach Edmund Husserl durch eine Ähnlichkeitsrelation ver‐ bunden, die eine „apperzeptive Übertragung“ zur Folge hat: „Grundlegend ist hier die Ähn‐ lichkeit, die ein wahrgenommener äußerer Körper mit meinem Leib aufweist. Motiviert durch diese Ähnlichkeit vollziehe ich eine apperzeptive Übertragung, in der ich den äußeren Körper in Analogie zum eigenen Leib als Leib, d. h. als empfindenden und wahrnehmenden Körper auffasse.“ 216 Wahrnehmungstheoretisch gesprochen ist somit der empfindende und erlebende eigene Leib eine Apperzeption, eine bewusste Verarbeitung der Wahrnehmung des fremden Kör‐ 1. Der Körper als Lachanlass 74 <?page no="75"?> 217 Der Begriff der Apperzeption bei Husserl ist sehr komplex. Schon Leibniz hatte die Apperzeption als eine „perceptio melior, cum attentione et memoria coniuncta“ bezeichnet; Husserl verbindet sie mit dem Erleben: er versteht sie als „Überschuß, der im Erlebnis selbst, in seinem descriptiven Inhalt gegenüber dem rohen Dasein der Empfindung besteht“ (Log. Unt. II, 363). Vgl. Eisler, Rudolf: Wör‐ terbuch der philosophischen Begriffe. Berlin 1904, S. 46. 218 Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie. Hg. u. eingel. von Elisabeth Ströker. 3. Aufl. Hamburg 1995. Paragraphen 50-55, S. 126 ff. pers. 217 Husserl beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: Wir sehen bei der Wahrneh‐ mung des Anderen zunächst seinen Körper, denn seinen Leib (als beseelten Körper) können wir nicht unmittelbar wahrnehmen. Unmittelbar präsent ist nicht der Leib, sondern der Körper, dessen Ausdruck bloßes Indiz für Subjektivität ist, das Subjekt nur andeutet, aber selbst nicht mit ihm identisch ist. Erst durch Analogiebildung, sozusagen in einer sekun‐ dären Verweisung, erkenne ich den Anderen als Leib. Diese sekundäre Verweisung ist nicht nur ein Akt der Sinnlichkeit, der sinnlichen Wahrnehmung, wie das bei der primären Ver‐ weisung des Körpers der Fall ist, sondern ein Akt der Vermittlung, der Übertragung des Beseeltseins von meiner auf die andere Person. 218 Aus dieser Differenzierung Husserls ergibt sich, dass ‚Leib‘ immer auf Subjektivität hinter dem Körper verweist. Dies ist für die Theorie des Lachens ein eher sekundärer und ver‐ mutlich sogar hinderlicher Aspekt. Denn wenn der komische Körper auf die Subjektivität seiner Person hinweisen würde, könnte er kaum zum Lachen sein, da er seine ganze Emo‐ tionalität und Beseeltheit des Körper-Ichs zu erkennen geben würde, was dem Aufbau einer für das Lachen notwendigen, distanzierten Haltung zuwiderläuft. Der komische Körper, der Körper, über den wir lachen, ist jedoch immer der Körper eines anderen, und fällt daher eindeutig unter Husserls Körperbergriff. ‚Mein Leib‘ kann nicht komisch sein für mich, sondern nur als Körper für die anderen, er kann schmerzen, sich freuen, doch kann er nicht komisch sein. Trotz alledem hat die Leibdimension wichtige Aspekte für das Problem der Übertragung von Körperwahrnehmung auf den eigenen Körper, bzw. das eigene Ich, welches im Rahmen der psychologischen Innervationsleistungen angesprochen worden war. Husserl greift in seiner Analyse der Fremderfahrung auf die Assoziationstheorie zurück, indem er darauf verweist, dass die körperlichen Gebärden des Anderen an die eigenen erinnern und so die Existenz eines anderen, fremden Ich erfahrbar machen. Die Wahrnehmung des Anderen ist eine Analogieapperzeption, die Fremderfahrung am eigenen Leib vermittelt. Ich übertrage meine Körperwahrnehmung aufgrund der Ähnlichkeit auf meinen Leib und ‚verleibe‘ mir so den Körper des Anderen ein. Das Lachen über Körperliches würde, wenn wir diese Überlegungen Husserls zugrunde legen, durch eine spezifische Analogieleistung, eine Übertragung auf und Rück-Erinnerung an den eigenen Leib voraussetzen, die diesem nicht nur Aufwand erspart (Freud), sondern auch den ‚anderen Körper‘ in den eigenen hineinholt, sodass das Lachen als Körperreaktion dessen Komik nicht nur beantwortet, sondern ge‐ wissermaßen nachahmt. Der Vorgang der Apperzeption führt somit zu einer engen körperlich-kommunikativen Relation von fremdem Körper und eigenem Leib, so dass es zu einem Schwellenbereich kommt, in welchem beide sich berühren und sogar vermischen. Dieser Gedanke ist im Begriff des ‚Leibkörpers‘ sowohl bei Phänomenologen wie Merleau-Ponty und Waldenfels 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 75 <?page no="76"?> 219 Plessner, Lachen und Weinen, S. 239. 220 Vgl. dazu Meyer-Drawe, Käte: Leiblichkeit und Sozialität: phänomenologische Beiträge zu einer päda‐ gogischen Theorie der Intersubjektivität. München 1987, S. 37. 221 Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Frankfurt a. M. 1999, S. 12. 222 Waldenfels, Bernhard: Bodily experience between selfhood and otherness. In: Phenomenology and the Cognitive Science 3 (2004), S. 235-248, hier S. 246. Waldenfels geht aber noch weiter: Er erkennt in der Zwischenkörperlichkeit auch die Instanz für ein „leibhaftiges Denken“, einer Form des „ein‐ gefleischten Denkens“ (incarnate thinking), welche direkt auf die spezifische Verfasstheit des Kör‐ perleibs zurückgeführt werden kann. als auch bei Anthropologen wie Plessner und Scheler ausgearbeitet worden. Der ‚Leib‐ körper‘ bezeichnet zunächst ganz allgemein die eigentümliche Doppelgestalt des Körpers, wie sie etwa Plessner in seiner Dichotomie des Leib-Seins und Körper-Habens beschreibt: Plessner geht von der Doppeldeutigkeit der menschlichen Existenz aus, in welcher der Körper gleichzeitig präsent und distanziert ist („exzentrische Position“). Das körperleibliche Dasein ist für den Menschen ein nicht eindeutiges Verhältnis zwischen „ihm“ und „sich“, 219 zwischen subjektiv erlebbarem Leib und distanziert zu beschreibendem Körper. Während Plessner es bei der Koppelung von zwei unterschiedlichen heuristischen Kon‐ zepten belässt - gewissermaßen ist das noch halb cartesianisch gedacht - sind Leib und Körper bei Merleau-Ponty und Waldenfels stärker verflochten. Hier ist der Körper als Leibkörper eine Zwiegestalt, eine Art „Umschlagstelle zwischen dem Selbst und dem An‐ deren“ (Waldenfels), zwischen außen und innen, Subjekt und Objekt, dem Heteronomen und dem Autonomen, ein Ort, an dem sich diese Kategorien durchdringen und vermischen. Aufgrund dieser Vermischung ist der Leibkörper immer gleichzeitig Eigenes und Anderes, er ist gleichzeitig aktiv und seiner Umwelt gegenüber responsiv, er handelt und erleidet, ist unverfügbar. 220 Als solcher zeigt er eine eigene Sprache, ein „enaisthetisches Sprechen“, wie Waldenfels sagt, 221 das sich von der uns verfügbaren Sprache unterscheidet und auf fremde Dimensionen der Sinnproduktion verweist. So erscheint der Leibkörper beispielsweise in seiner stimmlichen Prosodie, Intonation und klanglicher Färbung, aber auch etwa in rede‐ begleitenden Bewegungen und Gesten, niemals als ganz eigener, sondern als ein der auto‐ nomen Verfügbarkeit entzogenes ‚interkorporelles‘ Zwischen, in dem sich eine mimetische Anverwandlung mit dem Körper des anderen Gegenübers vollzieht. Waldenfels macht dies am Beispiel der ersten Lebensjahre deutlich: Von Kind auf ist der Andere in uns implantiert; wir sind bei und nach der Geburt noch eins mit der Mutter, wir lernen vom Hörensagen die Sprache sprechen, die nicht unsere eigene, sondern die unserer Mutter ist, wir hören auf Namen, die wir uns nicht selbst gegeben haben usw. Deshalb ist der Andere immer zuerst da, wir können den Anderen nicht erreichen, ohne von ihm aus‐ zugehen: Intercorporeity implies that the own and the alien are entangled, that everybody is inserted into an interlacing, into a Geflecht or entrelacs as Norbert Elias, Merleau-Ponty and sometimes even Husserl put it. (...) What we feel, perceive, do or say is interwoven with what others feel, perceive, do or say. 222 Waldenfels macht diese Verwobenheit von (Fremd-)Körper und (Eigen-)Leib anhand des Beispiels eines Orchesters deutlich: 1. Der Körper als Lachanlass 76 <?page no="77"?> 223 Waldenfels, Bodily experience, S. 242. 224 Hermann Schmitz hat, einem ähnlichen Konzept des Leibkörpers folgend, dieses Geflecht von ei‐ genem und anderem Körper in Rahmen einer „leiblichen Kommunikation“ verfolgt: „Der Einzelleib des Individuums ist von vorn herein eingebettet in leibliche Kommunikation.“ Schmitz, Herrmann: Spüren und Sehen als Zugänge zum Leib. In: Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation. Hg. von Hans Belting, Dietmar Kamper u. Martin Schulz. Paderborn 2002, S. 429-438, hier S. 433. Vgl. auch Schmitz, Herrmann: Über leibliche Kommunikation. In: H. S.: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philoso‐ phischen Therapeutik. Hg. von Hermann Gausebeck u. Gerhard Risch. Paderborn 1989, S. 175-217. 225 Bereits in Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Hg. von Regula Giuliani. Frankfurt a. M. 2000. Every player of a musical instrument knows that his or her fingers are quicker and more sensitive than any rational control could be. We are carried away (mitgerissen, emportés) by our own words and actions as well as by those of others, so that we are neither reduced to merely moved objects nor to simple active subjects. 223 Wir intervenieren in eine bereits laufende Bewegung, die unserer Initiative vorangeht. Diese Bewegung ist das leibliche Zusammenspiel gegenseitiger Leib-Wahrnehmung - was mit Metaphern wie Stimmung, Atmosphäre, Raumgefühl usw. beschreibbar ist -, die dem Verstehen vorausgeht. 224 Lachen zwischen ‚Widerfahrnis‘ und ‚Einleibung‘ Wir haben zu Beginn des Kapitels festgestellt, dass die zentrierte Aufmerksamkeit eine wichtige Voraussetzung für die Wahrnehmung des komischen Körper ist, damit sie zum Lachen führt. Die eben skizzierten phänomenologischen und anthropologischen Körperbzw. Leibtheorien erlauben uns, die spezifischen Bedingungen und Funktionsweisen der ‚leiblichen‘ Wahrnehmung als apperzeptive Übertragung, als Zwischenleiblichkeit oder Einleibung des anderen Körpers als Voraussetzung für das Lachen über Körperliches ge‐ nauer zu bestimmen, ohne zunächst auf semiotische und Verstehensprozesse zu rekur‐ rieren. Wenn wir lachen, so lacht unser Körper. Wenn wir das Lachen anderer wahrnehmen und mitlachen, dann überträgt sich dieses Lachen als ein wahrgenommener Ausdruck vom anderen Körper in unseren Körper (die Problematik der Ansteckung sei zunächst bei Seite gelassen). Ebenso verhält es sich mit den anderen Ausdrucksgesten des wahrgenommenen fremden Körpers: Wir lachen dann über Körperliches, wenn wir den anderen Körper mittels einer von der Aufmerksamkeit ermöglichten leiblichen Übertragung in unseren Körper einleiben. So werden durch den gespannten Blick auf ein lächerliches Objekt (den Körper des Clowns etwa), dessen Gang, Körperhaltung, Bewegungen, Gesten usw. in unserem Körperleib, als einem Feld des Zwischen, spürbar und nachvollziehbar, wir werden von diesen Bewegungen berührt, ergriffen, angesteckt (was die medizinische Forschung zur Innervation auch neurologisch belegt hat). Das bedeutet, dass dem Lachen über komische Körperlichkeit keine Bewusstseinsstufe oder kognitive Schranke vorgeschaltet sein muss: Es kann sich - den Spielrahmen und die komische Ambivalenz vorausgesetzt - aus der Einleibung selbst ergeben. Wie geht das aber? Die Kernthese von Waldenfels ist, dass unser körperliches Selbst Teile des Anderen enthält. 225 Wir werden durch das, was uns widerfährt, berührt, noch bevor wir 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 77 <?page no="78"?> 226 „Being affected by and exposed to what is alien to myself (Ichfremdes), depends neither on our knowing nor on our willing, i.e. on our consciousness; it is related to our body“. Waldenfels, Bodily experience, S. 239. 227 „In sum, everything that appears as something has to be described not simply as something which receives a sense, but as something which provokes sense without being meaningful itself, but still something by which we are touched, affected, stimulated, surprised and so some extent violated. (...) From the very beginning I am involved, but not under the title of a responsible author or agent“. Waldenfels, Bodily experience, S. 238. 228 Schmitz, Spüren und Sehen, S. 434. darauf handelnd reagieren können. Dies geht über die psychologischen Reiz-Reaktions-Mo‐ delle oder die für viele Lachtheorien grundlegende Annahme der kognitiven Erkenntnis des Komischen weit hinaus. Folgt man Merleau-Ponty und Waldenfels, wird das Lachen dagegen zunächst von einer Art körperlichen Empfindung, einer körperlichen Teilhabe am Lächerlichen, also am wahrgenommenen Vorgang oder Modus, bestimmt. Dies lässt sich nach Waldenfels mit dem Begriff der „Widerfahrnis“ beschreiben: Das, was uns widerfährt, was uns als Fremdes begegnet, hängt weder von unserem Wissen noch von unserem Willen bzw. unserem Bewusstsein ab, es hat zuallererst mit unserem Körper zu tun. 226 Widerfahrnis bezeichnet demnach eine Form des körperlichen Erlebens, der kör‐ perlichen Wahrnehmung. Die Widerfahrnis von etwas nimmt den Körper in Beschlag, in‐ volviert ihn, ohne dass dieses Etwas einen Sinn erhält; es löst Sinn aus, ohne selbst bedeu‐ tungsvoll zu sein. 227 Waldenfels betont dabei die Vorgängigkeit der Widerfahrnis: Etwas widerfährt uns, bevor wir noch reagieren, geschweige denn handeln können. Unser prak‐ tisches Verhalten beginnt wie alle Formen des Verhaltens damit, affiziert zu werden und setzt sich fort damit, darauf zu antworten. Auf das Lachen übertragen bedeutet dies: Damit wir antwortend lachen, muss uns etwas widerfahren, wir werden in etwas hineingezogen, ohne es gleich schon mit Sinn belegen zu können. So erscheint Plessners Antwort-These in einem veränderten Licht: Das Lachen als eine elementare Reaktion gegen das Bedrän‐ gende des komischen Konflikts muss nicht das Resultat einer kognitiven Operation sein, sondern ist zunächst als eine Kapitulation der Autonomie des Körpers zu bezeichnen. Wir lachen nicht, weil wir als Menschen mit einer Situation nicht fertig werden, sondern weil die Situation unseren Körper überfordert, nachdem sie ihn affiziert und involviert hat. Der Nach- und Mitvollzug komischer Bewegungen wird auch von Schmitz’ Theorie der leiblichen Kommunikation gestützt. Die spezifische Kommunikation zwischen Körpern (Einleibung) kann am Beispiel von Blick und Gegenblick veranschaulicht werden: Der Blick als leibliche Regung gehört dem motorischen Körperschema an. Er eröffnet Hypothesen über die Bewegungen der anderen Körper im Raum, um etwa ein Zusammenstoßen zu vermeiden. Dies geschieht, indem der Blick die durch den anderen Körper ausgelöste Be‐ wegungssuggestion in das motorische Körperschema überträgt. Schmitz spricht in diesem Fall vom „motorischen Sehen“, wozu er das Ausweichen rechnet, aber auch das Greifen, Gehen, Springen und Ausüben aller anderen optisch gesteuerten motorischen Kompe‐ tenzen. Dieses motorische Sehen ist eine „Einleibung mit dem Blick, der über das motorische Körperschema die Glieder führt.“ 228 Schmitz macht dies am Beispiel des Seiltänzers in der Zirkuskuppel deutlich. Anschlie‐ ßend an Lipps’ Theorie der sympathetischen Einfühlung bestimmt er die leibliche Relation zwischen Zuschauer und Artist als Nachahmung. Doch während bei Lipps der Zuschauer 1. Der Körper als Lachanlass 78 <?page no="79"?> 229 Schmitz, Über leibliche Kommunikation, S. 189. 230 Ebd. 231 Auf das Ästhetische übertragen, staunen wir über den übermäßig schönen oder wohlgeformten Körper, und wir lachen über den übermäßig hässlichen, den deformierten und grotesken Körper. im Zirkus sich in den Seiltänzer hineinversetzt und somit körperlich „bei ihm“ in der Kuppel ist, wird er in Schmitz’ Theorie durch Aufmerksamkeit und Faszination in Bann gezogen und ahmt die faszinierenden Bewegungen des Seiltänzers körperlich nach. Zur Nachahmung gehört die Verdopplung des Vorbildes durch ein Nachbild. Wenn der Betrachter im Zirkus gebannt an den Bewegungen des Seiltänzers hängt, ist aber keine Rede davon, dass da oben, wohin der Betrachter sich versetzt fühlen soll, auch nur in dessen Phantasie zwei Akrobaten herumtanzten, nämlich der echte und der ihn nachahmende, durch Einfühlung dorthin versetzte Zuschauer. Vielmehr werden die faszinierenden Bewegungen des Akrobaten auch dann, wenn niemand sie nachahmt, aufgrund der Faszination vom Beobachter übernommen, in dem Sinn, dass er sie nicht mehr als Bewegungen eines fremden Wesens von seinem eigenen Verhalten unter‐ scheiden kann. 229 Faszination ist eine Form der gesteigerten Aufmerksamkeit, ein visuelles Gebanntsein am faszinierenden Objekt, die ihr körperliches Ausdrucksmuster in geweiteten Augen und dem geöffneten Mund findet. In Schmitz’ Perspektive wird sie zum Ausgangspunkt der leibli‐ chen Nachahmung, der Einleibung: „Gleichwohl ist für sie eine Distanzlosigkeit charakte‐ ristisch, die (...) so weit geht, dass der Faszinierte, indem er gebannt an seinem Objekt hängt, dessen Schicksal und Verhalten nicht mehr als etwas Fremdes von seinem eigenen unter‐ scheiden kann.“ 230 Vergleichen wir diese Konstellation nun mit einer anderen „theatralen“ Blickrelation im Zirkus, der zwischen Zuschauer und Clown, kommen wir zu überraschenden Parallelen: Es liegt zunächst eine ähnlich gesteigerte Aufmerksamkeit vor, doch hier ist es nicht die Faszination, die uns an die wahrgenommenen Bewegungen bannt, sondern die Erwartung des Komischen als Anomales und Unbestimmtes, die Erwartung des Unvorhersehbaren und nicht Kontrollierbaren. Dabei heben wir die Distanz zwischen dem Körper des Clowns und unserem eigenen auf, indem die Körper kommunizieren: Wir „leiben“ uns den Clown „ein“, unser Körperleib wird zur Umschlagstelle zwischen uns und dem Anderen. Gleichzeitig wissen wir aber körperlich von der anomalen und spielerischen Art der Einleibung und stehen ihr ratlos und hilflos gegenüber: wir lachen. Lachen hat übrigens nicht wenig mit dem faszinierten Staunen zu tun: Beide Reaktions‐ weisen sind gegenüberliegende Pole der Körperwahrnehmung. Das Staunen bezieht sich auf den herausragenden, vollkommen beherrschten Körper, das Lachen auf den herausra‐ genden, vollkommen unbeherrschten Körper des Spielrahmens. 231 Beide Körper wider‐ fahren uns zunächst in einem Zustand der Spannung und Aufmerksamkeit; über den Blick wird die wahrgenommene, außergewöhnliche Motorik in den eigenen Körper übertragen und von ihm nachempfunden bzw. nachgeahmt. Diese Einleibung des fremden Körpers in unseren hat in dem Moment, wenn sie über unsere Fähigkeiten hinausgeht, wenn sie also wie beim Akrobaten einen perfekt kontrollierten Körper vor sich hat, fasziniertes Staunen zum Resultat. Wenn sie es allerdings mit einem sich im spielerischen Rahmen präsentier‐ enden, scheinbar unkontrollierbaren Körper zu tun hat, bricht unser Körper in Lachen aus, 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 79 <?page no="80"?> weil er diese ambivalente Situation zwischen Spiel und Ungenügen im Eigenen nicht er‐ tragen kann, denn sie stellt unser körperliches Selbstverhältnis in Frage. Das Lachen befreit unseren Körper von der gespannten Nachahmung des anderen Körpers, diesem spieler‐ ischen Zwang zur komischen Anomalität in ihm, und stellt den Ausgangszustand wieder her. Techniken und Kontrolle des Körpers „Lachen überhaupt ist der Ausdruck des Herausplatzens, das jedoch nicht haltungslos bleiben darf, wenn nicht das Ideal verloren gehen soll.“ Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. 13, S. 210 Schmitz’ Begriffe des motorischen Sehens und der Einleibung können somit auch die Un‐ verfügbarkeit, von der Waldenfels bei der Charakterisierung des Eigenleibs als interkor‐ porelles Zwischen spricht, plausibel machen. Sie weisen auf einen Aspekt hin, der bereits bei Plessner angesprochen wurde und der für das Lachen über Körperliches zentral ist: den der Kontrolle. In ihm kommen phänomenologische, psychologische und soziale Aspekte zusammen. Wenn das Lachen mit Plessner als Antwort auf eine Krise, eine Desorganisation der Person bezeichnet und als körperlicher Ausdruck dieser Desorganisation bezeichnet werden kann, insofern, als der Körper im Lachen seine Haltung und Contenance verliert, und wenn weiterhin die Wahrnehmung des Verlustes der Selbstkontrolle (als einem be‐ herrschten Verhältnis zum eigenen Leib) im eben besprochenen Beispiel des Clowns zum Lachen führt, weil sie den Körper des Wahrnehmenden durch komische Anomalität in seinem Verhältnis zum Selbst gefährdet, dann muss der auch nur temporäre Verlust der Beherrschung des wahrgenommenen anderen Körpers zu den wichtigsten Lachanlässen überhaupt gerechnet werden. Daraus folgt wiederum, dass derjenige, der überzeugend seinen Körper aus der Rolle fallen lassen kann (also der Clown oder der Possenreißer), beste Chancen auf einen Lacherfolg bei seinem Publikum hat. Er benötigt dazu Techniken des Körpers, die nicht nur die eigene Körperbeherrschung betreffen, sondern auch kulturelle und soziale Codes (von Körperhaltungen und -bewegungen, von Gesten und Gebärden, von körperlichen Habitus der Anderen) genauestens kennen und nachahmen können. Der erwachsene Mensch hat im Laufe seines Lebens einen ungeheuren Aufwand ge‐ braucht, um seinen Körper zu beherrschen und ihn als Werkzeug zu gebrauchen. Dies gilt - mit großen Unterschieden in der Art und Weise der Körperkontrolle - für alle Kulturen. Dass Körperkontrolle ein Ausdruck sozialer Kontrolle sei, hat Douglas unterstrichen: There can be no natural way of considering the body that does not involve at the same time a social dimension. (...) The relation of head to feet, of brain and sexual organs, of mouth and anus are 1. Der Körper als Lachanlass 80 <?page no="81"?> 232 Douglas, Mary: Natural Symbols. Explorations in Cosmology. New York 1996, S. 74. (Dt.: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschhaft und Stammeskultur. Frankfurt a. M. 1986). 233 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1982, S. 739. 234 Vgl. dazu Röcke u. Velten (Hg.), Lachgemeinschaften, S. Vff. commonly treated so that they express the relevant patterns of hierarchy. Consequently I now advance the hypothesis that bodily control is an expression of social control. 232 Douglas knüpft hier an die These Foucaults an, Körper würden durch die Gesellschaft und die soziale Ordnung gestaltet und reguliert. Gegen diese repräsentationale Sichtweise hat Pierre Bourdieu sein an Norbert Elias anschließendes performatives Habitus-Konzept ge‐ setzt. Die sozialen Verhältnisse schreiben zwar das Verhältnis des Menschen zum eigenen Leibe fest, doch kommt es nicht zu einer „Repräsentation“ sozialer Hierarchien, sondern der Habitus ergibt sich aus ganz bestimmten Weisen, seinen Körper zu halten und zu be‐ wegen, ihn vorzuzeigen, ihm Platz zu schaffen, kurz: ihm soziales Profil zu verleihen. Als notwendige Anpassungsleistung an die soziale Umwelt wird die gesellschaftliche Ordnung inkorporiert und erst durch den körperlich bestimmten Habitus erzeugt. 233 Als ein System inkorporierter Muster hat der Habitus einen besonderen Stellenwert für das Individuum: Er zeigt den anderen seine soziale Rolle und Zugehörigkeit nicht nur an, sondern er ver‐ körpert sie in dem Maße, als seine körperliche Erscheinung und ihre Handlungen diese Zugehörigkeit erst glaubhaft machen. Dieses Glaubhaft-Machen ist besonders wichtig in vormodernen Gesellschaften, in denen die soziale Position und Geltung des Individuums von seinem körperlichen Er‐ scheinen abhängen. Und das Glaubhaft-Machen der sozialen Zugehörigkeit durch den Ha‐ bitus ist hier vorrangig abhängig von den Techniken der Körperbeherrschung, die der Mensch im Laufe seines Lebens und seiner Erziehung innerhalb einer bestimmten Kultur erwirbt. Kann er diesen Anforderungen nicht folgen, kann er seinen Körper nicht nach habituellen Vorgaben und eigenen Zielen modellieren und deshalb, mit Bourdieu gespro‐ chen, kein „soziales Kapital“ erwerben, dann wird er keinen sozialen Erfolg haben bzw. soziales Ansehen einbüßen. Dies kann vor allem durch zwei Faktoren geschehen: erstens durch körperliche Behinderungen und ästhetische Mängel, und zweitens durch geltungs‐ schädigende Verhaltensweisen, die Verlachen, Verachtung, Missbilligung usw. zur Folge haben. Unter diesen Folgen ist das Verlachen die weitaus gefährlichste: Ein von einer Gruppe aufgrund des Verlusts der Körperbeherrschung Verlachter kann sich nur schwer davon erholen. 234 Das Lachen ist somit der größte situative Feind des körperlichen Habitus: Die Körperkontrolle dient im Prinzip dazu, Verlachen zu verhindern, und jeder Einzelne ist darum bemüht, den Eindruck, den er vor anderen aufgebaut hat, eine Identität im Körper‐ lichen zu sichern. Die sozialen und kulturellen Codes der Körperkontrolle zu brechen bzw. zu überschreiten muss demnach als prioritäre Aufgabe eines Possenreißers gelten; wie bedeutsam das En‐ semble von Körpertechniken für die soziale Position eines Menschen ist, so bedeutsam sind die Körpertechniken seiner Subversion. Der französische Soziologe und Durkheim-Schüler Marcel Mauss hatte in seinem Aufsatz über menschliche Körpertechniken (Les techniques 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 81 <?page no="82"?> 235 Mauss, Marcel: Die Techniken des Körpers. In: M. M.: Soziologie und Anthropologie 2. Frankfurt a. M. 1989, S. 191-222, hier S. 205. (Frz. Orig.: Les techniques du corps. Zuerst erschienen in: Journal de Psychologie Normale et Pathologique 32 (1935). Zum Unterschied heißt es dort: „Der Unterschied ist der, dass der Handelnde sie als eine Handlung mechanisch-physischer oder physisch-chemischer Ordnung wahrnimmt und sie zu diesem Zwecke durchführt“. 236 Mauss, Techniken des Körpers, S. 214. 237 Vgl. zu diesem Komplex die Studie von Wenzel, Horst: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 128-191. 238 So etwa in Tannhäusers Hofzucht aus dem 13. Jh. Vgl. dazu Elias, Norbert: Über den Prozess der Zi‐ vilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. (1936). 8. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, Bd. 1, S. 110 ff. du corps, 1935) Körperbewegungen und Bewegungsabläufe als der Erziehung geschuldete Nachahmungen gedeutet, die nicht zu den traditionellen Riten gehören, aber die die gleiche Funktion haben: „Ich bezeichne mit Technik eine traditionelle, wirksame Handlung (und Sie sehen, dass sich dies nicht von der magischen, religiösen, symbolischen Handlung un‐ terscheidet). Es ist notwendig, dass sie traditionell und wirksam ist.“ 235 Mauss differenziert bei diesen wiederholten und performativ wirksamen Handlungen, die zu einem sozial an‐ erkannten, körperlich bestimmten Habitus führen, zwischen zahlreichen unterschiedlichen Techniken des Körpers. Von diesen interessieren im Zusammenhang mit dem Lachen vor allem drei: (1) die Techniken der Aktivität, der Bewegung, (2) die Techniken des Verzehrs und (3) die Techniken der Körperpflege. Vor allem die ersten beiden Bereiche spielen sich öffentlich ab und können somit auch öffentlich nachgeahmt, parodiert und karikiert werden. Dazu gehört vor allem der „Habitus des aufrechten Körpers beim Gehen, Atmung, Schrittrhythmus, Hin- und Herbewegen der Fäuste, der Ellbogen, Vorbeugen des Oberkör‐ pers oder abwechselndes Vorschieben jeweils einer Körperseite“. 236 In fast gleich starkem Ausmaß auch das Sitzen, Stehen, Laufen, Tanzen, Springen, Klettern, Absteigen, Schwimmen, Stoßen, Ziehen, Heben, Werfen, Halten usw. Bei den Techniken des Verzehrs sind es vor allem das Essen, Trinken, der Gebrauch von Besteck, Serviette, Körper- und Handhaltung usw.; bei den Techniken der Körperpflege nennt Mauss das Waschen, Ein‐ seifen, Abreiben und weitere hygienische Techniken. Das Erlernen und Beherrschen dieser Techniken macht in vielen Gesellschaften einen großen Teil der kulturellen Erziehung aus; in den europäischen Kulturen des Spätmittelal‐ ters und der Frühen Neuzeit sind sie auf Grund ihrer semi-oralen Organisation und der Zentralität ihres an den Körper gebundenen Ehrbegriffs sicherlich noch wichtiger als in den heutigen postmodernen Kulturen. In körperlichen Verhaltensweisen wurde der soziale Rang eines Individuums zur Anschauung gebracht. Dem Adligen, der seine soziale Herkunft und Zugehörigkeit durch entsprechendes Auftreten und Erscheinen auszudrücken vermag, ist sein Adel förmlich in den Körper eingeschrieben: Texte zur Hofkritik, Adels- und Fürs‐ tenspiegel unterstrichen seit dem 12. Jahrhundert die grundlegende Bedeutung standesge‐ mäßer Bewegungs- und Verhaltensformen, um die dem gesellschaftlichen Rang zukom‐ mende Ehre zu erwirken. 237 Herrschaftsträger sollten sich eines gemessenen Ganges befleißigen und sich beim Gehen nicht umdrehen. In Gesprächen mit anderen sollten sie sich weder an den Ohren kneifen noch in schallendes, undiszipliniertes Gelächter ausbre‐ chen. Bei Tisch sollten sie den Körper ruhig halten und jegliche Körpergeräusche unter‐ drücken. 238 Die Grundlage höfischen Verhaltens war die Disziplin und Kontrolle des Kör‐ 1. Der Körper als Lachanlass 82 <?page no="83"?> 239 Lévi-Strauss, Claude, Das Rohe und das Gekochte, S. 109, S. 120-32. 240 Jurzik, Die zweideutige Lust am Lachen, S. 45. 241 Goffman hat ein ausgeprägtes Interesse an derartigen Störungen indiziert: „Es werden Streiche verübt und Gesellschaftsspiele gespielt, in denen nicht ernst zu nehmende peinliche Situationen absichtlich herbeigeführt werden. Es werden Phantastereien erdacht, in denen sich überwältigende Bloßstellungen abspielen. (...) Es scheint keine Gesellschaft zu geben, die nicht über einen Vorrat derartiger Spiele, Vorstellungen und warnender Erzählungen verfügt - als Quelle des Spaßes, Aus‐ druck der Befürchtungen und als Mittel, um jemanden zur Bescheidenheit in seinen Ansprüchen und zum Maßhalten in den von ihm projizierten Erwartungen zu veranlassen.“ Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (1959). München 1983, S. 17. pers, sein ethischer Zentralbegriff war die zuht. Dazu gehörten nicht nur die Kontrolle der Körperhaltung und der Körperbewegungen, sondern auch die Blickkontrolle, die Affekt- und die Sprachkontrolle. Antike, Mittelalter und Frühe Neuzeit kannten das pädagogische Programm der Kör‐ perdisziplinierung und legten - mit Unterschieden - viel Wert darauf. Die Kontrolle des Lachens spielt dabei eine wichtige Rolle, doch nicht nur in der westlichen Zivilisation: Lévi-Strauss verkürzt es auf den bemerkenswerten Satz: „Zivilisation beginnt dort, wo La‐ chen kontrolliert wird.“ 239 Jede Gesellschaft unterhält demnach Lachverbote, und ich werde auf die für die der Arbeit zugrunde liegende Fragestellung bedeutsamen in Kapitel 2 aus‐ führlich zu sprechen kommen. Hier bleibt noch zu erwähnen, dass auch die kindliche Phase des Erlernens der Körper‐ techniken als Selbstbeherrschung von Lachen begleitet ist: In kinderpsychologischen Un‐ tersuchungen konnte festgestellt werden, dass Lachen mit dem Erlernen der Körperbewe‐ gung und Körperbeherrschung einsetzt. Übertriebene Bewegungen (in die Luft werfen, im Kreis herumwirbeln) wie die Beobachtung fremder übertriebener und ungewohnter Be‐ wegung führen bei Kindern zum Lachen. Kinder, die gelernt haben, ihren Körper zu be‐ herrschen, lachen über andere, die das noch nicht können. „Als Reaktion auf den Drill der Körperbeherrschung lebt Komik von der Darstellung all jener Situationen, die sich der Beherrschung entziehen.“ 240 Die Freude am Scheitern der Körperkontrolle, an peinlichen Situationen, in denen der Körper aus der Rolle fällt, setzt sich im sozialen Leben der Gruppe fort. 241 Auch am be‐ wussten Angriff auf das Körperschema (wie bei der Parodie des Ganges), an inszenierten Späßen, den gespielten Prügeleien und Raufereien, obszönen Handlungen, Entblößungen und gespielten Behinderungen (Hephaistos), sowie bei allen anderen Techniken, bei denen der Körper außer Fassung gerät, wird gelacht. Übrigens ebenso im umgekehrten Falle, wenn der Körper besonders kontrolliert erscheint, sodass seine Haltung als gespielt supereroga‐ torisch erkannt wird; also auch ein Zuviel an Körperkontrolle löst Lachen aus. Das Spiel mit dem aus der Rolle fallenden Körper ist somit nicht nur ein Spiel mit den sozialen und kulturellen Codes und Regeln, die invertiert oder unterlaufen werden. Es ist vor allem ein Spiel mit den Formen der leiblichen Kommunikation, ein Wissen um das Auslösen von Gelächter, und es beruht auf der spielerischen, doch hochprofessionellen Nachahmung von Körpertechniken, die zugleich soziale Bedeutung und individuelle Referenz besitzen. 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 83 <?page no="84"?> Ansätze zu einer Theorie der Körperkomik Die folgenden neunzehn Paragraphen fassen das bislang Gesagte zusammen und machen den Versuch, einige theoretische Prämissen für das Feld körperlicher Lachanlässe aufzu‐ stellen. Sie formulieren gleichzeitig eine methodische Basis für die folgenden Kapitel, in welchen es um historische und mediale, vor allem textuelle Übermittlung von Körperkomik gehen wird. § 1 Lachen ist ein Phänomen körperlicher Eigenaktivität und als solches Teil einer Kom‐ munikationssituation. Es ist nicht vorrangig Ausdrucksphänomen anderer Gefühle, sondern ein schwer kontrollierbarer, mehrdeutiger leiblicher Vollzug. § 2 Während das Lachen zahlreiche Anlässe kennt, wird die Komik vom Lachen regiert und bestimmt. Lachen ist somit nicht nur die Antwort auf komische Anlässe, sondern auch deren Maßstab, ein sie als Spiel markierender Rahmen in einer historisch jeweils neu zu definierenden Kommunikationssituation. § 3 Wenn Komik und Lachen in einem Interaktionszusammenhang stehen, stellt sich das Komische als ‚sozialer Vorgang‘ dar, der mindestens einen Akteur und mindestens einen Zuschauer benötigt. Das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern os‐ zilliert zwischen Inszenierung und Emergenz und ‚bearbeitet‘ eine soziale Situation. Komische Vorgänge sind performative Prozesse: Sie entstehen aus dem Zusammen‐ spiel von intentionalen und attentionalen Elementen, sie tragen Geschehenscha‐ rakter, sie sind kontext-, situations- und aufführungsbezogen. § 4 Komik und Lachen sind in soziale Beziehungen eingebettet: man lacht gemeinsam, man lacht in Gemeinschaft. Diese affiliative Funktion weist auf geteilte kulturelle Hintergründe und ähnliche Erwartungshaltungen der Teilnehmer am komischen Vorgang hin. Darüber hinaus verweist sie auf historisch, kulturell und sozial unter‐ schiedliche Bestimmungen des Komischen. § 5 Komik ist ein relationaler Begriff: es gibt keine komischen Objekte oder Strukturen, sondern komische Relationen, deren Wirkung nur am lachenden Subjekt erfasst werden kann. Komik ist somit nicht essentiell zu definieren, sondern modal. § 6 Ich unterscheide zwischen komischem Vorgang und komischem Modus. Komische Vorgänge entwickeln und spielen sich immer im komischen Modus ab; sie sind nicht an sich komisch, sondern vollziehen sich innerhalb der komischen modalen Rah‐ mung, die wiederum vom Lachen bestimmt ist. Der komische Modus kann als Se‐ kundärrahmen begriffen werden, welcher Primärrahmen spielerisch - und häufig überraschend - verändert (‚modifiziert‘). Er wird über situative Vereinbarungen (Wiederholungen, mimetische Nachahmungen, Normabweichungen) hergestellt, schafft eine Eigenwelt und setzt Emotionen vorläufig außer Kraft - daher auch seine Enthebbarkeit. § 7 Komische Vorgänge können daher nicht ausreichend erklärt werden, wenn man nur ihre symbolischen Zeichenbedeutungen betrachtet. Sie müssen vielmehr innerhalb des komischen Modus als eines performativen Prozesses analysiert werden, in wel‐ chen sie eingebettet sind. Lachen und andere metakommunikative Signale können als Marker des komischen Modus gewertet werden. 1. Der Körper als Lachanlass 84 <?page no="85"?> 242 Ich spreche hier von Transgressionen des Körpers. Bergson hatte sie noch unter dem Abnormen gefasst und formuliert: „Jede Abnormität kann komisch werden, die von einem Menschen mit nor‐ malen Gliedern allenfalls nachgeahmt werden könnte.“ Bergson, Das Lachen, S. 18. § 8 Der menschliche Körper ist zentrales Bezugsfeld und Agens komischer Vorgänge. Komische Vorgänge sind somit als ‚verkörperte‘ Vorgänge zu betrachten, d. h. sie haben gleichzeitig repräsentationalen und selbstreferentiellen Charakter. Daraus er‐ gibt sich, dass der Körper im komischen Vorgang sowohl semiotische als auch per‐ formative Qualitäten aufweist. § 9 Unter ‚Körper‘ verstehe ich den situativ wahrgenommenen, präsenten Körper des Anderen. Er geht im Prozess der Wahrnehmung komischer Vorgänge mit dem Ei‐ genleib (dem spürbaren Leib des Selbst) eine enge Verbindung ein, die zu einem interkorporellen Zwischen, einem ‚Leibkörper‘ als Umschlagstelle zwischen Selbst und Anderem führt. Dieser Leibkörper ist die Voraussetzung für die ‚Einleibung‘ des anderen Körpers, die mittels gesteigerter Aufmerksamkeit als Widerfahrnis erlebt wird. Sie hat Distanzlosigkeit und Unverfügbarkeit des Leibkörpers zur Folge. Die Einleibung wiederum ist entscheidendes Merkmal für die Erfahrung des Komischen, indem der Körper des anderen über seine komischen Abweichungen den Eigenleib ‚infiziert‘ und es zu einer Reaktion der ‚Auswerfung‘ im Lachen kommt. § 10 Komische Vorgänge als Lachanlässe sind weniger als kognitive Stimuli anzusehen, die Lachen auslösen, sondern als körperliche Apperzeptionen. Das Lachen über Kör‐ perliches ist nicht ausreichend mit dem Stimulus-Response-Schema zu fassen, son‐ dern muss als leibliche Kommunikation, als apperzeptive Aufnahme des anderen Körpers in den eigenen verstanden werden. Voraussetzung dafür ist die Annahme, dass der lachende Körper ein ‚Leibkörper‘ ist, der als Umschlagstelle zwischen dem Selbst und dem Anderen fungiert. § 11 Komischer Vorgang und Lachen gehören demnach in einen Zusammenhang der Wi‐ derfahrnis und Einleibung. Auf dieser Ebene der Übertragung körperlicher Komik im Erleben ergibt sich noch kein Sinn, sondern allein ein Nach- und Mitvollzug ko‐ mischer Bewegung. Da dieser Moment des Mitvollzugs das eigene leibliche Selbst‐ verhältnis in Frage stellt, und es zur kognitiven Erkenntnis des komischen Vorgangs kommt, lacht der Körper als Akt der Distanzierung vom körperlichen Nachvollzug. § 12 Dieser Akt der Distanzierung macht noch einmal die Bedeutung der Wahrnehmung komischer Vorgänge und ihren Performance- und Spielcharakter deutlich. Damit kommt sie der ästhetischen Wahrnehmung nahe, die ebenfalls als ein Distanzie‐ rungsprozess beschrieben werden kann, ohne mit dieser jedoch identisch zu sein. § 13 Komische Rede ist als Sprechhandlung ursächlich an den Körper, seine Zeigegesten und seine Vokalität gebunden, sie erscheint als körperlich eingebettet. Sprachliche Äußerungen im komischen Modus sind somit nicht allein semantisch zu analysieren, sondern auch in ihrer materiellen und performativen Erscheinung. § 14 Es ist daher unzutreffend, dass in komischen Vorgängen Körper und Sprache die Unangemessenheit einer Situation (Normkonflikt, Normtransgression) repräsen‐ tierten, sondern sie erzeugen sie allererst, indem Normverletzungen und -transgres‐ sionen durch Akte der Verkörperung aufgeführt werden. 242 1.3. Körper - Leib - Verkörperung: methodische Zugänge zum Körper 85 <?page no="86"?> 243 Zu den Einzelheiten dieser Übermittlung vgl. Kap. 6. § 15 Körperliche Unangemessenheit kann in der doppelten Struktur körperlichen Zeigens gefasst werden: einerseits als ‚Zeigen-als‘ und andererseits als ein nicht-gerichtetes ‚Sich-Zeigen‘. Die Bedeutung des Zeigens ist daher als verkörperte aufzufassen. § 16 Die Wahrnehmung einer körperlichen Unangemessenheit, eines (tatsächlichen oder gespielten) Kontrollverlustes beim Anderen kann als der wichtigste körperliche Lachanlass bezeichnet werden. Komische Vorgänge des Kontrollverlustes beziehen sich jeweils auf Transformationen kultureller Codierungen der Körperhaltung, der Körperbewegung, der Gestik und Mimik, der Stimme und des Blickes, der Hexis, der Kleidung und Haartracht, des gesamten körperlichen Habitus. § 17 Lächerlicher und komischer Körper unterscheiden sich nicht in ihrer Zugehörigkeit zur lebensweltlichen und ästhetischen Sphäre. Ist der komische Körper der absichts‐ voll komisch inszenierte Körper (etwa eines Clowns oder Possenreißers), so verstehe ich unter einem lächerlichen Körper den unfreiwillig lächerlich gemachten Körper des anderen. Beide, komischer und lächerlicher Körper, haben semiotische und per‐ formative Anteile. Sie wirken zunächst über ihre Phänomenalität und ihre Präsenz, können aber dennoch zum Zeichen oder Zeichenträger werden. § 18 Ein professioneller Spaßmacher verfügt demnach über Techniken, mit Hilfe derer die verschiedenen Formen des Kontrollverlustes inszeniert werden können. Be‐ wusste Angriffe auf das Körperschema, wie etwa die Nachahmung eines bestimmten Ganges, aber auch ein Zuviel oder Zuwenig an Bewegung, an Gestik und Mimik, körperlichen Expressiva, das reine Zeigen von Nacktheit, Verkleidung, Maskerade oder der Vorgang der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung können somit Ge‐ lächter auslösen, ohne dass es noch zu einer Decodierung der Zeichenbedeutung gekommen wäre. § 19 Während in theatralen Aufführungen Possenreißer und andere Lachfiguren über die Präsenz ihres phänomenalen Körpers als einer nicht allein expressiven, sondern per‐ formativen Qualität wirken, werden in schriftlich überlieferten Texten Präsenz und Performativität eines komischen Vorgangs in Form von sprachlichen Zeichen über‐ mittelt. Sie gehen dabei nicht verloren, sondern werden medial verändert und im Akt der Rezeption imaginativ reproduziert. 243 1. Der Körper als Lachanlass 86 <?page no="87"?> 1 „Parce qu’il constitue l’une des grandes lacunes de l’histoire, un grand oubli de l’historien. L’histoire traditionnelle était en effet désincarnée. Elle s’intéressait à des hommes et, accessoirement, à des femmes. Mais presque toujours sans corps. Comme si la vie de celui-ci se situait en dehors du temps et de l’espace, recluse dans l’immobilité présumée de l’espèce“. Le Goff, Jacques u. Truong, Nicolas: Une Histoire du Corps au Moyen Âge. Paris 2003, S. 5. 2 Schmitt, Jean-Claude: Le corps, les rites, les rêves, le temps. Essais d’anthropologie médiévale. Paris 2001, S. 351. 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit: historische und kulturelle Differenzierungen Jacques Le Goff und Nicolas Truong sprechen in ihrer 2003 erschienenen Histoire du Corps au Moyen Âge davon, dass der Körper eine der großen Auslassungen der Geschichte sei, ein „vergessenes“ Thema der Geschichtsschreibung. Sie formulieren dies vor dem Hinter‐ grund einer über 300jährigen Historiographie, in welcher der menschliche Körper weitge‐ hend unsichtbar geblieben war. Erst seit den 1970er Jahren ist er zunächst punktuell, dann ab der Mitte der 1980er Jahre im Zuge des anthropologischen Wandels in den historischen Wissenschaften stärker in den Blick getreten, um in disziplinären und interdisziplinären Perspektiven Bilder und Repräsentationen von ihm stärker als nur in Umrissen herauszu‐ arbeiten. 1 Dass auch vorher in den historischen Wissenschaften eine Vorstellung darüber, welche Diskurse und Praktiken vom Körper im Mittelalter vorherrschten, existierte, soll nicht in Abrede gestellt werden. Dies war allerdings eine Vorstellung, die in hohem Maß von the‐ ologischen Auffassungen und Klassifikationsversuchen bestimmt wurde, auch wenn diese selbst hochgradig ambivalent waren. Denn auf der einen Seite - in der asketischen und moraltheologischen Tradition - war der Körper ein Gefängnis der Seele, der herausgeho‐ bene Ort für die Sünde, insbesondere die fleischliche Sünde, der Ort der Erbsünde, und somit bevorzugtes Angriffsziel des Teufels. Daher war es aus christlicher Sicht geboten, dem Körper zu misstrauen, wenn nicht ihn zu verachten, und ihn auf Grund seiner Expo‐ niertheit dem Bösen gegenüber durch Buße, Meditation und Erniedrigung zu disziplinieren. Der Körper spielt daher auch im christlichen Schöpfungsmythos eine mindere Rolle als die Seele des Menschen, den Gott „nach seinem Abbild“ geschaffen hat (Gen. I, 26). Andererseits erwarb der Körper im Christentum eine Würde, die er vordem nie besessen hatte: Diesen sündhaften, vergänglichen menschlichen Körper hatte nämlich der Gottes‐ sohn selbst angenommen, um die Menschheit zu erlösen. Der Körper begleitet den Men‐ schen ins Jenseits, er ist Ort seiner Qualen in der Hölle und seiner glanzvollen Wiederau‐ ferstehung nach dem jüngsten Gericht, wenn die bislang getrennte Seele sich mit ihm wiedervereint: „Au XII e siècle, le corps humain semble devenir la mesure idéale de toutes choses, quand l’image du microcosme organise la représentation du macrocosme tout en‐ tier“. 2 Der Befund Jean-Claude Schmitts macht deutlich, dass das lange vorherrschende Bild des Körpers als Seelengefängnis im Mittelalter schon für das theologische Schrifttum als einseitig, ja monolithisch angesehen werden muss. Er macht weiterhin deutlich, dass der <?page no="88"?> 3 In Deutschland wurde man sich dessen erst zu Beginn der 1980er Jahre mit dem von Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgegebenen Band Die Wiederkehr des Körpers. Berlin 1982 bewusst, welcher auch an die Körperstudien amerikanischer Historiker (Walker-Bynum) anschließt. 4 Interdisziplinäre Sammelbände sind: Le Corps et ses énigmes au Moyen Âge. Actes du Colloque Orléans 15-16 mai 1992, sous la direction de Bernard Ribémont. Caen 1993; Grantley, Darryl u. Taunton, Nina (Hg.): The body in late medieval and early modern culture. Ashgate 2000; Vigarello, Georges (Hg.): Histoire du corps. Vol. I: De la Renaissance aux Lumières. Paris 2005; Robb, John u. Harris, Oliver J. T. (Hg.): The body in history: Europe from the Paleolithic to the future. Cambridge 2013. Einen repräsen‐ tativen Ausschnitt zur deutschen Literatur des Mittelalters bieten Ridder, Klaus u. Langer, Otto (Hg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld 18.-20. März 1999. Berlin 2002; Kellermann, Karina (Hg.): Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Sonderbd. der Zs. Das Mittelalter. Perspektiven medi‐ ävistischer Forschung 8 (2003); Antunes, Gabriela, Reich, Björn u. Stange, Carmen (Hg.): (De)formierte Körper: die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Göttingen 2012. 5 Vgl. Benthien / Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft, S. 13 ff. menschliche Körper zwar erst mit der Renaissance zum Fluchtpunkt der Weltauffassung wurde, dass diese Bedeutung jedoch keineswegs gegen mittelalterliche Vorstellungen ein‐ trat, sondern dass sie spätestens seit dem 12. Jahrhundert vorbereitet worden war. Im Christentum selbst waren seitdem verschiedene Diskurse und Auffassungen vom Körper entstanden, wie etwa in der Mystik und der Visionsliteratur, aber auch in Hagiographie und Bußbüchern, die den Körper als vieldeutiges und für diese Bereiche elementares Phä‐ nomen erscheinen lassen. Dazu kommt, dass der theologische Diskurs nur einen Ausschnitt aus der Gegenwart und Gesamtheit des Mittelalters darstellt, sozusagen den der Wissens‐ kultur. Daneben haben etwa höfische oder urbane, bäuerliche und magische, technische und künstlerische Auffassungen vom Körper ebenso existiert, und sie sind deshalb zu Recht von der Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten in den Blick genommen worden. Nicht nur begrifflich, sondern auch thematisch wurde die Körperrenaissance von Michel Foucault eingeleitet: In den 1960er Jahren entstanden die wegweisenden Arbeiten zur Re‐ lation von Körper und Macht, Körper und Sexualität, Körper und Wahnsinn; anthropolo‐ gische Themen, in denen der Körper als Gegenstand der Reflexion wieder eine Rolle spielt. 3 Neben Foucault war es vor allem die feministische Literaturwissenschaft, die den Blick sehr früh auf den (weiblichen) Körper richtete, sodass nicht nur das Feld der Gender-Studies, sondern auch der Körpergeschichte von ihr mit-inauguriert wurde. Heute kann man mit Recht sagen, dass das Diktum Le Goffs und Truongs nicht mehr zutrifft. In der letzten Dekade ist der menschliche Körper in einem Ausmaß in den Blick‐ punkt verschiedenster disziplinärer und interdisziplinärer Forschungsgebiete und -themen gerückt, dass sich das breite Feld der Körperstudien kaum mehr überblicken lässt. 4 Nicht nur hat sich gezeigt, dass dem Körper innerhalb der kulturwissenschaftlich sich neu ori‐ entierenden Philologien eine zentrale Rolle zukommt, 5 denn er liegt im Schnittpunkt in‐ terdisziplinärer Fragestellungen. Auch ist ein starkes Interesse am Körper in Disziplinen zu erkennen, die außerhalb der Geisteswissenschaften liegen, mit ihnen jedoch Schnittmengen teilen: Ich spreche vom neuen Forschungsfeld des embodiment/ Verkörperung in den Neu‐ 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 88 <?page no="89"?> 6 Vgl. dazu z. B. Gibbs, Raymond W: Embodiment and cognitive science. New York 2006; Koch, Sabine C.: Embodiment: der Einfluss von Eigenbewegung auf Affekt, Einstellung und Kognition. Empirische Grundlagen und klinische Anwendungen. Berlin 2011; Alloa, E., Bedorf, T. u. a.: Leiblichkeit: Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Tübingen 2012; Blum, André u. a. (Hg.): Verkörperungen. Berlin / Boston 2012; Fingerhut, Joerg u. a. (Hg.): Philosophie der Verkörperung: Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Berlin 2013. 7 Diese Kategorien haben überblickende Funktion, sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit; selbstverständlich gibt es an mehreren Stellen Überschneidungen und Mehrfachzugehörigkeiten. Zur angegebenen Literatur: Es ist unmöglich, die gesamte Forschung zum Körper hier zusammenzu‐ fassen; deshalb wird hier nur eine repräsentative Auswahl gegeben. 8 Zu Gesten allg. im Mittelalter vgl. das Standardwerk von Schmitt, Jean-Claude: Die Logik der Ge‐ sten. Stuttgart 1992; zur Untersuchung von Gesten im Mittelalter aus semiotischer Perspektive Ha‐ ferland, Harald u. Müller, Harald: Gefesselte Hände. Zur Semiose performativer Gesten. In: Mitt. des dt. Germanistenverbandes 3 (1997), S. 29-53, sowie Burrow, John A.: Gestures and Looks in Medieval Narrative, (= Cambridge Studies in Medieval Literature 48). Cambridge 2002; zu verschiedenen As‐ pekten der Gestik vgl. Egidi, Margreth u. a. (Hg.): Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Tübingen 2000; zur Stimme vor allem die Arbeiten von Paul Zumthor, wie Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Aus dem Frz. von Klaus Thieme. München 1994 (Frz. Orig.: La poésie et la voix dans la civilisation médiévale. Paris 1984) u. Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme. Mün‐ chen 1998; Krüger, Reinhard (Hg.): Drei Untersuchungen zur Körpersprache im französischen Mittel‐ alter. Berlin 2003; Schnyder, Mireille: Gefangene Stimmen - geordnete Körper: die Stimme in Texten des Mittelalters; eine Skizze. In: Balladen-Stimmen: Vokalität als theoretisches und historisches Phä‐ nomen in der skandinavischen Balladentradition. Hg. von Jürg Glauser (= Beiträge zur Nordischen Philologie, 40). Tübingen / Basel 2012, S. 21-39. rowissenschaften, der Psychologie und der Linguistik, der Philosophie und der Theory of Mind. 6 Besonders die volkssprachigen Kulturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind durch ihren Umbruchcharakter zwischen einem vornehmlich körper- und aufführungszentrierten skriptographischen System und einem vornehmlich textzentrierten typographischen System eine Nahtstelle für die Untersuchung historischer Dynamiken des Körperverständ‐ nisses und den sprachlichen Wandel von Körpermetaphern. Im Zuge der wachsenden An‐ erkennung anthropologischer und performativer Perspektiven erkennt inzwischen auch die Mediävistik zunehmend das Potential eines Gegenstandes, des Körpers, dessen Relevanz sich nicht allein auf Themen der historischen Anthropologie (wie Geburt und Tod, Ge‐ schlecht, Sexualität und Liebe, Ernährung, Krankheit und Alter, Kindheit und Erziehung usw.) beschränken lässt, sondern sich auch auf Probleme des medialen Umbruchs und des Kommunikationswandels, auf Fragen nach Formen und Funktionen von Ritualen und Auf‐ führungen sowie gesellschaftlichen Spielregeln richtet. Ich möchte im Folgenden skizzenhaft zwölf Ordnungskategorien nennen, unter die sich die gegenwärtige Forschung zum Körper in Mittelalter und Früher Neuzeit subsumieren lässt: 7 1. Der Körper als Kommunikationsträger: Dazu gehören Arbeiten zu Gestik, Mimik, Stimme und Körpersprache, zu Boten und Botschaften. 8 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 89 <?page no="90"?> 9 Sehr früh zum Verhältnis Körper und Schrift Gumbrecht, Hans Ulrich: Beginn von Literatur / Ab‐ schied vom Körper? In: Der Ursprung von Literatur. Medien, Rollen, Kommunikationssituationen 1450-1650. Hg. von Gisela Schmolka-Koerdt. München 1988, S. 15-50; in der Mediävistik zahlr. Bei‐ träge, z. B. Haferland, Harald: Die Peinigung des Körpers und seine „Schrift“: zur Dynamik von Hei‐ ligkeit in der deutschen Mystik. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), H. 2, S. 166-200; allg. auch Krause, Günter (Hg.): Literalität und Körperlichkeit = Littéralité et corporalité. Tübingen 1997; zu sozialen und religiösen Symbolisierungen des Körpers Schreiner, Klaus u. Schnitzler, Norbert (Hg.): Gepeinigt, begehrt, vergessen: Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1992; Kay, Sarah u. Rubin, Miri (Hg.): Framing medieval bodies. Manchester / New York 1994. 10 Vgl. die Beiträge zu Körperzeichen wie Narben und Kleidung Moos, Peter von (Hg.): Unverwechsel‐ barkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Köln u. a. 2004; Hahn, Alois: Konstruktion des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt 2000; Crane, Susan: The Performance of Self. Ritual, Clothing, and Identity During the Hundred Years War. Philadelphia 2002; Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider: höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006; zur Heraldik Wandhoff, Haiko: Das Wappen der Liebe. Heraldische Körperzeichen und Zeichenkörper in mittelalterlicher Literatur. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen‐ schaft und Geistesgeschichte 83 (2009), H. 1, S. 70-87. Die Emotionenforschung ist inzwischen selbst zu einem breiten Forschungsfeld geworden. Vgl. Bumke, Joachim: Emotion und Körperzeichen. Be‐ obachtungen zum ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach. Das Mittelalter 8 (2003) H. 1., S. 13-32; Jaeger, Stephen u. Kasten, Ingrid (Hg.): Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Berlin / New York 2003; Koch, Elke: Trauer und Identität: Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin / New York 2006; kritisch dazu u. zu Eming, Jutta: Emotion und Expression. Berlin 2006, die Rezension von Rüdiger Schnell in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 140 (2011), H. 2, S. 227-243; Eming, Jutta: Emotionen im ‚Tristan‘. Untersuchungen zu ihrer Paradig‐ matik. Göttingen 2015. 11 Einen umfangreichen Überblick gibt: Klinger, Judith: Gender-Theorien. Ältere deutsche Literatur. In: Benthien / Velten (Hg.), Germanistik als Kulturwissenschaft, S. 267-297. Wichtige Arbeiten sind etwa Bynum, Carolyn Walker: Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion. New York 1991; Bennewitz, Ingrid u. Tervooren, Helmut (Hg.): Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1999; Bennewitz, Ingrid u. Kasten, Ingrid (Hg.): Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Lacqueur. Hamburg 2001; Peters, Ursula: Gender trouble in der mittelalterlichen Literatur? Mediävistische Genderforschung und Crossdressing-Ge‐ schichten. In: dies.: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Tübingen 2004, S. 281-299; Schultz, James: Courtly love, the love of courtliness, and the history of sexuality. Chicago 2006; Mos‐ hövel, Andrea: wîplîch man: Formen und Funktionen von „Effemination“ in deutschsprachigen Erzähl‐ texten des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2009; Dinges, Martin (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 1998; Bachorski, Hans-Jürgen: Das aggressive Geschlecht. Verlachte Männlichkeit in Mären aus dem 15. Jahrhundert. Zeitschrift für Germanistik N. F. 8 (1998), S. 263-281. 2. Der Körper als Medium und Einschreibefläche symbolischer Repräsentation: Stu‐ dien zum Körper als Symbol, Körper und Schrift, Körpereinschreibungen und Mark‐ ierungen (Tätowierungen, Narben, Verstümmelungen, gemarterte Körper usw.). 9 3. Der Körper als Medium und Träger gesellschaftlich geprägter Codes: Bekleidung und äußere Attribute (Tragezeichen, Heraldik), Nacktheit und Entblößung, vor allem aber auch „verkörperte“ Emotionen. 10 4. Der geschlechtlich codierte Körper in verschiedenen Wirklichkeitsbereichen: Ar‐ beiten zum Körper in der Frauenmystik, zur Sexualität, zur Konstruktion des Frau‐ enkörpers, seiner Erotik und objektivierendem Begehren, zu Geschlechtsteilen, sowie Männlichkeitsstudien. 11 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 90 <?page no="91"?> 12 Auch hier sind Arbeiten der amerikanischen Mediävistin Carolyn Walker Bynum zu nennen, die sich als eine der ersten mit dem Körper beschäftigt hat: Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages. Berkeley 1982 und Holy Feast and Holy Fast. Berkeley 1987; im dt.sprachigen Raum vgl. Keller, Hildegard E.: Wort und Fleisch. Körperallegorien, mystische Spiritualität und Dichtung des St. Trudperter Hoheliedes im Horizont der Inkarnation. Bern 1993; Ruhrberg, Christine: Der literarische Körper der Heiligen. Leben und Viten der Christina von Stommeln. Tübingen / Basel 1995; Kasten, Ingrid: Körperlichkeit und Performanz in der Frauenmystik. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7 (1998), S. 95-111. 13 Vgl. dazu Bumke, Joachim: Höfische Körper - Höfische Kultur. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 67-102; Czerwinski, Peter: Kampf als ‚Materiale Kommunikation‘. Zur Logik edler Körper im Mittelalter. Mediävistik 9 (1996), S. 39-76. 14 Früh zu diesem Thema bereits Schreiner, Klaus u. Schnitzler, Norbert (Hg.): Gepeinigt, begehrt, ver‐ gessen. München 1992; ferner Kiening, Christian: Der Autor als Leibeigener der Dame - oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Hg. von Elizabeth Andersen u. a. Tübingen 1998, S. 211-238; Groebner, Valentin: Ungestalten: die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter. München 2003; Röcke, Werner: Gewaltmarkierungen. Formen persönlicher Identifikation durch Gewalt im komischen und An‐ tiken-Roman des Mittelalters. In: Unverwechselbarkeit. Hg. von Peter von Moos. Köln / Weimar / Wien 2004, S. 147-161 u. Die Gewalt des Narren. Rituale von Gewalt und Gewaltvermeidungen in der Narrenkultur des späten Mittelalters. In: Die Kultur des Rituals - Inszenierungen. Praktiken. Sym‐ bole. Hg. von Christoph Wulf u. Jörg Zirfas. München 2004, S. 110-128. 15 Zum Körper in der politischen Geschichte sind schon sehr frühe historische Klassiker entstanden: etwa Kantorowicz, Ernst: Die zwei Körper des Königs, oder Bloch, Marc: Die wundertätigen Könige; vgl. auch etwa Althoff, Gerd: Der König weint. Rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation. In: Aufführung und Schrift. Hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1996, S. 239-252; Mourey, Marie-Thérèse: Körperbilder und habitus corporis: nationale und soziale Stereotype in der frühen Neuzeit. In: Früh‐ neuzeitliche Stereotype: zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. Hg. von Czar‐ necka, Mirosława. Bern u. a. 2010, S. 243-257. 16 Vgl. etwa Fritsch-Rösler, Waltraud: Pathos und Sympathie. Zur Erfahrung und Überwindung von Fremdheit in Gottfrieds Tristan. In: Fremdkörper - Fremde Körper - Körperfremde. Hg. von Kerstin Gernig u. Burckhardt Krause. S. 167-205; Scholz Williams, Gerhild: Cross-dressing and magic. Dia‐ lects of the body in late medieval and early modern narratives (Silence, Mélusine). In: Körper - Kultur - Kommunikation. Hg. von Alexander Schwarz. Bern u. a. 2014, S. 221-230. 5. Der Körper als religiöses Medium: Marienkörper, Jesuskörper, Körper der Heiligen, mystischer und Seelenkörper, Realpräsenz des Körpers. 12 6. Der ästhetisch codierte Körper in der höfischen Kultur: Schönheit, Kraft, höfische Idealität des Körpers. 13 7. Der Körper als Objekt und Subjekt von Gewalt und Gewaltinszenierungen: Stigma‐ tisierungen des Körpers durch soziale Ausgrenzung, körperliche Strafen (Marter, Folter, Schandbilder), Studien zu Schmerz und Scham. 14 8. Der Körper als Symbol und Metapher für kollektive bzw. gesellschaftliche Organi‐ sationsformen; politische Körperlichkeit. 15 9. Der fremde bzw. andere Körper: Körperdifferenz, Wahrnehmung des fremden Kör‐ pers aus europäischer Sicht, zum kolonisierten Körper im 16. Jh. 16 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 91 <?page no="92"?> 17 Alt, Peter-André: Der fragile Leib: Körperbilder in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Stuttgart 1996; Stukenbrock, Karin: Der zerstückte Cörper: zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit. Stuttgart 2001; Zwierlein, Anne-Julia u. Heid, Iris M. (Hg.): Gender and disease in literary and medical cultures. Heidelberg 2014; Grafetstätter, Andrea (Hg.): Nahrung, Notdurft und Obszönität in Mittelalter und Früher Neuzeit: Akten der Tagung Bamberg 2011. Bamberg 2014. 18 Kröll, Katrin: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg 1997; Camille, Michael: Image on the Edge. Chicago 2000. 19 Hier waren neben Hugo Kuhns frühem Aufsatz Minnesang als Aufführungsform. In: ders.: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 182-190, vor allem die Arbeiten Paul Zumthors innovativ: Essai de poétique médiévale. Paris 1972; Körper und Performanz. In: Materialität der Kommunikation. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988. S. 703-713; in Deutschland vor allem Müller, Jan-Dirk (Hg.): „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Sym‐ posion 1994. Stuttgart 1996, darin etwa: Haug, Walter: Die Verwandlung des Körpers zwischen ‚Auf‐ führung‘ und ‚Schrift‘, S. 190-204 u. Brüggen, Elke: Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs ‚Parzival‘, S. 205-221; zur Performanz der Hohen Minne vgl. Haferland, Harald: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone. Berlin 2000. Einen Überblick über das neue Forschungsfeld der Performativität gibt: Velten, Hans Rudolf: Performativität. Ältere deutsche Literatur. In: Benthien / Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissen‐ schaft, S. 217-241; zur Performanz des Rituals vgl. Müller, Jan-Dirk: Kulturwissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter. In: Lesbarkeit der Kultur. Literaturwis‐ senschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. Hg. von Gerhard Neumann u. Sigrid Weigel. München 2000, S. 53-77; zum performative turn in der Geschichtswissenschaft vgl. Martschukat, Jürgen u. Patzold, Steffen (Hg.): Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln u. a. 2003; zu Ritualen in der politischen Geschichte Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Sym‐ bolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2003; zu Ritualen in der Literatur Dörrich, Corinna: Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur. Darm‐ stadt 2002; Quast, Bruno: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 2005; Grafetstätter, Andrea: Ludus compleatur. Theatralisierungsstrategien epischer Stoffe im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Spiel (= Imagines Medii Aevi, 33). Wiesbaden 2013. 10. Der vitale, kranke und tote Körper: medizinisch-anatomische Körperauffassungen (Anatomie und Sektion, öffentliche Präsentation von Skelett und Leiche, Körper als Material), Ernährung und Diätetik, Heilung und Medikalisierung des Körpers. 17 11. Der Körper in der Kunst: ikonographische Inszenierung von Körperlichkeit, der Körper in Text-Bild-Relationen. 18 12. Der Körper in Ritual und Aufführung: rituelle Präsenz und Repräsentation (Liturgie, Prozessionen, kirchliche Feste), Theatralität der Körper; performative Körperlich‐ keit. 19 Es ist auffallend, dass in diesen zwölf Kategorien der lächerliche Körper, der Körper, über den man lacht, sei er missgestaltet, Furcht erregend, bäurisch-täppisch oder närrisch, kaum präsent ist. Es scheint, als sei die Geschichte der Inszenierungen des Körpers in der Vor‐ moderne bislang weitgehend ohne das Lachen geschrieben worden. Tatsächlich gibt es zu diesem Thema nur wenige Studien. Die wichtigste von ihnen ist sicherlich Michail Bachtins Rabelais-Buch, in welchem der ‚groteske Körper‘ zur zentralen Chiffre für eine ganze Epoche und eine gesamte Theorie wird; ich gehe weiter unten ausführlich darauf ein. Frei‐ lich sind auch in der Nachfolge Bachtins zahlreiche literaturwissenschaftliche und histori‐ sche Studien vor allem zur europäischen Karnevalskultur entstanden, doch haben sie trotz der gängigen Verwendung der Metapher vom ‚grotesken Körper‘ meist nicht den Körper 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 92 <?page no="93"?> 20 Arbeiten zur Fastnachts- und Lachkultur sind beispielsweise Heers, Jacques: Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter. Frankfurt a. M. 1986; Schindler, Norbert: Karneval, Kirche und die verkehrte Welt. Zur Funktion der Lachkultur im 16. Jahrhundert. Jahrbuch für Volkskunde. NF 17 (1985), S. 9-57; eine wegweisende Ausnahme ist die Studie von Teuber, Bern‐ hard: Sprache - Körper - Traum. Zur karnevalesken Tradition in der romanischen Literatur aus der frühen Neuzeit. Tübingen 1989. 21 Hier ist etwa die überzogene Kritik Mosers und deren Korrektur durch Gurjewitsch zu nennen: Moser, Dietz-Rüdiger: Lachkultur des Mittelalters? Michael (sic! ) Bachtin und die Folgen seiner The‐ orie. Euphorion 80 (1990), S. 89-104. 22 Eine der wenigen Ausnahmen sei hier genannt: Müller, Jan-Dirk: Strukturen gegenhöfischer Welt. Höfisches und Nicht-höfisches Sprechen bei Neidhart. In: Höfische Literatur - Hofgesellschaft - Hö‐ fische Lebensformen. Hg. von Gert Kaiser. Düsseldorf 1986, S. 409-451, v. a. S. 441 ff. 23 Übergreifende Sammelbände der letzten Jahre sind etwa Fietz, Lothar, Fichte, Joerg O. u. Ludwig, Hans-Werner (Hg.): Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens; Bremmer, Jan u. Roodenburg, Herman (Hg.): Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute. Darmstadt 1999; Röcke, Werner u. Neumann, Helga (Hg.): Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Paderborn 1999; Braet, Herman, Latré, Guido und Verbeke, Werner (Hg.): Risus Mediaevalis. Laughter in Medieval Literature and Art. Leuven 2003; Gvozdeva, Katja u. Röcke, Werner (Hg.): risus sacer - sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Berlin 2009; Grebe, Anja u. Staubach, Nikolaus (Hg.): Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. u. a. 2005; Classen, Albrecht (Hg.): Laughter in the Middle Ages and Early Modern times: epistemology of a fundamental human behavior, its meaning, and consequences. Berlin u. a. 2010; Biessenecker, Stefan u. Kuhn, Christian (Hg.): Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250-1750). Bamberg 2012. 24 Ein Einzelfall ist die Diskussion zur Semiotik des Lachens im Mittelalter in Fietz et al. (Hg.): Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens, in der es allerdings um die grundsätzliche Frage geht, ob Lachen als anthropologische Universalie oder als historisch determiniertes Phänomen behandelt werden solle. 25 Erste Ansätze dazu leisten die Studie Seebers zum Lachen im Höfischen Roman und das Buch Coxons zum Lachen in Schwankmären. Vgl. Seeber, Stefan: Poetik des Lachens. Untersuchungen zum mittel‐ hochdeutschen Roman um 1200 (= MTU 140). Berlin / New York 2010; Coxon, Sebastian: Laughter and Narrative in the Later Middle Ages. German Comic Tales 1350-1525. Oxford 2008. zum Hauptthema. 20 Auch zahlreiche Arbeiten zum Lachen und zur Komik in der Vormo‐ derne setzen sich mit Bachtins Thesen auseinander, aber hier spielen die Probleme der Volkskultur, der Ritualität, wie auch die vitalistischen Thesen des festtäglichen Lachens eine wichtigere Rolle als der Körper selbst. 21 Bei den Arbeiten außerhalb der Bachtin-Re‐ zeption dominieren entweder die Thematik des Komischen oder die des Körpers, selten werden ihre Konvergenzen behandelt. 22 Wir haben es beim lächerlichen Körper quasi mit einer doppelten Leerstelle zu tun: kaum sichtbar in den Körperstudien, und nur in Umrissen in den Studien zum Lachen erkennbar. Letztere sind in den vergangenen Jahren für Mittelalter und Frühe Neuzeit nicht in dem Maße wie Körperstudien, aber doch beträchtlich angewachsen. Zum gegenwärtigen Zeit‐ punkt erweist sich der Forschungsstand zum Lachen in der Vormoderne als methodisch uneinheitlich: Zwar werden immer wieder interdisziplinäre Sammelbände veröffentlicht, 23 doch vereinen sie meist heterogene Studien zu Einzelphänomenen, folgen daher nur selten methodischen und theoretischen Vorgaben und bieten ebenso selten zusammenfassende Ergebnisse. 24 Großangelegte Studien zur Geschichte des Lachens im Mittelalter stehen noch aus, 25 und die jüngste deutschsprachige Veröffentlichung von Le Goffs Das Lachen im Mit‐ telalter zeigt, dass sein Plan einer umfassenden Lach- und Komikgeschichte sich bisher in 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 93 <?page no="94"?> 26 „Jede Gesellschaft und jede Kultur hat explizite und implizite Regeln entwickelt, wo, wann, wie, von wem und warum gelacht oder auch nicht gelacht werden darf “. Le Goff, Jacques : Das Lachen im Mittelalter. Stuttgart 2004, S. 122. Allerdings hatte es Plessner bereits ähnlich formuliert: „Was eine Gesellschaft komisch findet, worüber sie lacht, das wechselt im Lauf der Geschichte, weil es zum Wandel des Normenbewusstseins gehört.“ Plessner, Lachen und Weinen, S. 116. 27 So etwa Verberckmoes, Johan: Schertsen, schimpen en schateren. Geschiedenis van het lachen in de Zuidelijke Nederlanden, zestiende en zeventiende eeuw. Nijmegen 1998. Vgl. auch Seeber, Poetik des Lachens, S. 1-12, wenn auch über das Ziel hinausschießend, da er im Gegenzug die Komik gänzlich ignoriert. 28 Beispiele sind Wolf, Leo: Der groteske und hyperbolische Stil des mittelhochdeutschen Volksepos. Berlin 1903; Curtius, Ernst Robert: Scherz und Ernst in mittelalterlicher Dichtung. Romanische Forschungen 53 (1939), S. 1-26; wieder abgedr. in: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern / München 1948, S. 419-435; Auerbach, Erich: Frate Alberto; Die Welt in Pantagruels Mund; Der müde Prinz; Die verzauberte Dulcinea. In: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946, S. 195-221; 250-271; 297-318; 319-342; Gurjewitsch, Aaron R.: Le comique et le sérieux dans la littérature religieuse du Moyen Age. Diogène 89 (1975), S. 67-89; sowie Haug, Das Komische und das Heilige, a. a. O. 29 Vgl. den Abschnitt „Küchenhumor und andere Ridicula“ in Curtius, Scherz und Ernst, S. 22 ff. einigen Vorüberlegungen und allgemeinen Aussagen erschöpft hatte. Diese allerdings for‐ mulieren einige wichtige Bedingungen für die Untersuchung des Lachens im Mittelalter: Vor allem weist Le Goff auf seine historische und gesellschaftliche Variabilität hin, nennt seine Sozialität als Untersuchungsfeld, unterstreicht seine spezifischen rituellen und kör‐ perlichen Aspekte. 26 Die entwicklungsgeschichtliche These Bachtins des Übergangs vom „insulären Lachen“ im Hochmittelalter zur „Ubiquität des Lachens“ im 15. und 16. Jahr‐ hundert und seinem anschließenden Niedergang bleibt im Augenblick noch unwiderspro‐ chen. 2.1. Literaturwissenschaftliche Positionen: Komik Auch wenn sich insgesamt in den historischen Wissenschaften eine Verschiebung des Schwerpunktes der Forschung von der Komik zum Lachen andeutet, 27 bleibt erstere doch in der Literaturwissenschaft wichtiger methodischer Fokus. Dort wird das Lachen meist im Rahmen von ästhetischen Fragestellungen zur Komik behandelt, wo der Körper in Unter‐ kategorien wie Handlungs- oder Situationskomik aufgeht (s. o.). Früh hatte man sich Stil- und Gattungsfragen der Komik im Mittelalter gewidmet und vor allem ihr Verhältnis zum Ernst, zur religiösen Literatur herausgearbeitet. 28 Ein für leibliche Vorgänge zentrales Motiv ist für die lateinische Literatur der so genannte Küchenhumor, auf dessen häufige Vermi‐ schung mit ernsten bzw. religiösen Themen bereits Curtius aufmerksam machte. 29 Im Span‐ nungsfeld von Sakralität und Profanität kommt es immer wieder zu Komik als Schwellen‐ phänomen, wie in Legende, Predigtexempel und geistlichem Spiel, wo durchaus auch körperliche Motive zur Sprache kommen, die mit der Heiligkeit von Personen kontras‐ 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 94 <?page no="95"?> 30 So wird in der Gongolphus-Legende die Ehebrecherin mit der grotesken Strafe lebenslänglicher, dröhnender Flatulenz belegt: „Sit risus causa omnibus inmodica“. Zit. nach Wehrli, Max: Christliches Lachen, Christliche Komik? In: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Hg. von Dennis H. Green u. a. Baden-Baden 1982, S. 17-31, hier S. 21. Zum Themenkomplex des Lachens in sakralen Bezügen vgl. auch Grebe, Anja u. Staubach, Nikolaus (Hg.), Komik und Sakralität. u. Gvoz‐ deva, Katja u. Röcke, Werner (Hg.), Risus sacer - sacrum risibile. 31 Curtius, Scherz und Ernst, S. 11. 32 Ménard, Philippe: Le rire et le sourire dans le roman courtois en France au Moyen Âge (1150-1250). Genève 1969. 33 Curtius, Scherz und Ernst, S. 16. 34 Vgl. dazu Resnick, Irven M.: Risus monasticus. Revue bénédictine 97 (1987), H. 2, S. 90-100; Lehmann, Paul: Die Parodie im Mittelalter. Die lateinische Parodie des 11.-15. Jahrhunderts. 2. Aufl. Stuttgart 1963; wesentlich differenzierter Bayless, Martha: Parody in the Middle Ages. The Latin Tradition. Ann Arbor 1996. Hier wären die Verse des Archipoeta zu nennen, die aus einem studentischen Umfeld stammen: „Meum est propositum in taberna mori, ut sint vina proxima morientis ori. Tunc cantabunt letius angelorum chori: Sit Deus propitius huic potatori.“ Zit. aus Kusch, Horst: Einführung in das lateinische Mittelalter I: Dichtung. Darmstadt 1957, S. 545 ff. 35 Vgl. dazu auch Minois, Georges: Histoire du rire et de la dérision. Paris 2000, S. 123 ff. Zu Transgres‐ sionen von Heiligem und Profanem vgl. Röcke, Werner: „Johannes isst vom Kopf, Petrus vom Ohr des Kalbes“. Transgressionen des Heiligen und Profanen in der Cena Cypriani (5. Jh.). In: Transgres‐ sion - Hybridisierung - Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Ge‐ sellschaft. Hg. von Kathrin Audehm und Hans Rudolf Velten. Freiburg i. B. 2007, S. 173-184. tieren. 30 Sie sind nicht selten an Figuren niederen Standes gebunden (Knechte, Küchen‐ jungen, Bauern, Tagelöhner), deren Körperlichkeit meist als zeichenhaft und sozial deter‐ miniert interpretiert wird. Die Einmischung komischer Züge in das ernste lateinische Epos wurde durch die spät‐ antike Literaturtheorie bereits gerechtfertigt. Curtius bringt mehrere Beispiele für das Früh- und Hochmittelalter, wo nach dem Grundsatz „ludicra seriis miscere“ verfahren wurde. 31 Dieses Prinzip wird in den altfranzösischen Chansons de geste durchaus übernommen, wie Ménard ausführlich gezeigt hat. Da erscheinen Kleriker als Krieger, im Rolandslied etwa Turpin, um dessen Figur zahlreiche ludicra eingemischt sind, wie überhaupt die Karlsepik und das Herrscherlob Karls die meisten komischen Einwürfe haben. 32 Hier ist auch Curtius’ Formulierung: „ein komischer Einschlag (hat) von jeher zum Bestande des mittelalterlichen Epos gehört“ einzuordnen. 33 Neben der komischen (Stil-)Mischung sind Parodien und Travestien für die lateinische Dichtung des Mittelalters charakteristisch: Zu nennen sind hier die ioca monachorum, die lateinische Vagantenlyrik, Säufer- und Trinkermessen, in welcher liturgische Formeln und Abläufe parodiert und verspottet werden. 34 Dass die parodistische Sprachkomik in ihrer Subversion nicht nur provoziert hat, sondern einen gewissen Unterhaltungswert auch für den hohen Klerus besaß, beweist die Cena Cypriani, eine Bibelparodie aus der Spätantike, die im 9. Jh. (855) von Rhabanus Maurus für den Karolinger Lothar II . wieder aufgenommen, von einem römischen Diakon namens Johannes Immonidis (877) umgedichtet und mit einer Widmung an Papst Johannes VIII . versehen worden war. 35 Auch in den Parodien ist Kör‐ perliches tendenziell vorhanden (Festmahlmotive, Beginn der Sauf- und Fressdichtung), und sie kommen insbesondere bei der Aufführung solcher Texte im Rahmen von Spott‐ praktiken zur Geltung, was bislang aber nur vereinzelt untersucht wurde. Ein bedeutendes Körpersubstrat haben sicherlich auch die (vornehmlich französischen) Klerikerfeste des 2.1. Literaturwissenschaftliche Positionen: Komik 95 <?page no="96"?> 36 Vgl. dazu meinen Aufsatz Einsetzungsrituale als Rituale der Statusumkehr: Narrenbischöfe und Nar‐ renkönige in den mittelalterlichen Klerikerfesten (1200-1500). In: Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Hg. von Marion Steinicke und Stefan Weinfurter. Köln u. a. 2005, S. 201-221. Hier auch weiterführende Literatur zum Thema. 37 Genannt seien hier nur die wichtigsten: Suchomski, Joachim: „Delectatio“ und „Utilitas“. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur. Bern / München 1975; Ueding, Gert: Rhetorik des Lachens. In: Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur. Hg. von Thomas Vogel. Tübingen 1992, S. 24-44; vgl. auch Steinmetz, Ralf-Henning: Komik in mittelalterlicher Literatur. Überlegungen zu einem methodischen Problem am Beispiel des Helmbrecht. Germanisch-Romanische Monats‐ schrift N. F. 49 (1999), H. 3, S. 255-73. 38 So etwa in Interpretationen zu Wittenwilers Ring, wie etwa: Lutz, Eckart Conrad: Spiritualis forni‐ catio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein „Ring“. Sigmaringen 1990. Vgl. zu diesem Thema auch Schwitzgebel, Bärbel: Noch nicht genug der Vorrede: zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1996. 39 Kipf, Johannes Klaus: Mittelalterliches Lachen über semantische Inkongruenz. Zur Identifizierung komischer Strukturen in mittelalterlichen Texten am Beispiel mittelhochdeutscher Schwankmären. In: Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Anja Grebe u. Nikolaus Staubach. Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 104-128. Jahreswechsels und die in ihnen eingebetteten Lieder, Tropen und Formeln, bei denen die rituelle und die Aufführungsdimension bislang weniger Beachtung fanden als die sprach‐ lich-symbolische Ebene. 36 Die Komik von literarischen Werken insgesamt ist für die Forschung somit fast immer sprachliche Komik, was einerseits bei der Analyse von Sprachkunstwerken auch nicht überrascht. Die sprachliche Komik kann mit dem traditionellen Instrumentarium der Rhe‐ torik sehr gut erklärt und ausgelegt werden, was zahlreiche Studien zu diesem Thema be‐ zeugen: Komik ergibt sich hier aus einer kontrollierten aptum-Verletzung, wie Ueding be‐ tont. 37 So kann die Horazsche Dichotomie von delectatio und utilitas als rhetorisch-theologische Handlungsanleitung für die Komik im Mittelalter und ihre Funk‐ tion gelesen werden. Die Belehrung durch komische Literatur erfolgt in dieser Perspektive mittels negativer Didaxe, doch allzu oft hat die Aufmerksamkeit auf die moralischen As‐ pekte der Komik den Blick für ihre subversive Kraft verstellt. Bis heute werden Hinweise auf diese Funktion der Komik (wie in Prologen, Vorreden und Epimythien) bis ins 16. Jh. allzu wörtlich genommen, ohne ihre topische Qualität zu berücksichtigen. 38 Die Komik, die gleichzeitig unterhalten und belehren soll, hat ein gedämpftes, moderates Lachen zum Ziel, ein Rahmen, in welchen die grellen Inszenierungen des Körpers beispielsweise in Witten‐ wilers Ring oder in den Neidhart- und Fastnachstpielen des 15. Jahrhunderts nicht so recht zu passen scheinen. So wird die delectatio-utilitas-Dichotomie immer dort bestätigt, wo es um sprachliche Komik geht, wenn man annimmt, dass nur von ihr eine „kognitive Ebene“ abgeleitet werden kann, die charakteristisch für die Komik insgesamt sei: „Das Wesen der Komik (ist)… im Bereich der Semantik zu suchen“, so noch unlängst das Urteil von Johannes Klaus Kipf zur Mären-, Schwank- und Fazetiendichtung. 39 Untersuchungsgegenstände sind hier vor allem Wort- und Sprachspiele, Verhüllungsmetaphern, Überlagerungen von Be‐ deutungen usw., oder verkürzte komische Situationen. Der „semantische Kontrast“, die Inkongruenz und die „Logik des Widerspruchs“ dienen so als probate Schlüsselkonzepte nicht nur für die Rezeption von komischer Literatur, son‐ dern auch für ihre Produktion, wobei das Lachen immer mitgedacht, als Phänomen jedoch 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 96 <?page no="97"?> 40 Haug, Walter: Die Lust am Widersinn. Chaos und Komik in der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: bickelwort und wildiu maere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Dorothee Lindemann, Berndt Volkmann u. Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995, S. 354-65, S. 357 f. Haug be‐ tont hier den Status der Fiktionalität des Komischen, womit er zweifellos Recht hat. An seinem Beispiel ist aber erkennbar, dass es nicht leicht ist, Kategorien wie Komik und Lachen, Widerspruch und Widersinn auseinander zu halten. 41 Brewer, Derek: Medieval comic tales. Woodbridge 1996; Hamilton, Theresa: Der Mechanismus des Humors. Eine linguistisch-narratologische Diskussion humoristischer Erzählungen an der Schnitt‐ stelle von Vormoderne und Moderne. In: Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250-1750). Hg. von Stefan Biessenecker u. Christian Kuhn. Bamberg 2012, S. 71-98. 42 Knühl, Birgit: Die Komik in Heinrich Wittenwilers ‚Der Ring‘ im Vergleich zu den Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts. Göppingen 1981; Bastian, Hagen: Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnacht‐ spiel des 15. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1983; ders.: Linguaggio comico e triviale: il pubblico e il Fastnachtspiel. In: Il teatro medievale. Hg. von Johann Drumbl. Bologna 1989, S. 295-315; Müller, Johannes: Schwert und Scheide: der sexuelle und skatologische Wortschatz im Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts. Bern / Frankfurt a. M. 1988; Röcke, Werner: Gebrauchsformen des Schwanks in deutschen Erzählsammlungen des 16. Jahrhunderts. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahr‐ hunderts. Hg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 106-129. ausgeblendet wird. Dass Komik erst in der Wahrnehmung entsteht, dass sie stark kontext‐ determiniert ist und vom Lachen abhängt, kommt dabei nur selten in den Blick. Der Körper, sei es der lebensweltliche oder der imaginäre, spielt hier schließlich fast gar keine Rolle, die wichtige Spannung zwischen Wortsemantik und Körperlichem wird nicht gesehen. 40 Am ehesten noch wird ein solches einseitiges Komikverständnis Witzen und ihrer Frühform, den Fazetien gerecht, da Erzähl- und Schriftform des Witzes tatsächlich auf kognitiven Operationen und semantischen Bisoziationen beruhen. Sie hat man auch schon gewinn‐ bringend mit semantischen Humortheorien untersuchen können. 41 Weniger effektiv sind semantische Theorien bereits im Bereich der von der älteren For‐ schung so genannten ‚niederen Komik‘: Derbe Schwänke, zotige Witze und grobe Mären thematisieren den Körper in seiner elementaren Leiblichkeit, seiner Sexualität und Trieb‐ haftigkeit, mit seinen Ausscheidungen und Bedürfnissen. Diese Komik ist in der älteren Forschung als ‚niedere‘ und ‚schwankhafte‘ Komik oder auch als ‚volkstümliche Komik‘ bezeichnet worden, ihr wurde mangelnde Tiefe bescheinigt und der literarische Status oft abgesprochen. Hier hat der Körper - ex negativo - das bisher stärkste Interesse von Seiten der Forschung gefunden, wenn er als Material von obszönen Handlungen und profanier‐ enden Verkehrungen zum Lachanlass für ‚das Volk‘ und für seine Belustigungen wie in fastnächtlichen Aufführungen und Schwankerzählungen gesehen wurde. 42 Auch wenn die jüngere Forschung moralische Verurteilungen hinter sich gelassen hat, hat sie bislang kein schlüssiges Konzept gefunden, um die Zusammenhänge von Körperlichkeit und sprachli‐ 2.1. Literaturwissenschaftliche Positionen: Komik 97 <?page no="98"?> 43 Zum Obszönen in der Dichtung des Mittelalters gibt es inzwischen eine breite internationale For‐ schung, vor allem zur Kurzprosa und zum Spiel, allerdings weniger im Hinblick auf Komik und Lachen. Überblickend Ziolkowski, Jan M. (Hg.): Obscenity: social control and artistic creation in the European Middle Ages. Leiden u. a. 1998. Zum Verhältnis Lachen-Obszönität nur ansatzweise Beutin, Wolfgang: Das Lachen über das Obszöne in der Dichtung. In: Sprachspiel und Lachkultur. Festschrift für Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Hg. von Angela Bader. Stuttgart 1994, S. 246-260; Haug, Walter: Die niederländischen erotischen Tragzeichen und das Problem des Obszönen im Mittelalter. In: Erotik, aus dem Dreck gezogen. Hg. von Johan Winkelman u. Gerhard Wolf. Amsterdamer Beiträge für Ältere Germanistik 59 (2004), S. 67-90; Velten, Hans Rudolf: Groteske Organe. Zusammenhänge von Obszönität und Gelächter bei spätmittelalterlichen profanen Insignien im Vergleich zur Märenlite‐ ratur. In: Erotik, aus dem Dreck gezogen. Hg. von Winkelman u. Wolf., S. 235-263. Vgl. auch die Beiträge zum Thema in Grafetstätter, Nahrung, Notdurft, Obszönität in Mittelalter und Früher Neu‐ zeit, S. 77-154. 44 Vgl. Stempel, Wolf-Dieter: Mittelalterliche Obszönität als literar-ästhetisches Problem. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (= Poetik und Hermeneutik, 3). München 1968, S. 187-205 und die anschließende Diskussion. Vgl. auch McDonald, Nicola (Hg.): Medieval Obscenities. York 2006. 45 Diese Unterscheidung nimmt Ridder in seinem Aufsatz: Erlösendes Lachen. Teufelskomik - Götter‐ komik - Endzeitkomik. In: Ritual und Inszenierung. Hg. von Ziegeler, S. 195-206, hier S. 205, vor. 46 Vgl. das klare Plädoyer Bernd Neumanns für die Kategorie der Aufführung beim Geistlichen Spiel, dem sich später auch etwa Eckehard Simon angeschlossen hat. Neumann, Bernd u. Trauden, Dieter: Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiösen Schauspiels. In: Ritual und Inszenierung. Hg. von Ziegeler, S. 31-48, hier S. 35 f. cher Derbheit - etwa im Rahmen des Obszönen - zu greifen; hier liegen lediglich erste Versuch dazu vor. 43 Gerade der Begriff des Obszönen bindet die literarische Repräsentation von Sexuellem und Skatologischem immer wieder an die Lebenswelt und ihre Normativität zurück; das hat bereits die Debatte über seinen Status und seine Möglichkeiten zur ästhetischen Dar‐ stellung gezeigt. 44 Schon allein deshalb erscheint Komik als Leitbegriff nicht geeignet, um obszöne Phänomene in Texten des Mittelalters, vor allem in ihrer Wirkungsdimension zu untersuchen. Denn für die Aufführungsgattungen (und dazu zählen nicht nur Spiele, son‐ dern auch Epenvortrag, Dichtung und mündliche Erzählungen), in denen mit der öffentli‐ chen Wirkung von Sprache und Stimme gerechnet werden muss, ist das Lachen als rahm‐ ender Erwartungshorizont und Rezeptionssignal entscheidend: Nur im Rahmen des Lachens kann sich Komisches manifestieren. Das Lachen ist auch als kommunikatives Signal intratextuell identifizierbar, und hat für den Entwurf literarischer Spielwelten ganz spezifische Funktionen, die weit über jene der Komik hinausgehen. Dies wird besonders an den theatralen Textgattungen deutlich, vor allem am Geistlichen Spiel. Während hier vormals von ‚komischen Szenen‘ gesprochen wurde, hat sich spätes‐ tens seit Rainer Warnings grundlegender Studie Funktion und Struktur eingebürgert, statt von Komik vom Lachen und seinen Aufführungen zu sprechen, ganz unabhängig davon, ob man nun dieses Lachen als rituelles (Warning) oder als inszeniertes ansehen möchte. 45 In dem Moment, wo geistliche Spiele konsequent als Aufführungen angesehen werden, deren Überlieferungsmedium der Text ist, 46 kann eine literaturästhetische Kategorie wie die Komik nicht ausreichen, um das Lachen und seine ambivalenten Funktionen in Ritualen 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 98 <?page no="99"?> 47 Vgl. Ridders These, das ganz Andere bedürfe der Komik, um erträglich zu sein. Ridder, Erlösendes Lachen, S. 198, sowie noch Haug in Formulierungen zum Osterfest als „Einbruchstelle des Komi‐ schen“. Haug, Das Komische und das Heilige, S. 18. 48 „(...) ridere and its derivatives, whether they indicate laughing or smiling, are signs of a very large number of mental states, of which amusement is only one.“ Sargent, Barbara Nelson: Medieval Rire / Ridere: A Laughing Matter? Medium Aevum 43.2 (1974), S. 116-132, hier S. 128. Sargent weist auf das methodische Problem hin, dass ridere und subridere in lateinischen Texten nicht immer das gleiche bezeichnen. und Aufführungen methodisch in den Griff zu bekommen. 47 Aus diesen und anderen Gründen hat sich das Interesse für strukturell-ästhetische Fragestellungen im Rahmen der Komik in Mittelalter und früher Neuzeit insgesamt zugunsten eines erhöhten Aufmerk‐ samkeit für die Zusammenhänge von literarischem Text und Lachen hin verschoben, um den formalistischen, ontologischen Blickwinkel der Komik zu überwinden und zu neuen Ergebnissen zu kommen. 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen ouch mohte si ein lachen vil lihte an in gemachen. Hartmann von Aue: Iwein, Vv. 6459-60 Das Phänomen des Lachens in der mittelalterlichen Literatur tritt zumindest seit dem 12. Jahrhundert in zahlreichen Gattungen und Schreibweisen auf, von der klerikalen und antiklerikalen Dichtung an über die spielmännische, die Heldenepik und klassische höfische Epik, über Minnesang und Spruchdichtung bis zur städtisch-bürgerlichen Kurzerzählung und dem weltlichen und geistlichen Spiel. Gleichzeitig gibt es in der deutschen Literatur eigene Gattungsformen und Schreibweisen, die dem Lachen in besonderer Weise ver‐ pflichtet sind. Dazu gehören kurze Zwischenspiele, Fastnachts- und Neidhartspiele, Faze‐ tien und Mären, Schwänke und Schwankromane, in der europäischen Literatur etwa die Ritterepik der Spätzeit, Fabliaux und die Novellistik, Sottie und Farce, Posse, Bauernspiel und Klucht. In allen diesen literarischen Formen und Schreibweisen wird das Lachen der Lebens‐ welten literarisch codiert und durch seine Fiktionalisierung auch teilweise verschärft; diese Codierungen des Lachens sind mannigfaltig und heterofunktional, sie stellen aber, allge‐ mein gesprochen, rituelle und symbolische Ordnungen der mittelalterlichen Gesellschaft zur Disposition, und bestätigen oder subvertieren sie. Dass die Komik oder überhaupt un‐ terhaltende Anlässe nur einen Teil des Lachens in der Literatur erklären können, hatte bereits Sargent betont: Auch schon im Mittelalter umfasste das Lachen ein umfangreiches semantisches Feld, das vom äußeren Zeichen für eine innere Emotion (Freude, Schaden‐ freude, Genugtuung) bis zum Signal für Überlegenheit und Sieg reicht (Sieger- und Hohn‐ lachen) reicht, darüber hinaus aber auch für Überraschung, Verlegenheit, Aggressivität und Feindschaft, Spott- und Neckabsichten stehen kann. 48 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen 99 <?page no="100"?> 49 Zu den ersten Formen des symbolischen Lachens Einzelner zählt das Lachen der Heiligen und Mär‐ tyrer in der spätantiken und mittelalterlichen Hagiographie. Diese können angesichts der schlimmsten Torturen über ihre Peiniger und über ihr Leid lachen, da sie sich der Freuden des Him‐ mels gewiss sind. Vgl. dazu Fichte, Joerg O.: Lachen und komplexe narrative Strukturen in der mit‐ telenglischen höfischen Romanze. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Hg. von Lothar Fietz et al. Tübingen 1996, S, 97-116, S. 98. 50 Vgl. Kremer, Karl Richard: Das Lachen in der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters. Diss. Bonn, 1961. 51 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Lachen - Spiel - Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und his‐ torischer Realität im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein. DVjs 58 (1984), S. 38-73; hierher gehört auch, wenn auch mit ganz anderer Ausrichtung Bertau, Karl: Versuch über tote Witze bei Wolfram. In: ders.: Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Ge‐ schichte. München 1983, S. 60-109. Vgl. auch die Rede von einer Poetik des Lachens über rhetorische Ironiesignale und anthropologische Einbettung bei Seeber, Poetik des Lachens, zusammenfassend S. 263-281. 52 „In den je neu aufgelegten Spielsituationen entwickelt die Karte immer wieder spontan und überra‐ schend ihr proteisches Potential.“ Huber, Christoph: Lachen im höfischen Roman. Zu einigen kom‐ plexen Episoden im literarischen Transfer. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mit‐ telalter. Transferts culturels et histoire littéraire au moyen âge. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris. Hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Perennec. Sigmaringen 1998, S. 345-358. Vgl. zum Lachen in der höfischen Epik auch Coxon, Sebastian: do lachete die gote: Zur literarischen Inszenierung des Lachens in der höfischen Epik. Wolfram-Studien 18 (2004), S. 189-210. Neben den symbolischen Codierungen 49 zeigt das Lachen aber auch emotionale Stim‐ mungen und Atmosphären an, wie etwa am Beispiel des erotischen Lachens und Lächelns zwischen Liebespaaren oder an der höfischen vreude zu erkennen, die es in der Erzählung auslösen und bewirken kann. Lachen erscheint in den unterschiedlichsten Ausprägungen, als Lachen Einzelner, als Gemeinschafts- oder Gruppenlachen, als geschlechtsspezifisches Lachen, als sozial oder konfessionell bestimmtes Lachen, als Lachen der Wissenden und der Narren, der Heiligen und Teufel, als Lachen des Hofes und der Bauern. 50 Diese Aufzäh‐ lung ist nicht vollständig, doch gibt sie bereits Einblick in die unterschiedlichen Textfunk‐ tionen des Lachens, die von Aspekten der Gruppendynamik und des Außenseitertums (freudiges Lachen als Bestätigung einer gemeinschaftlichen Identität, Verlachen als Ehr‐ verlust und Exklusion), über das Verhältnis von Geschlechtern (geschlechtsspezifisches Lachen, verlachte Weiblichkeit und verlachte Männlichkeit in Mären und Schwänken) bis zu Text- und Aufführungsstrategien (Poetik des Lachens) und zum Selbstverständnis von Autor und Publikum reichen (Lachen als Rollen- und Selbstdistanz). 51 So wird Lachen so‐ wohl im höfischen Roman als auch in anderen Erzählformen gern als „Joker im Kartenspiel“ (Huber) gesehen, der die Handlung in- und subvertieren kann, die Spielwelt auf den Kopf zu stellen vermag oder auf die Selbstreferentialität dieser Welt verweist. 52 Lachen als innertextuelles Motiv ist allerdings auch gattungsspezifisch codiert. So er‐ scheint es in der höfischen Literatur häufig als schwer deutbares, polyvalentes Zeichen, das verbirgt und enthüllt bzw. auf Künftiges vorausweist (etwa das Lachen der Cunnewâre in 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 100 <?page no="101"?> 53 Zum wohl prominentesten Lachen in der mittelalterlichen Epik gibt es mehrere Studien; hier sei hingewiesen auf Fritsch-Rößler, Waltraud: Lachen und Schlagen. Reden als Kulturtechnik in Wolf‐ rams ‚Parzival‘. In: Verstehen durch Vernunft. Fs. für Werner Hoffmann. Hg. von Burkhardt Krause. Wien 1997, S. 75-98 sowie auf meine eigene Arbeit, die dieses Lachen in einen größeren Erzählzu‐ sammenhang stellt: Velten, Hans Rudolf: Komik im Transfer. Zu Chrétiens ‚Le Conte du Graal‘ und Wolframs ‚Parzival‘. In: Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext: Tübinger Kolloqium 2012. Hg. von Klaus Ridder (= Wolfram-Studien 23). Berlin 2014, S. 411-430. Zum Lachen in der Kudrun vgl. Stefan Seeber: Totlachen. Komik und Ironie im ‚Nibelungenlied‘ und in der ‚Kudrun‘. PBB 136 (2014), S. 244 ff. 54 Ebd., S. 424 ff. Ebenso Ginovers Lachen über den frierenden Artus in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône; vgl. dazu Gutwald, Thomas: Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der ‚Crône‘ des Heinrich von dem Türlin. Frankfurt a. M. u. a. 2000; zugl. Diss. München 1999. 55 Scholz Williams, Gerhild: Das Fremde erkennen: Zur Erzählfunktion des Lachens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Hg. von Fietz et al. Tübingen 1996, S. 82-97. 56 Vgl. Kremer, Das Lachen, S. 120: „In diesen frühhöfischen Werken wird also gelacht über Nichtwissen, Anmaßung, Narrheit, Liebeskrankheit, Pessimismus, und durchschautes Doppelspiel …“. Zur Narr‐ heit Parzivals vgl. Ridder, Klaus: Narrheit und Heiligkeit. Komik im Parzival Wolframs von Eschen‐ bach. In: Wolfram-Studien Bd. XVII. Wolfram von Eschenbach - Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Kolloquium 2000. Hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz u. a. Berlin 2002, S. 136-156. Wolframs Parzival oder Kudruns kryptisches Lachen). 