Narrative im (post)imperialen Kontext
Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa
0715
2015
978-3-7720-5547-8
978-3-7720-8547-5
A. Francke Verlag
Matthias Schmidt
Daniela Finzi
Milka Car
Wolfgang Müller-Funk
Marijan Bobinac
Die komplexen kulturellen und literarischen Wechselbeziehungen im zentraleuropäischen Raum vor der Folie des kulturellen Gedächtnisses der Habsburger Monarchie stehen im Zentrum dieses Buches. Unter Rückgriff auf Ansätze aus den Kulturwissenschaften, den Postcolonial Studies sowie der Imperiumsforschung kommt darin ein Verständnis von Literatur zum Ausdruck, das den literarischen Text als eine Verschränkung von symbolischen und sozialen Systemen analysiert. Besonderes Augenmerk gilt dabei Phänomenen der (imaginären) Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, der Konstruktion, Transformation und Überschneidung von kulturell produzierten Räumen und Identitäten und der konstruierenden Opposition von Zentrum und Peripherie. Auch imagologische, an den Prozess des "nation building" angelehnte Fragestellungen werden berührt.
<?page no="0"?> K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 2 1 Matthias Schmidt / Daniela Finzi / Milka Car Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac (Hrsg.) Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa <?page no="1"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 21 · 2015 <?page no="3"?> Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa Herausgegeben von Matthias Schmidt, Daniela Finzi, Milka Car, Wolfgang Müller-Funk, Marijan Bobinac <?page no="4"?> Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Die Publikation wurde außerdem vom Wissenschaftsministerium der Republik Kroatien gefördert. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8547-5 Umschlagabbildung: Type E-Trambahn aus Wien im Einsatz in Sarajevo (2009). <?page no="5"?> 5 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Narrative der Konsolidierung Andrea Seidler Wie aus Angst Interesse wird: das volatile Bild der Osmanen in der zentraleuropäischen und deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . 13 Boris Previšić Zwischen Halbmond und Markuslöwen: Zur Universalisierung paradoxaler Kommunikation in Goethes Metrisierung der Ballade „Hasanaginica“ . . . . . . 25 Emilija Mančić Von der Aeneis zu den Nationalepen. Gründungs- und Begründungsnarrative im imperialen und nationalen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Milka Car Nationale Homogenisierungsprozesse und imperiale Geltungsansprüche in August Šenoas Uskoken-Novelle Čuvaj se senjske ruke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Narrative der (imaginären) Verlagerung Anna Hodel Nationale Wege, imperiale Straßen. Einige Betrachtungen zu südslawischen Reisetexten der Romantik . . . . . . . . . 69 Wolfgang Müller-Funk Von Schurken und Slawen bedrängt. Istrien, Triest und das Mittelmeer in Jules Vernes Mathias Sandorf (1885) . . . 89 Anna Babka Den Balkan konstruieren. Postkolonialität lesen. Ein Versuch mit Karl Mays Kara Ben Nemsi Effendi aus In den Schluchten des Balkan . . . . . . . 103 Christine Magerski Falsche Gewichtung? Das Zentrum-Peripherie-Problem in Theorie und Literatur. . . . . . . . . . . . . . . 117 <?page no="6"?> 6 Narrative des Umbruchs Daniela Kirschstein Kriegsethnologie als Literatur im (post)imperialen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . 141 Vahidin Preljević Das Imperium und das Imaginäre. Zur Poetik und Politik in Hugo von Hofmannsthals Essayistik 1914-1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ursula Knoll und Matthias Schmidt Ratlose Barbaren. Zur Narrativierung des (Post)Imperialen bei Robert Müller . . . . . . . . . . . . . . 173 Davor Dukić Die Dissertation von Ivo Andrić - eine Interpretation im postimperialen Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Postimperiale Retrospektiven Marijan Bobinac Imperiale, nationale und transnationale Diskurse im essayistischen Werk Miroslav Krležas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Daniela Finzi Weder Märchen noch Mythos: Otto Friedländers Wien(-Buch) . . . . . . . . . . . 223 Erika Regner Ungarische Nationalhelden als Kommunisten der ersten Stunde. Die nationale Linie der ungarischen Kommunisten nach 1945 und ihre Spuren in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Jelena Spreicer Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel: Maja Haderlaps Engel des Vergessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 <?page no="7"?> 7 Einleitung Einleitung Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse eines interdisziplinären, bilateralen Forschungsprojekts unter der Leitung von Wolfgang Müller-Funk und Marijan Bobinac, dessen Rahmen eine zweijährige Kooperation der Abteilung für Germanistik an der Universität Zagreb mit dem Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft (in Zusammenarbeit mit dem Institut für Germanistik) an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien bildete. 1 An diesem Projekt haben darüber hinaus auch Forscherinnen und Forscher aus anderen Kontexten teilgenommen: aus Ungarn, der Schweiz, Deutschland und Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien (Slowenien, Serbien, Bosnien-Herzegowina). Im Anschluss an die vorhergegangene Kooperation, in deren Zentrum die Frage nach Berührungspunkten zwischen dem kulturellen Gedächtnis und den Konstruktionsprinzipien gemeinsamer kultureller Strukturen in der ehemaligen Habsburger Monarchie stand, 2 geht es in dem vorliegenden Sammelband um die Diskussion imperialer, post-imperialer sowie postkolonialer Ansätze, die zur Analyse der komplexen Wechselbeziehungen in diesem zentral- und südosteuropäischen Raum herangezogen werden. Dabei können die imperial und postimperial fokussierten Perspektiven sowohl die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse als auch die durch sie bedingte Praxis der symbolischen und narrativen Identitätskonstruktionen in der „Habsburgischen Kultur“ beleuchten. Die in dieser Kultur vorhandene Asymmetrie in der kulturellen wie auch gesellschaftlichen Entwicklung impliziert das Vorhandensein von potenziell imperialistischen Herrschaftsformen, 3 weshalb die Frage- 1 Das im Rahmen einer wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit durchgeführte Projekt („Narrative im postimperialen Kontext. Nationsbildung im zentraleuropäischen Raum“, HR 11/ 2012) konnte 2012/ 2013 durch Förderungen des OeAD realisiert werden, für die wir uns an dieser Stelle bedanken möchten. 2 Vgl. dazu den folgenden Sammelband: Bobinac Marijan / Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Gedächtnis - Identität - Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext. Tübingen: Francke 2008. 3 Vgl. beispielsweise Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg-Wien: Otto Müller 1966; Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005; Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz: UVK 2005 sowie Osterhammel, Jürgen: Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck <?page no="8"?> 8 Einleitung stellungen in diesem Band historisch übergreifend angelegt sind. Ihre Aktualität erwächst dabei zum einen aus der spezifischen analytischen Konstellation, die es gleichermaßen erlaubt, kulturelle Hintergründe heutiger Konfliktzonen zu erforschen. Zum anderen sollen die ehemaligen transnationalen Gedächtnisräume den gegenwärtig national ausgerichteten Grenzziehungen entgegengesetzt werden, um diese zu relativieren und damit eine Konzeptualisierung eines sich vereinigenden transnationalen Europas zu ermöglichen. Der Imperiumsbegriff beschreibt ein vorrangig geopolitisches Konzept, das aus der Historiographie entlehnt wird, um das übernationale Staatsgebilde der Doppelmonarchie und dessen transnational angelegte Gedächtnispotenziale neu zu beleuchten. Das „Imperium“ wird dabei als ein Narrativ verstanden, das unterschiedliche Unternarrative anhand der gemeinsamen Erfahrungen im kollektiven Gedächtnis akkumuliert. Im Zentrum unserer gemeinsamen Forschungen stehen Analysen, die sich an (imaginären) Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, der Konstruktion, Transformation und Überschneidung von kulturell produzierten Räumen, der konstruierenden Opposition von Zentrum und Peripherie, sowie an imagologischen, an den Prozess des nation building angelehnten Fragen abarbeiten. Ein zentrales Erkenntnisinteresse des Projekts lässt sich dahingehend formulieren, solche wiederkehrende Muster nicht nur in den narrativen Strukturen, sondern auch im weiteren kulturellen Rahmen freizulegen, sodass sich ähnliche Motive und Strukturen wiedererkennen und kritisch aneinander konturieren lassen. Themen wie Reise, Migration, Diaspora und Exil, aber auch kulturelle Differenz und multiple Identitätsbildung stehen somit im Zentrum der Analyse. Dabei dient die Literatur mit dem von ihr beschriebenen „symbolischen Feld“ (Bourdieu) als Ausgangspunkt, da sie über die besondere Fähigkeit verfügt, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses und damit auch die Prozesse der Identitätsbildung in ihrer oftmals ambivalenten und vielschichtigen Komplexität darzustellen und zu verhandeln. Methodologisch geht das Projekt somit von einem dezidiert narratologischen Ansatz aus, 4 der mit avancierten theoretischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen verbunden ist. Einerseits wird an die von Edward Said angeregte Orientalismus-Debatte angeknüpft, die ihre Fortführung in der von Maria Todorova initiierten Auseinandersetzung mit „Balkanismen“ fand, andererseits sollen solche Zugänge durch weitere theoretische, aber auch historische und kontextorientierte Untersuchungen ergänzt werden. Die kohärente Vielfältigkeit des Bandes verdankt sich nicht nur einer jahrelangen intensiven Zusammenarbeit vieler Kolleginnen und Kollegen, sondern ist auch das Ergebnis gemeinsamen theoretischen Arbeitens im Bereich 2009. 4 Vgl. Bal, Mieke: Kulturanalyse. Franfurt/ Main: Suhrkamp 2000; sowie Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einleitung. Zweite erweiterte und korrgiert Auflage, Wien-New York: Springer 2008. <?page no="9"?> 9 Einleitung von Kulturanalyse, Theorien des Narrativen, Imagologie und poststrukturalistisch informierten Fragestellungen. Die Beiträgerinnen und Beiträger bauen auf der historischen Erforschung der Geschichte dieses Raumes im 19. und 20. Jahrhunderts auf und konzentrieren sich darüber hinaus auf die symbolischen Formen jener Konstruktionen, die mit dem Quasi-Kolonialismus und diversen imperialen Zugriffen Hand in Hand gehen, diese auf je eigene Weise legitimieren, verklären, kritisieren, verändern und revidieren. Schließlich hat die „reale“ Geschichte von Imperialismus, Kolonialismus und Nationalismus in diesem Raum nicht nur symbolische Formate, Strategien der Rechtfertigung und der Subversion evoziert; vielmehr sind diese Diskurse, Erzählungen, Stereotypen und „Bilder“ - das, was Homi K. Bhabha „Systeme der Sichtbarkeit und Diskursivität“ genannt hat 5 - zugleich integraler Bestandteil der „realen“ Ereignisgeschichte. Alle Akteurinnen und Akteure agieren vor einem unhintergehbaren „materiellen“ Hintergrund, der, ebenso wie der ökonomische, eine Realität sui generis, nämlich den historischen Symbolismus des jeweiligen kulturellen Kontextes, darstellt. In diesem Sinne sind etwa literarische Texte darauf hin zu lesen, wie kulturelle „Normalität“ konstruiert, bestätigt oder auch verschoben wird. Um der somit umrissenen Komplexität der untersuchten narrativen Konstellationen annähernd gerecht werden zu können, wurden diese gemäß ihrer funktionalen Orientierung - wenn auch notwendigerweise grob - gegliedert. Den Anfang bilden dabei Analysen, die sich mit Narrativen befassen, die eine identitär wie imagologisch konsolidierende Ausrichtung aufweisen und so die Prinzipien und Möglichkeiten ihrer Konstruktion befragbar werden lassen (Seidler, Mančić, Previšić und Car). Eine zweite Hinsicht bilden narrativ inszenierte Prozesse der (imaginären) Verlagerung und Transition: anhand der Figur der Reise, der Rekonstruktion systematischer Spannungsverhältnisse oder semantisch-politischer Gefälle lassen sich imperiale Binnenrelationen kritisch nachzeichnen (Babka, Hodel, Müller-Funk und Magerski). Drittens werden Narrativierungen von Transformationsprozessen und Umbrüchen untersucht, die sich als Reflexionen eines sich selbst problematisch gewordenen, kippenden imperialen Selbstverständnisses nachvollziehen lassen. Als perspektivische Scheitelpunkte vermessen und bezeugen die untersuchten literarischen Quellen gleichermaßen die brüchig werdenden Programmatiken des Imperialen wie auch die dadurch ausgehöhlten Sinnstiftungsfiguren, die bereits auf postimperiale Verhältnisse vorausweisen (Kirschstein, Preljevic, Schmidt/ Knoll sowie Dukić). Diese werden abschließend als postimperiale Retrospektiven zwischen re-nationalisierten und transnationalen Narrativen im Raum der ehemaligen Donaumonarchie anvisiert (Regner, Bobinac, Finzi und Spreicer). Als ein Ergebnis des Forschungsprojekts und damit des vorliegenden 5 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Deutsch von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 117. <?page no="10"?> 10 Einleitung Bandes lässt sich an dieser Stelle vorwegnehmen, dass es zwischen postimperialen und postkolonialen Ansätzen ein unaufgelöstes Spannungsmoment gibt: und zwar nicht nur, weil Kolonialismus und Imperialismus historisch und strukturell verwandt, aber doch verschieden sind (nicht alle Imperien sind außereuropäisch-kolonial, nicht alle Kolonialmächte - man denke an Belgien oder Portugal - waren Imperien), sondern auch, weil beide Ansätze methodisch und politisch-intentional voneinander abweichen. Nahezu sämtliche Ansätze aus dem Bereich der postkolonialen Studien sind a limine und programmatisch kolonialismuskritisch, während die Darstellung und Analyse von imperialen Strukturen höchst ambivalent bleibt, vor allem im Hinblick auf den Gegensatz von Imperium und Nation. Während nämlich die im 19. Jahrhundert „erfundenen“ Nationen ohne das Phantasma von sprachlicher, kultureller und „rassischer“ Homogenität undenkbar sind, zeichnen sich historische Großreiche, moderne Imperien, aber auch koloniale Komplexe durch ein hohes Maß an Heterogenität und kultureller „Mischung“ aus. Dies scheint auch den kritischen Kern jenes häufig zitierten wie kritisierten Habsburgischen Mythos zu sein, der erst jüngst in Hannes Steins amüsantem Roman Der Komet (2013) eine durchaus ironische Fortführung gefunden hat: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird dort kontrafaktisch und im Sinne des Fortbestehens der milden übernationalen zentraleuropäischen imperialen Monarchie erzählt. Vor dem Hintergrund trans- und postnationaler Diskurse, Projekte und Programme versteht sich der vorliegende Band somit auch als ein Beitrag zum Großprojekt europäischer Integration, das gegenüber der traditionellen Alternative von Imperium vs. Nation nach wie vor ein „unmögliches“ Drittes darstellt. Nicht zuletzt deshalb ist der seltene Dialog zwischen (post)imperialen und postkolonialen Ansätzen im kontinentaleuropäischen Bereich so notwendig wie aufschlussreich, indem er Funktionsweisen, ambivalente Überlagerungen und Widersprüche gegenwärtiger kultureller Befindlichkeiten nachvollziehbar und kritisierbar werden lässt. Diese aktuellen Bezüge machen so vor allem eines deutlich: dass „weiche“ Wissenschaften für das Verständnis kultureller und politischer Verhältnisse wie Prozesse unverzichtbar bleiben. Die Herausgeberinnen und Herausgeber <?page no="11"?> 5 Narrative der Konsolidierung <?page no="12"?> 6 <?page no="13"?> 13 Wie aus Angst Interesse wird Andrea Seidler Wie aus Angst Interesse wird: das volatile Bild der Osmanen in der zentraleuropäischen und deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts Zur historischen Ausgangsposition Die Osmanen hatten Südosteuropa seit dem Mittelalter in Panik und Schrecken versetzt - ihre gewaltige Machtzunahme, ihr Ziel, nach Europa vorzudringen, führte in der ungarischen Wahrnehmung, in ungarischen Chroniken, Predigten, vereinzelt in Flugschriften und Briefen schon ab dem 14. Jahrhundert zu ernsthaften Überlegungen darüber, wie ungewiss die Zukunft des Königreichs Ungarn wohl sein mag. Hatten die regierenden Hunyadis im Königreich Ungarn durch Diplomatie und Verhandlungsgeschick es noch geschafft, sich die Osmanen vom Leib zu halten, so standen ihre Nachfolger einem uneinigen Land gegenüber, das sich vor allem in Streitigkeiten über die nötige Loyalität fremden Königsgeschlechtern gegenüber erging. Noch zu Zeiten König Mathias Corvins (1443-1490) schrieb der Chronist János (Johann) Thuróczi über Sultan Mohammed II. (1432-1481), den Eroberer von Konstantinopel in seiner die Geschichte und Gegenwart der Ungarn beschreibenden Chronika Hungarorum: Anno domini […] verweilte König Ladislaus in der Burg in Buda, als sich die Nachricht verbreitete, dass der Kaiser der Türken, Mohammed, im Begriff sei, Ungarn anzugreifen und die Festung Belgrad so bald wie möglich einzunehmen. Diese Nachricht bereitete nicht nur dem Volk von Ungarn, sondern all den benachbarten Gebieten, ja nahezu dem gesamten Christentum große Sorge und bewegte sie zu Überlegungen. Die wilde Eroberung der Stadt Konstantinopel schwebte dem gesamten Christentum unmittelbar vor Augen. Und dies erweckte in jedermann nicht wenig Furcht. Der Kaiser der Türken war nämlich nach dem Sieg über die Griechen zu einem anderen Menschen geworden, in seiner Machtgier und seinem noch größeren Hochmut meinte er, in seiner Person sei der ehemalige Makedonier Alexander der Große und dessen ruhmreiche Epoche zurückgekehrt. <?page no="14"?> 14 Andrea Seidler Angeblich sagte er: Ein einziger Gott herrscht im Himmel, somit ist es nur würdig, dass auch auf Erden nur ein einziger Herrscher herrscht! 1 Der entfernte Angstgegner rückte physisch - mit legendärer militärischer Übermacht - immer näher. Innenpolitisch geschwächt, erlitt das Königreich Ungarn in der Schlacht bei Mohács am 29. August 1529 nicht nur eine Niederlage - 25.000 ungarische Soldaten standen 60.000 türkischen gegenüber -, es verlor zudem seinen König. Ludwig II. starb in der Schlacht, er ertrank in einem Fluss. Mit ihm fielen tausende Soldaten oder wurden vertrieben und verschleppt. Der Tod eines Königs, zumal wenn er im Kampf fällt, lähmt eine Gesellschaft und nimmt ihr zunächst das politische Selbstbewusstsein und die Kraft. So auch den Ungarn, deren militärische Reserven erschöpft waren und die, wie sie bald einsehen mussten, keine Hilfestellung vom Rest Europas erwarten konnten. Die mehr als zwei Jahrhunderte andauernde türkische Besetzung des Königreichs Ungarn war von der politischen Dreiteilung des Landes geprägt. Die Türken selbst hatten einen Keil ins Land getrieben, der vom Süden her bis zur Hauptstadt Buda reichte, Siebenbürgen, ein Pufferstaat, der sich mit den benachbarten Machtblöcken geschickt arrangierte, wurde vom lokalen Großfürsten regiert, der westliche Teil von den Habsburgern, die durch den Tod des ungarischen Königs zunächst machtpolitisch profitierten. 2 Buda wurde 1541 zur Schaltstelle der Osmanen im Zentrum Europas, die ungarische Hauptstadt nach Pressburg verlegt - sie blieb bis 1784 dort. Für die Osmanen selbst, die sich nicht aufhalten hatten lassen auf dem Weg nach Europa, war dies ein Goldenes Zeitalter. Untermauert wurde die den Siegeszug begleitende innen- und außenpolitische Ideologie und Propaganda durch gezielte Imagepflege nicht nur im eigenen Land. 3 Ich möchte dabei auf die Forschungsarbeiten von Ágoston Gábor verweisen, der sich auch mit der türkischen Sicht des Vordringens der erfolgreichen Janitscharenheere nach Europa beschäftigte. Ab Mitte der 1550er-Jahre war Sultan Süleyman bestrebt, ein für die Zeitgenossen und die Nachwelt positives Herrscherbild aufzubauen: 1 Digitale Version der Chronik des János Thuróczi online abrufbar unter: http: / / digi. ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ cpg156 (28.4.2014) 2 Durch den Tod des ungarischen Königs Ludwig II. fielen Böhmen und Ungarn an den späteren Kaiser Ferdinand-I. 3 Siehe dazu: Ágoston, Gábor: „ Ideologie, Propaganda und politischer Pragmatismus. Die Auseinandersetzung der osmanischen und habsburgischen Großmächte und die mitteleuropäische Konfrontation “ , in: Fuchs, Martina/ Oborni, Teréz/ Újváry, Gábor (Hg.): Kaiser Ferdinand I. - Ein mitteleuropäischer Herrscher. Münster: Aschendorff Verlag 2005, S. 212. Online abrufbar unter: http: / / www.academia.edu/ 220367/ Ideologie_Propaganda_und_politischer_Pragmatismus._Die_Auseinandersetzung_der_osmanischen_und_habsburgischen_Grossmachte_und_die_mitteleuropaische_Konfrontation (28.4.2014) <?page no="15"?> 15 Wie aus Angst Interesse wird Europa wurde das Bild eines großen, prächtigen […] Herrschers präsentiert, dem Osmanischen Reich mehr als jenes eines „Gesetzgebers“ [kanuni]. […] Der Sultan und seine Berater […] hatten bereits im Laufe der 1520er-Jahre eine klare Machtideologie, -symbolik und -propaganda ausgearbeitet und aufgebaut. Wesentliches Erkennungszeichen dieser Politik war es, das Streben des osmanischen Herrschers nach universaler Macht auszuformulieren, diesen Anspruch auch klar und deutlich zu machen, und damit letztlich die gewaltige Kraft des Osmanischen Reiches, das nach den Eroberungen Sultan Selims I. zur islamischen Großmacht geworden war, zu untermauern. 4 Es galt im Osmanischen Reich sowohl die Dynastieansprüche des Sultans als auch die Legitimierung der Kriegszüge durch die Religion hervorzuheben. Auch die Habsburger taten das Ihrige, um ihren Macht- und Legitimitätsanspruch zu untermauern: Auf der anderen Seite engagierten die Imageproduzenten der Habsburger ganze Heerscharen an Architekten, Porträtisten, Miniaturmalern, Bildhauern, Gold- und Silberschmieden, Münzprägern, Dichtern, Chronisten, offiziellen Hofhistorikern, Kriegsberichterstattern und Musikern, die in ihren Arbeiten mit dem Repertoire der zeitgenössischen Repräsentation und Propaganda […] aufwarteten. Zur Verbreitung ihrer Botschaften benutzten sie alle nur erdenklichen Propagandaforen: Kaiserkrönungen, Feldzüge, militärische Triumphzüge und Paraden, Herrscherreisen, dynastische Eheschließungen, kirchliche Feste, Botschafterempfänge und Messen. 5 Die Topoi der Niederlage Die euphorische Propaganda, das Hochgefühl auf osmanischer Seite ist nachvollziehbar. Doch wie sah es bei den Überrollten aus? Was hatten - um zu unserem Forschungsbereich überzuleiten - nun die Akteure des Literaturbetriebes im Königreich Ungarn, ja im gesamten Westen Europas, allem voran Schreiber, Prediger, Poeten zu dem Thema zu sagen? Erwartungsgemäß nichts Positives. Überliefert wurden uns Texte, die sich mit dem politischen Phänomen und der Gewalt, die von den Türken ausgeht, beschäftigen, Texte, die auf die Religion der Gegner, den Islam, kritisch bis vernichtend eingehen und vor allem Texte, die die Angst der Bevölkerung des Königreichs vor dem Feind schürten, die Angst um das leibliche Leben, aber auch die Angst um den Verlust der Identität der Ungarn, ihrer Sprache, ihrer christlichen Religion. Verschiedene literarische Topoi prägten die Darstellung der türkischen Invasion und der ungarischen beziehungsweise gesamteuropäischen Niederlage. Zu diesem Thema gibt es eine repräsentative Fachliteratur in Ungarn. Ich 4 Ágoston: „Ideologie“, S. 209. 5 Ebd., S. 211. <?page no="16"?> 16 Andrea Seidler möchte zwei Namen nennen, die mit der Erforschung der allgegenwärtigen Topoi der ungarischen Literatur eng verbunden sind: Andor Tarnai und Imre Mihály hatten sich in den letzten vierzig Jahren intensiv mit einschlägigen Texten auseinandergesetzt und sind zu richtungsweisenden Erkenntnissen gelangt. Was dabei herausgefiltert wurde, sind drei konstant wiederkehrende Bilder, die mir als die bestimmenden erscheinen: Es ist dies zunächst das Bild der Querela Hungariae [Klage von Ungarn] und dessen Auftreten in der ungarischen Literatur: Die Eroberung Ungarns durch die Osmanen schlug sich in literarischen Texten und Gebrauchstexten gleichsam zeitgleich mit der Niederlage in der Schlacht von Mohács nieder. Ungarn empfand sich als Opfer der Geschichte: überfallen, geplündert, gedemütigt und von den Verbündeten verlassen. Es ist dies einer der Topoi, der sich bis heute in der ungarischen Literatur- und Kulturgeschichte hält, die Beweinung, die Trauer um das zu Unrecht erlittene Schicksal der Ungarn. Beispiele davon finden sich nicht nur in Werken aus Ungarn, sondern quer durch die europäische Literatur. Péter Ötvös schreibt dazu prägnant: Mit dem ursprünglich durch ausländische Autoren kreierten Topos Ungarns als Bollwerk des Christentums verband man bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts die Tugend der Tapferkeit der Ungarn, ihren militärischen Mut, verbunden mit dem natürlichen Reichtum des Landes. Wenngleich die das Christentum beschützende, tugendhafte Beharrlichkeit im nationalen Gedächtnis auch nach der verlorenen Schlacht bei Mohács und nach der Dreiteilung des Landes weiter lebte, finden wir in Schriftstücken von Diplomaten, die sich an das Ausland um Hilfe im Kampf gegen die Türken wandten, in den Werken der Historienschreiber und der Dichtung das Bild eines geplünderten, in Ruinen stehenden Landes - häufig in Gestalt der ihres Glanzes beraubten Hungaria oder Pannonia. Der Topos der Querele Hungariae war ein wichtiges Element der Darstellung […] der Verwüstung und Vernichtung. 6 Dabei ist der Blickwinkel der Darstellung regional manchmal etwas verschoben. Im Topos von der Festung Ungarn, des Bollwerks Ungarn, Ungarn als Schutzschild vor der islamischen Ausbreitung über dem christlichen europäischen Kontinent geht es um die politische Rolle, die die Ungarn - aufgezwungen nicht zuletzt durch die geographische Lage ihres Königreichs - gegenüber dem Osmanischen Reich zu übernehmen hatten. In beiden Topoi steht 6 Einer der besten Kenner dieser Topoi war Andor Tarnai, der mit seinem Werk Extra Hungariam non est vita. Eyg szállóige történetéhez [Extra Hungariam non est vita. Zur Geschichte eines Sprichwortes.] Budapest: Akadémiai 1969 bereits erste Analysen zur Erfassung dieser Paradigmen anstellte. Ihm folgte eine ganze Schule von Mediävisten in Ungarn. Ich verwende hier neben Tarnais Arbeiten die Studien von Mihály Imre und Péter Ötvös. Imre, Mihály: Magyarország panasza: a Querela Hungariae toposz a XVI- XVII. század irodalmában. [Die Klage Ungarns: der Querela Hungariae Topos in der Literatur des 16. Bis 17. Jahrhunderts.] Budapest: Kossuth 1998. Vgl. die Rezension von Péter Ötvös, online abrufbar unter: http: / / mek.oszk.hu/ 01900/ 01903/ html/ index914. html (28.4.2014) <?page no="17"?> 17 Wie aus Angst Interesse wird Ungarn letztlich als der große Verlierer im Kampfe um die Zurückdrängung der Osmanen da. Das Land wird dabei zuweilen als heldenhaft bezeichnet, dann wieder als ein im Stich gelassenes Opfer beweint. Hinter einem dritten Bild, dem Bild der Fertilitas Hungariae [Fruchtbarkeit Ungarns] steht die Beweinung des ehemals so reichen und beneidenswerten Landes, das durch die Osmanen verwüstet und entehrt wurde. Das Bild der Bestrafung Ungarns, der gerechten Rache Gottes zieht sich ebenfalls durch die Literatur Ungarns: Der unfassbare Schicksalsschlag hatte die Ungarn nur ereilt, weil Gott sich von dem Land zum Zwecke der Bestrafung für frühere Vergehen abgewandt hatte. Eitelkeit, Machtgier und Maßlosigkeit der Ungarn waren die Gründe für dieses unausweichliche Schicksal. Ich möchte mich in diesem Beitrag nicht weiter mit der frühen Phase der literarischen Produktion im Königreich Ungarn beziehungsweise im gesamten Europa beschäftigen. Ich empfehle dazu die (jüngsten) Arbeiten der oben zitierten Forscher. Die erwähnten Bilder sind jedenfalls wichtige Merksteine, die sich bis heute durch das literarische und politische Leben Ungarns ziehen, weswegen es wichtig ist, zumindest ihre Wurzeln zu kennen. Die Stabilisierung der Machtpositionen In meinem Beitrag geht es um die Zeit der Konsolidierung, um die Phase der Konfrontation mit dem Osmanischen, in der sich das Spektrum der Akteure des Kulturbetriebes nicht nur im Königreich Ungarn, sondern europaweit bereits vollkommen verschoben hatte. Die literarischen Texte, die gesamte Buchproduktion, die Rolle des Autors und Chronisten hatten sich verändert, sich rasch der politische Realität angepasst: die Osmanen waren hier und es galt, sich mit ihnen zu arrangieren. Schritt für Schritt verschob sich der Blick auf das Fremde, öffnete sich, und zuletzt war sogar die Angst vor der Alterität gewichen oder zumindest gemildert: Durch Religion vermochte man im 17. Jahrhundert einen Kontinent nicht mehr in Schrecken zu versetzen, schon gar nicht vor der Folie zunehmender Säkularisierung. Man war schließlich auch um eine Erfahrung reicher geworden: Man hatte gesehen, dass es den Türken in den letzten eineinhalb Jahrhunderten überhaupt nicht um religiöse Bekehrungsarbeit gegangen war. 7 Sie waren an der Ausweitung von Macht und Einfluss, an der Vermehrung von Reichtum durch extensives Eintreiben von Steuern interessiert. Auch politisch hatten die Osmanen ihren Zenit in Zentraleuropa überschritten. Der sich über Jahrhunderte haltende Mythos der Überlegenheit der Janitscharenheere hatte im Laufe des 17. Jahrhunderts bereits an Glanz verloren: der als unschlagbar und zugleich so blutrünstig und 7 Siehe dazu u.a. Bitskey, István: „Konfrontation zwischen christlichem Abendland und türkischem Islam am Beispiel Ungarns in der Frühen Neuzeit“, in: Ungarn-Jahrbuch. Zeitschrift für interdisziplinäre Hungarologie 30 (2009-2010), S. 169-183. <?page no="18"?> 18 Andrea Seidler allergrausamst verrufene Angstgegner Europas hatte viel an Kraft eingebüßt und seine Unbesiegbarkeit war durch die modernen - und in der Türkenfrage vereinten - Kriegsherren längst in Zweifel gezogen worden. Die Niederlage der Osmanen vor Wien im Jahre 1683, der Sieg Prinz Eugens, des edlen Ritters bei Zenta 1697, der darauffolgende Friedensschluss von Karlović 1699 sowie jener von Passarowitz im Jahre 1718 8 beendeten schließlich die nahezu 200-jährige Belagerung des Königreichs Ungarn und somit des Kerns des Habsburgerreiches mit einem Schlag. Die Dreiteilung des Reiches wurde aufgehoben, die politischen Geschäfte wieder in die Hände des Habsburger Kaisers - nunmehr Karls des VI. - gelegt: ein Aufatmen für einen Teil der Monarchie, nicht aber für die Gesamtheit der auf diesem politischen Gebiet Agierenden. Die Entmachtung der Osmanen zog sich zwar über Jahrzehnte, nahm aber unaufhaltsam ihren Lauf. Was den Osmanen nach Passarowitz blieb, waren vor allem Verträge, die besagten, dass türkischen Untertanen auf dem Gebiet der Monarchie Handelsfreiheit zu gewähren sei. Das Land hatten sie nahezu gänzlich verloren. Freilich endete das politische und kriegerische Hin und Her damit nicht für alle Zeiten, denn die südlichen Teile des Habsburger Reiches hatten weiterhin unter den Angriffen und der Präsenz der Osmanen zu leiden und die Sympathie der Siebenbürger Fürsten für den Sultan war noch immer größer als die für den Habsburger Kaiser. Für das Königreich Ungarn und die Erblande - ja für den gesamten Westen Europas - war der Schrecken jedoch bis zum Ende der 80er-Jahre des 18. Jahrhunderts zunächst vorbei. Die Rehabilitation des Türken-Bildes Das Bild, das sich Europa von den Türken gemacht hatte, hatte sich weitab von den belagerten Teilen des Kontinents schon längst geändert und ausdifferenziert, ja manche Nationen wie Frankreich oder England hatten diesen unmittelbaren Schrecken weder politisch noch kulturell nachvollzogen. 9 Man hatte hier und dort gelernt zu unterscheiden: auf einer Seite sah man in den Türken ein alles zerstörendes Heer von unerbittlichen Kriegern, auf der anderen Seite ließ man sich allmählich auf etwas ein, das man die Faszination des Exotischen nennen könnte. Bereits im 16. Jahrhundert (und anhaltend über das 18. Jahrhundert hinaus) hatten die Türken in Europa deutlich Mode gemacht - als La Turqerie ging diese Welle der enthusiasmierten Rezeption türkischer Sitten und Moden, Musik und Architektur als ein beachtenswerter Teil der europäischen Kultur in die Geschichte ein. Spä- 8 Der Friede von Passarowitz beendete den Venezianisch-Österreichischen Türkenkrieg. Er wurde am 21. Juli 1718 in Passarowitz (serb. Pozarevac) zwischen Karl VI. und Venedig einerseits sowie Sultan Ahmed III. andererseits abgeschlossen. 9 Siehe dazu Bitskey: „Konfrontation“, Fn. 7. <?page no="19"?> 19 Wie aus Angst Interesse wird testens nach dem Besuch des türkischen Gesandten Soliman Musta-Ferraga in Versailles (1669) begann die europäische Gesellschaft sich umfassend für türkische Pracht, Glanz und Pomp zu interessieren. Nicht nur alles Türkische, alles Orientalische wurde zum begehrten Bewunderungsobjekt und Vorbild für ein ganz neues Lebensgefühl. Ich möchte dabei auch an den fulminanten Auftritt des Marokkanischen Gesandten 1783 in Wien erinnern, der das zeitgenössische Denken durch seine entwaffnende Prachtentfaltung nachhaltig zugunsten alles Orientalisch-Fremden beeinflusste. Zur Nachahmung von türkischer Mode, Mosaikkunst, Baustil gesellte sich die Neugier am Türken als Träger kultureller Werte und Symbole. Die Analyse beispielsweise der Erotik - eine beliebte Annäherung an das Fremde - ging oft einher mit der Vorstellung, die Osmanen seien ein extrem lüsternes Volk, das sich schon allein durch die Einrichtung der Serails wesentlich von der durch die christliche Tradition geprägten verhaltenen europäischen Kultur der Schamhaftigkeit unterscheide. Andere Autoren sprechen wiederum bewundernd über die Tugendhaftigkeit der Osmanen, die der Islam durch seine strengen Gesetze befördere. Der Deutsche Christian Wilhelm Kindleben verfasste beispielsweise 1773 zwei Bändchen mit dem Titel Galanterieen der Türken, in denen er sich neben der Beschreibung ihrer Gesellschaft, ihrer Amts- und Würdenträger, des Reichtums des Sultans und der nicht immer redlichen Art der Geldbeschaffung intensiv der Frage des Sexualverhaltens der Türken widmete. Neben einer Beschreibung dessen, was sich Kindleben unter einem Serail vorstellte, ging er in einigen Kapiteln doch auch spekulativ ins erotische Detail: Das Haarausraufen, besonders an heimlichen Oertern, oder das Wegnehmen des Milchhaars mittels eines scharfen Scheermessers, welches den Türken und den Morgenländern überhaupt eigen ist, und wodurch sie sich ganz von unseren Sitten und Gewohnheiten unterscheiden, ist ein Beweis ihrer Weichlichkeit und ihrer Delikatesse in der Wollust. Dasjenige, was von den Europäern und besonders von uns Deutschen als eine von der Natur dem Menschen verliehene Zierde […] angesehen wird, betrachtet der hitzige Morgenländer und vornämlich der Türke mit Widerwillen und sucht sich davon loszumachen, weil er es als ein sehr entbehrliches Hindernis betrachtet, wodurch die Befriedigung seiner heftigen Begierden aufgehalten, und die lebhafte angenehme Vorstellung, der er sich schon zum voraus von der fleischlichen Vermischung mit einem hübschen, wohlgebauten Frauenzimmer macht, verdunkelt und unterbrochen wird. […] Ich kann mich überhaupt hierüber nicht so ganz deutlich erklären, weil die Sache an sich schon sehr kitzlich und delikat ist.- 10 So und noch deutlicher führt Kindleben seine Überlegungen zu den unterschiedlichen sexuellen Vorlieben der Europäer und Muslime aus und führt die 10 Kindleben, Christian Wilhelm: Galanterieen der Türken. 2 Bände. Frankfurt-Leipzig: o.V. 1783, §12. <?page no="20"?> 20 Andrea Seidler beschriebenen Auswüchse auf die leidenschaftliche, ja exaltierte Wollust der Männer am Bosporus zurück. Ende des 18. Jahrhunderts kam es in der deutschen Literatur auch bald zur Korrektur des Bildes vom grausamen, blutrünstigen, türkischen Soldaten. Er mutierte zum tapferen, klugen Strategen - das frühere Bild, so war man nun überzeugt, sei zum Großteil aus Unwissenheit über ihre Kultur entstanden. Zwar wurde die Grausamkeit der osmanischen Soldateska nicht gänzlich negiert, aber sie wurde uminterpretiert, historisch und kriegstechnisch erklärt und letztendlich erschien auch das Abschlagen von Köpfen - früher ein beliebtes Sujet hunderter europäischer Kupferstiche, die die antitürkische Propaganda begleiteten - in einem ganz anderen Licht: Es sei dem Todgeweihten gegenüber wesentlich weniger grausam, ihm ein jähes Ende zu bescheren, als das Opfer über eine Zeitstrecke hinweg leiden zu lassen, findet beispielsweise J.C. Hayne 1783 in einer Analyse der Osmanen und deren militärisches Vordringen nach Europa: Mein Endzweck gieng zugleich dahin, die türkischen Soldaten in ihrem wahren Lichte vorzustellen, und ihr Verhalten, sowohl im Felde […] als auch im Innern des Reichs zu betrachten […]. Viele haben das Vorurtheil, die Osmanen für Barbaren, und die Soldaten für ganz untaugliche Leute zu halten, ohne jedoch von der Geschichte der Türken und ihrem Verhalten gehörig unterrichtet zu seyn. So werden aber diejenigen nicht urtheilen, die ihre Geschichte mit Bedacht durchgelesen, und noch weniger diejenigen, welche Feldzüge gegen sie gemacht haben. Ueberdies habe ich es für Pflicht gehalten, durch treue Darstellung des Betragens, das die Türken zum öftern gegen die Christen gezeigt haben, das beynahe allgemeine Vorurtheil, daß die Türken hartherzig und grausam sind, zu zerstören […]. Man wird […] finden, daß sich die Osmanen öfters nach dem Betragen, wie die Christen mit den Türken umgegangen sind, sowohl beym Uebergange der Vestungen, als in der Gefangenschaft, gerichtet, und öfters menschenfreundliche und gefühlvolle Herzen gezeigt haben. Das Vorurtheil, daß sie keine guten Soldaten waren, wird auch dadurch über den Haufen geworfen, daß sie sich schon seit 474 Jahren unverrückt in Europa erhalten und vertheidigt haben. 11 Die Türken, so Hayne, seien anständige, tapfere, vor allem aber tugendhafte Menschen und gut ausgebildete Soldaten: Die Tapferkeit der gemeinen türkischen Soldaten entspringt aus einer starken Leibesbeschaffenheit; sie sind sehr muskulös, wohl gewachsen und haben ein gutes Ansehen, und da sie sich durch ein unordentliches und liederliches Leben nicht entnerven, so werden sie stets von einem reinen und geistervol- 11 Hayne, J.C.G.: Abhandlung über die Kriegskunst der Türken, von ihren Märschen, Lagern, Schlachten und Belagerungen; desgleichen derjenigen Völker, welche unter dem Osmannischen Schutze stehen, Griechen, Armenier, Araber, Drusen, Kurden, Jesiden, Tatern, Wallachen, Moldauer u. d. gl. nebst einer militärischen Geschichte der vorlezten Türkenkriege in Ungarn. In zweyen Theilen. Berlin-Stettin: Friedrich Nicolai 1783. <?page no="21"?> 21 Wie aus Angst Interesse wird len Geblüte ermuntert und gestärkt. Ueberdem haben die zu Felde ziehenden Soldaten eine hinlängliche Kenntniß vom Kriege, sind in ihren Waffen geübt, und haben dadurch ein grosses Zutrauen zu sich selbst, wobey sie sich ihrer vorigen Siege erinnern. 12 Das Fremde, das Türkische wurde neu interpretiert: Es gewann zunehmend an Spannung, es erschien geheimnisvoll, war in vielen Bereichen sogar nachahmenswert geworden. Der einstige Todfeind - nunmehr physisch auf Distanz - wurde gleichsam zum Ausstellungs-, ja zum Beobachtungsobjekt, ähnlich den aus den Kolonien importierten Afrikanern und Polynesiern, die zu historischen und ethnologischen Forschungsobjekten mutierten. Die Türken wurden zunehmend zum beliebten Sujet der europäischen Literatur und der gelehrten Presse. Die anhaltende Türkeneuphorie wurde durch ein breites Spektrum von Vorstellungen, die vom barbarisch mordenden Feind des Abendlandes über den mutigen Soldaten bis hin zum kultivierten, erotischen Exoten reichten, aufrechterhalten. Schriftsteller und Philosophen benutzten alles Orientalische als Projektionsfläche für ihre Kritik an der eigenen Gesellschaft und für wirklichkeitsfremde Konzepte einer zukünftig besseren-Gesellschaft. 13 Das Sujet lebte im 18. Jahrhundert in der gesamteuropäischen Literatur auf und wurde unter anderem durch Reisende, die sich zum Teil tatsächlich im Osmanischen Reich aufgehalten hatten, belebt. Zu erwähnen wäre vor allem die Britin Lady Mary Montague, die ihren Ehemann, der 1716 nach Istanbul als englischer Diplomat entsandt wurde, begleitete. Die Familie blieb zwei Jahre im Land. Aus dieser Zeit stammen Briefe von Lady Mary über ihre authentischen Beobachtungen einer islamischen Gesellschaft, eine Sammlung, die - wenngleich durchaus auch andere europäische Länder beschreibend - den Titel Briefe aus dem Orient trägt. Sie erschienen 1763, ein Jahr nach dem Tod der Verfasserin im Druck, davor zirkulierten sie in Handschrift unter interessierten Lesern und Leserinnen. Und die Türken, oder vielmehr das Leben im Osmanischen Reich wurde auch zum Thema des ersten ungarischen Romans, der Türkischen Briefe des Kálmán Mikes (1690-1761). Der eigentliche Titel des Werkes lautet : Konstantinapolyban groff P...E... Irot levelei M...K... Das 1794, dreißig Jahre nach dem Tod des Verfassers gedruckte Bändchen wurde von István Kultsár in Szom- 12 Hayne: Abhandlung über die Kriegskunst, §77. 13 Ich möchte nicht auf die Vielzahl von literarischen Texten, Theaterstücken, Reisebeschreibungen eingehen, die sich mit den Osmanen, auch mit schillernden Persönlichkeiten der osmanischen Glanzzeit, allen voran Sultan Suleyman beschäftigten. Dazu erschien vor kurzem ein Band, herausgegeben von Barbara Schmidt-Haderkamp unter dem Titel Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert/ Europe and Turkey in the 18th Century. Bonn: University Press 2011, der eine beeindruckende Zusammenschau, bestehend aus Detailstudien zu den großen europäischen Kulturräumen und eine Differenzierung nach Kunstgenres zur veränderten Wahrnehmung des Türkischen in Europa nach deren Verdrängung aus der Machtsphäre bietet. <?page no="22"?> 22 Andrea Seidler bathely (dt. Steinamanger) mit Änderungen an der Originalhandschrift herausgegeben. 14 In der ersten Rezeptionsphase wurden die Briefe als historischer Text gelesen und deren Fiktionalität angezweifelt. Wir lesen im Werk, dessen Kern die Geschichte des im türkischen Exil lebenden Fürsten Franz (Ferenc) II. Rákóczi und dessen Tod in Tekirdağ (ung. Rodostó) am Marmarameer bildet, vor allem aber über das Leben der sich in der Emigration befindlichen ungarischen politischen Flüchtlinge, über deren Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung, deren Begegnung mit einer neuen, fremden Kultur, der sie zwar nichts abgewinnen können, die sie aber zu akzeptieren lernen. Rákóczi II. hatte sich in Siebenbürgen nicht mit der Tatsache abfinden können, dass die Habsburger nach der Zurückschlagung der Türken weiterhin ungarische Könige sein sollten und ihn nicht als souveränen Fürsten von Siebenbürgen anerkennen wollten. So floh er als politisch Verfolgter nach dem Frieden von Szatmár 1711 zunächst nach Polen, später nach Paris und lebte anschließend, auf Einladung und Kosten des Sultans, bis zu seinem Tod im Osmanischen Reich. Der einstige Gegner, durch die Aufnahme der Exilanten zum politischen Verbündeten geworden, wird in den Briefen des Kálmán Mikes jedenfalls neu bewertet, aber der über Jahrhunderte transportierten ethnischen und religiösen Vorurteile nicht gänzlich enthoben. Die Grobheit der Osmanen, das martialische Element der Soldateska, die religiösen Unterschiede zwischen Islam und Christentum, das Unvermögen des Verfassers, sich mit der Stellung der Frau in dieser Gemeinschaft abzufinden, sind Themen, die in dem Text aus mehreren Perspektiven und Situationen heraus beschrieben werden. Was dem Erzähler besonders zu schaffen macht, sind seine geringen Kenntnisse der türkischen Sprache, die ihn zunehmend in die Isolation treiben. Die Angst vor den Osmanen war aber aus seinen Schriften gewichen, was blieb, war eine Art Entzauberung, eine Art nüchterner Betrachtung einer fremden Welt, mit der man nichts gemein zu haben schien und auch nichts gemein haben wollte. Das Werk umfasst 207 Briefe, die an eine Gräfin P.E. (in den Briefen als Teure Muhme tituliert) gerichtet sind. Es handelt sich dabei um die Tante des Erzählers der Briefe - eine vermutlich fiktive Person - mit extrem emotionaler, fast erotisch anmutender Nähe zu ihrem Neffen. Mikes’ Konvolut liegt jedenfalls kein Romankonzept zugrunde, es handelt sich um eine Sammlung loser, fiktiver Briefe, deren Umfang zu Beginn offenbar nicht festgelegt wurde und die auch kein eigentliches Ende findest. Der erste Brief wurde im Oktober 1717, der letzte Brief im Dezember 1758 verfasst. Der Autor hinterließ zudem einen nicht allzu umfangreichen Briefkorpus teils offizieller Natur, verfasst als Sekretär des Fürsten Rákóczi II., in dem er auch Bezug auf sein türkisches Exil nahm. 15 14 Mikes, Kálmán: Törökországi levelek. [Briefe aus der Türkei.] Online abrufbar unter: http: / / mek.oszk.hu/ 00800/ 00880/ html/ (14.5.2014) 15 Dieser Text ist eine Rarität, konnte sich die Epik doch in der ungarischen Literatur vor <?page no="23"?> 23 Wie aus Angst Interesse wird Waren die Briefe von Lady Montague gekennzeichnet von Bewunderung und Anerkennung der fremden Kultur, in die sie eintauchte und auf die sie sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln einließ - allerdings als Ehefrau eines hohen Diplomaten, getragen von der Macht des Königreichs England im Hintergrund -, so begegnen wir bei Mikes, der immerhin 50 Jahre in der Türkei verbracht hatte, einer unversöhnlichen Haltung, geprägt von Dankbarkeit in Bezug auf die Sicherheit der eigenen Existenz durch den Schutz des Sultans, aber getragen von seiner Gram über Ausgrenzung, Leid, dem Ausgeliefertsein und auch dem Unvermögen, sich auf das (auch nach Jahrzehnten noch) Fremde einzulassen. Die einzige Handschrift der Türkischen Briefe liegt übrigens in der Erzbischöflichen Bibliothek von Eger (dt. Erlau) und ist eine eigenhändige Kopie des Verfassers. Darüber, wie die Briefe nach Ungarn gelangt waren, gibt ein zeitgenössischer Artikel der Zeitschrift Hadi és más Nevezetes Történetek [Militärs- und andere bedeutende Geschehnisse] vom 27. November 1789 Auskunft. Der Verfasser berichtet, dass ein Händler das Werk vom Osmanischen Reich nach Ungarn eingeführt habe. Übergeben soll es ihm ein ehemaliger Diener des bereits 1735 verstorbenen Fürsten Rákóczi II. haben. 16 Das Interesse der Medien an den Osmanen Neben den Türkischen Briefen begegnen wir dem Thema der Beherrschung Südosteuropas durch die Osmanen und deren Geschichte und Herkunft auch in zahlreichen europäischen Journalen des 18. Jahrhunderts, oft in Form von Anekdoten, meist aber in den sogenannten gelehrten Beiträgen: Historische Dokumente und Analysen dominieren diesen Diskurs, der auf emotionslose Sachlichkeit ausgerichtet ist, gefolgt von belehrenden Beiträgen zu den Sitten, Gebräuchen und der Religion der Türken. Die Geschichte des Kaffees, Heiratsbräuche, der Umgang der Geschlechter untereinander, das Bedauern über die religionsbedingte Unterdrückung der Frau, Genderthemen sind die Dauerbrenner, mit denen das Lesepublikum unterhalten und gebildet wurde. Mir einen ersten Überblick über die Häufigkeit des Vorkommens dieser Themen in ungarischen Zeitschriften verschaffend, fand ich allein bei der Eingabe dem 19. Jahrhundert nicht durchsetzen, sie stand nicht auf der Agenda der Autoren. Kelemens Briefroman - so er als solcher bezeichnet werden kann ist (neben dem Tagebuchroman Fanni Hagyományai [Das Vermächtnis der Fanni] des Kármán József aus dem Jahr 1794) das einzige nennenswerte Prosawerk der ungarischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Die Lyrik war damals das führende Genre der Literaten und der Leser, bevorzugt durch die Überlegung, dass die Erneuerung und die Etablierung einer ungarischen Sprache nur durch sie (und die literarische Übersetzung) befördert würde. 16 Textbeispiele online abrufbar unter http: / / mek.oszk.hu/ 07800/ 07840/ index.phtml# (28.4.2014), Datenbank der Ungarischen Nationalbibliothek Széchenyi. <?page no="24"?> 24 Andrea Seidler des Begriffs „Türken“ in die Datenbank Hungarus Digitalis, 17 die nur die im Königreich Ungarn erschienenen deutschsprachigen Periodika des 18. Jahrhunderts enthält, 118 einschlägige Beiträge, die meisten davon historischen Inhalts. In den Anekdoten finden sich bereits Ansätze zu einem Motiv, das den ungarischen Roman des 19. Jahrhunderts dominiert: Die Geburt genuin magyarischer Tugenden durch die Auseinandersetzung mit dem einstigen Todfeind, gleichsam das Lernen durch, das Sichentwickeln am Feind. Erst durch die Jahrhunderte währende Unterdrückung konnten die Ungarn - so das Narrativ - zu einer souverän agierenden Nation werden, die sich letztendlich im Kampf um die autonome Stellung innerhalb des Habsburger Reiches emanzipierte. Nur durch den Kampf ums Überleben im Zentrum Europas, in das die magyarischen Stämme vor nahezu tausend Jahren vorgedrungen waren, konnten sie sittliche Grundhaltungen entwickeln, auf die die gesamte Nation aufbaut: Unerschrockenheit, Tapferkeit, Treue zu den eigenen Werten - zentrale Eigenbilder in der ungarischen politisierten Kultur des 19. Jahrhunderts. 17 Die Datenbank Hungarus Digitalis ist online abrufbar unter: http: / / www.univie.ac.at/ hungdigi/ foswiki/ bin/ view.cgi/ DigiHung (28.4.2014). <?page no="25"?> 25 Zwischen Halbmond und Markuslöwen Boris Previšić Zwischen Halbmond und Markuslöwen: Zur Universalisierung paradoxaler Kommunikation in Goethes Metrisierung der Ballade „Hasanaginica“ 1778 erscheint in Herders Volksliedern der „Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga“. 1 Herder vermerkt lediglich, dass „die Uebersetzung dieses edlen Gesanges“ nicht von ihm stamme, er aber hoffe, „in der Zukunft derselben mehrere zu liefern“. 2 Fast fünfzig Jahre später sieht sich der damals anonymisierte Übersetzer Goethe legitimiert, sich als eigentlichen deutschsprachigen Entdecker der südslawischen Dichtung rühmen zu dürfen, auch wenn dies auf Umwegen geschieht: So kommt er 1774, während eines Besuchs von August Clemens Werthes, welcher aufgrund einer Empfehlung von Albrecht von Haller das Kapitel „De’ costumi de’ Morlacchi - Über die Sitten der Morlakken“ aus Abbate Alberto Fortis’ Viaggio in Dalmazia übersetzt, zuerst mit einer italienischen Fassung dieses Gesangs in Kontakt. Wohl muss er auch über eine Übersetzung von Werthes verfügt haben, doch gibt er im Aufsatz „Serbische Lieder“ mehr als fünfzig Jahre nach dieser Begegnung zu Protokoll: „Ich übertrug [den Klaggesang] nach dem beigefügten Französischen [sic], mit Ahnung des Rhythmus und Beachtung der Wortstellung des Originals.“ 3 Dabei handelt es sich in erster Linie um eine metrische Anverwandlung des für die südslawische Dichtung so typischen fünfhebigen trochäischen Versmaßes. So lautet der Beginn in der Umschrift der „Xalostna pjesanza plemenite Asan-Aghinize“ und in der Übersetzung „Canzone dolente della nobile Sposa d’Asan Aga’“ von Fortis noch: 1 Herder, Johann Gottfried: Volkslieder I, 3. Nr. 24. Leipzig 1778. 2 Herder, Johann Gottfried: Stimmen der Völker in Liedern. Stuttgart: Reclam 1975, S. 158. 3 So Goethe im Aufsatz „Serbische Lieder“, welcher erstmals in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum V2, S. 35-60, 1825 erscheint. Zitiert wird nach Johann Wolfgang Goethe: Serbische Lieder, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter. Die Jahre 1820-1826, Münchner Ausgabe, Band 13.1. München: Hanser 1992, S. 408-418, S. 410. Im Abstand von fünfzig Jahren identifiziert Goethe wohl irrtümlicherweise die Vorlage zu seiner Übersetzung mit der 1788 erschienenen Übersetzung auf Französisch von Gräfin Rosenberg, Les Morlaques. <?page no="26"?> 26 Boris Previšić Scto se bjeli u gorje zelenoj? Che mai biancheggia là nel verde bosco? Al-su snjezi, al-su Labutove? Son nevi, o Cigni? Se le fosser nevi Da-su snjezi vech-bi okopnuli; Squagliate omai sarebbonsi: se Cigni Labutove vech-bi poletjeli. Mosso avrebbero il volo. Ah! non son bianche Ni-su snjezi, nit-su Labutove; Nevi, o Cigni cola; sono le tende Nego sciator Aghie Asan-Aghe. D’Asano, il Duce. Egli è ferito, e duolsi On bolu-je u ranami gliutimi. Acerbamente. A visitarlo andaro Oblaziga mater, i sestriza; La Madre, e la Sorella. Anche la Sposa A Gliubovza od stida ne mogla. 4 Sarebbev’ita; ma rossor trattienla. 5 Die Bemühung um eine möglichst genaue Wiedergabe des mündlichen Ausdrucks, der Phoneme, wird in der Umschrift des Originals durch Fortis deutlich: Da die Laute nicht durchgehend dem lateinischen Alphabet entsprechen, werden sie nur bedingt der italienischen Orthographie angepasst. Während das später standardisierte „lj“ noch zum italienischen „gli“, der Frikativ „š“ zu „sc“ und „ć“ zu „ch“ wird, verwendet Fortis für das heutige „č“ das im Italienischen nicht gebräuchliche „ç“ und für „ž“ quasi den Platzhalter „x“. Zur Sicherheit fügt er der Umschrift die ersten vier Verse in glagolitischen und kyrillischen Buchstaben und schließlich im „Kursiv der Morlacken“ bei und bemerkt dazu: „Il corsivo de’ Morlacchi è men bene ortografato, ma mantiene più la verità della loro qualunque siasi pronunzia, da cui nel testo io mi sono un pò allontanato.“ 6 Den Rückgriff auf die fremde Schrift begründet er gerade nicht mit der Orthographie oder einer möglichen Standardisierung der Ursprungssprache, sondern mit der Annäherung an die akustischen Eigentümlichkeiten oder - wie es Herder formulieren würde - mit dem Bemühen, möglichst „warme Abdrücke“ der oralen Tradition zu hinterlassen. 7 So kommt bereits im ersten Dokument einer komplexen Überlieferungsgeschichte die Schwierigkeit um die schriftliche Reproduktion von Mündlichkeit zum Ausdruck. 8 Die verschiedenen Schriftvarianten unterstreichen den Befund, dass sich in jede „Umschrift“ immer schon eine Differenz zum „Original“ einschreibt. Ihr ist immer schon der Medienwechsel vom Akustischen ins Visuelle inhärent. Ansonsten müsste Fortis nicht eingestehen, dass er sich in seinem eigenen Text von der Aussprache wiederum „entfernen“ musste. 4 Viaggio in Dalmazia dell’Abate Alberto Fortis. Vol. Primo. In Venezia. Presso Alvise Milocco, all’ Apolline 1774, S. 98. Im Folgenden als „Fortis“ angeführt. 5 Fortis, S. 99. 6 Fortis, S. 104. 7 Herder: Stimmen der Völker in Liedern, S. 163. 8 Über die Überlieferungsgeschichte dieses Gesangs gibt es eine lange Sekundärliteraturliste, welche in einer der letzten, jedoch vollständigsten Besprechung zu finden ist: Milović, Jevto M.: Goethe, seine Zeitgenossen und die serbokroatische Volkspoesie. Leipzig: O. Harrassowitz 1941. Es fällt auf, wie sich die wissenschaftliche Verarbeitung der literarischen Rezeption auf die Jahrhundertwende um 1900 und auf die folgenden 30er-Jahre konzentriert und erst wieder die letzten Jahre aufgenommen worden ist. Dazu weiter unten. <?page no="27"?> 27 Zwischen Halbmond und Markuslöwen Die Differenz potenziert sich dann bereits in der der ersten Übersetzung: Das trochäische Versmaß mit einer Zäsur nach der vierten und nach der letzten Silbe des Verses, des sogenannten „deseterac“, des Zehnsilbers, überträgt Fortis durchgehend in den verbreitesten Vers des Italienischen, in einen „endecasillabo“, in einen Elfsilber. Dieser weist zwar ähnlich wie das Original Zäsuren im Versinnern auf, setzt sich aber mit seinen Enjambements deutlich davon ab. Dadurch entsprechen sich die Verse nicht mehr, Verschiebungen werden zur Regel. Zwischen dem supponiert „mündlichen“ Original und der Übersetzung schreibt sich eine mehrfach induzierte Distanz ein: die Distanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Medienwechsel), zwischen Original- und Zielsprache (Übersetzung) sowie zwischen ursprünglichem und neuem Metrum (Form). Dessen ist sich der Ethnologe Fortis durchaus bewusst und problematisiert den Sachverhalt auch dementsprechend. In der Übersetzung von August Clemens Werthes vergrößert sich die Distanz zwischen Original- und Zielversion des „Klaggesangs“ ein zusätzliches Mal: Was ist im grünen Wald dort jenes Weisse? Schnee? Oder Schwäne? sei es Schnee: er müßte geschmolzen endlich sein, und Schwäne wären davon geflogen […]. 9 Werthes zieht nur noch die Übersetzung von Fortis und nicht mehr die Umschrift aus dem Morlackischen heran. Er belässt den italienischen „endecasillabo“ und bringt ihn in das klassische Versmaß des deutschen Dramas seiner Zeit, in den Blankvers. Zudem stellt er nochmals die Syntax um und „entfernt sich“ damit noch mehr vom „Original“: So kommt es gleich eingangs zu einer Inversion von „bjeli“ [„biancheggia“] und „u gorje zelenoj“ [„nel verde bosco“], indem die lokal-adverbiale Präzisierung „im grünen Wald“ dem Subjekt „jenes Weisse“ vorangestellt wird. Die Distanz zwischen Original und Übersetzung vergrößert sich unweigerlich. Hat nun Goethe diese Distanz wieder verringern können? Zum Vergleich greifen wir in der Überlieferung vor, indem wir den von Karadžić für sein „kleines serbisch-slavisches Volksliederbuch“ im Jahre 1814 wieder neu transkribierten „Klaggesang“ zitieren: Was ist weißes dort am grünen Walde? Šta se b’jeli u gori zelenoj? Ist es Schnee wohl, oder sind es Schwäne? Al’ je snijeg, al’ su labudovi? Wär’es Schnee da, wäre weggeschmolzen, Da je snijeg, već bi okopnio, Wären’s Schwäne, wären weggeflogen. Labudovi već bi poletjeli; Ist kein Schnee nicht, es sind keine Schwäne, Nit’ je snijeg, nit’ su labudovi, 9 Werthes, August Clemens: Die Sitten der Morlacken aus dem Italienischen übersetzt. Bern 1775. Nach Miklosich: Über Goethe’s Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga. Geschichte des Originaltextes und der Übersetzungen. Sitzungsbericht der phil.hist. Clase der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften 103, Wien 1883, S. 413-490, S. 444f. Vgl. zur Quellenlage zusätzlich Čurčin, Milan: Das serbische Volklied in der deutschen Literatur. Leipzig: Gustav Fock 1905, S. 45. <?page no="28"?> 28 Boris Previšić ’S ist der Glanz der Zelten Asan=Aga; Nego šator age Hasan-age, Niederliegt er drein an seiner Wunde. On boluje od ljutijeh rana, Ihn besucht die Mutter und die Schwester Oblazi ga mati i sestrica, Schamhaft säumt sein Weib zu kommen. A ljubovca od stida ne mogla. Als nun seine Wunde linder wurde Kad li mu je ranam’ bolje bilo, Ließ er seinem treuen Weibe sagen: On poruči vjernoj ljubi svojoj: „Harre mein nicht mehr an meinem Hofe, „Ne čekaj me u dvoru b’jelomu, Nicht am Hofe, u. nicht bei den meinen.“ 10 „Ni u dvoru, ni u rodu momu.“ 11 Erstaunlicherweise übernimmt Goethe nicht nur das Versmaß des südslawischen Zehnsilbers, des „deseterac“, sondern auch die Zäsuren nach der vierten und letzten Silbe in jedem Vers. Damit macht er die zahlreichen Enjambements von Fortis und Werthes rückgängig und nähert sich metrisch wieder deutlich dem „Original“, das in fast schablonenartiger Eintönigkeit immer dasselbe strikt eingehaltene Versmaß von Vers zu Vers wiederholt. Man muss davon ausgehen, dass Goethe für seine Übersetzung auf das von Fortis transkribierte „Original“ zurückgegriffen hat. Dennoch behauptet einer der ersten Philologen, der sich mit dem „Klaggesang“ befasst, die Übersetzung beruhe „nicht auf einer Erkenntniß des serbischen Metrums, das nur im Singen erkennbar wird, beim Lesen und Recitieren nicht hervortritt“. 12 Doch auch ohne Kenntnis der Sprache fallen rein formal im „Original“ von Fortis durch die Wiederholung der Wörter „bjeli“ und „snjezi“ auf die dritte und vierte Silbe, durch die häufigen Kommata nach der vierten Silbe und durch die Satzanfänge zu Beginn der Verse sowohl das trochäische Grundmaß als auch die regelmäßige Zäsurierung auf. Der Philologe unterschätzt selbst hundert Jahre nach der Publikation von Herders Volksliedern die schriftliche Version. So wird in der wissenschaftlichen Rezeption deutlich, wie sehr der Medienwechsel vom rein Akustischen ins Visuelle der Transkription als Verlust taxiert wird. Ja, man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Da der Philologe behauptet, die rein akustische Realisierung im „Recitieren“ konturiere die metrische Vorgabe noch nicht deutlich genug, sondern erst die musikalische Realisierung im „Singen“, ist selbst bei der akustischen Realisierung zwischen ursprünglich musikalischem Gesang und skizzenhafter - quasi melodieloser - Rezitation zu unterscheiden. Aus dieser Sicht vergrößert sich der Abstand zwischen Original und Übersetzung nochmals, weil sich zusätzlich die Differenz zwischen Musik und Sprache einschreibt. Es ist nicht ganz unwichtig, in diesem Kontext zu betonen, dass die südslawische Dichtung selbst in epischer Länge stets musikalisiert in Begleitung 10 Herder, Johann Gottfried: Volkslieder I. Drittes Buch (1778), in: Ders.: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Werke, Band 3. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt/ Main: Bibliothek deutscher Klassiker 1990, S. 213. 11 „Hasanaginica“, in: Karadžić, Vuk: Srpske narodne pesme. Band 3, Nr. 80, Beograd: Nolit 1988, S. 379. 12 Miklosich: Über Goethe’s Klaggesang, S. 454. <?page no="29"?> 29 Zwischen Halbmond und Markuslöwen der einseitigen Gusla vorgetragen wird, die der Sänger selber spielt. Dass sogar die „Homerische Frage“ an dieser Dichtung verhandelt worden ist, zeigt ihre besondere Vortragsart. In der musikalisierten Form der Dichtung geht die Forschung noch eher davon aus, dass es sich um eine ursprüngliche Art von Volksdichtung handelt, in welcher der Dichter lediglich als Medium figuriert. In der Form der „sanglichen Ballade“ koinzidiert ein doppelter musikalischer Effekt zum einen auf allgemeiner, zum anderen auf spezifischer Ebene: Die bekannte musikalische Gedichtform mit ihrer möglichst verknappten Handlung aus den deutschsprachigen und umliegenden Ländern, wie sie allgemein den Volksliedsammlern wie Herder bekannt ist, trifft im „Klaggesang“ auf eine bestimmte Form von Tradierung, die noch fremd wirkt und die man selbst auf Homer zurückzuführen vermeint. 13 Kein Wunder, machen sich noch in der Zwischenkriegszeit amerikanische Altphilologen in das damalige Jugoslawien auf, um diesen Gesang zu sammeln und im Verbund mit den besten Musikern und Linguisten der Zeit, u.a. mit Béla Bartók und Roman Jakobson herauszugeben. 14 Ihr Interesse liegt nicht primär im Südslawischen, sondern an der exquisiten Mündlichkeit, welche auf dem Stil von Homers Dichtung beruhen soll. Mit anderen Worten: Die südslawische Volksdichtung steht Modell dafür, wie Homer geklungen haben mag. 15 Der Prozess der zusehends erfolgten Verschriftlichung und Übersetzung der südslawischen Dichtung hat erst das Bewusstsein für ein ganz besonderes Residuum in Südosteuropa geschärft. 13 Dies wiederum veranlasst den Herausgeber Erich Trunz zur Definition der Ballade in einer sehr musikalisierten Metaphorik: „Es ist, als sei der Dichter hier nur ein Organ gewesen. Es ist Dichtung des Volkes, hindurchgegangen durch sein Ich, das in besonderen Augenblicken so gestimmt war, daß es diese Klänge hervorbringen konnte.“ Trunz, Erich: „Anmerkungen zu den Balladen“, in: Goethe, Johann Wolfgang von: Werke 1. Gedichte und Epen 1, textkritisch durchges. u. komm. v. Erich Trunk. München: DTV 1998, S. 508. 14 Der Band wurde von Harvard University Press gemeinsam mit der serbischen Akademie der Wissenschaften gleichzeitig in Cambridge, Massachusetts und in Belgrad verlegt: Serbocroatian Heroic Songs, collected by Milman Parry, edited and translated by Albert Bates Lord, Volume One, Novi Pazar: English Translations, with musical transcriptions by Béla Bartók and prefaces by John H. Finley, JR. and Roman Jakobson. Cambridge-Belgrade: Harvard University Press and the Serbian Academy of Sciences 1954. Vgl. dazu den Artikel von Fehr, Johannes: „‚Die sogenannte homerische Frage‘. Eine Nachstellung.“, in: Haas, Norbert/ Nägele, Rainer/ Rheinberger, Hans-Jörg (Hg.): Liechtensteiner Exkurse VI, Virtuosität. Eggingen: Edition Isele2007, S. 29-60. 15 Entsprechend vermerkt der Liedersammler Milman Parry in der Einleitung zur Sammlung: „My first studies were on the style of the Homeric poems and led me to understand that so highly formulaic a style could be only traditional. I failed, however, at the time to understand as fully as I should have that a style such as that of Homer must not only be traditional but also must be oral. It was largely due to the remarks of my teacher M. Antoine Meillet that I came to see, dimly at first, that a true understanding of the Homeric poems could only come with a full understanding of the nature of oral poetry.“ (Serbocroatian Heroic Songs, S. 3, Fn 2) <?page no="30"?> 30 Boris Previšić Selbst wenn nicht geklärt ist, wie Goethe zu dieser Annäherung ans Original kommt, so ist dem Vergleich zwischen der „morlackischen“ und der deutschen Version zu entnehmen, dass er sich sichtlich um eine metrische Übereinstimmung bemüht. Dabei greift er auf ein im Deutschen unbekanntes Metrum zurück und schafft ein neues, welches Herder in seinen Übersetzungen übernimmt und Goethe selber in der Folge für eigene Gedichte braucht. Bei Herder bleibt der trochäische fünfhebige Vers auf Übertragungen aus dem „Morlackischen“ beschränkt: Es handelt sich um den „Gesang von Milos Cobilich und Vuko Brankowich“ noch im ersten „Theil“ der Volkslieder und um „Radoslaus“ sowie „Die schöne Dollmetscherin“. 