53 Lachen steht - wie übrigens auch das Schweigen - häufig als symbolische Leerstelle im Text (es ermöglicht zuweilen Kom‐ munikation, wo Sprache versagt), die eine noch nicht bekannte Bedeutung für die Inter‐ aktion zwischen Erzählfiguren besitzt. 54 Es treibt den Erzählfortgang voran, verbindet und trennt, steigert die Spannung und die Bereitschaft für Ungewöhnliches und Bedrohliches. 55 Es sind immer wieder fünf Themenkomplexe, mit denen sich das Lachen in der höfischen Literatur verbindet: (1) Freude, (2) Unvernunft, (3) Sexualität, (4) Überraschung, (5) Gewalt und Bedrohung. (1) Die höfische Freude und Hochgestimmtheit wird häufig durch ein gemeinschaftliches, affirmatives Gelächter ausgedrückt, das die harmonische Stimmung anzeigt und sich an scherzhaften Anlässen, Neckereien oder inszenierten Normüberschreitungen manifestiert (etwa in den Rollenbrüchen des Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein). Selbst das hart an der Grenze des Peinlichen ertönende schadenfrohe Lachen über die Tugendproben in der Crône Heinrichs von dem Türlin gehört in diesen Zusammenhang. Zwar müssen gewisse Spielregeln eingehalten werden, wenn etwa das laute, lärmende Lachen auch bei Hofe nur in Ausnahmefällen (etwa der Wolfseisenepisode in Eilharts von Oberg Tristrant) erlaubt ist, gemäß den rhetorischen und christlichen Limitierungen des cachinnus. Sicherlich sollte auch der ideale Ritter schon vor Castiglione lachen können, aber auch genau wissen, wann und in welchem Maß gelacht werden darf. (2) Über Unvernunft und unangemessene Anmaßungen lachen sowohl Gruppen wie auch Einzelne (die Ritter über Parzivals tumpheit oder Keies Stürze, die Teilnehmer an Ulrichs Turnierfahrt als Frau Venus über den podestà von Treviso). Über Torheit und Nicht‐ wissen wird schon in den Spielmannsepen ausgiebig gelacht, 56 unangemessene Prahlereien findet man nicht nur bei der Keie-Figur, sondern auch in der Karlsepik und der Helden‐ 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen 101 <?page no="102"?> 57 Etwa in Biterolf und Dietleib, Virginal, Laurin und Der Rosengarten Fassung A u. D. Vgl. dazu Braun, Manuel: Mitlachen oder verlachen? Zum Verhältnis von Komik und Gewalt in der Heldenepik. In: Gewalt im Mittelalter: Realitäten - Imaginationen. Hg. von dems. u. Cornelia Herberichs. München 2006, S. 381-409. Vgl. auch Coxon, Sebastian: Komik und Gelächter und in der Wolfdietrich-Epik. In: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung ausserhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche). Hg. von Klaus Zatloukal. Wien 2003 (= Philologica Germanica, 25), S. 57-76. 58 So das erotisch-anstößige Lachen Isaldes, als Tristrant in Verkleidung eines Aussätzigen unter Schlägen vom Hof vertrieben wird (alte Bruchstücke, Vers 188 f.). 59 Zu den Textfunktionen des weiblichen Lachens und seinen genderspezifischen Implikationen vgl.: Trokhimenko, Olga V.: Constructing virtue and vice: femininity and laughter in courtly society (ca. 1150-1300). Göttingen 2014. 60 Vgl. Fritsch-Rößler, Lachen und Schlagen, S. 86. 61 Vgl. Röcke, Werner: Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hg. von Peter von Moos. Köln 2001, S. 343-361. epik. 57 Eine wichtige Rolle spielen auch die spielerischen Selbstanklagen (etwa Gaweins), wenn eigenes Fehlverhalten in Selbstdistanz thematisiert wird, damit darüber gelacht werden kann (was auch schon in den Liedern Neidharts anklingt). (3) Ähnlich verbreitet ist die erotisch-sexuelle Konnotation des Lachens; hier ist vor allem seine Anbahnungsfunktion im Flirt, im Kuss (symbolisch auch der geöffnete Mund) oder in der gegenseitigen Verfallenheit wie im Tristanstoff und in der Artusepik zu sehen. 58 Lachen zirkuliert zwischen Erzähler und Rezipienten bei der ambivalenten, meist verhül‐ lenden Rede über Sexualität und Erotik, bei der es häufig zu anzüglichen Anspielungen kommt (wie bei Wolfram von Eschenbach und Heinrich von dem Türlin). 59 (4) Anders gelagert ist das Lachen aus Überraschung, wenn bestimmte Figuren bislang verborgene Handlungen entdecken oder mit unvorhergesehenen Wendungen konfrontiert werden; auch listenreiches Verhalten oder durchschautes Doppelspiel sind häufig mit Überraschung verbunden und können (im Text) mit Lachen - jeweils aus Verlegenheit oder Überlegenheit - quittiert werden. Ein Beispiel ist das mehrdeutige Lachen der Königs‐ tochter bei ihrer Befreiung durch Rother im König Rother. Davon abzugrenzen ist das Lachen der Rezipienten aus Überraschung über den Verlauf der Erzählung - ich komme später darauf zurück. (5) Lachen kann auch Verunsicherung, Angst vor der Gefährdung von Normen des ge‐ sellschaftlichen Umgangs oder der geschlechtlichen Identität signalisieren: Merlin und Cunneware lachen als wissende Außenseiter, und deshalb ist ihr Lachen bedrohlich. Beide verweigern die im gemeinsamen Lachen angelegten Integrationsmöglichkeiten und ge‐ fährden so die höfische Ordnung. Geschlechterspezifisch gesehen erkennen Männer Lachen eher als Spott und somit aggressiven Akt der Degradierung und Gefahr für ihre Ehre, wäh‐ rend Frauen Lachen als Beweis für den pris auffassen und somit als freundlichen Akt der Hochschätzung und Affirmation. 60 In beiden Fällen ist das Lachen nicht selten mit verbaler und körperlicher Aggressivität verbunden, wie etwa an den Handlungen des Seneschalls Keie in der Artusepik zu erkennen: Er übt Gewalt in vielfacher Weise, als Spott und Hohn, Zurechtweisung und körperliche Züchtigung gegen jeden aus, der ihm dazu Anlass gibt. Dabei spielt er den agent provocateur, der Konflikte zur Sprache bringt und sie so im Ge‐ lächter lösen kann. 61 Hier zeigt sich ein besonderer Zug des Lachens im Mittelalter, das 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 102 <?page no="103"?> 62 Vgl. dazu meinen mit Werner Röcke hgg. Band Lachgemeinschaften. Berlin 2005, Einleitung S. 20 ff. 63 Vgl. den Band von Seeber, Stefan u. Coxon, Sebastian (Hg.): Spott und Verlachen im späten Mittelalter zwischen Spiel und Gewalt. Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes (2010). H. 1. 64 So etwa im bereits erwähnten Aufsatz „Lachen und Schlagen“ von Waltraud Fritsch-Rößler, in wel‐ chem sie die Reaktion des Schlagens durch Keie auf das Lachen der Cunnewâre im Parzival genauer untersucht. Dabei zeigt sie, wie Cunnewares Lachen, Antanors Sprechen und Keies Schlagen unter‐ schiedliche Varianten des Codes „Rede“ sind, die den Übergang vom Körperhandeln zur Rede als Zivilisationsform markieren: „Alles in allem ein Siegeszug des Wortes, ein zivilisatorischer Akt und Kultivierungsprozess.“ (S. 96 f.). Obwohl sie Lachen und Schlagen als kommunikatives Körperhandeln bestimmt hat, entgeht ihr der wichtige anthropologische und theatrale Zusammenhang von Körper- und Sprechhandeln. Zu diesem Aspekt vgl. auch unten, Kap. 5.1. 65 Zur Begriffsdiskussion verweise ich auf Müller, Jan-Dirk: Noch einmal: Maere und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den Drei listigen Frauen. In: Philologische Untersuchungen. Gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Hg. von Alfred Ebenbauer. Wien 1984, S. 289-311. 66 So erneut Coxon, Laughter and Narrative in the Later Middle Ages, S. 178. stärker als in der Neuzeit ein gesellschaftliches Korrektiv und Mittel zur Normerhaltung gegen Abweichungen war. In einer Gesellschaft, in der soziale Positionen durch Ehre zu‐ gewiesen werden, kommt dem Auslachen als Verkörperung des Ehrverlustes eine eminent wichtige Bedeutung zu. 62 Dieses negative Lachen folgt häufig auf Spott, welcher rituellen, aber auch rhetorischen Charakter haben kann und daher kulturell und sozial sehr unter‐ schiedlich ausfällt. 63 In diesen fünf Themenkomplexen steht der Körper niemals am Rande, häufig sogar im Zentrum, entweder in seiner Gestik, Mimik und komplexen Inszenierungen, oder auch als Objekt für Züchtigung und Schläge, über die gelacht werden kann. Diese Rollen des Körpers bei Lachen und Komik sind in der höfischen Epik noch kaum untersucht worden; wenn Körper in den Blick kommen, bleiben sie meist in andere Fragestellungen eingebunden und unterliegen semantischen oder diskursiven Ausdeutungen von Situationen, Figuren, schriftlichen Inszenierungen usw. 64 Gerade auch bei offensichtlichen Körperinszenie‐ rungen wie Stürzen, kläglichen Niederlagen im Kampf, unangemessenem Prahlen, Ver‐ kleidungen, wo der Körper selbst der Anlass zum Lachen ist, steht meist der zugehörige Wortwechsel im Mittelpunkt der Betrachtung. Dabei zeigt sich an vielen Stellen, dass Wort, Körper und Bild untrennbar miteinander in ihrer Funktion verbunden sind, Lachen auszu‐ lösen. Etwas anders liegt der Fall bei der Mären-, Schwank- und Fazetienliteratur. Im 13. Jahr‐ hundert kommt es offensichtlich zu einer deutlichen Erweiterung der Textfunktionen des Lachens, was sich nicht nur in neuartigen und unterschiedlichen Texttypen wie dem Frau‐ endienst Ulrichs von Lichtenstein und etwa dem Mauricius von Craûn bemerkbar macht, sondern vor allem in der nun anwachsenden Märenliteratur. 65 In den schwankhaften Mären, welche die ernsthaften zahlenmäßig bei weitem übertreffen, 66 ist das Lachen nicht allein vieldeutiges Zeichen, Merkmal von Rollendistanz oder innertextueller Katalysator, sondern es wird nun auch zum Rezeptionssignal, zum Verbindungsglied zwischen Text und Rezip‐ ienten, indem es schlechterdings als Motto oder paratextueller Rahmen über vielen Texten steht. Denn viele von ihnen dienen dem Zweck, bei ihrem Publikum Lachen auszulösen 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen 103 <?page no="104"?> 67 Dass auch die deutsche Mären- und Schwankliteratur „zum Lachen“ sei, analog zu den „contes à rire“, wie Bédier die Fabliaux bezeichnet hat, ist bis heute umstritten. Vgl. dazu jetzt eine Zusammenfassung bei Grubmüller, Klaus: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen No‐ vellistik im Mittelalter: Fabliau - Märe - Novelle. Tübingen 2006, S. 67-76; 137-152; 241-247. Vgl. überblickend auch Classen, Albrecht: Laughing in late-medieval verse (mæren) and prose (Schwänke) narratives: epistemological strategies and hermeneutic explorations. In: ders., Laughter in the Middle Ages and Early Modern times, S. 547-585. 68 Vgl. Coxon, Laughter and Narrative in the Later Middle Ages, S. 177-185. 69 Vgl. Bachorski, Das aggressive Geschlecht, S. 263-81. 70 Zum Lachen bei Boccaccio Arend, Elisabeth: Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron (= Analecta Romanica 68). Frankfurt a. M. 2004. Vgl. auch Neumeister, Sebastian: Die Praxis des Lachens im Decameron. In: Semiotik, Rhetorik und Soziologie des Lachens. Hg. von Lothar Fietz u. a., S. 65-81. und es dadurch zu unterhalten und Modelle falschen, lächerlichen Handelns aufzuzeigen. 67 Dadurch, dass die Zirkulation von Lachen im Text und vom Text zum Publikum ästhetische Distanz auslöst und somit selbstreflexiven Charakter besitzt, ermöglicht sie auch, die Kom‐ plexität und Unterschiedlichkeit von Lachanlässen und Lachen im Text nachzuvollziehen - den verschiedenen Anlässen können verschiedene Arten des Lachens folgen. 68 Spöttisches Verlachen und bewunderndes Lachen über gelungene List und Schlagfertigkeit ist nun keine Angelegenheit mehr zwischen höfischen oder nicht-höfischen Figuren auf der Text‐ ebene, sondern zwischen literarischen Figuren und Publikum. Die ‚harten‘ Effekte des La‐ chens - Ehrverlust, Degradierung, Scham und Züchtigung - werden durch die Erzähl‐ schwelle und die Zentralfunktion der List gemindert und können so vom Publikum mit Vergnügen aufgenommen werden. Es gibt dabei jedoch große Unterschiede bei den Modi des Lachens: Humorvolles und gutmütiges Lachen stehen dem bösen und sogar zynischen und schwarzen Lachen gegenüber. Deshalb erscheint der Körper in einer Fülle von Insze‐ nierungsvarianten: als Mittel der List in Verkleidungen und Verstellungen, als Objekt der Bloßstellung und der Beschämung (Nacktheit, Schlagen, Zerstückeln) oder als Zeuge von Machtverhältnissen (Einschreibungen, Narben). Dabei hängen Körperdarstellung und La‐ chen aufs engste miteinander zusammen, gerade wenn es um tabuisierte Körperzonen wie Geschlechtsteile geht. 69 Das Lachen auf der Textebene vermag eine große Bandbreite an Bedeutungen einzu‐ nehmen und verschiedene Zwecksetzungen zu erfüllen. So kontrastiert das schwarze, ag‐ gressive Lachen beim Geschlechterwitz der Mären mit dem pädagogischen Kultivierungs‐ konzept, das etwa in Boccaccios Decameron mit dem Lachen verfolgt wird. Elisabeth Arend hat den hohen Stellenwert des Lachens in seiner therapeutischen und diätetischen Funktion bei Boccaccio herausgearbeitet; 70 im Decameron wird hier eine Entwicklung angelegt, die dann im 14. und 15. Jahrhundert noch wesentlich an Bedeutung gewinnt, wie die zahlrei‐ chen Hinweise auf die kultivierende und gesundheitsfördernde Wirkung von gemein‐ samem Lachen (und Scherzen) zeigt. Gerade im letzteren Fall wird der enge Zusammenhang von Textualität und performativer Wirkung ersichtlich: Wenn Texte Lachen erzeugen sollen, damit dieses Lachen gesundheits- und gemeinschaftsstiftend wirkt, dann muss von einem direkten Bezug zwischen Text und Rezeptionsgruppe ausgegangen werden; mit an‐ 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 104 <?page no="105"?> 71 Vgl. meinen Aufsatz: Text und Lachgemeinschaft. Zur Funktion des Gruppenlachens bei Hofe in der Schwankliteratur. In: Lachgemeinschaften. Hg. von Röcke u. Velten, S. 125-143. 72 Die strikt christliche Haltung des Strickers gegenüber dem Lachen hat Sieglinde Hartmann gezeigt: Lachen beim Stricker. Mediaevistik 3 (1990), S. 107-129. 73 Beispiele sind „Die eingemauerte Frau“ oder „Das heiße Eisen“. Vgl dazu Grubmüller, Klaus: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 37-54. Noch deutlicher wird dies in den Mären Heinrich Kaufringers, bei denen es fraglich ist, ob Lachen überhaupt ein Rezeptionsziel war. Dazu Zotz, Nicola: Grauzonen. Moral und Lachen bei Heinrich Kaufringer. In: „Texte zum Sprechen bringen“. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler. Hg. von Christiane Ackermann u. Ulrich Barton. Tübingen 2009, S. 195-208. 74 Vgl. Kugler, Hartmut: Grenzen des Komischen in der deutschen und französischen Novellistik des Spätmittelalters. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire littéraire au moyen âge. Hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini u. René Perennec. Sig‐ maringen 1998, S. 359-71, S. 360 f. 75 Drei buhlerische Frauen. Zit. aus: Neues Gesamtabenteuer. Hg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. Berlin 1937. Nr. 173, S. 19-20. 76 Vgl. Velten Text und Lachgemeinschaft, S. 142. deren Worten, Lachen kann durch innertextuelle Strategien für die Rezipienten modelliert werden. 71 Allerdings machen sich in Mären auch die Lachverbote mit Macht bemerkbar, denkt man etwa an die moralischen und das Lachen geradezu reglementierenden frühen Texte des Strickers. Lachen wird hier häufig negativ codiert und markiert symbolisch sündhaftes, unchristliches Verhalten, in den meisten Fällen Torheit, Geilheit und Habgier. 72 Physische und moralische Grausamkeiten, Zynismus und ein destruktiver Zug in den Strickerschen Mären folgen eher der Logik des Ordnungsverstoßes und seiner körperlichen Bestrafung, sodass es fraglich erscheint, dass sie in ihrer Härte Gelächter ausgelöst haben. 73 Andererseits werden einige von Strickers Mären durchaus vom Lachen „regiert“, und es sind immer diejenigen, die den Übergangsbereich von Norm und Normlosigkeit, von Ordnung und Unordnung betreffen. Im Nackten Boten etwa betritt ein nackter Mann, da er sich im Bade wähnt, rückwärts eine Wohnstube, in der gerade eine ganze (bekleidete) Hausgemeinschaft versammelt ist. Es folgen turbulente Szenen mit zahlreichen komischen Effekten um den nackten Körper des Fremden, in denen dieser nur mit Mühe die Kontrolle behalten kann und knapp dem Tod entgeht. Körperliche Merkmale verbinden sich mit sozialer, ge‐ schlechtsspezifischer und moralischer Symbolik, ihre szenische Darstellung im Zeichen des Lachens erlaubt die Entlarvung falscher Sicht- und Verhaltensweisen. 74 Hier werden textuelle Strategien erprobt, die bei den potentiellen Hörern Lachen aus‐ gelöst haben. Aufforderungen zum Lachen sind nicht selten, wie etwa in dem Märe Drei buhlerische Frauen, wo es heißt: „nu will ich beginnen/ sagen seltsaeniu maere. nu si iu niht swaere, wan wir mugen ir wol lachen.“ 75 Der Erzähler bildet mit den Hörern eine ‚Lachge‐ meinschaft‘, die in gewisser Weise als ideale Rezeptionsgemeinschaft fungiert. 76 Doch das Lachen im Märe und im Schwank ist keineswegs immer affirmativ. Vielmehr ist es gna‐ denlos in seiner Bloßstellung menschlicher Schwächen und gesellschaftlicher Missstände, es kann als distanzierende Replik auf eine erstarrte, leblose Ordnung verstanden werden, 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen 105 <?page no="106"?> 77 Haug, Schwarzes Lachen, S. 365. 78 Dies gilt auch für gattungsüberblickende Sammelbände wie z. B. Mittelalterliche Novellistik im euro‐ päischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hg. von Mark Chinca, Timo Reuve‐ kamp-Felber u. Christopher Young (= Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie, 13). Berlin 2006, hier etwa Friedrich, Udo: Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen, S. 48-75. 79 Was nicht heißt, dass das Lachen alleine als gattungsbestimmendes Merkmal der Fabliaux gelten kann, wie Bédier dies ursprünglich wollte; Bitterkeit und Bissigkeit sind ebenso herausstechende Merkmale vieler Fabliaux. Vgl. Rocher, Daniel: Inwiefern sind Strickers ‚Maeren‘ echte ‚contes à rire‘? Wolfram-Studien 7 (1982), S. 132-143. 80 Vgl. Ménard, Philippe: Les fabliaux: contes à rire du moyen âge. Paris 1983; Bloch, Howard: The scandal of the fabliaux. Chicago 1986. 81 Aubailly, Jean-Claude: Le fabliau et les sources inconscientes du rire médiéval. Cahiers de civilisation médiévale 30 (1987). H. 2, S. 105-118, S. 107-109. 82 Ebd., S. 117. wie Haug unterstreicht. 77 Er erkennt das der Kurzerzählung eigene Lachen als Ausdruck der Vitalität und Erneuerung des Lebens, als Anlachen gegen den Tod. Vor diesem Hintergrund überrascht an der jüngeren Mären- und Schwankforschung, wie wenig sie das Lachen, seine Anlässe und Funktionen in ihre Analysen einbezieht; List, narrative Komplexität, Gattungs- und Genderfragen, mediale Implikationen, narratologi‐ sche Fragen etwa nach rhetorischer Ausgestaltung, Serialität und Kombinatorik, Realitäts‐ bezüge und soziale Symbolik, selbst Körperlichkeit und Sexualität scheinen weitgehend unabhängig vom Lachen beschreibbar und lösbar zu sein. 78 Dabei hatte sich gerade die Fabliaux-Forschung schon sehr früh dem Lachen innerhalb und außerhalb der Texte ge‐ widmet. Bédiers berühmte Definition der Fabliaux als contes à rire hatte bereits in den 1960er Jahren eine lebhafte Diskussion über den Status des Lachens ausgelöst, die heute jedoch weitgehend abgeschlossen ist. 79 Die Fabliaux sind nicht nur bezüglich ihres Rezept‐ ionskontextes ( Jongleure und Goliarden als Autoren, höfisches und städtisches Publikum), sondern auch auf Grund ihrer zahlreichen Texthinweise zum Lachen als Wirkungsintention sowie durch ihre spezifischen provokatorischen Mischungen und Kontrastbildungen deut‐ lich auf das Hervorrufen von Lachen ausgerichtet. 80 Jean-Claude Aubailly hat darüber hi‐ naus in seinen psychohistorischen Untersuchungen der sexuellen und skatologischen Ele‐ mente der Fabliaux die rituellen und symbolischen Funktionen des Lachens herausgearbeitet, indem er sich vor allem auf die Lächerlichmachung des menschlichen Körpers bezieht: „Le principal objet comique du fabliau reste donc le corps, ce corps vis-à-vis duquel on se distancie par le rire“. 81 Der Körper erscheint hier als das verdrängte Andere, das im magisch-rituellen Akt des Lachens gelöst und befreit werden kann, um die Furcht zu bezwingen. Das Lachen ist The‐ rapie für existentielle Ängste, es hat die Funktion eines wiederkehrenden Rituals der Ini‐ tiation. Die zahlreichen sexuellen Handlungen und Metaphern in den Kurzerzählungen legen nach Aubailly Zeugnis für die magische Kraft der Worte und ihren immanten Körper- und Ritualbezug ab; das Lachen über die desakralisierten (nackten, unbeholfenen, unkon‐ trollierten, zerstückelten) Körper triumphiert über die Furcht des Todes, die Furcht vor dem Teufel und vor dem anderen Geschlecht. 82 Aubailly geht bei seinem Befund eines rituellen Lachens bei den Fabliaux wie selbstverständlich von dessen Performanz aus: gelacht wird zwar auch im Text, doch vor allem außerhalb des Textes, in der Situation seines Gebrauchs. 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 106 <?page no="107"?> 83 Röcke, Werner: Lizenzen des Witzes. Institutionen und Funktionsweisen der Fazetie im Spätmittel‐ alter. In: Komische Gegenwelten. Hg. von dems. u. Neumann, S. 79-102; Bachorski, Hans-Jürgen: Poggios Facetien und das Problem der Performativität des toten Witzes. Zeitschrift für Germa‐ nistik N. F. Jg. XI (2001). H. 2, S. 274-291. Beide Arbeiten führen Ansätze Barners weiter: Barner, Wil‐ fried: Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 287-310. 84 So ist etwa in einer Fazetie Frischlins zu erkennen, wie ein situativer, allgemeiner Lachanlass in das Lachen der sodales, der humanistischen Lesergruppe der Fazetien, umgeleitet wird. Vgl. Bachorski u. a., Performativität und Lachkultur, S. 176 ff. 85 So hatte Wilfried Barner über die Fazetien gesagt: „Das intellektuelle, ja disputatorische Vergnügen ist spürbar, aber als eines, das Reflexion anstößt, jedenfalls anstoßen kann“. Barner, Wilfried: Legi‐ timierung des Anstößigen. Über Poggios und Bebels Fazetien. In: Sinnlichkeit in Bild und Klang. FS Paul Hoffmann. Stuttgart 1978, S. 101-137, hier 113. Zum ethisch-ästhetischen Programm der Faze‐ tien vgl. Dicke, Gerd: Homo facetus. Vom Mittelalter eines humanistischen Ideals. In: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Nicola McLelland u. a. Tübingen 2008, S. 299-332. Erst hier kann das ausgesprochene Wort seine magische Kraft entfalten, kann die gestisch unterstützte Dramatisierung der narrativen Re-Inszenierung von Körperhandlungen als Distanz schaffende Therapie gegen die Angst wirken. Verdrängte Leiblichkeit kommt im Modus des Vortrags zum Vorschein und löst in seiner stimmlich-gestischen Präsenz ent‐ lastendes Lachen aus. Aubaillys ritualistisch anmutende Überlegungen in der Nachfolge Bachtins verlagern die Wirkung von Literatur in ihren soziokulturellen Kontext, in ihre Performanz. Ihre wichtige Rolle bei der Analyse des Lachens haben Werner Röcke und Hans-Jürgen Bachorski in ihren Studien zu einer anderen schwankhaften Kurzform des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, der neulateinischen Fazetienliteratur unterstri‐ chen. 83 Die seit Poggio Bracciolinis Liber facetiarium bekannte Gattung des frühen intel‐ lektuell-rhetorischen Witzes ist ein Paradebeispiel für die situative und kontextuelle Ein‐ bettung des Schrifttextes in die Praktiken seiner ‚Aufführung‘ im Gespräch. Witze werden zunächst mündlich erzählt - Poggio nennt sie confabulationes - und nach mehrfachem Erfolg schriftlich fixiert. Auch bei der Aufzeichnung von einmal Gehörtem bleibt die grund‐ legende Dialogizität der Witzstruktur im Bereich der (wie auch immer fingierten) mündli‐ chen Kommunikation angesiedelt. An sie will das in den Text hineingeholte Lachen der Zuhörer erinnern, selbst wenn es Umbesetzungen und Verschiebungen unterliegt, die der Rezeptionssituation des Schrifttextes geschuldet sind. 84 Lachen zirkuliert in den Fazetien somit zwischen drei Ebenen: der ursprünglichen Gesprächssituation, sodann in dem sie fingierenden Schrifttext und schließlich in seiner Rezeption im Hören oder (Vor-)Lesen. Jede Ebene hat ihren eigenen situativen Kontext, was die Umarbeitung des Lachanlasses und folglich die Art und Weise des Lachens variant erscheinen lässt. Lachen kann so als instabile Größe beschrieben werden, die je anderen Repräsentationen und Stilisierungen unterliegen kann. Der Fazetientext selbst ist nicht nur Anstoß zur Reflexion, 85 sondern auch Anlass zum Weitererzählen und zum produktiven Weitergebrauch. Obzwar die Aufarbeitung der lateinischen Fazetiencorpora des 15. und 16. Jahrhunderts (Bebels, Frischlins, Mulings, Nachtigals, Tüngers, Melanders usw.) mit den Arbeiten von 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen 107 <?page no="108"?> 86 Vgl. Kipfs Monographie zur Gattung der lateinischen und deutschsprachigen Fazetie: Kipf, Johannes Klaus: Cluoge Geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum. Stuttgart 2010 sowie Altrocks Studie zu Erzählstrategien in Bebels Fazetien und zu ihrer Überlieferung: Altrock, Stephanie: Gewitztes Erzählen. Heinrich Bebels Fazetien und ihre deutsche Übersetzung. Köln 2009; daneben auch Wittchow, Frank: Eine Frage der Ehre: Das Problem des aggressiven Sprechakts in den Facetien Bebels, Mulings, Frischlins und Melanders. Zeitschrift für Germanistik N. F. XI (2001). H. 2, S. 336-360; Bachorski, Hans-Jürgen: Ersticktes Lachen. Johann Sommers ‚Emplastrum Cornelianum‘. In: Komische Gegenwelten. Hg. von Röcke u. Neumann, S. 103-122. 87 Zum Thema des Lachens in ihnen sind bisher erschienen (Auswahl): Takahashi, Yumiko: Die Komik der ‚Schimpf ‘-Exempeln in Johannes Pauli. Freiburg 1994; Kartschoke, Dieter: Vom erzeugten zum erzählten Lachen. Die Auflösung der Pointenstruktur in Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein. In: Klei‐ nere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Haug u. Wachinger, S. 71-105; Bachorski, Hans-Jürgen: Ein Diskurs von Begehren und Versagen. Obszönität in den Schwanksammlungen des 16. Jhs. In: Eros - Macht - Askese. Geschlechterspannungen als Dialogstrukturen in der Kunst. Hg. von Helga Möbius-Sciurie u. Hans-Jürgen Bachorski. Köln 1992, S. 305-341; Waltenberger, Michael: „Nihil præter sales“. Zur erzähltherapeutischen Poetik des Johannes Sommer. In: Ordentliche Unord‐ nung. Metamorphosen des Schwanks vom Mittelalter bis zur Moderne. Festschrift für Michael Schilling. Hg. von Bernhard Jahn u. a. Heidelberg 2014, S. 93-108; Unger, Thorsten: Frühneuzeitliche Lachan‐ lässe in Johannes Sommers Schwanksammlung ‚Emplastrum Cornelianum‘ (1605). In: Literatur in der Stadt. Magdeburg in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Michael Schilling. Heidelberg 2012, S. 219-243. 88 Röcke, Werner: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spät‐ mittelalter. München 1987, S. 154 f., 275 ff. 89 Ebd., S. 242-251, 278 f. Klaus Kipf und Stephanie Altrock große Fortschritte gemacht hat, 86 ist die Rolle des Körpers bzw. von Verkörperungen in diesen vor allem vom rhetorisch-pointierten Sprachwitz ge‐ tragenen Texten noch wenig erforscht. Ähnliches gilt für die zahlreichen Schwanksamm‐ lungen des 16. Jahrhunderts, angefangen von Johannes Paulis noch stark an mittelalterliche Exempla-Sammlungen angelegtem Schimpf und Ernst (1519), über Jörg Wickrams Rollwa‐ genbüchlein (1555), Jacob Freys Gartengesellschaft (1556), Martin Montanus’ Wegkürtzer (1557) und Der ander theil der Gartengesellschaft (1560), Michael Lindeners Rastbüchlein und Katzipori (1558), Valentin Schumanns Nachtbüchlein bis zum Wendunmuth (1563) des Bebel-Übersetzers Hans Wilhelm Kirchhof. 87 Ungleich besser erschlossen sind aus der Perspektive des Lachens die Schwankromane des 15. und 16. Jahrhunderts. In seiner Studie Die Freude am Bösen hat Werner Röcke wich‐ tige Aspekte dieser Gattung aufgezeigt: die „widersprüchliche Einheit von Bedrohung und Affirmation, Angriff und Versöhnung“, wie sie im aggressiven Lachen zum Ausdruck kommt, die narrative Engführung von ästhetischen und sozialen Aspekten in den ‚hässli‐ chen‘ Schwankhelden, sowie die „Abschwächung des Gemeinen und Niedrigen“ durch das Lachen, das somit eine Gewalt vermeidende und gesellschaftlich entlastende Funktion er‐ hält. 88 Mit der Ostentation des Leiblichen, des obszönen Körpers im Sexuellen und Skato‐ logischen wird im Schwankroman jedoch eine rituelle Tiefenschicht des Lachens abgerufen, die Röcke sozialhistorisch als Ausdruck von Negativität und bedrohlichem Außenseitertum interpretiert. 89 Ich werde auf dieses Thema in Kap. 6 auch anhand der einzelnen Schwank‐ romane ausführlich zurückkommen; ebenso auf die zugehörige Literatur. Eng verwandt mit den Schwankhelden sind die spätmittelalterlichen Narrenfiguren aus Novellen, Prosaerzählungen, Schwänken und dem komisch-ernsten Epos Der Ring von Heinrich Wittenwiler. Gerade sie zeigen über pointierte und ausgefeilte Körperinszenie‐ 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 108 <?page no="109"?> 90 Vgl. zum Spott als Medium zwischen Sprach- und Körperkomik Velten, Hans Rudolf: Spott und La‐ chen im Ring Heinrich Wittenwilers. In: Spott und Verlachen im späten Mittelalter zwischen Spiel und Gewalt. Hg. von Stefan Seeber u. Sebastian Coxon, Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes (2010), H. 1, S. 67-79. 91 Vgl. Bachorski, Hans-Jürgen: Irrsinn und Kolportage - Studien zum Ring, zum Lalebuch und zur Geschichtklitterung. Trier 2007. 92 Schmidt-Wiegand, Ruth: Heinrich Wittenwilers Ring zwischen Schwank und Fastnachtspiel. In: Sagen mit sinne. FS für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. Hg. von Helmut Rücker u. Otto Seidl. Göppingen 1976, S. 245-261; Ruh, Kurt: Ein Laiendoktrinal in Unterhaltung verpackt, Wittenwilers ‚Ring‘. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Hg. von Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 344-355; Herrmann, Petra: Karnevaleske Strukturen, a.a.O. Göppingen 1984. 93 Zur grotesken Leiblichkeit, allerdings ohne Bezug zur Komik, jetzt Frömming, Götz: Die Ästhetik des Leibes. Eine Studie zur Poetik des Körpers in Heinrich Wittenwilers Ring. Trier 2015. 94 Vgl. Velten, Hans Rudolf: Narren im weltlichen Spiel in Deutschland und in den Niederlanden (1400-1600). In: Schnittpunkte. Deutsch-Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter. Hg. von Angelika Lehmann-Benz, Ulrike Zellmann u. Urban Küsters. Münster 2003, S. 331-52. rungen (der eigenen wie der fremden lächerlichen Körper), wie Performativität im schrift‐ lichen Text inszeniert werden kann. Ihr die Ordnungsverhältnisse destruierendes und zer‐ setzendes Potential, das in Gesten, Haltungen und vor allem in Sprechweisen des Alltags und des Familiären zum Ausdruck kommt, ist kaum je augenfälliger und szenischer gestaltet worden als in Wittenwilers Ring. 90 Hier geht es - weit über das ständesatirische Potential des Werks hinaus - um Inversionen von symbolischer Ordnung durch Differenzierung, Dialogisierung und sprachliche Zersetzung, die zunächst in ein befreiendes, schließlich aber in ein schwarzes Lachen mündet. 91 Im Ring nimmt die Kommunikationsform des Spottes eine Zentralstellung ein. Bereits in der Narrenparade des Turniers wird ein Rahmen für das gegenseitige Verspotten in den Scherzreden Neitharts und der Bauern geschaffen. Sie sind in ihrer Sprechweise eng gebunden an andere Formen der körperlichen Komik, der Komik des Stürzens und Stolperns, des Stotterns, des gegenseitigen Prügelns und Schlagens und der daraus folgenden Schäden am Körper, welche das Turnier mit sich bringt. Der im ko‐ mischen Modus geäußerte Spott freilich markiert die Fiktionalität des Geschehens, sodass zwar körperliche und sprachliche Gewalt erzählt werden, sie jedoch keine sozialen Wir‐ kungen zeitigen. Der Zusammenhang des Ring mit theatralen Gattungen wie Fastnachtspiel und Schwank ist schon früh gesehen worden. 92 Karnevaleske Profanierungen und Dekonstruktionen konnten in der Selbstreferentialität der Sprache, aber auch in der grotesken Körperlichkeit (sprechende Namen, Obszönität) der Protagonisten nachgewiesen werden. 93 Hier wie in den weltlichen Schauspielen des 15. und 16. Jahrhunderts folgt das Lachen nicht nur der Herstellung eines ‚Gegensinns‘ durch semantische Inversionen und Störungen (wie etwa bei den Fazetien), sondern die sprachlichen Äußerungen zersetzen Sinn, was zur Folge hat, dass Lachen durch die Wahrnehmung von Performativa - der Materialität des Sprechens, Gebärden, Lärm und Bewegung - ausgelöst wird. 94 Daher sind die jüngeren Untersu‐ chungen zur Ritualität des weltlichen Spiels wichtige Vorarbeiten für eine genauere Analyse der verschiedenen Funktionen des Lachens. Denn in den vielen Spielen zugrunde liegenden rituellen Praktiken - Einjahresrituale der Fastnacht wie die Wahl zum Jugendbzw. Fest‐ könig oder die Maibuhlenschaft, das Hahnenschlagen usw., rituelle Tänze wie Schwert- und 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen 109 <?page no="110"?> 95 Zur Herausbildung des weltlichen Schauspiels aus Performances und rituellen Praktiken der Fast‐ nacht vgl. die Studien von Eckehard Simon, die er zusammengefasst hat in: Simon, Eckehard: Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels 1370-1530. Untersuchung und Dokumentation. Tübingen 2003. 96 Vgl. im Anschluss an Bachtin bereits Schindler: Karneval, Kirche und die verkehrte Welt, S. 9-57; Simon, Eckehard: Carnival Obscenities in German Towns. In: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages. Hg. von Ziolkowski, S. 193-213. 97 Vgl. Röcke, Text und Ritual, S. 83-100; ders.: Literarische Gegenwelten. Fastnachtspiele und karne‐ valeske Festkultur. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (Hansers Sozialge‐ schichte der deutschen Literatur 1). Hg. von dems. u. Marina Münkler. München 2004, S. 420-445. 98 Warning, Rainer: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974. Warnings Thesen waren zunächst allerdings sehr umstritten; vgl. die ablehnende Rezension Friedrich Ohlys in Romanische Forschungen 9 (1976), S. 111-141; zu der Kontroverse aus zeitlicher Distanz vermittelnd Haug, Walter: Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geist‐ lichen Schauspiel des Mittelalters. In: Ritual und Inszenierung. Hg. von Ziegeler, S. 361-374. Moriskentänze, rituelle Rügebräuche wie Blochziehen und Charivari 95 - sind nicht nur gruppenspezifische Exklusions- und Identifikationsmechanismen durch aggressives Ver‐ lachen zu erkennen, sondern das Lachen markiert auch ambivalente Situationen und Hand‐ lungen, die im Übergangsbereich von Ritual und Spiel angesiedelt sind. Dass diese Praktiken vor allem der Fastnachtskultur zuzurechnen sind, und dass diese Fastnachtskultur als eine über die engere Bestimmung der Tage vor Aschermittwoch bzw. Invocavit hinausgehende liminale Schwellenzeit anzusehen ist, zeigt sich inzwischen immer deutlicher. 96 Es geht bei solchen Praktiken meist um geschlechtliche, soziale und ethnische Codierungen des Kör‐ pers, die ganz unterschiedlich in den Texten verhandelt werden. So wird das aggressive Lachen in einem dem Heiratsmarkt dienenden Ritual wie dem Blochziehen im Fastnacht‐ spiel(text) deutlich verschoben und entschärft, wenn statt der Verhöhnung der Frauen das cross-dressing und das mit ihm zusammenhängende theatrale Rollenspiel zum komischen Lachanlass wird. 97 Die in diesem Rollenspiel auftretenden Transformationen von körper‐ licher Gewalt in sprachliche Gewalt, und von gezüchtigten Körpern zu lächerlich-grotesken Körpern sind entscheidende Fragen zum Funktionswandel des Lachens zwischen Ritual, theatraler Aufführung und Text. Die Inszenierungen und die Formen lächerlicher Körper‐ lichkeit im weltlichen Schauspiel werden eine wichtige Voraussetzung für die Performati‐ vität des Körpers in literarischen Texten überhaupt sein (vgl. Kap. 6). Die Ausarbeitung einer Funktionsgeschichte des Lachens im Beziehungsfeld zwischen Ritualität und Textualität hat auch für die Erforschung des geistlichen Spiels Gestalt ange‐ nommen. Hier hatte Rainer Warning bereits 1974 leitende und bis heute noch aktuelle Er‐ kenntnisse formuliert, die das Lachen über die burlesken Szenen im volkssprachigen Os‐ terspiel als Überwindung der Teufelsfurcht und als rituelle Entlastungsfunktion erklären, eine Funktion, welche die kerygmatische Heilsvermittlung nicht leisten konnte. 98 Seit dem 13. Jahrhundert gehören ‚komische‘ Szenen (Mercator- und Grabwächterszenen, die Höl‐ lenfahrt Jesu mit den dazugehörigen Teufelsdarstellungen sowie die Hortulanusszenen) zum festen Bestandteil geistlicher Osterspiele. Warning hatte diese von der Liturgie (noch in den Osterfeiern) ausgegrenzten Szenen als Wiedereinholung des Mythos (und damit ist das heidnisch-rituelle Substrat des vorchristlichen ostârûns gemeint) und somit eines ago‐ nalen Kampfes zwischen Gott und Dämon gesehen. Interessant für unseren Zusammen‐ hang ist die Frage des Gelächters des Publikums über die Teufel. Warning geht von einem 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 110 <?page no="111"?> 99 So nennt Warning die Reaktualisierung seiner Thesen „Auf der Suche nach dem Körper“, bzw. spricht bisweilen von „praller Körperlichkeit“, ohne dies näher auszuführen. Der Versuch Vollmanns, Warn‐ ings These zu entdifferenzieren und die Teufelsszenen als „krude Volksbelustigung“ aufzufassen, geht zwar in diese Richtung, ist jedoch wesentlich zu unterkomplex. Vgl. Vollmann, Benedikt Konrad: Lateinisches Schauspiel des Spätmittelalters? In: Ritual und Inszenierung. Hg. von Ziegeler, S. 1-9. 100 Müller, Jan-Dirk: Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel. In: Ritual und Inszenierung. Hg. von Ziegeler, S. 113-133, hier S. 131. Vgl. auch Gumbrecht, Hans-Ulrich: Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit. In: Fest‐ schrift für Walter Haug und Burghart Wachinger, S. 830. 101 Ridder, Erlösendes Lachen, S. 203. Auch Begriffe wie „Komik des Numinosen“, mit dem Ridder die Widersprüche zwischen Gelächter und Sakralem aufzulösen versucht, stellen kein triftiges Instru‐ mentarium dar, um diese Probleme aufzuschlüsseln. 102 Vgl. Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin / New York 1998. Die Unauflöslichkeit der Spannung zwischen Sakralität und Gelächter hat Walter Haug auf eine „neue, polar gespannte, subjektive Gotteserfahrung, die sich einer Harmonisierung verwei‐ gert“ zurückgeführt. Walter Haug in Ritual und Inszenierung. Hg. von Ziegeler, S. 373. 103 Wolf, Gerhard: O du fröhliche. Zum Hessischen Weihnachtsspiel. In: Komische Gegenwelten. Hg. von Röcke u. Neumann, S. 155-174; Quast, Bruno: Vom Kult zur Kunst, vor allem das Kap. „Soteriologie des Lachens“; Keller, Hildegard Elisabeth: Lachen und Lachresistenz. Noahs Söhne in der Genesisepik, der Biblia Pauperum und dem Donaueschinger Passionsspiel. In: Lachgemeinschaften. Hg. von Röcke u. Velten, S. 33-59; s.a. Gvozdeva / Röcke, Risus sacer, S. 11 ff. Lachen aus, das von der Spannung zwischen „ritueller Performanz“ und „theatralischer repraesentatio“ geprägt ist, also zwischen einer rahmenden rituellen Situation und einem von der theatralen Darstellung ausgehenden Anlass. Während erstere die überwundene Furcht vor dem Bösen rituell wiederholt, ist der in die Situation eingebettete, konkrete Lachanlass auf die Lächerlichkeit der mimetisch aufgeführten Teufelsfiguren bezogen. Diese hochinteressante These wird von Warning zwar des Öfteren formuliert, eine Be‐ weisführung - gerade was den Lachanlass angeht - jedoch kaum je in Angriff genommen, sodass der Eindruck entsteht, die Funktionsmechanismen von grotesker Körperlichkeit lägen auf der Hand und müssten nicht mehr nachgewiesen werden. 99 Jan-Dirk Müller hat unlängst darauf aufmerksam gemacht, dass dem nicht so ist, indem er die Körperlichkeit der Teufel als Kontrapunkt der heilsgeschichtlichen Botschaft verstanden wissen will: „In solchen Szenen drängt sich eine jede höhere Bedeutung abweisende, in der schieren Präsenz sich erschöpfende Körperhaftigkeit in den Vordergrund und blockiert und erschwert das heilsgeschichtliche Verständnis“. 100 Diese im Anschluss an Warning formulierte Funktion des Körperlichen in den komischen Szenen ist kaum hinreichend mit der christlich-apokryphen Herkunft der Szenen erklärbar. Die Vermutung Ridders, man verlache nicht mehr den Teufel, „sondern über die Unzuläng‐ lichkeit der Sünder“ ist kaum stichhaltig, da hier zwei verschiedene Lachanlässe gemeint sind. 101 Überhaupt sind Versuche, das Lachen im Kontext des Sakralen erlösungstheologisch zu fassen, mit Bedacht zu lesen, denn sie führen sämtlich von dem von Warning ausgear‐ beiteten Körperlichen weg; auch verwischen sie in ihrem integrativen und essentialisti‐ schen Impetus vorsätzlich Grenzen zwischen Sakralem und Gelächter und nehmen dem Verhältnis so seine wichtige Spannung. 102 Schlüssigere Antworten auf die Frage, wie das Lachen zum Sakralen des geistlichen Spiels steht, haben etwa Gerhard Wolf, Bruno Quast und Hildegard Keller gegeben. 103 Sie greifen den Gedanken Warnings wieder auf, dass das 2.2. Literaturwissenschaftliche Positionen: Lachen 111 <?page no="112"?> 104 Vgl. etwa Krohn, Rüdiger: Der unanständige Bürger. Untersuchungen zum Obszönen in den Nürnberger Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts. Kronberg 1974; Herrmann, Karnevaleske Strukturen in der Neidhart-Tradition 105 Die sogen. Narrendichtung zeigt den Narren lediglich als Objekt des Spotts und des Verlachens, ohne dieses selbst mehr zu inszenieren: „Nur der Narr erhebt im Lachen seine Stimme, und auch der Narr ist eine traurige Gestalt und nicht zum Lachen.“ Schmitz, Gerhard: Ein Narr, der da lacht… Überle‐ gungen zu einer mittelalterlichen Verhaltensnorm. In: Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur. Hg. von Vogel, S. 129-154, hier S. 136. Hierin folgt Schmitz den volkskundlichen Studien Werner Mezgers, der die Narrenfigur rein nach ihrer ikonographischen Symbolik interpretiert: Mezger, Werner: Bemerkungen zum mittelalterlichen Narrentum. In: Narrenfreiheit. Beiträge zur Fastnachts‐ forschung. Hg. von Hermann Bausinger u. a. Tübingen 1980, S. 43-65 sowie den Artikel „Narr“. In: Lexikon des Mittelalters. Hg. von Robert-Henri Bauthier u. a. Zürich 1980 f., Sp. 1023-1026. Lachen im geistlichen Spiel ambivalent oszillierend ist: Es gilt dem überwundenen Bösen, das trotzdem noch furchtbar ist und als ein Teil der Wirklichkeit seine Anerkennung fordert. 2.3. Die doppelte Leerstelle Die weitgehende Abwesenheit des lächerlichen Körpers in der Forschung bezieht sich auf alle bisher untersuchten Arbeitsfelder. In den Theorien des Lachens und der Komik spielt er, bis auf Bergson und Plessner, nur eine untergeordnete Rolle; in den jüngst stark und zu Recht angewachsenen Körperstudien, welche in hohem Maß interdisziplinär angelegt sind, wird er ebenso ausgeklammert. Die Gründe dafür sind vielfältig: Er entzieht sich struktu‐ rellen und diskursiven Konstruktionen, welche die Forschung dominieren, er wird kaum mit Lachen und Komik in Verbindung gebracht. Andererseits wurde er auch in der Komik- und Lachforschung als Untersuchungsgegenstand nicht recht ernst genommen, sondern immer wieder semantisch-ontologischen Fragestellungen untergeordnet. Dies ist paradig‐ matisch erkennbar an einem weiteren Forschungsfeld, der Narrenfigur des späten Mittel‐ alters und der Frühen Neuzeit. Die Theaterfigur des Narren hat lediglich in Untersuchungen zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen weltlichen Spiel eine gewisse Aufmerksamkeit erlangt, doch ist es hier vor allem die sprachliche Komik und die allgegenwärtige skatologische Komik, die im Mittelpunkt der Analysen stand. 104 In der Prosa haben an der Narrenfigur ihre satirischen und politischen Zwecksetzungen mehr interessiert als ihre Unterhaltungsfunktion, da die Narrenliteratur des 16. Jahrhunderts insgesamt weniger im Zeichen des Lachens, sondern der moraldidaktischen Satire steht. 105 Durch die Konzentration auf die satirisch-semanti‐ sche Komik sind die performativen und körperlichen Aspekte an der Narrenfigur zugunsten ihrer vielfachen symbolischen und zeichenhaften Ausprägungen weitgehend vernachläs‐ sigt worden. Ausgehend von den großen Werken der Narrenliteratur seit Sebastian Brants Narrenschiff wurde der Narr als Stände übergreifender Träger von Sünden und falschem Handeln, als bildkräftiges Medium reformatorischer und antireformatorischer Propaganda, aber auch als Metapher für die diskursive Schwelle zwischen Vernunft und Unvernunft, 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 112 <?page no="113"?> 106 Vgl. Swain, Barbara: Fools and Folly during the Middle Ages and the Renaissance. Diss. Columbia Univ. New York 1932; Lefebvre, Joel: Les fols et la folie. Étude sur les genres du comique et la création littéraire en Allemagne pendant la Renaissance. Paris 1968; Könneker, Barbara: Wesen und Wandlung der Nar‐ renidee. Heidelberg 1969; dies.: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche - Werke - Wirkung. München 1991; Groß, Angelika: „La Folie“. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild. Hei‐ delberg 1990. 107 Dies ist auch noch an den Themen eines vor einigen Jahren publizierten, interdisziplinären Bandes zur Narrenfigur zu erkennen: Schillinger, Jean (Hg.): Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2009. Hier geht es um den Narrenbegriff, seine Funktion in der konfessionellen Polemik, das Motiv der Torheit und der vanitas mundi, die Rolle des närrischen Erzählers und Ironie, den Narren als didaktisches Instrument usw. 108 Bynum, Warum das ganze Theater mit dem Körper? , S. 8. 109 Entscheidende Vorarbeiten dafür in Röcke: Die Freude am Bösen, sowie ders.: Die Gewalt des Narren. In: Die Kultur des Rituals. Hg. von Christoph Wulf u. Jörg Zirfas, S. 110-128, sowie ders.: Die ge‐ täuschten Blinden. Gelächter und Gewalt gegen Randgruppen in der Literatur des Mittelalters. In: Lachgemeinschaften. Hg. von Röcke u. Velten, S. 61-82. Narrheit und Weisheit behandelt. 106 Dabei schien der Körper des Narren weniger lebendiger Akteur und Handlungszentrum, sondern eher Einschreibefläche semantischer Ambiva‐ lenz. 107 Ein Blick auf die breite diskursive, theatrale und ikonographische Adaption der Narren‐ figur im 16. Jahrhundert durch die konfessionelle und stadtbürgerliche Literatur macht deutlich, in welch hohem Maße der lächerliche Körper in verschiedenen Lebens- und Dis‐ kurszusammenhängen verwendet wurde. Dies gilt bereits für Hoch- und Spätmittelalter, führt man sich das Auftreten von Narrenfiguren in so unterschiedlichen Gattungen wie der Märenliteratur, der höfischen Literatur oder der Schauspieltexte vor Augen. Im Anschluss an Bynums Formulierung, den Körper im Mittelalter habe es nicht gegeben, 108 muss die Annahme erlaubt sein, den lächerlichen Körper in Mittelalter und früher Neuzeit habe es ebenso wenig gegeben. So betrachtet, erscheint auch er in mindestens acht verschiedenen Diskursen, bei denen er jeweils verschiedenen Formen des Lachens zugeordnet werden kann: (1) Der Diskurs der sozialen Ausgrenzung (Lachen über Verkrüppelte, Deformierte, Blinde, Arme, Narren usw.): hier geht es um böses, überlegenes oder gewalttätiges, in jedem Fall exkludierendes Lachen. 109 Das ästhetische Pendant dazu ist (2) Der Diskurs des Hässlichen und Grotesken (Lachen über menschliche Disproporti‐ onen und Deformationen, Tier-Mensch-Verbindungen, schließt an die antike defor‐ 2.3. Die doppelte Leerstelle 113 <?page no="114"?> 110 Vgl. dazu Jauß, Hans Robert: Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Hässlichen. In: Die nicht mehr schönen Künste. Hg. von dems. (= Poetik und Hermeneutik, III). München 1968, S. 143-168; Michel, Paul: ‚Formosa Deformitas‘. Bewältigungsformen des Hässlichen in mittelalterlicher Literatur. Bonn 1976, der allerdings kaum auf das Lachen eingeht. 111 Vorarbeiten hierzu v. a. Velten, Hans Rudolf: Komische Körper. Zur Funktion von Hofnarren und zur Dramaturgie des Lachens im Spätmittelalter. Zeitschrift für Germanistik N. F. Jg. XI (2001). H. 2, S. 292-317. 112 Zum Themenkomplex der therapeutischen Funktion des Lachens, allerdings ohne Berücksichtigung der Körperlichkeit vgl. die Arbeiten von Schmitz, Heinz-Günther: Physiologie des Scherzes. Bedeutung und Rechtfertigung der Ars Iocandi im 16. Jahrhundert. Hildesheim / New York 1972 sowie „Claus Narr und seine Zunft. Erscheinungsformen und Funktionen des Hofnarren im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit.“ In: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Hg. von Katrin Kröll u. Hugo Steger. Freiburg 1994, S. 279-291. 113 Die Beiträge in Antunes, (De)formierte Körper: die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter, aber auch die Studien zu Narren und Teufeln im spätmittelalterlichen geistlichen und weltlichen Spiel. 114 Hier sind vor allem die Arbeiten Bachtins und seiner Nachfolger zu nennen. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hg. von Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1987; Herr‐ mann, Karnevaleske Strukturen. 115 Bereits in Arbeiten zum Märe „Diu halbe birne“ (Pseudo-Konrad von Würzburg); etwa: Müller, Jan-Dirk: Die ‚hovezuht‘ und ihr Preis: zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‚Halber Birne‘. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 3 (1984 / 85), S. 281-311; Schnyder, Mireille: Die Entdeckung des Begehrens: das Märe von der halben Birne. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 122 (2000). H. 2, S. 263-278; zu Ulrich von Liechtenstein vgl. Velten, Hans Rudolf: Der Text als Spiel-Raum von Transgression und Hybridisierung: Perfor‐ mative Strategien im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. In: Transgression - Hybridisierung - Differenzierung. Hg. von Audehm u. Velten, S. 185-224. 116 Ansätze dazu finden sich in der Analyse der Lachanlässe in der Zimmerschen Chronik. Vgl. Wolf, Gerhard: ‚das die Herren was zu lachen hetten‘. Lachgemeinschaften im südwestdeutschen Adel? In: Lachgemeinschaften. Hg. von Röcke u. Velten, S. 145-172, hier S. 164 ff. mitas-Debatte an): 110 genüssliches und seit Aristoteles enthebbares, aber auch Ekel abwehrendes Lachen. (3) Der Diskurs der Unterhaltung (akrobatische und imitative Körperkomik bei Festen und Feiern): gründet sich in der Regel auf lautes fröhliches, unbeschwertes Lachen. 111 (4) Der Diskurs der Diätetik (Körperinszenierungen und Streiche von Hofnarren, unfrei‐ willige Körperkomik): bestimmt herzhaftes Lachen als Therapie zur Gesundung, als Mittel gegen die Melancholie, als Form der Reinigung des Körpers. 112 (5) Der Diskurs des Anderen (Lachen über die Körperlichkeit von Teufeln, Fremden, Heiden, Narren, Riesen): Lachen ist hier höchst ambivalent, aber entlastend und ge‐ meinschaftsbildend. 113 (6) Der Diskurs der Freiheit (der triebenthemmte Körper, körperliche Subversionen, Ska‐ tologie): hier geht es um das rituelle und vitale, befreiende Lachen nicht nur des Kar‐ nevals. 114 (7) Der Diskurs der spielerischen Provokation (transgressives Zeigen von Körperlichkeit, Verkleidung): geselliges und distanzierendes, aber auch spöttisches und strafendes Lachen, teils verbunden mit Scham. 115 (8) Der Diskurs des Scheiterns (der unfreiwillig komische Körper): schadenfrohes, aber auch erleichtertes Lachen. 116 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 114 <?page no="115"?> 117 Einen ersten Überblick über diese Frage gibt der von Eva Erdmann herausgegebene Sammelband, der zeigt, dass Lachen über Lachfiguren weit verbreitet war. Erdmann, Eva (Hg.): Der komische Körper. Szenen - Figuren - Formen. Bielefeld 2003. 118 Zum Inszenierungsbegriff weiter unten. Diese Zusammenstellung ist als heuristischer Vorschlag anzusehen und erhebt weder An‐ spruch auf Endgültigkeit noch auf Vollständigkeit. Sie steht nicht am Ende der Untersu‐ chung, sondern am Anfang, und soll daher zunächst vor Augen führen, wie differenziert im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit der lächerliche Körper diskursiv ausgestaltet werden konnte. Sie soll aber vor allem Anlass für Fragestellungen sein, die sich aus ihr unweigerlich ergeben: Wie wird der lächerliche Körper jeweils konstruiert, wie wird er diskursiv und imaginär codiert? Und darüber hinausgehend: In welche Praxiszusammen‐ hänge und Aufführungen ist er eingebunden, auf die diese Diskurse rekurrieren, wie wird er ver-körpert? Jedenfalls ist zum jetzigen Zeitpunkt schon zu vermuten, dass die vorlie‐ gende Untersuchung das Ineinanderspiel von diskursiven und praktischen Inszenierungen des lächerlichen Körpers behandeln muss, um überhaupt einen methodischen Zugriff auf seine Performativität zu erhalten. Weitere Fragen können entwickelt werden: Inwieweit sind lächerliche Körper Phäno‐ mene der Liminalität und / oder der Normtransgression? In welchem Umfang hängen sie mit dem Schwellenalter der Jugend zusammen? Wie sind sie geschlechtlich codiert? Mar‐ kiert das Lachen über Körperliches soziale Unterschiede? Auch geht es immer noch um Grundsätzliches: Welche Personen und Figuren erregen in Mittelalter und früher Neuzeit überhaupt Lachen auf Grund ihrer Körperlichkeit? 117 Diese Fragen sind allerdings nur auf der Basis einer Mediendifferenzierung zu beant‐ worten, die die spezifische Textualität (Schriftlichkeit / Mündlichkeit, Gattungsbindung) und die ihr zugrunde liegende Diskursivität (narrative und rhetorische Formen) mit dem ‚Sitz im Leben‘ des lächerlichen Körpers, seinen theatralen und rituellen Inszenierungs‐ formen sowie seinen Orten (theatrales Spiel und Spektakel, Feste und Karneval, Rituale, höfische Jagd und Mahl, Geselligkeit usw.) verbindet. Erst dann lässt sich effektiv von ‚Körperinszenierungen‘ in Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit sprechen. 118 Die wichtigsten Vorarbeiten für diesen Fragekomplex sind unabweislich - ich habe es oben bereits erwähnt - in der Monographie Rabelais und seine Welt von Bachtin geleistet worden. Deshalb muss jede nachfolgende Arbeit dazu sich zunächst mit seinen Thesen auseinan‐ dersetzen. 2.4. Bachtins ‚grotesker Körper‘ als Textmetapher Im Mittelpunkt von Bachtins Konzeption des ‚grotesken Körpers‘ steht der Aspekt der Durchlässigkeit und des Austauschs. Beständige Ströme in Form von Nahrung, Exkre‐ menten, Blut und Schleim durchqueren ihn von innen nach außen und umgekehrt, machen aus ihm einen Ort der kontinuierlichen Aufnahme und Ausscheidung. Das spezifisch Gro‐ teske entsteht jedoch nicht allein aus der Wahrnehmung der Wechselstoffvorgänge des Körpers, sondern auch der Transgression von Normen der Verhüllung und des Verbergens der körperlichen pudenda sowie seiner wandelbaren und hyperbolischen Anatomie (Größe, 2.4. Bachtins ‚grotesker Körper‘ als Textmetapher 115 <?page no="116"?> 119 Vgl. v. a. Dietz-Rüdiger Moser in verschiedenen Arbeiten zu Bachtins Karnevalsbegriff. Mosers Kritik ist begrifflich und historisch motiviert; bei Bachtins Theorie der Lachkultur handele es sich um ein „Konstrukt“, „durch das der Zugang zu den wirklichen Tatbeständen verstellt wird“. Moser, Dietz-R.: Lachkultur des Mittelalters? In: Euphorion 84 (1990), S. 89. Moser unterstellt Bachtin politische Motive für seine Theorie, „unkritische Verwendung definierter Begriffe“, und ahistorisches Vorgehen, das den Karneval als brauchtümliches Phänomen, das unter der Organisation und Leitung der Kirche stand, in den Rahmen einer diffusen Lachkultur des Volkes stelle. Moser lehnt das rituelle Lachen als Wesenszug des Karnevals ab (S. 96) und erklärt die Paradoxie der Zusammengehörigkeit des Gegensätzlichen aus dem augustinischen Zwei-Staaten-Modell. Er stützt sich dabei fast ausschließ‐ lich auf theologische Quellen. Neben Moser besonders kritisch auch Horst Fuhrmann in seiner Einladung ins Mittelalter. München 1987, S. 295, der Bachtin vorwirft, er „streife den Unsinn“ und arbeite ohne wirkliche Quellenbasis, sowie Aaron Gurjewitsch, der die starre Opposition von Hoch‐ kultur und Volkskultur, von Heiligem und Profanem in Frage stellt. Gurjewitsch, Aaron: Bachtin und seine Theorie des Karnevals. In: Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute. Hg. von Jan Bremmer u. Herman Roodenburg. Darmstadt 1999, S. 57. 120 Bachtin, Michail, Rabelais und seine Welt, S. 76. 121 Ebd., S. 360. Form, Gestalt). Dieser organisch-leiblich gefasste Körperkonzeption eignet auf politisch-ge‐ sellschaftlicher Ebene ein subversives und utopisches Potential: Der groteske Körper steht symbolisch für die Befreiung von Ordnungskonventionen, er ist Zentrum der „Lachkultur des Volkes“. Dieser Aspekt, der für Bachtin offensichtlich auch aus politischen Gründen wichtig war (Widerstand gegen den Terror der Stalinzeit), und der in der Bachtin-Rezeption besonders stark kritisiert wurde (vor allem der Zusammenhang Karneval-Lachkultur), 119 interessiert in unserem Zusammenhang jedoch nur in untergeordneter Hinsicht. Wichtiger dagegen ist, was der ‚groteske Körper‘ als methodischer Terminus für unsere Fragestellung leisten kann. Bachtin konzeptionalisiert ihn zunächst als polyvalente Meta‐ pher, die zwischen Motiven der Literatur, der Kunst und dem Imaginären oszilliert. Sie dient ihm als universelle Chiffre einer popularen Lachkultur, die gleichzeitig sprachlich-literari‐ sche Körperkonzepte, aufgeführte Körper und imaginäre Körper vereinigt. Der ‚groteske Körper‘ manifestiert sich beispielsweise in Bildern wie dem der schwangeren Alten: Das Groteske vereint den verfallenden, schon deformierten Körper mit dem noch nicht entwi‐ ckelten, gerade gezeugten, neuen Leben. Hier wird das Leben in seiner ambivalenten, innerlich widersprüchlichen Prozesshaftigkeit gezeigt, nichts ist fertig, die Unabgeschlossenheit selbst steht vor uns. Genau darin besteht die groteske Körperkonzeption. 120 Der Darstellungmodus des gleichzeitig werdenden und sterbenden Körpers, der durch seine Ausstülpungen (Nase, Phallus, weibliche Brüste, Hintern usw.) und seine Öffnungen (Mund, Ausscheidungsorgane usw.) mit der Welt verbunden ist und in einer Art Austauschbezie‐ hung zu ihr steht, gehört nach Bachtin als „grotesker Realismus“, der „mehrere Jahrtausende lang maßgebend für Kunst und Literatur (...) war, der volkstümlichen Lachkultur an.“ 121 Zu seinen Charakteristika zählen auch mit ihm verbundene groteske Motive wie das nach außen gekehrte Körperinnere, das übermäßige Essen und Trinken, die Ausscheidungspro‐ zesse usw., Motive, die sich durch stilistische Merkmale wie Übertreibung und Hyperbolik auszeichnen. Bachtin beschreibt diese Körperauffassung als charakteristisch für das Mit‐ telalter und die Frühe Neuzeit. Erst im Lauf der Neuzeit sei dieses Konzept demjenigen des fertigen, streng begrenzten, nach außen verschlossenen, individuell ausdrucksvollen Kör‐ 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 116 <?page no="117"?> 122 Ebd., S. 394 ff. 123 Vgl. Gumbrecht, Literarische Gegenwelten, S. 95-144, hier S. 136 f. Gumbrecht sagt zur Konzepthaf‐ tigkeit des Bachtinschen grotesken Körpers: „Konzepte blenden als Normal-Gestalten alle sie über‐ schreitenden Wahrnehmungsgegenstände … als Objekte unserer Alltagserfahrung aus und habitu‐ alisieren kategoriale Oppositionen wie Tod / Geburt oder Welt / Leib als Grundschema unserer Welterfahrung.“ S. 136. 124 Lachmann, Renate: Vorwort. In Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 7-47. 125 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 138. 126 Vgl. Lachmann: Vorwort, S. 16. 127 Bachtin hält offensichtlich die Tatsache, dass der groteske Körper Lachen auslöst, für umstandslos gegeben. Bindeglied ist eine kosmische Heiterkeit, die in der Sprache deutlich wird (heitere Ver‐ wünschungen usw.) Für Bachtin ist Lachen eine Kultur, eine Welt, ein System. Lachen wird auch in keiner Weise als ein Effekt einer Inszenierung, als physiologisches Phänomen der Rezipienten oder Zuschauer thematisiert. Lachen wird auch nicht als „soziale Waffe“ der Exklusion oder der Gemein‐ schaftsbildung angesehen. Lachen hat bei Bachtin überhaupt keine soziale Wirkung, wenn nicht die des Verlachens der ernsthaften, „offiziellen“ Kultur durch die Volkskultur. 128 Vgl. Gurjewitsch, Bachtin und seine Theorie des Karnevals, S. 57. pers gewichen. Bachtin sieht die Manifestationen des ‚grotesker Körpers‘ vor allem in der Literatur, und hier speziell in der Sprache Rabelais’ gegeben. Es ist die volkstümliche Sprache des Marktplatzes, 122 das familiäre Schimpfrepertoire wie Schwüre, Flüche und Schimpfworte, die gemeinsam mit der transgressiven Sprachartistik des Dichters, die aus Elementen der Sprachmischung, imkompatiblen Sprachhandlungen und Stilmischung be‐ steht, das ‚Fleisch‘ des grotesken Körpers ausmachen. 123 Insofern ist der groteske Körper ein semiotisches Konstrukt, eine „somatische Semiotik“, wie es Renate Lachmann im Vor‐ wort zur deutschen Ausgabe ausdrückt, 124 ein Körper, der sich in Sprachbildern und sprach‐ lichen Effekten wie Familiarisierung, Degradierung und Profanierung konstituiert. Die relative Unabhängigkeit des ‚grotesken Körpers‘ von historischen, sozialen und kul‐ turellen Koordinaten macht es nicht nur möglich, dass Bachtin sein Konzept zur ideologi‐ schen Chiffre ausweitet, wenn der groteske Körper zum Volkskörper wird: Er ist der große kollektive Volkskörper, für den Geburt und Tod nicht Anfang und Ende im abso‐ luten Sinne, sondern bloß Momente des permanenten Wachsens und der Erneuerung sind. Der große Körper des mittelalterlichen Satyrspiels ist von der Welt nicht zu trennen, er (...) bildet ein gemeinsames Ganzes mit der verschlingenden und gebärenden Erde. 125 Damit wird dem ‚grotesken Körper‘ überdies ein utopisches Potential eingeschrieben, das in der Unsterblichkeit der Materie und der Befreiung durch den Karneval seine Erfüllung findet. 126 Der groteske Körper Bachtins ist somit nicht Lachanlass, er ist Welt, Volk, Utopie, Lachen an sich. Insofern ist er von einem umfassenden Wesen her bestimmt, eine festste‐ hende Größe, unabhängig von Zeit und Raum, von Texten und Gattungen. Diese Bestim‐ mungen ziehen die Frage nach sich, wie das Adjektiv ‚grotesk‘ in Bachtins Konzeption noch seine Berechtigung als Kennzeichen einer Lachkultur findet. Denn seine Argumentation in diesem Aspekt ist äußerst schwach. 127 Das Groteske ist ja keineswegs identisch mit dem Komischen oder dem Burlesken, es enthält neben seiner Tendenz zur Inversion und zur Chimäre auch starke Elemente des Schreckens und der Angst; diesen Punkt erwähnt etwa Gurjewitsch, wenn er kritisiert, Bachtin spreche kaum von Furcht und Schrecken des Volkes, wo diese mit Lachen und Freude doch Hand in Hand gingen. 128 Das Furchterregende 2.4. Bachtins ‚grotesker Körper‘ als Textmetapher 117 <?page no="118"?> 129 Vgl. dazu auch Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln / Weimar / Wien 2001, S. 79: „Die Ähnlichkeit des Grotesken verschiedener Epochen beruht darauf, dass es in jedem Fall die Dekomposition einer kulturellen Ordnungsstruktur darstellt.“ 130 Vgl. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters. In: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Hg. von ders. u. Hugo Steger. Freiburg 1994, S. 11-105, hier S. 11 ff. 131 Vgl. dazu meine Ausführungen in Velten, Der komische Körper, S. 293 f. und Velten, Grotesker und komischer Körper, S. 147 ff. 132 Vgl. dazu im Allgemeinen die Prämissen des Sonderforschungsbereiches 447: Theorien des Perfor‐ mativen. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10 (2001) und im Be‐ sonderen: Bachorski u. a., Performativität und Lachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 161 ff. ist mithin in anderen Theorien des Grotesken thematisiert worden, etwa als unheimliche Verfremdung der Wirklichkeit (Kayser) oder in der Inszenierung grotesker Körper als Tier, Teufel oder Monstrum, schließlich als von Alterität bestimmter Körper des Fremden seit St. Brendan und Mandeville bis zu den Entdeckungsreisen der Neuen Welt. Auch ist die Volkskultur als einziger Referent des Grotesken abzulehnen: Allein der Hinweis auf die Mischkultur der Renaissance-Groteske in höfischer Architektur und Gartenkunst oder die Hybridisierung der lateinischen Sprache durch die Humanisten genügt, um dies zu bestä‐ tigen. 129 Es stellt sich die Frage, ob Bachtins Groteske-Konzept zur Beschreibung des lächerlichen menschlichen Körpers im engeren und von Lachvorgängen im weiteren Sinne geeignet ist. Als übergreifendes Diskursmodell karnevalesker (hyperbolischer, familiärer und hybrider) sprachlicher Formen, die die Körperfunktionen des Menschen betreffen, mag es eventuell hilfreich sein. Als Kern eines speziell volkstümlichen Motivsystems, das jedoch weit über das Lachen hinausgeht, kann es - mit Einschränkungen - für Untersuchungen in Literatur und Kunst ebenfalls relevant sein. 130 Nur eine unzureichende Antwort jedoch kann es auf die Fragen nach den Aufführungsformen des Körpers in Lachzusammenhängen geben: Über welche Körperdarstellungen wird in welcher Situation und sozialen Konstellation gelacht? Wie sehen die Diskurse und Bilder des aufgeführten lächerlichen Körpers aus und auf welche möglichen Interaktions- und Praxisformen weisen sie hin? Um diese Fragen zu beantworten, ist es angeraten, den metaphorisch vieldeutigen und mittlerweile vollkommen mit Bachtin identifizierten ‚grotesken Körper‘ als methodischen Begriff im Hintergrund zu halten und stattdessen mit dem einfacheren, doch auf vielen Ebenen praktikableren Begriff des „komischen Körpers“ zu arbeiten. 131 Damit können die performativen Akte körperlicher Lachanlässe, wie sie in Spielen und vor allem in textuellen Inszenierungen greifbar werden, genauer analysiert werden. Er ist auch gegenüber dem „lächerlichen Körper“ besser geeignet, weil er auf die Aufführungsbedingungen beim La‐ chen über Körperliches verweist: Es ist der für eine Gruppe von Lachenden inszenierte und dramatisierte, sich bewegende und stimmlich vernehmbare Körper in Aufführungen und ihren medialen Re-Inszenierungen. Gegenüber dem „lächerlichen Körper“, der eher unfrei‐ willig verlacht wird, ohne sich planvoll in Szene gesetzt zu haben, ist der komische Körper von Beginn an gänzlich auf das Lachen ausgerichtet und von ihm abhängig. Er wird durch das Lachen der Anderen erst zum komischen Körper, ist in dem Maße als performativ zu kennzeichnen, als er nicht konstativ Bedeutungen aussagt, sondern in der Interaktion mit Anwesenden Wirklichkeit in actu konstituiert. 132 Das Lachen bindet ihn auch an bestimmte 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 118 <?page no="119"?> 133 Vgl. Gumbrecht: Literarische Gegenwelten zum von Bachtin übernommenen Begriff der ‚Gegen‐ kultur‘ (S. 96 ff.) Einschränkend ist dazu zu sagen, dass alle Metaphern zur Erklärung des Lachens, die mit dem Präfix „Gegen-“ gebildet werden, meiner Ansicht nach Ausdruck eines Versuchs sind, das Lachen für politische oder utopische Zwecke in Dienst zu nehmen. Gegenwelt, Gegenkultur, Gegenbewegung, all das meint eine Feindschaft zu geltenden Normen, und nicht etwa, wie bei Joa‐ chim Ritters „Nichtigem“, das durch Transgression Ausgegrenzte wieder hereinzuholen. 134 Vgl. Fuß, Das Groteske, S. 81. soziale Kontexte (höfische, volkstümliche, städtische oder klerikale Unterhaltungsokkasi‐ onen wie gemeinsames Essen, Jahrmarkt, Karneval, Posse oder Narrenfest), das Lachen bestimmt die mit ihm verbundenen histrionischen Techniken der Mimesis und Transfor‐ mation. In den meisten dieser Situationen ist er tatsächlich von einer Unabhängigkeit von Konventionen der Haltung und der Disziplin charakterisiert, was seine Inanspruchnahme durch „Gegenkulturen“ und seine hohe Ambivalenz erklärt. Die bereits von Gumbrecht gesehene Zugehörigkeit des komischen Körpers zu „Spiel- und Gegenwelten“, seine „asym‐ metrische Negation“ 133 muss somit auch lebensweltlich erweitert werden, indem er auf die Profession und die spezifische Rechtsposition der professionellen Körperdarsteller (Gaukler, künstlichen Narren, Tänzer, Bühnendarsteller) hinweist. Die Frage, ob ein komischer Körper grotesk sein kann, muss demnach entschieden af‐ firmativ beantwortet werden: Bachtins Verdienst ist es ja gerade, das Groteske als Form des Lächerlichen wieder brauchbar gemacht zu haben. Im Anschluss an die Arbeit von Peter Fuß lässt sich der groteske Körper als metaphorisches Gegenbild zum klassisch schönen Körper definieren und meint die Auflösung der Allgemeinverbindlichkeit konventioneller Normen und die Tendenz zu ihrer Destabilisierung: Die groteske Struktur ist Produkt der Dekomposition der Relationen und der Permutation der durch die Dekomposition (...) freigesetzten Elemente einer (...) kulturellen Ordnungsstruktur und ihrer modifizierten Rekombination. Wird sie mit jener Ordnung konfrontiert, deren virtuelle Ana‐ morphose sie darstellt, forciert diese Kollision die Liquidation der Ordnung und erhöht die Wahr‐ scheinlichkeit ihrer realen Transformation. 134 In anderen Worten, groteske Körper (als theatrale und künstlerische Figurationen) können in ihrer Tendenz zur Destabilisierung und Auflösung kultureller Strukturen und Ord‐ nungen beschrieben werden, sie sind hybride und transformative Erscheinungen. Ihr se‐ mantisches Potential kann erst in der Aufführung wirksam werden; das Lachen, welches die Wahrnehmung des grotesken Körpers auslöst, ist damit auch kein kosmisches, kollek‐ tives und universales Festtagslachen, sondern an bestimmte historische und rituelle Auf‐ führungskontexte gebunden. Es kann heiter und lustvoll, aber auch ausgrenzend, spöttisch oder erniedrigend sein. Noch ist weitgehend nicht erforscht, welche Rolle der Körper als semiotisches und per‐ formativ-materiales Phänomen in den Aufführungen und Texten der Vormoderne spielte, wie seine Präsenz bei komischen Szenen gewirkt hat und mit welchen gestischen und mi‐ 2.4. Bachtins ‚grotesker Körper‘ als Textmetapher 119 <?page no="120"?> 135 Ansätze dazu bieten einige Beiträge des Bandes Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580-1730). Hg. von Stefanie Arend, Thomas Borgstedt, Nicola Kaminski u. Dirk Niefanger. (= Chloe. Beihefte zum Daphnis 40). Amsterdam / New York 2008, vor allem jene zur ko‐ mischen Körperlichkeit auf der Bühne: Fulda, Daniel: Komik des Sichtbarmachens. Zu Körper und Verkleidung als Medien des Wanderschauspiels, mit einer Wendung von der Medialität des Komischen zur Komik als Medium, S. 71-104; Mourey, Marie-Thérèse: Körperrhetorik und -semiotik der volks‐ tümlichen Figuren auf der Bühne, S. 105-141; sowie Wirths Beitrag zu Grimmelshausen: Wirth ‚… habt ihr denn keine Mäuler mehr? ‘ Die Performanz des komischen Körpers in Grimmelshausens Simp‐ licissimus, S. 171-188. 136 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 53. mischen Codes genau gearbeitet wurde. 135 Dass der Körper als Lachender, aber auch als Lachanlass in vielfältiger Weise, und nicht nur innerhalb einer wie auch immer konstru‐ ierten popularen Kultur gegenwärtig war, dürfte inzwischen unstrittig sein, und dies ist nicht zuletzt trotz aller Einschränkungen das Verdienst Bachtins. Denn er war der erste, der den Körper als zentralen Aspekt des Lachens als einer rituellen Handlung erfasst hat, als einen in zyklische Feste eingebundenen Zeit-Ort, der nur in und durch Gemeinschaft entstehen und wahrgenommen werden kann. Dass dieser Körper noch genauerer Konkre‐ tisierung bedarf, dürfte ebenso deutlich geworden sein. Vor allem die Frage, wie die Rituale und Praktiken beschaffen sind, an denen er teilhat bzw. in denen er Lachen hervorruft, ist hier von Interesse. 2.5. Rituelles Lachen Bachtins Studien haben die Frage nach dem lächerlichen Körper in einen rituellen Rahmen gesetzt. Sein ‚grotesker Körper‘ ist die metaphorische Umschreibung für eine spezifisch vormoderne Volkskultur, die durch ‚rituelles Lachen‘ gekennzeichnet ist. Dieses Lachen hat wenig vom modernen Verständnis des Lachens als Auflachen über komische Inkongru‐ enzen oder die Pointe eines Witzes, denn es ist nicht in erster Linie über mediale Instanzen vermittelt. Es ist vielmehr ein direktes, lautes, gemeinschaftliches, körperbetontes und dauerhaftes Lachen, das bestimmte populare Rituale und Aufführungen des Mittelalters begleitet und sie konstituiert, in einigen Fällen sogar regiert. Es wird über rituelle Zusam‐ menhänge gestiftet und bestimmt ihre Dynamik in hohem Maße mit. Welche Rituale sind hier aber gemeint? Aufgrund der dichotomischen Struktur, die Bachtin der mittelalterlichen Welt zuweist, zieht er eine scharfe Grenze zwischen weltlichen und religiösen Ritualen, wobei das rituelle Lachen nur ersteren zugerechnet werden könne: Lachen begleitete gewöhnlich die profanen und häuslichen Zeremonien und Riten: Possenreißer und Narren waren ständige Teilnehmer, die auf parodistische Art die verschiedenen Momente des seriösen Zeremoniells (z. B. Siegerehrungen auf Turnieren, Zeremonien zur Übergabe der Lehns‐ rechte, Erhebungen in den Ritterstand) nachahmten. 136 Zu den profanen Ritualen zählt Bachtin sowohl häusliche Feste, bei denen Narrenkönige und -königinnen gewählt wurden, als auch alle Feste mit Karnevalscharakter, wie etwa Kirchweihfeste mit ihrem „reichhaltigen Repertoire an Belustigungen“, Mysterienspiele 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 120 <?page no="121"?> 137 Ebd., S. 54. 138 Vgl. Schindler, Karneval, Kirche und verkehrte Welt; Pleij, Herman: Het gilde van de Blauwe Schuit. Literatuur, volksfeest en burgermoraal in de late middeleeuwen. Amsterdam 1979; Retemeyer, Kerstin: Vom Turnier zur Parodie. Spätmittelalterliche Ritterspiele in Sachsen als theatrale Ereignisse. Berlin 1995; Althoff, Gerd: Vom Lächeln zum Verlachen. In: Lachgemeinschaften. Hg. von Röcke u. Velten, S. 3-16. 139 Vgl. Rooijakkers, Gerard: Charivari in de Nederlanden: rituele sancties op deviant gedrag. Amsterdam 1989; aus historischer Sicht die Arbeiten Martin Ingrams, etwa: Charivari and Shame Punishments. Folk Justice and State Justice in Early Modern England. In: Social Control in Europe: 1500-1800. Hg. von Herman Roodenburg u. Pieter Spierenburg. Columbus 2004, S. 288-308; aus literaturwissen‐ schaftlicher Sicht v. a. die Arbeiten Katja Gvozdevas: Hobbyhorse performances: A ritual attribute of carnivalesque traditions and its literary appropriation in Sottie Theatre. In: Genre and Ritual. Hg. von Eyolf Østrem u. a. Copenhagen 2005, S. 65-86, Rituale des Doppelsinns. Zur Ikonologie der Chari‐ vari-Kultur im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Ikonologie des Performativen. Hg. von Christoph Wulf u. Jörg Zirfas. München 2005, S. 133-150 und Burleske Statuten im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Gisela Drossbach u. Claudia Märtl. Paderborn 2008. 140 Vgl. Bergson, Das Lachen, S. 107 f. oder Sottien, bei denen „Karnevalsatmosphäre“ herrschte. 137 Auch wenn es sich hier um allgemeine und pauschale Angaben handelt, so hat die historische Forschung in den letzten Jahren doch die Thesen Bachtins im Ansatz präzisieren können, indem sie die in der mit‐ telalterlichen Kultur weit verbreitete Praxis von (parodistisch-mimetischen) Spott- und Rügeritualen näher untersucht hat. 138 Vor allem die Arbeiten zu Status und Funktion brauchtümlicher Charivaris haben hier wichtige Ergebnisse zutage gefördert, die die soziale Kontrolle und Wirksamkeit des gemeinsamen Gelächters bei solchen rituellen Rügebrüchen betreffen. 139 Die bessere Erforschung ritueller Fastnachtspiele wie den Nürnberger Schem‐ bartlauf (wie des Narrenlaufens überhaupt), das fastnächtliche Blochziehen, die Inszenie‐ rung von Weibermühlen und Jungbrunnen oder das Tragen und Zeigen von Spott-Insignien gehören ebenfalls in diesen Zusammenhang. Wird das Lachen in der historischen For‐ schung als ein Nebeneffekt der populären Bestrafung gewertet, so zeigen literatur- und kulturwissenschaftliche Ansätze seine wichtige Rolle bei der Umsetzung und beim Gelingen dieser Rügemaßnahmen, sowie als wirksames Mittel zur Konstitution von Gemeinschaft qua sozialer Zugehörigkeit und Ausgrenzung. 140 Allerdings ist Bachtins strikte und folgenschwere Differenzierung zwischen profanen Ritualen der ‚Volkskultur‘ einerseits und der ‚offiziellen Kultur‘ zugehörigen religiösen Ri‐ tualen andererseits nicht haltbar. Nicht nur, dass zahlreiche der von ihm genannten pro‐ fanen Rituale in religiöse Feste eingebunden sind, sondern auch die Tatsache, dass sich gerade im Rahmen religiöser Rituale wie z. B. dem Osterlachen, dem risus paschalis, den Jahresendfesten des niederen Klerus (festa stultorum) oder den komischen Szenen im Os‐ terspiel rituelles Lachen entfalten kann, spricht gegen eine Trennung von sakral und profan. Gerade die Präsenz des Sakralen macht durch Inversionen und Parodien von Lachen be‐ 2.5. Rituelles Lachen 121 <?page no="122"?> 141 Auf die Frage nach der Funktion des Lächerlichen und Grotesken in seiner unmittelbaren Nähe zum Sakralen hat Aaron Gurjewitsch in einem Aufsatz von 1975 eine klare Antwort gegeben: Ausgehend von der dualistischen Weltsicht, in der das Sakrale und das Groteske zwei Komplementärformen sind, formulierte er: „Le grotesque médiéval ne s’oppose pas au sacré et ne nous éloigne pas de lui; peut-être représente-t-il, au contraire, l’une des formes que revêt l’approche du sacré. Il profane et affirme le sacré en même temps“. Gurjewitsch bestimmt damit die Funktion des Groteskkomischen nicht als deformierende, subversive, im Bachtinschen Sinn das Hohe erniedrigende Kraft, die die bestehende religiöse oder ästhetische Ordnung herausfordert und sich ihr entgegenstellt, sondern im Gegensatz dazu als Mittel der Affirmation und der Erkenntnis des Sakralen: „Dans ce système, le sacré n’est pas mis en doute par le rire; au contraire, il est renforcé par l’élément comique qui est son double et son compagnon, son écho permanent.“ Gurjewitsch, Aaron R.: Le comique et le sérieux dans la littérature religieuse du Moyen Age. Diogène 89 (1975), S. 67-89, hier S. 87-89. Dazu auch Gvozdeva u. Röcke: Risus sacer - sacrum risibile, S. 11-18. 142 Damit sind auch die von Bachtin erstellten spezifischen Merkmale der „rituell-szenischen Lach‐ formen“ mit Skepsis zu betrachten: Lachrituale seien keine religiösen Riten, sie hätten keinen ma‐ gischen oder Andachtscharakter, und einige seien Parodien auf den kirchlichen Kult. 143 Isolde Stark vertritt in ihrer Untersuchung zum Lachen in der Antike die These, dass das Lachen ursprünglich rituellen Charakter hatte; die griechische Komödie entstand nicht aus dem Kult, aus kultisch-religiösen Wurzeln und Vorläufern, wie man bisher angenommen hatte, sondern aus dem Lachen über die Possenreißerei von Bettlern und anderen sozial Inferioren. Stark, Isolde: Die hämi‐ sche Muse. Spott als soziale und mentale Kontrolle in der griechischen Komödie. (= Zetemata 121). München 2004, S. 98-101 u. 322-325. stimmte Gegenrituale erst möglich, und diese stehen zu jenen nicht im Widerspruch. 141 Das Grotesk-Komische ist im Mittelalter dem Sakralen nicht entgegengesetzt; im Gegenteil, es repräsentiert vielleicht eine derjenigen Formen, die den Zugang zum Sakralen ermöglichen, indem es das Sakrale zugleich profaniert und affirmiert, wie eine Grenzüberschreitung die Norm bestätigt. 142 Die Formen und Funktionen des rituellen Lachens sind unserer kulturellen Erfahrung heute nur noch schattenhaft zugänglich, wenn wir nicht auf den methodisch nie ganz ope‐ rationalisierbaren Vergleich mit außereuropäischen Kulturen rekurrieren wollen. 143 Sie ge‐ hören jedoch zu einer spezifischen Kultur der europäischen Vormoderne, da sie in der Mo‐ derne in dieser Form nur noch atavistisch auftreten. Ihre Existenz in den vergangenen Epochen der europäischen Kulturen bedeutet nicht, dass das Lachen schlechthin rituell gewesen sei, wie das Händeklatschen oder Kniebeugen nicht schlechthin rituell sind. Es nimmt nur eine rituelle Signifikanz in vormodernen Kulturen ein, die wir vom heutigen Standpunkt nicht voraussetzen können. Es ist deshalb nötig, dem zu Beginn dieser Arbeit formulierten methodischen Weg zu folgen, das Lachen nicht nur paradigmatisch und als universales Merkmal des Menschlichen, sondern zunächst einmal von der Kultur und ihrer Zeit her zu bestimmen, in der es auftritt. Nur auf diese Weise lassen sich Lachen und Komik auch in den Schriftzeugnissen der älteren Epochen in ihrem historischen Kontext verorten. Lachen sollte auch nicht einfach als zeichenhafter Ausdruck für bestimmte Kommunikati‐ onsverhältnisse gewertet, sondern muss vor allem in Bezug auf die Bedingungen seiner historischen Vollzugsmöglichkeiten, auf seine rituellen und sozialen Voraussetzungen un‐ tersucht werden. Gerade das Lachen als Körperreaktion, und der Körper als Lachanlass müssen stärker von der Warte ihrer performativen Bezüge her gesehen werden. 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 122 <?page no="123"?> 144 Bereits früh Reinach, Salomon: Le rire rituel. In: ders.: Cultes, Mythes et Religions. Bd. IV. Paris 1912; vor Kurzem erst wieder Halliwell, Stephen: Ritual laughter and the renewal of life. In: ders.: Greek laughter. A Study of Cultural Psychology from Homer to Early Christianity. Cambridge 2008, S. 155-214. 145 Warning, Funktion und Struktur, S. 113. 146 Ebd., S. 111. 147 Vgl. zur Weiterschreibung der Warningschen Definition des rituellen Lachens im geistlichen Spiel Quast, Vom Kult zur Kunst, S. 124-126, der das rituelle Lachen auf seine soteriologische Funktion (im Sinne Bergers) zurückführt. Abgesehen von anthropologischen und mythologischen Forschungen zum rituellen La‐ chen im Rahmen griechischer mythischer Erzählungen von Fruchtbarkeitskulten 144 war es für die Literatur- und Theaterwissenschaft Rainer Warning, der diesem Aspekt der mittel‐ alterlichen Kultur m. W. zum ersten Mal ernsthaft nachgegangen ist, indem er das rituelle Lachen der komischen Szenen im geistlichen Spiel untersuchte (s. o.). Warning bezeichnet die Höllenfahrt (mit Seelenfangspielen), das Krämerspiel, die hortulanus-Erscheinung und den Jüngerlauf als „Lach-Rituale“, die sich durch magische und reinigende Kraft auszeich‐ neten und die wiederkehrende Lebenskraft und Fruchtbarkeit feierten. 145 Die von Teufels‐ komik bestimmten Lachrituale stützten sich auf die Tatsache, dass der Teufel in der ge‐ spielten Aufführung als lächerlich wahrgenommen werden und somit im Lachen gebannt werden könne: „Denn diese Komik kristallisiert sich um ein (...) gespieltes Ritual, sie ist Modellen und Theorien literarischer Komik wesentlich nicht zugänglich, sie ist eine rituelle und in diesem Sinn archaische Komik.“ 146 Warning entwickelt hier den Begriff der „rituellen Komik“ in Abgrenzung zu Modellen der literarischen Komik als Komik der Aufführung, der als-ob-Situation, in der das Dämonische mit theatralen Mitteln verfremdet werden kann. Die rituelle Komik entspricht dem rituellen Lachen als strukturelles Pendant, sie wird von diesem modal eingebunden. Diese rituelle Komik kann als modale Komik im Sinne der in Kap. 1.3. theoretisch beschriebenen Relation verstanden werden, insofern als sie vom rituellen Lachen bestimmt und eingerahmt wird. Sie ist auch auf den lächerlichen Körper (der Teufel) beziehbar, indem sie weniger auf das kognitive Verstehen (wie das bei litera‐ rischer, textuell fixierter Komik meist vorausgesetzt wird) als auf die sinnliche Wahrneh‐ mung der Körperlichkeit und den gemeinschaftlichen Vollzug des Lachens abhebt. Denn Verstehbarkeit im Sinne hodogetischer Sinnhaftigkeit ist dem Ritual eine eher fremde Ka‐ tegorie. Als festliches Ereignis setzt es von vornherein die Kontingenzen des Alltags mit den ihnen notwendig zugehörigen Elementen der Körperdisziplin und Selbstbeherrschung außer Kraft und bietet Freiraum für die Inszenierung gegenweltlicher Provokation und Ambivalenz. Diese Ambivalenz wird auch durch die Widersprüchlichkeit und Referenzlo‐ sigkeit von Rede und Körperinszenierung gestaltet, sodass solche uneindeutigen, krisen‐ haften Situationen nur mit rituellem Lachen gelöst werden können. Die heilende bzw. er‐ lösende Wirkung des rituellen Lachens wird hier deutlich: Das Lachen erreicht eine Versöhnung von Gegensätzen nach der Krise, der vom Wissen verdrängte Körper gerät zum Fokus der rituellen Präsenz. 147 Somit kann der komische Körper der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturen gerade auch über die Einbindung in rituelle Dimensionen, und hier vor allem das rituelle Lachen greifbar werden. Wenn wir unter Ritualen Aufführungen verstehen, in denen Ge‐ 2.5. Rituelles Lachen 123 <?page no="124"?> 148 Verberckmoes, Johan: Laughter, jestbooks and society in Spanish Netherlands. Basingstoke 1999, S. 5. 149 Douglas, The social control of cognition, S. 362. 150 Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. 1989. 151 Douglas, The social control of cognition, S. 370. meinschaft gestiftet wird und die zu einer Transformation der Teilnehmer führen, können wir für das rituelle Lachen vier Bedingungen festlegen: (1) Rituelles Lachen ist ein gemeinschaftliches Lachen der Teilnehmer und Zuschauer in einem Ritual, es ist in hohem Maße gemeinschaftsbildend. (2) Rituelles Lachen folgt performativen Aspekten, es ist ein an die Aufführung / das Ritual gebundenes Lachen, ein für andere aufgeführtes Lachen. (3) Rituelles Lachen erfüllt soziale, magische, heilende oder soteriologische Funktionen, indem es die inszenierten Provokationen des Tabuisierten und Bösen bzw. Fremden abwehrt, seine Figurationen ridikülisiert und somit überwinden kann. (4) Die durch rituelles Lachen hervorgerufene Transformation ist nicht mit progressivem Wandel gleichzusetzen. Der lächerliche, und ebenso wenig der lachende Körper ist ein Agent des Wandels, sondern er schafft einen liminalen (Zeit-)Raum, in dem soziale Kontrolle aufgehoben ist. Die innerhalb dieses Raumes sozusagen probeweise durch‐ gespielten Veränderungen können auch nach Rückkehr in die Alltäglichkeit wirksam bleiben, doch können sie ebenso gut auch die bestehenden Muster und Normen be‐ stätigen. Dies ist von den jeweiligen Bedingungen des Rituals abhängig. Bedeutsam ist deshalb beim rituellen Lachen die Tatsache, dass es stattgefunden hat, das Ereignis des Lachens selbst ist vorrangig. Der belgische Humorforscher Johan Verberckmoes drückt dies folgendermaßen aus: „The fact that laughing bodies physically fill space with their spasms and implicate the eyes and the ears of the laughers and beholders alike, is therefore a social event of the first importance.“ 148 Diese vier Aspekte des rituellen Lachens in der Vormoderne können im Übrigen auch aus ethnologischer Perspektive gegengelesen werden. Wie in Kap. 1.3 beschrieben, vertritt Mary Douglas die These, dass in afrikanischen Gemeinschaften das Lachen auch über Witze als rituell und diese selbst als ritualisierte symbolische Handlungen angesehen werden können. Ausgehend von der Beobachtung des „ritual joking“ stellte sie fest, dass es familien- und clanbezogene institutionelle Scherzverhältnisse (joking relations) gibt, die bestimmte soziale Funktionen haben und häufig mit anderen sozialen Ausdrucksformen verbunden sind. Diese Scherzverhältnisse weisen ähnliche Elemente wie die europäischen Lachrituale der Vormoderne auf: bestimmte rituelle Anlässe und bestimmte soziale und symbolische Beziehungen, eine krude Skatologie, sowie das Element der spielerisch-provokativen He‐ rausforderung. 149 Douglas stellt ihre anthropologische Witz- und Lachtheorie in den Rahmen von Victor Turners Konzept der communitas, der sich in liminalen Perioden (Ritual, Fest) konstitu‐ tierenden Gemeinschaft. 150 Hier sind die Rollen und Beziehungen der Mitglieder einer Ge‐ meinschaft temporär offen und frei für Statusveränderungen, da soziale Strukturen (Hie‐ rarchien, Herrschaft und Autorität) ausgesetzt sind. „Laughter and jokes, since they attack classification and hierarchy, are obviously apt symbols for expressing community in this sense of unhierarchised, undifferentiated social relations“. 151 Mit Douglas hätte das rituelle 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 124 <?page no="125"?> 152 Als ein Beispiel kann das rituelle Verlachen von Krüppeln und Narren als geistig Behinderten genannt werden, von dem Ménard in seiner Untersuchung zum Narren in der Literatur spricht. Es ist ein von Furcht und Abscheu, von Überlegenheit und Fremdheit gekennzeichneter ritueller Spott, der den Narren trifft, gleichzeitig aber auch die Gemeinschaft der Lacher herstellt. Vgl. Ménard, Philippe: Les Fous dans la Société médiévale. Le Témoignage de la Littérature au XIIe et au XIIIe Siècle. Romania 98 (1977), S. 433-459. 153 Dazu Handelman, Don: The Ritual-Clown. Attributes and Affinities. Anthropos 76 (1981), S. 321-370. Vgl. auch Makarius, Laura: Ritual clowns and symbolic behavior. Diogenes 69 (1970), S. 44-73. 154 Handelman, The Ritual-Clown, S. 344. Lachen seine feste soziale Funktion, auch außerhalb der von Turner beschriebenen, an be‐ stimmte Zeiten und Räume gebundenen communitas. Allerdings ist es, wie das rituelle La‐ chen in Mittelalter und Früher Neuzeit auch, an einen liminalen Rahmen gebunden, in dem es sich entfalten kann und dessen Kennzeichen es quasi ist. Es wäre interessant zu zeigen, wie sich diese theoretischen Überlegungen im Einzelnen für die Analyse ritueller Auffüh‐ rungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nutzbar machen lassen, bei denen mensch‐ liche Körper auf verschiedenste Weise als komische Körper inszeniert werden. Prinzipiell gibt es hier zwei Möglichkeiten: den im rituellen Vollzug lächerlich gemachten passiven Körper (etwa bei den Teufelsfiguren im geistlichen Spiel oder den Bauern im Neidhartspiel), und den aktiven, sich als komisch inszenierenden Körper der rituellen Lachfigur bzw. des rituellen Spaßmachers (ritual clown, Possenreißer, komischer Mime, Narr). Häufig sind auch beide Formen des lächerlichen Körpers miteinander verbunden. Beide werden über das rituelle Lachen und die hierbei entstehenden Lachgemeinschaften definiert. 152 Was den aktiven Körper der rituellen Lachfigur angeht, gibt es in der Ethnologie ver‐ schiedene Beispiele des ritual clowning, welche von Nordamerika bis Ozeanien reichen. Rituelle Clowns haben die Aufgabe, innerhalb bzw. am Rand von rituellen Vollzügen Tabu- und Normgrenzen zu verletzen, das Heilige zu profanieren, Groteskes und Obszönes auf‐ zuführen (Phallus-Symbolik) und den Ablauf der rituellen Handlungen zu verkehren und lächerlich zu machen. Dazu gehören etwa derbe Späße, körperliche Exaltationen, Verstel‐ lungen, das Werfen mit Unrat, die Imitation sakraler Figuren und sakraler Sprache. Wie der Trickster kann der rituelle Clown als widersprüchliche und inkonsistente Figur mit exzes‐ siver und proteischer Körperlichkeit bestimmt werden. Beide sind „Gegenteiler“ zu den Stammesheiligen und Schamanen, sie sind als Ausgegrenzte dennoch Teil des Geltenden. Das Handeln der Clowns ist jedoch nicht allein von Ambiguität gekennzeichnet, sondern auch von einem „mechanism of reflexivity“ (Handelman), welcher Grenzüberschreitungen als Verwandlungen seiner Person sichtbar macht. 153 Somit erfüllt der rituelle Clown eine metakommunikative Funktion und trägt dazu bei, die Reflexivität eines Rituals zu erhöhen. Gegenüber älteren Deutungen der Funktionen von rituellen Clowns, welche in ihnen Aus‐ gleichsfiguren sozialer Spannungen durch komische Entlastung sahen, unterstreicht Han‐ delman ihre wichtige Rolle für das Gelingen des rituellen Prozesses: ihr symbolisches Han‐ deln evoziere eine Anti-Struktur, die durch Lachen bewältigt werden kann und somit dazu beiträgt, das Ritual performativ zu vollziehen. 154 Dieser letzte Aspekt zeigt klar, wie wichtig die Komik des Clowns für seine symbolische und rituelle Funktion war. Diese Komik ist grundsätzlich metakommunikativ und geht von Körper, Stimme, Bewegungen und Kör‐ perfunktionen aus, weniger von sprachlichen Ambivalenzen. Sie ist mit der Komik der 2.5. Rituelles Lachen 125 <?page no="126"?> 155 Castiglione, Baldesar: Il libro del Cortegiano. Buch II, 36. Hg. von Walter Barberis. Torino 1998, S. 171 f. „Häufig stoßen sie sich gegenseitig die Treppe hinab, schlagen sich mit Prügeln und Ziegeln auf die Lenden, werfen sich Hände voll Pulver in die Augen, reiten die Pferde in Gräben oder in hügeligem Gelände zuschanden; bei Tisch dann werfen sie sich Suppen, Soßen, Gelatinen ins Gesicht, und dann lachen sie (...). Einige wetten gegeneinander und setzen einen Preis für denjenigen aus, der die furchtbarsten und ekelhaftesten Dinge essen und trinken könne. Und sie machen solche für die menschliche Wahrnehmung widerwärtigen Dinge, dass es unmöglich ist, sie ohne sehr großen Ab‐ scheu an sie zu denken“. (Übers. HRV) 156 Zum Stilideal des homo facetus im Humanismus und schon zuvor vgl. den umfassenden Beitrag von Dicke, Gerd: Homo facetus. Vom Mittelalter eines humanistischen Ideals. In: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Nicola McLelland u. a., Tübingen 2008, S. 299-332. 157 „e di questo non ne darò esempio alcuno, perché ogni dí in esso tutti ne vedemo infiniti.“ Ebd., S. 191. historischen und literarischen Possenreißer, welche ich im folgenden Kapitel behandeln will, durchaus vergleichbar. 2.6. Scurrilitas: Transgressionen des Possenreißers Im zweiten Buch von Baldesar Castigliones Hauptwerk Il libro del cortigiano (Das Buch vom Hofmann, publ. 1528) geht es um die gesellschaftliche und moralische Aufwertung des La‐ chens und seiner zugehörigen Inszenierungstechniken. Dabei wird mit einem Gegenmodell gearbeitet, gegen das der Hofmann abgegrenzt und seine Konturen herausgearbeitet werden können. Nicht zufällig entspricht dieses Gegenmodell auch jenem, das auch schon Cicero für seinen orator gebraucht hat: Es ist der Possenreißer. Spesso s’urtano giù per le scale, si dan de’legni e de’mattoni l’un l’altro nelle reni, mettonsi pugni di polvere negli occhi, fannosi ruinare e cavalli addosso ne’ fossi o giù di qualche poggio; a tavola poi, minestre, sapori, gelatine, tutte si danno nel volto, e poi ridono (...). Sono alcuni che contrastano e mettono il prezio a chi può mangiare e bere più stomacose e fetide cose; e trovanle tanto aborrenti dai sensi umani, che impossibil è ricordarle senza grandissimo fastidio. 155 Der Possenreißer, bei Castiglione buffone genannt, verhält sich zum gewitzten Hofmann, zum homo facetus, wie die Transgression zur Norm. 156 Er ist notwendigerweise konstru‐ iertes Negativbild einer idealen Figur, an der die Normativität erkennbar wird. Die ihm zugeschriebenen Handlungen, die buffonerie, können jedoch von jedermann nachgeahmt werden, und darin liegt die Gefahr seines Verhaltens, denn wenn man etwa Imitationen körperlicher Defekte anwesender Personen zu offensichtlich zur Schau stellt, um Lachen zu erregen, kann dies sehr schnell zu Beleidigung und Ehrverletzung führen und furchtbare Konsequenzen auslösen. Dafür will Castiglione kein Beispiel geben, da man von solchen Dingen jeden Tag unendlich viele sehen könne. 157 Überträgt Castiglione damit nicht nur einen literarischen Topos falschen und daher zu verurteilenden Verhaltens in seine Zeit? Einerseits kann man diese Frage sicherlich bejahen, andererseits aber stammen die Beispiele, die im Text angeführt werden, aus der Hof‐ narren-Kultur der italienischen Renaissance, seien sie nun theatral oder narrativ vermittelt. Wenn wir diese Beispiele näher betrachten, erkennen wir, worin die Hauptunterschiede 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 126 <?page no="127"?> 158 Castiglione lässt seinen Bernardo sagen, dass es sich nicht gezieme, sich auf das Niveau der Possen‐ reißerei herabzubegeben („non discendere alla buffoneria“). Kap. L., S. 190f 159 Aristoteles, Nikomachische Ethik 4, 14 (Witz und Gewandtheit). 160 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Lemma ‚Possenreiszer‘. Bd. 13, Sp. 2015. zwischen Possenreißer und Hofmann bestehen: es ist die übertriebene, grobe und unflätige Inszenierung des lächerlichen Körpers, das Abgleiten ins sprachliche und gestisch Zotige und Obszöne, die Kunst der Nachahmung und üblen Nachrede, die der Hofmann in jedem Fall vermeiden soll: Ché in vero ad un gentilomo non si converria fare i volti, piangere e ridere, far le voci, lottare da sé e sé, come fa Berto, verstirsi da contadino in presenza d’ognuno, come Strascino; e tai cose, che in essi son convenientissime, per esser quella la lor professione. 158 Definitorisch ist der Possenreißer Castigliones also jemand, der seinen eigenen Körper und den der anderen dergestalt in Szene setzt, dass Zuschauer bzw. Zuhörer zum Lachen ge‐ bracht werden Dabei bedient er sich aller denkbaren Möglichkeiten, um gegen die Normen der Körper- und Sprachdisziplin zu verstoßen. Es handelt sich demnach um intentional durchgeführte Techniken eines professionellen Lachkünstlers oder Lustigmachers, der sich dabei über die Grenzen des Erlaubten hinaus begibt. Bereits Aristoteles hatte in der Niko‐ machischen Ethik über das Scherzen die Komik des Possenreißers mit übertriebenen Kör‐ perbewegungen beschrieben. 