16 Es sind alles Balladen, die Fortis gesammelt hat. Bemerkenswert ist Herders Zusatz nach der Quellenangabe, ihre „Anzeige“ sei „nicht Dichtung, sondern Wahrheit“, 17 als ob der Übersetzer und Herausgeber befürchtet, man könnte an der Herkunft zweifeln. Er deutet damit an, wie unbekannt das „Morlackische“ im Unterschied zum „Dänischen“, „Böhmischen“, „Schweizerischen“ etc. ist und darum ins Reich reiner Fantasie verbannt zu werden droht oder direkt dem Übersetzer als Autor zugeschrieben werden könnte. Dass Goethe selbst die Trennschärfe zwischen „Dichtung und Wahrheit“ aus der Sammlung Herders gewinnt und autobiographisch wieder umspielt, ist das eine. Das andere betrifft die Ballade selbst: So trifft man bei Herder - ein Volkslied vor dem „morlackischen“ „Radoslaus“ - auf die Vorlage des „Erlkönigs“, den Goethe vier Jahre später, 1882, publiziert, auf „Erlkönigs Tochter“: „Herr Olaf reitet spät und weit.“ 18 Der Rückgriff Goethes auf dieses Konglomerat verschiedener Balladen deutet zum einen an, aus welchem Quellenmaterial er 1771 nach seiner Entdeckung der deutschen Volksballade aus dem 15. und 16. Jahrhundert zusätzlich zurückgreift. 19 Zum anderen wird in der metrischen Übernahme in die eigene Dichtung deutlich, dass ein bestimmtes Versmaß nicht einer bestimmten Dichtungsgattung zugeordnet werden muss; vielmehr bestimmt es einen bestimmten „Ton“. Umgekehrt kann die Ballade je nach Herkunft in verschiedenen Versmaßen gehalten sein. Das trochäische Versmaß verwendet Goethe nicht für die Balladenform, sondern durchwegs für Liebesgedichte: Das erste Gedicht, welches das Metrum des „Klaggesangs“ übernimmt, findet man im Brief vom 2. November 1776 an Charlotte von Stein. Es beginnt mit den Worten „Wer vernimmt mich? ach, wem soll ich’s klagen? “ 20 Der fallende trochäische Tonfall geht so Hand in Hand mit der seelischen Verfassung des lyri- 16 Herder: Volkslieder I.2.8, II.2.28 und II.2.29. 17 Als Vorbemerkung zu II.2.29, Herder: Volkslieder, S. 287. 18 „Erlkönigs Tochter / Dänisch“, in: Herder: Volkslieder, II.2.27. 19 So teilt er in einem Brief vom September 1771 an Herder mit, er sei auf der Suche nach Volksliedern im Elsaß auf zwölf Balladen gestoßen. Davon werden drei in Herders Sammlung aufgenommen. HA 1, S. 507. 20 „An den Geist des Johannes Secundus“. Dieses Gedicht wird 1789 unter dem Titel „Liebesbedürfnis“ erstmals gedruckt. <?page no="31"?> 31 Zwischen Halbmond und Markuslöwen schen Ichs, wie sie noch über zehn Jahre später in den Gedichten der Italienreise, welche ebenfalls in diesem Versmaß gehalten sind, zum Ausdruck kommt, so in „Amor als Landschaftsmaler“ (1787), „Morgenklagen“ (1788) und „Der Besuch“ (1788). Die Übersetzung der „Hasanaginica“ wird im ganzen deutschsprachigen Raum enthusiastisch rezipiert und hinterlässt bei den Zeitgenossen Goethes einen bleibenden Eindruck. 21 Dass noch vierzig Jahre nach der ersten Veröffentlichung davon berichtet wird, ist bezeichnend. So schreibt die verwitwete Charlotte von Schiller an Ludwig von Knebel einen Brief, in dem sie ihm von ihrer Tochter Emilie Henriette berichtet, welche „das morlackische Lied gelernt hat“ und „mit größter Rührung über die Gemahlin des Agan Asa [sic]“ zu ihr gekommen sei. 22 Zwei Jahre nach diesem Bericht gibt Goethe Andeutungen zur ‚Auslegung‘ einer Ballade, wobei er auch den „Klaggesang“ im Visier hat: Die Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch zu sein; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. 23 Neben der klar metrisierten Sprache prägen die verschiedenen lautlichen Verfahren von Alliteration, Anapher etc., aber auch die Zentrierung um die eine Figur der „Hasanaginica“ den lyrischen Ton der Ballade. Wie bereits Camilla Lucerna zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausarbeitet, bilden das affektive Zentrum der Säugling und seine Mutter, die eigentlich nicht voneinander zu trennen sind. 24 Wie man dem im Folgenden skizzierten Plot relativ leicht ablesen kann, wird das epische Element auf das Wesentliche reduziert. Es gibt kaum Erklärungen für die unerwarteten Beschlüsse und Handlungen mit desaströsen Folgen. Die Erzählung bleibt daher elliptisch und enigmatisch. 25 Das metrische Maß des trochäischen Zehnsilbers kennt man schließlich in der Südslavia als Grundform des dramatischen Verses. 21 Milović: Goethe, S. 1f. Siehe dazu auch Schubert, Gabriella: „Das ‚goldene Zeitalter‘ deutsch-südslawischer, insbesondere deutsch-serbischer kultureller Wechselbeziehungen. Motivationen und Wirkungen.“ In: Zeitschrift für Balkanologie 44.1 (2008), S. 68-94. 22 Briefe von Schiller’s Gattin an einen vertrauten Freund, hg. v. Heinrich Düntzer. Leipzig: Brockhaus 1856, S. 448f. 23 Goethe, Johann Wolfgang von: Ballade, Betrachtung und Auslegung. Erstmals publiziert in: Über Kunst und Altertum, 3/ 1 (1821), in: MA 1, S. 400. 24 Lucerna, Camilla: Die südslavische Ballade von Asan Agas Gattin und ihre Nachbildung durch Goethe. Berlin: A. Duncker 1905, S. 48. 25 Burkhart, Dagmar: „Paradoxical Communication. The Bosnian Oral Ballad ‚Hasanaginica‘ as a Pretext for Literary Texts.“, in: Russian Literature 59 (2006), S. 25-39, S. 33. <?page no="32"?> 32 Boris Previšić Entsprechend ist der Plot der Ballade - ganz im Sinne Goethes - dramatisch strukturiert: In der Exposition wird erzählt, wie Asan Aga in einer Schlacht schwer verwundet und in einem Zelt im Kriegslager von seiner Schwester und seiner Mutter verpflegt wird. Seine Frau jedoch hält sich aus Scham zurück und erscheint nicht bei ihm. Dem folgt die dramatische Steigerung. Denn wie er sich von seinen Wunden erholt, lässt er seine Frau wissen, dass er sie nicht mehr zu sehen wünsche. Als sie zu Hause „der Pferde Stampfen vor der Thüre“ vernimmt, möchte sie sich gleich vom Turm stürzen. Doch nicht ihr Mann, sondern ihr Bruder, der Beg Pintorowitsch, ist mit ihren Kindern angekommen. Er überbringt ihr den Scheidungsbrief ihres Mannes. Sie küsst ihre beiden Knaben und ihre beiden Mädchen: „Aber, ach! vom Säugling in der Wiege / Kann sie sich im bittern Schmerz nicht reissen.“ Ihr Bruder nimmt sie bei der Hand, bittet sie, die Kinder zu verlassen, und geht mit ihr in ihr Vaterhaus. Nach kaum sieben Tagen wird sie „von viel grossen Herren“ umworben - auch vom größten der Region: vom „Cadi“ aus „Imoski“. Hier kommt es zur dramatischen Klimax: Trotz der ehrenvollen Partie bittet sie ihren Bruder, sie nicht weg zu geben, da ihr, würde sie ihre Kinder wieder erblicken, das Herz bräche. Damit beginnt der Fall: Denn der Bruder ist entschlossen, „Imoskis Cadi sie zu trauen“. Sie verlangt aber, der Cadi möge wenigstens, wenn er sie mit Hochzeitsgästen abholen kommt, einen Schleier mitbringen, damit sie sich vor „Asans Haus verhülle, / Meine lieben Waisen nicht zu sehen“. Dennoch erblicken sie ihre Kinder, die ihr zurufen, sie solle doch zurückkehren. Sie bittet die Gäste, ihre Kinder nochmals zu sehen und zu beschenken, was zur Katastrophe führt: Wie sie ihren Söhnen „goldgestickte Stiefel“, ihren Töchtern „lange reiche Kleider“ und dem Säugling „für die Zukunft auch ein Röckchen“ überreicht, ruft Asan Aga die Kinder zurück: „Kehr zu mir, ihr Lieben armen Kleinen, / Eurer Mutter Brust ist Eisen worden, / Fest verschlossen, kann nicht Mitleid fühlen! “ Hasanaginica stürzt bleich zu Boden und stirbt auf der Stelle, als „sie ihre Kinder vor sich fliehn sah“. Damit vereinigt die Ballade in idealer Mischform Lyrik, Epik und Dramatik. Hier sind „die Elemente“ - wie Goethe in seinem Fragment fortfährt - „noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen […], das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen“. 26 Dennoch besteht eine konzeptuelle Spannung zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt von Goethes Überlegung, die es genauer unter die Lupe zu nehmen gilt: Während er eingangs „etwas Mysterioses“ „in der Behandlung“ des Balladenstoffs sieht, so spricht er danach von seiner Allgemeinverständlichkeit „bei uns Deutschen“. 27 Zu fragen ist aber in diesem Kontext, ob nicht die Universalisierung eines bestimmten Stoffes, welche durch die elliptische Epik der Ballade möglich wird, die kulturellen Spezifika bestimmter Handlungsmuster verdeckt. So geht Dagmar Burkhart 26 Goethe: Ballade, Betrachtung und Auslegung, S. 400. 27 Ebd. <?page no="33"?> 33 Zwischen Halbmond und Markuslöwen - anlehnend an Watzlawiks Kommunikationstheorie - in ihrem Beitrag zur „Hasanaginica“ davon aus, dass sich die Frau des Asan Aga von Anfang an in einer Double-Bind-Situation befindet: „[S]hould she go to her injured husband, she transgresses the code of honour and behaves wrongly; should she not got to him (as a result of her feelings of shame), she is also damned.“ 28 Einerseits verbietet ihr die „patriarchal-muslimische“ Konvention die Wundpflege ihres Manns, andererseits ist der Wunsch des Asan Aga, dass sie zu ihm kommt, performativer Ausdruck dieser Verfügungsgewalt über die Frau. In jedem Fall opponiert die Hasanaginica gegen das System. In dieser psychologisch-systemischen Ausdeutung ist die Tragik universell deutbar. Sie besteht in der Peripetie, welche die Scham der Frau des Asan Aga auslöst. Was in der deutschsprachigen Rezeption als unerklärlich und somit als unberechenbares wie auch als umso tragischeres allgemeines Schicksal erscheint, ist erst aus einer Double-Bind-Situation gegenseitigen Missverstehens innerhalb einer spezifischen synkretischen Kultursituation erklärbar, deren Spuren schon Fortis und mit ihm Goethe in ihren Übersetzungen unwissentlich verwischen. Dem deutschen Publikum stellen sich zwei Fragen: Warum empfindet die namenlose Frau von Asan Aga Scham, ihrem Mann die Wunden zu pflegen? Und warum erhält sie von ihrem Mann direkt darauf ohne großes Federlesen die Scheidung? Die kulturspezifischen und historisch kontextualisierenden Antworten geben Miranda Jakiša und Christoph Deupmann: Erstens bestehe zwischen Eheleuten „im christlich-balkanischen Kontext“ 29 eine große Distanz; man empfindet Scham, Intimitäten, die auch die Wundpflege miteinschließen, öffentlich zu zeigen. Zweitens setze Asan Aga nur sein auf patriarchalen Strukturen des Balkans ruhendes islamisches Recht durch, sich - im Unterschied zum christlichen Ehesakrament - von seiner Frau relativ leicht zu scheiden. Die paradoxale Situation entsteht in der kulturell differenzierenden Analyse nicht aus dem Konflikt zwischen „patriarchal-muslimischer“ Konvention und privater Emotion. Vielmehr seien verschiedene Konventionen, zwischen deren Fronten die Hasanaginica gerät, am Werk: Hier ein „christlich-balkanischer Patriarchismus“, dort ein islamisches Recht. Folgt man der historischen Kontextualisierung durch Noel Malcolm, so lässt sich der Zeitpunkt der Balladenhandlung auf die Jahre 1645 und 1646 datieren, in denen der Krieg zwischen Venedig und Osmanischem Reich um Kreta und um die Vorherrschaft in der östlichen Mittelmeerzone (1645-1669) im dalmatinischen Hinterland am heftigsten wütete. Bei der in der Ballade genannten Stadt „Imoski“ handelt es sich um eine osmanische Bastion, wo die Grenze zwischen Hoher Pforte und Markuslöwen „von der Mitte des 15. 28 Burkhart: „Paradoxical Communication in the ‚Hasanaginica‘“, S. 32f. 29 Jakiša, Miranda/ Deupmann, Christoph: „Die stolze Scham der Hasanaginica. Goethes Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga und die südslavische Vorlage als Archiv kultursynkretistischer Prozesse“, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Jg. 36, Heft 3-4 (2004), S. 379-402, S. 392. <?page no="34"?> 34 Boris Previšić bis ins 18. Jahrhundert hinein“ durchging. Das historische Vorbild für den „Asan Aga“ bildet mit größter Wahrscheinlichkeit Hasanaga Arapović, der als „dizdar“, d.h. als Burghauptmann seinen Militärdienst für das Osmanische Reich leistete. 30 Historisch gesehen, handelt es sich demnach um einen Konflikt zwischen religiös und regional geprägten Verhaltensmustern und -regeln im einstigen Grenzgebiet zwischen osmanischer und venezianischer Einflusszone im dalmatinischen Hinterland der „Morlacken“. Warum nennt Goethe den „Klaggesang der Frauen des Asan Aga“, wie er in Herders Volksliedern erscheint, eigentlich „morlackisch“? Im Brief vom 17. Dezember 1823 von Jernej Kopitar an Jacob Grimm findet man zwar eine plausible Erklärung: „Die Morlaken sind reine Slawen (Serben und Croaten) […]. Der türkische und katholische Nachbar & Bruder nennt den griechischen Serben einen Walachen, daher die Morlachen, aut Walachen am Meere, aut Maurowalachen (schwarzen) […].“ 31 Doch mit der etymologischen Herleitung (von „Walachen“) scheint der Begriff noch nicht fassbar; ebenso wenig aufschlussreich ist die Überschreibung des Begriffs mit „Serben und Croaten“. Die Briefstelle Kopitars ist dennoch interessant, weil man bereits einen Hinweis erhält: „Morlacke“ ist in erster Linie eine Fremdzuschreibung zur Selbstdistinktion der Küstenbewohner von der Bevölkerung im Hinterland. Sogar der Begründer der slawischen Philologie, Josef Dobrovský, „ein geschulter und anerkannter Philologe“, kennt verschiedene Bezeichnungen für eine vermeintlich einheitliche Sprache im südslawischen Raum. 32 Rein linguistisch könnte man sagen, dass die - heute auch nicht mehr politisch korrekte - Bezeichnung des „Serbokroatischen“ das 30 Jakiša/ Deupmann: „Die stolze Scham der Hasanaginica“, S. 390. Vgl. dazu Malcolm, Noel: Bosnia - A Short History. Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 82f., aber auch Stasević, Milenko: „Objektivna stvarnost i lirska fikcija. Neke napomene za obradu lirskoepske pjesme ‚Hasanaginica‘“, in: Književnost i Jezik 23 (1976), S. 352- 359, S. 356. 31 Kopitar, Jernej, in: Vasmer, Max: B. Kopitars Briefwechsel mit Jakob Grimm. Köln- Wien: Böhlau 1987, S. 11. Denn „[w]enn von der serbischen Dichtung die Rede war, mußte man schon damit beginnen, den deutschen Lesern zu erklären, wer eigentlich diese ‚Morlaken ‘ , diese ‚Ratzen ‘ waren, die das romantische Europa auf einmal mit gefühlvollen Volksliedern und blutigen Aufständen gegen die Türken überraschten.“ Mojašević, Miljan: Jacob Grimm und die serbische Literatur und Kultur. Marburg: Hitzeroth 1990, S. 12. 32 Mojašević: Jacob Grimm, S. 23. „[V]ielsagend ist es […] für jene Zeit, daß auch Dobrovský schwankt, wenn es gilt, sich für eine der Benennungen: dalmatinisch, illyrisch, kroatisch oder serbisch entschließen zu müssen.“ Entsprechend wertet Mojašević die Vermittlung des bisher dargestellten Vierergespanns im Hinblick auf eine Vereindeutigung: „Vielsagend nämlich, weil auch diesem Schwanken zu entnehmen ist, wie sehr die gemeinsame Wirkung Kopitars, Karadžićs, Grimms und dann auch Goethes dazu beigetragen hat, statt des unklaren Begriffs illyrisch den Begriff serbisch anzunehmen, der tatsächlich die serbokroatisch Sprechenden umfaßt und nunmehr bei den Serben als kürzere Form der [sic] Zusammensetzung serbokroatisch wie bei den Kroaten kroatisch gebraucht wird und dabei eine dieselbe Sprache bezeichnet.“ (Ebd., S. 21.) <?page no="35"?> 35 Zwischen Halbmond und Markuslöwen „Illyrische“ oder das „Morlackische“ ersetzt. 33 Doch damit wird die kulturdistinktive Definition durch Kopitar wieder unterschlagen. Folgt man nämlich der Argumentation Larry Wolffs, so handelt es sich im ausgehenden 18.- Jahrhundert tatsächlich um die slawische Bevölkerung im venezianisch-dalmatinischen Hinterland. Die Fremdzuschreibung schwankt zwischen barbarisierender Stereotypisierung und rousseauistischer Verherrlichung, welche bis zur Verbindung der „Morlacken“ mit den heroischen Gestalten Homers reicht. 34 Hier wie kaum in einem anderen geographisch-historischen Kontext tritt die Konstruiertheit der Begrifflichkeit und ihre Funktion von Alterierung deutlich zu Tage. Wie sich die Said’sche Begriffsprägung des „Orientalismus“ nicht primär auf die Bezeichnung einer Weltgegend bezieht, sondern eine bestimmte imperiale Funktion der Wissenschaften und der nachziehenden oder parallel erfolgten machtpolitischen Kolonialisierungen Europas begründet, so lässt sich ein ähnlicher Begriff im 18. Jahrhundert ausfindig machen: den „Morlacchismo“. Es handelt sich hier um eine Funktion, welche sich zunächst auf die Supremität der dalmatinischen Küstenbevölkerung in Absetzung von den „Morlacken“ im Hinterland bezieht, später aber - gegen Ende des 18. Jahrhunderts - eine positive Umwertung erfährt, indem sie sich auf das Herder’sche Projekt der Volksliedsammlungen, welche es durchwegs mit dem „Halbwilden“ Homer aufnehmen können, bezieht. 35 Der Titel des Artikels, den Larry Wolff gleich eingangs in seinem Artikel erwähnt und den ein Küstenbewohner Dalmatiens aus Split namens Giulio Bajamonti 1797 in der damaligen venezianischen Verkehrssprache verfasst, kehrt die Beziehung zwischen südslawischer Epik und ihrer Anlehnung an Homer gleichsam um und lautet „Il Morlacchismo d’Omero“. Es geht nicht mehr um Fremd-, sondern um Eigenzuschreibung. Der Autor möchte sich nicht mehr gegenüber den „Morlacken“ aus dem Hinterland abgrenzen, sondern sich mit ihnen identifizieren, um so auch am Erbe Homers direkt Anteil zu haben. 36 33 Dass aber das Konzept des Illyrismus - weit über die romantische Bewegung des 19. Jahrhunderts hinaus - noch für das titoistische Jugoslawien staatstragende Idee ist, welche heute wiederum die Albaner insbesondere im Kosovo und in Makedonien für sich in Anspruch nehmen, zeigen beispielweise die „Fragmente aus dem Spätherbst 1944“ von Miroslav Krleža, welche unter dem Titel „Illyricum sacrum“ veröffentlicht wurden. 34 Wolff, Larry: „The Rise and Fall of ‚Morlacchismo‘. South Slavic Identity in the Mountains of Dalmatia“, in: Nairmark, Norman M./ Case, Holly (Hg.): Yugoslavia and Its Historians. Understanding the Balkan Wars of the 1990s. Stanford: Stanford University Press 2003, S. 37-52, S. 37f. 35 Wenn Herder in seiner Einführung zu den nordischen Liedern die Griechen zu den „Halbwilden“ zählt, so wendet er sich damit gegen die Sonderrolle und die klassizistische Auffassung der Antike. Diesen Sachverhalt verdeutlicht er anhand des „Lieds des litauischen Mädchens“, das ebenso von Sappho stammen könnte. Herder, Johann Gottfried: „Einführung zum Vierten Buch ‚Nordische Lieder: Ausweg zu Liedern fremder Völker.‘“, in: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Werke, Band 3. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 65-67. 36 Vgl. Wolff: „The Rise and Fall of Morlacchismo“, S. 37. <?page no="36"?> 36 Boris Previšić Zur Zeit der Rezeption durch Fortis findet offenbar eine deutliche Umwertung des „Morlackischen“ statt. Das subalterne Volk an der imperialen Peripherie Venedigs besetzt für den Ethnologen und Volksliedsammler einen arkadischen Raum: „Yet ‚Morlacchia‘ was not so much a precise geographical place as an unfixed philosophical space, a kind of Arcadia.“ 37 Nichtsdestotrotz wird auch noch später im napoleonischen Zwischenspiel an der adriatischen Küste und ihrem Hinterland, in der illyrischen Provinz zwischen 1807 und 1813, den „Morlacken“ die tiefste Zivilisationsstufe zugeschrieben. 38 Offenbar ist der negative Stereotyp weiterhin latent vorhanden, wird beim erneuten imperialen Zugriff reaktiviert und so von Venedig auf Frankreich übertragen. Die Funktion der Zuschreibung schlägt auf zwei Seiten aus: Geht es um die venezianische beziehungsweise französische Herrschaftssicherung, so inferiorisiert die Bezeichnung die Bewohner an der imperialen Peripherie; wird die Bezeichnung jedoch zur Lokalisierung eines noch ursprünglichen und echten Volksgesangs eingesetzt, kommt dem „Morlackischen“ eine „superiorisierende“ Rolle zu. So zeichnet sich im „Morlackismus“ eine Vorform des negativ stereotypisierenden Balkanismus ab, gleichzeitig erfolgt aber dessen Utopisierung und Vorbildcharakter. Wenn nun Vuk Karadžić den „morlackischen“ „Klaggesang“ 1814 in seine erste Sammlung Mala prostonarodna pjesnarica aufnimmt und Goethe fast ein Jahrzehnt später im Aufsatz „Serbische Lieder“ über die Rückführung der Übersetzung in den Originalzustand nachdenkt, hat sich das Etikett (und damit die ethnische Zuschreibung) verändert, welches zwar nicht geeigneter sein sollte, aber die neuen politischen Verhältnisse nach dem Ersten Serbischen Aufstand (1804-1813) reflektiert. So wird die „Hasanagica“ zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwar „demorlackisiert“ 39 und „serbisiert“. 40 Damit ist noch kein direkter nationaler Anspruch verbunden, sondern wird erst die sprachliche Zuordnung indiziert. Doch mit der zunehmenden politischen Inanspruchnahme der Sprache zur Definition nationaler Exklusivität im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts werden ebenso „kroatische“ und „bosnische“ Forderungen gestellt. 41 Das „Morlackische“ verschwindet aber von der Bildfläche und überlebt im 19. Jahrhundert nur noch marginal als Synonym für eine ländliche, eventuell romanisch geprägte Bevölkerung in Dalmatien, wie noch das Kronprinzenwerk Österreich-Ungarns aus dem Jahre 1892 zu belegen versucht. 42 37 Ebd., S. 41. 38 Ebd., S. 43. 39 Vgl. in Anlehnung an die Begriffsbildung „démorlaquisé“, wie Wolff sie gebraucht: „The Rise and Fall of Morlacchismo“, S. 44. 40 Ebd., S. 45. 41 So erklärt Camilla Lucerna aus Zagreb 1905, es handle sich bei der „Hasanaginica“ um ein kroatisches Stück Literatur, da es in dieser Sprache geschrieben sei, auch wenn die Ballade von moslemischen Südslawen handle. Lucerna: Die südslavische Ballade von Asan Agas Gattin, S. 65f. 42 Vipauz, Karl: „Zur Volkskunde. Physische Beschaffenheit der Bevölkerung“, in: Die <?page no="37"?> 37 Zwischen Halbmond und Markuslöwen Der Konflikt in der Ballade hat auch eine soziale Dimension. Aus Goethes Übersetzung wird nicht ersichtlich, dass der Bruder wie auch der Vater der Frau von Asan Aga ein Beg ist, der ursprünglich zum christlichen Adel gehörte, durch die Islamisierung im osmanischen Reich aber seine soziale Position durch Konversion halten konnte. Die Familie der Frau ist zwar christlicher Herkunft, aber sozial dem Aga, dem militärischen Führer, überlegen. 43 Die Scham seiner Frau, die Tochter eines Beg, interpretiert der Aga als soziale Unterlegenheit seinerseits, worauf er vom islamischen Recht Gebrauch macht, den Eheschluss mit einer guten Abfindung, nämlich mit der Mitgift, die sie damals in die Ehe gebracht hat, rückgängig zu machen. Mit diesem Befund bekundet schon Fortis Mühe und verkehrt den Sinn in der Anmerkung. Ihre Degradierung - aus Scham - steigert ihre Attraktivität unter den Bewerbern. Darum interessiert sich der oberste Richter und somit der ranghöchste Adlige der Region, der Kadi von Imotski, für sie. Man braucht ihr nicht schriftlich festzuhalten, dass sie wieder frei sei für andere Männer - wie das Fortis missversteht. 44 Umso mehr trifft der Entscheid des Aga auf Unverständnis beim Bruder. Seine Reaktion ist nicht Zorn und Entschlossenheit, wie dies schon die Übersetzung von Fortis suggeriert und Goethe ins Deutsche überträgt, als vielmehr Apathie und Schweigen. 45 Die Scham ist in ihrer doppelten Verschränkung von religiöser und sozialer Differenz für das Gegenüber - und sei es auch der Ehemann - nicht lesbar und drückt einerseits in der patriarchalen Struktur Zweifel am Selbstwert, andererseits in der sozialen Überlegenheit der Ehegattin Überheblichkeit des Gatten aus. Der Höhepunkt dieser „Peripetie österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Dalmatien-Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei 1892, S. 119-124. Vgl. dazu Wolff: „The Rise and Fall of Morlacchismo“, S. 45. 43 So verkürzt sich der in Fortis’ Umschrift lautende Vers „Bexe muçi: ne govori nista“ (v. 27, Fortis, S. 100) und in der Übersetzung „Il Begh nulla risponde“ bei Goethe nur noch auf „Schweigt der Bruder“ (v. 27). 44 So heißt es noch in der Umschrift des Originals, sie bekomme durch ihren Bruder einen Brief von Asan Aga, „Da uzimglie podpunno vjençanje“ (v. 30, Fortis, S. 100) - „dass sie nehme den vollen Brautpreis“. Fortis bringt sogar noch einen Erklärungsversuch in einer Anmerkung nach der Übersetzung im Gedicht an, wo es heißt, „Un foglio trae di libertade, ond’ ella / Ricoronarsi pienamente possa“ (v. 29f., Fortis S. 101), sowie noch eine genauere Übertragung: „L’originale: affinchè prenda con piena libertà coronazione (da Sposa novella) dopo che sarà ita con esso della Madre ne’ vestigi.“ (Fortis, S. 105) Bei Goethe ist dementsprechend nicht mehr von „Mitgift“ (von „vjençanje“) die Rede: „Daß sie kehre zu der Mutter Wohnung, / Frei sich einem andern zu ergeben“ (v. 30f.). 45 Es ist kein „ungestüme[r] Bruder“, der sie „[los]reißt“ (v. 37) von ihrem jüngsten Kind, wie es bei Goethe steht und auch Fortis in seiner Übersetzung behauptet: „Seco la trasse; / Il severo fratello a viva forza“ (v. 37f., Fortis, S. 101). Im Gegenteil: Sanftmut mit den dafür so typischen slawischen Diminutiven prägen die Szene: „Vech-je brataz za ruke uzeo, / I jedva je sinkom raztavio“ (Fortis, 37f., S. 100: „Schon nahm das Brüderchen sie bei den Händen / Und kaum trennte er sie vom Söhnlein“.) <?page no="38"?> 38 Boris Previšić von Herrschaft und Knechtschaft“ 46 wird im tödlichen Schluss erreicht: „Keine der Figuren verfügt über einen kulturell übergreifenden Code, der Mißverständnisse ausschließen könnte […].“ Was bleibt, ist „schweigsame Mehrstimmigkeit“, 47 die sich in der Potenzierung des Unverständnisses durch die Übersetzung strukturell fortsetzt, was letztlich das „Mysteriöse“ der südslawischen Ballade und damit die Faszination bei den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen Goethes nochmals steigert. Das Verwischen einer historisch und kulturell induzierten Kontextualisierung ermöglicht paradoxerweise eine vermeintliche Universalisierung und Anthropologisierung. Damit überträgt sich die Double-Bind-Situation innerhalb der Ballade auf die Beziehung zwischen Text und Rezeption: Die Nicht-Lesbarkeit des Gegenübers der jeweiligen Protagonisten innerhalb der Ballade überträgt sich auf die Nicht-Lesbarkeit der Ballade selbst. Damit bildet der „Klaggesang“ in seiner Festschreibung und Übersetzung eine ideale Projektionsfläche für eine allgemeine, anthropologisch universelle Schicksalsgemeinschaft. In seiner Empfehlung „der serbischen Poesie“ an Zelter 1825 hofft Goethe zwar auf „Einsicht desjenigen [zu] kommen um welches man bisher nur mit düsterm Vorurteil herumschwärmte“, 48 indem die Volkslieder in ihrer reinen Oralität nicht nur auf das Ohr angewiesen sind und nicht nur als „schmeichelnde Melodien, die in einfachen, einer geregelten Musik nicht anzupassenden Tönen einherfließen“, uneinsichtig bleiben, sondern als Schrift sichtbar werden: „Sehen wir aber endlich solche Gedichte geschrieben oder wohl gar gedruckt vor uns, so werden wir ihnen nur alsdann entschiedenen Wert beilegen, wenn sie auch Geist und Verstand, Einbildung und Erinnerungskraft aufregend beschäftigen.“ 49 Damit warnt zwar Goethe von der klanglichen Wirkung, die er selbst durch seine metrische Rückbindung ans Original induziert hat, und fordert einen allgemeineren Blick, der diese Dichtung selbst in neuen Kontexten fruchtbar macht. Die „Erinnerungskraft“, welche durch die analytische Beschäftigung mit dieser Art von verschriftlichten Volksliedern erzeugt wird, kontextualisiert den Text neu in der eigenen Rezeption. Nicht nur die kulturelle und historische Spezifik der supponierten Entstehungszeit der „Hasanaginica“ im 17. Jahrhundert spielt eine Rolle, sondern auch ihre Bedeutung zur Zeit ihrer Sammlung durch Fortis nach 1770 bis hin zu ihrer Einbettung ins Konzept der „Weltpoesie“, wie es Goethe in den 1820er-Jahren vorschwebt. Der Anspruch einer Universalisierung trägt damit auch sein historisches und kul- 46 Jakiša/ Deupmann: „Die stolze Scham der Hasanaganica“, S. 400. 47 Ebd., S. 402. 48 Brief Goethes an Zelter vom 11. April 1825, MA, 20.1, S. 837. Auch wenn die Empfehlung der serbischen Volkslieder von Goethe an Zelter noch nicht gefruchtet haben mag, so bemüht sich schon Karadžić selbst um Vertonungen, indem er beispielsweise „im zweiten Liederbuch von 1815 […] Noten von sechs Melodien veröffentlicht.“ Bojić, Vera: „Vuks serbische Volkslieder in der europäischen Musik“, in: Potthoff, Wilfried: Vuk Karadžić im europäischen Kontext. Heidelberg: Carl Winter 1990, S. 14-30, S. 16. 49 Goethe, Johann Wolfgang von: „Serbische Lieder“ (1825). MA 13.1, S. 408. <?page no="39"?> 39 Zwischen Halbmond und Markuslöwen turelles Datum. Was als spezifischer religiös-kultureller Synkretismus in der Entstehungszeit der Ballade festgemacht werden kann, wird nicht nur in der Übersetzung tendenziell unkenntlich gemacht, sondern auch auf neue kulturelle Paradigmen und Projektionsflächen um 1800 übertragen. Aus dieser Perspektive wird in der „Hasanaginica“ nicht einfach ein Konflikt zwischen balkanisch-christlichem und muslimischem Sozialcodex ausgetragen. Vielmehr gerät durch die tödliche Tragik die patriarchale Gesellschaftsnorm, welche sich gegen die ‚natürliche Ordnung‘ (der Mutterliebe) richtet, ins Visier. Der rousseauistische Ansatz (patriarchale Sozialnorm vs. matriarchale Naturordnung) verortet sich durchwegs in einer Ursprungsideologie, wie sie Fortis, Herder und Goethe vertreten, wenn sie mündlich tradiertes Volksgut sammeln. Das Familienzerwürfnis kann aber auf der zeitgenössischen Folie nochmals anders gedeutet werden: Während die Frau des Asan Aga eine traditionelle und überkommene Rolle wahrnimmt, indem die Scham in erster Linie gegen die Offenlegung des sexuellen Verhältnisses zwischen Ehepartnern abzielt, nimmt Asan Aga selbst eine fortschrittlichere Position, welche - wenn auch mit patriarchaler Befehlsgewalt überformt - durchwegs dem „westlichen Konzept“ der „Liebe als Passion“ (Luhmann) entspricht. Denn der Ehemann folgert aus der Weigerung seiner Frau, ihn zu pflegen, dass sie sich auch gegenüber ihren Kindern entsprechend verhalten muss. Aus seiner Sicht ist sein Vorwurf an sie, sie habe ein Herz aus Stein, mehr als logisch. Die Bemerkung, die „Liedfabel“ sei „nur aus mohammedanischer Sicht zu verstehen“, 50 erhebt selbst im ex-jugoslawischen Kontext einen nationalistischen Anspruch, der weder der Entstehungsnoch der Rezeptionsgeschichte angemessen ist. Und dennoch scheint eine solche Position durchwegs lexikalischer Common Sense zu sein. In furchterregender Monotonie wird jeweils auf der serbischen, kroatischen und bosnischen Wikipedia-Seite die „Hasanaginica“ als eigene bezeichnet. 51 Solche Ansprüche führen letztlich zu ähnlich absur- 50 Hahn, Josef: „Hasanaginica“, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Studienausgabe. Band 1. München: Kindler 1988, S. 144. 51 Auf der bosnischen Seite wird mit der bosnjakischen Präzisierung die religiöse Zuordnung wie im Kindler gemacht: „Hasanaginica je bosanska i bošnjačka usmena balada […].“ Auf der kroatischen Seite wiederum heißt es lediglich: „Asanaginica […] hrvatska je usmena balada […].“ Und in der serbischen Version lautet die Definition schließlich: „Hasanaginica je srpska narodna balada […].“ Auch wenn die Umwandlung eines tendenziell ikavischen Dialekts noch in der „Urfassung“ von Fortis mit der Überschrift „Asanaginica“ in eine štokavisch-jekavische Variante bei Vuk Karadžić unter dem Titel „Hasanaginica“ die linguistische Varianz innerhalb der lokal verschiedenen Dialekte sichtbar macht, so nimmt sich kein lexikalischer Eintrag auch nur die kleinste Mühe, lediglich die Differenz zwischen kulturellem Hintergrund und nationalem Anspruch zu präzisieren. Bezeichnend für eine bosnjakische Vereinnahmung, welche auf der Folie der Entstehungsgeschichte noch am ehesten nachvollziehbar ist, sind beispielsweise Jahić, Dževad: Jezik bosanskih muslimana. Sarajevo: Biblioteka Ključanin 1991 und Mahmutćehajić, Rusmir: Tajna Hasanaginice. Sarajevo: Buybook 2010. <?page no="40"?> 40 Boris Previšić den Ergebnissen wie der Versuch, Ivo Andrićs Schaffen zu nationalisieren, das insbesondere in seiner Romantrilogie, welche während des Zweiten Weltkriegs in Belgrad entsteht, in erster Linie von sehr unterschiedlichen interkulturellen Konstellationen in der Geschichte des bosnischen Raums genährt wird. Spätestens die literarische Rezeption der „Hasanaginica“ im ganzen bosnisch-kroatisch-serbischen Sprachraum straft einer definierten nationalen Zuordnung Lügen. Der orthodoxe und somit serbischstämmige Herzegowiner Aleksa Šantić schreibt 1911 sein Drama Hasanaginica. Zwei Jahre zuvor wird ein gleichnamiges Theaterstück des kroatischen Politikers und Schriftstellers Milan Ogrizović uraufgeführt. Dessen Adaption und Rahmung durch den Schauspieler und Regisseur Mustafa Nadarević läuft seit 2006 als eines der erfolgreichsten Stücke überhaupt am Kroatischen Nationaltheater in Zagreb. 52 Von ähnlicher Ausstrahlungskraft und Popularität ist die gleichnamige Oper von Asim Horozić auf ein Libretto von Nijaz Alispahić. Selbst über zehn Jahre nach der Uraufführung im Jahr 2000 wird die Oper regemäßig im Nationaltheater Sarajevo aufgeführt. 53 Beiden Adaptionen ist gemein, dass sie die Fremd- und Eigenstereotypisierung in einer konservativen und rückwärtsgebundenen Bild- und Musiksprache jeweils bekräftigen. Noch mindestens zwei Spielfilme zu jugoslawischen Zeiten unterstreichen die Popularität des Stoffs und die Tendenz, den dramatischen Kern der Ballade transmedial zu entfalten. 54 Dass dabei die Rezeption des vermeintlich Eigenen in anderen Kulturen eine primäre Rolle spielt, ist nicht von der Hand zu weisen. Und davon zeugen nur schon die Übersetzungen von Walter Scott (1798), Puschkin (1835) oder Adam Mickiewicz (1841). Dass aber der deutschsprachige Raum von Anfang an zur wichtigsten Drehscheibe für die südslawische Fremd- und Selbstwahrnehmung wurde, hat für beide Akteure weitreichende Konsequenzen in übersetzungspoetologischer, raumimaginativer und politischer Hinsicht. 52 Nadarević, Mustafa: Hasanaginica. Prema Hasanaginici Milana Ogrizovića. Zagreb: Hrvatsko Narodno Kazalište 2006. 53 Siehe das Opernprogramm des Narodno Pozorište Sarajevo, online abrufbar unter: http: / / nps.ba/ Novost.aspx? broj=15&lang=BS (14.6.2014). 54 Jakiša/ Deupmann weisen darauf hin, dass noch heute im ehemaligen Jugoslawien (wie schon unter Tito) die Hasanaginica „Pflichtlektüre“ sei: „Im kroatischen TV-Quiz ‚Kto želi biti miljunaš? ’ [Wer wird Millionär? ] beispielsweise wurde die Frage nach einem Detail der Hasanaginica im Oktober 2002 bereits als sogenannte Einstiegsfrage gestellt“ (Jakiša/ Deupmann: „Die stolze Scham der Hasanaginica“, S. 386). <?page no="41"?> 41 Von der Aeneis zu den Nationalepen Emilija Mančić Von der Aeneis zu den Nationalepen. Gründungs- und Begründungsnarrative im imperialen und nationalen Kontext Der vorliegende Artikel möchte die Rolle von Epen, die als kulturelle Gründungserzählungen das Neue legitimieren, näher in Betracht ziehen. Die kulturellen Gründungserzählungen spiegeln wider, wie die jeweils herrschende Staats- und Rechtsordnung entstanden sein soll und auf welche Ursprungsautorität sie sich beruft. 1 Indem die Epen die Ursprungsgeschichte wie Eroberungen, Wanderbewegungen, Staatenbildung usw. erzählen, thematisieren sie also nicht nur die Gründung, sondern weisen zugleich eine narrative Struktur auf, die begründenden Charakter hat. Darum erfüllen die Epen zwei wichtige Hauptaufgaben: Herrschaftslegitimation und Identitätsstiftung. „Der Akt der Instituierung führt die Grenzbedingungen des politischen Raumes und seine Berührung mit einer ihn transzendierenden Sphäre vor Augen; er markiert die Schwelle zwischen dem Heiligen und der Politik“. 2 Im frühen Epos vollzieht sich der Übergang vom mythischen zum historischen Weltbild, indem häufig mythische Überlieferungen mit geschichtlichen Ereignissen vermischt und verknüpft werden. „Geschichte ist erzählte Zeit, Zeit des Erzählens und sich selbst erzählende Zeit als innere Einheit im menschlichen Lebensprozess“. 3 Der soziale Kontext des frühen Epos ist eine einheitlich strukturierte, hierarchische, in ihrer Ordnung nicht in Frage gestellte Gesellschaft, und das Epos realisiert - sprachlich, formal und inhaltlich - eine in sich geschlossene Sinn-Ordnung. Die Hauptfiguren sind Heroen, die gewissermaßen zwischen Göttern und Menschen stehen. In Gründungserzählungen findet sowohl die Wahrnehmung von Kontinuität als auch von Ewigkeit ihren Ausdruck und wird gleichzeitig gestärkt. Während die Gründungserzählungen eine fortlaufende Existenz versichern, verbinden die apo- 1 Vgl. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/ Main: Fischer 2012. 2 Koschorke, Albrecht: „Götterzeichen und Gründungsverbrechen. Die zwei Anfänge des Staates“, in: Neue Rundschau, Heft 1 (2004), S. 40-45, S. 41. 3 Rüsen, Jörn: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen. Köln: Böhlau 2006, S. 214. <?page no="42"?> 42 Emilija Mančić kalyptischen Erzählungen mit den Geschichten vom Ende die historische Kontinuität mit der Ewigkeit. Das erste bekannte Imperium, für das auch dieser Begriff gebraucht wurde, war das alte Rom. Die Aeneis erzählt eine der Gründungsgeschichten des Römischen Reiches. Der Aeneas-Mythos thematisiert sowohl Gründung als auch Tod, Zerstörung und Wiederherstellung. Im Mittelpunkt der Aeneis steht der trojanische Held Aeneas, der bei Vergil mit seinem Schicksalsweg zu einer Brücke zwischen Ost und West, zwischen dem Mythos des Trojanischen Krieges und den Anfängen Roms wird. Aeneas gilt als Stammvater Roms, er ist ein Angehöriger des Königsgeschlechts von Troja, Sohn der Göttin Venus, der nach der Einnahme der Stadt durch die Griechen geflohen, nach langen Irrfahrten in Latium gelandet war. Dort hatte er die Stadt Lavinium und sein Sohn Ascanius als zweite Stadt Alba Longa gegründet. Nach einer längeren Folge von Königen kam es später zur Gründung von Rom durch Romulus, der zum Gründer des römischen Staates wurde. Somit wird die Staatsentstehung Roms als kein Zufall, sondern als Folge der historischen Bestimmung gedeutet. Aeneas mit seinem tugendhaften Verhalten verkörpert pietas, während Romulus- als Vorbild den virtus des jugendlich heldenhaften Kriegers und Triumphators darstellt. Dieser Symbolwert wurde besonders zur Zeit des Kaisers Augustus (31-v.-Chr. bis 14-n.-Chr.) betont, dessen Familie (die Julier) behauptete, in direkter Linie von Aeneas abzustammen. So ließ der Kaiser im Augustus-Forum Statuen des Aeneas, des Ascanius, der späteren Könige von Alba Longa sowie anderer Vorfahren aufstellen, die seine direkte Verbindung zu den Gründern Roms veranschaulichen sollten. Die pietas gilt Vergil als Voraussetzung römischen Nationsbewusstseins und kultureller Identitätsbildung und so konnte sich jeder an den Anfang römischer Geschichte, die Gründung einer „ewigen Stadt“, gebunden und ihm verpflichtet fühlen. Vergil verfasste sein Epos in der Zeit des Umbruches, nämlich dem Ende der Römischen Republik und dem Anfang der Kaiserzeit mit Augustus als erstem Kaiser und verlieh ihm Legitimität. Mit seiner Erzählung hält er retrospektiv die literarische Erinnerung an die Vergangenheit lebendig. Die römische Identitätsbildung konstituiert sich jedoch nicht über einen Brudermord, sondern über Flucht, Irrfahrt und Neugründung und so den von den Göttern gegebenen Auftrag der Römer zur Weltherrschaft. So sagt Jupiter: „His ego nec metas rerum nec tempora pono: / Imperium sine fine dedi.“ - „Diesen setze ich weder Grenzen der Dinge noch Zeiten: Ein Reich ohne Ende habe ich (ihnen) gegeben.“ 4 Ursprungs- und Gründungsnarrationen handeln nicht nur von Gewalt, sondern können mitunter erst auf der Basis von Autorität, Macht und Gewalt etabliert und tradiert werden. Denn Aeneas ist ein vom göttlichen Schicksal Getriebener, der seine alte, kleinasiatische Heimat Troja verlassen muss, um, 4 Götte, Johannes (Hg./ Übers.): Aeneis. Lateinisch-deutsch. Düsseldorf-Zürich: Artemis & Winkler 10 2002, S. 278-279. <?page no="43"?> 43 Von der Aeneis zu den Nationalepen nachdem er an die afrikanische Küste verschlagen wurde, seine neue, italische zu gründen. Er ist Übergangsfigur zwischen einer alten, sagenhaften Zeit und einer neuen, politischen Ära. Der Schicksalsweg des Aeneas aus dem brennenden Troja über Karthago und die Verbindung mit Dido bis zur Fahrt in die Unterwelt mit der Verheißung des Künftigen ist die Irrfahrt ins Ungewisse. Dieses Ungewisse wird jedoch in Vergils Aeneis immer wieder durch Vorausschau, so zum Beispiel in der Jupiterprophezeiung, in der Heldenschau oder Schildbeschreibung, durchbrochen und in göttliche Gewissheit verkehrt. Indem Vergils Aeneas seine Flucht aus Troja mit der göttlichen Sendung rechtfertigt, die ihn dazu bestimmte, das Trojanergeschlecht im Land seiner Ahnen fortzusetzen, vergegenwärtigt Aeneas die Vergangenheit und antizipiert gleichzeitig die Zukunft. Es handelt sich, wie Hannah Arendt betont, nicht um eine Neugründung, sondern um eine Wiedergründung. 5 Latium wird als ein auferstandenes Troja gedeutet, das retrospektiv in Erzählungen vergegenwärtigt wird, und die Zerstörung Trojas bedingt den Akt der Wieder-Instituierung in Latium. Im sechsten Buch kommt es zu einem entscheindenden Wendepunkt, da Aeneas eine Identitätsumwandlung vom Trojaner zum Römer in der Unterwelt erlebt. Zurück aus Karthago nach Sizilien gekehrt steigt Aeneas in die Unterwelt hinab. Aeneas erfährt von seinem Vater von der Größe des Königreichs Roms, das er gründen wird, und er zeigt ihm die Seelen berühmter Römer der Zukunft, die auf ihre Geburt warten. Dank eines magischen Mistelzweiges kann er wieder in die Welt der Lebenden zurückkehren. Nun endlich weiß Aeneas, was er zu tun hat. Mit seinem Abstieg in die Unterwelt muss Aeneas seine Identität zurücklassen, um sich in der Unterwelt durch neue Erfahrungen neu zu definieren. Somit beginnt für Aeneas ein Weg der Initiation, da der Tod immer im Zusammenspiel mit einem Neuanfang zu betrachten ist, „und durch seine Gründungsakte handelt er in der Gegenwart, komplementiert den zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht […]“. 6 Vergil schaft in seinem Epos nicht nur eine direkte Verbindung der Stadtgründung Rom zu einem der berühmtesten Geschehnisse und Kriege des Altertums mit all seinen klassischen, unsterblichen Helden, selbst die Adeligen bekommen über Aeneas gewissermaßen die direkte Linie zu der Göttin der Liebe. In der späteren Kaiserzeit ließen sich so die Kaiser selbst zum Teil als Götter anbeten und verehren, wie z.B. Nero. Vergils Rom-Idee ist untrennbar vom historischen Kontext, in dem er die Aeneis verfasste, da sie die konkrete 5 Vgl. Arendt, Hannah: „Nicht mehr und noch nicht. Hermann Brochs Der Tod des Vergil (1946)“, in: Lützeler, Paul Michael (Hg.): Hannah Arendt - Hermann Broch. Briefwechsel 1946 bis 1951. Frankfurt/ Main: Jüdischer Verlag/ Suhrkamp 1996, S. 169-174. 6 Wohlleben, Doris: „Der Äneas-Mythos. Ethisch-poetische Korrespondenzen bei Hannah Arendt und Hermann Broch“, in: Heuer, Wolfgang/ Lühe, Irmela von der (Hg.): Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste. Göttingen: Wallstein Verlag 2007, S. 70-83, S. 83. <?page no="44"?> 44 Emilija Mančić Situation zur Zeit des Prinzipats und die Politik des Augustus widerspiegelt. Für Vergil ist der Prinzipat das Ziel der Römischen Geschichte und Augustus die Verkörperung des idealen, tugendhaften Herrschers. Vergils Aeneis sakralisiert das römische Reich, legitimiert und verherrlicht es a posteriori. Zwei Gründe legitimieren nach Vergil die römische Herrschaft: der Wille der Götter und die Übermittlung von Frieden und Recht, weil Kaiser Augustus mit seiner Herrschaft den Beginn einer neuen Epoche, eines goldenen Zeitalters des Friedens reklamierte. So schreibt Vergil: Tu regere imperio populos, Romane, memento -/ hae tibi erunt artes - pacique imponere morem,/ parcere subiectis et debellare superbos. „Du aber, Römer, gedenke die Völker der Welt zu beherrschen, Darin liegt deine Kunst, und schaffe Gesittung und Frieden, Schone die Unterworfnen und ringe die Trotzigen nieder. 7 Der Inhalt der Rom-Idee besteht somit nach Vergil im von den Göttern gegebenen Auftrag der Römer zur Weltherrschaft in einem örtlich und zeitlich unbegrenzten, ewigen, unzerstörbaren Weltreich. Zudem wird Rom als Garant für Sicherheit und Frieden stilisiert („pacique imponere morem“). In seinem Essay „Über das römische Imperium“ (Del imperio Romano, 1941), behauptet Ortega y Gasset den Paradigmencharakter Roms: Die politische Geschichte Roms, seines Wachsens und seiner elastischen Ausdehnung von dem elenden Dörflein, das das Septimontium darstellt, bis zu der kaiserlichen Stadt aus Marmor, ist von einem der Vollendung nahen ansteigenden Rhythmus, dass sie uns nicht als etwas Geschichtliches, sondern Musikalisches erscheint. Wenn man uns diese Geschichte erzählt, wissen wir nicht, ob wir eine Chronik oder eine Symphonie hören. Daher hat sie einen paradigmatischen Wert und ist im tiefsten Sinn des Wortes „klassisch“. 8 Das Römische Reich zerfiel und brach schließlich um 476 zusammen, aber die Rom-Idee und der daraus resultierende Gedanke einer translatio imperii hatten in der Traditionsgeschichte sowohl des Westens als auch des Ostens keine vergleichbare Entsprechung. Für die christliche Kaiserherrschaft sowohl im oströmisch-byzantinischen Reich wie im Heiligen Römischen Reich war die Fortdauer des Römischen Reiches ein tragendes Element der Legitimität. Darüber hinaus stützten sich viele Herrscherhäuser im Mittelalter aus ganz verschiedenen Gründen auf den Troja- Mythos. Die mehr oder minder spekulativen Konstrukte einer translatio imperii zur Legitimierung einer beanspruchten Herrschaftsnachfolge mündeten in die Gründungsnarrative der nachfolgenden Reiche ein. Der Rückbezug auf Rom wurde so zum tragenden Fundament der christlichen Kaiserherrschaft sowohl im Abendland wie im orthodoxen Osten. Die Er- 7 Vgl. Götte: Aeneis,VI 752-853, S. 214. 8 Ortega Y Gasset, Jose: Über das römische Imperium. Stuttgart: Reclam 1964, S. 50. <?page no="45"?> 45 Von der Aeneis zu den Nationalepen zählung der Übertragung des Reiches wurde somit zu einem politischen Mythos und stellt daher ein Produkt bestimmter politischer Vorstellungen dar, die historisch und damit veränderlich sind, so dass dieser Mythos folgendermaßen angesehen werden kann: als „an ideologically marked narrative which purports to give a true account of a set of past, present, or predicts political events and which is accepted as valid in its essentials by a social group.“ 9 In der Renaissance erhielt das Epos eine neue Funktion. Mit der Entstehung der Nationen und Nationalstaaten wurde der Prozess der Umschreibung beziehungsweise der Übersetzung der Wahrnehmung von Kontinuität und Ewigkeit in einem neuen Kontext eingeleitet. Als Nationalepos wird eine lange Versdichtung bezeichnet, die für ein Volk beziehungsweise eine Nation eine so herausragende Bedeutung hat, dass es als konstitutiv oder zumindest exemplarisch für seine Kulturgeschichte gilt. Das Nationalepos enthält antike Vorbilder, Elemente des höfischen Romans und des anonymen Heldenepos, die zu einem neuen, auf das Selbstbewusstsein der jeweiligen Nation bezogenen Ganzen verbunden wurden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt das Epos neue Impulse durch die Nationalbewegungen Nord-, Ost- und Südosteuropas. Das Nationalepos ist ein Gründungsnarrativ mit dem „Schaufenstereffekt“ und geht mit der „Modellierung von Kulturkonkurrenzen“ einher sowie mit einem „Spiegeleffekt“, da das Epos auch „Ort der (vermeintlichen) Begegnung eines Volkes mit sich selbst ist. […] Das Epos stellt nicht allein dar, dass wir sind, sondern auch, wer wir uns sind“. 10 Obwohl sich im Nationalepos im Unterschied zu dem frühen Epos der Übergang zwischen Religiosität und Nationalität vollzieht, wird die Konstituierung einer Nation nie als ein neuer Akt der Gründung, sondern als „Wiedergeburt“ oder „Wiedererwachen“ bezeichnet. It has always been a central tenet of nationalist faith that no nation can be „new“, only „renewed“. Typically, all self-respecting nations undergo a threephase career: an initial cultural flowering or „Golden Age“; a suppression of identity and promise at foreign hands; and an „Awakening“ to ultimate fulfillment as a modern nation-state. 11 Im Nationalepos lässt sich auch eine Schwerpunktverlagerung vom Universellen zum Nationalen ablesen. Außerdem ist jede wirklich nationalistische 9 Flood, Chris: Political Myth. A theoretical introduction. New York: Routledge 1996, S. 44. 10 Taterka, Thomas: „Die Nation erzählt sich selbst“, in: Detering, Heinrich/ Hoffmann, Torsten/ Pasewalck, Silke/ Pormeister, Eve (Hg.): Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen. Beiträge zum komparatistischen Symposium 6. bis 8. Mai 2010 Tartu. Tartu: Tartu University Press 2011, S. 20-72, S. 26, 31. 11 Pearson, Raymond: „History and historians in the service of nationbuilding“, in: Branch, Michael (Hg.): National History and Identity: Approaches to the Writing of National History in the North-East Baltic Region Nineteenth and Twentieth Centuries. Helsinki: Finnish Literature Society 1999 (= Studia Fennica. Ethnologica 6), S. 63-77, S. 69. <?page no="46"?> 46 Emilija Mančić Historiographie im Prinzip gegen die Aristokratie angelegt, da sie Stammes- oder Nationsgeschichte anstelle der Geschichte dominanter Herrschergeschlechter umfaßt. Sie thematisiert vorübergehende Brüche, sie unterstellt illegitime religiöse Usurpationsperioden mit dem Ziel, eine eigene Geschichte jenseits dieser Fremdgeschichte herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang kann man die drei Epen Smrt Smail-age Čengića („Der Tod des Cengic-Aga“, 1846) des Kroaten Ivan Mažuranić, Krst pri Savici („Taufe an der Savica“, 1836) des Slowenen France Prešeren und Gorski Vijenac („Der Bergkranz“, 1847) des Montenegriner Petar Petrović Njegoš betrachten. 12 Obwohl sich alle drei genannten Epen mit der für diese Zeit üblichen nationalen Problematik beschäftigen und ein ähnliches Grundthema teilen-- den Widerstand gegen fremde Gewalt und den Kampf für die nationale Freiheit--, spiegeln sie auch die Besonderheiten der jeweiligen sozialen und historischen Umstände in ihrer jeweiligen Umgebung wider. Allen drei Epen ist gemeinsam, dass sie die nationale und die religiöse Frage miteinander verbinden, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Während die nationale Idee und der Befreiungskampf bei Mažuranić und Njegoš mit der Religionsfrage stark korrelieren, wird bei Prešeren die nationale und religiöse Ebene nicht direkt verbunden und das religiöse Bekenntnis an sich als problematisch thematisiert. 13 Der Widerstand gegen die Germanisierung im damaligen Slowenien wurde nicht von religiöser Animosität begleitet, da sowohl die fremden Herrscher als auch die Untertanen dieselbe Konfession hatten. Prešeren dramatisiert und mythologisiert in seinem Epos den verlorenen Kampf der heidnischen Ahnen Sloweniens und ihre Konversion zum Christentum im 8.- Jahrhundert. Im Kampf nahmen Angehörige des gleichen Volkes teil: die schon konvertierten Slowenen kämpften gegen ihre immer noch heidnischen Mitbürger. Die Übernahme des Christentums verbindet Prešeren in seinem Werk mit dem Verlust der Selbständigkeit und der Unterdrückung slawischer Identität durch Fremdherrschaft. Die Savica ist ein Wasserfall in den Julischen Alpen und wird oft als Metapher für das Wieder-Zusammenfinden aller Slowenen begriffen. Obwohl Prešeren in Wien studierte und auch in deutscher Sprache 14 schrieb, verfasste er sein Epos in der slowenischen Volkssprache. Die eigene Sprache sollte später in Jugoslawien für Slowenen und Mazedonier als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal der eigenen Identität dienen. Bei Njegoš und Mažuranić dagegen haben die fremden Herrscher einen anderen Glauben. Mažuranićs Versepos in fünf Teilen handelt von einer klei- 12 Teile dieses Abschnitts wurden in meiner Monograhie: Umbruch und Identitätszerfall. Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext. Tübingen: Francke 2011 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 15) veröffentlicht. 13 Vgl. Martinovic, Juraj: „Juznoslavenski epski triptihon“, in: Inštitut za slovensko literaturo in literarne vede, France Presern-kultura-Evropa. Ljubljana: ZRC SAZU, S. 89-109. 14 Die offizielle Sprache in Slowenien war bis 1917 Deutsch. <?page no="47"?> 47 Von der Aeneis zu den Nationalepen nen Gruppe von Montenegrinern, die 1840 den türkischen Steuerbeamten und herzegowinischen Pascha Ismail-aga Čengić töten. Der längste Teil dieses Epos - „Harač“ - beschreibt die Ausbeutung der Christen durch die Türken und endet mit dem Überfall von Montenegrinern auf Čengić. Dieses Ereignis sollte offensichtlich stellvertretend für die Widerstandsgeschichte der Südslawen gegenüber den fremden Herrschern stehen. Mažuranić, der Anhänger der bekannten kroatisch-illyrischen Bewegung, die als Anfang beziehungsweise als erste Phase der kroatischen nationalen Integration bezeichnet werden konnte, setzte im Zentrum seines Epos die Idee der Befreiung der Südslawen von ihren türkischen Herrschern, was eine der Voraussetzungen für das Projekt der Vereinigung der Südslawen war. Das Epos, das bereits kurze Zeit nach seiner Veröffentlichung kanonisiert wurde, kann als literarischer Ausdruck einer starken Freiheitssehnsucht, die Montenegro zum Vorbild hatte, interpretiert werden. Die Aktion der Montenegriner wird im Epos als Heldentat gelobt, die Verse, die im Geiste der pastoralen Idylle geschrieben sind, sollen unmittelbar die glückliche Zeit, in der die südslawischen Stämme friedlich zusammenlebten, in Erinnerung rufen. Die illyrische Bewegung dieser Zeit ging nämlich davon aus, dass die Kroaten und die übrigen Südslawen Nachkommen der Illyrer der Antike seien. Eine politische und kulturelle Einheit sollte ausgehend von der ethnischen Verwandtschaft aller Südslawen angestrebt werden. Montenegro ist auch der Schauplatz des Njegoš-Epos Der Bergkranz, das als erstes nationales Narrativ in Montenegro, aber auch in Serbien betrachtet werden kann. Njegoš als Autor erscheint in einer Doppellrolle: als Schriftsteller und als Staatsoberhaupt beziehungsweise Fürstbischof, der für den Bestand seines eigenen Staates Verantwortung trägt, da die größten Teile Montenegros schon zu dieser Zeit außerhalb der Kontrolle des Osmanischen Reiches waren. Das Thema des Epos ist die angebliche Ausrottung der zum Islam konvertierten Montenegriner am Heiligen Abend des Jahres 1702. Obwohl keine unbestreitbaren historischen Beweise für dieses Ereignis vorhanden sind, wird die Ausrottung der Konvertierten im Lichte des allgemeinen Kampfes des serbischen und montenegrinischen Volkes für seine Freiheit dargestellt. Diese Darstellungsart stand im Einklang mit der national-romantischen Verherrlichung der Befreiung der Serben und Montenegriner von ihren Unterdrückern. Das Thema der Dichtung, der politische und ethische Umgang der Montenegriner mit den zum Islam konvertierten Mitbürgern wird von Njegoš in den Rang eines volkserhaltenden Ereignisses innerhalb der großen Auseinandersetzung der beiden Religionen Christentum und Islam in Europa erhoben. In Anlehnung an die südslawische Volksepik und die Volkssprache vereinigt Njegoš im Bergkranz epische, dramatische und lyrische Elemente und seine Sprache wurde somit beispielgebend für die Entwicklung der südslawischen Literaturen zur Zeit ihrer „Wiedergeburt“. Im 19.- Jahrhundert wurde die religiöse Spaltung mit Unterstützung ausländischer Großmächte intensiviert. Die Kirchen hatten zu der Zeit immer <?page no="48"?> 48 Emilija Mančić noch einen starken Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und beeinflussten die gesamte Kultur. Die systematische Differenzierung zwischen den drei Religionsgemeinschaften auf südslawischem Boden korreliert deswegen mit dem Aufstieg des Nationalismus und der Entstehung des modernen Staates. Die Entstehung der Nationalstaaten in Serbien und Montenegro als Höhepunkt der nationalistischen Politik auf dem Balkan wurde durch die religiöse Homogenisierung und Assimilierung begleitet. Die Aufstände des frühen 19.-Jahrhunderts, in deren Verlauf sich eine neue Kultur und damit eine neue Identität in Serbien und Montenegro entwickelten, kennzeichneten ein Ende des Islamisierungsprozesses. Wie die drei Beispiele zeigen, haben auch in Südosteuropa die Nationalepen die gleiche Funktion wie in Nord- oder Südeuropa ausgeübt und gleichzeitig Einblicke in wesentliche historische und ideologische Verhältnisse zur Zeit ihrer Entstehung ermöglicht. Als Schlussfolgerung lässt sich sagen, dass eine wirkungsvolle Gründungserzählung offensichtlich sowohl von Reichen als auch von Nationen und Nationalstaaten benötigt wird. Auf der einen Seite werden bei Systemwechseln entsprechend neue Erzählungen geschaffen, die diesen Wechsel begründen, andererseits kann zudem auf alte zurückgegriffen werden. Im Mittelpunkt der Ursprungs- und Gründungserzählungen stehen Personen, die einen fundamentalen Beitrag zu Herausbildung eines Staates, einer Gemeinschaft geleistet haben und ein Ereignis, das als Schlüsselereignis für die Existenz dieser Gemeinschaft beziehungsweise des Staates fungiert, sowie ein Raum, der wesentlich für die Definition des eigenen Territoriums ist. Was die Gründungserzählung des Imperiums von einer des (National-)Staates unterscheidet, ist, dass das Reich nicht in erster Linie als ein Territorium, sondern als eine Idee oder ein Prinzip dargestellt wird. Die politische Ordnung wird durch bestimmte spirituelle oder juristische Ideen bestimmt und weniger durch den Besitz eines geographischen Gebiets. Während das Reich verschiedene Kulturen integriert, bringt die Nation ihre eigene Kultur hervor oder sucht und findet im Entstehungsprozess die Unterstützung in der Kultur. Die Menschen jener Länder, die ein imperiales Vermächtnis aufweisen, schaffen zunächst die Nation, bevor sodann ein Staat geschaffen wird. <?page no="49"?> 49 Nationale Homogenisierungsprozesse Milka Car Nationale Homogenisierungsprozesse und imperiale Geltungsansprüche in August Šenoas Uskoken-Novelle Čuvaj se senjske ruke Seine 1875 in der Zeitschrift Vienac veröffentlichte „historische Novelle“ [Pripovijest] unter dem Titel Der Judas von Zengg 1 [Čuvaj se senjske ruke 2 ] eröffnet der Begründer der kroatischen historischen Prosa August Šenoa mit einer Schilderung eines stürmischen Gewitters und einer starken Bora vor der Insel Krk im Herbst 1600: Es war am Nachmittag eines späten Herbsttages. Die Spitze des alten Vratnik war in weiße Wolken gehüllt. Von den Höhen tobte der Sturm, als wollte er die alten Bäume um die Stadt Zengg entwurzeln und die Stadtmauern ins Meer stürzen. Die Meerenge zwischen der kroatischen Küste und der Insel Krk schäumte wie vor Wut. So weit das Auge reichte, waren die grünlichen Wellen mit weißer Gischt bedeckt, der Sturm grub sich brüllend, tosend, winselnd und pfeifend in die salzige Flut und trieb bis zum Himmel hinan große, mächtige Wassermassen, die in der Sonne funkelten, als ob Gott alle Edelsteine des himmlischen Paradieses ins Wasser geschüttet hätte. Vor den vielen glänzenden Tropfen konnte man kaum das gegenüberliegende Ufer erkennen, ja, der ganzen Meerenge entlang sah man keine venezianische Galeere und kein Kaperschiff, welche sonst auch im Sturm nach den teuflischen Uskokenbarken spähten. 3 (JZ 1) 1 Senoa, August: Der Judas von Zengg. Leipzig: Schulze & Co. 1902. Sigle im Text: JZ. 2 Zitate aus dem Kroatischen nach folgender Ausgabe: Šenoa, August: Čuvaj se senjske ruke, in: Jelčić, Dubravko/ Špoljar, Krsto (Hg.): Djela Augusta Šenoe. Zagreb: Globus 1978. 3 „Bilo popodne u kasnu jesen. Starcu Vratniku bila se glava obavila bijelim oblakom. Sa visina gruvala bura, kanda da će polomiti drevno hrašće oko Senja, kanda će senjske kule pobacati u more. Tjesnac morski među hrvatskim žalom i otokom Krkom kipio od bijesa. Dokle je oko seglo, osulo se zeleno valovlje bijelim skorupom, bura kopala se ručući, gruvajući, cvileći, fijučući u slane glibove, dižući pod nebo grdne oblačine vodenih kapi štono se o suncu krijesile, kanda bog sipa u vodu sav dragi kamen raja nebeskoga. Od samih sjajnih kapi nijesi mogao razabrati drugoga brijega; da, duž cijelog tjesnaca ne bijaše vidjeti mletačke ormanice ili fuste, koje inače i za bure vrebahu na vražje uskočke barke.“ Šenoa: Čuvaj, S. 11. <?page no="50"?> 50 Milka Car Dieses topographisch präzise nachgezeichnete Bild des stürmischen Borawindes wird zumeist als eine realistische Einleitungsformel mit der ihr immanenten Aufgabe gelesen, die Handlung der Novelle realitätsgetreu zu verorten sowie die handlungstragenden Oppositionen zwischen Uskoken und Venedig darzustellen, wobei zugleich die Authentizität des Erzählens und eine emotionelle Einstellung des Lesers zum Geschehen gewährleistet wird. Eine derartige Lesart wird auch dadurch gestützt, dass Šenoa Senj nicht nur während seiner Vorbereitungsarbeit an seiner „historischen Novelle“ besucht hat, sondern dass er 1874 auf einer Reise von Kraljevica nach Senj wegen eines Boragewitters auch auf dem Schiff in der Kapitänskajüte übernachten musste, was nach Auskunft 4 seines Sohnes als Vorlage für die Schilderung dieser Naturgewalt diente. Jedoch hat diese intensive Naturbeschreibung auch andere Funktionen und kann mit den geschichtlichen Umwälzungsprozessen im Gebiet der nördlichen Adria in Verbindung gebracht werden. Mit dem Bild der unberechenbaren Naturgewalt 5 und der Positionierung der Menschen am Rande, womit ihre hilflose Ausgesetztheit suggeriert wird, wird zugleich eine homologe Beziehung zu der für kroatische Gebiete ungünstigen politischen Konstellation gegen Ende des 16. Jahrhunderts hergestellt. In diesem Sinne kann das Wüten der Bora auf die permanente Kriegsdrohung sowie die Furcht der christlichen Welt vor einem osmanischen Angriffssturm bezogen werden. In der unmittelbar darauf folgenden Szene entführen die Uskoken, angeführt vom „Zengger Wojwoden“ (JZ 12) Juriša Orlović ein junges „reiches Mädchen“ (JZ 30), Dume aus Vrbnik, das vom „Sekretär [des] Generäls Pasqualigo“, dem „bleich[en], vertrocknet[en] Venezianer“ (JZ 4) signor Vittorio umworben wird. Mit diesem Gewaltakt wird es im letzten Moment vor einer ungewollten Ehe gerettet. Das schwarzgekleidete Mädchen erklärt stolz: „Vittorio Barbaro! Venezianischer Edelmann! Nie werde ich Euch angehören - höret mich: Niemals! “ (JZ 8). Dadurch wird ein klar polarisiertes Weltbild konstruiert, in dem die Uskoken nicht als Verbrecher, sondern als Träger des nationalen Gedankens und als Heroen des Widerstands gezeigt werden. Im Modus der Polarisierung zwischen Eigenem und Fremdem kommt die aktualisierende Absicht des Autors zum Ausdruck, der die individuellen Figurenschicksale und das kollektive Narrativ einer bedrohten kleinen Nation in krisengeschüttelten Zeiten unmittelbar miteinander verbindet. In Šenoas Uskoken-Novelle spiegelt diese Szene synekdochisch einen vielschichtigen geschichtlichen Konflikt am Schnittpunkt dreier Imperien wider, so dass sich - bezogen auf die aktuelle sozialpolitische Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - dieses Gewitter und die mit ihm verbundenen 4 Vgl. dazu: Jelčić, Dubravko: Šenoa. Zagreb: Globus 1984, S. 32. 5 Milutin Cihlar Nehajev merkt an, dass sich die dargestellte Natur Šenoas Ansichten fügen muss. Vgl. Cihlar Nehajev, Milutin: „August Šenoa. Sinteza Šenoinih ideja (1910)“, in: Jelčić, Dubravko (Hg.): August Šenoa u očima kritike. Izabrane prosudbe. Zagreb: Globus 1987, S. 92-96, S. 96. <?page no="51"?> 51 Nationale Homogenisierungsprozesse Ereignisse hier als Geburt des Neuen, das heißt des Nationalgeistes aus einem vielschichtigen geschichtlichen und geopolitischen Konflikt betrachten lassen. Die klare Aktualisierungsabsicht der Novelle lässt die Interpretation zu, dass dieses Eingangsbild des Gewittersturmes als eine metaphorische Parallele für den Zusammenprall von imperialen und nationalen Repräsentationen und ihrer Inszenierungsstrategien im Prozess der Etablierung der kroatischen Nation zu lesen ist. In der Analyse interessiert Šenoas protorealistische Schreibweise und das Potenzial des historischen Stoffes für die nationale Homogenisierung. Dazu wird die imperiale Konstellation rekonstruiert, der das narrative Verfahren Šenoas entspringt. In vorliegender Arbeit wird anhand dieser Novelle aus der mittleren Schaffensphase des Autors das sich im 19. Jahrhundert fortentwikkelnde Konzept des nation building thematisiert. Ausgehend von der Frage nach transnationalen Spuren und transregionalen Erfahrungsräumen in diesem Prozess soll untersucht werden, wie sie von Šenoa funktionalisiert werden. Anders gesagt: Welche spezifischen kulturellen „Kontaktzonen“ 6 werden instrumentalisiert, um den kleinen europäischen Nationalbewegungen 7 Legitimation und Kohärenz zu verleihen? Welche Strategien lassen sich in der prominenten Aufgabe der Inszenierung des Nationalen verfolgen? Die wichtigste Frage scheint zu sein, warum der Autor einen Stoff aus dem 16. Jahrhundert wählt, um seine „betonte didaktische und sentimentale Tendenz“ 8 im Programm der Erziehung der Nation voranzubringen? Vereinfachend kann der historische Hintergrund als bloßes Dekor und Kostüm verstanden werden. Interessanter scheint allerdings die Frage zu sein, wie genau Šenoas historizistisch-nationalromantisierende Narration als „Analogon der Vergangenheit und Gegenwart“ 9 funktioniert. Zudem ist Šenoas Literaturbegriff zu bestimmen, denn sein Prosatext wird als ein sozial-symbolischer Akt mit starker integrativer Funktion gelesen. Zunächst werden historiographische Darstellungen des Uskoken-Stoffes dargelegt, um anschließend Šenoas mobi- 6 Bachmann-Medick, Doris: „Dritter Raum“, in: Breger, Claudia/ Döring, Thobias (Hg.): Figuren der/ des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam: Rodopi 1998, S. 19-36, S. 21. 