159 Im Deutschen geht der Begriff des Possenreißers nach Grimms Deutschen Wörterbuch etymologisch bis ins 16. Jahrhundert zurück und meint dort eine Person, die „durch geberde oder wort zum lachen“ reizt und „belustigt“. Fischart, der den Begriff verwendet, setzt ihm mit ‚abenthewrer‘ gleich, ein Wort, das häufig auch für die Helden von Schwankgeschichten und -romanen verwendet wurde. Das Wörterbuch unterscheidet zwei Haupttypen des Pos‐ senreißers: den höfischen Possenreißer oder Hofnarren, und den städtischen Possenreißer, den Vaganten oder Gaukler. 160 Die frühneuhochdeutsche Literatur hat beide Typen mitei‐ nander verschmolzen, wohl weil ihr Publikum sozial nicht mehr eindeutig zu fixieren war. Der Begriff des Possenreißers eignet sich deshalb für die Zwecke dieser Studie, weil er einen Typus des professionellen Unterhalters beschreibt, der Lachen vor allem mit Hilfe seiner Körpertechniken erregt, meist auf Kosten anderer. Denn ‚Possen‘ sind mit schädli‐ chen Handlungen, die gleichwohl lächerlich sind und daher auch als Spott zu klassifizieren wären, zu definieren. Demnach wären die Schwankhelden des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, der Pfaffe vom Kalenberg, Neithart Fuchs, Ulenspiegel, aber auch Markolf und Bertoldo, sowie die literarischen Hofnarrenfiguren Possenreißer. Denn im Unterschied zum Narren, dessen Bedeutungsspektrum ungleich weiträumiger ist, kann der Possenreißer klar auf das Lachen bezogen und somit auf den Lachvorgang selbst beschränkt werden. Er ist somit mehr über seine Tätigkeit, seine Handlungen und Aufführungen als über sein Amt, seine institutionelle Zugehörigkeit oder seine symbolische Bedeutung bestimmbar. Der Narrenbegriff bezeichnete bereits im Spätmittelalter mehr als einen Possenreißer: Der Narr war eine vielschichtige Figur der Differenz, die verschiedenen Diskursen zuge‐ hörte. Narrheit konnte als Gottesleugnung verstanden werden (Bibel, Psalmen), als Wahn‐ sinn (geisteskranke Menschen; ein Diskurs, den Foucault verfolgt hat), als das Fremde und Andere (wilde Männer), seit Sebastian Brants Narrenschiff auch als Sünd- und Lasterhaf‐ 2.6. Scurrilitas: Transgressionen des Possenreißers 127 <?page no="128"?> 161 Vgl. dazu Velten, Hans Rudolf: Hofnarren. In: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe. Hg. von Werner Paravicini. 2 Bde. Bd. 1: Begriffe. Wiesbaden 2005, S. 65-69. 162 Burke, Peter: Grenzen des Komischen im Italien der Frühen Neuzeit. In: ders.: Eleganz und Haltung. Berlin 1998, S. 107-128. (Engl. Orig.: Varieties of Cultural History. Cambridge 1997). 163 Die Definition von Mauss lautet: „Ich bezeichne mit Technik eine traditionelle, wirksame Handlung (und Sie sehen, dass sich dies nicht von der magischen, religiösen, symbolischen Handlung unter‐ scheidet). Es ist notwendig, dass sie traditionell und wirksam ist.“ Mauss, Marcel: Die Techniken des Körpers. In: ders.: Soziologie und Anthropologie 2. Frankfurt a. M. 1989, S. 191-222, hier S. 199 u. 205. („Les techniques du corps“. Zuerst erschienen in: Journal de Psychologie Normale et Pathologique 32 (1934). Dem Konzept liegt ein Körperverständnis zugrunde, das Plessners Begriff des „Körper-Ha‐ bens“ weitgehend entspricht. 164 Ebd., S. 202. Mauss unterstreicht - ähnlich wie auch Plessner - dass der Körper einerseits ein In‐ strument der Welterzeugung und andererseits gleichzeitig die Substanz ist, aus der die menschliche Welt geschaffen wird. tigkeit, als Dummheit und Einfältigkeit, als tierisches Verhalten oder als fastnächtliche Maske. 161 Der Körper dieser Differenzfigur des Narren in all jenen bereits im Mittelalter bestehenden Diskursen konnte daher krank, hässlich oder gewalttätig, er konnte trieb‐ haft-animalisch oder auch nur allgemein-menschlich sein. Immer verstieß der Narr gegen Normen des Mensch-Seins und der wesenhaften Normalität des Menschen: Seine Gegen‐ sätze sind je nach Diskurs der gläubige, der gesunde, der zivilisierte, der tugendhafte, der weise und kluge Mensch. Dagegen ist der Körper des Possenreißers immer ein aufgeführter, ein performativer Körper. Er lebt nur in dieser Aufführung, lebt über die Transgressivität seiner Handlungen und Reden. Er verkörpert die jahrhundertealte Tradition der mimischen Alleinunterhalter, die sich in verschiedenen Transformationen von den antiken Schauspie‐ lern und professionellen Spöttern und Witzeerzählern über die mittelalterlichen Spielleute und Aufführungskünstler zu den ‚künstlichen Narren‘ der Höfe des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit erstreckt. Daher sind die Hofnarren dieser Zeit auch gleichzeitig die größten Possenreißer; sie entwickeln eine ‚cultura della beffa‘, wie Peter Burke es ausdrückt, eine Kultur des Streiches oder der Posse, bei der ihr Körper das wichtigste Werkzeug ist. 162 Worin bestehen nun diese Körpertechniken des Lachens - oder besser Lachenmachens - die den Possenreißer auszeichnen? Der französische Soziologe Marcel Mauss hat den Be‐ griff der ‚Techniken des Körpers‘ geprägt. Er versteht darunter „die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers be‐ dienen.“ 163 Körpertechniken können als kulturell bestimmte, sozial anerkannte Gewohn‐ heiten im Sinne von Habitus verstanden werden, die ein spezielles Wissen erfordern und sozial wirksam werden. Entscheidend für die Anwendung des Konzepts im Bereich des Komischen ist nun die Tatsache, dass die Körpertechniken des Lachens sich dadurch aus‐ zeichnen, dass sie sich von den sozial normierten und gewussten Techniken unterscheiden, sozusagen als Abweichungen davon zu klassifizieren sind: Mauss berichtet, dass sein Kol‐ lege Curt Sachs auf große Entfernung den Gang eines Engländers und eines Franzosen unterscheiden konnte. Aus diesen Beobachtungen schlussfolgert er, dass es eine Erziehung zum Gehen gebe. Abweichungen werden als „komisch“ gekennzeichnet: „Du komische Kreatur, was läßt du beim Gehen immer Deine großen Hände geöffnet! “, sagte ein Lehrer zu Mauss. 164 Dieses Beispiel für eine unfreiwillige Komisierung der Gestalt zeigt, wie schmal die Grenze zwischen ‚natürlicher‘ und ‚lächerlicher‘ Körperbewegung ist. Sie ist so schmal, 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 128 <?page no="129"?> 165 Vgl. dazu das Kapitel zur Mimikry bei Bhabha, Homi K.: The location of culture. London 1994, S. 127 ff. (dt.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Tübingen 2000). dass mit ihrer Übertretung gespielt werden kann und jede Wahrnehmung des lächerlichen Körpers eine Wahrnehmung eines Auftritts, einer Inszenierung ist. In dem Moment, wo ein Körper aus der Rolle fällt, wird er zum theatralen, aufgeführten Körper, denn er zieht Blicke und damit Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. Im Moment seiner Lächerlichma‐ chung wird er zum theatralen Ereignis. Diese Anfälligkeit von Körperbewegungen und Körperlichkeit allgemein für das Lächerliche macht ihr Potential zur Ambivalenz deutlich: Sie sind offen für Imitationen und Mimikry, mit Hilfe deren die vom Körper repräsentierten Habitus und Differenzen umgekehrt oder subvertiert werden können. Mit Mimikry bezeichnet man etwa in der postkolonialen Theorie Verhaltensweisen, bei denen nicht mehr zwischen Herrschaftsanspruch und Unterwerfung unterschieden werden kann und mit denen Autorität gekonnt unterlaufen wird. Die Mimikry gehört somit in das Gebiet zwischen Ernst und Posse, sie ist die Domäne der mimic men, der ‚Chamäleon-Men‐ schen‘. 165 Die ihr zugehörigen Techniken der Assimilation, Verstellung, Hyperbolisierung, Trans‐ formation und Subversion körperlicher und sprachlicher Muster gehören zum Repertoire des Possenreißers. Er führt sie mit Hilfe der eigenen Beherrschung von Gesicht und Mimik, Gestik und Stimme auf, also der professionellen Verstellung seiner Ausdrucksorgane, und verwischt im Akt dieser Nachahmung die Grenzen zwischen sich und dem Anderen. Wie könnte man einem Possenreißer glauben? Man kann es nicht, weil er keine stabile Identität hat, weil man sein ‚wahres Ich‘ nicht kennt, weil er von der Aufführung von Ambivalenzen lebt. Wenn wir von Körpertechniken des Lachens in einem anthropologischen und sozialen Sinn sprechen, und weiterhin postulieren, dass es gerade professionelle Possenreißer sind, die diese Körpertechniken am effektivsten beherrschen, setzen wir voraus, dass es zu ver‐ schiedenen Zeiten unserer (europäischen) Vergangenheit und in verschiedenen Kulturen so etwas wie ‚Possenreißer‘ gibt bzw. gegeben hat. Dies gewissermaßen als eine Arbeits‐ hypothese aufzustellen ist deshalb unverzichtbar, weil nur so die Untersuchung von Kör‐ perinszenierungen und -techniken des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in den Folge‐ kapiteln modernen Theorien und Methoden schlüssig geöffnet wird. Der Vorteil eines einheitlichen Begriffs für literarische und dramatische Figuren, die gleichzeitig auch ihren Sitz im kulturellen Leben der Zeit hatten, muss darin liegen darin, dass dieser Begriff auch auf andere Zeiten und Kulturen übertragbar ist und bestimmten Grundmerkmalen folgt, die auch heute noch gelten können. Handelt es sich beim Lachen und beim Lachenmachen ja nicht um ein rein kulturell gebundenes Phänomen, sondern um ein anthropologisch beobachtbares Verhalten, das in seiner Funktionalität auch heute noch bestimmten trans‐ historischen Invarianten folgt. Ein Blick auf die Verwendung des Begriffs ‚Possenreißer‘ in außereuropäischen Kultur‐ kreisen kann dies bestätigen; dieser Blick dient dazu, bestimmte Mechanismen des Lache‐ nmachens durch professionelle Lustigmacher aus einer ganz anderen Perspektive zu be‐ trachten und ihr Potential auf die dieser Studie zugrunde liegende Materialien anzuwenden. Figurationen des Possenreißers (engl. joker, buffoon, ritual clown) sind in zahlreichen Kul‐ 2.6. Scurrilitas: Transgressionen des Possenreißers 129 <?page no="130"?> 166 Douglas, The social cognition, S. 373. Douglas sieht den Spaßmacher als eine Art minderen Mystiker an: „Perhaps the joker should be classed as a kind of minor mystic.“ Ebd. 167 Vgl. zur Ambivalenz der Sakralität Gvozdeva u. Röcke, risus sacer - sacrum risibile, S. 9-30. 168 Dass dabei der Körper die wichtigste Rolle spielt, ist für Camporesi offenkundig: „Ma, più che alla parola, era al corpo che si affidava quando voleva abolire le distanze, ridimensionare i potenti, scon‐ sacrare autorità e regalità.“ Camporesi: Rustici e Buffoni. Cultura popolare e cultura d’élite fra Medioevo ed età moderna. Torino 1999, S. 105. turen bekannt (s. o. Kap. 2.5); sie wirken als aktive Teilnehmer in verschiedenen Ritualen mit, tauchen, etwa als trickster, in zahlreichen altamerikanischen und asiatischen mythi‐ schen Erzählungen auf, sind als ein institutioneller Habitus mit verschiedenen Funktionen in verwandtschaftlichen Beziehungen (joking relationship) bekannt. Die ethnologische und anthropologische Forschung zu diesen Figurationen hat ihre verschiedenen Rollen und Funktionen beleuchtet: So ist es in zahlreichen afrikanischen Kulturen, bei denen er in institutionalisierten, rituellen Rahmungen auftritt, Aufgabe des rituellen Clowns, durch das Erregen von (rituellem) Lachen reinigende Wirkung auf die Teilnehmer am Ritual auszu‐ üben und ihnen dabei zu helfen, diese Reinigung zu vollziehen. Dazu gehört, dass Lachen selbst auf der emotionalen Ebene kathartisch wirkt. „The joker who provokes the laughter is chosen to challenge the relevance of the dominant structure and to perform with immu‐ nity the act which wipes out the venial offence“. 166 Douglas stellt die Scherzverhältnisse in einen Rahmen der sozialen Kontrolle der Erfahrung. Ihre These ist, dass das Erreichen von Konsens zwischen verschiedenen Erfahrungsbereichen eine Quelle tiefer Befriedigung ist. Von dieser Perspektive aus gesehen ist der Spaßmacher als „ritual purifier“ anzusehen, eine Funktion, die auch für die Possenreißer der europäischen Vormoderne interessant sein könnte. So hat etwa Piero Camporesi in seinem Buch Rustici e Buffoni (1991) die Körperkunst der mittelalterlichen Possenreißer im Rahmen magisch-ritueller Funktionen beschrieben. Die Körperlichkeit der Hofnarren verweise auf ein vorchristliches Substrat des magischen Priesters, sie enthalte ein dämonisches Potential im doppelten Sinne des heiligen Sakralen und des profanen Sakralen. 167 Die meisterhafte Körperkontrolle des Possenreißers und seine gleichzeitige Fähigkeit, anderen diese Kontrolle zu entziehen und sie lächerlich zu machen, zeigt diese Macht des Anderen, die die Angst einjagt, nicht mehr Herr über seinen Körper zu sein. 168 Der Possenreißer verkörpere somit nicht nur die symbolische Bedeutung seiner Transgressionen, sondern auch die Vorstellung, wie die Opfer seiner Streiche der Narrheit körperlich verfallen können. Wichtig sind dabei vor allem seine Fähigkeiten zur Metamor‐ phose, zur Verstellung und Verkleidung, zur Dekomposition und Vermischung von sprach‐ lichen Strukturen und sein Spiel mit dem Tabuisierten, insbesondere den menschlichen Ausscheidungen. Gerade die Zurschaustellung skatologischer Vorgänge verweise auf die Relation des rituellen Lachens mit der Trias Nahrung-Ausscheidung-Fruchtbarkeit, ein na‐ turmagisches Verhältnis, das im Mittelalter noch vorhanden war. Eng gekoppelt an diese rituellen und magischen Funktionen des Possenreißers ist die Vorstellung vom Lachen als Heilmittel. Hofnarren etwa werden in Mittelalter und Früher Neuzeit für ihre Fähigkeiten und Eigenschaften geschätzt, Lachen zu erregen und somit zur Freude (iocunditas) und zum Wohlbefinden des Hofes beizutragen. So ist etwa in der Zimmerschen Chronik zu lesen, dass man auf die Kunst eines professionellen Alleinunterhalters vertraute, damit „die herren was 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 130 <?page no="131"?> 169 Vgl. Wolf, ‚das die herren was zu lachen hetten‘, S. 148 ff. 170 Ueding, Rhetorik des Lachens, S. 32. 171 So formuliert etwa auch Ritter: „Das Komische fällt aus einer Übereinkunft heraus.“ Vgl. Ritter, Über das Lachen, S. 65. Hellmuth Plessner stellt in Lachen und Weinen eine wichtige Frage zur Transgres‐ sion von Normen im komischen Vorgang: warum erscheint ein Nilpferd komisch? Warum lachen Kinder darüber? Hier sei nichts Menschliches im Spiel, so Plessner: „Wir tragen nun einmal, sicher durch unseren Erfahrungskreis bedingt und oft zu Unrecht, eine Art Idee oder Schema von Tier in uns, der die bekanntesten Arten entsprechen: nicht zu groß, nicht zu dick, nicht zu unproportioniert. Das Nilpferd erscheint dagegen als groteske Übertreibung einer Form, als Witz der Schöpfung. Der entscheidende Punkt für die Wahrnehmung des Nilpferds als komisch ist nicht nur die Übertreibung einer Idee vom Vierbeiner; sondern auch die Bewegungen und das Verhalten des Tieres: sein kör‐ perliches Erscheinungsbild. Durch die Bewegung der Tiere, ihren Habitus, kommt in ihre Erschei‐ nung eine Perspektive auf Normierbarkeit. Denn wo immer uns ein Verhalten entgegentritt, prä‐ sentiert es sich im Licht von Normen, die - wie Geschicklichkeit, Schnelligkeit, Aggressivität - zwar auch auf den Menschen passen, aber nicht vom Menschen hergeholt sind. (...) Komik an Tieren beruht nicht auf mehr oder weniger bewussten Analogien zum Menschen, sondern auf einem Konflikt zwi‐ schen einer Idee oder Norm, die wir in unserer Einbildungskraft (aus Gründen der Gewohnheit und ästhetischer Vorurteile) an die Erscheinung herantragen - in deren Licht uns die tierische form unmittelbar erscheint - und der jeweiligen Art des Tieres.“ Plessner, Lachen und Weinen, S. 296-297. 172 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, 4. Aufl. Tübingen 1974, S. 18. zu lachen hetten“, d. h. um eine gewünschte gelöste Stimmung zu erzeugen. Hofnarren waren sowohl verantwortlich für das Gelingen von festlichen Ritualen, wie auch für in‐ szenierte Zwischenfälle bei höfischen Zeremonien, bei denen sie wie ‚Störfaktoren‘ wirken sollten und wirkten. 169 Ich kehre zu den spezifischen Körpertechniken zurück, mit denen Possenreißer in Mit‐ telalter und der Frühen Neuzeit gearbeitet haben. Hier sind zunächst Hinweise aus der rhetorischen Tradition nützlich, die den Possenreißer als einen Feind des aptum, der An‐ gemessenheit sprachlichen und körperlichen Verhaltens sieht; „das kann ein unangemes‐ sener Körperbau, eine unangemessene Haltung oder Geistestätigkeit sein.“ 170 Eine solche kontrollierte aptum-Verletzung setzt einen sozial und kulturell bestimmten Maßstab für das Unangemessene voraus, dessen Grenzen der Possenreißer überschreitet und überschreiten darf (dies setzt das Einverständnis der Lachenden voraus). Für viele kommunikative Komik-Theorien gilt gerade diese Maßstabsverletzung als ein Strukturmerkmal von Witz und Komik. 171 Denn der Maßstab, der verletzt wird, ist durch gesellschaftliche Konvention und Konsens zustande gekommen und nun das eigentlich Erwartete und Erwartbare. Für Gadamer wird bei der Komik deshalb der sensus communis verletzt. Die Komik gewinne ihr Profil „aus diesem gemeinsamen Sinn für das Wahre und das Rechte, der kein Wissen aus Gründen ist, aber das Einleuchtende zu finden gestattet.“ 172 Transgressionen dieses sensus communis, wie sie der Possenreißer vornimmt - und wir befinden uns immer noch in der rhetorischen Tradition - können deshalb toleriert werden, weil sie sich erstens auf ein praktisches, nicht auf ein von Gesetzen normiertes, theoreti‐ sches Wissen beziehen und zweitens als spielerisch angesehen werden können. So stellte schon Hans Fromm in einem frühen Aufsatz zur performativen Komik der Spielleute, jo‐ culatores und Narren fest: Der homo comicus, welcher der Norm nach Unbeziehbares aufeinander bezieht oder provoziert wird, bestimmte Verhältnisse der Wirklichkeit in ihrer Disproportion und Unangemessenheit auch 2.6. Scurrilitas: Transgressionen des Possenreißers 131 <?page no="132"?> 173 Fromm, Hans: Komik und Humor in der Dichtung des deutschen Mittelalters. DVjS 36 (1962), S. 321-339, hier S. 326. 174 Aus rhetorischer Perspektive wird dies so formuliert: „Denn das Lachen ist nicht nur Folge eines am konkreten Detail gewonnenen überraschenden Einblicks in die als unangemessen empfundene Ab‐ weichung des Charakters von dem gemeinsamen Sinn für das Wahre und Rechte, der doch gerade die menschlich-allzumenschliche Abirrung in sein praktisches Wissen aufgenommen hat, das Lachen schafft auch diese Gemeinsamkeit, übt sie und bildet sie aus, es ist nicht nur, wie uns die Verhal‐ tenspsychologen glauben machen wollen, instinktgeleitete Reaktion, sondern ebenso eine Aktion, eine produktive Kraft.“ Ueding, Rhetorik des Lachens, S. 36. 175 Gumbrecht hatte schon vor längerer Zeit einmal den Begriff der Transgression zur Erklärung für den spielerischen Umgang mit Sprachnormen bei Rabelais gebraucht: „Überschreitung der Sprach‐ norm und Überschreitung des Sprachsystems oder: die Negierung der Norm und System konstitu‐ ierenden Negationen ist das Grundprinzip der auf den verschiedenen Norm- und Systemebenen angesiedelten ‚Sprachspiele‘ Rabelais’. Darin liegt der Grundunterschied zwischen seinem Werk und den bisher interpretierten Texten, in denen Sprache Mittel zur Überschreitung außersprachlicher Sinnsysteme war, ohne selbst zum Gegenstand von Negationen zu werden“. Gumbrecht, Literarische Gegenwelten, S. 137. Rabelais gebraucht sprachliche Verfahren wie die Sprachmischung, die Zu‐ ordnung von Sprachhandlungen auf inadäquate Funktionen, die Reihung inkompatibler Sprach‐ handlungen im Diskurs, die Stilmischung, usw. Gumbrecht bezeichnet solche Überschreitungen von Sprachsystem und Sprachnorm als „Störungen einheitlicher sprachlicher Kontexte“. Allerdings geht er zu stark von der „Negativität“ solcher Überschreitungen aus: „Die Transgression ist Teil der Auf‐ hebung ihrer gesellschaftlich fixierten Verwendungsbereiche.“ Ebd., S. 138. 176 Vgl. dazu Audehm u. Velten (Hg.), Transgression - Hybridisierung - Differenzierung, S. 24-30. 177 Vgl. dazu de Certau, Michel: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 234 ff. (Frz. Orig.: L’invention du quotidien. Paris 1980). der Werte in überraschender Weise aufzudecken, handelt als homo ludens - und zwar unter allen Aspekten, die das Spiel bietet. 173 Dazu braucht es ein Publikum, das mit seinem Lachen mit den spielerischen Transgressi‐ onen des Possenreißers einverstanden ist und sein Einverständnis mit dem Tabubruch durch Gelächter signalisiert. Doch ist das Lachen nicht nur eine Bestätigung der Verletzung des Gemeinsinns, es schafft auch diesen Gemeinsinn. 174 Es scheint so, dass der Begriff der inszenierten, ernsthaft-spielerischen Transgression (des praktischen Wissens, der Alltagserfahrung) sich als Oberbegriff für die Körpertechniken der Possenreißer, die auf Lachen zielen, auch für Mittelalter und Frühe Neuzeit eignen könnte. 175 Die Transgression (von lat. transgredi = überschreiten, überqueren) bezeichnet eine Bewegung über Grenzen hinweg. Die Übertretung der Grenzen von Normen, Codes und sozial verbindlichen Handlungsmustern ist eine zwar erwartbare, doch mehr oder we‐ niger kontingente Größe, die herkömmlich unter der Rubrik des Devianten und des Regel‐ verstoßes gefasst wird. So wird die Überschreitung von Regeln als Störung und Provokation aufgefasst und mit Sanktionen bedroht. 176 Spielerische Transgressionen, die nur probeweise oder experimentell in Kraft gesetzt werden, wie dies etwa in Narrationen der Fall ist, können auch sanktionslos bleiben, durch die Aufführung einer möglichen Provokation jedoch den unterliegenden Normverstoß trotzdem thematisieren. 177 In diesem Rahmen sind die Aktionen des Possenreißers, seine obszönen Gesten und Reden zu sehen: Dadurch, dass er als Possenreißer die Lizenz zum Spott besitzt, sind seine Transgressionen sozusagen spielerischer Art, und führen in der Regel nicht zu einem bleib‐ enden Ehrverlust der Geschädigten. Dies ist auch deshalb der Fall, weil die soziale und 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 132 <?page no="133"?> 178 Bereits Friedrich Georg Jünger interpretierte das Komische als einen Fall von Regelwidrigkeit, der den komischen Konflikt auslöse. Dabei dürften die Konfliktparteien nicht ebenbürtig sein. Die un‐ angemessene, widersprüchliche und regelwidrige Provokation durch den Unterlegenen löst eine angemessene, den Widerspruch aufhebende und das Recht der Regel wiederherstellende Replik des Überlegenen aus. Durch die Replik wird die Norm wieder zur Geltung gebracht. Vgl. Jünger, Friedrich Georg: Über das Komische. Zürich 1948, S. 24. 179 Hahn, Alois: Transgression und Innovation. In: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus. Hg. von Werner Helmich, Helmut Meter u. Astrid Poier-Bern‐ hard. München 2002, S. 452-465, hier S. 452. 180 Diese Frage der Veränderung bzw. Stabilisierung der Norm diskutiert auch Warning angesichts der Komik im geistlichen Spiel in Bezug auf Ritters Komiktheorie. Vgl. Warning, Funktion und Struktur, S. 115 ff. 181 Nach Foucault überwindet die Transgression die Grenze nicht, sondern macht sie nur sichtbar. rechtliche Stellung des Possenreißers meist eine inferiore oder zumindest rituell besondere ist. 178 Allerdings kann durch das gemeinsame Gelächter durchaus ein temporärer Gesichts‐ verlust eintreten. Ist diese Gefahr beim professionellen Lustigmacher schon gegeben, so ist sie beim Scherzen des Hofmanns, wie Castiglione betont hat, oder für den Redner (Cicero) aufgrund seiner sozialen Stellung ungleich größer und das Risiko höher als für den Pos‐ senreißer, gegen die Grenzen der Angemessenheit zu verstoßen und Ehrverletzungen zu provozieren. Aus diesen Gründen ist es auch schwieriger, die Wirkungen der Streiche von Possenreißern einzuschätzen. Leichter ist es bei unflätigen Scherzen von Hofleuten. Wenn ihr Verhalten sanktioniert wird, war ihre Transgression, wie bereits Durkheim feststellte, für die Aufrechterhaltung der Norm wichtig, ja sogar notwendig und unvermeidlich. Ohne Übertretung müsse die Norm schließlich verblassen, so der Soziologe Alois Hahn im An‐ schluss an Durkheim, insofern stärke jede Übertretung die Normierung: „Die Transgression folgt der Norm wie ein Schatten.“ 179 Wie sich allerdings ‚spielerische‘ Transgressionen auf die von ihnen übertretenen Normierungen und Codierungen auswirken, muss zunächst offen bleiben und am Material untersucht werden. 180 Was ist aber das Lachen in diesen Zusammenhängen? Nicht nur ist es das Signal des Einverständnisses der Überschreitung einer Alltagserfahrung; es ist selbst Überschreitung kontrollierter Körperlichkeit und reagiert körperlich auf Körperliches (s. o. Kap. 1.3). Nicht die Transgression selbst macht die Grenze sichtbar, die sie überschreitet, wie Foucault ver‐ mutet hatte, sondern es ist das gemeinschaftliche (öffentliche) Lachen als Antwort auf diese Überschreitung, das die Grenzüberschreitung markiert und so die Grenze sichtbar werden lässt. 181 Wie Plessner bemerkt hatte (s. o.), ist die Situation, die den Menschen vor dem Lachen überfordert, die seine Person desorganisiert, nicht selten körperlich bestimmt. Die Possen‐ reißer als Agenten des lächerlichen Vorgangs wissen von diesem engen Zusammenhang von inszeniertem Kontrollverlust des Körpers und dem Lachen. In ihren Aufführungen wird eine Präsenz des Körperlichen geschaffen, die bereits affin zum Lachen als körperliche Antwort ist und somit dieses auslösen kann, eine Art Ansteckung mit analogen Mitteln. Das Lachen selbst funktioniert ebenso; als Ausdrucksphänomen des Körpers ist es körper‐ lich ansteckend. Der komische Körper des Possenreißers ist somit ein aufgeführter Körper, der sich an bestimmten Normen orientiert und diese überschreitet. Er ist jeweils als Transgression des 2.6. Scurrilitas: Transgressionen des Possenreißers 133 <?page no="134"?> 182 Vgl. dazu Egginton, William: How the world became a stage. Presence, Theatricality, and the Question of Modernity. Albany 2003, S. 13 ff. konstruierten normativen Körpers anzusehen, der an Geschlecht, Stand, Herkunft, Beruf usw. gebunden ist. Er manifestiert sich als Überschreitung des männlichen Körpers im cross-dressing und im Verstellen der Stimme (wie im Fastnachtspiel), als Überschreitung des gesunden Körpers in den Imitationen von Lahmen, Buckligen, geistig Kranken, als Über‐ schreitung des standesgemäßen Körpers in Maskerade und Verstellung, als Überschreitung des menschlichen Körpers hin zu tierischen Ausdrucksformen, als Überschreitung des ei‐ genen Körpers gegenüber dem des Anderen, als Überschreitung des kontrollierten Körpers in allen übertriebenen Bewegungen wie im Moriskentanz, als Überschreitung des heiligen Körpers in parodistischen und profanierenden Kontexten wie Spottlegenden, Spottliturgien und Narrenliteratur. Und diese Transgressionen werden zu einer Zeit vollführt, in der der repräsentierte Körper noch immer ein präsenter Körper des Anderen ist. Dem grotesk-komischen Körper wohnt somit Theatralität inne. Er überschreitet die räumliche agency, die einem menschlichen Körper zugestanden wird, indem er Körpernormen außer Kraft setzt. Er weicht die Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Erwachsenem und Kind, zwischen Mann und Frau, Mensch und Maschine auf. Er übersteigt Form-Grenzen und Bewegungsgrenzen und macht sie dadurch lächerlich („a joke is a play upon form“, wie Douglas sagt). Er ist ein Grenz-Körper, und deshalb macht er uns lachen, denn er tut das, was wir auch könnten, aber auf Grund unserer speziellen Bindung unseres Körpers an Räumlichkeit und soziale Lizenzen nicht tun. Denn davon hängt alles ab, was wir sind: Könige, Höflinge, Hofdamen, Ritter, Bischöfe, selbst Mägde, Bauern und Bettler - der komische Körper würde uns zu einem Schauspieler machen, und wir hätten unsere Würde und unsere Identität verloren. Denn diese ist ursächlich an unsere Körperpräsenz gebunden. Gleichzeitig ist der komische Körper derjenige, der dem mittelalterlichen Zuschauer eine gewisse ästhetische Erfahrung ermöglicht, denn in ihm kann er Distanz nehmen. Wenn der komische Körper auftritt, lachen wir, und können dabei Distanz nehmen, wie wir es auch im Staunen tun. Ästhetische und komische Erfahrung sind hier noch auf der gleichen Linie. 182 2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit 134 <?page no="135"?> 1 Ps 59,8; Ps 37,13; 2,4; vgl. Resnick, Irven M.: ‚Risus Monasticus‘. Laughter and Medieval Monastic Culture. Revue Bénédictine XCVII (1987), 1-2, S. 90-100, hier S. 91. Dass Gott in allen monotheisti‐ schen Religionen nicht lacht, zeigt auch die Untersuchung Ammans zum Lachen im Islam: Ammann, Ludwig: Vorbild und Vernunft. Die Regelung von Lachen und Scherzen im mittelalterlichen Islam. Hildesheim 1993. (Diss. Freiburg 1993). 2 Neben Chrysostomos wird seit dem Spätmittelalter auch immer wieder der Lentulus-Brief als Beleg angeführt, ein bruchstückhaft erhaltenes apokryphes Evangelium, das behauptet, Jesus habe nie gelacht. Vgl. dazu Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 422. Resnick hält es für eine Fälschung, da vor Chrysostomos niemals die Behauptung auf‐ gestellt wurde, Christus habe nie gelacht. Vgl. Resnick, Risus Monasticus, S. 96. 3 In den Apokryphen waren neben zahlreichen Lachverboten allerdings durchaus Tendenzen vor‐ handen, Jesus auch als Lachenden festzulegen, etwa als Lachen der Befreiung oder als Lachen des Wissenden, der überlegen ist (Acta Thomae, 3. Jh.) Doch dieses Bild des lachenden Jesus, oder des komischen Jesus, wurde seit den Kirchenvätern unterdrückt, wie überhaupt das Körperlich-Vegeta‐ tive der Jesusfigur. Vgl. dazu Minois, Georges: Histoire du rire et de la dérision. Paris 2000, S. 107-112. 4 Gérard Genette macht auf die Tilgung dieser Körperfunktionen aufmerksam: „selon le même prin‐ cipe, on pourrait dire qu’il ( Jesus) n’a jamais éternué, toussé, ni même respiré.“ Genette, Morts de rire, S. 135. 3. Scurra und scurrilitas: Begriffs- und diskursgeschichtliche Aspekte 3.1. Das Lachen und der Körper in der theologischen Literatur Während die griechischen Götter Homers herzhaft lachen können, stand der strenge Mo‐ notheismus des Christentums dem Lachen skeptisch gegenüber. Gott lacht im Alten Tes‐ tament mit wenigen Ausnahmen nicht - und wenn er es tut, dann hat sein Lachen einen hoch symbolischen Wert: die Antizipation des Spotts über die Gottlosen und das frohe Lachen über die irdischen Leiden der Unschuldigen, beides gerecht und angemessen. 1 Im Neuen Testament gibt es dann kein Lachen Gottes mehr. Der Mensch gewordene Gottes‐ sohn könnte zwar lachen, hat es als Mensch wohl auch getan, doch seit dem berühmten Diktum des Johannes Chrysostomos (344-407) wird das Nicht-Lachen Jesus zu einem locus communis der klassischen Theologie. 2 Denn die Menschwerdung Christi wird mit der Ausbreitung des Christentums immer stärker in eine Logik von Leiden und Erlösung gestellt. Die in den Apokryphen noch vor‐ handenen Tendenzen, Jesus auch als Lachenden zu beschreiben, 3 werden nun im Rahmen einer Sakralisierung des Christuskörpers getilgt. Dieser sakralisierte Christuskörper hat kein Geschlecht, er hat keinen Stoffwechsel und die damit verbundenen Bedürfnisse, er wird nicht krank, er tanzt nicht, er hustet nicht, ja man könnte sogar sagen, er atmet nicht. 4 Das Nicht-Lachen gehört also zu einer ganzen Reihe von Auslassungen der Körper‐ lichkeit des Mensch Gewordenen, der zwar einen menschlichen Körper besitzt, von dessen Emotionen und Bedürfnissen wir jedoch nur wenig erfahren. Diese werden auch deshalb unterdrückt, damit der gemarterte, der leidende Körper Christi in den Vordergrund treten kann. <?page no="136"?> 5 Basilius verurteilt das Lachen in seinen Längeren und Kürzeren Regeln (357-59) als grundsätzlich sündhaft und der Verdammung preisgegeben; Johannes Chrysostomos sieht es als Ausdruck des Satanischen, von Dämonen eingeflüstert. Für ihn ist das Lachen unkontrollierbar, unsinnig, ver‐ schließt sich jeder Vernunft und Logik, es überwindet die Angst und den heiligen Furor. Chrysosto‐ mos’ Betrachtungen hatten noch Einfluss auf das Decretum Gratiani (1140), in welchem das Lachen und seine Erregung als Todsünde angesehen werden. Vgl. dazu Le Goff, Jacques: Le rire dans les règles monastiques du haut moyen âge. In: Haut Moyen Âge. Éducation et Société. Études offertes à P. Riché. Hg. von Michel Sot. Paris 1990, S. 93-103; dt. in J. L. G.: Das Lachen im Mittelalter, S. 45-68, S. 49 ff. 6 Die Bedeutung und Bewertung des Lachens in der theologischen Literatur von den Kirchenvätern über das monastische Schrifttum bis zur Scholastik sind inzwischen gut erforscht: Suchomski, Joa‐ chim: „Delectatio“ und „Utilitas“. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur. Bern / München 1975; s. auch Minois, George. Histoire du rire. Paris 2003, S. 95-243. 7 „Durch diese Negierung gerät das Lachen zudem in eine gefährliche Nähe zur Sünde.“ Suchomski, Delectatio und utilitas, S. 13. 8 Suchomski sieht die Umkehr und Neudefinition der christlichen Lachverbote in der Wiederaufnahme antiker Ideen über das Lächerliche begründet. Scherz und Witz schöpfen rein aus antikem Material: „In je stärkerem Maß ein Autor oder eine Zeit der Antike zugeneigt ist, desto mehr Toleranz und Billigung findet der Scherz.“ Ebd., S. 66. 9 Clemens von Alexandreia: Der Erzieher. Buch II-III. Welcher Reiche wird gerettet werden? Aus dem Griechischen von Otto Stählin (Bibliothek der Kirchenväter II. Reihe Bd. VIII). München 1934, S. 45-49. 10 „Als vernünftiges Wesen müssen wir aber selbst das richtige Maß für uns finden, indem wir das Herbe und Übertriebene unseres Ernstes in maßvoller Weise mildern… Wenn man die Spannung des Gesichts wie die eines Instruments zu harmonischer Wirkung ein wenig nachlässt, so heißt das Lächeln (…) und so breitet sich Erheiterung über das Gesicht aus.“ Ebd., 46.1, S. 57. Jesus lacht auch nicht, weil er selbst Opferlamm und Sündenbock ist, der vom Teufel und seinen Bundesgenossen verlacht wird: zur körperlicher Züchtigung und zum Spott gehört das Lachen der Folterknechte. Unterliegt im Vergleich zur Mehrdeutigkeit und Rätselhaf‐ tigkeit des Lachens im Alten Testament das Lachen im Neuen Testament einer Entdiffe‐ renzierung, dergestalt dass es fast ausschließlich den Feinden Jesus zugeschrieben wird, so verschärft sich diese Entdifferenzierung nochmals mit den Regeln des heiligen Basilius und mit Johannes Chrysostomos, der das Lachen in toto der societas diaboli zurechnet. 5 Zwar dämonisieren die anderen frühchristlichen Texte das Lachen nicht in dieser radikalen Form, es wird aber überwiegend abgelehnt und in der großen Mehrzahl der Texte als deviantes Verhalten denunziert, 6 in seiner Phänomenalität dem sündhaften Verhalten zugeordnet und so theologisch als nicht zu rechtfertigen bestimmt. 7 Die Sanktionierung, Verurteilung oder Verdammung des Lachens - entsprechend dem jeweiligen Autor - hat allerdings zahlreiche Facetten, unterliegt Differenzierungen und ist nicht selten funktional in gezielte mora‐ lisch-theologische Argumentationen eingebunden. Dabei genügt es nicht - wie Suchomski es tut - das Lachen allein auf die schriftliche Auseinandersetzung mit den Themen Scherz und Witz zu beschränken. 8 Der erste frühchristliche Autor, der sich dem Lachen widmet, Clemens von Alexandrien erwähnt in seinem kurzen Überblick im Paidagogos 9 sechs ver‐ schiedene Formen und Anlässe des Lachens: (1) das maßvolle Lachen des vernünftigen Menschen, das Lächeln, 10 (2) das maßlose Gekicher der Frauen als das Lachen der Dirnen, 3. Scurra und scurrilitas 136 <?page no="137"?> 11 Hier folgt Clemens der Kategorisierung der Lachverbote in Ciceros De oratore, s. u. 12 Noch bei Hildegard von Bingen ist diese Konnotation erkennbar: Sie erkennt im Lachen und Kichern eine Umwandlung der Stimme Adams und setzt beides mit der fleischlichen Begierde in Beziehung: „und so erschüttert denn auch jeder Wind, der das Gelächter erregt, vom Mark des Menschen aus‐ gehend, seine Schenkel und Eingeweide.“ Hildegard von Bingen: Heilkunde. Salzburg 1989, S. 224. 13 Clemens, Der Erzieher, 45.1, S. 55. Mit dem Thema der Verbannung des Possenreißers schließt Cle‐ mens direkt an Aristoteles an, welcher fordert, dass unanständige Unterhalter aus dem Staat verbannt werden (Politeia 7,15,7). 14 Vorbild ist Platon, für den das Lachen zur Sphäre des Niedrigen, Hässlichen, Deformen gehört und die Prostituierten auszeichnet. (3) analog dazu das Gelächter der Männer als Zeichen des Übermuts und der Zuchtlo‐ sigkeit, (4) das laute Lachen der Toren, mit Hinweis auf Eccl. XXI , 23: „Fatuus in risu exaltat vocem suam, vir autem sapiens vix tacite ridebit“, (5) unangemessenes (übermäßiges, respektloses, ungebührliches) Lachen, 11 (6) das Lachen über den Spott der Possenreißer bzw. durch Possenreißerei Lachen zu erregen oder sich selbst lächerlich zu machen. Lachen bei Clemens ist somit nicht in erster Linie an Lachanlässe wie Scherz und Witz gebunden, sondern es ist eine im aristotelischen Sinn dem Menschen eigene körperliche Ausdrucksweise (homo risibilis), die seine innere Verfasstheit anzeigt, welche von feinem Anstand bis zur Zuchtlosigkeit bzw. Torheit reicht (46.1). Interessant sind an Clemens’ auf antike Auffassungen beruhender Argumentation drei Aspekte: a. das Lachen wird bis auf ein Normverhalten, das das rechte Maß (im Sinne des Modus) und die rechte Zeit berücksichtigt (1), und fast ein Lächeln ist, als dem Christen nicht angemessen abgelehnt (2-6). Die Ablehnung erfolgt auf Grund von moralischen, ethi‐ schen und theologischen Einwänden, und ihre didaktische Konsequenz ist die Diszip‐ linierung des Lachens als ein modus, der nicht gegen das ethische Ideal der metriotis (μετριότης) verstößt. b. es gibt eine klare Hierarchie, das Maß der Verwerflichkeit des Lachens betreffend: Weit schlimmer als das sexuell konnotierte Gekicher der Frauen 12 und übermütige Gelächter der Männer, weit negativer als das biblische Lachen der Toren und das situativ falsche Lachen ist das Gelächter über die Possenreißer, die professionellen Meister des Spotts: „Leute, die darin geschickt sind, lächerliche oder vielmehr zu verlachende Stimmungen nachzuahmen, müssen wir aus unserem Staat ausweisen.“ 13 c. das schlechte, normferne Lachen und seine Anlässe sind in vielfältiger Weise mit De‐ formationen des Körpers verbunden: wenn bei lachenden Frauen sich „die Haltung des Gesichts in maßloser Weise völlig auflöst“ und das sexuell anstößige Lachen zweideu‐ tige Gesten einschließt, 14 wenn beim Toren die Lautstärke hervorstechendes Kennzei‐ chen seines Lachens ist, wenn das „weichliche Lachen“ mit dem Tanz, und mithin mit unsittlicher Bewegung gleichgesetzt wird. Damit ist Clemens für die christliche Haltung dem Lachen gegenüber bis ins hohe Mittel‐ alter hinein wegweisend: Körper und Stimme sind die eigentlichen Objekte einer christli‐ 3.1. Das Lachen und der Körper in der theologischen Literatur 137 <?page no="138"?> 15 Dies wird auch deutlich, wenn man sich die erlaubten Äußerungsformen des Lachens vergegenwär‐ tigt, wie das Lachen der Seligen (gaudium spirituale), das als rire d’acceuil zu bezeichnende Lachen Marias mit dem Jesuskind oder das Lachen über maßvolle Scherze (ioci). All diese Formen sind nicht körperlich, sondern geistig oder symbolisch codiert, das Lachen wird jeweils als Ausdruck der vom Körper unabhängigen Freude der Seele verstanden. Insofern stützen die Belege von To‐ bias A. Kemper: Iesus Christus risus noster. Bemerkungen zur Bewertung des Lachens im Mittelalter“. Komik und Sakralität. Hg. von Anja Grebe u. Nikloaus Staubach. Frankfurt a. M. 2005, S. 16-31 die These von der Verurteilung des körperlichen Lachens. 16 Hieronymus: Kommentar über den Epheserbrief 5.4., in Migne: PL 26, 520a; vgl. dazu auch Minois, Histoire du rire, S. 110. 17 Vgl. Minois, Histoire du rire, S. 109. 18 Vgl. die Bedeutung des Lachens in den Kommentaren des Chrysostomos, ausgew. bei Minois, Histoire du rire, S. 111-114. chen Disziplinierung des Lachens, wie sie bei Clemens in Umrissen bereits erkennbar ist. 15 Seine Mahnungen an einen vernünftigen, maßvollen Gebrauch können zwar bei seinen Adressaten auf fruchtbaren Boden fallen, doch die „Possenreißer“, denen hier die schärfsten Sanktionen drohen, werden von solchen Ermahnungen wohl kaum erreicht, womit ihre Verbannung schließlich erklärt sein dürfte. Der heilige Hieronymus folgt Clemens in den Grundlinien: er unterscheidet zwischen zwei Formen des Lachens: das exzessive, laute, den ganzen Körper erfassende Lachen, er‐ kennbar im Lachen der Juden, der Schüler (bei denen es wohl mit Nachsicht zu behandeln ist), der Betrunkenen, der Barbaren und der Zuschauer von Komödien; all dieses Lachen ist verdammenswert. Dagegen kann das maßvolle Lachen um der Erziehung der Jugend willen toleriert werden. 16 Ähnlich argumentiert auch Augustinus in den Drei Büchern für Marcel‐ linus über die Mühe und die Vergebung der Sünden: er verurteilt im Besonderen das Lachen der Spaßmacher (moriones), weil es die Schadenfreude der Lachenden erwecke. Sie seien die teuersten Sklaven, doch sie verspotten die vernünftigen Leute. 17 Auch hier wird wie‐ derum deutlich, dass das Engagement gegen das Lachen viel mit den (professionellen) Lachpraktiken der Spätantike zu tun hat. Die negative Bewertung des Lachens im frühen Christentum erschöpft sich somit nicht nur mit dem Hinweis darauf, dass es ein symbolisches, äußerliches Zeichen für Gottferne, Dummheit oder Überheblichkeit sei. Als sozialer und ethisch bestimmter Vorgang ist es vielfach mit dem Körper verbunden: einerseits erscheint es als eine Funktion des Körpers, der seinen Wirkungen ausgesetzt ist und durch Lachen erschüttert wird; hierzu zählt der cachinnus oder risus immoderatus der Toren und Narren, aber auch die Deformationen von Gestalt und Gesicht beim Lachen. Andererseits wird das Lachen von Körperlichem ausge‐ löst, es ist eine Konsequenz der devianten Körperlichkeit und des Sprechens von professi‐ onellen Possenreißern und Schauspielern. Chrysostomos identifiziert das Lachen mit den Aufführungen der Mimen, die um des Lachens willen ihren Leib aufs schändlichste ent‐ stellten, ihren Kopf kahl rasierten und ihre Wangen den Ohrfeigen preisgäben. 18 An der radikalen Verurteilung der obszönen Körperdarstellung in Mimus und Panto‐ mimus lässt sich erkennen, dass die Feindschaft zum Lachen bei den Kirchenvätern theo‐ logisch aus der Nähe des Lachens zu sündhaftem, exzessivem Verhalten, letztendlich aus dem Sündenfall des Menschen und dem Verlust der Gottesebenbildlichkeit ergibt. Lachen ist hier ein Epiphänomen der Erbsünde, wie Minois darlegt. Ideologisch ist diese Feindschaft 3. Scurra und scurrilitas 138 <?page no="139"?> 19 Vgl. dazu Minois, Histoire du rire, S. 116. Dass diese Angst nicht unbegründet war, zeigt die Existenz spätantiker Spottschriften gegen das Christentum, die die Bibel als Ammenmärchen abtun und das Christentum als Religion für geistig Minderbemittelte bezeichnen (Celsus, Porphyrius, Lukian). In diesen Zusammenhang gehört auch das in Pompei gefundene Graffiti eines Mannes, der den Ge‐ kreuzigten mit Eselsmaske anbetet. Unabhängig von der Stimmigkeit von Minois’ These ist das La‐ chen als Waffe im Kampf der Glaubensformen noch nicht hinlänglich untersucht. Vgl. dazu Wilken, Robert Louis: Die frühen Christen: Wie die Römer sie sahen. Graz u. a. 1986, S. 54-58. 20 So auch Ambrosius in seinem Anleitungsbuch für angehende Priester und Bischöfe: De officiis mi‐ nistrorum (389-390), worin er dem jungen Kleriker empfiehlt, „in seinen Bewegungen, seinen Gesten und seinem Gang“ schamhaft zu sein. Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 67. 21 Cicero: De officiis, zit. nach Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 40. Ähnliche Beschreibungen finden sich bei Seneca, wenn er das Ideal stoischen Verhaltens bestimmt: „Omnis in modo est virtus“. Seneca: Briefe an Lucilius 66,5. 22 Petrus Cantor, Verbum abbreviatum, 255. Zit aus Casagrande, Carla u. Vecchio, Silvana: I peccati della lingua. Disciplina ed etica della Parola nella Cultura Medievale. Roma 1987, S. 329. jedoch viel stärker durch den Kampf gegen die römische Religion und ihre kultischen Spiele, und somit aus der Auseinandersetzung mit religiösen Gegnern und Häretikern motiviert. Minois schreibt die Gegnerschaft zum Lachen den psychosozialen Konsequenzen der ei‐ genen Verfolgung zu: Selbst tausendfach verlacht und verspottet, sahen sie das Lachen als Form der Demütigung und fürchteten sich vor ihm. Sie wähnten jedoch nicht allein den Satan hinter den römischen Aufführungen 19 , sondern vor allem auch die Gefahr der Apos‐ tasie, die durch die Verspottung der christlichen Symbole und Rituale sowie das Lachen über sie befördert würde. Wenn körperliches Gebaren als Anlass für Gelächter so gefährlich werden konnte, dann wird offenkundig, warum die christlichen Autoren in ihren Lehren so viel Wert auf die Disziplinierung des Körpers und die damit verbundene Mäßigung des Lachens legten. 20 Doch ist dies nichts genuin Christliches: die Kirchenväter knüpften, wie bei Clemens zu sehen war, in vielfältiger Weise an die Körperzucht bei den antiken Schriftstellern an. Es ist erstaunlich, in welch hohem Maße die christlichen Lachverbote antike Verhaltensvor‐ schriften tradieren: Wie in Ciceros durch das gesamte Mittelalter hindurch rezipierten Schrift De officiis Ordnung und Mäßigung als oberste Maxime für den jungen Erwachsenen festgelegt wird, wird in De oratore dem Redner temperantia in den Körperbewegungen, Gesten und mimischen Ausdrucksformen zugeschrieben. Die Bewegungen und Haltungen des Körpers, „die Haltung, der Gang, die Art, sich zu setzen, sich zu Tisch zu legen, das Gesicht, die Augen, die Bewegung der Hände, die Bewegung und die Gesten“, zeigen vor der römischen Öffentlichkeit die Tugenden und die Trefflichkeit des einzelnen. 21 Gesten und Gang dürfen dabei weder zu heftig noch zu weich oder „weibisch“ sein. Es sind gerade die “weibischen Bewegungen“, die auch die Kirchenväter verurteilen. So verbindet Clemens Gelächter mit Schwäche und Weiblichkeit. Später wird das Thema der Weiblichkeit noch stärker mit weiblicher Verführung und Laszivität assoziiert werden; so kommt es auch dazu, dass Petrus Cantor die Gaukler als „weibisch“ bezeichnet. 22 Ich will das an dieser Stelle nicht weiter vertiefen und stattdessen danach fragen, wie sich die Kritik (aus der christlichen Wahrnehmung) am lauten, unanständigen Lachen sowie an seinen Anlässen, den nicht minder unanständigen Handlungen und Worten diskursge‐ schichtlich beschreiben lässt. Bevor diese Studie mit den Termini scurra und scurrilitas als historischen Begriffen arbeiten kann, muss ihre effektive Verwendung im Diskurs des La‐ 3.1. Das Lachen und der Körper in der theologischen Literatur 139 <?page no="140"?> 23 Vermutlich aus dem Etruskischen, wohl weniger aus dem Griech. skairó (springe, hüpfe, tanze), vgl. Walde, Alois u. Hofmann, Johann Baptist: Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 3 Bde. Heidelberg 1982 5 , s.v. scurra, Bd. 2, S. 502 f. 24 Vgl. Freund, Wilhelm: Wörterbuch der lateinischen Sprache. Vierter Bd., Leipzig 1840, S. 302. 25 Vgl. Georges: Deutsch-Lateinisches Handwörterbuch, ebd., u. Oxford Latin Dictionary, Hg. von P. G. W. Glare, Oxford 1982. S. 1713. 26 Cicero, De orat. II, 60, 247; II, 59, 239. 27 Vgl. Philip Corbett: The Scurra. Edinburgh 1986, S. 1-4. 28 Alle zit. Belege bei Du Cange: Glossarium Mediae et Infimae Latinitatis. Tomus VI. Paris 1846, s.v. scurra, scurrilitas. chens der Spätantike und des Mittelalters untersucht und ihre Funktion in diesem Diskurs bestimmt werden. Auch wenn hier Widersprüche und Verwerfungen in den Zuordnungen aufscheinen mögen, wie ich in der Einleitung bereits erwähnt habe, möchte ich dennoch im Folgenden versuchen, die scurrilitas konsequent von der Aufführung und vom Körper her zu denken. 3.2. Scurra und scurrilitas Scurra, ein etymologisch nicht restlos geklärter Begriff, 23 bezeichnete im römischen Al‐ tertum einerseits einen feinen, witzigen Mann, einen urban-galanten Herren (hier ist noch die Wurzel des vir urbanus atque facetus der Renaissance-Humanisten zu erkennen); die zweite und wichtigere Bedeutung des Begriffs ist jedoch, vor allem seit augusteischer Zeit, die des professionellen Possenreißers oder städtischen Lustigmachers, gewöhnlich ein pa‐ rasitus im Gefolge der Wohlhabenden. 24 In diesem Sinn erscheint der Begriff auch bei Plautus in verschiedenen Stücken (Mostellaria, Epidicus, Poenulus und im Trinummus), 25 sowie bei Cicero in De oratore. 26 Ein scurra ist somit vornehmlich ein Unterhalter, der sich auf mimisch-gestische und sprachliche Aufführungen, Gesang und Tanz versteht, gleich‐ zeitig aber auch ein gefährlicher Spötter und Imitator. 27 Dass der Begriff dabei eher negativ besetzt war, zeigt Zenos sarkastische Bezeichnung des Sokrates als scurra atticus. In der Spätantike und in den frühchristlichen Schriften erscheint scurra noch in einer weiteren Bedeutung, nämlich als Mitglied der kaiserlichen Garde, als Diener und Wächter, aber auch, gerade in den Märtyrerakten, als Henker (Martyrol. S. Victor: „amputatum est caput ejus ab scurrone“). Daneben aber auch noch im antiken Sinn als Parasit, Possenreißer, oder Schauspieler (Athanasius nennt die Histrionen scurrones). Häufig wird der scurra als irrisor und parasitus vorgestellt, vermutlich auch aufgrund seiner Rolle in der römischen Komödie. Du Cange resümiert: „scurrae (...) sunt parasiti. Denique cum non dictis tantum, sed et gestu risum divitibus movere satagerent, scurrae nomen ad mimos transiit“. 28 Die Vulgata verstärkt den negativen Gebrauch des Begriffs noch, wenn der nackt vor der Bundeslade tanzende David in 2 Sam. 6,20 in den Worten Michals, der Tochter Sauls, spöt‐ tisch mit einem Possenreißer verglichen wird: „et egressa Michol filia Saul in occursum David ait quam gloriosus fuit hodie rex Israhel discoperiens se ante ancillas servorum 3. Scurra und scurrilitas 140 <?page no="141"?> 29 „(…) ging Michal, die Tochter Sauls, heraus ihm entgegen und sprach: Wie herrlich ist heute der König von Israel gewesen, als er sich vor den Mägden seiner Männer entblößt hat, wie sich die Possenreißer entblößen! “ 30 Die griechische Übersetzung basiert auf einer vermuteten, doch nicht belegten paläografischen Va‐ riante des Verbs raqad, welches „springen, tanzen, tanzend laufen“ bedeutet. Den Hinweis verdanke ich Antonio Piras, Cagliari. 31 Corbett formuliert es in seiner wichtigen Studie zum antiken scurra so: „The most striking fact about the scurra ist his longevity - the persistent recurrence of a name of wich the derivation is unknown and the precise meaning obscure“. The scurra, S. 70. 32 So bereits in der Aufforderung des Konzils von Karthago (436): „Clericum scurrilem et verbis turpibus iocularem ab officio retrahendum“. Vgl. Mansi, Concilia 3.956, erscheint ähnlich in den Acta Hiber‐ nienses (um 710): „Clericus scurrilis et verbis turpibus iocularis degradetur“ u. ähnlich wiederholt bis ins 13. Jh. Zit. aus Suchomski, Delectatio und utilitas, S. 22 f. 33 Vgl. Corbett, The scurra, S. 78. 34 So etwa bei Thomas von Chobham als: „Qui nihil operantur sed criminose agunt, non habentes certum domicilium“. suorum et nudatus est quasi si nudetur unus de scurris.“ 29 Die Bezeichnung unus de scurris bezieht sich einerseits auf die soziale Entgleisung (nackt vor Dienerinnen zu tanzen), an‐ dererseits aber auch auf die Unangemessenheit und Lächerlichkeit des Tanzes selbst. Scurrae sind in dieser Lesart dem König in Status, Auftreten und Verhalten diametral ent‐ gegenstehende Personen, die die Würde des Königtums herabsetzen. Interessant ist dabei die Übersetzungsgeschichte der Stelle: in der Septuaguinta heiß es: εἷς τῶν ὀρχουμένων (einer der Tänzer), was in der Vetus Latina wörtlich mit „unus de saltatoribus“ wiederge‐ geben, jedoch von Hieronymus durch „unus de scurris“ ersetzt worden war. Hier wird der enge Zusammenhang zwischen saltatores und scurrae als Schausteller des Körpers beson‐ ders deutlich. 30 Bis ins Spätmittelalter bleibt der scurra dann ein häufig gebrauchter pejorativ belegter Begriff; auch wenn seine präzise Bedeutung im Dunkeln bleibt, 31 scheinen die Zeitgenossen damit jeweils unterschiedlich betonte Typen des Possenreißers verbunden zu haben. Dass scurra mit dem Begriff mimi häufig gemeinsam auftaucht, läßt auf vagierende Schauspieler schließen, die durch körperliche und sprachliche Provokationen eine Gefahr für Sitten und Moral darstellten. Dabei unterscheidet sich der Scurra vom Mimus immer durch seine Possen und Späße, die iocularia. Er ist also bis zur frühen Neuzeit ein komischer Darsteller mit breitem Repertoire, dessen Aufgabe es ist, Lachen zu erregen. Zu seinen Techniken gehören die umfassende Beherrschung der Mimik, der Gestik und der Stimme, dazu gesellt sich eine hohe Improvisationsfähigkeit, Schlagfertigkeit und Wortwitz. Dass die christliche Kirche den Begriff auch für undisziplinierte Kleriker gebrauchte, die sich der Disziplin und Ernsthaftigkeit des Dienstes für Gott nicht beugen wollten oder konnten, ist weit in die Canones-Sammlungen hinein vielfach belegt (clerici scurriles). 32 Ab dem 9. Jh. kommt es zu einer Überlagerung mit dem Begriff des ioculator, der ebenso wie scurra im Verein mit mimus auftritt und aufgrund seiner direkten semantischen Ver‐ bindung mit den mittelalterlichen Spielleuten schließlich den älteren Begriff langsam er‐ setzt. 33 Scurra wird dann nur noch sehr negativ für vagierende Schmarotzer und Begleiter von Prostituierten (meretrices) verwendet. 34 Das zugehörige Substantiv scurrilitas wird im Altertum für das Handeln und Sprechen in der Art und Weise eines scurra verwendet und ist im Deutschen folglich mit Possenrei‐ 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 141 <?page no="142"?> 35 Cicero, De oratore, III, 60, S. 482. 36 C. Sollius Apollinaris Sidonius: Briefe Buch I. Einleitung - Text - Übersetzung - Kommentar. Hg. von Helga Köhler. Heidelberg 1995. Epistula 5: Reisebeschreibung von Lyon nach Rom, gerichtet an He‐ renius. Datierbarkeit des Briefes auf das Jahr 467 wegen der Hochzeit des Ricimer mit der Tochter des Kaisers Anthemius. Dort beschreibt er das Stadt- und Straßenleben, unter anderem auch die Theater, mit folgenden Worten: “et inter scurrilitates histrionicas totus actionum seriarum status peregrinetur.“ S. 58 („und unter den Possen der Mimen der Zustand von ernsthaftem Verhandeln überhaupt vollständig fremd ist“). 37 Quintilian, De inst. orat. 11, 1, 30. 38 Vgl. Grande Dizionario della Lingua Italiana. Vol. XVIII SCHO-SIK. Hg. von Salvatore Battaglia. Torino 1996, S. 353. 39 Aus: J. Bouchet: Ep. mor. I,1 in Dictionnaire de la Langue Francaise du 16e siècle. T. VI. Hg. von Edmond Huguet. Paris : Didier 1965, s.v. scurrile. 40 Trésor de la langue francaise. T. 15. Hg. vom CNRS. Paris 1992. ßerei wiedergegeben worden (deutlicher noch weist das Adjektiv scurrilis auf Possen und Witze hin; allgemein wird es für „spaßhaft“ bzw. „scherzhaft“ gebraucht, im Besonderen aber ist es dem Tun des Possenreißers gewidmet - possenreißerartig, possenhaft.) Vor allem Ciceros Gebrauch ist hier sehr aufschlussreich: „Visum est totum scurrile ridiculum“, wie es im dritten Buch von De Oratore heißt. 35 Während der Begriff scurrilitas meist in Beziehung zum Theaterleben gebraucht wird - so erwähnt C. Sollius Apollinaris Sidonius in einem Brief an Herenius die scurrilitates hist‐ rionicas des Stadt- und Straßenleben Roms 36 - überwiegt in den rhetorischen Werken der mimisch-gestische und sprachliche Spott - Quintilian spricht von der „adfectata scurrilitas, in rebus ac verbis parum modestis ac pudicis vilis pudor“. 37 Interessant ist dann die Über‐ nahme des Substantivs als Pejorativum in den kirchlich-theologischen Bereich und seine Prägung als Zungensünde, wovon weiter unten ausführlich die Rede sein wird. Hier sei nur soviel gesagt, dass der Begriff im Mittelalter für die lasterhaften Reden und Possen der Spielleute und derer, die sich wie Spielleute verhalten, gebraucht wird. In den Volkssprachen der Frühen Neuzeit bleibt die Verbindung der Bedeutung von kör‐ perlich-gestischer Semantik und unverschämter und loser, aber auch witzig-unterhaltender Rede des Skurrilen erhalten, ja sie verstärkt sich zugunsten der ersteren; der Begriff ist im Übrigen eng an die Tätigkeit des „buffone“, des höfischen Possenreißers geknüpft. So wird im neuzeitlichen Italienisch „scurrilità“ als „atteggiamento, comportamento, gesto o es‐ pressione volgare“ bezeichnet. 38 Auch im Französischen der Frühen Neuzeit steht die actio im Vordergrund: in Edmond Huguets Dictionnaire de la Langue Française du 16e siècle wird unter dem Lemma „scurrile“ ein Zitat von J. Bouchet angeführt: „Vous les verrez en nopces et banquetz Danser, saulter et porter les bouquetz, Baiser, taster, et faire actes scurriles Oultrepassans follies puerilles.“ 39 Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wird der Begriff „scurri‐ lité“ dann wieder stärker im Bezug auf sprachliche Vulgarismen, Übertreibungen und Witze bezogen. Insofern ist es konsequent, wenn im Trésor de la langue française des CNRS zwei Bedeutungensvarianten von scurrilité angegeben werden: der schlüpfrige, obszöne Witz, etwas, das von schlechtem Geschmack, vulgär ist, und zweitens die grotesken Gesten in der Art der „bouffons bavards (...) amusant les passants par leur gestes scurriles“. 40 Im Eng‐ lischen erscheint der Begriff eng an die „jester“ gebunden, sowohl sprachlich als auch kör‐ perlich. In Shakespeares Troilus and Cressida ist die Rede von „scurril jests“. Während viele Belege im 17. Jh. die „scurrility“ mit „bad language“ im Sinne von Beschimpfungen, Ver‐ 3. Scurra und scurrilitas 142 <?page no="143"?> 41 Vgl. dazu auch Cavanagh, Dermot u. Kirk, Tim: Subversion and Scurrility: Popular Discourse in Europe from 1500 to the Present. Aldershot u. a. 2000, S. 5-9. Unter „scurrility“ verstehen die Verfasser üble Nachrede, Verleumdung und Geschwätz, die eng an populäre Diskurse gebunden sind. 42 Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon (...) Bd. 36, Leipzig / Halle 1743, s.v. Scurrilität, Sp. 774 f. 43 Vgl. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 16 Seeleben -Sprechen. München 1991, s.v. skurril, seit dem 18. Jh. in dieser Bedeutung. 44 Corbett, The scurra, S. 5. leumdungen und übler Nachrede („scurillous language“) verbinden, 41 ist auch die Bedeu‐ tung von „buffoon-like behaviour“ durchaus verbreitet. Im Deutschen scheint mit dem Aufkommen des Adjektivs „scurril“ im späten 16. Jahr‐ hundert das Körperlich-Burleske zu dominieren, wie der Eintrag in Zedlers Universalwör‐ terbuch zeigt: Scurrilität, Scurrilitas, heist man denjenigen Fehler, wenn ein Mensch in solchen Dingen, die ein Vernünfftiger im Ernst zu tractieren hat, mit lächerlichen Possen aufgezogen kommt, dahin z. B. sonderlich gehöret, wenn man mit geistlichen und andern ernsthafften Dingen ein Gespötte treibet, welches ein sehr grosser und närrischer Fehler ist, der im gleichen Grad mit demjenigen stehet, wenn einer auf der Gasse gehet, und an statt daß er gehen solte, einher tantzet, auch sich wohl dazu pfeiffet. Und wenn man dergleichen lächerlicher Possen in allen Gesellschafften zu viel macht, mithin seinen Respect auf die Seite setzet, so heist man dergleichen Leute Pickelheringe, oder wenn man es gelinder geben will, artige, poßirliche Köpffe, lustige Räthe. 42 Die Beschreibung des Spotts über Geistliche wird im ‚Zedler‘ nicht genauer, doch können wir annehmen, dass hier Sprachliches und Mimisches eine Verbindung eingehen; das Tanzen und Pfeifen des zweiten Beispiels ist vollständig der gestisch-körperlichen Kom‐ ponente zuzuschlagen, wie auch der spätere hochdeutsche Gebrauch von „skurril“ als „ab‐ sonderlich“ und „befremdlich-grotesk“ bestätigt. 43 Dass sich die ältere, Zedlersche Auffas‐ sung heute vor der romantischen durchgesetzt hat, zeigt die heutige Dominanz des gestisch-mimischen Sinnes von skurril (eine skurrile Person, skurrile Handlungen). Für eine genauere Bestimmung der semantischen Wertigkeit des Begriffes, seiner historischen Wandlung in Mittelalter und früher Neuzeit sowie seiner Relation zum Lachen ist es not‐ wendig, die wichtigsten Differenzierungen, auch in der früheren Bedeutungsgeschichte etwas näher zu betrachten. Plautus und Cicero sind im Altertum die wichtigsten Gewährsleute für die Anwendung des Begriffs in verschiedenen Kontexten, Paulus (bzw. der Verfasser des Epheserbriefes) wird diese Rolle für das christliche Mittelalter übernehmen. Der scurra bei Plautus Der komische Typus des ‚parasitären‘ Possenreißers ist bereits in der griechischen Komödie ausgebildet worden, „obviously designed to provoke amusement“, wie Corbett es formu‐ liert. 44 In Xenophons Symposion (nach 380) etwa wird der Possenreißer (gelotopoios / γελωτοποιός) Philippos als ein Spaßmacher vorgestellt, dessen Lacherfolge nicht in seinen Witzen, sondern in seiner unnachahmlichen Körperkomik liegen: Nach der Aufführung 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 143 <?page no="144"?> 45 Xenophon, Symposion 2, 21-23. Zit. nach Bremmer, Jan: Witze, Spaßmacher und Witzbücher in der antiken griechischen Kultur. In: Kulturgeschichte des Humors. S. 18-31, hier S. 19. 46 Vgl. ebd., S. 21 f. 47 „Der laute italische Spaß (...), der risus mimicus“. Benz, Lore: Zur Metaphorik der Captivi. In: Maccus barbarus. Sechs Kapitel zur Originalität der Captivi des Plautus. Tübingen 1998, S. 101-126. 48 Corbett, The scurra, S. 27-42. 49 Trin. 205ff; vgl. Corbett, The scurra, S. 29. 50 „Tu urbanus scurra, deliciae populi, rus mihi tu obiectas? “ (Most. 15-16); so kann Tranio als servus scurrae bezeichnet werden. Ähnlich wie Tranio ist Epidicus in der gleichnamigen Komödie gekenn‐ zeichnet. Corbett, The scurra, S. 36 f. 51 Corbett, The scurra, S. 40. einer akrobatisch geschulten Tanzgruppe parodierte Philippos deren Tanz, dass „jeder Teil seines Körpers, den er bewegte, noch lächerlicher wirkte als er ohnehin schon war.“ Wenn die körperliche Imitation von Personen hier Lachen hervorruft, so werden am Ende des Symposiums auch Grenzen erkennbar, als Philippos das Nachäffen der Anwesenden von Sokrates aus ethischen Gründen versagt wird. 45 Xenophons Beispiel betont besonders zwei Elemente: erstens ist es die Hauptaufgabe des Possenreißers, Lachen zu erregen; wenn dies nicht gelingt, hat er seine Funktion verfehlt. Zweitens verfügt der Possenreißer sowohl über sprachliche als auch körperlich-gestische Mittel, um Lachen zu erregen; letztere sind erst‐ eren unter Umständen überlegen, aber auch deutlicheren Grenzziehungen unterworfen. Unterdessen ist Philippos nicht der einzige Lustigmacher Griechenlands, der sich paro‐ dierender Imitationen von Körperbewegungen bedient: Eudikos ahmte Boxer und Ringer nach, Agathokles, der Tyrann von Syrakus, übte sich selbst in dieser Kunst, wenn er bei den Volksversammlungen Anwesende nachahmte. 46 In der römischen Komödie, die stark von der Stegreifspieltradition beeinflusst ist, hat der Possenreißer die Aufgabe, sein Publikum mit einer von übermütigem, vitalem Lachen gekennzeichneten Komik zu unterhalten. 47 Die Possenreißer der Komödien des Plautus gehen einerseits auf die theatralen Wurzeln des scurra als saltator und ioculator zurück, 48 sind andererseits aber stärker urban und sozial gezeichnet. Corbett unterscheidet in seiner Arbeit zum scurra bei Plautus typologisch zwischen „theatrical scurra“ und „professional jester“. Der erste ist ein professioneller Unterhalter im Sinne von Xenophons Philippos, ein Possenreißer, der im Theater und bei privaten Festen auftritt, um die Anwesenden zum Lachen zu bringen. Der zweite ist eher ein urbanus assiduus civis, ein geistreich-urbaner, witziger, aber auch bösartiger Spötter, der sich in die Angelegenheiten anderer einmischt, alles durcheinanderbringt, und durch seine üble Nachrede rechtschaffene Leute in Verruf bringt - bestens geeignet als Katalysator für die Intrigenstruktur der plautinischen Komö‐ dien. Dazu gehört etwa der Typus des aufgeblasenen Schwätzers und Gerüchteverbreiters im Trinummus, dessen falsa verba die anderen Figuren zu unsinnigen Handlungen ver‐ führen, 49 oder der römische Sklave Tranio in der Mostellaria, welcher aufgrund seiner Nei‐ gung zum Verprassen der Mittel seines Herrn und seines bösen Mundwerks als „urbanus vero scurra“ bezeichnet wird, 50 vor allem aber der Typus des wohlhabenden iuventus, der seine Sklaven bzw. parasiti selbst nachahmt und übertreffen will und somit zu einem „cons‐ tant practinioner of the iocularia“ wird. 51 Allerdings überlagern sich in den Komödien des Plautus beide Typen häufig, sodass der skandallüsterne Spötter und arrogante Angeber auch Entertainer-Qualitäten aufweist, wie 3. Scurra und scurrilitas 144 <?page no="145"?> 52 Vgl. ebd., S. 38 ff. 53 „Temporis igitur ratio et ipsius dicacitatis moderatio et temperantia et raritas dictorum distinguent oratorem a scurra; et quod nos cum causa dicimus, ut non ridicoli videamur, sed ut proficiamus aliquid, illi totum diem et sine causa.“ Cicero, De oratore. II. Buch, 247. 54 Mit der Kategorie des „erlaubten Spotts“ schließt Cicero an Diskurse des Panaitios von Rhodos und Aristoteles an. Ein Witz oder komischer Vorgang kann von daher urbanus, ingeniosus, facetus oder elegans sein, aber auch obscenus, petulans (unverschämt) oder flagitiosus (schändlich). Vgl. Graf, Fritz: Cicero, Plautus und das römische Lachen. In: Kulturgeschichte des Humors. Von der Antike bis heute. Hg. von Jan Bremmer u. Herman Roodenburg. Darmstadt 1999. S. 32-42, hier S. 33. etwa Tranio, dessen Aktivitäten deutlich theatral konnotiert sind, wenn sie als „deliciae populi“ und er damit als Publikumsliebling charakterisiert wird. 52 Selbst die Nachahmer der professionellen scurrae, die wohlhabenden jungen Städter Roms (circulatores), die mit ri‐ tuellem Tanz und Gesang vertraut sind, befleißigen sich theatraler und körperlicher Komik, vor allem der imitatorischen Komik, um ihre Widersacher zu verspotten und zu erniedrigen. Sie sind auch das Verbindungsglied zu Ciceros Auffassung des scurra, denn die Komödien des Plautus waren die entscheidenden Prätexte für Ciceros Rhetorik, wo der scurra eine wichtige Figur darstellt. Orator und scurra bei Cicero Im zweiten Buch seines De oratore führt Cicero bei der Behandlung des Lächerlichen in der Rede die Figur des Possenreißers (den er mit dem Begriff scurra, teils auch mit mimus und sannio belegt) ein. Er gebraucht diese Figur als eine Art Anti-Orator, um mit ihrer Hilfe als Negativ-Folie das ideale Verhalten des Redners herauszustellen. Denn die Frage, wann und inwieweit der Redner das Lächerliche und den Spott als rhetorische Mittel einsetzen soll, ist durchaus prekär: Wer darf überhaupt verspottet werden und warum? (Die) Berücksichtigung der Zeit also, Mäßigung und Beschränkung des Spottes und seltene An‐ wendung witziger Einfälle wird den Redner vom Possenreißer unterscheiden und dann der Um‐ stand, dass wir uns des Spottes nur zu einem Zweck bedienen, nicht um für Witzlinge zu gelten, sondern um dadurch einen Vorteil zu gewinnen; das tun jene den ganzen Tag und ohne Zweck. 53 Im Unterschied zum Witz des Redners agiert der Possenreißer offensiv und verletzend: seine Witze sind nicht moderat, sie wollen treffen. Ein Grund dafür ist, dass der professionelle Spaßmacher aus seinen Possen einen pekuniären Vorteil zieht. Doch diese moralische Ka‐ tegorie ist für Cicero nicht die entscheidende: er fragt, wie später dann wieder (in dem im Mittelalter bekannteren Werk) De officiis, nach den Grenzen des Erlaubten und Angemes‐ senen beim rhetorischen Witz und Spott. Beide müssen sich, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden, innerhalb bestimmter Grenzen der Sittlichkeit und Ehrbarkeit bewegen. 54 Wie werden diese Grenzen aber definiert? Wenn wir die Vergleiche zum Possenreißer genauer betrachten, fallen zwei Dinge sofort ins Auge: erstens überschreitet der Possenreißer in allen behandelten Kategorien die Grenzen des Erlaubten, ist also schlechthin eine negativ codierte transgressive Figur. Zwei‐ tens ist diese Figur nicht mit dem Hinweis auf ihre dicacitas, die scharfzüngige Bosheit, 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 145 <?page no="146"?> 55 Wie dies später bei Quintilian der Fall sein wird: dieser bestimmt den “sermonem cum risu aliquos incessentem“ als Redeweise aggressiven Spottes zum Zwecke des gemeinsamen Lachens. Quintilian, De Inst.Orat. 6. 3. 21. 56 Obschon Cicero das facete factum ebenso wie das facete dictum dem Rhetorischen zurechnet („Duo sunt enim genera facetiarum, quorum re tractatur alterum dicto“, De orat. II, 242, bestreitet er die Nachahmung menschlicher Defekte und körperlicher Missbildungen als komische Gegenstände nicht. 57 Cicero, De orat. II, 242, 252. 58 Cicero, De orat. II, 237. 59 Cicero, De orat. II, 245. 60 „Quid enim potest tam ridiculum quam sannio est? sed ore, voltu, imitandis moribus, voce, denique corpore ridetur ipso. Salsum hunc possum dicere atque ita, non ut eius modi oratorem esse velim, sed ut mimum.“ erledigt, 55 sondern sie ist im Gegenteil stark auf (redebegleitende) Gestik, Mimik und Kör‐ perlichkeit, im Gegensatz zum Sprachlich-Rhetorischen zugeschnitten. 56 So heißt es, dass der Redner in jedem Fall die Ähnlichkeit mit den nachäffenden Gebärdenspielern ver‐ meiden solle, auch wenn die gestische und mimische Nachahmung effektvoller zum Lachen und somit zur Einnahme des Publikums führt als die bloße Rede. 57 Der Possenreißer wird also mit Hilfe von Theatermetaphern als Schauspieler vorgestellt: der die Grenzen des Anstands überschreitende Scherz wird als „scurrilis“ oder „mimicus“ bezeichnet, er gehört also den Mimen und Scurrae an: „ne aut scurrilis iocus sit aut mi‐ micus“. 58 Der Begriff „scurrilis“ wird noch an anderer Stelle gebraucht: „… omnis est risus in iudicem conversus; visum est totum scurrile ridiculum. „Also das, was eine Person treffen kann, die wir nicht getroffen wissen wollen, gehört, mag es auch noch so hübsch sein, seinem Wesen nach in das Gebiet des Possenhaften.“ 59 Cicero spricht hier über einen die körperlichen Gebrechen eines Menschen, die Kleinwüchsigkeit des Richters, verspottenden Witz - und wieder ist das Possenhafte Ausdruck des unerlaubten Spottes über körperliche Mängel. Das Ganze kulminiert in der Diskussion, welche Lachanlässe witzig und geistreich sind; auch hier wird der Witz des Rhetors den Possen des Schauspielers gegenübergestellt: Was kann zum Beispiel so lächerlich sein wie ein Hanswurst (sannio)? Aber man lacht nur über sein Gesicht, über seine Mienen, über sein Nachäffen der Eigenheiten anderer Menschen, über seine Stimme, kurz über seine ganze Figur (denique corpore ridetur ipse). Einen solchen Menschen kann ich allerdings einen Spaßmacher nennen; doch ich kann nur wünschen, dass ein Possenreißer so beschaffen sei, aber nicht ein Redner. 60 Die römische Komödie und die Meister professioneller Unterhaltung geben die Folie für Ciceros Anti-Orator ab. Freilich konnte diese Methode auf eine gewisse Tradition zurück‐ greifen: Platon hatte in der Politeia den Possenreißer in ähnlicher Weise verurteilt wie das homerische Gelächter der Götter, Aristoteles stellte ihn in der Rhetorik dem „freien Mann“ gegenüber, der Ironie und Komik zu seinem eigenen Vergnügen benutze statt für das Ver‐ gnügen anderer. In der Nikomachischen Ethik wird dem angemessenen, richtigen Verhalten jenes des Possenreißers entgegengestellt, der die von Aristoteles propagierte Mitte nicht 3. Scurra und scurrilitas 146 <?page no="147"?> 61 Platon, Politeia, 10,606c; Aristoteles, Rhetorik 1419b. 62 “Scurra exhausto rubore, qui se putaret nihil habere quod de existimatione perderet, ut omnia sine famae detrimento facere posset“. Rhet. Her. 4,10,14. 63 „Qua re primum genus hoc, quod risum vel maxime movet, non est nostrum: morosum, superstiti‐ osum, suspiciosum, gloriosum, stultum: naturae ridentur ipsae, quas personas agitare solemus, non sustinere. alterum genus est ‚in‘ imitatione, admodum ridiculum; sed nobis tantum licet furtim, si quando, et cursim. aliter minime est liberale; tertium oris depravatio, non digna nobis; quartum, obscenitas, non modo non foro digna, sed vix convivio liberorum.“ Cicero, De orat. II, 251-52. 64 Deshalb ist es kaum wahrscheinlich, die Abgrenzung zum Possenreißer allein auf den sozialen Status zurückzuführen, wie Graf dies tut. Vgl. Graf, Cicero, Plautus und das römische Lachen, S. 34. einhält. 61 In der Rhetorica ac Herreniam schließlich werden die Späße des scurra als para‐ digmatisch für ehrverletzenden Spott dargestellt. 62 Wenn es darum geht, genau zu beschreiben, mit welchen Techniken Schauspieler und Unterhalter Lachen hervorrufen, so kann Cicero deutliche Grenzen ziehen: komische Rollen, die spöttische Nachahmung von Gestalt und Stimme, die Verzerrung des Gesichts, sowie jede Form von Obszönität sind daher vom Orator zu meiden: Demnach geziemt sich diese erste Art, die ganz besonders Lachen erregt, für uns nicht, ich meine das Mürrische, Abergläubische, Argwöhnische, Prahlsüchtige, Alberne. Solche Charaktere sind an und für sich lächerlich, und Persönlichkeiten dieser Art pflegen wir durchzuziehen, aber nicht darzustellen. Die zweite Art ist durch die Nachahmung recht sehr geeignet, Lachen zu erregen; aber, wenn wir einmal von ihr Gebrauch machen wollen, so dürfen wir sie nur verstohlen und flüchtig anwenden, denn sonst ist sie keineswegs anständig; die dritte aber, die Verzerrung des Gesichtes, ist unser nicht würdig; die vierte, der zotige Scherz, ist nicht allein des Forums unwürdig, sondern kaum bei einem Gastmahl freier Männer zulässig. 63 Alle diese Arten Lachen zu erregen gehen vom Körper aus oder beziehen sich auf Körper‐ liches in der actio, woraus sich ihre moralische Anstößigkeit ergibt. 64 Was übrig bleibt, das facete dictum und das facete factum, letzteres freilich als rhetorisch geübte Erzählung, steht dem orator in gemäßigter Form zur Verfügung. Durch die Abgrenzung von Maßlosigkeit und moralischer Zweideutigkeit erreicht die Kunst des Spaßens bei Cicero den Stand einer Tugend, die sich rein diskursiv äußert und auf der Ausschließung des Körpers beruht. Doch die von Cicero für den orator abzulehnenden Techniken der Albernheit, der gespielten Dummheit, der spöttischen Nachahmung und der Obszönität werden mehreren Akteuren zugewiesen, wie oben angeführt. Auch die von Cicero verwandten Begriffe sind nicht ein‐ heitlich, sondern deuten einmal auf das Theater als Schauplatz hin, andererseits auf den Spötter als „Schmarotzer“, der für Geld die Gesellschaft in Privathäusern unterhält. Deshalb scheint es, dass die Figur des Possenreißers vor allem ihre Berechtigung als imaginäres Gegenbild des Orators erhält: dieses Gegenbild vereint alle denkbaren transgressiven Akte des Redners in sich und trägt so exempelhafte Züge einer Negativfigur. Cicero legt so nicht nur einen Grundstein für die pejorative Bedeutung der Theater-Be‐ griffe bei den Kirchenvätern, sondern gibt auch die Ausschließung des Körpers als Lach‐ anlass vor. Schon bei Cicero ist der Körperwitz unsittlich, normverletzend und ‚theatra‐ lisch‘, sein Gegenbild ist der Sprachwitz des Redners, der mit seiner Ehrbarkeit, seiner raffinierten urbanitas und seiner Beherrschung sprachlicher und gesellschaftlicher Regeln 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 147 <?page no="148"?> 65 Auch Quintilian übernimmt diese Gegenbildlichkeit Redner-Possenreißer, und er schließt sich Cicero auch bei der Exklusion des Körperlichen an: „Oratori minime convenit distortus vultus gestusque, quae in mimis rideri solent. Dicacitas etiam scurrilis et scaenica huic personae alienissima est: obs‐ cenitas vero non a verbis tantum abesse debet, sed etiam a significatione. Nam si quando obici potest, non in ioco exprobranda est.“ De inst. orat. Lib.VI, XXIX. 66 Vgl. Corbett, The scurra, S. 68. 67 “Profert enim mores plerumque oratio et animi secreta detegit: nec sine causa Graeci prodiderunt ut vivat quemque etiam dicere. humiliora illa vitia: summissa adulatio, adfectata scurrilitas, in rebus ac verbis parum modestis ac pudicis vilis pudor, in omni negotio neglecta auctoritas. Quae fere accidunt eis qui nimium aut blandi esse aut ridiculi volunt.“ Quintilian, De inst. orat. 11,1,30. 68 Nik.Eth. II,7. 69 Mit einem bomolochos bezeichnete man einen Spaßmacher, der „bei Altären einen Hinterhalt legt“, d. h. bei der Opferung von Tieren um Fleisch bettelt. Dass der Tausch von Späßen um Fleisch archaisch war, ist belegt bei Bremmer, Witze, Spaßmacher und Witzbücher, S. 21. 70 Vgl. dazu van der Horst, P. W.: Is Wittiness Unchristian? A Note on εύτραπελία in Eph. v 4. In: Miscellanea Neotestamentica. Hg. von T. Baarda, A. F. J. Kleijn u. W. C. van Unnik. Vol. II. Leiden: Brill 1978, S. 163-177, der den Begriff eindeutig dem Bereich des Komischen, dem Lachen und dem Humor im Altertum zuordnet (163 f.) der einzig legitime ist. 65 Ironischerweise wurde Cicero in den Saturnalia des Macrobius selbst mit dem Spitznamen „scurra“ belegt: „Eum scurram ab inimicis appellari solitum“. 66 Die scurrilitas in der christlichen Ethik: vom Epheserbrief zu den monastischen Regeln Für die christliche Ethik ist seit dem Epheserbrief das von scurra abgeleitete Substantiv scurrilitas bedeutungsvoll geworden. In der Spätantike wenig in Gebrauch, war es jedoch nicht nur auf theatrale Aufführungen begrenzt, sondern wurde auch außerhalb des Theaters schon pejorativ für Handeln und Sprechen „in der Art eines Komödianten“ verwendet, wie etwa bei Quintilian bei der Erörterung der Angemessenheit der sprachlichen Performanz: adfectata scurrilitas. 67 Durch die Vulgata-Übersetzung des Epheserbriefes wurde dann scurrilitas als Begriff in die christliche Ethik eingeführt, allerdings nicht mit Bezug auf die Rhetorik, sondern auf das aristotelische eutrapelia-Konzept. Die eutrapelia 68 bezeichnet gewandte Unterhaltsam‐ keit im geselligen Verkehr, und sie eignet dem guten Gesellschafter, der in der Lage ist, zwischen den beiden Extremen Albernheit und Possenreißerei (bômolochia) einerseits sowie bäurischer Unbeholfenheit und Grobheit (agroikia) andererseits die rechte Mitte zu halten. Für Aristoteles ist die eutrapelia eine Tugend, die dem Geist des freien Mannes angemessen ist und sich positiv von der bômolochia absetzt; 69 er kennzeichnet hier die Tu‐ gend des geselligen Menschen, der es versteht, sich und andere humorvoll zu unterhalten, ohne dabei grob oder zotenhaft zu werden. Dass der Begriff für das griechische Verständnis für Komik und Lachen zentral ist, muss hier nicht eigens erwähnt werden. 70 Der Autor des Briefes an die Epheser nimmt den aristotelischen eutrapelia-Begriff im Rahmen seiner Anweisungen für ein gottgefälliges christliches Leben wieder auf (5.4), doch mit gänzlich anderen Vorzeichen: sie steht hier, thematisch der Unreinheit zugeordnet, zwischen Schändlichkeit bzw. Sittenlosigkeit (aiscroths / turpitudo) und törichter, zügelloser Rede (mwrologia / stultiloquium), und wie diese beiden geziemt sie sich nicht. Im Gegenteil - 3. Scurra und scurrilitas 148 <?page no="149"?> 71 Vgl. dazu Schnackenburg, Rudolf: Der Brief an die Epheser. (= Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. X). Zürich / Einsiedeln / Köln 1982, S. 222-25. 72 „Die Lastertriade des V 4 zeichnet sich dadruch aus, dass sie drei hapax legomena des NT biete. Das bereitet ihrem Verständnis Schwierigkeiten.“ Gnilka, Joachim: Der Epheserbrief. Freiburg / Basel / Wien 1971, S. 246. Die Unsicherheit ist den Kommentaren bis heute anzumerken: so formuliert bei‐ spielsweise Schneckenburg: “Da dann ‚dummes Geschwätz‘ (mwrologia) und ‚witzige Rede‘ (eutra‐ pelia) genannt werden, wird auch beim ersten Ausdruck an unanständiges Sprechen gedacht sein.“ Schnackenburg, Der Brief an die Epheser, S. 223. Der Kommentator sucht auch mit einigen Schwie‐ rigkeiten zu begründen, warum das „zweideutige Sprechen“ nun so sündhaft sein solle. 73 Handbuch zum Neuen Testament. Begr. von Hans Lietzmann. Hg. von Andreas Lindemann. Bd. 12: An Philemon. An die Kolosser [u. a.]. Hg. von Hans Hübner. Tübingen 1997, S. 224-227. 74 Gnilka, Der Epheserbrief, S. 247. 75 Dass hier soziale Unterschiede zwischen heidnischer Oberschicht und frühen Christen eine Rolle gespielt haben mögen, vermutet van der Horst: er sieht den Begriff als sozial zugehörig zur Ober‐ schicht, im Rahmen des Amusements und des passe-temps, als Gegengewicht zum ernsthaften Alltag des Berufs oder des Lebens. Von daher konnte diese „Tugend“ im christlichen Verständnis der frühen Gemeinden auf kein Verständnis stoßen. Vgl. van der Horst, Is Wittiness Unchristian? , S. 177. ihre Sündhaftigkeit wird noch deutlicher durch den weiteren Kontext, der auf die Verfüh‐ rung mit Worten hinweist, in dem sich jedoch auch schwerwiegende Sünden wie ge‐ schlechtliche Unmoral und Habsucht (5.3) sowie Götzendienst (5.5) finden, die in jedem Fall zu unterlassen sind. 71 Damit ist der aristotelische Begriff einer starken Transformation un‐ terzogen worden: aus dem geistreichen, gemäßigten und somit erlaubten Scherzen ist ein offenkundiges Fehlverhalten geworden, das auf einer Stufe mit obszönen, schamlosen Handlungen und Gemeinheiten sowie närrischem, losem Sprechen steht. Was bedeutet aber diese eutrapelia im neutestamentarischen Kontext? Die Auslegung der Stelle hat den Kommentatoren einige Schwierigkeiten bereitet, vor allem deswegen, als es sich hier um Begriffe handelt, die nur an dieser Stelle im NT vorkommen. 72 So gibt Hübner im Handbuch zum Neuen Testament eutrapelia (im Rückgriff auf Hoppe, K70) mit „leicht‐ fertiges, vielleicht auch schlüpfriges, vor der geschlechtlichen Würde des Menschen ach‐ tungsloses Gerede“ wieder. Die Etymologie des Begriffes und seine Verwendung bei Aris‐ toteles will er in der Auslegung nicht gelten lassen: „Der Hinweis auf den Profangebrauch des Begriffes ergibt aber keine neue Bedeutung für das, was der AuctEph mit eutrapelia hatte sagen wollen.“ 73 Der katholische Theologe Joachim Gnilka verweist jedoch auf das theatrale Substrat des Terms: „Eutrapelos aber kann auch einer genannt werden, der es aus Liebe zum Scherz nicht so genau nimmt, der Possenreißer, der auf seinen Gewinn bedachte Schmeichler. In diesem abwertenden Sinn hat der Verf. die eutrapelia aufgefasst.“ 74 Hier werden Differenzen darüber deutlich, inwieweit profane Bedeutungen des Begriffes für den Verfasser des Epheserbriefes überhaupt eine Rolle gespielt haben, und wenn ja, welche. Sicher scheint zumindest, dass damit ein heidnisches Verhalten ausgedrückt werden soll, das sich für die christliche Frühkirche nicht ziemte. 75 Die Lage wird aber noch komplizierter, wenn für diese negativ gewendete neutesta‐ mentliche eutrapelia in der Vulgata-Übersetzung die scurrilitas gewählt wird: „aut turpitudo aut stultiloquium aut scurrilitas quae ad rem non pertinent (sed magis gratiarum actio)“. Denn auch dieser Begriff ist nicht eindeutig: ist hiermit eine besondere Form der abschät‐ 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 149 <?page no="150"?> 76 In der Antike, so van der Horst, ist εύτραπελία nicht unbedingt auf Sprache bezogen: „In several texts εύτραπελία is not said of any kind of speech but simply denotes great adaptability and adroitness, and also changeableness.“ van der Horst, Is Wittiness Unchristian? , S. 176. 77 Dass dies schwierig ist, lässt sich sogar der Übersetzung des Marius Victorinus entnehmen, die für die weitere Begriffsgeschichte wichtig ist (s. u.): „turpitudo enim iam ipsum est facinus atque pec‐ catum.“ (die Schamlosigkeit nämlich ist selbst Handlung und Sünde). Marius Victorinus Afer: Com‐ mentarii in Epistulas Pauli. Ad Galatas. Ad Philippenses. Ad Ephesios. Hg. von Albrecht Locher. Leipzig 1972, S. 191. 78 Fast alle englischen Bibelversionen übersetzen “jesting“ oder „coarse jesting“. (Am. Standard Version, King James Version, New King James Version, Webster’s Bible u. a. m.) Damit sind sowohl Sprachwie Handlungswitze gemeint, die Lachen auslösen. Entsprechend ist die Übertragung in der nieder‐ ländischen Statenvertaling von 1750, die mit gekkernij das gesamte Verhalten betont, oder die spa‐ nische Übertragung truhaneria (Gaunerei, Possenreißerei) in den Sagradas Escrituras; dagegen unterstreicht die frz. (Louis II.) Übertragung den Gebrauch der Rede stärker: plaisanterie. Die deut‐ schen Übersetzungen legen sich kaum fest: die Elberfelder Bibel spricht von „Witzelei“, die ökume‐ nische Übersetzung wählt „leichtfertige Witzelei“, die Lutherbibel „Scherze“ bzw. „lose Reden“ (Bi‐ belgesellschaft). zigen Rede gemeint, und wenn ja, welche, ist ein gesamtes Verhalten intendiert, 76 wie nah steht das Ausgangsnomen scurra und welche seiner verschiedenen Bedeutungsvarianten liegt hier zu Grunde? Dass scurrilitas die Negativität von eutrapelia übernimmt, ergibt sich aus dem semanti‐ schen Umfeld von Eph. 5. Blickt man auf die weitere Begriffsgeschichte über das frühe ins hohe Mittelalter, setzt sich die Zuordnung zum sündhaften Sprechen deutlich durch: aus‐ gehend von stultiloquium wird auch der nachfolgende Begriff den Wortsünden zugeordnet. Diese Interpretation geht so weit, auch den Leitbegriff der Triade, turpitudo, in diesem Sinne (als unanständige Rede) zu fassen, obwohl er normalerweise für schamloses, sexuell unanständiges Handeln und Denken gebraucht wird. 77 So verstehen die meisten Kommen‐ tatoren bis zu Luther unter eutrapelia / scurrilitas Zungensünden („schandbare, närrische und lose Reden“), mit jeweils stärkerer Betonung auf dem sexuellen bzw. dem witzig-am‐ bivalenten Konnotat. Zu konstatieren ist hier eine Vereindeutigung der Begrifflichkeit, bei der die rezidiven Bedeutungskomponenten sukzessive unterschlagen werden. Denn von Beginn an überla‐ gern sich mehrere semantische Ebenen, wie ich im Folgenden an zwei prägnanten Bei‐ spielen zeigen möchte (dass sich diese Ebenen auch in den Übersetzungen in die Volks‐ sprachen überlagern, sei nur nebenbei vermerkt). 78 Beide Beispiele stammen aus dem 4. Jahrhundert, einer für das Verhältnis von griechischer und lateinischer Begrifflichkeit entscheidende Periode. Im 4. Jahrhundert kam es zur Rezeption und Modifikation griechi‐ scher Begriffe in der lateinischen Theologie und Philosophie, in welcher der römische Rhetor und Neuplatoniker Marius Victorinus Afer eine zentrale Figur darstellte, weil er der erste Pauluskommentator im lateinischen Bereich war, Schriften Plotins übersetzt und in 3. Scurra und scurrilitas 150 <?page no="151"?> 79 Vgl. Erdt, Werner: Marius Victorinus Afer, der erste lateinische Pauluskommentator. Studien zu seinen Pauluskommentaren im Zusammenhang der Wiederentdeckung des Paulus in der abendländischen Theologie des 4. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. / Bern / Cirencester 1980. Marius verfasste den Kom‐ mentar zu den Paulusbriefen in den 60er Jahren des 4. Jhs.; Hieronymus kannte ihn gut und verweist zweimal auf ihn. Vgl. S. 26 f. Leider ist Erdts Studie kein Gewinn für die Frage der Übersetzertätigkeit des Marius Victorinus. 80 Marius Victorinus Afer: Commentarii in Epistulas Pauli, S. 191. 81 „Zwischen der Narrenrede und der Possenreißerei besteht somit der Unterschied, dass die Narrenrede niemals die Würde des weisen Menschen in sich trägt. Dagegen kommt die Possenreißerei von klugen Köpfen her, und sie sucht absichtlich affektierte oder unmanierliche, zotige oder witzige Worte, die wir auch unter einem anderen Begriff kennen, der Lustigmacherei“ [Übers. HRV]. Hieronymus Stri‐ donensis: Commentaria in Epistolam ad Ephesios. In: PL 26, 519b seinen trinitätstheologischen Schriften die griechische Theologie seiner Zeit rezipiert hat. 79 In seinem Kommentar In epistolam Pauli ad Ephesios gibt Victorinus folgende Erläuterung für scurrilitas: „item scurrilitas iocosa oratio, et alterum laedens ioci causa ac propterea contumeliosa. quae ad rem non pertinet. potest enim et scurrilitas increpationis poni modo ex stultiloquio.“ 80 Wenn die scurrilitas hier als „scherzhafte Rede“ bezeichnet wird, die „schmähend und verletzend ist“, und wenn sie weiterhin in Abhängigkeit von stultiloquium gebracht wird, dann ist der Grundstein für das rein sprachliche Verständnis der Epheser-Stelle gelegt, das sich dann, wie sich zeigen wird, im Mittelalter durchsetzen wird. Anders dagegen der Schöpfer der lateinischen Bibel, Hieronymus Stridonensis (ca. 347-419). Er gibt in seinem Epheserkommentar eine ganze Reihe von Bezügen von scurri‐ litas auf der Grundlage ihrer profanen Bedeutungsvarianten an: Inter stultiloquium autem et scurrilitatem hoc interest, quod stultiloquium nihil in se sapiens et corde hominis dignum habet. Scurrilitas vero de prudenti mente descendit, et consulto appetit quaedam vel urbana verba, vel rustica, vel turpia vel faceta, quam nos jocularitatem alio verbo possumus appellare, ut risum moveat audientibus“. 81 Hier werden mehrere Dinge deutlich: zunächst wird eine klare Zurücknahme der Abwer‐ tung der scurrilitas formuliert („de prudenti mente descendit“), vor allem im Gegensatz zu ihrem deutlich negativeren Gegenstück, dem stultiloquium. Zweitens läßt Hieronymus auch die Qualität der Kommunikationsform offen: sie kann entweder geistreich-affektiert („urbana“), grobdrastisch („rustica“) oder zotig-obszön („turpia“) sein. Am bedeutungsvollsten erscheint jedoch die Tatsache, dass mit diesen unterschiedlichen Kommunikationsformen Lachen erregt wird, das Lachen der Zuhörer, der Anwesenden, die mit scurrilitas konfroniert werden („ut risum moveat audientibus“). Das Erregen von La‐ chen, das Lächerlich-Machen ist somit das Verbindende an der scurrilitas, wobei es wohl unerheblich ist, ob es sich um Lachen über Witzeleien, über Zoten oder ungebührliche Gesten und Handlungen handelt. Hieronymus arbeitet somit in seinem Kommentar etwas an dem Epheserbrief heraus, was die Exegeten bis heute übersehen haben: dass nämlich die Klammer für die so unterschiedlichen Begriffe turpitudo, stultiloquium und scurrilitas in den Vorbehalten der Christen dem Lachen, und vor allem dem Lächerlich-Machen gegen‐ über zu sehen ist. Nicht das törichte Wort oder die Obszönität, sondern beides und noch mehr können Lachen erregen, was dem Verfasser des Epheserbriefes für die frühchristliche 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 151 <?page no="152"?> 82 Chrysostomos, Epist. ad Eph. Hom. XVII. PG 62, S. 119. 83 „ (…) närrisch Reden nämlich und der Possenreißer geziemen sich nicht für den Christen. Reden jedoch, die mit Humor gewürzt sind, haben durchaus den Zuspruch der Zuhörer.“ (Übers. HRV) Hieronymus Stridonensis, Comment. in Epist. ad Eph., 520C. Scurra taucht dann nochmals in 521A auf. Im an Demetrias adressierten Brief (Hier. epist. 130,13) zeigt sich der Übergang der mündlichen in die körperliche Dimension etwa an der engen Verbindung von Sprache und (un)sittlichem Ver‐ halten: „perditae mentes hominum uno frequenter levique sermone temptant claustra pudicitiae“. PL 30, 130,13. Gemeinde unangemessen scheint. Dies wird auch von Chrysostomos in seinem Kommentar zum Epheserbrief bestätigt, wenn er sagt: „Ubi est turpitudo, illic est etiam scurrilitas, ubi est risus importunus, illic est etiam scurrilitas.“ 82 Auch am weiteren Fortgang des Kommentars ist die Bedeutung des Lachens zu erkennen: Hieronymus gemahnt nämlich an das Gebot der Heiligen, dass es sich geziemt zu weinen und zu trauern („magis convenit flere atque lugere“), und nicht leichtfertig fröhlich zu sein. Dies schließt dann an die Aufforderung, Dankbarkeit zu zeigen, in Eph. 5.5 an. Dass Hie‐ ronymus den Begriff der scurrilitas stärker als seine Nachfolger an Figur und Beruf des scurra bindet, zeigt sich im Kommentar zum Epheserbrief ebenfalls: weiter unten heißt es: „stultiloquium enim et scurram non decet esse Christianum. Decet autem sermones ejus sale esse conditum, ut gratiam apud audientes habeat“. 83 Angesichts des Hieronymus-Kommentars muss man von verschiedenen Auslegungst‐ raditionen der Epheser-Stelle sprechen, und die ausschließliche Zuordnung der scurrilitas zu den Zungensünden, wie sie zuerst bei Marius erscheint, in Frage stellen. Gestützt auf Hieronymus soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, den bisher der schlechten Rede zugeordneten Begriff auf seine im Epheserkommentar genannte Zielrichtung, dem unangemessenen Erregen von Lachen, zurückzuführen, und damit die Semantik der scur‐ rilitas nicht nur sprachlich, sondern auch - bezogen auf das Lachen - gestisch-körperlich und in Handlungen zu lesen. Scurrilitas weist etymologisch auf ein körperlich-szenisches Substrat hin, das auch bei der sprachlichen Semantik des Begriffes noch immer mitschwingt. Was der Verfasser des Epheserbriefes ursprünglich mit eutrapelia intendiert hatte, ist nicht mehr nachzuweisen; vermutlich wollte er eine Verbindung zur professionellen Unterhal‐ tung der (heidnischen) Antike herstellen, denn nur hier kommen (obszöne) Gesten, Körper- und Sprachwitze sowie närrische Reden und Handlungen zueinander. Eindeutig ist zumin‐ dest, dass die lateinische Übersetzung scurrilitas in Abhängigkeit von scurra gebraucht wird und somit dessen negative semantische Entwicklung nachvollzieht. Über das gesamte Mittelalter hinweg bleibt die enge Auslegung der scurrilitas als ‚schlechte Rede‘ dominant, bis Thomas von Aquin sie wieder auf die aristotelische eutrapelia zurückführen, dem maßvollen Scherzen in Gesellschaft zuschreiben und das antike Tu‐ gendideal für die christliche Moralethik wiedergewinnen wird. Bis dahin gibt es allerdings noch andere Lesarten der scurrilitas, die hier nicht unterschlagen werden sollen, und die die These von ihrer Funktion als Lachanlass unterstützen. Sehr früh wird scurrilitas im frühmittelalterlichen Mönchstum übernommen und als Leitbegriff für falsche Verhaltensformen herausgestellt. In der Formula vitae honestae des Martin von Braga (ca. 515-579), einer der wichtigsten Gestalten für die Entwicklung des Mönchstums auf der iberischen Halbinsel, wird in einem Passus zum Reglement des La‐ 3. Scurra und scurrilitas 152 <?page no="153"?> 84 Martin von Braga: Formula vitae honestae (4). In: Martini episcopi Bracarensis opera omnia. Hg. von C. W. Barlow (= Papers and Monographs of the American Academy in Rome 12), New Haven 1950, S. 49. 85 Die Benediktusregel (lateinisch / deutsch), hg. im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 1980, Kap. VI, 5. (Leichtfertige Späße aber und albernes oder zum Lachen reizendes Geschwätz ver‐ dammen wir allezeit und überall). 86 Zit. aus Gindele, Corbinian: Das scurrile in der Benediktus- und der Magisterregel. Studien und Mit‐ teilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 81 (1970), S. 480-481. Vgl. auch Geisel, Sieglinde: Zum Verbot des Lachens in der Benediktsregel. Erbe und Auftrag 67 (1991) S. 28-34. 87 Gindele, Das scurrile in der Benediktus- und der Magisterregel, S. 480. chens die scurrilitas der ciceronischen urbanitas als Gegenbegriff gegenübergestellt: „Non erat tibi scurrilitas sed grata urbanitas. Sales tui sine dente sint, ioci sine vilitate, risus sine cachinno, vox sine clamore, incessus sine tumultu.“ 84 Während das Scherzen ohne Scha‐ denfreude, das Lächeln und maßvolle (leise) Lachen ohne Zähnezeigen sowie eine diszip‐ linierte Körperhaltung erlaubt sind, erscheint scurrilitas als Leitbegriff für Spott und böse Witze, lautes Lachen, bei dem die Zähne zu sehen sind, sowie undiszipliniertes, vermutlich Gelächter provozierendes Auftreten. Martin folgt hier demnach der von Hieronymus ge‐ prägten Bedeutung von scurrilitas als übergeordnetem Begriff für falsches Scherzen und Lachen, die sich, und das ist interessant, beide durch körperliche Merkmale von der er‐ laubten Scherzkommunikation unterscheiden: durch Mimik, Stimme, Lautstärke des La‐ chens und Körperhaltung. Ähnlich liegt der Fall in der Benediktusregel, die direkt an die Paulus-Stelle anschließt, um leichtfertiges Scherzen bzw. obszönes Gebaren zu reglementieren: „Scurrilitates vero vel verba otiosa et risum moventia aeterna clausura in omnibus locis damnamus“. 85 Dar‐ überhinaus wird scurrilitas in der Benediktusregel auch im Rahmen desselben Verhaltens‐ dispositivs wie bei Martin benutzt: im Kapitel über den richtigen Gang zum Gottesdienst bezeichnet es die falsche Haltung, nämlich unnötige Eile, während gravitas die richtige ist („ad horam divini officii (...) summa cum festinatione curratur cum gravitate tamen, ut non scurrilitas inveniat fomitem“). 86 Die Regel verwendet scurrilitas hier anstelle der in der Ma‐ gisterregel erscheinende lascivia: es darf zum Gottesdienst nur so geeilt werden, dass scur‐ rilitas vermieden wird. Wenn nun statt der lascivia, was man mit Zügellosigkeit oder gar Wollust übersetzen mag, die scurrilitas vermieden werden soll, dann kann dies nur auf die unangemessene, Gelächter hervorrufende körperliche Bewegung bezogen sein. Der Aus‐ gangspunkt ist, wie Gindele vermutet, in beiden Regeln offenbar der gleiche: „ungehemmter Lauf mit Hochnehmen der Tunika.“ 87 Das Hochziehen der Tunika zum Springen und Hüpfen war der vorgeschriebenen gravitas des Mönches nicht angemessen: es ist lächerlich und hat gleichzeitig laszive Wirkungen. Wichtig für unseren Zusammenhang ist hierbei vor allem, dass diese Bedeutung der scurrilitas wenig mit Witzen und Scherzen zu tun hat, sondern eindeutig auf mangelnde Körperbeherrschung hindeutet, die den Körper des Mönchs lächerlich macht. Dass im monastischen Bereich unter scurrilitas das gesamte äußere Verhalten, und nicht nur gemeines Geschwätz und Spott verstanden wurde, zeigt die Verurteilung des Lachens in Bernhards von Clairvaux Traktat De gradibus humilitatis et superbiae: Der Mönch, der von der laetitia saecularis erfüllt ist, trauert nicht mehr und gibt sich weltlichen Freuden hin: „In signis scurrilitas, in fronte hilaritas, vanitas apparet in incessu.“ Hinter den äußeren 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 153 <?page no="154"?> 88 „Wenn selbst das Lachen in seiner gemäßigten Form doppeldeutig ist und die innere Haltung des Menschen nicht klar erkennen läßt, so bleibt nur die eine Konsequenz, das körperliche Lachen gänz‐ lich als Ausdruck der Freude der geistlichen Gerechten abzulehnen.“ Suchomski, Delectatio und uti‐ litas, S. 19. 89 Gregor I. noch hatte das binäre System der Entgegensetzung von Innen und Außen favorisiert, auch wenn er Unterabteilungen beider Bereiche zulässt. Zungensünden werden in dieser dichotomischen Systematik teils dem Bereich der cogitatio zugeschlagen, weil sie als unvollendete Werke gelten, teils aber auch als Manifestationen des Äußerern gewertet. Die scurrilitas wird hier von der superbia abhängig und findet sich unter der Rubrik „De ventris ingluvie“. Gregor I, Moralia in Hiob XXXI, XLV, S. 87 f. In: CCSL 143 B,1610. 90 Carla Casagrande und Silvana Vecchio haben die scholastischen Systematiken zum Thema der Zun‐ gensünden in ihrer Studie I peccati della lingua gründlich untersucht; hier und im folgenden stütze ich mich auf ihre Ergebnisse, auch wenn ich einige ihrer Definitionen als zu eng empfinde. „La definizione agostiniana del peccato (...) diventa la definizione classica, il punto di riferimento obbli‐ gato di ogni discussione scolastica sul peccato.“ Ebd., S. 180. Vgl. auch Landgraf, Artur Michael: Dogmengeschichte der Frühscholastik. 8 Bde. Bd. 4.1. Regensburg 1952. Zeichen, dem Geschehenlassen der Possenreißerei taucht die vanitas auf. Bernhards Vor‐ wurf bezieht sich deutlich auf das Vermeiden von zügellosem Lachen und Scherzen in einer monastischen Gemeinschaft, er erkennt vor allem im körperlichen Lachen („risus corporis“, „risus integer“) einen Verstoß gegen die Regel aus Mangel an christlicher Demut. 88 Scurrilitas als Zungensünde in der Früh- und Hochscholastik In den theoretischen und moralischen Texten der Scholastik kommt das Verständnis von scurrilitas immer stärker unter den Einfluss der Typologie der Wort- oder Zungensünden, deren Bedeutung im Verlauf des 12. Jahrhunderts und dann besonders im 13. Jahrhundert, mit der Entstehung von Sündenkatalogen und Predigerhandbüchern stark anwächst: zu‐ nächst sporadische Hinweise werden zu Kapiteln erweitert, aus denen schließlich Bücher und systematische Abhandlungen werden, welche dem Prediger Anleitungen zum richtigen Sprechen geben sollten. Zwischen 1180 und 1250 war die Aufmerksamkeit für die Sünden der Sprache am größten; weder vorher noch später hat die christliche moralische Reflexion wieder eine so systematische Erörterung hervorgebracht. In diesen Schriften spielt das sündhafte Wort nun eine größere Rolle als der sündhafte Gedanke oder die sündhafte Handlung. In der Frühscholastik setzt sich gegen die im Früh‐ mittelalter geläufige cor / opus-Dichotomie 89 nun immer stärker die augustinische Dreitei‐ lung der Sünden in „dictum vel factum vel concupitum contra legem Dei“ durch. 90 Lagen die Wortsünden im binären System auf der Grenze von Innen und Außen und hatten so keinen rechten eigenen Platz, so ist in dem von Augustinus und Hieronymus geprägten System mit dem dictum eine Kategorie geschaffen worden, die ihnen voll und ganz ent‐ sprach. Leitend wird das Dreierschema mit den Sententiae des Petrus Lombardus (2. Hälfte 12. Jh.), und zwar mit der Zentralstellung der Zungensünde. Denn das sündhafte Sprechen ist nun nicht mehr Ausfluss des Mundes und so mit dem Essen verbunden (Essen und Sprechen waren seit Isidors Etymologiae Tätigkeiten des Mundes), sondern das sündhafte Sprechen löst sich in der Scholastik von der Körperlichkeit der Sprechwerkzeuge und wird als ein actus, gewissermaßen als ein Sprechakt angesehen. Somit übernimmt das sündhafte Sprechen als performativer Akt gleichzeitig auch die Funktion sündhaften Handelns: das 3. Scurra und scurrilitas 154 <?page no="155"?> 91 Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 44. 92 „Per la prima volta peccati della lingua, modi della comunicazione, regole della parola, discorsi sul silenzio si unificano in un’unico oggetto di analisi, disponendosi sui livelli diversi, ma tra loro collegati, di un sistema, a sua volta collocato nel piano ordinato di una summa, che si presenta come un’enciclopedia dell’etica cristiana.“ Zit. aus Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 36. 93 Vgl. dazu Althoff, Spielregeln, S. 12. 94 Gregor I. hatte die scurrilitas als Tochter der ventris ingluvies verstanden. 95 Dass die auf den Körper hinweisenden semantische Varianten des scurrrilitas-Begriffes zwar mar‐ ginalisiert werden, dennoch weiter existieren, zeigt eine Aussage von Gilbert von Tournai († 1284), der in seinem Sermo ad virgines et puellas den Mädchen nahe legt, skurrile Gesten (gesti scurrili) zu vermeiden. Gilbert von Tournai: Sermones. Sermo I: Ad virgines et puellas, f. 146 v., Lugdunum 1511, zit. in Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 339. ausgesprochene Wort ist die Schnittstelle, wo die Sünde zuerst sichtbar wird. Grundlegend ist dabei das theologische Verständnis des Mittelalters, dass das Wort in der Lage dazu ist, tugendhafte oder sündhafte Handlungen zu produzieren: „Fondamentale per entrambi è il rapporto con i pensieri e con le azioni: (...) la parola ha la capacità di produrre azioni oneste o turpi.“ 91 Dabei ist wichtig, dass das Wort zwischen innen und außen, zwischen Denken und Tun steht, und somit eine Mittlerrolle beider Bereiche einnimmt. Zentral für diese Entwicklung ist der Speculum Universale (1193-1200) des französischen Theologen Raoul Ardent (Ra‐ dulfus Ardens, † 1200), in welchem zum erstenmal Zungensünden, Kommunikations‐ formen und monastische Regeln über das Sprechen einer zusammenfassenden Reflexion unterworfen werden, um eine Neubestimmung der christlichen Ethik vorzunehmen. 92 Raouls Welt ist eine Welt der Worte: sein Rezipient ist der Kleriker, der viel spricht, der das Wort quasi beruflich benutzt, in der Predigt, bei der Beichte, beim Lob Gottes, im Unterricht, beim Glaubensbekenntnis, beim Gebet. Ihm wird eine komplexe Differenzierung der beiden Pole sermo honestus - sermo turpis gewidmet. Darin ist sowohl die Kommunikation mit Gott als auch die mit den Menschen eingeschlossen. Die große Aufmerksamkeit, die dem Spre‐ chen - und vor allem dem Aussprechen - hier im klerikalen Bereich zukommt, hat sein weltliches Pendant in der Performativität des rituellen Sprechens im Mittelalter: Abspra‐ chen und Garantien, politische Bünde, Schwüre, Pakte zur gegenseitigen Unterstützung, also alle denkbaren sozialen Verträge, die die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen unter Menschen und Gruppen in einer von der Oralität beherrschten Welt regeln, waren dem Aussprechen von Worten und Formeln unterworfen. 93 Es ist somit kaum verwunderlich, wenn ein aus der Spätantike stammender Begriff wie die scurrilitas, die eine große Spanne von Bedeutungen umfasste, von welchen einige bereits in Vergessenheit geraten waren, 94 weitgehend als sprachlicher Akt aufgefasst wurde. 95 Es ist der Sprechakt der geistreichen Ambiguität, der witzig-überheblichen Rede, des Lächer‐ lich-Machens, der häufig mit der Provokation von Gelächter einhergeht. Allerdings hat die Verortung der scurrilitas im Dreiersystem einige Schwierigkeiten bereitet, was ein Hinweis auf ihren labilen semantischen Status sein dürfte. So wird etwa in dem Konrad von Hirsau zugeschriebenen De fructibus carnis et spiritus die scurrilitas aus den Zungensünden he‐ rausgestrichen, bei Alanus von Lille wird sie in seinem 1160 entstandenen Traktat De vir‐ tutibus et vitiis in inverecundia (Schamlosigkeit) umgeformt, und in Vinzenz von Beauvais’ 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 155 <?page no="156"?> 96 In Guillaume Perraults (Guglielmus Peraldus) Summa de vitiis erscheint sie mit anderen Zungen‐ sünden als Tochter der Todsünde fornicatio. 97 Casagrande / Vecchio geben diese Ambiguität auch offen zu: (La derisio) … entra, non senza contrasti e incertezze, nei sistemi di peccati della lingua del sec. XIII. (...)„… particolarmente ambiguo ed accidentato“, ziehen daraus aber keine Konsequenzen. Casagrande / Vecchio: I peccati della lingua, S. 383. Leider fällt Casagrande in einem späteren Beitrag zum Lachen von dieser Position zurück in eine der Ausschließlichkeit, wo derisio und scurrilitas reine Zungensünden sind. Vgl. Casagrande, Carla: Il peccato di far ridere. Derisione, turpiloquio, stultiloquio, scurrilità nei testi teologici e pas‐ torali del secolo XIII. In: Riso e comicità nella cultura religiosa dell’Occidente. Hg. von R. Alessandrini e M. Corsari. Modena 2000. S. 77-105. 98 Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 385. 99 Speculum doctrinale IV, CLXXII, 399: Procacitas est importuna quaedam impudentis frontis audacia, qua quis humanae verecundiae cum irrisione insultat“. Stephane de Borbon (De diversis mat. praed. 419-420) behandelt die derisio wiederum als Spielart der invidia, und im Traktat De Lingua findet sie sich als Annex der dissolucio. Vgl. dazu Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 386. 100 Alexander von Hales: Summa Theologica. Tomus 3. Ad Claras Acquas 1924-1979, S. 470 ff.: „Peccatum autem quod est in gestu vel nutu corporis quoddam attenditur in se, quoddam respectu proximi. Peccatum in se dicitur peccatum ioculationis aut risus (...) subsannatio autem et derisio quantum ad proximum.“ Speculum doctrinale, der kurz nach Perraults Summa verfasst wurde, wird die scurrilitas durch garrulitas (Schwatzhaftigkeit) ersetzt. 96 Dem Bestreben vieler Autoren der Scholastik, eine vollständige Systematik der Sündhaftigkeit im Hochmittelalter zu geben, fällt nicht selten ein semantisch nur schwer zu bestimmender Begriff wie die scurrilitas zum Opfer. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem ebenfalls dem Lachen zugeordneten Begriff de‐ risio, dem öffentlichen Spott, dessen Ambiguität auf der Hand liegt. 97 Auch hier müssen wir von einem Bündel von Bedeutungen ausgehen, in dem verschiedene verbale und nonver‐ bale Handlungen zusammengefasst sind: der Begriff schwankt nach Casagrande / Vecchio zwischen einer verächtlichen Haltung und einer erniedrigenden Beleidigung: „atteggia‐ mento dispregiativo“ und „sprezzante insulto veicolato da parole indebitamente liete“. 98 Interessant ist hier, dass derisio trotz offensichtlicher Schwierigkeiten, in ihm einen Sprechakt zu sehen, im scholastischen Schrifttum vielfach als Wortsünde behandelt wird. Das Hineinzwängen von derisio in das Kostüm der Wortsünde erhellt schlaglichtartig, dass es hier in einem hohen Maß zu einer begrifflichen Entdifferenzierung zugunsten der Sprache gekommen ist. Dies ist einigen Autoren aufgefallen: etwa Vinzenz von Beauvais, der bei der Diskussion von derisio nicht von Sünde an sich, sondern von einer Art Sünde spricht, die er procacitas nennt, und die in einer schamlosen Beleidigung der menschlichen Würde durch Verlachen besteht. 99 Die Summa Halensis spricht schließlich überhaupt nicht von Wortsünde, sondern von Werksünde. Derisio scheint hier ein umfassendes Handlungs‐ muster zu sein, das verächtlich gegen Gott und den Nächsten gerichtet ist, unabhängig davon, ob sich dieses Muster sprachlich, in Gesten oder in Handlungen vollzieht. Die Summa behandelt die derisio innerhalb der Gesten und Gebärden des Körpers, in der zu den Werksünden zählenden „Quaestio de risu et ioculatione“. 100 Dass die Kategorisierung von derisio - ähnlich wie bei scurrilitas - unter die Wortsünden einer Verkürzung gleichkommt, wird nicht nur von der widersprüchlichen Beleglage der Schriften, sondern auch durch die offensichtliche Unterschlagung ihrer Zwischenposition, in der Worte (Schmähungen, Spott), Gesten (Spottgebärden), Haltungen (Verachtung) und Handlungen (Verlachen) in einem Tätigkeitsfeld derisio zusammengefasst sind, deutlich. 3. Scurra und scurrilitas 156 <?page no="157"?> 101 Da die scurrilitas in den Quellen sehr häufig gemeinsam mit turpiloquium auftritt, nehmen in ihrer Diskussion der scholastischen Sündensystematik Casagrande / Vecchio eine Gleichsetzung der beiden Begriffe vor: „Qui gioca un ruolo decisivo l’identità, parziale o totale, tra turpiloquium e scurrilitas. Le parole turpi sono infatti considerate una componente fondamentale della scurri‐ lità. (...) … indissolubile legame tra parole turpi e scurrili.“ (396 f.) Diese Auffassung wird dadurch bestärkt, dass kaum ein Autor die Begriffe genauer erläutert - was seinen Grund offensichtlich in der Furcht hat, sich schreibend selbst zu versündigen. Allein der Verweis auf andere Sünden oder die Zuordnung zu diesen (lascivitas, superbia, gula) reicht nicht aus, um turpiloquium und scurrilitas effektiv zu unterscheiden. 102 “Inoltre, nella dinamica pensieri / parole / opere, il turpiloquio non si limita a spaziare dal pensiero alla parola e dalla parola al pensiero, rivelando e incrementando le turpitudini interiori, ma è capace di arrivare fino alle opere, trasformando in fatti le turpitudini che nomina.“ Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 394. 103 Vgl. zum wirklichkeitskonstitutierenden Aspekt des Performativen Bohle, Ulrike u. König, Ekkehard: Zum Begriff des Performativen in der Sprachwissenschaft. In: Theorien des Performativen. Hg. von Erika Fischer-Lichte u. Christoph Wulf. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthro‐ pologie 10 (2001). H. 1. S. 13-34. 104 Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 395: „La trasformazione delle parole turpi in azioni turpi è (...) insistita in tutta la tradizione.“ Scurrilitas, turpiloquium, stultiloquium In Anlehnung an den Epheserbrief erscheint scurrilitas meist gemeinsam mit turpiloquium und stultiloquium. 101 Mit turpiloquium, das die Stelle der biblischen turpitudo einnimmt, werden vulgäre, obszöne, laszive, schamlose, und unreine Worte bezeichnet. Dabei ist es nicht die Stimme als Träger der Worte sündhaft, sondern das, was die Worte bezeichnen. So würde etwa vom Inzest oder von Sodomie zu sprechen als turpiloquium angesehen, und diese Rede ist deshalb sündhaft, weil sie ihre Sprecher und Hörer befleckt, korrumpiert, besudelt und entehrt. Die Sündhaftigkeit beschränkt sich jedoch nicht nur auf das Wort, wie wir oben gesehen haben: sie oszilliert zwischen Geist / Denken, Sprache / Wort und Körper / Handlung. Es ist von einem fließenden Übergang vom sündhaften Gedanken auf das sündhafte Wort, und vom Wort auf die sündhafte Handlung auszugehen. Das Wort macht nicht nur die innere Schamlosigkeit (turpitudo) im Denken offenbar und verstärkt sie, sondern hat eine regelrechte Handlungsfunktion inne, indem es die Schändlichkeiten in Sprechakten benennt und sie in Realtität und somit in Handlungen verwandelt. 102 Das ist grundlegend performativ gedacht: welche Zungensünden auch immer behandelt werden, das Aussprechen schließt das Denken und das tatsächliche Handeln immer mit ein, es ist wirklichkeitskonstituierend. 103 Der Handlungscharakter der Sprache und der Sym‐ bolcharakter von Handlungen sind hier evident; so kann turpiloquium die Schamschwelle überschreiten und den Weg für „schmutzige“ Werke und Handlungen bereiten. Schon Isidor hatte einen starken Bezug zwischen dem libenter audire und dem facile agere hergestellt: lose und schmutzige Worte haben die Kraft, an verbotene Begierden zu erinnern bzw. sie zu evozieren und an den Wunsch, diese zu erfüllen (Ägidius Romanus). Raoul Ardent be‐ schreibt den Prozess des Übergangs von der Lust am Wort zur Tat selbst ausführlich. Kurz, die Transformation der sündhaften Worte in sündhafte Handlungen ist im gesamten Dis‐ kurs der Zungensünden insistent. 104 Bei der scurrilitas wird die Verbindung von Wort und Handlung allein schon dadurch deutlich, dass Lachen ausgelöst wird: ganz gleich, ob mit Worten oder Handlungen, der 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 157 <?page no="158"?> 105 Petr. Lombard.: Collect. in Epist. PL 192, 209; Hieron. Epist. ad Eph. PL 26, 520. 106 Vgl. hierzu Schmidt, Paul Gerhard: Curia und curialitas. Wort und Bedeutung im Spiegel der latein‐ ischen Quellen. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990, S. 15-26 mit Verweis auf Nigel von Longchamps: Tractatus contra cu‐ riales et officiales clericos. 107 Dass die meisten Arten des Lachens auch in der Scholastik eindeutig sündhaft sind, zeigt Perrault, der an sein Kapitel über die scurrilitas die Ausarbeitung einer Typologie des Lachens anfügt, in der er vier Arten des sündhaften Lachens unterscheidet: risus invidiae, risus perfidiae, risus insaniae, risus vanitatis purae. Nur ein Typ des guten Lachens wird angeführt, der risus prudentiae, aber er ist rarus und tacitus. Vgl. Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 396. 108 Epist. ad Eph. Hom. XVII, PG 62, 119. 109 Nach Hieronymus fehlt ihm der präzise Wille zur Sünde, die Intentionalität und Entschiedenheit. Stultiloquium gehört zum stultus, zum Narr, es ist eine närrische Rede, die gar nicht weiß, dass sie sündhaft ist. (Vgl. oben: „Inter stultiloquium autem et scurrilitatem hoc interest, quod stultiloquium nihil in se sapiens et corde hominis dignum habet.“ Epist. ad Eph. PL 26, 552). wichtigste gemeinsame Bezugspunkt der verschiedenen semantischen Bereiche der scur‐ rilitas ist ihre Wirkung, das Lachen. Und gerade dadurch erwirbt sie auch ihre spezifische Sündhaftigkeit. Durch den Nexus zum Lachen wird die semantische Einordnung deutlicher erkennbar; alle scholastischen Definitionen der scurrilitas halten sich an den Kommentar von Petrus Lombardus zu Eph. 5, 3-4, 105 der seinerseits die Auslegung des Hieronymus wieder aufnimmt, in der der Begriff scurrilitas ein Synomym für die aus dem theatralen Kontext stammende iocularitas ist: „scurrilitas, quae a stultis curialitas dicitur, id est jocu‐ laritas quae solet risum movere.“ Bei Petrus nun verweisen die iocularitas und das Lachen eindeutig auf den Kontext der professionellen Unterhalter, der Schauspieler und Spielleute (ioculatores, mimi, histriones). Interessant ist die Bemerkung „quae a stultis curialitas di‐ citur“. Mit dem abschätzigen Begriff curialitas ist sehr wahrscheinlich der aristokratische höfische Lebensstil gemeint, dem Attribute wie Verworfenheit, Geldgier, Ehrgeiz und Lüge zugewiesen werden, 106 und die dem Bereich des Närrischen (stultis) zugehören. Während die paulinische Triade für Hieronymus noch im Zeichen des unstatthaften Lachens stand, hat sich das sündhafte Erregen von Lachen in der Scholastik auf die scurri‐ litas zurückgezogen, was sie von stultiloquium und turpiloquium, das mehr eine Spott- oder Hassrede bezeichnet, unterscheidet. 107 Zur Provokation von Gelächter gehören Überlegung, Mühe und Vorbereitung, wie Petrus Lombardus und Raoul Ardent betonen. Welches Lachen ist hier nun gemeint? Wohl kaum der „risus modestus“ oder „risus iocundus“, Arten des Lachens, die Petrus Lombardus nicht völlig verdammen will. Eher doch ein unstatthaftes, wie in den monastischen Regeln beschriebenes lautes, den ganzen Körper erfassendes La‐ chen („cachinnus“), bei dem die Zähne zu sehen sind. Die Sündhaftigkeit der scurrilitas ergibt sich demnach aus ihrer Wirkung, nämlich unstattgemäßes, körperbetontes Lachen zu provozieren. Um den Zusammenhang mit turpiloquium deutlich zu machen, setzen die meisten scho‐ lastischen Autoren, wie Casagrande / Vecchio herausarbeiten, die verba risum moventia mit den verba turpia gleich, indem sie turpiloquium und scurrilitas gemeinsam diskutieren. Schon Chrysostomos hatte diesen paulinischen Bezug betont: „Ubi est turpitudo, illic est etiam scurrilitas, ubi est risus importunus, illic est etiam scurrilitas.“ 108 Danach ist jede Art des Scherzes, auch der nicht-obszöne, als sündhaft einzuschätzen und der scurrilitas zuge‐ hörig. Die Abgrenzung zum dritten Begriff, dem stultiloquium, scheint leichter zu sein: 109 3. Scurra und scurrilitas 158 <?page no="159"?> 110 De Lingua, Ms. Oxford, f. 195r. Zit. nach Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 405. 111 Peraldo: Summa, Vincentius: Speculum Morale, S. 405. Sh. dazu auch weiter unten. 112 Burcardo, Decretum, PL 140, 654. Ähnlich auch Gratianus, Decretum, I, d. XLVI c.VI 168: „Clericum scurrilem et verbis turpibus ioculatorem ab officio esse retrahendum.“ 113 Dies zeigen die Ordensregeln mit ihren zahlreichen Redevorschriften und -verboten sowie den im Mittelpunkt stehenden Schweigegeboten sehr genau. dieses löst ebenso wie die scurrilitas Lachen aus, doch geht dieses nicht auf verba turpia zurück, sondern auf die närrische Rede des Unwissenden. In den scholastischen Diskussionen und Bestimmungsversuchen fällt vor allem eines auf: Je stärker die Autoren die scurrilitas ausschließlich als Wortsünde behandeln, desto mehr kommen sie in Definitions- und Abgrenzungsschwierigkeiten zu den beiden anderen pau‐ linischen Termini. Tatsächlich entstehen so zahllose theoretische Differenzierungskriterien zwischen den Begriffen, und eine einheitliche Linie ist kaum erkennbar. So wird in dem anonymen Traktat De Lingua mit Metaphern gearbeitet, die die Begriffe erläutern; die scurrilitas wird hier mit dem Gebaren der Affen verglichen: „isti scurre videntur esse simie diaboli, simia enim est animal turpe ac deforme, a rectore suo circumducitur ad cuius nutum et imperium ludit et homines ridere facit.“ 110 Das Bild des Affen als Symboltier der scurrilitas ist weit verbreitet. 111 Weist dies wiederum auf zugrunde liegende Körperlichkeit hin, so wird die scholastische Diskussion der paulinischen Termini auch dadurch in ihrer Bedeutung eingeschränkt, dass sie nur zwei Zielgruppen hat, die beide anfällig für Zungensünden und weniger anfällig für Handlungssünden sind: die Mönche und die Prediger. Die Kommuni‐ kationszusammenhänge sind eindeutig: Mönche warnen Mönche, Prediger warnen Pre‐ diger, und sie sind alle Feinde des Lachens und seiner Träger, der Vaganten und Spielleute, der Goliarden und Possenreißer: „Si quis clericus aut monachus verba scurrilia, jocularia, risumque moventia loquitur, accerrime corripiatur.“ 112 Dass das Lachen (und seine verschiedenen Anlässe) bei den Klerikern des Mittelalters vor allem als Folge falschen und sündhaften Wortgebrauchs gesehen wurde, kommt nicht von ungefähr. Stehen doch Kleriker kaum im Verdacht, ihren Körper parodistisch zur Schau zu stellen oder außer Kontrolle geraten zu lassen. Im Gegenteil: die Körperkontrolle zählt zu den wichtigsten Elementen des klerikalen Habitus, und hier lauert kaum eine Sünden‐ gefahr, wenn nicht für entlaufene Mönche und Priester (Goliarden). Jedoch sind Kleriker Meister der Rede, und sie sind es immer mehr seit dem 12. Jahrhundert mit dem Ansteigen der Predigertätigkeit und dem Heraustreten des Klerus aus den Klöstern. Waren die Exis‐ tenz von sprachlichen Normen und die Diskursregulierung bereits ein oberstes Gebot für jede Klerikergemeinschaft, wo sie ethischen und sozialen Regulierung im Innern der Ge‐ meinschaft dienten, 113 so wurden sie noch bedeutender in dem Moment, als die Prediger‐ orden entstehen, die Beichte institutionalisiert wird und immer mehr Kleriker in den de‐ mographisch stark wachsenden Städten leben. Dies machte sozusagen eine Systematisierung und doktrinäre Kasuistik der Sprachsünden (custodia linguae) schon allein als ethisch-soziales Fundament und deontologisches Modell für die Predigerausbildung notwendig. Daher sind die Kleriker, sozusagen als soziale Kategorie, mit Sprachnormen und -transgressionen bestens vertraut. Jemand, der beruflich so sehr mit Sprache und mit der Pflege der Sprache zu tun hat, für den muss die Sprache in der Frage der Sündhaftigkeit eine große Rolle spielen. Denn mit und in der Sprache kann der Kleriker sündigen, er kann 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 159 <?page no="160"?> 114 Dafür spricht etwa Folgendes: Während Hieronymus bei Michals Beschuldigung des nackt tanzenden Davids den griechischen Begriff des Tänzers lateinisch mit „unus de scurris“ wiedergibt, und somit die Wurzel des rituellen Tanzes beim scurra betont, erläutert der Bearbeiter der Reichenauer Glossen im 8. Jh. den Begriff so: scurris (= ioculator). Vgl. Klein, Hans-Wilhelm: Die Reichenauer Glossen. Teil 1. München 1968, S. 97. 115 Dies ist qualitativ different zur gregorianischen Tradition, welche die scurrilitas als Manifestation der Völlerei (gula) und somit als angesehen hatte, bzw. zur Cassianus-Tradition, wo sie wie die an‐ deren beiden Zungensünden zur fornicatio / superbia, allerdings mit dem Zusatz „inhonestas in verbo“ gehört. 116 : „(...) che i giullari si identifichino quasi con la scurrilitas, occorre appena accennarlo“. Casa‐ grande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 125. dies in der Predigt tun, beim Aussprechen der Sakramentsformeln, im sozialen Umgang im Kloster, bei der Beichte usw. Die Gelegenheiten zur Wortsünde sind groß, und dies ist der wichtigste Grund für ihre starke Regulierung. Wenn die scurrilitas in den Kommentaren und Katalogen des 12. und 13. Jahrhunderts als Zungensünde geführt wird, so ist dies nicht nur der Anknüpfung an die sprachbestimmte Auslegung von Eph. 5,4 geschuldet, sondern auch der überragenden Bedeutung der Sprache im scholastischen System. Als zentraler Begriff für die Provokation von unstatthaftem Ge‐ lächter kann scurrilitas in der Scholastik nicht anders als sprachlich gedacht werden, auch wenn ihr Ausgangsnomen, scurra, und seine Herkunft aus dem theatral-körperlichen Be‐ reich auch hier nicht ganz verdrängt werden kann. 114 Doch durch die besondere, abstrakte Auffassung der Sprache als Sprechen und als performativer Sprechakt im scholastischen Diskurssystem, sind auch Denken und Handeln im Sprechen enthalten. 115 Was durchgängig auffällt, ist die bereits bei Hieronymus für das effektive Auslösen von Lachen notwendige Kombination von Wort und Haltung bei der scurrilitas. Sie ist gewis‐ sermaßen eine Redeweise, die nur in Verbindung mit körperlichen Ausdrucksmitteln, also mit Mimik, Gestik und närrischen Possen funktioniert, und diese Ausdrucksmittel sind in an ihr immer schon beteiligt, und sei es an ihrer imaginären Qualität. Ihr komisch-groteskes Körpersubstrat ist bei Gelegenheiten der Feier, der Feste und des gemeinsamen Mahls, und hier vor allem an den Tafeln der Fürsten und Adligen (vgl. curialitas) besonders spürbar. Feiern und Feste sind für die Prediger Augenblicke der Unordnung, der Unübersichtlichkeit, wo die Sprache zum Instrument der Zweideutigkeit und der Intrige, aber auch der Belei‐ digung, des Streits und der Prügelei wird. Wenn man Gebärde und Sprache nicht klar von‐ einander trennen kann, dann ist die scurrilitas genau jenes Zwischen von Sprache und Körper, das die performative Komik konstituiert. Daher wurde sie auch im 12. und 13. Jahrhundert im Sinne der iocularitas immer mit dem Gaukler- und Schauspielerwesen verbunden. So etwa bei dem Dominikaner Guillaume Perrault, der rumor und murmur den Klerikern, mendacium den Kaufleuten, und scurrilitas den Gauklern zuweist. Sie ist - zu‐ sammen mit der adulatio - die Sünde der Spielleute schlechthin. 116 Die Kategorisierung der scurrilitas als Zungensünde legt eine weitere Entwicklung in der christlichen Ethik offen: die Entwicklung nämlich, dass der Bereich des Lachens und seiner Auslöser, der Scherze, Witze und Possen, immer stärker sprachlich-gesellig und immer weniger körperlich-gestisch gedacht wird. Das entscheidende Diskurssystem der Scholastik ist die Sprache, die vor dem Körper die Oberhand behält und alle Lachanlässe 3. Scurra und scurrilitas 160 <?page no="161"?> 117 Thomas von Aquin: Summa Theologica, IIa-IIae , q.168. 118 „Manifestum est autem quod exteriores motus hominis sunt per rationem ordinabiles, quia ad im‐ perium rationis exteriora membra moventur.“ (Ohne Zweifel können nun die äußeren Bewegungen des Menschen von der Vernunft geregelt werden, auf Befehl der Vernunft setzen sie sich ja in Be‐ wegung.) Thomas von Aquin: Summa Theologica, [45 721] IIª-IIae, q. 168 a. 1 co. auf sich zieht. Die schrift- und textfixierten Kleriker verdrängten das Körperliche am La‐ chen und bezogen es vor allem auf Sprache: Sie diskursivierten körperliche Lachanlässe. Thomas von Aquin: De modestia secundum quod consistit in exterioribus motibus corporis Es ist Thomas von Aquin (1224/ 25-1274), der diese scholastischen Definitionen und Zuord‐ nungen der scurrilitas einer kritischen Prüfung unterzieht und sie von Grund auf revidiert. Im Rückgriff auf die aristotelische eutrapelia wertet Thomas die scurrilitas als Kern einer neuen, positiven Haltung dem Lachen gegenüber, die der negativen Begriffsdefinition von über tausend Jahren einen vorläufigen Schlusspunkt setzt. Gleichzeitig ordnet er sie und den gesamten Bereich des Lachens dem Spiel und somit den äußeren Körperbewegungen zu, wenn er die Thematik in seiner Summa Theologica (1266-73) unter der Fragestellung: „De modestia secundum quod consistit in exterioribus motibus corporis“ diskutiert. 117 Die Übersetzung der deutsch-lateinischen Ausgabe der Summa gibt die genannte quaestio mit „Die Bescheidenheit im äußeren Verhalten“ wieder, eine theologisch determinierte Übersetzung des Kapitels; ein schönes Beispiel für den Versuch von Kommentatoren und Exegeten, bis in unsere Zeit den Körper aus den theologischen Systematiken herauszu‐ halten. Und dies, als es Thomas explizit darum geht, festzustellen, ob Körperbewegungen und die darunter gefassten Spiel- und Lachanlässe mit der modestia vereinbar sind, also ob sie tugendhaft sein können oder als sündhaft betrachtet werden müssen. Im ersten Artikel erörtert Thomas die Frage, ob man hinsichtlich der Körperbewegungen von Tugend reden könne. Da jede Tugend den „spiritualem animae decorem“ betrifft, scheinen die Körperbewegungen wegen ihrer Äußerlichkeit zunächst keinen Anspruch auf Tugendhaftigkeit erheben zu können, so Thomas. Dagegen kann man aber die mangel‐ haften natürlichen Anlagen zu den Körperbewegungen durch Vernunft verbessern: 118 man muss sein Verhalten nach der Angemessenheit anderer Personen, der Beschäftigungen und der Orte regeln. Die vernunftmäßige Regelung der Körperbewegungen ist insofern eine Tugend, als das sichtbare Verhalten eines Menschen Anzeichen für seine seelische Verfas‐ sung ist und hilft, die Leidenschaften zu zügeln. Das Spiel als der wichtigste Bestandteil der äußeren Körperbewegungen, und mit ihm Scherz und Lachen, kann somit dann tugendhaft sein, wenn sie der Entspannung des Men‐ schen dienen. Der Mensch habe wie den Schlaf auch die seelische Entspannung, die quies animae nötig: 3.2. „Scurra“ und „scurrilitas“ 161 <?page no="162"?> 119 „Sicut autem fatigatio corporalis solvitur per corporis quietem, ita etiam oportet quod fatigatio ani‐ malis solvatur per animae quietem. Quies autem animae est delectatio, ut supra habitum est, cum de passionibus ageretur. … Huiusmodi autem dicta vel facta, in quibus non quaeritur nisi delectatio animalis, vocantur ludicra vel iocosa“. Thomas von Aquin: Summa Theologica, [45 729] IIª-IIae, q. 168 a. 2 s. c. 120 „Sed contra est quod Augustinus dicit, in II musicae, volo tandem tibi parcas, nam sapientem decet interdum remittere aciem rebus agendis intentam. Sed ista remissio animi a rebus agendis fit per ludicra verba et facta. Ergo his uti interdum ad sapientem et virtuosum pertinet. Philosophus etiam ponit virtutem eutrapeliae circa ludos, quam nos possumus dicere iucunditatem“. [45 729] IIª-IIae, q. 168 a. 2 s. c. 121 S. T. I-II 47, 3, 3 (Rechtfertigung der Kurzweil). Wie nun aber körperliche Ermüdung durch körperliche Ruhe schwindet, so muss auch die seelische Ermüdung durch seelische Ruhe behoben werden. Seelische Ruhe aber ist gleichbedeutend mit Vergnügen, wie im Abschnitt über die Leidenschaften dargelegt wurde. 119 Die delectatio animae, und damit das Spielen und das Scherzen, die an dieser Stelle nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich als notwendig für den Menschen betrachtet werden, rechtfertigt Thomas im Rückgriff auf Augustinus remissio-Lehre und Aristoteles’ eutra‐ pelia: Aber: Augustinus macht darauf aufmerksam, dass auch der Weise sich einmal abwenden soll vom Ernst und den Geschäften (remittere). Diese Unterbrechung oder Entspannung (remissio) erfolgt durch spielerische Worte und Dinge. ‚Dies geziemt sich also bisweilen für den Weisen und Tu‐ gendhaften‘. Aristoteles setzt für die Spiele auch die Tugend der Eutrapelie ein, die wir Vergnüg‐ lichkeit - iucunditas - nennen können. 120 Der Verweis auf den aristotelischen eutrapelia-Begriff schließt an das antike Verständnis von scurrilitas als Haltung an, und bindet diese wiederum an eine Ethik der geistreichen Geselligkeit und des maßvollen Lachens. Unanständiges darf es in diesem Rahmen nicht geben, denn „maßloses Spiel ist mit unangebrachtem Lachen und ungehörigem Vergnügen verbunden“, und das sei schwere Sünde; hingegen muss die iocunditas als ein Mittelmaß zwischen Zuviel und Zuwenig an Scherz und Spiel angesehen werden. Damit kann Thomas auch ludicra und iocosa in Wort und Handlung der weisen Männer rechtfertigen: „Sed Phi‐ losophus dicit, in ii rhetoric., quod in ludo, in risu, in festo, in prosperitate, in consumma‐ tione operum, in delectatione non turpi, et in spe optima, homines non irascuntur“. 121 Beide Abweichungen von der tugendhaften Mitte sind also fehlerhaft; doch ist das Zuviel we‐ sentlich tadelnswerter als das Zuwenig. Thomas warnt davor, das Vergnügen in „operati‐ onibus vel verbis turpibus vel nocivis“ zu suchen, also in schmutzigen oder schadenstif‐ tenden Handlungen oder Worten. Er beruft sich auf Cicero: „Es gibt eine Art zu scherzen, die grob, frech, entehrend und obszön ist.“ Stattdessen soll das Vergnügen darin liegen, dass wir uns an einem brillanten Geist erfreuen. „Daher kann es auf dem Gebiet des Spiels eine Tugend geben, die Aristoteles ‚Eutrapelie‘ nennt.“ So bezeichne Aristoteles jemanden, der 3. Scurra und scurrilitas 162 <?page no="163"?> 122 „Huiusmodi autem secundum regulam rationis ordinantur. Habitus autem secundum rationem ope‐ rans est virtus moralis. Et ideo circa ludos potest esse aliqua virtus, quam philosophus eutrapeliam nominat. Et dicitur aliquis eutrapelus a bona versione, quia scilicet bene convertit aliqua dicta vel facta in solatium. Et inquantum per hanc virtutem homo refrenatur ab immoderantia ludorum, sub modestia continetur“. S. T. [45 730] IIª-IIae, q. 168 a. 2 co. 123 Mit einer Ausnahme: nur dort, wo sich Lachen mit Schmerz und extremer Freude mischt, wo das Lachen und die Freude ungezügelt sind, kann von Sünde gesprochen werden: „Sed contra est quod, super illud Prov. XIV, risus dolori miscebitur et extrema gaudii luctus occupat, dicit Glossa, luctus perpetuus. Sed in superfluitate ludi est inordinatus risus et inordinatum gaudium. Ergo est ibi pec‐ catum mortale, cui soli debetur luctus perpetuus“. S. T. [45 737] IIª-IIae, q. 168 a. 3 s. c. Mit der Zü‐ gellosigkeit des Lachens und der Freude sind vermutlich wieder körperliche Ausdrucksformen ge‐ meint. 124 Thomas nennt zwei Arten der Transgression: „Uno modo, ex ipsa specie actionum quae assumuntur in ludum“; die andere bezieht sich auf die Nichtbeachtung gebührender Umstände. S. T. [45 738] II ª-IIae, q. 168 a. 3 co. sich „geschickt zu wenden weiß und bestimmte Wörter und Dinge in Heiterkeit zu ver‐ wandeln versteht.“ 122 Obwohl Thomas hier erneut von eutrapelia spricht, und mit den Gewährsleuten Aristo‐ teles und Cicero sich im Rahmen antiker Theorie bewegt, zielt er weniger auf die Witzigkeit des Redners oder die gesellige Heiterkeit, sondern auf das, was zu seiner Zeit unter scurri‐ litas verstanden wurde, die Unterhaltung durch professionelle performer. Denn im nächsten Augenblick kommt er auf eine Personengruppe zu sprechen, die Meister des Spiels und des Vergnügens sind: Schauspieler und Spielleute, histriones und ioculatores. Ihr Tun wird kei‐ neswegs, wie man das erwarten könnte, als sündhaft eingeschätzt, sondern ganz im Ge‐ genteil: ein Übermaß an Spiel, so Thomas eindeutig, ist keine Sünde. 123 Obwohl Thomas noch in Artikel 2 von der Sündhaftigkeit derer gesprochen hatte, die die Grenzen der Ver‐ nunft „durch die Art der Handlungen, die beim Scherz in Erscheinung tritt“ über‐ schreiten, 124 erkennt er bei den Histrionen keine Sünde, sofern sie davon Abstand nehmen, schmutzige und unehrenhafte Handlungen und Worte zu benutzen („non utendo aliquibus illicitis verbis vel factis ad ludum“) und die Regeln des Anstands einhalten. Spielleute können also nicht qua Beruf, sondern nur wegen bestimmter transgressiver Handlungen sündigen. 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter Thomas steht mit seiner Rehabilitation des Berufsstands der Schauspieler und Fahrenden in der Summa Theologica am Ende einer langen Periode der Diffamation und am Beginn eines allmählichen Diskurswandels zum Lachen und seiner gesellschaftlichen Funktion. Davon sind auch die mimi, histriones und scurrae betroffen, deren Aufführungen, wie wir gesehen haben, sich in den Verurteilungen der Kleriker nicht vom Lachen trennen lassen. Allerdings ist die Frage noch offen, auf welche Weise diese Körperkünstler Lachen ausgelöst haben, und was sich darüber in den klerikalen Quellen finden lässt. Über den Berufsstand, die Tätigkeiten und die Wirkungen von professionellen Unterhaltern im Mittelalter be‐ sitzen wir nicht sehr viele Informationen. Der Großteil davon stammt aus klerikalen Schriften, deren Urteile jedoch durchgängig stark moralisch gefärbt und abwertend sind; 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter 163 <?page no="164"?> 125 In welch beschämender Weise die Spielleute von der Germanistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dequalifiziert wurden, ist hinlänglich bekannt. Sozial emarginierte Künstler und Schausteller wurden als „armseliges“ oder „liederliches Gesindel“ der Spielleute bezeichnet, ihre Kunst, vor allem die Kunst, Lachen zu erregen, als niedrig und gemein angesehen: „primitive Spaßmacher“, die „grob‐ sinnige Erlustigungen“ darbieten. Zusammenfassung bei Hartung, Wolfgang: Die Spielleute im Mit‐ telalter. Gaukler, Dichter, Musikanten. Düsseldorf / Zürich 2003, S. 20 f. 126 Die Anlässe für Feste waren zahlreich: Thronerhebungen, Schwertleiten, Hochzeiten, Heimkehr von Reise und Kriegszug, Ritterschlag und die damit verbundenen Rituale und Spiele usw. Bei all diesen Anlässen konnten Spielleute aller Art auftreten. doch auch innerhalb des lateinischen Überlieferungsbereichs nehmen die professionellen Unterhalter eine marginale Position ein, vergleichbar ihrer Stellung in der mittelalterlichen Gesellschaft. Für die Kirche existierten sie nicht als Menschen oder als Berufsgruppe (etwa bei seelsorgerischen Themen), sondern fast ausschließlich als negatives Zerrbild christli‐ chen Verhaltens. Daher ist es geboten, die Quellen mit äußerster Vorsicht auszuwerten. Auf keinen Fall sollte der Fehler der älteren Forschung gemacht werden, die negativen Werturteile über die Unterhalter in den Quellen zu übernehmen. 125 Sie sind vielmehr Teil eines klerikalen Dis‐ kurses, der in sich durchaus differenzierbar und trotz seiner Dominanz in der mittelalter‐ lichen Kultur nicht allein bestimmend war. Der höfisch-literarische Diskurs über performer etwa folgt anderen Regeln und grenzt die Gültigkeit der christlich-klerikalen Sichtweise ein. Er ist in literarischen Quellen recht gut fassbar: in zahlreichen Texten erkannte die höfische Welt, die sich zumindest seit dem 12. Jahrhundert selbst im Fest und als Festge‐ sellschaft präsentierte, die Spielleute als wichtigen Teil der Erzeugung höfischer Freude an. Ihre Vorführungen erregten Staunen, Bewunderung und Freude, häufig wird die Kunst von Musikern, Sängern, Akrobaten und Spaßmachern gelobt. 126 Hinter die Diskurse auf den „Sitz des Lebens“ der Spielleute zu blicken, ist nicht Gegen‐ stand dieser Überlegungen. Vielmehr interessieren die Aus- und Einschließungen, die Dif‐ ferenzierungen und die emotionale Appellstruktur dieser Diskurse. Was die Diskursge‐ schichte leistet, ist die Möglichkeit der Freilegung der kommunikativen Selbstverständigung einer Gesellschaft und Kultur in einer bestimmten historischen Epoche. Daher ist es auch unwichtig für eine Begriffsgeschichte körperlicher Lachanlässe, ob diese tatsächlich obszön waren oder nicht. Bedeutsamer ist vielmehr die Frage: woher kommt die Negativität der Beschreibungen, welche Begriffe werden dafür verwendet und wozu dienen sie? Noch heute, im 21. Jahrhundert wissen wir, dass nach außen hin ge‐ schlossene religiöse Systeme wie etwa der Islam dazu tendieren, moralische Ansprüche auf Bild- und Wortikonen zu projizieren, und zwar gerade in Fragen der Satire und des Lachens. Wie der islamische Fundamentalismus war auch das christliche Mittelalter kaum zu Selbst‐ reflexion fähig. Gerade deshalb sind die wütenden Diskurse über Handlungen und Reden der Unterhalter so interessant: nicht weil sie eine Wahrheit sagen, sondern weil sie die Verletzung und die Wut ihrer Urheber deutlich machen, und somit auf die Wucht von Provokationen verweisen. Ich möchte im Folgenden den Diskurs über performer aus theo‐ logisch-klerikaler Perspektive zusammenfassen, „hinter seine Kulissen“ blicken und daran meine begriffsgeschichtlichen Thesen zum Lachen überprüfen. 3. Scurra und scurrilitas 164 <?page no="165"?> 127 Casagrande, Carla u. Vecchio, Silvana: Clercs et jongleurs dans la société médiévale. In : An‐ nales E. S. C. 34 (1979), S. 913-28. Casagrande / Vecchio sehen die Zeugnisse über die Jongleure als „descriptions hâtives et imprécises des clercs hostiles“ an. An anderer Stelle wird gesagt, dass die Gaukler im mittelalterlichen Kosmos ‚abwesend“ seien; S. 914. 128 „On ne trouve dans ces textes aucun conseil destiné a modifier leur conduite, mais une seule exigence péremptoire: cesser d’être jongleur“. Casagrande / Vecchio: Clercs et jongleurs, S. 914. 129 Thomas von Chobham bezeichnete diejenigen Gaukler, die den Höfen nachzogen, als “ad nihil utiles“. Faral zitiert einen anomymen Text aus dem 13. Jh., in dem es heißt: “nihil prosunt humanae vitae, sed obsunt.“ Faral, Edmond: Les jongleurs en France au moyen-âge. Paris 1910, S. 924. 130 „… ne joue ici que le rôle rhétorique d’une référence négative qui permet de construire le model positif de la vie religieuse.“ Casagrande / Vecchio, Clercs et jongleurs, S. 917. 131 „… expression limite du monde profane, il n’entre dans le discours du clerc que pour confirmer la valeur du sacré“. Ebd. Die Beschreibungen der performer in den christlich-klerikalen Quellen sind eher flüchtig, skizzenhaft und repetitiv. 127 Die Kommentare sind meist diffamierend; sie unterstreichen und wiederholen die Unbestimmtheit und die Unordnung der Rollen der Fahrenden. Für die Beschreibung der performer bevorzugen sie polyseme und generalisierende Begriffe wie ioculator und histrio. Die Kleriker geben sich keine Mühe, die Fähigkeiten und professio‐ nellen Handlungen der performer zu beschreiben, auch ihr Seelenheil interessiert sie nicht. 128 Sie werden generalisierend als Schausteller präsentiert, als vagantes, die ihren nackten bzw. deformierten Körper auf irgendeine Weise in Szene setzen. Am deutlichsten ist das bei Akrobaten, Seiltänzern, Tänzern und Possenreißern, aber auch bei Musikern und Erzählern der Fall, sowie bei solchen, die mit Tieren arbeiten. Für die Kleriker ging es niemals darum, die performer vom Glauben zu überzeugen. Dies war nicht nötig, denn sie gehörten nicht zur Gemeinschaft der Gläubigen. Der Vorwurf der sozialen Nutzlosigkeit genügte, um ihren Ausschluss aus den menschlichen Gemein‐ schaften zu rechtfertigen. 129 In der Gesellschaft der Bauern, Krieger und Kleriker, in welcher jedes Mitglied einen bestimmten Nutzen hatte, galten die performer als nutzlos, da sie nur zur Befriedigung verbotener, sündhafter Bedürfnisse beitrugen (gula, luxuria, gesticulatio). Es gibt zum Beispiel in den Predigthandbüchern des 12. und 13. Jahrhunderts keine Pre‐ digten, die sich an Jongleure oder Fahrende wenden würden, um deren Seelenheil zu retten; immerhin wurde dies anderen Randgruppen nicht verwehrt, wie den Armen, den Kranken, den Pilgern, den armen Handwerkern und selbst den Prostituierten. Die Adressaten der klerikalen Warnungen und Drohungen sind daher keineswegs die Fahrenden, sondern die Kleriker selbst, und unter ihnen vor allem die Mönche. Sie verkör‐ pern das Idealbild des Christen und dieses Bild muss geschützt werden. 130 Daher sind die meisten Hinweise auf sie als didaktische Handlungsanweisungen, Verhaltensregeln und Vorschriften für Kleriker zu lesen. Der histrio diente als Negativfolie für das richtige Ver‐ halten des Mönches oder Priesters, als sein Gegen- und Zerrbild. Der kontinuierliche, im‐ plizite Vergleich zum Spielmann erlaubt eine minutiöse Elaboration der Regeln, die das Leben der Kleriker bestimmen. Je stärker der Gaukler - häufig dem Teuflischen zugesellt - mit Epitheta wie turpis, obscoenus usw. bedacht wird, desto leichter kann sein Gegenbild würdig, ehrlich und heilig sein. Der Gaukler selbst aber bleibt abwesend, er wird in den klerikalen Diskurs nur aufgenommen, um den Wert des Sakralen zu bestätigen. 131 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter 165 <?page no="166"?> 132 Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 1. München 1986, S. 307. Allerdings dürfen diese Überlagerungen spätantiker Begriffe und mittelalterlicher Phä‐ nomene nicht zu dem Schluss führen, es habe die Verletzung von Schamschwellen durch die Aufführung obszöner Gesten und Handlungen, durch Nachahmung und Parodie, sowie durch transgressive und verhöhnende Reden nicht gegeben. Von einem relativ normkon‐ formen Verhalten der Spielleute spricht indirekt Bumke, wenn er einen Passus des Albertus Magnus über die „nackten Schauspieler“ als Topos der Theaterkritik auffasst und nicht als Beobachtung der phänomenalen Gegenwart. 132 Nacktheit und das Zeigen von Geschlechts‐ teilen gehörten nicht nur zu rituellen und fastnächtlichen Praktiken, sondern auch zum Repertoire bestimmter Körperkünstler unter den Spielleuten. Zurück zur Begriffsgeschichte: Die lateinischen Begriffe histrio, mimus, scurra usw., die aus der Spätantike stammen und über die Schriften der Kirchenväter ins Mittelalter ge‐ kommen sind, werden auf Tätigkeiten und Berufe übertragen, die mit ihrer ursprünglichen Bedeutung nur noch wenig zu tun hatten. Es gab keinen römischen Mimus im Mittelalter, und auch keinen römischen histrio: es gab Unterhalter und Schauspieler, die vielleicht von diesen Berufen abstammten, aber andere Aufführungsformen, andere Repertoires, andere Kombinationen mit anderen Künstlern und andere Tätigkeitsfelder hatten. Doch welches war dann die Funktion der Übertragung spätantiker Begriffe auf zeitgenössische Unter‐ halter? Die Transformation spätantiker Begriffe Im frühen Christentum waren die Begriffe histrio, mimus, scurra, sannio und ihre qualita‐ tiven Ableitungen scurrilitas und iocularitas Kampfbegriffe der Kirche gegen falsches Ver‐ halten im Rahmen des Lächerlichen und Obszönen. Warum aber ist die Kritik an theatralen Darstellern wie Spaßmachern und Komödianten bei den Kirchenvätern so radikal, und warum bleibt sie es bis zu Thomas fast über das gesamte Mittelalter hinweg? Für die erste Frage hat die Forschung verschiedene Antworten gegeben, die für den Problemzusammen‐ hang Lachen und Körper nicht unwichtig sind: 3. Scurra und scurrilitas 166 <?page no="167"?> 133 Vgl. Jürgens, Heiko: Pompa Diaboli. Die lateinischen Kirchenväter und das antike Theater. Stuttgart u. a. 1972, S. 32 ff.; s.a. Kap. III: 172 ff. 134 „Der Mimus hielt sich von allen Gattungen des Dramas am längsten: er überdauerte das weströmische Reich und beherrschte die Bühnen Ostroms.“ Benz, Lore: Zur Verquickung von Sprachkomik, Kör‐ perwitz und Körperaktion im antiken Mimus. ZfG N. F. 11 (2001), S. 261-73, hier S. 261. 135 Vgl. Reich, Hermann: Der Mimus. Berlin 1903. ND Hildesheim 1974, S. 80 ff. 136 Tertullian: Liber de spectaculis, PL 4, 782 ff.: Idolatria … ludorum omnium mater. Ähnlich auch im zweiten Buch von Augustinus’ De civitate dei. 137 Tertullian verbindet das Theater mit seinen heidnischen (römischen) Ursprüngen und seiner Ein‐ bindung in zirzensische Aufführungen (pompa), welche deutlich die Vielgötterei und die Bilder dieser Götter zeigen: „pompa praecedit, quorum sit in semetipsa probans de simulacrorum serie, de ima‐ ginum agmine, de tensis, de armamaxis, de sedibus, de coronis, de exuviis. Quanta praeterea sacra, quanta sacrificia praecedant, intercedant, succedant, quot collegia, quot sacerdotia, quot officia mo‐ veantur“. De spect. Cap. 7. 2-3. 138 Dies ist bei Reich ausreichend belegt: Vgl. Reich, Der Mimus, S. 81 ff. 139 Vgl. Reich, Der Mimus, S. 86. Es hat sogar die Form des christologischen, das Christentum verhöhn‐ enden Mimus gegeben; der berühmte Mime Genesius trat vor Diokletian in einem solchen Stück auf, um getauft zu werden. Als Spottritual wird die Taufe vollzogen, doch als Genesius wirklich zum Christen geworden ist, wird er verurteilt und muss den Märtyrertod sterben. Chrysostomos hingegen wurde zum rührigsten Feind der Mimen, wie an seinen überlieferten Predigten und Kommentaren abzulesen ist. Vgl. Minois, Histoire du rire, S. 111 ff. (1) rezeptionsgeschichtliche Ursachen: die Geschichte des griechischen und römischen Theaters war den Kirchenvätern mit der Ausnahme Tertullians nur fragmentarisch bekannt. Sie kannten aber viele Schauspieler und Stücke ihrer Gegenwart. 133 Im vierten nachchristlichen Jahrhundert war das römische Volkstheater jedoch vor allem von Mimus und Pantomimus beherrscht. 134 In den Quellen wird immer wieder deutlich, dass sich die Kirchenväter vor allem auf Komödien und aufgeführte Possen beziehen, nicht auf Tragödien. 135 (2) ideologische Ursachen: das römische Theater sahen die Kirchenväter als zugehörig zum heidnischen Kult (und insofern als Verbreiter von idolatria und superstitio). 136 In einer breiten Beweisführung legten Tertullian und Augustinus den kultischen Ur‐ sprung aller antiken Feste und Spiele dar. 137 Die Präsenz der Gläubigen bei Schau‐ spielen aller Art ist aus dieser Perspektive Götzendienst, und dieser ist teuflisch. Die Gleichsetzung heidnisch und teuflisch kehrt in allen Polemiken leitmotivisch wieder. (3) Erniedrigung und verletzte Gefühle durch Gelächter, Spott und Verhöhnung des Christentums im Theater: Wichtiger als die generische Zuordnung des Theaters zur heidnischen Götzenverehrung waren ganz spezifische Züge am spätantiken Volks‐ theater. In Mimus und Pantomimus sind, wie Reich zeigt, Christen und Christentum stark karikiert und verhöhnt worden. Auch Kirchenfürsten wurden von den Mimen auf der Bühne verspottet. Dies wird an den insistenten Klagen von Gregor von Nazianz über Parodien von Taufritualen und Märtyrertode, oder an der Nachahmung seiner Person als Patriarch von Konstantinopel deutlich. 138 Chrysostomos als Nachfolger Gregors beschwerte sich ebenfalls bitter darüber, dass die Mimen seinen Streit mit den Bischöfen Severianus und Antiochus auf die Bühne brachten, und beklagte, dass seine Gemeinde die Kirche leer stehen lasse, um zu den Mimen zu laufen. 139 (4) Konkurrenz zum Christentum: dass Chrysostomos die Aufmerksamkeit seiner Ge‐ meinde mit den Mimen teilen muss, zeigt die hohe Konkurrenzsituation zu den Resten 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter 167 <?page no="168"?> 140 Der (wenn auch wenig repräsentative, weil radikale) Höhepunkt einer langen Reihe von Verdam‐ mungen der Körperkünste, auf die ich weiter unten noch genauer eingehen werde, ist der Satz Ter‐ tullians am Ende des Kapitels 17 über die szenischen Darbietungen (Atellane, Mimus, Pantomimus, Comoedia, Tragoedia): „Habes igitur et theatri interdictionem de interdictione impudicitiae.“ De spect. XVII, S. 276. In diesem Kapitel geht es um die Unreinheit im Theater: die obszönen Gesten des Atellane-Schauspielers, die Frauenkleider des Mimus, die Annullierung der sexuellen Differenz und die Schamhaftigkeit. Es kommt zur Gleichsetzung der Schauspieler mit den Prostituierten: hier erei‐ fert sich Tertullian in einer Wutrede über die Schamlosigkeiten im Theater. - Dass Tertullian aller‐ dings eine enkratische Extremposition vertrat, zeigen Werke wie Ad uxorem und De exhortatione castitatis (Hinweis A. Piras). 141 Schon um die Jahrtausendwende kann keine der vorher gängigen Differenzierungen für die Begriffe scurra, histrio, ioculator / joculator und mimus festgestellt werden; im 12. Jh. war die begriffliche Differenzierung am schwächsten. Vgl. Ogilvy, J. D.: Mimi, Scurrae, Histriones: Entertainers of the Early Middle Ages. Speculum 38 (1963). S. 614. 142 So etwa in Alkuins Briefen (um 800), wo der Gebrauch der Begriffe histriones, mimi, saltatores in‐ nerhalb der Augustinusüberlieferung zu den Schauspielern geschieht und nichts über die zeitgenös‐ sische Verwendung der Begriffe aussagt. Vgl. Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 609. der römischen Mythologie und anderer Religionen aus dem Osten, in der sich das frühe Christentum befand. (5) Körperfeindschaft: Der menschliche Körper ist in christlicher Anschauung dem Bösen besonders ausgesetzt. Dies gilt vor allem für den Bereich des Geschlechtlichen, aber auch für die Ausstellung und Aufführung des Körpers zum Zwecke der Unterhaltung und des Gelächters. Als besonders provokativ müssen die frühen Christen die freizü‐ gigen Körperdarstellungen von Mimen, Pantomimen und Lustigmachern aufge‐ nommen haben, was die Wut und den Abscheu erklärt, mit denen sie auch begrifflich diesem Phänomen begegnen: fornicatio, turpitudo, immunditia, impudicitia usw. Darin begriffen waren auch alle äußeren Veränderungen des Körpers: Verkleidung, Masken, Tanz, Akrobatik, Entblößung, unsittliche Worte und Gesten, lachenerregende Possen. Diese Körperfeindschaft des Christentums ist Ausdruck einer scharfen Trennung von Reinheit und Unreinheit. 140 Histrio turpis, scurra und ioculator im Zentrum christlicher Verhaltenskritik Die Übernahme der spätantiken Theaterbegriffe für die mittelalterlichen Unterhaltungs‐ berufe folgt einer Logik der kontinuierlichen und zunehmend pauschalisierenden Diffa‐ mierung, 141 in der das Lachen und der Körper der performer eine zentrale Rolle spielten. Indem die Theologen weiter mit den negativen Theaterbegriffen der Kirchenväter arbei‐ teten, konnten sie auch die professionellen Unterhalter der Gegenwart in die Tradition heidnischer, moralisch anstößiger und unchristlicher Aufführungen stellen, obwohl die kultischen Spiele der Antike überhaupt nicht mehr existierten. Andererseits war es für jeden christlichen Schriftsteller nötig, sich den tradierten auctores anzuschließen und in ihrem Argumentationsrahmen zu bleiben. Dies führte manchmal dazu, dass ganze Passagen von den Kirchenvätern übernommen wurden, ohne Referenten zur zeitgenössischen Situ‐ ation einzufügen. 142 Gleichwohl benutzt der größte Teil der Kleriker die Begriffe mit Bezug 3. Scurra und scurrilitas 168 <?page no="169"?> 143 „Dieser Versuch mit all seinen Konsequenzen, Erfolgen und Fehlschlägen läßt sich an der Polemik ablesen, die durch Jahrhunderte gegen die bunte Berufsgruppe geführt wurde, welche in den Quellen unter den Oberbegriffen mimi, histriones, scurrae und joculatores erscheint.“ Suchomski belegt den manipulativen Umgang mit den Zitaten der Kirchenväter durch die mittelalterlichen auctores mit zahlreichen Textstellen. Suchomski, Delectatio et utilitas, S. 26. 144 Ogilvy stellt die Belege von Heinrich Alt (Theater und Kirche) 1846 und Jules de Douhet (Dictionnaire des mystères, moralités, rites figurés et cérémonies singulières) 1845, sowie Hermann Reichs Der Mimus und E. K. Chambers: The medieval stage zusammen. Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 603. 145 Vgl. Faral, Les jongleurs en France, S. 318. 146 In: PL 104, 249. 147 Vgl. Allen, Philip Schuyler: The Mediaeval Mimus. Modern Philology 7 (1910), H. 3, S. 329-344 sowie Modern Philology 8 (1910), H. 1, S. 1-44. „… we cannot ever judge from one of these decrees just what the status or occupation of the mimus was at any given time.“ Teil 2, S. 38. 148 Abälard, Theologia christiana II. PL 178, 1210-1211. 149 Elucidarium, PL 172,1148 f.: „Habent spem ioculatores? Nullam: tota namque intentione sunt ministri Satanae, de his dicitur: Deum non cognoverunt ideo Deus sprevit eos, et Dominus subsannabit eos, quia derisores deridentur.“ [„Haben die Spielleute Hoffnung? Nicht die geringste. Denn sie sind voll und ganz Diener des Teufels, von denen gesagt wird: Sie glauben nicht an Gott und deshalb wird sie Gott verachten, und der Herr wird sie verhöhnen, weil Spötter verlacht werden.“] 150 „Goliardic habits (...) seem to have been fairly common in the tenth century“. Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 613. auf die professionellen Unterhalter ihrer Zeit, was ohne Zweifel als polemische Manipula‐ tion zu werten ist. 143 Was waren die Gründe dafür? Zunächst ist festzuhalten, dass die Existenz von professionellen Unterhaltern im Früh‐ mittelalter gut belegt ist. 144 Schon Faral hatte eingehende Wort- und Begriffsstudien be‐ trieben, deren Ergebnisse noch immer maßgeblich sind. Seine mit Alkuin beginnende Quel‐ lenrecherche belegt von 810 an professionelle Unterhalter. Als erster weist er die Begriffe istriones / histriones und mimos nach, und schon in karolingischer Zeit thymelici und scurrae. 145 Der Begriff ioculatores („vanissimos joculatores“) erscheint zum erstenmal 836 im Liber de dispensatione rerum ecclesiasticarum des Bischofs Agobard von Lyon. 146 Auf welche Tätigkeiten und welche Berufsgruppe diese Bezeichnungen im Mittelalter genau verweisen, liegt leider im Dunkeln. Die Begriffe werden oft akkumulativ verwendet, kaum je definiert, sind austauschbar und mehrdeutig. 147 Der Zweck allerdings ist bei aller Ver‐ schiedenheit der Darbietung der gleiche: Unterhaltung und Zerstreuung der Zuschauer und Zuhörer. Und es waren offensichtlich bestimmte Formen dieser Unterhaltung, die die Kle‐ riker so gegen die performer aufbrachten. Vergleiche mit dem Teufel sind gängig: So sieht Abälard in ihren Aufführungen eine diabolica praedicatio und spricht sogar von curia dae‐ monum und vom conventis histrionum. 148 Ohne ihren Beruf aufzugeben, dürfen die Spiel‐ leute nicht in die christliche Gemeinschaft zurückkehren, ansonsten bleiben sie Ausge‐ schlossene. Ebenso nennt Honorius Augustoduniensis die Spielleute ministri Satanae, die keine Hoffnung auf das Seelenheil haben. 149 Man wird solche Härte kaum noch nachvollziehen können, es sei denn, es handelt sich um Angehörige des Klerus, um abtrünnige Priester und Mönche, die sich den Fahrenden angeschlossen haben und nun ihr rituelles und konfessionelles Wissen für die Verfertigung parodistischer und profanierender Verse oder ritualverkehrende Possen ausnutzten. 150 Die entlaufenen Kleriker und fahrende Scholaren, besser unter dem Namen Goliarden bekannt, tauchen sogar manchmal in schriftlichen Quellen auf, auch wenn dieses Thema meist ver‐ 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter 169 <?page no="170"?> 151 Konzil von Châlons, in Mansi: Concilia, cap. 9. Fast wörtlich ist die Wiederholung im Capitulum VII des Konzils von Tours (813). Ogilvy legt dar, dass es falsch wäre, die Patrone professioneller Unter‐ halter nur im Rahmen der Kirche zu suchen; Laien unterstützten die performer ebenso wie Kirchen‐ leute. Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 606. 152 In seiner gleichnamigen Studie sieht Hermann Reich im Mimus eine Art anthropologisches Univer‐ salprinzip der komischen Figur, die er mit dem Volkstheater aller Zeiten und Länder verbindet. Diese hätten die „primitive Sphäre der menschlichen Verhältnisse“ zum Thema: „Aus dieser Armseligkeit hilft dem Volke überall der gleiche Humor heraus, der es lehrt, die gleichen, göttlichen, burlesken Typen zu schaffen, seine lieben Narren, die ihm sein Leben erheitern.“ (S. 47) Reich konstruiert dem‐ entsprechend eine zusammenhängende Entwicklungsgeschichte des Mimus als Gattung über die Spätantike und das Mittelalter bis zur Commedia dell’arte und den Karagöz. Dies wurde von Thea‐ terhistorikern zu Recht bemängelt; Max Herrmann etwa übte scharfe Kritik an Reichs überschwäng‐ lichem Pathos, seiner generalisierenden Überlieferungshypothese des Mimus, in der alle erdenkli‐ chen komischen Figuren auf die Figur des Mimus in der Antike zurückgeführt werden. Vgl. Herrmann, Max: Die Entstehung der berufsmässigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit. Hg. und mit einem Nachruf versehen von Dr. Ruth Mövius. Berlin 1962, S. 180 ff. Herrmann kritisiert auch, dass Reich den byzantinischen Mimusautor Philistion zum Shakespeare des Altertums erhebt (S. 182). Für Herrmann ist der Mimus nichts literarisches, sondern eine szenische Aufführung von Spruchweisheiten und anderen Handlungsanlässen („geschriebene Aufführungstexte“), ein „bloßes Bühnenspiel“ (S. 185). Allerdings schreibt Ernst Robert Curtius Reichs Buch Beweiskraft zu. 153 Ogilvy interpretiert wie Reich in diese Stellen, die Aufführungen andeuten, dramatisches Theater hinein. Doch es geht hier nicht um Bühnenhandlungen, sondern mit joca, jocationes und ludi sind die Handlungen der Spielleute gemeint. Dies weist jedoch auf den hohen Anteil an Körperinszenie‐ rungen in den Monologen, Dialogen und Pantomimen der Spielleute hin, auf einen hohen Anteil der Körperkunst. Vgl. Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 610. Glock und Allen machen dagegen deutlich, dass die Performer nicht mit Bühnenschauspielern wie in der Antike zu verwechseln sind (gegen Reich). Vgl. Allen, The Mediaeval Mimus, S. 12 u. ff.; Glock, Anton: Über den Zusammenhang des römischen Mimus und einer dramatischen Tätigkeit mittelalterlicher Spielleute mit dem neueren komischen Drama. Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte N. F. XVI (1906), S. 24-45 u. 172-187, hier 173-182. schwiegen wurde. Viel häufiger wird erwähnt, dass Kirchenleute nicht nur Schauspieler und Possenreißer und ihre Sitte, niedrige und schamlose Possen vorzuführen, verachten sollten, sondern sie sollten sie auch für Laien als unangemessen ablehnen: „histrionum sive scurrarum, et turpium seu obscoenorum jocorum insolentiam, non solum [clerici] ipse re‐ spuant, verum etiam fidelibus respuenda percenseant.“ 151 Man hat solche Stellen bisweilen so interpretiert, dass mit „turpium seu obscoenorum jocorum insolentiam“ Theateraufführungen gemeint sind. 152 Dies ist allerdings vor dem Hintergrund der Abwesenheit dramatischer Bühnenspiele im Mittelalter theatergeschicht‐ lich hoch spekulativ. 153 Wenn es hier um Theater gehen würde, dann doch um Komödien, denn das Lachen ist, wie oben gezeigt, wichtiger Eckstein und Anstoß für die kirchliche Kritik. Doch von Terenz und Plautus wissen wir mit Ausnahme von Hrotsvit von Ganders‐ heim nichts. Es geht deshalb zwar um Aufführungen, das heisst um die Verbindung von unflätiger Sprache und körperliche Aktion, wobei letztere mehr Möglichkeiten des Obs‐ zönen und Unanständigen bereitstellt, das in den Quellen so sehr im Vordergrund steht. Offensichtlich ist es die Wahrnehmung der transgressiven Körperbewegungen bei den Unterhaltern, die die Kleriker verunsichern. Den Körper lasziv oder obszön zur Schau zu stellen, mit ihm Lachen zu erregen, muss dem auf körperliche Repression fundierten Chris‐ tentum eine ebenso körperlich negative Reaktion hervorgerufen haben. Casagrande und Vecchio vergleichen diese Reaktion mit derjenigen auf den Epileptiker, dem Besessenen par 3. Scurra und scurrilitas 170 <?page no="171"?> 154 Casagrande, Carla u. Vecchio, Silvana: L’interdizione del giullare nel vocabolario clericale del XII e del XIII secolo. In: Il teatro medievale. Hg. von Johann Drumbl, Bologna 1989, S. 317-367, hier S. 334: Vor allem in den Texten der Kanoniker müssen Unterhaltungsberufe und Geisteskranke die gleichen Vorwürfe und Verdammungsurteile ertragen: so werden im Dekret des Gratian (I, 23,2,123) Schau‐ spieler in die Nähe der „furia“ des Wahnsinns gerückt; beide Gruppen werden von den Sakramenten ausgeschlossen. 155 „Histriones sunt, qui muliebri indumentuo gestus impudicarum feminarum exprimebant; hi autem saltando etiam historias et res gestas demonstrabant.“ Isidor von Sevilla: Originum seu etymologiarum libri XX. Hg. von W. M. Lindsay. Oxford 1911. Bd. XVIII, S. 48. Vgl dazu auch Ogilvy, Mimi, Scurrae, Histriones, S. 604. 156 Vgl. Glock, Über den Zusammenhang, S. 43. 157 „Zunächst denkt man dabei an Themen und Worte, die den sexuellen Bereich berühren, oder an Gesten wie etwa die Entblößung des Gesäßes. Aber auch der Tanz, die weltliche Musik, die Erregung der Affekte, die effeminatio - die Verweichlichung und Auflösung seelischer und geistiger Kraft -, all dies gehört aus geistlicher Sicht zu den impudicitia der verfemten Berufe.“ Suchomski, Delectatio et utilitas, S. 27. excellence im Mittelalter: „Di fronte ai movimenti inconsulti e alle grida dell’epilettico e di fonte ai gesti scenici e alle cantilene dei giullari, il chierico prova la stessa ansia e lo stesso turbamento.“ 154 In beiden Fällen ist die Reaktion nicht Verständnis oder Normalisierung, sondern Isolation und Ausschluss. Transgressive Körperbewegungen wurden sofort mit Sünde assoziiert und dem Teufel zugeordnet. Dies gilt besonders auch für die Darstellung von Frauen durch Männer, die Isidor von Sevilla am histrio verurteilt: in seinem Liber ety‐ mologiarum (um 630) definiert er: „Histrionen sind diejenige, welche in Frauenkleidern unzüchtige weibische Gesten vorführen, und auch jene, die tanzend Erzählungen und Hel‐ dentaten vorführen.“ 155 Der Satz macht deutlich, dass die Sündhaftigkeit des histrio aus einer Transgression zweier Normen hervorgeht: der effiminierten Geste, die die Norm der He‐ terosexualität missachtet, und der (sexuell) 156 anstößigen (auf Prostitution hinweisenden) Geste, die im Tanz und den Bewegungen des histrio erkennbar ist. Obszöne Gesten und Tanz, beides Körperbewegungen und körperliche Handlungen, sind für Isidor demnach zu verurteilen. Die Gleichsetzung des histrio turpis mit der Prostituierten ist dann im Mittelalter fast ein Topos geworden: es geht dabei um die moralische Unsittlichkeit beider Berufsgruppen, weniger um geselligen Scherz oder Witz, sondern um die Erregung unangemessenen La‐ chens durch die Darstellung von Themen, die den sexuellen Bereich berühren, Entblö‐ ßungsgesten, Nacktheit, Tanz, effeminatio und anderes mehr, was aus geistlicher Sicht zu den impudicitia der verfemten Berufe gehört. 157 Der histrio turpis erscheint so als Zerr- und Gegenbild des gottesfürchtigen Klerikers, sein Widerpart, der ihm in allem diametral entgegengesetzt ist. Und er ist dies zunächst körperlich. Das ist am Wortfeld turpis, turpitudo, turpiter, dem am häufigsten gebrauchten Begriffen für die Tätigkeit von Unterhaltern, deutlich erkennbar. Die klassische Bedeutung von turpis fokussiert leibliche Deformationen: entstellt, verzerrt, hässlich, monströs, tie‐ risch. Semantik und Etymologie des Wortfeldes sind auf den Körper, auf Haltung, Aussehen und Gestik, auf Gesichtsfeld und Mimik bezogen (erkennbar in dem Ausdruck „histrionum 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter 171 <?page no="172"?> 158 Konzil von Paris, 829, I, Cap. 38. William of Malmesbury spricht ebenfalls von Körperinszenierungen: „quendam ephoebum qui motibus histrionicis victum exigeret“ (ein gewisser junger Mann, der seinen Unterhalt durch histrionische Bewegungen verdiente). Ich glaube nicht, dass hier dramatische Hand‐ lungen gemeint sind, wie Ogilvy vermutet, sondern eher pantomimische bzw. tänzerische Bewe‐ gungen. 159 „Turpe è il corpo deforme e l’animo disonesto. È esattamente il contrario (...) del pulcher et honestus dei Latini.“ Casagrande / Vecchio, L’interdizione del giullare, S. 327. Casagrande / Vecchio sehen hier auch den physischen Anteil an der ‚deformen‘ Aktivität des Schaustellers; bisher wurde dieser vor allem ethisch-moralisch interpretiert. 160 Johannes von Salisbury und Thomas von Chobham behandeln sie in einem Atemzug, s. u. 161 Vgl. Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 340: „Tanto frequente e commune è l’associazione giullare-oscenità che il Penitenziale di Roberto di Flamborough può codificare la scurrilitas come una delle manifestazioni della lussuria“. 162 “Scurra, qui sectari quempiam solet cibi gratia“. Isidor von Sevilla: Etymologiae X, 255. obscoenas jocationes“), 158 und erst in zweiter Linie auf Worte und die Handlungen, die ebenfalls damit beschrieben werden. So glossiert etwa Notker den Begriff histrio auch als uuephare (von uuephen: springen, hüpfen). Das Wortfeld wird allerdings ethisch vergößert, es beinhaltet auch Eigenschaften wie schamlos, schmählich, unehrlich, unsittlich, liederlich, obszön, weibisch etc. Mit turpis ist somit sowohl das Aussehen des Histrionen als auch seine Moral, sein Charakter negativ bezeichnet. 159 Diese Deformationen sind verschiedener Art: der histrio turpis ist einerseits der physisch entstellte Mensch, der mit seinem Makel ein theatrales Aufsehen treibt (der Einäugige, der Krüppel, der Hässliche, der Bucklige, der Zwerg etc.) Er ist aber auch jemand, der seinen Körper zum Werkzeug obszöner Semantik macht. Deshalb wird er häufig zusammen mit der meretrix, der Hetäre oder Dirne, genannt, die ebenfalls schauspielerisch tätig sein kann. Bei beiden gehen Ostentation und Verkäuflichkeit des Körpers Hand in Hand, sie treten an den gleichen Orten auf, sind auf die Annahme von Geschenken für ihre Dienste ange‐ wiesen. 160 So wird der histrio auch dadurch gefährlich und sündhaft, dass er sich ständig in Begleitung von Prostituierten, im Bannkreis des bösen weiblichen Universums aufhält. Wie die meretrix verkleidet und schminkt er sich, färbt sich die Haare, verändert sein Aussehen und bietet ein Schauspiel der Verführung. Der Zusammenhang von schauspierischer bzw. possenreißerischer Aktivität und Prostitution verstärkt sich, wenn man die Analogien des sündhaften Sehens betrachtet, die zwischen Schauspiel und weiblicher Schönheit bzw. Ge‐ schlechtsorgane oder Koitus bestehen. Die Adjektive obscaenus und lascivus werden glei‐ chermaßen auf sexuelle Praktiken wie auf die Körperkünste und körperlichen Tätigkeiten der Gaukler angewandt. 161 Der Begriff des scurra schließlich changiert im Mittelalter wie schon in der Spätantike zwischen einem professionellen Spaßmacher und der plautinisch-rhetorischen Tradition des homo urbanus als scharfsinnigen bzw. ehrverletzenden Spötters und Parasiten. Letztere Auffassung war noch bei Isidor von Sevilla in seiner Definition des scurra in den Etymologiae leitend: als unterhaltender Begleiter wohlhabender Herren und parasitus. 162 Im 8. Jahrhun‐ dert scheint diese Bedeutung gegenüber dem scurra als Possenreißer und theatralem per‐ former in den Hintergrund zu treten. So etwa in den Canones der Synode von Clovesho (747), oder bei Aldhelm, der um 700 unter scurra einen Spaßmacher oder Spötter ver‐ 3. Scurra und scurrilitas 172 <?page no="173"?> 163 Darunter fasst Aldhelm auch die biblischen Spötter (Cham im A. T. und die Peiniger Jesu im N. T.) sowie diejenigen, die sein Werk lächerlich machen („who would criticize Aldhelm’s work by making fun of it“). Vgl. Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 607. 164 MGH, Epistolae Selectae, I, no.92, S. 211. Zit. bei Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 608. 165 Ogilvy formuliert es so: „It implies raucous, slap-stick and indecent humor“. Ogilvy, Mimi, scurrae, histriones, S. 608. 166 Vgl. Petrus Cantor: Summa de sacramentis et animae consiliis. 2.1. Pierre le Chantre. Texte inédit et annoté par Jean-Albert Dugauquier. S. 343. 167 Thomas von Chobham: Summa Confessorum. Hg. von F. Broomfield. Louvain / Paris 1968 (= Analecta Mediaevalia Namurcensis 25). Questio IIa: De histrionibus. S. 135. 168 [Zu beachten ist, dass es drei Arten von Spielleuten gibt. Solche, die mit unzüchtigen Sprüngen und unkeuschen Gesten ihren Körper verändern und verdrehen, sich schändlichst entblößen und ab‐ scheuliche Masken aufsetzen, und diese alle sind verdammenswürdig, wenn sie ihren Beruf nicht aufgeben.] Ich lasse das lateinische Original im Fließtext, weil das Zitat wichtig ist. stand. 163 Um 750 reiht Lullus den Begriff scurra in einem Brief an Gregor von Utrecht unter die nutzlosen Freuden dieser Welt ein, womit er auf Unterhaltungen und Beschäftigungen des Adels abzielt (Falken, Pferde Hunde, kostbare Gewänder etc.): mit „scurrarum baccha‐ tiones“, was man mit „ausgelassene Unterhaltung“ bzw. Aufführungen übersetzen kann, und was auf professionelle Unterhalter am Hof hindeutet. 164 Scurra wird hier wie in vielen späteren Quellen alternativ zu ioculator gebraucht, der grobe, körperbetonte und unan‐ ständige Possen treibt. 165 Im 12. Jahrhundert gibt es die ersten Differenzierungsversuche für die performer, die meist mit einer Aufwertung einer Gruppe, der ioculatores, verbunden sind. In seiner Summa de Sacramentis et animae consiliis unterscheidet Petrus Cantor (1120 / 30-1197) zwischen zwei Arten von Schaustellern: die ioculatores, die „alte Geschichten besingen“, seien ak‐ zeptabel, aber die Histrionen, Seiltänzer, Mimen und Zauberer sind abzulehnen. 166 Ganz ähnlich ist die viel zitierte Kategorisierung von professionellen Unterhaltern des Thomas von Chobham (≈1160-1233) in seiner Summa Confessorum, im Kapitel De histriones gelaa‐ gert. 167 Wie Petrus teilt auch er die Spielleute in Gruppen ein: die ioculatores werden tole‐ riert, während die anderen, histriones, mimi und scurrae weiterhin verdammenswürdig sind: Sed notandum quod histrionum tria sunt genera. Quidam enim transformant et transfigurant cor‐ pora sua per turpes saltus vel per turpes gestus, vel denudando corpora turpiter, vel induendo horribiles loricas vel larvas, et omnes tales damnabiles sunt nisi relinquant officia sua. 168 Die zweite Gruppe betreibt Verleumdung und üble Nachrede, mischen sich in fremde An‐ gelegenheiten ein. Sie besitzen keinen festen Wohnsitz, sondern ziehen an die Höfe der Fürsten und verbreiten Schimpf und Schande über Abwesende. Auch diese Gruppe ist der Verdammung anheimgegeben; sie werden scurrae vagi genannt, weil sie nach Thomas zu nichts taugen als zum Prassen und Schmähen. Die dritte Kategorie sind die Spielleute, die Musikinstrumente besitzen und spielen, um die Menschen zu unterhalten; Thomas teilt sie in zwei Untergruppen: die einen sind ebenso verdammenswert wie die vorigen, da sie bei öffentlichen Gelage und Festen singen und damit die Menschen zur Unkeuschheit anstiften. Nur die letzte Gruppe, die ioculatores genannt werden, singen von den Taten der Könige und vom Leben der Heiligen, und diese trösten mit ihren Liedern und Gesängen. Sie können gerettet werden. 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter 173 <?page no="174"?> 169 „Das theologische Verwerfungsurteil über einen Gaukler lautet auch um so drastischer, je stärker seine Tätigkeit mit körperlicher Aktivität verbunden ist“. Zimmermann, Julia: gestus histrionici. Zur Darstellung gauklerischer Tanzformen in Texten und Bildern des Mittelalters. In: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Hg. von Margreth Egidi u. a. Tübingen 2000. S. 71-85, hier 75. 170 (...) und dass sie niemals Schändlichkeiten begehen wie die Tänzer und Tänzerinnen und diejenigen, die unmoralische Bilder zeigen und die fast jede Phantasterei mit ihren Gebärden und anderem mehr verkörpern können. Thomas von Chobham, Summa Confessorum, S. 134. 171 Alexander Halensis: Summa Theologica. Tomus 3, Ad Claras Acquas 1924-1979, S. 470 ff. An dieser Dreiteilung in histriones / mimi, scurrae und ioculatores wird deutlich erkennbar, dass es die Körperinszenierungen sind, die Thomas am stärksten provozieren und die er am heftigsten ablehnt und als sündhaft einstuft. 169 Die herumziehenden Spielleute sind vor allem deshalb schamlos, weil sie ihren Körper histrionisch verändern und deformieren, und weil sie „schmutzige“, also zumindest normferne Gesten und Handlungen aufführen, die der Ordnung zuwiderlaufen. Erst in zweiter Linie sind sie zu verurteilen, wenn sie andere Menschen verleumden oder verspotten. Dass es bei Thomas diese Reihenfolge der Sünd‐ haftigkeit gibt, ist wiederum in der Charakterisierung der ioculatores, die ja akzeptiert werden und deren Seelenheil gerettet werden kann, erkennbar, denn hier fallen wiederum Vergleiche zu den Histrionen: (...) et non faciunt nimias turpitudines sicut faciunt saltatores et saltatrices et alii qui ludunt in imaginibus inhonestis et faciunt videri quasi quedam phantasmata per incantationes vel altro modo.“ 170 Überträgt man diese Einteilung Thomas’ von Chobham auf die Rahmung und zugrunde liegenden Wirkungsabsichten der Unterhaltung, so wird schnell deutlich, dass die „zucht‐ losen“ Körperkünste und vermutlich auch der Spott der scurrae eher mit einer Art erotisch, obszön oder skatologisch aufgeladenen Form der Unterhaltung zu verbinden sind, die of‐ fensichtlich Lachen hervorrufen sollte. Hingegen steht zu vermuten, dass die Aufführung von Musik und Gesang die Ernsthaftigkeit und die Bewunderung des Publikums voraus‐ setzt. Mit seiner Unterscheidung betont Thomas allerdings weiterhin, wie wichtig das Kri‐ terium der Unbehaustheit in der Differenzierung und Ausgrenzung der performer ist (er bestätigt damit die These, dass es zu Beginn des 13. Jahrhunderts bereits an den Höfen fest angestellte Unterhalter, meist Musiker und Sänger, gegeben hat). Mit der Aufwertung der ioculatores bei Thomas gibt es nun immer häufiger Texte, in denen einzelne Aufführungs‐ formen von der Sünde freigesprochen werden. So nimmt Alexander von Hales (1185-1245) in seiner Summa theologica eine Unterscheidung von drei Kategorien von Sünden vor: die Sünden des Herzens (peccata cordis), die des Mundes (peccata oris), und die der Werke oder Handlungen (peccata operis). Die letzteren sind von zweierlei Art, die den ornatus (Klei‐ dung) betreffen und die die Geste und die Zeichen des Körpers betreffen („quae pertinent ad gestum vel nubtum corporis“). Bei diesen muss zwischen Sünden, die anderen Unrecht zufügen (derisio usw.) und Sünden an sich unterschieden werden. Die Sünden an sich wie‐ derum umfassen zwei Unterkategorien: das Lachen (risus), das als Bewegung des Mundes bestimmt ist, und die ioculatio, die eine Bewegung des ganzen Körpers bezeichnet. Alexan‐ ders Argumentation läuft auf die Rehabilitierung der ioculatio wie auch des Lachens hinaus. Nach einer Diskussion aller Meinungen spricht er das Lachen von der Sünde frei, sofern die Absicht eine gute war, also wenn die Notwendigkeit der Natur es erforderte, und wenn es der professionellen Übung diente. 171 Hier wie in der oben besprochenen Summa Theolo‐ 3. Scurra und scurrilitas 174 <?page no="175"?> 172 Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 256. Schmitt gibt dafür drei Gründe an: erstens die wiederaufge‐ nommene Lehre der artes liberales, zweitens das kanonische Recht, und drittens die scholastische Theologie (Thomas). Hugo von St. Viktor rechtfertigt in seinem Didascalicon die theatrica als zuge‐ hörig zu den legitimen Betätigungen: die Zerstreuungen dienten der Körpergesundheit und halten das Volk davon ab, Verbrechen zu begehen. Stephan von Tournai wertet die Histrionen etymologisch auf: als Geschichtenerzähler können die Histrionen mit gestus in Zusammenhang gebracht werden, denn Histrionen stellten, so Stephan, durch ihre Körperbewegungen und ihre Gesichtsmimik die Gesten anderer dar (aliorum gestus representabant). - Das kanonisches Recht hatte es verboten, den Schauspielern etwas für ihre Darbietungen zu geben. Rufin von Bologna und Stephan von Tournai weichen dieses kanonische Recht im 12. Jh. auf, da sie feststellen, man dürfe den Gauklern aus Nächstenliebe etwas geben. Vgl. Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 255. 173 Der Begriff stammt von Casagrande / Vecchio, L’interdizione, S. 346. gica des Thomas von Aquin geht es um eine langsame Rehabilitierung und Anerkennung der Kunst des Lustigmachens der komischen Unterhaltung. Die Spielleute sind keine mi‐ nistri satanae mehr, sondern professionelle Schausteller, die für ihre Arbeit einen rechtmä‐ ßigen Lohn verdient haben, und deren Nutzen, die Freude und die Entspannung ihres Pub‐ likums, anerkannt wird. Diese Transformation im klerikalen Diskurs gegenüber den Spielleuten im 13. Jahrhundert beschreibt Schmitt wie folgt: „Die Zeit bedingungsloser Ver‐ urteilung ist vorbei, aber für die volle Anerkennung ist es noch zu früh.“ 172 Zusammenfassend läßt sich über das Bild, das die Kleriker bis ins Hochmittelalter von den professionellen Unterhaltern zeichnen, Folgendes sagen: es handelt sich hier weder um eine historisch genaue Bewertung zeitgenössischer Praktiken, noch um eine begriffsge‐ schichtliche Fortführung der theologischen Tradition, auch wenn die Autoren den Versuch machen, beides zu vereinbaren. Was daraus entsteht, ist die diskursive Konstruktion eines eigenen Anderen, eines alteritären Zerrbildes, das der Normvorstellung der eigenen Le‐ bens- und Verhaltensweise diametral entgegensteht. Dieser Konstruktion liegt die Absicht zugrunde, die performer in ihrer unwiderruflichen Andersheit und Abnormität zu treffen und sie im dualistischen Weltbild dem Bösen und dem Teufel zuzuordnen. Im Vordergrund der diskursiven Konstruktion von eigener Alterität stehen Inszenierungen des Körpers und ihr Ziel, das laute Lachen, beides ist gleichzeitig abstoßend und falsch. Histrio, mimus und scurra stören zuallererst durch ihre physische Präsenz: dem Teufel ähnlich, werden sie in ihrer körperlichen Erscheinung verdammt, bevor sie anfangen zu sprechen. Die performer erscheinen in den Quellen der Kleriker auch nicht als Menschen (mit einem echten Be‐ dürfnis nach Seelsorge), sondern sie befinden sich in einer Art Schwellenzustand zwischen wirklichen Personen und Symbolfiguren. Nur in diesem Schwellenzustand ist ihre völlige Negation möglich, nur hier ist eine totale Marginalisierung und Isolation erreichbar. Erst als diskursive Konstruktion können die Theologen die Unterhalter zum „Priester des Pro‐ fanen“ und Negativfolie ihres idealisierten Selbstbildes machen. 173 So wird auch verständ‐ lich, dass die Zielgruppe der klerikalen Schriften ja nicht die Fahrenden sind, sondern der gesamte geweihte Klerus. An ihnen sollen alle Zeichen des Lachens, der frechen Freude und der zügellosen Unterhaltung getilgt werden, ihnen soll der Umgang mit Spielleuten in seinem ganzen Ausmaß vor Augen geführt werden. Abaelard hat dies in seiner Theologia Christiana auf den Punkt gebracht, wenn er die Inkonsequenz hoher Kleriker beschreibt, an hohen Festtagen Gaukler, Tänzer, Zauberer und „unkeusche“ Sänger einzuladen, um mit ihnen nächtelange „dämonische“ Ausschwei‐ 3.3. Die Gefahr des Lachens und die Macht des Diskurses im Mittelalter 175 <?page no="176"?> fungen zu veranstalten. Auch geißelt Abaelard die teuflischen Verführungskünste der Schausteller, die die Gläubigen von der Messe ablenken und sie in den Kirchen selbst un‐ terhalten. Hier werden sakrale Räume von den Spielleuten, aus der Sicht Abaelards, pro‐ faniert. Der in die sakralen Räume einbrechende Gaukler macht die Differenz Sakral - Profan zunichte und gefährdet das Heilige in seiner Existenz. Der Gaukler bringt durch seine Nicht-Anerkennung von Hierarchien und Werten die Existenz des Klerikers in Gefahr, wenn er mühelos von Heiligenlegenden zu Spottlegenden überwechselt, wenn er Märtyrer und den Wein in einem Atemzug besingt. Jede der (theatralen) Aufführung für andere nahe kommende Haltung bzw. Art sich zu bewegen oder zu sprechen soll ausgelöscht werden. Sicherlich hat dies auch mit den rituellen Handlungen der Kleriker selbst zu tun: sie wissen um den rituellen Charakter der religiösen Zeremonien. Auch sie handeln vor einer Menge anderer Menschen, auch sie singen und sprechen, machen Gesten und Handlungen und bewegen sich im Raum. Diese rituelle Aktivität liegt oft an der Grenze zur Theatralität, auch wenn mit äußerster Disziplin, Würde und Demut aufgeführt wird, d. h. diametral ent‐ gegengesetzt zum Handeln der Spielleute. Deshalb müssen ihre Gesten unzweideutig sein, nur über die Eindeutigkeit können sie Ernsthaftigkeit herstellen und den Vergleich zu den Imitationen der Gaukler vermeiden. 3. Scurra und scurrilitas 176 <?page no="177"?> 1 Ich gebrauche den Begriff ‚performer‘ im Sinne von ‚Aufführende‘ als Oberbegriff für die Unterhal‐ tungsberufe des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Anschluss an Richter, Michael: The oral tradition in the early middle ages. (= Typologie des Sources du Moyen Âge Occidental. Fasc. 71). Turnhout 1994. Dementsprechend vermeide ich den älteren deutschen Begriff Spielmann / Spielleute auf Grund seiner Nähe zum musikalischen Vortrag und auf Grund der historischen Diskussion. 2 Vgl. dazu Hartung, Wolfgang: Die Spielleute im Mittelalter. Gaukler, Dichter, Musikanten. Düssel‐ dorf / Zürich 2003, S. 121 ff. 3 Faral, Edmond: Les jongleurs en France, Paris 1910, S. 2: „Nous considérons comme des jongleurs tous ceux qui faisaient profession de divertir les hommes.“ Ich übernehme diese Definition Farals der Spielleute als „unterhaltende Berufe“. Faral stützt sich dabei wie Hertz auf Quellen des gesamten Mittelalters seit Alkuin, so etwa auch auf das Buoch der Tugenden aus dem ausgehenden 14. Jh.: „der spillûten ampt, das da geordent ist ze einer kurtzwile oder ze einer lichtegkeit, wol mit gotte mag gesin ane sünde.“ Zit. aus Hertz, Wilhelm (Hg.): Spielmanns-Buch. Novellen in Versen aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Stuttgart 1886, S. 317. 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 4.1. Der ioculator als Unterhalter Im vorangegangenen Kapitel habe ich mich darauf konzentriert, die enge Verbindung von Lachen und histrionischen Körperinszenierungen begriffs- und diskursgeschichtlich, hauptsächlich im Spiegel von Aussagen klerikaler Schriftsteller in Spätantike und Mittel‐ alter herauszuarbeiten. Wegen der starken theologischen Ausrichtung vieler Quellen sind die daraus hervorgehenden Daten zur historischen, sozialen und rechtlichen Stellung der Aufführenden (performer) 1 sowie zu ihrem Tätigkeitsfeld das Resultat klerikaler Diskurse. Aus diesem Grund versucht die historische Forschung zu den Unterhaltungsberufen heute die klerikalen Quellen vorsichtiger zu verwenden und sie als eine Sicht kirchlicher Eliten auf das Phänomen der Unterhaltungsberufe zu beschreiben. 2 Somit stellt sich die Frage, auf welche Weise die performer ihr Publikum zum Lachen gebracht haben, aus historischem Blickwinkel neu. Wer waren sie und ihr Publikum, welche Okkasionen und Situationen, in denen ihre Aufführungen Lachen ausgelöst haben, lassen sich unterscheiden und schließlich: welche Rolle spielte dabei der Körper? Wenn diese Fragen beantwortet werden können, dann ist es auch möglich, den Hiatus zwischen dem literarischen Zerrbild, das die klerikalen Quellen von den Unterhaltern zeigen, und den Aussagen anderer Dokumente über ihre Aufführungen und Lachanlässe zu schließen. Dass die professionellen Agenten des Lachens im Mittelalter vor allem Fahrende waren, und dass sie den Unterhaltungsberufen angehörten, haben bereits Faral und Hertz in aller Deutlichkeit an den Quellen gezeigt. 3 Die in der älteren Forschung vehement geführte Dis‐ kussion, ob die Spielleute in Europa historische Nachfahren der römischen Unterhaltungs‐ künstler mimus, histrio und scurra waren, oder germanisch-keltische Ursprünge ihrer Exis‐ tenz zu Grunde liegen, ist bis heute nicht restlos entschieden und muss hier nicht weiter <?page no="178"?> 4 Vgl. die Diskussion bei Glock, Über den Zusammenhang, S. 24-45 u. S. 172-187 und Allen, Philip Schuyler: The Mediaeval Mimus. Modern Philology 7 (1910). H. 3, S. 329-344 sowie Modern Philology 8 (1910), H. 1, S. 1-44. 5 Das dt. Wort Gaukler stammt zwar von lat. ioculator ab (ahd. gougulâri, coucalâri, gouggilâri u. ähnl., von v. gougolon: ‚spielen, sinnlose oder spielerische Bewegungen machen‘; an. kuklari; mdh. gouge‐ lære, goukelær, goggeler bzw. v. goug(g)eln, mnd. gokeler), verweist etymologisch aber auf die ältere Wurzel von Zauberer, kultisch Bewanderter. Vgl. Lemma gaukler, in: Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, Sp. 1563-66. 6 Vgl. dazu Hartung, Die Spielleute, S. 94 ff. 7 Dass sich die Funktion des Spielmanns mit seinem Publikum differenziert, zeigte bereits Norbert Elias in Über den Prozess der Zivilisation, S. 102. 8 Vgl. dazu ausführlich Danckert, Werner: Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe. 2. Aufl. Bern / Mün‐ chen 1979, S. 8 ff. Danckert sieht in der Überlagerung von germanisch-heidnischen Kulturen und Christentum die Ursache für die rechtliche Außenseiterstellung der Infamierten. Die Grundzüge der Verfemung seien auf vorchristliche Kultbräuche gegründet, in den sakralen und magischen Funkti‐ onen des germanischen Spielmanns und Zaubersängers, die von der christlichen Kirche als heidnisch und teuflisch verfemt wurden. Zur Diskursgeschichte der Infamität vgl. Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen. Hg. u. übers. von Walter Seitter. Berlin 2001. verfolgt werden. 4 Voraussetzung für die Frage nach Tätigkeiten und Funktionen dieser Be‐ rufe ist vielmehr, dass sie im Mittelalter (seit dem 9. Jahrhundert) unter dem lateinischen Begriff der ioculatores (im Folgenden auch ‚Gaukler‘) 5 zusammengefasst wurden und somit eine genuin mittelalterliche Erscheinung sind. Auch wenn wir nur verstreute und nicht sehr viele Hinweise besitzen, so ist doch anzunehmen, dass das vermehrte Auftreten von Aufführenden in den Quellen ab dem 9. Jahrhundert nicht nur mit der Schriftlichkeit im Allgemeinen, sondern auch mit historischen Entwicklungen in Zusammenhang zu sehen ist. Dies betrifft in erster Linie die langsame Ausbildung höfischer und urbaner Zentren im Frühmittelalter, da nur dort ein (zahlungskräftiges) Publikum für ihre Aufführungen be‐ stand. So erklärt sich auch die Phasenverschiebung ihres Auftretens zunächst in Italien und Südfrankreich, dann im Westen und erst im 11. und 12. Jahrhundert im mittel- und nord‐ europäischen Raum. 6 Die Sozialität kann somit als wichtigste Bedingung der Ausbildung der Berufsgruppe der professionellen performer genannt werden, doch ebenso wichtig ist ihre Mobilität. Bei gleich bleibendem Repertoire war es nötig, herumzuziehen, um an anderen Orten und zu be‐ stimmten Anlässen ein immer neues Publikum zu finden. Dies zog zwei Konsequenzen nach sich: die Anpassung der Aufführung an das jeweilige Publikum, 7 und die Ausbildung zum verschiedene Tätigkeiten beherrschenden Einzeldarsteller und Improvisator, der sowohl in Gruppen als auch alleine auftreten konnte. Auf Grund der Notwendigkeit des ständigen Ortswechsels war der performer ein homo viator, ein Fahrender und Unbehauster, was sich deutlich in seiner marginalen Rechtsstellung, vor allem in Deutschland, niederschlägt. In den beiden wichtigsten deutschen Rechtsquellen, Sachsenspiegel und Schwabenspiegel, aber auch in zahlreichen Stadtrechten war Leben, Unversehrtheit und Eigentum der Un‐ terhalter nicht geschützt; sie wurden als rechtlose Außenseiter, als outcasts und Infame angesehen und zu den ehrlosen Berufen gezählt. 8 Dies bedeutete im Grunde, dass sie weder lehensnoch zunftfähig waren, keine städtischen Ämter bekleiden und nicht an der Recht‐ sprechung beteiligt (also nicht Richter, Urteiler, Eidhelfer oder Zeuge) sein durften. Mit dieser niedrigen und durch das gesamte Mittelalter hindurch labilen Rechtsposition der 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 178 <?page no="179"?> 9 Bereits in den capitularia Karls des Großen (789) werden histriones mit Sklaven und Juden auf eine Stufe gestellt, ein Merkmal für den marginalen sozialen Status, der ihnen zugemessen wurde. Vgl. Mansi, Johannes Domenicus: Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Bd. XVII, Supple‐ mentum: Capitulare Aquisgrandis, Sive Capitularum Primum Anni 789, cap. 44, col. 229. An dieser Stelle öffnet sich auch das Betätigungsfeld für den scurra, zu welchem ebenfalls Verspottung und Verleumdung gehörten: Als Ehr- und Rechtloser konnte der Possenreißer bestimmte Menschen spie‐ lerisch mit infamia belegen, ohne dafür geahndet zu werden. 10 Bernhard von Clairvaux: Epistula de cura et modo rei familiaris. In: PL 182, 650. (Der Mensch, der sich den Gauklern anschließt, wird eine Frau haben, die Armut heißt, und einen Sohn, der Spott heißt.) 11 Vgl. Saffioti, Tito: I Giullari in Italia. La storia, lo spettacolo, i testi. Mailand 1990, S. 40 ff. Rupertus, Spielmann Kaiser Heinrichs VI., unterzeichnete ebenfalls offizielle Urkunden als Zeuge. 12 Es gibt auch Beispiele von Reisepässen für performer, wie ein 1272 ausgestelltes Dokument an einen gewissen Raynaldus ioculator de Parisius zeigt, in welchem um die Erleichterung von Reisewegen für ihn, seine Familie und seine Pferde gebeten wird: „cum familia & equitaturis suis“. Saffioti, I Giullari, S. 41. Zu Spielfrauen vgl. Rieger, Angelica: Beruf: Joglaressa. Die Spielfrau im okzitanischen Mittelalter. In: Feste und Feiern im Mittelalter. Hg. von Detlef Altenburg, Jörg Jarnut und Hans-Hugo Steinhoff. Sigmaringen 1991, S. 229-242. 13 „Die Abwertung und Verdammung der Spielleute durch die Theologien stand also im Widerspruch zur Darstellung der höfischen Welt, die sich selbst im Fest und als Festgesellschaft präsentierte.“ Hartung, Die Spielleute, S. 181. performer korrespondiert eine dementsprechend niedrige soziale Geltung, welche wie‐ derum Vertreibung, körperliche Züchtigung und Diffamation zur Folge haben konnte. 9 So ist etwa das Bernhard von Clairvaux zugeschriebene Diktum: „Homo joculatoribus in‐ tentus, cito habebit uxorem, cui nomen erit paupertas, ex qua generabitur filius, cui nomen erit derisio“ 10 zu erklären. Allerdings kann diese pauschale Beschreibung der sozialen Position der performer nicht durchgängig und nicht für ganz Europa behauptet werden. In italienischen Notariatsakten tauchen ioculatores nicht selten als Haus- und Grundstücksbesitzer oder als Besitzer von Pferden auf. In einigen Fällen konnten sie einen bescheidenen Wohlstand erreichen, wie etwa in Verona, wo sie auch als Pfandleiher und Wucherer erschienen. Sie konnten sogar notarielle Akte unterzeichnen, wie ein gewisser Homodeus joculator, der als Zeuge in einer Schenkungsurkunde des Klosters Farfa im Jahre 1060 auftrat. 11 Saffioti zeigt für Italien und Südfrankreich, dass ioculatores auch häufig Ehen führten und Kinder hatten. Während sie auf Wanderschaft waren, blieb die Familie an ihrem Wohnort, oder sie begleitete den Jong‐ leur auf seinen Reisen und nahm an den Aufführungen teil; daher auch die häufige Erwäh‐ nung von Spielfrauen. 12 Saffioti stellt als Ergebnis seiner sehr gut belegten Studie zu den Gauklern in Italien fest, dass diese weniger marginalisiert waren, als man von den Verdammungen der Theologen her hätte erwarten können. Dies bestätigt auch ihre Wahrnehmung innerhalb der höfischen Kultur, wie sie sich in den Quellen, insbesondere zu Fest und Festgesellschaft seit dem 12. Jahrhundert selbst präsentiert. 13 Feste anlässlich von Thronerhebungen, Schwertleiten, Hochzeiten, Heimkehr von Reise und Kriegszug, Ritterschlag und den damit verbundenen Ritualen und Spielen waren die Haupteinnahmequelle der performer. Nicht nur konnten sie hier genügend Nahrung finden, sondern auch wichtige Kleidungsstücke des Adels zum Lohn für ihre Tätigkeit erhalten, die dann wieder gewinnbringend weiterverkauft werden konnten. Daher kam auch das rekurrente moralische Vorurteil, welches in einer Predigt 4.1. Der ioculator als Unterhalter 179 <?page no="180"?