7 Nach Miroslav Hroch in seiner einflussreichen Studie zu Erweckungsbewegungen der kleinen europäischen Nationen. In seiner komparativen Analyse beschreibt er die patriotischen Gruppen in kleinen europäischen Nationen. Dabei verwendet er den Begriff der kleinen Nationen als einen „technischen und ethisch neutralen“ Terminus. Vgl. dazu Vorwort in der kroatischen Ausgabe: Gross, Mirjana: „O značenju Hrochova modela“, in: Hroch, Miroslav: Društveni preduvjeti nacionalnih preporoda u Europi. Komparativna analiza društvenog sastava patriotskih grupa malih europskih nacija. Zagreb: Srednja Europa 2006, S. 9-17. 8 Nemec, Krešimir: „Povijesni roman u hrvatskoj književnosti“, in: Ders.: Tragom tradicije. Ogledi iz novije hrvatske književnosti. Zagreb: MH 1995, S. 7-39, S. 22. 9 „U historičnom romanu moraš analogijom medju prošlosti i sadanjosti narod dovesti do spoznaje samoga sebe.“ Šenoa, August: „Zabavna knjižnica“, in: Vienac zabavi i pouci 28 (11.7.1874), S. 442-443. <?page no="52"?> 52 Milka Car lisierendes Nationalismuskonzept zu erläutern. Im letzten Teil der Arbeit wird diese Re-Lektüre eines kanonischen Textes der kroatischen Literatur in einem (post)-imperialen Kontext verortet. I Erzählt wird in Šenoas Novelle eine Episode aus der zweiten konfliktreichen Phase in der Geschichte der frühneuzeitlichen Piratenbewegung, der so genannten Uskoci, unmittelbar vor der vom Hofkriegsrat beschlossenen Reform dieser Bewegung im Jahre 1600. Diese Episode endet mit der Ermordung des zur Pazifizierung der Uskoken aus Graz entsandten „strengen, finsteren, rücksichtslosen, sogar grausamen Soldaten“ (JZ 47) Generals und „Komissars von Zengg“ (JZ 48) Joseph Rabatta am 31. Dezember 1601. Šenoa konzentriert sich nicht nur auf die Darstellung der Konflikte der „mächtigen Herrin, der glorreichen Republik Venedig“ mit den „‚verfluchten‘ Zengger Uskoken“ als dem „Dorn in ihrem Auge[n]“ (JZ 14), sondern auch auf die verräterische Rolle des damaligen Bischofs von Senj, der als „Verräter deines Volkes und des Kreuzes“ (JZ 109) von den Uskoken verflucht wird. Nach zeitgenössischen historiographischen Quellen wird insbesondere der „auserwählte Bischof von Zengg“ (JZ 22) Antonio de Dominis, „Sohn eines kroatischen Vaters und einer italienischer Mutter“ (ebd.), negativ geschildert, womit er als Verräter der eigenen Sache gebrandmarkt wird, was insbesondere im deutschen Titel zum Ausdruck kommt, denn seine Intrige 10 steht im Mittelpunkt der Handlung, die mit der Ermordung namhafter Uskoken und der anschließenden Rache der Uskoken endet. Genauso konfliktreich verläuft auch die Deutung des historischen Stoffes, vor allem auf Grund der zahlreichen Konflikte zwischen den Uskoken und Venedig auf der Adria. Deshalb kommen die Uskoken in italienischen historischen Quellen durchweg als „Seeräuber“, „Banditen“, „Piraten“ oder „Wilde“ (JZ 26) und als „Zengger Räubergesindel“ (JZ 43) vor. Direkten Bezug auf die überlieferten historischen Quellen nimmt Šenoa, indem er den venezianischen Fähnrich den hartnäckig tradierten kannibalischen Topos über die wilden Uskoken aussprechen lässt: „In verità ladri, ladrissimi! Heiden! Türken! Teufel! trinken Blut - fressen Menschenfleisch - sono canibali, in verità canibali! “ (JZ 96). Die Uskoken werden hier nicht nur als Kontrahenten dargestellt, vielmehr werden ihre Rückständigkeit und ihre angeblich herkunftsbedingte Blutrünstigkeit hervorgehoben. Etymologisch verweist der Name der Uskoken - mit der eigentlichen Bedeutung Immigrant oder Kolonist („pribeg, 10 „Zengg ohne Besatzung, Österreich ohne Flotte, das Adriatische Meer mit venezianischen Schiffen voll, die Familie Frankopan geschwächt, die Städte an der Küste auf der Seite Venedigs […].“ Senoa: Judas, S. 50. <?page no="53"?> 53 Nationale Homogenisierungsprozesse transfugus“ 11 ) auf eine multiethnische, multikonfessionelle und multikulturelle Herkunft als Wallachen, Morlacken, Martologen 12 und damit zugleich auf die Schwierigkeit, sie in nationalen Kategorien zu fassen. Zugleich mit dem Hinweis auf den Kannibalismus werden vorherrschende Heterostereotype angesprochen, neben der Tatsache, dass die frühneuzeitlichen Narrative im nationalen aufklärerischen Programm nicht restlos aufgehen. In erster Linie sind die Uskoken ein historisches Phänomen der frühneuzeitlichen Grenzgesellschaften, das als Produkt einer halbfeudalen Justiz, tyrannischer Willkür und permanenter Kriegsdrohung zu verstehen ist. Osmanische Eroberungen im Hinterland und venezianische Dominanz auf dem Meer hatten die nordadriatische Küstenstadt Senj zuerst in eine Militärfestung 13 und später, als die Uskoken ihren Sitz nach osmanischer Besetzung der Festung Klis in Süddalmatien im Jahre 1537 nach Senj verlegten, in ein „Piratennest“ (JZ 28f.) verwandelt. Da die Serenissima in dieser Schlacht mit den Osmanen kooperiert hatte, worauf in der Novelle als auf die „ewige Schande Venedigs“ (JZ 89) rekurriert wird, eskalierten in der Folgezeit die Konflikte zwischen Uskoken und Venezianern, so dass es zu diplomatischen Aktionen „bei Kaiser Rudolf in Prag“ und „Erzherzog Ferdinand in Graz“ kommt, mit denen die Position Venedigs gesichert werden soll. Gerade an dem Ort, an dem die drei Imperien aufeinandertreffen, lassen sich bestimmte Konstellationen erkennen, die später in unterschiedlichen Diskursen funktionalisiert werden. An die unbequeme Position der Uskoken, die zwischen imperialem Hegemonialanspruch und osmanischer Kriegsdrohung gefangen sind, knüpft Šenoa an und schildert die „trübe und traurige“ (JZ 15) Atmosphäre in der Stadt, nachdem die geplante Umsiedlung der Uskoken wegen ihrer Angriffe auf Venedig nach Otočac gemeldet worden war. Erst in der Kooperation der frühneuzeitlichen Imperialmächte im Grenzgebiet können die Uskoken besiegt werden. Diese Kooperation wird in der Novelle als Figurenrede thematisiert, als beschlossen wird: „Von allen Seiten die Zengger zu überfallen. Vom Meere aus wird Pasqualigo mit seiner Flotte, vom Lande aus Rabata mit seinem Heere Zengg absperren. An die türkische Grenze wird der bosnische Pascha sein Heer stellen.“ (JZ 104) In der Novelle bezeichnet es der „greise Pavle Milovcic“ (JZ 33) als eine Zumutung, „einen alten Stamm, der feste Wurzel gefaßt hat, zu entwurzeln, schwer ist es, einen Vogel aus seinem alten Nest zu verjagen“ (JZ 34). Erkennbar ist, dass diese bedrohliche Situation mit doppelter Funktion besetzt wird, einerseits werden die historischen Ereignisse kommentiert, andererseits knüpfen sie an das Narrativ der 11 Bracewell, Catherine Wendy: Senjski uskoci. Piratstvo, razbojništvo i sveti rat na Jadranu u šesnaestom stoljeću. Zagreb: Barbat 1997, S. 30. 12 Šišić, Ferdo: Povijest Hrvata. Pregled povijesti hrvatskog naroda. Split: Marjan tisak 2004, S. 250. 13 Vgl. dazu: Budak, Neven: Hrvatska i Slavonija u ranom novom vijeku. Zagreb: Leykam 2007, S. 71f. <?page no="54"?> 54 Milka Car auch im 19. Jahrhundert fortdauernden Fremdherrschaft in den kroatischen Gebieten an. Somit kann die Situation der zu Unrecht vertriebenen freiheitsliebenden Uskoken vom zeitgenössischen Leser sofort aktualisiert und in ein Narrativ der Autoviktimisierung umgedeutet werden, wobei der kontrovers diskutierte historische Stoff direkt mit dem Narrativ nationaler Homogenisierung verbunden wird. Diese entgegengesetzten Deutungen der Rolle der Uskoken verweisen auf ihre prekäre Lage an der Grenze, denn sie befinden sich in einer äußerst instabilen Position an der Reibungsfläche unterschiedlicher Machtsphären. Diese Position zwischen den Kulturen reflektiert auch Šenoa, wenn er sie im Text als „Türken“ (JZ 96) und zugleich als „Bollwerk der österreichischen Regierung“ (JZ 49) bezeichnet. In ihrer grundlegenden Studie zum Uskoken-Komplex geht Catherine Wendy Bracewell von der sozio-politischen Bedingtheit der Uskoken-Bewegung aus, denn die „ökonomische, politische und religiöse Konkurrenz der drei Imperien, die an der Adria sich berührten, war die fundamentale Bedingung für die Existenz der Uskoken“ 14 . Diese „von schrecklichen Stürmen erschütterte Koexistenz“ 15 verschärft sich im 17. Jahrhundert so sehr, dass Šenoa die prekäre Position der „wilden“ Uskoken auf dem „Bollwerk des Christentums“ (JZ 26) schildert. Als Auslöser der Feindschaft gegen Venedig wird nicht nur ihr Pakt mit dem Osmanischen Reich gesehen, sondern vor allem die tatsächlich überlieferte unsichere finanzielle Lage: Die Zengger Uskoken haben jährlich 10 000 Dukaten zu bekommen; aber sie bekommen nichts. Fortwährend kommen uns Trostbriefe, allein hier zwischen den Mauern sitzen 800 hungrige und dürftige Männer mit Weib und Kind; 800 Soldaten, der Arbeit ungewohnt, sitzen ohne einen Pfennig am Trockenen. (JZ 23) Wendy Bracewell rekonstruiert die Gruppenidentität der Uskoken als die einer kriegerischen Grenzgesellschaft, die im ideologischen Gefüge der Verteidigung des Christentums 16 von klaren Vorstellungen über ihre Aktionen und Raubüberfälle ausgeht. Dies kommt auch in Šenoas Novelle zum Ausdruck, denn gekämpft wird „für die heilige Religion Jesu“ (JZ 34). Auch in der erwähnten Eingangsepisode entführt der „Held“ Juriša Orlović die Dume aus Vrbnik „im Namen Gottes und des heiligen Nikolaus“ (JZ 12). Die Uskoken machen sich zu ihrer primären Aufgabe, die „Bestialität des Ottomanentums“ (JZ 107) zu bekämpfen. Die im habsburgischen Imperialprojekt der Militärgrenze den Uskoken zugewiesene Rolle legt nach Bracewells detaillierten Ausführungen nahe, die 14 „Ekonomska, politička i vjerska konkurencija između tri imperija koja su se dodirivala na Jadranu bila je fundamentalni uvjet za postojanje uskoka: ona je stvorila pogodne uvjete koje su oni tako uspješno koristili gotovo cijelo stoljeće.“ Bracewell: Senjski uskoci, S. 9. 15 Vgl. Braudel, Ferdinand: Vrijeme svijeta. Materijalna civilizacija, ekonomija i kapitalizam od XV. do XVIII. stoljeća. Bd. 3, Zagreb: August Cesarec 1992, S. 154. 16 Vgl. Bracewell: Senjski uskoci, S. 14. <?page no="55"?> 55 Nationale Homogenisierungsprozesse Uskoken eher als einen Spielball der imperialen Mächte zu sehen, als sie zu Verteidigern der christlichen oder gar nationalen Werte zu idealisieren. In diesem Kontext macht Bracewell eine wichtige terminologische Unterscheidung zwischen Seeräubern beziehungsweise Banditen, die Eric Hobsbawm 17 als Ausdruck sozialen Protestes der Unterschichten untersucht, und der historischen Formation der Uskoken, denn die Uskoken sind keine gesetzlosen Rebellen, sondern besitzen eine „vom Herrscher erteilte Vollmacht zur Kriegsführung gegen Staatsfeinde“. 18 Somit verfügen sie über eine vom Grazer Kriegsrat zuerkannte Legitimität als Soldaten an der von den Habsburgern errichteten Militärgrenze. Dafür wird von den Uskoken unbedingter militärischer Einsatz und entsprechender politischer Gehorsam erwartet. Šenoa betont ausdrücklich ihr militärisches Aussehen: „Auf dem Kopfe trugen sie Kappen aus Schaffell, gefüttert mit rotem Tuch; aus dem Gürtel glitzerte das Messer, von den Schultern hing ein brauner Mantel, und an der Wand hinter ihnen lehnten lange Gewehre.“ (JZ 16) In der Novelle wird die Loyalität der Grenzer in der zentralen Szene der Verschwörung gegen die Uskoken spöttisch vom verräterischen Bischof de Dominis kommentiert: „Die Österreicher, zaghafte Leute, fürchten den Türken, fürchten Venedig, fürchten die Uskoken, hätten gerne das Meer und haben kein Geld.“ (JZ 45f.). Die zwischen 1527 und 1797 existierende Militärgrenze am Schnittpunkt der drei Imperien wird als Triplex Confinium bezeichnet und mit ihrem „controversial heritage“ 19 untersucht, denn sie hatte sowohl die Funktion einer militärischen Schutzzone als auch die einer Trennlinie, was zugleich die Integration und einheitliche Entwicklung aller kroatischen Gebiete verhinderte. Die zeitgenössische kroatische Historiographie deutet die Uskoken als „the most important maritime stronghold in the Habsburg Vojna Krajina“ 20 , während ältere Historiker, insbesondere jene Quellen, die Šenoa nach eigenem Bekenntnis gelesen hat, wie auch weitere, die er nach der präzisen philologischen Analyse von Antun Barac 21 benutzt haben könnte, ein reduziertes Bild vermitteln. Ähnlich wie in Šenoas Text werden sie darin zu freiheitsliebenden Kriegern und zu Vorkämpfern der Nationalbewegung stilisiert. Entsprechend ihrer symbolischen Rolle werden sie als „kräftige[] Krieger, [...] Schrecken aller getauften und ungetauften Barbaren“ (JZ 28) beschrieben. Somit entspricht Šenoas Beteuerung, die Geschichte quellengetreu wiedergegeben zu haben, der Wahrheit, im 1876 entstandenen Vorwort führt er seine historiographi- 17 Vgl. dazu: Hobsbawm, Eric: Primitive Rebels. Studies in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries. Manchester: Manchester UP 1959. 18 „[...] punomoć za ratovanje protiv neprijatelja države koju su dobivali od vladara.“ Bracewell: Senjski uskoci, S. 7. 19 Vgl. Roksandić, Drago (Hg.): Microhistory of the Triplex Confinium. International Project Conference Papers. Budapest: CEU 1988. 20 Roksandić, Drago: „The Triplex Confinium. International Research Project: Objectives, Approaches and Methods“, in: Roksandić: Microhistory, S. 7-21, S. 14. 21 Barac, Antun: August Šenoa. Zagreb: Narodna knjižnica 1926, S. 57-61. <?page no="56"?> 56 Milka Car schen Quellen auch detailliert an. Allerdings sind diese historiographischen Darstellungen keinesfalls neutral, denn ihr Anspruch auf Authentizität leitet sich aus anderen, vor allem nationalen und identitätsstiftenden Funktionen ab. 22 Folgerichtig wird die Omnipräsenz der imperialen Kontexte analog dem damaligen nationalintegrativen Programm auch in der Historiographie ausschließlich in negativem Licht dargestellt. Die Antagonismen sind nicht nur dem historischen Stoff immanent, sondern auch seinen Darstellungsformen. Die ethnographisch inspirierte writing culture-Debatte hat auf die Vorstellungen von Faktischem, Verbürgtem und Authentischem in historiographischen Quellen rekurriert und sie als diskursive Praxis demontiert. So beschreibt beispielsweise Bare Poparić in seiner Geschichte der Uskoken aus dem Jahre 1936 ihre Motivation für Seeüberfälle als „ideell“, 23 um sie von den söldnerischen Venturini abzugrenzen, aber auch um ihre Rolle als Befreier von der osmanischen und venezianischen Fremdmacht zu betonen. Damit verfolgt er eine ältere historiographische Linie, die klar definierte nationalintegrative Ziele verfolgt. So schließt Poparić seine Darstellung des Uskoken-Krieges in den Jahren 1617-1619 mit der Feststellung vom „letzten Widerstand der Kroaten gegen die fremden Übergriffe auf der Adria“. 24 Diese Form der Geschichtsschreibung folgt einem Kulturmodell, das Jürgen Osterhammel als romantisch bezeichnet. Dieses romantische Modell impliziert eine „substantielle Kulturdistanz“ 25 und geht von der Feststellung aus: „Jede Kultur ist einzigartig, deutlich profiliert, nach innen homogen und von der Spezifik von Sprache, Religion und Ritus geprägt, kurz: ein in sich abgerundetes Ganzes.“ 26 Auch in Šenoas Novelle ist dieser essentialistische Authentizitätsanspruch dominant, denn die pluralen Differenzen der „heteropolaren“ 27 historischen Lage werden von der programmatischen nationalen Tendenz überlagert. Šenoa bewegt sich in einem Spannungsfeld imperialer und protonationaler Einflüsse und konstru- 22 „Tipična je značajka toga diskursa nacionalne historiografije teleološko tumačenje etničkog šarenila i nejasnog mozaika identiteta predmodernoga razdoblja zapravo nastojanje da se u povijesnoj dimenziji „nacionalizira prostor“ što ga kulturna elita u prvoj fazi konstrukcije nacije određuje kao svoj.“ [Das typische Merkmal dieser national-historiographischen Diskurse ist die teleologische Deutung des verschwommenen und bunten ethnischen Mosaiks der vormodernen Zeiten, eigentlich das Bestreben, in der historischen Dimension den Raum, den die an der Konstruktion einer Nation gerade beteiligte Elite als eigen ansah, zu nationalisieren.] Ančić, Mladen: „Srednjovjekovni Vlasi kontinentalne Dalmacije“, in: Kusin, Vesna/ Belamarić, Joško/ Grčić, Marko (Hg.): Dalmatinska zagora. Nepoznata zemlja. Zagreb: Klovićevi dvori 2007, S. 161-167, S. 161. 23 Poparić, Bare: Povijest senjskih uskoka. Zagreb: Matica hrvatska 1936, S. 16. 24 „S uskočkim je ratom svršio zadnji otpor Hrvata protiv tuđinskog presizanja na Jadranu.“ Ebd., S. 239. 25 Osterhammel, Jürgen: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen: V&R, S. 243. 26 Ebd. 27 Banac, Ivo: Nacionalno pitanje u Jugoslaviji. Porijeklo, povijest, politika. Zagreb: Durieux 1996, S. 58. <?page no="57"?> 57 Nationale Homogenisierungsprozesse iert aus der Gemengelage konträrer Positionen mit Hilfe von Dichotomisierungen eine einheitliche Zukunftsprojektion. Dabei setzt er sich zum Ziel, die integrativen Kräfte im Narrativ der gefährdeten Heimat zu mobilisieren. II Was Šenoa an diesem Stoff fasziniert - „auf mich hat diese Uskoken-Episode einen immensen Eindruck gemacht, als ich unsere Geschichte lesend auf sie gestoßen bin“, 28 - ist gerade die Möglichkeit einer aktivierenden Bearbeitung der Geschichte der Uskoken, die im 16. Jahrhundert als irreguläre Armee im Dienste der habsburgischen Krone unter Rudolf II. (1552-1612) an der Militärgrenze von der 1558 erbauten Festung Senj aus ihre Einfälle 29 in die osmanisch beherrschten Nachbarterritorien unternahmen. Besonders im kroatischen Titel der Novelle 30 ist diese von Šenoa als „sozial“ bezeichnete, aktivierende und integrative Tendenz zu verfolgen, wenn er das geflügelte Wort: „Dieu te garde de mains de Ségnans“ 31 aus der von Minuccio Minucci verfassten Uskoken-Chronik 32 entlehnt, um so die heldenhafte Darstellung der sonst als „wilde Räuber“ bekannten Uskoken zu unterstreichen. Seine mythologisierende Absicht legt Šenoa einem den Uskoken zugeneigten österreichischen Kapitän Barbo in den Mund: „Zengg in den Händen der Uskoken gleicht einem Riesen mit zwei Eisenarmen; mit dem rechten bändigt er den geflügelten Löwen, mit dem linken den ottomanischen Drachen.“ (JZ 130) Auf diese Weise werden die Uskoken synekdochisch mit der kroatischen Nation und deren Position der Zerrissenheit und Dominierung durch Fremdmächte gleichgesetzt. So lässt Šenoa seinen Helden Martin Posedaric den „Haß“ gegen die Venezianer artikulieren, wenn er sagt, „sie trachten danach, uns zu Sklaven“ (JZ 88) zu machen, sie „rotten die Weingärten aus, vernichten die Ölbäume, nur um das Volk zu zwingen, auf das Meer zu gehen; sie holzten die Wälder ab, um sich damit Schiffe zu bauen, in welchen der dalmatinische Sklave 28 „[…] mene se je ta uskočka epizoda silno dojmila kad, čitajući našu povijest, naiđoh na nju“ Šenoa: Čuvaj, S. 1. 29 „Jene uskokischen Teufel beraubten bei Zara schon wieder einige venezianische mit Öl beladene Schiffe, bei Hvar nahmen sie ein ganzes Schiff mit Sardellen weg, und der Provvedoitore Cornaro schreibt mir, daß die Truppe dieses elenden Gjurisa unter der kaiserlichen Fahne in einige istrianische Dörfer eingedrungen ist.“ Senoa: Judas, S. 100. 30 Reinhard Lauer führt in seiner Bibliographie einen unveröffentlichten Titel: „Hüte dich vor der Hand der Senjer“ aus der Feder von Karl Grebenz an. Vgl. dazu: Lauer, Reinhard: Serbokroatische Autoren in deutscher Übersetzung. Bibliographische Materialien (1776-1993). Teil I: Chronologischer Katalog, Teil 2: Register, Wiesbaden: Harrassowitz 1995. 31 Barac: Šenoa, S. 49. 32 Minuccio, Minucci: Historia degli Uscochi di Minucio Minuci archivescovo di Zara. Venedig 1683. <?page no="58"?> 58 Milka Car mit seinem Schweiß, mit seinem Blut dem stolzen Venedig Reichtum und Ruhm erwerben muß.“ (JZ 88) In solchen Schilderungen wird nicht nur die historische Unterordnung der kroatischen Gebiete im 16. Jahrhundert thematisiert, sondern vor allem die akute zeitgenössische Bedrohung des „heiligen kroatischen Boden[s]“ (JZ 135). Darauf aufbauend wird die These verfolgt, dass Šenoas Literatur- und Geschichtsbegriff es erlaubt, die Literatur „nicht nur als Indikator der von ihr erfaßten Zusammenhänge, sondern darüber hinaus wesentlich als deren sie mitgestaltenden Faktor zu untersuchen.“ 33 Unter anderem geht Šenoa von der später vom kroatischen Historiker Ferdo Šišić thematisierten Tatsache aus, dass im Jahre 1525 zum ersten Mal die ehemals weitläufigen kroatischen Gebiete als „reliquiae nobilium regni nostri Croatiae“ 34 bezeichnet werden. Dieser Formel von den „reliquiae reliquiarum“ infolge der türkischen Eroberungen entspringt das daraus hervorgegangene antemurale christianitis-Bewusstsein vom kroatischen Krieger auf dem „Bollwerk des Christentums“, das sich allmählich in eine mythopoetische Struktur von langer Dauer verfestigt. Ivo Žanić analysiert diese Struktur als politischen Symbolbegriff und als Konstrukt einer „historischen Mission“, 35 die zunächst von den Habsburgern legitimiert wird, denn „auf dem Reichstag der christlichen Länder 1522 in Nürnberg bezeichnete Ferdinand von Habsburg die Kroaten als Vormauer der christlichen Welt vor dem osmanischen, also islamischen Ansturm.“ 36 Gerade diese Zuschreibung wird später mythopoetisch und identitätsstiftend funktionalisiert. In ihrer imagologischen Studie beschreibt Mirna Zeman die reziproke Tendenz, „das ideologisch einheitliche deutsch-österreichische Frontier- Narrativ“ zu postulieren, indem der „südslawische[] homo militaris auf die „Vormauer des Christentums“ positioniert[]“ 37 wird. In diesem Sinne ist der Uskoken-Stoff nahtlos an die Geschichte der Militärgrenze gekoppelt. Dieses „grenzorientalistische“ 38 Narrativ wird in Form der so genannten „Türkenthematik“ in den nationalen Kontext integriert, vor allem mit Šenoas „starker 33 Essen, Gesa von: „Plädoyer für die Posaune. Geschichte als Imaginationsraum nationaler Identifikation und internationaler Diversifikation“, in: Essen, Gesa von/ Turk, Horst (Hg.): Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität. Göttingen: Wallstein 2000, S. 9-39, S. 22. 34 Šišić: Povijest, S. 250. 35 Žanić, Ivo: „Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda“, in: Melčić, Dunja (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2 2007, S. 286-311, S. 287. 36 Ebd. 37 Zeman, Mirna: Reise zu den „Illyriern“. Kroatienstereotype in der deutschsprachigen Reiseliteratur und Statistik (1740-1809). München: Oldenburg 2013 (= Südosteuropäische Arbeiten 147), S. 46. 38 Zeman: Reise, S. 51. <?page no="59"?> 59 Nationale Homogenisierungsprozesse Betonung des kroatischen Heldentums und seiner nationalen Gesinnung“. 39 Deshalb ist die Darstellung der Uskoken als „Versuch zu verstehen, die potentielle Heterotopie der Militärgrenze mit unterschiedlichen pränationalen Gruppen durch eine bzw. zwei homogene Ordnungen mit nationaler Richtung zu ersetzen.“ 40 Dazu werden die komplexen und vielfach miteinander verbundenen Identifizierungsmodelle im habsburgischen Vielvölkerreich auf einen - nationalen - Nenner reduziert. Dies zeugt von einem starken historizistischen Bewusstsein des Erzählers, das den historischen Stoff in ein Rebellenbzw. Opfernarrativ umstilisiert, um damit autoreflexiv an die im 19. Jahrhundert immer noch ungesicherte Lage der Nation zu appellieren. Mit dem Anknüpfen an den gemeinsamen Kriegsmythos festigt sich das im Entstehen begriffene politische und kulturelle Kollektiv, indem es die Form einer imaginierten Schicksalsgemeinschaft und deren Kontinuität annimmt. In Anlehnung an Anthony D. Smiths Thesen 41 wird die Nation als eine territorial gebundene und durch gemeinsame Herkunftsmythen verbundene Gemeinschaft definiert. Um die Zusammengehörigkeitsgefühle der eigenen „imagined community“ 42 zu wekken, knüpft man wie selbstverständlich an protonationale Formen kollektiver Identitäten für aktuelle Zwecke der Mobilisierung der Nation an. Diese Entwicklung der nationalen Bewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts deckt sich mit einer der tiefsten Krisen des kontinentaleuropäischen habsburgischen Imperiums, das in dieser Zeit nach neuen „Herrschaftsbegründungen“ suchen musste und sich „umso intensiver der symbolischen Repräsentation und kulturellen Integration“ 43 widmete. Diese Krise des Imperiums ist ebenso als eine strukturelle Voraussetzung für die Entwicklung nationaler Ideologie anzusehen, wie es die Modernisierung der Imperien für die Entstehung der sogenannten „kulturellen Nationalismen“ 44 ist. Um die jeweils eigene Geschichte als „Legitimationsinstanz des Nationalstaates“ 45 zu funktionalisieren, werden parallel dazu sinnstiftende Symbole und Mythen aus dem historischen Stoff konstruiert und bedeutende geschichtliche Ereignisse neu bewertet. Dazu werden die Uskoken als Helden geschildert, während die 39 Dippe, Gisa: August Šenoas historische Romane. Untersuchungen zu Geschichtsdarstellung und Geschichtskonzeption in „Zlatarevo zlato“, „Čuvaj se senjske ruke“ und „Seljačka buna“. München: Otto Sagner 1972 (= Slavistische Beiträge 58), S. 24. 40 Promitzer, Christian: „Grenzen und ethische Identitäten. Eine theoretische Annäherung am Beispiel der habsburgischen Militärgrenze (18. und 19. Jhd.)“, in: Roksandić: Microhistory, S. 111-124. 41 Smith, Anthony D.: The Ethnic Origins of Nation. Oxford: Blackwell 1988, S. 32. 42 Anderson, Benedict: Imagined communities. Reflections on the origins and spread of nationalism. London-New York: Verso 1991. 43 Leonhard, Jörn/ Hirschhausen, Ulrike von: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Göttingen: V&R 2009, S. 22. 44 Smith, Anthony D.: Nacionalizam i modernizam. Kritički pregled suvremenih teorija nacije i nacionalizma. Zagreb: FPZ 2003, S. 76. 45 Ebd., S. 19. <?page no="60"?> 60 Milka Car Fremden beziehungsweise die Venezianer mit negativen Attributen versehen werden. So kommen sie in der Novelle als „venezianischer Hund“ (JZ 12), „venezianische Teufel“ (JZ 79), „verfluchte Venezianer“ (JZ 35) „böse Schlangen“ (JZ 8) in ihrem „Löwenrachen“ (JZ 79) vor. Die scharfe Dichotomisierung erfolgt insbesondere in Danilo Barbos Beschreibung der Uskoken: […] und [ich] weiß, daß unter dieser harten Rinde ein gesunder Kern steckt, daß diese Leute ein ehrliches, rechtschaffenes Herz besitzen - und wenn sie nicht wären und wenn vor der Zengger Hand der Osmane nicht zitterte, würde auf dieser Küste kein kaiserliches Banner wehen, aber auch die venezianische Fahne würde nicht über den dalmatinischen Städten flattern. 46 Die Venezianer hingegen werden immer wieder als „Blutsauger“ (JZ 15, 147) bezeichnet, womit auf den „verhängnisvollen Einfluss der Fremden“ 47 insgesamt und auf die jahrhundertelange Dominanz der „‚Königin des Meeres‘“ (JZ 39) Venedig im „venezianischen Gulf “ auf der altra sponda hingewiesen wird. Ist das ganze 16. Jahrhundert von Versuchen geprägt, die dalmatinischen Küstengebiete von der venezianischen Macht zu befreien und sie zurückzuerobern, so kann Šenoas äußerst negative Einstellung 48 gegenüber der venezianischen Herrschaft mit der aktuellen politischen Entwicklung erklärt werden. Schon Branko Gavella 49 hat in seiner Studie über Šenoa darauf hingewiesen, dass die Herkunft seiner negativen Einstellung gegenüber Venedig tagespolitisch zu erklären ist, da sie nach dem Schließen der dreifachen Allianz zwischen Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn im Jahre 1866 virulent wird. Darin bleibt der Status Dalmatiens ungeklärt, was in der Novelle von der historisch überlieferten Figur des Fürsten Knez Posedaric ausgesprochen wird: „Mein Stamm verließ sein Vaterland, das schöne Dalmatien, wo der Unsrige jetzt gar keinen Wert hat, wo der Fremde der Herr ist.“ (JZ 89). Auch die Bestrafung des Individuellen und die Hervorhebung kollektiv geteilter Werte dienen zur Inszenierung einer historischen Bühne für die Darlegung der Idee des nationalen Befreiungskampfes. So lässt Šenoa seinen Knez Posedaric im umzingelten Senj fragen: „Ach, wo bist Du, Freiheit meiner Heimat? “ (JZ 123) Indem die Uskoken als „Löwen“ an einer „Sklavenkette“ (JZ 166) bezeichnet werden, wird der Novelle eine klar definierte national-homogenisierende Aufgabe mitgegeben. Gisa Dippe hat in ihrer slawistischen Studie zu Šenoas historischen 46 „[…] znam da je pod tom tvrdom korom zdrava jezgra, da je u tih ljudi, zdrava, poštena srca - pa da njih nema, da od senjske ruke ne strepi Osmanlija, ne bi se po ovom žalu vijala carska zastava, ali ne bi bome ni mletačka bandijera lepršala nad dalmatinskim gradovima.“ Šenoa: Čuvaj, S. 21. 47 „[…] kobni upliv tuđinstva“ Šenoa, August: „Zabavna knjižnica“, in: Vienac zabavi i pouci 28 (11.7.1874), S. 442. 48 Über Šenoas Italienreisen und seine Kontakte mit Italien vgl. Roić, Sanja: „Davni i današnji putnici. August Šenoa, iz Zagreba u Italiju“, in: Dies.: Stranci. Portreti s margine, granice i periferije. Zagreb: HSN 2006, S. 257-290. 49 Gavella, Branko: „Šenoa u svom vremenu“, in: Jelčić: Kritike, S. 162-166, hier S. 164. <?page no="61"?> 61 Nationale Homogenisierungsprozesse Romanen diese Tendenz als die „Doppelfunktion“ 50 seiner historischen Romane bezeichnet. Was Šenoa erzählt, ist eine Phase in der Uskokenbewegung, was er aber widerspiegelt, sind die Werte und Überzeugungen seiner eigenen Zeit mit dem Ziel, die „kulturelle Identifikation des Volkes mit einer Sprache“ 51 und einer als einheitlich vorgestellten nationalen Kultur herzustellen. III Der monolithische Zugang Šenoas zur kroatischen Geschichte und seine interessengeleitete Strategie reduzieren die Vielschichtigkeit der Mehrfachidentitäten und die Polyvalenz des historischen Stoffes ganz wesentlich. Damit kommt es zu einem paradoxen Hiatus, denn die plurale, ethnisch gemischte und machtpolitisch vielfach durchbrochene Lage wird in ein einheitsstiftendes nationales Narrativ stilisiert. Dabei verweist aber gerade die sorgfältig konstruierte duale Figurenkonstellation auf den Konstruktcharakter der Nationalkulturen, was die konstrukttheoretische Prämisse bestätigt, nach der „Nationalkulturen wesentlich als Produkt von wechselseitiger Durchdringung, aber auch Abgrenzung“ 52 entstehen. Indem die ethnisch gemischten, aus Vlasi (Valachi, Vlachi) und Maurovlachi (Morlachi) bestehenden Uskokengruppen in einem vereinheitlichten Narrativ dargestellt werden, wird die Nation als ein homogener und entwicklungsfähiger Organismus bar jeder Hybridisierung kreiert. Damit führt Šenoa fast unverändert die illyrischen nationalen Ideen von einem homogenen nationalen Organismus fort. So erklärt Šenoa, der „denaturierte Sohn des germanisierten Tschechen und einer ungarisierten Slowakin“, 53 den wichtigsten illyrischen Ideologen Ljudevit Gaj zu seinem Vorbild. Als Mittel gegen den österreichischen und ungarischen Zentralismus werden die „einseitig historisierenden“ 54 Narrative des historischen Staatsrechts oder des martialischen Kampfgeistes aktualisiert. So ist seine Geschichtsdarstellung von einer grundlegenden Janusköpfigkeit geprägt. Die nationale Tendenz und klare Aktualitätsbezogenheit kommen besonders stark im Epilog zum Ausdruck. Der Epilog, „mit seinem Inhalt phantastisch, mit dem Stil romantisch“ 55 hebt nochmals die Idee des Heldentums 50 Dippe: Historische Romane, S. 20. 51 Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt - New York: Campus 3 2005, S. 66. 52 Essen: Plädoyer, S. 26. 53 „[…] denaturiranom sinu germaniziranog Čeha i mađarizirane Slovakinje.“ Jelčić: Šenoa, S. 50. 54 Banac: Nacionalno pitanje, S. 57. 55 „Taj epilog, sadržajem fantastičan, stilom romantičan, pozivlje još jednom čitaoca da se divi uskočkom junaštvu [...] a ujedno hoće da u kaže kako narod, koji ima takovih junaka, ne može propasti. Ibler Desiderius, Janko: „Šenoine pripovijesti“ (1887), in: Jelčić: Kritike, S. 53-59, S. 59. <?page no="62"?> 62 Milka Car der Uskoken hervor, um unmittelbar darauf an den zeitgenössischen Leser zu appellieren: Tritt näher! Siehst Du am Boden Zeichen - [...] Ruhmvolle Zeichen, glänzende Zeilen, Kroate, Dein ewiges unsterbliches Heiligtum. Lies! [...] Sagt, Ihr mächtigen Schatten, was ruft Euch aus Eueren Gräbern? Wozu fließt neues warmes Blut aus Eurem toten Herzen? (JZ 206) Diese direkt an den zeitgenössischen Leser gerichteten Fragen beziehungsweise die Anregung, mit den Geistern der Vergangenheit zu reden, lassen Strategien der „Retro-Semantisierung“ 56 erkennen, wie Hans Alder die „Aufladung des Begriffs ‚Nation‘ im Nachhinein“ 57 nennt. Es geht um die Erwekkung des Bewusstseins von der eigenen historischen Rolle im Weltgefüge, indem die tatsächliche Polyphonie der als „polyethnisch, multikulturell und politisch zentrifugal“ 58 definierten imperialen Herrschaftsgebiete als Bedrohung der homogenen neuen Nation dargestellt wird. Die Unterscheidung zwischen der partikularen mittelalterlichen beziehungsweise frühneuzeitlichen ethnischen Gemeinschaft und einer neuen Form der nationalen Gesellschaft 59 hat Šenoa, der an diesem Prozess der Entstehung der Nation unmittelbar beteiligt war, im Modus ihrer selbstrepräsentativen und somit identitätssichernden Funktion nachvollzogen. Ausdrücklich hebt er in seinen poetologischen Äußerungen zur Novelle hervor: „Wir wollen das Volk erheben, um es bewusst zu machen, es zu veredeln, die Schwächen der Vergangenheit zu verbessern, im Volke den Sinn für all das zu wecken, was schön, gut und edel ist.“ 60 So kann die Novelle als ein Baustein nicht nur der Entwicklung der Nationalideologie, sondern zugleich eines vagen und deshalb leicht instrumentalisierbaren mythologischen Bewusstseins angesehen werden. Dem dienen vor allem Schilderungen kriegerischer Auseinandersetzungen und frühneuzeitlicher Grausamkeiten. 61 Dass gerade die Frauen von Senj mit besonderer Grausamkeit die Rache an Rabata vollziehen und seine Aufbahrung in der Kirche nicht zulassen, 62 ist aus Šenoas Programm 56 Adler, Hans: „Nation. Johann Gottfried Herders Umgang mit Konzept und Begriff “, in: Essen/ Turk: Unerledigte Geschichten, S. 39-55, S. 39. 57 Ebd. 58 Osterhammel, Jürgen: „Expansion und Imperium“, in: Burschel, Peter (Hg.): Historische Anstöße: Festschrift für Wolfgang Reinhard. Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 371- 392, S. 386. 59 Vgl. dazu: Gross, Mirjana: „O integraciji hrvatske nacije“, in: Dies. (Hg.): Društveni razvoj u Hrvatskoj (od 16. stoljeća do početka 20. stoljeća). Zagreb: Liber 1981, S. 184. 60 „Mi hoćemo, da dignemo narod, da ga osvijestimo, da ga oplemenimo, da mane prošlosti popravimo, da budimo u njem smisao za sve što je lijepo, dobro, plemenito.“ Šenoa, August: „Književno pismo“, in: Vijenac 14 (7.4.1877), S. 277-278. 61 „[…] vor dem Kastell stand ein Uskoke mit glänzendem Gewehr, über ihm im Mondschein der bleiche, blutige Kopf Rabatas, wie vor einem Jahre ein Musketier unter dem blutigen Kopfe des Helden Martin Posedaric stand“ (JZ 198). 62 „[…] als aber der nächste Tag einige Ratsherren [Rabattas] Leichnam in die Domkir- <?page no="63"?> 63 Nationale Homogenisierungsprozesse einer Mobilisierung der Massen heraus zu deuten. Allerdings führt Wendy Bracewell Angaben aus venezianischen Quellen an, in denen blutrünstige und kannibalische Praktiken rächender Frauen genannt werden, die auf atavistische Verhaltensmuster einer archaischen Zeit schließen lassen, keinesfalls zum aufklärerischen Nationalprojekt passen und deshalb in ein Narrativ der Autoviktimisierung umgeschrieben werden müssen. Insofern ist dieser Text als eine (fast unmögliche) Synthese von ethnosymbolischen Kodierungen und eines modernistischen Unterfangens der Nationsbildung zu verstehen. Der Uskoken-Stoff wird mit klarer „Tendenz“ funktionalisiert, um identitätsstiftend, das heißt didaktisch und aufklärerisch im Sinne der ethischen „Erziehung zur Tugend“ 63 zu wirken. Die Tradierung der Geschichte in der gegenwärtigen Lage der immerfort währenden Unterdrükkung soll den Effekt haben, dass das nationale Bewusstsein von der eigenen kontinuierlichen zivilisatorischen Rolle gestärkt wird. Es bildet sich ein aktivierendes Bewusstsein heraus, wie in den von Anthony D. Smith analysierten nationalbildenden Diskursen beschrieben wird: „the ancient experiences are no longer simply retold as in the epic of former times; they are subjected to ‚interpretation‘ and scrutiny, using present-day assumptions“. 64 Insofern zeigt sich Šenoas protorealistische Technik als eine performative Form der historischen Novelle, was sich vor allem in der Einvernahme der Vergangenheit für ihre nationalintegrativen ideologischen Zwecke realisiert. Zdenko Škreb bezeichnet Šenoas Auffassung der „sozialen“ Aufgabe der Literatur als ein „Mittel zur nationalen Selbsterhaltung“, 65 wobei die Dringlichkeit dieser Selbsterhaltung betont wird. Diese pragmatische Aufgabe erklärt auch das „rhetorische Pathos“ und die „Synthese von Pathetik, Didaktik und Sentiment“ 66 in seiner Poetik der „poetischen Glorifizierung der ritterlichen Vergangenheit“. 67 Damit eng verbunden ist Šenoas dezidierte Ablehnung einer autonomen Literaturkonzeption, die er als „deutsches Prinzip“ bezeichnet. Für ihn sei Literatur ein „Mittel, um das Volk zu entwickeln, zu vervollkommnen“, 68 Tendenz in der Literatur sei notwendig. che von St. Georg überführen wollten, wurde das Weibervolk wütend und warf den Unwürdigen aus dem Tempel“ (JZ 197). 63 Vgl. Fn. 60. 64 Smith: From ethnic to nation, S. 171. 65 „[…] književnost nije drugo nego sredstvo za nacionalno samoodržanje” Škreb, Zdenko: „Tragovi njemačke poezije u Šenoinim stihovima“, in: Rad JAZU 290 (1952) S. 129- 196, S. 159. 66 Lasić, Stanko: „Roman Šenoina doba (1863-1881)“, in: Rad JAZU 341 (1965), S. 163- 230, S. 209. 67 Živančević, Milorad: „Hrvatski narodni preporod i nacionalni književni pokreti u Evropi“, in: Flaker, Aleksandar/ Pranjić, Krunoslav: Hrvatska književnost u evropskom kontekstu. Zagreb: Liber 1978, S. 313-341, S. 323. 68 “Mi smo protivnici načela njemačkih književnika, da je književnost sama sebi svrha, književnost, a navlastito beletristika jest sredstvo, da se razvije, usavrši narod, <?page no="64"?> 64 Milka Car Aleksandar Flaker sieht in Šenoas programmatischer Akzeptanz der pragmatischen nationalen und sozialen Funktion und ihrer „völligen Unterordnung der nationalen sozialen Funktion“ 69 eine Dominante in der Entwicklung der modernen kroatischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Mit seinem Modell des „harmonischen Realismus“ 70 bekennt sich Šenoa zu einem aufklärerisch-didaktischem Literaturmodell, in dem Literatur „stark von Funktonalisierungen moralischer, ethischer, sozialer, nationaler, politischer und ideologischer Natur imprägniert“ 71 wird. Diese von Cvjetko Milanja festgestellte Imprägnierung, das heißt Verschmelzung des Literarischen und Sozialen, lässt sich im nationalintegrativen Impetus der Novelle verfolgen. Dabei erweist sich die homogene und vermeintlich uralte Einheit der Nation paradoxerweise als eine imaginierte und konstruierte Größe, oder sogar als eine „Form des Ersatzes“. 72 Die ungewollte Diskrepanz zwischen der klaren, pathetisch vorgetragenen Tendenz 73 und dem vielschichtigen historischen Bild zeigt, dass das Projekt Nation als Mobilisierungsideologie und homogenisierende, einheitsstiftende Kraft sich die ihm zugehörigen Narrative anpassen muss. Das spannende Uskoken-Kapitel, ein Teil der plural-heterogenen mediterranen und europäischen Geschichte, wird in symbolisches Kapital umgemünzt, um im gesamten nationalen Körper 74 die Solidaritätseinstellung zu bewirken. Die organische Vorstellung von der Nation als einem entwicklungsfähigen und lernbedürftigen Körper ist einerseits prozessual und modernistisch, birgt andererseits aber ein essentialisierendes Verständnis der diskursiven Determination in sich. In diesem Prozess werden die Differenzen entweder annulliert oder in ihrem Konfliktpotenzial verschärft, so dass statt einer tatsächlich existenten „weichen Grenze“ im Triplex Confinum die fest umrissenen nationalen Grenzen konstruiert werden. Es ist nach den Gründen für eine solche starke Funktionalisierung der Literatur im ausgehenden 19. Jahrhundert zu fragen. Eine Antwort auf diese Alteritätsproduktionen und die notwendigen abgrenzenden Identifikationsmuster des Nationalen bietet unter anderem Larry Wolff in seiner Studie Venice and the Slavs. Er verfolgt „the construction of an ideology of empire [...] upon čovječanstvo. U toliko mora da je beletristika tendencijozna.“ Šenoa, August: „Zabavna knjižica“, in: Vienac zabavi i pouci 28 (11.7.1874), S. 443. 69 „[…] posvemašnja podređenost nacionalnoj društvenoj funkciji.” Flaker, Aleksandar: “Nacrt za periodizaciju novije hrvatske književnosti“, in: Umjetnost riječi XI (1967), S. 219-222. 70 Lasić, Stanko: Problemi narativne strukture. Prilog tipologiji narativne sintagmatike. Zagreb: Liber 1977. 71 Milanja, Cvjetko: Hrvatski roman 1945-1990. Nacrt moguće tipologije romaneskne prakse. Zagreb: Liber 1996, S. 12. 72 Hobsbawm: Nationen 2005, S. 59. 73 Vgl. Erzählkommentar nach Hinrichtung der Anführer der Uskoken: „Wie soll der Stein ein Herz haben, da die Menschen keines haben? “ (JZ 126) 74 „[…] the nation as homogenous body“. Smith: Ethnic Origins, S. 179. <?page no="65"?> 65 Nationale Homogenisierungsprozesse the province’s slender territorial base“, 75 in deren Rahmen unter dem Vorwand der Zivilisierungsmission die ökonomische und kulturelle Rückständigkeit der dalmatinischen Gebiete noch im 17. Jahrhundert weiterexistiert. Während Larry Wolff den Einfluss der imperialen Ideologie auf „the negotiation of national identity in Dalmatia“ im 18. Jahrhundert untersucht, lassen sich ähnliche Mechanismen an der Militärgrenze in der nördlichen Adria im beginnenden 17. Jahrhundert verfolgen. So kann die nationale Mobilisierung als Form angesehen werden, die dem von Wolff analysierten Spannungsfeld imperialer Geltungsansprüche entspringt. Damit werden die postimperialen Aspekte dieser Re-Lektüre der Novelle angesprochen. Im Versuch, die für das 19. Jahrhundert typische nationalintegrative Tendenz mit den Theorien des modernen Nationalismus und der dem Uskoken-Stoff immanenten mythopoetischen Struktur zu konfrontieren, eröffnet sich eine Perspektive, die es ermöglicht, die in ihr oft entgegengesetzten oder verborgenen Narrative „kontrapunktisch“ 76 zu entdecken. Damit wird auch auf Prozesse aufmerksam gemacht, die Geschichte als Plural 77 legitimieren und „internationale Traditionslinien und Diskurse“ 78 im Projekt des Nationalen entdecken. Das Imperiale und das Nationale treffen einander im Korsett der anschließenden nationalen Mobilisierung. Was auf diese Weise zum Tragen kommt, ist Šenoas Versuch, den „kleinen“, oft spöttisch „ahistorisch“ genannten Nationen eine Stimme zu geben und sie auf den historischen Atlas der europäischen Nationen zurückzubringen. Im historizistischen Modus des 19. Jahrhunderts wird der Versuch erkennbar, die Modernität der Nation als Eintreffen einer neuen Epoche aus der alten zu antizipieren. Wenn Antun Barac, der einflussreiche kroatische Literaturhistoriker der älteren Generation, Šenoa als einen Dichter der Übergangszeit „zwischen Feudalismus und Demokratie, zwischen Realismus und Romantik“ 79 bezeichnet, könnte man ihn auch als einen Vermittler zwischen Nation und Imperium ansehen, denn aus der großräumigen mythologischen Imagination des Imperialen und aus der Gemengelage unterschiedlicher historischer Formationen wird das Eigene herauskristallisiert. Die symbolische Transformation des ursprünglich semantisch nicht eindeutigen und konfliktreichen Stoffes wird damit sichtbar: von einem peripheren Grenzraum in ein immer schon nationales Eigenes, jedoch innerhalb eines als Totalität konzipierten imperialen Raums. 75 Wolff, Larry: Venice and the Slavs. The Discovery of Dalmatia in the Age of Enlightenment. Stanford: Stanford UP 2001, S. 5. 76 Said, Edward: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt/ Main: Fischer 1994. 77 Essen: Plädoyer, S. 11. 78 Ebd., S. 19. 79 „Živeći u prelazno doba, između feudalizma i demokracije, između romantike i realizma“. Barac: Šenoa, S. 96. <?page no="66"?> 66 Milka Car <?page no="67"?> 5 Narrative der (imaginären) Verlagerung <?page no="68"?> 6 <?page no="69"?> 69 Nationale Wege, imperiale Straßen Anna Hodel Nationale Wege, imperiale Straßen. Einige Betrachtungen zu südslawischen Reisetexten der Romantik Nationale,transnationale undimperiale Sinn-und Forschungsperspektiven Die Textkulturen der südslawischen Romantiken sind eng mit der Erschreibung einer national kodierten Sinnperspektive verbunden, 1 die kulturelle und politische Identitätsformen ebenso wie Raum- und Grenzkonstruktionen prägte (und bis heute prägt). Es ist deshalb nachvollziehbar, dass die Literatur- und Kulturwissenschaft zu diesem Zeitraum das nationale Narrativ über weite Strecken befördert, indem sie sich einen nationalen Rahmen setzt. Eine Herausforderung stellt sich der Forschung dann, wenn sie versucht, die Selbstverständlichkeit der nationalen Kategorie soweit in Frage zu stellen, dass der Heterogenität der kulturellen und politischen Bewegungen dieser Zeit Rechnung getragen werden kann, ohne die Bedeutung der nationalen Perspektive zu negieren. Stattdessen soll sie als eine Stimme in einer komplex wechselwirkenden Vielstimmigkeit von Sinn- und Forschungsperspektiven verortet werden. In den aktuellen Kulturwissenschaften kommen transnationale Ansätze dann zur Anwendung, wenn ein (Zeit)Raum und seine Ordnungspraktiken durch nationale Grenzen nicht erschöpfend zu erfassen sind, oder wenn die Nation (noch) keine eindeutige Kategorie darstellt. 2 Beides trifft auf die südslawischen Romantiken zu. So wurden zu dieser Zeit neben der Emanzipation und Einigung des eigenen Volkes gleichzeitig verschiedene Varianten kultureller oder politischer transnationaler Einheiten imaginiert, von frühen Jugoslawismus-Entwürfen mit wechselnden Zentren bis zu austro- oder pan- 1 In Bezug auf die kroatische Romantik wird dem Begriff der Romantik als Epochenbezeichnung oft der Begriff des „narodni preporod“ (Wiedergeburt des Volkes) vorgezogen. Vgl. Živančević, Milorad: „Tipologija hrvatskog i srpskog romantizma“, in: Grčević, Franjo (Hg.): Komparativno proučavanje jugoslavenskih književnosti. Drugi zbornik radova, Zagreb: Zavod za Znanost o Književnosti 1985, S. 30-33, S. 30. 2 Pernau, Margrit: Transnationale Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 7, S. 18-19. <?page no="70"?> 70 Anna Hodel slawischen Projekten. Der illyrischen Bewegung, um ein Beispiel zu nennen, ist daher eine Ambivalenz inhärent, die nicht nur die gleichzeitige Verfolgung national-kroatischer und transnational-(süd)slawischer Ziele zuließ, sondern auch deren systematische Vermischung. Diese Problematik wird entscheidend durch die dehnbare Valenz des (süd)slawischen Begriffs narodni verschärft, der sowohl „volks-“ als auch „national“ im institutionellen Sinn meinen kann. Der Illyrismus ist somit immer narodni, ob in seiner national-kroatischen oder (süd)slawisch-transnationalen Ausrichtung. 3 Ein anderer Fokus der transnationalen Forschung richtet sich auf die imperiale Situation, 4 welche große Teile Europas bis zum Ersten Weltkrieg (und darüber hinaus) bestimmte. Die neuere Imperiumsforschung als eine Spielart der transnationalen Forschung nimmt das Programm der Orientalismuskritik und des Postkolonialismus auf und versucht, statt einer strikten Trennung der nationalen und imperialen Geschichte einen gemeinsamen Referenzrahmen zu etablieren, welcher den zeitlichen und systematischen Zusammenhang zwischen der Entstehung von national und imperial kodierten Räumen erfassen kann. 5 Das neue Interesse an Imperien stellt die Frage, nach welchen Kategorien Akteure ihr gesellschaftliches (z.B. räumliches) Umfeld ordnen und wie sich diese Konstruktionen in kulturellen Praktiken niederschlagen. 6 Es geht deshalb nicht - wie im Fall der Postcolonial Studies - ausschließlich darum, „Emanzipationsnarrative zu entwerfen (und dabei z.T. wieder in das Muster des Nationalen zu geraten), sondern darum, imperiale Prägungen als kulturelles Faktum zu erforschen.“ 7 3 Vgl. Kohler, Gun-Britt: „‚U ilirsko kolo mili vratite se srodni puci...‘ Die Ambivalenz des nationalen Raumes zur Zeit des kroatischen Illyrismus“, in: Zeitschrift für Balkanologie 42 (2006) 1-2, S. 91-116, S. 112. Die Ambivalenz des illyrischen Raumes findet sich des weiteren darin bestätigt, „dass der Illyrismus im ehemaligen Jugoslawien als ‚Vorläuferbewegung‘ des politischen Jugoslawismus verstanden wurde, während die heutige kroatische Forschung [...] die Relevanz ihres ‚südslawischen‘ Anliegens schmälert“ (ebd., 113). 4 Zum Begriff der imperialen Situation vgl. „Što takoe ‚novaja imperskaja istorija‘, otkuda ona vzjalas’ i k čemu ona idet. Beseda s redaktorami žurnala Ab Imperio Il’ej Gerasimovym i Marinoj Mogil’ner“, in: Logos 1/ 58 (2007), S. 218-238, S. 224f. Der Begriff der „imperialen Situation” meint nicht nur den Zeit-Raum tatsächlich existenter Imperien, sondern grundsätzlich gesellschaftliche Situationen und Praxen, die sich durch die parallele Existenz divergenter sozialer Hierarchien und Wertesysteme kennzeichnen lassen. 5 Vgl. Perneau: Transnationale Geschichte, S. 59-60. 6 Zur Lebenskultur in Imperien vgl. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2011, insbesondere das Kapitel: „Imperien: Wie man darin lebt.“ 7 Frank, Susi K.: „Thesen zum imperialen Raum am Beispiel Russland“, in: Grob, Thomas/ Zink, Andrea/ Previšić, Boris (Hg.): Erzählte Mobilität in östlichen Europa. (Post) Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination. Tübingen: Francke Verlag 2014, S. 197-219, S. 198. Vgl. zum imperialen Raum auch: Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt <?page no="71"?> 71 Nationale Wege, imperiale Straßen Die Textwelten der südslawischen Romantiken prägen in einer Verflechtung kultureller und politischer Sinnperspektiven Vorstellungen von Eigen- und Fremdräumen aus, die nachhaltig mit imperialen Ordnungsprinzipien interagieren: sei es in Form von bewusster Ablehnung und Kontrastsuche (so gegen das Osmanische Imperium oder etwa Ungarn), sei es aber auch in Form von (teils unbewusster) Übernahme und Teilhabe. Dergestalt entfalten sich Erzählpotentiale, die oft sogar dann plurale transnationale und imperiale Raumerfahrungen spiegeln, wenn sie in „nationaler“ Absicht geschrieben sind. 8 Geopoetik und Reisetexte als „kulturelle Raumpraxis“ Die Geopoetik als „Darstellprozess konkreter und imaginärer Räume“ 9 ist eine identitätsstiftende Praxis. In der Affirmation oder Hinterfragung kultureller oder politischer Diskurse formen, prägen und reflektieren GeopoetikerInnen soziale und subjektive Identitäten. Mittels figurativer oder narrativer Verfahren der symbolischen Konstruktion eines Geo-Raumes definieren sie, egal, ob sie eher hegemonial oder emanzipatorisch auftreten, kulturellen Raum. 10 Sie sind deskriptiv und performativ gleichzeitig, oder besser: performativ unter dem Deckmantel des Deskriptiven. 11 Der dargestellte Raum wird in seinen Diskursreferentialitäten zum Bedeutungsmedium kultureller Sinn- und Wertsysteme: „Kulturell vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im Raum eine konkret anschauliche Manifestation.“ 12 Gerade angesichts der Labilität von Wendezeiten, 13 zu welchen die südslawische Romantik als eine Zeit der politischen, kulturellen und ästhetischen 2005. V.a. das Kapitel: „Zivilisierung und Barbarengrenze: Merkmale und Aufgaben imperialer Ordnung.“ 8 Vgl. Grob/ Zink/ Previšić: Imperium, Nation und Mobilität, S. 15. 9 Vgl. Sasse, Sylvia: „Literaturwissenschaft“, in: Günzel, Stephan (Hsg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2009, S. 225-241, S. 236. 10 Vgl. Frank, Susi K.: „Geokulturologie - Geopoetik. Definitions- und Abgrenzungsvorschläge“, in: Marszalek, Magdalena/ Sasse, Sylvia (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, S. 19-42, S. 27. 11 Vgl. ebd., S. 34. 12 Hallet, Wolfgang [et al.] (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 11. 13 Wendezeiten prägen nach Ramin eine Labilität zwischen Variabiliät vs. Invarianz, zwischen kulturellem Erbe vs. Erneuerung und zwischen einer Fortschrittsvs. Defiziterfahrung. Vgl. Ramin, Andreas: Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität. Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit. München: Iudicium 1994, S. 24. <?page no="72"?> 72 Anna Hodel Umgestaltung gehört, ist die sinnstiftende Reorganisation des Geo-Raumes von großer Dringlichkeit. 14 Dass die südslawischen Romantiker besonders engagierte Geopoetiker waren, erstaunt deshalb kaum. 15 Tatsächlich verwenden sie oft Motive und narrative Verfahren mit geopoetischer Dimension. In einer Vielzahl von Texten figurieren die (geographische) Ausdehnung des Eigenraumes, 16 die (sujetbildende) Überschreitung der Grenze zum Fremdraum, 17 das Motiv der (topographischen) Verankerung in der (Mutter) Erde, 18 die (symbolische) Natur oder topographische Partikularitäten als Plattform individueller oder kollektiver eigenräumlicher Aspirationen 19 zentral. Neben einigen für eine romantische Weltanschauung typische Tonlagen zeugen andere dieser Motive von einem Geodeterminismus nationaler Prägung, der nationale Zuschreibungen aus den Qualitäten des als konstitutiv beanspruchten Territoriums gegenüber ableitet. 20 Interessant im vorliegenden Zusammenhang sind nun jene Raumstrukturen, die mit einem nationalen Emanzipationsnarrativ nicht beziehungsweise nicht vollständig erklärt werden können. 14 Ebd., S. 4-5. 15 Nicht wenige von ihnen hatten auch konkrete (geo)politische Funktionen inne, so Vuk Karadžić, Petar Petrović Njegoš, Ivan Mažuranić oder Ivan Kukuljević Sakcinski u.a. 16 Vgl. z.B. „Od Stambula grada do Kotora, / Od Crnoga do jadranskog mora / Njegovu carstvu prostor puče. / Tuj po gorah i dolinah / Preko devet pokrajina [...]“ Preradović, Petar: „Rodu o jeziku“, in: ders: Pozdrav domovini. Izabrane Pjesme, Zagreb: Matica Hrvatska 1968, S. 95-98, S. 97. [„Von Stambul bis zur Stadt Kotor, / Vom Schwarzen bis zum Adriatischen Meer / erstreckt sich ihr (der slavischen Sprache - Anm. v.d. Verf.) Königreich / Über Berge und Täler / Über neun Provinzen [...].“ - Hier und überall wo nicht anders vermerkt: Übers. v. d. Verf.] 17 Die Grenze zum osmanischen Reich, teilweise aber auch zum Westen (beispielsweise Venedig oder Ungarn) ist eine der zentralen sujetbildenden Momente in vielen Texten, was hier im Folgenden noch Thema sein wird. 18 Vgl. z.B. „Zemljo naša, zemljo mila,/ Slavna majko roda slavne, / Ti kolijevko starodavna / Gdje se rađa hrabra sila, / Od vjekova koja sveđe / Krstu brani svete međe.“ [„Unsere Erde, liebe Erde, / Ruhmvolle Mutter eines ruhmvollen Geschlechts, / Du Wiege seit jeher / Wo die mutige Kraft geboren / Seit Jahrhunderten führst du zusammen / das Kreuz verteidigt das heilige Schwert.“] Preradović, Petar: „Naša zemlja“, in: Ders: Pozdrav domovini, S. 124-125, S. 124. 19 „Crni oblaci, puni dažda [...], vise nad nami i domovinom našom, silne velike vode opkoljivaju nas od svih stranah i groze nam sa strašnom poplavicom; kako se možemo od nje osloboditi, nego ako jame i kanale kopali budemo [...] i ako tvrdi most sagradili budemo, po kojem ćemo na suhom preko nih proći [...]; taj je most naš materinski jezik [...]“ Kukuljević Sakcinski, Ivan: Govor održan 2. svibnja 1843. u Hrvatskom saboru, in: (Ders.) Izabrana Djela. Matica Hrvatska: Zagreb 1997, S. 619-623, 623. [„Schwarze Wolken voller Regen [...], hängen über uns und unserer Heimat, starke grosse Wasser umgeben uns von allen Seiten und drohen mit einer schrecklichen Überschwemmung; wie können wir uns anders von ihr befreien, als wenn wir Gräben und Kanäle graben [...] und eine sichere Brücke bauen, über die wir uns ins Trockene retten können; diese Brücke ist unsere Muttersprache.“] 20 Vgl. Frank: „Thesen zum imperialen Raum“, S. 207. <?page no="73"?> 73 Nationale Wege, imperiale Straßen Die Bedeutung der Geopoetik als Modus der südslawischen romantischen Literaturen zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass ein wichtiges Prosagenre der Epoche die Reiseliteratur darstellt, welche eine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem Raum bedeutet. 21 Gleichzeitig zeugt die Reiseliteratur auch von (veränderten) Reisegewohnheiten - und ist in dem Sinne mindestens doppelt eine „kulturelle Raumpraxis“ 22 zu nennen. Deshalb sollen einige südslawische romantische Reisetexte im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Die südslawische Literaturforschung kennt gegenwärtig, wie eingangs erwähnt, wenig transnationale Ansätze, auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder Versuche gab, am meisten vor und während der Existenz der beiden Jugoslawien. 23 Indes sind oft auch jugoslawische Gesamtbetrachtungen in Kapitel zu den einzelnen Völkern beziehungsweise Nationen aufgeteilt. 24 Hier soll nun für die südslawischen Reisetexte der Romantik 25 eine transnationale Forschungsperspektive, wie sie oben beschrieben wurde, erprobt werden. Südslawische Reiseliteratur der Romantik In der kroatischen Literaturgeschichtsschreibung ist die (kroatische) romantische Reiseliteratur ein mehr oder weniger etabliertes Genre. 26 Was die serbische romantische Reiseliteratur betrifft, so ist in letzter Zeit das Interesse an den (v.a. serbischen) Zeitschriften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewachsen, in denen Reiseberichte eine zentrale Stellung einnehmen. Damit 21 Für die Geopoetik (bzw. Topographie) als Dominante des Reisetextes vgl. Bagić, Krešimir: „Opis, putopis, maštopis“, in: Vijenac 488, S. 9. 22 Vgl. Frank, Susi: „Russische ‚Reisetexte’ um 1935“, in: Kissel, Wolfgang Stephan (Hg.): Flüchtige Blicke. Relektüren russischer Reisetexte des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: Aisthesis 2009, S. 223. 23 Vgl. die Darstellung der Entwicklung der südslawischen Literaturwissenschaft bei: Deretić, Jovan: Put srpke književnosti. Identit, granice, težnje. Srpska književna zadruga. Beograd 1996. Vgl. v.a. S. 63-66 und S. 71-76. 24 Vgl. z.B. Barac, Antun: Jugoslavenska književnost. Matica Hrvatska: Zagreb 1963. 25 Über den Zeitraum der südslawischen Romantiken herrscht keine Einigkeit. Während man in der kroatischen Literaturwissenschaft die kroatische Romantik als Narodni Preporod (Volkswiedergeburt) begreift und damit den Zeitraum des Wirkens der Novine ilirske (1833-1848) und einiger zentraler illyrischer Akteure um Ljudevit Gaj meint, setzt die serbische Literaturgeschichtsschreibung den Höhepunkt der serbischen Romantik meist ab 1847 an, als es mit dem Erscheinen einer neuen Dichtergarde (Branko Radičević, Laza Kostić, Đura Jakšić und Jovan Jovanović Zmaj) zu einem Generationenwechsel kam. (Vgl. z.B. Deretić, Jovan: Istorija srpske književnosti. 4. izdanje. Prosveta: 2004, Beograd, S. 659.) Eine vergleichende Untersuchung der Konzipierungen der südslawischen Romantik in den einzelnen literaturwissenschaftlichen Traditionen steht noch aus. 26 Vgl. Duda, Dean: Priča i putovanje. Hrvatski romantičarski putopis kao pripovjedni žanr. Zagreb: Matica Hrvatska 1998. <?page no="74"?> 74 Anna Hodel ist eine Reihe von bislang unbekannten (serbischen) Reisetexten aus dieser Zeit (wieder)entdeckt worden. 27 Fasst man den Begriff des Reisetextes etwas breiter und bezieht auch Texte mit ein, die nicht explizit als Reiseberichte erschienen sind, aber eindeutig geopoetisch Raum verhandeln und aufgrund von Reisen entstanden sind, dann geraten auch sehr bekannte (serbische) Texte in den Fokus, wie jener über Montenegro von Vuk Karadžić, der in der deutschen Reihe Reise- und Länderbeschreibungen der älteren und neuesten Zeit erschien. 28 Überblickt man so das Korpus der heute zugänglichen südslawischen romantischen Reisetexte, dann bietet sich - wenigstens nach geopoetischen Schwerpunkten 29 - eine Unterteilung in vier (beziehungsweise fünf) Typen an, die einen ersten Einblick in die geopoetische Heterogenität dieser Zeit vermitteln: Zum ersten Typ, der streng genommen gar nicht zu den südslawischen Reisetexten gezählt werden kann, wegen seiner stilbildenden Kraft aber erwähnt werden muss, gehören in südslawischen Zeitschriften rege erscheinende, übersetzte Berichte westlicher Reisender. 30 Es sind Texte über den „exotischen Orient“ (und den ebensolchen Balkan), die sich unter den Südslawen großer Beliebtheit erfreuten, weshalb von Anfang an von einem Dialog zwischen der Fremd- und Eigensicht ausgegangen werden muss. 31 Der zweite Typ führt die südslawischen Reisenden nach Westeuropa, meistens nach Italien oder Deutschland. 32 Diese Reisen gehören in den Kanon 27 Vgl. Peković, Slobodanka (Hg.): Knjiga o putopisu. Beograd: Institut za književnost i umetnost 2001. 28 Karadžić, Vuk Stefanović: Montenegro und die Montenegriner. Ein Beitrag zur Kenntnis der europäischen Türkei und des serbischen Volkes, Stuttgart-Tübingen: o.V. 1837. Reise- und Länderbeschreibungen der älteren und neuesten Zeit. Mit Karten. Elfte Lieferung. (Alle folgenden Zitate stammen aus: Karadžić, Vuk Stefanović: „Montenegro und die Montenegriner.“ In: (Ders.): Sabrana Dela Vuka Karadžića. Beograd: Prosveta 1972. Band XVIII. S. 23-193.) In der Vorrede der deutschen Herausgebers heißt es: „Anliegend theilen wir hier unsern Lesern eine Schilderung des Ländchens Montenegro von einem Manne mit, der seine Nachrichten auf mehrfältigen Reisen an Ort und Stelle gesammelt hat.“ (Vgl. ebd. S. 29.) 29 Zweifellos wären auch Unterteilungen nach anderen Schwerpunkten möglich. Duda disktuiert beispielsweise jene des Wissenschaftlers, Historiografen oder Schriftstellers. Vgl. Duda: Priča i putovanje, S. 17. 30 Für eine Sammlung westlicher Reisetexte über den Balkan vgl. z.B. Hammond, Andrew (Ed.): Through another Europe. An Anthology of Travel Writing on the Balkans. Oxford: Signal Books 2009. Ders: British Literature and the Balkans. Themes and Contexts. Studia Imagologica. Amsterdam: Editions Rodopi 2010. 31 So übersetzt Teodor Petranović (Herausgeber des Srpsko-dalmatinski magazin) z.B. Lamartines Voyage en Orient, das auch positive Stellen über Serbien erhält. Vgl. Bulatović, Branka: „Putopisi u prvim srpskim listovima do 1850. godine“, in: Peković: Knjiga o putopisu. S. 27-33, S. 28. Einige später erscheinende Reiseberichte über den „Orient“ existieren auch aus südslawischer Feder. Vgl. dazu Rošulj, Žarko: „Putovanje po istoku Pere Todorovića“, in: Peković, Slobodanka (Hg.): Knjiga o putopisu, S. 305-312, v.a. S. 305f. 32 Vgl. den ersten Teil der Putositnice von Antun Nemčić Gostovinski, der den Autor nach Italien führt, oder die Putovanje iz Beograda u Italiju (Austrijsku) prošlog leta 1847 von <?page no="75"?> 75 Nationale Wege, imperiale Straßen von Bildungs- und Kulturreisen, wie er seit der Aufklärung in ganz Europa existiert. Sie führen in eine kulturelle Vergangenheit beziehungsweise Zukunft und bemühen sich um die Konstitution eines europäischen kulturellen Gedächtnisraumes, imaginieren damit eine Einheit, in welche der (südslawische) Eigenraum eingeschrieben wird - auch wenn potentielle Differenzen eine Rolle spielen. 33 Der dritte Typ umfasst die reisenden (Geo)Poetisierungen eines (pan-) slawischen Raumes. In diese Gruppe gehören Reisende, die den slawischen Raum allgemein und im besonderen Russland als sein Zentrum bereisen. 34 Ähnlich wie bei Typ II geht es auch hier um die Etablierung eines mehr oder weniger einheitlichen Gedächtnis- und Kulturraumes. In der Begehung und Erforschung der slawischen Schwesternkulturen erfolgt die performative Behauptung einer slawischen Zusammengehörigkeit und Einheit. 35 Zum vierten Typ sind Reiseberichte zu zählen, die sich überwiegend auf den Eigenraum konzentrieren, teilweise auch über Gebiete hinweg, die (noch) nicht in einem Staat vereint waren. Das Interesse an der eigenen Geschichte, der eigenen Sprache und Kultur wird oft mit dem Lamentum verbunden, dass sonst nur aus fremden Quellen etwas über das Eigene erfahren werden könne und steht hier zweifellos mit einer nationalen Sinnperspektive im Zusammenhang. 36 Der fünfte Typ kann gleichzeitig als Unterkategorie des IV. und als Variation des I. betrachtet werden, funktioniert aber anders. Er führt die Reisenden nach Bosnien, ins osmanische Serbien, in die kroatische Militärzone oder nach Montenegro: an die designierten Ränder des Eigenraumes (beziehungsweise darüber hinaus). Anders als bei Typ I geht es hier nicht um das Andere im Sinne des Exotischen, sondern in einer transformierenden Aneignung um das eigene Fremde, das eigene Andere, das zwar Züge des Fremden aufweist, gleichzeitig aber das Eigene ist beziehungsweise in die Sphäre des Eigenraumes integriert werden soll. Es geht deshalb auch nicht, wie bei Typ II, III oder Jovan Gavrilović, die 1848 in der Podunavka Nr. 2-14 erscheint. Vgl. Bulatović: Putopisi, S. 31. 33 Bei Nemčić steht der lichten italienischen Gegenwart eine horrende kroatische Gegenwart, indes eine lichte kroatische Zukunft gegenüber, wenn es sich denn wieder seiner kulturellen Wurzeln besinnt. Vgl. Duda: Priča i putovanje, S. 243. 34 Vgl. z.B. Sima Milutinović Sarajlijas Kako sam putovao ja po Rusiji 1846. godine, der 1847 in den Srpske Novine erschien. Vgl. Maticki, Miodrag: „Slavjanstvo u Putopisu Sime Milutinovića Sarajlije“, in: Peković, Knjiga o putopisu, S. 89-93. Sarajlija reflektiert in diesem Text an jeder Ecke über das große und wunderbare Slawentum und tauft sich in Kiev und anderen Orten in den Flüssen noch „slawischer“. Er preist die slawische Gastfreundschaft und sieht in der Euphorie über das Slawentum eine neue Ära der Slawen kommen, wenn sie als ein Volk frei und stark würden. (Vgl. Maticki: Slavjanstvo, S. 91-92.) 35 Beliebte Auseinandersetzungen dieser Reisenden spielen sich z.B. in der etymologischen Toponym-Forschung ab, um zu beweisen, dass der ganze von ihnen bereiste Raum immer schon slawisch war. Vgl. Bulatović: Putopisi, S. 29. 36 Vgl. Duda: Priča i putovanje, S. 103. Ein Beispiel für diesen Typ ist z.B. Stanko Vraz’ Put u gornje strane. <?page no="76"?> 76 Anna Hodel IV, um die Konstituierung eines mehr oder weniger homogenen kulturellen Wir-Raumes; dafür bleibt die spannungsgeladene Differenz zwischen dem Eigenen und dem eigenen Fremden zu zentral. Auffällig ist, dass diese Reisen allesamt nicht nur an den Rand des Eigenraumes, sondern damit in einen imperialen Grenzraum führen beziehungsweise in den Zwischenraum zweier Imperien (dem christlichen und islamischen bzw. Österreich-Ungarischen und Osmanischen) und dass der (eigene) imperiale Raum sowie die Grenze zum fremden Imperium für mehrere Textebenen und besonders für die Geopoetik von essentieller Bedeutung sind. 37 Deshalb soll hier dieser V. Typ als potentiell am stärksten ‚imperialer Reisetext ‘ genauer untersucht werden. Dabei sind zwei Momente zu fokussieren, die allgemein für die symbolische Konstruktion des imperialen Raums typisch sind: Erstens die bereits erwähnte Konstruktion von eigenen Anderen als Beispiel der imperialen Differenzpolitik („politics of difference“), wie sie vor allem die historische Imperiumsforschung erarbeitete. 38 Eigene Andere sind auf symbolischer Ebene symptomatisch für die Differenzen, die innerhalb des heterogenen imperialen Raums konstruiert werden. Sie werden zwar einem übergeordneten Gemeinsamen (Idee, Religion) unterstellt, die ethnisch-kulturelle Vielfalt und damit Differenz bleibt für das imperiale Selbstverständnis aber konstitutiv und steht daher im Gegensatz zur Homogenität eines nationalen Raumes, der ein eindeutige(re)s In- und Exklusionssystem generiert. 39 Und zweitens die Konstruktion des (imperialen) Grenzraums als einer Zone politischer und kultureller Unbestimmtheit und gleichzeitig als wichtiger Hort kultureller, sozialer und politischer Dynamik. Hierzu liefern neben den „Imperiums-Historikern“ (Osterhammel, Münkler, Burbank/ Cooper) verschiedene Kultur- und Literaturwissenschaftler (Jurij Lotman, Albrecht Koschorke, Victor Turner, Homi Bhabha, Edward Soja u.a.) interessante Anstöße. Sie alle konzeptionalisieren den Grenzraum auf die eine oder andere Weise als ausgedehnten Zwischenraum (vgl. auch Thirdspace), in dem binäre Opposi- 37 Das islamisch-osmanische Thema war für die südslawischen Literaturen schon immer von großer Bedeutung, wie einige einschlägige Werke seit der dalmatinischen Literatur der Renaissance (v.a. Marko Marulić und Ivan Gundulić) sowie eine Reihe der zentralen Motive aus der Volksliteratur zeigen. Vgl. Kohler, Gun-Britt: Der osmanischmuslimische „Orient“ in der kroatischen Literatur der „Romantik“ im Spannungsfeld von Poetik und nationaler Identität, in: Kissel, Wolfgang Stephan (Hg.): Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen. Frankfurt/ Main: Peter Lang 2012, S. 369-388. Vgl. auch: Lešić, Branko: „Naši krajevi kao granica dva sveta u putopisima 17-19. veka“, in: Peković: Knjiga o putopisu, S. 375-381. 38 Vgl. in erster Linie: Burbank, Jane/ Cooper, Frederick: Empires in World History. Power and the Politics of Difference. Princeton: University Press 2010. S. 1-22. Münkler nennt die Eigenen Anderen auch „Barbaren“. Vgl. Münkler: Imperien, S. 150. 39 Vgl. die Definition von nationalem Raum bei Osterhammel: Die Verwandlung, 582. Dahingegen sind imperiale Ideologien „Ideologien der exklusiven Inklusion. Imperien operierten stets mit einer inneren - v.a. ethnisch-territorialen - Differenzierung.“ Vgl. Frank: Thesen zum imperialen Raum, S. 205. <?page no="77"?> 77 Nationale Wege, imperiale Straßen tionen aufgelöst und das (semantisch) Ambivalente, Polyvalente oder Defigurierende eine eigene Kultur entwickelt. 40 Dass diese Grenzraumkonzeptionen besonders gut für die Erforschung des imperialen (Grenz-)Raums geeignet sind, zeigt Susi Frank am Beispiel von Lotmans Semiosphäre: diese setzt stets eine Spannung zwischen einem Zentrum von höchster Homogenisierung und einer Peripherie, die von Heterogenität, Dynamik und verschiedener, sich überlappender Oppositionen, Hierarchien und Grenzziehungen geprägt ist, voraus, und passt somit wenig in eine nationale Raumorganisation. 41 Folgende Texte bilden das dergestalt eingegrenzte Textkorpus: Karadžićs erwähnter Montenegro-Text Montenegro und die Montenegriner (1837); Matija Mažuranićs Pogled u Bosnu ili kratak put u onu krajinu (1842); Antun Nemčićs Putositnice (1844 bzw. 1847), Ivan Kukuljević Sakcinskis Putovanje u Bosni (1858) und Ivan Frano Jukićs Zemljopisno-povjestno opisanje Bosne und Putovanje iz Dubrovnika preko Hercegovine u Fojnicu (1841-1842). Vuks Montenegro liegt an der äußersten Grenze des Osmanischen Reiches 42 , Mažuranićs, Kukuljević Sakcinskis und Jukićs Bosnien ist ebenfalls Osmanischer Grenzraum und Nemčić reist (im zweiten Teil von Putositnice 43 ) auf der Sava, d.h. just auf der Grenzlinie zwischen dem Habsburgerischen und dem Osmanischen Reich, die ihn durch die vojna hrvatska (Militärzone) führt. Eigene Andere und die politics of difference Vergleicht man die Anfänge der genannten Texte, springt ihre Ähnlichkeit ins Auge: Sie gehen alle zunächst von einer Einheitlichkeit des Wir-Raumes aus, wobei die zu bereisenden Gebiete zwar (noch) unbekannt sind, mit besserer Bekanntheit aber in den Eigenraum integriert werden sollen. So heißt es bei Karadžić im Vorwort seines Montenegro-Textes: Merkwürdig ist, wie wenig Europa in der Kenntnis dieses Volksstammes bis heute fortgeschritten ist. Die meisten Gelehrten und Diplomaten wissen bes- 40 Für eine gute Übersicht dieser Auseinandersetzungen vgl. Günzel, Stephan (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2009. Siehe v.a. S. 177-192: „Postkolonialer Raum, Grenzdenken und Thirdspace.“ 41 Vgl. Frank: Thesen zum imperialen Raum, S. 198 und S. 217-219. 42 Montenegro erreichte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine faktische Unabhängigkeit, blieb formal indes über weite Gebietsteile hinweg Teil des Osmanischen Reiches bis 1878. Vgl. Miedlig, Hans-Michael: „Zur Frage der Ethnizität und Identität der Montenegriner in Geschichte und Gegenwart“, in: Zeitschrift für Balkanologie 42 (2006), S. 146-165, S. 161. 43 Der erste Teil führt Nemčić nach Italien, der zweite Teil, in dem er in den imperialen Grenzraum reist, ist erst posthum erschienen, und es ist anzunehmen, dass er von Nemčić noch weiter bearbeitet worden wäre, denn er ist im Vergleich zum ersten weniger literarisch und stilisiert. Das macht ihn unter Umständen aber auch gerade zu einem „ehrlicheren“ Dokument über Nemčićs geopoetisches Wahrnehmen. <?page no="78"?> 78 Anna Hodel ser, was am Nil und Euphrat geschieht, wie die Völker dort leben, und wie sie heißen, als z.B. in der Herzegowina und in Montenegro. 44 In der Ankündigung zur serbischen Ausgabe formuliert Karadžić: „Wie für einzelne Menschen so auch für ganze Völker ist die erste und wichtigste Wissenschaft: sich selber zu erkennen.“ [„Како за јединствене људе, тако и за цијеле народе прва је и најпотребнија наука: познати себе.” 45 ] Und in einem Brief über seine Reise nach Montenegro: „Ich wollte schon lange hören, wie unser Volk in dieser Region spricht und sehen, wie es lebt.“ [„Ја сам одавно желио да чујем како народ наш по овим крајевима говори и да видим како живи.” 46 ] Während das deutsche Publikum 47 Montenegro zusammen mit der Herzegowina als (noch) unbekannter Raum vorgestellt bekommt, wird Karadžić gegenüber dem serbischen Publikum deutlicher: Montenegro beziehungsweise das montenegrinische Volk ist Teil des (serbischen) Eigenraumes. Ein immer wiederkehrender Refrain seines Textes lautet denn auch: „Alle Montenegriner sind Slawen serbischen Stammes, griechischer und nicht unirter Religion.” 48 Diese Aussage, die einer topographisch-ethnischen Lokalisierung des (Serbenbzw.) Südslawentums entspricht, wie sie auch einige der frühen Slawisten (z.B. Dobrovský, Kopitar) teilten, entfaltet ihren inkludierenden Gestus in Karadžićs Text nicht nur auf der räumlichen Ebene mit einer sehr langen und ausführlichen Aufzählung all der Gebiete, die von den „Slaven serbischen Stamms“ bewohnt würden, 49 sondern auch auf der historischen mittels Zuordnung zum „ehemaligen serbischen König- und Kaiserreich” 50 sowie auf der sprachlichen, indem erklärt wird, dass die dialektalen Unterschiede zwischen Dresdenern und Wienern wesentlich größer seien als jene zwischen den Bewohnern von Kragujevac und Ragusa (Dubrovnik). 51 Mittels dieser performativen Raumpraktik ist ein serbischer (beziehungsweise slawisch-orthodoxer) Wir-Raum definiert, in dem zunächst explizit keine Differenzen existieren. Wenn auch nicht ganz so pronociert, so beginnt Matija Mažuranićs Reisebericht Pogled u Bosnu, der erstmals 1842 in Ljudevit Gajs illyrischer Druckerei in Zagreb erschien, doch ähnlich: 44 Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, S. 37. 45 Vgl. Karadžić, Vuk Stefanović: „Objavljenije o knizi ‚Crna Gora i Boka Kotorska‘ 1937“, in: Ders.: Sabrana Dela Vuka Karadžića. Beograd: Prosveta 1972. Band XVIII, S. 601- 602, S. 601. (Übers. v. d. Verf.) Die serbische Ausgabe seines Montenegrotextes konnte aus verschiedenen Gründen erst posthum erscheinen. 46 Zitiert in: Dobrašinović, Golub: Vuk Stefanović Karaždić. Život delo lik. Kragujevac: N. Nikolić 1983, S. 44. 47 Vuks Schrift erschien in der besagten Reihe der Reise- und Länderbeschreibungen in Stuttgart und Tübingen unter intensiver, auch sprachlicher Mithilfe des Herausgebers der Reihe. 48 Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, S. 37. 49 Ebd., S. 37f. 50 Ebd., S. 34. 51 Ebd., S. 37. <?page no="79"?> 79 Nationale Wege, imperiale Straßen […] wir haben die Deutschen und Italiener, die Franzosen und die Engländer besser kennengelernt als uns selber, und über den Rest der Welt wissen wir nur soviel, wie wir von unseren nächsten westlichen Nachbarn erfahren konnten, die selber über Bosnien fast nichts wissen. […] Ist die Zeit nicht reif, dass wir uns endlich umdrehen und auf kürzestem Wege selber sehen gehen, in welchem Zustand sich dieser Teil unseres Illyriens befindet? [… naučismo se poznati i Njemce i Taliane, i Franceze i Engleze bolje neg nas samih, a o svem ostalom svjetu znasmo samo toliko, koliko se mogasmo naučiti od bližnjih naših zapadnih susědah, koji naravno ni sami skoro ništa o Bosni neznadu. […] Da li nije vrěme jurve, da se već jedan put obazrěmo, i najprěčiim putem sami vidimo, u kakvom se bitju ovaj dio naše Ilirie nalazi? 52 ] Bosnien ist nach Mažuranić ein Bestandteil Illyriens, wie seine Chiffre des Eigenraumes lautet, die Bosnier sind „unsere Brüder, wahre Illyrer“ [„naša bratja, pravi Iliri“ 53 ]. Auch Ivan Kukuljević Sakcinskis Putovanje u Bosni wird ähnlich eingeleitet, enthält indes einen Unterschied. So sagt der Autor über seine Reisemotive: […] denn es war schon lange mein geheimer Wunsch, ins benachbarte Bosnien zu gucken, woher meine Vorfahren gekommen sind und so viele andere kroatische Familien, wo man die gleiche Sprache spricht wie bei uns, welches uns wegen anderer Macht- und Verwaltungsverhältnisse aber trotzdem ferner und fremder ist als Rom oder Paris. [ … jer je već odavna biaše tajna moja želja zaviriti u susiednu Bosnu, odkuda su došli pradiedovi moji i toliko inieh porodicah hervatskieh; gdie se govori isti jezik kao i u nas; i koja nam je ipak, poradi različne vlade i upravljanja, dalja i stranija od Rima i Pariza. 54 ] Kukuljević Sakcinski geht von Anfang an nicht nur von einer Unbekanntheit (die bei Karadžić und Mažuranić mit der Reise potentiell überwindbar scheint), sondern auch von einer essentiellen Fremdheit Bosniens aus. Wie Kukuljević Sakcinski diese literarisch verarbeitet, wird sich im Folgenden zeigen. Interessant ist nun zu beobachten, wo auch bei Karadžić und Mažuranić Differenzierungsstrategien eingesetzt werden, die den anfänglich homogenen Wir-Raum mit inneren Grenzen durchsetzen. Nach der einleitenden Vereinheitlichung setzt Karadžić dazu an, innerhalb des Raums der „Slaven serbischen Stammes“ ein feines Netz des otherings beziehungsweise der politics of difference zu spannen, wobei er bei der Be- 52 Mažuranić, Matija: „Predgovor“, in: Ders.: Pogled u Bosnu ili kratak put u onu krajinu, učinjen 1839-40 po jednom domorodcu. Zagreb: Tisak zaklade tiskare narodnih novina 1938. S. XIII-XIV. 53 Ebd., S. XIV. 54 Kukuljević Sakcinski, Ivan: „Putovanje po Bosni“, in: Ders.: Izabrana Djela. Priredio Nikola Batušić. Zagreb: Matica Hrvatska 1997, S. 327-376, S. 327. <?page no="80"?> 80 Anna Hodel schreibung Montenegros zwischen einer Rousseau’schen Natürlichkeits- und Ursprungsreklamation (die Montenegriner als Ur- oder Protoslaven beziehungsweise -serben 55 ) und einem Zivilisationsbzw. Kulturdefizitlamento hin und her schwankt. Obwohl in viele Clan- und regionale Einheiten zersplittert, gäbe es nirgends auf der Welt eine einheitlichere, demokratischere und freiheitlichere Gesellschaft. 56 Diese Wahrnehmung geht bei Karadžić mit einer Essentialisierung des (Geo-)Raums einher, da nur das Gebirge eine derart freiheitliche, unabhängige und naturverbundene Kultur hervorbringen und bewahren könne. (Das Gebirge bildet dabei ein topographisches Motiv, das auch in den südslawischen romantischen Epen für die Gestaltung des Eigenraumes zentral figuriert. 57 ) Trotz oder gerade dank dieser Idealisierung sind die Montenegriner anders, es fehlt ihnen an Zivilisiertheit und Kultur („Dass die Montenegriner bei weitem nicht so religiös sind wie die übrigen Serben, z.B. jene in Serbien, ist eine ausgemachte Sache“ 58 ) und sie würden barbarischen Bräuchen (wie z.B. der Blutrache) anhängen. Das Ursprünglichkeits- und das Defizitnarrativ sind zwei der zentralen und oft miteinander verschränkten differenzschaffenden Strategien, die in allen der hier ausgewählten Texte zum Zuge kommen. Sie transportieren orientalisierende Klischees 59 und zeugen vom Einfluss eines (romantischen) West-Ost-Diskurses, ermöglichen es aber auch explizit, den Eigenraum in einen westlichen Kulturraum einzuschreiben. Beide Narrative wirken dabei gleichzeitig inklusiv und exklusiv: Die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit steigert die Zugehörigkeit der Beschriebenen (Montenegriner respektive Bosnier) zum (serbischen respektive illyrischen) Eigenraum ins Unermessliche, teilt den dergestalt Idealisierten für die eigene Identität aber auch eine Alteritätsfunktion zu. Die kultu- 55 Die Montenegriner als Protoslawen ist im serbischen (Reisetext)Diskurs ein wiederkehrendes Topos. Vgl. z.B. die Berichte des Schriftstellers, Diplomaten und Herausgebers von Zeitschriften, Ljubomir Nenadović (1826-1897). Dieser beschrieb in seinen Briefen O crnogorcima Montenegro als Ort seiner (seelisch-geistigen) Wiedergeburt, er ist begeistert von Natur und Natürlichkeit der Leute und von ihrer Ergebenheit an ihr Land. Vgl. Piruze-Tasevska, Violeta: „Putopisna pisma Ljubomira Nenadovića - počeci modernog srpskog putopisa“, in: Peković: Knjiga o putopisu, S. 79-88, v.a. S. 87. 56 Vgl. „[…] es existirt vielmehr hier vielleicht die grösste Gleichheit auf der ganzen Erde.” (Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, S. 57f.) 57 Vgl. Hodel, Anna: „Delegitimierung des Imperialen. Mažuranićs Smrt Smail-Age Čengića und Njegošs Gorski Vjenac im Spannungsfeld (trans)nationaler Po(e)(li)tik“, in: Frank, Susi (Hg.): Translatio. Begründungen und Erbschaften des Imperialen in Osteuropa. (Im Druck.) 58 Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, S. 88. 59 Vgl. Edward W. Saids 1978 erschienene Studie Orientalismus beziehungsweise die Übersetzung von Hans Günter Holl, die 2009 bei Fischer erschienen ist, und darin besonders das Kapitel: „Die imaginäre Geographie und ihr Darstellungen: Orientalisierung des Orients.“, S. 65-90. Vgl. auch: Greenleaf: Pushkin and Romantic Fashion, S. 111-117. <?page no="81"?> 81 Nationale Wege, imperiale Straßen rell-zivilisatorische Rückständigkeit bewirkt, dass sich die Autoren selber einer (westlich-)zivilisierten Welt einschreiben, gleichzeitig ihre Brüdervölker aber daraus ausschließen und zivilisatorischen Forderungen aussetzen. Für die Konstitution der Text-(und Reise-)Subjekte bedeutet das, dass sie zwischen einer doppelter Attraktion (Exotik der Fremde, Sehnsucht nach verlorener Heimat) und einer doppelten Fremde (fremd in der Fremde und entfremdet von der Heimat) hin und her gerissen sind. 60 Dies prägt eine weitere Differenzierungsstrategie aus, die den obigen zunächst entgegengesetzt scheint, sich schließlich aber als eine ergänzende erweist: der sujetbildende (lebensgefährliche) Grenzübertritt ins andere Imperium. So beginnt Mažuranićs Reise, nachdem er Bosnien als Teil des illyrischen Eigenraums definiert hat, mit der abenteuerlichen Überwindung der Osmanischen Grenze, wobei er beinahe das Leben verliert 61 und resultiert in einem Ankommen in einem völlig gegensätzlichen Raum. Wie sich dann herausstellt, entdeckt Mažuranić in Bosnien eine kulturelle Vielfalt und Differenzenpolyphonie, die sich zwar in seinen Eigenraum rückspiegelt und die singuläre osmanische Grenze an Bedeutung verlieren lässt, 62 ihm aber auch gänzlich die Orientierung raubt. Darauf wird im nächsten Kapitel noch einzugehen sein. Auch Antun Nemčićs Alter Ego in Putositnice (1844/ 1847) verkündet mit der Überschreitung der Militärgrenze zunächst den Eintritt ins Andere: „Es ist bekannt, dass man sofort, nämlich kaum hat man die Militärgrenze überschritten - ein anderes Leben und andere Menschen erblickt.“ [„Znamenito je to: da čovjek odmah, najme jedva što prjeko granice vojničke korači - drugi život i ljudstvo smotri.“ 63 ] Zunächst kann Nemčić dem nun betretenen Raum wenig abgewinnen. Er schreibt, die Militärgrenze habe einen wilden Charakter, ohne erhaben oder mindestens romantisch-wild zu sein. 64 Im weiteren Verlauf seiner Reise ändert sich indes seine Wahrnehmung. Er beginnt zuerst, die bosnische Landschaft zu bewundern und daraufhin auch, die Leute in lichte(re)n Farben zu sehen. 65 Schließlich geht er soweit, das Wortfeld naši (unsere) anzuwenden: „Sie sprechen außer ihrer eigenen Sprache, die, wie es heißt, eine Mischung aus Türkisch, Griechisch und Slawisch sei, ganz gut auch unsere Sprache.“ [„Govore osim svog jezika koji je, kao što se pripovijeda, jedna smjesa iz turskog, grčkog i slavjanskog, posve dobro i naški.“ 66 ] 60 Vgl. dazu auch: Frank: Thesen zum imperialen Raum, S. 215. 61 Vgl. Mažuranić: Pogled u Bosnu, S. XIV. 62 Nicht von ungefähr reist Matija in späteren Jahren, nach den missglückten Revolutionen 1848 und der darauffolgenden Wiener Restauration, nach Istanbul, wo er längere Zeit bleibt und arbeitet. Türkisch hatte er schon während der ersten Bosnienreise gelernt. Vgl. die Einleitung von Slavko Ježić in: Mažuranić: Pogled u Bosnu, S. VII-XI, S. IX. 63 Nemčić, Antun Gostovinski: Putositnice. Zagreb: Tiska k.p. narodne tiskarnice Ljudevita Gaja 1845, S. 37. (Übers. v. d. Verf.) 64 Ebd., S. 36. 65 Ebd., S. 263. 66 Ebd., S. 267. <?page no="82"?> 82 Anna Hodel Kukuljević Sakcinskis Putovanje po Bosni, der - wie gesehen - Bosnien von Anfang an eine Fremdheit (und nicht nur Unbekanntheit) unterstellt, entwickelt im weiteren Textverlauf ein vergleichbares System der exkludierenden Inklusion beziehungsweise inkludierenden Exklusion wie Karadžić und Mažuranić. Er schreibt, die Una bzw. die Sava „teilt zwei große Imperien und ein und dasselbe Volk in zwei“ [„dieli u dvoje dva velika carstva a jedan te isti narod“ 67 ]. Während er von einem (slawischen) Volk ausgeht, bedauert er, dass der Teil „unseres“ Volkes auf der anderen Seite der Sava „unglücklich“ sei. 68 Die Menschen dort seien „echt slavisch“ im Witzeerzählen und in ihrer Mythologie (Beispiel Vilen 69 ), gleichzeitig aber unfreundlich und abweisend 70 - und das sei die Folge des türkischen Einflusses. Raumsymbolisch schlägt sich diese Differenzierung darin nieder, dass der Grenzfluss Sava und die (Un-) Möglichkeiten, ihn per Brücke oder Schiff zu überqueren, immer wieder zentrale Verwicklungs- und Spannungsmomente des Textes ausmachen. Außerdem gleicht der Raum auf der osmanischen Seite der Sava teilweise zwar dem „unseren“, 71 er sei auch nach slawischer Art bestellt, 72 gleichzeitig aber wird er als „ausgestorben“, „leer“, „dunkel“, stagnierend, unbewohnt - ja als „Wüste“ beschrieben - was einen „europäischen Reisenden sehr unangenehm im Herzen berühren müsse“. 73 Am Schluss seines Reiseberichtes setzt Kukuljević Sakcinski zu einer Art Zusammenfassung an, die sich beinahe als Anleitung zur Konstruktion von Eigenen Anderen lesen lässt: Er unterscheidet zwischen einem „gleichgültigen ausländischen Reisenden“ [„ravnodušan putnik inostranac“] und einem „heimatliebenden Reisenden unseres Volkes“ [„domoljubni putnik našega naroda“]. Ersterer könne zwar die erhabene Natur und die Schönheit einiger Regionen bewundern, müsse das Volk aber für einfach und dumm halten und das Land für vollständig „barbarisch“. Letzterer hingegen würde mit traurigem Herzen an dieses triste Land denken. Denn auf dem Weg sähe man nicht nur leere Felder und unordentliche Leute, sondern auch Reichtümer und das Volk sei eigentlich ganz stark, schlau und begabt. Und der türkische Bosnjak sei gar kein Türke, Mohammeds Lehre hätte sein „Gemüt“ [„narav“] und seine „slawische Wesensart“ [„ćud slavenska“] nicht auslöschen können, noch seine Liebe zu den Traditionen und der Sprache seiner Vorfahren. Der türkische Bosnjake würde noch immer am saubersten „bosnisch“ sprechen, wenn er nur die paar türkische Wörter weglassen würde. 74 Die Kette der In- und Exklusion über die Narrative des 67 Kukuljević Sakcinski: Putovanje po Bosni, S. 328. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 347. 70 Ebd., S. 332. 71 Ebd., S. 328. 72 Ebd., S. 339. 73 Ebd., S. 328, 331, 332, 340. 74 Ebd., S. 373-374. <?page no="83"?> 83 Nationale Wege, imperiale Straßen Defizits, des gemeinsamen Ursprungs und gleichzeitigen Abweisung verdichtet sich bei Kukuljević Sakcinski in eine Geopoetik eines nicht nur illyrisch 75 sondern auch europäisch-westlich ausgerichteten Wir-Raumes, in dem die Bosnier trotzdem immer noch die idealtypischen Eigenen Anderen darstellen. 76 Der Franziskaner, Ivan Frano Jukić, nimmt mit seinen Berichten aus Bosnien eine Sonderstellung ein, da er auf eine Art selber ein Eigener Anderer ist. In Bosnien geboren, lebte er zunächst als Mönch im Franziskanerkloster im zentralbosnischen Fojnica, studierte dann in Zagreb Philosophie, wo er in Kontakt mit der illyrischen Bewegung kam, um schließlich in Ungarn ein Theologiestudium aufzunehmen. Seine Bosnienberichte veröffentlichte er 1841-42 in Ljudevit Gajs Danica, wo sie von den Herausgebern als „höchst wichtige Beschreibung einer der interessantesten Gegend des Großen Illyriens“ eingeleitet wurden. 77 Jukić beschreibt Bosnien als „unsere Schwester“, in der es auch Leute gäbe, die für ihre geliebte Heimat (Illyrien) kämpfen würden. 78 Wenig erstaunlich ist, dass Jukić in seinen Beschreibungen, die nicht zuletzt bezwecken, die missliche Lage der (katholischen) Christen unter islamischer Herrschaft zu dokumentieren, trotz häufiger Authentizitätsbezeugungen (er konsultiert Literatur und befragt die Leute vor Ort) zu dichotomischen Bildern neigt - dies vor allem im zweiten Teil seiner Berichtreihe, der explizit als Reisebericht erschien: „Jetzt scheint es uns, dass wir in einem anderen Land angekommen sind. […] hast du die arabische Wüste durchquert, kommst du in Kanaan an. Das ist das Gebiet von 30 christlichen Dörfern.“ [Sada nam se učini, da u drugu zemlju uljezosmo. […] prošao si kroz pustinj Arapske, došao si u zemlju Kananejsku! […] Ovo je predjel od 30 hristjanskih selah.“ 79 ] Fällt Jukić indes in eine illyrische Tonart, begegnet man denselben Vereinheitlichungs- und Idealisierungsstrategien wie in den anderen Texten: „Das Volk in Bosnien ist dieses eine slawische von illyrischem Dialekt, welcher sich bei den Bosnjaken am saubersten erhalten hat […]“ [Narod u Bosni jest jedan i to slavjanski narečja ilirskoga, i ovo kod Bošnjakah da je najčistie se oderžalo […] 80 ]. Auch Jukić imaginiert damit einen bosnischen Protoillyrer, der nur durch die Osmanen äußerlich verdorben worden sei. Als Gipfel dieser Strategie führt Jukić eine abenteuerliche Theorie über die Konversion an, dass nämlich nur jene Bosnier zum Islam konvertiert seien, die ursprünglich gar keine Bos- 75 Die illyrische Ideologie war spätestens seit 1848 auch im Verfall begriffen. Vgl. Maissen, Anna Pia: Wie ein Blitz aus deinem Munde. Illyrismus: Die Hauptschriften der kroatischen Nationalbewegung 1830-1844. Bern: Peter Lang 1998, S. 71-74. 76 Interessant wäre es in diesem Zusammenhang, Kukuljevićs politische Karriere als wientreuer Zagreber Obergespan (veliki župan) ab 1861 genauer zu betrachten. 77 Jukić, Ivan Frano: „Zemljopisno-povestno opisanje Bosne“, in: Danica VII (1841), Nr. 28, S. 113-115, S. 113. 78 Ebd., S. 114. 79 Ebd., S. 71. 80 Ebd., S. 117-118, S. 117. <?page no="84"?> 84 Anna Hodel nier gewesen waren, sondern Nachfolger der Patarener, einer religiösen Bewegung aus Oberitalien. 81 Das „einfache Volk“ hätte seinen christlichen Glauben bewahrt. Damit macht Jukić am deutlichsten, was auch die anderen Texte kommunizieren: Der Islam ist auf keinen Fall Teil des Eigenraumes. Für alle aber, die bereit sind, sich von ihm abzuwenden (und zu ihren wahren Wurzeln zurückzufinden), stehen die Türen des Wir-Raumes offen. Grenzraum-Konzeptionen Mit der Konstruktion der Eigenen Anderen ist jene spezifischer Grenzräume verbunden. Die bereisten Räume wecken in den Autoren der Reiseberichte ambivalente Gefühle, die es ihnen verunmöglichen, die Räume eindeutig einzuordnen und abzugrenzen. „Travnik ist eine merkwürdige Stadt“ [„Travnik je čudan grad.“] 82 , schreibt Mažuranić. Auch Kukuljević Sakcinski statuiert, dass Bosnien in dem, der es bereist, widersprüchliche Gefühle wecken würde. 83 Karadžić hält fest, dass er „nur dem Interessantesten, von deutschen Sitten und Gebräuchen am meisten Abweichenden, Platz […] geben“ 84 will: Montenegro ist für ihn also ein Raum des Anormativen, Defigurierenden. Die Grenze zum Osmanischen Reich war für die Südslaven (und natürlich nicht nur für sie) immer schon eine zentrale Identitäts-Alteritätsschranke. Der Grenzraum selber entwickelte sich dabei zu einem Zwitterding, zu einem „unsauberen Ort” (so wird er, wie oben gesehen, auch wortwörtlich oft beschrieben), der zwar irgendwie bekannt war, sich in Bezug auf Sprachen, Religionen und Geografien indes als neblig und unberechenbar darstellte. Das „Unsaubere“ und Unberechenbare besitzt damit auch eine semantische Dimension: Der Raum entzieht sich einer „sauberen“ Kategorisierung - und dies geht über die Konstruktion der Eigenen Anderen hinaus. Während die Grenze selber klar zwischen Ordnung und Chaos trennt und ihre Überschreitung - wie gesehen - oft als Übertritt in eine andere Welt dargestellt wird, ist der Grenzraum stets beides gleichzeitig. Diese semantische „Unsauberkeit“ generiert in den Texten zwei entgegengesetzte Raumpraktiken - quasi als zwei Seiten einer Medaille: Einerseits verfallen die Ich-Erzähler in eine allumfassende Orientierungslosigkeit, andererseits unternehmen sie höchste Anstrengungen, den Raum zu ordnen, zu klassifizieren und enzyklopädisch aufzubereiten. So kommt die Ich-Figur in Mažuranićs Pogled u Bosnu von Beginn ihrer Reise immer wieder vom Weg ab. 85 Beim illegalen Grenzübergang über die Sava ins Osmanische Reich verliert sie die Orientierung komplett: 81 Jukić, Ivan Frano: „Zemljopisno-povestno opisanje Bosne“, in: Danica VII (1841), Nr. 30, S. 121-123, S. 122. 82 Mažuranić: Pogled u Bosnu, S. 41. 83 Vgl. Kukuljević Sakcinski: Putovanje po Bosni, S. 373. 84 Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, S. 89. 85 Vgl. Mažuranić: Pogled u Bosnu, S. 1. <?page no="85"?> 85 Nationale Wege, imperiale Straßen Mir drehte sich das Bewusstsein; weder wusste ich, auf welcher Seite Zemun geblieben war, noch in welche Richtung Biograd lag. Wenn ich die Hand ins Wasser hielt, um zu sehen, wohin es fließt, verhinderte dies eine Welle und der Wind blies von allen Seiten wie die Bura. [Meni se je bila okrenula svjest; niti sam znao na koju stranu ostade Zemun, ni kuda se idje u Biograd. Ako pustim ruku u vodu, da vidim kamo teče, to mi brani talas; a vjetar puše sa svih stranah kao bura.] 86 Dieses Moment bereitet in Mažuranićs Text den Weg für die Dokumentation einer unglaublichen Pluralität und komplexen Heterogenität, welche die bosnische Kultur nach Ansicht des Autors prägt und welche er noch steigert, indem er sie multiperspektivisch und damit oft widersprüchlich wiedergibt und sich allgemein für Mischformen, kulturelle Zerrissenheiten, Zwiespaltigkeiten und Kompromisse interessiert: Die türkischen Serben feiern Bajram wie die „turci“, aber nicht nach dem Mond, sondern nach dem „Kalender“. 87 Die Bosniaken sprechen Türkisch, wollen es aber „bosnjakisch“ nennen, 88 während viele Bosniaken überhaupt kein Türkisch sprechen. 89 In Mažuranićs Perspektive kommen je nach Identitätsaspekt verschiedene Referenzsysteme zum Tragen. So sind die Bewohner Bosniens seine „illyrischen Brüder“, Kulturelles wird aber oft mit dem Adjektiv „deutsch“ oder „europäisch“ charakterisiert: Man ist „deutsch angezogen“ [„njemački obućen“ 90 ] und trifft sich „um die fünfte Stunde nach europäischer Art“ [„okolo pete ure po europejskom“ 91 ]. Auch die Angabe von Distanzen und von Eigen- und Fremdheiten sind stets von der Perspektive des Betrachters abhängig. So trifft man Turci, Švabi, Bošnjaci, Njemci, Srblji, Šokaci, Tatari, Osmanlie, Vlasi, iliri grčkog i rimskog izpovedanja, raja, ilirski turci, turski podanci, bošnjaci turske vjere, kauri, djauri, ljudi ispovedanja iztočnoga u.a. 92 Mažuranić dokumentiert auch Mehrsprachigkeit und Polyvalenzen und dabei sind ihm deutsch, türkisch, südslawisch (illyrisch) und verschiedene lokale Abweichungen gleichermaßen wichtig. 93 Diese verwirrende Vielfalt lässt in keinem Punkt ein eindeutiges „sauberes“ Bild zu. Und sie schlägt sich auch formal-narrativ nieder, indem Mažuranićs Text (zumindest im Mittelteil 94 ) zwar eine 86 Ebd., S. 10. 87 Ebd., S. 17. 88 Ebd., S. 52. 89 Ebd., S. 54. 90 Ebd., S. 5. 91 „Turske ure (sahati) drugačije idju. U večer kad sunce zadje, onda njekoliko dekikah (minut) poslje, mora biti na turskoj uri 12, ako nije, a on prstom natjera da bude: drugi dan opet tako.“ (Ebd., S. 16.) 92 Ebd., z.B. S. 5, 14, 53. 93 Ebd., z.B. S. 10, 11. 94 Der Text hat eine dreiteilige Struktur und ist aufgeteilt in Rahmung, Reise und abschließendes Lexikon zur bosnischen Kultur mit integrierter erklärender Wörterliste. <?page no="86"?> 86 Anna Hodel klare Handlung, die aus Ankunft, Aufenthalt und Abreise besteht, 95 enthält, gleichzeitig aber sehr fragmentarisch aufgebaut und mit Anekdoten und Digressionen durchsetzt ist. Das Fragmentarische ist Nemčićs Putositnice sogar noch stärker eigen. Dem poetisierten und relativ labilen Raumbild 96 entspricht eine fragmentarische Textform, die außerdem von einem unzuverlässigen Erzähler, von (Selbst-) Ironie, Metadiskursivität und Intertextualität gezeichnet ist: „Unruhig, unordentlich und lebhaft” [„nemiran, nesređen i živ“] 97 - so charakterisierte auch Stanko Vraz, der Literaturkritiker der Illyrer, Nemčićs Text. Die osmanische Grenze wird in Nemčićs Text zunächst eindeutig gezogen. Nach Jasenovac beginnt er die Ufer der Sava in „linkes, also unseres“ und in das „andere, nämlich das bosnische“ zu teilen. 98 Der Grenzraum indes (hier die kroatische Militärgrenze) entwickelt fortan eine eigene Kultur mit eigenem zwiespältigem und zweifelhaftem Personal. Dies seien die „Grenzler“ [„graničari“], sie würden die Wälder unsicher machen, unsaubere Witze erzählen, Unmengen essen und sehr stark sein. Die Gegend sei unsicher, die Leute „ungestüm“, „wild“, 99 wofür er im Original das Wort goropadni verwendet, was wortwörtlich „vom Berg gefallen“ bedeutet. Damit wird dieser Grenzraum topographisch erneut mit dem Gebirge assoziiert, was, wie bereits oben gesehen, eine spezifische Mischung aus Freiheitlichkeit und Stärke aber auch Zurückgebliebenheit und Unzivilisiertheit bedeutet. 100 Auffällig ist, dass die (imperiale) Grenze und damit der Grenzraum nicht statisch sind, sondern vom Beobachter und seiner Reise abhängen, dergestalt im Zeichen der Neigung stehen. So evoziert Nemčić einen graduellen, mehrstufigen, halbdurchlässigen Grenzraum, 101 der in Bezug auf Natur und Landwirtschaft bereits wenige Kilometer außerhalb von Zagreb beginnt. 102 95 Vgl. Duda: Priča i putovanje, S. 159. 96 Nemčićs Raumdarstellungen enthalten viele Metaphern, welche die räumliche Dimension seiner Darstellungen eindeutig sprengen. Vgl. z.B. „Bei Rače […] fließt die Drina in die Sava. Die rotgelben Wellen [türk. Wort, A.H.] diese Flusses stoßen und drücken die grünen Wellen [slawisches Wort, A.H.] der Sava auf die andere Seite gegen die erwähnte Festung. Hier hört Bosnien auf und Serbien beginnt.“ [„Kod Rače […] utiče Drina u Savu. Crvenožuti talasi silne ove rijeke turaju i otiskuju zelene valove Save na drugu stranu proti spomenutoj tvrđavi. Ovdje Bosna prestaje, te Srbija počima.“] Nemčić: Putositnice, S. 264. [Übers. v. d. Verf.] 97 Zitiert bei: Duda: Priča i putovanje, S. 220. 98 Nemčić: Putositnice, S. 262. 99 Vgl. Nemčić: Putositnice, S. 261-265. 100 Über Nemčić‘ Konzeption des islamisch-christlichen Grenzraumes ließe sich noch mehr sagen. Vgl. z.B.: Tomasović, Mirko: „Još jedan primjer recepcije Osmana u hrvatskom romantizmu: Nemčićeve Putositnice“, in: Ders.: Poeti i začinjavci. Studije i eseji o hrvatskim pjesnicima. Dubrovnik: Matica Hrvatska 1991. 101 Vgl. die Definition von imperialem Grenzraum und seiner „Halbdurchlässigkeit“: Münkler: Imperien, S. 17-18. 102 Vgl. z.B. Nemčić: Putositnice, S. 261. <?page no="87"?> 87 Nationale Wege, imperiale Straßen Mažuranićs und Nemčićs (poetischer) Subjektivität und polyphonem Fragmentarismus (scheinbar) entgegengesetzt sind Karadžić und Jukić, die ihre Beobachtungen aus explizit objektiver und wissenschaftlicher Perspektive wiedergeben wollen. „Unser Streben dabei ist, mit Vermeidung alles romanhaften Schmuckes, mit einfacher Klarheit und Wahrheit zu schildern“, 103 erklärt Karadžić zu Beginn. Jukić unternimmt sogar mehrere Anläufe im Ordnen von Bosnien und publiziert kurze Zeit nach seinem ersten Bosnienbericht einen weiteren, der noch genauer und richtiger sei. 104 Trotzdem ist ihre Grenzraumimagination wiederum sehr ähnlich wie die der anderen. Bei der topographischen Verankerung der zentralen äußeren Grenze zum Osmanischen Reich gehen Karadžić und Jukić zunächst vereindeutigend vor, zeichnen dann aber ebenfalls einen halbdurchlässigen Grenzraum, den wiederum eine spezifische Grenzlerkultur prägt. Bei Karadžić leben die Montenegriner zwar von Raubzügen und Plünderungen, sind gleichzeitig aber in Edelmütigkeit nicht zu übertreffen. Jukićs Bosnien ist Illyrien, also Wir- Raum, für Reisende indes gefährlich - und nicht etwa nur wegen der Osmanen, denn im Sommer drohen die Haiduken, im Winter aber die wilden Tiere. 105 Der Konflikt mit dem Osmanischen Reich wird in den untersuchten Texten grundsätzlich in symbolischer Überblendung dargestellt: Kampf des christlich-westlich-europäischen Imperiums gegen das oriental-östliche, des Guten gegen das Böse. 106 Diese Dichotomie unterlaufen die Texte aber gleichzeitig wieder, indem sie in Close-ups die Grenzräume als mehr oder weniger durchlässige und uneindeutige, unberechenbare zeichnen. In allen Texten steht der symbolisch-diskursiv eindeutigen Schranke gegenüber dem Osmanischen Reich die persönliche Grenzgang-Geschichte entgegen, welche diese entscheidend relativiert. Wohl auch deshalb besitzt dieser ambivalente Grenzraum, wie er nur im imperialen Kontext existieren kann, eine große Anziehungskraft und stellt nicht nur Inspirationsquelle, sondern auch Ort der (Selbst-)Reflexion dar. Die „imperialen Straßen“ der südslawischen romantischen (Reise-)Literatur Obige Betrachtungen zeigen, dass die untersuchten Texte ihren Eigenraum zwar aus mehr oder weniger nationaler Perspektive imaginieren - es geht nicht zuletzt um die Schaffung eines zusammenhängenden einheitlichen kulturellgeographisch-politischen Wir-Raumes, der mit dem „narod“ in Verbindung steht, dabei aber Raumpraktiken offenbart, die typisch für die Konstruktion eines imperialen Raums sind. In einem Prozess der Teilhabe oder Übertra- 103 Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, S. 33. 104 Vgl. Jukić, Ivan Frano: „Dopis iz Bosne“, in: Danica VIII (1842), Heft 12, S. 45-47, S. 45. 105 Vgl. Jukić, Ivan Frano: „Zemljopisno-povjestno opisanje Bosne“, in: Danica VII (1841), Nr. 28, S. 113; Nr. 29, S. 117; Nr. 31, S. 126. S. 115. 106 Vgl. den Diskurs der „Türkengefahr“, wie ihn z.B. Almut Höfers sehr detailliert aufgearbeitet hat. <?page no="88"?> 88 Anna Hodel gung modellieren die Autoren der betrachteten Reisetexte ihren Wir-Innenraum am imperialen Außenraum, eignen sich diesen aber auch auf spezifische Weise an. Dies betrifft die Konstruktion von Eigenen Anderen ebenso wie die Konstruktion eines spezifisch pluralen und ambivalenten Grenzraumes. Neben diesen imperialen Raumpraktiken ist die imperiale Infrastruktur und ebensolche Kommunikationssituation eine weitere wichtige Dimension der Reisetexte. Nicht nur für die Bewegung im Raum (also die tatsächlichen Straßen, die „drumovi“), sondern auch für die Kommunikationssituation, in der sich die Texte befinden - und hier ist sicher Österreich-Ungarn als Kommunikations- und Zensurzentrum zu nennen, 107 ist der imperiale Bezugsraum von großer Bedeutung. Vom impliziten Referenten, über die Bedeutung der Publikationsorte und -strukturen bis zur betrachteten Teilhabe an westlichchristlich-imperialen, orientalisierenden Narrativen lässt sich zusammenfassen: Ohne imperiale Straßen keine nationalen Wege. Aus transnationaler Perspektive ist außerdem festzuhalten, dass dies für alle untersuchten Texte (verschiedener „nationaler“ Zugehörigkeit) gleichermaßen gilt, dass sie aufgrund dieser „imperialen“ Straßen, die ihre nationalen Wege entscheidend mitstrukturieren, alle ähnliche „imperiale“ Raumpraktiken entwickeln. Als hier anschließende Fragestellung wäre zu untersuchen, wie sich diese „imperialen“ Raumpraktiken der Reisetexte auf andere Genres der Zeit auswirkten. 108 Auf diesem Weg könnte ein umfassende(re)s Bild der südslawischen romantischen Geopoetik allgemein und der in Bezug auf die südslawische Romantik sinnvollen Forschungsperspektiven sowie zu erforschenden Sinnperspektiven gezeichnet werden. 107 Vgl. zur imperialen Kommunikationssituation: Osterhammel: Die Verwandlung, S. 664. 108 So wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Matija Mažuranićs Bruder, Ivan Mažuranić, in seinem Hauptwerk Smrt Smail-Age Čengića einige, auch zensurierte Stellen aus Matija Mažuranićs Pogled u Bosnu verwendete. Vgl. Živančević, Milorad: „Nepoznati putopis Matije Mažuranića“, in: Zbornik MS za književnost i jezik, XXII (1974), sv.1, S. 23-47. Auch August Šenoas Romane Čuvaj se senjske ruke oder Turci idu seien, so Duda, aufgrund von Reisetexten entstanden Vgl. Duda: Priča i putovanje, S. 140-141. <?page no="89"?> 89 Von Schurken und Slawen bedrängt Wolfgang Müller-Funk Von Schurken und Slawen bedrängt. Istrien, Triest und das Mittelmeer in Jules Vernes Mathias Sandorf (1885) I. Istrien war, von Reiseliteratur vielleicht abgesehen, im Gegensatz zu seinem heutigen Image lange Zeit ein literarisch vernachlässigtes Land. Wie dem einschlägigen Band der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wort und Bild, dem sogenannten Kronprinzenwerk, zu entnehmen ist, war es ein ökonomisches armes Entwicklungsgebiet, ein Land, aus dem unzählige Menschen ausgewandert sind. 1 Nirgendwo in Europa, von Irland abgesehen, finden sich derartig viele verlassene Dörfer, Haus- und Kirchenruinen als im Inneren dieser nördlichsten Halbinsel des Mittelmeeres. Selbst Triest war gemessen an seiner Bedeutung für die den imperialen Herrschaftskomplex der Monarchie literarisches Randgebiet: So sind Autoren wie Svevo und Slataper, die Triest und die Karstlandschaft literarisch geprägt und sozusagen mit erfunden haben, literargeschichtlich betrachtet retrospektive Entdeckungen, die ohne Claudio Magris Il Mito Habsburgico undenkbar sind. Für die realen, sozialen und symbolischen Befindlichkeiten einer lange Zeit als rückständig beschriebenen Region haben sie zu ihrer Zeit keine prägende Rolle gespielt. Das Verhältnis zwischen Triest, die in Jules Vernes Roman Mathias Sandorf als Hauptstadt Illyriens tituliert wird 2 , und der dreieckigen Halbinsel ist im Sinne einer literarisch-ästhetischen Selbst- und Fremdwahrnehmung unentschieden, und zwar lange vor der Teilung des Gebietes zwischen Italien und dem titoistischen Jugoslawien im Gefolge des Zweiten Weltkriegs. Das mag mit dem Gegensatz von Stadt und Land, aber auch mit dem zunehmenden Konflikt zwi- 1 Komlosy, Andrea: „Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien? Zentrenbildung und Peripherisierung in der Habsburgermonarchie“, in: Hárs, Endre/ Müller-Funk, Wolfgang/ Reber, Ursula/ Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Idenitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen: Francke 2006, S. 55-78. 2 Verne, Jules: Mathias Sandorf. München: Goldmann 1964, S. 7 (fortan zitiert als: MS). <?page no="90"?> 90 Wolfgang Müller-Funk schen der Italianitá und der südslawischen Bevölkerung zusammenhängen, die heute eindeutig als slowenisch beziehungsweise kroatisch identifizierbar ist. So bilden Triest und Istrien ein Ganzes und sind zugleich zwei getrennte Entitäten. Ihre Anziehungskraft hängt ganz offenkundig damit zusammen, dass sie unter transnationaler Perspektive als ein Zwischenraum verschiedener im 20. Jahrhundert verfestigter nationaler Kulturen erscheinen, und zwar nicht nur im Sinne eines heute überkommenen Multikulturalismus, sondern im Sinne einer Mischung von Kulturelementen, die Sprache, Politik, Esskultur und Mentalität miteinschließen. Richard Swartz Roman Ein Haus in Istrien (2001) zum Beispiel ist ein Dokument dieser Istrianitá, in dem uns das nördliche Istrien als eine raumzeitliche Peripherie aus dem 19. Jahrhundert, als ein postimperialer Restposten der Geschichte entgegentritt, 3 so wie uns Dragan Velikic Pola, den kakanischen und später titoistischen Kriegshafen Istriens als eine Reminiszenz kakanisch-mediterraner Koiné schildert. 4 Istrien wird als ein Gebilde imaginiert, in dem italienische, kakanische, jugoslawische und neuerdings kroatische Schichtungen gleichsam übereinander gelagert sind. Es ist im Hinblick auf den neuen kroatischen Nationalstaat das ganz Andere, das übrigens auch von den post-jugoslawischen Kriegen verschont geblieben ist: Istrien ist das, was von der Multiethnizität und Multilingualität, wie sie für imperiale Komplexe (Habsburger Monarchie, Jugoslawien) nicht untypisch sind, geblieben ist. II. Die Jules Verne Ulica im heutigen Pazin, italienisch Pisino, deutsch Mitterburg verrät, dass die Stadt von dem Großschriftsteller Jules Verne, einem ganz Großen in der Mittellage der Literatur, in einem seiner Romane verewigt worden ist. Die kleine, nahe der Burg gelegene Gasse macht durch ihre Lage sinnfällig, wo sich der Roman abspielt, nämlich in jener Burg nebenan, die den österreichischen Behörden als Festung diente. Der Turm, von dem sich der Held von Vernes Roman, der ungarische Freiheitskämpfer Mathias Sandorf und seine beiden Gefährten unter Todesgefahr abseilen, steht heute nicht mehr. Dafür kann man in den tosenden Fluss hinunterblicken, der von einer Höhle gleichsam verschluckt wird und erst nach vielen Flusskilometern wieder an die Erdoberfläche tritt - ein passendes Sujet für einen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts, dem Jules Verne die narrative Matrix des rächenden Helden unterschoben hat, der Alexandre Dumas dem Älteren einen bis heute anhaltenden Welterfolg beschert hat: Die Rede ist natürlich von dem unzählige Male verfilmten Grafen von Monte Christo. 3 Swarz, Richard: Ein Haus in Istrien. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. München: Hanser 2001. 4 Velikić, Dragan: Via Pula. Aus dem Serbischen v. Astrid Philippsen. Klagenfurt: Wieser 1991. <?page no="91"?> 91 Von Schurken und Slawen bedrängt Jules Verne hat selbstredend diesen Landstrich niemals betreten, er hat sich auch niemals in jener Stadt, Triest, aufgehalten, die er eingangs seines Abenteuer-Romans so minutiös schildert und durch deren verzweigten Gassen sein Erzähler die Leserschaft wie ein heimischer Fremdenführer führt. Er tut dies mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen des dix-neuvième, der sein Handwerk versteht, auf eine Art von Recherche vertrauend, die ihrer Struktur nach journalistisch ist und die Abrufung wissenschaftlicher Daten aus den verschiedensten Disziplinen mit einschließt. Der Roman verrät ein großes Interesse an Geographie und Geologie, an Technik und Nautik, aber auch an Physiognomie und an ökonomischen Fragen. Dieser unterhaltsame Abenteuerroman transportiert die Episteme seiner Zeit 5 und lässt auch die politischen Fragen der Zeit anklingen - diese Mischung ist es, der Verne seinen durchschlagenden Erfolg verdankt. Wie im Falle all der anderen wichtigen Orte finden sich auch zu Pazin und zu Istrien verblüffend detaillierte Beschreibungen und Erklärungen, so etwa diese: Istrien war 1815 durch einen Vertrag an die österreichisch-ungarische Monarchie gefallen. Die fast dreieckig geformte Halbinsel ragt zwischen den Buchten von Triest und Quarnero weit in das Adriatische Meer hinein. An ihrer westlichen Längsküste liegen zahlreiche Häfen; der südlichste von ihnen, Pola, ist auch der wichtigste, denn die Regierung ist dabei, ihn zu einem Kriegshafen erster Ordnung auszubauen. Die Provinz Istrien verrät in Sitten und Sprache vor allem an der Westküste ihre frühere Bindung an Italien, genauer gesagt, an Venedig. Dennoch hat das italienische Element Mühe, sich gegen slawische Einflüsse zu behaupten; die schwächste Position haben auf der Halbinsel zweifellos die Österreicher. (MS 53) Die Passage, die dem politischen Diskurs in Vernes Heimatland entspringt, verdient im Hinblick auf die politische und kulturelle Topographie Beachtung: die Besorgnis über den neuen österreichischen Kriegshafen, die unüberhörbare Sympathie für die von den Slawen bedrängten Italiener und die klare Identifikation der Österreicher als eigene sprachliche und kulturelle Gruppe. Beschrieben wird auch die erhabene Gebirgslandschaft des mittleren Istrien (Velika Učka/ Monte Maggiore) mit den Flussläufen und Höhlen, die im Roman freilich grandioser und alpiner erscheinen als sie sich für den heutigen Touristen darstellen. Es verhält sich mit der schaurigen Schlucht ein wenig so wie mit Doderers Übertreibungen hinsichtlich der Wasserfälle von Slunj. 6 Ver- 5 Zum Begriff der Epistemologie vgl. die beiden bahnbechenden Arbeiten von Bachelard, Gaston: Epistemologie. Frankfurt/ Main: Ullstein 1971 und Canguilhem, Georges: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Herausgegeben von Wolf Lepenies. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1979. 6 Doderer, Heimito von: Die Wasserfälle von Slunj. München: C.H. Beck 1995, S. 17: „Die Slunjčica kam von weit her durch eine Art steiniger Planei: und hier jetzt das Wasser - es war in mächtige Breite auseinandergeflossen, brodelnd und unruhig in seiner ganzen Ausdehnung.“ <?page no="92"?> 92 Wolfgang Müller-Funk nes aus Reiseberichten und erhabenen Idealbildern zusammengesetztes Istrien erweist sich als Wildnis, als jener menschenfeindliche locus horribile, der die wagemutige Flucht der drei Freiheitskämpfer in ein heroisches Licht setzt: Wer verzweifelt den Sprung aus dem Fenster [des Burgturms, WMF] wagte, würde für immer mit zerschmetterten Gliedern auf dem Boden der Schlucht liegenbleiben, es sei denn, die Gewässer der Foiba spülten ihn fort, des Gebirgsbachs, der in Hochwasserzeiten zu einem reißenden Strom anschwoll. (MS 67) Pazin selbst, die Hauptstadt Istriens, wird wie schon zuvor Triest als ein Ort ethnischer Mischung beschrieben und der Roman bedient sich des ethnographischen Formats des (fingierten) Reiseberichts, wenn es etwa heißt: „Die Stadt hat fünfundzwanzigtausend Einwohner. Da sie im Mittelpunkt der Halbinsel liegt, strömen hier an Markttagen Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammen, vor allem serbo-kroatische Morlaken, außerdem Angehörige anderer slawischer Stämme und auch Zigeuner.“ (MS 56) 7 Kulturwissenschaftlich betrachtet ist dieses literarisch wohl zweitrangige Buch Jules Vernes, das sich indes im regionalen wie im ungarischen Kontext bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreut, aus zwei Gründen interessant. Es konfrontiert uns mit der Tatsache, dass es im 19. Jahrhundert, im Zeitalter massenhafter Alphabetisierung, lange vor den technischen Medien des 20. Jahrhunderts bereits eine Art von massenhaft wirksamer und gesellschaftlich durchaus angesehener Popularkultur gegeben hat, die dem Autor zu Lebzeiten durchaus symbolisches Ansehen bescherte, ein symbolisches Kapital, das er zeitweilig auch für Ausflüge in das politische Leben nutzte. Anders als in der gängigen Literaturwissenschaft können wir diese massenwirksamen Produkte - und zu ihnen gehören die sich überschneidenden Genres von historischem Roman, Science Fiction und Abenteuer-Roman völlig unbefangen lesen und als funktionale Elemente und symbolisches Mobiliar etwa im Hinblick auf Nationsbildung, Selbst- und Fremdbild und Identitätskonstruktion studieren. Was uns Verne einigermaßen verlässlich liefert, das sind gemeinhin verbreitete Konzepte des Eigenen und des Anderen in Europa um 1880, mit einer stark französischen Vorsatzlinse. Zudem thematisiert Mathias Sandorf gleichsam wie ein Geschenk vor der Zeit Zusammenhänge, die uns im Hinblick auf eine Kleinregion wie Istrien interessieren: das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, die Einbindung kleinerer randständiger Gebiete in größere imperiale Zusammenhänge, die Konstituierung übergreifender europäischer Entitäten wie das Mittelmeer, 8 7 Zum Bild der „Morlaken“ im kroatischen Kontext vgl. Pulivšelić, Eldi Grubišić: „Das Bild der Morlaken in Hilda von Duringsfelds Reisebeschreibung ‚Aus Dalmatien‘ (1857)“, unpublizierter Vortrag bei der internationalen Tagung Deutsche Sprache und Kultur in Kroatien, Zadar, 18. bis 22. Juni 2014. Eine Publikation des von Wynfrid Kriegleder und Andrea Seidler herausgegebenen Bandes ist in Vorbereitung. 8 Vgl. dazu Neef, Sonja: „Unheimlicher Muttermund. Jacques Derrida und das Mittel- <?page no="93"?> 93 Von Schurken und Slawen bedrängt das merkwürdig mit dem selbstzentrierten Mitteleuropa harmoniert, il mare nostro, „Unser Meer“, Jadransko More, die Adria, die Italien, Istrien und Dalmatien und Altösterreich miteinander verbindet. Jules Vernes Roman, der in Istrien beginnt und sich sodann auf den gesamten Mittelmeerraum erstreckt, hat eine unübersehbar politische Positionierung. Nicht zuletzt dank einer strategisch konzipierten Erzählerrede verknüpft der Roman drei Optionen, eine liberale, Erbschaft der letztendlich gescheiterten Revolutionen von 1848, eine nationalistische, die die österreichische Monarchie zum erklärten Feind hat, und eine imperiale, die ganz offenkundig auf die Kontrolle des östlichen „arabischen“ Mittelmeeres abzielt. Zwischen diesen verschiedenen unverkennbaren Parteinahmen, die in der Erzählerrede mehrfach explizit gemacht werden, gibt es Übergänge und auch gewisse Ungereimtheiten. So ist der adlige Protagonist mit dem bürgerlichen Arztberuf von Anfang an Nationalist und demokratischer Revolutionär in einem; am Ende wird er sich in einen demokratischen Imperialisten verwandeln, der vor der libyschen Hauptstadt Tripolis einen utopischen Inselstaat errichtet, der auf Technik und moderner Wissenschaft, auf Kommunitarismus und wirtschaftliche Tüchtigkeit gegründet ist und sich gegen die arabischen Feinde zu wehren weiß. Die narrative Komposition folgt dem eingängigen Helden- und Abenteuerschema. Der Held ist, wenigstens aus der Perspektive der französischen Leserschaft, ein Mensch aus der europäischen Peripherie, der durch Geschick, Zufall und Hartnäckigkeit berühmt und märchenhaft reich wird. Weshalb ist Vernes Held ein Ungar? Warum spielt der Roman in Triest und in Istrien, später in Dalmatien? Die Ungarn, deren nationale Eigenarten und Geschichte dem Lesepublikum in einem landeskundlichen Kapitel vorgestellt werden, werden in dieser europäischen Landkarte als ein freiheitsliebendes Volks dargestellt, das unter dem Joch der Habsburger schmachtet und sich - kontrafaktisch und historische Erfindung - 1867 noch einmal gegen ihre Unterdrücker empört, dem die Sympathien aller freiheitsliebenden Menschen gehören. Sie werden als ein altes Volk in Zentraleuropa beschrieben, das an seiner sprachlichen und kulturellen Eigenart festhält, weder slawisch noch deutsch sein möchte und das im Roman im Sinne der Sprachforschung der Zeit mit Finnen, Hunnen und sogar mit den alten Ägyptern in Zusammenhang gebracht wird. Lobend hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang die wohlklingende Sprache und der Freiheitssinn der Ungarn, die nicht davon ablassen, sich der österreichischen Herrschaft zu widersetzen, wobei erstaunlicherweise unterschlagen wird, dass große Teile Ungarns über Jahrhunderte und bis zu den Kriegen Prinz Eugens Bestandteil des Osmanischen Reiches gewesen sind. (MS 22) meer“, in: Babka, Anna/ Finzi, Daniela/ Ruthner, Clemens (Hg.): Die Lust an der Kultur/ Theorie. Transdisziplinäre Interventionen für Wolfgang Müller-Funk. Wien: turia + kant 2012, S. 257-271. <?page no="94"?> 94 Wolfgang Müller-Funk Sympathisch und mit den Ungarn wesensverwandt sind in dieser politischen Völkerkarte von Vernes Roman auch die Korsen und die Provenzalen, tendenziell auch die Italiener, während die Spanier, die Sizilianer, die orientalischen sowie die „österreichischen“ Menschen negativ konnotiert sind, letztere nicht zuletzt deshalb, weil sie keine eindeutige Identität besitzen und ein repressives Regime verkörpern und alles, was aus dieser Sicht von Belang ist: Feigheit, Unterwürfigkeit, Bösartigkeit, Intrigantentum. 9 Warum ist Istrien für den Leser von 1885 attraktiv? Weil es eine europäische terra incognita darstellt, die nicht zuletzt wegen der Höhlenlandschaft aufregend ist. Zugleich befinden sich Triest und sein Hinterland tatsächlich in einer geographischen Mittelposition zwischen dem östlichen und dem westlichen Mittelmeer und bilden einen Zwischenraum, in dem der Romankonstruktion zufolge Menschen aus aller Herren Länder zu finden sind, eben Libyer, Dalmatiner, Korsen, Sizilianer, Spanier und Österreicher. Und eben auch Ungarn. Uneindeutigkeit und Intransparenz, Maskenhaftigkeit und Labyrinthik machen diese Stadt zu einem attraktiven Schauplatz für einen Abenteuerroman. Mehrere Figuren im Roman, Gute wie Bösewichte, führen ein Doppelleben, besitzen eine offizielle und inoffizielle Vita. Sandorf, der die Flucht aus der Festung Pazin als einziger überleben wird, führt insbesondere im zweiten Teil des Romans ein Doppelleben, aber auch sein gefährlichster Rivale Sarcany, der Mann ohne Vornamen und ohne eindeutige Existenz, der mühelos von einer Sprache in die andere wechselt, führt als Agent und Spion ein Doppelleben. Solche Existenzen gedeihen in symbolischen Räumen, wo die Eindeutigkeit von Identität noch nicht gegeben ist - was auf der manifesten Ebene der Erzählerrede indirekt auf einen Zustand mangelnder kultureller Entwicklung verweist. Istrien ist synekdochisch konzipiert, der Teil, der aufs Ganze verweist und für dieses steht. Das Ganze, das ist das Mittelmeer, das Verne im Anschluss an Michelet als harmonischen Raum beschreibt, in der die Vielgestaltigkeit der Natur mit der ethnischen Vielfalt korrespondiert. Erwähnt werden in dieser Reihenfolge Franzosen, Italiener, Spanier, Österreicher, Türken, Griechen, Araber, Ägypter, Tripolitaner, Tunesier, Algerier und Marokkaner. Selbst die imperiale Präsenz Englands auf Gibraltar, Malta und Zypern darf nicht fehlen. Das Lob der Vielfalt und der darin zutage tretende Regionalismus stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zum nationalen Gestus des Romans, in dem Homogenität und Eindeutigkeit eindeutig präferiert werden. Was Vernes ungarische Romanfiguren nämlich positiv von allen anderen Figuren abhebt, das ist ihre nationale Eindeutigkeit, ihre Homogenität und ihre ethnische Festigkeit. Die Präferenz für das Homogene und das Lob für die mediterrane Heterogenität bilden ein 9 Zum jüngsten Stand der Diskussion über imagologische Ansätze, vgl. Dukić, Davor (Hg.): Imagology today/ Imagologie heute; Achievements - Challenges - Perspectives / Ergebnisse - Herausforderungen - Perspektiven. Bonn: Bouvier 2012. <?page no="95"?> 95 Von Schurken und Slawen bedrängt Spannungsverhältnis, und es hat den Anschein, als ob diese Raumwahrnehmung des Mittelmeeres als eines überschau- und befahrbaren heterogenen Raumes, den zweiten Teil des Romans vom ersten unterscheidet. Von daher nimmt es auch nicht Wunder, dass der einstige Landbewohner Sandorf nicht mehr in den territorialen Nomos, nach Siebenbürgen zurückkehrt, sondern das patriarchale Oberhaupt seines mediterranen idealen Inselstaates bleibt, sozusagen das neue moderne Siebenbürgen oder auch das Gegenstück zu Istrien. Auffällig im Roman ist die Dominanz des Räumlichen. Der Roman, dessen Handlung auf der istrianischen Halbinsel beginnt, weitet sich im zweiten, weitaus umfänglicheren Teil des Romans aus und umspannt beinahe den gesamten maritimen Raum des herrlichen Mittelmeeres: Ragusa (Dubrovnik) und Cattaro, Monaco und in Tripolis, Smyrna (Izmir) und die Cyrenaika mit der von Sandorf erworbenen Insel. Der maritime Raum, dem Carl Schmitt bekanntlich eine ganze Studie gewidmet hat, 10 ist in seiner Räumlichkeit auch deshalb so interessant, weil er zum einen ein Chronotopos ist, eine Fahrstraße, zum anderen aber einen beweglichen Lebensraum darstellt, der keineswegs mehr nur ein Weg, sondern auch ein Ziel ist. Damit wird auch die Ablösung unterschiedlicher imperialer Herrschaftsprinzipien thematisiert, der Niedergang des überwiegend territorial gebildeten alten Imperiums Österreich und der Aufstieg eines Imperialismus, der auf der Kontrolle der Meere, hier des Mittelmeeres beruht. Insofern rächt sich der ungarische Freiheitsheld nicht nur an den verhassten Österreichern, sondern er wechselt auf die zukunftsträchtige Seite der neuen Imperialität über, die sich durch überlegene Nautik und Kriegstechnologie auszeichnet. 11 Mathias Sandorf ist kein historischer Romane im engeren Sinn, er verarbeitet indes historisches Material: die Geschichte des Habsburgischen Imperiums vor beziehungsweise nach 1848 und die Niederlagen von 1859 und 1866, sowie das letzte Kapitel im Drama des europäischen Imperialismus und Kolonialismus, die Inbesitznahme des türkisch-arabischen Raumes und des östlichen Mittelmeeres. Die Wasserstraße des Mittelmeeres führt tief in den Osten hinein und vollzieht in eigentümlicher Reproduktion die historische imperiale Bewegung in den Osten nach. Die chronotopische Bewegung des Romans, dieses Nachfolgers eines uralten Romangenres, des klassischen Abenteurerromans 12 , verläuft von West nach Ost. 10 Schmitt, Carl: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. Hohenheim: Edition Maschke 1981. 11 Vgl. zu diesem Themenkomplex: Honold, Alexander/ Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart: Metzler 2004, vgl. insbesondere den Beitrag von Oliver Simons: „Heinrich von Stephan und die Idee der Weltpost. November 1869: Die Eröffnung des Suezkanals“, ebd., S. 26-35. 12 Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Deutsch von Michael Dewey. Frankfurt/ Main: Fischer 1989. <?page no="96"?> 96 Wolfgang Müller-Funk Jules Vernes Istrien- und Dalmatien-Roman gehört, im Großen und Ganzen, einem modernen westlichen Typus an. Er überschreitet das von Walter Scott begründete Paradigma des historischen Romans, auch wenn sich in ihm noch zahlreiche auktoriale Erzählereinschübe finden, wie sie für die Literatur vor Realismus und Naturalismus charakteristisch sind. Insbesondere die wissenschaftlichen und ethnischen Einschübe, die den Science Fiction-Autor verraten, überschreiten dieses Format. Mathias Sandorf zerfällt raumzeitlich in zwei klar voneinander getrennte Teile, der erste kleinere Teil (Abschnitt I) spielt im Jahre 1867, unmittelbar nach der Niederlage Österreichs und seiner Verbündeten gegen Preußen, der zweite Teil (Abschnitte II-V) fünfzehn Jahre später nähert sich damit dem Zeitpunkt, von dem aus erzählt wird. Die fünfzehn Jahre dazwischen sind im Erzähldiskurs ausgespart; diese Zwischenzeit wird in einer Binnenerzählung im zweiten Teil des Buches nachgetragen und bildet somit ein Bindeglied zwischen den beiden Teilen. Dieser klaren Trennung entspricht eine unübersehbare räumliche Verschiebung von Istrien und Triest nach Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, und ins östliche Mittelmeer, in den Herrschaftsbereich des freilich implodierenden Osmanischen Reiches, das interessanterweise an keiner Stelle erwähnt wird. Es ist vereinzelt von der Türkei, Syrien und eben der Cyrenaika, dem heutigen Libyen die Rede. Mit dieser klaren Raumteilung und Zeittrennung korrespondiert wiederum ein Bruch der Identität, der Held des ersten Teils heißt Mathias Sandorf, der Held im zweiten Teil nennt sich Dr. Antekirrt. Aber die Namensgebung im zweiten Teil, das Pseudonym, ist nicht nur eine List, um die Gegenspieler, an denen sich der Protagonist rächen will, in die Irre zu führen, vielmehr verweist der neue Name auf einen radikalen Identitätsbruch. 13 Im Unterschied zu Dumas Protagonisten gehört Vernes Held einem Typus von Abenteurer an, der im realen wie im übertragenen Sinne nicht mehr zu Haus ankommt, sondern in einer fremden heterotopischen Welt bleibt. 14 Es sind zwei historische Ereignisse, die dem Roman zugrundeliegen und die geschickt miteinander verquickt sind, die Schwächung des Habsburgischen Imperiums durch die Revolutionen von 1848 und die Niederlagen von 1859 und 1866 sowie der Niedergang des Osmanischen Reiches durch das Eindringen der westlichen Kolonial- und Imperialmächte in den östlichen Mittelmeerraum. Dabei spielen natürlich Projekte wie der Suez-Kanal und die Auseinandersetzung mit arabischen Lokalherrschern in Libyen und Ägypten eine maßgebliche Rolle. 13 Vgl. die Widmung Vernes an Alexandre Dumas den Jüngeren vom 23. Juni 1885, in dem er sehr diplomatisch die Ähnlichkeit mit der Fabelkonstruktion des Grafen von Monte Christo hervorhebt (MS, 6). Material zum Roman findet sich auf der folgenden Web-Seite: http: / / www.j-verne.de/ verne34htm (10.7. 2014). 14 Foucault, Michel: „Andere Räume (1967)“, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Leipzig: Reclam 5 1993. <?page no="97"?> 97 Von Schurken und Slawen bedrängt Ausgangspunkt der erzählten Geschichte ist die gescheiterte Revolution von 1848, die im literarischen Spiel des Romans 1867 - ironischerweise im Jahr des Ausgleichs - eine fiktive Fortsetzung in der von Triest aus geplanten Erhebung der Ungarn gegen die Habsburger Monarchie erfährt. Der Plan dreier ungarischer Nationalhelden, Sandorf, 15 Bathory und Zathmar, wird von zwei Spionen, einem „Orientalen“ und einem Sizilianer, und einem jüdischdalmatinischen-habsburgischen Bankier an die österreichischen Behörden verraten. Der Aufstand wird vereitelt, die drei Freiheitskämpfer werden in die Festung Pisino, heute Pazin, deutsch Mitterburg, gebracht und dort zum Tode verurteilt. Ganz offenkundig hat Jules Verne für seinen Roman sorgfältige Recherchen betrieben und sich vor allem mit der damals überaus aktiven Höhlenforschung beschäftigt. Seine Informationen über den Karst entnahm er einer Reisebeschreibung seines Landsmanns Charles Yriarte (Die adriatische Küste), die Fotos schickte ihm der damalige Bürgermeister von Pazin, Guiseppe Cech. Die Erforschung des Karstes, seiner Höhlen und seiner unterirdischen Gewässer war bereits in vollem Gange. 1770 zum ersten Mal erwähnt, wurde die Höhle seit den 1880er Jahren von zwei Höhlenforschern in Augenschein genommen, dem österreichischen Gelehrten Wilhelm Putick (1856-1929) und seinem französischen Kollegen Eduard Alfred Martel (1859-1938), die schließlich 1893 zum ersten Mal in dies Paziner Höhle hinabstiegen. 16 Der unterirdische Flussraum, durch den zwei der ungarischen Freiheitshelden in der Welt des Romans auf abenteuerliche Art und Weise ihren Häschern entrinnen, korrespondiert nicht zuletzt mit dem „Unterirdischen“ ihres subversiven Tuns, der gescheiterten Revolution folgt ein ebenso ausgeklügelter Racheplan, dem Mathias Sandorf unter falschem Namen schließlich zur Durchsetzung verhilft. Vernes Roman nimmt zweimal einen bedeutenden Seehafen im Adriatischen Raum zum Ausgangspunkt des Geschehens, Triest und Ragusa. Ein Hafen definiert sich durch die Möglichkeit und die Funktion, diesen Ort zu verlassen. Er ist der fixe Ankerplatz in einem riskanten und bewegten Raum. Vernes Held verlässt die ins Meer ragende Halbinsel Istrien, um ans Meer und auf ein Schiff zu gelangen und somit seinen Verfolgern zu entkommen. Von dort aus führt ihn seine Reiseroute in den Orient. In der Terminologie Carl Schmitts, der zwei Grundtypen menschlicher Raumbewegung unterscheidet, wird aus dem ungarischen „Landtreter“ aus Siebenbürgen ein „Meerschäumer“, der sich dank technisch modernster Schiffe mühelos auf dem Meer bewegt. 