> 14 Berthold von Regensburg unterscheidet zehn weltliche Klassen. Die Spielleute gehören der untersten Klasse an. Berthold von Regensburg: Predigten. Hg. von F. Pfeiffer und J. Strobl (=Texte des Mittel‐ alters. 1). Berlin 1965, S. 155. 15 Vgl. dazu Hartung, Die Spielleute, S. 66-79. 16 Aus der Literatur lässt sich folgendes Spektrum der Tätigkeiten von Spielleuten zusammenstellen: Tanzen und springen, singen, Musikinstrumente spielen (Flöte, Harfe, Trommel, Tambour, Horn, Zither, Geige), Dichtung oder Sprüche vortragen, scherzen und spotten, akrobatische Kunststücke vorführen, dressierte Tiere (Bären, Affen, Hunde) vorführen, zaubern und Geister beschwören, Stimmen imitieren, Würfel spielen, jonglieren, Messer werfen, ringen, Feuer schlucken. Vgl. etwa die Aufzählungen in Artusepen wie Chrétiens Erec et Enide (und Hartmanns von Aue Erec), Gottfrieds Tristan, oder Justinus’ von Lippstadt Lippiflorium. Vgl. dazu Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Lite‐ ratur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 1. München 1986, v. a. das Kapitel „Höfische Unter‐ haltung“, S. 301-313. Im Buoch der Tugenden aus dem ausgehenden 14. Jh. heißt es: „der spillûten ampt, das da geordent ist ze einer kurtzwile oder ze einer lichtegkeit, wol mit gotte mag gesin ane sünde.“ Zit. aus Hertz: Spielmannsbuch, S. 317. Vgl. auch die Angaben bei Kindermann, Heinz: Das Theaterpublikum des Mittelalters. Salzburg 1980, S. 120-131. Bertholds von Regensburg griffig überliefert ist: „Daz sint die gumpelliute, gîger und tam‐ bûrer, swie die geheizen sîn, alle die guot für êre nement.“ 14 In ihrer reisenden Existenz lag sowohl Reiz wie auch Gefahr der performer wie auch für ihr Publikum. Einerseits waren sie wertvolle politische Informationsträger, die Nachrichten inoffiziell von Hof zu Hof, von Stadt zu Stadt trugen; dies machte sie prinzipiell auch ge‐ fährlich, gerade in Verbindung mit ihrer Lizenz zum Spotten. Andererseits waren sie auch Vermittler von Ereignissen, Krönungen, Turnieren und Festen, Schlachten und Kriegen, Verschwörungen und Plänen an anderen, mitunter weit entfernten Orten. Sie waren dem‐ nach nicht nur für die Erzeugung der höfischen Freude zuständig, sondern waren auch ein politischer Faktor. Als eigene (Berufs-)Gruppe unterschieden sie sich von anderen seit dem 12. Jahrhundert auch durch ihre auffällige Kleidung und Haartracht. Sie waren oft an Haupt und Bart rasiert und folgten bestimmten Kleiderordnungen (mi-parti Kleidung, kurze Mäntel, oft mit Kapuzen versehen, bunte Farben, häufig rot und gelb); typische Spiel‐ mannskleidung ist aber auch getragene, für den Stand oft zu aufwendige Kleidung, wie etwa Helmbrechts Haube. 15 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe Für ihren Lebensunterhalt sorgten die performer mit ihren von Spektakel und Spiel ge‐ rahmten künstlerischen Darbietungen, die von der körperlichen und stimmlichen Imitation über Maskierungen und Verkleidungen bis zum Gesangs- und Erzählvortrag reichen. 16 Die Unterhaltung ist die große Klammer zwischen Seiltänzern, Akrobaten, Tierbändigern, Sän‐ gern, Spöttern und Dichtern, deren unterschiedliche Tätigkeiten und Kombinationen von Fertigkeiten nicht immer genau in mimi, scurrae und ioculatores getrennt werden können. Die Aufgabe der performer ist es, mit ihren körperlichen, sprachlichen und stimmlichen Darbietungen vor einem Publikum aufzutreten. Die professionellen Possenreißer standen so auf einer Stufe mit den übrigen Aufführenden, Tänzern, Musikern, Gauklern und Narren. Die übliche Reaktion auf Performance war nach Michael Richter lautes Gelächter: „The appropriate manner of reception of the performance, as is also mentioned more than once 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 180 <?page no="181"?> 17 Richter, The oral tradition, S. 72. Vgl. auch Ogilvy, Mimi, Scurrae, Histriones, S. 603 ff. sowie Kotte, Andreas: Theatralität im Mittelalter. Das Halberstädter Adamsspiel. Tübingen / Basel 1994, S. 149-151. 18 [Der Gaukler / Spielmann ist jemand, der für Lachen und Spiel unter die Leute geht und sich über sich selbst, über seine Frau und seine Kinder lustig macht und über alle anderen auch]. Brunetto Latini, Florentiner Kaufmann und Notar in seinem enzyklopädischen Werk Li livres dou Tresor, Paris 1250. Zit. bei Hartung, Die Spielleute, S. 13. 19 Vgl. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, S. 102. 20 Bis ins Hochmittelalter konnten vermutlich nur vereinzelte Fahrende eine dauerhafte Anstellung an einem Adelshof erreichen und damit sesshaft werden, wie dies etwa für angestellte Musiker und Narren ab Mitte des 13. Jh. belegt ist. Die Stadt und der Bedarf an Unterhaltung bei Hochzeiten und Festen war vermutlich bis weit in die Frühe Neuzeit wichtigster Arbeitsort für die Performer. So schreibt noch Guarinonius: „Die Schalcksnarren und Klaffer … (sind) zu denen zeiten so gemein geworden, dass man deren etliche in vilen Städten und Hochzeiten beruffen“ lasse. Zit. aus: Bücking, Jürgen: Kultur und Gesellschaft in Tirol um 1600. Des Hippolytus Guarinonius’ „Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts“ (1610) als kulturgeschichtliche Quelle des frühen 17. Jahrhunderts (= His‐ torische Studien 401). Lübeck / Hamburg 1968, S. 167. (and in a way that emphasizes the normative element) was that of laughter, loud laughter at that.“ 17 Dies wird auch von einer Definition des Jongleurs bestätigt, die um 1250 in Bru‐ netto Latinis enzyklopädischem Werk Livre du trésor zu finden ist: „Jugleor est cil qui con‐ verse entre la gent a ris et a geu, et moque soi et sa femme et ses enfans, et touz autres.“ 18 Der Gaukler wird hier vor allem anderen als Lustigmacher bezeichnet, dessen vorrangige Aufgabe es ist, zu unterhalten, und das heißt, sein Publikum zum Lachen zu bringen. Doch genau dies ist der entscheidende Punkt: Lässt sich genauer beschreiben, über welche Art der Vorführung ein Publikum gelacht hat? Sicherlich darf die iocunditas, die freudige Erregung, nicht mit Lachen verwechselt werden; dass bei ihr jedoch das Lachen eine wichtige (wenn nicht gar die wichtigste) Rolle spielt, dürfte ebenso unstrittig sein. Es stellt sich nun die Frage, wie sich die verschiedenen Aufführungen der performer dem La‐ chen zuordnen lassen. Welche von ihnen sahen ihr Ziel darin, ihre Zuschauer und Zuhörer zum Lachen zu bringen, welche von ihnen legten es eher auf Staunen und Bewunderung, Befremden und Angst, innere Freude oder Rührung an? Diese Differenzierungen kann der Begriff des ioculator in seiner breiten Anlage nicht leisten; er umfasst alle Musiker, Instru‐ mentalspieler, Sänger, Akrobaten und Schauspieler / Alleinunterhalter. Es gilt daher, die überlieferten Tätigkeiten selbst und ihre Wirkungen analysieren, um dem Problem des Auslösens von Gelächter durch den Körper der performer näher zu kommen. Zum Lachen wird eine Gruppe von Menschen, ein Publikum, Öffentlichkeit benötigt: Das Publikum ist somit Voraussetzung für den Auftritt der Unterhalter, ihre Funktion dif‐ ferenziert sich mit ihrem Publikum, wie Norbert Elias feststellt. 19 Denn selbst wenn Ort und Zeit der Aufführung sozial determiniert sind, hat das Publikum doch keinen statischen Charakter; es ist sozial und kulturell oftmals nicht homogen, fluide, unvorhersehbar, schwillt an und flaut ab, reagiert jeweils unterschiedlich. Ihr Publikum finden die Unter‐ halter des Mittelalters an Höfen und in Städten. 20 Der Bedarf an professioneller Unterhal‐ tung war durch die verschiedenen rituellen Okkasionen in Städten ganzjährig höher. Be‐ deutsam ist die Stadt auch als Arbeitsort: Wo viele Menschen auf engem Raum wohnen, 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe 181 <?page no="182"?> 21 Städte waren zudem auf Grund ihrer Lage an Handelswegen geeignet für das Zusammentreffen mit fremden performern und den Austausch von Körpertechniken. Näheres in Kap. 4.4. 22 Eine Ausnahme waren Lachanlässe mit politischer Bedeutung, die teils inszeniert waren, sich teils aber auch spontan ergaben. Vgl. dazu Althoff, Gerd: Vom Lächeln zum Verlachen. In: Lachgemein‐ schaften. Hg. von Röcke u. Velten, S. 3-16. 23 „Numquam in risum exaltavit vocem suam, nec quando in summis festivitatibus ad laetitiam populi procedebant themilici, scurri et mimi cum coraulis et citharistis ad mensam coram eo, tunc ad men‐ suram ridebat populus coram eo, ille numquam nec dentes candidos suos in risu ostendit.“ Theganus: Vita Hludovici imperatoris. Hg. von G. Pertz. In: Mon. Ger. Hist. Scriptores, Vol. II. Kap. 19. Die weißen Zähne verweisen dabei symbolisch auf den Adel des Königs. 24 „Raro fidicines admittebat, quos tamen propter alleviandas anxietatum curas aliquando censuit esse necessarios. Ceterum pantomimos, qui obscenis corporum motibus oblectare vulgus solent, a suo conspectu prorsus eiecit.“ Adam von Bremen: Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum. In: Ausgew. Quellen zur dt. Gesch. des Mittelalters und der Neuzeit 11. Berlin u. a. 1956 ff., S. 379. Dies gilt allerdings nur für seinen Bischofssitz; für seinen sozialen Aufstieg scheute Adalbert keine Kosten für Schauspieler und Gaukler. Vgl. dazu Schmitz, Gerhard: Ein Narr, der da lacht. In: Vom Lachen. Einem Phänomen auf der Spur. Hg. von Thomas Vogel. Tübingen 1992, S. 129-153, hier S. 140 f. 25 Dies wird seitens einer Vorschrift des Konzils von Paris 829 bestätigt: „Magis convenit lugere quam ad scurrilitates et stultiloquia et histrionum obscoenas jocationes et ceteras vanitates (…) in cachinnos ora dissolvere.“ Konzil von Paris 829, cap.38. In: Mansi, Gian Domenico: Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, T. XXIV, S. 529. wo sich schnell Zuschauer und Zuhörer zusammenfinden, können Spielleute ihrer Profes‐ sion erfolgreich nachgehen. 21 Dass Aufführungen durch professionelle Unterhalter in der Regel schon im Frühmittel‐ alter mit dem Lachen verbunden waren, ist keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: Es ist äußerst schwierig, Lachen als Antwort auf unterhaltende Anlässe nachzuweisen, sowohl in literarischen als auch in historischen (Quellen-)Texten. 22 Von den wenigen über‐ lieferten Belegen zum Lachen während der Aufführung durch performer will ich zunächst zwei nennen: In Thegans Biographie Ludwigs des Frommen (Vita Hludowici, um 835) wird der König als vorbildlich dargestellt, eben weil er das Lachen vermeidet, und sich so von den anderen am Hof abgrenzt: „Niemals erhob er seine Stimme zum Gelächter, und selbst wenn bei den höchsten Festen, zur Freude des Volks, Schauspieler, Possenreißer und Mimen mit Flötenbläsern und Zitherspielern bei Tisch vor ihm erschienen, und das Volk in seiner Gegenwart maßvoll lachte, zeigte er nicht einmal seine weißen Zähne zum Lachen.“ 23 Er‐ wartbar war, dass der Geistliche Thegan das Lachen des Publikums nur „ad mensuram“ der Nachwelt überliefern wollte: Inwieweit das Gelächter am Hof Thegans die Grenzen des Anstandes überschritt, kann man bei den Auftritten von Schauspielern und Possenreißern nur ahnen. Die Frage, wie solche Auftritte geartet waren, und worüber die Anwesenden denn lachten, beantwortet teilweise der folgende Beleg: Der Geschichtsschreiber Adam von Bremen beschreibt im ausgehenden 11. Jahrhundert den Erzbischof Adalbert von Ham‐ burg-Bremen, ganz ähnlich wie Thegan Ludwig, als einen dem Spiel und der Unterhaltung fern stehenden Mann. Selten ließ er Musiker kommen, und Possenreißer (pantomimi), „wie sie das Volk gewöhnlich mit unflätigen Gebärden vergnügen, verwies er ganz aus seiner Gegenwart.“ 24 Dieser Hinweis auf die „obscenis corporum motibus“ zeigt nicht nur, wie üblich es war, dass unstatthafte Gesten und Körperbewegungen der Unterhaltung dienten, sondern deutet auch auf die zwingende Präsenz von Gelächter bei solchen Aufführungen hin. 25 Hier werden 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 182 <?page no="183"?> 26 So Gianni Celati in seiner Studie zum Komischen: „A partire dal mimo classico, per tutto il Medioevo, fino alle festività carnevalesche del Rinascimento e alla pratica teatrale della commedia dell’improv‐ viso, la costante risorsa del riso sta nella trivialità, nei termini sboccati e nella tematica dell’osceno.“ Celati, Gianni: Finzioni occidentali. Fabulazione, comicità e scrittura. 3. überarb. Aufl. Torino 2001, S. 56. 27 „Ai giullari si rimprovera soprattutto il carattere osceno dei loro spettacoli, il fatto che essi facciano un uso improprio del loro corpo, denudandosi in pubblico, travestendosi in abiti femminili o in sem‐ bianze da religiosi, e in quest’ultimo caso naturalmente le interdizioni sono numerosissime e parti‐ colarmente frementi di sdegno“. Saffioti stützt sich dabei auf eine Hs. vom Ende des 12. Jhs. Saffioti, I giullari, S. 60 f. 28 „Nec plausus et risus inconditos et fabulas inanes ibi referre aut cantare praesumat, nec turpia ioca com urso vel tornacibus ante se facere permittat, nec larvas daemonum, quas vulgo talamascas dicunt, ibi anteferre consentiat: quia hoc diabolicum est, et a sacris canonibus prohibitum.“ Hincmar: Capitula synodica I, 14; In: PL 125, 776 ( Jahr 852). Das Zitat zeigt, dass Hinkmar wie die meisten der christlichen Beobachter solcher Aufführungen diese als „teuflisch“ verdammten (vgl. dazu auch Kap. 3). So richtig dies ist, soll es um Wertungen hier gerade nicht gehen. Julia Zimmermann hat dies bereits in einem Aufsatz zum Tanz sehr detailliert dargelegt: J. Z.: histrio fit David. König Davids Tanz vor der Bun‐ deslade in der Ikonographie und Literatur des Mittelalters. In: König David - biblische Schlüsselfigur und europäische Leitgestalt. Hg. von Walter Dietrich, Fribourg 2003, S. 531-561. Amüsement und Kurzweil deutlich an das laute Lachen (cachinnos) geknüpft, das aus scur‐ rilitates, stultiloquia und den obszönen Handlungen und Spielen der Gaukler herrührt. Es geht also schon zu diesem frühen Zeitpunkt um öffentliche Ostentationen des Obszönen und Vulgären, aber auch des Einfältigen und Banalen, um lautes Gelächter auszulösen. 26 Saffioti unterstreicht im entsprechenden Kapitel seiner Studie, dass die Verdammung der performer durch die Kleriker ganz besonders auf Grund ihrer unangemessenen Körperins‐ zenierungen erfolgte, indem sie sich vor ihrem Publikum entkleideten, als Frauen oder Priester auftraten und deren Gesten und Rituale parodierten. 27 Wenig später nach Thegans Aussage knüpft auch Hinkmar von Reims (um 810-882) eine Reihe von üblichen mittelalterlichen Unterhaltungsformen an lautes Klatschen und Lachen; den Auftritt von Bärenführern, Tänzerinnen und Maskierten: „Es wird erwartet, dass weder Klatschen noch rohes Gelächter noch nichtiges Geschwätz die Aufführungenj und den Ge‐ sang begleiten soll, noch soll es erlaubt sein, unziemliche Spiele mit dem Bären oder den Auftritt von Tänzerinnen zu erlauben, noch dämonische Masken zu tragen; dies ist als teuflisch anzusehen und in den heiligen Schriften verboten.“ 28 Diese Belege aus dem Frühmittelalter zeigen, dass gauklerische Vorführungen auch dann von Lachen begleitet werden konnten, wenn sie in der Wahrnehmung des Publikums un‐ angemessene und unübliche Körperinszenierungen evozierten. Die Auffassung, dass ein „unzüchtiger“, nicht beherrschter Körper zum Lachen und eine Angelegenheit von Gauk‐ lern sei, lässt sich dann auch im Hohen Mittelalter antreffen. Wenn etwa Konrad von Haslau in seiner Hofzucht Der Jüngling (um 1270) die Körperkontrolle bei Tisch betont und als Negativbeispiel die Possenreißer anführt, welche das körperliche „stôzen und dringen“ mit dem sprachlichen „spotten“ und dem Lachen verbinden, dann ist hier ein Beispiel für den engen Zusammenhang jongleuresker Techniken mit dem Lachen zu erkennen: „Maneger vor dem tische stât / der anders niht ze schaffen hât / denne stôzen dringen spotten la‐ 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe 183 <?page no="184"?> 29 Konrad von Haslau: Der Jüngling. Nach der Heidelberger Hs. Cpg. 341 mit den Lesarten der Leipziger Hs. 946 und der Kalocsaer Hs. (Cod. Bodmer 72) hg. von Walter Tauber. (= ATB, 97). Tübingen 1984, Vv. 139-142. Überhaupt ist der Zusammenhang von „spotten“ mit der Tradition der Unterhalter etymologisch nahe liegend. Vgl. dazu Grimm: Deutsches Wörterbuch, s.v. spotten: „ausge‐ schlossppllen ist nicht, dasz wir es mit einem technischen ausdruck der alten gaukler und spielleute für ihre erheiternden und neckischen darbietungen zu thun haben, der in die allgemeine sprache der Hoch- und Niederdeutschen in gleicher form überging.“ Bd. 16, Sp. 2689. 30 Darauf weisen die häufigen Ermahnungen an Bischöfe und Äbte auf den Konzilien in karolingischer Zeit hin: von der Sitte, Spielleute zu fördern, Abstand zu nehmen. Vgl. Ogilvy, Mimi, Scurrae, Hist‐ riones, S. 612-614. 31 Zit. nach der Übers. von Bumke, Höfische Kultur Bd. 1., S. 305. 32 Faral, Les jongleurs en France, S. 170-172. Tiere werden oft zu Kennzeichen und Symbolen der Sünden von Fahrenden: Guillaume de Bar vergleicht die Jongleure mit Schweinen, Cuonrad mit Aasfliegen, doch meist wird der Vergleich zum Affen benutzt. Neben seiner tatsächlichen Rolle als Tier des Spektakels, symbolisiert der Affe wie kein anderes Tier mit seinen Fähigkeiten der Verstellung und Gestikulation den Teufel. Der Affe ist das Bindeglied zwischen der Welt des Jongleurs und der dä‐ monischen Welt. Vgl. die Arbeiten von Janson, Horst W.: Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance. London 1952. chen. / daz sollten gumpelliute machen. 29 Die Stelle verdeutlicht erneut, dass für eine an körperlichen Normen ausgerichteten Hofkultur körperliche Transgressionen in be‐ stimmten Situationen als anstößig galten, und wie eng sie mit Lachen verbunden waren. Mit der Zunahme an Belegstellen in literarischen Texten nahmen auch die positiven Urteile über die professionellen Unterhalter zu; so erklärt sich auch die Beobachtung ihrer nie zum Stillstand gekommenen Beliebtheit an den Adels- und Bischofshöfen, was schon im Frühmittelalter gut belegt ist. 30 In Berichten von höfischen Festen wird zunächst deut‐ lich, welch hoher Stellenwert dem menschlichen (und tierischen) Körper bei den Auffüh‐ rungen eingeräumt wurde: Im Lippiflorium, einer lateinischen Dichtung über das Leben des Freiherrn Bernhard II . zur Lippe, finden sich solche Gaukler, die mit ihren Händen Zau‐ berkunststücke vorführen, andere, die mit ihren Tieren gemeinsam auftreten und die glei‐ chen Gebärden machen, Jongleure, Tänzer, Akrobaten: „Der eine springt und vollführt mit seinen Gliedern verschiedene Bewegungen, beugt sich vor und zurück, bewegt sich im Zurückbeugen nach vorn, lässt die Hände anstelle der Füße gehen, streckt die Füße in die Höhe und heißt den Kopf unten zu sein, wie eine Chimäre.“ 31 Auch wenn Körperinszenierungen im Zentrum der unterhaltenden Aktivitäten der per‐ former standen, wurden die Künste der Possenreißer und Lustigmacher in der Forschung gerade nicht dem Körper, sondern der Fähigkeit zum Sprachspiel und zur linguistischen Ambiguität zugerechnet. Die Rolle des Körpers wurde in diesem Zusammenhang des Spottes und der Ridikülisierung bislang als marginal betrachtet. Dabei wird der Topos des „bloßen Körperkünstlers“ gegenüber dem eigentlichen Sprachkünstler, der schon im Mit‐ telalter selbst Bestand hatte, in die Neuzeit transponiert. Bereits in der Klage des Trouba‐ dours Guiraut Riquier in seinem Bittschreiben an König Alfons X. von Kastilien (1275) liegt diese moralische und ästhetische Differenz offen zutage: Man möge doch unterscheiden zwischen dem ehrlosen Volk jener, „die sich überschlagen, Affen tanzen lassen und einen sittenlosen Lebenswandel führen“, und den kreativen, werkschaffenden Troubadours, die ebenso Jongleure genannt werden. Der fingierte Alfons im Brief gibt den Rat, diejenigen, die sich niederer Unterhaltung abgeben, ab sofort bufos zu nennen. 32 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 184 <?page no="185"?> 33 Gerade die Histrionen definieren sich als diejenigen, welche mit den Bewegungen des Körpers und den Veränderungen des Gesichts die Gesten der anderen nachahmen. Dies behauptet Tornacensis, Stephanus: Die Summe des Stephanus Tornacensis über das Decretum Gratiani. Hg. von J. F. von Schulte. Gießen 1891, S. 107. 34 „In recitante sonent tres linguae: prima sit oris, altera rhetorici vultus, et tertia gestus.“ In: Geoffroy de Vinsauf: Poetria Nova. Zit. in: Faral, Edmond: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge. Paris 1971, S. 259. 35 „Utilizzando con tecnica consumata tutti gli strumenti espressivi della sua arte, il giullare disegna con gesto sapiente fughe e inseguimenti, tenere scene d’amore e drammi d’abbandono, tornei, nauf‐ ragi, incantesimi, cruente uccisioni ed epiche battaglie“ Saffioti, I Giullari, S. 117. 36 Zimmerische Chronik. Nach der von Karl Barack besorgten 2. Ausg. neu hg. von P. Hermann. Bd. 3. Meersburg / Leipzig 1932, S. 574 f. Man sieht, wie hier innerhalb der Gruppe der Unterhalter die Troubadours versuchten, Differenzen zu etablieren und sich gegen die Körperkünstler - wie immer berechtigt dies auch gewesen sein mochte - abzugrenzen. Dennoch ist es nach dem Stand der heutigen Forschung plausibel, dass die performer, um Lachen zu erregen, in entscheidender Weise ihre sprachlichen Äußerungen in Verbindung mit ihren Körpern eingesetzt haben. Es geht hier um Deformationen und Veränderungen des Gesichts, der Haltung und Bewegung, des Ganges, der Mimik und Stimme, der Gestik und der Kleidung. 33 Für Geoffroy de Vinsauf muss ein Jongleur um 1200 über drei Sprachen verfügen: die des Mundes, des Gesichtes und der Hände. 34 Die mimische und gestische Begleitung der Rede, der imitatorische Akt, das Nachäffen und die Mimikry, aber auch apotropäische Gebärden und die verschiedenen Formen der theatralen Verkörperung spielen hierbei die größte Rolle. Sie sind Teil jener sehr alten Tradition komischer Stegreiftechniken, die schon in der Antike greifbar sind und in zahllosen Varianten bis in die Neuzeit hinein tradiert wurden. Solche die Rede oder den Gesang begleitenden und den Ausdruck verstärkenden mimischen und gestischen Reper‐ toires schreibt Saffioti den ioculatores in Italien zu. Wenn der Sänger verschiedene Stimmen zu rezitieren hatte, konnte er dies tun, indem er Stimmlage, Timbre und mimischen bzw. auch den gesamten körperlichen Ausdruck der Rolle gemäß jeweils variierte. 35 Zu diesen Repertoires gehören auch rein performative Elemente, die keine direkte se‐ mantische Bedeutung transportieren, sondern sich durch Intensität auszeichnen, wie schnelle Bewegungen, Schreien und Lärmen, Springen und Rennen, Furzen und Rülpsen usw. So ist noch in der Zimmerschen Chronik von 1540 / 58-1566 von den Kunststücken des „Junker Wolf “ zu lesen: Also ist auch junker Wolf von Wissbaden ainer gewest. Der war in der jugendt ein schmidtknecht zu Wissbaden und nam sich solcher schalksnarrei an, ließ sich fatzen, und da etwa einer mit einem finger gegen im stupfet, so fiel er nider uf den boden; zu zeiten auch, so er uf einem ross saße, ließ er hendt und fieß geen und fiel herab, ob es gleich in einem waser were. Dergleichen dorheiten simulirt er vil und ganz maisterlichen. Mit solcher angenommener narrei kam er zu Pfalzgrave ludwigen, dem churfürsten an hof. Do hielt in menigclich für ein natürlichen rechten thoren. 36 Was hier von einem Schalksnarren des 16. Jahrhunderts vorgeführt wird, gehört zu jenem alten Stegreifrepertoire der Solokünstler, deren historische Invarianz zum ersten Mal der Schauspieler Luigi Riccoboni im ersten Band seiner Histoire du théâtre italien behauptet hatte. Riccoboni vertritt die Tse, das italienische Volkstheater habe seit der Antike nicht 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe 185 <?page no="186"?> 37 „Car si on ne doit pas donner le nom de Comédie aux insipides et indécentes boufonneries qui étoient representées de la sorte, on y démêlot du moins la semence de cette mauvaise plante que la Religion avoit arrachée.“ Riccoboni, Luigi: Histoire du théâtre italien. Vol. 1, Paris 1728 (ND Bologna 1969), S. 1. Dem folgte Flögel, Karl-Friedrich: Geschichte der komischen Litteratur: Mit Kupfern, Teil 4, Lieg‐ nitz / Leipzig 1787, S. 284. 38 Benz, Lore, Zur Verquickung von Sprachkomik, Körperwitz und Körperaktion, S. 270; Creizenach, Wilhelm: Geschichte des Neueren Dramas. Bd. 1: Mittelalter und Frührenaissance. 2. Aufl. Halle a. S. 1911, S. 383 f. und Kindermann, Heinz: Das Theaterpublikum des Mittelalters, Salzburg 1980, S. 128 f. 39 Aus der anonymen Dominikanerhandschrift Compilatio singularis exemplorum (1270-97): „Histrio quidam, incedens totus nudus exceptis brach(i)is, obviavit cuidam querenti si frigus haberet. Res‐ pondit: Non. - Immo ad visagium? - Certe, inquit, ego sum totus visagium.“ Zit. aus Hilka, Alfons: Vermischtes zu den mittelalterlichen Vaganten, Gauklern und Gelegenheitsdichtern. Studi medievali N. S. 2 (1929). S. 417-424, hier S. 419. Das Zitat wird von Katrin Kröll in ihrer originellen Studie zur grotesken Darstellung in der mittelalterlichen Kunst (Mein ganzer Körper ist Gesicht. Freiburg 1994) programmatisch verwendet. 40 Petrus Cantor: Verbum abbreviatum. In: PL CCV, 255. Vgl. hierzu zwei thematisch passende Illumi‐ nationen: Abb. 1 u. 2 aus dem Roman de Fauvel (1317), ms. BN fr. 146, fol. 34 u. 36. aufgehört zu existieren, habe nur im Verborgenen und auf den Plätzen des Volkes über‐ lebt. 37 Er zieht dafür mehrere Vergleiche zwischen den Masken der commedia dell’arte und den antiken Mimen und Possenreißern. Diese Ansicht Riccobonis, der sich für die europä‐ ische und deutsche Tradition der Aufführungen von Alleinunterhaltern Creizenach und Kindermann angeschlossen haben, wird auch heute noch allgemein akzeptiert: „An der Beliebtheit der mimischen Soloszenen, der einstimmigen wie der mehrstimmigen, änderte sich durch die Jahrhunderte nichts. Noch im Mittelalter sorgte man im Rahmen der Jocu‐ latoren- und Spielleute-Darbietungen mit solchen Auftritten für ausgelassene Heiterkeit.“ 38 In welchem Ausmaß die professionellen Unterhalter sich der Körperkunst bedienten, zeigt ein kurzer Dialog in einer anonymen Exempelsammlung vom Ende des 13. Jahrhun‐ derts. Ein als histrio bezeichneter, nur wenig bekleideter Gaukler wird gefragt, ob ihm denn nicht kalt sei; als er verneint, wird die Frage konkreter: auch nicht im Gesicht? Nein, auch nicht im Gesicht, denn „ego sum totus visagium“ (mein ganzer Körper ist Gesicht). 39 Diese Antwort kann als Hinweis darauf dienen, wie mittelalterliche performer den ganzen Körper als Erweiterung des Gesichtssinnes in seiner Funktion als Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsmittel begreifen konnten. Der ganze Körper wird zur Projektions‐ fläche von Emotionen und triebhaften Bedürfnissen, aber auch von semantischen Projek‐ tionen. Diese durch Körperinszenierungen hergestellten Projektionen sind dann in hohem Maße transgressiv, wenn sie die Grenze zur Norm und zu der sie tragenden kulturellen Ordnung performativ überschreiten. Dies geschieht vor allem durch imitatorische Akte und Akte der Verstellung, denen ein subversives Potential innewohnt, und durch hybridisie‐ rende Akte, wenn Geschlechtergrenzen überschritten und aufgehoben werden, wenn die Grenze zum Tierischen bzw. zum Monströsen sich in einen hybriden Raum auflöst. Dies ist etwa der Fall bei den Körpertransformationen der scurrae und ioculatores, deren Tierfelle, Masken, falsche Bärte, und allerlei Verkleidungen Petrus Cantor in einem Negativurteil erwähnt: „His pellibus, et aliis animantium, nobis barbas atificiales, tu larvati incedamus, comparamus, abrasis naturalibus, propter mollitiem, effeminationem, et luxuriam, cum meretricibus nitor, habitus histrionicus vel regius apparatus, non deceat humilitatem, non congruat Christiano.“ 40 Oft wird auch starke, die Gesichtszüge entstellende Schminke für 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 186 <?page no="187"?> 41 Etienne de Bourbon, Tractatus de diversis materiis praedicalibus. Zit. in Casagrande / Vecchio, L’in‐ terdizione del giullare, S. 308 f. die Auftritte der Gaukler benutzt: „ad similitudinem illorum joculatorum qui ferunt facies depictas, quae dicuntur artificia gallice, cum quibus ludunt et homines deludunt.“ 41 Abb. 1: Maskierte bei Charivari. Aus: Roman de Fauvel (1317), ms. BN fr. 146, fol. 34 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe 187 <?page no="188"?> Abb. 2: Maskierte ioculatores. Aus: Roman de Fauvel (1317), ms. BN fr. 146, fol. 36 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 188 <?page no="189"?> 42 Im 13. Jh. werden ausgeschnittene Röcke sowohl für Narren als auch für Musiker verwendet, jeweils in Kombination mit einem zweifarbigen Gewand. Beides waren Kennzeichen für niedrigen Stand. Vgl. Mellinkoff, Ruth: Outcasts: Signs of Otherness in Northern European Art of the Late Middle Ages. Berkeley / Los Angeles / Oxford 1993, S. 8. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Narren und Unter‐ halter auffällige und farbige Kleidung trugen, denn abschätzige Bemerkungen über allzu modisches Auftreten bei Hof wurden im 12. und 13. Jh. häufig mit der Kleidung von Narren und Unterhaltern verbunden. Ebd., S. 12. Ein Beispiel zeigt die Abb. 3 aus dem Hausbuch von Schloß Wolfegg (1480), fol 3r (Meister der Gauklerszene im Hausbuch). Mittelalterliches Hausbuch. Bilderhandschrift des 15. Jahrhunderts mit vollständigem Text und facsimilierten Abbildungen. Hg. vom Germanischen Na‐ tionalmuseum Nürnberg. Leipzig 1867, ND Olms, Hildesheim 1986. Was die Kleidung der ioculatores angeht, so unterstützte sie über ihre soziale und rechtliche Bedeutung hinaus Aufführungen und Handlungen. Sternförmige Rockzipfel als Zeichen der Dienerschaft, Schellen bzw. Narrenkappe als Kennzeichen der Narrheit und zweifarbige, bunte Kleidung mit engen Hosen und Schnabelschuhen als Merkmal der Abhängigkeit sind allgemein bekannte Aspekte des jongleuresken Auftritts. 42 Doch sie hatten auch ihre Funk‐ tion in der Wahrnehmung der Unterhalter: So unterstützten ausgefranste Röcke, Schellen und lange Hemdsärmel beim Springen und Tanzen durch den Eindruck der Leichtigkeit und Flüchtigkeit den unterhaltenden, teils auch lächerlichen Effekt der Bewegungsformen. Körperinszenierungen beschränken sich somit nicht allein auf redebegleitende Mimik und Gestik, oder auf tänzerische und gauklerische Einlagen, sondern sie bezogen sich auf die Wahrnehmung des gesamten Auftritts der Unterhalter: Und hier ging es nicht immer um die Repräsentation von Handlungsfolgen, sondern auch um das Erleben überschwänglicher Motorik und einem kinästhetischen Surplus, das sowohl Staunen als auch Lachen auszu‐ lösen vermochte. 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe 189 <?page no="190"?> Abb. 3: Performance von Gauklern in mi-parti- Kleidung. Hausbuch von Schloss Wolfegg fol. 3r (nach 1480) 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 190 <?page no="191"?> 43 Zur Präsenz von Tieren vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 176-186. Die Tiere haben meist keine besondere Funktion: ihre Präsenz reicht aus, es genügt, wenn sie anwesend sind und ihre Unverfügbarkeit zeigen. „Der Auftritt von Tieren lagert der Inszenierung ein subversives Mo‐ ment ein, das sie zu sprengen droht, gleichwohl für die Zuschauer jedoch eine große Faszination bereithält“, S. 186. 44 Den Zusammenhang mit dem Lachen etwa zeigt Hertz sehr schön an einer Quelle aus Arras, die mit den Worten schließt: „ (...)und trieben alle jene tollen und derben Possen, an denen sich einst der kranke liebe Gott in Arras gesund gelacht hat.“ Hertz, Spielmannsbuch, S. 216. 45 So werden im Karlmeinet Gaukler beschrieben, „de ouch konden / Dantzen mit den hunden.“ (V. 287 ff.) Meist wurden die Hunde durch Dressur dazu gebracht, sich auf die Hinterbeine zu stellen und dann drehende oder tanzähnliche Bewegungen zu vollführen. Die Zuschaustellung von Tanz‐ bären durch Gaukler kann bis ins 7. Jh. zurückverfolgt werden (unter den Vaganten werden mehr‐ heitlich Ungarn, Zigeuner, Böhmen und Juden genannt). Im 13. Jh. war es so sehr üblich geworden, dass aus fast allen Ländern Europas Zeugnisse für das Bärenführen vorliegen. Die Bärenführer (ur‐ sarii) zogen den Bären an einem Seil oder tanzten mit ihm: „mit ainem pern vnd (sind) gesprungen.“ Hartung, Die Spielleute, S. 63 f. Selbst bei den Aufführungen mit Tieren kann in dem Moment gelacht werden, wenn die unheimliche Präsenz des lebendigen (wilden) Tieres - etwa beim Bären -, seine Unverfüg‐ barkeit und Unkontrollierbarkeit durch Zähmung und die Nachahmung menschlicher Handlungen und Bewegungen durch das Tier aufgehoben wird: das Tanzen, im Kreis laufen, Männchen machen usw. vermindern die Unverfügbarkeit und lassen das Tier als Popanz, als manipulierte Puppe erscheinen. 43 Die mit Risiko und Faszination verbundene Vorstel‐ lung, dass die Präsenz des Tieres statt einer geplanten Aktion etwas Unvorhergesehenes auslöst, wird durch die Anthropomorphisierung des Tieres konterkariert und entschärft; aus dieser Ambivalenz von Gefahr und ihrer Überwindung kann Lachen als Antwort auf rituelle Entlastung auftreten. Ich fasse nun die bei Faral und Hertz zusammengestellten Körperbilder von Unterhaltern im Mittelalter zusammen, die im weitesten Sinne Lachen ausgelöst haben können: 44 (1) Akte, die den ganzen Körper betreffen: tanzen, springen, hüpfen, luftspringen, Pur‐ zelbäume und Räder schlagen, mit Tiermasken auftreten, obszöne Gesten aufführen (die jeweils Phallus oder Anus fokussieren), den Betrunkenen oder Dummen spielen, ringen, Haltungscodes von bestimmten Ständen oder Herkunftsorten (Ländern) pa‐ rodieren. (2) Akte, die das Gesicht betreffen: Fratzen machen, Gesichtsausdrücke parodieren, zannen, Zunge zeigen, die Nahrungsaufnahme imitieren, mit übertriebener Mimik sprechen. (3) Akte, die mit der Stimme vollführt werden: mit veränderter Stimme sprechen und singen, Vogel- und Tierstimmen nachahmen, ausrufen, schreien, übertrieben weinen und lachen, weltliche und geistliche Stände stimmlich und körperlich parodieren. (4) Akte, die die Arbeit mit Händen und Geräten betreffen: mit dem Kolben / der Pritsche schlagen, auf dem Seil tanzen, mit Bällen und Hölzern (Lodder) jonglieren, Messer werfen, Feuer schlucken, Taschenspielertricks mit Kleidungsstücken, Bechern und Ketten vorführen, Puppenspiele aufführen. (5) Akte, die die Arbeit mit Tieren betreffen: Bären, Hunden, Ziegen u. a. dressieren, mit ihnen tanzen und sie Kunststücke machen lassen. 45 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe 191 <?page no="192"?> 46 Plessner, Helmuth: Der imitatorische Akt (1961). In: H. P.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesam‐ melte Schriften VII. Hg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Stöker. Frankfurt a. M. 2003, S. 446-458, hier S. 453. 47 Plessner, Helmuth: Zur Anthropologie der Nachahmung (1948). In: H. P.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Hg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Stöker. Frankfurt a. M. 2003. S. 389-398, hier S. 398. 48 Ebd., S. 393. 49 Ebd., S. 396 f. 50 Vgl. dazu etwa Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2003. Althoff zeigt etwa auch, dass histrionische Fertigkeiten in bestimmten Fällen politisch benutzt wurden, und zwar von den Akteuren selbst. So galt der Erzbischof von Mainz, Albero, wegen seiner Listen, Verkleidungen und Verstellungen allen als Sehenswürdigkeit, als spectaculum. (Balderici Gesta Alberonis. Hg. von Waitz, MGH SS 8. Hannover 1848, S. 243-260). Die Mehrheit dieser Körpertechniken der Spielleute beruhen im Grunde auf zwei Basisfel‐ dern der Selbstdistanzierung: auf Nachahmung und auf Bewegung. Beide Felder über‐ schneiden und überlagern sich. So ist jeder Akt der Verstellung, Verkleidung und Mimikry im Grunde die Nachahmung eines Anderen. Die mimische Verstellung in der Fratze, die stimmliche Verstellung beim Bauchreden und bei der Stimmimitation, die Verstellung des Körpers bei der Nachahmung von Tieren, die Verkleidung und Maskierung - überall werden Andere imitiert, andere Menschen, aber auch Dämonen, Geister, Tiere. Dieses In-Dis‐ tanz-Treten zu sich selbst, mit dem Körper ein Anderer werden, ist der Grundzug der Nachahmung und wichtigste Basis der histrionischen Körpertechniken. Helmuth Plessner hat solche Akte des Sich Verstellens und des Imitierens auf seine The‐ orie des menschlichen Körper bezogen: „Nachahmung und Sichverstellen müssen von der körperlichen Situation des Menschen her gesehen werden, seinem Verhältnis zum eigenen Leib, zu sich und den anderen.“ 46 Die Möglichkeit der Nachahmung, die der Mensch allein besitzt, so Plessner, „gründet in der unaufhebbaren Fernstellung des Menschen zu sich, welche in Verkleidung, Verstellung wie überhaupt in dem Grundzug seines Wesens: eine Rolle zu spielen sich kundgibt.“ 47 Plessner begreift die Nachahmung als „Problem der (...) präzisen Entsprechung zwischen dem bewegten Bilde (des Anderen) und meinen leibhaften Bewegungen…“. Das nennt er den „gemeinsamen Ausdruckssinn.“ 48 Die dem Menschen vorbehaltene „echte Nachahmung“ sei nur aus der exzentrischen Position des Menschen möglich und bilde „insofern als Distanz zum eigenen und fremden Gebaren ihre Basis (...). Nachäffen kann nur der Mensch, nicht der Affe“ (…). Auf der Exzentrizität beruht das Ver‐ ständnis für die Reziprozität des Körperschemas und des Blicks.“ 49 In Plessners Reflexionen zur Nachahmung anderer wird die Sprengkraft des imitatori‐ schen Auftritts deutlich. In einer Kultur, in welcher die schriftliche Verfasstheit von Regeln, Normen und Verhaltensweisen nur eine untergeordnete Rolle spielt, und stattdessen die performative Präsenz des Körpers solche Regeln, Normen und Verhaltensweisen vollzieht, in einer solchen Kultur kommt es unter allen Umständen auf die Einhaltung körperlicher und sprachlicher Verhaltensmuster an. In zahlreichen Studien hat die historische Mediä‐ vistik der letzten Jahre den demonstrativen Charakter menschlichen Verhaltens im Mittel‐ alter herausgearbeitet: Eine Fülle von Ritualen, zeremoniellen Handlungen, Gesten und Gebärden, Sitten und Gebräuchen regulierten die kommunikativen Abläufe des Zusam‐ menlebens, vor allem aber die sozialen Positionen. 50 Wenn nun diese körperzentrierten 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 192 <?page no="193"?> 51 Plessner, Helmuth: Zur Anthropologie des Schauspielers (1948). In: H. P.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Hg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Stöker. Frankfurt a. M. 2003. S. 403-418, hier S. 404. 52 Plessner Der imitatorische Akt, S. 452. Regulatoren, die Rituale und demonstrativen Handlungen, in einem spielerischen Rahmen verdoppelt bzw. verzerrt werden, durch Imitation und Nachahmung verletzt oder gar ne‐ giert werden, dann ist auch ihre Gültigkeit in Gefahr. Der Possenreißer, welcher mit seinem Körper die Distanz zwischen eigenem und fremdem Gebaren, eigener und fremder Stimm‐ lichkeit und Mimik aufführt, gefährdet somit in hohem Maß die Grundsätze eines auf der zeichenhaften Geltung dieses Gebarens, dieser Stimmlichkeit und Mimik beruhenden Ver‐ trags. Doch hat er die Lizenz zur Aufführung dieser Gefährdung, weil er sie spielerisch, in einem spielerischen Rahmen in Szene setzt, sodass jeder weiß: Dies ist nur Spiel. Was Plessner über den Schauspieler sagt, gilt auch für die performer des Mittelalters, die andere Menschen verkörpern: „Menschen lösen sich von sich ab, verwandeln sich in andere. Sie spielen ein anderes Sein.“ 51 Der Hiatus zwischen fremdem und eigenem Körper, das Risiko, das zwischen dem aufgeführten Geltenden und dem aufgeführten Spiel liegt, das das Gel‐ tende imitiert, verdoppelt und vernichtet, führt zum Lachen: Lachen über den Rahmen des Spiels, Lachen über die unmögliche, doch stattfindende Verdopplung und Lachen über die Komik des Vorgangs. Diese drei Grundbedingungen der modalen Komik müssen auch hier vorhanden sein: das Rahmensignal, das aus Überlagerungen zusammengesetzte komische Bild und der komische Vorgang. Die Wahrnehmung des imitatorischen Aktes macht dabei genauso viel Freude wie seine Inszenierung. Nochmals Plessner: Das Schauspielern als solches macht Spaß, einfach weil es dabei um Verkörperung geht. Sich be‐ nehmen wie (…) tun als ob (…) macht dem Menschen sein Verhältnis zum eigenen Leib erst ge‐ genständlich. Normalerweise hat das Verhältnis instrumentalen Charakter, im praktischen Um‐ gang, im expressiv vermittelten Kontakt zu anderen. Die Imitation dagegen wirft uns auf unseren Leib als solchen, auf unser Gesicht, unsere Haltung, unsere Art zu sprechen zurück. Sie entdeckt die Maske an unserer Art zu sein. Deshalb schneiden Kinder so gern Gesichter und sind für jede Clownerie das dankbarste Publikum. Wir stecken eben ‚in‘ uns und sind ‚hinter‘ unserer eigenen Oberfläche. Die Freude am Sichverstecken, an der Verstellung und an der Verkleidung haben also die gleiche Wurzel wie der Drang zur Imitation.“ 52 Über Imitation und Parodie kann jeder lachen, der die Maskenhaftigkeit des Geltenden durchschaut hat; wer sie jedoch als ungeteilt und als unteilbar Geltendes ansieht, wird über die Possen eines scurra nicht lachen können. Denn mit der Imitation wird nicht nur das Geltende gefährdet, sondern auch das Bild des einheitlichen Körperschemas des Menschen, so wie es etwa in der christlichen Vorstellung als Abbild Gottes geschaffen wurde. Jede Veränderung dieses menschlichen, als Ebenbild Gottes geschaffenen Körpers - wie etwa in der Transgression der Körpergrenzen in der Imitation von tierischen Lauten und Bewe‐ gungen - wird als Eingriff des Teufels wahrgenommen, und dies nicht nur semiotisch, sondern auch affektiv. Dass Emotionen wie Abscheu, Verachtung, Angst und Hass hier im Spiel sind, wird beim Lesen der theologischen Quellen und ihrer Formulierungen immer wieder deutlich. 4.2. Körperinszenierungen als Lachanlässe 193 <?page no="194"?> 53 Der folgende Abschnitt zu Hofnarren rekurriert hauptsächlich auf zwei bereits publizierte Beiträge von mir: Komische Körper. Zur Funktion von Hofnarren und zur Dramaturgie des Lachens im Spät‐ mittelalter. Zeitschrift für Germanistik N. F. Jg. XI (2001) H. 2, S. 292-317; Art. „Hofnarren“. In: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe. Hg. von Werner Paravicini. Bd. 1: Begriffe. Wiesbaden 2005, S. 65-69. 54 Vgl. zu Geschichte und Funktion von Hofnarren Welsford, Enid: The Fool. His Social and Literary History. London 1935; Lever, Maurice: Zepter und Schellenkappe. Geschichte des Hofnarren. München 1983 (Frz. Orig.: Le sceptre et la marotte. Paris 1983); Mezger, Werner: Hofnarren im Mittelalter. Vom tieferen Sinn eines seltsamen Amts. Konstanz 1981. 55 Der Psalmnarr, der alttestamentarische insipiens, stultus oder fatuus, dessen Torheit und Gottesleug‐ nung in den Kontext von Sünde und Tod gestellt wird, ist ikonographisch im Anfangsbuchstaben D des Psalms 52 „Dixit insipiens: Non est Deus“ überliefert. 4.3. Hofnarren 53 Stultitiam simulare loco prudentia summa est. Seneca, Disticha Catonis, II,19 Auch wenn Hofnarren in Spätmittelalter und Früher Neuzeit in ganz Europa verbreitet und bekannt waren, ist ihre Erscheinung weder an diese Epoche noch an das christliche Abend‐ land gebunden. Hofnarren sind bereits im 6. Jahrhundert v. C. an den chinesischen Kaiser‐ höfen, an den Höfen der ägyptischen Pharaonen, jenen des Vorderen Orients und Grie‐ chenlands sowie an römischen Kaiserhöfen bekannt. Gemeinsam ist ihnen die Zuordnung zum Sozialsystem „Hof “ als Lebens- und Wirkungsfeld, wobei sie direkt dem Herrscher oder der Herrscherin unterstellt sind, mit denen sie häufig über ein Scherzverhältnis ver‐ traut sind und nach außen hin symbolisch als ihr Negativbzw. Abbild, manchmal als ihr Doppelgänger fungieren. Ihre transhistorisch invariante Hauptaufgabe ist es, über die Li‐ zenz zu normabweichendem Körper- und Sprachverhalten (Narrenfreiheit) auf vielfältige Weise den Hof zu unterhalten und Lachen zu erregen. Daneben spielen auch jeweils kultur- und epochenspezifisch codierte Funktionen eine Rolle, wenn Hofnarren zur höfischen Prachtentfaltung, als Fürstenberater, Glücksbringer oder lebende Zeichen christlicher ca‐ ritas gehalten werden. 54 Zeit und Ort ihres Aufkommens in Europa sind ungeklärt: möglich ist sowohl eine Ein‐ führung aus dem Orient im Gefolge der Kreuzzüge oder über den byzantinischen Einfluss in Italien, als auch die innereuropäische Herausbildung aus griechisch-römischen, kelti‐ schen und fränkischen Unterhaltern. In Europa werden sie im 13. Jahrhundert aktenkundig, doch einzelne Belege von west- und südeuropäischen Königs- und Fürstenhöfen machen ihre Existenz bereits seit dem 10. Jahrhundert wahrscheinlich. Insgesamt ist das gesicherte historische Wissen über Hofnarren vor dem 13. Jahrhundert gering, und auch später sind literarische und ikonologische Quellen am reichhaltigsten überliefert, deren Semantik je‐ doch nicht ohne weiteres auf historische und soziale Bedingungen übertragen werden kann. So unterscheiden sich historische Hofnarren in Aussehen und Funktion z. T. erheblich von anderen Narrentypen wie den ikonologischen (Psalmnarr, insipiens) 55 und literarischen Fi‐ gurationen (etwa den „wilden“ Narren der höfischen Literatur, den seit Brants Narrenschiff vorherrschenden universalen Sünder-Narren bzw. den Narren im weltlichen Spiel) oder den volkstümlichen Narren (Fest- und Karnevalsnarren). Man unterscheidet schon im 12. Jahr‐ 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 194 <?page no="195"?> 56 Vgl. für das Spätmittelalter Konrads von Megenberg Buch der Natur (1349 / 50). Conradus de Megen‐ berg: Das Buch der Natur. Bd. 2: Kritischer Text nach den Handschriften. Hg. von Robert Luff und Georg Steer. Tübingen 2003 (Buch VIII: Von den wunderleichen prunnen, Vv. 19 ff.). 57 Vgl. Schmitz, Heinz-Günther: Das Hofnarrenwesen der frühen Neuzeit: Claus Narr von Torgau und seine Geschichten. Münster 2004. hundert zwischen natürlichen und künstlichen Narren): als natürliche Narren (stulti, fatui, moriones) gelten geistig und körperlich Geschwächte, die an den Höfen einen relativ gesi‐ cherten Ort der Existenz fanden, auch wenn ihre Duldung oft mit Prügel und Spott und somit mit Gelächter verbunden war, dem Grund ihres Aufenthalts. Der Wahnsinn als ge‐ nuine Form menschlicher Alterität war so von Beginn an Teil der Faszination am Narren, da er die Unvernunft nicht nur symbolisch darstellte, sondern sie verkörperte. 56 Die Nach‐ ahmung der Geisteskranken und Naiven durch professionelle Spaßmacher war Anlass für die Herausbildung der künstlichen Narren (scurrae, buffones), die wohl schon im 14. Jahr‐ hundert die Mehrheit der Hofnarren darstellten und sich aus der Gruppe der Fahrenden rekrutierten. Allerdings wirken an vielen Höfen beide Narrentypen gemeinsam. Zudem lassen sich fest angestellte Hofnarren, die zur familia des Herrschers zählen und meist mit Namen überliefert sind, von temporär beschäftigten Narren seiner weiteren Entourage un‐ terscheiden. Die höfische Unterhaltung mit ihrem wichtigsten Aspekt, dem Auslösen von Lachen war somit das verbindende Element der verschiedenen Hofnarren: Während bei den natürlichen Narren ein teratophiles Interesse des Hofes und die Lust an kindlich wirkenden Verhal‐ tensweisen im Vordergrund stand, war es bei den Spaßmachern und Buffonen eher die schauspielerisch-komödiantische Interpretation von transgressiven Verhaltensweisen. Zu ihrem vielgestaltigen Tätigkeitsbild gehörten daher neben körperlich-mimetischen Fähig‐ keiten wie der Gestalt- und Stimmimitation oder Tänzen, Sprüngen und Grimassen auch musikalische Darbietungen wie das Singen und das (falsche) Spielen verschiedener Instru‐ mente. Später zählten auch mehr und mehr erzählerisch-sprachliche Fertigkeiten beim Vortrag von lustigen Geschichten und Anekdoten, von selbst verfassten Liedern oder Rät‐ seln und dem Abhalten von Spottpredigten, bzw. konversationelle Fähigkeiten wie das An‐ bringen von Ironie und Bonmots sowie schlagfertige Bemerkungen zu ihrem Arbeitsbe‐ reich, woraus sich die heutige Perspektive auf die „Narrenfreiheit“ vor allem speiste. Entscheidend für den Erfolg und die Unbeschadetheit der Hofnarren war es, die Balance zwischen Ehrerbietung und Respektlosigkeit zu halten. Spezifische Anlässe ihres Wirkens waren vor allem die tägliche Mahlzeit, sowie Ausfahrten, Jagd, Feste, Sieges- und Trauer‐ umzüge. Hofnarren waren somit Verbreiter höfischer Freude (iocunditas), was nicht allein bedeu‐ tete, dass sie wichtig für den Vertreib der Langeweile und später der Melancholie am Hof, 57 sondern auch für die Entschärfung von Konflikten bzw. die Regulierung höfischen Kon‐ kurrenzverhaltens durch die Möglichkeit des Ablachens von Spannung und Aggressionen bedeutsam waren. Die ständige Anwesenheit in der Nähe des Fürsten trug zu einem spe‐ ziellen Scherz- und Vertrauensverhältnis zu diesem bei. Zudem gehörten sie mehr und mehr zu seinem repräsentativen Erscheinungsbild, dessen Präsenz und Ehre sie, wie andere mi‐ rabilia und Exotismen (Zwerge, Mohren, Affen, Raubvögel und -katzen), im Sinne der Prachtentfaltung stärken und vermehren halfen. Allerdings waren sie durch ihre niedrige 4.3. Hofnarren 195 <?page no="196"?> 58 Vgl. Barwig, Edgar u. Schmitz, Ralf: Narren - Geisteskranke und Hofleute. In: Randgruppen der spät‐ mittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch. Hg. von Bernd-Ulrich Hergemöller. 2. Aufl. Warendorf 1994, S. 220-252, hier S. 221. 59 Ménard, Philippe: Les Fous dans la Société médiévale. La Témoignage da la Litterature au XIIe et au XIIIe Siècle. Romania 98 (1977), S. 433-459, hier S. 449. 60 Lever, Zepter und Schellenkappe, S. 112 f. 61 Villani, Filippo: Liber de Civitatis Florentiae famosis civibus (1390-1405). Hg. von G. C. Galletti. Flo‐ rentiae 1847, S. 36. soziale Stellung auch vielfältigen Demütigungen und Züchtigungen von Seiten der Herren und der Hofgesellschaft unterworfen. 58 Die Berichte über das Aussehen der Hofnarren im 13. und 14. Jahrhundert sind sehr unterschiedlich: Fraglich ist, ob Hofnarren tatsächlich das literarisch überlieferte Äußere von Narren (Kahlkopf, Kreuztonus oder zerzauste Haare als Kennzeichen der Narrheit, meist verbunden mit einem sehr einfachen Gewand minderer Qualität und dem Narren‐ kolben zur Abwehr von Hunden und spottenden Jugendlichen) 59 oder des ikonographisch überlieferten Narrenkostüms aufwiesen (Haube mit Eselsohren, Schellen, Flickengewand, Marotte als Szepterimitation). Eine mögliche Hypothese zur Erklärung der Unterschiede ist auch hier die Trennung zwischen natürlichen und künstlichen Narren. Sicher wissen wir, dass (künstliche) Hofnarren an Königshöfen schon im 14. Jahrhundert reich belohnt und ausgestattet wurden (mi-parti-Kleidung, Reitpferd, Diener), sei es für Repräsentations‐ zwecke oder aus Gründen der sichtbaren Zugehörigkeit zum Fürsten. 60 Letztere teilten die Hofnarren mit den Herolden, mit denen sie noch weitere Gemeinsamkeiten verbindet: Beide Gruppen erfahren einen Aufstieg im 14. Jahrhundert, der Herold hat ebenso zeremo‐ nielle Aufgaben, was sich etymologisch in der ml. Bedeutung des Wortes buffo(ne) und dem heraldische Funktionen ausübenden Buffone di Palagio (14. Jahrhundert) widerspiegelt. Dass frühe professionelle Hofnarren des 13. und 14. Jahrhunderts bereits Kennzeichen des (humanistischen) vir facetus trugen, zeigt der Eintrag in Villanis Florentiner Chronik zum berühmten ferraresischen Hofnarren Gonnella: „Petrus Gonnella, qui Opizzo Marchioni Estensi iucundissima familiaritate adhaesit, homo sane industriosus et diligens facetiarum multarum inventor, quae artem histrionicam venustarent.“ 61 (Abb. 4) Die Tatsache, dass Gonnella mehrere Nachfolger gleichen Namens hatte, zeigt, dass diese oft nicht an Personen gebunden waren, sondern Rollennamen darstellten. 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 196 <?page no="197"?> Abb. 4: Jean Fouquet (1442): Der ferraresische Hofnarr Gonnella (Kunsthistor. Museum Wien) 4.3. Hofnarren 197 <?page no="198"?> 62 Zuerst Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1981, Kap. 1 (Frz. Orig.: Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1972). Dann Fritz, Jean-Marie: Le discours du fou au Moyen Age. Paris 1992, S. 165-91, sowie Groß, Angelika: La Folie. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild. Heidelberg 1990 und Matejovski, Dirk: Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung. Frankfurt a. M. 1996. 63 Vgl. Swain, Barbara: Fools and Folly during the Middle Ages and the Renissance. Diss. Columbia Univ. New York 1932, S. 54 ff. 64 Vgl. Willeford, William: The Fool and His Scepter. A Study in Clowns and Jesters and Their Audience. Chicago 1969, S. 14. 65 Sachsenspiegel. Landrecht. Hg. von K. A. Eckhardt. 2. neubearb. Aufl. Göttingen u. a. 1955, S. 195. 66 Zur Unterscheidung „natürliche“ und „künstliche“ Narren vgl. Schmitz, Das Hofnarrenwesen der frühen Neuzeit, S. 24 ff. 67 Lever, Zepter und Schellenkappe, S. 106 f. Anderen Auffassungen zufolge geht die Einrichtung des Hofnarrentums als eines höfischen Amtes auf Karl V. von Frankreich zurück, der den ersten Narren en titre d’office einsetzt. Vgl. Santucci, Monique: Le fou dans les lettres francaises médiévales. Les lettres Romanes 36 (1982), S. 203. Zuvor sind Narren zwar in der Umgebung der meisten europäischen Fürsten zu finden, jedoch noch mit ungefestigter Rechtsstellung. Amelunxen stellt für den deutsch‐ sprachigen Raum fest, dass es sich dabei meist um Ehrlose, also Fahrende handelte, die zu Narren werden. Der Sachsenspiegel nennt Schalksnarren im Zusammenhang mit unehrlichen Leuten wie Henkern, Schindern und Vaganten. Vgl. Amelunxen, Clemens: Zur Rechtsgeschichte der Hofnarren. Berlin 1991, S. 11. ‚Natürliche‘ und ‚künstliche‘ Narren am Hof Das Bild vom Narren der Vormoderne wurde in den letzten Jahrzehnten im Gefolge von Michel Foucaults Studie Wahnsinn und Gesellschaft stark von pathologischen Aspekten be‐ stimmt. 62 Die mittelalterliche Wahrnehmungsweise von Geisteskranken unterscheidet sich von der modernen jedoch fundamental; noch waren kaum ethisch-moralische oder rituelle Tabus in Kraft, die das Lachen über geistig und körperlich Geschwächte einschränkten. Wie auch in der Antike dominierten die Freude an der Wahrnehmung menschlicher Defekte sowie die Gewalt gegenüber ihren Trägern. Seit dem 12. Jahrhundert liegen Belege darüber vor, dass die „natürlichen“ Narren meist noch im Kindesalter an die Höfe gebracht wurden, wo sie zusammen mit körperlich Verwachsenen (Krüppeln und Zwergen) der Zerstreuung dienten. 63 Zwerge waren schon seit dem 10. Jahrhundert bekannt: Der erste dokumentierte Hofzwerg in England war Xit am Hof Edwards VI . 64 Überall in Europa unterlagen geistig und körperlich Deformierte der Vormundschaft und besaßen keinen Rechtsanspruch (im Sachsenspiegel heißt es: „Over rechte doren unde sinnelose man ne scal nen ok nicht richten“) 65 und konnten für ihr Tun daher auch nicht haftbar gemacht werden. Sie wurden von „künstlichen Narren“ unterschieden, professionellen Spaßmachern, Gauklern und Possenreißern, die aus der Nachahmung der natürlichen Narren hervor‐ gingen und mit großer Wahrscheinlichkeit den Fahrenden zugehörten. 66 Maurice Lever sieht gar den Beginn des rechtlichen Status der Hofnarren im Bestreben der Fürsten, fah‐ rende Unterhalter und Possenreißer dauerhaft an den Hof zu binden. 1316 verleiht deshalb Philipp V. von Frankreich seinem Narren Geoffroy ein höfisches Narrenamt (titre d’office), was der Institutionalisierung des professionellen Hofnarrentums gleichkommt, gebräuch‐ lich auch für alle folgenden Narren am französischen Königshof. 67 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 198 <?page no="199"?> 68 So bezeichnet sie: Lanza, Diego: Lo stolto. Di Socrate, Eulenspiegel, Pinocchio e altri trasgressori del senso comune. Torino 1997, S. 60. 69 Diese Bezahlung in Geld oder Naturalien (Kleidung vor allem) ist in vielen Quellen der einzige Hin‐ weis auf die Existenz von Hofnarren. 70 So am Hofe Kaiser Maximilians I., wo die Trennung in natürliche und künstliche Narren besonders evident wird. Vgl. die Holzschnittfolge „Triumph Maximilians“ (1516-1519) von Hans Burgkmair. Wien: Albertina, Graphische Sammlung. 71 Zu „Schalksnarr“ vgl. Grimm, Jacob u. Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 8. Leipzig 1893, Sp. 2085f: „falscher narr, schein-narr, einer, der ein narr zu sein vorgibt, sich als narr geberdet“; zu buffone: dieser Begriff taucht 1266 erstmals bei Giacomino da Verona in der Wendung „homini de curte vel buffoni“ auf. Vgl. Cortelazzo, Manlio u. Zolli, Paolo (Hg.): Dizionario etimologico della lingua italiana. Bd. 1. Bologna 1979, S. 174; zu fol-sage: am Hofe Philipps des Kühnen sind vier Hofidioten und ein Spaßmacher nachgewiesen, der als fol-sage bezeichnet wurde, vgl. Lanza: Lo stolto, S. 62; zum Begriff jester: „Jester (...) can be any kind of merrymaker but is usually one maintained in a prince’s court or nobleman’s household.“ Southworth, Fools and Jesters, S. 13. 72 Welsford, The fool, S. 3 und 314. Zweifellos war es die Hauptaufgabe dieser „Meister der professionellen Unvernunft“ 68 durch ihre Tätigkeiten Lachen zu erzeugen, wofür sie auch entlohnt wurden. 69 Oft fanden sich natürliche und künstliche Narren gemeinsam an den Höfen, und nicht selten wurden die Deformierten in die närrischen Inszenierungen der professionellen Lustigmacher ein‐ gespannt. 70 Ihren wortgeschichtlichen Niederschlag findet diese Gruppe der künstlichen Narren in Bildungen wie „Schalksnarr“ im Deutschen, buffone (bufo) im Italienischen (Mit‐ tellateinischen), fol-sage im Französischen oder jester im Englischen, von denen keine mehr mit dem des mental oder körperlich behinderten Narren zu tun hat. 71 Diese künstlichen Narren sind es, die für das Problem der komischen Inszenierung des Körpers von Belang sind, da sie mittels ihrer schauspielerischen Fertigkeiten ihre Hand‐ lungen in vollem Bewusstsein ausführen und kalkuliert dramatisieren. Deshalb beein‐ flussen sie die zeitgenössischen Bilder und Diskurse vom Hofnarren maßgeblich, vermut‐ lich sogar stärker als die natürlichen Narren. Dies erreichen sie durch ihre Erscheinung, ihr Auftreten und die Inszenierung von komischen performances. Die Erforschung ihres kon‐ kreten Tätigkeitsfeldes, mit welchen Mitteln und in welchem Interaktionsrahmen, zu wel‐ chen Gelegenheiten sie das Publikum am Hof zum Lachen brachten, ist erst in Grundzügen skizziert. Bei den folgenden Überlegungen gehe ich von der These aus, dass die professionellen Spaßmacher unter den Hofnarren ihren Körper bewusst einsetzten, um Lachen zu erzeugen, zunächst als Medium der Imitation von Verwachsenen und geistig Geschwächten, ab dem 15. Jahrhundert dann immer mehr als funktionales Medium des witzigen Streiches. Bei den höfischen Unterhaltungsokkasionen Fest, Mahlzeiten, Jagd, Ausfahrten sind es vor allem die Körperinszenierungen, die die Erwartungen seitens eines lachfreudigen Publikums an den Hofnarren erfüllen konnten. Erst in zweiter Linie sind sein „unsinniges Geschwätz“ oder seine treffenden Antworten zum Tragen gekommen. Innerhalb der Erforschung des historischen Hofnarrentums hat die angloamerikanische Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert die umfangreichsten Studien geliefert. Unter ihnen bezeichnet etwa Enid Welsford den professionellen Narren als „talentierten Unterhalter“, sie nennt seine Tätigkeit eine „Berufung.“ 72 Swain wiederum formuliert es so: „The fool’s prattle was his chief means of amusing his employers, aside form awkward acrobatics and 4.3. Hofnarren 199 <?page no="200"?> 73 Swain, Fools and Folly, S. 59. 74 Southworth, Fools and jesters, S. 9. 75 Groß, La folie, S. 106. 76 Vgl. Radcliffe-Brown, Albert R.: On joking relationships [1940]. In: The Social Anthropology of Radc‐ liffe Brown. Hg. von Adam Kemper. London 1977, S. 174-188. 77 So konnte der Körper des Narren im doppelten Sinne Lachen auslösen: als lächerlicher und als ge‐ demütigter: „Infatti il buffone in genere era più spesso oggetto delle battute e degli scherzi più feroci piuttosto che soggetto creatore di umorismo.“ Saffioti, Tito: … E il Signor Duca ne rise di buona ma‐ niera. Vita privata di un buffone di corte nella Urbino del Cinquecento. Mailand 1997, S. 95. practical jokes“ 73 , und auch Southworth sieht darin die Aufgaben der Narren: „The delicate and often dangerous task of the court fools was to supply that humour in the place where (...) it was most needed: the centre and hub of supreme political power, the court of the king.“ 74 Auch Angelika Groß kommt in ihrer auf Bild- und Textmaterial beruhenden Studie zu dem Ergebnis, „daß unter Hofnarren Menschen zu verstehen sind (...), deren körperliche Gestalt in erster Linie Anlass ihres Amtes als höfische Unterhalter ist. Erst in zweiter Linie dürfte das Gewand zum maßgeblichen Erkennungszeichen geworden sein.“ 75 Der Begriff „Hofnarr“ beinhaltet demnach mehrere Bezeichnungen und Tätigkeiten von Menschen, denen die Zugehörigkeit zum soziographischen System „Hof “ in Mittelalter und früher Neuzeit gemeinsam ist, wobei ihre Unterhaltungsfunktion deutlich im Vordergrund steht. Die Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Narren ist aus methodischen Gründen hilfreich, auch wenn sie sich anhand der einzelnen Dokumente nicht immer auf‐ rechterhalten lässt. Denn sie macht es möglich, zwischen unfreiwilligen, emergenten Akten der Körperkomik und inszenierten, geplanten Akten zu unterscheiden. Dem Lachen über die Verwachsenheit oder Einfältigkeit von natürlichen Narren liegt die Wahrnehmung einer Komik zugrunde, die von ihrem Anlass kaum gesteuert werden kann. Sie ist vielmehr einer Relation inhärent, die ich im Folgenden näher zu beschreiben versuche: der Relation von Lachen und Gewalt in der höfischen Kultur des 14. bis 16. Jahrhunderts. Sozialsystem Hof: Fürst und Narr - Lachen und Gewalt Die Funktion des Narren am Hof beschränkt sich nicht auf die einfache Aufgabe der kör‐ perlich und sprachlich vermittelten Unterhaltung und des Amüsements. Narr und Hof gehen im Spätmittelalter ein besonderes Verhältnis ein, zu dem einerseits die spezifische Lizenz des Narren zur Transgression als eines permitted disrespect gehört, 76 andererseits auch seine niedrige Position als Prell- und Sündenbock innerhalb der sich im 14. Jahrhun‐ dert immer stärker ausbildenden höfischen Konkurrenzgesellschaft. Gemeinsamer Nenner beider Aspekte ist der Körper des Hofnarren: als Erzeuger und Medium für komische Vor‐ gänge und als Objekt für Späße und Prügel. 77 Für die meisten der körperlichen und sprachlichen Interaktionen der Narren mit der Hofgesellschaft ist die Figur des Fürsten unverzichtbar, da er wichtigster Ansprechpartner und Schutzherr der Narren ist. Wenn Tomaso Garzoni im 99. Kapitel seiner Piazza Univer‐ sale di tutte le professioni del mondo (1585) davon spricht, dass die Narren ihre Herren keine Sekunde alleine lassen („sempre gli sono alla coda, mai si parton dal suo conspetto“), un‐ terstreicht er die gegenseitige Angewiesenheit von Narr und Fürst: „non si trova il signor 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 200 <?page no="201"?> 78 Garzoni, Tomaso: Discorso CXIX: De’ buffoni o mimi o istrioni. In: La Piazza Universale di tutte le professioni del mondo [1586]. Hg. von Paolo Cerchi u. Beatrice Collina. Bd. 2. Torino 1996, S. 1303-1307, hier S. 1306. Die 1626 erfolgte Übertragung bzw. Neuschöpfung durch Messerschmid, Johann Georg: Piazza Universale, Das ist: Allgemeiner Schawplatz / oder Marckt / vnd Zusammenkunfft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händeln / vnnd Handtwercken / so in der gantzen Welt geübet werden (...). Frankfurt a. M. 1626 entspricht dem Original nicht vollständig und hat ihre eigene Prä‐ gung. 79 Vgl. Lanza, Lo stolto, S. 63. 80 Radcliffe-Brown, On joking relationships, S. 174. 81 Somers nannte den König „Harry“ und improvisierte Verse mit ihm. Vgl. Otto, Beatrice: Fools are Everywhere. The Court Jester Around the World. Chicago / London 2001, S. 178. 82 Für England vgl. z. B. die Stellung Blondels de Nesle, Lehensmann von Richard I, der gleichzeitig Minstrel und Hofnarr war; in Les soirées de Guillaume Bouchet wird Blondel als „ce boufon de mé‐ nestrier“ bezeichnet. Vgl. Doran, John: The history of court fools. London 1858, S. 86; ebenso bei Lever, Zepter und Schellenkappe, S. 98ff u. für Italien s. u. bei Gonnella. senza il buffone, né il buffon senza il signore.“ 78 Der Narr braucht den Fürsten und seinen Hof als Habitat und als Publikum, um zu existieren; er lebt im Hof und vom Hof. Erst der Hof garantiert ihm die Freiheit, seine Worte und Gesten in die Tat umzusetzen, aus denen er seine Legitimität schöpft. 79 Um eine solche Sonderstellung am Hofe einzunehmen, musste ein Hofnarr eine große Vertrautheit zum Fürsten pflegen. Ein solches vertrauliches Ver‐ hältnis zwischen Narr und Fürst lässt sich näher als joking relationship, als Scherzverhältnis bezeichnen. Der von dem Ethnologen Alfred Radcliffe-Brown für afrikanische Verwandt‐ schaftsverhältnisse geprägte Begriff kann, wie ethnologische Studien gezeigt haben, auch auf soziale Verhältnisse allgemein angewandt werden: The joking relationship is a peculiar combination of friendliness and antagonism. The behaviour is such that in any other social context it would express and arouse hostility; but it is not meant seriously and must not be taken seriously. (...) To put it in another way, the relationship is one of permitted disrespect. 80 Scherzverhältnisse sind somit als institutionalisierte und ritualisierte Formen des Verhal‐ tens zu verstehen. Das Verhältnis von Narr und Fürst ist von einem starken rituellen Rahmen bestimmt, innerhalb dessen die Formel vom permitted disrespect herrscht. Dies konnte in bestimmten Fällen - ein berühmtes Beispiel ist der englische König Hein‐ rich VIII und sein Hofnarr Will Somers 81 - zu einem festen Vertrauensverhältnis führen, welches der Fürst in einer für ihn potentiell gefährlichen Umgebung am Hof durchaus auch politisch nutzen konnte. Daher sind im Frühmittelalter auch, wie oben erwähnt, dem Fürsten vertraute Personen als „Narren“ belegt, die in einem engen freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Verhältnis zu ihm standen. Tatsächlich ist dies in einigen Fällen für die früheste Zeit nachgewiesen: die Hofnarren der normannischen Könige, etwa Blondel, kamen meist aus dem familiären Umfeld der Fürsten, bei den Narren am burgundischen Hof gibt es Hinweise darauf, und auch für die Fürstenhöfe im Italien des 14. Jahrhunderts sind solche Fälle bekannt. 82 Diese Vertrautheit, die freilich nur in Einzelfällen nachzuweisen ist, war auch der Grund dafür, warum pro‐ fessionelle Lustigmacher am Hofe von anderen Höflingen häufig angefeindet wurden. Gar‐ zoni beschreibt die Hofnarren nicht ohne Neid und Groll, da sie bei den Mahlzeiten auf‐ trumpfen dürften, während gelehrte Poeten, Redner und Philosophen sich mit einem Platz 4.3. Hofnarren 201 <?page no="202"?> 83 „trionfano ai pasti de’ prencipi, mentre il dotto poeta, il facondo oratore e l’arguto filosofo fa la sua residenza nel vilissimo tinello“. Garzoni, La Piazza Universale, S. 1307. Auch wenn dieses Zitat vom Ende des 16. Jhs. stammt, scheint es doch auf Grund der Kontinuität sozialer Verhältnisse in den höfischen Gesellschaften der Vormoderne Gültigkeit zu besitzen. 84 „A unire buffone e pubblico e dunque la derisione e lo scherno, e l’attor comico ne è sulla scena il sapiente ministro.“ Lanza, Lo stolto, S. 203. 85 Vgl. dazu Röcke / Velten, Lachgemeinschaften, Einleitung S. IXff. 86 Lever, Zepter und Schellenkappe, S. 144 f. Triboulet (gest. 1538? ) war einer der begabtesten Unterhalter seines Jhs. In seinem Nachruf ist davon die Rede, dass er verschiedene Instrumente spielte, tanzte, jeden nachahmen konnte, predigte und in prächtiger Kleidung auftrat. 87 Erythraei Pinacotheca. I. p. 296. Zit. aus Flögel, Geschichte der Hofnarren, S. 316. im Vorzimmer begnügen müssten. 83 Der Kampf um Einfluss, um Sprechzeit und Anwesen‐ heit beim Fürsten sei zugunsten der Hofnarren und Schmarotzer entschieden, so sieht es zumindest der gelehrte Garzoni. Die Funktion der Narren am Hof jedoch alleine auf das Verhältnis zum Fürsten zu be‐ schränken, würde der Struktur der komischen Interaktion zuwiderlaufen. Denn diese ist eindeutig auf ein Publikum ausgerichtet, vor welchem die Narrenspäße und -streiche auf‐ geführt werden, und welches mit dem Narren durch Spott und Schadenfreude verbunden ist: Der Narr ist sein komischer Akteur, er führt ein komisches Spektakel auf, in welchem sich das Abgründige des Verlachens zu seinem Vergnügen, aber jederzeit auch zu seinem Schaden manifestieren kann. 84 Die Beziehung zwischen diesem Publikum als einer „höfi‐ schen Lachgemeinschaft“ 85 und dem Narren selbst ist somit nicht unproblematisch: Der Narr kann ihr je nach Situation gegenüberstehen oder ihr zugehören, seine Späße können zu Entlastung und zum Ablachen aggressiver Spannungen führen, aber auch zu Bloßstel‐ lung und Ehrverlust. Allerdings schützt das Spielerische der Narrenspäße und die man‐ gelnde Satisfaktionsfähigkeit des Narren seine Opfer vor dem Schlimmsten: Ein vom Narren Gefoppter konnte, und sei er noch so lächerlich gemacht worden, den Scherz nicht als echte Beleidigung mit Konsequenzen auffassen, wie dies bei Ehrhändeln zwischen Gleichwer‐ tigen der Fall war. Im umgekehrten Falle gilt das nicht: Wie der Narr die Lizenz zum Spotten besaß, durfte die Hofgesellschaft den Narren straflos verlachen und züchtigen. Von Triboulet, dem (na‐ türlichen) Narren Ludwigs II . und Franz I. von Frankreich wird berichtet, dass er als Bau‐ ernsohn mit schwächlicher Konstitution die Prügel der Lakaien und Pagen ertragen mußte. 86 Flögel erwähnt Raffaele Menicucci, den Possenreißer am Hof Großherzogs Ferdi‐ nands I. in Florenz, der einmal auf einen sehr hohen Schrank stieg mit der Begründung, dies sei der Ort, der seiner hohen Würde angemessen sei, und befahl, ihm einen Tisch und Stuhl hinaufzustellen. Man bewirthete ihn herrlich, und er aß und trank nach Herzenslust. Endlich zogen die Pagen die Leitern weg, und und brachten einen Haufen nasses Stroh herbei, welches sie anzündeten, und durch dessen Dampf Menicucci beinahe erstickt wurde, ob er gleich himmelhoch bath, sie möchten ihn doch herablassen. Endlich kam der Großherzog selbst in das Zimmer, und befahl, den armen Narren von der Quaal zu befreien. 87 Berichte von Prügel und Züchtigungen der Narren sind zahlreich. Sie wurden Opfer der Quälereien von Fürst und Hofstaat und waren oft der Sündenbock für gewalttätige Späße. 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 202 <?page no="203"?> 88 Vgl. Luzio, Alessandro u. Roberto Renier: Buffoni, nani e schiavi dei Gonzaga ai tempi di Isabella d’Este. Nuova Antologia ser. 3, XXXIV (1891). S. 618-650, hier S. 635. 89 Cellius, Erhard: Beschreibung zweier Reisen, welche Friedrich Herzog von Württemberg im Jahre 1592, 1599 und 1600 verrichtet [1604]. Zit. nach Flögel, Geschichte der Hofnarren, S. 318 f. 90 Das beste Beispiel hierfür ist die Geschichte vom Tode Gonnellas, die Bandello und Hans Sachs überliefern. Während der Narr seinen Fürsten mit Gewalt von einem melancholischen Leiden erlöst, wird der Vergeltungsstreich des Fürsten an Gonnella zu dessen Verhängnis: Er stirbt bei der spaß‐ haften Inszenierung seiner Hinrichtung vor Schreck auf dem Schafott. Vgl. dazu Starobinski, Jean: Bandello e Baudelaire (Il principe e il suo Buffone). Paragone. Rivista mensile di arte figurativa e letteratura 364 (1980), S. 3-15. 91 Es handelt sich um eine minutiöse Rekonstruktion des Alltags und der Tätigkeiten des buffone aus seinen Tagebüchern zwischen 1539 und 1549, welche handschriftlich überliefert sind (Vatikanische Bibliothek und Stadtbibliothek von Urbino). Tito Saffioti hat sie durchgesehen und eine Darstellung mit zahlreichen Zitaten aus diesen Quellen verfasst. Saffioti betont in der Einleitung, dass der Ver‐ fasser weniger historisch wichtige Ereignisse oder Besprechungen festhält, sondern die Darstellung eines privaten Lebens in der Öffentlichkeit des Hofes wiedergibt, wie es sich später in der Gattung der Memoiren materialisieren sollte. Der Blick bleibt auf das Oberflächliche gerichtet, auf Zeremo‐ nielle und Feste, auf Unterhaltung, die ein gewisses Gegenprogramm zur Regierungstätigkeit des Fürsten bildeten. Vgl. Saffioti, Tito, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 6 f. So wurden bei dem (natürlichen) Narren Mattello am Mantuaner Hof Isabellas d’Este (1474-1539) bei einer kurz vor seinem Tod stattfindenden ärztlichen Untersuchung schwere Verletzungen, die offensichtlich von kontinuierlichem Prügeln herrührten, festgestellt. Er hatte sich immer wieder darüber beschwert, nicht genügend zu Essen zu bekommen und geschlagen zu werden. 88 Ein anderes Beispiel ist Erhard Cellius’ Beschreibung zweier Reisen, welche Friedrich Herzog von Württemberg im Jahre 1592, 1599 und 1600 verrichtet von 1604 entnommen: Anlässlich einer Jagd wurde ein Narr des Herzogs Vincentius I. von Mantua zusammen mit einem jungen Wildschwein in Tücher gewickelt mit der Absicht, dass sie gegeneinander kämpfen sollten. Die Jagdgesellschaft ergötzte sich an dem kurzweiligen Schauspiel: „Es war über die Maassen lächerlich anzusehn, indem bald der Narr den Frisch‐ ling, bald der Frischling den Narren in den Tüchern hin- und her jagte.“ Ein anderer Narr in derselben Reisebeschreibung „wurde damals im Schloßhofe von Fürsten und Herren herumgejagt, mit frischen Eiern beworfen, und sehr übel bekleistert. Er hatte einen kleinen Helm auf dem Haupt, und einen Stecken in der Hand, und stellte sich so ungebehrdig und wunderlich, dass man nicht genug über ihn lachen konnte.“ 89 An diesen Beispielen ist er‐ kennbar, wie sehr die Funktion der Hofnarren, und hier sind wiederum beide, natürliche und falsche Narren gemeint, auf ihren Körper gerichtet war. Wir können annehmen, dass die von Cellius angeführten Episoden auf aggressive Gewalt gegen geistig und / oder kör‐ perlich Geschwächte hindeuten, die sich dagegen kaum zur Wehr setzen konnten oder durften, ohne ihr Leben zu riskieren. Die Freiheit der Körperdarstellung und die Verfüg‐ barkeit als Prügelknabe bedingten einander gegenseitig. Dies galt generell auch für die künstlichen Narren. 90 So etwa für den Hofnarren Guidobaldos II . della Rovere von Urbino (Herzog von 1538-1574), Atanasio, über dessen Leben wir durch ein einzigartiges Dokument, sein Ta‐ gebuch, sehr gut informiert sind. 91 Zum breiten Aufgabenfeld Atanasios, der ohne festes 4.3. Hofnarren 203 <?page no="204"?> 92 Immer wieder taucht im Tagebuch der Wunsch nach einem festen Einkommen, einer festen Anstel‐ lung auf, am liebsten bei einem Herren fern vom Hof. Die Selbstwahrnehmung des Narren ist nach Saffiotis Auskunft durchgängig sehr gering: Er erachtete sich selbst als auf der untersten Stufe einer sozialen Hierarchie stehend. Vgl. ebd., S. 84. 93 Eine seiner Hauptaufgaben war es, den Herren beim Kartenspiel als Diener und Unterhalter zur Verfügung zu stehen; worin genau seine Aufgabe bestand, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Ob er Karten mischte und ausgab, oder nur scherzhafte Reden und Bemerkungen machte, bleibt im Dun‐ keln. Er wirkte auch bei anderen Gesellschaftsspielen, sportlichen Spielen, Gruppenspielen, wie etwa an rituellen Nachlauf- und Wettlaufspiele mit vielen Teilnehmern an Neujahr oder an Karneval mit. Interessant ist die Beschreibung eines Spott-Turniers mit einer drehbaren Vogelscheuche als Gegner, die als Sarazene ausstaffiert ist (Giostra della Quintana in Pesaro). Vgl. Saffioti, … E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 83 f., S. 109 u. S. 111. 94 Vgl. ebd., S. 55. 95 Atanasio steht schon auf dem Schafott und wird erst in letzter Minute begnadigt. Das Lachen über seine Angst ist unbändig. Vgl. ebd., S. 56 f. 96 Ebd., S. 108 u. 109. Einkommen über Jahrzehnte am Hof tätig war, 92 gehörten neben der Unterhaltung der Herrschaft und ihrer Gäste auch Reisen an andere Höfe (als Narr), die Teilnahme an Ge‐ sellschaftsspielen, der Auftritt als komischer Sänger oder Tänzer bei Festen und besonderen Ereignissen und vieles mehr. 93 Der buffone, den man sicherlich nicht zu den natürlichen Narren zählen kann, berichtet häufig von Strafen, Quälereien und Vexationen körperlicher und psychischer Art durch Herrschaft und Hofleute: Als Strafen für wenig erfolgreiche Unterhaltungsversuche oder faux pas werden er und die anderen Narren am Hof häufig zu tagelangem Fasten gezwungen, sowie durch Schläge, Auspeitschen, oder andere Körper‐ strafen gezüchtigt. Als der Fürst einmal befahl, ihm als Strafe acht Tage lang nichts mehr zu essen zu geben, lachten die andere Bediensteten, sodass sich, wie Atanasio schreibt, ihr Lachen und sein Weinen miteinander mischten. 94 Beliebt ist auch psychischer Terror durch die Androhung von Schlägen, des Stricks oder gar der Exekution. 95 Am 1. Januar 1552 notiert er, dass ein gewisser Isacco da Montebello ihm fast beide Augen ausgestochen hätte, im Juli 1556 wird er vor dem Herzog von einem anderen Spaßmacher brutal ins Gesicht geschlagen. Im November 1556 erhält er von der Fürstin eine Schüssel Apfelmilch zum Lohn für seine Unterhaltung, doch der Diener Ottavio nimmt die Schüssel und wirft sie Atanasio ins Gesicht, sodass sie zu Bruch geht („che mi ruppe quel piatto nella bocca“). Atanasio erzählt noch, wie seine ganze Kleidung von der Milch durchnässt wurde. Am 23. Februar 1557 erhält er von einem gewissen Aurelio Fre‐ goroso einen Schlag in den Bauch, und einen weiteren von Raniero. Wenig später schlägt Aurelio ihn erneut, und zwar völlig grundlos: „di suo cappriccio, doi aver tre pugni senza averlo offeso in modo alcuno (...).“ 96 Was aus den Aufzeichnungen hervorgeht, ist die prekäre Doppelrolle des buffone als Dauer-Possenreißer und als Sündenbock, oft für völlig mutwillige Aggressionen. Lachen und Gewalt gehen hier eine enge Beziehung ein: Der Narr ist nicht nur Spaßmacher, sondern in hohem Maße auch Opfer der Späße anderer (höherer und gleichrangiger) Mitglieder des Hofes, über das ohne Lizenz gelacht werden kann. Atanasio kann sich auf Grund seiner schwachen Konstitution weder gegen die Züchtigungen, noch gegen den Zwang zu dichten und tanzen, damit sich sein „Publikum“ auf seine Kosten amüsieren kann, wehren. Freilich gibt es auch gelungene Streiche und Körperinszenierungen (s. u.), die dem Hofnarren ein 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 204 <?page no="205"?> 97 Verachtung ergibt sich dabei aus der Entlarvung hoher Ansprüche der höheren Schichten: „The lower (...) need not hold himself superior in some respect to the higher person to experience contempt for him. He only needs to discern that the higher is lower than the level the higher claims for him‐ self. (...) The contempt of the low for the high (...) will often be coupled by Schadenfreude. (...) The pleasure of upward contempt is seldom separable from the knowledge that the superior you hold in contempt is humiliating himself, is, in short, looking foolish.“ Miller, William Ian: The anatomy of disgust. Cambridge (Mass.) 1997, S. 220 u. 222. 98 Vgl. Welsford, The Fool, S. 114. Lachen eintragen, das weniger schadenfroh als affirmativ ist, bzw. sich auf den Schaden anderer richtet. Auch wenn Atanasios Tagebuch aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammt und insofern auf eine mindestens 250jährige Tradition höfischer Unterhaltung durch das Narreninstitut zurückgreifen kann, so lässt sich seine Position am Hof doch im Schnittpunkt von Lachen und Macht bestimmen. Er ist Medium des Gelächters, stellt es her und wird von ihm be‐ stimmt, indem er zum Objekt des Lachens (engl.: butt) gemacht wird. Das Lachen dient als Regulativ zwischen denjenigen, die die Nähe des Fürsten suchen und um Einfluss ringen, sei es aus politischen oder persönlichen Gründen. Der Narr ist jeweils Auslöser oder Opfer dieses regulativen Lachens, aber immer im Hinblick auf das Einverständnis des Fürsten. Wenn dieser selbst einmal zur Zielscheibe werden konnte, hatte dies jedoch kaum Konse‐ quenzen, da der Fürst alle Macht auf sich vereinte und somit frei von Ehrverlust bzw. Scham war. Mit seinem Publikum ist der Hofnarr durch eine eigentümliche doppelte Verwandtschaft verbunden: Er braucht es als (wechselnde) Gruppe von Lachern, damit seine Späße gelingen und sein Spott Wirkung zeigt, und er fürchtet es als Gruppe von Gegnern, die ihn jederzeit im Dienste des Gelächters körperlich züchtigen können. Umgekehrt brauchen die Höflinge den Hofnarren nicht nur, um lachen zu können, sondern auch, weil er seine verborgenen Wünsche in die Tat umsetzen bzw. versprachlichen darf. Als jemand, der die strengen hö‐ fischen Vorschriften für den Ablauf von Rituale und Körperhaltungen als lächerlich ent‐ larven darf, schafft er die Möglichkeit der Verachtung des Höheren durch die Niedrigen und Abhängigen. 97 Er trifft dabei den Geschmack des Publikums und wird von diesem ver‐ standen, denn beide sind am Hof in derselben Situation, beide wissen um die normierten und geläufigen Gesten und Redeweisen. Dabei zeigt sich der Narr als Herrscher einer Scheinwelt, die die Ängste und Aggressionen, Wünsche und Leidenschaften, Mängel und Fehler sichtbar und wahrnehmbar machen kann. Hier hat er noch etwas von jenem Ar‐ chaisch-Bedrohlichen, das die Ängste und Aggressionen des Kollektivs polarisiert. Nicht zuletzt dadurch zieht der Narr Aggressionen auf sich, um sie entweder zu entschärfen (durch Lachen und Schlagen), oder im inszenierten Streich, im gestischen und witzigen Spott weiterzugeben. Diese Funktion des Narren als Spielball psychischer Energien hat rituelle Wurzeln: Welsford nimmt an, dass im Mittelalter gerade natürliche Narren auch aus apotropäischen Gründen zur Verspottung angestellt wurden, da man Spott als Schutz vor Unglück sah. Diese ursprüngliche Schutzfunktion, wenn es sie denn gab, hat sich in‐ nerhalb der Lachgemeinschaft am Hof der frühen Neuzeit und ihres Konkurrenzdrucks in aggressive schadenfrohe Komik verwandelt. 98 4.3. Hofnarren 205 <?page no="206"?> 99 Wie z. B. in Southworth, Fools and jesters, S. 1-6. 100 Dabei stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang die joking relationships des Narren mit dem sozialen Aufstieg am Hof und dem Erwerb von politischer Macht stehen. Dazu Althoff, Gerd: Ver‐ wandte, Freunde und Getreue: zum politischen Stellenwert der Gruppenbindung im Mittelalter. Darm‐ stadt 1990. 101 Vgl. Zumthor, Körper und Performanz, S. 707. 102 „Mimesis ist ursprünglich eine körperliche Handlung, die sich zuerst in oralen Kulturen entfaltet. Sie hat den Charakter des Zeigens; in ihrer Geschichte kommt sie immer wieder auf das Gestische zurück. Selbst als versprachlichte Mimesis ist sie ein ‚zeigendes Sprechen‘. Der Rezipient nimmt das Zeigen so wahr, daß er aufgefordert wird, bestimmte Dinge oder Vorgänge als etwas zu sehen. In dieser Wechselwirkung liegt eine Komponente der Mimesis, die das Gezeigte oder Dargestellte zum Spektakel macht.“ Gebauer, Gunter u. Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur- Kunst - Gesellschaft. Reinbek b. Hamburg 1992, S. 14. Es ist deshalb nicht ganz unproblematisch, wenn die Narren als Außenseiter am Hof dargestellt werden. 99 Freilich war ihr Platz in der feudalen Hierarchie niedrig und sie lebten in einer Art sozialem Vakuum, gehörten keiner Gruppe am Hof an, da sie als Mitglieder der familia des Herrschers diesem direkt unterstellt waren. Doch weder lässt sich daran eine „separierte“ oder „körperlose“ soziale Existenz festmachen, noch eine besondere Tendenz zur Individualisierung. Gerade die Einbindung des Narren in die Lachgemeinschaft macht ihn zu einem interaktiven Knotenpunkt der Stimmungen und Befindlichkeiten am Hof, und sein häufig zu beobachtendes spezielles Verhältnis zum Fürsten (z. B. als Berater) zeigt diese Zwischenstellung deutlich. 100 Aufgabenfeld: Körperliche Lachanlässe Der Körper ist für die Hauptaufgabe des Narren, Lachen auszulösen, schlichtweg unver‐ zichtbar. Präsenz und Materialität seines Körpers determinieren sein Verhältnis zur Lach‐ gemeinschaft am Hof, wir können auch von einer „soziokorporellen Form“ seiner Auffüh‐ rungen und Handlungen sprechen. 101 Das variable Element dieser Performanz besteht dann im Einsatz von Körperenergien, die in bestimmten Situationen in verschiedener Intensität zum Tragen kommen. Bisher hat die Forschung weitgehend darauf verzichtet, das mime‐ tische Potential von Körperbewegungen zu untersuchen, denn es sind vor allem mimetische Fähigkeiten, die den komischen Körper konstituieren: die Fähigkeit, Herrschaftsgesten zu parodieren, eine andere Person bis zur Identifikation nachzuahmen, fremde Körper und Stimmen mit dem Ziel der Verspottung und Degradierung zu imitieren. Forschungen zur sozialen und anthropologischen Bedeutung der Mimesis betonen ihren ursprünglich kör‐ perlichen und gestischen Charakter, 102 sodass die komischen Körperinszenierungen von höfischen Possenreißern als mimetische Gesten angesehen werden, denen performative Charakteristika zuzuschreiben sind: Sie sind situationsgebunden und okkasionell, flüchtig und kontingent, erlebnishaft und innovativ, eine Vermittlung zwischen Tun und Wissen, die immer wiederholt wird und doch immer wieder neu gestaltbar ist. Dass die korporellen und oralen Dimensionen des Narrenauftritts in ihrer Flüchtigkeit nur wenige Spuren in den überlieferten Texten hinterlassen haben, liegt auf der Hand. Dennoch gibt es für körperliche Akte, Mimik, oder Gestik von Narren schon frühe Zeug‐ nisse: Johann der Gute hatte um 1350 einen Narren, der als „Grimassenschneider“ und 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 206 <?page no="207"?> 103 Vgl. Lever, Zepter und Schellenkappe, S. 128. 104 Der Name des Narren war Le Glorieux. Vgl. Amelunxen, Zur Rechtsgeschichte der Hofnarren, S. 14. Wie oft macht Amelunxen keine Quellenangabe. 105 Graf, Arturo: Un buffone alla corte di Leone X. In: A. G.: Attraverso il Cinquecento. Torino 1888, S. 369-394, hier S. 375-389. Fra Mariano war auch eine Art Maître d’entretiens am Hofe Leos. Zu seinen organisatorischen Aufgaben zählten etwa die Vorbereitung von Trionfi, Komödien und Mo‐ riskentänzen in der Karnevalszeit. 106 Mariano organisierte regelrechte Schlachten mit Essensresten wie Knochen und Gemüseschalen, Tellern und Tassen, allen Arten von Tongefäßen und sogar Waschzubern, die durch den Saal flogen. Ebd., S. 388. 107 Levi, Ezio: L’ultimo Re dei Giullari. Studi Medievali I (1928), S. 173-180. 108 „Francesco Tapone era uno scroccone dall’appetito insaziabile, una vera voragine vivente, le cui buffonerie consistevano in pappare, in far male, in dir bugie, e de cui istinti bestiali ride sganghera‐ tamente messer Bermardo. Di questi parassiti avrà riso anche lo Sforza… “. (Francesco Tapone war ein Vielfraß und Parasit von unstillbarem Appetit, ein echter, lebendiger Schlund, dessen Streiche darin bestanden, einfach zu fressen, anderen weh zu tun, Lügen zu erzählen, und über dessen be‐ stialische Instinkte Messer Bernardo unbändig lachte, sie auch der Herzog darüber gelacht haben mag…“). Luzio / Renier, Buffoni, Nani e Schiavi, S. 648. „Zähnefletscher“ bezeichnet wurde; 103 der Narr Karls des Kühnen durfte bei den Mahlzeiten alle Vorschriften durchbrechen und Wasser verspritzen, mit Äpfeln um sich werfen und die Tischgäste verspotten. 104 Von Fra Mariano, mit bürgerlichem Namen Mariano Fetti, einem berühmten Narren am Hofe des Papstes Leo X., den dieser wohl schon am Florentiner Hof der Medici beschäftigt hatte, wird berichtet, dass er bei Banketten auf die Tische gesp‐ rungen, darauf herumgerannt sei, obszöne Gesten gemacht und den Gästen Ohrfeigen aus‐ geteilt habe. 105 Aus einem Brief des Stazio Gaddio an den Marchese oder die Marchesa von Mantua wird über ein Abendessen am 11. Januar 1513 beim Papst berichtet, an dem auch Fra Mariano teilnahm: Kaum dass man sich zu Tisch gesetzt hatte, begann der Bruder ge‐ bratene Hähnchen über den Tisch zu werfen, was zu einer Ausgelassenheit am Tisch führte, dass sich auch die anderen Gäste - darunter zahlreiche Kleriker - gegenseitig mit Soßen und Suppen Kleider und Gesichter bestrichen. 106 Mariano war auch für seine ungeheure Gefräßigkeit bekannt; es wurde über ihn gesagt, dass er ganze gebratene Tauben ver‐ schlingen, zwanzig Rebhühner zu Mittag essen oder vierhundert Eier aussaugen konnte. 107 Die übermäßige Völlerei gehörte anscheinend zu denjenigen Transgressionen beim Mahl, die größtes Amüsement auslösten. So wird von zwei Hofnarren Ludovico Sforzas (il Moro) von Mailand (1452-1508) berichtet, die bei Tisch ihre ungeheure Fresslust gewis‐ sermaßen vor der zuschauenden Hofgesellschaft ‚aufführten‘, ein Vorgang, über den der Fürst unbändig lachen konnte. 108 Freilich hat hier das Überlegenheitsgefühl der Herren über die inszenierten „animalischen Instinkte“ der Possenreißer, wie der Berichterstatter be‐ merkt, Anteil am Lachanlass. Der entscheidende Punkt ist jedoch - wie auch bei den an‐ deren Formen der Situationskomik bei Tisch - der performative Prozess: Im Rahmen eines spielerischen agon wird ein Wettbewerb um maximale Fresslust vor den Augen aller auf‐ geführt, zu dem eine ganze Reihe von denkbaren Entgleisungen gehört: die Prahlerei, die Verkehrung von Mäßigungsgeboten bezüglich der gula, die Art und Weise der Nahrungs‐ aufnahme, die Wirkung der Ansteckung des „Fressens“ auf die Zuschauer, die Konfusion, 4.3. Hofnarren 207 <?page no="208"?> 109 Dass die Verbindung Nahrungsaufnahme - Lachen auch in anderer Hinsicht relevant war, zeigt ein Brief des Mantuaner Hofnarren Scocola an seine Herrschaft, als er von den Gonzaga den Sforza in Mailand ausgeliehen wurde: er berichtet von guter Behandlung, und davon, dass er mit seinen Scherzen die dortigen Herren so sehr zum Lachen bringe, dass diese sich häufiger erbrechen mussten: „ch’io li fatio ridere in forma tale che molte volte perdeno il mangiare, sichè tanto ch’io starò qui me sforzarò di darli piacere per qualuncha via mi serrà possiblile.“ Ebd., S. 629 f. 110 Garzoni, La Piazza Universale. Discorso CXIX, S. 1303-1307. „Quindi il buffone (...) fa del Bergamasco a spada tratta, come se fusse il primo della vallata; è Magnifico nel sporgere, è Spagnolo nel gestire, è Todesco nel caminare, è Fiorentino nel gorgheggiare, è Napolitano nel fiorire, è Modenese in fare il gonzo, è Piemontese nel languire; è la simia di tutto il mondo nel parlare e nel vestire. Ora si vede il buffone con le ciglia degli occhi dentro ascose, e gli occhi sbardellati che par guerzo; ora con le labbra torte che par un mascherone contrafatto; ora con un palmo di lingua fuori che par un cagnazzo morto dal caldo e dalla sete; ora col collo teso che pare un impiccato; ora con le fauci ingrossate che fa mostra d’aver mille diavoli adosso; ora con le spalle, ingobbate che pare il Babuino da Milano; ora con le braccia rivoltate, che pare un guido propriamente; ora con le mani e con le dita fa gesti tali che pare il bagatella de’ trionfi. Col moversi finge il poltrone eccellentemente; col passeggiare fa del fachino raramente; col volgersi indietro contrafa un bravo stupendamente; col suono della voce imita l’asino per spasso; con le parole i balbi e i cocoglieri per trastullo; col gesto le bertuccie per diletto; col riso fa creppar di riso ogn’uno che lo vede.“ (Übers. HRV). die etwa durch das Werfen von Essensresten und das Besudeln der Umstehenden durch sie erzeugt werden kann. 109 Das ausführlichste Beispiel über die breite Palette der Tätigkeiten, Streiche und komi‐ schen Handlungsabläufe von höfischen Possenreißern hat uns Tomaso Garzoni in seiner Piazza Universale di tutte le professioni hinterlassen: Und so macht der Hofnarr den Bergamasker mit gezücktem Schwert, als ob er der bedeutendste seines Tals wäre; er macht den Rector Magnificus mit geschwellter Brust, den Spanier in höflicher Gestik, den Deutschen im Gange, den Florentiner im Reden und Schnarren, den Neapolitaner im Präsentieren, den tölpelhaften Modeneser, den Piemonteser im Lamentieren. Mit einem Wort, er kann der ganzen Welt in Reden, Gebärden und Kleidern nachäffen. Bald sieht man den Hofnarren, wie er die Augenbrauen hochzieht und die Augen verdreht, als wenn er einäugig wäre. Bald zieht er die Lippen so seltsam zusammen, daß man glaubt, er habe eine Maske vor sein Gesicht gezogen, bald reckt er die Zunge spannenlang heraus, als wenn er ein vor Hitze und Durst verendender Köter wäre; bald streckt er den Hals, als wenn er am Galgen hinge, bald zieht er ihn wieder ein und biegt den ganzen Leib zusammen, als wenn er den Teufel auf den Schultern hätte. Bald macht er einen krummen Rücken wie der Mailänder Trottel, bald kehrt er die Arme nach außen wie ein Landstreicher, bald gehen ihm die Hände und die Finger wie einem Gaukler bei Würfelspiel und Zauberei der Festumzüge. Bald streckt er sich wie ein fauler Schlingel, und er macht dies täuschend echt, bald geht er einher wie ein Lastträger, bald imitiert er bewundernswürdig einen Mörder in der schnellen Körperdrehung, und mit dem Klang seiner Stimme imitiert er den Esel aus Jux, aus Spaß ahmt er den Stotterer und den Stummen nach, zum Vergnügen äfft er jeden beliebigen in seinen Gesten nach. Und wenn er anfängt zu lachen, so muss jedermann, der ihn ansieht, mitla‐ chen. 110 Dieses laute, unbändige Lachen wird wenig später noch ausführlicher beschrieben; und wieder ist es der ‚Auftritt‘ des Buffonen, der es auslöst: 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 208 <?page no="209"?> 111 Ebd. S. 1311 f.: „Ove nel cerchio loro come pavone scioccamente d’aggira, si guarda intorno, che par un’occha; ride come un Margute a vedere un stivale in mezzo a tutti; sgrigna come un’asino mirando che stronzo (per così dire) in cimo d’un bastone ha partorito la fortuna, e quando è ritirato alquanto coi suoi pari, s’allarga come un cavallozzo all’aria, tenendos buono di essere il maggior uomo sopra tutti, e qui tutti i buffoni a ridere a creppare, a schioppar delle risa, e far ganzegha, e con un stolto applauso a metterlo sui balzi d’esser un’Elefante, mentre ch’è un’asino e col dito li vanno stuzzichando sotto per far lo trar de’ salti.“ (Übers. HRV). 112 Der Auftritt geschah „mentre un gruppo di violinisti si esibisce davanti a tutta la compagnia“. Saffioti, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 54 f. 113 Saffioti, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 100. Verkleidungen gehörten nicht nur an Kar‐ neval zum festen Repertoire von Hofnarren: Eine Spezialität des Narren Mattello der Isabella d’Este war es, sich als Mönch zu verkleiden und die liturgischen Zeremonien nachzuahmen und zu paro‐ dieren. Aus diesem Grund nannte ihn Isabella auch „venerabile padre Bernardino Mattello“. Vgl. Luzio / Renier: Buffoni, Nani e Schiavi, S. 633. Dort, wo er unter seinen Anhängern ist, stolziert er stupide wie ein Pfau herum, blickt um sich, als wenn er eine Gans wäre; er lacht laut wie Morgante, wenn er einen Stiefel unter allen Schuhen sieht, schreit wie ein Esel, der auf seinen Kot blickt und meint, er habe das Glück gerade ge‐ boren (...); und wenn er sich mit seinesgleichen zurückzieht, bläht er sich wie ein Pferd in der Luft, indem er sich als Leithammel aufführt; und wenn dann alle Narren lachen, sich vor Lachen schüt‐ teln, vor Lachen platzen, sich vor Lachen krümmen und biegen, und ihn mit einem blöden Applaus dermaßen aufblähen, dass er einem Elefanten gleicht, während er doch ein Esel ist, stoßen sie ihn mit dem unten an, damit er Sprünge und Salti macht. 111 In Garzonis Beschreibung wird der enge Zusammenhang von Körperkomik und Lachen deutlich: Der Narr verfügt über eine Reihe von Techniken der Körperbeherrschung, um in actu mit der Verstellung und Deformation des eigenen Leibes, sowie der spöttischen Imi‐ tation anderer Körper Lachen zu erregen. Auch obszöne Gebärden, Akrobatik und körper‐ liche Täuschungen gehören zu den Fertigkeiten, mit denen er die Umstehenden unterhalten oder verspotten kann. All dies gehörte auch zum Repertoire des Urbinatischen Hofnarren Atanasio, von dem bereits die Rede war. In seinem Tagebuch berichtet er häufig von komischen Vorträgen und Tänzen, mit denen er sein Publikum zum Lachen brachte. Seinen Angaben ist zu entnehmen, dass es sich dabei um groteske Bewegungen, cross-dressing und groteskkomische Reden handelte, bei deren Aufführung besonders die eigenwillige Stimme, die Mimik und die Gestik eine wichtige Rolle spielten. So konnte er stunden- und tagelang eine alleinstehende Dame mit seinem Singen, Tanzen und seinen komischen Erzählungen zum Lachen bringen. Ferner berichtet er von einem burlesken Solotanz als Begleitung einer Musikvorführung, 112 von Verkleidungen und Inszenierungen, wie etwa einer närrischen Hochzeit, bei welcher er den Bräutigam spielte, oder von einem weihnachtlichen Krippenspiel, bei welchem er als Hirte eine scherzhafte Wache improvisierte und aus diesem Anlass in Narrenmanier (d. h. falsch und laut) sang und betete. 