17 Damit ist 15 Der Namen des Helden ist etwas merkwürdig, kombiniert ein deutsches Wort (Dorf) mit einem nicht leicht zu identifizierendem Wort san oder śan ungarisch: („Wall“), die beiden anderen Namen sind ungarisch, Bathory ist sogar ein verbürgter Name für eine aristokratische Familie. 16 Vgl. www.pazinska-jama.com/ index_de.php (29.12. 2012). 17 Schmitt: Land und Meer, S. 7f. <?page no="98"?> 98 Wolfgang Müller-Funk eine tiefgreifende Wandlung beschrieben. Präsentierte sich Vernes Hauptfigur im ersten Teil als Held einer kontinentalen Land-Revolution, so wird er im zweiten Teil zur „Avantgarde“ eines maritim agierenden Imperialismus, der sich in seinem Kampf gegen Osmanen und Araber insbesondere neuester nautischer und kriegerischer Techniken bedient, wie die erfolgreiche Abwehr des arabischen Angriffs auf Antekirrta, die heterobeziehungsweise u-topische Insel vor der Cyrenaika, sinnfällig macht. In seine Festland-Heimat Ungarn beziehungsweise Siebenbürgern wird er nicht zurückkehren. Auf seiner Niemandsinsel begründet er mit Hilfe seiner Tochter Sava und des Sohnes seines toten Freundes Bathory eine Art Dynastie. 18 Die wahre Erfüllung des ungarischen Freiheitstraumes realisiert sich in einem neuen und ganz andersartigen Raum: dem als frei und beweglich imaginierten Raum des Mittelmeeres. Der Chronotopos des Wasserweges folgt der dynamischen Logik des westlichen Kolonialismus, der am Ende seines globalen Eroberungszugs nach Europa zurückkehrt und die Nachbarländer und Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeeres seiner Herrschaft unterwirft. Antekirrta ist das utopische Idealbild eines humanen Kolonialismus, der sich vom realen Imperialismus ebenso abhebt wie von der Herrschaftslogik der alten Imperien, des Habsburgischen wie des Osmanischen. 19 Das Mittelmeer erweist sich bei Verne nicht nur als ein bewegter Raum und als Wasserstraße, es ist vielmehr ein sinnstiftender Raum der Verbindung, ein Raum des Heterogenen, von Imperien und Nationen. Triest, das in einen alten und einen modernen Teil zerfällt, ist für den Erzähler vor allem ein Hafen, in dem sich Scharen von heimatlosen und armseligen Gesellen tummeln, wie sie in allen Häfen der Alten wie der Neuen Welt anzutreffen sind. Es sind marginalisierte Menschen, die sich an Rändern aufhalten, die nicht mehr topographisch sind, sondern die sich in den Zentren dieser Welt befinden: In allen Hafenstädten der Welt, ob in London oder in Liverpool, in Marseille oder Le Havre, in Antwerpen oder Livorno, immer trifft man die gleichen unglücklichen Gestalten, von denen niemand weiß, woher sie kommen, wohin sie gehen und wo ihr Leben eines Tages enden wird. Sie selbst wissen es wohl am allerwenigsten. Nicht wenige von ihnen haben einstmals bessere Tage gesehen. Viele sind Ausländer, die bei der Abreise ihrer Eisenbahn oder ihres Schiffes wie ein vergessenes Gepäckstück in der Hafenstadt zurückbleiben und fortan mit vielen Leidensgenossen die Straßen verstopfen, aus denen sie nicht einmal die Polizei zu vertreiben vermag. (MS 11) 18 MS, 415: „Der Graf selbst fiel unter die Amnestie für alle, die aus politischen Gründen verurteilt waren; er hätte also nach Siebenbürgen zurückkehren können. Er zog es vor, bei seiner großen Familie von Antekirrta zu bleiben, die ihn liebte und verehrte.“ 19 MS, 415: „Binnen kurzem wurde Antekirrta zum wichtigsten Eiland der Syrten, doch waren seine Küsten jetzt so lückenlos befestigt, daß es keine Feinde mehr zu fürchten brauchte.“ <?page no="99"?> 99 Von Schurken und Slawen bedrängt Der Erzähler zeigt keinerlei Empathie und Sympathie für diese Verlierer, und aus dieser bunten und zugleich armseligen Welt rekrutieren sich denn auch die Schurken dieses Romans, globale Underdogs von damals, beheimatet in den Hafenstädten wie Triest und später wie zur Wiederholung in Ragusa, jener Stadt, die Triest im zweiten Teil des Romans ersetzen wird. Im Zeitalter des Reisens und der Geographie darf auch eine überblickshafte Stadtbeschreibung nicht fehlen: Triest hat siebzigtausend Einwohner, die meist italienischer Herkunft sind und den Dialekt des nahen Venedig sprechen. In Verfolgung ihrer vielfältigen Geschäfte schieben und drängen sich die Menschen in großer Zahl von früh bis spät in den gradlinigen Straßen, auf Quais und Promenaden am Hafen und zu beiden Seiten des großen Kanals, der Triest in Ost-West-Richtung durchschneidet. Doch die italienischen Laute gehen völlig auf im internationalen Sprachgewirr, das die deutschen, französischen, englischen und slawischen Matrosen, Kaufleute und Beamten in die Stadt hineintragen. Trotz des äußeren Glanzes der Handelsmetropole darf man nicht glauben, alle Menschen, die ihre Straßen bevölkern, seien gleichermaßen Kinder des Glücks. Beherrscht wird Triest von jenen englischen, armenischen, griechischen und jüdischen Handelsherren, deren prächtige Villen selbst der Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie zur Zierde gereichen könnten. Triest ist so voller Mischung und damit so entdifferenziert, dass kein Fremder auffällt, zumal einer der beiden auf dem Hafen herumlungernden Gestalten, Sarcany, die meisten Sprachen der Mittelmeerländer spricht. (MS 8) Gleich zu Beginn des Romans wird das Gemisch österreichischer, italienischer und slawischer Elemente als „so bunt“ beschrieben, dass die zwei Bösewichter des Romans, der Libyer, der sich Sarcany nennt, und der Sizilianer Zirone, trotz ihres fremdländischen Aussehens nicht weiter auffallen und sich ungestört in dem urbanen Raum einer maritimen Metropole bewegen können, weil dort eben alles fremd und nicht eindeutig ist. Dass der Erzähler diese Heterogenität keineswegs positiv einschätzt - womit er dem nationalen, wenn nicht nationalistischen Zeitgeist frönt -, zeigt eine Passage über Triest im dritten Kapitel, in dem die dritte zwielichtige Figur, der Bankier Silas Toronthal, Vertreter der Triestiner beziehungsweise der Ragusaner Geldaristokratie, eingeführt wird: Das bunte Nationalitätengemisch einerseits und die krassen sozialen Klassenunterschiede andererseits, heißt es da, seien dem Entstehen eines gesellschaftlichen Lebens in Triest hinderlich. 20 Es ist das Bild einer in sich und in unterschiedliche ethnische Gruppen, in Mischungen, in arme österreichische Beamte, jüdische Bankiers und Geschäfts- 20 MS, 30. Vgl. zu dieser Problematik pars pro toto die Sammelbände: Babka, Anna/ Malle, Julia/ Schmidt, Matthias (Hg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung. Reflexion. Wien: turia + kant 2012, sowie: Babka, Anna/ Finzi, Daniela/ Ruthner, Clemens (Hg.): Lust an der Kultur/ Theorie. Interventionen für Wolfgang Müller-Funk. Wien: turia + kant 2012. <?page no="100"?> 100 Wolfgang Müller-Funk leute zerfallenden Welt. Und das nationale Argument, das dahinter steckt, lautet: Nur eine kulturell homogene Welt mit klaren Identitäten verbürgt aus der Perspektive des Romanerzählers eine soziale Gemeinschaft. Der heterogene Mensch gehört nirgendwohin, auf ihn ist kein Verlass. Es ist kein Zufall, dass alle drei Figuren, die im Roman als österreichische Spione am Werk sind, ihrer ethnischen Zuordnung nach nicht eindeutig fixierbar sind, das gilt für den Mann aus Tripolis, bis zu einem gewissen Grad auch für den zwielichtigen Sizilianer, der eben kein richtiger Italiener ist, und natürlich auch für den zwielichtigen balkanisch-jüdischen-habsburgischen Bankier. Sie alle tragen verwirrende, falsche Namen, die keine eindeutige Zuschreibung im sozialen Raum zulassen. Interessant ist natürlich das Sujet des Spions. 21 Vaterlandslose Gesellen wie Sarcany sind in dieser diskursiven Logik prinzipiell bereit, für alle Seiten zu spionieren, weil sie zu keiner Seite gehören und weil sie sich mit keiner Macht und keinem politischen Raum identifizieren. Spione sind, so ließe sich als Hypothese behaupten, ein unverzichtbares Ingredienz für neuzeitliche Imperien, für Formen der Macht, die keinen Unterschied zwischen Eigenem und Fremden kennen und zwielichtige Existenzen zur Erhaltung ihrer Macht gegen Angreifer von innen wie von außen benötigen. Was aber im Roman hinzukommt, ist, dass er einen systematischen Zusammenhang zwischen Hybridität und Spionage nahe legt. In Vernes essentialistischer Welt werden jene Imperien, die aus bunten Mischungen bestehen, die Casa de Austria ebenso wie das Osmanische Reich, einander zunehmend ähnlich. In diesen Räumen sind die Menschen ununterscheidbar und ihre Herkunft so dunkel, wie Sarcany, der Doppelagent und Heterogen per se, der sich am Ende als bösartiger Muslim erweisen wird, der - exemplarisches Narrativ des Orientalismus spätestens seit dem 18. Jahrhundert - die Christin Sava, die vermeintliche Tochter Toronthals, entführen will, zeigt. So wird das jahrhundertealte Phantasma der geraubten unschuldigen Christin, die sexuell verkauft werden soll, im Roman zweimal vorgeführt, einmal als Tat des dalmatinisch-jüdischen Österreichers Toronthal, das andere Mal als Aktion seines Spießgesellen, des „Orientalen“ Sarcany. Freilich ist die Verurteilung des bunten imperialen Gemischs im Roman nicht konsequent durchgeführt, leben doch auf dem idealen reichen und demokratischen Inselstaat Antekirrta Menschen und Familien europäischer und arabischer Herkunft. (MS 223) Mathias Sandorf ist, wie die Verbeugung vor Dumas Père in einem Widmungsschreiben an dessen Sohn verrät, gewiss in vielen Momenten dem Grafen von Monte Christo narrativ nachgebaut, aber es gibt doch einen entscheidenden Überschuss: die Phantasie von einer Gegenwelt im Zeitalter des Imperialismus und der neuen Nationen. Ich würde Herzls utopischen Siedler-Roman Altneuland diesem Typus zuordnen. 22 21 Vgl. Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion. Frankfurt/ Main: Fischer 2007. 22 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: „Landnahme und Schiffbruch: Carl Schmitt, Theodor <?page no="101"?> 101 Von Schurken und Slawen bedrängt Vernes Utopie steht in einer langen Tradition von neuzeitlichen Konzeptionen seit dem Sonnenstaat und Nova Atlantis. Wie Theodor Herzls utopischer Palästina-Roman Altneuland zeigt, wird es auch nicht die letzte eurozentrische Utopie bleiben. Was den maritimen Abenteuerroman des französischen Erfolgsautors indes auszeichnet, ist die Inselphantasie, die Zwischenraumlage, das soziale Moment und die väterliche Gründungsfigur, was sie von den klassischen Utopien unterscheidet, das ist ihre kulturelle Beschaffenheit. Antekirrta ist nämlich durchaus ein handfester Machtkomplex, ein zunächst technisch höchst moderner Ort, großzügig ausgestattet und perfekt organisiert von einem Gutsbesitzer und Arzt, der zu einem großen Werftbesitzer avanciert ist. Der märchenhaft reich gewordene ungarische Graf, ein Projektemacher des 19. Jahrhunderts, benutzt bei Jules Verne sein Geld für seine umtriebigen Projekte, für medizinische Versorgung, Schiffsbau und militärische Logistik im Kampf gegen die fanatische Bruderschaft eines gewissen Sidi Mohammed, der der christlichen Welt den Krieg erklärt hat. Die nur dürftig verdeckte imperiale Bedeutung von Antekirrta als einer humanen Zivilisation ist unübersehbar: Angesichts der Bedrohung durch muslimische Fanatiker, war es, so weiß der Erzähler zu berichten, „verständlich, daß Doktor Antekirrt die modernsten Verteidigungsmittel zum Schutz seiner Kolonie einsetzen wollte.“ (MS 224) Herzl, Joseph Roth. Eine Forschungsskizze.“, in: Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur. Wien: Sonderzahl 2009, S. 257-270. <?page no="102"?> 102 Wolfgang Müller-Funk <?page no="103"?> 103 Den Balkan konstruieren Anna Babka Den Balkan konstruieren. Postkolonialität lesen. Ein Versuch mit Karl Mays Kara Ben Nemsi Effendi aus In den Schluchten des Balkan Als ich gerade begonnen hatte, über diesen Artikel nachzudenken, das Buch Karl Mays jedoch bereits gewählt hatte - nicht zuletzt wegen des vielversprechenden Titels, so passend für das Thema des Bands Narrative im (post-)imperialen Kontext -, blätterte ich sonntags in einer der Beilagen der Tageszeitung Der Standard, dem Rondo, und las von einer kulinarischen Lesereise, die, wie es hieß, am dritten Tag nach Belgrad, Bar und Ulcinj führen sollte: „Heute geht es mit dem Zug durch die Schluchten des Balkans bis an die Adriaküste. In Ulcinj, der südlichsten Stadt des ehemaligen Jugoslawiens, erleben wir Balkan pur.“ Wunderbar, dachte ich, ein guter Beginn, das (post-)imperiale Narrativ, Balkanismen zum Frühstück in einer der größten Tageszeitungen des Landes. Was immer diese Ankündigung versprechen mag, was immer der „pure Balkan“ verheißen mag, hier doch wohl als „positives“ Stereotyp, als ein Ort, an dem, wie der Werbetext verspricht, die folkloristische Vorstellung des Balkans den Höhepunkt ihrer Realisierung erreicht, der kulturell wie kulinarisch doch oft pejorativ aufgeladene Begriff auf einer politischen Landkarte zum faszinierenden Fetisch gerinnt - vielleicht. Denn Vorsicht, keine einseitigen Vorannahmen meinerseits, ist doch, wie es Maria Todorova darlegt, „[d]as Wort „Balkan“ […] nicht an sich schon ideologisch. Als Name könnte es nicht neutraler und freundlicher sein, da es schlichtweg ‚Gebirge‘ bedeutet“. 1 Versucht man jedoch mit Todorova eine zeitgenössische Definition des Begriffs Region jenseits territorialer Tautologien, so ist der sogenannte Balkan möglicherweise eine durch gewisse Gefühle, Affinitäten und Identitfikationen miteinander verbundene, staatsübergreifende Einheit, die zugleich eine Subregion Europas darstellt. 2 Doch zurück zu meinem Frühstück. Es war dies kurz vor meinem Urlaubsantritt, ein Urlaub, der mich eben nach Kroatien führte, unweit von Zadar, und so lag auch der Reiseführer neben der Zeitung, ein Dumont, kein einfach 1 Vgl. Todorova, Maria: „Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa“, in: Gramshammer-Hohl, Dagmar/ Kaser, Karl/ Pichler, Robert (Hg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt u.a.: Wieser 2003 (=Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11), S. 227-252, S. 228. 2 Ebd. <?page no="104"?> 104 Anna Babka gestrickter Marco Polo oder Ähnliches, nein, ein Kunstführer. Ich schlug ihn auf und siehe: ein ganzes Kapitel nannte sich „In den Schluchten des Balkan“, ganz ohne Verweis auf Karl May und doch unverkennbar den Titel des Buches zitierend, ein stehender Topos, ein Klischee, eine Gewissheit in den Köpfen der Bevölkerung deutschsprachiger Länder - der Balkan, die exotischen Bilder, die zerklüfteten Schluchten, die Ödnis und Wildnis, Lex Barker mit seinem Gewehr, die Räuber und Banditen und deren Jäger, die Guten und die Bösen, ganz einfach, oder doch nicht so ganz? Das balkanistische Narrativ verdichtet sich in einer einzigen, bei May titelgebenden, Phrase: „In den Schluchten des Balkan“. Also begann ich das Buch meiner Wahl zu lesen, in der Hoffnung, dass mich die Faszination, das kindliche Leseerlebnis mit Texten Mays von früher, wie etwa mit Winnetou Band 1, 2 und 3, dem Schatz im Silbersee und vielen anderen seiner Bücher nochmals einholen würde und ich so mein kulturwissenschaftliches, literarisches Interesse an eine, vielleicht melancholische, Leseerinnerung binden könnte. Weit gefehlt, ist es doch ein Text, in dem sich recht wenige schöne Sätze finden, 3 und doch zeigt sich schnell, was in ihm aufgehoben ist, ein fiktiver, zuweilen utopischer Erfahrungsraum, in dem sich das Themenspektrum dessen, was uns hier interessiert, in breiter Weise entfaltet. Der „utopische Erfahrungsraum“, in eine „echte“ Landkarte eingezeichnet. 4 3 Hermann Wiegmann hingegen vergleicht May sogar mit Kafka: „[…] die traumhafte Deutlichkeit und das nüchterne präzise Papierdeutsch erinnern an keinen modernen Schriftsteller mehr als an ihn, die Sprache ist von fast kafkaesker Reduktion und Präzision des Sprachlichen.“ (Wiegmann, Hermann: „1. Reiseromane und Reiseerzählungen“, in: Karl-May-Handbuch. Hg. v. Gert Ueding. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 163) 4 Petzel, Michael/ Wehnert, Jürgen: Das neue Lexikon rund um Karl-May: Leben, Bücher, Filme, Fans. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2002. <?page no="105"?> 105 Den Balkan konstruieren Der massenkompatible Plot selbst („bis 1974 war die deutsche Gesamtauflage seiner Werke auf 50 Millionen gestiegen“ 5 ) ist schnell erzählt: Im vierten der sechs Teile des sogenannten Orientzyklus durchqueren Kara Ben Nemsi (gleichsam ein alter Ego Karl Mays, übersetzbar als Karl, Sohn der Deutschen) und sein treuer Diener Halef Omar (sein „Idealbild“ vielleicht, „aufschneiderisch, wenn auch liebenswert und tapfer“, 6 wie es Hermann Wiegmann formuliert) auf ihrer Verfolgung des Mörders Hamd El Amasat die wilden Schluchten und Pässe des Rodopi-Gebirges im südlichen Bulgarien. Die wackeren Reisenden dürfen niemandem trauen, vielfach begegnen ihnen durchtriebene Heuchler und verschlagene Meuchelmörder. Ein großer Verbrecher, der „Mübarek“, vom einfachen Volke gar als Heiliger verehrt, scheint mit seiner List und Verschlagenheit Kara Ben Nemsi zumindest zu Beginn der Konfrontation ebenbürtig zu sein, der Ausgang der Geschichte wird hier nicht verraten. Doch nochmals einen Schritt zurück. Wie kommt es zu diesem anziehenden Buchtitel, zu dieser literarischen Konstruktion aus der Perspektive eines Schriftstellers des 19. Jahrhunderts, der dieses Land, diese Region zur Zeit des Verfassens noch nicht einmal betreten hatte. Mays Schriften haben wohl Anteil am sogenannten Balkanismus, der, wie es Maria Todorova zusammenfasst, sich stufenweise im Verlauf von etwa zwei Jahrhunderten [entwickelte]. Das 18. und das 19. Jahrhundert können als die Zeit der Entdeckung des Balkans und seiner gleichzeitigen Erfindung betrachtet werden. Es bildeten sich verschiedene Wahrnehmungsmuster heraus, von denen ein aristokratisches und ein bürgerliches am meisten hervorstechen und die erst zur Zeit der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs zu einem spezifischen Balkandiskurs (oder einer spezifischen geistigen Balkanlandkarte) geronnen. 7 Die Balkanlandkarte, eine „Landkarte des Geistes“, wie es mit Patricia Purtschert in Rückbezug auf Hegels Geschichtsvorlesungen formuliert werden könnte, ist „imaginäre Geographie“, die konstruiert wird, um den paradoxen, weil eigentlich innen liegenden und nicht ultimativen äußeren Rand eines transnationalen Imperiums, den Balkan, zu denken. Für die Philosophie, deren Diskurs sicherlich Auswirkungen auf bürgerliche Wahrnehmungsmuster zeitigte, stellt dieser Rand, oder besser, diese Zone, dennoch das Außerhalb jenes „Bodens der Wissenschaft“ dar, „auf dem das moderne Subjekt erscheinen kann“. 8 Der Boden ist es, wie es der philosophische Diskurs der Zeit, hier mit Hegel, nahelegt, der die Wesenheit des Menschen zu bedingen scheint. 5 Leuscher, Udo: Karl May als „Lebenshilfe“. Über einen Klassiker der Trivialliteratur, http: / / www.udo-leuschner.de/ entfremdung/ may.htm (23.9.2013), sowie: Petzel, Michael/ Wehnert, Jürgen: Das neue Lexikon rund um Karl-May: Leben, Bücher, Filme, Fans. Berlin: Lexikon-Imprint-Verlag 2002. 6 Wiegmann: „1. Reiseromane und Reiseerzählungen“, S. 163. 7 Todorova: „Historische Vermächtnisse als Analysekategorie“, S. 234. 8 Purtschert, Patricia: Grenzfiguren. Kultur, Geschlecht und Subjekt bei Hegel und Nietzsche. Mit einem Vorwort von Judith Butler, Frankfurt-New York: Campus 2006, S. 47. <?page no="106"?> 106 Anna Babka Diese Naturunterschiede müssen nun zuvörderst auch als besondere Möglichkeiten angesehen werden, aus welchen sich der Geist hervortreibt, und geben so die geographische Grundlage. Es ist uns nicht darum zu tun, den Boden als äußeres Lokal kennenzulernen, sondern den Naturtypus der Lokalität, welcher genau zusammenhängt mit dem Typus und Charakter des Volkes, das der Sohn solchen Bodens ist. 9 Suggeriert wird eine intrinsische, naturgegebene Verknüpfung dieser Faktoren, die, umgelegt auf unsere geistige Landkarte, die Dichotomie zwischen dem ‚vor-modernen‘ Boden, dem Land, dem Gebirge, den Schluchten, dem Balkan und dem vermeintlichen Zentrum aufspannt. 10 Auch Karl Mays Orientzyklus, erschienen zwischen 1881 und 1888 in der Zeitschrift Deutscher Hausschatz in Wort und Bild und später in Buchform, zeichnet „Landkarten des Geistes“, interveniert als literarischer und zugleich ethnographischer Diskurs sichtlich in diesen Prozess des Balkanismus, für den, um es mit Hegel zu formulieren, der „Naturtypus der Lokalität“ signifikant ist, wie auch im folgenden Beispiel, wenn im Text die Straßenverhältnisse auf dem Pranger stehen, die dann den Boden für die Söhne des Balkans abgeben, nicht jedoch für die Fremden, die ins Land kommen, wie Kara Ben Nemsi selbst, der hier den Vergleich zieht: Westeuropäische Chausseen gibt es nicht. Schon das Wort Straße sagt zu viel. Will man von einem Celo zum anderen, so sucht man sogar meist vergebens nach der Verbindung, welche wir einen Pfad oder Weg zu nennen gewöhnt sind. Wer fremd ist und ein nicht ganz und gar nahes Ziel verfolgt, muß, falls er von dem Ochsenkarrengleis, welches hier als Straße gilt, abweichen will, den Instinkt eines Zugvogels besitzen[...]. 11 „Westeuropäische Chausseen giebt es nicht.“ Ein Satz, der signifikant ist für Mays Verfahren, das zu beschreiben, was mit Stuart Hall die normative Basis für die Repräsentation des „Fremden“, des „Anderen“ darstellt. Der Westen wird zur Folie für den Vergleich, zum „standard model of comparison“, 12 wie es Hall formuliert, er bietet zudem Kriterien der Evaluation anderer Gesellschaften auf der Basis von dichotomen Ordnungsmustern. 13 Der Balkan, der „andere Boden“, eignet sich, so suggeriert Mays Text, doch eher für Fuhr- 9 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1970, S. 106. 10 Purtschert: Grenzfiguren, S. 48. 11 May, Karl: In den Schluchten des Balkan. Reiseerzählung. Stuttgart: Parkland 1992, S. 34. In der Folge angegeben als Sigle SB und Seitenzahl im Text. 12 Hall, Stuart: „The West and the Rest: Discourse and Power“, in: Formations of Modernity. Hg. v. Stuart Hall und Bram Gieben. Cambridge: Polity Press 1997, S. 277. 13 Vgl. ebd., S. 277 und Habinger, Gabriele: „‚Der Westen und der Rest‘: Zwischen abschreckender Physiognomie, Trägheit, Sinnlichkeit und Schutzbedürftigkeit oder wie Ida Pfeiffer (1797-1858) die Welt sah“, in: Austrian Studies in Social Anthropology 1, 2005, S. 16-31, S. 23. <?page no="107"?> 107 Den Balkan konstruieren werke, die, rückständig, von Tieren gezogen werden. Selbst ein Tier zu sein mit all seinen Instinkten würde zudem helfen zügig voranzukommen, sich auf den ungehörigen Wegen der Fortbewegung zurecht zu finden. Hier steht das tierische, und wie suggeriert wird, „balkanische“ Prinzip eindeutig dem, wenn man so will, „herrenmenschlichen“ gegenüber. Die Straße gleicht einem Ochsenkarrengleis, ein ironisch-spöttischer Ausdruck für einen unbefestigten Weg, den man dennoch nicht verlassen darf, außer man besitzt Flügel. Die Suche nach dem Weg „durch die Schluchten des Balkan“, die Beschaffenheit dieser Wege ist ein häufiger Diskurs des homodiegetischen Erzählers, des potenten Kara Ben Nemsi Effendi: Ich ritt zu ihr hin und fand eine Straße. Als ich über die Brücke gekommen war, sah ich - zum ersten Male in der Türkei - einen Wegweiser. Er bestand aus einem Felsstück, das aus der Erde ragte und auf das man mit Kalk zwei Worte geschrieben hatte. […] Grade aus führte das Ding, das ich soeben Straße genannt habe […]. (SB 45) Hier also wieder, die Straße, „das Ding“, das er zwar Straße nennt, das dem „richtigen“ Begriff aber nicht gerecht zu werden scheint. Sodann erfolgt der Verweis auf etwas, was ein Wegweiser sein soll, unausgesprochen aber genau dieser Rückständigkeit entspricht, die in den Beschreibungen vorherrscht. Was durch diese „Dinge“ verbunden wird, sind „Bulgarendörfer“: Jedes dieser Dörfer, die ziemlich eng aufeinander folgen, zählt nur wenige Höfe, welche durch Grasplätze voneinander getrennt sind. Sechs bis zehn Hütten bilden einen Hof. Diese Hütten werden entweder in die Erde gegraben und mit einem kegelförmigen Dache von Stroh und Zweigen versehen, oder man errichtet sie aus Weidengeflecht, in welchem Falle sie das Aussehen von großen Körben besitzen. Jeder und jedes hat seine abgesonderte Wohnung in diesen Höfen. Es gibt Hütten für die Menschen, Pferde, die Rinder, die Schweine, die Schafe und die Hühner. Die Tiere verlassen beliebig ihre Wohnungen und wandern friedlich zwischen den Höfen hin und her. (SB 33) In den Hütten, aus denen die Dörfer bestehen, haben alle ihre Wohnungen, Menschen wie Tiere, und beide Kategorien werden in einem Zug genannt, als würde sie wenig unterscheiden. Die stereotype Zuschreibung verweist den Menschen in Mays Orient in den Bereich des Tierischen, hier gedacht als das Unzivilisierte, die Wohnungen sind Erdlöcher oder gleichen „Körben“. Über allem liegt jedoch zugleich eine gewisse Idylle, wird im Text ein locus amoenus heraufbeschworen, in dem die Tiere friedlich zwischen den Höfen herumwandern, inmitten des sie umgebenden Chaos, der unbefestigten Wege, der Schluchten, der loci terribili. Um diese Diskrepanz aufrechtzuerhalten muss Mays Held, so Andrea Polaschegg, „eine enorme zivilisatorische Aufräumarbeit unternehmen“, er „muss Schienen und Straßen ebenso wegretuschieren wie Kanalbauten und Fabriken“. 14 In seinen Beschreibungen, in denen er 14 Polaschegg, Andrea: „Immer wenn ich an den Orient denke, fällt mir der Islam ein. Die <?page no="108"?> 108 Anna Babka Städte, die touristisch bereits gut erschlossen waren, konsequent meidet, wird „sein Orient […], ganz wie sein Amerika, ein Naturraum, in dem der überlegene Deutsche auf Abenteuertourismus geht“. 15 Im gesamten Zyklus erscheint der, wie es die Forschungsliteratur durchgängig betont, „exotische Schauplatz […] als negativer Gegenentwurf zum eigenen, als höher stehend empfundenen Kulturkreis“, aber auch, und das ist für unsere Fragestellung bedeutsam, „als Projektion zivilisationsmüder Wunschvorstellungen“, 16 als Ort der Sehnsucht und des Begehrens, damit auch ein Ort der Ambivalenz (das wird zudem sichtbar an der Selbstinszenierung Karas durch Kleidung, Bart etc., die durchaus einer Selbstorientalisierung gleichkommt). In diesem Sinne fungierte der orientalisierte, also am Schnittpunkt philosophischer, ethnographischer, politischer, theologischer und literarischer Diskurse gemachte Balkan, nach Maria Todorova das „innere Andere“, dem imperialistischen Europa, hier einem seiner Konstrukteure, als das verachtete und zugleich begehrte (Stereotyp als Fetisch) - ich werde auf dieses Konzept zurückkommen. Um als solches wirksam zu sein, ist dieses innere Andere notwendiger Teil des Narrativs, der Selbsterzählung des Kara Ben Nemsi Effendi, die seine kulturelle wie individuelle Identität allererst erzeugt und aufrechterhält. 17 feinen Unterschiede in Karl Mays Morgenland“, in: Karl May: Brückenbauer zwischen den Kulturen. Hg. v. Wolfram Pyta. Berlin: Lit Verlag 2010, S. 95. Vgl. auch Kriegleder, Wynfrid: „Das Bild der Türken in Karl Mays Orient-Hexalogie“, unveröffentlichtes Manuskript. 15 Kriegleder: „Das Bild der Türken in Karl Mays Orient-Hexalogie“. 16 Rohe, Simone: „Karl May und der Balkan: Verbreitung von Vorurteilen? “, in: Deutschland und Europa 49 (2005), S. 12-16, S. 13. 17 Vgl. Birk, Hanne/ Neumann, Birgit: „Postkoloniale Erzähltheorie“, in: Nünning, Ans- <?page no="109"?> 109 Den Balkan konstruieren Maria Todorova differenziert in ihren luziden Arbeiten zwischen Orientalismus und Balkanismus auf mehrerlei Art, unter anderem darüber, dass sie betont, dass der Orientalismus den Westen und den Orient als inkompatible Gegenwelten konzeptualisiert, während der Balkan im Unterschied dazu immer eine Zwischenwelt, eine Brücke zwischen dem Westen und dem Orient darstellt, 18 der Balkan damit, wie oben argumentiert, zum inneren Anderen 19 wird. Zugleich erweist sich der Balkan als vielfältig und heterogen, aufgrund seiner „Rassenmischung“ und „Bastardnatur“, wie es ihm vorgeworfen wird, ein Faktum, das, wie es Todorova zusammenfasst, den Grund für Instabilität, permanente Auseinandersetzungen und Aufruhr darstellt. 20 Letztlich kommt „dem Balkan“ meines Erachtens jedoch die gleiche Funktion wie „dem Orient“ zu insofern, als er dem Westen als „Repositorium von negativen Eigenschaften“ dient, demgegenüber er sich in seiner Selbstherrlichkeit und Überlegenheit konstruieren kann. 21 Für meine Argumentation sind die Nachweise der Differenzierung Todorovas nicht unbedingt maßgeblich, vielmehr zeigt sich in den Texten Karl Mays eher durchgängig ein Bild des Balkanismus als Orientalismus, in dem die Ambivalenzen, auf die ich im letzten Teil meines Beitrags eingehen werde, anders aufgehoben scheinen als in den „Übergangszonen“ Todorovas, die sie als hybrid ausweist, was ihren postkolonialen Gehalt stärken würde. Wenn in Mays Text etwa von schreienden Sicherheitsbeamten die Rede ist, die sich in Kraftäußerungen ergehen, „welche der arabischen, türkischen, persischen, rumänischen und serbischen Sprache entnommen waren“, so werden diese Beamten in ihrer Sprachvielfalt pauschal orientalisiert: „In diesem Genre ist der Orientale, zumal der orientalische Soldat, sprachlich sehr vielseitig bewandert.“ (SB 30) Die BewohnerInnen des Balkan, gleich woher sie stammen, gleich welche Sprache sie sprechen, werden im literarischen Text Mays zu OrientalInnen, hier etwa zu „SpezialistInnen“ für Kraftäußerungen. Deshalb gilt für den literarischen Text Karl Mays, wie ich anderer Stelle mit Edward Said argumentiert habe: Der Diskurs über den Orient ist besonders durch den Ort seiner Herstellung, seiner Produktion gekennzeichnet. Dieser Ort der Produktion ist in erster Linie ein Text des Westens im Westen, er ist, mit Said gesprochen, eine Idee, die eine Geschichte hat, er ist eine Denktradition, er umschließt Vorstellungen und Bilder sowie ein Vokabular, das ihm Realität und Präsenz im und aus dem Westen hervorgehend verliehen hat. 22 gar/ Nünning, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, S. 115- 152, S. 122. 18 Vgl. Todorova: „Historische Vermächtnisse als Analysekategorie“, S. 234. Todorova konzeptualisiert den Balkan aber auch als „unvollständiges Selbst“ (ebd., S. 234) - im Unterschied zum Orient, bei dem wir es mit einer vermeintlichen Gegenwelt beziehungsweise einem vollständigen Anderen zu tun haben. 19 Vgl. ebd., S. 235. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Vgl. Babka, Anna: „‚Das war ein Stück Orient‘. Raum & Geschlecht in Robert Michels <?page no="110"?> 110 Anna Babka Karl Mays Texte haben bedeutenden Anteil an diesen Vorstellungen innerhalb breiter Bevölkerungsschichten, war doch das Wissen über denselben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gering, wie es Svenja Bach in ihrem Abriss zum Orientwissen der Zeitgenossen Karl Mays nachzeichnet. 23 Literarische Texte bildeten grundsätzlich einen bedeutenden Bereich im Hinblick auf die Tradierung dieses Wissens und damit an der Konstruktion, an der performativen Hervorbringung des Orients, ausgehend von mittelalterlicher Literatur (Rolandslied, Parceval, Willehalm) über Märchen der Frühen Neuzeit (Tausend und eine Nacht) bis zu jenen von Wilhelm Hauff, später zu Goethe, Herder, Schlegel und anderen. 24 Mays Texte sind in hohem Maße performativ, sie handeln, indem sie eine bestimmte Wirklichkeit gerade nicht repräsentieren, sondern in den Köpfen der Menschen allererst erzeugen. Und diese Wirklichkeit generiert sich, um hier kurz Mays Arbeitsweise zu skizzieren, aus zahlreichen verschiedenen Textsorten, aus non-fiktionaler Reiseliteratur, aus orientalistischen Fachpublikationen, zeitgenössischen Presseberichten, Nachschlagewerken, Landkarten, Sprachführern mit all den vorherrschenden eurozentristischen Klischees und Stereotypen, die sich, zum einen, in den Texten des Autors aus dem kaiserlichen Deutschland fortschreiben, 25 und zum anderen und sicherlich nicht auf den ersten Blick, auch widersprüchlich und brüchig zeigen und sich damit einer postkolonialen Lektüre öffnen. Meine Lektüre hier versucht in diesem Sinne zwei Momente der postkolonialen Literaturwissenschaft 26 miteinzuschließen, nämlich jene des expliziten kolonialen oder postkolonialen Gehalts von Mays Text mit Augenmerk auf die Konstruktion sozialer und historischer Kontexte, 27 wie hier auf die Konstruk- ‚Die Verhüllte‘“, in: Müller-Funk, Wolfgang/ Bobinac, Marijan (Hg.): Gedächtnis - Identität - Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raums und ihr deutschsprachiger Kontext. Tübingen: Francke 2008 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 12), S. 125-136, S. 122; Said, Edward W.: Orientalism. New York: Routledge 1978, S. 6. 23 Bach, Svenja: Karl Mays Islambild und der Einfluss auf seine Leser. Radebeul: Karl May Gesellschaft 2010, S. 14. 24 Ebd., S. 12. 25 Vgl. Rohe: „Karl May und der Balkan: Verbreitung von Vorurteilen? “, S. 13. 26 Für die postkoloniale Literaturtheorie gibt es weder im deutschsprachigen noch im englischsprachigen Raum eine einheitliche Bezeichnung, sie wird u.a. mit Postcolonial Criticism, Postcolonial Theory, Postcolonial Studies, postkoloniale Theorie und postkoloniale Literaturkritik umschrieben. Vgl. Burtscher-Bechter, Beate: „Diskursanalytisch-kontextuelle Theorien“, in: Sexl, Martin (Hg.): Einführung in die Literaturtheorie. Wien: UTB 2004, S. 276-286, S. 276. Zur Korrelation postkolonialer und kulturwissenschaftlicher Ansätze vgl. Lutter, Christina/ Reisenleiter, Markus: „ ‚ Post/ Colonial Studies‘ und / oder ‚Cultural Studies‘? Oder: Ist diese Frage tatsächlich wichtig? “, in: Kakanien revisited (2002), abrufbar unter: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ CLutter_MReisenleitner1.pdf (20.7.2014). 27 Vgl. Ashcroft, Bill et al.: The Empire Writes Back: Theory and Practice in Post-colonial Literatures. London/ New York: Routledge 1989, S. 192. <?page no="111"?> 111 Den Balkan konstruieren tion des sogenannten Balkans. Hier gilt die Aufmerksamkeit besonders jenem Ort im Text, an dem binäre Kodierungen vorgenommen werden, an dem ganz besonders auf der „Andersheit“ derer beharrt wird, die im Text einem „othering“ unterliegen, einem Terminus, den Gayatri Spivak für jenen Prozess geprägt hat, in dem der imperialistische Diskurs die Anderen erzeugt und damit die „eigene“, vermeintlich überlegene Kultur, wie hier die des kaiserlichen Deutschland, allererst ermöglicht. Den zweiten Fokus bildet der Versuch, die impliziten kolonialen oder postkolonialen Strukturen und Figuren mitzulesen und zu exponieren, Verschiebungen und Ambivalenzen sowie das Aushandeln von Handlungsmacht offenzulegen. In Mays Texten werden, wie oben etwa an der Verwobenheit von Ort und charakterlicher, intellektueller Bildung des Menschen dargelegt, eine Unzahl an negativer stereotyper Zuschreibungen lesbar (ähnliche Stereotype wären Unreinlichkeit, Faulheit, Superstition, Fanatismus, Chaos, überbordender Eros etc.), die Kara Ben Nemsi in zivilisatorischer Mission als essentielle Wesenheiten an Personen oder Personengruppen bindet bzw. an den Balkan an sich. Damit hat der Text als balkanistischer Diskurs auch Anteil am kolonialen Diskurs: Die Zielsetzung des kolonialen Diskurses besteht darin, die Kolonisierten auf der Basis ihrer ethnischen Herkunft als eine aus lauter Degenerierten bestehende Bevölkerung darzustellen, um die Eroberung zu rechtfertigen und Systeme der Administration und Belehrung zu etablieren. 28 Diese Definition des kolonialen Diskurses mit Bhabha könnte nicht zutreffender sein im Hinblick auf Karl Mays Protagonisten. Kara Ben Nemsi streift als edel gesinnter europäischer Forschungsreisender, als christlicher Superheld durch den Balkan, als kultureller Kolonisator z.B. auch im Sinne der Administrierung, Aufrechterhaltung und Durchsetzung von Recht und Ordnung. Er verfolgt Räuber und Banditen und führt sie einer gerechten Strafe zu, wird im fremden Land mit seiner, wie es der Text suggeriert, maroden Gerichtsbarkeit quasi zum Herren über diese. Er führt als Ich-Erzähler die Figuren in einem Gestus hegemonialer Überlegenheit gleichsam in einer unendlichen Textbewegung vor. Die von der Erzählerfigur ausgehende, zumeist negative Stereotypisierung (die Zuschreibung des Anderen als eines Minderwertigen und Degenerierten) muss jedoch im Text, wie es scheint, permanent wiederholt werden, was diese Zuschreibungen nicht unbedingt fixiert, sie oft auch lächerlich macht und den Grad ihrer Konstruktion offenlegt, damit auch ihre Brüchigkeit. Es gibt keine Sicherheit, dass das Behauptete „wirklich“ so ist, wie es dargestellt wird, deshalb ist die Wiederholung Bedingung der Möglichkeit der Erzeugung des Anderen, damit auch performativ im Sinne der Hervorbringung dessen, was vermeintlich nur beschrieben wird. Mit Bhabha, der sich von klassischen 28 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 104. <?page no="112"?> 112 Anna Babka Konzepten der Stereotypisierung abgrenzt, kann argumentiert werden, dass es nicht darum geht, „den kolonialen Diskurs zu dekonstruieren, um seine falschen ideologischen Vorstellungen und Verdrängungen zu enthüllen […]. Um die Produktivität der kolonialen Macht zu verstehen, ist es entscheidend, ihr Wahrheitssystem zu re-konstruieren, nicht, dessen Repräsentation einer normalisierenden Beurteilung zu unterziehen.“ 29 Im Zuge einer solchen Rekonstruktion geht es mir um das Auffinden von Diskrepanzen und Unschärfen innerhalb des kolonialen Diskurses. Eine solche ergibt sich, wenn unverhofft die sprachliche Handlungsmacht beim „Anderen“ liegt, wenn Fragen der Identität verhandelbar, stereotype Zuschreibungen hinterfragt, identitäre Verhandlungsprozesse eröffnet werden. Identitätskonstruktionen sind in der postkolonialen Theoriebildung „unauflöslich mit Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten“ verbunden, sie ermöglichen, dass sich die Figur im Text und damit im gesellschaftlichen Kontext positioniert und Widerstand entwickelt. 30 Und so ergreift der bulgarische Schmied Schimin im Gespräch mit Kara Ben Nemsi das Wort, nimmt eine widerständige Haltung ein, was das Lesen von dezentrierten Machtverhältnissen im Text erstmals eröffnet, zunächst nur schlicht auf der Ebene der Argumentation. Was der Autor dem Schmied hier in den Mund legt, korreliert osmanische wie europäische Großmachtbestrebungen und lässt keine besser als die andere aussehen - dies ausgehend von einer Grundsatzrede zum Islam, zur westlichen/ christlichen Kritik am Islam, mit der Schimin Kara Ben Nemsi konfrontiert, indem er fragt: „Hast du nicht schon die Klage gehört, daß der Islam seine Anhänger verhindere, in der Kultur Fortschritte zu machen? “ (SB 65) Kara Ben Nemsi bejaht dies, worauf Schimin weiterfragt, ob dieser Vorwurf nicht meist von „Andersgläubigen“ käme - was von seinem Gesprächspartner wiederum bestätigt wird. Darauf argumentiert Schimin: Nun, sie kennen den Islam, den echten Türken nicht. Der Islam verhindert den Kulturfortschritt nicht; aber die Macht, die er dem einen über den andern erteilt, ist in unrechte, treulose Hände gekommen. Auch der Türke ist gut. Er war und ist noch bieder, treu, wahrheitsliebend und ehrlich. Und wenn er anders wäre, wer hätte ihn anders gemacht? (SB 65) Kara Ben Nemsi zeigt sich frappiert, von diesem „einfachen“ Schmied derartige Worte zu hören und fragt sich nach deren Grund und deren Ursprung. Konnte der Schmid selbst so gut denken oder hatten ihn etwa Männer, mit denen er verkehrte, zu sich „emporgezogen“ (SB 66)? Dass hier der Ursprung der differenzierten Rede hinterfragt wird, überrascht nicht, stellt sie ja tatsächlich ein unerwartetes Moment im Text und eine gewisse Ausnahme dar. Wissen und Informationen über den Orient, den Islam, über Sitten und Gebräuche werden zwar im gesamten Zyklus in Form von Exkursen oder Dialogen einge- 29 Ebd., S. 98. 30 Birk/ Neumann: „Postkoloniale Erzähltheorie“, S. 123. <?page no="113"?> 113 Den Balkan konstruieren flochten, jedoch gerade nicht im Sinne des Dia-Logos, wo sich das Verstehen, Denken und Sprechen der Beteiligten in und durch das Gespräch hindurch ergeben, 31 sondern in einer deutlich markierten Asymmetrie, die sich hier im Erstaunen des Kara Ben Nemsi widerspiegelt. Was also ergibt sich, wenn der Subalterne, der proletarische Schmied spricht? Das binäre Ordnungsschema dominiert auch hier, wird jedoch zugleich verschoben und durchkreuzt. Der Vorwurf, dass der Islam die Entwicklung der Kultur verhindere, käme von „Andersgläubigen“, also von Christen. Diese wiederum würden den Islam nicht kennen, für den wiederum der „echte“ Türke steht. Also, Christentum vs. Islam, echter vs. nicht-echter Türke, der Türke, der für den Islam steht, erzeugt den echten, der nicht-echte Türke den nicht-echten Islam. Der Islam erteilt Macht, die in die untreuen Hände nicht-echter Türken gekommen sein muss. An sich ist der Türke gut, beziehungsweise auch er ist gut - hier ist wohl der „echte“ gemeint -, und dieser echte war und ist treu und bieder und wahrheitsliebend. Und wenn er es nicht ist, also wenn er nicht echt ist, wer hätte ihn dann so untreu und verlogen und damit nicht-echt gemacht? Der nicht-echte Türke ist nicht von selbst nicht-echt, er ist so gemacht, konstruiert, sagt der Text. Wer oder was konstruiert den untreuen, nicht echten Türken? Wohl die Andersgläubigen, folgt man der Logik der Argumentation. Doch wer spricht hier eigentlich, wenn der Schmied spricht? Wenn der proletarische Schmied, der „Subalterne“ 32 spricht, so funktioniert das Sprechen hier ganz im Sinne Gayatri Spivaks. Der Subalterne darf zwar sprechen, in seinen Mund gelegt werden jedoch die Überlegungen des Überlegenen, die potentiellen Überzeugungen eines Autorsubjekts, das zugleich markierter Ich-Erzähler ist, eingebettet in die Diskurse seiner Zeit. Das Zur-Sprache-Kommen, das Sprechen-Können und das Wort-Ergreifen angesichts eines dominanten Herrschaftssystems stellt einen bedeutenden Beitrag zu Spivaks Theoriebildung innerhalb der Postkolonialen Theorie dar. Sie reflektiert die Versuche der Subalternen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, gehört und verstanden zu werden. Die Wissensproduktion und Wissensorganisation des Westens stellt für die Subalternen ein oft unüberwindbares Sprachhemmnis dar. Wenn nun der Schmied spricht, so ist es, als ob ihm Kara Ben Nemsi, im übertragenen Sinne natürlich, ein Mikrofon vor den Mund hält, jedoch das, was er sagt, muss von ExpertInnen gleichsam übersetzt oder zumindest kommentiert werden, um verständlich zu sein. Die ExpertInnen sagen, was die Subalternen „eigentlich“ meinen. Diese Kritik formuliert Spivak 31 Vgl. http: / / arbogast.at/ dialogprojekt/ Wissen/ Was-ist-Dialog (22.9.2013). 32 Steyerl, Hito: „Die Gegenwart der Subalternen“, in: Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl. Wien: Turia + Kant 2007, S. 8. <?page no="114"?> 114 Anna Babka im Hinblick auf Gilles Deleuze und Michel Foucault insofern, als diese eine solche Rolle einnehmen, wenn sie die Unterdrückten für sich selbst sprechen lassen wollen. Dieser scheinbar paradoxe Vorwurf bedeutet, dass es die Intellektuellen sind, die das „Für-sich-selbst-Sprechen“ der Anderen repräsentieren. 33 Und ein solcher Vorgang sei, so Hito Steyerl mit Spivak, „eine uneingestandene Geste der Selbsterhöhung“. 34 So geschieht es auch dem Schmied Schimin im Text, der zwar zwei knappe Seiten im Buch für seine Sicht der Dinge zu den Türken und dem Islam zu Verfügung hat, der von Kara Ben Nemsi, der im Text eindeutig die Rolle des überlegenen Geistes, des Intellektuellen einnimmt, vorerst jedoch gar keine Antwort bekommt: „Ich zog es vor, mich einer Antwort zu enthalten“, sagt Kara Ben Nemsi im Text, und so spricht der Schmied weiter: „Der Türke hat dieses Land erobert. Ist das ein Grund, ihn aus demselben zu vertreiben? Antworte mir, Effendi! “ (SB 66) Wieder kommt keine Antwort, sondern die Aufforderung, weiter zu sprechen, was der Schmied auch mit einer gewissen Leidenschaft und mit Logik tut: Haben nicht der Engländer, Deutsche, Russe, der Franzose und alle andern ihr Land ebenso erobert? War nicht vor kurzem Prussia so klein, wie eine Streusandbüchse […]. Wodurch ist es so groß geworden? Durch Schießpulver, durch das Bajonett und durch das Schwert, wohl auch durch die Feder des Diplomaten. Sie alle haben früher nicht die Länder gehabt, die sie jetzt besitzen. Was würde der Amerikaly sagen, wenn der Türke zu ihm käme und spräche: du mußt fort, denn dieses Land hat dem roten Volke gehört? Er würde die Türken auslachen. Warum also soll er vertrieben werden? (SB 66) Kara Ben Nemsi geht nicht auf die Argumente ein und antwortet schlicht, dass der „Nemtsche“, also der Deutsche, ihn nicht vertreiben möchte. Darauf hört er vom Schmied auch gleich, was er hören möchte, nämlich dass der Nemtsche wohl der einzig Gerechte sei. (SB 66) Dies im Gegensatz, wie die weitere Rede eröffnet, zu den katholischen „Moskows“ (SB 66) oder den vielen anderen „Verleumdern, Betrügern“, gegen die der Türke zwar durch Tapferkeit gesiegt hatte, die diesen jedoch wiederum durch Schlauheit und Hinterlist besiegt hatten. Wie viele wirkliche Türken wirst du unter ihnen finden? Geht nicht durch ganz Asia ein ungeheurer Diebstahl, ausgeführt von dem Ingiliz und von dem Moskow? Findest du nicht ein immerwährendes Erdrücken, Ersticken und Abschlachten der Stämme, die zwischen diese beiden Riesen geraten? Das tun diese Christen; der Türke aber ist froh, wenn man ihn in Ruhe läßt! (SB 67) Nun fragt der Schmied, der, wie der Ich-Erzähler beschreibt, von „seinem Gegenstande so begeistert [war], daß er sogar die Pfeife hatte ausgehen lassen“ 33 Ebd., S. 10-11. 34 Ebd., S. 11. <?page no="115"?> 115 Den Balkan konstruieren (SB 67), was Kara Ben Nemsi von all dem halte. Die Antwort des Kara Ben Nemsi lautet jedoch nur, dass er dem Schmied in manchem widersprechen könne, dass er jedoch die Zeit dazu nicht habe, weil Wichtigeres zu tun sei und die Verfolgung beziehungsweise Überführung einer der von Kara Ben Nemsi Verfolgten vorrangig sei. Obwohl die Sprechsituation hier keine egalitäre ist, der „Experte“ hier auch insofern kommentiert, als er meint, dass er wohl widersprechen könne, wenn er sich nur die Zeit nehme, wird dennoch im Text zugelassen, dass Schimin eine gewisse Fokalisierungsinstanz darstellt, die, meines Erachtens, als interne Fokalisierung angelegt ist. Jedenfalls gibt die authorial voice Macht ab, die Stimme der Autorität, die sowohl mit männlicher als auch mit imperialistischer Dominanz konnotiert werden kann, und lässt eine, wenn auch nicht Redevielfalt, so zumindest weitere Perspektiven zu. 35 Im Gespräch zwischen den beiden wird es dann auch möglich, dass Kategorien von Identität und Alterität verwischen, dass sowohl die Identität des Subalternen beziehungsweise dessen, der in „zivisilatorischer Mission“ 36 unterwegs ist, von den jeweiligen Abgrenzungen und Zuschreibungen abhängig sind und immer nur relational zum Anderen erfahren werden können. Die Identitätsfrage sowohl des Verteidigers der Türken als auch des Repräsentanten der westlichen Zivilisation, des Kommentators, des Experten, wird im Verhältnis zum Anderen aufgerollt. Da ist zum einen die Rede vom christlichen Nemtsche, vom Gerechten im Gegensatz zum katholischen Moskow, da steht der imperialistische Ingiliz und der Moskow dem Türken gegenüber, der nur seine Ruhe haben will. Die Rhetorik des „othering“ spielt sich auf beiden Seiten ab, die „nach einem Us/ Them-Schema operierenden Identitätsbzw. Alteritätskonstrukte entwerfen auf dichotomisch angelegter Vergleichsbasis ein unveränderliches Bild des Anderen“. 37 Doch da dies von beiden Seiten aus geschieht, also auch von Seiten des Schmieds, und da dies in verschiedene Richtungen gedacht wird, kann an dieser Stelle von einer Destabilisierung eindeutiger Machtverhältnisse gesprochen werden. Das subalterne Subjekt im Text, der Schmied, erweist sich als widerständig im Hinblick auf die Annahme zugeschriebener Attribute seitens des westlichen Machtdiskurses und spiegelt diese sogar zurück. Es kommt an dieser Stelle zu keiner Internalisierung des Selbst als Anderem, zu keiner Enteignung der Subjektivität und zu keiner selbstentfremdeten Assimilation an die sich in Vorherrschaft wähnende Kultur. 38 Auf den gesamten Text bezogen nimmt diese auf dichotomischer Verschiebung beruhende, postkoloniale Bewegung des Textes einen recht kleinen Raum ein und bedarf der Sprachmächtigkeit, der Fokalisierungsinstanz des Schmieds. Doch vielleicht finden sich auf dieser literarischen Inszenierung der Wege durch die Schluchten des Bal- 35 Vgl. Birk/ Neumann: „Postkoloniale Erzähltheorie“, S. 134. 36 Vgl. Bhabha: The Location of Culture, S. 83. 37 Birk/ Neumann: „Postkoloniale Erzähltheorie“, S. 124. 38 Ebd., S. 125. <?page no="116"?> 116 Anna Babka kans noch weitere Unschärfen im balkanistischen, kolonialistischen und auch imperialistischen Narrativ, vielleicht gibt gibt hier und in weiteren Bänden des Orientzyklus und anderer Schriften Mays der „colonizer das Rede- und Wahrnehmungsmonopol“ wesentlich öfter ab und damit auch „die Überlegenheit der imperialen Weltsicht“. 39 Diesen Spuren nachzugehen, über die „Schluchten des Balkans“ hinaus in andere ferne und „fremde“ Gebiete und Kulturen, die May seiner LeserInnenschaft erschrieben hat, ist Desiderat. 39 Ebd., S. 133. <?page no="117"?> 117 Falsche Gewichtung? Christine Magerski Falsche Gewichtung? Das Zentrum-Peripherie-Problem in Theorie und Literatur Narrative im (post)imperialen Kontext, das meint Erzählungen, welche in nachweisbarer Beziehung zu existierenden oder nicht mehr existierenden Imperien stehen. Zwischen imperialer und postimperialer Situation liegt der Zerfall des Imperiums - ein Prozess, bei dem sich die Ordnung des imperialen Raums einschließlich ihrer Grenzen für einen aufmerksamen Beobachter zu erkennen gibt. Ein solcher Beobachter war Joseph Roth. Seine Romane erfassen die Logik der Herrschaft mit bemerkenswerter analytischer Schärfe. Erkennbar wird dies, wenn man Roth aus der Perspektive der Imperiumstheorie von Herfried Münkler liest und auf eine Problemstellung zuspitzt, die in die Mitte des wissenschaftlichen wie auch des literarischen Imperiumsdiskurses führt: das Zentrum-Peripherie-Problem und mithin die Frage der richtigen Gewichtung. An ihr operiert Roths Roman Das falsche Gewicht ebenso wie Münklers Imperien. 1 Beide, Literatur und Wissenschaft, kreisen um die Frage möglicher Ordnungen. Aus imperiumstheoretischer Perspektive erweist sich die Geschichte vom Eichmeister an der äußersten Grenze der Donaumonarchie als geradezu lehrstückhafte literarische Gestaltung der Kontingenz von Ordnungen und bestätigt somit aus einem neuen Blickwinkel, was Wolfgang Müller-Funk mit Sicht auf die Moderne treffend als die „diagnostische Kraft“ des Roth’schen Werkes bezeichnet hat. 2 I. Imperium und Zentrum-Peripherie-Problem „Der Blick aufs Zentrum, wie er in den Imperialismusvorstellungen dominiert“, so Münkler in wünschenswerter Klarheit, „muss durch den Blick auf 1 Roth, Joseph: Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters. Hamburg: Rowohlt 1981; Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005 und Ders.: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Berlin: Rowohlt 2010. 2 Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth. Wien: Sonderzahl 2012, S. 16. <?page no="118"?> 118 Christine Magerski die Peripherie ergänzt werden.“ 3 Die Logik der Weltherrschaft erschließt sich nur durch die Gesamtschau auf Zentrum und Peripherie. 4 Genau daran fehle es der traditionellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Imperien, welche, weil sie eher um die Frage der Reformierbarkeit oder Revolutionierbarkeit der europäischen Gesellschaften statt um die der Imperiumsbildung kreiste, den Problemen der Peripherie, in die hinein die Imperien expandierten, kaum Beachtung geschenkt hat. Die politisch ökonomische Peripherie der Imperien wurde buchstäblich peripher behandelt und die Imperiumsbildung als ein vom Zentrum ausgehender und zur Peripherie hin verlaufender Prozess konzipiert, in dem allein die Push-Faktoren, nicht aber die Pull-Faktoren beachtet wurden. 5 Der von Münkler innerhalb des wissenschaftlichen Imperiumsdiskurses unternommene Perspektivwechsel wurde im literarischen von Roth bereits vollzogen. „Das Wesen Österreichs“, so Roth 1938 das Münklersche Diktum geradezu überdehnend, „ist nicht Zentrum, sondern Peripherie.“ 6 Ein Brückenschlag zwischen politischer Theorie und Literatur scheint somit gerechtfertigt. Zu seiner Ausgestaltungen empfiehlt sich die Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann. Unter der Überschrift „Zentrum und Peripherie“ unterscheidet dieser grundsätzlich vier Stufen primärer gesellschaftlicher Differenzierung: segmentäre Differenzierung (gleiche unhierarchische Teile wie Clans, Familien, Dörfer etc.), die Differenzierung in Zentrum und Peripherie (territorial ungleiche Teile), die stratifikatorische Differenzierung (sozial ungleiche Teile) sowie die funktionale Differenzierung (in ihrer Ungleichheit gleiche Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft). 7 Die uns interessierende Zentrum-Peripherie-Differenzierung ergibt sich laut Luhmann aus der Ausdifferenzierung von Zentren. Die Differenz selbst ist „gleichsam im Zentrum zu Hause“. 8 Es gibt folglich keine Peripherie ohne Zentrum. Das klingt trivial, wird von Luhmann aber mit einer Ergänzung flankiert, die das von Münkler eigens thematisierte „Zentrum-Peripherie-Problem“ bereits in wesentlichen Zügen vorwegnimmt. 9 Denn ebenso, wie es keine Peripherie ohne Zentrum gibt, so gibt es nach Luhmann kein Zentrum ohne Peripherie, ist doch das Zentrum, mehr als die Peripherie, mit seinen eigenen Errungenschaften und Differenzierungen von der Zentrum-Peripherie-Differenz abhängig. Die Pe- 3 Münkler: Imperien, S. 21. 4 Ebd., S. 20. Die Aufdeckung der Logik beziehungsweise der Handlungsimperative der Imperien wird von Münkler ausdrücklich als ein deskriptiv-analytisches, die normativwertende Perspektive verlassendes Verfahren verstanden. 5 Ebd., S. 39. 6 Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft, in: Ders., Romane, Band 4. Köln - Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 19. 7 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1998, S. 663-678. 8 Ebd., S. 663. 9 Münkler: Imperien, S. 41-50. <?page no="119"?> 119 Falsche Gewichtung? ripherie kann die segmentäre Differenzierung beibehalten und daher auch ohne Zentrum überleben, während die strukturellen Eigentümlichkeiten im Zentrum allein durch die Aufrechterhaltung einer Differenz von Zentrum und Peripherie bedingt sind. 10 Münkler konkretisiert die wechselseitige Bedingtheit von Zentrum und Peripherie, indem er eine aus dem Zentrum zur Peripherie drängende Expansion des eigenen Machtbereichs attestiert, dieser jedoch einen von der Peripherie ausgehenden Sog zur Seite stellt, der ebenfalls zur Ausdehnung des Herrschaftsbereichs führt. 11 Wenn aber, wie Luhmann festhält, die Peripherie auch ohne Zentrum überleben kann, wie ist dann der Sog zu erklären? Oder, anders gefragt, woher rührt überhaupt die Macht des Zentrums? Münkler antwortet darauf mit der wirtschaftlichen und kulturellen Attraktivität der Zentren, die sich allein daran zeige, dass grundsätzlich mehr Menschen in ein Imperium hinein als hinaus wollen. Eine solche Attraktivität aber setzt einen Konsens hinsichtlich der Leitvorstellungen voraus, der angesichts der segmentären und territorialen Differenz keineswegs selbstverständlich ist. Wäre es doch denkbar, dass die Peripherie die Wirtschaft und Kultur des Zentrums ignoriert oder für unattraktiv befindet. Warum also ist dies unwahrscheinlich? Bei Luhmann finden sich drei gute Gründe für die Macht des Zentrums: Zum ersten definiert das Zentrum die Grenzen, welche grundsätzlich nur dort liegen, wo das Zentrum sie sieht, unabhängig davon, wie an der Peripherie die nachbarlichen Kontakte „ausfransen“. 12 Es ist demnach das Zentrum, welches überhaupt erst die Frage der Inklusion einschließlich der Möglichkeit von Zuordnung und Zugehörigkeit eröffnet. Der zweite Grund liegt in der Tatsache, dass alle relevanten Entscheidungen im Zentrum gefällt werden, und zwar nicht nur die Entscheidung über die Grenzziehung, sondern auch über die erforderliche militärische Deckung etwa für Handelsinteressen. Für die Peripherie geht es dabei um Krieg und Frieden. Zwei sehr reale Gründe für die Macht des Zentrums, wenn man sich selbst auf einen Punkt an der Peripherie versetzt. Mit dem dritten Grund betreten wir den Raum des Symbolischen. Die Rede ist von der im Zentrum entwickelten „partikular basierte(n) universelle(n) Semantik“. 13 Allein die Formulierung verweist auf ein Paradox, das uns in den weiteren Ausführungen begleiten wird. Hinter dem Paradox steht der Prozess einer Standardisierung der Wahrnehmung und Kommunikation, an dessen Ende bestimmte, konsensgetragene Leitvorstellungen stehen. Die im Zentrum entworfene Semantik erfährt eine derartige Ausdehnung und Akzeptanz, dass sie aufgrund ihrer allumfassenden Wirkung ihren partikularen Ursprung (nahezu) unkenntlich werden lässt. Mit der von Luhmann in die Zentrum- Peripherie-Thematik eingeführten Semantik wechseln wir von der Hand- 10 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 665. 11 Münkler: Imperien, S. 21. 12 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 668. 13 Ebd., S. 667. <?page no="120"?> 120 Christine Magerski lungsauf die Kommunikationsebene hinüber - und dies mit weitreichenden Konsequenzen. Die Macht des Symbolischen ist so groß, dass sie die tatsächlichen Gründe für die Macht des Zentrums relativiert, ja in Teilen korrigiert. Aus semantischer Perspektive ist ein Reich weniger ein konkreter politischer Macht- und Einflussbereich, als vielmehr „historisch ein quasi natürliches Nebenprodukt von Kommunikationsmöglichkeiten“. 14 Das klingt weicher und unterspült letztlich auch die harten Fragen nach militärischer Intervention und Grenzziehung. Verstanden als ein Nebenprodukt von Kommunikationsmöglichkeiten, gehört zur Form des Reiches gerade das Fehlen definitiver Grenzen. An ihre Stelle treten Horizonte, die das Erreichbare bestimmen und mit ihm variieren. Das Reich wird so zum „Sinnhorizont von Kommunikationen, und zwar von Kommunikationen bürokratischer Eliten“. 15 Bei Münkler findet sich der Gedanke des Fehlens definitiver Grenzen wieder. Er spricht von der eigentümlichen Grenzsituation von Imperien und beschreibt diese als ein halbdurchlässiges, eher loses Geflecht, was den Imperiumsgrenzen zwar an Formalität nimmt, jedoch ihre Flexibilität erhöht. 16 Laut Münkler haben wir es bei imperialen Grenzen mit Abstufungen von Macht und Einfluss zu tun. Das, was Luhmann den Sinnhorizont von Kommunikation nennt, verblasst gewissermaßen bei Münkler, je weiter man sich vom Zentrum zur Peripherie bewegt. „Fast immer“, so lesen wir, „gibt es hier ein vom Zentrum zur Peripherie verlaufendes Integrationsgefälle, dem zumeist eine abnehmende Rechtsbindung und geringer werdende Möglichkeiten korrespondieren, die Politik des Zentrums mitzubestimmen.“ 17 Dieses Integrationsgefälle ist für uns von besonderer Bedeutung, da es in geradezu kondensierter Form für jenen von Roth gezeichneten Vertreter der Bürokratie spürbar wird, der im Auftrag des Zentrums ausgerechnet die Gewichte und Maße an der Grenze zu überprüfen hat. Bevor wir zu den Gewichtungsproblemen des Eichmeisters kommen, müssen wir uns aber die der Donaumonarchie insgesamt mithilfe der Imperiumstheorie ansehen. II. Donaumonarchie und Zentrum-Peripherie-Problem Nähert man sich dem Habsburgerreich aus der Perspektive der Imperiumstheorie, so muss zunächst festgehalten werden, dass Münkler diese nicht zu den Imperien, sondern zu den Großreichen zählt. Zwar sei sie von der Dauer her fraglos eine imperiale Macht gewesen, jedoch kaum von der räumlichen Ausdehnung her. Von daher spricht Münkler hinsichtlich der Donaumonarchie von einem mitteleuropäischen Großreich im sogenannten Konzert eu- 14 Ebd., S. 670. 15 Ebd., S. 670f. 16 Münkler: Imperien, S. 18. 17 Ebd., S. 17. <?page no="121"?> 121 Falsche Gewichtung? ropäischer Mächte (und behandelt sie eher peripher). 18 Trotzdem sind es die Probleme Mittel- und Südosteuropas und mithin des Herrschaftsraums der Doppelmonarchie, welche von Münkler als „paradigmatisch für postimperiale Konstellationen“ verstanden werden. 19 Auch beruft sich Münkler auf die Donaumonarchie, wenn er, die Relevanz des Zentrum-Peripherie-Problems betonend, die Vorstellung kritisiert, dass die Beschreibung der Handlungslogik von Imperien von deren multiethnischen beziehungsweise multinationalen Charakter auszugehen hat. Letzterer sei sogar problematisch, weil trivial und zudem politisch definiert, denn darüber, was nationale und ethnische Unterschiede sind, ob sie akzeptiert oder unterdrückt werden, verfüge letztlich das imperiale Zentrum. Entscheidend ist „das für imperiale Räume charakteristische Zentrum-Peripherie-Gefälle“, was sich im Falle der Donaumonarchie allein daran zeige, dass in ihr der Anteil der Deutsch-Österreicher während der letzten Volkszählung von 1910 bei etwa 24 Prozent gelegen habe. 20 Will man das Habsburger Großreich theoretisch näher bestimmen, empfiehlt sich erneut Luhmann. Ihm zufolge können Großreiche zwei verschiedene Differenzierungsformen auf der Basis von Ungleichheit kombinieren und in dieser Kombination ausbauen: die Zentrum-Peripherie- Differenz und die Stratifikation. Von Stratifikation sprechen wir, „wenn die Gesellschaft als Rangordnung repräsentiert wird und Ordnung ohne Rangdifferenzierung unvorstellbar geworden ist.“ 21 Dabei ist es die Zentrum-Peripherie-Differenz, welche die Stratifikation im Zentrum in einer gesteigerten Weise ermöglicht. Die Unterscheidung Zentrum/ Peripherie bietet auf der Seite des Zentrums eine erhöhte Chance für soziale Differenzierung, da in den Reichszentren intern komplexere und zugleich regional weitreichendere Kontakte gepflegt werden als an den Peripherien. Begleitet wird der Aufbau von Komplexität im Zentrum vom Aufbau einer komplexeren Bürokratie. Ein besonderer Fall liegt dabei vor, wenn die Bürokratisierung die Stratifikation überblendet. Luhmann bezeichnet diese elaborierte Form der Zentrum-Peripherie-Differenz als „bürokratische Reiche“. 22 Da in diesen Ordnungsmodellen die bürokratische Herrschaft die sozialen Ungleichheiten verdeckt, verfügen sie über „eine außerordentlich lange und stabile Tradierfähigkeit“. 23 Auf die Donaumonarchie trifft dies in besonderem Maße zu, zählt sie laut Münkler doch aufgrund ihrer zeitlichen Dauer zweifelsfrei zu den Imperien. Von daher kann sie als eine Form jener bürokratiegestützten Herrschaft verstanden werden, die, eben weil sie die realen Unterschiede mittels Bürokratie überblendet, 18 Ebd., S. 23. 19 Ebd., S. 218. 20 Ebd., S. 29. 21 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 679. 22 Ebd., S. 670. 23 Ebd., S. 677. <?page no="122"?> 122 Christine Magerski eine Ordnung ohne Rangdifferenzierung unvorstellbar werden lässt. So gesehen, verdankt die Donaumonarchie ihre Langzeitwirkung dem, was wir mit Luhmann als „Kombinationsgewinn“ bezeichnen können, nämlich der Kombination der beiden Differenzierungsformen Zentrum-Peripherie und Stratifikation. 24 Interessant ist nun, dass Luhmann auf diesen Kombinationsgewinn die Tatsache zurückführt, dass von Zeitgenossen wie auch im historischen Rückblick „vor allem der Glanz dieser unitarischen Form bürokratischer Herrschaft“ wahrgenommen wird. 25 Die unitarische Form bürokratischer Herrschaft basiert demnach nicht nur auf einer unitarisch-universellen Semantik, sondern hinterlässt auch eine solche. In den vom Glanz geblendeten Beschreibungen des Reiches werden sowohl Zentrum als auch Peripherie erfasst, die Ungleichheiten jedoch territorialisiert und so über eine imaginierte Raumordnung die Einheit des Differenten hergestellt. Mit heutigen Augen lesen sich daher wie „eine entfaltete, in Räume aufgelöste Paradoxie“. 26 Schaut man auf die Beschreibungen der Donaumonarchie, so trifft dies zu. Das Großreich erscheint als ein in sich äußerst widersprüchliches Gebilde. Mehr noch: Die Donaumonarchie erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Reich, das die Ambivalenz regelrecht kalkuliert und kultiviert hat. Wie Hans-Christian Maner zeigt, stellten „Überlegungen zur Staatsgestaltung“ ein grundlegendes Phänomen der Geschichte der Habsburgermonarchie vom 18. Jahrhundert bis zu deren Untergang dar. Innerhalb dieser Überlegungen wiederum zählt „das Zentrum-Peripherie-Modell“ zu den immer wieder angewendeten Erklärungsansätzen, weshalb, so zeigt gerade die Entwicklung im habsburgischen Vielvölkerstaat, Zentrum und Peripherie keine starren Größen darstellen. 27 Schaut man auf Galizien, also jene Region, in der Roth geboren wurde und seine Kindheit verbrachte, so hat man es mit einem von habsburgischer Politik konzipierten Territorium zu tun, an dessen Konzeption die Zentrale ebenso mitwirkte wie die jeweiligen Gouverneure und Militärs vor Ort. 28 Bei der Konzeption selbst ging man widersprüchlich vor. Zwar waren die Habsburger nach dem Erwerb des Territoriums durchaus darum bemüht, das neue Gebiet mit umsichtiger Sorgfalt einzugliedern. Ein „Einrichtungswerk Galizien“ wurde mit dem Ziel gegründet, den polnischen Ständestaat abzuschaffen, eine in allen Ländern der Monarchie ähnliche Zentralverwaltung zu bilden und Galizien zum Musterland der neuen Staatsordnung auszubauen. Die Schlagworte lauteten: Modernisierung, Vereinheitlichung und Model- 24 Ebd., S. 674f. 25 Ebd., S. 675. 26 Ebd., S. 676f. 27 Maner, Hans-Christian: Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. München: IKGS Verlag 2007, S. 11. 28 Maner: Galizien, S. 9. Zur Konzeption Galiziens siehe auch: Adler, Simon/ Solomon, Francisca: „Einleitung“, in: Galizien. Fragmente eines diskursiven Raums, hg. v. Doktoratskolleg Galizien. Innsbruck-Wien-Bozen: StudienVerlag 2009, S. 9-14, S. 9. <?page no="123"?> 123 Falsche Gewichtung? lisierung. 29 Doch tauchten, folgt man Maner, bereits bei der Inbesitznahme Galiziens in Wien „jene ambivalenten Positionen hinsichtlich der Funktion des neuen Gebietes“ auf, die auch während des 19. Jahrhunderts immer wieder zum Vorschein kamen. 30 In der Folge tendierte die zentralistische Steuerung zu Bürokratisierung und Überreglementierung, was wiederum zu einer sinkenden Akzeptanz der herrschenden Macht- und Ressourcenverteilung in den Regionen führte und die Zentrale letztlich vor die Gefahr stellte, seine Rolle als Zentrum zu verlieren. 31 So ambivalent wie die Politik des Zentrums ist das Bild der Peripherie, insbesondere der Grenzregion Galizien. 32 Mit Maner sieht man in ihr nicht einen integralen Bestandteil des Reiches, sondern eine Puffer-, Transfer- und Delimitierungszone. 33 Gestützt auf historische Zeitungsberichte, wird das Bild einer merkwürdigen, von Bränden, Morden, Selbstmorden oder sonstigen Gewalt- und Schandtaten geplagten Region nachgezeichnet. 34 Und so, wie die Wiener politische Öffentlichkeit des späten 19. Jahrhunderts Galizien als „Land der ‚zur Regel gewordenen Unregelmäßigkeiten‘“ fernab des Zentrums kennenlernte, so lernt es auch der Leser des frühen 21. Jahrhunderts kennen. 35 Geprägt wurde dieses Bild nicht zuletzt durch die 1888, sechs Jahre vor der Geburt von Moses Joseph Roth, erschienene Studie Das Elend Galiziens in Ziffern und das Programm der energischen Entwicklung der Volkswirtschaft von Stanislaw Szczepanowski, einem polnischen Volkswirt, Ingenieur, Geschäftsmann und Abgeordneten im österreichischen wie galizischen Parlament. 36 Die Studie, welche bei ihrem Er- 29 Maner, Hans-Christian, „Zum Problem der Kolonisierung Galiziens. Aus den Debatten des Ministerrates und des Reichsrates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Feichtinger, Johannes u.a. (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: StudienVerlag 2003, S. 153-163, S. 153. 30 Ebd., S. 153. Bis 1880 herrschte nicht einmal Einigkeit darüber, ob Galizien nur zeitweilig oder dauerhaft als Besitz des Habsburger Reiches anzusehen sei. Die ambivalente Herrschaftspolitik Wiens in Galizien detailliert im Spiegel der Debatten des Minister- und Reichsrats rekonstruierend, spricht Maner resümierend von einem „Scheitern der Politik Wiens gegenüber dem nordöstlichen Kronland“ (S. 153). 31 Maner: Galizien, S. 12. 32 Laut Maner, der sich wiederum auf Hans-Heinrich Nolte bezieht, weisen nachgerade die Grenzregionen „eine starke Affinität zu Peripherien, genauer zu ‚inneren Peripherien‘, auf. Diese kennzeichnen eine Region innerhalb eines Staates, in der die Bedingungen zum Vorteil der zentralen staatlichen Interessen organisiert werden.“ Vgl.: Maner: Galizien, S. 12. 33 Maner: Galizien, S. 9, 147. Beschrieben wird die Anbindung des Grenzterritoriums an den Staat durch militärische Aktionen, die Integration der Region in den Staat durch kulturelle (erzieherische, religiöse, literarische) Aktivitäten, die Erlangung von Stabilität durch die Schaffung einer einheitlichen zivilen Verwaltung sowie die Versuche wirtschaftlicher Integration. 34 Ebd., S. 217f. 35 Ebd., S. 221. 36 Siehe dazu: Klanska, Maria, „Facetten des galizischen Elends. Stanislaw Szczepanowskis Das Elend Galiziens in Ziffern“, in: Giersch, Paula u.a. (Hg.): Galizien im Diskurs. <?page no="124"?> 124 Christine Magerski scheinen großes Aufsehen erregte, beklagt die niedrige Arbeitseffizienz, die hohe Bevölkerungsdichte, den überdurchschnittlich hohen Anteil an Landwirten, die hohe Zahl von Analphabeten, die schlechte Ernährung, die hohe Anfälligkeit für Krankheiten und Epidemien sowie die niedrige Lebensdauer. Vermerkt wird zudem ein auffallend hoher Schnapskonsum und der Umstand, dass die ohnehin dünne Schicht der Intelligenz ihre Bildung nicht für den Fortschritt im Land verwendet, sondern von Beamtenstellen träume und in Wien und bei den Landesbehörden dank verschiedener Protektionen um solche bettele. 37 Tatsächlich ein Bild des Elends, doch geht die Peripherie in ihm nicht auf. Das von Szczepanowski vorgelegte Programm scheint im Zentrum nicht ohne Folgen geblieben sein. Zumindest präsentiert Józef Buszko in seiner 1978 vorgelegten Studien zum Wandel der Gesellschaftsstruktur in Galizien zwischen 1900 und 1914 ein etwas anderes Bild. Buszko attestiert eine zunehmende Konzentration der Industrie, einen erheblichen Anstieg der Budgetausgaben (von 20,5 auf 76,7 Millionen Kronen) sowie den Ausbau des Bildungswesen (Zahl der Gymnasien verdreifacht) und des medizinischen Bereichs. Zwar seien die Epidemien nicht erloschen, die Säuglingssterblichkeit weiterhin hoch und die Hälfte der indirekten Konsumationssteuer aus der Spiritussteuer gewonnen worden, doch kam es zu einer deutlichen Verbesserung der Verhältnisse. 38 Mit anderen Worten: Mit der ambivalenten Politik des Zentrums korrespondiert eine ambivalente Situation an der Peripherie und, wie wir nun sehen werden, eine nicht minder mehrdeutige Position ihrer Bewohner - darunter auch Joseph Roth und sein Eichmeister. Beginnen wir mit Roth. III. Zwischen Peripherie und Zentrum: Joseph Roth „Vergessen Sie nicht“, so Roth 1936 in einem Brief an Stefan Zweig, „daß ich seit meiner finsteren Kindheit zur Helligkeit empor stöhne“. 39 Wie finster diese Kindheit an der äußersten Peripherie war, ist ebenso umstritten wie die Grenzregion selbst. 40 Gewiss aber kann man Roth aufgrund seiner Herkunft zu einer Inklusion, Exklusion, Repräsentation, Frankfurt/ Main: Peter Lang 2012, S. 57-77. 37 Ebd., S. 68f. 38 Buszko, Józef: Zum Wandel der Gesellschaftsstruktur in Galizien und in der Bukovina, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1978, S. 27-34. In diesem Sinne spricht auch Helmut Nürnberger in seiner Roth-Biographie von einem Galizien, das im österreichischen Staatsverband eine auftsteigende Entwicklung einnahm. Vgl. Nürnberger, Helmut: Joseph Roth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg: Rowohlt 1981, S. 23. 39 Aus einem der zahlreichen Briefe an Stefan Zweig, Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Hg. u. eingeleitet von Hermann Kesten, Köln-Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 227f. 40 Auch herrscht kein Einverständnis darüber, inwiefern die Stadt zu Roths Lebzeiten bereits verfallen und „im provinziellen Stillstand begriffen“ war. Siehe hierzu: Klanska, Maria, „Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths“, in: Kessler, Michael/ Hackert, Fritz (Hg.): Joseph Roth. Interpretation, Rezeption, Kritik. Tübingen: Stauffenburg 1990, <?page no="125"?> 125 Falsche Gewichtung? jener gesellschaftlich randständigen Gruppen zählen, die nach Münkler für die Beherrschung eines ausgedehnten Reiches von Nützlichkeit sind. 41 Allein der Besuch des k.k. Kronprinz Rudolf-Gymnasiums bestätigt ein Bild, das sich zumindest auf der gesellschaftlichen Ebene keineswegs in der Finsternis verliert. Bekanntlich entschied sich Roth für ein Studium an der Universität Wien, wo er gedachte, eine Universitätslaufbahn einzuschlagen und mithin das Integrationsgefälle ganz hinter sich zu lassen. Das, was wir mit Szczepanowski als den Traum der peripheren Intelligenz von Beamtenstellen im Zentrum verstehen können, scheiterte nicht an Roths Herkunft, sondern an einem Krieg, der die Ordnung des Großreichs in Gänze zerfallen ließ. Nicht nur der Krieg war verloren, sondern das mehrere hundert Jahre bestehende Großreich war verschwunden. Für Roth, auch das ist bekannt, bedeutete der verlorene Krieg den Beginn einer Flucht mit tragischem Ende. Aus Paris schreibt er 1936 in völliger Verzweiflung an Zweig: „Was soll ich denn tun, wenn nicht Bücher schreiben? Ich kann nicht einmal mehr einrücken, alt und krank, der einzige Beruf, den ich jeh hatte. Schulden, Gespenster, Entbehrung […]. Und hinter mir, welch ein Leben! “ 42 Drei Jahre später ist sein Leben vorbei. Begonnen hatte es in Brody, als Moses Joseph Roth; ein Kind, das man „Muniu Faktisch“ nannte, weil es in rechthaberischer Art seine Aussagen mit dem Satz „Das ist faktisch“ zu beenden pflegte. 43 Nun hat sich Roth bezüglich seiner Selbstdarstellung nicht immer an die Fakten gehalten. Gleichwohl aber war er ein scharfer Beobachter und sah sich selbst auch als einen solchen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in seinem dreiteiligen Reisebericht Reise durch Galizien, der im November 1924 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde und in dem Roth nicht einmal erwähnt, wie gut er das Land kannte. In dieser Beschreibung des Reiches verschwimmen die Grenzen zwischen Gegenwartsdiagnose und Erinnerung, wenn Roth, der Sohn ostjüdischer Händler, der es im versunkenen Reichszentrum zur Professur hatte bringen wollen, vom üblen Ruf der Peripherie, deren Armut und Rückständigkeit spricht und diese auf die hohe Zahl von Händlern, Beamten und Militär zurückführt. Selbst nach dem Untergang des Reiches territorialisiert Roth die Ungleichheiten und stellt über eine imaginierte, nun aber anachronistisch erscheinende Raumordnung die Einheit des Differenten her. S. 143-156, S. 143. Dagegen sieht Nürnberger zu Lebzeiten Roths ein anderes Brody. Vgl.: Nürnberger: Joseph Roth, S. 26. 41 Münkler: Imperien, S. 43. Der Komplex Joseph Roth und das österreich-ungarische Judentum kann in diesem Rahmen nicht gebührend behandelt werden. Verwiesen sei auf Rozenblit, Marsha L.: Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford: University Press 2001. Mit Rozenblit lassen sich die Juden in der Donaumonarchie durchaus als Randgruppe verstehen, da sie laut Verfassung weder ein „Volksstamm“ noch eine Nationalität waren. (Ebd., S. 19). 42 Brief an Stefan Zweig aus Paris (Hotel Foyot), vermutlich vom Februar 1936, in: Roth, Joseph: Briefe 1911-1939, S. 451. 43 Lunzer, Heinz/ Lunzer-Talos, Victoria: Joseph Roth 1894-1939. Katalog einer Ausstellung. Wien: Zirkular 1989, S. 11. <?page no="126"?> 126 Christine Magerski Die Semantik wirkt noch nach. Der Bericht lässt sich mit Luhmann „wie eine entfaltete, in Räume aufgelöste Paradoxie“ lesen. 44 Was fehlt, ist der Glanz. Der seine Vertrautheit mit Galizien verleugnende Autor hat, so scheint es, mit dem Perspektivenwechsel zwischen Peripherie und Zentrum und dem nachfolgenden Zusammenbruch der unitarischen Raumordnung nicht die unitarische Semantik, wohl aber den Glauben an diese verloren. In den 1930er Jahren musste Roth den Glauben an jede überkommene Leitvorstellung verlieren. Für Sachlichkeit gab es keinen Grund mehr. 45 Ein Jahr, nachdem er Zweig gegenüber von Schulden, Gespenstern und Entbehrung sprach, verfasst er den Roman Das falsche Gewicht. In den Roman floss vermutlich ein Teil des Materials ein, welches Roth in seinem autobiographischen Kindheitsroman Erdbeeren verwenden wollte. 46 Mit der Geschichte eines Eichmeisters hat Roth nicht mehr nur seine Kindheit, sondern die Grenzerfahrung insgesamt verarbeitet. Statt einer Kindheit an der vom Glanz des Zentrums gestreiften Peripherie eines Großreiches haben wir den zweifelhaften Versuch eines Mannes der Mitte, Maße und Gewichte, dem Dilemma der Ordnung im Grenzbereich Herr zu werden. Sehen wir uns den literarischen Imperiumsdiskurs genauer an: „Die Strahlen der habsburgischen Sonne“, schreibt Roth in Radetzkymarsch, „reichten nach dem Osten bis zur Grenze des russischen Zaren“. Es war eine „kalte Sonne […], aber es war eine Sonne“. 47 Auch die Strahlen der habsburgischen Sonne, die Roth nach Zlotogrod, das Revier des Eichmeisters, schickt, spenden den Bewohnern keine Wärme. Umso mehr aber erhellen sie dem theoriegeschulten Leser die Grenzsituation eines Großreiches, dessen auffälligstes Merkmal eben die bürokratiegestützte und derart die sozialen Ungleichheiten verdekkende Herrschaftsform ist. Roth lässt die Bewohner des Städtchens an der Peripherie „alle in gleicher Freiheit“ leben - solange es den Beamten gut geht. 48 Seine Grenzstädter leben vom guten Willen einer fragwürdigen Aristokratie, gelegentlichem Schmuggel und von Wundern. Trotz faktisch existierender Institutionen der Rechtssprechung und des Vollzugs wird ein rechtsfreier Raum präsentiert, an dessen Existenz Roth das aristokratisch dominierte Militär ebenso mitwirken lässt wie eine dem Kriegsministerium unterstellte Gendarmerie und die Beamtenschaft. Nicht durch streng funktionierende Reichsorgane wird die öffentliche Ordnung im Grenzgebiet aufrechterhalten, sondern durch deren gelegentlich gezielt herbeigeführten Kontrollverlust. Nur „zuwei- 44 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 676f. 45 Siehe hierzu Roth, Joseph, „Schluß mit der ‚Neuen Sachlichkeit‘“, in: Die literarische Welt , 17. und 24. Januar 1930. Zitiert nach: Roth, Werke, Band 4. Köln 1976, S. 246-258. 46 Roth, Joseph: Briefe 1911-1939, S. 469. 47 Roth, Joseph: Radetzkymarsch, in: Ders.: Werke, Band 3. Hg. u. eingeleitet von Hermann Kesten, S. 625. 48 Roth, Joseph: Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters. Hamburg: Rowohlt 1981, S. 32. <?page no="127"?> 127 Falsche Gewichtung? len“ drückt Roth ihnen ein Auge zu. Nur manchmal lässt er sie die Ordnung lockern - und erschafft damit literarisch jene halbdurchlässigen Grenzen, wie sie laut Theorie für Großreiche konstitutiv sind. Die Entscheidung über das Wann und Wie der nachlassenden Kontrolle verbleibt bei Roth immer im Ermessen der Machtinstanzen. Die geringe Kontrolltiefe, nach Luhmann ein wesentliches Merkmal von Peripherien, führt bei Roth in die Mitte der eigentümlichen Grenzsituation. 49 Es sind die von der Theorie unterstrichenen Strukturprobleme eines Reiches - die Probleme der Diffusion und Kontrolle -, an denen sich Roth mit dem „atmosphärisch dichte[n] Roman aus dem Osten“ literarisch abarbeitet. 50 Und Kontrolle ist wichtig, insbesondere in einer von Freihandelsprivilegien geprägten Grenzregion. Folgt man Münkler, so ist die Kontrolle des Handels eine Quelle imperialer Macht, ja sind die Kontrolle des Handels und die Beherrschung von Territorien nicht ohne weiteres voneinander zu trennen. 51 Zur Ausübung dieser Kontrolle nun schickt Roth seinen Eichmeister an die äußerste Peripherie des Reiches. 52 IV. Zwischen Peripherie und Zentrum: Eichmeister Eibenschütz „Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen.“ 53 So der märchenhafte Beginn der Geschichte eines Beamten, der zur Ausübung seiner Funktion von einem Wachtmeister der Gendarmerie in voller Rüstung begleitet wird. Dadurch, erfährt der Leser, gibt der Staat zu erkennen, dass er mit Waffen, wenn es nötig werden sollte, die Fälscher zu bestrafen bedacht ist. Wann aber ist es nötig? Die Szenerie, in welche Roth seinen Eichmeister entlässt, entspricht den Vorstellungen des Zentrums von den halbschattigen Grenzstädten. Einen Lichtschimmer bringen allein das gräfliche Schloss und das Militär, welche eng miteinander verflochten sind. Die Funktion der Gendarmerie kann als strittig gelten. Zwar 49 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 668. 50 Ebd., S. 672 und Lunzer/ Lunzer-Talos: Joseph Roth, S. 44. 51 Münkler: Imperien, S. 24. 52 Er unternimmt dies 1937, zu einem Zeitpunkt, an dem er selbst, vom Exil aus, auf Vortragsreisen in den Grenzstädten unterwegs war. Erschienen ist Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters kurz darauf im Amsterdamer Querido Verlag, dessen Vertreter Huebsch ihn für „litterarisch nicht wertvoll“ hielt. Auch Józef Wittlin, ein Freund Roths, den dieser schon aus seiner Jugend in Galizien kannte und mit dem er sich gemeinsam 1916 als Freiwilliger bei der österreichischen Armee gemeldet hatte, beurteilte den Roman abschätzig als alkoholgetrübt, während Hermann Kesten, gleichfalls galizischer Herkunft, in ihm das beste Buch des Autors sah. Ein umstrittenes Stück Literatur also, selbst unter Kennern der literarischen und peripheren Verhältnisse. Vgl. hierzu den Brief von Roth an Zweig vom 2. August 1937, in: Briefe, S. 500. 53 Roth: Das falsche Gewicht, S. 5. <?page no="128"?> 128 Christine Magerski gibt es ein Gericht, ein Gefängnis, Advokaten und Finanzämter, nur muss man sich nirgends legitimieren. Ob der Richtige verhaftet wird, ob man Steuern bezahlt oder nicht, alles das spielt keine Rolle. „Hauptsache war, dass die Beamten zu leben hatten. Sie lebten von Bestechungen. Deshalb kam niemand ins Gefängnis. Deshalb zahlte niemand Steuern. Deshalb hatte niemand Papiere.“ 54 Undurchsichtige Verhältnisse also, die noch zusätzlich dadurch erschwert werden, dass Eibenschütz selbst sein neues Amt unter ungünstigen Bedingungen antritt. Er war vormals zwölf Jahre lang Feuerwerker in einer bosnischen Garnison gewesen und hatte Mühe, einer Gemeinde ein Schreiben zu schicken. Zudem hätte er ein Anrecht auf einen richtigen, einen echten Staatsbeamtenposten gehabt. Wegen seiner Frau aber hatte er diesen gewählt: den Posten eines Gemeindebeamten, den allerdings der Staat bezahlte. Im Roman finden sich diese Details in gänzlich märchenuntypischen Klammern, doch sind sie für unseren Zusammenhang von Gewicht. Schließlich deuten sie auf eine überaus strittige - und letztlich im Zentrum gefällte - Personalentscheidung. Besonders schmerzlich lässt der Erzähler den zwischen Zentrum und Peripherie hängenden Beamtenstatus für Eibenschütz werden, als seine Frau ihn ausgerechnet mit seinem Schreiber betrügt. In dieser Stunde bedauert der Eichmeister besonders, dass er nicht unmittelbar dem Staat unterstellt ist. Die Entscheidung schreibt der Erzähler allein Eibenschütz zu und beschließt, diesen durchgreifen zu lasssen. Eibenschütz beantragt die sofortige Entlassung oder Versetzung und schreit den Schreiber auf dessen Einwand nur an, als wäre er noch auf dem Exerzierplatz. Zur Ausübung seiner Kontrollfunktion aber wäre der Schreiber von großer Hilfe gewesen. Nicht ohne Grund zählt die Theorie die Schrift zu den wichtigsten Kontrollinstanzen. 55 So erweist sich die Entscheidung, wie auch alle nachfolgenden, als Fehlentscheidungen. 56 Eibenschütz, der keine Skandale liebt, wird selbst mehr und mehr zum Skandalon der Grenzstadt. Beim Militär sozialisiert, privat wie beruflich frustriert und mit einem Beamtenstatus ohne eindeutige Zuordnung stellt ihn der Erzähler an die Peripherie eines Reiches, von dem wir wissen, dass es von einem Integrationsgefälle geprägt ist, welches wiederum nur durch kluge bürokratische Herrschaft und mithin durch gut abgewogene Entscheidungen 54 Ebd., S. 13f. Das Bild des Städtchen weist in allen Werken Roths dieselben Elemente auf: kaum 10 000 Einwohner, die meisten Juden, meist nur eine, manchmal zwei sich kreuzende Straßen, auf dem Markt Jahrmärkte, auf denen Bauern und Städter ihre Geschäfte machen, auch noch die kleinste Stadt hat einen Bahnhof, durch den sie mit der großen Welt verbunden ist, als Gegenpol dazu der Friedhof und das Gefängnis, wobei letzteres immer leer ist, weil auch die gesetzlosen Bewohner unbehelligt leben dürfen. Siehe zu den Grenzstädten bei Roth auch: Klanska: Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths, S. 148; sowie: Roth, Joseph: Erdbeeren, zitiert nach: Keel/ Kampa: Joseph Roth, S. 13-50, S. 13, 18f., 31 u. 46. 55 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 671. 56 Zum Problem der „Fehlentscheidungen“ an der Peripherie, wie sie sich aus der sturen Anwendung allgemeiner Grundsätze ergeben, siehe Münkler: Imperien, S. 43. <?page no="129"?> 129 Falsche Gewichtung? aufrecht erhalten werden kann. Eibenschütz, selbst eine grenzwertige Gestalt, kann es nicht. Dabei sieht es anfangs nicht schlecht aus. Eibenschütz versteht die Sprache des Landes und stammt, wie sein Autor und die meisten der von ihm dazugeschriebenen Händler, von Juden ab. Selbst ein Vertreter jener gesellschaftlich randständigen Gruppen, die laut Theorie für die Beherrschung eines ausgedehnten Reiches von Nutzen sind, kann sich die Zentrale zunächst auf Eibenschütz verlassen. Sich einbildend, dass „Personalkenntnisse“ nützlich seien, bemüht er sich anfangs sogar, alle Familien des Städtchens und ihre Lebensweise kennenzulernen. 57 Verhaltensrichtlinien aus dem Zentrum reicht der Erzähler ihm ebenso wenig zu Hilfe wie Informationen über den Weltlauf, denn Zeitungen liest Eibenschütz niemals. „Die Vorgänge in der Welt gingen ihn gar nichts an.“ 58 Und so sind es allein die Vorgänge im peripheren Grenzraum, welche den Eichmeister mehr und mehr in ihren Bann ziehen. Von eigentlicher Faszination ist für den Eichmeister jener Ort, an dem die eigentümliche, weil halbdurchlässige Grenzsituation ihre geradezu sinnbildliche Gestalt annimmt: die Grenzschenke. 59 Als „eine feste Größe Joseph Roth’scher Epik“ ist die Grenzschenke „der Ort derjenigen, die sich weder der Ordnung noch der Unordnung so recht zuweisen lassen“. 60 Sebastian Kiefer trifft den Punkt, wenn er festhält, dass das Motiv der Grenzschenke erfindungsreich mit dem „Dilemma der Ordnung“ spielt. 61 In ihr lässt der Erzähler das Geschäft mit russischen Deserteuren, Schnaps und illegalen Waren laufen und platziert als deren Besitzer mit Leibusch Jadlowker eine Figur, die ihrerseits ein persönliches Interesse am Vertreter der Ordnung entwickelt. Bereits beim ersten Auftauchen des Beamten in der Grenzschenke schreibt der Erzähler Jadlowker ein ambivalentes Gefühl zu. Gerade dabei, illegale Geschäfte zu machen, stört ihn Eibenschütz. In dem Umstand aber, dass dieser bei Nacht und somit gewissermaßen ohne den Schutz der Strahlen der habsburgischen Sonne in seine Schenke einkehrt, sieht Jadlowker ein hoffnungsfrohes Zeichen. „Einerseits ärgerte ihn also die Anwesenheit des Eichmeisters, andererseits aber freute sie ihn. Endlich hatte er ihn, den Strengen, in der Nacht bei sich - und die Nacht war die große Freundin des Leibusch Jadlowker.“ 62 Da- 57 Roth: Das falsche Gewicht, S. 35. 58 Ebd., S. 25. 59 Wie das Schloss und die Garnison am Rand des Grenzstädtchens gelegen, wird die Grenzschenke laut Klanska zum „Sinnbild des Verbotenen, Verhängnisvollen, Verrufenen“. Vgl.: Klanska: Die galizische Heimat im Werk Joseph Roths, S. 149. 60 An der Grenze zum russischen Zarenreich gelegen, verläuft durch die Schenke, so Sebastian Kiefer, „mit einem scharfen Schnitt die Grenzlinie der Epochen, die Trennlinie einer guten alten patriarchalischen und einer ‚modernen‘, dem Mammon und den schnöden Eigennutz ergebenen Zeit“. Vgl.: Kiefer, Sebastian: Braver Junge - gefüllt mit Gift. Joseph Roth und die Ambivalenz, Stuttgart/ Weimar: Metzler: 2001, S. 133. 61 Ebd., S. 135. 62 Roth: Das falsche Gewicht, S. 27. <?page no="130"?> 130 Christine Magerski bei ist der Auftritt des Strengen in der Schenke eine Präsentation der Macht. Groß und stattlich, so wird er uns vom Erzähler beschrieben, mit einem buschigen, blonden, geradezu wuchtigen Schnurrbart. Alle anderen scheinen geradezu ausgelöscht, so stark ist sein Glanz. Der Eichmeister, sich seiner Macht bewusst, als stände hinter ihm der Wachtmeister der Gendarmerie mit aufgepflanztem Bajonett und schimmernder Pickelhaube, wird bei Roth zum Stellvertreter eines mit militärischer Deckung allein die Entscheidungsgewalt ausübenden Zentrums. Was uns der Erzähler nach der ersten Begegnung zwischen dem Eichmeister und dem Grenzwirt bietet, ist ein bizarrer Kampf zwischen Zentrum und Peripherie. Im halbdurchlässigen, vom Integrationsgefälle geprägten Grenzraum operierend, verdanken sowohl der Prüfer der Gewichte als auch der eigentliche Herrscher der Peripherie ihre Macht der merkwürdigen, zwischen Kontrolle und Kontrollverlust changierenden Situation in einem Reich, das die Uneindeutigkeit geradezu ins Kalkül zieht. Der Erzähler scheint um dieses Kalkül zu wissen, wenn er seine Protagonisten im Grenzspiel mit einer jeweils eigenen Semantik ausstattet. Die des Eichmeisters liest sich wie die zentral basierte, jedoch universellen Anspruch erhebende Semantik des Reiches. Eibenschütz will das Gesetz einhalten und dabei redlich, gütig und streng zugleich sein. Konfrontiert wird diese Semantik mit der ebenfalls partikular basierten und nicht weniger universellen Leitvorstellung des Jadlowker, der die meisten Beamten, die ihm jemals hätten schaden können, gekauft hat und vor diesem Erfahrungshintergrund auch Eibenschütz den Kampf erklärt. Jadlowker ist davon überzeugt, dass jeder Mensch nicht nur eine schwache, sondern auch eine verbrecherische Stelle hat. „Er konnte überhaupt nicht glauben - und wie hätte er auch anders leben können! --, daß irgendein Mensch in der Welt anders dachte und empfand als er, Jadlowker.“ 63 Ehrlich lebende Menschen hielt er für Komödianten. Die hervorragendsten Komödianten waren die Beamten, denen gegenüber man Komödie und Anständigkeit spielen muss. So hielt es Jadlowker mit aller Welt und, wie der Erzähler betont, mit einer ganz besonderen Anstrengung mit dem Eichmeister Eibenschütz. Das Weltbild des Jadlowker fordert die scheinbar universale, jedoch im Zentrum entwickelte Semantik heraus. Aus imperiumstheoretischer Perspektive betrachtet, zielt sie direkt auf das „Glaubwürdigkeitsproblem“ von Imperien. 64 Wie der Eichmeister als sein Vertreter, so kann sich das Imperium Mächten gegenüber, die zu seinem Einflussbereich gehören, nicht neutral verhalten. Es gibt keine Neutralitätsoption, nur einen ständigen Interventionszwang, der sich wiederum durch den Anschein moralischer Glaubwürdigkeit zu legitimieren versucht. Moralische Glaubwürdigkeit, so belehrt uns Münkler, gehört zweifellos zu den Ressourcen imperialer Macht. Allerdings ist sie nicht der Maßstab der Politik - sondern nur ihr Mittel. Die Logik des Imperiums 63 Ebd., S. 28f. 64 Münkler: Imperien, S. 30. <?page no="131"?> 131 Falsche Gewichtung? weiß die moralische Glaubwürdigkeit sehr wohl als Machtfaktor einzusetzen, würde sich aber nie selber an ihr messen lassen. 65 Diese Lektion nun muss der Eichmeister noch lernen. Der Erzähler lässt ihn die Grenzen langsam erproben, dann aber seine Macht immer willkürlicher ausüben und schließlich - wie Jadlowker - ganz aufhören, Anständigkeit zu spielen. V. Vom Übertreten und Verschwinden der Grenzen Das Ende der Geschichte des Eichmeisters ist schnell erzählt. Eibenschütz verliebt sich in die Frau Jadlowkers, überführt diesen eigennützig und seine eigenen Kompetenzen überschreitend einer Straftat, übernimmt dessen Grenzschenke und wird nach der Freilassung Jadlowkers von diesem erschlagen. Aus Sicht der Imperiumstheorie verdient die Szene, in der es zur Verhaftung Jadlowkers durch Eibenschütz kommt, besondere Erwähnung. Es war an einem Freitag und mithin an einem Tag, den der Eichmeister nicht liebte, weil es ein Markttag war und es für ihn viel zu tun gab. Die Beschreibung eines solchen Tages liest sich wie eine Fussnote zu den von der Theorie thematisierten Kontrollproblemen. Auf den offenen Märkten bricht beim Anblick des Gendarmen und Beamten Panik aus. Die Käufer rennen eilig davon und die Händler schmeißen die Gewichte in die Straßenmitte. Das, was Luhmann die wechselseitige Ignoranz und „Kontaktvermeidungshaltung“ zwischen Peripheriebewohnern und bürokratischen Eliten nennt, könnte kaum besser illustriert werden. 66 Da sich die Drohungen zumeist als unwirksam erweisen, kommt es laut Theorie zu gelegentlichen drastischen Aktionen - Aktionen, wie der Verhaftung Jadlowkers. Denn auch Jadlowker steht auf dem Markt und verkauft Fische. Dafür hat er zwar keine Konzession, doch hat er auch keine falschen Gewichte. „Das Gesetz kannte er: Ein Eichmeister hatte nichts mit Konzessionen zu tun. Mochte er nur kommen.“ Aber, so fragt der Erzähler, „was weiß ein armer Mensch“ wie der Leibusch Jadlowker? 67 Und ein armer Mensch ist, wer die Macht des Zentrums verkennt. Das Zentrum, wir erinnern uns, operiert laut Theorie zwar auch, aber nicht nur auf der semantischen Ebene, sondern definiert die Grenzen und fällt alle wichtigen Entscheidungen, wobei es sich - und dies lässt der Erzähler Jadlowker spüren - der Peripherie gegenüber nicht rechtfertigen muss. Selbst wenn Jadlowker alle Gesetze, Sitten, Gebräuche und Charakteranlagen der Beamten kennt: „Es kann ein Augenblick kommen, da steht plötzlich ein unbekannter Paragraph auf, und wenn es nicht auf den Paragraphen ankommt, so erwacht zum Beispiel eine ungeahnte Leidenschaft in einem Beamten. Beamte 65 Ebd., S. 34. 66 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 760 u. 672. 67 Roth: Das falsche Gewicht, S. 43. <?page no="132"?> 132 Christine Magerski sind auch Menschen.“ 68 So auch und gerade der Eichmeister, als er, mehr das Klingeln der Ohrringe von Jadlowkers Frau als das Gesetz im Ohr, vor dessen Fischbottich zum Stehen kommt und auf die Papiere insistiert. Der Herr der Peripherie hält dagegen und erinnert den Eichmeister daran, dass er nicht das Recht habe, nach Papieren zu fragen. Den Eichmeister aber lässt der Erzähler nur erwidern: „Sie leisten Widerstand! “ und stellt ihm daraufhin sofort den Wachtmeister mit gefährlich funkelnder Pickelhaube und blitzendem Bajonett zur Seite. Jadlowker, von den Symbolen der Macht nicht einzuschüchtern, stürzt sich mit dem Fischmesser auf den Gendarmeriewachtmeister und stößt „wüste Verwünschungen gegen den Kaiser, gegen den Staat, gegen das Gesetz und sogar gegen Gott aus“. 69 Deren Stellvertreter nehmen ihn fest und bringen ihn in Ketten ins Bezirksgefängnis. Mit der Verhaftung Jadlowkers stellt sich die Frage, wer die Grenzschenke und damit das Dilemma der Ordnung zukünftig verwalten soll. Die Gemeinde, also die Peripherie selbst, will sie ausgerechnet dem Eichmeister anvertrauen. Das Zentrum steht dem nicht im Wege, sondern lässt den Eichmeister in einem Schreiben wissen, dass es ihm anheimgestellt sei, auf den Vorschlag zustimmend oder ablehnend Bericht zu erstatten. Einmal mehr zeigt der Erzähler, dass Eibenschütz gewohnt war zu gehorchen und nicht, Entscheidungen zu fällen. „Wäre er doch in der Kaserne, bei der Armee geblieben! “, so lässt ihn der Erzähler ausrufen - und versetzt ihn als Statthalter des Jadlowker in die Grenzschenke. 70 Der lukrativen Handel läuft unter seinen Augen weiter. Es ist eben „eine wüste Sache, diese Grenze.“ 71 An ihr wird der Prüfer der Gewichte nun nicht nur nachsichtiger, sondern beginnt, seinen Dienst „nachlässig“ auszuüben. 72 Es bedarf seines klugen Pferdes, um ihn nach liebestrunkenen und alkoholgetrübten Tagen wieder auf den Weg ins Amt zu führen, wo sich bereits stapelt, wovor sich der Eichmeister mehr fürchtet als vor den Gesetzesbrechern: Papiere. Der Erzähler lässt diese Form der Machtausübung an der Grenze eines bürokratiegestützten Großreiches nicht lange laufen, was den Leser insofern überrascht, als auch der Vorgänger des Eibenschütz die Kontrolle mehr als durchlässig auszuüben pflegte und dafür vom Zentrum nicht sanktioniert wurde. Die Laissez-faire-Politik des Eibenschütz aber unterbricht der Erzähler. Er schickt die Cholera, also jene Krankheit, der man, wie wir gesehen haben, in Galizien tatsächlich nicht Herr wurde oder werden wollte. Auch im Falle Zlotogrods schickt die Statthalterei nach Ärzten und Medikamenten. Allein, es hilft nichts. „Eines Tages kam von der Militärbehörde der Befehl, das Regiment der Fünfunddreißiger möge unverzüglich den Bezirk Zlotogrod räumen, und 68 Ebd., S. 43f. 69 Ebd., S. 45f. 70 Ebd., S. 60. 71 Ebd., S. 121f. 72 Ebd., S. 66. <?page no="133"?> 133 Falsche Gewichtung? jetzt entstand ein noch größerer Schrecken.“ 73 Hatten die Peripheriebewohner bislang noch geglaubt, dass der Tod nur zufällig durch ihre Häuser und Hütten ging, so schien für sie mit dem Abzug der Garnison „auch von Staats wegen beschlossen und besiegelt, daß die ‚Pest‘, wie sie es nannten, eine dauernde Angelegenheit war“. 74 Die Staatsmacht, sich aus bekannten Gründen gegen die eindeutige Festlegung der Außengrenzen entscheidend, zieht mit seinem Militär auch seine Grenze zurück - und entzieht der Peripherie „ein farbiges, imponierendes Symbol der Ordnung.“ 75 Die Ordnung im Grenzraum ist nun nicht mehr nur lose, sondern droht gänzlich zu zerfallen. Farbe und Glanz verschwinden. Die Cholera, der zur Regel gewordene Ausnahmezustand, breitet sich im Roman mit der Schnelligkeit eines Feuers aus. Verschont bleiben nur einzelstehende Gehöfte, das Schloss sowie - die Grenzschenke. In ihr bietet sich dem Leser das Bild des Verfalls des Eichmeisters. „Er, der zeit seines Lebens so fleißig darauf bedacht gewesen war, sein Aussehen zu pflegen, aus dienstlichen Gründen, die eigentlich bereits Gebote seiner Natur geworden waren, begann jetzt, nachlässig zu werden“. 76 Dem ganz neuen, veränderten, selbst im Zerfall begriffenen Anselm Eibenschütz stellt der Erzähler gleichsam als Korrektiv einen neuen, über die Maßen gewissenhaften polnischen Wachtmeister zur Seite. Das Zentrum, so scheint es, hat sich angesichts der Cholera zwar für den Abzug der Garnison entschieden, zur Symbolisierung seiner anhaltenden Präsenz dafür aber die Macht der örtlichen, jedoch dem Kriegsministerium unterstellten Gendarmerie gestärkt. Unter ihrem Einfluss beginnt der zivile Beamte alles Halbdurchlässige, Lose und Flexible zu straffen und wütet im Land noch schlimmer als die Krankheit. Dabei lässt der Erzähler den Eichmeister fühlen, dass auch er ein böser Mensch wird und erschließt dem vormals der Redlichkeit verpflichteten Beamten die Semantik des Jadlowker. Es gibt kein Abwägen mehr. Mit dem Glaubwürdigkeitsproblem spielend, lässt der Erzähler das Integrationsgefälle kippen: Eibenschütz dringt in den bislang willentlich verschonten Laden einer armen jüdischen 73 Ebd., S. 85. 74 Ebd. 75 Lunzer/ Lunzer-Talos: Joseph Roth 1894-1939, S. 8. Stefan Zweig spricht explizit von der Farbe und dem Glanz, den die Offiziere, Ulanen und Dragoner „in die finstere Welt der Grenze“ brachten. Vgl. Zweig, Stefan: „Joseph Roth“, in: Keel/ Kampa: Jospeh Roth, S. 175-189, S. 175f. 76 Roth: Das falsche Gewicht, S. 96. Interessant, jedoch den Rahmen dieses Beitrags überschreitend, ist in diesem Zusammehang die Unterscheidung zwischen territorialen und ideellen Zentren. Verbunden mit den ideellen Zentren ist die Dressur und Dressiertheit des Körpers, das heißt Disziplinierungs-Prozeduren, die zur Formung von Individuen führen. Siehe hierzu: Mythos Mitte. Wirkmächtigkeit, Potenzial und Grenzen der Unterscheidung ‚Zentrum/ Peripherie‘, hg. v. Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“. Wiesbaden: VS 2011, S. 70. Hier findet sich auch eine Auseinandersetzung mit Luhmanns systemspezifischem Konzept von Zentrum und Peripherie, S. 173-184. <?page no="134"?> 134 Christine Magerski Familie, verurteilt diese zu einer Konventionalstrafe, die, weil sie nicht bezahlt werden kann, zu einer viermonatigen Haftstrafe führt. Ausgerechnet der Jadlowker, selbst dank der Cholera dem Gefängnis entkommen, spuckt dem Eichmeister dafür ins Schnapsglas - und erschlägt ihn. 77 Verkehrte Welt, oder zumindest eine gänzlich aus den Fugen geratene Konstellation ist es, die sich dem Leser bietet. Mit der Ermordung des Beamten durch den Gesetzlosen wird das Integrationsgefälle total. Das Dilemma der Ordnung scheint am Ende zugunsten der Peripherie entschieden. Mit Luhmann könnte man sagen, dass der Sinnhorizont der vom Zentrum entwickelten Semantik ganz versinkt. In diese Lesart lassen sich auch einschlägige kulturwissenschaftliche Studien zu Roth einordnen. 78 Berufen können sie sich nicht zuletzt auf dessen prominenten, auch in diesem Beitrag eingangs zitierten Satz, demzufolge das Wesen Österreichs nicht Zentrum, sondern Peripherie gewesen sei. 79 Doch ist die periphere Perspektive sowohl Roths als auch der Forschung nicht unstrittig. Konfrontieren lässt sie sich mit der Tatsache, dass sie von Roth erst eingenommen wurde, nachdem er selbst ins Zentrum gewechselt und damit den „Weg von Ost nach West, aus dem jüdisch-polnisch-ukrainischen Menschengemenge in die Mühlen der Assimilitation“ zurückgelegt hatte. 80 Wenn Roth, wie immer wieder behauptet, mit seinem Weg vom nordöstlichen Galizien in die Reichshauptstadt Wien seine „jüdische, provinzielle, fast uneheliche, kleinbürgerlich enge Herkunft“ mit eleganter Kleidung, Pomade und Monokel weggeblendet und weginszeniert hat, dann ist seine Perspektive nicht die der Peripherie, sondern die des Zentrums. 81 Auch diese Lesart kann 77 Angestiftet wird dieser zum Totschlag von einem Mann namens Kapturak, seinerseits Grenzschmuggler und allmächtiger Kommissionär, den die Leser von Roth aus anderen Romanen bereits kennen. Dort erscheint er als ein verschwiegener, bedächtiger, gleichwohl aber immer geschäftiger Mensch ohne Alter, ohne Familie und ohne Freunde, der nicht nur die Behörden und die höheren Beamten sehr gut kennt, sondern in den Bürokratiewelten regelrecht zuhause ist. Davon ist in der Geschichte des Eichmeisters nicht die Rede. Doch zeigt der Hinweis, dass eine Ausdehnung der imperiumstheoretischen Perspektive auf das Gesamtwerk Roths fruchtbar sein könnte. 78 „Die Dimension des Kaiserreichs, die Roth vermittelt“, so Claudio Magris, „ist typisch slawisch-föderalistischer, peripherer Art. Sein Reich ist das Reich der Kronländer, der fernen Provinzen an der russischen Grenze und der slawisch-jüdischen Welt Galiziens und der Bukowina.“ Vgl.: Magris, Claudio: „Joseph Roth“, in: Keel/ Kampa: Joseph Roth, S. 299-312, S. 306. Zur peripheren Perspektive Roths siehe auch: Müller-Funk: Joseph Roth, S. 23 sowie Coetzee, J.M.: „Joseph Roths Erzählungen“, in: Keel/ Kampa: Joseph Roth, S. 313-329, S. 315. 79 Roth: Die Kapuzinergruft, S. 19. 80 Baumgart, Reinhard: „Drei Ansichten“, in: Keel/ Kampa: Joseph Roth, S. 330-351, S. 337. 81 Ebd., S. 334. Vor allem Zeitgenossen Roths haben dieses Bild verfestigt. So Géza von Cziffra, wenn er der Nachwelt überliefert, dass Roth, obwohl nur einige Jahre in Wien, das schleppende Deutsch des vornehmen Österreichers sprach und man ihm daher seine Behauptung, er sei der uneheliche Sohn eines Habsburgers und somit österreichi- <?page no="135"?> 135 Falsche Gewichtung? sich auf Roth selbst berufen, auf jenen Roth nämlich, für den Otto von Habsburg „ein Symbol“ und Österreich „fast eine Religion“ war. 82 VI. Die diagnostische Kraft der Literatur: Zerfall der Ordnung und Kontingenzbewusstsein Imperiumstheoretisch lässt sich die Opposition von peripherer und zentraler Perspektive verarbeiten und sagen, dass, ebenso wie beim Großreich, auch bei Roth die Peripherie nicht ohne das Zentrum zu haben ist und umgekehrt. Erst in der Gesamtschau werden die Handlungsimperative einschließlich ihrer Grenzen kenntlich. Dies gilt auch für die Romanebene. Denn ebenso, wie laut Maner das Zentrum-Peripherie-Modell eine zentrale Rolle innerhalb der habsburgischen Überlegungen zur Staatsgestaltung spielte, so spielte Roth mit diesem, und zwar sowohl auf der Ebene der Lebensgestaltung wie auch auf der literarischen. Allein, den habsburgischen Überlegungen zur Staatsgestaltung fehlte am Ende die richtige Gewichtung. Das Reich ging unter. Roth kommentiert: „Die Völker vergehn, die Reiche verwehn. (Aus den vergehenden besteht die Geschichte.)“ 83 Die Pflicht des Schriftstellers sei es, aus dem Vergehenden „das Merkwürdige und zugleich das Menschlich-Bezeichnende“ festzuhalten. Das Merkwürdige und Menschlich-Bezeichnende, das Roth nach dem Zerfall der Donaumonarchie festhält, ist die Einsicht in die Kontingenz von Ordnungen. Mit Rücksicht auf die Theorie muss dabei unterstrichen werden, dass Roth seine Parabel vom Untergang des Reiches in einem Moment anfertigte, in dem nicht nur das Reich scher Aristokrat, auch abnahm. Vgl.: Von Cziffra, Géza: „Der heilige Trinker“, in: Keel/ Kampa: Joseph Roth, S. 55-94, S. 59. Laut Soma Morgenstern habe der ostgalizische Jude Roth noch kurz vor seinem Tod „den Eindruck eines vornehmen, wenn auch verkommenen österreichischen Aristokraten alten Stils“ gemacht, und damit „genau den Eindruck, den zu machen er aus allen Leibes- und Geisteskräften sich zeit seines Lebens redlich, und leider manchmal auch unredlich, gemüht hat“. Vgl.: Morgenstern, Soma: „Joseph Roths Flucht ohne Ende“, in: Keel/ Kampa: Joseph Roth, S. 104-158, S. 105. Und auch David Bronsen sieht den Grund für Roths „österreichisches Gebaren“ in der kurzen Zeitspanne von 1913 bis 1916, in der sich dieser die Äußerlichkeiten des Wieners angeeignet habe. Den im Hause der Gräfin von Trauttmannsdorff beobachtete Lebenstil habe Roth vor Augen gehabt, wenn er Jahre später in Deutschland seinen weiblichen Bekanntschaften gelbe Rosen zu schicken und in der Eisenbahn erster Klasse zu fahren pflegte. Von den Spazierstöcken, die Roth in Berlin und Paris verwendete, über die engen Offiziershosen, die er seit seinem Militärdienst trug, bis hin zum Handkuss und der Galanterie, die zu den Merkmalen seines Betragens zählten, verkörperte er „die Atmosphäre der Wiener ‚zweiten Gesellschaft‘, auf die er sich einstellte“. In dieser Lesart ist es der kurze, aber intensive Kontakt mit der Donaustadt, der Roth prägte. Vgl.: Bronsen, David: „Joseph Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich“, in: Keel/ Kampa: Joseph Roth, S. 352-369, S. 357. 82 Roth, Joseph: Schwarz-Gelbes Tagebuch, in: Die österreichische Post, Paris, Jg. 1 (1939), Nr. 5 vom 15. Februar 1939, S. 5. 83 Roth: Radetzkymarsch, S. 406. <?page no="136"?> 136 Christine Magerski selbst längst untergegangen war, sondern jede überkommene Ordnungsvorstellung. Mit der Fragilität der Ordnungen möchte ich ein letztes Mal zur Geschichte des Eichmeisters zurückkehren, um die diagnostische Kraft Roths auch und vielleicht gerade in Hinsicht auf die postimperiale Konstellation einzufangen. Wie Reinhard Baumgart bemerkt, gehören „der Untergang Europas, seines Europas, und der Aufstieg des Autors Roth in sein Erzählreich“ zusammen. 84 In diesem Erzählreich lässt Roth 1937 mit dem Eichmeister den Vertreter der bürokratiegestützten Herrschaft untergehen, den polnischen Wachtmeister Piotrak die Kontrolle übernehmen und diesen die mächtigsten Männer der Peripherie verhaften. Ob sie wieder frei kommen werden, ob der alte Eichmeister, wie es immer der Fall war, durch einen neuen ersetzt wird, all dies erfährt der Leser nicht. Stattdessen schreibt Roth seinem sterbenden Eichmeister einen Traum zu. In ihm ist der Eichmeister selbst ein Händler mit so vielen falschen Gewichten, dass sein Ladentisch sie gar nicht alle fassen kann. Als der „größte aller Eichmeister“ seinen Laden betritt, hinter ihm ein Gendarm mit Helmbusch und Bajonett, fürchtet er sich vor dessen Funkeln. Zum höchsten Erstaunen des Eibenschütz aber sagt der große Eichmeister schließlich: „Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen! Wir glauben, daß alle deine Gewichte richtig sind. Ich bin der Große Eichmeister“. 85 Glaubt man einer Überlieferung von Ilja Ehrenburg, so sollten die Worte des allerhöchsten Inspektors lauten, dass es genaue Waagen überhaupt nicht gebe. 86 Die Figur des großen Eichmeisters fügt sich in die Ambivalenz des Romans, seines Verfassers und dessen Reich ein. Man kann in ihr die Personifikation jener mild-nachlässigen Herrschaft der Habsburger sehen, wie sie laut Zweig gerade an der äußersten Peripherie des Reiches erfahrbar wurde. 87 So gesehen, wäre sie Teil des Rothschen Legitimismus. Man kann die Worte des allerhöchsten Inspektors am Ende der Geschichte aber auch als Ausdruck des Wissens um ein mögliches Anderssein lesen. So verstanden, würde sich das, was wir mit Müller-Funk als die diagnostische Kraft des Roth’schen Werkes hinsichtlich der Moderne bezeichnet haben, in einem Kontingenzbewusstsein äußern, das Erfahrungen und Erwartungen „im Horizont möglicher Abwandlungen“ erscheinen lässt. 88 Es hätte, dies suggeriert der Erzähler mit dem Traum, anders sein können. Hätte sich Eibenschütz selbst auf die grundsätzliche Unmöglichkeit genauer Waagen berufen, wäre er nicht erschlagen worden. Und möglich wäre es gewesen. Nötig waren die von Eibenschütz gefällten Entscheidungen nicht. Sein Vorgänger wusste besser zu gewichten. Alt, schwach und dem Alkohol ergeben, hatte er niemals die Maße und die Gewichte im Städtchen Zlotogrod selbst geprüft. Das Zentrum intervenierte 84 Baumgart: Drei Ansichten, S. 343. 85 Roth: Das falsche Gewicht, S. 120. 86 Roth: Briefe, S. 577. 87 Zweig: Joseph Roth, S. 175f. 88 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1984, S. 152. <?page no="137"?> 137 Falsche Gewichtung? nicht und er wurde auch nicht erschlagen, sondern bekam ein außerordentlich schönes Leichenbegängnis. Nach Anselm Eibenschütz lässt der Erzähler keinen Hahn krähen. 89 Die Einsicht in das Fehlen genauer Waagen und mithin definitiver Grenzen - für Eibenschütz kommt sie zu spät. Anders Roth. Mit den Worten des großen Eichmeisters lässt er am Sinnhorizont des untergehenden Großreiches das Bewusstsein der Kontingenz von semantischen und räumlichen Ordnungen auftauchen. Wenn diese Ordnungen aber anders seien könnten, dann fordert - will man die Grenzen nicht mit militärischer Gewalt allein ziehen - jede Festlegung eine semantische Legitimation mit Aussicht auf universellen Anspruch. Unter diesem Gesichtspunkt scheint auch der viel kritisierte Legitimismus Roths durchaus legitim. 90 In dem Roman Die Büste des Kaisers, der 1935 bezeichnenderweise in einer antifaschistischen Tageszeitung erschien, schreibt Roth, dass er es gewohnt sei, in einem Haus mit vielen Türen und Zimmern für viele Arten von Menschen zu leben. Ein solches sei die Monarchie gewesen, bevor man sie verteilte, spaltete und zertrümmerte. Deshalb habe er, Roth, dort nichts mehr zu suchen und hasse Nationen und Nationalstaaten. 91 Deutliche, und doch umstrittene Worte, die man als Position eines verblendeten Monarchisten abtun oder als „ex post geführte(n) Beweis für die heimatbildende Qualität des Vielvölkerstaats“ interpretieren kann. 92 Eine dritte Möglichkeit wäre, in ihnen die Antizipation einer Position zu sehen, die sich, unter Berufung auf Eric Hobsbawm, auch bei Münkler wieder findet. Sie sieht im Recht auf nationale Selbstbestimmung das Verhängnis der europäischen Politik im 20. Jahrhundert. Folgt man Münkler, so verursachte dieses Recht eine Fülle von Kriegen und Bürgerkriegen, da der vormals imperial beherrschte Raum nicht durch Grenzziehungen und Nationalstaaten geordnet werden kann, ohne - paradoxerweise - gleichzeitig neue Minderheiten und Peripherien entstehen zu lassen. Als „paradigmatisch für postimperiale Konstellationen“, so wurde eingangs gesagt, gelten in der Imperiumstheorie die Probleme Mittel- und Südosteuropas, wo sich, bevor der gesamte Großraum während des Zweiten Weltkriegs mehrfach umgewälzt wurde, bereits in der Zwischenkriegszeit viele Entwicklungen vollzogen, die sich in der postimperialen Ära wiederholen sollten. 93 Roth hatte diese Entwicklungen unmittelbar vor Augen. Nüchtern kommentierte er den Prozess der Nationenbildung mit der Bemerkung, dass die Völker „vergeblich nach sogenannten nationalen Tu- 89 Roth: Das falsche Gewicht, S. 121. 90 Zum Legitimismus Roths siehe: Lunzer/ Lunzer-Talos: Joseph Roth 1894-1939, S. 52. 91 Roth, Joseph: Die Büste des Kaisers, in: Ders.: Werke, Band 3. Hg. u. eingeleitet von Hermann Kesten. Köln-Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1975/ 1976, S. 192. Zu Roths Situation im Exil siehe auch die ebenso faktenreiche wie einfühlsame Studie von Lazaroms, Ilse Josephana: The Grace of Misery. Joseph Roth and the Politics of Exile, 1919-1939. Leiden-Boston: Brill 2013. 92 Lunzer/ Lunzer-Talos: Joseph Roth 1894-1939, S. 11. 93 Münkler: Imperien, S. 218. <?page no="138"?> 138 Christine Magerski genden (suchen), die noch fragiler sind als die individuellen“. 94 Doch auch die Ordnung der Donaumonarchie erwies sich als fragil, andernfalls wäre das Problem der falschen Gewichtung gar nicht ins Blickfeld gerückt. Dass Roth es als solches erkannte, zeichnet ihn als einen bemerkenswerten Beobachter aus. Die paradoxe Form, in der er es literarisch verarbeitet, zeigt ihn auf der Höhe der Theorie und weist Roth, von dem gesagt wird, er sei „politisch und literarhistorisch eher heimatlos“, einen zentralen Platz im Imperiumsdiskurs zu. 95 94 Roth: Die Büste des Kaisers, S. 192. Folgt man Rozenblit, so wurden die Juden durch das Ende des Krieges und den Kollaps der Monarchie jeder politischen Identität beraubt und „were truly cast adrift“. Von daher erkläre sich, dass die galizischen Juden weder die Autonomie Galiziens noch unter die polnische Herrschaft, sondern den multinationalen österreichischen Gesamtstaat behalten wollten (Rozenblit: Reconstructing a National Identity, S. 57 u. 110). 95 Amthor, Wiebke/ Brittnacher, Hans Richard (Hg.): Joseph Roth - Zur Modernität des melancholischen Blicks. Berlin-Boston: de Gruyter 2012, S. 1. <?page no="139"?> 5 Narrative des Umbruchs <?page no="140"?> 6 <?page no="141"?> 141 Kriegsethnologie als Literatur Daniela Kirschstein Kriegsethnologie als Literatur im (post)imperialen Kontext I. In den folgenden Ausführungen verfolge ich zwei Zielrichtungen. Ich möchte erstens vor dem imperialen und dann postimperialen Kontext eine kurze Geschichte von Literatur und Ethnologie als mal potenzielle, mal realisierte Deutungsinstanzen des Krieges erzählen. Und ich möchte dabei gleichzeitig Ethnologie als Literatur und Literatur als Ethnologie lesen - ein bisschen weniger verspielt ausgedrückt also zunächst Parallelen zwischen Literatur und Ethnologie aufzeigen und diese Parallelen dann auf eine mögliche Lesart vom Krieg als „fremder Kultur“ zuspitzen. Zunächst zu den Parallelen von Literatur und Ethnologie. Man kann von einer „enge[n] Verflechtung“, einer „Konzeptwanderschaft“, 1 sowie von konvergierenden Problemfeldern zwischen literarischen und ethnographischen Verfahren und Thematiken sprechen. Gabriele Schwab sieht das ethnographische Potenzial literarischer Texte darin, dass sie „ästhetische Mittel nutzen, um kulturelles Wissen zu vermitteln“. 2 Ähnlich argumentiert Doris Bachmann-Medick, wenn sie literarische Texte als Medien kultureller Selbstauslegung [bezeichnet], deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet. Die Literaturwissenschaft erschließt neue Fragehorizonte, wenn sie sich wie die Ethnologie die Praxis einer „defamiliarization by crosscultural juxtaposition“ zu eigen macht. […] Auch literarische Texte werfen je spezifische Fremdheitsprobleme auf […] und machen auch auf kulturinterne Brüche und Fremdheiten aufmerksam. 3 1 Koschorke, Albrecht: „Imaginationen der Kulturgrenze“, abrufbar unter: http: / / www. uni-konstanz.de/ kulturtheorie/ Texte/ AKRomantik.pdf, S. 1-14, S. 1 (31.3.2014). 2 Schwab, Gabriele: „Restriktion und Mobilität. Zur Dynamik des literarischen Kulturkontakts.“ Working paper / John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, abrufbar unter: http: / / www.jfki.fu-berlin.de/ research/ publications/ workingpapers/ workingpaper115.pdf ? 1376088135, S. 1-24, S. 1 (31.3.2014). 3 Bachmann-Medick, Doris: „Einleitung“, in: Dies.: Kultur als Text. Tübingen: Francke 2004, S. 7-64, S. 9. Zitat im Zitat: Marcus, George E./ Fischer, Michael M. I. (Hg.): <?page no="142"?> 142 Daniela Kirschstein Die Ethnologie wiederum ist in ihrem Anspruch, Wissenschaft vom kulturell Fremden zu sein, auf Texte angewiesen und stößt damit auf Fragen, Probleme und Paradoxien, die traditionell Thema von Literatur und Literaturwissenschaft sind: Fragen nach der subjektiven Autorschaft, der erzählerischen Perspektivierung und den Redeformen, nach Fiktionalität und Polysemie, Fragen nach der Projektion und Imagination anlässlich der Begegnung mit dem Fremden, Codierungen von Gewalt, Neugier, Erstaunen, Erschrecken, u.s.w. 4 Das Fremde, darauf hat insbesondere die Writing-Culture-Debatte in den 1980er-Jahren hingewiesen und das als blinden Fleck im ethnographischen Anspruch einer adäquaten „Repräsentation von Kultur(en)“ ausgemacht, ist nie anders als ästhetisch be- oder verarbeitet zu haben: „Ethnographic comprehension […] is better seen as a creation of ethnographic writing than as a consistent quality of ethnographic experience.“ 5 Im Fokus der Debatte standen dementsprechend literarische Momente und Strategien ethnographischen Schreibens. Gefragt wurde nach den symbolischen Formen, Erzählstrategien, Schreibweisen und Genres, in denen das Fremde und die Fremden repräsentiert werden, und nach der subjektiv erlebten Fremderfahrung. Dabei lieferte die Writing-Culture-Debatte insbesondere eine Kritik der Autorität des Ethnographen, die zwangsläufig in eine so irreversible wie produktive Krise der Ethnologie mündete. 6 Was die Ethnologie für die Literatur- und Kulturwis- Anthropology as Cultural Critique: An Experimental Moment in the Human Sciences. Chicago-London: University of Chicago Press 1998, S. 138. Vergleiche hierzu auch Oliver Lubrich: „Fremde Länder, unheimliche Monstren, mörderische Kriege oder soziale Unterschiede - Phänomene, die eine Befremdung und Verunsicherung hervorrufen oder eine Bedrohung auslösen […] bilden […] eine der konstantesten und faszinierendsten Beschäftigungen der Literatur. […] Eine wesentliche Funktion des (literarischen) Schreibens scheint in der Bewältigung des Befremdlichen, in der Domestizierung des ‚Anderen‘ zu bestehen.“ (Lubrich, Oliver: Das Schwinden der Differenz. Bielefeld: Aisthesis 2009, S. 9.) 4 Scherpe, Klaus R.: „Grenzgänge zwischen den Disziplinen. Ethnographie und Literaturwissenschaft“, in: Boden, Peter/ Dainat, Holger (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Eine Selbstbesichtigung der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 298-315, S. 299. 5 Clifford, James: The Predicament of Culture. Cambridge: Harvard University Press 1988, S. 110. 6 So überlagert beispielsweise Richard Rottenburg die Repräsentationskrise der ethnographischen Darstellung mit der Beobachtungskrise des Ethnographen im Feld. Nicht erst die Darstellung produziert Aporien, sondern das Verhältnis von Selbst- und Fremdbeobachtung erscheint konstitutiv destabilisiert. Gleichzeitig wird gerade hier das besondere Potenzial der Ethnologie deutlich: „Der spezifische Gewinn der Ethnographie besteht […] darin, die versteckten Grundannahmen der Leser, für die der Text geschrieben ist, ans Licht zu holen und ihn damit in Frage zu stellen.“ (Rottenburg, Richard: „Marginalität und der Blick aus der Ferne“, in: Behrend, Heike (Hg.): Geist, Bild und Narr. Zu einer Ethnologie kultureller Konversion. Berlin: Philo 2001, S. 37-44, S. 42.) <?page no="143"?> 143 Kriegsethnologie als Literatur senschaften außerdem so interessant macht, ist ihr Umgang mit der Situation, in der sich Beschreibende und Beschriebene als fremd begegnen. Die encounter-Situation oder clash-Situation wird als größtmögliche mensch-menschliche Fremderfahrung und gleichzeitig als „erzliterarische Angelegenheit“ beschrieben - als „Verstehensdilemma, das in einem Schreibakt mündet.“ 7 Wie die Literatur ist auch die Ethnologie ob dieses Verstehensdilemmas auf Texte angewiesen. Diese Texte sind Substitut oder Simulacrum eines authentischen „Dort-Seins“, das Fremde ist nur im und als Text zugänglich und umgekehrt sind auch vermeintlich direkte Fremdkontakte durch (ethnographische und literarische) Texte vorgeprägt. II. Was bisher in Bezug auf das Verhältnis von Ethnologie und Literatur generell formuliert wurde, gilt, wie ich im Folgenden zeigen möchte, für das Verhältnis von Ethnologie und Kriegsliteratur in verstärkter Form. Krieg kann, so meine erste These, im Sinne einer fremden Kultur und als Ausgangspunkt ethnoliterarischer Beobachtungen verstanden werden. 8 Der moderne Krieg und ganz besonders die „Zäsur“ des Ersten Weltkrieg, lassen sich als eine spezifische Form von Fremderfahrung lesen. Am Anfang des Krieges steht häufig das Nicht-Verstehen. Die Erfahrung des Krieges, insbesondere der Front, wird in explizit literarischen Texten, aber auch in Soldatenbriefen oder Feldtagebüchern als anders als alles bisher Erfahrene beschrieben. 9 Der Krieg bricht in eine Welt, die Sinnzuschreibungen erlaubt und Ordnungsmodelle bereitstellt, ein und lässt diese Sinnzuschreibungen und Ordnungsmodelle kollabieren. Die Rede vom im Krieg erfahrenen „Bruch […] mit allem, was die Zivilisation je erlebt hatte“, 10 vom Krieg als „Grenzverletzung der Zivilisation“, 11 oder prominent als Urkatastrophe, als „the-great seminal catastrophe of this century“, 12 setzt den (modernen) Krieg in die Nähe 7 Scherpe, Klaus R./ Honold, Alexander: „Auf dem Papier sind Indianer weiß, im Ritual die Weißen farbig“, in: kakanien revisited, abrufbar unter: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ KScherpe1.pdf v. 1.10.2010, S. 1-5, S. 2 (31.3.2014). 8 Zum Begriff ethnoliterarisch verstanden als „literarische und ethnologische Konvergenz“ vergleiche Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960). München: Fink 2005, S. 358. 9 Vergleiche beispielsweise: Reimann, Aribert: „Wenn Soldaten vom Töten schreiben - Zur soldatischen Semantik in Deutschland und England, 1914-1918“, in: Gleichmann, Peter/ Kühne, Thomas (Hg.): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen 2004: Klartext, S. 307-319. 10 Kühne, Thomas: „Massen Töten“, in Massenhaftes Töten, S. 11-52, S. 36. 11 Reimann, Aribert: „Wenn Soldaten vom Töten schreiben“, S. 307. 12 Kennan, George F.: The Decline of Bismarck’s European Order: Franco-Russion Relations. Princeton: Princeton University Press 1981, S. 3. Vergleiche außerdem aktuell: Conter, Claude D, Jahraus, Oliver, Kirchmeier, Christian (Hg.): Der Erste Weltkrieg als Katastro- <?page no="144"?> 144 Daniela Kirschstein eines ethnologischen Kulturverständnisses. Der Krieg wird als „kulturell Fremdes“, als neue Welt, als fremde und der Erschließung bedürftige Struktur innerhalb der eigenen Gesellschaft gefasst. Und damit bietet er sich sowohl als Thema der Literatur als auch oder gerade auch als Forschungsfeld der Ethnologie an. Der erste Sachverhalt, dem ich nach diesen grundsätzlichen Überlegungen zu Literatur, Ethnologie und Krieg nachgehen möchte, sind die Rolle und die Aktivitäten der Volks- und Völkerkunden Mittel- und Südosteuropas im Ersten Weltkrieg. Ich werde zunächst auf ethnologische Auseinandersetzungen mit dem Ersten Weltkrieg am Beispiel der deutschen Ethnologie eingehen, diese mit literarischen Texten konfrontieren, um meine Beobachtungen dann mit der spezifischen Situation der österreichischen Ethnologie im Kontext der Doppelmonarchie zu verbinden. Ausgehend von der Differenz der ethnologischen Traditionslinien zwischen Österreich und Deutschland und in Verbindung mit der „Verwandschaftsthese“ von (Kriegs)literatur und Ethnologie kommt schließlich die exjugoslawische Kriegsethnologie der 1990er Jahre als ethnoliterarische Form in den Blick. Zunächst zur deutschen Ethnologie. Es stellt sich die Frage, wie eine sich gerade institutionalisierende „Wissenschaft vom kulturell Fremden“ auf den diagnostizierten „Zivilisationsbruch“ des modernen Krieges, auf den Einbruch des Fremden, des Barbarischen in das Eigene, die eigene Gesellschaft, das eigene Selbstbild, reagiert? Karl Weule, Direktor des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, fasst die Erfahrung des Krieges im Herzen Europas folgendermaßen: Der Mensch der Gegenwart durchlebt mit dem tobenden Weltkrieg den größten Zeitpunkt, auf den unser Geschlecht in seiner gesamten langen Geschichte herabzublicken vermag; groß, indem ein beträchtlicher Teil der bewohnten Erde und ihrer Bewohner in Mitleidenschaft gezogen ist; größer, indem die Summe aller technischen Errungenschaften gegeneinander ausgespielt wird; am größten, indem die höchsten und edelsten Regungen, zugleich allerdings auch die niedersten Instinkte der Menschheitsseele sich bestätigen. Nahezu ganz Europa mitsamt der weiteren Umgebung des Mittelmeeres, also die Wiege aller höheren menschlichen Kulturen überhaupt, dazu ganz Afrika und beträchtliche Teile Asiens und Amerikas, schließlich auch der Benjamin unter den Erdteilen, Australien, stehen gegeneinander und nebeneinander im Felde, um sich zu schwächen, zu zerfleischen, ja bis zu einem gewissen Grade zu vernichten. Die Mittel dazu sind sinnreicher, aber auch fürchterlicher denn je: eine Auswahl der feinsten und wirkungsvollsten Waffen zu Trutz und Schutz, alle Hilfsmittel der Physik und der Chemie, des Verkehrs zu Lande, auf und unter dem Wasser und in der Luft; dazu eine vordem nie erreichte Höhe der Organisation im Felde und daheim. Und das alles getragen von einem Willen der Allgemeinheit, phe. Deutungsmuster im literarischen Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. <?page no="145"?> 145 Kriegsethnologie als Literatur wie er so stark und zäh im Leben der Völker noch niemals zutage getreten ist […]. So könnte und dürfte dieser gewaltigste und unseligste aller Kriege […] immerhin geeignet sein, ein bestimmtes Hochgefühl zu erwecken, ständen dem nicht eine Reihe von Begleiterscheinungen hindernd im Wege, die diesen Eindruck geradezu in sein Gegenteil verkehren, Züge eines unverkennbaren Rückschlags in der Zivilisation, ja, eines förmlichen Zurücksinkens auf die tiefsten Stufen frühmenschlicher Barbarei. […] Wahrlich, fast möchte es scheinen, als ob das Europa des 20. Jahrhunderts, das alle Wunder der Technik beherrscht, ja, das Höchstmaß aller bisherigen stofflichen Kultur überhaupt erreicht hat, und das des Wahnes lebte, auch auf geistigem und sittlichem Gebiet turmhoch über allen Völkern und Zeiten zu stehen, rettungslos in die Abgründe tiefsten Barbarentums zurückgefallen sei. In diese Abgründe, wie sie in den Tiefen der Menschheit, also bei den Naturvölkern der Vergangenheit und der Gegenwart, nach unserer landläufigen Ansicht als Normalgebilde vorhanden sind, wollen wir in den nachstehenden Ausführungen ein wenig hinabsteigen. 13 Weules „nachstehende Ausführungen“ beschäftigen sich also keinesfalls, wie nach der Vorrede vielleicht zu erwarten gewesen wäre, mit dem eigenen Krieg, mit dem eigenen Barbarentum, sondern sie rejustieren die Position des Barbaren in klassisch ethnographischem Gestus im ‚kulturell Fremden‘. Der Krieg in den Tiefen der Menschheit, so der Titel des Textes, nimmt zwar den aktuellen Krieg zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, überführt die Irritation von barbarischem und zivilisiertem Ich dann aber in eine Genealogie „primitiver Kriege“, appliziert sie auf einen „primitiven Anderen“ außerhalb der eigenen Gegenwart und Identität. Der eigene Krieg, die eigene Regression in die „niedersten Instinkte der Menschheitsseele“ scheint sich seiner ethnographischen Beschreibung zu entziehen. Diese Haltung - die Delegierung des „eigenen Barbarentums“ an geographisch und vermeintlich kulturell weit entfernte „primitive Völker“ - ist bezeichnend für die deutsche Ethnologie der Jahrhundertwende. Allerdings teilte sich die Ethnologie am Anfang des 20. Jahrhunderts in eine nach innen gerichtete Volkskunde und eine nach außen, auf „primitive“ koloniale Andere gerichtete Völkerkunde auf. 14 Das ist deshalb entscheidend, weil der Erste Weltkrieg in der deutschen Volkskunde deutlich andere Spuren hinterlässt. Mit dem Krieg entstand in der Volkskunde ein neues und intensiv betriebenes Forschungsfeld, das sich dem Sammeln 13 Weule, Karl: Der Krieg in den Tiefen der Menschheit. Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung 1916, S. 7f. 14 Obwohl sich die Bezeichnung „Volkskunde“ bis heute bei manchen Instituten und Publikationen findet, hat sich mittlerweile die Bezeichnung „Europäische Ethnologie“ durchgesetzt. Zudem verschwimmen in der jetzt auch im deutschsprachigen Raum verwendeten „Kulturanthropologie“ die häufig künstlichen Grenzen zwischen Ethnologie und „Europäischer Ethnologie“. <?page no="146"?> 146 Daniela Kirschstein von Kriegsmaterialien und Kommunikationsformen vom Soldatenhelm bis zum Soldatenhumor verschrieben hatte. 15 Der Ertrag dieser Sammelleidenschaft hielt sich, so Gottfried Korff, jedoch in Grenzen: Die Volkskunde hat sich im Ersten Weltkrieg auf diese Quellen gestürzt, freilich ohne produktiven oder argumentativen Gewinn daraus zu beziehen. Aus den vielfältigen Sammel- und Archivierungsunternehmungen erwuchsen nur in den seltensten Fällen weiterführende Typologien, Sachanalysen oder methodologische Reflexionen. […] Sieht man einmal von etwa einem Dutzend Publikationen zum Soldatenlied, zum Soldatenbrauch und zur Soldatensprache in den 20er und 30er Jahren ab, dann wird man für die Zwischenkriegszeit kaum volkskundliche Untersuchungen zum Thema Krieg und Kriegsverarbeitung finden können. 