113 Zu den körperlichen Lachanlässen gehörten nicht allein Verkleidung und Rollenspiel, Tanz und stimmliche Imitation. Auch schnelle Bewegungssequenzen anlässlich närrischer Wettbewerbe, oder die Veranlassung von Stürzen, Würfen und scherzhafte Prügel gehören in diesen Bereich. So stiehlt Atanasio bei einem Aufenthalt am Ferrareser Hof Ercoles II . einem gewissen Cavalier Sacco einen Teller Lasagne und flieht damit durch den ganzen 4.3. Hofnarren 209 <?page no="210"?> 114 Saffioti, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 104. Jagden durch den Palast waren willkommene Unterbrechungen der höfisch codierten Bewegungslogik in den Palästen, indem sie durch ihre mo‐ torische Intensität Entlastung von Normen der Körperkontrolle boten. So musste ein Hofnarr der Sforza, Mariolo, einmal auf Geheiß seiner Herren ein Schwein durch den Palast jagen. Vgl. dazu Luzio / Renier: Buffoni, Nani e Schiavi, S. 649. 115 Saffioti, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 103. Wie der Possenreißer durch Verstellung und Verzerrung der Stimme verschiedene Sprecher und Stimmtypen imitieren kann, zeigt anschaulich Garzoni, La Piazza Universale: „Quivi il buffone recita i testamenti villaneschi di barba Mangone e di Pedrazzo; adorna l’instromento che fa sere Cecco di parole più grosse che quelle del Cocai; narra le fuse torte che fece la moglie del medico la notte di carnevale; racconta il dialogo di mastro Agreste con la Togna di S. Germano; discorre di legge come un Grazian da Bologna; parla di medicina come un mastro Grillo; favella da pedante come un Fidenzio Glottocrisio.“ S. 1302 f. 116 Saffioti, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 108, 118. 117 „… e gionto che fommo in detto luogo ne fu gettato una ingrestana d’acqua nel viso e poi una ricotta, dove se ce rise di bona maniera.“ Ebd., S. 153. 118 Vgl. Kap. 6.3. Palast, verfolgt von seinem zornigen Opfer, der ihn jedoch nicht einholen kann: Der ganze Hofstaat verfolgt die spaßhafte Inszenierung mit großem Gelächter. 114 Die Stimme Atana‐ sios musste schnarrend und zuweilen unangenehm laut gewesen sein: Bei einem Aufenthalt am Hofe Ercole II . in Ferrara 1552 musste er dem Grafen Giulio di Scandiano immer wieder laut in die Ohren singen, auch wenn dieser „Abscheu darüber empfand“. Denn jedes Mal, wenn er sich dem Grafen näherte, begann der Herzog in lautes Lachen auszubrechen: „il duca … che ogni volta che si sganascia dalle risate nell’osservare la scena.“ 115 Häufig verbinden sich die Performances des Narren auch mit Vexationen: Anlässlich eines kleinen Festes der Fürstin trägt Atanasio scherzhafte „ragionamenti“ vor und singt. Daraufhin erhält er als Geschenk eine Apfel-Sahnetorte, die ihm der Trinceur des Grafen anschließend ins Gesicht wirft. Als er an einer Vorstellung reisender Komödianten die Rolle des Küchenjungen übernimmt, erhält er einen Ricotta-Käse ins Gesicht geworfen und wird geprügelt. 116 Als Atanasio ein vom Fürsten überreichtes, neues Narrengewand zum ersten Mal anzieht, lacht jedermann über die zu langen Ärmel und Beinlinge. Dann muss Atanasio es zu einer Ausfahrt anlegen, und als man am Ziel angekommen war, schüttet man ihm zunächst eine Kanne Wasser ins Gesicht, bevor man noch, wie gehabt, eine Ricotta - of‐ fenbar der Vorläufer unserer Sahnetorten - hinterherschickt. 117 Auch wenn im 16. Jahrhundert Atanasios Performances schon deutlich weniger trans‐ gressiv und obszön waren als noch ein Jahrhundert vor ihm die Scherze eines Dolcibene und Gonnella, wie sie von der Literatur überliefert werden, 118 so ist doch den privaten Auf‐ zeichnungen, welchen, wie der Herausgeber betont, ein hoher historischer Dokumentati‐ onswert zukommt, zu entnehmen, dass die höfische Lachgemeinschaft selbst in dieser Epoche einen hohen Anteil des Körpers an den unterhaltenden Performances des Hofnarren erwartete. Hofnarren als Erzähler der eigenen Possen Freilich ist den Aufzeichnungen Atanasios ein grundlegender Medienwechsel deutlich an‐ zumerken: Häufig wird vom Hofnarren nicht die Inszenierung eigener Streiche und Witze verlangt, sondern die Erzählung von Ereignissen, die in der Vergangenheit lagen oder au‐ 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 210 <?page no="211"?> 119 Welsford, The fool, S. 13. 120 Garzoni, La Piazza Universale, S. 1307. 121 Zit. aus: Schizzerotto, Giancarlo: Gonnella il mito del buffone. Pisa 2000, S. 256. 122 Saffioti, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 106. ßerhalb des Hofes passierten. An Karneval führt Atanasio häufig die Einfälle des Herzogs aus und tritt in verschiedenen cross-dressings auf: als Bäuerin, als junge Frau usw. Er durch‐ lebt in der jeweiligen Verkleidung die fröhlichen Tage, indem er tanzt, singt, mit den an‐ deren durch die Straßen läuft und mit seiner Verkleidung scherzt; all dies, um es am Abend detailliert seinem Herrn wiederzugeben. Diese Aufgabe, durch lebendige Erzählung seine eigenen Streiche oder lächerlicher Szenen an anderen Orten wieder in Erinnerung zu rufen bzw. als kurzweilige Nachrichten zu präsentieren, gehörte sicherlich ab dem 14. Jahrhundert zum Repertoire des Possenreißers. So schreibt Welsford über die italienischen Buffonen: An important part of the stock-in-trade of successful buffoons was a talent for telling good stories about themselves. To increase their repertoire they would play comic and sometimes very dishonest tricks on the various people they met on their journeys, and they would then hasten to the nearest court to tell the story and get a handsome tip as a reward for their roguery. Often, I imagine, they must have invented the incidents or grossly exaggerated them. It would be interesting to know whether they sometimes modelled their conduct on jest-books; certainly, unless human nature has completely changed since then, they must often have appropriated one another’s anecdotes, and told ‚chestnuts‘ as if they were the result of first-hand experience. 119 Die Funktion des Hofnarren als Erzähler seiner eigenen Handlungen wird auch in kultur‐ historischen Quellen fassbar: Garzoni schreibt 1585 über die Tätigkeit des Hofnarren, dass er zur Unterhaltung Anlaß gebe, „mit seinen Erzählungen, Possen, Gesichterschneiden und Späßen, wenn ein ehrenvolles Publikum am Hofe sich um ihn herumgesetzt hat.“ 120 Über den ferraresischen Hofnarren Gonnella heißt es in der Biographie von Bandini, dass er ein Meister im Verfertigen von Späßen und Streichen war, die er dann dem Publikum zur Er‐ heiterung vorgetragen hat: „Ridenda siquidem per iocum multa mirabili callidate confecit, que natura audientum letificant recitata.“ 121 Zur Kunst des Possenreißers gehörte es dem‐ nach in zunehmendem Maße, nicht nur transgressive, unverantwortliche bzw. närrische Handlungen auszuführen, sondern vor allem von solchen mündlich zu berichten. Dies er‐ fordert teilweise andere Fähigkeiten, die Zuhörer zum Lachen zu bringen, als die perfor‐ mance selbst. Sie waren vor allem an rhetorischen Witz und redebegleitende Gestik und Mimik gebunden, die etwa ein natürlicher Narr im Regelfall nicht effektiv beherrschte. So interpretiert Saffioti die im Tagebuch Atanasios befindlichen Witze und Schwänke dahin‐ gehend, dass der Possenreißer eine ganze Reihe zusätzlicher performativer Leistungen er‐ bracht haben muss, um beim Vortragen oder Vorlesen aus dem Buch seine Zuhörer zum Lachen zu bringen. 122 Denn sein Tagebuch diente Atanasio auch als Ressource für solche Gelegenheiten, an denen keine neuen Einfälle vorhanden waren. Er las dann daraus wie aus einer Chronik des Hoflebens vor, und erinnerte sein Publikum an denkwürdige Ereignisse. Vor allem der Fürst selbst wünschte zu Zeiten, dass der Narr ihm jeden Abend aus seinem Tagebuch vorlas: „facendomi legger ogni sera il signor duca un mio libro novamente ritrovato che 4.3. Hofnarren 211 <?page no="212"?> 123 Ebd., S. 53. Es war für Atanasio wichtig, immer ein paar gute Geschichten, Anekdoten und Erzäh‐ lungen von tatsächlich geschehenen Ereignissen auf Lager zu haben, sodass er manchmal sogar das, was passierte, in sein Notizbuch schrieb, um es später, während des Banketts, erzählen zu können. 124 Vgl. zum Begriff der „zerdehnten Kommunikation“ Ehlich, Konrad: Zum Textbegriff. In: : Text - Text‐ sorten - Semantik. Linguistische Modelle und maschinelle Verfahren. Hg. von Annely Rothkegel u. Barbara Sandig. Hamburg 1984, S. 9-25 sowie ders.: Funktion und Struktur schriftlicher Kommuni‐ kation. In: Handbuch Schrift und Schriftlichkeit. Bd. 1. Hg. von Hartmut Günther u. Otto Ludwig. Berlin / New York 1994, S. 18-41. 125 Saffioti, E il Signor Duca ne rise di buona maniera, S. 59. sette anni innanzi l’avevo perduto.“ 123 Hier werden mehrere Funktionen des Tagebuchs greifbar: erstens die Auffrischung der Erinnerung des Fürsten an vergangene Ereignisse des Hoflebens - vergleichbar mit einem heutigen Fotoalbum; zweitens die Befriedigung der Lust am genauen Hergang bestimmter lächerlicher Vorfälle und Denkwürdigkeiten der Vergangenheit, damit sie vor dem geistigen Auge wieder aufscheinen und erneut über sie gelacht werden kann - ähnlich wie beim Vortrag von unterhaltsamen Novellen; und drit‐ tens die ebenfalls mit Lachen verbundene Kurzweil und Freude am eigentlichen stimm‐ lich-mimischen Vortrag Atanasios. Das Tagebuch übernimmt dabei die Rolle eines unter‐ haltenden Mediums, und ‚ersetzt‘ gewissermaßen gegenwärtige Handlung durch die mediale Reproduktion von vergangener Handlung. Die übermittelnden Medien - Körper, Stimme und Sprache des Possenreißers - bleiben jedoch dieselben, sie verdoppeln sich gewissermaßen nur und schließen den bei der „zerdehnten Kommunikation“ aufgetretenen raumzeitlichen Hiatus. 124 Im Verlauf dieser Verschiebung von Handlungen und Sprechakten hin zur Erzählung dieser Handlungen und Sprechakte im mimisch-gestischen Vortrag verändern sich auch körperliche und sprachliche Komik: Alle motorischen und körperlich aufgeführten Akte werden auf die ebenfalls körperlichen, doch weit weniger aktive Ebene des stimmlichen und fazialen Ausdrucks reduziert. Überraschende und schlagfertige Antworten, Bonmots und Motti, spöttische Bemerkungen können im Verlauf der Verschriftung und erneuten Wiedergabe verändert, erweitert und mit einer Spannungskomponente versehen werden. Die Verschiebung hin zum Tagebuch bedeutete demnach nicht nur eine Erweiterung und Verlagerung der kurzweiligen Formen, die der Possenreißer anbot, sondern auch eine Ver‐ änderung der Komik selbst. Dies geht so weit, dass die Unterhaltung des Fürsten durch Atanasio eine ganz neue Qualität erlangt: Der Primat des Schrifttextes beim Vorlesen stärkt die Tätigkeit des buffone als Chronist. Dem Fürsten geht es im Umgang mit den Tagebüchern seines Narren nicht mehr so sehr um die Wiederholung komischer Sequenzen, sondern um die Aufzeichnung denkwürdiger Ereignisse und „weiser“ Reden seines Narren. Immer wieder sieht sich Ata‐ nasio mit der Aufforderung konfrontiert, weise zu sprechen und dies dann im Tagebuch festzuhalten: „Sua eccellenza disse ch’io avevo detto una cosa molto da savio en che non mancasse di metter tal cosa a libro.“ 125 In den Anforderungen des Herzogs werden, um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Italien, neue Prioritäten der komischen Unterhaltung er‐ kennbar: Erwartet werden von Atanasio weniger transgressive, obszöne Späße, als eher kluge, witzige Reden, ganz im Sinne von Castigliones „Der Hofmann“. Der Maßstab ist der 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 212 <?page no="213"?> 126 Diese Entwicklung lässt sich anhand der Stadtnarren in Flandern ebenso erkennen: 1548 wurde der Stadtnarr von Oudenaarde auf einmal „fol saige“ genannt, während er in den Jahren zuvor nur „sot“ hieß. Vgl. Verberckmoes, Johan: Schertsen, schimpen en schateren. Geschiedenis van het lachen in de Zuidelijke Nederlanden, zestiende en zeventiende eeuw. Nijmegen 1998, S. 20 f. 127 Levi, L’ultimo Re dei Giullari, S. 176. 128 So etwa hatte die Stadt Lille einen Schalksnarren in ihrem Dienst, der bei öffentlichen Prozessionen und Festen mitwirkte. Vgl. Welsford, The fool, S. 121. 129 Vgl. Verberckmoes, Schertsen, schimpen en schateren, S. 22. In Flandern waren Schalksnarren unter den Rhetorikerkammern der rivalisierenden Städte, wie Verberckmoes zeigen kann. Dass sie oft spektakuläre Streiche mit geistreichem Witz verbunden haben, zeigen die von Erasmus festgehal‐ tenen Geschichten des Löwener Narren Anthonis van der Phalisen, genannt Pape Theun, der 1487 gestorben war, über den aber noch zahlreiche Anekdoten kursierten. Zit. bei Verberckmoes, ebd. schriftliche Text, dessen erbauliche Funktion immer mehr seine kurzweilige verdrängt. 126 Mit dem neuen Maßstab verändern sich auch die Anforderungen an die Performance: Der Text bestimmt von nun an die Handlungen, das Lachen hat aufgehört, sie zu regieren. 4.4. Schalksnarren als städtische Unterhalter: Spottturniere und Pritschmeister Neben den Höfen waren vor allem die Städte der Ort, wo Possenreißer ein Publikum für ihre Inszenierungen finden konnten. Im Mittelalter waren Hof und Stadt allerdings nicht immer voneinander klar abzutrennen: So wird aus einer Mailänder Chronik aus dem 14. Jahrhundert berichtet, dass am Hof der Visconti zur Zeit Bernabòs gegenüber dem Adelspalast ein Haus gab, wo „histrionibus sive bufonibus suis“ lebten; diese führten öf‐ fentlich verschiedene Kampfspiele auf. Sie duellierten sich im Werfen von Messern und Schwertern, oder sie praktizierten den Zweikampf mit langen Holzschwertern und großen runden Schilden aus Holz (duelli giullareschi). 127 Interessant ist dabei die Zwischenstellung dieser Possenreißer. Sie wurden am Hof zu bestimmten Gelegenheiten gebraucht und wohl auch von ihm unterhalten, doch konnten sie auch eigenständig für andere arbeiten, wie etwa verschiedene Unterhaltungsaufgaben zu städtischen Festen und Ereignissen über‐ nehmen. Hier gab es bei öffentlichen und privaten Festen und Umzügen, bei Turnieren und Spielen ein reiches Betätigungsfeld für Schalksnarren, die gelegentlich auch im Dienst der Städte selbst standen. 128 Diese trugen dann auch Kleider in den Farben der Stadt, wie etwa Joos, der Stadtnarr von Oudenaarde, im Jahre 1512 zwei Kleider mit schwarzen Linien, Socken, Schuhe, ein hölzernes Schwert und eine Hellebarde aus Holz. In dieser Kleidung stand er dem dem Maler Jan Spierinc Modell, der sein Porträt malte. 129 Gerade bei städtisch ausgerichteten Turnieren fanden sich reichhaltige Möglichkeiten der Mitwirkung: So existierten innerhalb der breiten Turnierpraxis des Spätmittelalters, die bis zu den großen Turnierveranstaltungen unter Maximilian reichten, schon früh parodie‐ rende Zwischenspiele oder Einlagen als kurzweilige Unterbrechung oder als Abschluss des Rituals. Hier konnte sich die Spannung, die den Schauturnieren trotz aller Vorsicht und Beherzigung ritterlicher Codes auf Grund ihres Risikos für die Teilnehmer eigen war, im Gelächter über performances entladen, in denen professionelle Stocknarren die rituellen Abläufe und Bewegungen der Turnierteilnehmer nachahmten, Stürze imitierten und sich 4.4. Schalksnarren als städtische Unterhalter: Spottturniere und Pritschmeister 213 <?page no="214"?> 130 Dass es sich bei diesen Tätigkeiten nicht um natürliche Narren handelte, sondern um Possen‐ reißer / Schalksnarren, dürfte zweifelsfrei sein. Vgl. auch Verberckmoes zu den Stadtnarren der Nie‐ derlande im 16. Jh., der belegt, dass viele der Stadtnarren geachtete Mitglieder der Reederijker-Kam‐ mern waren und ein intelligentes Rollenspiel aufführten. Verberckmoes, Schertsen, schimpen en schateren, S. 18. 131 Vgl. dazu auch Malke, Lutz S.: Narren. Porträts, Feste, Sinnbilder, Schwankbücher und Spielkarten aus dem 15.-17. Jahrhundert. Ausstellung der Kunstbibliothek Staatl. Museen zu Berlin 2001, S. 17 f. gegenseitig mit Spottgesten und -reden anstachelten. 130 Flögel hat die ausgesprochene Kör‐ perkomik der Narren bei Turnieren gestützt auf spätmittelalterliche Belege wie folgt be‐ schrieben: „Diese Narren liefen, hüpften und sprangen mit lächerlichen Bewegungen und Geberden um die Reiter, munterten sie auf, trieben die Pferde an, leisteten indeß auch bei Unglücksfällen ihren Herren Beistand.“ Diese Tätigkeiten sind auch auf verschiedenen bildlichen Zeugnissen festgehalten; so auf einer Lucas Cranach dem Jüngeren zugeschrie‐ benen kolorierten Zeichnung (1550? ) eines Turniers mit Narren. Auf der linken Seite er‐ kennt man im Hintergrund die mit Spottgesten und Prügeln aufeinander los gehenden Narren, im Vordergrund verhöhnt ein dritter Narr den gestürzten Ritter mit einer Spottgeste (Feige). Die Narren tragen die zweifarbige Kleidung, es sind die Farben des gestürzten Rit‐ ters, in dessen Dienst sie offensichtlich stehen. 131 (Abb. 5) Abb. 5: Lucas Cranach d. J. (1550? ): Turnier mit spottenden Narren (Kupferstichkabinett Berlin) Auch auf einem Kupferstich des Meisters MZ (Matthäus Zasinger? ), das ein Turnier am Hof Albrechts IV . von Bayern darstellt, sind in der Peripherie des Kampfgeschehens - welches durch Chaos und Unordnung gekennzeichnet ist - neben Musikern auch Narren in Aktion zu sehen: während in der Mitte des Bildes ein Narr auf einem Esel die Tjost imitiert, bückt 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 214 <?page no="215"?> 132 Feyerabend, S. XVIII, zit. bei Retemeyer, Vom Turnier zur Parodie, S. 105. Dass Schalksnarren zur Belustigung auf Eseln ritten, ist mehrfach belegt. So ritt der Narr Namen Omcken anlässlich des großen Narrenfestes 1551 in Brüssel, das von Jan Colyns organisiert wurde, rückwärts auf einem Esel herum. Bei diesem Narrenfest, von dem Verberckmoes berichtet, gab es eine Narrenmesse, ein Narrengericht, ein Narrenbankett und ein Narrenturnier mit hölzernen Waffen und Pferden. Eine große Menschenmenge schaute zu und begleitete die Aufführungen mit nicht enden wollendem Lachen. Vgl. Verberckmoes, Schertsen, schimpen en schateren, S. 21. sich der Narr im Vordergrund um seinen Stock (oder Lotterholz), mit dem er vermutlich die Kämpfer angestachelt oder mit entsprechenden Gebärden den Verlust der Lanze eines un‐ terlegenen Ritters nachgeäfft und ihn so verspottet hat. (Abb. 6) Eine ausführliche Beschreibung eines Schalksnarrenauftritts als Zwischenspiel besitzen wir von einem gewissen „kurtzweiligen Marcolfus (! ) auff einem ungesattelten Esel“ an‐ lässlich eines Turniers in Wien 1566: In dem aber dises alles geschacht / ist dieser dieweil komen auff einem ungesattelten Esel / welcher Esel hat grosse lange gezottete Hosen / auff Landsknechtische weiß angehabt an allen vieren / von gelb und blaw farben / und auff dem kopff ein schoenen grossen Federbusch / von Hanenfedern gemacht / Der aber so auff im gesessen ist / war dieser theurer Marcolfus / welcher auch nit weniger gestaffiert gewesen ist als sein gewaltiger Hengst / u. Dann sein kleidung war allenthalben gruen und rot / mit wollen oder Rosszhar außgefüllt / damit wann er gefallen im kein schad moecht widerfaren / zu vor auß auff der brust / an armen / und auff dem rucken / und hette auff dem kopf ein rot Paret auff Schweizerisch art / ist also auff dem Esel hinderwertz gesessen / und den schwanz in die hend gefasst / hin und her geritten in der Schrancken / und under dem volck platz ge‐ macht / auß disen ursachen / wann er den Esel anstach / da fieng er dann an gumpen und zu springen / und wurff in ab. Trib in summa vil gauckeley / daß sein sehr gut / zu lachen was / treib es auch so lang fuer und fuer biß zu end deß Thurniers. 132 Die Körperinszenierungen des Possenreißers sind hier eindeutig auf das Lachen des Pub‐ likums fokussiert. Schnitt und Farben der Kleidung unterstützen die Bewegungs- und Ver‐ laufskomik, indem sie den Eindruck des Konfusen, Ungeordneten, aus dem Ruder Lau‐ fenden unterstreichen. Der Spaß kommt völlig ohne sprachliche Anteile aus, auch wenn angenommen werden kann, dass bestimmte witzige Bemerkungen hier die Wirkung noch‐ mals steigern konnten. Der Sturz vom Esel als das Zentrum der komischen performance wird gezielt provoziert und vorbereitet, wodurch eine komische Spannung erzeugt wird, die sich bereits im Lachen über das „gumpen und springen“ des Tieres und dann schließlich im schadlosen Fall entlädt. Die Symbole der Narrheit (Federbusch aus Hahnenfedern, roter Hut als Hahnenkamm, mi-parti-Kleidung, das rückwärts Reiten) sind als Rahmungssignal des Lächerlichen bedeutsam, die Nähe zum Publikum steht in der Tradition des Narren‐ auftritts im weltlichen Spiel. 4.4. Schalksnarren als städtische Unterhalter: Spottturniere und Pritschmeister 215 <?page no="216"?> 133 Abb. 5, S. 158v / 159r des Nürnberger Schembart-, Turnier- und Wappenbuches (Ms. Germ. fol. 442 der Staatsbibliothek Preuß. Kulturbesitz Berlin, Handschriftenabteilung. Repr. In: Malke, Narren, S. 27). Abb. 6: Meister MZ (Matthäus Zasinger? ) Turnier am Hof Albrechts IV. von Bayern. Kupferstich, 1500 (Kupferstichkabinett Berlin) An einer Abbildung im Nürnberger Schembart-, Turnier- und Wappenbuch wird ersichtlich, dass Narren innerhalb ernsthafter Turniere Hilfsdienste für die turnierenden Ritter leis‐ teten, vor allem aber für die Unterhaltung des Publikums zuständig waren. 133 Gelegentlich übernahmen die adligen Turnierteilnehmer auch selbst die Narrenrollen in solchen spöt‐ tisch-parodistischen Aufzügen: Ein prägnantes Beispiel hat uns Hans Folz in seinem Lob‐ gedicht auf Maximilian hinterlassen, in welchem er die Ereignisse anlässlich des Kaiserbe‐ suchs zur Reichsversammlung in Nürnberg 1491 detailgenau festhielt. Nachdem das eigentliche Stechen und Rennen, an dem der Kaiser persönlich teilgenommen hatte, beendet war, traten 24 in grünem Filz gekleidete Männer von Adel auf, die auf dem Kopf Strohhelme und am ganzen Körper Wollknäuel unter der Kleidung trugen, um gegen Schläge mit Holz‐ krücken gewappnet zu sein, mit welchen sie sich gegenseitig traktierten sollten. „Die hielten 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 216 <?page no="217"?> 134 Folz, Hans: König Maximilian in Nürnberg (38). In: Die Reimpaarsprüche. Hg. von Hanns Fischer. München 1961, S. 321-324. zusammen viele Treffen mit Krücken, ritten auf Sätteln ohne Gurt, fielen oft herab ohne getroffen zu sein, und wenn sie trafen, blieb keiner sitzen, was lächerlich zu sehen war.“ 134 Do der schimpf auch gelag, Hup sich ein ander art, Ich glaub, das auff die fart, Kemen die wilden zwerg Auß einem holen perg In einer grün mießfarb. (…) Ir helm woren von stro, Die schilt fast auch also, Ir pfert der settel ploß. Es waren man und roß Auff einander getruckt, Die man recht sam gepuckt Oben geschwoln und dick Mit manchem ungeschick. Kurz leib und lange pein Tauchten sie han gemein; Am rück und um den pauch Gefüllet wie ein schlauch, Der auffgeplasen ist. Ich sach nie in der frist selczamer kuntter zwar. Etlichen waren dort Die meüler auffgespert Und von einander zert, Als vor gelechter groß Von diser sach ich loß. (V. 94-172) Noch im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden im ganzen Land, vor allem zu Fastnacht Spott-Turniere veranstaltet. Es waren meist als Bauern oder Narren verkleidete und aus‐ staffierte Gruppen junger Adliger oder Bürger, manchmal auch Gesellen (‚Gesellenstechen‘) und Bedienstete, die im Rahmen der fastnächtlichen Aufführungen zum Spaß gegenei‐ nander antraten (auch ‚Kübelstechen‘). Dazu bemerkt Kerstin Retemeyer in ihrer Untersu‐ chung zu Turnierparodien: Die verkehrte und parodierte Ausrüstung erforderte natürlich auch veränderte Bewegungen. (...) Waren bei den üblichen Rennen und Stechen die Form und das Maß gefragt, interessierte, wie der Kämpfer die Regeln einhielt, so verlangten diese Possen das Gegenteil - Flexibilität und Ungestüm. Die Form zerbrach. Nicht das Erwartete geschah, sondern das Unerwartete, Extravagante. (...) In 4.4. Schalksnarren als städtische Unterhalter: Spottturniere und Pritschmeister 217 <?page no="218"?> 135 Retemeyer, Vom Turnier zur Parodie, S. 103. 136 Ebd., S. 104. 137 Ebd., S. 113; ganz ähnlich war die Belustigung bei den in Leipzig und Nürnberg stattfindenden Fi‐ scher-Stechen, bei welchen sich gegnerische Parteien gegenseitig von Booten ins Wasser stießen. Ebd., S. 114 f. diesen Spottturnieren wurden, wie im Karneval, Standesgrenzen scheinbar verschoben und auf‐ gehoben; scheinbar, weil Spiel, Fastnacht und die beteiligten Personen die Grenzen setzten. 135 Die Bewegungen und Aktionen der Beteiligten an scherzhaften Turnieren stellten vor allem das Scheitern normierter bzw. idealer Körperbewegungen dar, sie stellten das Misslingen aus. Neben den theatralen Aufführungen der performer war die Inszenierung des Sturzes und seine Begleiterscheinungen (simulierte Lanzenstöße, simulierte Hiebe, Fall vom Pferd, halbe Stürze aus dem Pferd, Stürze zu Fuß, Landung im Schmutz oder auf dem Pflaster) eine übliche und beliebte Attraktion der Possenreißer. Diese Inszenierungen des Misslingens sind auf semiotischer Ebene völlig zu Recht als karnevaleske „Verkehrungen“ von Turnierordnungen und höfischer Körpernorm interpre‐ tiert worden, im Sinne eines Selbstbewusstseins städtischer Identität gegenüber überkom‐ menen Adelsritualen. Der dabei auftretende temporäre Austausch von sozialen Positionen macht die liminale Situation des Spiels nochmals deutlich. Dennoch liegt die Komik nicht allein in diesen spöttischen Parodien überkommener Rituale, die von einem sich überlegen fühlenden Bürgertum verlacht werden können, wie Retemeyer annimmt, sondern wie‐ derum in der lächerlichen Inszenierung der Vorgänge selbst: Motorik, Kinesik, Gestik, Mimik, Intensität in Bewegung und Stimme sind die entscheidenden Lachen auslösenden Merkmale. Man verlachte nicht in erster Linie den Repräsentanten eines Standes oder einer Gruppe, sondern die Körperaktion, die er vorstellte bzw. nachahmte: „die Kämpfer stürzten oft vom Pferd, jeder rannte wider alle Regeln gegen jeden, das Stechen insgesamt verlief chaotisch.“ 136 Ob ein Ritter oder ein als Bauer verkleideter Ritter oder ein als Narr auftretender Geselle vom Pferd fiel und unsanft aufkam, der komische Sturz an sich bleibt das Ereignis, was zur „Einleibung“ durch innervativen Nachvollzug und somit zum Lachen führt. Freilich kommen die anderen Elemente der komischen Inszenierung insgesamt hinzu, wenn etwa unstandesgemäße Kleidung vorgeführt bzw. einander ausschließende Standeszeichen zu‐ sammengefasst werden. Schließlich ist das Lachen auch ein Medium des Spottes, wenn Standesmerkmale gezielt parodiert und lächerlich gemacht werden. Ein sehr früher Beleg dafür, dass solches Lachen nicht von sozialer Verachtung, sondern von körperlichem ‚Fehlverhalten‘ regiert wird, ist das schon im 12. Jahrhundert stattfin‐ dende Fischerstechen der Bürgersöhne vor den Toren Londons. Als ständeübergreifendes Ereignis lachte man hier in sicherer Entfernung am Ufer über den Verlust der Balance der Teilnehmer und die anschließenden Stürze ins Wasser bei einer Geschicklichkeitsübung auf der Themse. 137 Das Beispiel ist auch ein guter Nachweis dafür, dass das Lachen über den Körper in rituellen Spielen nicht an das Spätmittelalter gebunden ist, sondern auch schon vorher rekurrentes Phänomen war, auch wenn die Belege hier wesentlich weniger zahlreich sind. 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 218 <?page no="219"?> 138 Vgl. Kap. 1.1 zur Einleibung. 139 Vgl. Werner Röcke: Die getäuschten Blinden. Gelächter und Gewalt gegen Randgruppen in der Li‐ teratur des Mittelalters. In: Lachgemeinschaften. Hg. von Röcke / Velten, S. 61-82, hier S. 68. 140 Die Tatsache, dass es sich hier um die Randgruppe der Blinden handelt, ist noch für die Frühe Neuzeit nicht ehrenrührig, da Gewalt und Spott gegen Minderheiten zur Normalität des Alltags gehörte. Dass im Blinden-Schweine-Spiel die Gewalt gegen Randgruppen aus apotropäisch-ritueller Motivation heraus inszeniert wird, wie Röcke vermutet, mag durchaus zutreffen. Das Lachen betrifft jedoch weniger die Blinden als Randgruppe, sondern ihre defizitäre Motorik und die närrische Verfolgungs‐ jagd insgesamt in einer Rahmung der komischen Situationsspaltung, in welcher die außerhalb der Situation Stehenden mehr wissen (und sehen) als die innerhalb der Situation Befindlichen (vgl. Kap. 6.4.). 141 Vgl. zu den Schützenfesten und zur Figur des Pritschmeisters Bachler, Karl: Der Pritschmeister Wolf‐ gang Ferber d.Ä. (1586-1657) und seine Stellung in der deutschen Literaturentwicklung. Ohlau 1929 und Retemeyer, Vom Turnier zur Parodie, S. 119-129 u. S. 146-170 genauer zum Status des Pritschmeisters. Der inszenierte Sturz gehört wie auch spielerische Verfolgungsjagden, wie wir sie am Hof in Urbino gesehen haben, und scherzhafte Prügelszenen zu denjenigen komischen Performances, die allein durch ihre überraschende und überbordende Motorik faszinieren und zum Lachen bringen. Denn bei alle diesen Inszenierungen fällt der Körper aus der Rolle, entledigt sich seiner Haltungsaufgaben, die an kulturelle und ethische Werte gebunden sind, überträgt sich ein spezifischer Körperimpuls der verkehrten und überraschend falschen Motorik an die Zuschauer und Teilhabenden, der durch die ausbleibende Realisierung am eigenen Körper stattdessen Lachen auslöst. 138 Ein weiteres Beispiel dafür ist der in der Lü‐ becker Chronik für das Jahr 1386 festgehaltene Bericht eines scherzhaften Turniers bzw. Rituals mit Blinden, was zur Fastnacht stattfand. Der Junker der Stadt wählte zwölf kräftige Blinde aus, welche als Ritter mit alten Harnischen und Panzern ausstaffiert und mit Keulen bewaffnet wurden, und führte sie in einen abgezäunten Platz auf den Markt, wo sie ein Schwein jagen, töten und im Anschluss daran verzehren durften. Die wilde Jagd der Blinden nach dem Ferkel, die fehlgehenden Schläge und diejenigen, die nicht das Schwein, sondern die anderen Blinden trafen, die Stürze der Blinden und die Agilität des Schweines waren Anlässe für das Gelächter der Zuschauer, sodass das Spektakel besonders populär war, wie wir aus Berichten aus Köln, Brüssel, Nürnberg und anderen Städten wissen. 139 Auch hier geht es um die Inszenierung von Konfusion und Misslingen, um die Lust an fehl gehendem motorischen Aufwand, die Differenz zwischen erkennbarem Kampfeswillen und körper‐ lichem Ungenügen, welche für das Gelächter verantwortlich sind. 140 Auch die rituellen, jährlich wiederkehrenden Schützenfeste boten viel Raum für Kör‐ perinszenierungen professioneller Possenreißer, hier Pritschmeister genannt. Als Ausrufer und Festordner, Spielmeister und Unterhalter hatten die Pritschmeister eine wichtige Funk‐ tion für den Erfolg des Schützenfestes. Sie traten selbst als Schalksnarren oder Narren‐ meister in Begleitung von Narrengehilfen auf, teilten mit ihrer Pritsche Hiebe und Schläge aus, griffen in die einzelnen Teile des Programmablaufs (musikalische Darbietungen, Bau‐ erntänze, Bauernstechen) mit närrischen Possen ein und hielten Spottreden. 141 Wie einige Hofnarren des 16. Jahrhunderts waren die Pritschmeister auch Chronisten der Ereignisse, 4.4. Schalksnarren als städtische Unterhalter: Spottturniere und Pritschmeister 219 <?page no="220"?> 142 Der Pritschmeister ging im Gegensatz zu den fahrenden Possenreißern einem bürgerlichen Beruf nach, übte diesen jedoch auch auf Wanderschaft aus. Er gehörte den Schalksnarren zu, und nahm als eine Art Zeremonienmeister an den Festen verschiedener Städte teil und berichtete später in gereimten Versen über die Geschehnisse. Beispielhaft steht Heinrich Wirre oder Wirrich, der über die Münchner Hochzeit (1568) und über die Wiener Hochzeit (1571) Beschreibungen verfaßte. Vgl. Retemeyer, Vom Turnier zur Parodie, S. 117 ff. 143 Staatsarchiv Dresden, OHMA Lit. G. Nr. 1 Bl.45-105a. Zit aus Retemeyer, Vom Turnier zur Parodie, S. 119. 144 Retemeyer, Vom Turnier zur Parodie, S. 124. 145 Ebd., S. 130. 146 Fastnachtsturnier in Dresden, 1554. Zit. aus Retemeyer, Vom Turnier zur Parodie, S. 139. an denen sie teilnahmen bzw. die sie organisiert hatten. 142 In einer solchen Chronik eines Pritschmeisters des Großen Armbrustschießens zu Dresden 1554 wird von einem grotesken Tanz zweier maskierter und als Narren ausstaffierter Männer und einer hinkenden Narren-Braut berichtet, die vor dem Pritschmeister, der ebenso den Hinkenden gab, einen Tanz mit brennenden Kerzen aufführten, zu dem zwei Sackpfeifer spielten: „So hetten die baide mitt denn kertzenn Ime furtantzenn wollen Wann sie dann also baide gehunckenn Sollte der Pritz=scher die braut gepritzscht habenn vndd als ain gelechter doraus wordenn sein.“ 143 Teil des Schießens war ein Bauernstechen am zweiten Tag, bei welchem sich die Teilnehmer gegenseitig mehr oder weniger ungeschickt von den Ackergäulen zu stoßen versuchten. 144 Bauernstechen wurden in Städten und Dörfern abgehalten, waren aber auch häufig Be‐ standteil von Schützenfesten und dienten als kurzweilige Unterbrechung des Schießwett‐ bewerbs vor allem der Unterhaltung. Bauernstechen waren Parodien von üblichen Tur‐ nieren, es wurden (Spott-)Preise ausgesetzt und die Teilnehmer rekrutierten sich aus der Bauernschaft. Die vielleicht berühmteste Beschreibung eines Bauernstechens ist das Bau‐ ernturnier in Heinrich Wittenwilers Der Ring, in welchem der Ritter Neithart gegen die Bauern antritt und ihnen empfindliche Verletzungen zufügt. Was hier in grotesker Über‐ treibung geschildert wird, waren vermutlich auch in Wirklichkeit derbe Vergnügungen, die auch in Gewaltorgien ausarten konnten. Ihre Hauptaufgabe lag jedoch in der „kurtzweil“: „Der einzige Zweck lag darin zu unterhalten, Lachen zu erwirken; nicht Geschicklichkeit auszustellen, sondern Ungeschicklichkeit. Der Unterhaltungswert erhöhte sich mit zuneh‐ mendem Widerspruch zu einem normalen Turnier“, so Retemeyer. 145 Die Bauern stachen zumeist in Strohharnischen, was sie zwar vor schlimmeren Verletzungen schützte, doch die Bewegungsfreiheit einschränkte und auch dadurch einen lächerlichen Effekt hatte. Über‐ haupt wurde bei Bauernturnieren durch Ausrüstung und übertriebene Bewegungen ein grotesker Eindruck der gesamten Motorik angestrebt. Ziel der Pritschmeister war es, vor allem für die Zuschauer ein Bild höchster Unordnung und Verwirrung zu inszenieren, was sich teilweise durch unfreiwillige Stürze und Missgeschicke, teilweise durch simulierte Be‐ wegungen erreichen ließ. Dennoch blieb es beim Stechen der Bauern nicht immer beim Scherz, sondern es kam auch häufig zu Verletzungen und Unfällen. Dies scheint jedoch einkalkuliert worden zu sein; so kommentiert der Chronist, Pritschmeister Pezold, solche gefahrvollen Stürze kaum mit Mitleid, sondern lakonisch mit Schadenfreude, ein Hinweis auf die Wahrnehmung des Publikums: „vnnd ist lustig antzusehenn gewesenn.“ 146 4. Ioculatores und Hofnarren: Professionelle Possenreißer im Mittelalter 220 <?page no="221"?> Den Kontrast zwischen dörperlichem und höfischem Milieu, den Retemeyer als Grund für das Verlachen der Bauern als Narren angibt, sehe ich im Gegenteil als inszenierten an: Weder dörperliches noch höfisches Milieu waren in der frühneuzeitlichen Stadt Dresden noch vollständig vorhanden; man spielte mit ständisch-literarischen Hypostasierungen, um ein ständeübergreifendes Lachen auszulösen. 4.4. Schalksnarren als städtische Unterhalter: Spottturniere und Pritschmeister 221 <?page no="222"?> 1 Vgl. die Zusammenfassung der Forschung zu dieser These bei Katritzky, M. A.: Women, Medicine and Theatre 1500-1750. Literary Mountebanks and Performing Quacks. Aldershot / Burlington Vt. 2007, S. 15 ff. 2 Auch wenn ich mir über die methodische Unschärfe dieser Differenzierung bewusst bin, ist sie doch für das Folgende leitend gewesen. Sicherlich ließen sich von diesem Gesichtspunkt her die in Kap. 4.4. genannten Schalksnarren in den Städten auch unter „theatrale Aufführungen“ subsumieren, doch ist dort m. E. die Zugehörigkeit zur Narrentradition wichtiger. 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers im Schauspiel 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität Im vierten Teil dieser Arbeit habe ich zu zeigen versucht, dass die Wahrnehmung von be‐ stimmten Körperinszenierungen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher professioneller Performer (ioculatores, Hof- und Schalksnarren) Lachen ausgelöst hat. Als wesentliche Ba‐ sisfelder einer Komik der „obscenis corporum motibus“, wie sie in den Schriften der Kleriker bezeichnet wurde, konnten anhand von kulturhistorischen Quellen körperliche, sprach‐ liche und stimmliche Nachahmung sowie Bewegung identifiziert werden. Zum ersten Feld gehörte die Verdopplung / Wiederholung, Verzerrung, Umkehrung und Variation von ritu‐ ellen und sozialen Regulatoren wie etwa in Spottgesten und -handlungen, Stimmenver‐ stellungen, Überschreitungen der Grenzen zwischen Geschlechtern, zwischen sozialen Gruppen und deren Habitus, sowie zwischen Mensch und Tier. Das zweite Basisfeld kann mit der Aufführung von Unordnung und Verwirrung, die bis zur Erzeugung komischer Gegenwelten reichen kann, umschrieben werden; dazu gehören tänzerische und motorisch exzessive Bewegungen (wie inszenierte Stürze, Verfolgungsjagden oder Störmanöver), oft in Kombination mit der Aufführung lautlicher Intensität. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser noch recht allgemeine Befund auch auf die seit dem späten Mittelalter sich immer weiter ausbildenden und sich verfestigenden theatralen Spielformen übertragen werden kann. Wie werden die Körper von Akteuren im weltlichen und geistlichen Spielen, wie auch in anderen städtischen performances - Tänze und Läufe der Karnevalszeit etwa - inszeniert, um Lachen zu erregen? Der Übergang von den Auf‐ führungen der Gaukler und Narren zu stärker institutionell organisierten theatralen Formen ist dabei fließend: Die These des Mitwirkung professioneller Schauspieler scheint hier - gerade bei den komischen Szenen des geistlichen Spiels - zumindest nicht generell ausschließbar. 1 Dennoch ist gerade das Kriterium professionelle Schauspieler oder Laien‐ darsteller bisher dazu benutzt worden, um zwischen den Solo-performances der ioculatores und den stark gruppen- und gemeinschaftsbezogenen theatralen Aufführungen in den Städten andererseits zu unterscheiden. 2 Die einzelnen Spielgattungen wie Neidhart- und Fastnachtspiel, Farce, Sottie und Com‐ media dell’arte, sowie geistliche Spiele sind zwar gattungsgeschichtlich nicht problemlos <?page no="223"?> 3 Insofern gilt auch hier bereits - wenn auch mit Abstrichen - die Minimalformel für Theater: a spielt b und c schaut zu: „Es ist die besondere Leiblichkeit des Schauspielers, sind seine performativen Akte wie Gesten, Bewegungen im Raum, Sprechakte, welche die Identität einer Rollenfigur konstituieren.“ Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, S. 19. 4 Hier weise ich nochmals auf meine Unterscheidung zwischen lächerlichem und komischem Körper hin: Sie unterscheiden sich nicht in ihrer Zugehörigkeit zur lebensweltlichen bzw. ästhetischen Sphäre. Ist der komische Körper der absichtsvoll komisch inszenierte Körper des Schauspielers oder Possenreißers, so verstehe ich unter lächerlichem Körper die unfreiwillig lächerlich gemachten Körper der anderen (vgl. Kap. 1.3. § 17). zu umreißen, doch sind sie geeignete Felder des Theatralen, um das Potential und die Formen komischer Körperinszenierungen präziser als in Teil 4 herauszuarbeiten. Denn bisher ging es mir vor allem um den Nachweis dieser Inszenierungen und ihren Zusam‐ menhang mit dem Lachen seit dem frühen Mittelalter; im Folgenden wird es zwar auch noch darum, aber mehr um den Versuch der Beschreibung einer historischen ‚Grammatik‘ von Körperbewegungen und -inszenierungen gehen, deren Wahrnehmung Lachen ausge‐ löst hat. Zu den Besonderheiten des frühen Theaters im christlichen Abendland zählen sicherlich sein enger Bezug zum Ritual sowie seine offene Form als Spiel, welches man deshalb auch mit gutem Recht als performance bezeichnen kann. Als performances können zwischen 1300 und 1600 nicht nur Spiele, sondern auch Umzüge, Prozessionen, Tänze und Aufführungen jeder Art beschrieben werden. Sie gehören somit zum Bereich des dem Rituellen entwach‐ senen Theatralen, meist auch Szenischen, und man kann sie auch als rituell-theatrale Formen ansehen. Rituell sind sie, weil sie an Rituale des religiösen, agrarischen und sozialen Lebens anknüpfen und Gemeinschaft herstellen, sowie deren symbolische Bedeutungen bearbeiten. Performativ sind sie, weil sie diese Gemeinschafts- und Bedeutungsherstellung aufführen und vollziehen, und weil sie ihre Akteure im Raum ordnen; theatral sind sie, weil die Akteure ihr Spiel vor Zuschauern aufführen, und die Zuschauer Möglichkeiten der Intervention und somit Bewusstsein von ‚Spiel‘ besitzen. Dieser performativ-rituell-theat‐ rale Rahmen ist es, der Spiele und andere dramatische Aufführungen grundsätzlich von den Solodarbietungen der ioculatores und den Possen der Narren unterscheidet, und der auch den komischen Inszenierungen, die innerhalb seiner Grenzen stattfinden, eine besondere historische Prägung verleiht. Wie lassen sich die Formen von scurrilitas in diesem Rahmen beschreiben, was ist die Rolle von Possenreißern darin? Hier ist zunächst nach ihrem Einsatz zu fragen, zu unter‐ scheiden, ob sie in die Aufführungen integriert sind - als komische Figuren im Spiel oder in Zwischenspielen, als Mitwirkende bei Umzügen und Läufen - oder eher am Rand von Aufführungen zu finden sind, als Ausschreier und Platzschaffer bzw. als Spaßmacher an der Grenze zwischen Akteuren und Publikum. In jedem Fall gilt für die rituell-theatralen Aufführungen, dass die komischen Akteure Schauspieler sind, denn sie spielen eine wie immer geartete Rolle, sie inszenieren ihren Körper, damit er einen Effekt zeitigt: das Lachen des Publikums. 3 Es ist somit wiederum ein komischer Körper, der andere Körper zum Lachen bringt. Auf der anderen Seite ist die Frage von Bedeutung, in welchen Aufführungsformen Possenreißer in die Rolle des jesters einnehmen, desjenigen, der die Körper der anderen Mitspieler lächerlich macht, damit über sie gelacht werden kann. 4 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 223 <?page no="224"?> 5 Dass es sich dabei um eine Skizze der verlorenen Komödientheorie des Aristoteles handelt, hat Janko vermutet. Vgl. dazu Janko, Richard: Aristotle on Comedy. Towards a Reconstruction of Poetics II. 2. Aufl. London 2004, S. 52-62. Vgl. auch: Fuhrmann, Manfred: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973. 6 Vgl. Aristoteles: Poetik, 9, 1448a. 7 Zu den Einzeltechniken der Redekomik gehören: Homonymie, Synonymie, Geschwätzigkeit, Paro‐ nomasie, unpassende Diminutivbildung, Verfremdung durch Stimme, Syntax. Vgl. Janko: Aristotle on Comedy, S. 25-34. 8 Vgl. Tractatus Coislinianus, in: Janko: Aristotle on Comedy, S. 35-37 (Übers. HRV). Vor diesem Hintergrund sind die aristotelischen Theoriesätze zur Poetik der Komödie, wie sie in seiner Poetik und im anonym überlieferten, doch stark aristotelischen hellenis‐ tischen Tractatus Coislinianus (Handschrift aus dem 10. Jh.) 5 formuliert sind, nur in Aus‐ nahmefällen auf rituell-theatrale Aufführungen zwischen 1300 und 1550 zu übertragen. Aristoteles hatte in seiner Poetik nur wenige Sätze zur Komödie formuliert: ihre Grund‐ prinzipien basierten demnach auf der Darstellung von mit Hässlichkeit verbundenen Feh‐ lern des Menschen, die jedoch enthebbar sind, also keinen Schmerz verursachen. Sie sollen in einer „zusammenhängenden Handlung von allgemeiner Bedeutung“ dargestellt werden. 6 Aristoteles bezieht sich damit auf das von ihm präzise definierte Genre der Ko‐ mödie, deren Entstehung er auch gattungshistorisch begründet. Das Lächerliche ist dem‐ nach auf dramatische Handlungs- und Ereignisfolgen bezogen, in welche die komischen Darsteller eingebunden sind. Von hier geht der kurze Tractatus Coislinianus aus, wenn er die Hauptquellen der Bühnenkomik, die Rede- und die Handlungskomik etwas näher be‐ schreibt. Nach den verschiedenen Lachanlässen der Redekomik 7 wird das Lachen über ko‐ mische Handlungen beschrieben, bei welchen der Traktat wiederum neun Anlässe unter‐ scheidet: Lachen entsteht (1) aus der Täuschung, (2) aus der Verwechslung bzw. Verkleidung, (3) aus dem Unmöglichen und (4) dem Möglichen, doch Verkehrten, (5) aus dem Unerwarteten, (6) aus der Bildung ‚niedriger‘ Charaktere, (7) aus der Anwendung des groben Tanzes, (8) aus der Bevorzugung des Wertlosen statt des Wertvollen, und (9) aus einer unzusammenhängenden, sinnlosen Rede. 8 Hier haben wir es mit einer Mischung verschiedener Kategorien zu tun: Während die Lachanlässe 1 bis 5 sowie 8 kognitiven Operationen unterliegen und sich auf den Hand‐ lungsverlauf beziehen, sind die Punkte 6 bis 9 auf die Aufführung und ihre Akteure bezogen. Dieses Schema ist aus leicht ersichtlichen Gründen für eine Analyse des Lachens und des Komischen in Mittelalter und Früher Neuzeit unbrauchbar. Es setzt eine fest umrissene Gattung, die klassische Komödie, und eine logisch-konsequentielle Handlung voraus. Ein körperlicher Lachanlass ist nur unter (8) zu erkennen, ansonsten werden die Körpertech‐ niken des Lachens nicht weiter beschrieben. Auch die Provokation durch Obszönität und Skatologie, die etwa in Neidhart- und Fastnachtspielen so deutlich im Zentrum steht, fällt hier völlig weg. Es bleibt die Kategorie der Darstellung „schlechterer“ Menschen sowie diejenige der Enthebbarkeit, welche auch für die Komik in unserem Untersuchungsfeld gelten. Für die komischen Vorgänge in rituell-theatralen Aufführungen ist es demnach not‐ wendig, nicht von ästhetischen Kategorien wie Genre, Handlung oder Darstellungsabsicht auszugehen, sondern vom inszenierten Körper. Denn der biologische, soziale und sinn‐ 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 224 <?page no="225"?> 9 Fischer-Lichte, Erika: Theatergeschichte als Körpergeschichte. Einl. zu Verkörperung, S. 11. 10 Abbé d’Aubignac, Francois Hedelin: La pratique de théâtre. Amsterdam 1715, S. 262. lich-wahrnehmbare Körper steht im Zentrum einer Theatergeschichte, die sich als Ge‐ schichte der Aufführungen versteht, wie Erika Fischer-Lichte deutlich gemacht hat: Diesen multidimensionalen Körper setzt der Schauspieler mittels einer Reihe von sich im Laufe der Geschichte wandelnden Techniken der Körper- und Stimmverwendung, Darstellungscodes und Aufführungskonventionen in Szene. Alle Aktionen des Körpers, Bewegungen und Gesten im Raum, Lautstärke, Klangfarbe und Modulation der Stimme sind ebenso wie das durch Kostüm und Maske bzw. Schminke erzeugte Erscheinungsbild inszeniert. 9 Die Wahrnehmung dieser actio des inszenierten Körpers und seiner Sprache ist es, die die Lachanlässe auch im Rahmen theatraler Bühnenkomik bestimmen. Diese dürfte sich weit mehr als in Sprachhandlungen in körperlichen Handlungen manifestiert haben, wenn noch D’Aubignac die Bühnenkomik in seiner Praxis des Theaters von 1715 als „beaucoup plus dans les actions, que dans les discours“ charakterisiert. 10 (Weitere Belege für diese These weiter unten.) Deshalb gilt hier ebenso, was wir für komische Vorgänge als Lachanlässe (modale Komik) in Kap. 1.3. festgelegt hatten: Dass nämlich die Wahrnehmung des lächerlichen Körpers mit dem wahrnehmenden Eigenleib (dem spürbaren Leib des Selbst) eine enge Verbindung eingeht, die zur temporären Konstitution eines interkorporellen Zwischen, eines Leibkör‐ pers führt. Diese „Einleibung“ ist entscheidendes Merkmal für die Erfahrung des Komischen (1.3., § 9 u. § 10). Komischer Vorgang und Lachen gehören demnach in einen Zusammen‐ hang der Widerfahrnis und Einleibung. Auf dieser Ebene der Übertragung körperlicher Komik im Erleben ergibt sich noch kein Sinn, sondern allein ein Nach- und Mitvollzug komischer Bewegung. Da dieser Moment des Mitvollzugs das eigene leibliche Selbstver‐ hältnis in Frage stellt, und es zur kognitiven Erkenntnis des komischen Vorgangs kommt, lacht der Körper als Akt der Distanzierung vom körperlichen Nachvollzug (§ 11 u. § 12). Das Lachen als Desorganisation des eigenen Körpers (Plessner) ist so die Reaktion auf den wahrgenommenen Kontrollverlust des anderen Körpers durch fremde Ursachen. Dieser Akt der Distanzierung durch Einleibung im Lachen macht noch einmal die Bedeutung der Wahrnehmung komischer Vorgänge und ihren Performance- und Spielcharakter deutlich. Damit kommt sie der ästhetischen Wahrnehmung nahe, die ebenfalls als ein Distanzie‐ rungsprozess beschrieben werden kann, ohne mit dieser jedoch identisch zu sein. Die Wahrnehmung des (tatsächlichen oder gespielten) körperlichen Kontrollverlustes (des Anderen) kann als der wichtigste körperliche Lachanlass bezeichnet werden. Komische Vorgänge des Kontrollverlustes beziehen sich jeweils auf Transformationen kultureller Codierungen der Hexis, d. h. der Körperhaltung, der Körperbewegung, der Gestik und Mimik, der Stimme und des Blickes, der Kleidung und Haartracht, des gesamten körperli‐ chen Habitus (§ 16). Ein professioneller Spaßmacher verfügt über Techniken, mit Hilfe derer er die verschiedenen Formen des Kontrollverlustes inszenieren kann. Bewusste Angriffe auf das Körperschema, wie etwa die Nachahmung eines bestimmten Ganges, aber auch ein Zuviel oder Zuwenig an Bewegung, an Gestik und Mimik, körperlichen Expressiva, das reine Zeigen von Nacktheit, Verkleidung, Maskerade oder der Vorgang der Nahrungsauf‐ 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 225 <?page no="226"?> 11 Vgl. dazu Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 165. 12 Fischer-Lichte, Theatergeschichte als Körpergeschichte, S. 11. 13 Denn auf der Grundlage von Codes werden Bedeutungen erzeugt, werden Botschaften formuliert. Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, S. 11. 14 Vgl. zu dieser Diskussion auch Philipowski, Silke: Geste und Inszenierung. Wahrheit und Lesbarkeit von Körpern im höfischen Epos. PBB 122 (2000), S. 455-477 und dazu Müller, Jan-Dirk: Visualität, Geste, Schrift. Zeitschrift für dt. Philologie 122 (2003), H. 1., S. 118-132. nahme und der Ausscheidung können somit Gelächter auslösen, ohne dass es noch zu einer Decodierung einer Zeichenbedeutung gekommen wäre (§ 18). Komische Vorgänge sind somit als „verkörperte“ zu betrachten, d. h. sie haben gleichzeitig repräsentationalen und selbstreferentiellen Charakter. Daraus ergibt sich, dass der Körper im komischen Vorgang sowohl semiotische als auch performative Qualitäten aufweist (§ 8). Er wirkt zunächst über seine Phänomenalität und seine Präsenz. Diese wird durch Prozesse der Verkörperung er‐ zeugt, mit denen der Possenreißer seinen phänomenalen Körper als einen raumbeherrsch‐ enden und die Aufmerksamkeit des Zuschauers erzwingenden hervorbringt. 11 Komple‐ mentär zu diesem performativen Effekt des komischen Körpers eignet ihm auch ein semiotischer Effekt, d. h. er kann auch zum Zeichen oder Zeichenträger werden (§ 17). Für die Untersuchung historischer Konstellationen der Wahrnehmung theatraler komi‐ scher Vorgänge bedeutet dies, dass der Körper nicht nur als Träger von Bedeutungen ge‐ sehen wird, sondern in seiner ganzen sinnlichen Präsenz, die das Publikum wahrnimmt. In der Forschung ist in den letzten Jahren eine Abkehr von rein semiotischen Analysen des Körpers in der Aufführung allgemein zu erkennen. So konstatierte Erika Fischer-Lichte schon 1999: „Denn auf der Bühne produziert der Körper Zeichen und ist Zeichen; er ist ein Zeichen-Körper, ein semiotischer Körper. Zugleich aber geht er niemals in seiner Zeichen‐ funktion auf.“ 12 Die spezifische Leiblichkeit, seine Ausstrahlung, sein In-der-Welt-Sein, seine Faszination und Sensation hat der reinen Zeichenfunktion des Körpers Widerstände entgegengesetzt. Dies hängt einerseits mit den Schwierigkeiten der Erstellung eines semi‐ otischen Beschreibungssystems für alle möglichen Bewegungs- und Erscheinungsvari‐ anten des Körpers zusammen, zweitens mit der Tatsache, dass den Zeichen des theatrali‐ schen Codes auf der Ebene des Systems lediglich eine Bedeutung zugeordnet werden kann, und drittens mit den stärkeren Zweifeln an den Prinzipien der kommunikationstheoretisch gefassten Bedeutungsübertragung von Zeichen überhaupt. 13 Insbesondere der bewegte, komische Körper mit seinen zahlreichen Gebärden, seiner mimischen Verzerrung, seiner Energetik, Proxemik sowie seinen phonetischen und paralingualen Äußerungen ist ein umfassendes Phänomen, das in seiner Unbestimmbarkeit kaum zu systematisieren ist. 14 Schon Barthes hatte darauf hingewiesen, dass das Theater eine hohe Dichte an Zeichen aufweise („polyphonie informationelle“). Zusätzlich zur Zeichendichte kommt noch die Vieldeutigkeit der Zeichen, ihre Polysemie: Es gibt nicht nur einen theatralischen Code, sondern viele: Codes der Sprache und des Sprechens, der Gestik und Mimik, der Stimme und der Bewegung, kulturelle, soziale und epochale Codes, die nur über Kontextanalysen zu erschließen sind. Entsprechend schwierig ist der semiotische Ansatz für das Phänomen des Komischen, das ja gerade mit der Viel- und Mehrdeutigkeit von Zeichen, überhaupt mit den Möglichkeiten der Konstruktion und Dekonstruktion von Sinn spielt. Doch gilt dies auch in umgekehrter Hinsicht: Gerade theatrale Rahmungen eröffnen durch ihr inhärentes 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 226 <?page no="227"?> 15 So etwa Lohr, Günter: Körpertext. Historische Semiotik der komischen Praxis. Opladen 1987. 16 Ebd., S. 69. 17 Die Zeichen, die durch die Tätigkeit eines Schauspielers hervorgebracht werden, sind eindeutig auf entsprechende kulturelle Systeme zu beziehen, deren Zeichen sie denotieren. Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, S. 30. Überangebot an Zeichen (welches sich durch den Entwurf einer Spielwelt ergibt) auch die Möglichkeit zum kreativen Umgang mit den Zeichen, zur Kombination und zur Zersetzung von Zeichen, was deren methodischen Status wiederum schwächt. Es ist daher kaum überraschend, wenn Versuche, den theatralen komischen Körper se‐ miotisch zu fassen, nicht gänzlich überzeugen konnten. 15 So erkennt Günther Lohr im Körper des Harlekin ein „ästhetisches Ausdruckssystem“, das sich in der „komischen Praxis“ realisiert: „Das Ziel der komischen Praxis ist (...) die Auflösung der realen Handlungsfelder und ihre Recodierung innerhalb des komischen Raums.“ 16 Der körperliche Habitus, d. h. der Flickenkittel des Harlekin, seine äußere Zerzaustheit, die physiologische Lockerheit der komischen Figur sind körperliche Ausdruckssymbole, die nach Lohr den Bruch mit der Ordnung, die Auflösung der dominanten Strukturen der communitas anzeigen. Wie richtig dies auch sein mag, vergegenwärtigt man sich die symbolischen Kleidungsstücke und Ac‐ cessoires von Narrenfiguren auf der Bühne - buntes Flickenkleid, Schellen, Narrenkappe, Marotte / Kolben - mit denen lesbare soziale Gesten demonstrativ vorgeführt werden (mit dem Kolben schlagen, an die Ohren fassen), so ungenügend ist diese Symbolik im Ergebnis, wenn sie sich mit der Konstatierung von gesellschaftlichen Mangel- und Zersetzungser‐ scheinungen bzw. der Kritik an ihnen begnügt. Sie hat dann nämlich nichts über die Wir‐ kung dieser semantisch codierten Komik ausgesagt - das Lachen. Und sie hat auch nichts über jene Bewegungslogik, Akrobatik, Mimik und Variabilität des Narrenkörpers und die Wahrnehmung ihrer Präsenz ausgesagt. Was die Semiotik für eine Analyse komischer Vorgänge in theatralen Rahmungen, auch für die Vormoderne, leisten kann, dürfte unbestritten sein: Die körperlichen Inszenierungen und Bewegungen von komischen Figuren - die aufgeführten Zeichen der Schauspieler - können bekannte und herrschende kulturelle Codes intentional parodieren, unterlaufen, kombinieren und verdoppeln, und somit ihre semantische Bedeutung pragmatisch verän‐ dern. 17 Gängige kulturelle Codes der Sprache und des Körpers, wie Bewegungscodes, Hal‐ tungscodes, Sprechcodes, Kleidungscodes, Verhaltenscodes werden so in der Aufführung Gegenstand von Übertragungen und semantischen Veränderungen (Umkehrungen, Kom‐ binationen, Subversionen, Negationen usw.). Beim Decodieren dieser Veränderungen muss freilich beachtet werden, dass die theatrale Rahmung selbst bestimmten Codes - etwa des karnevalesken Festes - folgt, die die Verhandlung kultureller Codes erst möglich macht. So müsste für jede einzelne Aufführung der Vergangenheit nicht nur jeweils entschieden werden, welche Codes bei der Aufführung vorliegen, sondern auch, welche kulturellen Codes mit ihnen bearbeitet werden. Dass dies ein fast nicht zu leistendes Unterfangen ist, dürfte einsichtig sein. Dennoch: Heuristisch ist der semiotische Zugang hilfreich, bietet er doch ein Beschrei‐ bungsinventar, mit Hilfe dessen Körperinszenierungen besser als zuvor beschrieben werden können. Er reicht jedoch nicht aus, da gerade die intendierte Wirkung, das Lachen, weniger über Zeichenfunktionen als über performative Funktionen erklärt werden kann. Denn kör‐ 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 227 <?page no="228"?> 18 „All jokes have this subversive effect on the dominant structure of ideas. (...) The joke is an image of the relaxation of conscious control in favour of the subconscious. This joke pattern needs two ele‐ ments: the juxtaposition of a control against that which is controlled, this juxtaposition being such that the latter triumphs“. Douglas, Mary: The social control of cognition: some factors in joke per‐ ception. Man 3 (1968), S. 364. perliche Lachanlässe gleichen dem Lachen selbst: Wie das Lachen ein körperliches, para‐ linguistisches Zeichen ist, das vielfältige Bedeutungen erzeugen kann, in jedem Fall aber die Aufmerksamkeit auf den lachenden Körper selbst und sein Außer-Sich-Geraten, seine Deformationen und dem mit ihnen verbundenen Kontrollverlust lenkt, so folgen auch die körperlichen Lachanlässe dem Modell der körperlichen Desorganisation und dem Verzicht auf die Herrschaft über den Körper. Dieses Modell ist auch auf die Sprache anwendbar: Stottern, Stammeln, Wort- und Satzverdrehungen, Versprecher usw. sind sprachliche Formen des Kontrollverlustes. Lachen vollzieht sich hier selbstreferentiell, ohne gleich Zei‐ chen oder Geste zu sein, ohne für etwas anderes zu stehen. Konstitutiv für das Lachen über den Körper ist deshalb auch die Inszenierung leiblicher Triebe, Begierden und Ausscheidungen, vor denen der Körper des Lachenden kapituliert, weil er keine semantische, sondern eine somatische Beziehung zu ihnen unterhält. Denn der Körper verbindet sich im Komischen mit den Zeichenprozessen des Diskurses, ohne jedoch Bedeutung zu erzeugen wie die Sprache, die den Körper im Augenblick der Bedeu‐ tungserzeugung abgeschüttelt hat und deren Botschaften körperlos sind. Der Körper aber spricht im Komischen ohne Bedeutung, er ist die Botschaft selbst. Mary Douglas hat das anhand der skatologischen Komik treffend gezeigt. Sie erreicht ihre Wirkung dadurch, dass der Bezug eines Ereignisses zu einem körperlichen Muster die Würde seines moralischen Musters zerstört, und somit Bedeutung zunichte gemacht wird, damit der Körper im Vor‐ dergrund stehen kann. 18 Was resultiert daraus für die Bestimmung der Relation von Körper- und Sprachkomik? Meine These dazu ist, dass das Ambivalente, Widersprüchliche und Absurde im Sprachspiel letztlich auf den Körper und seine Widerständigkeit verweisen. Dass De- und Rekomposi‐ tion von Worten, ihre Mischung und Verrätselung, dass syntagmatische Deformationen, asyndetische Phonemfragmente und ihre lautlichen Dissonanzen in der komischen Rede zur Streichung sprachlicher Signifikanz tendieren und somit auf den Ort ihrer Artikulation, den menschlichen Körper verweisen und Indikatoren für sprachliche scurrilitas sind. Somit liefert die Sprache in den uns überlieferten Zeugnissen einen Zugang zum Körperlichen, den wir sonst nicht mehr finden könnten. Da die Sprache von Texten - und somit auch von historischen Aufführungen - an Gattungsbedingungen gebunden ist, will ich im zweiten Kapitel dieses Teiles die verschiedenen Gattungen des weltlichen Spiels auf scurrilitas hin untersuchen; zuvor scheint es mir jedoch angebracht, die verschiedenen Wahrnehmungs‐ felder komischer Körperlichkeit in theatralen Rahmungen zu beschreiben, um damit ein geeignetes Analyseinventar zu entwickeln. 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 228 <?page no="229"?> 19 La première fois, les clowns allaient, venaient, se cognaient, tombaient et rebondissaient selon un rythme uniformément accéléré, avec la visible préoccupation de ménager un crescendo. Et de plus en plus, c’était sur le rebondissement que l’attention du public était attirée. Peu à peu on perdait de vue qu’on eût affaire à des hommes en chair et en os. On pensait à des paquets quelconques qui se laisseraient choir et s’entrechoqueraient. Puis la vision se précisait. Les formes paraissaient s’arrondir, les corps se rouler et comme se ramasser en boule. Enfin apparaissait l’image vers laquelle toute cette scène évoluait sans doute inconsciemment : des ballons de caoutchouc, lancés en tous sens les uns contre les autres. Bergson, Henri: Das Lachen, S. 36 (Übers. fehlerhaft, Überarb.: HRV). 20 Ebd. Bewegung im Raum: Motorik und Proxemik In einer entscheidenden Passage von Henri Bergsons berühmter Theorie über das Lachen erklärt er als das Charakteristische an der Kunst des Clowns dessen „Haltungen, Sprünge und Bewegungen“: Beim ersten Mal kamen und gingen die Clowns, prallten aneinander, fielen nieder und sprangen wieder auf, nach einem gleichmäßig beschleunigten Rhythmus, in der deutlichen Absicht, ein Crescendo herzustellen. Und mehr und mehr richtete sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Wiederaufspringen. Allmählich vergaß man, dass man es mit Menschen von Fleisch und Blut zu tun hatte. Man dachte an irgendwelche Pakete, die sich fallen ließen und aneinander stießen. Dann wurde das Bild bestimmter. Die Formen schienen sich zu runden, die Körper zu Kugeln zusammenzurollen. Schließlich erschien das Bild, auf welches die ganze Szene - zweifellos unbe‐ wusst - sich hin entwickelte: Gummibälle, die in alle Richtungen gegeneinander geworfen werden. 19 Diese Erfahrung nahm Bergson als drittes Beispiel, um sein berühmt gewordenes Bild vom Komischen als eines „méchanique plaqué sur du vivant“, ein das Lebendige überziehendes mechanisches Moment, zu erläutern. Wir lachen nach Bergson in diesem Fall, weil lebende Menschen, die Clowns, in der Wahrnehmung des Zuschauers zu mechanischen Dingen werden, also immer dann, wenn uns dieser Körper an einen bloßen Mechanismus oder an ein Ding erinnert. 20 Ich bezweifle, dass Bergsons Beobachtung hier zutrifft. Denn er versucht, das Lachen, das mit einer Bewegung, der Bewegung der Sprünge, des Zusammenprallens und des wieder Aufstehens einsetzt und diese Bewegung begleitet, völlig ohne jene Bewegung zu erklären, wie eine Art still gestelltes Bild, das durch immerwährende Wiederholung zur Ruhe kommt und sich dadurch langsam verformt. Es ist erstaunlich, dass er die fast maschinelle Regel‐ mäßigkeit zum Anlass nimmt, in ihr den ‚Urgrund‘ des Lachens zu sehen. Diese Ansicht Bergsons kann nur mit der kulturellen und historischen Varianz der komischen Wahrneh‐ mung erklärt werden. Denn seine Beobachtung fällt mitten in das Maschinenzeitalter, als Maschinen und Automaten auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution um 1890 zur Leitfigur einer Epoche wurden. Nur zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Bergsons Le rire drehte Charles Chaplin Modern Times, denjenigen Stummfilm, der Bergsons Be‐ obachtungen in die Wirklichkeit umsetzte und die Komik der Wiederholung an die Vor‐ stellung einer maschinellen Massenfertigung knüpfte. Auch wenn es im Mittelalter bereits Automaten und Maschinen gab, war die Vorstellung, sie könnten das Lebendige mechanisch überlagern, nicht denkbar und daher auch keines‐ 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 229 <?page no="230"?> 21 „Das hervorstechendste Merkmal der komischen Praxis ist das extensive wie intensive Gebaren und Gebärden der komischen Figur.“ Lohr, Körpertext, S. 74. 22 Mazouer, Charles: Der badin der Farce. In: Der komische Körper. Szenen - Figuren - Formen. Hg. von Eva Erdmann. Bielefeld 2003, S. 83-88, hier S. 85. 23 Koestler, Arthur: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Bern / München 1966, S. 74. Ähnlich neuerdings wieder Katja Mellmann, die bemerkt, dass noch die „mutwillig-über‐ mütige Bewegtheit“ in literarischen Texten des Barock und der Frühaufklärung „in entsprechender Weise den Körperausdruck von Fröhlichkeit und kindlichem Spielverhalten nach[ahme].“ Mellmann, Katja: Emotionalisierung. Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologi‐ sche Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006, S. 341 f. Zusammenfassend u. ak‐ tualisiert Mellmann, Katja: Emotionale Wirkungen des Erzählens. In: Handbuch Erzählliteratur. The‐ orie, Analyse, Geschichte. Hg. von Matías Martínez, Stuttgart / Weimar 2011, S. 68-74. 24 Vgl. ebd., S. 342. wegs auf Lachen oder Komik beziehbar. Stattdessen aber waren rasche, abrupte und mit übermäßigem Aufwand vorgenommene Bewegungen, motorische und proxemische Be‐ wegungen von menschlichen Körpern im Raum, durchaus mit Lachen verbunden. Zahl‐ reiche Texte und Quellen weisen auf die motorische Hyperagilität von lächerlichen Figuren in komischen Aufführungen und auf das sie begleitende Lachen hin. 21 Schnelles Gehen und Springen war bereits die Gangart der Knechte und komischen Teufel in den geistlichen Spielen, groteske Tänze und wildes Rennen ein Markenzeichen der Neidhart-Bauern. Der badin, der Narr der französischen Farce, zeichnet sich durch dynamische und überraschende Ortswechsel aus, und Jenin macht in der Farce Jenin, fils de rien ganz ohne Anlass große Sprünge auf der Bühne, aus natürlicher Übertreibung, während sein Publikum vor Lachen brüllt, wie Charles Mazouer unterstreicht: „Zu behaupten, der Körper des badin sei sehr beweglich, das bedeutet noch nicht viel: Alles, was mit seinem Körper auf der Bühne ge‐ macht werden kann, macht der badin - und er macht es mit Überschwang und Übermut.“ 22 Es war Arthur Koestler, der die motorische und proxemische Hyperaktivität von Narren und Possenreißern mit dem Lachen selbst verglichen hat, nämlich als mimetischen Nach‐ vollzug des Lachens als körperliche Desorganisation: „Die Körperfiguren und Sprünge der komischen Figuren können zunächst als mimetischer Nachvollzug des physiologischen Habitus eines Lachenden gedeutet werden.“ 23 Diese Beobachtung weist auf die Funktion körperlicher Lachanlässe als Apperzeptionen hin, wie im ersten Teil dieser Arbeit be‐ schrieben: Komischer Vorgang und Lachen gehören demnach in einen Zusammenhang der Widerfahrnis und Einleibung. Auf der Ebene der Übertragung körperlicher Komik im Er‐ leben ergibt sich noch kein Sinn, sondern allein ein Nach- und Mitvollzug komischer Be‐ wegung. Da dieser Moment des Mitvollzugs das eigene leibliche Selbstverhältnis in Frage stellt, und es zur kognitiven Erkenntnis des komischen Vorgangs kommt, lacht der Körper als Akt der Distanzierung vom körperlichen Nachvollzug. Der Konnex schnelle Bewegung-Lachen bzw. auch Freude ist in zahlreichen Kunst‐ formen manifest. So hat man anhand von psychologischen Studien mit Animationskurz‐ filmen herausgefunden, dass schnelle Bewegungen Fröhlichkeit bewirken und das Signal von Freude und spielerischer Betätigung aussandten. 24 Die Stimuli initialisieren „ein auf Ansteckung und Teilnahme ausgerichtetes Emotionsprogramm (scherzhaftes Lachen, Fröhlichkeit des Spiels) und evozieren über einen psychopoetischen Effekt ein virtuelles 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 230 <?page no="231"?> 25 Ebd., S. 343. 26 In der Semiotik zählen solche Bewegungen zur nonvokalen und nonverbalen Kommunikation, wie auch die Körpersprache, die Mimik, und die Gestik; allerdings überlagert ihre mimetische Funktion und deren Selbstreferentialität die kommunikative Ausrichtung, sodass hier zumindest kaum Bot‐ schaften übertragen werden. 27 Allerdings arbeitet die Pantomime weniger mit motorischen und proxemischen Mitteln, sondern mehr mit einem Repertoire an konventionalisierten und dem Publikum verständlichen Gesten. Diese wiederum sind nicht in erster Linie auf lächerliche Wirkung, sondern auf die Darstellung von Emp‐ findungen, Leidenschaften oder ganzen Handlungen durch Gesten als Zeichen ausgerichtet. Vgl. Lukian von Samosata: Dialog von der Tanzkunst. In: Sämtliche Werke, Bd. 4, übers. von Christoph Martin Wieland. München 1911, S. 101-198, hier S. 155. Von den zahlreichen Unterschieden zur an‐ tiken Pantomime sind zu nennen: der Pantomimus hatte einen Sänger bzw. Sprecher, die Tänzer trugen Masken, mit „Tanz“ war rhythmisiertes Gehen bzw. Schreiten gemeint. 28 Auch als Zwischenakt-Einlage (Spiel im Spiel), wie etwa die dumb show im Hamlet, später dann im Jahrmarkts- und Volkstheater, bis zum Vaudeville des 19. Jhs. und dem Stummfilm, in welchem sich Komik nur als Komik des Körpers äußern kann. Vgl. Eilert, Heide: Art. Pantomime, RL, Bd. 3, S. 8-11. 29 Nach Birdwhistell soll die Präkinesik die minimalen Elemente des nonverbalen Verhaltens, die klein‐ sten differenzierenden Einheiten, die Kineme bestimmen. Gegenüber als gesellige Einladung zur sozialen Interaktion.“ 25 Diese Ergebnisse der neueren emotionspsychologischen Forschung müssen hier nicht weiter vertieft werden; auch in der Musikwissenschaft etwa ist bekannt, dass bei der Charakterbezeichnung von schnell zu spielenden Musikstücken gerne heiter-scherzhafte Metaphern verwendet werden (Scherzo, Allegretto usw.) Wenn in der Vormoderne einfaches Hüpfen, Springen, Laufen und Tanzen, eventuell mit Stürzen, Hinken und Zusammenstoßen verbunden, bereits Lachen ausgelöst hat, wie sehr mussten dann Bewegungsmuster, die auf den Verlust der Körperkontrolle geradezu hinar‐ beiteten, Wahrnehmungen von Komik evoziert haben: so etwa die lazzi der Commedia dell’arte mit ihren komischen Bewegungsabläufen wie Stolpern, Hinfallen, Fliegen jagen und ihren akrobatischen Einlagen wie auf Händen oder Stelzen gehen, Balancieren oder Jonglieren, die vor allem in der Aufführung nonverbaler und nonvokaler Bewegungen be‐ standen. 26 Sie gehören zum alten Bewegungsrepertoire der komischen Pantomime, welche Komik allein mit mimischen, gestischen und tänzerischen Ausdrucksmitteln erreicht. 27 Auch wenn hier kaum mehr Gemeinsamkeiten mit dem antiken Pantomimus festgestellt werden können, spielt die Pantomime im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vor allem als komisches Genre eine wichtige Rolle: in den Darbietungen der Gaukler, in den Mas‐ kenzügen des Karnevals, den Zwischenspielen und Entrées der höfischen Feste sowie den lazzi der italienischen Komödie. 28 Wie aber können wir die Bewegungslogik von Körpern, die Lachen auslöst, genauer beschreiben? Voraussetzung ist dafür, dass sowohl die physiologischen Charakteristika ko‐ mischer Bewegungen selbst wie auch ihre Wahrnehmung im Raum untersucht werden: die Motorik und die Proxemik des komischen Körpers. Die Motorik (oder Präkinesik, je nach wissenschaftlicher Betrachtungsweise) 29 untersucht die Physiologie der Körperbewe‐ gungen ohne Berücksichtigung ihrer Semantik unter etischen (bzw. transkulturellen) Ge‐ sichtspunkten. Über motorische Beschreibungen erhalten wir gewissermaßen eine ‚Gram‐ matik‘ der Bewegungsphysiologie. Doch in theatralen Rahmungen ist der menschliche Körper und seine Bewegungen ein für andere, für die Zuschauer inszenierter Körper, sodass 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 231 <?page no="232"?> 30 Vgl. dazu Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 87 ff. 31 So sind in Spieltexten mit nicht vorhandenen Regieanweisungen manchmal Aussagen zur Position und Bewegung im Raum durch die Personen selbst vorhanden. Ich nenne diese performativen räum‐ lichen Indikatoren in Anlehnung an die Commedia dell’arte „aktionistisches Sprechen“ (azione par‐ lata). 32 Im Untersuchungszeitraum hat sich noch keine klassische theatrale Bühnensituation etabliert; je nach Kontext werden verschieden hohe und große Bretterbühnen auf öffentlichen Plätzen aufgebaut. Ein wichtiger Rahmungsfaktor ist somit Fest und Festzeit der Aufführung, meist der Karneval. Auch gibt es noch keine typische „lustige Person“ bzw. „komische Figur“, wie das in der englischen und italienischen Komödie des späten 16. Jhs. der Fall ist (Pickelhering, Hanswurst, Harlekin usw.). 33 Die Proxemik gehört nach Birdwhistell nicht zur Kinesik als der Gesamtheit der nonverbalen Kom‐ munikation mit dem Körper. In anderen Ansätzen wird sie jedoch hinzugezählt; vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 316-319. motorische Aspekte im Feld der Proxemik aufgehen, bei welchen sie eine wie auch immer intensive kommunikative und mimetische Funktion haben. Die Proxemik untersucht das Bewegungsverhalten und den Abstand menschlicher Körper im Raum: wie ein Körper in dem für die Aufführung vorgesehenen Raum sich bewegt, welche Positionen er zu den anderen Akteuren und zum Publikum einnimmt, in welchen Richtungen und Abständen zu den anderen er seine Bewegungen ausführt. Präkinesik und Proxemik sind in Räumen mit mehreren Akteuren semiotisch nur schwer zu systematisieren; auch kann ihnen nicht immer ein kommunikativer Wert zugewiesen werden, wie dies bei der Kinesik (Gebärden, Gesten) der Fall ist. 30 Es steht auch außer Frage, dass mit den Untersuchungsinstrumenten von Motorik und Proxemik eine Rekonstruktion vergangener Aufführungen kaum geleistet werden kann; dies soll hier auch nicht verfolgt werden. Es geht um etwas anderes, nämlich um die Bedeutung des Körpers und seiner Bewegungsabläufe für das Lachen in Aufführungen, von denen wir meist nur skriptförmige Texte mit wenigen Regieanweisungen und anderen Hinweisen auf die Realisierung der Aufführung besitzen. 31 Die Bearbeitung dieser wenigen Zeugnisse mit den Mitteln der se‐ miotischen und performativen Analyse lässt zumindest eine präzisere begriffliche Be‐ schreibung der Bedingungen und Möglichkeiten für die Aufführung von körperlicher Komik und ihrer Wahrnehmung erwarten. Eine dieser Möglichkeiten dafür ist zunächst die Feststellung der je unterschiedlichen Situationalität der Aufführung: Wo und wann findet sie statt, welche Bühne bzw. welcher Bretterboden wird benutzt oder arbeitet man mit Schranken, damit der Raum für die Her‐ stellung von proxemischen Zeichen und Wirkungen definiert werden kann? 32 Dazu gehört auch, dass Narren und Possenreißer die zum Spielen verwendeten Raumgrenzen verlassen dürfen oder sich an ihren Rändern aufhalten. In diesem Fall werden die Codes des ange‐ messenen körperlichen Abstands gebrochen, wenn die komischen Akteure entweder zu nah oder zu weit weg von den anderen entfernt sind. 33 Sie transgredieren somit die der proxemischen Aktivität gesetzten Grenzen im Spiel und distanzieren sich körperlich von ihm; so kann allein die proxemische Positionsveränderung Möglichkeiten der Identifikation der Zuschauer mit solchen Lachfiguren herstellen. Zur Proxemik gehören auch Auftritt und Abgang dieser Figuren, was meist mit einer noch höheren Bewegungsintensität in Verbindung steht. Meist ist dann keine Zweckset‐ zung in der Bewegung zu erkennen; sie vollzieht sich in Sprüngen und Hüpfen durch den 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 232 <?page no="233"?> 34 Vgl. zur metakommunikativen Struktur komischer Bewegungen Lohr: Körpertext, S. 63-72. Aller‐ dings ist Lohrs Versuch, den als sinnlos wahrgenommenen körperlichen Gesten der komischen Figur eine semiotische Reflexionsebene im Sinne der marxistischen Produktionstheorie (Geste als mate‐ riale Reflexion, Körper der komischen Figur als Ware) zuzuschreiben, letztlich nicht überzeugend und verharrt in ideologiekritischer Selbstreflexion. Ebd., S. 76. 35 Nach Barbara Korte ist die Körpersprache auf der Bühne das wichtigste Element für Komik und Karikatur. Ihre Aussagekraft liegt nicht in der Art der sprachlichen Vermittlung, sondern im Vollzug der Bewegungen durch eine Figur. Korte, Barbara: Körpersprache. Körpersprache in der Literatur. Theorie und Geschichte am Beispiel englischer Erzählprosa. Tübingen / Basel 1993, S. 157 ff. 36 Vgl. Schramm, Christine: Die Komik der Chaplin-Filme. München 2012, S. 70-84. gesamten zur Verfügung stehenden Raum, richtet sich oft scheinbar auf eine andere Person, ohne jedoch einer kommunikativen Intention zu folgen. Die hyperaktiven Bewegungen beim Auftritt und Abgang von Lachfiguren sind daher ‚überflüssig‘, semantisch ‚sinn-los‘, doch nicht ohne Funktion. Ihre Funktion ist es, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen und ein metakommunikatives Signal im Sinne von „Achtung, das ist Komik“ zu senden. 34 Die metakommunikative Funktion dieser Narrenproxemik kann sich auf die sprachlichen und lautlichen Äußerungen der Figur ausdehnen; das typische Brabbeln und Vielreden des Narren, einschließlich des Vorwurfs, er schwätze unsinniges und unnützes Zeug, hat ähnlich attentionale Gründe. Wie seine Bewegungen dient auch seine Sprache nicht der Kommunikation, sondern ist reine sprachlich-lautliche Intensität, sprachliche Hyperagilität, in deren Rahmen es jedoch zu subtilen Sprachspielen, Parodien, Verdop‐ plungen und Stottern kommen kann (dazu mehr s. u.). 35 Ein wichtiges motorisches und proxemisches Instrument von Lustigmachern in ri‐ tuell-theatralen Aufführungen ist der inszenierte Sturz. Er ist gewissermaßen der Basis‐ typus der Körper- und Bewegungskomik, der in unzähligen Variationen und Bewegungs‐ folgen inszeniert werden kann. Er gehört zu den angeblich unfreiwilligen Unterbrechungen koordinierter Bewegungsabläufe, wie das Stolpern, das Straucheln, das Ausweichen und beinahe Stürzen, usw. Bisher hat man Stürze - etwa von Narren- oder Bauernfiguren - gerne als äußeres Zeichen geistigen oder moralischen Ungenügens interpretiert: Es ist der Dumme, der Einfältige, der Gierige, der Geizige, der gerne stürzt. Schon im Tractatus Co‐ islinianus wurden diese semantischen Aspekte als eigentliche Lachanlässe gesehen, und die Körperbewegungen in das Korsett der komischen Handlung gezwängt. Dabei wurde oft übersehen, dass Lachfiguren mit niedrigem sozialen und mentalen Status eine Funktion der Bewegungskomik sind: Gerade sie sind auf Grund der Enthebbarkeit ihrer Komik besonders gut für inszenierte Stürze geeignet, da sie auch auf der sozialen und moralischen Ebene verlacht werden können; so droht von einer komischen Darstellung eines Narren keinerlei Gefahr. Noch im Stummfilm ist dies evident: Charles Chaplins komische Helden stürzen häufig, meist nach hinten und auf den Hintern, sie sind jedoch die Hauptfiguren und somit keine Personen, die verlacht, d. h. durch Lachen ausgeschlossen werden, sondern über deren in‐ szeniert unfreiwilligen Stürze gelacht werden kann. Hier steht die mangelnde motorische Koordination als eigentlicher Lachanlass noch klarer vor Augen als im Fastnachtspiel oder der Sottie, denn Chaplin braucht keine sozialen, moralischen oder geistigen Abweichungen von der Norm, um Lachen auszulösen. Die Bewegungskomik genügt ihm, um sein Publikum zum Lachen zu bringen. 36 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 233 <?page no="234"?> 37 Auch von semiotischer Seite ist der Rekurs auf gespeicherte Körperbewegungen erfolgt; so sieht Lohr den Sturz auch als „komischen Destruktionsprozess“, der den Lachenden in einer Regression der Erinnerung an sein erstes Lachen zurückverweist. Vgl. Lohr, Körpertext, S. 79. 38 Die Forschung zu den lazzi der Commedia dell’arte zeigt, wie intensiv solche Stürze trainiert und ihr gesamtes Bewegungspotential ausgespielt wurde. Vgl. Capozza, Nicoletta: Tutti i lazzi della Com‐ media dell’arte. Un catalogo ragionato del patrimonio dei Comici. Roma 2006. 39 So etwa Souriau, der Bergsons Beispiel des Sturzes differenziert und im Fall des inszenierten Sturzes das Lachen, wenn es denn überhaupt auftauche, als Lachen über ein „curieux numéro acrobatique“ gekennzeichnet hat. Vgl. Souriau, Émile: Le risible et le comique. Journal de psychologie normale et pathologique 41 (1948), S. 145-183, hier S. 169. 40 Warning, Rainer: Vom Scheitern und vom Gelingen komischer Handlungen. In: Das Komische. Hg. von Preisendanz u. Warning, S. 376-379. Auch hier ist es die Innervation beim Zuschauen, die die Teilhabe am schnellen motor‐ ischen und proxemischen Ablauf herstellt, welche dann durch die Wahrnehmung der über‐ raschenden Unterbrechung (des Sturzes) über Distanzierungsleistungen von der Teilhabe zum Lachen führt. Enthebbar wird diese Komik dann dadurch, dass Chaplins Helden, nachdem sie nachdenklich auf dem Boden sitzen, über eine Rückwärtsrolle sofort wieder aufstehen. Diese Art des Fallens und wieder Aufstehens deutet weniger auf die Bergson‐ schen Pakete oder andere mechanische „Dinge“ hin, als vielmehr auf unsere ontogenetische Entwicklung. Ein solches Verhalten kennen wir von Babys und Kleinkindern, welche beim Laufen- und Sitzenlernen Techniken anwenden, um sich aus Sicherheitsgründen fallen zu lassen. Dabei krümmt sich der Rücken des Kindes, weil der aufrechte Gang noch zu unge‐ wohnt ist. Chaplins Verkörperung des Man-Child, des Mannes, der gleichzeitig Kind ist, lässt uns wohlwollend über seine fehlgehenden Bemühungen lachen, weil wir diese Bewe‐ gungen in unserem Körpergedächtnis noch gespeichert haben. 37 Es ist die Virtuosität der Clowns und Possenreißers, die ihren eigenen Körper motorisch so beherrschen, dass sie Stürze, Stolpern und Straucheln simulieren können, ohne dabei zu Schaden zu kommen. 38 Wenn Lachfiguren ihren eigenen Körper lächerlich machen, zum Scheitern bringen, sind dies Effekte ihrer Virtuosität. Bergson bezeichnete diese Effekte als fremdbestimmt, da sie den Eindruck erwecken, der Clown sei fremdgesteuert, ohne Willen. Bei einem inszenierten Sturz jedoch wissen wir, dass er inszeniert ist, durch bestimmte Rahmen- und Komiksignale. Dennoch lachen wir. Der Begriff der Fremdsteuerung wird von Bergson also in dem Moment eingeführt, wo das Argument der Schadenfreude, der sozialen Ausgrenzung über den Stürzenden nicht mehr gilt, da der Sturz ja als inszeniert erkannt ist. Wird also über das Zeigen des Sturzes, seine Virtuosität gelacht? Ist es dann ein wohlwollendes Lachen über das Gelingen eines Scheiterns, das uns ergreift? 39 Warning spricht in diesem Zusammenhang in Weiterführung von Karlheinz Stierles These der Fremdbestimmtheit von der „unaufhebbaren Ambivalenz von Fremd- und Selbst‐ bestimmtheit als Ursache einer spezifisch komischen Wirkung“, die wir nicht anders als mit Lachen beantworten können. 40 Doch auch diese sehr subtile Erklärung klammert sich noch zu sehr an die Wahrnehmung der Komik als eines Kommunikationsaktes und seiner entsprechend hohen semantischen Anteile. Er beachtet die motorischen und proxemischen Aspekte des Sturzes nicht, und die durch die Aufmerksamkeit angespannte Innervation unserer zuschauenden Teilhabe am Sturz. Wir kollabieren nicht vor einem kognitiv ge‐ setzten Gegensatz von Selbst- und Fremdbestimmung in der Grenzreaktion des Lachens, 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 234 <?page no="235"?> 41 Lohr hat versucht, die Semiotik des Sturzes mit Hilfe psychoanalytischer Mittel herauszuarbeiten. Er sieht in ihm einen abrupten Wechsel des Körpers von einer starren Oberflächennorm in einen tabuisierten Ort des Verdrängten, einen Ort des „Untersinns“ (Deleuze). „Das Lachen zeugt vom semiotischen Prozess der Praxis, von der Durchquerung eines semantischen Nullraumes im Prozess der Symbolbildung.“ Lohr, Körpertext, S. 63. 42 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 171. wir kollabieren über den Zusammenfall unseres (eigenen) Beinahe-Sturzes, den wir gerade wahrgenommen haben und den unser Körpergedächtnis problemlos aktivieren konnte, und die glückliche Vermeidung dieses Sturzes im letzten Moment: die kognitive Realisation der Tatsache, dass nicht wir stürzen, sondern der Clown. 41 Motorik und Proxemik eines menschlichen Körpers in einem Aufführungskontext können, wie am Beispiel des Sturzes zu sehen ist, Lachen auslösen, ohne gleich eine be‐ stimmte Bedeutung zu übermitteln. Genauer, die Bedeutung liegt in der Bewegung selbst, motorische und proxemische Handlungen an sich sind bereits bedeutungsvoll: die Bedeu‐ tung ist eine „verkörperte“. Diesen Gedanken hat Merleau-Ponty in seinen Reflexionen zur leiblichen Nachahmung entwickelt. Am Beispiel des leiblichen Lernens erläutert er, dass schon die reine Motorik elementare Sinngebung besitze; 42 man lerne nicht durch Training und auch nicht durch Kenntnis, sondern durch die kontinuierliche Wiederholung einer Gewohnheit, die auf der leiblichen Erfassung einer Bedeutung beruht. Beim Tanz etwa sei dies die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung. Die professionelle und virtuose Bewegungskomik ist es, die diese „eingefleischten“ Muster zum Scheitern bringt, indem sie Haltungs- und Bewegungsschemata der Hexis nachahmt und intentional zum Kollabieren bringt. Solche Feuerwerke körperlicher Missgeschicke vollzieht der wahrnehmende Körper mit und beantwortet sie mit Lachen; sie verweisen auf dieser Ebene des sinnlichen Mit‐ vollzugs auf nichts anderes als auf sich selbst, auf die Eigenmotorik des sich bewegenden Körpers. Wenn aber die Bedeutung für das Lachen schon in einer basalen motorischen Bewegung liegen kann, d. h. in der Ortsveränderung einer körperlichen Haltung oder Position, und wenn diese spezifische Ortsveränderung, die Lachen auslöst, deshalb als komisch be‐ zeichnet werden muss, weil sie scheitert, dieses Scheitern aber keinen Schmerz verursacht, dann können nicht nur Stürze, Stolpern und groteske Sprünge, sondern auch komplexere Formen von scheiternden Bewegungen, wie gestische und mimische Parodien, Stammeln und Stottern, unlogisches Sprechen, aber auch auf eine überraschende Pointe zulaufende Sprüche, Sentenzen und Schwänke, ja sogar Witze so erklärt werden. Beim Witz läge die Bewegung in der Vorstellung der szenischen Abfolge, eine imaginierte Bewegung des Ver‐ laufs und der Kontraktion des Witzes (Freud); wir machen in unserer Vorstellung die über‐ raschende Bewegung des Witzes mit, wenn wir verstanden haben. Wir lachen ja teilweise sogar, wenn wir nicht verstanden haben, einfach weil wir die zeigende Bewegung des Witzes gemeinschaftlich mitvollziehen. Hier schließt sich eine weitere Frage an, die für die komischen Aufführungen in Spät‐ mittelalter und früher Neuzeit von besonderer Bedeutung ist: die Frage, warum inszeniertes Prügeln und Schlagen Lachen ausgelöst hat. Auch hier sehe ich Motorik und Proxemik als geeignete Felder einer eingehenderen Analyse an. Denn es ist nicht der einzelne Schlag, der Lachen auslöst, außer wenn er überraschend kommt. Es ist vielmehr das gegenseitige, 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 235 <?page no="236"?> 43 Vgl. dazu Kindermann: Das Theaterpublikum des Mittelalters, S. 133 u. 196 mit zahlreichen Belegen. 44 Meier, Christel: Prügel und Performanz. Ästhetik und Funktion der Gewalt im Theater des Spätmit‐ telalters und der Frühen Neuzeit. In: Zeichen - Rituale - Werte. Hg. von Gert Althoff. Münster 2004, S. 327-362. 45 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 246. Bachtin verdeutlicht dies am Beispiel des Narrenkönigs: Wurde der Narr zuerst als König ausstaffiert, so zieht man ihn nach Ablauf der Herrschaftszeit erneut um, travestiert ihn in ein Narrenkleid. Beschimpfungen und Schläge entsprechen dieser Umkleidung oder Metamorphose, sie zeigen uns das andere, das wahre Gesicht des Beschimpften.“ Ebd., S. 239. 46 Vgl. Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 30 ff. 47 Danach setzte nach Schmitt ein Wandel ein: Bewegung und Mobilität waren nun nicht mehr wie bisher ausschließlich pejorativ konnotiert. Ebd., S. 31. wiederholte, kontinuierliche freudige Prügeln, ob mit Stöcken oder Kolben oder in Form von Ohrfeigen, über das ein mittelalterliches Publikum schallend lachen konnte. 43 In der Vergangenheit hat man hier wiederum mit semantischen Erklärungsversuchen gearbeitet: Prügel wurden als spielerische (und enthebbare) Strafe für Vergehen verstanden, die auf diese Weise geahndet werden konnte, ohne dass jemand dafür Schmerzen litt. 44 Auch die metaphorische Lesart Bachtins, Prügel seien ein rituelles Symbol für den kosmische Zyklus von Fruchtbarkeit, Leben und Tod, und riefen daher ein lebensbejahendes Lachen hervor, ist zu allgemein, um sie für theatrale Szenen der Komik zu verwenden: „Prügelszenen sind rituell und lösen ein heiteres Lachen aus. Sie haben einen festlichen, triumphalen Cha‐ rakter, (…) sie vernichten und geben neues Leben, beenden das Alte und säen das Neue“. 45 Stattdessen plädiere ich dafür, Prügel und Schläge im Rahmen bewegungslogischer Fra‐ gestellungen zu erörtern. Das Lachen über sie kann dann zunächst ganz simpel - wie auch das Lachen über hyperaktive oder scheiternde Bewegungen - als eine (körperliche) Reak‐ tion auf eine (körperliche) Bewegung gesehen werden, die in einem Spiel-Rahmen statt‐ findet. Die Bedeutung des Prügelns liegt auch hier in seiner Praxis selbst, und nicht außer‐ halb von ihr. Schlagen wäre dann eine im weitesten Sinne schnelle, ‚unnütze‘, selbstreferentielle Bewegung und kann aus den gleichen Gründen Lachen auslösen wie die bisher erörterten motorischen Vorgänge. Auch wenn heute noch im Puppen- und Kasperletheater Reste der vormodernen Prüge‐ lorgien vorhanden sind, so ist das Lachen über Prügel und Schlagen doch kulturell codiert und in heutigen theatralen Rahmungen nicht mehr leitend. Ähnlich steht es mit der sozialen und Codierung von schnellen Bewegungen allgemein. Im Mittelalter gilt rasche Bewegung (motus) als Kennzeichen der Vergänglichkeit und Unbeständigkeit, aber auch als Indikator für Unverstand (Narrheit) und Fremdheit, was sich manchmal gegenseitig ergänzt. Dagegen sind Langsamkeit und Gemessenheit nicht allein Merkmale für Majestät und königliche oder göttliche Würde, sondern allgemeine Bewegungscodes für den Adel und den hohen Klerus (gemessenes Schreiten, hieratisches Verharren, Gesten der Regungslosigkeit). 46 Das Mittelalter war bei der Frage der Motorik im öffentlichen Raum dem Gedanken vom Primat der Unbewegtheit verpflichtet; Bewegung als Antipode des Verharrens konnte nur sünd‐ haft, falsch und unchristlich sein. Bis zum 13. Jahrhundert wurden in der Beurteilung von Gesten diejenigen der Bewegung des gesamten Körpers am stärksten lizenziert, vor allem im klösterlichen und höfischen Bereich. 47 Für die Skepsis der schnellen Bewegung gegenüber lassen sich jedoch nicht nur symbo‐ lisch-ideologische Gründe erkennen, sondern auch pragmatische: Bewegungen im öffent‐ 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 236 <?page no="237"?> 48 Vgl. dazu Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darm‐ stadt 1997, S. 11 ff. 49 Der proxemisch unkontrollierte Körper ist ein Körper, der sich nicht in der Gewalt zu haben scheint: er ist daher nah an der Krankheit. „Because the body is the most potent metaphor of society, it is not surprising that disease is the most salient metaphor of structural crisis. All disease is disorder - metaphorically, literally, socially and politically.“ Vgl. dazu Turner, Bryan S.: The body and society: explorations in social theory. 2. Aufl. London 1996, S. 125. 50 Vgl. auch Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers. Bielefeld 2004. Vgl. die Theorien von Turner, S. 86 und Frank, S. 112. lichen Raum mussten strengen rituellen Regeln und Maßstäben genügen, damit die Sicher‐ heit der Akteure und das Gelingen der rituellen Prozesse gewährleistet war. Die im sozialen Prozess beteiligten Körper und ihre Gesten müssen sich in Kulturen, deren Kommunikation nur teilweise über schriftliche und vornehmlich über rituelle Vollzüge abläuft, streng an vorgegebene Praktiken des Ablaufs und der Inszenierung halten, damit Vorhersehbarkeit in einer ungesicherten Interaktion wie dem Ritual auch gewährleistet war. Denn Gesten und Körperbewegungen sind immer auch bedeutungstragende Zeichen, deren Kontingenz beherrscht werden wollte, wenn sie im öffentlichen Raum wirkten. 48 Gegenüber diesen Ordnungen der Körper im Raum führt ein hyperaktiver, in rascher und unvorhersehbarer Bewegung befindlicher Körper (des Possenreißers oder des Narren) die Unordnung auf. Allein durch seine motorische und proxemische Agilität wirkt er be‐ drohlich, da er Ordnungsvorstellungen durchkreuzt und stattdessen das Chaos feiert. Durch seine Unberechenbarkeit stellt er eine potentielle Gefahr dar, weil er mit dem Unkontroll‐ ierten auch verdrängte und tabuisierte Bewegungen aufführen kann - und zahlreiche Quellen belegen, dass er es auch getan hat. Dadurch vermag er wie kein anderer die herr‐ schende Ordnung leiblich und semantisch zu zersetzen und die Unordnung präsent zu ma‐ chen. 49 Aus soziologischer Sicht ist der komische Körper in seiner Motorik und Proxemik dem‐ nach ein Körper, der die Unordnung repräsentiert und sie darüber hinaus mit seinen Akti‐ onen auch präsent, nachvollziehbar macht; da er sie jedoch in einem Spielrahmen aufführt, wird ihre Gefahr entschärft. Ganz ähnlich steht es mit den Gesten des Possenreißers. Auch sie sind nicht erlaubt, es sind Gesten der Unordnung und des Obszönen. Wenn sie aber von einer Lachfigur aufgeführt werden, können sie verlacht und damit bewältigt werden. 50 Dies führt zu einem weiteren wichtigen Aspekt der komischen Figuren in weltlichen und geistlichen Spielen: ihre Kontinuität. Narren, Possenreißer und Teufel können nicht zu an‐ deren Figuren werden, können sich nicht entwickeln; sie sind auf die Dauer der komischen Aufführung hin an ihre Rolle gebunden. Das macht sie zu den fiktionalsten Figuren im frühen Spiel. Denn in ihrer monadischen, dem Lachen verpflichteten Isolation können sie nicht mit anderen Darstellern verwechselt werden, und ihre Rollen lassen sich nur kaum auf die Realitätsebene übertragen. Dies, wie übrigens ihre Unverletzlichkeit, mag ebenfalls zur komischen Enthobenheit dieser Figuren beigetragen haben. 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 237 <?page no="238"?> 51 Fo, Dario: Kleines Handbuch des Schauspielers, Frankfurt a. M. 1997, S. 52 (Ital. Orig.: Manuale minimo dell’attore, Torino 1987). 52 Kendon, Adam: Gesture. In: Folklore, Cultural Performances, and Popular Entertainment. Hg. von Richard Bauman. New York / Oxford 1992, S. 179-190. 53 Vgl. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. München 1972 (Ital. Orig.: La struttura assente), S. 22. Eco unterstreicht, dass Gesten und Körperbewegungen nicht als instinktive menschliche Hand‐ lungen zu deuten seien, sondern als erlernbares Verhalten, das kulturell codiert und somit von Kultur zu Kultur unterschiedlich ist. Allerdings reicht Ecos Definition der Geste von der stummen Sprache religiöser Gemeinschaften „bis zum Stil der Gehweise und zu den verschiedenen Körperstellungen.“ 54 Ray L. Birdwhistell vertritt diese radikal kontextuelle Sicht kinesischer Bedeutung. Sie setzt voraus, dass der Versuch, das Zeichenrepertoire der Gesten als einen kinesischen Code oder als ein einziges Gestenlexikon zu beschreiben, zum Scheitern verurteilt ist. Birdwhistell gilt als Begründer der Ki‐ nesik als Wissenschaft von den Körperbewegungen (Gestik und Mimik); seine Forschungen gelten der differenzierten Analyse aller impliziten Codes der non-verbalen Kommunikation. Nach dem Modell der Prinzipien der strukturalen Linguistik unterschied Birdwhistell sogen. Kineme als kleinste bedeutungstragende Einheiten der Gestik. Vgl. dazu Nöth, Wilfried: Nonverbale Kommunikation. Kap. 5 aus: Handbuch der Semiotik. 2., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Stuttgart 2000, S. 293-322, hier S. 305. 55 Zit. aus Nöth, Handbuch der Semiotik, ebd. Bewegung am Ort: Gestik und Mimik „Woher diese Geistesabwesenheit? Weil wir glauben, die Gestik, die Körpersprache, sei der Salat, die Beilage, während das Hauptgericht das Fleisch, das Wort wäre. Diese Ansicht hat man uns seit der Schulzeit eingeimpft.“ Dario Fo 51 Stärker als die Bewegung komischer Figuren im Raum ist ihr gestisches und mimisches Ausdrucksverhalten an die Position des Körpers und an die Zeichenhaftigkeit der Bewe‐ gung gebunden. Als Gestik bezeichnet man daher zu Recht die nonverbale Kommunikation durch Hände, Arme und Kopfbewegungen, als Mimik die Bewegungen des Gesichts, die etwas zum Ausdruck bringen sollen. 