16 Es wurde, so könnte man das zusammenfassen, viel gesammelt, aber wenig Verwertbares für die Sinnhaftmachung des Krieges und der Aktivitäten seiner Protagonisten erarbeitet. Die Völkerkunde kümmert sich also gar nicht, die Volkskunde nur archivierend um den Ersten Weltkrieg. In diese Leerstelle, die die Ethnologie nach dem Ersten Weltkrieg in Bezug auf die Beschreibung und Deutung des eigenen, modernen Krieges, der eigenen Regression, hinterlässt, treten nach 1918 literarische Texte. Die Flut von literarischen Texten, die sich in der Weimarer Republik mit dem Erlebnis und den Folgen des Krieges auseinandersetzen, übernehmen Funktionen der (modernen) Ethnologie, insofern sie sich intensiv mit unterschiedlichen Formen von Alterität beschäftigen. Sie fragen nach dem Verhältnis von Freund und Feind, von Heimat und Front, von Vorkriegs- und Kriegsordnung, sie liefern Überlegungen zu sich im Krieg wandelnden Konzepten von Freundschaft, Kameradschaft und Familie, über das Verhältnis von Masse und Individuum, sie reflektieren die Notwendigkeit, Disziplin und Selbstermächtigung auszutarieren, stellen kriegsbedingte Machtrelationen in Frage und vieles mehr. Dabei liegt ein besonderer Akzent auf der Figur des Frontsoldaten, der, wie das prominent bei Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) deutlich wird, als vom Krieg hervorgebrachter neuer Mensch, ja, als fremde Spezies in Szene gesetzt und erkundet wird. 17 Aus der Auseinandersetzung mit einem kriegsbedingten Sinndilemma folgt in vielen Texten ein geradezu postmoderner ethnographischer Gestus, nämlich die Auseinandersetzung mit der eigenen Position zwischen Teilnahme und Beobachtung. Schließlich leisten die Texte sowohl für ihren impliziten Autor als auch für ihre Leserschaft 15 Vergleiche hierzu ausführlich: Korff, Gottfried (Hg.): KriegsVolksKunde. Zur Erfahrungsbindung durch Symbolbildung. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2005. 16 Korf, Gottfried: „Vorwort“, in: KriegsVolksKunde, S. 9-28, S. 20. 17 Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Hannover: Selbstverlag des Verfassers 1920. <?page no="147"?> 147 Kriegsethnologie als Literatur eine Art ethnologische „Reinigungsprozedur[]“, 18 in der die destabilisierende Erfahrung des Krieges einerseits gebannt, andererseits entfesselt, beschworen und auch verehrt wird. 19 Ich komme von den Funktionen, die die Literatur des Ersten Weltkriegs von der Ethnologie übernommen hat, wieder zurück zur Geschichte der Ethnologie, konkret zur deutschsprachigen Ethnologie Österreich-Ungarns. Gegenüber der in Deutschland üblichen Unterscheidung zwischen einer nach innen orientierten Volkskunde und einer nach außen orientierten Völkerkunde, wie sie Weule vertritt, verfolgte Österreich im Kontext der Doppelmonarchie einen Sonderweg. Denn Unterscheidungen zwischen Zentrum und Peripherie, zivilisiert und primitiv und damit auch von Volkskunde und Völkerkunde waren im multiethnischen Raum der Doppelmonarchie von vornherein häufig unschärfer, gleitender und umstrittener, als das für die deutsche und westeuropäische Völkerkunde der Fall war: Die österreichische Volkskunde entsprach einer „kakanischen Gesamttradition“. Genauer: Die den Staatsnationalismus bejahenden deutsch-, aber auch zahlreiche anderssprachigen Volkskundler waren bis 1918 in ein multinationales Wissenschaftsnetzwerk eingebunden. Ihre scientific community bestand aber darüber hinaus aus unterscheidbaren, aufeinander bezogenen, zuweilen auch im Deutungsfeld miteinander im Wettstreit befindlichen Volkskunden. 20 So ist die Österreichische Volkskunde „zwar im Zentrum Wien entstanden“, ihr erstes und wichtigstes Studienobjekt aber war die eigene „nicht-deutschsprachige Peripherie, der ‚Balkan‘“. 21 Der Wiener Ethnologe Friedrich Salo- 18 Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven, S. 333. 19 Zu diesen Thesen vergleiche ausführlich Kirschstein, Daniela: Writing War. Kriegsliteratur als Ethnographie bei Ernst Jünger, Louis-Ferdinand Céline und Curzio Malaparte. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 20 Johler, Reinhard: „Das Ethnische als Forschungskonzept: die Österreichische Volkskunde im Europäischen Vergleich“, in Beitl, Klaus/ Bockhorn, Olaf (Hg.): Ethnologia Europaea. Plenarvorträge, Wien: Veröff. d. Inst. f. Volkskunde d. Univ. Wien 1995, S. 69-101, S. 79. Vergleiche außerdem zur inneren Unterscheidung der deutschsprachigen Ethnologie um die Jahrhundertwende: „German anthropology itself is subjected to an analysis which differentiates between its German and Austrian brands. The role of liberalism in the anthropology of the German Reich with ist overseas colonies cannot be transferred in whole piece to the Austrian case with its proximate Empire“ (Scheer, Monique/ Marquetti, Christian/ Johler, Reinhard: „ ‚ A Time Like No Other ‘ : The Impact of the Great War on European Anthropology“, in: Dies. (Hg.): Doing Anthropology in Wartime and War Zones, Bielefeld: Transcript 2010, S. 9-26, S. 20. Vergleiche außerdem Christian Marchetti: „While Germany cultivated a structural division between an inward-looking Volkskunde that investigated an invented the folk culture of its own nation and an outward-looking Völkerkunde that explored the ‚ primitive ‘ cultures of colonial Others, such dichotomies in Austria-Hungary were as blurred and contested as the disciplines themselves.“ („Austro-Hungarian Volkskunde at War“, in: Doing Anthropology, S. 207-230, S. 208). 21 Čapo Žmegać, Jasna/ Johler, Reinhard/ Kalapoš, Sanja/ Nikitsch, Herbert: „Einbeglei- <?page no="148"?> 148 Daniela Kirschstein mon Krauss gab im Auftrag der 1884 - bezeichnenderweise im Zuge der Okkupation Bosnien-Herzegowinas - in Wien begründeten „Ethnographischen Commission“ den ersten ethnographischen Fragebogen zur Erforschung der Südslawen heraus und verfasste eine ganze Flut von Schriften über das ‚südslawische Volksleben‘. Gleichzeitig wurden schon bald Spannungen zwischen streng habsburgtreuen Positionen, wie sie beispielsweise Krauss vertrat, und den entstehenden nationalen Volkskunden deutlich. Es entstand eine Konkurrenzsituation, die letztendlich zu Ungunsten von Krauss und der Ethnographischen Commission entschieden wurde. Eine andere Strategie verfolgte die Wiener Slawistik, die „slavische Volks- und Altertumskunde“ explizit einschloss, mit dem Versuch, Wien als, so Rudolf Jagoditsch, „geistiges Zentrum der Slaven“ zu etablieren. Die Peripherie, mitsamt ihren nationalen Identitäten oder Identitätsbestrebungen, sollte solchermaßen ins Zentrum integriert und dabei gleichzeitig entschärft werden. Die Wiener Slawistik war in der Doppelmonarchie, „eine ausschließlich slavische Domäne“, in der zwar Platz für „slavisches Nationalgefühl“ sein sollte, der Bestand der Monarchie aber gerade dadurch nicht in Frage gestellt werden sollte. 22 Einheimische Slawisten wie Milan Rešetar oder Matthias Murko fungierten als „Berichterstatter“ und „Übersetzer“ der nationalen Volkskunden für die deutschsprachige Öffentlichkeit bis nach Berlin. 23 Die Beziehungen verliefen also nach einem sehr modernen Muster: einheimische Slawisten informierten eine fremde, deutschsprachige Leserschaft. Das für die Ethnologie so zentrale und auch problematische Verhältnis von Beobachter-Sein und Beobachtet-Werden ist also im Fall der österreichischen bzw. südslawischen Volkskunde von vornherein anders ausgerichtet als in Deutschland und Westeuropa. Die Distanz zwischen Forscher und Erforschten ist deutlich geringer oder beide fallen tendenziell sogar in eins. Wie wirkte sich nun der Erste Weltkrieg auf diese spezielle Situation einer zentralisierten und zugleich multinationalen Volkskunde aus? Anders als für die deutsche Völkerkunde, die den eigenen Krieg einfach ausblendet und die mäßig produktive deutsche „Kriegsvolkskunde“, erwies sich der Krieg für die Österreichische Volkskunde vor dem skizzierten Hintergrund durchaus als sehr anschlussfähig. Insbesondere die im Ersten Weltkrieg besetzten Gebiete eröffneten neue Forschungsfelder. 24 Die deutschsprachige Budapester Tatung“, in: Dies. (Hg.): Kroatische Volkskunde/ Ethnologie in den Neunzigern. Wien: Verlag des Instituts für Europäische Ethnologie 2001, S. 9-27, S. 13. Die Ausführungen zur Genese der österreichischen Volkskunde orientieren sich an Johler: „Das Ethnische als Forschungskonzept.“ 22 Vergleiche Čapo Žmegać/ Johler/ Kalapoš/ Nikitsch: „Einbegleitung“, S. 15. 23 Ebd., S. 16. 24 Vergleiche hierzu Johler/ Marchetti/ Scheer: Doing Anthropology in Wartime and War Zones, sowie insbesondere Marchetti, Christian: „Austro-Hungarian Volkskunde at War: Scientists on Ethnographic Mission in World War I“, in: Doing Anthropology in Wartime and War Zones, S. 207-230. <?page no="149"?> 149 Kriegsethnologie als Literatur geszeitung Pester Lloyd beschreibt 1917 die generellen Vorzüge des aktuellen Krieges für wissenschaftliche Unternehmungen folgendermaßen: Es ist eine alte, bekannte Tatsache, daß der Krieg die Wissenschaft fördert, er erweitert und vertieft sie. […] Von ganz weltfremden Wissenszweigen abgesehen, hat gegenwärtig jede Disziplin die befruchtende Wirkung des Weltkrieges gespürt, und deren Vertreter, auch die, die unter Waffen im Felde stehen, fühlen die Pflicht, die blutige Gunst voll zu nutzen. […] Man erkundet, studiert früher verschlossene Gebiete und fremdenfeindliche Völker und Stämme, dringt in deren Eigenart ein, sucht sich wechselseitig zu verstehen, zeichnet, sammelt und notiert Altertümer, Spracherscheinungen, Trachten, Sitten und Gebräuche, mißt Höhen, skizziert Flußläufe und fahndet nach Erzen und geologischen Daten. 25 Die „früher verschlossenen Gebiete“, um die es hier geht, waren, wie wir wissen, Gebiete des sogenannten Balkans. Auffällig ist, wie im weiteren Verlauf des Artikels die zu erforschenden Gebiete mit überseeischen Kolonien - dem klassischen Forschungsfeld der Völkerkunde - kurzgeschlossen werden. So heißt es weiter in dem Artikel: Wohl das notgedrungen vernachlässigste Gebiet von Europa war bis zum Weltkriege die große Südosthalbinsel. Die weite Entfernung, die schlechten Kommunikationen, die Unwirtlichkeit, die Notwendigkeit, gleich kostspielige Expeditionen auszurüsten, die vielen Grenzen, Mißgunst und Mißtrauen hielten den wissenschaftlichen Strom ab, der sich leichter nach dem durch den Kolonialbesitz der Großmächte erschlosseneren Afrika und der herrenlosen Arktis und Antarktis wandte. 26 Hatte sich die österreichische Volkskunde also vor dem Krieg tendenziell als eine Disziplin entwickelt, die ihre Peripherie ins Zentrum inkludierte beziehungsweise inkludieren musste, werden die Grenzen hier wieder deutlich schärfer gezogen. Die von der Wiener Slawistik begonnene Ethnologie des (multiplen) Eigenen verschiebt sich hin zu einer auf den kolonialen Anderen ausgerichteten „Wissenschaft vom Fremden“. Es lässt sich damit, wie dies z.B. Christian Marchetti versucht, die Genese der Österreichischen Volkskunde auch aus einer Kriegs-Volkskunde erzählen. Okkupation, Annexion und Weltkrieg erzwangen, so Marchetti, „eine intensive Deutung des ‚Fremden‘ und zwar von solchen Fremden, die zum Teil auch propagandistisch geschmähte Kriegsgegner waren.“ 27 Während des Ersten Weltkriegs fanden eine Reihe von „Balkanexpeditionen“ statt, über die in Fachzeitschriften relativ intensiv berichtet 25 „Die Balkanforschung“, in: Pester Lloyd (12.5.1917), S. 6f. 26 Ebd. 27 Häußer [Marchetti], Christian: „‚Balkan-Expeditionen‘ und Österreichische Volkskunde. Zur Erkundung des ‚Fremden‘ und zur ‚Erfindung‘ einer Wissenschaft in Österreich-Ungarn“, in: kakanien revisited, abrufbar unter: www.kakanien.ac.at/ beitr/ materialien/ MHaeusser1.pdf v. 24.4.2005, S. 1-7, S. 2 (21.6.2014). <?page no="150"?> 150 Daniela Kirschstein wurde. 28 Haberlandt nannte in seinen aus den „Expeditionen“ entstandenen Publikationen explizit ihren Entstehungskontext, indem er sie als „Ergebnisse einer Forschungsreise in den von den k.u.k. Truppen besetzten Gebieten“ einführt. 29 Die Aufgaben, denen sich die Forscher zu stellen hatten, waren, so Haberlandt, eine Orientierung über die wichtigsten Bevölkerungsverschiebungen während des Krieges zu erlangen; Vorarbeiten zur Anfertigung einer einwandfreien, die gegenwärtigen Verhältnisse wiedergebenden ethnographischen Karte, beziehungsweise Kontrollierung des vorhandenen ethnographischen Kartenmaterials, besonders für die serbisch-montenegrinisch-albanischen Grenzgebiete; Feststellung der Stammesbeziehungen und Blutracheverhältnisse, Orientierung über bedrohte volkskünstlerische Denkmäler und entwicklungsfähige Hausindustrien. 30 Die Balkanexpedition wird hier im relativ deutlich kolonialen Gestus der Vermessung, Kartographierung, Sortierung, Kontrolle des Fremden verortet. Am Ende des Krieges wurden die Erträge der Balkanexpeditionen schließlich in Wien im Rahmen der Ausstellung Zur Volkskunde der besetzten Balkangebiete präsentiert. Der Veranstalter lobte „die Früchte eines Zusammenwirkens von Front und Wissenschaft, wie es vor dem Weltkriege nie gedacht werden konnte“. 31 Es könnten noch viele solcher Beispiele der gegenseitigen „Befruchtung“ von Krieg und Volkskunde angeführt werden, Christian Marchettis zitierte Monographie Balkanexpedition ist hier äußerst aufschlussreich. III. Ich möchte aber noch ein letztes Mal den Bogen zurück zur Realisierung oder eben auch Nicht-Realisierung eines ethnoliterarischen Potenzials im Hinblick auf die Sinnhaftmachung des Krieges zurückkommen. Obwohl sich die österreichische Volkskunde offensichtlich und angesichts ihrer geopolitischen Sonderstellung auch naheliegenderweise intensiv mit dem eigenen Krieg auseinandersetzte, lassen die skizzierten Aktivitäten auch den Schluss zu, dass die Wiener Volkskunde den Krieg zwar für ihre Forschungen nutzte, ihn selbst als Forschungsgegenstand aber ausschloss. Der Krieg eröffnete 28 Aus diesen „Expeditionen“ gingen u.a. Leopold Forstners Studien in Albanien und Mazedonien oder Artur Haberlandts Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und Serbien und der Aufsatz Zur physischen Anthropologie der Albanesen hervor. Vergleiche dazu ausführlich: Häußer [Marchetti]: Balkan-Expeditionen und Marchetti, Christian: Balkanexpedition. Die Kriegserfahrung der österreichischen Volkskunde - eine historisch-ethnographische Erkundung. Tübingen: Vereinigung für Volkskunde e.V. 2013. 29 Zitiert nach Häußer [Marchetti]: Balkan-Expeditionen, S. 4. 30 Ebd. 31 Ebd. <?page no="151"?> 151 Kriegsethnologie als Literatur Forschungsfelder, er verschaffte Zugang, kreierte Forschungsobjekte, aber seine Strukturen selbst wurden (noch) nicht zum Objekt der Beobachtung. Der (im Ersten Weltkrieg vielfach erfahrene) Kulturbruch des Krieges blieb weiterhin, wie bei Weule, auf den als ethnisch fremd konstruierten Anderen verschoben. Dies ändert sich, wie ich abschließend zeigen möchte, in den Kriegen der 1990er-Jahre in Südosteuropa. Anders als in Westeuropa im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden der Krieg im eigenen Land und dabei die alltäglichen, ethnischen, religiösen etc. Strukturen und Formen, die er zerstört oder hervorbringt, in den ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens noch in seinem Verlauf zum Gegenstand ethnologischer Forschungen und Texte. 32 Auffällig ist dabei, dass die Formen, in denen diese Texte verfasst sind, sehr häufig und häufig explizit literarische sind. Viele Texte verstehen sich als Essays, als Erinnerungsfragmente oder als dialogische Narrationen. So stellt Maja Povrazanović Frykman ihrem Aufsatz „Kultur und Angst“ eine kurze methodische Präambel voraus, die weiteren Ausführungen lesen sich aber als Collage aus unkommentierten Zeitungsschlagzeilen, teilweise humoristischen Kriegsanekdoten, Gerüchten und tagebuchartigen Aufzeichnungen. 33 Die immer schon brüchige Grenze zwischen Ethnologie und Literatur scheint angesichts des Krieges endgültig zu kollabieren. Denn eine „rein“ wissenschaftliche Herangehensweise erscheint angesichts der Realität des Krieges unangemessen: Scientific language often seemed too cold and selective for this difficult and chaotic reality […]. Systematic and analytic reflections on the war as a cultural situation lend unintentional legitimacy to a catastrophic human state: each definition automatically becomes an euphemism. 34 Genausowenig hält Malinowskis Ideal des teilnehmenden Beobachters den Zumutungen des Krieges an seine teilnehmenden Beobachter stand. Frykmann begründet ihre „biographische Perspektive“ mit der fehlenden Distanz zum Krieg. „Eine wirkliche Erforschung der Angst im Kriegsalltag“ muss, so Frykmann, „einer Zeit nach dem Krieg vorbehalten bleiben“. 35 Frykmanns Interpretation weist hier die eigene Interpretationsleistung zurück - der Krieg wird als interpretatorisch (noch) nicht einholbar dargestellt, eher scheint er selbst den ethnologischen Text zu affizieren. Eine Ethnologie des eigenen Krieges zu schreiben, versetzt die Autorinnen in ein „allied scientific- 32 Vergleiche insbesondere: Feldman, Lada Čale/ Senjković, Reana/ Priča, Ines: Fear, Death and Resistance. An Ethnography of War: Croatia 1991-1992. Zagreb: Institute of Ethnology and Folklore Research, Matrix Croatica, X-Press 1993. 33 Povrazanović Frykman, Maja: „Kultur und Angst“, in: Čapo Žmegać/ Johler/ Kalapoš/ Nikitsch: Kroatische Volkskunde/ Ethnologie in den Neunzigern, S. 291-315. 34 Feldman, Lada Čale/ Senjković, Reana/ Priča, Ines: „Poetics of Resistance“, in: Fear, Death and Resistance. S. 1-71, S. 1. 35 Frykman: Kultur und Angst, S. 314. <?page no="152"?> 152 Daniela Kirschstein intellectual-human dilemma“, 36 die Erfahrung des Krieges sprengt und verunmöglicht einerseits seine Beschreibung: „There were many scenes, words and experiences in the year behind us, which could have struck one speechless. Silence is, after all, the most sincere answer to shock.“ 37 Andererseits wird dem Schreibakt ein widerständiges Potenzial zugeschrieben, wer schreibt ist (dem Krieg) nicht mehr nur ausgeliefert, sondern gewinnt Deutungshoheit über das eigene Erleben zurück: „our contributions […] have the privilege of being presented under the mark of decision.“ 38 Was in den Kriegsethnologien der 1990er-Jahre deutlich wird, lässt sich zunächst wieder als gleichzeitig „urliterarische“ und „urethnographische“ Situation fassen: als das oben zitierte „Verstehensdilemma, das in einem Schreibakt mündet“. Dieser Schreibakt resultiert allerdings, anders als die Balkanexpeditionen des Ersten Weltkriegs, in keiner identitäts-stabilisierenden Narration, sondern im Gegenteil in Formen fragmentierter Texte, die (noch) keinen neuen Sinn bereitstellen und auch genau das abbilden möchten. „Nothingness has no form, so how can it be presented? “ fragt Ivana Maček im Vorwort ihrer ethnographischen Studie zur Belagerung Sarajevos. 39 Und wie Frykmann beantwortet sie die Frage nach der Darstellbarkeit von Sinnverlust oder -absenz durch die Konzentration auf im Krieg zerstörte und entstehende Formen und gerade nicht auf Gründe des Krieges (die Narration erfordern würden). Noch expliziter weist Ines Priča auf den Zusammenhang von Formsuche und Sinnverlust in ihrer Kriegsethnologie hin: „The shape of this work resulted from the request that everyday life in war is given a textually pliable, almost mimetic pattern. That is why it is fragmentary and unavoidably unaccomplished.“ 40 Liest man dies im globalen Kontext ethnologischer Fachgeschichte, ist die naheliegendste Erklärung für diese ethnoliterarische Schreibweise, die in vielen ethnologischen Kriegstexten der 1990er-Jahre deutlich wird, schlicht die Tatsache, dass die Jugoslawienkriege genau in eine Zeit fallen, in der in der Ethnologie als Resultat der Writing-Culture-Debatte sowieso Selbstreflexion, das eigene Schreiben, die Autorität des Forschers/ der Forscherin ausgesprochen en vogue sind. Verschiebt man den Fokus von solchen Globalisierungsprozessen von Methoden und Theorien hin zu der lokalen Fachgeschichte, die ich anfangs in Ansätzen nachgezeichnet habe, lässt sich die Fokussierung auf den eigenen Krieg, die spezifische Beobachtungshaltung auf das eigene Fremde und eben nicht auf den fremden oder fremdgewordenen Anderen, jedoch auch 36 Feldman/ Senjković/ Priča: Poetics of Resistance, S. 1. 37 Ebd., S. 2. 38 Ebd. 39 Maček, Ivana: „Preface“, in: Dies.: Sarajevo Under Siege. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2009, S. vii-xii, S. xi. 40 Priča, Ines: „Notes on ordinary life in war“, in: Dies./ Čale Feldman/ Senjković: Fear, Death and Resistance, S. 44-71, S. 44. <?page no="153"?> 153 Kriegsethnologie als Literatur gerade mit dieser Fachgeschichte erklären, also daraus, dass sich nationale Ethnologien in Südosteuropa im Kontext der Doppelmonarchie als Ethnologien etabliert hatten, die von vornherein auf die Beobachtung des Eigenen als Fremdem ausgerichtet waren beziehungsweise sein mussten. Das imperiale Erbe hat, so Ines Priča, die nationalen Ethnologien Südosteuropas dazu gebracht, die Rolle empirischer Enklaven zu spielen und eine epistemologische Position einzunehmen, die ihnen […] eine beständige Selbstdeutung als den einzigen legitimen Weg des wissenschaftlichen Umgangs mit den kulturellen Phänomenen vorschreibt. 41 Gerade in diesem aus dem imperialen Kontext entwachsenen Zwang der ständigen Selbstdeutung liegt, das wird in den Kriegsethnologien deutlich, gleichzeitig auch ein besonderes Potenzial, das sich in der ethnoliterarischen Verbindung von Literatur und Ethnologie entfaltet. Literatur lässt sich, mit Dirk Baecker, als eine Möglichkeit verstehen, „die Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft zu beobachten, als geschähe es von außerhalb.“ 42 Und genau hierin wird Literatur tatsächlich zum prädestinierten Medium der Ethnologie. Die Beobachtung, dass der eigene Krieg im Ersten Weltkriegs eine Leerstelle bleibt, in die sich Literatur einschreibt, in der Literatur, wenn man so will, als Ethnologie agiert, lässt sich hier nochmal anders perspektiveren. Der Kulturbruch des Krieges wird im ethnoliterarischen Modus nicht entschärft, sondern als Literatur gelingt es der Ethnologie, das Scheitern kohärenter Bedeutung angesichts des modernen Krieges weniger zu deuten als erscheinen zu lassen. Ethnologie, die sich mit dem eigenen Krieg konfrontiert sieht, ist, sofern sie nicht verstummen möchte, auf Literatur angewiesen. Ethnologie im Krieg ist Ethnologie als Literatur. 41 Priča, Ines: „ ‚ To be here - to publish there‘. Zur Situation einer kleinen Europäischen Ethnologie“, in: Čapo Žmegać/ Johler/ Kalapoš/ Nikitsch: Kroatische Volkskunde, S. 31- 50, S. 33. 42 Baecker, Dirk: Wozu Kultur? Berlin: Kadmos 2001, S. 83. <?page no="154"?> 154 Daniela Kirschstein <?page no="155"?> 155 Das Imperium und das Imaginäre Vahidin Preljević Das Imperium und das Imaginäre. Zur Poetik und Politik in Hugo von Hofmannsthals Essayistik 1914-1918 I. Anfang April 1919 kommt es zu einer kurzzeitigen aber bemerkenswerten Krise in der Beziehung zwischen Hugo von Hofmannsthal und Richard Beer- Hofmann. Der Ausgangspunkt des Streits zwischen den beiden jahrzehntelangen Freunden und Veteranen des Jung-Wien sind einige Äußerungen Hofmannsthals im Brief vom 20. April, in denen eine generelle Einschätzung des Werks von Beer-Hofmann enthalten ist. Der unmittelbare Anlass ist die Aufführung seines Stücks Jaákobs Traum vom 5. April: Mir geht es eigen mit dem Stück. In der Erinnerung wird mir der eine Zug, der mir fremd darin ist, der chauvinistische oder national-stolze - worin ich, wie im Dünkel u.a. in der Selbstgerechtigkeit des Einzelnen, nicht anders kann als die Wurzel alles Bösen sehen - weit fühlbarer und verstört mich beinahe wie ein fremder u. böser Zug in einem sonst lieben u. schönen Gesicht. So ist es mir beim Charolais mit dem Zug der unbegreiflichen Unmenschlichkeit gegangen, die für mich darin liegt, daß er die Frau ermordet, und das noch dazu in pedantischen frevelhaften Formen eines Gerichtsverfahrens, und auch im „Tod Georgs“ ist ein solcher Zug - nehme ich aber dann das Gedicht wieder in die Hand, so tritt der Zug zurück - ohne zu verschwinden - und ich sehe in ein vertrautes geistiges Gesicht, das mir, als das Ihre, lieb u. teuer ist. 1 Beer-Hofmanns Reaktion war ein langer Brief, in dem er den Vorwurf zurückweist, in seinen Werken mit jüdischen Stoffen sei Chauvinismus zu finden. In langen Erläuterungen, die mit Zitaten aus diesen Texten durchsetzt sind, wehrt sich der Freund gegen solche Interpretationen und zeigt sich zutiefst enttäuscht von dieser Lesart Hofmannsthals. Ohne den Briefwechsel einge- 1 Hofmannsthal, Hugo von: Hugo von Hofmannsthal - Richard Beer-Hofmann. Briefwechsel. Hg. v. Eugene Weber. Frankfurt: Fischer 1972, S. 145. <?page no="156"?> 156 Vahidin Preljević hender untersuchen oder sich mit dem komplizierten Verhältnis der beiden Freunde hier näher auseinandersetzen zu wollen, konzentrieren wir uns auf die Begründung Hofmannsthals. In ebenso langwierigen Darlegungen entschuldigt er sich bei Beer-Hofmann für die kränkenden Thesen, die er spontan, aus einer augenblicklichen Stimmung heraus, formuliert haben will. Zugleich jedoch sei sein verletzender Brief aus einem „zutraulichen und […] liebevollen Denken an Sie hervorgegangen“ 2 . Der Brieftext ist eine leidenschaftliche Liebeserklärung an einen Freund. Aus ihm stammen die immer wieder zitierten Äußerungen Hofmannsthals, die - oft ohne den Entstehungskontext zu reflektieren - das enge Verhältnis der beiden dokumentieren sollen. 3 Neben den konkreten, von Hofmannsthal minutiös rekonstruierten Umständen der Entstehung jener fatalen Aussagen spielte jedoch auch eine dauerhafte Einstellung Hofmannsthals eine entscheidende Rolle. Diesen eigenen Interpretationshorizont reflektiert Hofmannsthal wie folgt: Das über Jaákobs Traum Gesagte ist purer Unsinn - und doch ist dieser Punkt vielleicht der einzig Verzeihbare. In diesem Punkt hat der Krieg mich krank gemacht. Es war mein Schicksal, viele Dinge doch aus größerer Nähe, nicht bloß aus Berichten, wahrzunehmen und dabei ist mir das Verhältnis zur eigenen Nation aufs schwerste erschüttert worden. Mir flößen nun diese rätselhaften Entitäten, die Nationen, ein solches Grauen ein, daß jedes harmlose Wort, das auf die Nation reflectiert, mich krank macht. Vielleicht wären Chinesen die einzigen, aus deren Mund ich momentan eine Äußerung des nationalen Selbstgefühls - ob des triumphierenden oder leidenden - ertrüge. 4 Im Folgenden bemüht sich Hofmannsthal, Verständnis dafür aufzubringen, dass der „Nationalstolz“ ein Motiv ist, das im Stoff des Dramas angelegt und nicht vermeidbar gewesen sei und sich daher nicht aus der intentio auctoris ergebe, dieses Merkmal affirmativ darstellen zu wollen. Diese Aversion gegen den Nationalismus, gibt Hofmannsthal zu, sei jedoch bei ihm so stark, dass sie zu einer traumatischen Wahrnehmungsdisposition - zu einer Obsession - geworden sei. Immerhin treibt diese Obesssion den sonst so umsichtigen Hofmannsthal dazu, eine langjährige Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Man könnte sich mit einigem Recht mit der Frage auseinandersetzen, ob diese Kritik Beer-Hofmanns weniger auf eine grundsätzliche Einstellung zum nationalistischen Chauvinismus zurückgehe, oder sich vielmehr aus einem tieferen 2 Briefwechsel, S. 160. 3 „Ihre Hände, Ihr Ernst, Ihr Scherz, Ihre Zustimmung - wie sehr! - aber auch Ihr Widerspruch: alles ist für mich voll Gehalt, anziehend, merkwürdig, an die Vergangenheit erinnernd, zugleich aber auch Zukunft enthaltend, oder etwas anderes, das mit Zukunft schlecht bezeichnet ist: vielleicht Hoffnung, Hindeutung auf Höheres […] denke ich zurück, so sind es drei Menschen, deren Wohltaten an mir ich nie aufwiegen kann: mein Vater, ein anderer unendlich guter charaktervoller und wohlwollender Mensch, der nun tot ist, und Sie.“ Briefwechsel, S. 162 und S. 163. 4 Briefwechsel, S. 167. <?page no="157"?> 157 Das Imperium und das Imaginäre antisemitischen Affekt des Autors herleitet, der, aus einer Konvertitenfamilie väterlicherseits stammend, seine eigenen Traumata verarbeitet. Doch solche vulgärpsychoanalytischen Ansätze, die man in einigen Biographien Hofmannsthals findet, 5 würden zu sehr die Person in den Vordergrund rücken und den Autor als Schnittstelle der (eigenen wie der fremden) Diskurse nach Foucault aus den Augen verlieren. 6 Es wird also im Folgenden darum gehen, die Genese der im Briefverkehr mit Beer-Hofmann geäußerten Nationalismuskritik Hofmannsthals werk- und diskurgeschichtlich zu rekonstruieren. Was in der genannten Stelle im Brief an Beer-Hofmann zum Ausdruck kommt, ist Hofmannsthals Sicht, dass der Ideologie des Nationalismus die Verantwortung für die Schrecken des Großen Kriegs zuzuschreiben ist. Daher rühre nicht nur seine Skepsis gegenüber diesem geschichtlichen Phänomen, sondern gegenüber seinem eigenen nationalen Selbstverständnis. 7 Die Analyse dieser Einstellung, so erwartbar sie auch aus der Sicht eines agilen Propagandisten des k.u.k. Kriegsministeriums sein mag, könnte vielleicht einen Zugang zu einem komplizierten und oft mit einfachen Erklärungen übergangenen Kapitel des Werks von Hofmannsthal sein. 8 Die in Frage kommenden Texte zwischen 1914 und 1918 wurden hauptsächlich als einsilbige propagandistische Schriften abgetan. 9 Ohne ihren Charakter als Gebrauchsliteratur ganz in Frage stellen zu wollen, könnte die genaue Lektüre auch einen Einblick in das gesellschaftliche und kulturelle Imaginäre der Jungwiener Generation geben und womöglich auch einen Zusammenhang von Politik und Poetik in dieser Epoche beleuchten. Das kollektive Imaginäre wäre hier nach Cornelius Castoriadis die „elementare und nicht weiter zurückführbare Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen“. 10 Dabei formiert sich das kollektive Imaginäre um einige Schlüsselfragen nach dem Wir, nach dem Charakter der eigenen Gemeinschaft, nach ihren Bedürf- 5 Weinzierl, Ulrich: Hugo von Hofmannsthal. Skizzen zu einem Bild. Wien: Zsolnay 2005. 6 „Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Diskurse zirkulieren und rezipiert würden, ohne dass es die Autor-Funktion gäbe. [...] Der Autor ist keine unendliche Quelle von Bedeutungen, die das Werk erfüllten, der Autor geht dem Werk nicht voraus.“ Foucault, Michel: Was ist ein Autor? in: Ders: Schriften zur Literatur. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003, S. 234-270, S. 259. 7 Die Krisen der personalen und kollektiven (vor allem der jüdischen) Identität in der österreichischen Jahrhundertwende wurden von Jacques Le Rider eingehend untersucht. Le Rider, Jacques: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Aus dem Französischen übersetzt von Robert Fleck. Wien: ÖBV 1990. 8 Nach wie vor eine gute Einführung in die Entwicklung des politischen Denkens bei Hofmannsthal gibt Hermann Rudolph, der ausgehend vom ethischen Problem der Daseinsführung, die Genese des Politischen vom Frühbis ins Spätwerk verfolgt. Ders.: Kulturkritik und konservative Revolution. Tübingen: Niemeyer 1971. 9 Siehe Rudolph: Kulturkritik, S. 81f. Vgl. die knappe Darstellung der Kriegsprosa bei Mayer, Mathias: Hugo von Hofmannsthal. Stuttgart-Weimar: Metzler 1993, S. 162f. 10 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1984, S. 218. <?page no="158"?> 158 Vahidin Preljević nissen und Wünschen. 11 Naturwüchsige Identität gibt es nicht, sagt Jan Assmann: „Die Evidenz kollektiver Identität unterliegt einer ausschließlich symbolischen Ausformung“ 12 ; der Körper der Nation 13 ist daher eine „imaginäre Größe, ein soziales Konstrukt“, das jedoch höchst realitätswirksam ist. 14 Das Imaginäre wäre auch nach Castoriadis als ein Element zu beschreiben, das die symbolische Ordnung „überdeterminiert“, es ist das „ursprünglich strukturierende Moment“, das aber keine unveränderliche Struktur aufweist, sondern geschichtlich bestimmt ist. 15 Dabei gilt es nicht nur zu bedenken, dass das Verhältnis von „Wirklichkeit“ und „Imagination“ ein dynamisches ist, sondern auch, dass in „beiden Richtungen ein beständiger Austausch“ 16 stattfindet, dass die Einbildungskraft zwar gesellschaftlich oder technisch 17 bedingt sind, dass sie jedoch durchaus „produktives, schöpferisches“ 18 Potential beeinhaltet - und dass oft nicht das Bild die Wirklichkeit nachahmt, sondern die „Wirklichkeit das auf sie angewandte Bild.“ 19 Die Frage nach der Strukturierung des Imaginären muss man - und kann man - nicht eindeutig beantworten. Der imperiale Kontext - und von diesem gehen wir im vorliegenden Zusammenhang zunächst hypothetisch aus - wird somit als the „structure of attitude and reference“ thematisch, welche „[is] prevalent and influential in all sorts of ways, forms and places […] it is close to the historical world; and far from beeing fixed and pure, it is hybrid, partaking of racial superiority as much as of artistic brilliance, of political as of technical authority, of sim- 11 Castoriadis: Gesellschaft, S. 252. 12 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. München: Beck 1992, S. 132. 13 Siehe dazu die neuere Untersuchung von Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank und Ethel Matala de Mazza: Der ktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/ Main: Fischer 2007. 14 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 132. 15 Castoriadis: Gesellschaft. Ausführlicher: „Dieses Element, das der Funktionalität jedes institutionellen Systems eine besondere Ausrichtung gibt und das die Wahl und die Verknüpfungen der symbolischen Netze überdeterminiert; dieses Element, das sich jede geschichtliche Epoche schafft und in dem sie unnachahmlich ausdrückt, wie ihre eigene Existenz, ihre Welt und ihre Beziehung zu dieser erlebt, sieht und gestaltet; dieses ursprünglich strukturierende Element, dies zentrale Bedeutete/ Bedeutende, diese Quelle allen unzweifelhaften und unbezweifelbaren Sinns, dieser Träger aller Verknüpfungen und Unterscheidungen zwischen Wichtigem und Unwichtigem, dieser Ursprung der Seinsbereicherung, den die Gegenstände praktischer, affektiver oder intellektueller, individueller oder kollektiver Besetzungen erfahren - dieses Element ist nichts anderes als das Imaginäre der Gesellschaft oder der jeweiligen Epoche.“ S. 249-250. 16 Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der ktive Staat, S. 57. 17 Die Verbindung von Technik und Imagination war ein Dauerthema von Dietmar Kamper. Siehe unter anderem seine Schrift: Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie. München: Fink 1995. 18 Castoriadis: Gesellschaft, S. 251. 19 Koschorke / Lüdemann / Frank / Matala de Mazza: Der ktive Staat, S. 57. <?page no="159"?> 159 Das Imperium und das Imaginäre plifyingly reductive as of complex techniques“. 20 Wir setzen keineswegs selbstverständlich voraus, dass eine solche imperiale Struktur und Wahrnehmung auch bei Hugo von Hofmannsthal vorherrscht. Es gibt keinen Automatismus in dieser Hinsicht, obwohl freilich das Bekenntnis des Autors zur Monarchie eine Identifizierung mit dem Imperium nahelegt. Wir werden aber zu fragen haben, wie genau das Imperiale bei diesem Autor als politisch Imaginäres beschaffen ist. Literatur hat nun von Amts wegen mit Imaginärem zu tun; historisch vor allen anderen war sie es, die Bilder und Narrative 21 produzierte, welche den imaginären kollektiven Raum formen, besetzen und welche auch politisch instrumentalisiert wurden. Das gilt in einem hohen Maße auch für nichtliterarische und politische Texte von eminent literarischen Autoren - und diese werden hier vorzugsweise herangezogen. Die Konzentration auf die Texte aus der Periode 1914-1918 hat damit zu tun, dass hier Hofmannsthal überhaupt erst einen Begriff des Politischen entwickelt und zugleich seine kulturpolitischen Ansichten formiert, die sich als grundlegend für die Essays in den zwanziger Jahren erweisen werden. Es kommt noch etwas hinzu: es scheint, dass besonders in Krisenzeiten, in denen die realen Rahmenbewegungen sich radikal verändern, wie in der von uns anvisierten Epoche des Ersten Weltkriegs, das kollektive Imaginäre in Bewegung kommt und plötzlich, wie in Hofmannsthals politischen Texten, lesbar wird. II. Hugo von Hofmannsthals systematische Auseinandersetzung mit politischen Fragen beginnt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er schreibt in den folgenden vier Jahren insgesamt mehr als dreißig Prosatexte, die äußerlich die Bandbreite von eher kurzen publizistischen Kommentaren zu verschiedenen aktuellen Fragestellungen (z.B. Boykott fremder Sprachen? , 1914), über Reiseberichte und Reportagen (Unsere Militärverwaltung in Polen, 1915) bis hin zu längeren programmatischen Essays (Grillparzers politisches Vermächtnis, 1915) abdecken. Der Ausgangspunkt für die Hofmannsthal’sche Entdeckung der Politik ist wie bei vielen deutschsprachigen Autoren auch das sogenannte „Augusterlebnis“, die anfängliche Kriegseuphorie, die vor allem in ersten Texten (Appell an die oberen Stände, Die Bejahung Österreichs, beide 1914) eine zentrale Rolle spielt, auch wenn bei Hofmannsthal die oft in eine Kriegsmystik umschlagende Emphatik immer auch von einem nüchternen und distanzierenden Ton 20 Said, Edward: Culture and Imperialism. New York: Knopf 1993, S. 111f. 21 Das Standardwerk zu kulturellen Narrativen im deutschsprachigen Raum ist Wolfgang Müller-Funks Die Kultur und Ihre Narrative. Eine Einführung. Zweite überarbeitete und erweiterte Au age. Wien-New York: Springer 2007. <?page no="160"?> 160 Vahidin Preljević konterkariert wird. Aber auch für ihn ist zunächst der Kriegsausbruch das „Ungeheure“, das „völlig Unfaßliche“ und „Berauschende“ gewesen, in dem, wie in einem dunklen Traum „Gottes Licht hinzuckte, Gottes Atem hinwehte, fühlbarer als in öden, stockenden Jahren, die wir zuvor zu ertragen hatten.“ 22 Die Figur des religiösen Ernstes, des Abschieds von der Gleichgültigkeit 23 und einer Epoche der Leere ist präsent in der Autorschaft Hofmannsthals, in diesem wie auch in anderen Texten der Kriegszeit. Eine weitere, mit der letzteren zusammenhängende Figur ist die der Einheit von „Geist und Gesinnung“, von „Geist und Politik“, in der er die Kriegsrealität wiederzuerkennen glaubt. Es handelt sich um ein Denkmotiv, das seine Schriften der zwanziger Jahre prägen wird; vor allem in der „Schrifttumrede“ findet sich dieselbe Formulierung, auch wenn darin der Akzent auf die kulturelle Kommunikation verlegt wird. 24 Diese Einheit meint nicht so sehr die Aufhebung der sozialen Trennung im „Volk“ - der Appell im zitierten Text ergeht immerhin an die „oberen“ Stände - als vielmehr die Überwindung der Kluft zwischen Denken und Handeln, Bedeutung und Sein, Kunst und Leben, die Hofmannsthal eindeutig als ein ästhetisches Erlebnis darstellt und mehrfach im genannten Text als „schön“ bezeichnet. 25 Obwohl Hofmannsthal für die Öffentlichkeit die „höhere Wahrheit“ des Kriegsausbruchs feiert, zeigen seine Aufzeichnungen, dass er eine innere Skepsis gegenüber der Euphorie bewahrt. So heißt es in einer Notiz, die etwa einen Monat nach dem „Appell“ entstanden ist: „Die furchtbare Gewalt der Lüge, wie sie sich in diesem Krieg offenbart - bis zum Nicht-mehr-aufkommen-Können der Wahrheit (Silvia! )“. 26 Er bezieht sich mit „Silvia“ auf das frühere Fragment seiner unveröffentlichten Komödie, aber das Motiv der unausprechbaren oder verschütteten Wahrheit wird auch in dem zentralen literarischen Werk dieser Periode, Dem Schwierigen (1917), das in der Kriegs- 22 Hofmannsthal, Hugo von: Sämtliche Werke (SW). Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. v. Rudolf Hirsch u.a. Bd. XXXIV, Reden und Aufsätze 3. Hg. von Klaus E. Bohnenkamp et al. Frankfurt 2011, S. 98. 23 „In Augenblicken wie diesem, den wir durchleben, gibt es kein gleichgültiges Handeln.“ (SW XXXIV, S. 100) 24 „[…] daß der Geist Leben wird und Leben Geist, mit anderen Worten: zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation.“ (Hofmannsthal: RuA 3, S. 40). Siehe dazu: Preljević, Vahidin: „‚... in einer zauberhaften Transfusion lebendigen Bluts‘: Hugo von Hofmannsthals Konzept einer kulturellen Translation“, in: Knafl, Arnulf (Hg.): Über(ge)setzt: Spuren zur österreichischen Literatur im fremdsprachigen Kontext. Wien: Praesens Verlag 2010, S. 33-45. 25 „Die schöne Berauschung ist das Kind des hohen Augenblicks; von ihr haben wir gekostet, und sie wird uns wiederkommen, in glorreichen und in leidvollen Stunden; aber wir dürfen mit ihr nicht unseren Alltag ausschmücken wollen“ (Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 98.) 26 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schieller. Reden und Aufsätze (RuA) Bd. III, S. 522f. <?page no="161"?> 161 Das Imperium und das Imaginäre gegenwart spielt, die Achse des dramaturgischen Konflikts bilden. Das belegt immerhin, dass Hofmannsthal die Komplexität des historischen Geschehens keineswegs ganz aus den Augen verliert. Es zeigt sich aber auch etwas anderes: Hofmannsthal überträgt die Logik seiner literarischen Welt in das Politische, denn erkennbar in all dem sind poetische Obsessionen Hofmannsthals, die ihn eigentlich schon seit seinen Anfängen umtreiben, als er in seiner Rede Poesie und Leben (RuA I) das ästhetizistische Paradigma und damit die ästhetische Konstellation seines eigenen Scheibens und die seines Kreises unter die Lupe nahm, als er zwar die Unmöglichkeit eines unmittelbaren Bezugs zum Leben postulierte, 27 zugleich jedoch zu erkennen gab, dass diese Unmittelbarkeit eine Sehnsucht der ästhetischen Dekadenz blieb. 28 Das ästhetische Phantasma der Authentizität um 1900, das einen Gegenpol zum Kult der Künstlichkeit 29 bildet, hat kaum jemand so eindrucksvoll wie der junge Hofmannsthal inszeniert; es findet sich auch in der politischen Imagination des Autors in den Kriegsjahren, und zwar nicht nur in der „Kriegsbegeisterung“ sondern auch in weiteren wichtigen Momenten. Die „Schönheit“ des Kriegsausbruchs besteht also in der Überbrückung der Kluft zwischen Intellekt und Leben, zwischen Körper und Geist. So heißt es im Aufsatz Boykott fremder Sprachen: „Hier geht alles ineinander: die höchste leibliche Anspannung von Hunderttausenden wird zu Geist, erhebt sich zur Idee, und jede Maßregel des Geistes, jede Errungenschaft des Gehirns greift körperhaft gewaltig in das Ringen um Tod und Leben ein. Jedes Tun wird furchtbar wirklich.“ 30 Die „große Synthese“ besteht in einer allumfassenden Integration, die natürlich auch die Verbindung von Politik und Geist 27 „Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens. Kein äußerliches Gesetz verbannt aus der Kunst alles Vernünfteln, alles Hadern mit dem Leben, jeden unmittelbaren Bezug auf das Leben und jede direkte Nachahmung des Lebens, sondern die einfache Unmöglichkeit: diese schweren Dinge können dort ebensowenig leben als eine Kuh in den Wipfeln der Bäume.“ (Hofmannsthal: RuA I, S. 16.) 28 „[...] ich werde Ihnen das Leben wiedergeben. Ich weiß, was das Leben mit der Kunst zu schaffen hat. Ich liebe das Leben, vielmehr ich liebe nichts als das Leben.“ Ebd., S. 18. Zum Status der Lebensmetapher in der Dekadenzepoche siehe nach wie vor: Rasch, Wolfdietrich: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“, in: Ders: Aspekte der deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1967, S. 1-48. Zum „Leben“ bei Hofmannsthal, siehe unter anderen: Streim, Gregor: Das „Leben“ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des frühen Hofmannsthal. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. 29 Siehe dazu unter anderem: Wuthenow, Ralph-Rainer: Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1978, S. 35-51. 30 Hofmannsthal, Hugo von: Boykott fremder Sprachen, in: SW XXXIV, S. 102. <?page no="162"?> 162 Vahidin Preljević einbezieht. Diese Figur der Integration bildet offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für das politische Denken Hofmannsthals, wie wir es in seiner späteren Ausarbeitung der imperialen Idee Österreichs und Europas verfolgen können. Diese Verknüpfung der lebensphilosophischen Idee der Vereinigung wird plastisch im Aufsatz Grillparzers politisches Vermächtnis (1915). Im großen österreichischen Autor des 19. Jahrhunderts verdichtet sich das „österreichische Selbst“, sodass er zu der repräsentativen Persönlichkeit der österreichischen Geschichte aufsteigt; hinzu kommt, dass er von Hofmannsthal als eine Schwellenfigur zwischen Moderne und Altösterreich gelesen wird. Er „geht aus dem alten Österreich hervor und ragt in das neue hinein“. 31 Das politische Vermächtnis findet sich für Hofmannsthal in seinen Dramen, in denen er sich durch die Darstellung großer politischer Figuren immer wieder dem Phänomen der Herrschaft und damit auch der Politik angenähert hat. Ganz entscheidend ist dabei, dass in Grillparzers Dramen und, wie Hofmannsthal hinzufügt, in seinem Leben, das wahre Politische nicht als eine bloße Machtausübung, sondern als „Kunst des Umgangs“ verhandelt wird. Die politische Größe setzt die Fähigkeit voraus, dass man die „verborgenen Kräfte anzureden weiß“. Immer wieder gebraucht Hofmannsthal für diese „verborgenen Kräfte“ Metaphern der Komplexität: Ineinandergreifen, Verschränkung, Verwandlung. Die große Politik wäre also keine Komplexitätsreduktion, sondern so etwas wie umsichtige Anerkennung des Gemeinsamen in Differenzen. Aus diesem Grund wehrt sich Hofmannsthal im selben Text gegen die moderne Ausdifferenzierung der Diskurssphären. Bezeichnenderweise zieht er auch hier eine Parallele zwischen dem radikalen ästhetizistischen Postulat der Kunstautonomie und einer Professionalisierung der Politik, die eine Separation von anderen Kommunikationssystemen nach sich zieht: Man spricht nicht selten von einer gewissen Kunstgesinnung, wofür L’art pour l’art das Schlagwort ist und die man mit lebhaftem Unmut ablehnt, ohne sich immer ganz klar zu sein, was darunter zu verstehen ist; aber man darf nicht vergessen, daß eine ähnliche Gesinnung auf allen Lebensgebieten sich beobachten ließe, überall gleich unerfreulich: der Witz um des Witzes willen, das Geschäft um des Geschäftes willen, das Faktiöse um des Faktiösen willen, die Deklamation um der Deklamation willen. Es gibt ein gewisses L’art pour l’art der Politik, das viele Übel verschuldet hat. 32 Die voneinander isolierten Diskurse atomisieren die Wirklichkeit und verfehlen sie dabei, da das Leben in seinen vielen Verschränkungen eine solche Trennung nicht duldet. Die Dichtung, vermerkt Hofmannsthal, habe die Aufgabe, dieses Verborgene ans Licht zu bringen, die Politiker sollten es sanft und 31 Hofmannsthal, Hugo von: „Grillparzers politisches Vermächtnis“, in: SW XXXIV, S. 154-158. 32 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 156. <?page no="163"?> 163 Das Imperium und das Imaginäre umsichtig lenken. Doch beide Sphären sind eigentlich untrennbar und dort, wo ihr Zusammenspiel sich in einer großen politischen Figur verwirklicht, so Hofmannsthal, „ergibt sich die Möglichkeit, daß er auch andere produktive Kräfte ins Spiel setze, als die rein politischen.“ Für Hofmannsthal entsteht aus einer solchen Konstellation nichts weniger als „Kultur“, als ein „Bewußtwerden des Schönen in dem Praktischen, als eine vom Geist ausgehende Verklärung des durch Machtverhältnisse konstruktiv Begründeten.“ 33 Die Verklärung der durch Macht gesetzen Wirklichkeit als Kultur? Hofmannsthals ambivalente Definition stützt sich auf Goethe, der von „Vergeistigung des Politischen und Militärischen“ gesprochen habe. 34 Das Politische und Militärische, die das Gebiet des Handelns und der Realität besetzen, werden in Kriegszeiten zu Chiffren der Verknüpfung von Leben und Geist. 35 Zugleich wird in Hofmannsthals Grillparzer-Text dieses besondere Gespür für die Anerkennung der Komplexität des Lebens als etwas spezifisch Österreichisches dargestellt. Hier wird der Weg von einer allgemeinen Kulturphilosophie zum Gebiet der politischen Gegenwart beschritten. So wie Grillparzers Werk dem Einblick in die Verflochtenheiten des Lebens entspringt, so gibt uns gerade dieser Zug seines Charakters den „Begriff eines unzerstörbaren österreichischen Wesens“. Und gerade an dieser Stelle bemüht sich Hofmannsthal um eine Differenzierung der „österreichischen Geistigkeit gegenüber der süddeutschen oder der norddeutschen oder der schweizerischen“. Der Deutsche, so Hofmannsthal, hat im Gegensatz zum Österreicher ein „schwieriges, behindertes Gefühl zur Gegenwart.“ 36 Der Zugang zur „Gegenwart“ ergibt sich für Hofmannsthal aus jener ästhetischen Grundorientierung der Mentalität, dem Sinn fürs Schöne. In einer Notiz, die wohl Ende 1915 entstanden ist, heißt es sinngemäß: „Der Mangel an Takt bei den Deutschen … Mutmaßliche Ursachen. Fehlen des Sinnes für Form. Schiller: die Deutschen sind nur moralisch zu rühren, nicht ästhetisch. / fundamentaler Unterschied vom Österreicher.)“ 37 Der für die Deutschen wenig schmeichelhafte Vergleich relativiert die Beschwörung der Schicksalsgemeinschaft und Bündnistreue, die in der österreichischen Publizistik vor allem zu Anfang des Krieges omnipräsent war. Woher kommt aber dieser ausgeprägte Sinn für die Gegenwart, fürs Schöne, Vornehme und Taktvolle des Österreichers, ein Sinn, der für Hofmannsthal offensichtlich zu einem politischen Kapital werden soll? Diese 33 Ebd. 34 Die Stelle, auf die Hofmannsthal Bezug nimmt, lautet: „Was ist Kultur anderes als ein höherer Begriff von politischen und militärischen Verhältnissen. Auf die Kunst sich in der Welt zu betragen und nach Erfordern dreinzuschlagen, kommt es bei Nationen an.“ Zitiert nach Erläuterungen zu Hofmannsthals Aufsatz in SW XXXIV, S. 748. 35 Siehe Hofmannsthals Formulierung aus dem Aufsatz „Die Bejahung Österreichs“, SW XXXIV, S. 110: „Die in der Armee vorhandene politische und zugleich sittliche Einheit [...] ist heute nicht bloß ein Symbol, sondern eine Realität.“ 36 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 156f. 37 Hofmannsthal: RuA III, S. 527. <?page no="164"?> 164 Vahidin Preljević kulturelle Besonderheit erweist sich bei Hofmannsthal als ein Ergebnis der österreichischen imperialen Geschichte: Zum Schlusse nenne ich den österreichischen Sinn für das Gemäße, die schöne Mitgift unsrer mittelalterlichen, von zartester Kultur durchtränkten Jahrhunderte, wovon uns trotz allem noch heute die Möglichkeit des Zusammenlebens gemischter Völker in gemeinsamer Heimat geblieben ist, die tolerante Vitalität, die uns durchträgt durch die schwierigen Zeiten und die wir hinüberretten müssen in die Zukunft. 38 Aus dem jahrhundertealten Umgang mit ethnischen und kulturellen Differenzen soll sich dieser entscheidende Vorzug des österreichischen Charakters gebildet haben, der die Lebensfähigkeit des Imperiums begründet. Entsprechend heißt es in einer Aufzeichnung, auch aus dem Jahr 1917: „Höflichkeit. Ihre Notwendigkeit in einem Staat wie Österreich. Fundamental. Die Völker nebeneinander.“ 39 Diese „tolerante Vitalität“ steht freilich im Gegensatz zur kraftstrotzenden und tatkräftigen Unbedingtheit des Preußentums, das „zu Krisen drängt“, wogegen das Österreichische den Krisen ausweicht, heißt es bei Hofmannsthal in einer späteren vergleichenden Charakterologie der beiden Völker. 40 Diese Konstruktionen Hofmannsthals möchten das sicherlich durch den kriegsbedingten engen Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich als gefährdet empfundene Selbstverständnis Österreichs stützen. Das imperiale Erbe einer „gemeinsamen Heimat“ mit anderen Völkern wird zum Ausgangspunkt der österreichischen Identität wie auch zur Existenzberechtigung des Habsburgischen Reichs. Das Motiv der ethnischen Vielfalt setzt freilich voraus, dass wie in dem Fragment Das Phänomen Österreich 41 deutlich zwischen einer Kernnation (in diesem Fall der deutschen) und anderen Völkern unterschieden wird, wenn es ausdrücklich heißt, dass „Oesterreich eine deutsche Idee ist“. 42 Dieser Widerspruch, der sich aus dem Lob der Vielfalt und gleichzeitiger Trennung zwischen Zentrum und Peripherie ergibt, 43 kam insbesondere in der Auseinandersetzung mit den tschechischen Korrespondenzpartnern zum Ausdruck, die Hofmannsthal vorwarfen, in seinen Darstellungen der „gemeinsamen“ Vergangenheit das tschechische nationale Gedächtnis völlig zu ignorieren. Auch der Grillparzer- Aufsatz und die darin enthaltene Huldigung an Maria Theresia, die die Funktion hat, ein imperiales habsburgisches Einigungs-Narrativ zu konstruieren, rief 38 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 157. 39 Hofmannsthal: RuA III, S. 526. 40 Hofmansthal: „ Preuße und Österreicher “ , in: SW XXXIV, S. 208-209. 41 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 282-287. 42 Ebd., S. 287. 43 Siehe die verschiedenen Beiträge im Sammelband: Hárs, Endre / Müller-Funk, Wolfgang / Reber, Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen: Narr Francke 2006. <?page no="165"?> 165 Das Imperium und das Imaginäre eine negative und symptomatische Reaktion Arne Nováks hervor: Gerade unter der gefeierten Maria Theresia vollzog sich im Zeichen des „Zentralismus“ eine traumatische „Germanisation“, und „der komplizierte Dichter der österreichischen Seele Grillparzer hatte für unsere Vergangenheit und unseren politischen Kampf fast durchwegs nur Worte der Verachtung.“ 44 Diese Spannung zwischen Zentrum und Peripherie findet man auch in der Satzung des Dienstagsvereins, eines von Teilen der österreichischen Regierung initiierten Forums, an dem sich Andrian und Hofmannsthal maßgeblich beteiligten. Viele Grundsätze aus dieser von Hofmannsthal wohl mitverfassten Satzung finden sich in seinen politischen Schriften wieder. Da heißt es unter Punkt 5: „Wir betrachten es als die historische Aufgabe der Monarchie, allen ihr angehörenden Völkern nach Außen hin den Schutz einer Großmacht zu bieten, im Inneren ihnen allen eine natürlich fortschreitende nationale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung zu sichern.“ 45 Bemerkenswert an diesem Bekenntnis zur ethnischen und kulturellen Vielfalt der Monarchie ist, dass sie nicht einfach als ein notwendiges Übel betrachtet wird, sondern offensiv als ein wesentliches Konstituens der gesamtösterreichischen Identität vertreten wird. Die Völker des Imperiums werden hier nicht als Beherrschungsmasse angesehen, sondern als (fast) gleichrangige Komponenten Österreichs. Die Vorherrschaft des (deutschen) Zentrums äußert sich aber noch in der Forderung, dass sich aus Gründen der staatlichen Einheit die „Nationen Österreichs […] einer Vermittlungssprache bedienen. Diese kann nach den tatsächlichen Verhältnissen und nach der Bedeutung des deutschen Elements in Österreich nur die deutsche Sprache sein.“ 46 Interessant ist noch in diesem Zusammenhang die Verknüpfung des Motivs der ethnischen Vielfalt mit der des offenen Raums. Der exklusivistische ethnische Nationalismus, den Hofmannsthal sogar in Beer-Hofmanns Werk zu erkennen glaubte, verwandelt den heterogenen Raum des Imperiums in strikt voneinander abgegrenzte nationale Territorien. 47 Der imperiale Raum jedoch zeichnet sich durch seine unendliche Weite und grundsätzliche Offenheit aus, es ist, wie Hofmannsthal in der „Österreichischen Idee“ sagt, eine „Geschichte fließender Grenzen“. 48 Diese „Halbdurchlässigkeit imperialer Grenzen“ 49 steht bei Hofmannsthal paradigmatisch für eine produktive interkulturelle Zirkulation. 44 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 743. Zum Tschechienbild Hofmannsthals siehe Stern, Martin: „Hofmannsthal und Böhmen 1-4“, in: Hofmannsthal-Blätter (HB) 1 (1968), S. 13-30; HB 2 (1969), S. 102-135; HB 3 (1969), S. 195-225; HB 4 (1970), S.264-283. 45 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 632. 46 Ebd., S. 633. 47 Siehe zur Charakteristik politischer Räume: Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenze. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2006, S. 185-226. 48 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 206. 49 Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Berlin: Rowohlt 2005, S. 17. <?page no="166"?> 166 Vahidin Preljević Das Wesen dieser Idee, kraft dessen sie die Möglichkeit in sich trug, die Jahrhunderte nicht nur zu durchdauern, sondern mit einer immer wieder verjüngten Miene aus dem Chaos und den Kataklysmen der Geschichte aufzutauchen, liegt in ihrer inneren Polarität: in der Antithese, die sie in sich schließt: zugleich Grenzmark, Grenzwall, Abschluß zu sein zwischen dem europäischen Imperium und einem dessen Toren vorlagernden stets chaotisch bewegten Völkergemenge Halb-Europa, Halb-Asien und zugleich fließende Grenze zu sein, Ausgangspunkt der Kolonisation, der Penetration, der sich nach Osten fortpflanzenden Kulturwellen, ja empfangend auch wieder und bereit zu empfangen die westwärts strebende Gegenwelle. 50 Der kulturelle Austausch 51 erweist sich also in Hofmannsthals Darstellung als ein Grundcharakteristikum der imperialen Raumordnung. 52 Es würde sicher zu weit führen, Ansätze zu einer interkulturellen Identitätsauffasung im modernen Sinne zu erkennen. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Hofmannsthal die Dialektik vom „Fremden“ und „Eigenen“ als eine aus der heutigen kulturwissenschaftlichen Sicht denkwürdige Alternative zum Reinheitsparadigma der „Kulturnation“ darstellt, das in relevanten zeitgenössischen Diskursen um 1900 noch vorherrschend war. 53 Trotz der skizzierten inneren Widersprüche bleibt das Lob der ethnischen Vielfalt ein bemerkenswerter Aspekt der Hofmannsthal’schen imperialen Rhetorik. Man muss hierbei anmerken, dass Hofmannsthal zu dieser für die Arbeit an der österreichischen Identität entscheidenden Denkfigur wohl von Leopold von Andrian inspiriert wird. Noch in einem Brief vom 24. August 1913 klagt Hofmannsthal: „Wir müssen uns eingestehen, Poldy, wir haben eine Heimat, aber kein Vaterland - an dessen Stelle nur ein Gespenst. Daß man für dieses Gespenst, vielleicht einmal das Blut seiner Kinder wird hingeben müssen, ist bitter zu denken.“ 54 Den trostlosen Zustand 50 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 205. 51 Vgl. Burke, Peter: Kultureller Austausch. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000. 52 Daran kann man den Befund von Wolfgang Müller-Funk zur literarischen Grenzästhetik des späten Habsburgischen Reichs anhand von zwei Fallstudien anschließen: „Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen des Räumlichen bleiben eigentümlich in der Schwebe und erlauben eine gewisse Bewegungsfreiheit, ein Überschreiten von Innen und Außen, von Zentrum und Peripherie, von Ohnmacht und Macht.“ Ders.: „Jesenice und Zemplén: Grenzen und Peripherien. Skizze zu einer Poetologie des Raumes im Kontext der späten Habsburger Monarchie“, in: Fischer, Wladimier / Heindl, Waltraud / Millner, Alexandra / Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867-1918. Tübingen: Francke 2010, S. 19-33, hier S. 33. 53 „Das Ideal ist allenthaben: ungebrochene nationale Lebensgemeinschaft in allen wesentlichen Zielen des Daseins.“ Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. Sudien zur Genesis des deutschen Nationalstaates. München-Berlin: Oldenbourg 1908, S. 9. 54 Hofmannsthal, Hugo von: Hugo von Hofmannsthal - Leopold von Andrian. Briefwechsel. Hg. v. Walter H. Perl. Frankfurt/ Main: Fischer 1968, S. 200. <?page no="167"?> 167 Das Imperium und das Imaginäre führt Hofmannsthal gleich darauf zurück, dass Österreich - „ohne jede Idee, ja ohne Tendenz über den morgigen, ja den heutigen Tag hinaus“ 55 - keine Staatsideologie hätte, mit der sich die Generation von 1890 identifizieren könnte. Die Antwort Andrians ist programmatisch zu nennen; er sieht das Hauptproblem darin, dass sich unter dem Einfluss der nationalen Ideologie manche Österreicher als Deutsche erleben. Dies stellt für Andrian einen Widerspruch dar: „[…] gleichzeitig Deutscher und Österreicher zu sein, scheint mir, wie gesagt, unmöglich.“ 56 Andrian ist vor allem daran interessiert, die „Reichs-Idee“ mit der transethnischen Wirklichkeit der Monarchie zu verknüpfen. Er kommt zu einer bemerkenswert pointierten Konzeption eines kulturpolitischen Projekts, dessen Züge wir in späteren Schriften Hofmannsthals wiederfinden werden: Ein Ideal, welches das des einfachen Nationalstaates weit übersteigt, ist die Cooperation und teilweise Verschmelzung der Genien all der Völker, deren Existenz eines großen Reiches überhaupt möglich ist, deren Existenz also direkt von der Existenz Österreichs abhängig ist, ich meine zunächst folgende Nationen, welche sozusagen zum eisernen Bestand der Monarchie gehören: Die Ungarn, Böhmen, Kroaten (und die mohammedanischen Bosnier serbischer Zunge), dann die Slovaken, Slovenen, Ruthenen. Zu diesen kommt nun der durch angeborene Rasseneigentümlichkeit von den Reichsdeutschen verschiedene, durch acquirierte, durch Blutmischung und durch historische Prozesse sich immer mehr von ihnen differenzierende Block der deutschredenden Österreicher, endlich noch die unter andere Nationalitäten versprengten Trümmer (z.B. die Italiener im Küstenland und die Polen in Ost-Galizien). (Du siehst wohl, daß ich zu diesem eisernen Bestand nicht unbedingt die Polen und die Rumänen zähle, obwohl für ihre Zugehörigkeit zu Österreich sich auch manches sagen ließe. 57 Ohne auf die Einzelheiten näher eingehen zu können, ließe sich feststellen, dass es sich um die Ausarbeitung des wichtigsten Motivs für die spätere „österreichische Idee“ Hofmannsthals handelt: um die Einschreibung der ethnischen Vielfalt in das Selbstverständnis Österreichs, das die Vorstellungen von einem exklusiven „deutschen Charakter“ aufgeben soll. Ein Verweis mag hier noch angebracht werden: Dieses imperiale „Lob der Mischung“ findet man bei Andrian sehr früh, im Kurzroman Der Garten der Erkenntnis. Der dekadente Held Erwin erblickt in der k.u.k. Mischung der Völker ein ästhetisches Faszinosum, das sogar mystische Züge annimmt und den Weg zu den Geheimnissen des Seins weist: Und alle Menschen hatten ihren Sinn; alle Offiziere, die eleganten Gardisten und die Anderen, die das Haar in die niedrige Stirne tragen, und die Einfachen, die nicht elegant sind; und alle Soldaten und vor allem die großen ern- 55 Ebd. 56 Ebd., S. 202. 57 Ebd., S. 205. <?page no="168"?> 168 Vahidin Preljević sten tragischen Bosnier; und die Gesichter aller Völker des Reiches, die treuen manchmal leise leidenden Gesichter der Böhmen und die Slowaken mit ihren starren, tiefen sehnsüchtigen Augen. Manchmal überkam den Erwin eine große Neugier nach den Menschen, die seiner Ahnung von ihrer Verschiedenheit und seiner Ahnung von der Mannigfaltigkeit des Daseins entsprang; er empfand sie als den Wunsch, vom Zufall der Straße geleitet, aus den Zügen, Gebärden und Worten der Menschen ihr Leben zu entnehmen. Aber das kam ihm wie eine Gottlosigkeit vor, wie die Versuchung, ein übernatürliches Geheimnis auf natürlichem Wege zu ergründen. 58 Natürlich wäre hier für gesicherte Aussagen eine ausführliche Analyse sowohl dieser Passage als auch des ganzen Romans vor dem Hintegrund der imperialen Idee notwendig; jedenfalls drängt sich der Eindruck auf, dass wir es hier mit einer deutlichen Parallele mit jenem kulturpolitischen Projekt zu tun haben, das Andrian gemeinsam mit Hofmannsthal 15 Jahre später verfolgen wird. Es wäre dies ein weiteres Signal, dass das politische Imaginäre des Jung- Wien ästhetische Wurzeln hat, dass aber auch wiederum die ästhetische Lust am exquisiten Detail und der Differenz 59 in der Dekadenzliteratur imperialen Charakter aufweist. Eine Fragestellung, die man sicher noch weiter verfolgen könnte. III. In den Kriegsjahren arbeitet Hofmannsthal intensiv an einem kulturpolitischen Projekt, das die ideelle Grundlage der noch bestehenden Habsburgischen Monarchie bilden soll und Züge einer politischen Ideologie oder wenigstens Utopie trägt. Dieses Projekt, dessen ästhetischer Hintergrund oben angedeutet wurde, fungiert als die „Österreichische“ oder als „Europäische Idee“. Eine entscheidende Achse dieses Unterfangens ist die ideologische Überwindung des Ethnonationalen und Nationalstaatlichen, das, wie es in den Ideen von 1914, einer vielgelesenen Schrift des schwedischen Staatswissenschaftlers Johan Rudolf Kjellén aus dem Jahr 1915 heißt, den Kosmopolitismus als grundlegende Entwicklungstendenz seit 1789 ablöst. „Der Kosmopolitismus ist das große Grundideal. Sein Verfall ist der rote Faden, der sich durch dieses Labyrinth von Katakomben zieht. […] Mit einem Wort, der Schiffbruch des Kosmpolitismus ist es, der die Trauer verursacht; mit dem Kosmopolitismus hat man die Zivilisation und das Ideal selbst identifiziert. 58 Andrian, Leopold: Der Garten der Erkenntnis und andere Dichtungen. Mit einem Nachwort herausgegeben von Dieter Sudhoff. Oldenburg: Igel Verlag 2003, S. 27-28. 59 Siehe dazu: Rasch, Wolfdietrich: Die literarische Décadence um 1900. München: Beck 1986. S. 62-66; Hamann, Richard / Hermand, Jost: Impressionismus. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1972, S. 226-260; Haupt, Sabine: „ Themen und Motive “ , in: Würffel, Stefan Bodo (Hg.): Handbuch Fin de Siècle. Stuttgart: Kröner 2008, S. 154-158. <?page no="169"?> 169 Das Imperium und das Imaginäre […] Der Weltkrieg bedeutet eine Reaktion gegen die kosmopolitische Idee unter Betonung der nationalen.