52 Gesten haben somit bestimmte Funktionen in Kom‐ munikations- und Interaktionsprozessen. Entweder können sie die Rede begleiten oder sie als körperliches Zeichen ersetzen. In jedem Fall sollen Bedeutungen übermittelt bzw. vari‐ iert werden. Gesten stellen eine Vielzahl fester symbolischer Systeme im sozialen Leben der verschiedenen Kulturen und Gesellschaften dar. Da jede Kultur ihre eigenen gestischen und mimischen Codes entwickelt, 53 können diese auch nur im Kontext dieser Kultur und ihrer jeweiligen Systeme untersucht werden. 54 So kann nach Ray L. Birdwhistell, dem Be‐ gründer der Kinesik, kein Kinem ohne seinen Kontext in seiner Bedeutung bestimmt werden. „Nur der soziale Kontext kann entscheiden, ob z. B. die Geste einer geballten Faust Zorn bedeutet, ob sie vielleicht ironisch das Gegenteil meint oder ob sie gar nur das Ver‐ halten eines anderen nur schauspielerisch nachahmt“. 55 Dadurch wird deutlich, dass die in theatralen Kontexten bzw. Rahmungen wahrgenom‐ menen Gesten als inszenierte Gesten zu gelten haben, die einerseits einer spezifisch theat‐ ralen Codierung unterliegen, andererseits aber auch auf die außerhalb des Theaterrahmens liegenden (politischen, religiösen, rituellen Kontexte) verweisen. Dadurch unterliegen die 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 238 <?page no="239"?> 56 Vgl. ebd., S. 304. Folgende Typen von theatralischen Gesten können unterschieden werden: indexi‐ kalische (= zeigende), ikonische (= pantomimisch charakterisierende) und symbolische (= auf arbit‐ rären Konventionen beruhende) Gesten. Birdwhistell entwickelte ein Notationsverfahren, das es erlaubt, jede einzelne Bewegungsveränderung in graphischen Zeichen zu fixieren. Sein Ansatz ist aus methodologischer und auch aus semiotischer Sicht aber stark kritisiert worden. 57 Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, S. 255 ff. 58 Mersch, Dieter: Körper zeigen. In: Verkörperung. Hg. von Erika Fischer-Lichte, Tübingen 2001, S. 75-89, hier S. 83. 59 Ebd., S. 84. Vgl. dazu auch Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 219: „Alles kommt darauf an, diesen Akt [die Gebärden] nicht zu verwechseln mit einer Erkenntnisleistung, sondern in seinem Eigenen zu begreifen. Die Kommunikation, das Verstehen von Gesten gründet sich auf die wechselseitige Entsprechung meiner Intentionen und der Gebärden des Anderen, meiner Gebärden und der im Verhalten des Anderen sich bekundenden Intentionen. Dann ist es, als wohnten seine Intentionen meinem Leibe inne und die meinigen seinem Leibe. Die Gebärde, deren Zeuge ich bin, zeichnet umrißhaft einen intentionalen Gegenstand vor. Dieser gelangt zur Aktualität und zu vollem Verständnis, wenn die Vermöglichkeit meines Leibes sich ihm anmißt und mit ihm sich deckt.“ in theatralen Rahmungen geäußerten Gesten Mehrfachcodierungen, die das Spiel mit ko‐ mischen Veränderungen leichter zulassen als außerhalb dieser Rahmen. Gesten haben im Theater einen zweifachen Zeichencharakter: Einerseits sind sie Embleme, Illustratoren oder Regulatoren, die innerhalb des Dramas ähnliche semiotische Funktionen erfüllen wie Ge‐ sten im Alltagsleben, andererseits sind sie ikonische Zeichen für die Gesten von Personen, die nur schauspielerisch dargestellt sind. Für die Theatersemiotik sind theatralische Gesten somit permanent zeichenhaft. 56 Gegen die semiotische Funktionalisierung von Gesten und ihre kommunikationstheo‐ retische Diskursivierung ist eingewandt worden, dass der Körper nur als soziales Konstrukt und semiotisches System greifbar wird. Der materielle Körper ‚an sich‘, seine Leiblichkeit verschwinde hinter diesen Codes. So steckt nach Plessner in jeder Geste ein mimisches, ein emotional-expressives Element, das über die reine Zeichenfunktion hinausgeht. 57 Darauf aufbauend unterscheidet Dieter Mersch zwischen dem Etwas-Zeigen oder Zeigen-als ei‐ nerseits und dem Sich-zeigen andererseits. 58 Zur Vorrangstellung einer semiotischen Auf‐ fassung der Gesten (die er Gebärden nennt) äußert er sich ebenso skeptisch: Zweifellos sind sie kulturell determiniert und kontextuell entzifferbar; sie mögen auch, je nach Situation etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen, partiell übersetzbar, oder lexikalisch rubri‐ zierbar sein. Dennoch bleiben sie an die Eigenwilligkeit der Leiblichkeit gebunden, ihrem beson‐ deren Temperament, ihrer unverwechselbaren Note: keine Gebärde, der so nicht die Einzigkeit ihres Bedeutens zukäme, das damit auch nicht mehr im eigentlichen Sinne als ein Bedeuten an‐ gesprochen werden darf. 59 Hier spricht Mersch etwas an, das wir bereits bei der Motorik und Proxemik, dort aber in weit höherem Maße festgehalten haben: dass die Bedeutungsübermittlung gestischen Han‐ delns nicht die Wahrnehmung der Körperlichkeit der Geste überdecken darf. Andererseits konzediert auch Mersch, dass die Wahrnehmung des Gestischen und Mimischen nicht ohne Bedeutungsvermittlung auskommen kann: „Doch gibt es offenbar keine Performanz der 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 239 <?page no="240"?> 60 Ebd. Die Dichotomie, die in der Einleitung des von Margreth Egidi hg. Gestenbandes benutzt wird, nämlich Geste als affektives Symptom oder konventionelle Vokabel, entspricht in ihrer Stoßrichtung der Konzeption Merschs. Vgl. Egidi, Margreth u. a. (Hg.): Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Tübingen 2000, S. 11. 61 Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, S. 61. 62 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 220 u. 223. Vgl. auch Bühler, Karl: Sprachthe‐ orie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934). 2. Aufl. Stuttgart 1982. 63 Vgl. dazu Kap. 2.4. Akte ohne Symbolisierung, wie es umgekehrt keine Symbolisation ohne die Unmittelbar‐ keit der Vollzüge, d. h. ohne deren Präsenz bzw. des Mediums (der Körper) gibt.“ 60 Es ist also ratsam, bei der Analyse von Gestik und Mimik im Zusammenhang mit dem Lachen jene Zwischenleiblichkeit zu berücksichtigen, die bei der Wahrnehmung von Be‐ wegungsmustern schon so bedeutsam war. Neben der Kognition von Codes ist somit auch die Analyse der Intensität des wahrgenommenen Ereignisses relevant. Dies kann dann ef‐ fektiv erfolgen, wenn Gestik und Mimik konsequent vom Schauspieler, im vorliegenden Untersuchungszusammenhang vom Schauspieler des Narren, der komischen Figur oder des Possenreißers her, untersucht wird. Vom Schauspieler her betrachtet sind Gesten neben der Stimme sein wichtigstes körperliches Ausdrucksmittel. Die Gestik steht gewissermaßen im Zentrum der Körperlichkeit eines Schauspielers: Alle Normen der Theatergeschichte sind auf den körperlich anwesenden Schauspieler und seine Gesten, seine von ihm hervorgeb‐ rachten gestischen Zeichen, zurückzuführen. 61 Der Schauspieler ist die Schaltstelle, wo sich körperliches Bewegungsverhalten mit Sprache, gestische Handlungen mit Sprechhand‐ lungen vereinen. So sind auch die Worte und Sätze, die der Schauspieler spricht, nicht nur Kommunikation im theatralen Raum und zum Zuschauer, sondern sie sind auch mimischer Ausdruck mit einer Darstellungsfunktion, die auf sich selbst zeigt. Merleau-Ponty hat im Anschluss an Karl Bühlers Sprachtheorie auf diese deiktische Funktion der Sprache hin‐ gewiesen: „Die sprachliche Geste bringt, wie jede andere Gebärde, ihren Sinn selber hervor.“ Dieser „Sinn“ wird wie bei der Gestik leiblich erfahren, bevor er kognitiv verarbeitet wird. Somit eigne auch sprachlichen Gesten eine immanente Bedeutung, sodass „auch die Sprache nichts sagt als sich selbst und ihr Sinn von ihr selbst nicht trennbar ist.“ 62 Es sind gerade die sprachlichen Zeigegesten, die phonetischen Gesten, die in den aus Spätmittelalter und Früher Neuzeit überlieferten Texten uns wichtige Hinweise auf den engen Zusammenhang von Körperlichkeit, Sprache und Lachen geben können. So hat schon Bachtin gezeigt, wie direkt Flüche, groteske und skatologische Worte und Reden mit der Inszenierung des gro‐ tesken Körpers und mit Körperlichkeit selbst verbunden sind. 63 Wenn wir uns im nächsten Kapitel der Analyse des gestischen und mimischen Körper‐ verhaltens in Spiel-Aufführungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zuwenden, muss bei der Frage nach dem Lachen immer das Moment der schauspielerischen Inszenierung sowie der zeichenhaft-leibliche Doppelcharakter von Gestik und Mimik beachtet werden. Dabei ist die gestisch-mimische Komik weniger von Rahmungsfaktoren wie Räumlichkeit oder Ritualität abhängig als die Motorik und Proxemik. Umso mehr ist sie abhängig von einer normativen Gestik, deren Gültigkeit sie durch Nachahmung und Dekontextualisie‐ rung verändert und meist zerstört. Denn das Mittelalter ist zumindest seit dem 12. Jahr‐ hundert eine Epoche hoher gestischer Dichte, die auch zahlreiche neue Gesten und Gruppen 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 240 <?page no="241"?> 64 Vgl. Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 128. 65 Hugo von St. Viktor beschreibt in De institutione novitiorum (1140) den ordnungsfeindlichen Cha‐ rakter von gesticulatio sehr deutlich: Diese Gesten stören die natürliche Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen des Körpers bzw. ihren Bewegungen. Kein Körperteil vollführt mehr die Be‐ wegung, für die es im Grunde geschaffen worden war, sondern erfährt in der Schamlosigkeit / Zucht‐ losigkeit und Übertreibung eine Mischung, die von der ursprünglichen Funktion wegführt. Diese Vermischung und Unordnung der natürlichen Körperteile und ihrer Bewegungen repräsentiert der Gaukler am besten; die Perversion des Gebrauchs der Geste ist auf ihrer Grenze angekommen, über‐ schreitet eine Grenze, um nur eines zu erreichen: das Lachen. Vgl. dazu auch Casagrande / Vecchio, Clercs et jongleurs, S. 916. 66 Zit. aus Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 255. von Gesten hervorgebracht hat, und dies in allen gesellschaftlichen Bereichen. 64 Gerade aus dem liturgischen und paraliturgischen Bereich kommen zahlreiche Gesten, sodass wir hier ein hohes parodistisches Potential des Religiösen haben. Andere Gesten kommen aus dem weltlichen, politischen Bereich. Sie sind Teil der symbolischen Kommunikation und struk‐ turieren Hierarchien, Positionen und künftiges Handeln. Auch hier gilt das gleiche: Durch ihren allgemeinen Bekanntheitsgrad können sie zu Objekten theatraler Nachahmung und komischer Bearbeitung werden. Schließlich gibt es Gesten, die einem Code des Lachens und Verlachens verpflichtet sind: Spottgesten, Verhöhnungs- und Verachtungsgesten, Ge‐ sten der rituellen Abwehr und der rituellen Störung, die von Personen ausgeführt werden, die dafür eine bestimmte Lizenz besitzen (natürliche und künstliche Narren, Teufel im Spiel, Pritschmeister, usw.) Der lateinische Begriff gestus erscheint in den Quellen als eine Unterform von motus, gehört demnach zur Bewegung, zur Motilität des menschlichen Körpers. Der Gegenbegriff von gestus ist gesticulatio, der entsprechend dem Verhältnis von Ordnung und Unordnung Gesten bezeichnet, die als ausschweifend, regellos, eitel, lasterhaft wahrgenommen werden. Diese Differenz wird in klerikalen Quellen so deutlich umrissen, weil die rituell und litur‐ gisch codierten Gesten ab dem 12. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung gewinnen und keinesfalls profaniert werden sollten. So verhält sich nach Hugo von St. Viktor der ca‐ chinnus zum risus wie gesticulatio zu gestus, wobei erstere jeweils die übertriebene Form des letzteren bezeichnen. 65 Der Zusammenhang von Lachen und Gestik ergibt sich in den klerikalen Quellen zu‐ nächst aus der Parodie. Denn mit der Ausbildung komplexer Ordnungen von Gesten ge‐ winnt auch ihre körperliche und sprachliche Nachahmung durch Goliarden und Gaukler an Bedeutung, wie viele Quellen belegen. Dass gerade das Prinzip der mimetischen Nach‐ ahmung von Gesten gefürchtet und verurteilt wurde, zeigt die Aussage Stephans von Tournai, die Histrionen stellten „durch ihre Körperbewegungen und ihre Gesichtsmimik die Gesten anderer dar.“ 66 Wie sehr die imitative und übertriebene Mimik und Gestik im Mittelalter als Feld der Gaukler und Histrionen bezeichnet und dem Lachen und dem Lächerlichen zugeordnet wird, ist häufig bezeugt. Autoren wie Ailred de Rielvaux, Alanus von Lille, Petrus Cantor und Giraldus Cambrensis benutzen die Begriffe gesticulatio, gestus histrionici, turpes gestus gleichermaßen, um exzessive, unzusammenhängende und obszön-lächerliche Gesten und Körperbewegungen auszudrücken: genannt werden u. a. die Verzerrung des Mundes und des Gesichts, das Rollen mit den Augen, das Zucken und Rollen der Schultern, das Gesti‐ 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 241 <?page no="242"?> 67 „Interim histrionicis quibusdam gestibus totum corpus agitatur, torquentur labia, rotant oculi, ludunt humeri; et ad singulas quasque notas digitorum flexus respondet.“ Aus: Aelredo de Rielvaux: De speculo caritatis, II, 23; wiederaufgenommen bei Gilbert de Tournai: Sermones ad omnes status: Ad monacos nigros, sermo 1; bei Petrus Cantor: Verbum abbreviatum, V., De modo disputandi; bei Giraldus Cambrensis: De regus a se gestis; alle zit. bei Casagrande / Vecchio, I peccati della lingua, S. 229 ff. 68 Thomasin von Zirklaere: Der welsche Gast. 4 Bde. Hg. von Friedrich Wilhelm von Kries. Göppingen 1984-85, V. 683 ff. 69 Vgl. Ekman, Paul u. Friesen, Wallace V.: The repertoire of nonverbal behavior: categories, origins, usage, and coding. Semiotica 1 (1969). S. 49-98, hier S. 63. 70 Hugo von St. Viktor zählt diese „schlechten Gesten“ auf: beim Zuhören den Mund aufsperren, die Zunge herausstrecken und rollen, beim Sprechen den Finger ausstrecken, die Augenbrauen hoch‐ ziehen, mit den Augen rollen, das Haar schütteln, den Hals verdrehen, beim Gehen mit den Armen schlenkern. Vgl. Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 176. kulieren mit den Händen und Fingern, das Aufstampfen mit den Füßen, die Bewegung und Zuckung des ganzen Körpers. 67 Die Beherrschung gestischer Zeichen macht auch ihre Ma‐ nipulierbarkeit möglich. Gerade die Possenreißer beherrschen die verschiedenen gestischen Zeichen besser als andere und können sie zum Spaß manipulieren. In Der Wälsche Gast von Thomasin von Zirklaere wird die Möglichkeit der Täuschung durch Gebärden ausdrücklich thematisiert: so können etwa Hass und Zorn verborgen werden, sodass man sie nicht er‐ kennt und an den ihnen eigenen Gesten („krumbe blicke, unnütze rede, dwerhen ganc, seltsaene gebaerde“) ablesen kann. 68 Ich habe hier noch einmal die theologischen Bestimmungen von gestus und gesticulatio wiederholt, um die Tradition, in denen komische Gesten im spätmittelalterlichen und früh‐ neuzeitlichen Spiel stehen, zu unterstreichen. Wie Körperbewegungen insgesamt, stellen auch Gesten zentrale körperliche Ausdrucksmittel für Schauspieler dar, um soziale und rituelle Ordnungsmuster, die damit in der Regel ausgedrückt werden, nachzuahmen und damit zu parodieren, umzukehren, komisch zu modifizieren oder einfach nur zu dekontex‐ tualisieren. Diese Gesten der Possenreißer sind meist nicht redebegleitend. Es sind daher weniger „Illustratoren“, welche in Verbindung mit gesprochener Sprache auftreten, um das Gesagte hervorzuheben, sondern eher „Embleme“, die für sich stehen und eine lexikalische Bedeutung haben, Affektäußerungen oder „Körpermanipulatoren“ (sich am Kopf kratzen, die Lippe spitzen), die in der Kommunikation bestimmte Funktionen haben. 69 All diese Gesten können im Aufführungsrahmen in den komischen Modus gesetzt werden, d. h. sie können durch die Kombination mit anderen Gesten oder Worten, durch Isolation oder erkennbar falsche Anwendung komisiert werden. Überhaupt ist es ein Kenn‐ zeichen von gestischer Komik, wenn normative Gesten absichtlich falsch verwendet werden: im falschen Kontext, in der falschen (sozialen) Rolle, vom falschen Geschlecht, im falschen Alter. Je stärker eine Gesellschaft Gesten sozial hierarchisiert und ihren Teil‐ gruppen streng zuordnet, umso mehr Möglichkeiten ihrer „falschen“ Verwendung gibt es. Dazu kommen ungehörige Gesten, die in bestimmten sozialen Kontexten (Adel, Klerus) unterdrückt werden (wie ungehörige Gesten während der Predigt, 70 zuchtlose Gesten bei Tisch, in Anwesenheit von Damen, bei Zeremonien und Ritualen), welche sich durch ihre 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 242 <?page no="243"?> 71 Nach Barbara Korte ist die Gestik als Teil der Körpersprache ist auf der Bühne das wichtigste Element für Komik und Karikatur, weil sich nonverbales Verhalten dank seiner Anschaulichkeit für eine verzerrende Darstellung in besonderer Weise anbietet. Korte, Körpersprache in der Literatur, S. 157 ff. 72 Die zur „Feige“ zusammengekniffene Hand stellt eine neuzeitliche Schwundform des im Altertum geübten „Schamweisens“ dar. Vgl. dazu Schindler, Norbert: „Vnformliche zeichen“ und „freche Vngeberden“. Zur Ikonographie der Schande in spätmittelalterlichen Passionsdarstellungen. In: Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung. Hg. von Richard van Dülmen. Frankfurt a. M. 1996, S. 13-70. 73 Der gereckte Mittelfinger ist ab dem 15. Jh. als Spottfinger belegt, bekannt als Geste des Bohrens und Schneidens: einem den gecken schneiden, bohren, stechen, „durch eine handbewegung dieses ste‐ chen miene machen und damit ihn für einen narren erklären, verhöhnen…“ Grimm, Jacob u. Wilhelm. Lemma: Feige. In: Deutsches Wörterbuch. Dritter Band: E - Forsche. Leipzig 1862. ND München 1991, Sp. 1444. eingeschränkte Lizenz bestens für die provokative Nachahmung zur Erregung von Ge‐ lächter eignen. 71 Neben diesen beiden Typen, der komischen Veränderung normierter Gesten und der provokativen Verwendung von unterdrückten Gesten gibt es noch die den Emblemen zu‐ gehörigen Zeige- und Spottgesten, die typisch für den scurra sind. Einige von ihnen sind auf dem Hans Burgkmair zugeschriebenen Holzschnitt aus dem Triumphzugs für Maximi‐ lian, der den Wagen mit natürlichen und den mit Schalksnarren zeigt (ab 1509), gut zu erkennen. (Abb. 7) Als typische (Spott-)Gesten von Narren und Possenreißern können folgende mit der Hand ausgeführte Gesten gelten: (1) die Satyrgeste (Zeigefinger und kleiner Finger gereckt, Hörner nachbildend) (2) die Feige (ficam facere; Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger, obszöne Spottgeste, elementare Schandgebärde in der Passion) 72 (Abb. 8) (3) der Spottfinger (digitus infamus; gereckter Mittelfinger, Geste des Bohrens und Schnei‐ dens) 73 (4) das Fingerkreuzen: Rüben oder Möhrchen schaben (mit den Fingern die Handlung simulieren), wird auch als Spottgeste in der Passion gebraucht (crucifige); (5) die Hand vors Gesicht halten und durch die Finger blicken (6) eine lange Nase drehen (7) die Augen aufreißen und rollen (oculos distorquere; Unglücksgestus) 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 243 <?page no="244"?> Abb. 7: Hans Burgkmair: Triumphzug Maximilians I.: Wagen der Schalksnarren (Holzschnitt 1517) 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 244 <?page no="245"?> Abb. 8: Albrecht Dürer: Handgesten (Federzeichnung, 1494) 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 245 <?page no="246"?> 74 Vgl. dazu Kröll, Katrin: Der schalkhaft beredtsame Leib als Medium verborgener Wahrheit. In: Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittel‐ alters. Hg. von K. K. Freiburg 1994, S. 239-294. - Die Bildformel der Zanner und Blecker lässt sich als Marginaldrôlerie seit dem 12. Jh. von der romanischen Bauplastik bis zu den spätmittelalterlichen Chorgestühlen in ganz Europa nachweisen. Die Zanner sind meist als Maske dargestellt; viele von ihnen spreizen die Beine und strecken die Zunge heraus. In ihrer Untersuchung leister Kröll eine Zusammenschau von Bildmedien und Bildformeln (Handschriften, Bauplastik, Chorgestühle, Wand‐ malerei) unter dem gemeinsamen Begriff der „Drôlerien“. Dies ist Voraussetzung für ihre semiotische Analyse. 75 Vgl. ebd., S. 37. 76 Vgl. Schmitt, Die Logik der Gesten, S. 15. 77 Impulsive Körperbewegungen wurden grundsätzlich als Symptom innerer Störungen angesehen. So stellte Hildegard von Bingen bereits einen Bezug zwischen unkontrollierten Körperbewegungen und Krankheitssymptomen her. Zit. und Quellenangabe bei Schindler, Vnformliche zeichen, S. 41. Klassische Spottgesten waren außerdem das Zannen (Gähnmaul, Maulaufreißen), welches ein groteskes Lachen imitiert, sodann das Blecken (entblößter Hintern, beide in den Mar‐ ginalia der christlichen Bildkunst sehr verbreitet, 74 und die Zunge recken; sie wurden auch in christlichen Bildprogrammen, wie bei den Passionsszenen als Gesten der Spötter und Schergen verwendet. 75 Dabei werden häufig mehrere Spottgesten miteinander verbunden. Im Rahmen der Passionsdarstellungen sind einige der Zanner auch als Narren gekleidet. Das Vorzeigen der Geschlechtsteile, vor allem der weiblichen Scham, findet sich nur selten auf Abbildungen, ist jedoch auch als extrem obszöne Spottgebärde mit apotropäischem Hintergrund nachgewiesen. Bei all diesen Gesten handelt es sich um maßlose, teils obszöne Gesten, die in einem Rahmen ‚ernsthafter‘ Kommunikation nicht erlaubt waren. Seit den rhetorischen Schriften der Antike waren solche Gesten der moralischen Kontrolle unterworfen, vor allem galten sie als maßlos und unsittlich, da sie denjenigen, der sie ausführt, auf die symbolisierten Handlungen selbst zurückverweisen und ihn somit dem Bereich der Geschlechtlichkeit bzw. der Skatologie zuordnen oder ihn gar der Gruppe der geistig nicht für sich selbst Verant‐ wortlichen zurechnen - beides disqualifizierend für einen Redner. 76 Dies ist ein Punkt, an welchem die Präsenz von Gesten, vor allem von obszönen Gesten, bedeutsam wird. Über ihren näheren Symbolgehalt hinaus präsentieren diese Gesten in ihrem indefiniten Zeigegestus die Anwesenheit einer bösen, fremden Macht dämonischer oder teuflischer Herkunft. So repräsentiert das Gestikulieren der Besessenen im Mittelalter nicht nur den Teufel, im Moment des offenkundigen Kontrollverlusts über den Körper hat der Teufel diesen Körper in Besitz, zur Wohnstatt genommen und ist somit leiblich anwe‐ send. 77 Diese Dimension der Furcht und Alterität ist latent in allen Spottgesten vorhanden und kann ihre starke Wirkung erklären. Die Grenzfälle des Außer-sich-Geratens, die mit geistiger Schwäche, Wahnsinn und Raserei verbunden sind, können vom Schauspieler ebenso nachgeahmt werden wie die geregelten, gemessenen Gesten eines Priesters. Auf‐ grund ihrer Ambivalenz und ihrer starken Zeigewirkung sind sie aber für komische Insze‐ nierungen sehr gut geeignet, vor allem um gemeinsam mit motorischen und proxemischen Bewegungen Unordnung, Verwirrung und Ambivalenz zu stiften. 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 246 <?page no="247"?> 78 Vgl. Löffler, Petra: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik. Bielefeld 2006, S. 10. 79 Vgl. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, S. 52. Dies bedeutet auch, dass mimische Zeichen keine „natürlichen Zeichen“ für Emotionen sein können, wie man bis ins 19. Jh. noch angenommen hatte. 80 Ekman, Paul: Telling Lies: Clues to Deceit in the Marketplace, Politics, and Marriage. New York 1985. 81 Denn es ist der mimische Ausdruck, wie Wundt, Bühler und Plessner gezeigt haben, der eine affektive Wirkung besitzt, und in dessen Rahmen auch komische Mimik beschrieben werden kann. Vgl. dazu Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie. 5. Aufl. Leipzig 1874; Bühler, Karl: Ausdruckstheorie: das System an der Geschichte aufgezeigt. Stuttgart 1968, S. 88 ff.; Buitendijk, Fre‐ derik J. J. u. Plessner, Helmuth: Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Bonn 1925. Auch für die Mimik gilt, dass sich Körperbewegungen trotz ihrer Sichtbarkeit nur schwer kategorisieren lassen. 78 Denn ihr kommunikativer Wert ist nicht immer klar definierbar, ihre Zuverlässigkeit als Medium der semantisch eindeutigen Zuschreibung einer Bedeu‐ tung wird von zahlreichen Forschern angezweifelt. Gerade mimische Bewegungen sind Indikatoren für Emotionen, können jedoch mittels der Fähigkeit des Gesichts, den Ausdruck eines überhaupt nicht verspürten Gefühls zu nachzuahmen, auch simuliert bzw. gefälscht werden. 79 So ist das zur Mimik gehörende Lächeln vieldeutig und ein Beispiel des nonver‐ balen Maskierens und der Täuschung durch Mimik. 80 Mimische Mehrdeutigkeit und mimische Intensität sind somit die beiden Grenzlinien eines Bewegungs- und Ausdrucksverhaltens des Gesichts, zwischen denen sich die Expres‐ sivität der einzelnen mimischen Geste jeweils realisiert. Was bedeutet das für die Analyse von mimischer Komik? Wir können mimische Bewegungen nur sehr allgemein be‐ schreiben, und keinesfalls klare semiotische Zuordnungen festlegen. Mimik ist für die Un‐ tersuchung körperlicher Lachanlässe eine kaum nachweisbare Variable, mit der jedoch immer gerechnet werden muss. In den meisten Fällen wird sie erst in Kombination mit Gesten bzw. mit Sprache und Stimme wirksam. Auch hier sind die Zeugnisse, die zur Mimik vorliegen, Beschreibungen mimischer Wahrnehmung, sodass wir am ehesten den mimi‐ schen Ausdruck bzw. die mimische Intensität belegen können. 81 (Abb. 9). Somit ist die Mimik ein Einsatzfeld komischer Inszenierungen, dessen Umrisse und Funktionen am besten über das Verhältnis von Ausdruck, Intensität und Wahrnehmung darstellbar sind. Mimische Komik steht als eine inszenierte Deformation der Gesichtszüge zunächst, wie Bewegungsabläufe und Gestik auch, im Dienste einer spielerischen (nach‐ ahmenden, verzerrenden, variierenden) Bearbeitung der Grundemotionen. Es kann davon ausgegangen werden, dass komische Mimik auch in theatralen Aufführungen der Vormo‐ derne mit starker Übertreibung oder starker Maskierung mimischer Ausdruckszeichen ar‐ beitet. In jedem Fall soll mit komischer Mimik keine subjektive Emotion ausgedrückt, son‐ dern die mimische Konvention für eine bestimmte Emotion karikiert werden. Emotionen sollen nicht geglaubt, sondern als gespielte, als nur vorgebliche erkannt werden. Dies ist übrigens bei komischer Proxemik und Gestik ebenso: Codes werden übertrieben, hyper‐ bolisiert, und können so in ihrer Funktion karikiert werden. Andererseits ist das Verhältnis von als „normal“ wahrgenommenen mimischen Aus‐ drucksmustern und ihrer physiognomischen bzw. pathologischen Devianz für die mimische Ausdruckswahrnehmung maßgeblich. So sind etwa die physiognomischen Merkmale der körperlichen oder geistigen Schwächung bei natürlichen Narren (etwa an den Bildzeug‐ nissen Triboulets oder Claus Narr von Ranstedt, Abb. 10 u. 11) zu erkennen, Anlass für komische Parodien künstlicher Narren gewesen. Die Deformationen des Gesichts und der 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 247 <?page no="248"?> Kopfhaltung stehen auch bei den durch apotropäischen Ursprung gekennzeichneten Gri‐ massen (Zähnefletschen, Mundaufreißen) im Vordergrund. Abb. 9: Matthias Quad: Si credere fas est (Kupferstich 1588, Staatsbibliothek zu Berlin) 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 248 <?page no="249"?> Abb. 10: Francesco Laurana: Der französische Hofnarr Triboulet I. (Marmorrelief, 1460) 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 249 <?page no="250"?> Abb. 11: Hans Lautensack: Der sächsische Hofnarr Claus Narr von Ranstedt (1533) Wichtig für den Erfolg mimischer Komik ist die Glaubwürdigkeit, aber auch die Durch‐ schaubarkeit (und somit die Enthebbarkeit) dieser grotesken Grimassen. Die Verschiebung der Gesichtszüge ins Groteske, so, dass man das Bildschema eines menschlichen Gesichts kaum mehr erkennen kann, muss wie die obszöne und skatologische Geste auch, eine Art Schockwirkung entfalten, die im gleichen Moment aber als solche zu erkennen ist, sodass 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 250 <?page no="251"?> 82 Der ästhetisch-anthropologische Doppelcharakter der Grimasse entgeht Paul Michel in seiner Studie zum Hässlichen in der mittelalterlichen Kunst und Literatur. Michel ist der Auffassung, dass das Hässliche in der Literatur „bewältigt“ wird, und versucht im Licht der mittelalterlichen Schönheits- und Hässlichkeitstheorien die Schönheit des Hässlichen herauszuarbeiten. Das Schreckliche und Komische im Hässlichen beachtet er dabei nicht. Er begründet dies damit, dass es in der Literatur zu schwer zu fassen sei, denn es „expliziert sich nicht selbst“. Die Untersuchung widmet sich nur solchen Formen der Auseinandersetzung mit dem Hässlichen, „die den Anspruch des Rationalen haben, nicht spontanen Formen des Hässlichen wie die Nase rümpfen, den Mund verziehen, lachen, erbrechen. Michel, Paul: ‚Formosa Deformitas‘. Bewältigungsformen der Hässlichen in mittelalterlicher Literatur. Bonn 1976, S. 249. 83 Für Wundt bezeichnet die Grimasse eine „ausdruckslose Intensität“ des Affekts. Die Affektintensität ist eine physiologische Größe und seit Mareys Sphygmograph messbar. Vgl. Löffler, Affektbilder, S. 24. 84 Grimm, Jacob u. Wilhelm: Lemma: Fratze. In: Deutsches Wörterbuch. Vierter Band: Forschel - Ge‐ folgsmann, Sp. 69 f. die Gefahr der zwischenleiblichen Übertragung einer Emotion (etwa Furcht) abgewendet und im Lachen gebannt werden kann. Denn der Grimasse liegt eine widersprüchliche Ex‐ pressivität zu Grunde: sie ist - ästhetisch betrachtet - ein hässliches, verzerrtes Gesicht, das Gegenteil eines schönen Gesichts mit gleichmäßigen Zügen. Gleichzeitig kann sie Schmerz oder große Angst, sogar Todesangst ausdrücken, sodass sie weniger physiogno‐ mische Hässlichkeit, als eine situative Verformtheit durch Emotionen zeigt. 82 Daraus resultiert, dass die Wahrnehmung einer Grimasse ebenso verschiedene Affekte auslösen kann: Abscheu und Ekel vor der grotesken Deformation, oder auch Furcht vor einer Übertragung des der Grimasse zugrunde liegenden Affekts. Die Wirkung einer Gri‐ masse hängt daher weniger von der spezifischen Zeichenkombination, die ihr zugrunde liegt, sondern mehr von ihrer Intensität ab. 83 Diese Intensität kann nur vom Schauspieler durch seine mimische und gestische Expressivität hergestellt werden. Wenn er die Grimasse aber in einer entsprechenden Rahmung, bzw. in Kombination mit anderen komischen Sig‐ nalen ausdrückt, verliert sie ihre Gefahr und wird zum lächerlichen Objekt. Dabei ist der Übergang von der furchterregenden Grimasse zur groteskkomischen Grimasse nur mi‐ nimal, mimisch vielleicht kaum erkennbar. Somit bestimmt nicht nur die Intensität, sondern vor allem Kontext und Verlauf der Grimasse ihre Wirkung. Das Grimassen oder Fratzen „schneiden“ an sich gilt schon sehr früh als von professionellen Schauspielern praktizierter körperlicher Lachanlass. Darauf weist etwa die etymologische Herkunft von ‚Fratze‘ hin (von ital. frasca, im übertragenen Sinn „laffe, unnützer, possenhafter kerl, lat. gerro, nu‐ gator“). Der Begriff wird im 16. Jahrhundert für Possen allgemein bzw. auch für das Erzählen von Possen gebraucht (Fischart: „fratzen und fabeln“). 84 Auch das in der Vulgata für das Fratzen und Grimassen schneiden gebräuchliche subsannaverunt (Psalm 35) weist etymo‐ logisch auf den sannio, den römischen Possenreißer hin. Es ist somit kaum verwunderlich, wenn die Deformation des Gesichts in Grimassen und Fratzen schon früh von den Klerikern verurteilt wurde. Hugo von St. Viktor wusste um die Möglichkeiten, mit mimischen Mitteln Gelächter zu erregen, und wies seine Novizen an, dies zu unterlassen: „Es gibt in der Tat tausend Masken, tausend Grimassen, tausenderlei Art und Weise, die Nase zu rümpfen und die Lippen umzustülpen und zu verziehen, die der 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 251 <?page no="252"?> 85 Hugo von St. Viktor: De institutione novitiorum. II. Disciplina in gestu (cap. 12). In: PL, 176, 943: „Sunt praeterea mille larvae, mille subsannationes et corrugationes narium, mille valgia et contortiones labiorum, quae pulchritudinem faciei et decorem disciplinae deformant.“ (Übers. HRV) Vgl. zu Gestik und Mimik der Histrionen auch Zimmermann, Julia: gestus histrionici. Zur Darstellung gauklerischer Tanzformen in Texten und Bildern des Mittelalters. In: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Hg. von Margreth Egidi u. a. Tübingen 2000, S. 71-85. 86 „Die Maske macht den kultisch Handelnden zum Vertreter. (...) Als Stellvertreter verschwinden die Menschen hinter dem in Maske und zeremoniöser Bewegung festgelegten Schauspiel.“ Plessner, Helmuth: Zur Anthropologie des Schauspielers (1948). In: H. P.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Hg. von Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Stöker. Frankfurt a. M. 2003. S. 403-418, hier S. 405. 87 Vgl. Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form. München 2004, S. 14. Schönheit des Gesichts und ehrbarer Zucht abträglich sind.“ 85 Im Sinne dieser moralisch und ästhetisch motivierten Kritik Hugos sind Grimassen deshalb schädlich, weil sie der Würde des Menschen, der ‚zum Bilde Gottes‘ geschaffen ist, abträglich sind und somit den göttlichen Schöpfungsplan in Frage stellen. In einer lasterhaften Gesichtsbewegung wird das göttliche Antlitz des Menschen von einer Maske des teuflischen Äußeren überdeckt. Dass sich die Verzerrungen des Gesichts bei der Grimasse auch beim übermäßigen Lachen, dem cachinnus, einstellen, wird aus dieser Perspektive nochmals unterstrichen. Verwandlungen des Körpers: Maske und Verkleidung Maske und (Ver-)Kleidung, Schminke, Frisur und Accessoires gehören zur nonverbalen Kommunikation im weiteren Sinn. Sie wurden in den einzelnen theatralen Kontexten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit in unterschiedlicher Weise gebraucht; in einigen performances, wie etwa fastnächtlichen Schauläufen und Spielen, waren sie rituelles Sub‐ strat der theatralen Aufführung und dienten der Übernahme und Symbolisierung von so‐ zialen Rollen, bzw. der Verwandlung in Tier- und Dämonengestalten. In der Commedia dell’arte waren sie fester Bestandteil der Aufführung und kennzeichneten in ihrer Typik die Figuren (theatrale Rollen- oder Charaktermasken). Der Begriff ‚Maske‘ (von arab.: maskharat = Narr, Verspottung, Posse, aber auch verkleidete Person) bezeichnet eine Ver‐ kleidung des Gesichts. Verkleidungen und Masken gehören somit zu einem einzigen ri‐ tuell-theatralen Komplex, der Verwandlung des Darstellers in einen Anderen, seine Ver‐ körperung einer Rollenfigur bzw. eines anderen Wesens. Jede Körperbewegung und jede Geste des Darstellers wird somit gleichzeitig von seinem Körper und vom Körper des Anderen ausgeführt; es ergibt sich - vor allem in rituellen Kontexten - ein magischer Effekt der Doppelheit. 86 Diese kommt insbesondere im Spiel der Gleichsetzung und Kontrastierung von Gesicht und Maske zum Vorschein, weist die Maske doch auf die charakteristische Doppelung von Zeigen und Verhüllen hin. Die Maske zeigt, indem sie verbirgt. Im Theater gehören dann Masken und Verkleidungen, Schminke und Frisur zu einem Illusionsapparat, der die Verhüllung und im Spiel die Enthüllung be‐ werkstelligt. 87 Im christlichen Mittelalter galt die Verkleidung, Vermummung und die Maskerade als besonders anrüchig: eine Maske tragen, sich verkleiden, bedeutete etwas vorzugaukeln, die eigene Identität zu verschleiern, um seine wahren Beweggründe und Handlungen zu ver‐ 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 252 <?page no="253"?> 88 Vgl. Minois, Histoire du rire, S. 117. 89 Hinkmar von Reims: Capitula ad presbyteros parochiae suae. I, 14. In: PL 125, 776. („…weder ein‐ willigen, dass dämonische Larven, die das Volk Masken nennt, vorgeführt werden, denn diese sind des Teufels und von den heiligen Gesetzen verboten“). 90 Ebd. 91 Vgl. Meuli, Karl: Maske, Maskereien. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 5. Hg. von Hanns Bächtold-Stäubli, Berlin / New York 1987, Sp. 1744-1852. 92 Plessner, Zur Anthropologie der Nachahmung, S. 455. 93 Ebd. bergen. Sich maskieren bedeutete daher, den Einflüsterungen des Satans zu folgen, aber auch den Schöpfer nachzuäffen, und den Körper, der uns von der Schöpfung gegeben wurde, damit wir Gott gleichen, zu verstellen und einen anderen vorzutäuschen. 88 Deshalb war das Tragen von Masken für das Christentum und seine Glaubensvorstellungen inakzeptabel und verboten; so heißt es etwa in den Capitula des Hinkmar von Reims (um 860), dass Geistliche es unter anderem unterlassen sollten, bestimmte Personen zu Armenspeisungen zuzulassen, etwa diejenigen, die Masken tragen: „(...) nec larvas demonum, quas vulgo ta‐ lamascas dicunt, ibi ante ferre consentiat, quia hoc diabolicum est, et a sacris canonibus prohibitum.“ 89 Interessant ist, dass dieses Verbot in direktem Zusammenhang mit anderen Unterhaltungen steht; mit den Aufführungen von Tänzern und Mimen, mit den Vorfüh‐ rungen von Bären, mit obszönen Witzen, unanständigen Erzählungen und vor allem Ap‐ plaus und Lachen: „nec plausus et risus inconditos et fabulas inanes ibi referre aut cantare presumat; vel turpia ioca vel urso vel tornatricibus ante se fieri patiantur“. 90 Hier wird das Tragen von Masken zu den Aktivitäten von Performern gezählt und direkt mit dem Lachen verbunden. Denn einerseits richteten sich die Verbote des Maskentragens immer noch gegen heidnische Praktiken und Feste, 91 wo das Lachen einen prominenten Platz einnahm, andererseits war die Maske von Beginn an die Aufführung als ein als-ob-Ge‐ schehen geknüpft. Denn Verkleidung wirkt nur da, wo „der Rollenträger seine Beziehung zur Rollenfigur immer noch erkennen läßt und mit zur Darstellung bringt.“ 92 Plessner be‐ hauptet, dass dies schon in den archaischen Theaterformen der Fall war: „Selbst Gesichts‐ maske oder Vermummung der ganzen Gestalt in vorgeschriebenen Figuren von Tieren und Dämonen etwa schließt solche Erwartung bekanntlich nicht aus, weder bei den klassischen Theatern archaischer Prägung noch bei den kultischen Spielen der Primitiven.“ 93 In dem Moment, wo die christliche Religion die rituellen heidnischen Masken verdammt, können sie zum Anlass für schauspielerische Provokationen werden, wo gleichsam die alte kultische Praxis wie auch die Angst vor ihr verlacht werden kann. Das Spiel mit der Dop‐ pelung, die Maske als Zeichen der Differenz zwischen dem Sichtbaren und dem Nicht-Sicht‐ baren, das die Täuschung vorführt, und zugleich die darunter liegende Wahrheit entlarvt, musste ein hervorragendes Mittel für Komik, Karikatur und Parodie gewesen sein. Das Wissen um die Maskierung und Verkleidung zieht den Zuschauer in ein aufgeführtes Täu‐ schungsmanöver hinein und macht ihn zum Komplizen der Verkleidung. Dies ist auch der Grund, warum Maskierungen und Mummereien noch im Karneval des späten Mittelalters so populär waren. Die Stadtbürger, von deren fastnächtlichen Aktivi‐ täten wir mindestens seit dem 13. Jahrhundert wissen, feierten mit Straßentänzen und -läufen Maskierter, kostümierten Umzügen und Verkleidungen als Bauern, Teufel, Mohren und Wilde Männer. Gerade rituelle Spiele und ihre literarischen Adaptationen sahen das 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 253 <?page no="254"?> 94 Simon, Die Anfänge, S. 21. 95 Das cross-dressing führte bisweilen auch zur Manifestation erotischer Praktiken zwischen den Ver‐ kleideten; dies konnte in Ausnahmefällen bis zur simulierten Kopulation reichen: 1491 zitierte der Nördlinger Rat zwei auswärtige Hutmacher, Hans Geyr aus Kemnaten und Michel Geissler aus Augsburg vor Gericht, die sich an Fastnacht als Mann und Frau verkleidet hatten und von ihren Freunden geführt durch die Straßen gingen und öffentlich den Sexualakt simulierten, „sich zu un‐ küschen wercken vor dem volck erzaigt und bewysen haben (...) als ettlich gesellen ainen knecht und ain gestalt ainer frawen zu unfur anrichten und in der stadt umfürtten.“ Zit. aus Simon, Eckehard: Carnival Obscenities in German Towns. In: Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the Eu‐ ropean Middle Ages. Hg. von Jan M. Ziolkowski. Leiden u. a. 1998, S. 193-213, hier S. 200. 96 Ebd., S. 198 ff. 97 In der christlichen Bildkunst wurde versucht, die Entblößungen durch Einbindung als Marginalie des Heiligen und somit des an den Rand gedrängten Bösen zu beherrschen. So finden wir in Ran‐ kenfiguren der gotischen Gewölbekunst, in Zwickelgemälden und an Außenwänden von Sakral‐ bauten lachende Maulaufreißer (auch mit entblößtem Phallus, etwa in einem Rankenfries des 12. Jhs. der Krypta des Basler Großmünsters), Figuren, die Spottgebärden mit den Armen und Fingern aus‐ führen, häufig als Kommentar zum Text oder zum sakralen Bildprogramm, Tänzer und Tänzerinnen mit entblößtem Körper usw. Vgl. dazu Kröll, Mein ganzer Körper, S. 25. rottenweise Auftreten von hinlänglich Maskierten bzw. Verkleideten vor. So jagten ver‐ kleidete Narren und Holzfäller einen ganz mit Zweigen und Blättern bzw. mit Fellen ver‐ kleideten Wilden Mann durch die Stadt, ein vor allem in Süddeutschland praktiziertes Spiel „zwischen mimiertem Brauch und textiertem Spiel“. 94 Als eine der beliebtesten Formen der Verkleidung ist das cross-dressing zu nennen; vor allem Männer verkleideten sich als Frauen und imitierten weibliche Verhaltensweisen und Tätigkeiten, oder mischten sich unter die Frauen bei inszenierten Rügebräuchen. 95 Die Komik des cross-dressings ist auch einer der wichtigsten Lachanlässe im Fastnachtspiel (s. u.). Eine Sonderform von Maskierung und Verkleidung ist die völlige Negation der Körper‐ bedeckung: die Entblößung. Als eine Spezialform der Exhibition zog sie dieselbe Kritik kirchlicher und städtischer Autoritäten auf sich wie Vermummungen und Verkleidungen. Wie auch Entblößungsgesten wie Blecken und das Spiel mit dem Vorzeigen der natürlichen pudenda oder ihren künstlichen Nachbildungen ist die Nacktheit sowohl als gauklerische Auftrittsform (vorwiegend bei Tänzern und Tänzerinnen und bei Artisten) als auch als karnevaleske Praxis überliefert. Nackt durch die Gassen laufen oder nackt zu Musik tanzen, junge Frauen ins Wasser werfen, sodass sie anschließend entkleidet werden mussten, oder in Kombination mit Narrenmasken und bei der Jagd nach dem Wilden Mann, dies waren ostentative Praktiken der Entblößung. 96 Dass diese Praktiken spöttischer Natur waren, und ihre Provokationen Gelächter ausgelöst haben, ist ebenfalls bezeugt. Inwieweit Nacktheit bei weltlichen und geistlichen Spielen als Lachanlass fungiert haben mag, muss weiter unten diskutiert werden. Interessante Parallelen eröffnen sich bei der vergleichenden Analyse von Verkleidung und Entblößung in Bildern und plastischen künstlerischen Darstellungen. Auch wenn die Nacktheit in den Bildformeln als Kennzeichen des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies verwendet wurde, vermuten Kröll und Camille jedoch, dass die zahlreichen bildlich überlieferten Entblößungsgesten und Darstellungen nackter Körper (halbanimalische Fi‐ guren, Teufelsfiguren, Tänzer) auf theatrale und künstlerische Praktiken (etwa von iocu‐ latores und Akrobaten) zurückgeführt werden können. 97 So sind bestimmte Bildformeln der 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 254 <?page no="255"?> 98 Vgl. ebd., S. 51; Camille, Michael: Image on the edge. The margins of medieval art. London 1992. 99 Zwei Beispiele für Gelächter, das von den Darstellungen in Bildwerken verursacht wurde, sind: Il‐ lustrationen der Fabeln Äsops im Refektorium des Klosters von Fleurie wurden im 11. Jh. beanstandet, weil sie unziemliches, schallendes Gelächter (cachinos) provozierten. Vgl. Schmitt, Die Logik der Ge‐ sten, S. 137. 100 Vgl. dazu Schmidt, Leopold: Dämonische Lustigmachergestalten im deutschen Puppenspiel des Mit‐ telalters und der Frühen Neuzeit. Zeitschrift für Volkskunde 56 (1960), S. 226-235, hier S. 229; Simon, Eckehard, Carnival Obscenities in German Towns, S. 199 f. Vgl. auch Kap. 5.2. Drôlerien auch außerhalb der sakralen Kunst überliefert: in Abbildungen von Mummereien bei unterschiedlichen Festen sowie in populären Erzählungen und rituellen Praktiken. 98 Das Lachen stellt wiederum ein mögliches Verbindungsglied zwischen Bild und Praktik dar; als Reaktion auf Spott und Provokation, aber auch auf groteske Darstellungsintentionen, die Furcht auslösen sollten. 99 Zur Verkleidung gehören auch die Prügel- und Zeigeaccessoires von Narren und Pos‐ senreißern: der Kolben, der Stock, die Pritsche, die Marotte. Sie waren nicht nur das Kenn‐ zeichen des natürlichen Narren am Hof im Mittelalter, sondern auch Requisit aller theat‐ ralen Possenreißer bis zum 18. Jahrhundert, vom Hanswurst zum Puppenspiel. Im weltlichen Spiel tragen Narrenfiguren als Platzmacher und Ausschreier, ähnlich wie die Pritschenmeister, einen Kolben oder ein Prügelholz, um Platz zu schaffen und die Menge zurückzudrängen. Von seinem Ursprung her hat das Schlaggerät von Narren nicht nur pragmatische Gründe zur Selbstverteidigung, sondern besitzt auch ein mythisch-anthro‐ pologisches Potential als Phallussymbol, wie die Phallusattrappen der Nürnberger Fast‐ nacht noch belegen. 100 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 255 <?page no="256"?> 101 Barthes, Roland: Le grain de la voix. In: Œuvres complètes. Tome II. 1966-1973. Hg. von Éric Marty. Paris 1994, S. 1436-43, hier S. 1448 u. 1441. 102 Zu den einzelnen suprasegmentalen Elementen vgl. Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 366. 103 Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, S. 38. Sie sind durch das Verhältnis von auditiven Merkmalen (Tonhöhe, Tonstärke, Höhen- und Frequenzverlauf, Dauer, Artikulation, Betonung, Qualität, Rhythmus, Resonanz, Tempo) und Substanzmerkmalen (Intensität, Zeit, Frequenz) charakterisiert. Die Bedeutung von paralinguistischen Zeichen ist weniger festgelegt wie bei anderen Zeichen; vor allem die Zuordnung zu den linguistischen Zeichen ist nicht immer deutlich. Stimme, Prosodie, Parasprache, Körpergeräusche „Le grain, ce serait cela: la matérialité du corps parlant sa langue maternelle (...) Le grain, c’est le corps dans la voix qui chante.“ Roland Barthes 101 Die bisher skizzierten Lachanlässe der motorischen und proxemischen Bewegung, der Gestik und Mimik sowie der Maskierung sind visueller Art. Doch auch akustische Komik ruft und rief in rituell-theatralen Rahmungen Lachen hervor. Zur Lautlichkeit zählt die gesamte vokale (verbale und nonverbale) menschliche Kommunikation. Das sind erstens alle Stimmartikulationen: die sprachlichen, wie Prosodie und andere suprasegmentale Ele‐ mente der Sprache, die Stimmqualität und Stimmfärbung, zweitens die nichtphonetische, vokale Artikulation wie Parasprache und schließlich nichtphonetische, teilweise auch Kör‐ pergeräusche wie Schmatzen, Niesen, Spucken oder Schnarchen (diese werden auch als vokale Reflexe bezeichnet). Suprasegmentale Elemente der Sprache, also alle nicht bedeutungsdifferenzierenden au‐ ditiven Merkmale, sind fester Bestandteil komischer Kommunikation. Bei stimmlicher Pa‐ rodie und Karikatur bleiben die Sprechakte semantisch unverändert und werden nur mit Hilfe des Wortakzents, der Satzbetonung, der Intonation, der Tonhöhe und -stärke, der Junktur und der Tonlänge, der Dauer und des Tempos, der Artikulation und des Rhythmus verändert und deformiert. 102 Durch solche prosodischen Möglichkeiten des Sprechens kann etwa ein Spottgedicht durchaus einen geringen Anteil semantischer Komik aufzeigen, sein stimmlicher Vortrag dagegen großes Gelächter auslösen. Semiotisch gesehen handelt es sich bei diesen Elementen um „alle vokal erzeugten Laute, die weder als linguistische Zei‐ chen noch als musikalische Zeichen noch als ikonische vokale Zeichen (...) hervorgebracht werden.“ 103 Zu diesen paralinguistischen Elementen zählen auch Merkmale wie Flüstern, undeutliche Aussprache, Nasalierung, heisere Phonation, sich Räuspern oder gespielte Stimmqualität. Parasprache erfolgt immer parallel mit den verbalen Botschaften, während die letzte Gruppe von Lauten, die nichtsprachlichen Lautproduktionen, wie akustische Sig‐ nale (oder vokale Reflexe) wie Niesen, Gähnen, Husten, und Schnarchen unabhängig von den sprachlichen Äußerungen auftreten können, bzw. sie unterbrechen und somit auch modifizieren können. Gerade solche Reflexe, die üblicherweise unfreiwillig auftreten, können in theatraler Komik gezielt eingesetzt werden, um semantische Inhalte zu konterkarieren, ihr Gelingen zu stören und sogar Sprechakte zum Scheitern bringen. Wir kennen dies aus der Darstellung zeremonieller Praktiken im komischen Film, die von einem wiederholten Rülpser, Pfeifen 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 256 <?page no="257"?> 104 Paul Zumthor formuliert es in seinem Buch über die Stimme im Mittelalter folgendermaßen: „Die Stimme verbirgt und enthüllt unaufhörlich einen Sinn, den sie überschreitet, den sie versinken läßt, den sie überschwemmt und ertränkt, den sie von sich entfernt, und der noch ihrer größten Macht parasitär innewohnt“. Zumthor, Paul: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Aus dem Frz. von Klaus Thieme, München 1994, S. 65. 105 Ebd., S. 39. 106 Peirce, Charles S.: Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Vol. V: Pragmatism and Pragmaticism. Cambridge (Mass.) 1934, S. 568. 107 Bachtin, Michail: Methodology for the Human Science. In: Speech Genres & other late Essays. Hg. von Caryl Emerson und Michael Holquist. Austin 1992, S. 159-172, hier S. 164. 108 Vgl. zur funktionalen Performativität Velten, Hans Rudolf: Performativität. Ältere Deutsche Literatur. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien u. H. R. V. Reinbek 2002, S. 217-242. oder spezifischer Zungengeräusche gestört und schließlich zu Fall gebracht werden. Solche Körpergeräusche, die auch obszöne Körperhandlungen imitieren können (Flatulenz, Defä‐ kation, Sexualakt usw.), oder mit körperlichen Handlungen verbunden sind - in die Hände klatschen, mit dem Fuß aufstampfen, Zähneknirschen, Ohrfeigen geben oder Spucken usw. - gehören zum Standard-Repertoire komischer performances von Possenreißern und Narren im Spiel. Abgesehen von solchen nichtvokalen Lauten und Körpergeräuschen ist die menschliche Stimme somit das entscheidende Medium komischer linguistischer Performanz. Dabei ist sie hier nicht in erster Linie Medium der Informationsübertragung, sondern vor allem ein wirkmächtiger Modus der Produktion von Emotionen und Wirkungen in einer Situation der Kopräsenz zwischen Akteuren und Zuschauern. Wer jemals ein Theaterstück in einer ihm unbekannten Sprache erlebt hat, der weiß, dass es bei einem völligen Ausbleiben sprachlich-semantischer Informationen neben der Gestik vor allem auf die Stimme, ihre Qualitäten und ihre hohe Ausdrucksfähigkeit ankommt, um Bedeutung zu vermitteln. 104 Die Stimme kann durch Intensität, Stimmhöhe, Resonanz und Tempo etwa Aggressivität oder Sanftheit, emotionale Erregung oder Unbeteiligtsein, Parodie und Ironie, selbst Bes‐ tialität („Bellen der Aufseher“) und Zivilisiertheit ausdrücken. Hier handelt es sich nicht um Zeichen, die zum Zweck der Kommunikation verwendet werden, sondern um Quali‐ täten, die „ähnlich wie Gestalt und Gesicht - von Natur aus oder aufgrund spezifischer Bedingungen in ihrer jeweiligen Verfasstheit gegeben sind.“ 105 Charles S. Peirce bezeichnete in seiner Untersuchung der tonalen und korporalen As‐ pekte von Sprechakten den Ton der Stimme als wichtigstes Element: „Ein Ton oder eine Geste sind meist der bestimmteste Teil dessen, was gesagt wird.“ 106 Die Relevanz des tonalen Aspekts von Sprechakten wird auch von Bachtin in seiner Untersuchung des Gelingens von Befehlen, Drohungen oder Flüchen unterstrichen. Sie seien alle mit einer scharf ausge‐ drückten Intonation verbunden, der das Gelingen garantiere. 107 Der Intonation kommt dabei auch für die Semantik eine wichtige Bedeutung zu, denn die Prosodie kann Bedeutungen hervorheben, mindern oder sogar streichen. Auf Grund der Bedeutung der stimmlichen Aspekte des Sprechakts muss in den theatralen Aufführungen auf die Emphase des Spre‐ chens geachtet werden: So sind vor allem Ausrufe und Klagelaute, Befehle, Drohungen, Verwünschungen und Flüche, Parodien heiliger oder ritueller Sprechhandlungen, atemloses Sprechen und andere Merkmale von funktionaler Performativität zu beachten. 108 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 257 <?page no="258"?> 109 Vgl. dazu Trager, George L.: Paralanguage. A first approximation. Studies in Linguistics 13 (1958), S. 1-12, hier S. 5. 110 Die schnarrende Stimme wurde so sehr zum komischen Merkmal, dass sie etwa im Puppentheater auch mechanisch erzeugt wurde. Puppenspieler der russischen Petruschka konnten mit Hilfe einer Pfeife auch besonders hohe und winselnde Stimmen erzeugen, wie kein Mensch zu sprechen ver‐ mochte. Vgl. Ramm-Bonwitt, Ingrid: Die komische Tragödie. Bd. 2: Possenreißer im Puppentheater. Die Traditionen der komischen Theaterfiguren. Frankfurt a. M. 1999, S. 39. 111 Quintilian, De inst. orat., XI, 3, 75-94. 112 Aristoteles, Nik. Eth., 88. Bei der Analyse der Stimme muss zwischen persönlichen, unveränderlichen Stimm‐ merkmalen, die durch die Physiologie des Sprechers bedingt sind (Stimmlage, Klangfarbe, Klangfülle) und veränderlichen Stimmmerkmalen (Stimmqualität, Stimmhöhe, Stimmkon‐ trolle, Rhythmuskontrolle) bzw. Stimmmodifikationen durch Lachen oder Weinen unter‐ schieden werden. 109 Für den komischen Einsatz der Stimme sind vor allem letztere ent‐ scheidend. Dient die Stimme als physiologisches Element der Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle innerhalb einer dramatischen Handlung, so sind es die ver‐ änderlichen Merkmale der Stimme, die Möglichkeiten der intentionalen Modulation, der Variation und der inszenierten Verstellung, die für das Erzielen eines komischen Effekts durch Lachfiguren wie Possenreißer oder Narren entscheidend sind. Freilich kann eine Figur wie der dottore in der Commedia dell’arte die ganze Zeit mit schnarrender Stimme sprechen; diese ist jedoch kein physiologisches, sondern ein theatrales Merkmal der Stimme, das ihn als Lachfigur auszeichnet. 110 Die Beherrschung der veränderlichen Merkmale der Stimme ist es auch, die schon in der Antike zum Fach des komischen Schauspielers gehörten. So ist es nach Quintilian schon dem Rhetorik-Schüler nicht gestattet, extreme Stimmen nachzuahmen, wie besonders hohe, schrille oder besonders tiefe, beide sind der stimmlichen Klarheit des Redners nicht ange‐ messen. Auch die exaltierte weibliche Stimme oder die zittrige, schwankende Stimme eines Betrunkenen, wie es Komödianten beherrschen, oder das singende Sprechen soll der Redner meiden. 111 Im pseudo-aristotelischen Traktat Physiognomica wird mit Hilfe von Natur- und Tiervergleichen versucht, den verschiedenen Stimmhöhen Charaktereigenschaften zuzu‐ weisen. Diese klare Codierung der Stimmhöhen wirkte über die Spätantike ins Mittelalter hinein: Die hohe Männerstimme stand für Feigheit, Angst und Zorn, die tiefe für Würde und Mut. Als Medium der Verkörperung des Wortes Gottes war die Stimme des Predigers wichtiges Modell für stimmliche Angemessenheit. Sie sollte nicht zu laut, doch gut ver‐ nehmbar sein, eine mittlere Tonlage haben und angenehm klingen. Dies war im Prinzip eine Fortsetzung des aristotelischen Musters in der Nikomachischen Ethik: Der große Mann, der Hochgesinnte, habe eine tiefe Stimme, er spreche ruhig und langsam, nicht eil‐ fertig, keineswegs laut und nicht hastig. 112 Schauspieler und Komödianten dagegen besaßen nicht nur die Fähigkeit, jede beliebige Stimme nachzuahmen, sie brachten auch Stimmen zu Gehör, die als unangemessen und ungehörig empfunden wurden. Am wenigsten geachtet waren Stimmenimitatoren, die die Naturlaute von Tieren nachahmen konnten. Schon Platon berichtet von Spaßmachern, die in mimischer Weise die Stimmen von Tieren nachahmten (Wiehern der Pferde, Brüllen der 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 258 <?page no="259"?> 113 Reich gibt zahlreiche Beispiele der Unterhaltung durch Lautnachahmung an. Vgl. Reich, Der Mimus, S. 419. 114 Scurra et Rusticus / venere artifices laudis ad certamina, / quos inter scurra, notus urbano sale. / (…) ille in sinum repente demisit caput, / et sic porcelli vocem imitatus sua, / verum ut subesse pallio contenderent / et excuti iuberent [sc. spectatores]. [Schausteller kamen herbei zu dem Wettbewerb, unter ihnen ein scurra, für seinen urbanen Witz bekannt, … der plötzlich seinen Kopf unter seinen Mantel steckte und mit seiner Stimme ein schwein imitierte, dass die Zuschauer glaubten, er habe ein echtes Schwein unter seinem Kleid und ihn aufforderten, es herauszulassen]. Zit. aus Corbett: The scurra, S. 68 (Übers. HRV). 115 So tadeln die Kirchenväter gerade die Fähigkeit der Tragöden, ihre Stimme auf Grund von hoher Emotionalitätsdarstellung zu verstellen, womit sie die Zuschauer tief beeindrucken konnten (Amb‐ rosius etwa spricht von den „tragicae vocis insaniae“. Vgl. Jürgens, Heiko: Pompa Diaboli. Die latein‐ ischen Kirchenväter und das antike Theater. Stuttgart u. a. 1972, S. 225. Ein zeitgenössisches Beispiel für das Sprechen „gegen die Natur“ ist die Rolle der Mutter Cohen in Terry Jones’ Film Das Leben des Brian (Monthy Python, 1979), verkörpert durch Terry Jones. 116 Vgl. zum römischen Mimus Benz, Lore: Zur Verquickung von Sprachkomik, Körperwitz und Kör‐ peraktion im antiken Mimus. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 11 (2001), S. 261-273, hier S. 265-268. Auch die Kombination von Männer- und Frauenstimmen im Minnesang bot diese Mög‐ lichkeit der komischen Transgression. Stiere). Besonders beliebt war das Imitieren des Grunzens der Schweine; 113 wenn solche Stimmen in einem Kontext menschlicher Kommunikation vorgebracht wurden, wirkten sie grotesk und lächerlich. In den Kontext der Imitation fremder Stimmen und Laute bzw. ihrer Verstellung gehört auch der Ventriloquismus, der bereits der Antike bekannt ist. In den Fabeln des Phaedrus wird dem scurra das Bauchreden und die Imitation von Tierstimmen zugeschrieben. 114 Ein imitatorischer Akt von hoher Tragweite für das frühneuzeitliche Theater war die Transgression geschlechtsspezifisch codierter Stimmen im cross-dressing des Fastnachts‐ piels. Ein Großteil der Komik dieser Spiele ergab sich aus der Tatsache, dass Frauenrollen von Männern gespielt wurden, die im Diskant sprachen. Freilich war dies bis weit ins 17. Jahrhundert gängige Theaterpraxis. Doch die Differenz zwischen männlich und weib‐ lich codierter Stimme erweitert die Möglichkeiten für die komische Parodie in hohem Maß. Hier handelt es sich nicht allein um eine Nachahmung der weiblichen Stimme, sondern die Stimmgewalt des Schauspielers als theatrales Mittel wird karikiert, da er „gegen seine Natur“ sprechen muss. 115 Ganz ähnlich verhielt es sich bei der Aufführung von Dialogen und anderen mehrstimmigen Werken, welche von Dichtern und Sängern als Solokünstler vorgetragen wurden, indem jeder Figur eine besondere, kontinuierliche und wiederer‐ kennbare Stimmhöhe, -färbung und -modulation zugeordnet wurde (Rollensplitting im Einzelvortrag). Auch solche Vortragsformen waren stimmlicher Komik weit geöffnet, ohne dass semantische Inhalte verändert oder variiert werden mussten. 116 Historisch ist es nur sehr schwer nachzuweisen, ob und in welchem Maß stimmliche Komik zur Anwendung gekommen ist. Doch die Messung und Beschreibung stimmlicher Abweichung ist selbst in Aufführungen der Gegenwart methodisch nicht einwandfrei durchzuführen, sodass es immer auf die Wahrnehmung des Publikums ankommt, ob und wie sich Komik aus der Stimme ergibt. Prinzipiell muss jedoch davon ausgegangen werden, dass auch in den Spielformen des Untersuchungszeitraumes stimmliche Komik zur An‐ wendung gebracht wurde. Es wird darum gehen, Hinweise zu sammeln, die zu einer Stär‐ kung dieser These beitragen und sie historisch genauer bestimmen können. 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 259 <?page no="260"?> 117 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 161. 118 Dieter Mersch hat es ganz ähnlich konzipiert. Er versucht, die Präsenz des Leiblichen in Auffüh‐ rungen aus der doppelten Struktur körperlichen Zeigens zu erklären. Das Zeigen impliziere einerseits ein intentionales ‚Zeigen-als‘, ein Andeuten, Hinweisen, Zum-Ausdruck-bringen usw., andererseits immer auch ein nichtintentionales ‚Sich-Zeigen‘. In diesem Sich-Zeigen „geschieht“ die spezifische Leiblichkeit des Leibes, es ist weder gerichtet noch folgt es einer Transitivität. Vgl. Mersch, Dieter: Körper zeigen. In: Verkörperung. Hg. von E. Fischer-Lichte, S. 75-89. 119 Energetik, von gr. enérgeia: wirkende Kraft, Wirksamkeit: „Die Kategorie Energie betont, dass Ma‐ terialien, Körper, Praktiken oder Prozesse insbesondere in den Künsten nicht allein in ihrer Funktion als Zeichen oder als Medium von Bedeutung aufgehen, sondern über eine eigenständige sinnliche Wirklichkeit und Wirksamkeit verfügen. Mit Energie ist vor allem eine eindringliche Spannung oder Dynamik zwischen Wahrnehmbaren und Wahrnehmenden gemeint, ein Austausch zwischen ihnen, der mit einer hohen Intensität des Erlebens und Empfindens für den Wahrnehmenden einhergeht.“ Schrödl, Jenny: Art.: Energie. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch u. Matthias Warstat. Stuttgart 2005, S. 87-90, hier S. 87. Präsenz und Energetik Ein wichtiger Aspekt des Theaters und theatraler Aufführungen insgesamt ist die Unmit‐ telbarkeit und die Gegenwärtigkeit der Geschehnisse, die Tatsache, dass sie sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ereignen und von den Zuschauern wahrge‐ nommen werden. Mit den Worten Erika Fischer-Lichtes: „Eine Aufführung wird erlebt als Vollzug, Darbietung, und zugleich Vergehen von Gegenwart.“ 117 Dieser etwas lapidar scheinende Satz zielt jedoch auf den Akt des Wahrnehmens theatraler Vorgänge, ja ihrer Erfahrung und ihres Erlebnisses, als einer Gesamtheit seiner semiotischen und performa‐ tiven Dynamik. Dieser Akt des Erlebens entsteht aus dem Zusammenspiel von theatralen Zeichen im Sinne von Repräsentationsprozessen und ihrer Verkörperung durch die Schau‐ spieler und seiner Präsenz. 118 Die von mir bisher für die Untersuchung körperlicher Komik in theatralen Aufführungen gebrauchten Kategorien der räumlichen und gestisch-mimischen Bewegung, der Verklei‐ dung und der Stimmlichkeit, zielen innerhalb dieses dichotomischen Verhältnisses von Zeichenverstehen und körperlichem Nachvollzug stärker auf letztere Kategorie, welche auf der semiotischen Ebene kaum erfasst werden kann. Sie ist am besten mit den Begriffen Präsenz und Energetik 119 zu bezeichnen. Zwei wichtige Gründe sind es, die dazu führen, gerade diese beiden Begriffe als deskriptive Schlüssel für das Material in den folgenden Kapiteln hier abschließend zu diskutieren. (1) Mit ihnen lässt sich treffend eine Aufführungssituation wie im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit beschreiben, in welcher rituelle und theatrale Welt noch nicht vollständig „gegeneinander abgedichtet sind“, wie Jan-Dirk Müller einmal treffend formuliert hat, eine Situation, in der das „als-ob“ theatraler Mimesis sich noch nicht durchgängig konstituiert hat. Die Körper der Schauspieler sind nicht durch einen Vorhang und eine Tiefraumbühne von jenen der Zuschauer getrennt, die Funktion ihres Auftretens ist es nicht, in der Repräsentation eines Geschehens einen komplexen Sinn vorzugeben, den die Zuschauer decodieren sollen. Vielmehr war die gemeinsame 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 260 <?page no="261"?> 120 Vgl. dazu zusammenfassend Müller, Jan-Dirk: Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmig‐ keit und Geistliches Spiel. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Jochim Ziegeler. Tübingen 2004, S. 113-133 und Gumbrecht, Hans-Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004, S. 49. 121 Im Gegensatz zu Lyotard, der in den 70er Jahren des 20. Jhs. eine Ästhetik des Energetischen ent‐ wickelt hatte, die ganz auf die Materialität der energetischen Beziehung ausgerichtet war: Lyotard, Jean-Francois: Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin 1982, S. 45-92. Vgl. dazu Schrödl, Energie, S. 88 f. 122 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 165. Anhand der in zahlreichen Rezensionen und Kri‐ tiken attestierten „Magie“ des Schauspielers Gustaf Gründgens zeigt Fischer-Lichte die Bedeutung der Gegenwärtigkeit des Schauspielers im Raum. Präsenz von Schauspielern und Zuschauern in der mittelalterlichen Kultur eine ‚reale‘ Gemeinschaftspräsenz mit der Möglichkeit wechselseitigen physischen Kontakts, in der jeder Kommunikationsakt auf körperlichen Vollzügen basierte. 120 (2) Mit der Verwendung von Präsenz und Energetik kann gerade die körperliche Komik in der Aufführung und ihre Evokation von Gelächter präziser erfasst werden, weil sie auf das performative Surplus von motorischen und gestischen, stimmlichen und pro‐ xemischen Intensitäten gerichtet sind. Theatrale Genres des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wie Neidhart- und Fastnachtspiel, Farce und Sottie, Markolfspiele und Commedia dell’arte, aber auch Oster- und Mysterienspiele bieten sich somit in dop‐ pelter Weise für eine Analyse von Präsenz und Energetik der Aufführung an. Es kann nicht verschwiegen werden, dass es dabei beträchtliche methodische Schwierigkeiten gibt, da die Überlieferungssituation häufig kaum mehr als die Texte selbst bietet. Und in diesen sind meist nur wenige Hinweise auf die Aufführung und ihre Wirkung ent‐ halten. Zudem bringt die Textüberlieferung eine nicht zu leugnende Entkörperlichung des Lachens mit sich. Sie verengt das Schauspiel auf seine sprachlichen Zeichen, alles andere der Inszenierung bleibt in kaum lesbaren Spuren angedeutet und muss vom Text her imaginiert werden. Gegenwärtigkeit in Aufführungen der Vergangenheit ist nur anhand von Zeugnissen der Zuschauer, die überliefert sind, nachzuweisen, und davon besitzen wir nur sehr wenige. Dennoch halte ich eine solche (deskriptive) Analyse für lohnenswert, um sich dem Phä‐ nomen der körperlichen Komik im Spiel, die bisher nur wenig ernst genommen wurde, zu nähern. Was heißt nun Präsenz im Theater? Fischer-Lichte, deren Argumentation ich hier folge, untersucht den Präsenzbegriff auf den Körpers des Schauspielers bezogen. 121 Sie ver‐ steht Präsenz deshalb nicht schon als ästhetische, sondern als performative Qualität, als Qualität der Aufführung: Der Schauspieler macht sich den Zuschauern gegenwärtig, erscheint ihnen als unabweisbar prä‐ sent aufgrund seiner besonderen Fähigkeit den Raum zu besetzen und zu beherrschen, noch ehe er Gelegenheit hat, seine expressiven Qualitäten zur Darstellung einer bestimmten Figur auszu‐ spielen. 122 Der Schauspieler zwingt den Zuschauer quasi, seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn zu richten; die Raumbeherrschung und die Fokussierung der Konzentration beim Zuschauer auf sich sind die beiden wichtigsten Kategorien für die Präsenz des Schauspielers. Und es 5.1. Wahrnehmung des komischen Auftritts: Semiotik und Performativität 261 <?page no="262"?> 123 Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 49. 124 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, S. 165. 125 Ebd., S. 168 f. 126 Ebd., S. 169. 127 Ebd., S. 169 f. sind die beiden Kategorien, in welchen der komische Darsteller sein Spiel realisiert. Nach Gumbrecht gibt es zwei wichtige Situationen, für die die Manuskripte in frühneuzeitlichen Lustspielen eine Choreographie liefern: (...) den Eintritt des Körpers des Schauspielers (bzw. eines Hanswurstes oder eines Kaspers) in einen Raum, den er mit den Körpern der Zuschauer teilen wird. Der Hanswurst fragt dann beispielsweise, ob er ‚hereinkommen darf ‘ und nach einer vermeintlich bejahenden Antwort seitens des Publi‐ kums fragt er vielleicht noch einmal, wobei er hinzufügt, dass seine Präsenz den Zuschauern kei‐ neswegs angenehm sein wird. 123 Diese Lenkung der Aufmerksamkeit auf den (noch nicht ganz anwesenden) Körper des Possenreißers ist charakteristisch für die komische Rahmung: jeder weiß nun, dass bald gelacht werden darf. Und in einer Aufführung, die zum Lachen ist (bzw. in einer komischen Szene) ist die komische Figur die wichtigste Figur. Alle anderen Figuren sind nur dazu da, ihr Raum zu geben. Wenn es mehrere komische Figuren gibt, wie etwa in Reihenspielen der Fastnacht, ordnen sich die anderen Darsteller ebenso unter, indem sie beim Auftritt der anderen entweder im Hintergrund bleiben oder diesen Auftritt, etwa mit Gesten oder Zwi‐ schenrufen, unterstützen. Wenn die Aufmerksamkeit auf den Körper des Possenreißers gerichtet ist, kann dieser seine Präsenz beim Auftritt voll ausspielen, indem er die Blicke auf seinen Körper und dessen Leiblichkeit fokussiert. Gerade die komischen Darsteller sind zunächst durch ihre Hyperaktivität und ihre körperliche Devianz von semantischer Kommunikation weitge‐ hend enthoben. Die Präsenz wird „durch Prozesse der Verkörperung erzeugt, mit denen der Schauspieler nicht seinen semiotischen Körper, sondern seinen phänomenalen Leib auf spezifische Weise hervorbringt.“ 124 Präsenz ist daher keine expressive, sondern eine per‐ formative Qualität und beruht auf der Beherrschung bestimmter Techniken der Erzeugung von Energie, um „den eigenen Leib als einen energetischen hervorzubringen“. 125 Dabei ist das erste Erscheinen auf der Bühne, der Auftritt, sehr wichtig, denn hier muss der Zuschauer den Schauspieler bereits als eine Art „Kraftquelle“ wahrnehmen. Doch wie geht das von‐ statten? Um die Produktion von Präsenz zu erläutern, greift Fischer-Lichte auf die Studien des italienischen Dramaturgen und Theateranthropologen Eugenio Barba zurück. Dieser hatte die energetische Präsenz des Schauspielers, die allein auf seine Gegenwärtigkeit und nicht auf seine Rolle bezogen ist, als prä-expressiv bezeichnet. Barba kam zu der Überzeugung, dass dem Schauspieler bestimmte mentale und physische Techniken und Praktiken dazu dienen, um im Darsteller Energie zu erzeugen, die sich auf den Zuschauer überträgt, die zwischen ihm und den Zuschauern zirkuliert. 126 Energie erzeugen bedeutet in Barbas Logik, in der Körperwahrnehmung des Zuschauers einen Bruch herzustellen, durch unerwartete Körperbewegungen, Schwanken und ambivalente Proxemik eingefahrene und erwartete Sehgewohnheiten zu durchbrechen und somit eine energetische Spannung zu erzeugen. 127 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 262 <?page no="263"?> 128 Ebd., S. 171. Fischer-Lichte versteht Energetik jedoch weniger als mentales Phänomen, wie Barba, sondern als Wechselwirkung von Körper und Geist bzw. Bewusstsein: „Wenn der Schau‐ spieler seinen phänomenalen Leib als einen energetischen hervorbringt und so Präsenz erzeugt, dann tritt er dadurch als embodied mind in Erscheinung.“ 128 Dieses „radikale Kon‐ zept von Präsenz“ dient ihr dazu, die Wahrnehmung und die Erfahrung von Theater über‐ haupt zu bestimmen: den anderen und sich selbst als gegenwärtig zu erfahren, heißt, sich und ihn als verkörpertes Bewusstsein, als embodied mind zu erfahren. Dennoch muss es verschiedene Grade der Präsenz und Energetik im Theater geben; wenn Gründgens’ Präsenz spürbarer als die anderer Schauspieler war, wenn dem orientalischen Schauspieler Barbas oder dem ‚heiligen‘ Schauspieler Cieslák ein besonders hohes Maß an Präsenz zugeschrieben wird, dann muss Präsenz als relationaler bzw. skalierter Begriff ver‐ wendet werden. Und hier ergibt sich für den Darsteller von komischen Vorgängen eine strukturell höhere Anforderung an Präsenz und Energetik als für andere Rollenschau‐ spieler. Denn der komische Schauspieler muss deshalb schon ein so hohes Maß an Präsenz erzeugen, weil er als Ausdruckscharakter nicht sehr wirken kann. Dadurch, dass seine Rollen immer auf irgendeine Weise deviant und transgressiv gefasst sind (der Narr, die Einfältige, die Listige, der Teuflische, der lüsterne Alte, der Buckel, der Kindische usf.) ist seine semantische Seite nur schwach ausgeprägt (dies ändert sich erst mit den Narren Shakespeares, welche zu Schlüsselfiguren der dramatischen Handlung werden). Der komische Schauspieler in Spätmittelalter und Früher Neuzeit legt es nicht darauf an, so meine These, den Zuschauer zu transformieren, sondern ihn zum Lachen zu bringen. Er spielt keine bestimmte Rolle, das Entscheidende an seiner Mitwirkung ist die Präsenz und Energetik, die sich im Prozess der Wahrnehmung seiner zuschauerbezogenen Handlungen und Gesten manifestiert. Anders gesagt: Beim komischen Akteur der Frühzeit ist seine expressive Rolle (semiotischer Körper) seinem phänomenalen Auftreten (performativer Körper) untergeordnet. Die komischen Charaktere sind stark typisiert und personal schwach ausgebildet, es sind meist nicht näher definierte Narren oder lustige Figuren, die selten im Zentrum einer wie auch immer gearteten dramatischen Handlung stehen, sondern am Rand, zwischen Spiel und Publikum liminale Positionen einnehmen, sodass auch ihre Possen meist in einem distanzierten, teils störenden, teils kommentierenden, teils dishar‐ monischen Verhältnis zur Spielhandlung stehen. Es ist erst der liminale Raum der ri‐ tuell-performativen Okkasionen, der den Possenreißern überhaupt erst die Möglichkeit er‐ öffnet, zu agieren. 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel Bislang habe ich versucht, die Leitlinien der komischen Aufführungspraxis des Körpers in theatralen Kontexten im Allgemeinen und in rituell-theatralen Kontexten zwischen 1300 und 1600 im Besonderen zu skizzieren. Nun unterscheiden sich die theatralen Spielgat‐ tungen, wie sie sich in den Gattungskonventionen der Literatur- und Sprachwissenschaft herausgebildet haben, sowohl in ihren Aufführungsbedingungen (Zeit, Raum, Anlässe, 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 263 <?page no="264"?> 129 Weinhold, Karl: Über das Komische im altdeutschen Schauspiel. Jahrbuch für Litteraturgeschichte 1 (1865), S. 1-44, hier S. 1. Sprache, Veranstalter usw.) als auch in der konkreten Ausgestaltung der komischen Pro‐ tagonisten. Die in der Forschung übliche, wenn auch problematische Trennung zwischen „geistlichen“ und „weltlichen“ Spielformen ist bezüglich dieser komischen Protagonisten zwar durchaus denkbar, doch favorisiere ich ein praktikableres Vorgehen anhand der ein‐ zelnen Gattungsformen, um den historischen Ausprägungen der komischen Aufführungs‐ praxis näher zu kommen und ihre Bedeutung für Text und Performance dieser Gattungen zu unterstreichen. Die komischen Protagonisten nenne ich verallgemeinernd „Possenreißer“, da es um je‐ weils gattungsspezifisch unterschiedliche Figuren geht, deren vorrangige Aufgabe es je‐ doch ist, durch ihre Handlungen oder ihr Sprechen das Lachen des Publikums hervorzu‐ rufen. Diese Aufgabe überwiegt bei den Possenreißern ihre anderen rollenspezifischen Funktionen im Spiel. Zu einer solchen Definition des theatralen Possenreißers gehören alle Typen des Narren, vom Bauernnarr über den Gauch zum Hofnarren in den deutschspra‐ chigen Spielen, badin und sot in den französischen, der vice der englischen Mysterienspiele, aber auch Possen reißende Knechte und Krämer, teils sogar Lachen erregende Teufel in den Osterspielen. Schließlich rechne ich auch kalkulierende und listige Personen (abentewrer) zu den Possenreißern, wie die Neidhart- und Markolffigur in den gleichnamigen Spielen, deren Hauptaufgabe es ist, nicht ihre eigenen, sondern die Körper ihrer Mitspieler lächerlich zu machen. Im Folgenden möchte ich zunächst die für die komischen Hauptgattungen des weltlichen Spiels zwischen 1300 und 1600 spezifischen frame-markers des Lachens skizzieren, also diejenigen Aspekte und Bedingungen der Aufführung, die dem Publikum anzeigen, dass hier gelacht werden soll. In einem zweiten Schritt werde ich zu belegen suchen, dass und wie die unterschiedlichen Spiele Lachen ausgelöst haben, bzw. unter welchen Bedingungen sie dies taten. Hierzu wurde auch in Kapitel 5.1. schon einiges gesagt. Danach werde ich der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung entsprechend Osterspiel (nur knapp), Neidhartspiel, Farce und Sottie, Fastnachtspiel sowie die Commedia dell’arte behandeln. Was ich im Folgenden nachzuweisen versuche, ist auch in der älteren Forschung schon als Aufgabe angesprochen worden: Die derbe naturalistische Zeit unseres altdeutschen Schauspiels behandelte auch das Komische derb: die Lächerlichkeiten des Äußeren überwiegen den Wortwitz und die Ironie. Körperliche Mängel und Schäden, Prügel und Misshandlungen, sinnliche Grobheiten sind die größte Fund‐ grube. Folgen des Fraßes werden mit größter Unbefangenheit verwertet. Weniger häufig benutzt man die Wortlächerlichkeit; doch finden wir als komische Wirkungsmittel Schelten, sonderbare Namen, das Reden in anderen Mundarten und Sprachen, die Travestie, die wörtliche Auffassung des bildlich Gemeinten. 129 Diese 1865 geäußerten Sätze Karl Weinholds sind von Einfachheit, aber auch von Unvor‐ eingenommenheit geprägt; nichts findet sich hier noch von den moralisch abwertenden, fast verächtlichen Bezeichnungen wie „niedere und schmutzige Komik“ oder „unsittlicher, obszöner Witz“ der wilhelminischen Epoche. Gleichzeitig setzen sie die Schwerpunkte an‐ 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 264 <?page no="265"?> 130 Alles am komischen Auftritt ist somit auf die visuelle Wahrnehmung abgestellt. Schon Émile Picot hatte für die französische Sottie bemerkt, dass diese Reihenspiele unbedingt durch Akrobatik unter‐ stützt wurden. Vgl. Picot, Émile (Hg.): Recueil générale des Sotties. Tome 3. Paris: Didot 1912, S. 8. ders als die auf Sprachkomik ausgerichteten Studien. Was Weinhold mit „Lächerlichkeit des Äußeren“ bezeichnete, ist nichts anderes als die körperliche Bewegungs- und Zeige‐ komik, mit der diese Studie sich befasst, „Folgen des Fraßes“ eine ungezügelte skatologische Ausdrucksweise und entsprechende Gebärden, „Wortlächerlichkeit“ der enge Bezug des Wortes an die gestische Herkunft seiner Laute. Sprache tritt in den weltlichen Spielen we‐ niger als Kommunikationsmedium, sondern mehr als verkörpertes und deiktisches Medium in Erscheinung, gewissermaßen als ein Zusatz zu allem Visuellen: Handlungen, Bewe‐ gungen, Gesten und Mimik. 130 Die Sprache der Neidhart- und Fastnachtspiele ist daher performativ; sie weist zahlreiche performative Sprechhandlungen wie Drohungen, Schwüre, Flüche auf, aber auch einfache Aus- und Klagerufe oder Beschreibungen dessen, was der Sprecher gerade tut (aktionistisches Sprechen - azione parlata), bzw. wen er dar‐ stellt (Rollenbeschreibung), wie sie besonders in den Reihenspielen der Nürnberger Fast‐ nacht auftreten. Sprache verstärkt und übertreibt Handlung, sie parodiert, konterkariert, ahmt Handlung nach, hat aber noch keinen eigenen Raum der Kommunikation erschaffen, ist ohne diese körperliche Handlung, diese actio kaum selbständig. Die Sprecher wenden sich meist alle ans Publikum, sie sprechen in den Raum hinein. Bei solchen Sprechhandlungen kommt es daher auch weniger auf die Semantik des Gesagten als auf den Sprechakt selber an: auf Stimme, Klang, Intension, Bewegung des Körpers. Die im komischen Spiel artikulierten Wörter wirken über ihren Klang und ihren emotionalen Ausdruck, es sind in vielen Fällen Onomatopoeia, sprechende Namen und Ansprachen, tabuisierte Schimpf- und Fluchwörter, die allein durch ihr Äußern und ihr Benennen ko‐ mische Wirkung erzeugen. Die Körperlichkeit der Sprachkomik im Schauspiel entsteht je‐ doch nicht von selbst. Sie ist einerseits zurückzuführen auf die spezifische Handlungskomik in den entsprechenden Szenen des Osterspiels (descensus und Teufelsdarstellungen allge‐ mein, Salbenkrämerspiel und Lauf der Jünger zum Grab), andererseits auf ältere Traditionen popularer Unterhaltung. Forschungen zur literarischen Produktion der ioculatores in Frank‐ reich und Italien haben gezeigt, dass bezüglich des Verhältnisses von Sprache und Körper das sprachliche Ausdrucksreservoir der Gaukler aus „psychomotorischen Formeln und Modulen“ besteht, die in der somatischen Kommunikation („comunicazione somatica“) wirksam werden, vor allem auf Straßen und Plätzen. So formuliert der Musikanthropologe Diego Carpitella: Die überraschenden logischen und pindarischen Sprünge und Purzelbäume, auf die man in den Texten der Gaukler trifft, korrespondieren mit den entsprechenden (als ‚typisch‘ definierten) ki‐ nesischen Bewegungen wie plötzliches Aufspringen, sich runden und biegen, Sätze machen, psy‐ 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 265 <?page no="266"?> 131 „Gli improvvisi salti logici, pindarici che si riscontrano nei testi giullareschi, hanno corrispondenza in questa cinesica (definita ‚tipica‘) che implica sussulti, arrotolamenti, scarti improvvisi (…) agitazione psicomotorica che va dall’attassamento alla crisi epilettica etc., e che in seguito sono diventate formule drammaturgiche, segni“. Carpitella, Diego: I giullari e la questione della circolazione culturale nel medio evo. In: Teatro medievale. Hg. von Johann Drumbl. Bologna 1989, S. 63-95, hier S. 66 (Übers. HRV). 132 Erst im Theater des 17. Jhs. wird diese psychomotorische Körperlichkeit der Lachfiguren zurückge‐ drängt. Die Körper sind dann stärker in den Bühnenraum integriert und als Spielfiguren habituali‐ siert, sie haben auf Grund der dominanten Sprachform keinen Ort auf der Bühne. Diese Körper sind nur noch als „Verletzung einer Diskursordnung darstellbar“: „Der Körper ist deshalb nicht nur ha‐ bituell, weil die sozialen Bedingungen habitualisiert sind, er ist es auch, weil die Darstellungsbedin‐ gungen ästhetisch und medial auf Sprachlichkeit festgelegt sind“. Sick, Franziska: Zur symbolischen Verfasstheit komischer Körper. Thomas Corneille: Le geolier de soy-mesme (1656). In: Der komische Körper. Hg. von Eva Erdmann. Bielefeld 2003, S. 220-230. 133 In seiner Geschichte des Grotesk-Komischen (1788), neu bearb. und erw. von Friedrich Ebeling, Leipzig 1862. chomotorische Nervosität, welche vom Schwindel bis zur epileptischen Krise reicht, und welche folglich zu dramaturgischen Formeln, zu Zeichen geworden sind. 131 Die hier beschriebene Funktion der „somatischen Kommunikation“ im Sprechen ist die Nahtstelle von Körper und Sprache, an welcher körperliche Komik in sprachliche Bewe‐ gung und Semantik umschlägt. Die so geschaffenen Sprach- und Klangbilder können weder lautlich noch semantisch ihre dem Körper noch zugehörige ostentative Wirkung verbergen: der Akt des Aussprechens bringt das Publikum bereits zum Lachen. Wort- und Körperkomik sind in den rituell-theatralen Rahmungen aufs engste verbunden, sie charakterisieren den Auftritt und die Funktion aller Lachfiguren. Wenn transgressives Sprechen ursächlich an transgressive Körper gebunden ist, stellt sich die Frage nach den historisch-symbolischen Bedingungen und Wurzeln dieser Trans‐ gressionen und ihrer zugehörigen Ambivalenz. Diese Figuren, Knechte und Teufel der Os‐ terspiele, Narren der Fastnachtspiele, Harlekin und badin, die Bauern und Köche treten allgemein gesprochen als Kontrafakturen habitualisierter, diskursiver Körper auf, als Aus‐ grenzungen und Vorstufen dieser Körper. 132 Ihre Wahrnehmung erinnert ontogenetisch an die Kindheit, psychologisch an seelisch-körperliche Abweichungen von der ‚gesunden‘ Norm, und mythisch an die vorchristliche Zeit der Dämonen, Wildleute und „wilden Horde“. Gerade der letztere Aspekt, der kultur- und theatergeschichtlich vermutlich den Weg zu ihren rituellen Wurzeln zeigt, verleiht ihnen eine für das Lachen der frühen Spiele bedeutsame und unverzichtbare Ambivalenz. Es ist eine Ambivalenz des Grotesken und Lächerlichen, die bereits Flögel als das Grotesk-Komische 133 bezeichnet hat, eine glückliche Wortschöpfung, die in anschaulicher Weise nicht nur auf die rituelle Herkunft von Lach‐ figuren verweist, sondern auch das Moment der Bedrohung, welche durch gemeinsames Lachen abgewendet werden kann, verdeutlicht. In der Aufführungspraxis der englischen moralities, der deutschen Osterspiele und der italienischen sacre rappresentazioni des Mittelalters ist eine konstante Verbindung der Lachfiguren mit der Bosheit der Dämonen erkennbar. Der Teufel spielt in einer beträchtli‐ chen Zahl mittelalterlicher allegorischer Aufführungen die Rolle des Narren, er oszilliert zwischen grotesker Bedrohung und grotesker Komik. Auch der Narr, der in vielen aleman‐ 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 266 <?page no="267"?> 134 Lanza, Diego: Lo stolto. Di Socrate, Eulenspiegel, Pinocchio e altri trasgressori del senso comune. Torino 1997, S. 179: „L’omologazione teatrale favorisce il neutralizzarsi comico di ogni sua irritante arcana difformità“. 135 Ebd., S. 179 f.: „In tutti questi casi si ha la progressiva domesticazione di un originario essere disu‐ mano, la sua graduale normalizzazione fisica e psichica. Si tratta di un’assimilazione ovviamente incompiuta che sa trasformare l’alieno in riconosciuto elemento di rappresentazione teatrale. Ma la sua presenza scenica ora diverte, la sua antica natura di perturbante non viene mai del tutto meno. Il demone antropizzato, fatto eroe comico, rimane selvatico anche a quanto più è posto a contatti di civiltà(…) In questa comica stupidità pare oscurarsi o addirittura scomparire ogni altro suo tratto distintivo. Egli appare sciocco perché irrimediabilmente inadeguato alle regole e alle convenzioni cui volta a volta è obbligato a rapportarsi nella vicenda“. nischen (Schweizer) Fastnachtspielen noch seine rituelle Rolle als Platzschaffer und Pro‐ logsprecher einnimmt, ist durch Züge der Wildheit, Bosheit und Triebhaftigkeit charak‐ terisiert. Dabei lösen sich mit der Zeit die dämonischen, zauberischen Züge der Lachfiguren ab und bleiben als Oberflächenphänomene erhalten; in Maskierung und Verkleidung sowie in skurrilen Bewegungen und Gesten. Für die Lachfiguren gilt, was Lanza zum theatralen Harlekin im 17. Jahrhundert herausgestellt hat: die komische Re-Semantisierung eines ur‐ sprünglich arkanen Deformen und Fremden. 134 Es handelt sich um die theatrale Domesti‐ zierung eines originär vor- und unmenschlichen Wesens des kollektiven Imaginären, und um seine graduelle physische und psychische Normalisierung im Gelächter des theatralen Rahmens. Während es jetzt der Unterhaltung dient, so bleibt doch sein verstörendes und bedrohliches Potential erkennbar, in seiner psychomotorischen Zügellosigkeit und seinem Ungenügen, sich an die Verhältnisse anzupassen. Dieses Ungenügen, die Verkehrtheit und Dummheit der Lachfiguren ist so dominant, dass es ihre anderen Züge überwältigt. 135 Es äußert sich in einem scheinbaren, inszenierten Kontrollverlust über sich, seinen Körper und sein Sprechen. Die Bewegungen der Lachfiguren erscheinen als fremdbestimmt, sie scheinen sich der Akteure zu bemächtigen. Die Wahrnehmung dieser Figuren, die aus der Rolle fallen, deren Kontroll- und Selbstverlust physisch das Geschehen bestimmt, zeichnet ihre Komik aus. Wie aber lässt sich das Lachen des Publikums beschreiben? Worüber und wann wird gelacht, wer wird ausgelacht, und von wem? Diese Fragen sollen im Folgenden in einer kurzen Erörterung des rituell-theatralen Rahmens der Genres des weltlichen Spiels disku‐ tiert werden. 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 267 <?page no="268"?> 136 Theodor Distel: Inhalt zweier, 1549 in Brüssel aufgeführter Theaterstücke. Zeitschrift für verglei‐ chende Litteraturgeschichte und Renaissance-Litteratur 4 (1891), S. 355-59, hier S. 359. 137 Vgl. Creizenach, Wilhelm: Geschichte des neueren Dramas Bd. 1. Halle, 1901 ff.; Kindermann: Das Theaterpublikum des Mittelalters, im gesamten Buch. 138 Symptomatisch dafür ist die in vielen Teilen wegweisende und hervorragend recherchierte Studie Die Anfänge des weltlichen deutschen Schauspiels von Eckehard Simon. Vgl. dazu meine Rez. in der Zeitschrift für Germanistik, N. F. XVII (2007). H. 3, S. 673-676. 139 Vgl. etwa die Beiträge zum weltlichen Spiel in dem von Ziegeler hg. Sammelband Ritual und Insze‐ nierung, von denen lediglich einer das Lachen überhaupt thematisiert. 140 Damit meine ich nicht Studien, die sich der literarhistorischen Aufarbeitung von Aufführungsorten und -formen gewidmet haben, wie etwa Neumann, Bernd: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. 2 Bde, München 1987. Publikum und Gelächter: Rahmen und Aufführungsbedingungen „das ist nun ein gelechter spil dorin der wijsheijt ist nit zfil“ Zacharias Bletz, Der Narrenfresser Am Abend des 2. April 1549 endete vor dem Rathaus in Brüssel die Aufführung eines Pos‐ senspiels mit der folgenden Szene: Die beide weiber seczen, eine nach der andern, das gesässe [Hose] auf den kopff, das der nieder‐ ländische krumme latz vorne auff der stirne stehet, klopffen und weisen auf den latz und sein daruber allfrölich, das der man mit der bruch also betrogen. Des lachten nicht allein die mansper‐ sonen, sondern auch weiber und junckhfrawen, derer ein grosse anzahl und gewisslich nicht die geringsten alda waren und diesem spyl zuesahen. 136 Dieser briefliche Bericht des kursächsischen Gesandten Franz Kram an seinen Kollegen Georg Komerstatt über die Aufführung einer clucht ist eines der wenigen Zeugnisse eines zeitgenössischen Zuschauers. Dass das Publikum der weltlichen Spiele in Spätmittelalter und Früher Neuzeit oft und gern gelacht habe, ist ein Gemeinplatz, der in der älteren For‐ schung zum Schauspiel oft wiederholt wurde, 137 doch leider nicht immer belegt werden konnte, weil es dazu an Rezeptionszeugnissen fehlt. So behalf man sich in der Vergangenheit damit, dass bei der Indikation von Schwankhaftigkeit oder Komik automatisch auf Lachen verwiesen wurde. In den letzten Jahrzehnten ist die Forschung jedoch dazu übergegangen, kaum mehr vom (textexternen) Lachen zu sprechen, in der stillschweigenden Annahme, dass man über ein Phänomen, das nur schwer nachweisbar ist, auch nichts aussagen könne. 138 Die allzu große Vorsicht, die in einigen Studien bis zur Ausklammerung des Lachens führt, 139 ist deshalb so unbegründet, weil dadurch nicht nur eine Wirkungsdimension aus‐ geblendet wird, sondern auch entscheidende strukturelle Merkmale der Aufführung ver‐ nachlässigt werden. 140 Betrachtet man die Spiele statt aus einer Textperspektive konsequent aus einer Aufführungsperspektive heraus, so muss ihre textuelle Logik überdacht werden. Denn alle performativen, nicht-verbalen und nicht-semantischen Anteile der Aufführung können in ihrer Bedeutung erst fruchtbar gemacht werden, wenn sie im Rahmen einer erweiterten Textanalyse auch entsprechend berücksichtigt werden. Aber wir haben erst für die Spiele des 15. und 16. Jahrhunderts diffundierte aufführungsbezogene Hinweise, wie 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 268 <?page no="269"?> 141 Bernd Neumann und Dieter Trauden haben die Bedeutung von Spieltexten der Frühen Neuzeit für die Lesekultur herausgestrichen; dies kann jedoch nicht über die originäre Bestimmung fast aller Texte für die Aufführung, und sei sie nur imaginär, hinwegsehen lassen. Vgl. Neumann, Bernd u. Trauden, Dieter: Überlegungen zu einer Neubewertung des spätmittelalterlichen religiösen Schau‐ spiels. In: Ritual und Inszenierung. Hg. von Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2004, S. 31-48. 142 Vgl. zu den Bedingungen der öffentlichen Aufführung von weltlichen und geistlichen Spielen Wolf, Gerhard: Inszenierte Wirklichkeit und literarisierte Aufführung. In: Aufführung und Schrift. Hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart/ Weimar 1996, S. 381-405 143 Vgl. Röcke / Velten: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Ge‐ lächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. von W. Röcke u. H. R. Velten. Berlin / New York 2005, S. XIff. Regieanweisungen oder gar Regiebücher bzw. Dirigierrollen (wie bei einigen geistlichen Spielen), die über die Bewegungen und Bühnenpositionen der einzelnen Darsteller, über den Sprecherwechsel und wichtige Handlungen Auskunft geben. Für die Zeit davor sind solche Hinweise eher selten, und es bleibt kaum etwas anderes, als die Texte selbst nach Aufführungshinweisen zu befragen. Das Lachen, wie auch die Inszenierung von Emotionen, gehört zu dieser eher theater‐ wissenschaftlichen Sicht auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Spieltexte. Es geht hier weniger um eine Situation individueller Lektüre, die grundsätzlich anders ist als die der kollektiven Wahrnehmung einer Aufführung, welche sich zwischen inszenierter Perfor‐ manz und nicht vorhersehbarer Emergenz bewegt. 141 Die körpergebundene Aufführung ist entscheidend von den Umständen der jeweiligen Situation abhängig - der Reaktion der Zuschauer auf die Aufführung und ihre kollektive Dynamik - und ist daher von Kontingenz und der Möglichkeit des Scheiterns gekennzeichnet. 142 Das Lachen ist, wie in Kapitel 1 dargelegt, ein Phänomen des Rahmens und der Rahm‐ ungen von Aufführungen. Es ist zunächst im Kontext von deren institutionellen, situatio‐ nalen und okkasionellen Bedingungen zu untersuchen, und erst in zweiter Linie in der Komik der Stücke selbst. Starke Rahmungssignale wie das städtische Fest, die Fastnacht, festliche Musik und Tanz, eine hohe Intensität von aufführenden und sich bewegenden Gruppen sowie schließlich die Präsenz (verkleideter) Lachfiguren können bereits Lachen auslösen, bevor die komischen Inszenierungen des Spiels begonnen haben. Der Spielrahmen selbst ist eine weitere Voraussetzung dafür, dass Gelächter entstehen kann. Die Tatsache, dass die Zuschauer beim Auftritt des Herolds, des Ausschreiers oder des Narren wissen: ‚dies ist Spiel, und es darf gelacht werden‘, schafft beim Publikum eine entsprechende Dis‐ position, ohne die kontinuierliches Lachen nicht denkbar wäre. Diese Rahmungsfaktoren sind nicht zu verwechseln mit dem „karnevalesken Prinzip“ Bachtinischer Prägung, denn sie sind nicht auf eine strukturelle Dichotomie Volk-Obrigkeit, die sich im Karneval Bahn bricht, bezogen, sondern auf konkrete Aufführungen zu einem bestimmten Datum an einem bestimmten Ort, die weniger das Trennende der sozialen Schichten als das Gemeinsame betont haben. So zeigt der Bericht Krams aus Brüssel sehr deutlich, dass Possenspiele gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts in Flandern die gesamte Bürgerschaft einschließlich des Adels und fremder Gäste umfasst haben, und dass alle gleichermaßen am Lachen partizipiert haben. Hier ist von einem gemeinschaftlichen, überständischen Lachen zu sprechen, das das ur‐ bane Gemeinschaftsgefühl aktualisiert, stärkt und dabei Identität stiftet. 143 Dies ist auch 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 269 <?page no="270"?> 144 Dazu Bastian, Hagen: Linguaggio comico e triviale: il pubblico e il Fastnachtspiel. In: Il teatro me‐ dievale. Hg. von Johann Drumbl. Bologna 1989. S. 295-315. 145 Nichols, Stephen G.: Four Principles of Laughter in Medieval Farce. In: Lachgemeinschaften. Hg. von Röcke / Velten, S. 191-208, hier S. 193. 146 Ebd., S. 194. deshalb möglich, da das Gelächter weder ein sozial korrigierendes und ausgrenzendes Ver‐ lachen, noch ein spöttisches Auslachen mit dem Ziel der Erniedrigung oder des Ehrverlusts ist, sondern ein rituelles, festliches Lachen, eines, das stark an seinen Rahmen gebunden ist, und das als körperlicher Ausdruck der Gemeinschaft für den Vollzug des Festes, des Spielereignisses verstanden werden kann. 144 Rituelles Lachen ist vom Ritual ausgehendes, habitualisiertes Lachen, kein Gelächter über Exklusion oder Inklusion, kein Gelächter aus Überlegenheit gegenüber Randgruppen, kein Gelächter über komischen Kontrast und Interferenz, sondern ein Gelächter über exal‐ tierte Körper, exaltierte Sprache, über den Verlust an Ordnung und Kontrolle, über Trans‐ gressionen und Hybridisierungen. Es ist ein Gelächter, das über Rahmungen und Rahmen‐ signale hergestellt und dann über Intensität und das Lachen der anderen, Akteure und Publikum, in Gang gehalten wird. Das Lachen des Rahmens ist ein Geschehen, das Dar‐ steller und Publikum in einen engen Zusammenhang bringt. Es ist Symptom der Herstel‐ lung eines dem Publikum bekannten Spielrahmens, performativer Modus einer bestimmten Aufführungsform. Am Beispiel der französischen Farce schreibt Stephen G. Nichols: Farce takes le rire, laughter, as a principle performative gesture or mode, so that in medieval farce, laughter becomes actio in a number of ways. For one thing, laughter is actio for the actors playing the farce, but it is also actio for the spectators who laugh. In this way, laughter constitutes a dual and consecutive action by players and audience; the players perform or mime the risible giving their cues to the audience who in their turn perform; in this sense, the audience’s laughter is performance cued and staged by the actors. 145 Das Publikum der Farce wird vom Lachen geschüttelt, gleichsam in einem physischen Akt, der den Gesten und Bewegungen der Darsteller gleichkommt und die Zuschauer von mo‐ ralischer oder rationaler Deutung befreit. Diese Praxis steht konträr zum repräsentativen mittelalterlichen Schauspiel. Denn geistliche und weltliche Spiele, die nicht auf das Lachen angelegt sind, müssen den Raum der Repräsentation mit der Welt der Zuschauer in Einklang bringen, damit das, was die Zuschauer auf der Bühne sehen, in irgendeiner Weise im All‐ tagsleben angewandt werden konnte. Die Farce nun legt es darauf an, sich diesem mime‐ tischen Verfahren zu verweigern. „Laughter is the spectator’s gesture of participation in the refusal to make meaning“. 146 Ähnliche Strategien der Bedeutungsverdopplung und Bedeutungsverwischung sind bei der Sottie herausgearbeitet worden (siehe weiter unten), die ebenfalls klar konturierte Auf‐ führungsbedingungen, eine Gruppe von Veranstaltern (die sociétés joyeuses) und ein Pub‐ likum kennt, mit dem es durch Lachen verbunden ist. Dies ist prinzipiell auch im frühen deutschsprachigen weltlichen Schauspiel der Fall. Sieht man sich die ersten Aufführungs‐ texte aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an, das St. Pauler Neidhartspiel und das Nürnberger Spiel Septem Mulieres, so ist hier die typische Kurzform des Einkehrspiels bzw. Interludiums in seinen beiden Varianten der knappen szenischen Handlung und der Rei‐ 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 270 <?page no="271"?> 147 Simon hat bei der Untersuchung der Entstehung der weltlichen Spiele im deutschsprachigen Raum herausgearbeitet, dass die frühesten Aufführungen von Neidhart- und Fastnachtspielen kurze Ein‐ kehrspiele im Rahmen der Fastnacht waren, die als kurze szenische Unterhaltungsstücke be‐ schreibbar sind. Er datiert den Spielbeginn in die zweite Hälfte des 14. Jhs., da aus dieser Zeit Reihen- und auch Handlungsspiele überliefert sind: „Das um 1370 in Schwäbisch Gmünd aufgezeichnete ‚St. Pauler Neidhartspiel‘ hat die Charakteristiken eines Einkehr- oder Stubenspiels, eines fastnächtli‐ chen Interludiums. Wie ‚Sieben Frauen‘ ist es ein Minimalspiel (58 Sprechverse). Beide Stücke konnten mit wenigen Requisiten auf ortloser Bühne von einer kleinen Rotte junger Männer (fünf bis neun Spieler) aufgeführt werden.“ Simon, Eckehard: ‚Sieben Frauen und ein Mann‘ (Keller 122): Das älteste Fastnachtspiel (ca. 1375-1400). In: Ritual und Inszenierung. Hg. von H.-J. Ziegeler. Tübingen 2004, S. 219-231, hier S. 230. 148 „Admiscent se frequenter ficti moriones, quo genere hominum cum nullum sit magis detestandum, tamen vix credas, quantopere delectentur Germani: illi cantu, garritu, clamore, saltatione, pulsu faciunt, ut hypocaustum videatur corruiturum, neque quisquam alterum audiat loquentem.“ Desiderii Erasmi Roterodami Colloquia familiaria, et: Encomium moriae. Hg. von Karl Tauchnitz. Leipzig 1829, S. 207 (Übers. HRV). 149 Dass im Begriff der delectatio vornehmlich auch Gelächter gemeint ist, versteht sich von selbst. So heißt es in Keller 67 am Schluss, wenn der ‚Jeck Schrollentrit‘ den Auszug der Rotte aus dem Wirts‐ haus ankündigt: „Und gee wir an ain anders tat, / Da man uns nit erkennet hat. Do woll wir aber kürzweil machen, Der man auch wol mag gelachen.“ Keller, Adalbert von (Hg.): Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. Bd. 2. ND Darmstadt 1965, S. 591. henpräsentation schon ganz ausgeprägt. 147 Beide Spiele sind vom Rahmen her, ganz zu schweigen von ihrer thematischen Anlage und ihrem schwankhaften Duktus, Unterhal‐ tungsspiele, kurze grotesk-komische Intermezzi, um eine Fastnachtsbzw. Festgesellschaft zum Lachen zu bringen. Auch hier gilt das Lachen der Zuschauer keiner bestimmten ko‐ mischen Handlung, sondern in erster Linie dem mimetischen Spiel, der mimicry der Ak‐ teure, welche mit ihren dürftigen Requisiten, dafür aber ihrem obszönen Spektakel kör‐ perlicher und moralischer Devianz, der visuellen und akustischen Präsenz ihres Auftritts Lachen ausgelöst haben dürften, ganz ähnlich dem, welches Erasmus in seinen Colloquia familiaria 1523 beschreibt: Oft wird scheinbaren Narren Zutritt [zu den Wirtshäusern] gewährt: das sind eine Sorte Personen, die in ihrer Abscheulichkeit unüberbietbar sind, doch gerade das ist es, woran sich die Deutschen ergötzen und ihre Unterhaltung finden: mit ihrem Gesang, ihrem Geplärr, Lärm, Sprüngen und Schlägen mit unbändiger Gewalt machen sie, dass der ganze Fußboden einzustürzen droht, und keiner mehr das Wort des anderen zu verstehen vermag. 148 Auch Erasmus erkennt im bloßen Auftreten und im leiblichen Gebaren der Narren den Anlass für Unterhaltung und Gelächter, erfährt aber ihr Treiben und die Reaktion des Pub‐ likums darauf als besonders ungestüm und störend. 149 Nichtsdestotrotz ist es der ganz be‐ stimmte Ort des Wirtshauses, die spezifische Okkasion und eine von Lachen begleitete Aufführung, deren Sinn und Bedeutung ihm und uns verschlossen bleibt. Es bleibt die Er‐ fahrung von Lärm, wilden Sprüngen und Schlägen, sowie einem aus dem Stegreif insze‐ nierten schlechten Gesangsvortrag. Anders verhält es sich in größeren Schauspielen, die eine Handlung mit klar definierten biblischen oder historischen Figuren repräsentieren und einen größeren Spielraum (Bühnen oder Schrankenplatz) für die Aufführungen benötigen. So wurden seit dem Spät‐ mittelalter meist geistliche Osterwie Fastnachtspiele in den Städten auf einem offenen 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 271 <?page no="272"?> 150 Den Szenen gemäß war dieser wiederum in verschiedene „örter“ eingeteilt, sowie in „Höfe“, kleinere Zwischenräume, wohin die Darsteller sich beim Abgang zurückziehen konnten. Vgl. Brandstetter, Renward: Luzerner Fastnachtspiel vom Jahre 1592. Zeitschrift für dt. Philologie 17 (1885) H. 1. S. 347-365, hier S. 360 f. 151 So Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin / New York 1998 und Ridder, Klaus: Erlösendes Lachen. Teufelskomik - Götterkomik - Endzeitkomik. In: Ritual und Inszenierung: Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2005, S. 195-206. Gegen die Entlastungsthese hat sich etwa Linke gestellt, der sie für eine vordergründige Erklärung hält. Sie traue dem „Handlungskomplex nur eine äußerlich-dramaturgische, nicht aber auch eine innere religiöse Bedeutung zu (...)“. Linke, Hans-Jürgen: Drama und Theater. In: Geschichte der deutschen Literatur Bd. 2: Reimpaargedichte, Drama, Prosa (1250-1370). Hg. von Ingeborg Glier. München 1987, S. 153-233 u. S. 471-485, hier S. 173. 152 Vgl. dazu Diller, Hans-Jürgen: Lachen im geistlichen Schauspiel des Mittelalters. In: Komische Ge‐ genwelten: Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Werner Röcke u. Helga Neumann. Paderborn 1999. S. 175-197, hier S. 177 f. Zum Zwischenspiel in der Frühen Neuzeit vgl. Happé, Peter (Hg.): Interludes and early modern society: studies in gender, power and theatricality. Amsterdam u. a. 2007. 153 Wyss hat die extemporierten Narreneinschübe anhand von Regieanweisungen in zahlreichen ernst‐ haften (alttestamentarischen oder reformatorischen) Fastnachtspielen nachgewiesen. So etwa: „Yetz kommend die Narren vnd machen ire bossen“, oder „Die narren tribend possen“. Mit bossen sind hier Sprünge, Purzelbäume und Schabernack gemeint. Wyss, Heinz: Der Narr im schweizerischen Drama des 16. Jahrhunderts. Inaugural-Dissertation Universität Bern. Bern 1959, S. 222. Platz, in Luzern z. B. auf dem Weinmarkt aufgeführt, der in einen Zuschauerraum und einen Spielplatz aufgeteilt war. 150 Die meisten dieser Spiele wurden nicht vom Lachen regiert, sie hatten klare didaktische Zwecke der religiösen und ethischen Laienunterweisung oder der politischen Information und Agitation zu erfüllen. Dennoch hat das Lachen einen rituellen Raum in diesen Spielen: Es ist dies der Raum des komischen Intermezzos, der komischen Szene oder des komischen Narrenauftritts, welche die ‚ernsthaften‘ Spielhandlungen un‐ terbrechen und die Zuschauer vermutlich vom Druck des transzendenten religiösen Ernstes entlasten können. 151 Mit dem Auftreten von Possenreißern und Lachfiguren wie Narr, Närrin, Knechten, Quacksalber- und Teufelsfiguren usw. werden Aufführungs- und Rahm‐ ungssignale gegeben, auf welche das Publikum sofort reagieren und schon die ersten Schritte dieser Figuren mit Lachen begleiten kann. Solche komischen Intermezzi, die nicht ausreichend charakterisiert sind, wenn man sie als bloße Vorläufer der in der Theaterpraxis der Frühen Neuzeit beliebten Gattung des „Zwischenspiels“ beschreibt, 152 sind eigene liminale Spielteile innerhalb des Schauspiels, bei welchen die räumliche Einteilung des Spielplatzes in Orte bzw. Höfe überwunden wird und zwischen den für die einzelnen Szenen gebrauchten Räumen gespielt werden kann. Dies verleiht den auftretenden Lachfiguren die Möglichkeit der raschen motorischen Be‐ wegungen und einer dynamischen Proxemik. Auch ihr spezieller Bezug zum Publikum trägt zu einer Desillusionierung des Spiels in den Lachszenen bei; doch nicht etwa zugunsten „realistischer“ Einschübe: die Zwischenspiele sind im Gegensatz dazu meist ebenso von komplexer Bedeutungsvermittlung enthoben und inszenieren wiederum intensive körper‐ liche Gebärden oder auch selbstreferentielle Kommentare. 153 In vielen Fällen lachen die Possenreißer auch selbst; für den Schalksnarren der aleman‐ nischen Fastnachtspiele ist etwa das übermütige, schallende Lachen kennzeichnend: 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 272 <?page no="273"?> 154 Wyss, Der Narr im schweizerischen Drama, S. 131. 155 Elsli Tragdenknaben (1580). In: Niklaus Manuel. Hg. von Jacob Baechtold. 2 Bde. Frauenfeld 1878, V. 55. 156 Wyss weist für die Schweizer Spiele auf diese häufig auftretende Ermahnung in den Prologen hin. Wyss, Der Narr im schweizerischen Drama, S. 70 f. Ein Beispiel ist der Prolog zu Hans Rütes Goliath (1555): „Zum ersten sol ich vßher sagen / Das wir nit werdind üch fürtragen / Wie üwer möchtend warten vil / Ein args / lychtfertigs Faßnachtspil / Daruß kein größer furch / nutz / lon / Leer / gůts / noch beßrung möchte kon / Dann das man aber einest macht / Nüws narrenwerck vnd spiegel gfacht / Mit geyler kurtzwyl han / vnd lachen / (…). Zit. aus Wyss, S. 195. 157 Wyss, Der Narr im schweizerischen Drama, S. 71 f. 158 Koischwitz, Otto: Der Theaterherold im deutschen Schauspiel des Mittelalters und der Reformationszeit. Ein Beitrag zur deutschen Theatergeschichte. Berlin 1926, S. 30. Er lacht seine ‚hut‘ oder gar einen ‚korb vol‘. Er platzt los, kreischt und wiehert, hält sich den Bauch und fällt ‚hinderwertz ins kraut‘. Das Volk lässt sich gern von diesem Gelächter mitreißen. Schnell stimmt es in das suggestiv wirkende Lachen des Spaßvogels ein, und es lacht laut und unflätig wie der Narr selbst. 154 Das Lachen des Possenreißers kann auch als Rahmungssignal für das Lachen des Publikums fungieren. Zu Beginn des Fastnachtspiels Elsli Tragdenknaben von Niklaus Manuel bereiten zwei Narren auf den Inhalt des Spiels vor. Der erste weckt die Spannung der Zuschauer, indem er in Erwartung eines heftigen Streites in ein lautes Gelächter ausbricht. Der andere Narr lacht wie sein Geselle über das „zanken, hadern vnd verwissen.“ 155 Dass die Erwartung und Aufregung vor Beginn des Spiels unter den Zuschauern groß war, zeigen die topischen Aufforderungen der Herolde und Spielankündiger, Ruhe zu halten, sowie das Sprechen und Lachen einzustellen. Dies war vor allem bei Fastnacht‐ spielen mit religiöser Thematik oder bei geistlichen Spielen der Fall (silete-Aufrufe der Engel). Hier wird darauf hingewiesen, dass es nicht vorrangig um Unterhaltung ging, son‐ dern dass das Publikum ein gottgefälliges Spiel zu erwarten habe. 156 Solche Ermahnungen deuten darauf hin, dass einige Zuschauer der Schauspiele selbst bei ernsthaften Inhalten gern geredet und gelacht haben, dass das Publikum als Ganzes nur schwer zu disziplinieren war. Die reflexiven Reden der Prolog- und Epilogsprecher (häufig selbst Narrenfiguren), welche die Zuschauer beschreiben, wie sie mit offenen Mäulern gaffen und sich gegenseitig wegdrängen, sprechen eine deutliche Sprache. Im Fadenkreuz dieser topischen Verspottung des Publikums durch Narren standen vor allem „schwatzhafte Frauen und Landleute“. 157 Das Gelächter, welches urbane komische Spiele und Zwischenspiele seit ihrer Aufkunft im 14. Jahrhundert begleitet, wird somit nicht allein durch Komik ausgelöst. Es ist an den festlichen Anlass, die rituell-theatrale Rahmung, die Art der Aufführung (Einkehrspiel, Wagenspiel, Bühnenspiel) und die Gattung (Narrenspiel, Gerichtsspiel, Arztspiel, Jahres‐ zeitenspiel usw.) geknüpft und unterscheidet sich dementsprechend in Länge und Inten‐ sität. Ein entscheidendes Rahmungssignal etwa bei den Fastnachtspielen ist der zum Rahmen gehörende Auftritt des Ausschreiers / Herolds (Nürnberger Tradition) oder des Narren, welcher im alemannischen Fastnachtspiel durch seine „spielmännischen Possen“ und die „übermütigen Sprünge und Tänze“ das Gelächter der Zuschauer schon vor Beginn des eigentlichen Spiels erregte. Im 14. und 15. Jahrhundert war auch noch der Herold sehr agil, ein „beweglicher histrio“ und „narrenhafter Possenreißer“. 158 In Holzschnitten aus dem 16. Jahrhundert wird die körperbetonte Existenz des Narren auch bildlich in Gebärden und 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 273 <?page no="274"?> 159 Abgedruckt in Wyss, Der Narr im schweizerischen Drama, S. 118. Mimik deutlich. Eine Illustration aus Murers Fastnachtspiel Naboth, die 1556 in Mülhausen gedruckt wurde, zeigt einen Narren, der ausgelassen von einem Bein aufs andere springt, beide Arme in die Höhe reißt und den Kopf in den Nacken wirft. Seine rechte Hand schwingt eine Pritsche, die einer Geißel ähnlich sieht, seine Kleidung ist ungeordnet, zerschlissen und im Tanz flatternd, mit Schellen und Bändern besetzt. 159 (Abb. 12) Abb. 12: Springender Narr aus Jos Murers Naboth, Zürich 1556 Wir haben nicht wenige Hinweise darauf, dass rasche Bewegungen, Tanzen, lautes Schreien und Rufen, also nonverbales Verhalten von Lachfiguren auch während der Stücke selbst 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 274 <?page no="275"?> 160 Vgl. Maria-Theresia Leuker: „De last van’t huys, de wil des mans…“ Frauenbilder und Ehekonzepte im niederländischen Lustspiel des 17. Jahrhunderts (= Niederlande-Studien, 2). Münster 1992. 161 Nach Korte ist die Körpersprache auf der Bühne das wichtigste Element für Komik und Karikatur. Ihre Aussagekraft liegt nicht in der Art der sprachlichen Vermittlung, sondern im Vollzug der Be‐ wegungen durch eine Figur. Körpersprache in der Literatur, S. 157 ff. 162 Wyss, Der Narr im schweizerischen Drama, S. 121. 163 Ebd., S. 124. 164 Ebd., S. 121. Lachen ausgelöst haben. So kann man an Krams Brüsseler Bericht erkennen, dass das La‐ chen der Zuschauer vermutlich nicht nur den schwankhaften Dialogen des im 16. Jahr‐ hundert in den Niederlanden beliebten Themas der ungleichen Paare galt, bei welchem sich der Mann meist zum Narren macht. 160 Ebenso dürften sprechende Gesten wie jene am Ende, wenn die Frauen nach gelungenem Betrug sich die Symbole der Männerherrschaft karne‐ valistisch aneignen und sie in demonstrativer Überlegenheit auf den Kopf setzen, Gelächter ausgelöst haben. Das Lachen bei der Aufführung in Brüssel scheint jedenfalls nicht Resultat von sprachlichen Äußerungen zu sein, sondern von Gesten, Gebärden, verbunden mit der menschlichen Stimme, mit Lärm und Bewegung auf der Bühne, die teils autonom wirken, teils die sprachliche Komik unterstützen. 161 Diese performativen Aspekte einer Aufführung, wo die Komik des Körpers und der Stimme im Vordergrund steht, waren in der frühen Neuzeit beim städtischen Publikum sehr beliebt. Für die Schweizer Spiele konstatiert Heinz Wyss: „Man hatte Freude an wilden Tänzen und Prügeleien, am Gezänk, körperlichen De‐ formationen, an Verstümmelungen und Entblößungen, am Obszönen und Frivolen. Das Volk findet derbe, handgreifliche Scherze, lautes Schreien und Fluchen, Wortverdrehungen und Mißverständnisse lustig.“ 162 Wyss hat für das Schweizer Fastnachtspiel in zahlreichen Belegen und Einzelstudien gezeigt, dass der Narr durch den Einsatz seiner Requisiten und seiner übermütigen Sprünge und Tänze das Gelächter der Zuschauer erregt. „Die Wirkung dieser Masken- und Kos‐ tümkomik ist umso größer, als der Narr meistens in tollen Sprüngen und heftig gestikulie‐ rend auftritt, seine Schellen schüttelt, den Kolben schwingt und laut schreit.“ 163 Aus ver‐ schiedenen Fastnachtspielen ist beispielsweise bekannt, dass das Publikum lacht, wenn ein Narr dem anderen an die Ohren fasst bzw. die Ohren Gegenstand der Handlung sind. Auch mit den anderen Attributen des Narren wird gespielt: Man setzt sich gegenseitig die Nar‐ renkappe auf, es wird mit der Marotte gefuchtelt und geschlagen, Requisiten werden in ihrer Funktion missbraucht, wenn zum Beispiel Zupfinstrumente zu Schlaginstrumenten umfunktioniert werden. Allerdings geht Wyss’ Erklärung für das Gelächter über Scham‐ losigkeiten und Obszönitäten, Dummheit und Tölpelei, lautes Gezänk und abscheuliche Flüche von falschen Voraussetzungen aus: Der naive Mensch hat seine Lust an durchtriebenen Possen, abscheulichen Flüchen und panta‐ gruelischer Unverschämtheit. Die komischen Effekte müssen krass sein, um beim Volk Gefallen zu finden. (...) Diese niedere, massive Komik zeugt von der Rohheit des Empfindens und von der Verwilderung der Sitten. 164 Wyss führt hier Lachen und Lachanlässe auf eine zivilisatorische Vorstufe der älteren Epo‐ chen und auf ihre „Rohheit“ zurück. Diese Lesart bleibt entwicklungspsychologischen 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 275 <?page no="276"?> 165 Überliefert in der Brüsseler Van Hulthemschen Handschrift. Moderne Textedition bei Stellinga, G. (Hg.): Het Abel Spel „Gloriant van Bruuyswijc“ en de Sotternie „De Buskenblazer“ na volghende. Cu‐ lemborg 1976. 166 Abgedruckt in Simon, Die Anfänge, S. 61. 167 Wyss, Der Narr im schweizerischen Drama, S. 128. Schemata von Blüte und Verfall, von Wildheit und Zivilisierung verhaftet. Das Stichwort von der „niederen Komik“ impliziert, dass es eine höhere Komik (Satire, Ironie, Witz) gibt, von deren Warte aus gesehen etwa körperliche Lachanlässe als trivial oder triebgesteuert erscheinen. Doch ein solches Verständnis missachtet nicht nur die soziale Heterogenität des Publikums, sondern auch die verschiedenen Formen des Lachens und der Komik, die mit ihm korrespondieren. Denn das rituelle Lachen, mit dem wir es hier zu tun haben, ist viel weniger an pointierte Komik oder gar Satire gebunden, als stärker an Aufführungen und Verkörperungen an sich. Das Lachen folgt noch eher den Signalen des Körpers, es wird nicht so sehr über Bedeutung gelacht, als über Präsenz. Dies gilt insbesondere für das La‐ chen über die menschlichen Laster: nicht über Trunkenheit, Fresssucht, Geilheit, Prahlerei als moralisch verwerfliche Sünden wird gelacht, sondern über den Vorgang des unmäßigen Trinkens und Fressens, die körperliche Präsentation der Geilheit, den Vorgang des Prahlens und den Vorgang des Schlagens. Nicht die Bedeutung dieser Verfehlungen (bzw. die über‐ legene Distanzierung von ihnen) ist der Lachanlass, sondern ihre Aufführung, ihre Mater‐ ialisierung in der actio. Diesem Lachen über Körperinszenierungen kann weder ein vorzi‐ vilisatorischer Status zugeschrieben werden - siehe Stummfilm, Zirkus und Zeichentrick im 20. Jahrhundert - noch eine soziale Prägung im Sinne von Volkshumor - siehe die über‐ ständische Zusammensetzung von Fastnachtspielen. Wir müssen annehmen, dass Raufereien, Prügelszenen und gegenseitige Verfolgungs‐ jagden einen großen Raum in Fastnacht- und Zwischenspiele einnehmen. In einem der ältesten überlieferten europäischen Zwischenspiele vom Beginn des 14. Jahrhunderts, der Sotternie De buskenblazer, 165 kommt es am Ende zu einer Prügelei zwischen Bauer und Bauersfrau, die im Text lediglich mit einem lapidaren „hie vechten sie“ vermerkt ist, je nach Stegreif-Interpretation jedoch in der Länge das gesamte kurze Stück übertreffen konnte. Im ersten deutschsprachigen Fastnachtspiel (nach Simon) Septem Mulieres prügeln sich der Spielanweisung zufolge die Frauen, während die sechste (‚schwangere‘) ihre Ansprüche vorträgt: (in Vers 44 f. heißt es: „fit percussio mulierum“. 166 Gezänk und Balgerei gehörten also von Beginn an zum Bestand der weltlichen Spiele. Die Androhung von Prügel und das Prügeln selbst verfehlten ihren komischen Effekt wohl selten, denn die Narren prügeln sich fast bei jeder Gelegenheit. Wyss stellt für die Schweizer Spiele fest: „Die Lust an diesen Szenen ist so groß, daß die Narren öfters ganz unmotiviert um sich schlagen. Sie drohen mit Schlägen, sie prügeln sich gegenseitig und verhauen an‐ dere. Sie werden aber auch selbst wenig glimpflich behandelt und oft geschlagen.“ 167 Ein Kennzeichen dafür, dass solche lautstarken Inszenierungen von Kämpfen, Schlägen und Prügeleien sichere Lachanlässe waren, ist ihre Häufigkeit in den Spielen, obwohl sie in den Regieanweisungen nicht einmal gänzlich erfasst sind. Sie nehmen für diese Untersuchung deshalb eine zentrale Stellung ein, weil an ihnen das Lachen über groteske Körperbewe‐ gungen, drastische Mimik und Gestik, laute Ausrufe und Schreien greifbar wird. Prügeleien gehen ebenso mit Bewegungen des Entweichens, Duckens, Davonlaufens, Verfolgens, mit 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 276 <?page no="277"?> 168 Vgl. dazu überblickend Hochgeschwender, Ludwig: Text und Körperwelt 1610-1625. In: Der komische Körper. Szenen - Figuren - Formen. Hg. von Eva Erdmann. Bielefeld 2003, S. 31-39 und Helmich, Werner: Ragotin oder: Was ein komischer Körper im Roman comique alles aushalten muss. In: ebd., S. 46-52. 169 Reisebericht von Fynes Moryson: Shakespeare’s Europe: A Survey of the Condition of Europe at the End ot the 16th century. New York 1967, S. 304. 170 Linke, Drama und Theater, S. 161. Flüchen, Geschrei und Geheul daher, mit Ohrfeigen, Maulschellen, gespielten Schmerzen und wilden Rufen der Unterwerfung. Nicht selten fügen sich Narren oder Bauern die Schläge gegenseitig zu, sodass es nicht einmal eine soziale Lesart der Züchtigungen gibt. Prügelszenen und komische Kämpfe dominieren noch das komische Theater im 17. Jahr‐ hundert, wo sie mit der Inszenierung von Körperfunktionen, maßlosem Essen und Trinken verbunden sind. 168 Dass Lachen und Unterhaltung im weltlichen Schauspiel - und ich habe bisher auf die verbindenden und gemeinsamen Aspekte der verschiedenen Aufführungsformen und Gat‐ tungen aufmerksam gemacht - neben Sprache und Semantik auch nonverbale, körperliche und attentionale Ursachen hatte, wird noch einmal in aller Deutlichkeit durch die außer‐ ordentliche Wirkung bestätigt, welche die englischen Komödianten gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Deutschland hatten, obwohl das Publikum kaum etwas von der Sprache der Aufführungen verstand. Darüber wunderte sich ein englischer Beobachter: Germans, not understanding a worde they sayde, both men and women, flocked wonderfully to see theire gesture and Action, rather than heare them, speaking English which they understoode not, and pronouncing peeces and Patches of English playes, which my selfe and some English men there present could not hear without great wearysomenes. 169 Gesture and Action sind die eigentlichen Attraktionen der englischen Schauspieler, nicht ihre Sprache und die Bedeutung, die sie transportierte. Dies ging so weit, dass die Schau‐ spieltruppe einfach ein paar wahllose Szenen aus verschiedenen Stücken zusammenstellte - „peeces and Patches of English playes“ - und sie zur Aufführung brachte. Dem deutschen Publikum gefiel es; vermutlich auch deshalb, weil es darüber lachen konnte. Osterspiel: Die Krämerszene Im deutschsprachigen Osterspiel finden sich mehrere Szenen, die der geistlich-paräneti‐ schen Ausrichtung durch ausufernde und grobe Komik zuwider zu laufen scheinen: der Salbenkauf der drei Marien bei einem Krämer, die Auferstehungsszene und anschließende Höllenfahrt Christi, der Lauf der Jünger zum Grab sowie die Begegnung Jesu mit Maria Magdalena im Garten. Alle zeugen von großer Freiheit gegenüber dem Wortlaut der Evan‐ gelien. Die eigenständige theatrale Entwicklung, aber auch eine typisch säkulare Komik ist am weitesten in der Krämerszene fortgeschritten. Diese ist außer dem Salbenkauf biblisch nicht überliefert, sondern hat sich als „Verlebendigung und Vergegenständlichung des in‐ nerweltlich-irdischen, des säkularen Handlungsbereichs“ ab dem 14. Jahrhundert frei ent‐ wickelt. Sie gilt als ein entscheidendes Element einer Lösung der Spielgattung aus der Bin‐ dung an die Liturgie. 170 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 277 <?page no="278"?> 171 Lipphardt, Walther: Lateinische Osterfeiern und Osterspiele. 9 Bde. Berlin / New York 1975-1990. 172 Zur Mercatorfigur vgl. die grundlegende Arbeit von Boor, Helmut de: Die Textgeschichte der latein‐ ischen Osterfeiern, Tübingen 1967 sowie neuerdings Herberichs, Cornelia: Plädoyer für den Mer‐ cator. Zur hermeneutischen Funktion der Salbenkauf-Szene in bildlichen Darstellungen, im latein‐ ischen Osterspiel sowie im Osterspiel von Muri, in: Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien, hg. von Corinna Herberichs u. a. Berlin / Boston 2015, S. 235-285, hier S. 270-278. 173 Die Komik ist in vielen Spielen, aber nicht in allen bemerkbar. Im Wiener, Melker, Sterzinger und Bozener Osterspiel, im Erlauer und Brandenburger Osterspiel ist sie am ausgeprägtesten; keine (ver‐ bale) Komik findet man etwa in den Spielen von Wolfenbüttel (1425), wo sie getilgt wurde, sowie von Eger, Luzern und in der Haller Passion. Bäschlin hatte die deutschsprachige K-Szene als Wu‐ cherung mit schließlicher Zerstörung der C-Strophe interpretiert. „Unsere Scene scheint von einem sehr selbständig arbeitenden Dichter aus einem Gusse verfasst zu sein…“, so seine Ursprungsthese. Bäschlin, Alfred: Die altdeutschen Salbenkrämerspiele. Mulhouse 1929, S. 15 f. Von den lateinischen Osterfeiern, die Lipphardt verzeichnet, 171 weisen nur 5 % Salben oder Gewürze auf, die die Marien zum Grab bringen. Von diesen weisen 15 Mercatorszenen auf, und nur in zweien sind zwei Kaufleute vorhanden. Bei den lateinischen Osterspielen ist es ähnlich. Mehr als eine Person im Krämerspiel verzeichnen allein der ludus paschali von Tours, sowie das Klosterneuburger und das Benediktbeurer Osterspiel, wo eine uxor apothecarii erscheint. Manchmal bleibt der Mercator stumm, wie in den Prager Spielen des 13. Jahrhunderts, ansonsten halten sich seine Strophen an den überlieferten Bibeltext. Der Mercator ist somit eine ernsthafte Figur, dem sowohl eine Realismusals auch eine Empa‐ thiefunktion zugeschrieben wurde. 172 An der Namensgebung des Mercators lässt sich je‐ doch eine Veränderung vom lateinischen zum volkssprachigen Spiel feststellen: Neben dem überall verwendeten mercator-Begriff finden wir im lateinischen Osterspiel auch den spe‐ cionarius (Klosterneuburger Osterspiel) und apothecarius (Benediktbeurer Osterspiel), im volkssprachigen den institor / paltenere (Muri), medicus (Erlauer Osterspiel / IV ), und artzt (Sterzinger Ypocras-Spiel). Die leichte Veränderung in den Namensvarianten deutet per‐ sonale und inhaltliche Neuerungen an, die das volkssprachige Spiel mit sich bringt, sobald es einmal da ist. Der paltenere im Osterspiel von Muri (1240-1260) ist jetzt viel eher ein Krämer, der seine Ware anpreist und der schon zu Verhandlungen mit Pilatus ins Spiel kommt. Man kann ihn und die späteren mercator-Figuren als umherziehenden Händler oder einen in der Quacksalber-Tradition stehenden Salbenkrämer bezeichnen. Mit dem Quack‐ salber kommen auch andere Personen ins Krämerspiel, vor allem sein kahlköpfiger Knecht Rubin und die junge Frau des Krämers. Diese Vervielfältigung des Krämerpersonals ist auch in der Frankfurter Dirigierrolle zu beobachten, welche zwei mercatores, einen alten und einen jungen mitsamt ihren Frauen kennt. Entscheidend ist aber, dass durch den Auftritt des Quacksalbers mitsamt seiner Frau und Knecht Rubin eine ungezügelte Komik in die volkssprachigen Osterspiele kommt (seit dem Innsbrucker Osterspiel 1391), die zuvor nicht da war. 173 Protagonist der Quacksalberszene ist hier wie in den meisten der genannten Spiele der Knecht Rubin (im Brandenburger Osterspiel heißt er Surgan), ein Possenreißer, welcher durch Hyperagilität und groteskkomisches Sprechen auffällt. Er äfft seinen Meister nach, verrät seine betrügerischen Kniffe, und weder das Prahlen heldenepischen Personals noch 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 278 <?page no="279"?> 174 Sollte sein Name biblischer Herkunft sein, wäre Reuben, der Sohn von Jakob und Leah eine Mög‐ lichkeit. Dieser sammelt Aphrodisiaka für seine Mutter, damit sein Vater zu ihrem Bett zurückkehrt. Als eine Art Rebellion dazu verkehrt Reuben mit der Konkubine des Vaters, Bilhah. Vgl. dazu Walsh, Martin W.: Rubin and Mercator: Grotesque Comedy in the German Easter Play. In: Comparative Drama. 36, (2002), H. 1. S. 187-202, hier S. 187-189. Eine andere These ist die von Stumpfl, der in Rubin die heidnische Robin-Figur erkennt, der im Rahmen des männerbündischen Brauchtums mit Marion eine rituelle Maihochzeit eingeht. Stumpfl, Robert: Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas. Berlin / Leipzig 1934, S. 297-336. 175 Bäschlin: Die altdeutschen Salbenkrämerspiele, S. 20-44; Röcke, Werner: Ostergelächter. Körper‐ sprache und rituelle Komik in Inszenierungen des ‚risus paschalis‘. In: Körperinszenierungen in mit‐ telalterlicher Literatur. Hg. von Klaus Ridder u. Otto Langer. Berlin 2002, S. 335-350, hier S. 340-343; Wolf, Gerhard: Komische Inszenierung und Diskursvielfalt im geistlichen und im weltlichen Spiel. Das ‚Erlauer Osterspiel‘ und die Nürnberger Arztspiele K 82 und K 6 In: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Hg. von Klaus Ridder. Tübingen 2009, S. 301-326. 176 Innsbrucker Osterspiel (Schmalkalden 1391). Hg. von Rudolf Meier. Stuttgart 1962. Die Salbenkrä‐ merszene nimmt 40 Prozent des gesamten Spieles ein. 177 Walsh, Rubin and Mercator, S. 194. 178 Texte und Melodien der ‚Erlauer Spiele‘. Hg. von Wolfgang Suppan. Auf Grund einer Textübertr. von Johannes Janota. Tutzing 1990, Vv. 812-815. die Minnewerbung sind ihm fremd. Seine Sprache ist voller sexueller und skatologischer Anspielungen, am Ende flieht er mit der jungen Krämersfrau. 174 Bezüglich der Komik in der Krämerszene ist bislang die Sprachkomik am besten er‐ forscht. Sie artikuliert sich auf verschiedenen Ebenen: Bäschlin erkennt Formen der Ver‐ spottung und obszöne Anspielungen, Röcke, Walsh und Wolf weisen auf verschiedene li‐ terarische Parodien im Innsbrucker Osterspiel hin: auf den Einsatz von zu Formeln karikierten Mustern der höfischen Literatur und des Heldenepos, wie etwa die Selbstbe‐ zeichnung Rubins als „wygant mit der rostigen hant“, auf die groteske Komik absurder Bilder und Verrichtungen, auf sexuelle Anspielungen von Rubin, er sei kompetent in „frawen dinste“ und beherrsche Vorgänge wie „kapeltreeten“, „flachz geten“, män ryben“, die als sexuelle Metaphern den Minnedienst verkehren. Hinzu kommen ironisches Lob (Lob der Untugenden), satirische Ständekritik (vor allem an betrügerischen Quacksalbern und Salbenverkäufern) sowie die Destruktion sprachlicher Logik im Kauderwelsch oder in un‐ sinniger Lexik und Syntax. 175 So liest im Innsbrucker Osterspiel Rubin beim Aufbau des Krams die Medikamente verballhornend: „Aleporta kurian xitas / exitas termax“ - eine Form des Grammelot, ein Unsinnslatein mit medizinischem Wortschatz. 176 Dazu kommen wie‐ derum sexuelle Anspielungen, da die Medikamente gegen venerische Krankheiten helfen; Walsh nennt das in Anlehnung an Bachtins Konzept der familiären Marktplatzrede „the familiar humour of the quack doctor“. 177 Auch kräftige Flüche sind nicht selten. Im Erlauer Spiel heißt es: „Vacum do al mala venteur“, ein makkaronisches ‚Fahr zur Hölle‘, welches der Arzt seiner Frau entgegnet, nachdem sie ihm eröffnet hatte: „wan ier mügt niderhalb der güertel nicht.“ 178 Die verballhornte Sprache kann bis zur Unkenntlichkeit deformiert werden und nur noch als unsinniges Gebrabbel erscheinen: Ich chan auch in der latern Holermues und papelchern; Erskili gunkelphifili 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 279 <?page no="280"?> 179 Ebd., Vv. 168-171. 180 Zur Verbindung Sprachkomik-Körperlichkeit vgl. Neumann, Bernd u. Trauden, Dieter: „Rubin, du machst wol eyn schalk syn! “. Zur Funktion sprachlicher Gestaltungsmittel im Melker und Innsbru‐ cker Salbenkrämerspiel. In: Neue Beiträge zur Germanistik 6 (2007) H. 4. S. 131-156. 181 Suppan: Texte und Melodien der ‚Erlauer Spiele‘, vor V. 705. 182 Bereits Hartl hatte gesehen: „Namentlich in der Krämerszene steht so oft das Wort nur um des Wortes willen da, sein Sinn ist in diesen Fällen Nebensache, das Wichtige ist der rasche Gang und die witzige Wirkung des Wortes.“ Hartl, Eduard (Hg.): Osterspiele. Leipzig 1937, S. 132. 183 Erlauer Osterspiel, V. 713. Otten ottel domini. 179 Wortverdrehung und Wortwitz im unerwarteten Vergleich, wie etwa im Vergleich unver‐ einbarer Dinge (Adynata) oder im spöttischen Tiervergleich kommen hinzu; all diese wort‐ komischen Formen zersetzen die Semantik der Rede und verweisen auf das Sprechen bzw. Aussprechen als körperlichen Akt, sie können insofern als verkörperte Reden bezeichnet werden. 180 Wichtiger noch erscheinen die komischen Aufführungselemente: hierzu zähle ich Rahm‐ ungs- und Handlungskomik, Gestik und Mimik, Proxemik, Akustisches, Prügel, aktionis‐ tisches Sprechen. Während die Marien wie alle heiligen Figuren durch Statik und langsame Bewegungen gekennzeichnet sind (in Erlau: Tunc omnes tres ambulantes per circuitum sepulchri), 181 ist das Personal der Krämerszene, vor allem die Knechte, von überbordender Agilität und Geschwindigkeit. „Rubinus occurrit mercatorem“ (Melk); „Rubinus currat ad personae (Lübener Fragment); „Statim currat inter populum“ (Mastickar), Rubinus kompt geloffin (Wiener Osterspiel); „servus medici velociter currit ad medicum“ (Erlauer Oster‐ spiel), dort schließlich auch: „Rubinus dicit saltando“; „Rubinus saltans de populo“, „Rubinus et Pusterpalkch currunt ad placitum“ usw. Die Knechte sind somit von proxemischer Hy‐ peragilität gekennzeichnet, sie laufen, hüpfen, springen, gehen von Bühne oder Spielplan ab oder kommen hinzu, was meist mit einer noch höheren Bewegungsintensität in Ver‐ bindung steht. Meist ist dann keine Zwecksetzung in der Bewegung zu erkennen; sie voll‐ zieht sich in Sprüngen und Hüpfen durch den gesamten zur Verfügung stehenden Raum, richtet sich oft scheinbar auf eine andere Person, ohne jedoch einer kommunikativen In‐ tention zu folgen. Die hyperaktiven Bewegungen beim Auftritt und Abgang der Knechte sind daher von der Textlogik her ‚überflüssig‘, semantisch ‚sinn-los‘, 182 doch nicht ohne Funktion: Ihre Funktion ist es, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen und ein metakommunikatives Signal der virtuosen Schnelligkeit (wie bei Bergsons Clowns) zu senden. Die metakommunikative Funktion dieser Knechts- oder Narrenproxemik kann sich auf die sprachlichen und lautlichen Äußerungen der Figur ausdehnen; das Brabbeln und makkaronische Sprechen Rubins ist daher nicht semantisch zu verstehen, sondern als laut‐ liche Intensität, als weiteres metakommunikatives komisches Signal. Die Beispiele verkörperter Sprache beim aktionistischen Sprechen der Possenreißerfigur Rubin sind ebenfalls zahlreich: Als der Meister ihn auffordert, den Marien entgegenzu‐ gehen, sagt Rubin: „Herr maister, das sol sein nue sich zu dem springen mein“. 183 Rubin sagt hier, was er tut, er vollzieht sein Handeln sprachlich, ein wohlbekanntes performatives Muster aus den Reihenspielen der Fastnacht und eine interessante Quelle für Aufführungs‐ komik. Statt den Marien geziemend gemessen entgegenzutreten, springt er sie beinahe an: 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 280 <?page no="281"?> 184 Linke, Drama und Theater, S. 171. 185 Walsh, Rubin and Mercator, S. 188. 186 Ebd., S. 189. 187 Walsh bezeichnet die Krämerszene als „interlude“ und vergleicht sie mit einem Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts: „The Mercator scene is a comic carcinoma within the most sacred of the medieval enactments“. Ebd., S. 195 u. 197. 188 Bühler, Curt u. Selmer, Carl: Salbenkrämerspiel von Melk. Melker OS-Fragment. PMLA 63 (1948), S. 21-63. 189 „Die alle Grenzen sprengende Komik der Darbietungen entzündet sich weitgehend am ständig ge‐ suchten Kontakt mit dem Publikum.“ Linke, Drama und Theater, S. 188. 190 Ebd., S. 153. „Et currit eas saltando suscipere“ heißt es in den Didaskalien. Das Akustische ist ebenfalls metakommunikativ: Die ganze Szene wird von lauten, sinnlosen „Rubein, Rubein“-Rufen des Medicus begleitet, Zank und Schreien dominieren die Dialoge. Schließlich ist die körperliche Erscheinung der Lachfiguren interessant: Pusterbalk, der Unterknecht Rubins, ist bucklig und nennt sich im Innsbrucker Osterspiel „der krum Echart“, neben der heldenepischen Parodie und dem sexuellen Unterton der Heldenepik sicherlich auch eine Anspielung auf seine deformierte körperliche Gestalt. Zur körperlichen Aufführungskomik gehören auch die Verkleidungen (im Innsbrucker Osterspiel erscheint Lasterpalck mit Federn im Haar), sowie Prügeleien zwischen Rubin und Pusterbalk, wie auch zwischen Medicus und Medica. Inszeniertes Prügeln und Schlagen, wie weiter oben bereits erwähnt, ist auch in weltlichen Spielen häufig belegt und kann als Anlass für Ge‐ lächter gelten. Hinzu kommt eine ausufernde komische Gestik und Mimik, ein Teil der „Marktschreiertechnik“, welche die Figuren auf groteske Weise parodieren. 184 Walsh resü‐ miert: „There is ample evidence in the rubrics and implied stage directions to reconstruct much of the gestic repertoire and physical comedy of this most unpaschal intruder into the Easter Play.“ 185 Indem er beim Sprechen ständig in Bewegung ist, singt und tanzt, ist Rubin für Walsh eine voll entwickelte Clownsfigur, seine Bühnenpräsenz sei mit jener der elisa‐ bethanischen Theaternarren des 16. Jahrhunderts, Tarlton und Kemp bzw. mit dem Arlec‐ chino der Commedia dell’Arte zu vergleichen. 186 In ihrer Akkumulation verschiedener komischer Elemente der Aufführung, sprachlichen Ausdrucksform und Körperbewegung kann die Krämerszene als vom sakralen Osterspiel deutlich separiertes komisches Zwischenspiel bezeichnet werden. 187 Dafür sprechen meh‐ rere Indizien: Die eigene Begrüßung des Publikums durch den Mercator, der Vor- und Nachspruch im Stil der Ankündigung und des Beschlusses eines fastnächtlichen Einkehr‐ spiels (etwa in Erlau), thematische und figürliche Analogien zum Fastnachtspiel, vor allem dem Arzt- und Quacksalberspiel. Die Herausgeber des Melker Salbenkrämerspiels, Bühler und Selmer, unterstreichen, dass das Melker Spiel auch allein stehen und allein aufgeführt werden konnte, 188 und dasselbe gilt für viele der anderen Krämerszenen der Osterspiele, die in sich abgeschlossen sind. Schließlich werden die Zuschauer stärker als in anderen Partien der Osterspiele ins Spiel einbezogen, und zwar in einem bis dahin unbekannten Ausmaß, um die Komik des Spiels noch stärker zur Geltung zu bringen. 189 Denn der Mercator, Rubin und Pusterbalk treten aus dem Publikum heraus auf und wieder ab; auch während des Spiels wird der Raum der Zuschauer zur Bühne gemacht, indem die Protagonisten in die Menge hineinlaufen und dort ihre Späße treiben. 190 Die ungezügelte, verkörperte Komik der 5.2. Transgressionen des Körpers im weltlichen und geistlichen Spiel 281 <?page no="282"?> 191 Simon, Die Anfänge, S. 351. 192 Dies machen sowohl sprachgeschichtliche Analysen wie auch die ikonographischen Zeugnisse sehr wahrscheinlich. Vgl. dazu den Band von Blaschitz, Gertrud (Hg.): Neidhartrezeption in Wort und Bild, Krems 2000 mit folgenden Beiträgen: Harant, Patricia: Liedrezeption in den Neidhartspielen. Der lange Weg Neidharts - von Reuental nach Zeiselmauer, S. 219-248; Böhmer, Roland: Neidhart im Bodenseegebiet. Zur Ikonographie der Neidhartdarstellungen in der Ostschweizer Wandmalerei des 14. Jahrhunderts, S. 30-52; Blaschitz, Gertrud / Schedel, Barbara: Die Ausstattung eines Festsaales im mittelalterlichen Wien. Eine ikonologische und textkritische Untersuchung der Wandmalereien des Hauses ‚Tuchlauben 19‘, S. 84-111. 193 Vgl. hierzu bereits Simon, Eckehard: „Neidhart plays as shrovetide plays: Twelve additional docu‐ mented performances“, in: The German Review LII (1977), No. 2. S. 89-98. 194 Ich zitiere i. F. nach der Edition von Margetts, John (Hg.): Neidhartspiele. (= Wiener Neudrucke. Neuausgaben und Erstdrucke deutscher literarischer Texte, 7). Graz 1982. Sprache und die Körperkomik werden von performativen Mustern unterstützt, die die Auf‐ merksamkeit des Publikums auf die vielfältigen Transgressionen und Inversionen der Pos‐ senreißer lenken, um ein ebenso ungehemmtes Lachen hervorzurufen. Das Krämerspiel legt gewissermaßen die Grundlagen für eine Handlungskomik des Körpers, welche in spä‐ teren Spielgattungen noch weiter vertieft und ausgeformt wird. 5.3. Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln Neidhartspiele sind nicht nur die am besten belegten Aufführungen der Frühzeit, sondern auch die ältesten weltlichen Schauspiele in deutscher Sprache überhaupt. Wir besitzen zwischen 1395 und 1558 insgesamt 19 Aufführungsbelege aus dem gesamten deutschen Sprachraum. 191 Die Mehrheit der Aufführungen sowie die fünf überlieferten Spieltexte (St. Pauler Neidhartspiel, Großes Neidhartspiel, Sterzinger Neidhartspiel, Sterzinger Szenar und Kleines Neidhartspiel) weisen wie Stoff und Motive auf eine Entstehung im Alpenraum hin, mit Schwerpunkten in Tirol, Wien und der Nordschweiz. 192 Mit einer Ausnahme fällt der Aufführungstermin in die Fastnachtsperiode. 193 Ein wichtiges Charakteristikum aller Neidhartspiele war der Tanz, der die Spiele umrahmt und die einzelnen Teile der längeren Spiele miteinander verbunden hat. Deshalb ist als zeitgenössische Gattungsbezeichnung oft der Begriff Neidharts oder nitharts tancz verwendet worden. Das aus 69 Sprechrollen und 34 Statistenrollen bestehende Große Neidhartspiel 194 (um 1490) ist mit rund 2600 Zeilen das umfangreichste überlieferte Neidhartspiel und das längste weltliche Schauspiel in deutscher Sprache. An typischen Schwanksituationen aus der Neid‐ hart-Tradition weist es neben dem üblichen Veilchenschwank auch den Schwertfegersch‐ wank, den Beicht- und Kuttenschwank sowie den Fassschwank auf, in denen Neidhart in Verkleidungen auftritt und durch Listhandeln die Bauern lächerlich macht. Zwischen Z. 1602 und Z. 1821 ist eine Höllenszene (Teufelsspiel) eingeschoben, welche aus der Oster‐ spieltradition übernommen wurde. Die Spieleinheiten sind durch Tanz und Musik mitei‐ nander verbunden, an insgesamt sieben Stellen im Spiel werden improvisierte Lieder ge‐ 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 282 <?page no="283"?> 195 Vgl. Simon, Eckehard: The Origin of Neidhart Plays: A Reappraisal. JEGP 67 (1968), S. 458-474, hier S. 460. 196 Gewalt äußert sich nicht nur in den körperlichen Züchtigungen der Bauern durch die Ritter, sondern auch in den kontinuierlichen Prügeleien der Bauern untereinander, bzw. ihrem sinnlosen Einschlagen auf eine Holzsäule, die sie für Neidhart halten. Dieser wiederum tritt in verschiedenen Masken und Verkleidungen auf, um ihnen jeweils neue körperliche Versehrungen zuzufügen. 197 Siller schließt sich der sozialkritischen Interpretation der Neidhartspiele von Margetts an. So sei im Großen Neidhartspiel die Ansprache Neidharts an die Bauern „wenn auch derb, so doch durchaus ernst und entbehrt jeglicher Komik.“ Siller, Max: Anmerkungen zu den Neidhartspielen. Zeitschrift für dt. Philologie 104 (1985). H. 3, S. 380-403, hier S. 388. 198 Vgl. v. a. die Arbeiten von Eckehard Simon, Erhard Jöst, Margetts und Siller. Simon, Eckehard: Neid‐ hart von Reuental. Geschichte der Forschung und Bibliographie, Den Haag / Paris 1968; Jöst, Erhard: Bauernfeindlichkeit. Die Historien des Ritters Neithart Fuchs, Göppingen 1976 (= GAG 192). Auch Sowinski, der das Teufelsspiel im Großen Neidhartspiel untersucht, stellt sich klar gegen eine ko‐ mische Interpretation des Spiels. Vgl. Sowinski, Bernhard: Die Teufelsszenen in den Neidhartspielen. Amsterd. Beitr. zur Älteren Germanistik 38 / 39 (1994): Mittelalterliches Schauspiel. FS für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag. Hg. von Ulrich Mehler u. Antonius H. Touber, S. 313-320. 199 So zeige das Neidhartspiel die Welt der Bauern „aus der distanzierenden Perspektive der Komik“. Catholy, Eckehard: Das Fastnachtspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion. Tübingen 1961, S. 318; die karnevalesk-theatralen Momente der Neidhartspiele wurden herausgearbeitet von Herr‐ mann, Petra: Karnevaleske Strukturen in der Neidhart-Tradition. Göppingen 1984 (= GAG 406); für die schwankhafte Komik der Neidhart-Lieder vgl. auch Schweikle, Günther: Neidhart. Stuttgart 1990 (= Slg. Metzler, 253); vom Lachen als herrschender Rezeptionshaltung geht auch der Beitrag von Müller, Ulrich: Zur Lachkultur in der deutschen Literatur des Mittelalters: Neidhart und Neithart Fuchs, in: Siegfried Jäkel und Asko Timonen (Hg.): Laughter down the centuries. Bd. 1. Turku 1994, S. 161-181 aus. 200 Dazu gehört die Enthebbarkeit der Verstümmelungen, wenn etwa Tänze der verkrüppelten und mit Holzbeinen ausgestatteten Bauern zur Aufführung der Neidhartspiele dazugehören. sungen. Simon vermutet, dass das Spiel im Freien aufgeführt wurde, als Frühlingsspiel oder Maifeier. 195 Auch wenn im Großen Neidhartspiel ein Bauerntanz vorgeschaltet ist, so bleibt der Veil‐ chenschwank Ausgangs- und Motivationsepisode für den weiteren Fortgang der Handlung. Die Racheschwänke sind gekennzeichnet von einer in immer neuen Varianten auftretenden Schädigung der Bauern, die häufig mit physischer Gewalt einhergeht. Die Bauern werden erschlagen, an Gliedmaßen verstümmelt und auf vielerlei Weise zu Narren gemacht. 196 Die bisherige Forschung hat deshalb auch die Ernsthaftigkeit und Gewalttätigkeit des Konflikts betont und Neidhart in der Rolle des Bauernfeinds gesehen. 197 Der strukturelle ständische Antagonismus wurde sozialkritisch interpretiert, Derbheit und Obszönität als Mittel der Bauernsatire verstanden. 198 Noch in seiner Geschichte der Anfänge des weltlichen deut‐ schen Schauspiels lässt Simon keinen Zweifel daran, dass er die Neidhartspiele als Theat‐ ralisierung sozialer Spannungen und drohenden Statusverlusts bei der Ritterschaft sieht. Nur wenige Bearbeiter haben im Gegensatz dazu den fiktionalen bzw. burlesk-komischen Charakter der Spiele herausgestellt, und die weitgehende Unabhängigkeit der Figuren von historischen Gegebenheiten betont. 199 In dieser Optik handelt es sich bei den Bauernfiguren um Abstraktionen; sie sind typisierte Narren und ihre Komisierung ist Voraussetzung für die Befreiung von ernst genommener Rollenhaftigkeit beim Publikum. 200 Ich möchte mich dieser Lesart insofern anschließen, als es meines Erachtens in den Neidhartspielen weniger um Bauernfeindschaft geht, als um die Verkörperung von starken Affekten wie Neid, Hass, 5.3. Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln 283 <?page no="284"?> 201 Das Verschweigen der obszönen Partien ist vor allem in der älteren Forschung rekurrent: Gusinde etwa scheut nicht vor einer Konjektur zurück, um den Kot durch „dürres Laub“ zu ersetzen. Er verschweigt den gesamten Ekel- und Schamkomplex. Gusinde, Konrad: Neidhart mit dem Veilchen. Breslau 1899 (= Germ. Abh. XVII). 202 D. h. die Zuschauer würden sich nicht als Zuschauer eines Spiels, sondern alleine eines Rituals sehen, die Akteure würden sich nicht als Darsteller, sondern als soziale Verkörperung ihrer Rollen sehen. Die Komik der Situationsspaltung, die Bockmann auf der Grundlage von Warnings Definition für den Veilchenschwank herausgearbeitet hat, könnte hier nicht wirksam sein. Vgl. dazu Bockmann, Jörn: Translatio Neidhardi. Untersuchungen zur Konstitution der Figurenidentität in der Neidhart-Tra‐ dition. Frankfurt a. M. 2002 (= Mikrokosmos 61), S. 268 ff. S. näher Kap. 6.3. 203 Kindermanns These, dass dadurch die Bauern im Großen Neidhartspiel dem spöttischen Gelächter der vornehmen Zuschauer preisgegeben seien („scharf abwertende Karikatur der Bauernwelt“) wird durch seinen Irrtum, es handele sich um ein höfisches Publikum, entkräftet. Vgl. Kindermann, Das Theaterpublikum des Mittelalters, S. 72. Scham und Ekel, die den ständischen Antagonismus karikieren und damit als sinnlos und lächerlich ausweisen. Denn Zweck und Ziel der Neidhartspiele ist das Lachen der Zu‐ schauer, und dieses wird mit Hilfe der Inszenierung starker körperlicher Affekte erreicht, in welcher die lächerliche Bewegung (Tanz und Prügeleien), sowie die Aufführung von Gewalt und Skatologie als theatrale Mittel eine zentrale Rolle spielen. 201 Nun könnte man das Lachen über die Bauern auch als ein sozial korrigierendes, ständisch motiviertes Verlachen lesen. Doch dies würde mehrerlei implizieren: kein überständisches, sondern ein höfisches Publikum (was angesichts der Aufführungsbelege unwahrscheinlich ist); kein Lachen über Neidharts Scham und die Schande der Fürstin, sondern Mitleid mit ihnen (was die gesamte skatologische Komik der Schwänke in Frage stellen würde); keine Wirksamkeit des Spielrahmens, insofern, dass soziale Wirklichkeit mit der Praxis des Ver‐ lachens als Korrektiv direkt, ohne jeglichen Rahmenwechel, auf das Spiel übertragen würde. 202 Ich bin deshalb der Auffassung, dass es sich hier nicht um Verlachen als Strafe gegenüber den Anmaßungen des Bauernstandes handelt, sondern um das schadenfrohe, im spielerischen Kontext verbleibende Lachen über die Bauern als theatrale Figuren. Diese Form des affirmativen, rituellen Lachens unterscheidet sich nicht vom Lachen über Narren und Bauern der Fastnachtspiele; es sind figürliche Karikaturen, deren Auftritt eine spezi‐ fische performative Komik zu Grunde liegt. Zur Unterstützung dieser These, und bevor ich das Spiel selbst analysiere, möchte ich nun fünf Arten von Komik im Großen Neidhartspiel unterscheiden, die direkt auf das Lachen der Zuschauer bezogen sind: (1) Die körperlich-burleske Komik. Sie macht sich in den zahlreichen Grotesktänzen der Bauernfiguren bemerkbar, die höfische Tanzformen ungelenk imitieren bzw. über‐ bieten wollen, dabei scheitern und sich lächerlich machen; Höhepunkt dieser Komik ist der Tanz der von Neidhart verstümmelten, stelzbeinigen Bauern. 203 Auch die an‐ deren Grausamkeiten Neidharts an den Bauern, die diese zu Narren machen gehören in diesen Zusammenhang: das Scheren von Tonsuren, ihre Bloßstellung vor dem 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 284 <?page no="285"?> 204 Schadenfrohes Lachen über Grausamkeiten ist für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit durchweg gut belegt. Vgl. etwa Röcke: Die getäuschten Blinden, S. 61-82). Dazu schon Norbert Elias, „Die Grausamkeitsentladung schloß nicht vom gesellschaftlichen Verkehr aus. Sie war nicht gesellschaft‐ liche verfemt. Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude.“ Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, S. 268. 205 Vgl. dazu auch meinen Beitrag: Ekel, Peinlichkeit, Scham und Lachen: Strategien der Ansteckung im Neidhartspiel. In: Koordinaten der Leidenschaft. Hg. von Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi und Jens Roselt. Berlin 2008, S. 214-41. 206 Ich beziehe mich hier auf Bockmann, der für den Veilchenschwank die Logik der Situationsspaltung im Anschluss an das Aktantenschema von Rainer Warning herausgearbeitet hat. Vgl. Bockmann, Translatio Neidhardi, S. 268 ff. Vgl. dann genauer in Kap. 6.4. Herzog usw. 204 Schließlich sind noch die körperlichen Exzesse der Bauern zu er‐ wähnen: ihre Prügeleien, das sinnlose Saufen, die sexuelle Triebhaftigkeit. (2) Der Einsatz von klassischen Strategemen des Possenreißers: Neidhart geht in wech‐ selnden Verkleidungen gegen die Bauern vor, er überlistet sie, hält sie zum Narren und macht sie zu Narren (Kuttenschwank). Dadurch werden sie auch dem Spott des Fürs‐ tenpaares (auf der Spielebene) ausgesetzt. (3) Die skatologische Komik des Veilchenschwanks: Der Kothaufen, der sich statt des Veilchens unter Neidharts Hut befindet, regiert den gesamten Schwank. Alles, was an höfischen Codes hier aufgeführt wird (symbolische Bedeutung des Veilchens, Mai‐ buhlenschaft, höfischer Tanz usw.) wird am Ende durch den Unrat lächerlich gemacht. Mit der Inszenierung starker Affekte (Ekel, Abscheu, Schrecken, Scham), die die ele‐ mentare Bedrohung der höfischen Kultur verkörpern, werden die Zuschauer emoti‐ onal affiziert und können sich im Lachen vom Geschehen distanzieren - ob eher schadenfroh oder eher befreit, muss hier offen gelassen werden. 205 (4) Die Sprachkomik der Bauern: Hierzu gehören ihre sprechenden Namen (Schotten‐ schlicker, Rotzkatter, Milchfridl, Rauntz u. v. m.), ihre hoffnungslos übertriebenen Prahlreden, die Beschreibungen obszöner und skatologischer Handlungen, ihre derbe Sprache überhaupt. (5) Die Komik der Situationsspaltung (am Beispiel des Veilchenschwanks): dieser bezieht einen großen Teil seiner Komik daraus, dass Spiel- und Rezeptionssituation ausei‐ nander fallen, weil auf der Rezeptionsebene ein Informationsvorsprung besteht. In‐ nerhalb des Spiels wird die Störung des Zeremoniells erst beim Aufdecken des Hutes erkannt, außerhalb war sie von Beginn an evident. So wissen die höfischen Figuren nicht, dass sie mit ihrem Tanz um das vermeintliche Frühlingssymbol zu Darstellern einer verkehrten Welt geworden sind. In dem Moment, wenn diese parallele Wahr‐ nehmung wieder zusammenläuft, und die Spannungskurve rapide abfällt, kann sich überlegenes Lachen über das Scheitern des Zeremoniells bei den Zuschauern ein‐ stellen. 206 Von diesen fünf kardinalen Formen der Komik im Neidhartspiel interessieren im Zusam‐ menhang mit dem Thema der komischen Körperinszenierungen die ersten beiden am meisten. Wie manifestiert sich die körperlich-burleske Komik im Spiel, und wie lässt sie sich beschreiben? Der erste Teil des Großen Neidhartspiels ist ganz dem Auftritt und der Vorstellung der Bauern gewidmet (Z. 71-370); nach dem Prolog und den Eingangstänzen 5.3. Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln 285 <?page no="286"?> 207 Margetts, Neidhartspiele, S. 286. gehört ihnen die Aufmerksamkeit. In aktionistischer Rede sprechen sie aus, was sie im Kontrast zu den Worten des höfischen Eingangs tun: Sie tanzen, springen, jauchzen, laufen hinter den Bauernmädchen her, machen Annäherungsversuche im Stile der Nürnberger Fastnachtspiele, die jedoch in ihrer obszönen Derbheit und Direktheit keinen Erfolg haben und zurückgewiesen bzw. nicht minder grob und obszön zurückgegeben werden. Die Bauern wollen die Höflinge überbieten, indem sie einen neuen Tanz aufführen, der beson‐ ders kunstreich sein will, in Wirklichkeit aber tapsig und ungeschlacht ist. Neben den dör‐ perlichen Bewegungen und misslungenen Imitationen der hofsytten reizen auch die sprech‐ enden Namen zum Lachen: Schnablrausz, Gretl pruntz im stall oder Sawrkübl sind Beispiele einer Namenskomik, die durch die bildhafte Kombination von Worten wirkt, wie auch über ihre sinnlose Akkumulation. Margetts kommentiert: „Die komischen Namen sind Teil des im Spiel dargestellten Verhaltens der Bauern; sie prahlen, sind sehr mit ihrem unstandes‐ gemäßen Aussehen beschäftigt.“ 207 Was Margetts hier sozialkritisch liest, ist aktionistisches Sprechen. Die Akteure sagen, was sie gerade tun und gleich tun werden, wohin sie sich wenden, sie sagen, wie sie aus‐ sehen und wie die anderen ihnen erscheinen: So will ich auff den rayen Last vns tantzen vmb den mayen Wol auff vnd wol her Lat vns aber rayen mer Runtzolt puntzolt gundlwein Gumpp vnd epp vnd peterlein Jr sült all an den Rayen gan (...) (Z. 343-349) Diese Form des „in den Raum hinein-Sprechens“ ist vornehmlich metakommunikativ, es ist ein gestisches, verkörpertes Sprechen, und es ist genauso wie an die anderen Akteure wie an das Publikum gerichtet. Die auf das eigene Tun bezogenen Sprechhandlungen stellen den Auftritt, die actio der Bauern ins Zentrum, nicht eine spielspezifische Kommunikation oder eine Handlung. Von den Figuren wird ausgesprochen, was die Zuschauer sehen (werden). Die Sprache unterstützt den visuellen Eindruck und verstärkt somit dessen Effekt. So erscheinen die Körper der Bauern auf dem Spielplan, sie sind körperlich und sprachlich präsent, lenken die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie sich bewegen, tanzen und dabei sprechen. Es gibt kaum eine Informationsvermittlung, die über die gegenwärtige Hand‐ lungssituation - das Tanzen, Prahlen, die Versuche der Annäherung mit Sexualphantasien - hinausginge; die Semantik des Sprechens erschöpft sich in den groteskkomischen und am‐ bivalenten Selbstbeschreibungen der Bauernfiguren als Triebwesen. Dabei knüpft das Spiel lexikalisch an die (Pseudo-)Neidhartschwänke, szenisch an die Form des Reihenspiels an: Jch bin ain dörper Schoppinswang Vnd pin auch gross vnd lang Des bin ich ainer mayd wol werd Jch trag hewr nun mein erstes schwerd 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 286 <?page no="287"?> 208 Dietl, Cora: Tanz und Teufel in der Neidharttradition: „Neidhart Fuchs“ und „Großes Neidhartspiel“. Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006). H. 3, S. 390-414, hier S. 403. Dietl weist auf die unkoor‐ dinierte Mischung von Elementen des Schreit- und des Springtanzes bei den Bauern hin; sie unter‐ sucht allerdings das „Motiv des Tanzes als eines literarischen Mittels zur Diffamierung der Bauern in der Neidharttradition“ (S. 391). Vnd han ain newes gürttlgewant Gee her deymůt an meiner hand (Z. 262-267) Dem aktionistischen Sprechen der Dörper und den Bühnenanweisungen („Da tantzen die pawren hin gen hoff “ (Z.92); „Also zyhen dye pawren von hoff “ (Z. 158)) ist zu entnehmen, dass die Bühnenfiguren während der gesamten Szene in Bewegung sind. Sie probieren ihren neuen Tanz aus, der höfische (Schreiten) und bäuerliche (Springen) Elemente aufweist und somit auf eine „mangelnde Regelbeherrschung der Bauern und damit die mangelnde Bän‐ digung der Affekte“ hinweist. 208 Doch bleibt es nicht bei der Übermittlung dieser zeichen‐ haften Dichotomie und der Darstellung der Bauern als Mängelwesen. Die unkoordinierten Bewegungen, das Springen, Hüpfen und Laufen, der offensichtlich scheiternde Versuch, höfische Bewegungsmuster nachzuahmen, schließlich die hyperagile Proxemik der ge‐ samten Szene, haben ihre Funktion vor allem anderen in der Unterhaltung. Im Verbund mit den zotigen Sprachgebärden, die ebenfalls auf den Körper und körperliche Gesten bezogen sind, erregen sie ein Gelächter, das als Übertragungseffekt der grotesken Bewegungsabläufe gesehen werden muss. Diese Form der Bewegungskomik wird in dem Moment noch verstärkt, wenn die Bauern ihre Tänze mit einem Stelzbein aufführen müssen, nachdem sie der ersten Rache Neidharts zum Opfer gefallen sind. Denn nach dem erfolgreichen Raub des Veilchens und der scham‐ vollen Szene des Hutaufdeckens lauert Neidhart gemeinsam mit den Rittern den um die Trophäe tanzenden Bauern auf: Vnd die Ritter laufen an den tantz dy pawren zu fahen Vnd die pawren geben die flucht aus geno= men x oder xij die seind gefangen (…) Da hayss pfayffen vnd pöcken vnd also die Ritter ainen pawr nach dem anderen vnd pinten jn Steltzen an jre payn. Dar nach stend die pawren auff. (Z. 950-959) Die 32 Bauern, denen das linke Bein abgeschlagen und durch ein Holzbein ersetzt wurde, klagen nun über ihr Schicksal und fragen: „Wer tanzt nun bey fridawn, / Pey ir vnd bey waldrawen, / Vnd pey anderen mayden jungen / Seyt vns penomen ist den vorsprunge“ (Z. 972-975). Die Frage scheint berechtigt, doch im weiteren Verlauf des Spiels scheint es, dass die Verstümmelung die Bauern in ihrer motorischen Handlungsfreiheit und ihrem Unge‐ stüm kaum beeinträchtigt hat: Sie laufen, springen und tanzen wie zuvor. Aufführungs‐ technisch ist die so zu erklären: in der Schwankkompilation Neithart Fuchs (vgl. Kap. 6.4) ist in der Illustration des ‚Bremsenschwanks‘ ein tanzender Bauer mit Stelzbein abgebildet (Abb. 13). Dabei fällt auf, dass das Holzbein des Bauern nur an das angewinkelte Bein an‐ 5.3. Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln 287 <?page no="288"?> 209 „Die Illustration dürfte ein Zeugnis dafür geben, wie der ‚Stelzentanz‘ der Bauern zur Zeit des Er‐ scheinens des ‚Neidhart Fuchs‘ dem Publikum bereits optisch vertraut war: durch die Inszenierung von Neidhartspielen.“ Dietl: Tanz und Teufel in der Neidharttradition, S. 400. Dietl interpretiert den Stelzentanz jedoch nicht komisch, sondern grotesk und hässlich; er „versinnbildlicht das unbe‐ herrschte und widernatürlich-hässliche bäuerliche Emporstreben.“ Ebd., S. 407. 210 Vgl. dazu für die Antike Garland, Robert: The Mockery of the Deformed and Disabled in Graeco-Roman Culture. In: Laughter down the centuries. Vol. 1. Hg. von Siegfried Jäkel u. Asko Ti‐ monen. Turku 1994, S. 71-84; und für das Mittelalter anhand von literarischen Zeugnissen Ménard, Philippe: Les Fous dans la Société médiévale. La Témoignage da la Litterature au XIIe et au XIIIe Siècle. In: Romania 98 (1977), S. 433-459. gebunden ist, es ist keine wirkliche Amputation abgebildet. Dies korrespondiert mit der Regieanweisung: „vnd pinten jn Steltzen an jre payn.“ 209 Die Bühnenwirkung einer solchen Maßnahme ist nicht hoch genug einzuschätzen. Alles, was die Bauern bisher schon an unkontrollierten Bewegungen vorgeführt haben, wird durch die Behinderung mit dem Holzbein auf die Spitze getrieben. Aus wilden, ungestümen Tänzen werden groteske Tänze, aus schnellen Bewegungsabläufen stakkatoartige Schritt‐ folgen mit Möglichkeiten zum Stolpern, Straucheln, Zusammenstoßen bis hin zum spek‐ takulären Sturz. Hier wird die archaische Behinderten- und Narrenkomik abgerufen, die im Mittelalter noch geschätzt wurde, wenn über jede Form der körperlichen Behinderung gern gelacht werden konnte. 210 Abb. 13: Bauerntanz mit Stelzbein (Neithart Fuchs, Augsburg 1491) Diese Steigerung der motorischen und proxemischen Intensität des Tanzes als grotesk-ko‐ misches Spektakel wird von einem crescendo der Gewalt unter den Bauern ab Z. 1888 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 288 <?page no="289"?> 211 Wie weit die bisherige Forschung vom komischen Verständnis dieser Szenen entfernt war, zeigt die Bemerkung Margetts, der die Verse offensichtlich überlesen hatte: „Wenn ein Großteil der Bauern in früheren Spieleinheiten ein Bein verloren hat, fragt man sich, ob sie in diesem Teil des Spiels noch Stelzen verwenden, was beim Tanz doch ziemlich unbeholfen aussehen müsste.“ Margetts, Neidhart‐ spiele, S. 293. begleitet. Der Tanz nach den Teufelsspiel wird mit den Anweisungen eingeleitet: „Da tantzen dy pawren mit denn diernnen / Vnd haben ir messer an der seytten gegurtat, Z. 1888 f.): Vnd lat vns vnser springen walten Wer da mit gemach will halten Vnd an frisch wunden beleyben Der las vns vnser schertz treyben Oder mir schlahen jm tieffen wunden Die nymmer werden gepunden (…) (Z. 1893-1898) Der Tanz auf einem Bein verbindet sich mit dem Wunden schlagen: der Bauer prahlt, er werde dem, der ihn beim Tanz stört (gemeint ist Neidhart), so tiefe Wunden schlagen, als wenn man einen Pflug durch das Fleisch geführt hätte (Z.1898-1902). Dennoch werden diese grausam scheinenden Gewaltphantasien schon an dieser Stelle mit „schertz treyben“ verbunden, sie sind also nicht ernst zu nehmen. Denn so viele Wunden und Hiebe sich die Bauern auch zufügen, ist die Grausamkeit doch in den theatralen Rahmen gebannt und folglich enthebbar. Die Bauern sind hier weit entfernt davon, den Bauernstand in der Wirk‐ lichkeit zu repräsentieren. Sie haben die Funktion von Karikaturen, Comic-Figuren ähnlich, die sich wiederholt die schlimmsten Versehrungen zufügen, danach aber immer wieder aufstehen. Dabei liegen wilde, groteske Tänze, Prügelei und Schlagen offensichtlich auf einer Ebene; sie sind motorisch-proxemische Exaltationen der Körper, die bei der Auffüh‐ rung mit akustischen Effekten ohne spezifische Bedeutung (Rufen, Schreien, Jauchzen, Fluchen) unterstützt werden und somit die Intensität der Konfusion steigern können. Das Ineinandergehen von Tanz und Rauferei führt dazu, dass die Bauern ihren Anführer, Engelmar, aus Neid über dessen Erfolg bei Friderun ebenfalls das linke Bein abhacken wollen. So spricht Wagendrüssel: „Jch will gen auff sein schaden / Dz sein pain werden vngeraden / Vnd vns geleich muess werden / Mit allen sein gepärden“ (Z. 2143-2146). Die Verse zeigen ohne Zweifel, dass sich die Bauern als Invaliden bewegen, und dass es auch auf diese Bewegung (gepärden) ankommt. 211 Wenn Engelmar den anderen in seinen Be‐ wegungen und Gesten gleichen soll, heißt das, er soll die gleiche Behinderung beim Tanz erfahren. Wenige Verse später kommt es zur Vollstreckung: „Vnd schlahen einander vn schlahen dem Englmar ain payn ab vnd hören darnach auff zu fechten“ (Z. 2260-62). Die Tänze, die im Prinzip Rahmungs- und Übergangsfunktion zwischen den einzelnen Schwänken haben, scheinen sich nach dem Teufelsspiel immer stärker auszuweiten und die Schwankhandlungen selbst zu überwuchern. Es wird im Großen Neidhartspiel quasi ständig getanzt, die Tänze nehmen einen weit größeren Raum ein als von der Ökonomie der Schwankfolgen vorgesehen. So zieht sich das Bauernspiel über 380 Zeilen hin (Z. 1890 bis 2273), nur um einen kurzen Einschub des Fassschwanks zuzulassen, der aber in gewisser Weise in die Bauernhandlungen integriert ist (Z. 2274-2300). Erst der folgende Streich, bei 5.3. Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln 289 <?page no="290"?> 212 Vgl. dazu Herrmann, Petra: Karnevaleske Strukturen in der Neidhart-Tradition, S. 214 f., die in Lucifer das teuflische Abbild Neidharts erkennt. 213 Die Kritik an der Kleidung und Ausrüstung der Bauern wurde bisher als Übernahme traditioneller Topoi der Ständedidaxe gesehen. Vgl. Margetts, Neidhartspiele, S. 291. dem Neidhart nach seiner Flucht wiederkehrt und sich als sein eigener Rivale ausgibt, hat dann wieder die Länge des Schwertfeger- und Kuttenschwanks. Vom grotesken Tanz beherrscht wird auch das Teufelsspiel, das die Funktion eines Zwi‐ schenspiels einnimmt, da es auf die Fortführung der Handlung keinen Einfluss hat. Die Teufel treten in Z. 1600 in Erscheinung, handlungslogisch zwischen dem Schwertfeger- und Kuttenschwank und vor der großen Tanz- und Prügelszene in Zeiselmauer. Die Teufel sind dabei als eine Art groteske Übertreibung der Bauern zu sehen; auch sie erscheinen auf der Bühne ständig in Bewegung, sie laufen, springen, hüpfen, und anzunehmen ist auch, dass sie obszöne Gesten und Grimassen aufführen, wie dies in der Tradition der Osterspiele der Fall ist. Die Szene beginnt mit einem großen Hin- und Herlaufen der Teufel, was den Ein‐ gangsworten Lucifers und den Bühnenanweisungen zu entnehmen ist: Wolher wolher wolher Aller meiner gesellen ich peger Die anderen tewfflen lauffen all aus der helle. (Z. 1604-06) In seiner Eingangsrede spricht Luzifer die magischen Worte: „Poldrius paldrius poldriang / Das sind starcke teufflische wort“ (Z. 1615 f.), mit denen die Teufel durch Nachsprechen ihren Herrn ehren sollen und sich gleichzeitig seiner dämonischen Kraft bei ihrer Aufgabe, die Seelen der Bauern zu fangen, versichern sollen. Die Wortkomik des Zauberspruchs macht die ganze Rede Luzifers lächerlich, denn sie erinnert an einen grotesken Schwur: Da singen die Teüffl all mit einander dz gesangk: Luciper vnserem heren Süllen wir alle eren Poldrius paldrius poldrianus (Z. 1632-35) Wie später die Bauern machen sich die Teufel mit ihrem Singen lächerlich. Neben dem sich selbst als ridikül ausweisenden rituellen Sprechen sind es vermutlich die tonalen Aspekte der Stimme der Teufel, die hier neben den unkoordinierten Bewegungen den komischen Effekt ausmachen. Dazu kommt die Umkehrung bekannter Zeichencodes: die Teufel sind als Gruppe nicht anders strukturiert als die Ritter und die Bauern: sie leisten den Befehlen ihres Anführers Lucifer Folge. 212 Dieser hat nun als Oberteufel die Aufgabe, eine sozialkri‐ tisch motivierte Ständekritik an den Bauern auszusprechen, um ihre Sündhaftigkeit zu brandmarken. 213 Er beschreibt ihre Kleidung als ihrem Stand unangemessen und (im Sinne der Neidharttradition) herausfordernd. Diese soziale Unangemessenheit und Übertreibung wird insofern verkörpert, als die beschriebenen Kleidungsstücke den Bauern auch nicht am Leibe passen: Sie sind zu lang, zu eng, sie schleifen auf dem Boden, zwicken im Schritt, sitzen nicht recht, behindern beim Gehen und Laufen: Ir kappentzipfl ist lang vnd zersnitten Er wischet ars wol da mitte 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 290 <?page no="291"?> 214 Vgl. dazu Gvozdeva, Katja: Rituale des Doppelsinns. Zur Ikonologie des Charivari-Kultur im Spät‐ mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Ikonologie des Performativen. Hg. von Christof Wulf u. Jörg Zirfas. München 2005, S. 133-150. 215 Anders Sowinski, der das Teufelsspiel als Hinzufügung der transzendental-religiösen Dimension erkennt. Vgl. Sowinski, Die Teufelsszenen, S. 316 f. 216 Die Möglichkeit, dass beim nun folgenden großen Bauerntanz die Teufel während der ganzen Zeit präsent sind und die Bauern bei ihren Handlungen und Reden pantomimisch begleiten, halte ich zwar für möglich, doch eher unwahrscheinlich, da das Teufelsspiel eine eigene, in sich abgeschlossene Handlungseinheit darstellt. Jr röck die sein ennge Wen er jn hat angetan Dz er nicht schreytten kann. (Z. 1693-97) Hier wird bei der Aufführung nicht auf die entsprechenden Gesten und vermutlich obs‐ zönen Körperbewegungen verzichtet worden sein, die wie zuvor das gestische Sprechen der Teufel unterstützen. Es bleibt also nicht bei einer didaktisch motivierten Ständekritik, sondern die sprachlich-gestische Nachahmung der falsch gekleideten Parvenüs unterliegt komisch-parodistischen Vorzeichen und wird mit Sicherheit Gelächter im Publikum erregt haben. Dabei oszilliert die Wirkung des Teufelsspiels ständig zwischen der Repräsentation des bösen Prinzips, das sich der Bauern bemächtigt und ihre folgenden Untaten motiviert, und der gleichzeitigen Präsenz einer zum Popanz gewordenen Teufelsschar, die eher einer ausgelassenen Bande Halbwüchsiger gleicht, wie wir sie etwa aus den burlesken Rüge‐ bräuchen der Jungmännerbünde des Spätmittelalters kennen. 214 Die Teufel setzen zwar das Böse in Gang und tanzen in Vorfreude auf ihren Erfolg („das die hel wird selen vol“, Z. 1817), doch tun sie es auf lächerliche Weise, eine Art performativer Selbstwiderspruch im komischen Auftritt. Somit kann das von den Teufeln verkörperte Böse vom Publikum ebenso verlacht werden wie die Affektdarstellung der Bauern, denn beide erfolgen im ko‐ mischen Modus. 215 Nichts könnte dies anschaulicher machen als die Botschaft Sathanas an Lucifer, er habe die den Bauern abgeschlagenen Beine aufgesammelt und wolle sie ihm zeigen. Dieser be‐ fiehlt, die Beine in die Hölle zu bringen, gewissermaßen als erste Trophäen („Klaub sy auff vnd trag sy jn die helle“, Z. 1766), auf die die Seelen folgen müssen. Das Zwischenspiel endet mit dem Auftrag „Laufft pald vnd saumbt euch nit mer“ (Z. 1819), wobei erneut ein heftiges und ungestümes Durcheinander einsetzt, denn die Teufel mischen sich unter die Bauern: „Da lauffen dye teüfflen vnder den pawen“ (Z. 1820). Hier ist durchaus ein gemeinschaft‐ licher Auftritt pantomimischer Art der Teufel mit den Bauern denkbar, um die Verführung der Bauernschaft auch szenisch greifbar zu machen. 216 Neben der Komik des Tanzes und der grotesken Bewegungen ist Verkleidung und Ver‐ stellung der zweite große Komplex des Spiels, der auf Lachen angelegt ist. Die Rache‐ schwänke Neidharts sind es, die das semantische Gerüst des Spiels ausmachen. Aus der Schmähung und Erniedrigung des Veilchenschwanks heraus motiviert, stellen sie Aktionen des Possenreißers gegen die Bauern dar, welche diese schädigen, doch gleichzeitig in der Schwanklogik des Lächerlich-Machens verbleiben. Es handelt sich beim Spiel also keines‐ wegs um blutige Auseinandersetzungen zwischen Rittern und Bauern, die in Szene gesetzt werden, sondern um die Aufführung von Possen, die den Bauern zum Scherz gespielt 5.3. Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln 291 <?page no="292"?> 217 Margetts, Neidhartspiele, S. 290 meint: „Viel mimisches Geschick wird in der Szene verlangt, wenn Neidhart den Bauern eine Platte schert“. 218 So erkennt auch Margetts hier: „Wie im ersten Teil des Spieles spielen wiederum Tanz oder tanzartige Bewegungen und Gesang eine Rolle im Spielgeschehen. Die Bauern werden durch unharmonischen Gesang noch mehr zu Spottfiguren (1552 f.)“. Ebd., S. 291. werden, welche jedoch, um ihre theatrale Wirksamkeit zu steigern, mit einer exaltierten, doch inszenierten und damit schmerzlosen Gewalt einhergehen. So präsentieren die vier aufgeführten Streichkomplexe Neidharts immer wieder dasselbe Muster: Neidhart verstellt sich in einer bestimmten Verkleidung und bringt die Bauern dazu, etwas gegen ihre Interessen zu tun (die Schwerter abzuliefern, den Schlaftrunk zu trinken und vor dem Herzog zu singen, Neidhart eine Belohnung für die Ergreifung von sich selbst zu zahlen); aus dem Rahmen fällt der Fassschwank, der Neidhart eine Beobachtungsposition in seinem Versteck, dem Weinfass zuschreibt, die für die letzte Szene, die Rehabilitation beim Herzogspaar, entscheidend ist. Interessant ist nun, dass auch die Schwänke von be‐ wegungsintensiven Handlungen der Bauern begleitet werden: Als Neidhart „in gestalt eins schwert fegers“ (Z. 1181 f.) erscheint, laufen die Bauern zu ihm hin („Jch lauffen will auff disem geuert / Jch sich do ain maister stan / Den will ich mirs vegen lan“ (Z. 1999-1201)). Das aktionistische Sprechen korrespondiert mit dem eiligen Laufen im Schwank, die Bauern laufen quasi körperlich in ihren Betrug hinein. Die motorische Transgression der Bewe‐ gungen auf der Bühne wird dann mit der Transgression des zweideutigen Sprechens der Bauern kurzgeschlossen (obszöne Nebenbedeutung von „Schwert“): „Mein swert ist mir verrost / Wz mich das gen euch kost / Dz solt ir mir vegen“ (Z. 1216-1218). Da wollen die anderen Bauern nicht abseits stehen: Weiteres Laufen und Bewegung, auch Schreien indi‐ ziert Vlhawsknecht, der Schnablrausch herbeiruft: „Wolher wolher schnablrausch / wir süllen vnser swert wetzen auch.“ (Z. 1234 f.). Nachdem Neidhart nun allen Bauern die Schwerter abgenommen hat, benutzt er eine Metapher, die das Verhalten der Bauern tref‐ fend erklärt: er will sie [die Schwerter] „schlagen vnd stossen als jn die jungen sewen“ (Z. 1248). Daraufhin ergreifen die Bauern die Flucht: „Vnd die pawren gebent die flucht“ (Z. 1252), und die Szene endet wiederum mit ungeordnet und wild durcheinander laufenden Bauern. Bald darauf sieht man die Bauern wieder beim Tanz, als Neidhart in seiner zweiten Ver‐ kleidung erscheint: „Da tantzen aber die pawren / Vnd der Neythart kumbt aber jn gestalt ains Munichs“ (Z. 1341 f.) Neidhart nimmt den Bauern die Beichte ab, macht sie betrunken, schert ihnen im Schlaf eine Tonsur und steckt sie in Mönchskleider. 217 Die so Getäuschten führt er dann vor den Herzog, wo sie geistliche Lieder singen sollen, doch nur unflätige, grobe Bauernverse zum Besten geben. Entscheidend ist jedoch der unharmonische Ge‐ sang, 218 den sie aufführen: Da singen die pawren all vnder einander Awe ich gan ain weyttes loch Hiet ich nu ain grosses koch Die kue ist vngemolchen noch Wie mag ich mich erffüllen doch Da get der hertzog vnd Neythart wider dannan 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 292 <?page no="293"?> Vnd die pawren haben wider an zu singe vnd singt ein yeglicher wz er will (Z. 1546-1553) Auch hier können die Regieanweisungen und der Sprechtext die Wirkung der Aufführung nur unvollständig wiedergeben, da sie den akustischen Effekt nicht zu reproduzieren ver‐ mögen. Dennoch muss hier mit einer hohen Intensität suprasegmentaler Elemente der sprachlichen Äußerungen sowie mit einer imitativen Veränderung der Stimmmerkmalen (Stimmqualität, Stimmhöhe, Stimmkontrolle, Rhythmuskontrolle) gerechnet werden. Handlungen und Sprache sind nicht in erster Linie Medium der Informationsübertragung, sondern vor allem wirkmächtiger Modus der Produktion von Emotionen und Wirkungen in einer Situation der Kopräsenz zwischen Akteuren und Zuschauern. Es bleibt die Frage, in welchem Maß es den Laienschauspielern des Neidhartspiels ge‐ lungen ist, die Möglichkeiten der intentionalen Modulation, der Variation und der insze‐ nierten Verstellung der Stimme zu nutzen. Die Regieanweisung „singt ein yeglicher wz er will“ weist zumindest darauf hin, dass die Bauern, wenn nicht falsch, so in jedem Fall durcheinander singen, was einer grotesken Parodie auf die mittelalterliche Vorstellung von der Musik als Ausdruck göttlicher Harmonie gleichkommt. Dafür werden sie im Anschluss auch bestraft, wenn Ritter Gabein sie vom Hof einfach fortjagt, und das Amüsement über falsches Singen sich mit demjenigen über Prügeln und Jagen wiederum verbindet: Lieben kind jr solt mir volgen Ewrs vaters küe sten noch vngemolchen Get haym dz ir vnsälig seyt Oder ich schlach ewch mit ain scheyt Da lauffen dye pawren aus dem kloster hyn zu Jren stant (…) (Z. 1578-83) Der dritte Schwank, der Fassschwank ist schließlich auf die im zweiten Teil (nach dem Zwischenspiel der Teufel) vorherrschende Verbindung von Tanzen und Raufen der Bauern konzentriert. Neidhart versteckt sich im Fass und kann somit den um sich greifenden Zwist und die Selbstschädigungen der Bauern, die ich oben bereits im Zusammenhang mit den komischen Bewegungsmustern untersucht habe, aus der Nähe mitverfolgen. Er fungiert hier als ein Beobachter erster Ordnung, der die Situationsspaltung zwischen Bauernszene und Publikum gewissermaßen ‚verkörpert‘, indem er anwesend ist, ohne dass die Bauern ihn bemerken. Somit wird er zum Garant einer Dynamik, in welcher sich die Bauern vor dem Publikum in ihren Aktionen und Bewegungen selbst lächerlich machen. Doch warum sind die Bauern so erzürnt, als sie ihn entdecken? Wir erfahren es im fol‐ genden letzten Schwank, wenn Neidhart nach seiner Flucht als sein eigener Widersacher nach Zeiselmauer zurückkehrt. Die Bauern erkennen ihn nicht und eröffnen ihm, dass sie es als Schande ansehen, von Neidhart belauscht worden zu sein, weil sie fürchten, dieser nutze seine Erfahrungen dazu, ein neues Lied über sie zu singen: Dar jnn er doch verporgen lag Vnd alle trunckenheit von vns sach Da mit er vns wart krencken Vnd newe leid erdencken 5.3. Neidharts Rache: der Possenreißer und die Freude am Tanzen und Prügeln 293 <?page no="294"?> 219 Darauf komme ich ausführlicher in Kap. 6.4. zurück, da diese Stellung im Neithart Fuchs viel genauer ausgearbeitet ist. Dz wirt vns ain smacheit sein Vnd vmsrem hertzen ain grosse pein. (Z. 2365-2370) Die Furcht der Bauern vor Neidhart hat hier nichts mit körperlicher Gewalt zu tun; seine Macht liegt darin, sie nicht nur hic et nunc, sondern sie gewissermaßen auch in der zer‐ dehnten Kommunikationssituation des wiederholbaren und immer wieder aktualisierbaren Liedersingens und daher für immer lächerlich zu machen. Die eigentliche Macht Neidharts ist nicht das Schlagen, sondern das Singen, die Macht der medialen Vervielfältigung. Auf einmal erscheint Neidhart als der Schwache, Listige und die Bauern als die körperlich Überlegungen - was ihre abschließenden Prahlereien, sie würden ihn „zerhawen (...) so gar / Kopff arm ripp vnd den leyb“ (Z. 2426 f.) bestätigen. Hier wird die Zwischenstellung Neidharts als Sänger und Possenreißer zwischen Hof und Bauern offenkundig. 219 Doch wieder sind die Bauern betrogen. Als der falsche Neidhart verspricht, ihnen den echten auszuliefern, zahlen sie ihm einen Vorschuss und beginnen in Vorfreude zu tanzen: „So heben dye pawren wider an zu tantzen (...)“ (Z. 2495). Die inszenierte Schwankreihe mündet in die Abschlussszene des Spiels: Neidhart ist wieder am Hof beim Fürstenpaar und erzählt seine Abenteuer. Erneut wird der Fassschwank in seinen Einzelheiten wiedergegeben, wobei die Listen und die bravouröse Flucht des Rit‐ ters im Mittelpunkt stehen. Interessant ist nun die Stellung der Bauern aus dieser nachträ‐ glichen Erzählperspektive: Sie werden in ihren skurrilen und lächerlichen Handlungen be‐ schrieben, wobei Bewegung, Triebhaftigkeit und Schlagen wieder die Hauptaspekte sind: Sy lieffen als sy der teüffl gayt Mit zogen schwerten zu dem haus (...) Do huien vnder einander sich Vnd haben gewundt jren haubtman Sein linkes pain abgeschlan. (Z. 2510-2520) Es wird klar, worüber sich der Herzog und die anwesenden Ritter amüsieren: über die törichten Handlungen und Gesten der Bauern. Denn direkt nach Neidharts Erzählung äußert der Herzog den Wunsch, auch selbst einmal die Bauern zu beobachten und bittet Neidhart, ihm dies zu ermöglichen: Wollten wärlich geren da sein Dz sprich ich auff die trewe mein Künde ich haymlich kömen dar Dz sy mein nit wurden gewar Vnd sollte jr gepard schawen Des wolt ich mich ain jar frewen. (Z. 2526-2531) Das sind die zentralen Verse im Neidhartspiel. Sie eröffnen dem Publikum einerseits, dass Neidhart für den Herzog als Possenreißer arbeitet. Der Herzog will die Bauern auch aus nächster Nähe sehen und ebenso kräftig über sie lachen dürfen. Andererseits verdeutlichen sie auch, worüber hier gelacht werden kann. Nichts anderes als die gepard der Bauern sind 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 294 <?page no="295"?> 220 Hier wird noch einmal deutlich, dass die Diffamierung des Tanzes der Bauern, der in Prügelei über‐ geht, im Großen Neidhartspiel im komischen Rahmen vollzogen wird. Das Gegenmodell des höfi‐ schen Tanzes mit seiner Körperbeherrschung ist zwar ein heilloser, unkontrollierter Tanz, der vor allen Dingen ein lächerlicher, grotesker Tanz ist. Daher dürfte die Lesart Dietls, die Bauern seien „teuflisch Tanzende“, hier weniger überzeugen. Vgl. Dietl, Tanz und Teufel in der Neidharttradition, S. 392. 221 Der nächste Sprecher ist ein Ritter, der den Satz des Herzogs wiederholt: „Dye gepärd die sy han / Vnd das dröen dz sy neytharten thůn / Wie sy jn wollten zu reyssen als ein hůn.“ (Z. 2536 ff.). 222 André Tissier, der Herausgeber der Farce-Texte, definiert sie so: „une petite pièce, incorporée à un spectacle édifiant pour détendre les spectateurs“. Tissier, André (Hg.): Farces Françaises de la fin du Moyen Âge. Transcription en francais moderne. 4 Bde. Genève 1999, S. 9. 223 Tissier, André (Hg.): Recueil de Farces (1450-1550). 13 Bde. Genève 1986-2000. 224 Vgl. Hüsken, Wim, Schoell, Konrad u. Sondergard, Leif (Hg.): Farce and farcical elements. Amsterdam 2002, S. 11. Die Verbindung der Autoren der Farcen im 15. Jh. mit den sociétés joyeuses, den Nar‐ rengemeinschaften, ist gut belegt. So treten die Basochiens und die Enfants-sans-soucis als Veran‐ stalter un Akteure von Sottien und gleichzeitig Farcen auf. lächerlich, an ihnen kann sich der Herzog ein ganzes Jahr lang erfreuen. 220 Was aber ist mit gepard gemeint? Es sind die lächerlichen Bewegungen der Bauern in ihrer Gesamtheit, beim Tanz und beim Prügeln, beim Laufen und Schreien, aber auch beim Prahlen und Fluchen, bei welchen der Zuschauer von einer Decodierung repräsentierter Zeichen enthoben ist. 221 Der Herzog will damit auch über etwas lachen, was das Publikum selbst gerade erlebt hat: die Rollenfigur - in unserem Fall der Text - reflektiert sich als aufgeführte(r) und strebt nach der Beobachterposition, nach dem Außen des aufgeführten Rahmens. Das Lachen der Zuschauer, Ziel der Aufführung, verschmilzt mit dem Lachen der Figuren. Zum Abschluss schenkt der Herzog Neidhart ein Pferd, damit er sich künftig noch besser retten kann, die Herzogin überreicht ihm vier lange Tücher von Gent, traditionelle Gaben für Fahrende, Gaukler - und Possenreißer. 5.4. Farce und Sottie: Körper, Sprache und Lachen in der actio Der Begriff Farce ist seit dem 14. Jahrhundert im Französischen in Gebrauch und bezieht sich auf ein kurzes, einfaches, auf das Lachen ausgerichtetes szenisches Stück, das in der städtischen Kultur des Spätmittelalters seinen Ursprung hat. Es gibt Hinweise darauf, dass Farcen als Interludien von Mysterien- und Mirakelspielen fungiert haben, aber auch darauf, dass sie als autonome Einzelstücke aufgeführt wurden. 222 Aufführungsbelege von Farcen besitzen wir seit dem 14. Jahrhundert, die Blüte des Genres erfolgte, ähnlich wie beim Fast‐ nachtspiel - im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der Bestand an Farcen, die überliefert sind, beläuft sich heute auf knapp 180 edierte Texte. 223 Die Autoren der Farcen sind heute weitgehend unbekannt; ihre Entstehung muss im Zusammenhang des gebildeten Bürgertums der Städte gesehen werden, vermutlich im studentischen Umfeld. Die Auffas‐ sung, dass es sich bei der Farce um eine populare Gattung gehandelt habe, ist heute wider‐ legt. Vielmehr scheint auch sie die gesamte städtische Bevölkerung als Publikum ange‐ sprochen zu haben. 224 5.4. Farce und Sottie: Körper, Sprache und Lachen in der actio 295 <?page no="296"?> 225 Eine Farce hat in der Regel 300-400 Verse, ist in einer derben Alltagssprache verfasst und in paarigen Achtsilbern gereimt. 226 Tissier, Farces Françaises, S. 9. 227 Vgl. Rey-Flaud, Bernardette: La farce où la macine à rire : Théorie d’un genre dramatique, 1450-1550. Genève 1984. 228 Nichols, Four principles of Laughter in Medieval Farce, S. 193. 229 Ebd. 230 Ebd., S. 194. Häufig bleibt die Farce Fragment; 225 sie entwickelt „une situation plus qu’une intrigue“ 226 , sie setzt sich aus einer Folge von sprachlichen und körperlichen Bewegungseinheiten zu‐ sammen, die mehr eine Szene als eine dramatische Handlung beschreiben. Wie beim deutschsprachigen Fastnachtspiel stammen die Figuren der Farce aus dem Alltag und sind überzeichnete soziale Typen: der Narr (badin), die Ehefrau, der Ehemann, der alte Mann, der Verliebte, der Priester, der Kaufmann, der Schuster oder der Bäcker. In dieser Allge‐ meinheit können und sollen sie keine Subjektivität oder Identität entwickeln, sie sind keine dramaturgisch ausformulierten Personen, denn ihr gesamter Auftritt dient der Unterhal‐ tung, sie ist eine “machine-à-rire“, wie Bernadette Rey-Flaud es formuliert hat. 227 Ihr einziges Ziel ist es, die Zuschauer zum Lachen zu bringen. Obwohl die Texte kaum moralische Intentionen aufweisen, hat man bisher geglaubt, dass sie menschliche Schwächen und Unzulänglichkeiten als Anlässe zum Lachen aufführen. Doch auch diese Lesart verlässt sich noch zu sehr auf eine funktionierende Kommunikation der Sprache, in der semantisch codierte Zeichen abgerufen und mehr oder weniger ein‐ deutig gelesen werden können. Nichols hat in einem bemerkenswerten Beitrag jedoch dar‐ gelegt, dass das Lachen der Farce ganz an den Körper der Akteure und ihren actus im Sinn des antiken Dramas geknüpft ist: an die Aktion, das Tun, den Vollzug von Handlungen auf der Bühne: Farce is a performative mode that stages itself above all on the body, the body made visible, as well as with the body. This is, after all, the etymological sense of the term drama. Drama was Greek for what Latin rendered as actus, the actor being the performer or doer, both linked to the verb ago, ‚to do, act, or perform‘. 228 Nichols unterscheidet vier Prinzipien, nach denen Lachen zum Modus der Farce wird: 1. Lachen über Sprache als Bild, 2. Lachen über den Körper, 3. Lachen über unmotivierte Handlungen, und 4. Lachen über unmotivierten Terror. Alle vier basieren auf der actio, und auf der Prämisse, dass durch die Verklammerung von actio und Gelächter versucht wird, eine spezifische Bedeutungsproduktion zu vermeiden: „It is not subversive of meaning or the possibilities of representation so much as simply meaningless, unmotivated action.“ 229 Stattdessen soll die Konzentration auf die actio die Erwartung der Übermittlung didakti‐ scher oder überhaupt sinnhafter Inhalte seitens der Zuschauer reflektieren. Lachen spielt somit eine Schlüsselrolle für die Entwicklung von Skepsis gegenüber dem Repräsentierten, gegenüber der Eindeutigkeit von Zeichenbedeutungen. Das Lachen, welches die Farce re‐ giere, erreiche diese Skepsis, eine frühe Form der Erwartungsenttäuschung oder Desillusi‐ onierung, indem es extravagante Gebärden und minimale Bedeutung miteinander kurz‐ schließt. 230 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 296 <?page no="297"?> 231 Eine ausführliche Beschreibung des badin gibt Mazouer, Charles: Der badin der Farce. In: Der komi‐ sche Körper. Szenen - Figuren - Formen. Hg. von Eva Erdmann. Bielefeld 2003, S. 83-88. Nach Mazouer ist der badin ein Schauspieler mit einer klar umrissenen, anspruchsvollen Aufgabe. Dafür wurde der beste und talentierteste Schauspieler ausgewählt. 232 Vgl. dazu Schoell, Konrad: La farce du quinzième siècle. Tübingen 1992, S. 43-49. 233 „Du point de vue du langage, le Badin est autant celui qui parle que celui qui agit. La souveraine liberté du personnage indique qu’à l’abondance des gestes et des mouvements correspond un flux de paroles“. Mazouer, Charles: Un personnage de la farce médiévale: Le Naïf. Revue d’histoire du théâtre 24 (1972), S. 144-161, hier S. 149. 234 Vgl. Kap. 3.2. Blicken wir auf das erste Kriterium, das sich unserer Untersuchung insofern einfügt, da die Lächerlichkeit der Sprache als Bild bereits in den Neidhartspielen anhand der Namens‐ komik und der performativen Sprachgesten erschienen ist. Auch in der Farce wird Sprache visualisiert und verleiblicht, bzw. konsequent auf ihre gestischen und akustischen Poten‐ tiale zurückgeführt. Die unerwarteten neuen Perspektiven, die sich dabei ergeben, erregen Gelächter. Sprache wird allerdings nicht zu einem seinen Gegenstand zeigenden Bild, hier geht es nicht um eine Bildbeschreibung im Sinne der Ekphrasis, sondern es geht viel banaler um das Fehlen von Bedeutung, das Fehlen von decodierbaren Zeichen und somit das Nicht-Zustandekommen von Kommunikation. Dies kann an der Figur des badin gezeigt werden. Die Bezeichnung „badin“ wird synonym für Schauspieler, Possenspieler und Gaukler verwendet. Der badin ist derjenige Schau‐ spieler, der den Narren spielt und die Zuschauer zum Lachen bringt. Die Figur ist durch ihre physische Erscheinung gekennzeichnet: durch ihr Narrenkostüm, ihr körperliches En‐ gagement und ihre Dynamik auf der Bühne, die übermütigen Bewegungen, die bis weit in akrobatisches Können hineinreichen, sowie durch gestische Vielfältigkeit. Parallel dazu finden sich ähnliche Merkmale in seiner Redeweise wieder. Er spricht schnell, hastig, ohne Sinn und Verstand und spielt ständig mit den Wörtern. 231 Der Badin hat viele Namen: Jehan, Jenin, Jeninot, Mimin, Colin, er ist meist einfach ein junger Mensch, häufig auch ein Diener. Wie die Narren des Fastnachtspiels handelt er nach dem Lustprinzip, ist leichtgläubig, kindisch, und von einer überbordenden Vitalität ge‐ kennzeichnet. Typische Züge sind das Nachäffen, und daran macht sich auch seine kon‐ stitutive Zweideutigkeit zwischen natürlicher und gespielter Dummheit fest, sowie trieb‐ haftes Essen und jede Form der Defäkation. Wie Trickster und ritual clowns sprechen badin-Figuren ständig von ihrem großen Hunger und essen bei jeder Gelegenheit; das Uri‐ nieren und geräuschvolle Flatulenz gehören zu ihrem Repertoire. 232 Der badin ist somit ein feststehender Typus mit weitem Raum zur Improvisation, eine konventionalisierte, jeder‐ zeit erkennbare komische Figur, ein stock character, dessen zentrale Aufgabe es ist, im Dienste des Lachens Sprache in Gestik und Körperbewegungen zu verwandeln. Er gehört zum Rahmen des Lachens wie zum komischen Spiel, sein Auftritt kommt einem Lachsignal gleich und ist Anstoß des komischen Verlaufs der Szene, dabei zeichnet er sich sofort durch sprachliche und körperliche Hyperagilität aus. 233 Diese enge Relation kommt der christli‐ chen Verbindung von multiloquium, stultiloquium und scurrilitas gleich, die die scholasti‐ schen Kommentare zum Epheserbrief dominiert hatte. 234 Der badin stellt nicht Sprache an sich aus, noch linguistische Kompetenz oder Kreativität, sondern etwas, das Nichols „gesture-in-language“ nennt: die körperliche Komponente der 5.4. Farce und Sottie: Körper, Sprache und Lachen in der actio 297 <?page no="298"?> 235 „Hoch ! Aufspringen, höher ! / Halb umdrehen, jetzt den schwierigen Sprung! / Jetzt vor, jetzt zurück. Hoch - mir ist heiß, / Mir ist kalt. Hat er’s nicht gut gelernt? / Kein Zweifel, wir werden den Preis gewinnen / Für Badinage, das wird das Ergebnis sein.“ Tissier, André: La Farce en France de 1450 à 1550. Tome 2, S. 195 (Übers. HRV). 236 Nichols, Four Principles of Laughter in Medieval Farce, S. 196. Sprache. So ist sein Mund kein Instrument zum Sprechen, sondern ein Bild, eine Geste. Es ist ein Mund, der sich nicht öffnet, damit Sprache aus ihm kommt, sondern der bei der Geste des Öffnens verharrt, um damit actio zu produzieren. Die Sprache wird in lächerliche Gesten verwandelt. In der Farce du Bateleur fordert der Gaukler (bateleur) den badin, seinen Diener, auf, dem Publikum die einstudierten Kunststücke zu zeigen. Er bellt ihm seine Anweisungen entgegen, welche nichts anderes beschreiben, als was das Publikum sieht. Hault! Deboult! Le demy tour, le souple sault! Le faict, le defaict. Sus, j’ay chaut, J’ey froid. Est il pas bien apris? En effect nous aurons le pris De badinage, somme toute. (V. 15-20) 235 Das Lachen entsteht aus einem code-switching zwischen Sprachlichkeit und Körperlichkeit heraus, dem physischen Gebrauch der Sprache, ihrer Ausführung als Aufführung. Indem der badin tut, was der bateleur befiehlt, wird er in die Rolle eines dressierten Tieres gerückt. Durch die leibliche Visualisierung der Worte kommt es zu einem zweiten code-switching, der Körper des Menschen verwandelt sich in ein dressiertes Tier. Diese „Interferenz der Reihen“ (Bergson) wird aber erst in den sprachlichen Befehlen entsprechenden Bewe‐ gungen des badin erkennbar und dann zum Lachanlass. So sind es weder die ausgespro‐ chenen Befehle, noch die akrobatischen Körperinszenierungen des badin für sich ge‐ nommen, wodurch Lachen erregt wird, sondern ihre Kombination in einer parodistischen Doppelrelation zwischen Herr und Knecht sowie Dresseur und Tier. Lachen über diese gestischen Sprechhandlungen ist dann keine Antwort, keine Reaktion des Publikums, son‐ dern eine in das Spiel selbst eingeschriebene Handlung, die die Zuschauer auszuführen haben. „The characters play the scene self-consciously marked for laughter, and the au‐ dience laughs on cue; both actions are convention, both part of the conjunction of language and physical gesture.“ 236 Wie die physischen Bewegungen und Handlungen des badin die sprachlichen Auffor‐ derungen des bateleur performativ ausführen, so führen die Zuschauer mit ihrem Lachen körperlich das aus, wozu die Interaktion zwischen den beiden Akteuren sie auffordert. Wie der badin wird auch das Publikum aufgefordert, zuzuhören und zuzuschauen („baer! badar! “), wie die Akteure ihr Skript in Handlung umsetzen, und ihrem Skript zu folgen, nämlich ihre visuellen und akustischen Wahrnehmungen performativ auszuführen, sie in Gelächter umzusetzen. So entspricht das (für die Farce unverzichtbare) Lachen des Publi‐ kums als eine physische Konvention der Akrobatik und den Gebärden des badin. In der actio der Farce werden demnach Sprache und Körper auf der Bühne mit den Kör‐ pern und ihrem Klang vor der Bühne kurzgeschlossen, und das Lachen wird zum vitalen Teil des Spiels selbst. Das Publikum nimmt an der Farce als selbständiger Akteur teil, es 5. Der komische Auftritt: Aufführungsformen des Körpers 298 <?page no="299"?> 237 Vgl. dazu mit Bezug auf die religionsgeschichtlichen Überlegungen de Certeaus und Lyotards: Warning, Rainer: Auf der Suche nach dem Körper. Das Imaginäre des geistlichen Spiels. In: Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2004, S. 343-360. 238 Faivre, Bernard: Répertoire des farces françaises: des origins a Tabarin. Paris 1993, Nr. 59, S. 107. tritt in den Raum des Spiels über seine eigene performative Rolle als Produzent des Lachens ein. Indem die Zuschauer lachen, schließen sie mit den Akteuren eine Art rituellen - nicht ästhetischen - Pakt ab, sie nehmen sich gegenseitig wie in der spiegelbildlichen Gegen‐ überstellung von Sprache und Gebärden wahr. Insofern wird die Anthropologie des Lachens über einen Akt des Selbst-Bewusstseins und der Selbst-Referentialität gew