“ 60 In dieser wie auch anderen Schriften von Kjellén las Hofmannsthal nachweislich seit Mitte 1916, 61 in denen er bestätigt finden musste, was er spätestens seit Ende 1914 selbst dachte, dass es sich nämlich um einen großen Konflikt zwischen Universalität und Partikularität handele, wobei in seinen Augen die erstere von transnationalen Imperien wie Österreich-Ungarn repräsentiert wird. In dem 1917 geschriebenen Fragment Über die Europäische Idee, das als Vorlage für eine Rede in Bern enstanden ist und offensichtlich von Rudolf Borchardt zummindest mitverfasst wurde, 62 findet sich die bezeichnende Stelle, in der das Österreichische als das eigentlich Europäische erscheint: 63 Wer sagt „Österreich“, der sagt ja: tausendjähriges Ringen um Europa, tausendjährige Sendung durch Europa, tausendjähriger Glaube an Europa. / Für uns, auf dem Boden zweier römischen Imperien hausend, Deutsche und Slawen und Lateiner, ein gemeinsames Geschick zu tragen auserlesen, - für uns wahrhaft ist Europa die Grundfarbe des Planeten, für uns ist Europa die Farbe der Sterne, wenn aus entwölktem Himmel wieder Sterne über uns funkeln. Wir, nicht auf errechenbare Macht, nicht auf die Wucht des nationalen Daseins, sondern sehenden Auges auf einen Auftrag vor Gott gestellt, - wie sollten wir leben, wenn wir nicht glauben wollten, und was wäre des Glaubens würdiger als das Hohe, das sich verbirgt, und das Ungreifbare, das sich dem gebundenen Sinne, dem stumpfen Herzen versagt. 64 Das k.u.k. Reich wird als die zentrale Manifestation der europäischen Idee und letzlich als ein strukturelles Analogon Europas dargestellt. Damit wird einerseits die Universalität und die politisch-ideologische Allgemeingültigkeit des habsburgischen Projektes unterstrichen, andererseits soll durch das rhetorische Mittel der Synekdoche auch der nichtösterreichische Zuhörer gewonnen werden. Immer geht es dem Autor auch noch um etwas anderes: nämlich um die Konzeption eines „geistigen“ oder kulturellen Raums, 65 der für Österreich und Europa imaginiert wird, wobei hier die Grenzen zwischen 60 Kjellén, Rudolf: Die Ideen von 1914. Leipzig: S. Hirzel 1915, S. 10. 61 Hofmannsthal: SW XXXVI, S. 1184. 62 Hofmannsthal: SW XXXVI, S. 1268-1276. 63 Zu Hofmannsthals Begriff von Europa und des Europäischen siehe Mauser, Wolfram: „‚ Die geistige Grundfarbe des Planeten‘: Hugo von Hofmannsthals ‚ Idee Europa‘ “, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 2 (1994), S. 201-222. Eine knappe Übersicht über die Entwicklung der Europa-Idee ndet man bei Wagner-Zoelly, Corinne: Die „ Neuen Deutschen Beiträge “ : Hugo von Hofmannsthals Europa-Utopie. Heidelberg: Winter 2010. 64 Hofmannsthal: SW XXXVI, S. 334-335. 65 Zum „geistigen Raum“ bei Hofmannsthal siehe grundsätzlich: Mattenklott, Gert: „Der Begriff der kulturellen Räume bei Hofmannsthal“, in: Hugo von Hofmannsthal: Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Herausgegeben im Auftrag der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 11-26. <?page no="170"?> 170 Vahidin Preljević dem Modellhaft-Utopischen und dem Realgeschichtlichen und Realpolitischen fließend sind. Ganz entscheidendes Charakteristikum dieses geistigen Raums, der sich auf eine geschichtliche Basis stützen kann, ist, wie schon oben gesagt, sein „Kosmopolitismus“, der der Teilung der Herrschaft in nationale Territorien entgegengesetzt ist, obwohl in den zwanziger Jahren, vor allem aber in der Schrifttumrede von 1927, wo es dann um einen „geistigen Raum der Nation geht“, der kosmopolitische Charakter des Konzeptes scheinbar aufgegeben wird. 66 Doch wie gesagt geht es Hofmannsthal auch davon ausgehend um die weitausgreifende Idee einer politischen Vision und Utopie, die zwar Österreich und auch Europa, das er die „geistige Grundfarbe des Planeten“ nennt, zur Grundlage hat, darüber hinaus allgemein menschlich und universalgeschichtlich wirksam sein soll. Das Europäische verbleibt dabei nicht nur im politischen Diskursrahmen: es wird gesteigert zur Chiffre für eine allumfassende Utopie, die die Möglichkeit einer Universalität beinhaltet und damit Züge eines eschatologischen Hoffnungszeichens annnimmt: „Postuliert ist nicht Europa sondern namens Europa die Menschheit, namens der Menscheit göttliche Allgegenwart: Gott selber.“ 67 Der imaginäre und utopische Charakter Europas wird auch dort deutlich, wo nicht nur von einer Neuordnung politischer Verhältnisse die Rede ist, sondern sogar von einem neuen europäischen Subjekt: die neue europäische Idee soll neue Wirklichkeit hervorbringen, mit dem Ergebnis, dass ein neues „europäisches Ich“ entsteht, das ein „geändertes Verhältnis […] zum Dasein, zum Geld“ 68 entwickeln würde. Weitumspannend soll dieses Konzept für eine neue Kultur sorgen, und zwar in einem sehr weiten Sinn, von den symbolischen Objektivationen bis hin zum persönlichen Bewusstsein, einer Kultur des Ich. Der imperiale Charakter dieses kulturpolitischen „Projektes“ äußert sich auch darin, dass man sich in der Kontinuität „zweier römischer Imperien“ sieht, und dass Österreich als legitimer Fortsetzer alter europäischer Reiche am ehesten berufen sei, sich Europa auf seine Fahnen zu schreiben. Natürlich wird die fiktive Vorstellung einer translatio imperii ins Spiel gebracht, „einer Übertragung der Herrschaft von den Römern auf die Franken bzw. auf die 66 Die zentralen Motive der Schrifttumrede haben jedoch eindeutig einen imperialen, das heißt, einen übernationalen Charakter. Sie sind uns aus unserer bisherigen Untersuchung vertraut: Überwindung der Polarität zwischen Geist und Leben, die progressive Integration und Synthese. „Denn von Synthese aufsteigend zu Synthese, mit wahrhaft religiöser Verantwortung beladen, nichts auslassend, nirgends zur Seite schlüpfend, nichts überspringend - muß ein so angespanntes Trachten, woanders der Genius der Nation es nicht im Stiche läßt, zu diesem Höchsten gelangen: daß der Geist Leben wird und Leben Geist, mit anderen Worten: zu der politischen Erfassung des Geistigen und der Geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation.“ Hofmannsthal: RuA 3, S. 40. 67 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 332. 68 Ebd., S. 329. <?page no="171"?> 171 Das Imperium und das Imaginäre Deutschen“. 69 Diese Mission, die mit einer religiösen Semantik versehen wird („vor Gott gestellt“), möchte die historische Legitimität der Habsburgerkrone untermauern und die Monarchie nicht als eine vorübergehende Institution darstellen, sondern eben als einen geistigen, als die longue durée, die alle Ereignisse überdauert. Das Imperium ist unzerstörbar, da es nicht nur eine politische sondern auch eine geistige Tatsache darstellt, oder die Verkörperung der Einheit von Geist und Leben schlechthin ist. So argumentiert Hofmannsthal im Aufsatz Die österreichische Idee noch einmal mit der überzeitlichen Kontinuität, die eine Sakralisierung erfährt 70 : Es ist nicht gleichgültig, ob man von gestern oder als Mark des heiligen Römischen Reiches elfhundert Jahre oder als römische Grenzkolonie zweitausend Jahre alt ist und seine Idee in dem einen Fall von den römischen Kaisern, im andern von Karl dem Großen, ihrem Nachfolger im Imperium her hat, und dies in der Form, daß das Wesentliche dieser Idee nie abgebogen wurde, sondern sich als ein Unzerstörbares im Vorbeirauschen von zehn und zwanzig Jahrhunderten erhielt. 71 *** Weiter, halboffener Raum, Frieden, umfassende Herrschaft und Ordnung, Dauer und Stabilität, flexible aber auch labile kollektive Identität, eine pseudoreligiöse Mission, und ein transnationaler, transethnischer Charakter - das sind die Merkmale der Hofmannsthal’schen österreichischen und europäischen Idee, die hier vorgestellt wurden. Es handelt sich um eine fast prototypische imperiale Projektion, 72 in der darüber hinaus Grenzen zwischen Realpolitischem und Utopischem fast vollständig verwischt sind, so dass sie zunehmend den Charakter eines konkreten Projekts verliert und den eines Modells annimmt. Auch deswegen spricht einiges dafür - und hier wurde darauf verwiesen -, dass dieses imaginäre Imperiale eigentlich Züge einer ästhetischen Idee trägt und Parallelen mit der Jungwiener Literatur aufweist. Es stellt sich die Frage, ob man in diesem Zusammenhang tatsächlich von einer imperialen Poetik sprechen kann. So dringend diese Fragestellung erscheint, muss sie einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. 69 Stollberg-Rilinger, Barbara: Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806. München: Beck 2006, S.10f. 70 Zum Verhältnis von Sakralität und Dauer siehe Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 116-122. Zur „Heiligkeit“ des Heiligen Römischen Reichs deutsche Nation, siehe auch Stollberg-Rilinger: Reich, S. 12. 71 Hofmannsthal: SW XXXIV, S. 205. 72 Siehe die Zusammenstellung der Merkmale bei Münkler: Imperien, S. 16-21. <?page no="172"?> 172 Vahidin Preljević <?page no="173"?> 173 Ratlose Barbaren Ursula Knoll und Matthias Schmidt Ratlose Barbaren. Zur Narrativierung des (Post)Imperialen bei Robert Müller Wir benötigen diesen Barbaren nicht unablässig, sondern nur in Krisensituationen: Krieg, Revolutionen, wirtschaftliche Not, kulturelle Umbrüche, Endzeitstimmungen. Dann wird der Barbar aufgerufen, um Unterschiede zu repräsentieren, vor allem den positiven und negativen Unterschied zur Kultur selbst. […] In der Thematik des Barbaren verhandeln die europäischen Kulturen die Sache der Kultur selbst. 1 Die Figur des Barbaren erfuhr im 19. und 20. Jahrhundert eine Reihe affirmativer Wiederbelebungen. Diese Spielarten eröffnen ein breites Spektrum heterogener Bedeutungen: In ihren positiv konnotierten Varianten verbirgt sich eine Reihe unterschiedlicher Antworten auf die Frage, wie mit gemeinschaftsbildendem Wissen und „Kultur“ angesichts einer krisenhaft erlebten Gegenwart umgegangen werden soll. 2 Die vermeintliche Rohheit des Barbarischen kann zum einen als Chiffre verwendet werden für die vollständige Verabschiedung der überlieferten Traditionen, um einen zwar unbeschwerten, doch gleichfalls informierten wie zielgerichteten Neuanfang zu ermöglichen. Zum anderen ermöglicht eine weitere Ausprägung des Barbaren die scheinbar gegensätzliche Interpretation, nämlich die aktive Wiederaneignung eines atavistischen Erbes, eines prä-kulturellen Schatzes der ungehemmten Energien und Triebe, der im Namen einer künftigen, komplettierten Kultiviertheit wieder erschlossen werden soll. Im Spannungsfeld dieser beiden Pole werden nachfolgend zwei Romane von Robert Müller, Tropen (1915) und Der Barbar (1920), hinsichtlich der Frage gelesen, welche Ausrichtung den darin entwickelten, imperialistischen 1 Schneider, Manfred: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München- Wien: Carl Hanser 1997, S. 9, 11. 2 Vgl. Großheim, Michael: „‚Die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts‘. Moderne Kultur zwischen Konservierungswille und Überlieferungsfeindschaft“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 2 (2000), S. 221-252; Schneider: Der Barbar. <?page no="174"?> 174 Ursula Knoll und Matthias Schmidt Programmen jeweils zukommt. Da die paradigmatische Figur des Barbaren es erlaubt, die Organisation von Überlieferung, Gemeinschaft und Wissen im Feld der Poetik zu hinterfragen, verschränkt und gewichtet sie zugleich wesentliche Motive (post-)imperialer Erzählungen. Die beiden untersuchten Texte dokumentieren auf dieser Ebene - parallel zum Untergang der österreichischen Monarchie - zwei völlig unterschiedliche Entwürfe, die durch den hohen Grad an poetologischer Reflektiertheit den Vorteil bieten, entgegen aller programmatischen Verve unauflösbaren Ambivalenzen gerecht werden zu wollen. Gleichzeitig bleiben Müllers strategische Unschärfen verortbar angesichts des impliziten narrativen Bogens, den beide Texte zur Problematisierung von imperialen Strukturen entfalten. Die Schriften von Robert Müller gerieten bereits kurz nach seinem Freitod im Jahr 1924 in Vergessenheit und werden erst seit den frühen 1980er- Jahren wiederentdeckt. Mittlerweile wird das Œuvre des Journalisten, Essayisten und Romanciers zu den komplexesten und anspruchsvollsten des prosaischen Expressionismus gezählt und --so lässt sich mit einem Blick auf die bestehende Forschung sagen - fortwährend in neuen Untersuchungskontexten berücksichtigt. 3 Müllers Texte, allem voran sein 1915 erschienener Roman Tropen - Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, 4 bündeln und verschränken zentrale Motive und Diskurse des frühen 20. Jahrhunderts und amalgamieren diese zu schillernden Gebilden, die abenteuerliche Kolonialphantasien, die utopiegefärbte Suche nach dem „Neuen Menschen“ und eine reichlich spekulative Poetologie verbinden - und aneinander aufreiben. Treffend hat Kurt Hiller, dessen aktivistische Ideale Müller auch teilte, seinen Tropen-Roman als „unerhörte Kreuzung aus Gauguin und einem Über-Freud, mit pantrigem Sportboy-Einschlag; oder aus Nietzsche und Karl May“ bezeichnet. 5 Die in diesen Zuschreibungen wenig subtil angedeutete Spannung wird von Müller zudem in einem so üppigen wie wendigen Ton entwickelt, den Alfred Döblin wegen seiner Fülle einen „Explosionsstil“ nannte und der den unablässigen Perspektivenwechseln entsprechend variiert wird. 6 3 Vgl. unter anderem: Schwarz, Thomas: Robert Müllers Tropen. Ein Reisebericht in den imperialen Exotismus. Heidelberg: Synchron. Wissenschaftsverlag der Autoren 2006; ders.: „Die Kartographie der Barbarei am Amazonas. Percy Fawcetts Suche nach Z und Robert Müllers Tropen“, in: Hernández, Isabel/ Lubrich, Oliver (Hg.): Deutsche in Lateinamerika. Berlin: Weidler 2011, S. 91-105. 4 Müller, Robert: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Stuttgart: Reclam 1993. Nachfolgend zitiert unter der Sigle T. 5 Hiller, Kurt: „Vorbemerkung zu Robert Müller: ‚Die Geistrasse‘“ In: Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik. Band 4 (1920), S. 49. Zitiert nach: Günter Helmes: „Nachwort“, in: Müller: Tropen, S. 407-438, S. 408. 6 Vgl. Poot, Linke (Alfred Döblin): „Der Knabe bläst ins Wunderhorn“, in: Die Neue Rundschau 31 (1920), Band 1, S. 762f. <?page no="175"?> 175 Ratlose Barbaren Müller beansprucht dabei für die Theoreme und Konzepte, die in seinen literarischen Texten laufend entwickelt und zugleich auch wieder in Frage gestellt werden, einen nicht unerheblichen Bedeutungsspielraum. Diese Schwankungsbreite der von ihm entworfenen Kategorien, Begriffe und Vorstellungen ergibt sich einerseits direkt aus widersprüchlichen Zuschreibungen, andererseits aber auch aus deren Einbettung in narrative Strukturen und Abläufe, die den vermeintlich inhaltlichen, zumindest aber programmatisch präsentierten Äußerungen sogleich einen guten Teil ihrer Glaubwürdigkeit kosten. 7 Es verwundert insofern nicht, dass Müller, der auch in seinen politischen Essays mit vergleichbar unscharfen Begriffen an einem utopischen Menschenentwurf arbeitete, schnell einer naiven Affinität zu faschistoiden Ideologien verdächtigt wurde. 8 Die umrissene Unschärfe und die bereitwillig entfaltete Widersprüchlichkeit machen dabei aber auch die anhaltende Faszination seiner literarischen Texte aus. Gerade wo exotistische Phantasmagorien und imperialistische Abenteuergeschichten konstruiert werden, verunsichern solche Ambiguitäten die stereotypen Attribute und machen diese als notwendig gewaltsamen Essentialismus lesbar. Und zweifellos erscheinen Müllers Texte für diese Hinsicht wie gemacht zu sein, da die mitteleuropäisch-rationalen Eroberer natürlich überhöht, mit hohlen Idealen versehen und in ihrer absichernden Überlegenheit geschildert werden. Doch Müllers Text entzieht sich einer solchen Lektüre bis zu einem gewissen Grad gerade dort, wo sie zu gut zu funktionieren scheint, wo sie nahtlos aufgeht. Wie beispielsweise Stephan Dietrich 9 und Christian Liederer 10 rekonstruiert haben, spielen ambivalente Figuren und Zuschreibungen, die bis zu Paradoxien zugespitzt werden, eine elementare Rolle innerhalb von Müllers poetischem Programm, das über weite Strekken als immanenter Poetikdiskurs, also als Bestandteil der Romane entwickelt wird. Soweit diese Ambivalenzen Teil von Müllers Poetik sind, kommt ihnen auch eine entlarvende Funktion zu, da Müller sehr bewusst mit den vereinfa- 7 Michaela Holdenried spricht dementsprechend von strategischen „Durchkreuzungen referentieller Eindeutigkeit“, die sie als „Derealisierungsverfahren“ rekonstruiert. Vgl. Holdenried, Michaela: „Der technisierte Barbar. Magie und Mimesis in Robert Müllers Tropen“, in: Honold, Alexander/ Scherpe, Klaus R. (Hg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Frankfurt/ Main u.a.: Peter Lang 2003, S. 283-298, S. 290. 8 Vgl. beispielsweise Helmes, Günter: „Katholischer Bolschewik in der ‚Schwäbischen Türkey‘. Zum politischen Denken Robert Müllers“, in: Kreuzer, Helmut/ Helmes, Günter (Hg.): Expressionismus - Aktivismus --Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887-1924). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981, S. 178-216, S. 210f. 9 Dietrich, Stefan: Poetik der Paradoxie. Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa. Siegen: Carl Böschen Verlag 1997. 10 Liederer, Christian: Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk des Expressionisten Robert Müller. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. <?page no="176"?> 176 Ursula Knoll und Matthias Schmidt chenden und erwarteten Rollenbildern spielt, diese im Erzählprozess förmlich ausstellt. Gleichzeitig lassen sich die changierenden Bedeutungen nicht auf ihre demaskierende Funktion verkürzen, sofern man ihnen auch hinsichtlich ihrer Rolle in Müllers Poetologie gerecht werden will -- dort stehen sie für eine Faszination am para-logischen Potential der Kunst und müssen, darüber hinaus, nicht selten auch unausgegorene theoretische Konzepte überdecken. I. Der Roman Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs legt dabei bereits im Untertitel offen, dass es um das inszenierte Spiel zwischen Fiktionalität (Mythos) und Dokumentation (Urkunden) gehen wird. Im Ausdruck Tropen wird zudem, wie auch im Roman später ausführlich kommentiert wird, die exotische Ferne mit dem Tropus, der rhetorischen Figur, verschmolzen. Diese semantische Überbrückungsleistung bildet auf mehreren Ebenen den insgeheimen Fluchtpunkt des Textes und der geschilderten Reise, wobei vom fiktiven Herausgeber Robert Müller vorweggenommen wird, dass sich die Protagonisten nicht aus eigener Kraft aus diesen vielgestaltigen Tropen retten werden können. Der kurz in der Einleitung umrissene Plot des Romans bildet den Hintergrund, vor dem die ausschweifenden Reflexionen und Theorien des personalen Erzählers Hans Brandlberger auf seiner Expedition ausgebreitet werden. Sieht man von diesen oftmals dialogisch entfalteten Essays ab, die anthropologische, epistemologische und poetische Entwürfe entwickeln, lässt sich die Handlung folgendermaßen zusammenfassen: Drei Abenteurer, der deutsche Brandlberger, der weitgereiste und „genetisch“ höchst-komplex zusammengesetzte Amerikaner Jack Slim sowie der holländische Kolonialoffizier van den Dusen begeben sich mit der Unterstützung einiger Ureinwohner auf Schatzsuche in den brasilianischen Dschungel. Nach einer lähmend ereignislosen Bootsfahrt kämpfen sie sich durch das Dickicht, bis sie auf eine Indio-Siedlung stoßen, wo sie zuerst ehrfurchtsvoll aufgenommen, doch zunehmend misstrauisch betrachtet werden. Ohne große Verständigungsprobleme übergeben sich die drei dort dem vegetativen Rhythmus des Dorfalltags, wo sie vor allem von den eingeborenen Frauen und der primitiven, gewaltsam erscheinenden Kunst fasziniert sind. Jack Slim, der ein Verhältnis mit der Dorfpriesterin Zana einzugehen scheint, unterliegt in einem rituellen Zweikampf dem Häuptling des Stammes, wodurch das Ansehen der Abenteurer drastisch sinkt. Als es kurz darauf zu einem Mord an einer der Indianerfrauen kommt (die Umstände bleiben im Dunkeln, doch wird ein sadistisches Begehren als Motiv deutlich suggeriert), verlässt die Expedition das Dorf, um mit der Priesterin Zana die Suche nach dem Schatz wieder aufzunehmen. Nachdem zwar die gesuchte Höhle, darin aber kein Gold gefunden wird, verfallen alle zunehmend einer tropischen Lethargie und wahnhaften Fieberzuständen. Doch bevor sie sich zu einer Abreise auf- <?page no="177"?> 177 Ratlose Barbaren raffen können, kommen Jack Slim und van den Dusen auf mysteriöse Weise ums Leben, wobei erneut offen gelassen wird, ob und wie sich die Abenteurer gegenseitig im Tropenkoller massakrieren. Der delirierende Brandlberger, dessen Aufzeichnungen wir lesen, wird von Zana, der Priesterin, an die Küste gebracht, worüber der erzählende Text aber bereits keine Auskunft mehr gibt, da Brandlberger selbst seine Rettung nicht bei vollem Bewusstsein erlebt haben soll. Der vordergründige Spannungsbogen der Schatzsuche wird von Anfang an durch eine utopische Phantasie Brandlbergers erweitert, der dem ursprünglichen, primitiven Menschen nicht nur nahekommen, sondern dessen Weltsicht erfahren und in sich aufnehmen möchte, um seine eigene rationale Geistesverfassung zu komplettieren. 11 Die Morde, die sich während dieser zweifachen Suche ereignen, und auch die antreibenden sexuellen Phantasien verdeutlichen diese Annäherung an einen ursprünglichen, tendentiell weiblich konnotierten Zustand, in dem wilde Impulsivität und ungetrübtes Begehren neben der analytischen Reserviertheit des Europäers wiedererweckt werden sollen. 12 Diese Bewegung wird zusätzlich in ausführlichen Reflexionen und Gesprächen zwischen Brandlberger und Slim entwickelt, wobei beide gleichermaßen von der Idee fasziniert sind, eine „Rasse“ zu schaffen, die nicht nur ursprüngliche Qualitäten und kultivierte Rationalität aufweist, sondern beides auf einen dritten Zustand hin, eine transrationale Synthese, übersteigt. Mit diesem Zustand ist das Ziel der eigentlichen Reise und, wie sich herausstellen wird: auch des Romans, formuliert. Gerade weil der abendländische Mensch anhand der Tropen auf etwas eigentlich Unvorstellbares hin überwunden werden soll, arbeitet der Text beständig auch die falsche Überlegenheit und deutlichen Schwächen der nur technisch überlegenen Protagonisten heraus. Diese entwickeln an den Vorzügen der Ureinwohner eine vermeintliche Außenperspektive, doch überschneiden sich die spekulativen Hybridisierungs-Phantasien im Verlauf der Narration zunehmend mit Fieberzuständen, die zwar die ideale Rassensynthese als paralogische Sphäre erkunden, sie aber gleichzeitig dem Wahn zuschreiben. Die im Roman ausgebreiteten Rassen-Phantasien bleiben trotz ihrer extensiven Entwicklung auffällig unscharf. Allein der Begriff der Rasse changiert beständig zwischen einer biologischen Zuschreibung, einer metaphorischen 11 „Der große Pfad der Entwicklungen lag klar und übersichtlich vor mir, die Mißverständnisse waren zu Ende und die Jagd der Symbole hatte Wirklichkeiten erlegt. Schwarzer Panther meines Herzens, bunter Schmetterling meiner Sinne! Ich erkannte, daß mein Verhalten ein System in sich barg, an dem ich nicht Schuld trug, das vielmehr mein Empfinden lenkte. Alles in mir war auf das Natürliche und Notwendige gerichtet. Ich schritt die Leiter der Entwicklungen zurück und schreite sie nun wieder nach vorne zu. Bald werde ich wieder beim Menschen der Zukunft sein, nachdem ich bei den Wesen der Vorzeit gewesen bin.“ (T 126) 12 „Das große Geschlecht der ursprünglichen Natur, Mutter und Hure zugleich, fordert meine Mannbarkeit heraus: ich enthülle mich, zeuge und reise.“ (T 37) <?page no="178"?> 178 Ursula Knoll und Matthias Schmidt Konzeption, die vor allem aus Traditionen und Erfahrungen besteht und drittens einer geographisch variablen Weltsicht, etwa im Sinne einer epistemologischen Brille. Dies setzt sich in der Erzählung fort, wenn physiologische Merkmale (also Körperbau, Gesichtszüge, etc.) als deutliches Anzeichen für bestimmte Eigenschaften einer Rasse genommen werden, gleichzeitig aber ein kurzzeitiges „Training“ (beispielsweise das nur wenige Tage dauernde, frenetische Durchpflügen des Dschungels mit der Machete) zu ähnlichen körperlichen Anpassungen führt. 13 Der Ausdruck „Rasse“ steht dabei generell für einen Entwurf, einen Ausblick auf Künftiges, eine vage umrissene Zielvorstellung, die durch Vermischung und gezielte Adaption erreicht werden soll. Damit werden einerseits alle Reinheitsideale eines genetischen, auf Herkunft gegründeten Rassismus von Anfang an verworfen, 14 gleichzeitig bleibt in Müllers Logik eine Rückkehr zu den naturverbundenen Lebensformen und -rhythmen der Ureinwohner aber unerlässlich. Paradoxerweise benötigen seine Abenteurer nämlich einen mythischen, prä-rationalen Ursprung, um diesen dann ihren sehr bewussten Techniken zur Selbstverfeinerung dienstbar zu machen. Dieses beständige Schwanken zwischen einer konstruktivistischen Selbst-Vervollkommnung und einer über-individuellen Gemeinschaftsphantasie macht nur eine der konzeptuellen Ambivalenzen des Romans aus. Zusammengehalten werden diese reihenweise entfalteten Gegensätze durch die zentrale Dynamik der Annahme, dass eine Verschmelzung beider Pole möglich sei und solche Widersprüche im Geiste des „neuen Menschen“, sobald dieser die Synthese als Lebensform umgesetzt hat, keine Rolle mehr spielen. Insofern wäre es nur plausibel, dass logische Kategorien im Verlauf der Reise immer weiter suspendiert werden, da die Überwindung des aristotelischen Schließens als Teil der ersehnten Überschreitung des zivilisierten Menschen ausgelegt wird. 15 Müllers Kunstgriff besteht nun darin, dass er die von Anfang an bestehenden Unschärfen und Vagheiten im Verlauf des Textes als eine kontinuierliche Annäherung an diesen Zustand präsentiert -- eine Annäherung, die im narrativen Kontext allerdings von den Fieberschüben der Protagonisten nicht unterschieden werden kann. 13 So proklamiert Jack Slim angesichts seiner eigenen Konstitution: „Training ist ein verkürztes Verfahren für Rasse.“ (T 329) 14 Für eine evolutionshistorische Kontextualisierung von Müllers Kreuzungsvorstellungen vgl.: Michler, Werner: „Darwinismus, Literatur und Politik. Robert Müllers Interventionen“, in: Wiesinger, Peter (Hg.): Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. ‚Zeitenwende - Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert.‘ Bern u.a.: Peter Lang 2002, S. 361-366. 15 Wolfgang Riedel rekonstruiert in diesem Zusammenhang Schopenhauer’sche Denkmotive: Riedel, Wolfgang: „‚What‘s the difference? ‘ Robert Müllers Tropen (1915)“, in: Saul, Nicholas/ Steuer, Daniel/ Möbus, Frank/ Illner, Birgit (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 62-76. <?page no="179"?> 179 Ratlose Barbaren Das Ziel der Reise, die eben in Frage stehende Synthese des Urmenschen mit dem rationalen Kulturmenschen auf einer dritten Stufe, wird zumindest andeutungsweise erreicht. Einerseits insofern, als die Rauschzustände von den Protagonisten reflektiert und in Form eines ungehemmten Spekulierens noch weiter vorangetrieben werden. In diesem ersten Sinne verschränken sich unmittelbare Hemmungslosigkeit und Impulsivität mit den analytischen Tugenden der Abenteurer. 16 Durch die Schilderung dieser Ausnahmezustände wirkt der Fortgang der Erzählung sich andererseits direkt auf die Darstellungsform aus, die zunehmend mehrdeutig, wahnhaft und suggestiv verfährt. Die Handlung weicht so deutlich von der Erlebnisqualität für den Erzähler Brandlberger ab und wird nachvollziehbar zu einer qualitativen Potenzierung, die jede Unschärfe in der Beobachtung der Vorgänge durch eine poetische Übersteigerung des Erlebens und Abbildens zu kompensieren trachtet. Diese expressionistische Neu- und Simultanschöpfung stellt eine zweite Errungenschaft des synthetischen Zustandes dar, wobei ihr zumindest eine doppelte Funktion zukommt: Zum einen wird die poetisierende Weltschöpfung (als ein Verschnitt von Mythos und Urkunde aus dem Untertitel) als primärer Vollzug des neuen Menschen veranschaulicht. Dadurch ist es möglich den expressionistischen Künstler als utopischen Vorboten zu verklären. Dieser Effekt bedient sich erneut ausdrücklich der Vagheiten und Unschärfen, wobei es der rezeptiven Spontaneität der Leserschaft überlassen bleibt, Abläufe und Plausibilitäten des Romans zu komplettieren. Durch diese produktive Einbeziehung und Verstrickung der Leser_innen in die Genese des Textes soll eine bloß analytische Lektüre unmöglich gemacht werden, der schöpferische Zustand soll nicht konsumiert, sondern geteilt, mitgetragen werden. Zum anderen liegt eine Funktion der Poetisierung in der Auflösung einer vermeintlich bloß subjektiven Perspektive Brandlbergers, indem seine Sprache buchstäblich mit ihm „durchgeht“. Im Allgemeingut der Sprache, das sich im Rausch eigenmächtig an der Schöpfung der tropischen Erfahrungswelt beteiligt, scheint für Brandlberger das poetische Erbe seiner „Rasse“ durch, individueller Ausdruck und kollektive Schaffensmöglichkeiten überschneiden sich (T 312f.). 17 Beides, die Einbeziehung der Leserinnen und der Ver- 16 „Wir waren irrsinnig! Wir waren sämtlicher Verantwortlichkeiten los und ledig! Wenn uns jetzt jemand sehen könnte, wenn doch ein einziger dagewesen wäre, uns zu bewundern! Die Indianer verstanden es nicht. Wir waren die Helden unseres Berufes, unsere Tropenfahrt hatte uns irrsinnig gemacht, der Djungle hatte uns durch Gemütserschütterungen aus dem Gleichgewichte gebracht! Wir armen Seelen, wie hoch standen wir über dem gesunden Durchschnittsmaß! Wir waren den entgegengesetztesten Affekten zugänglich ...“ (T 317) 17 „Ja, wir Irre sind ein schlaues Volk. Wir sind doppelt so schlau als die Klügsten unter den Menschen. […] Wir sind die Geschöpfe der Sprache, die Windhunde des Begriffes; wir sehen die Welt mit Worten und durchdringen die Wahrheit im System der Laute. Wir können uns zurücknehmen; aber wir nehmen uns niemals zurück. Ihr könnt uns keinen Ersatz bieten für den Rausch unserer spitzfindigen Logik und die Schadenfreu- <?page no="180"?> 180 Ursula Knoll und Matthias Schmidt weis auf die rhetorische Substruktur der Erkenntnis, sollen noch den letzten Widerspruch zwischen individuellem Rausch und einer zukunftsweisenden, teilbaren Erfahrung vermitteln. In dieser Überbrückungsfigur erscheint der Doppelsinn der Tropen eingelöst. Im Sinne der zuvor angemerkten narrativen Widersprüche bleibt anzumerken, dass die aufwändige Programmatik des Romans zwar auch in Form eines poetischen Programms umgesetzt, sie aber zugleich von zahlreichen Ironiesignalen getrübt wird. Beispielsweise stirbt gerade der hybrideste und scheinbar am weitesten entwickelte Abenteurer, Jack Slim, einen reichlich banalen Tod, als er unter ungeklärten Umständen ertrinkt. Auch führt die fortschreitende Transformation der Abenteurer letztlich nicht zu einer zukunftsweisenden Lebensform oder Utopie, sondern zu einem triebhaften Massaker, aus dem der bewusstlose Brandlberger ausgerechnet von einer Bewohnerin der ersten, prärationalen Stufe, von Zana der Indianerpriesterin, gerettet wird. Entscheidend ist an dieser Stelle aber die sinntragende Entwicklungsphantasie, die den Verlauf von narrativen und spekulativen Elementen gleichermaßen befeuert. Denn im Tropen-Roman werden gerade jene Momente als barbarische ausgewiesen, die annäherungsweise zu einer Synthese des prä-rationalen mit dem rationalen Zustand führen. Der Zusammenfall von Gegensätzen wird dabei auf verschiedenen Ebenen durchdekliniert, „barbarisch“ heißt aber stets die Wiederaneignung einer verlorenen Impulsivität und vermeintlich ursprünglichen, rohen Natur- und Triebverbundenheit. So hält der Tross der Abenteurer plötzlich inne, als sie mit ihren Macheten nicht nur Unterholz geschlagen, sondern fast eine darin verborgene Eingeborene verwundet hätten: Wäre ich erstaunt, erregt gewesen, wenn wirklich einen von uns im Eifer das Unglück versucht und die Machetta in gewohnter Grausamkeit ihr Werk verrichtet hätte? Wir waren aktiv bis zur Tollheit, nervös bis zur Unzurechnungsfähigkeit. Verlegen über die Situation und mein schlimmes Gewissen sah ich zu Slim hinüber. […] Da erkannte ich endgültig, daß unser Herz mit dem wilden Trieb des Urwalds zusammenschlug und die Sitten seiner Erholungen angenommen hatte. Wir waren Barbaren geworden. (T 64) 18 Die Vermittlung beider Ebenen trägt hier vor allem noch den Zug einer Annäherung an verdrängte Ur-Zustände. Im Verlauf der Erzählung allerdings wird diese immer stärker auf eine im Medium der Poesie teilbare, wenn auch paradox-transgressive Erkenntnis bezogen. Damit verlagert sich der Fokus von einer individuellen Vervollkommnung auf eine künftige Gemeinschaft de unserer krassen Schlüsse. Die Komödie, mit der wir unsere Lüste fristen, geht nicht in euer Hirn. Darum sind wir Narren, wir perfekte und menschlichere Menschen, am Ende nur die Klügeren.“ (T 317) 18 Ähnliche Passagen finden sich auch auf S. 223 oder 249: „Der wilde, barbarische Zauber, der in den Sinnen des Mannes und des Weibes verschmolz, war über alle Maßen schön.“ <?page no="181"?> 181 Ratlose Barbaren geläuterter Menschen hin. Diese Ausrichtung auf eine antizipierbare Communitas der Barbaren wird durch Anspielungen auf Nietzsche unterfüttert 19 - wodurch zusätzlich der Überwindungstopos einer dekadent gewordenen, saturierten Kultiviertheit anklingt. Doch auch dieser gemeinsame Fluchtpunkt bleibt als Entwurf widersprüchlich: Während einerseits die sprachlichen Substrukturen, die noch ein transgressives Denken grundieren, zum verbindenden Medium erklärt werden, über den sich die ekstatisch-barbarischen Zustände verwirklichen --und im Zusammenspiel mit den Lesenden auch intersubjektiv vermitteln - ließen, dementiert der Roman andererseits die faktische Umsetzbarkeit dieser Idee. Begründet wird dies erneut durch die angebliche Fortschrittlichkeit der Idee selbst: Immer wieder hat es Männer, die dieses interessante Leben verfolgten, beschäftigt, warum trotz alledem Slims Pläne, die eine Welt hätten neu aufbauen können, scheiterten. Nichts von seinen Ideen ist bis heute verwirklicht; vielleicht nicht einmal er selbst. Nun, nachdem ich das Manuskript des deutschen Ingenieurs gelesen habe, glaube ich es zu wissen. Er war zu langschrittig; er ließ die allgemeine und naturgemäße Entwicklung nie an sich herankommen; die Folge davon war, daß Menschen, die weniger begabt waren als er und ihm nicht folgen konnten, es im allgemeinen weiter brachten. (T 14) Dieser Passus aus der Einleitung des fiktiven Herausgebers Robert Müller versucht, einen Bogen zu spannen zwischen der Poetik in Brandlbergers Aufzeichnungen und der paradoxen Möglichkeit, sie als Ensemble von Ideen zu tradieren. Damit erst wird das Projekt der Abenteurer zu einem imperialistischen Projekt, wobei klar wird, dass sich der Expansionswille nicht auf territoriale oder politische Bereiche bezieht, sondern vielmehr auf eine intellektuelle Agitation abzielt, die auf der imaginären Tropenexpedition aufbaut: Das ist nämlich die Pointe. Es stellt sich heraus, daß er, der Nordländer, die Tropen in sich hat. Er braucht gar nicht erst an den Äquator zu gehen, er hat ihn in sich. Sein Gehirn, mit einer üppigen Vegetation von Tropen und Gleichnissen angefüllt, ist aus den Rückständen seiner Abstammung zu erklären. Inmitten der kalten Zone ist er ein klimatisches Residuum. Dieser Mensch, den ich dort zeige, ist bei aller Kultur, die er besitzt, gleichsam ein „neuer Wilder“. (T 333) 19 Müller betont an mehreren Stellen, dass sich vor allem ein Typus zur Vervollkommnung in den Tropen eignet --dieser wird mit dem „Prinzip des Blonden“ (T 286) beziehungsweise dem „Nordländer“ (T 333) verknüpft. Nietzsches Phantasma einer „blonden Bestie“ wird hier als Komplement des Tropischen inszeniert, wobei für Müller wie für Nietzsche der imperialistische Antrieb --ohne eine essentialistisch-rassische Idealisierung - das entscheidende Moment darstellt. Vgl. Brennecke, Detlef: „Die blonde Bestie. Vom Mißverständnis eines Schlagworts“, in: Montinari, Mazzino/ Müller-Lauter, Wolfgang/ Wenzel, Heinz (Hg.) Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung. Band 5. Berlin-New York: De Gruyter 1976, S. 113-145. <?page no="182"?> 182 Ursula Knoll und Matthias Schmidt Der Text selbst wird so zur Manifestation und -- soweit er die Lesenden zu fesseln vermag -- Realisation dieses poetisch schöpferischen Menschen, dessen künftige, expressionistische Selbstverwirklichung bereits proleptisch anklingt. Der imperialistische Subtext bezieht sich insofern nicht auf Faktisches, sondern auf einen phantasmatischen Auftrag, der bewusst zwischen realpolitischen und poetischen Tonlagen schwankt: „Der vollkommene Mensch ist imperialistisch; er steht nicht ausserhalb der Gesellschaft; sondern hat seine Gesellschaft nach sich selbst gebildet und seinen Platz in ihr gefunden.“ 20 Damit erhält der Barbar in Tropen zusätzlich zu seiner Rückwendung auf verdrängte Urkräfte auch eine keimhafte Ausrichtung auf eine Zukunftsvision, deren konkretere Gestalt allerdings weitgehend der interpolierenden Kreativität des Publikums überlassen wird. Das Strukturschema dieses „geistigen“ Imperialismus entspricht dabei einem Dreischritt, der Victor Turners Konzept des Liminalen 21 ähnelt: Um eine künftige Gemeinschaft anvisieren zu können, muss der Übergangsritus der Barbarei durchlaufen und überwunden werden. II. Einen anderen Barbaren entwirft der fünf Jahre später erscheinende Roman Der Barbar (1920). Nun hat die im Tropenprojekt auf ein phantasmatisches Versprechen hin ausgerichtete, noch nicht einholbare Figur konkret verortbare Attribute: einen Namen, ein Gesicht, einen Körper, einen Auftrag. Peter Schilder/ Per Shelder Lovroch/ Petrus Schildua Lovroch, der Anarchist, der Zigeuner, der Tscherkesse, der Seiltänzer, der wie ein Mädchen geht, der Bergfürst, der Intellektuelle, der „die deutschen Hochschulen durchgesessen und […] in den Begriffsnetzen der Metaphysik gezappelt [hatte]“, löst, so weist der Roman aus, „seine philosophische Fahrkarte“ 22 nach Amerika, für nichts weniger als die Umsetzung einer Utopie. Die vordergründige Ambivalenz innerhalb der Figur - eine als deutsch markierte Intellektualität, eine als kaukasisch markierte Körperlichkeit, die da zusammengespannt werden, gegeneinander streben, sich gegenseitig benötigen und zugleich ausschließen - diese Ambivalenz kontrastiert mit einem überraschend eindeutigen Wissen der Figur um sich selbst und dem, was sie zu Beginn des Romans an Erfahrung antizipiert: 20 Müller, Robert: Macht. Psychopolitische Grundlagen des gegenwärtigen Atlantischen Krieges. München: Hugo Schmidt 1915, S. 73. Vgl. dazu: Eykman, Christoph: „Das Problem des politischen Dichters im Expressionismus und Robert Müllers ‚Die Politiker des Geistes‘“, in: Expressionismus - Aktivismus - Exotismus: Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887-1924), S. 169-177. 21 Vgl. Turner, Victor: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. Ithaca-New York: Cornell University Press 7 1991, S. 94-130. 22 Müller, Robert: Der Barbar. Hg. v. Hans Heinz Hahnl. Paderborn: Igel Verlag 1993, S. 18. Nachfolgend zitiert unter der Sigle B. <?page no="183"?> 183 Ratlose Barbaren Er bewegte sich fließend und tänzerhaft schwerelos. Sein Gesicht trug kenntlich tatarische Züge, er war rabenschwarz und glänzend von Haar. […] Jedermann sah, daß Peter Schilder die Lage erfaßte, wußte was er wert war und was er erwarten lassen konnte. (B 7) Die souveräne Selbstsetzung, die der Roman seiner Hauptfigur unterschiebt, um sie in seiner Rhetorik permanent zu unterlaufen, spiegelt sich auch im Begehren der Figur: Das Versprechen des amerikanischen Neuanfangs liegt, in Fortführung des Tropenprojekts, in der Idee eines neuen Menschen, die schon im Anwerbungsbüro körperlich greifbar wird, am Arbeitsstrich, einem schwülen Raum, in dem sich Per Shelder unter die Arbeiter_innen aus Europa mischt, die darauf warten, für die Farmarbeit angeheuert zu werden: Peter Schilder erkannte die vollendete Form, die er vor sich hatte, ein unverlegenes Können und Wissen. Der Genuß, den er beim Anblick der steinharten Körper empfand, in denen so viel freies Land aufgestapelt lag, löste in ihm Behagen aus; er empfand es, unter Volk zu sein, wie er es sich vorgenommen hatte. Er sagte sich, daß er den Anläufen einer Richtung beiwohne; er war ausgezogen, ein Vorurteil, einen bestimmten Menschen, das Volk an sich zu entdecken. (B 13) Per Shelders tanzender Körper in einer Ansammlung von steinharten, festen Körpern, in denen freies Land aufgestapelt liegt und die somit das Verhältnis von Körper und Raum in sich verkehren, markiert den Gegensatz, die unüberbrückbare Trennung zwischen ihm und den anderen. Folgerichtig heißt das Begehren zunächst Entgrenzung des Körpers, um Teil von ihnen zu werden, Teil von „jene[n] Anderen, romantisch beklemmenden, präzisen Lebensmaschinen, einen hochstehenden Eigenwuchs und Selbstbetrieb, zu dem er sich bekehren würde, die wirklich Geräumigen, Flachen, Weiten… […].“ (B 14f.) Das Aufgehen im Kollektiv als entgrenzter Körper folgt dabei zunächst keiner Logik der Selbstauflösung, sondern stellt ein hyperbolisches Unterfangen dar, die Einverleibung der anderen in sich selbst: Zu seinen großen rhetorischen Augenblicken kam ihm der Gedanke, daß er das Chaos wäre, die verantwortliche Seele aller Vorgänge, daß in ihm die großen Rassen der Zeit zusammenstießen, die Deutschen, Amerikaner und Slawen, der ganze drittgeteilte Mensch der Zukunft. (B 20) Auch wenn die Utopie im Körper selbst liegt, die Vereinigung soll sich auf einem Salatfeld auf MacPherson’s Gemüsefarm materialisieren: Per Shelder, der sich nun, schon ganz amerikanisch, dem Projekt eines handelnden Pragmatismus unterwirft, um seine Utopie zu vollziehen, packt an, was anzupacken ist. Die Narration wechselt in die Perspektive dieses Ichs, hier an dieser Stelle, ein einziges Mal im Roman, der seine Perspektiven und Fokalisierungen beständig wechselt, diesem Per Shelder zunächst auf den Leib rückt, um ihn dann im zweiten Teil des Romans ganz zu verlieren. Die sich selbst herbeiarbeiten- <?page no="184"?> 184 Ursula Knoll und Matthias Schmidt de, auf die Utopie schielende Subjektformation auf dem Feld wird zu jenem Moment, der zwei unvereinbare Konzepte in einen Kompromiss zwingt, der schon so oberflächlich angelegt ist, dass er nicht anders kann als sich in seiner eigenen Absurdität festzulaufen: Beide Pole seiner Herkunft, die wilde, kaukasische, individualisierte Körperlichkeit und ihr Gegenteil, die deutsche verwaltete, vergeistigte, kollektive Antikörperlichkeit will Per Shelder in die Symbiose zwingen, die die Grundlage für diesen neuen Menschen darstellt: „Ich will die volle Lebenssache - Praktische Arbeit! “ (B 22f.) Allein auf dem Salatfeld also jätet er Unkraut, reißt die Pflanzen aus dem trockenen, harten Boden, bis ein Farmhelfer ihn darauf aufmerksam macht, dass es die Salatsetzlinge selbst sind, die er ausharkt. Ein Moment der Scham, der Reue, des Versagens ebenso wie der Selbsterkenntnis, die sich aus der Ich-Perspektive in die distanziertere Er-Fokalisierung flüchten muss: „Er achtete nicht die Arbeit, den Arbeiter, das Gearbeitete, sondern die Idee, die sie deckte, ihre Poesie, ihren dramatischen Duft, den flüchtigen Schatten […]“ (B 26). Dinge und Ideen werden getrennt, die Unvereinbarkeit zwischen sprachlicher und körperlicher Erfahrung und Schöpfung von Welt scheint unüberbrückbar und entscheidet sich hier zugunsten der Idee, die sich vom Salatfeld ins Feld des Abstrakten zurückzieht. Nach diesem Vorfall als körperlich zu schwach und zu unvernünftig eingestuft, wird Per Shelder die Feldarbeit entzogen: „Die Gesetzmäßigkeit des Schweren und Massiven, die hier Körper formte und auch dem Gemüte Urteile und Wünsche mit täglichem Drucke diktierte, schied ihn aus.“ (B 32f.) Auf der Farm ist er gescheitert. Der Zufall spielt ihm jedoch in die Hände, er wird als Cowboy eingesetzt, eine Arbeit, in der er nicht nur aufgeht, sondern die durch ihre Bewegung, dem Reiten als Moment der Gleichzeitigkeit von Entziehen und Erdung, unverhofft einen neuen Versuch denkbar macht, die Dinge den Ideen anzuschließen und so den Neuanfang zu verwirklichen: In der Verschmelzung mit dem Pferd, der Absage an die Vorstellung eines einheitlichen, abschließbaren Körpers, gelingt es Per Shelder, das Nomadische der Ideen mit einem durch die Gesetzmäßigkeit der Gravitation geformten Körper zu vereinen, ihre Gegensätzlichkeit zu neutralisieren, dieses Mal im Bild des Phorischen: die Euphorie (die Entgrenzung im Rausch) und das der Schwerkraft unterworfene Tragen als Form von Beständigkeit (des eigenen Körpers, des anderen Körpers, des Bodens, auf dem diese galoppieren) greifen ineinander. Sie bestätigen die Utopie erneut, auf dem Rücken des Pferdes, als etwas provisorisch Lebbares, das eine Ahnung abgibt von dem, was dieses Amerika auch jenseits der Prärie werden kann und soll: Er hatte Grüne, Bläue, Weite im galoppierenden Blute, alles was das Pferd hatte, mit dem er zusammengehörte, aber keinen wilden Ehrgeiz, kein Vordertier, keine Aufgabe; er war nicht der Stärkere und Angestrengtere, sondern einfach der Sieger, den die eigene Masse beglückt. Die Gesetzmäßigkeit des Schweren und Massiven formte hier diesen Tierkörper und war kein Druck mehr, den <?page no="185"?> 185 Ratlose Barbaren sie auf die Wünsche und Urteile des Gemüts ausübte, sondern ein Zug, das unmittelbare, nächste Fallen. Die göttliche, unwidersprochene Trägheit der Masse erzeugte die Eile, den Vorsprung, den Sieg. (B 36) Die Idylle des Cowboys wird jäh unterbrochen durch einen Mord auf der Farm, der Per Shelder unterstellt wird und diesen zur Flucht veranlasst. Auch die Erzählung bricht mit ihrer bis dahin etablierten Ordnung. Fingierte Presseartikel, ein Abenteuer-Fortsetzungsroman (The Adventurer, Friedrich Oldenburg), eine psychologische Untersuchung dieses Phänomens (Informations for politics and public psychology) und ein literaturwissenschaftlicher Essay (The american episode) nehmen Motive des ersten Teils des Romans auf, wiederholen und interpretieren die Erzählung von Amerikareise, Biographie und Mordfall in der jeweils gattungstypischen Rhetorik. Die Figur selbst verschwindet aus dem Text und wird zu einem abstrakten, kollektiven Phänomen eines konsumatorischen Anarchismus (Shelderismus) und zu einer Figuration des imperialistischen Diskurses: der Barbar. Je mehr sich die Figur körperlich entgrenzt, bis hin zu ihrer Entkörperlichung, desto präsenter wird sie im Diskurs. Vom relativ abgeschlossenen Raum von MacPherson‘s Kraut- und Obstfarm im Nordwesten von Chicago disseminiert Per Shelder als Projektionsfläche, als Idee in fingierte Sekundärtexte. Die Transgression des Körperlichen liegt nicht nur in der vom Text von Anfang an etablierten Uneindeutigkeit von Shelders Ursprung, die alle Zuschreibungen als verfehlt entlarvt, sondern spinnt sich weiter im Entziehen: Per Shelder vervielfältigt sich in diesem Textkaleidoskop, wird dadurch aber nicht greifbarer. Als Figur tritt er erst am Ende wieder in den Roman, als Gerücht seiner Anwesenheit in einer Mühle in Kanada - ein flüchtiger Schatten, auf den nur die gesammelten Zeitungsausschnitte und Essays verweisen, die unter seinem Bett gestapelt sind. Die Geste - von der Figur zur sich fortschreibenden Figuration -, die der Roman vollzieht, findet sich als Denkfigur wieder in den definitorischen Versuchen, die die fingierten Texte unternehmen, um nun endlich das titelgebende Barbarische fassbar zu machen: Wo die Sinnlichkeit nichts Persönliches mehr hat, sondern sich wie im geologischen Prozeß in Formen inkrustiert, die immer gegenständlicher und immer unpersönlicher werden, beginnt die Zivilisation. […] Zwischen dem Barbaren, der bodenständig und ewig, aber niemals sachlich oder aktuell ist, und der Zivilisation […] beginnt ein aufreibender […] Kampf. Lovroch war [der] Prototyp des Barbaren (B 98) heißt es im Trivialroman, der diese Hypothese durch Shelders fatales Abenteuer des Ankommens in der Zivilisation um den Preis des Verschwindens wortreich illustriert. Zivilisation erscheint hier als eine in Dinge sedimentierte Sinnlichkeit, die weder individualisiert noch kollektiv gedacht wird. Sie ist <?page no="186"?> 186 Ursula Knoll und Matthias Schmidt Ding, Objekt, einfach da. Der Barbar hingegen, wenngleich bodenständig und ewig, wird an das Reich der Ideen gebunden, die als Abstraktionen den Dingen beständig zuwider laufen und irgendwann von ihnen zerrieben werden, wofür Shelders Schicksal steht. Der psychologische Aufsatz übernimmt diese Struktur und versucht nun seinerseits, die bunten Bilder dieses Abenteuers in eine weitere Interpretation umzuschreiben, die das Einzelschicksal Shelders in etwas allgemeingültig Menschliches überhöht: Unter „Barbar“ ist ein sinnlicher und innerlicher Menschentypus zu verstehen, dessen eigene Kulturhöhe inkommensurabel zur gleichnamigen Erscheinung nach den Begriffen Amerika-Europas steht. Der Barbar versucht es, dieses in praktischen Gegenständen und ihrer Lebensökonomie ausgedrückte Weltgefühl nachzufühlen.“ (B 119) Die schon im ersten Teil des Romans etablierten Hierarchien von Utopie- Wirklichkeit sowie Ding-Idee schreiben sich fest und auch hier scheint es keine andere Lösung zu geben als jene, die Per Shelder auf dem Salatfeld schon einmal durchgespielt hat: mit einem simplifizierenden Pragmatismus der Anpassung durch Arbeit der Utopie hinterherhinken, bis sie eingefangen ist. Die in dieser Textcollage etablierte Vorstellung des Barbarischen bricht mit dem Barbarenbild in den Tropen. Sie bricht aber nicht mit den epistemologischen Grundlagen, auf die beide, der Barbar des Tropenprojekts und der Barbar des Shelderismus, angewiesen sind, um zu funktionieren: Der Widerspruch zwischen verkörperlichter und versprachlichter Wirklichkeit scheint nicht nur ambivalent, er wird als unüberbrückbar zementiert. Der letzte fingierte Text, der literaturwissenschaftliche Essay, lässt das Barbarische in diesem Sinn, vielleicht auch gewollt, auf den Roman selbst gewendet lesen: Kennzeichnend für die Episode ist der Mangel an einem rechten Abschluß der Erzählung. Sie endet mit einer Pointe und hat die Hauptaufgabe, ein abenteuerliches Schicksal sozusagen in flagranti zu ertappen. (B 120) Daß es eine amerikanische Spezialität geben sollte, den literarischen Torso, oder gleich ganze Systeme von solchen Torsi, al fresco, Bilder des Wortes, das berauschte die Öffentlichkeit. (B 121) Die Vervielfachung im Text mag vielleicht berauschen - vom Tänzer zum Torso, das ist das Spiel. Aus der Volte Text-im-Text, die die jeweilige Rhetorik der einzelnen Genres zwar nachahmt, sich aber nie freimachen kann von der expressionistischen Sprache des ersten Teils, die permanent in die Kopien hineinbricht, nährt sich die Illusion, den Barbaren durch Text, durchs Erzählen fassbar gemacht zu haben, denn das Sprechen wuchert, treibt unaufhaltsam weiter, und damit das Begehren an der Utopie, sein Begehren. Aber es ist ein transgressiver Körper, Roman wie Figur und Figuration, der nichts überschreitet, in dem sich alles mischt, der sich entgrenzt, die Entgrenzung zurücknimmt, der verweiblicht, dann vermännlicht, rassisiert und für souverän erklärt wird, der zu einem Ismus abstrahiert und zu einer Personifikation <?page no="187"?> 187 Ratlose Barbaren eingefroren wird, doch am Ende dieses Prozesses entzogen ist: der Hinweis auf seine Anwesenheit - als Figur, als Figuration, als Roman - sind nicht Druckspuren im Leintuch oder der Decke, es sind die Texte unter dem Bett: ein bloßer Verdacht. Alles bleibt offen. Nichts ist gesagt, was nicht zurückgenommen, entkräftet, anders wiederholt oder gegen sich selbst gewendet werden könnte. Damit nimmt der Roman die im Tropenprojekt noch implizit formulierte Hoffnung zurück, dass Literatur eine wirklichkeitsverändernde Praktik sein kann und stellt ihr im Modell des parodistischen Zitierens eine zynische Abgeklärtheit entgegen, die den emphatischen Anspruch der Erneuerung durch poetologische Verfahren bestenfalls ausstellt: Auch der Roman selbst ist eben ein weiterer Text in der Reihe der Shelder-Texte, die alle dasselbe umkreisen und in Variationen wiederholen, dabei aber vereinzelt nebeneinander stehen und keinen Prozess der Verständigung als Voraussetzung einer Kollektivwerdung mehr anregen können oder wollen. Literatur reflektiert, sie parodiert, sie wiegt gegeneinander auf, aber verläuft sich dabei, wie alles andere auch. Damit ist jene fünf Jahre zuvor in den Tropen entwickelte Überwindungsfigur des Barbarischen als eine durch Poetik antizipierbare Communitas der Barbaren als imperialistischer, phantasmatischer Auftrag für ein Denken neuer Kollektivformen und -erfahrungen unterlaufen: der Roman wendet sich gegen die Annahme des expressionistischen Projekts, in der Poetologie des Textes, also durch den schöpferischen Akt des Schreibens und des Lesens, diese neue, ins Utopische gewendete Gemeinschaft als Erfahrung vorwegnehmen zu können. Im Barbar scheitern alle Texte an der Aufgabe, sich als Texte zu transzendieren, sich als Idee zu verkörperlichen und darin eine Vorahnung kommender Gemeinschaft einzulösen. Gleichzeitig ist die Figur des Barbaren nur unterlaufen, nicht in ihrem Bedeutungspotential verabschiedet, wie schon allein der Umstand bestätigt, dass sie als titelgebend gesetzt wird. Shelder, der Barbar, hat sich entzogen, ist ungreifbar geworden, nicht aber tot, wie seine Vorgänger im Tropenprojekt. Etwas wirkt den Texten entzogen weiter, das suggeriert das Ende des Romans. Im Zusammenlesen beider Romane lässt sich so eine Entwicklung nachzeichnen, die nicht nur die Vorstellung des Barbarischen modifiziert, sondern darüber hinaus das imperiale Projekt selbst einer Revision unterzieht. Letztendlich werden beide Konzeptionen des Barbarischen demontiert: weder geht es um eine fruchtbare Verabschiedung überlieferter Traditionen (Barbar), noch um die aktive Wiederaneignung eines atavistischen Erbes (Tropen). Dieser zweifache Bruch mit der impliziten Narrationsfolie des Barbarischen bebildert eine Erfahrung fundamentaler Verunsicherung. Er stellt jede Form ekstatischer Aneignung aus als von vornherein zum Scheitern verurteilte Fiktion, da das Barbarische, das zunächst ein zu überwindendes Übergangsstadium repräsentiert, für die Protagonisten in beiden Romanen zu einem Dau- <?page no="188"?> 188 Ursula Knoll und Matthias Schmidt erzustand wird. Als solcher befragt und bezweifelt er nicht nur unablässig die Möglichkeit der Überwindung, sondern auch die beiden Referenzbereiche des Übergangs - die Tradition als Ankerpunkt, die umgestaltet werden soll und den Fluchtpunkt zukünftiger Ordnung, die es aufzubauen gilt. Was in Turners Dreischritt als liminaler Übergangsmoment konzipiert wird, dessen Durchlaufen Grundbedingung für jede Form des gereift Gemeinschaftlichen darstellt, wird hier zur Erfahrung der Vereinzelung und Selbstauflösung, die jede Verständigung und damit Vergemeinschaftlichung verunmöglicht. In Tropen vollzieht sich dieser Bruch nur auf der Ebene des Erzählten: Brandlberger scheitert, die Möglichkeit einer Überschreitung durch poetische Sprache aber bleibt unbeschadet. Der Roman hält an der Idee eines geistigen Imperialismus fest, der durch die programmatische Poetisierung manifest wird, die Selbstsetzung expressionistischen Schreibens als avantgardistische Vorwegnahme zukünftiger Gemeinschaftsmodelle also nicht angreift. Der Barbar geht darüber hinaus, indem er nicht nur Shelders Amerikanismus als Klischeevorstellung ausstellt, 23 die kein ekstatisch-transgressives Potential mehr anbietet, sondern gerade den in den Tropen entworfenen Poetik- Diskurs problematisiert. Die beiden Teile des Romans - Shelders scheiternder Neuanfang und die Diskursivierung seiner Geschichte durch die zitierten Texte - klaffen auseinander, der Roman holt die Figur und ihre Geschichte nicht ein. Die Spaltung zwischen Erzählen und parodistischem Zitieren verweigert Textkohärenz, es bleibt bei einem Changieren zwischen beiden Verfahren, das sich in seinem Bestehen auf Ambivalenz gegen eine klare Manifestation schöpferischer Selbstverwirklichung richtet. Damit lässt sich der Barbar als eine kluge Weitertreibung des Tropen-Projekts lesen, in dem die in den Tropen problematisierte faktische Nichtumsetzbarkeit imperialistischer Erweiterungsphantasien auf die Ebene der sprachlichen Struktur --und narrativer Konstruktion - selbst rückgewendet wird. Der utopische Menschenentwurf imperialistischer Prägung weicht einer Ratlosigkeit, die der scheinbaren Eindeutigkeit imperialistischer Ideologie entgegenläuft. Die in ihr ausgedrückte Richtungslosigkeit wirkt dabei insofern ideologiekritisch, als sie die Vorstellungen von Progression und Ordnung als implizite Erzählstränge fragwürdig werden lässt. In der unfreiwillig etablierten Liminalität als Dauerzustand werden Tradition und Utopie als Bezugspunkte brüchig, ebenso wie die Überwindung als Bewegung zwischen diesen beiden Polen durch den Verlust fragwürdig wird. Der „barbarische“ Bogen, der beide Romane durchzieht, lässt sich als tendentiell reflexive, in jedem 23 Vgl. Göktürk, Deniz: Künstler, Cowboys, Ingeneure … Kultur- und mediengeschichtliche Studien zu deutschen Amerika-Texten 1912-1920. München: Wilhelm Fink 1998, S. 224; Otto, Victor: Deutsche Amerika-Bilder. Zu den Intellektuellen-Diskursen um die Moderne 1900-1950. München: Wilhelm Fink Verlag 2006. <?page no="189"?> 189 Ratlose Barbaren Fall aber post-imperiale Erzählung lesen, da sie versucht, Redeweisen angesichts einer grundlegenden Verunsicherung zu entwickeln. Die Ratlosigkeit soll metaphorisch und narrativ fassbar gemacht werden, auch um sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zu gewinnen, in denen der Überschuss des Ratlosen die Programmatik imperialer Erzählstrukturen irritieren kann. Es ist diese gewagte Poetologie, die Robert Müllers literarischen Texten ihre anhaltende Bedeutung zuweist. <?page no="190"?> 190 Ursula Knoll und Matthias Schmidt <?page no="191"?> 191 Die Dissertation von Ivo Andrić Davor Dukić Die Dissertation von Ivo Andrić - eine Interpretation im postimperialen Kontext I. Das Werk Ivo Andrićs - eine undankbare und dabei doch einfache Aufgabe Jede Analyse eines Werkes von Ivo Andrić stellt ein paradoxes Vorhaben dar - es ist eine gleichzeitig undankbare und zugleich einfache Aufgabe. Undankbar ist sie vor allem deshalb, weil alle Facetten des Werkes von Andrić schon ausführlich analysiert wurden: Die ihm und seinem Werk gewidmete Literatur lässt sich in einem menschlichen Leben wahrscheinlich nicht bewältigen. Das bedeutet, dass auch die besten Kenner seines Œuvres sich nie sicher sein können, ob ihre Thesen tatsächlich so innovativ sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Es scheint eher plausibel, im Voraus anzunehmen, dass jeder neue Text über Andrić als eine einzigartige Kombination der schon anderswo vorhandenen Thesen und Einsichten aus der Sekundärliteratur zu verstehen ist. Andererseits ist diese Aufgabe auch eine leichte, da die Semantik im Andrićs Werk eher denotativ ist: in einer genuin realistischen Manier sind Ironie, als Denkweise und Lebenseinstellung und nicht als bloße Sprachfigur, sowie Sarkasmus oder ideologische Provokation in seinem Werk nicht zu erwarten. Auch sein Stil ist dabei alles andere als hermetisch. In vorliegender Arbeit steht seine Dissertation Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter Einwirkung türkischer Herrschaft (Graz 1924) im Mittelpunkt, wobei es auf den ersten Blick scheinen würde, als ob die Aufgabe, diese Dissertation zu analysieren, eine noch einfachere Aufgabe wäre: Die Sachliteratur ist, im Vergleich zur Bibliographie zu seiner Erzählprosa, keinesfalls so umfangreich, und der transparente, denotative Stil ist diesem Genre immanent. Die Dissertation von Andrić hat in der Literaturgeschichtsschreibung sicherlich weniger Echo gefunden, weil sie ziemlich spät publiziert wurde - erst 1982, nach dem Tod ihres Autors. 1 Da es sich um einen relativ 1 Das erste Konzept seiner Dissertation hat Andrić auf Serbisch geschrieben und danach selber ins Deutsche übersetzt und ergänzt, vgl. dazu Konstantinović, Zoran: „O <?page no="192"?> 192 Davor Dukić kurzen Text handelt, der mit Hauptthematik seines literarischen Werks eng verbunden ist, wurde er inzwischen von Andrić-Experten mit zahlreichen präzisen und einleuchtenden Einsichten analysiert. 2 Jedoch muss in diesem Kontext noch eine andere Frage gestellt werden: Warum wird über Andrić und sein Werk, trotz der gerade erwähnten entmutigenden Gründe, weiterhin sehr viel geschrieben? Die Antwort, dass es sich einfach um einen kanonischen Schriftsteller handelt und ihm Aufmerksamkeit gebührt, ist wahrscheinlich richtig - sie beleuchtet jedoch nur einen Teilaspekt der Sekundärliteratur, insofern sie die fortwährende Produktion einer Menge routinemäßiger Fachliteratur erklärt. Deshalb ist diese Antwort zugleich tautologisch. Die Anregung für avancierte Andrić-Studien leitet sich nicht ausschließlich aus dem Status des Schriftstellers ab, sondern vor allem aus dem politischen und ideologischen Potenzial, das in seinem Opus vorhanden ist. Über Andrićs Werk kann man unpolitisch oder unparteiisch schreiben, falls man sich nur mit rein formalen Aspekten beschäftigen will. Anders gesagt, über Thematik und Ideologie im Prosawerk Andrićs zu schreiben, bedeutet in jedem Fall, sich mit kleineren Abweichungen in einem ziemlich schmalen Interpretationsspielraum zu bewegen, beziehungsweise sich notgedrungen einem schon bestehendem Denklager anzuschließen. Gerade in Anziehungskraft solcher literaturgeschichtlich-ideologischer Legitimation kann man Ursachen für das rege Interesse an Andrićs Werk und damit verbunden auch die wachsende Zahl der bibliographischen Einheiten zu Andrić suchen. Das gleiche Interesse ist Beweggrund für die Themenwahl meines Beitrags. Andrićevom doktoratu“, in: Sveske Zadužbine Ive Andrića I (1982), H. 1, S. 259-276, S. 275. Das erste Mal wurde die Dissertation im ersten Heft des Periodikums Sveske Zadužbine Ive Andrića I (1982), S. 1-237 publiziert, und zwar parallel in der offiziellen deutschen Version und in der serbischen Übersetzung von Zoran Konstantinović. Die englische Übersetzung (The Development of Spiritual Life in Bosnia under the Influence of Turkish Rule) von Želimir B. Juričić und John F. Loud wurde 1990 veröffentlicht (Durham- London: Duke University Press). Noch vier Mal wurde nur die serbische Fassung publiziert (Beograd: Prosveta, 1994, 1995, 1999; Beograd: Službeni glasnik, 2009). Die Passagen aus der Dissertation werden hier aus dem zweisprachigen Sammelband Der Nobelpreisträger Ivo Andrić in Graz / Nobelovac Ivo Andrić u Gracu (hg. v. B. Tošović, Graz-Beograd 2008) zitiert. Die Ziffern in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser in den Fußnoten zusätzlich als „Andrić“ ausgewiesenen Ausgabe. 2 Vgl. beispielsweise Vučković, Radovan: „Značaj disertacije za genezu Andrićevog književnog dela“, in: Andrić, Ivo: Razvoj duhovnog života u Bosni pod uticajem turske vladavine. Beograd: Službeni glasnik 2009, S. 149-185; Rizvić, Muhsin: Bosanski muslimani u Andrićevu svijetu. Sarajevo: Ljiljan, 1995; Beganović, Davor: „Islam und Christentum zwischen Ablehnung und Verflechtung. Der Franziskaner-Zyklus von Ivo Andrić gelesen im Kontext seiner Dissertation“, in: Slavica Tergestina 15 (2013), S. 92-130. <?page no="193"?> 193 Die Dissertation von Ivo Andrić II. Entstehungskontext und Inhalt Eine wohl bekannte Tatsache ist, dass Andrić seine Dissertation relativ schnell geschrieben und noch schneller verteidigt hat. 3 Im akademischen Jahr 1912/ 1913 hat Andrić sein Studium an der Zagreber Universität begonnen, um schon im nächsten akademischen Jahr das Studium an der Universität Wien fortzusetzen, wobei er das Sommersemester 1914 an der Universität Krakow verbracht hat. Während des Krieges ist es zu einer längeren Studienpause gekommen, so dass Andrić erst im Frühling 1918 sein Studium wieder in Zagreb fortsetzen konnte, wobei er dieses dritte Studienjahr ohne Teilnahme am Unterricht absolvierte. 1919 hat er ohne Diplomabschluss zuerst eine Stelle im Religionsministerium und danach im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten des eben gegründeten Staates der Serben, Kroaten und Slowenen bekommen. Nach seinem Dienst in Botschaften und Konsulaten in Vatikan, Bukarest und Triest wurde er im Januar 1923 zum Vizekonsul in Graz ernannt. Ein halbes Jahr später wurden das „Gesetz über Beamte und sonstige Staatsdiener“ und die „Verordnung über die Klassifizierung und das Arbeitsprogramm von Beamten“ im neu gegründeten Königreich SHS verabschiedet. Laut dieser Gesetze war es nicht mehr erlaubt, die Stelle eines Vizekonsuls ohne Diplom innezuhaben, so dass Andrić Ende des Jahres aus dem Amt entlassen wurde. Davor konnte Andrić noch im November 1923, das heißt nach einer sechsjährigen Pause, sein Studium der Slawistik und Geschichte an der Universität Graz fortsetzen. Schon am 15. Mai 1924 hat er seine Dissertation abgegeben und knapp einen Monat später wurde er, nach positiven schriftlichen Beurteilungen der Begutachter und erfolgreich bestandenen Abschlussprüfungen zum Doktor der Philosophie promoviert. Die Dissertation von Andrić besteht aus fünf Kapiteln und einem Anhang. 4 Im ersten Kapitel („Vorgeschichte. Das geistige Leben in Bosnien vor der türkischen Eroberung“) wird die Bedeutung der Existenz dreier Konfessionen für das geistige Leben des vorosmanischen Bosnien diskutiert. Dabei räumt Andrić relativ wenig Platz der serbisch-orthodoxen Kirche zugunsten der katholischen Kirche ein und am umfassendsten wird die Rolle der Patarenen dargestellt. Im Patarenentum sieht Andrić eine gewisse Vorläuferbewegung zur späteren osmanischen geistigen Scheidewand gegen den Westen: In einem ungleichen und sehr erbitterten Kampfe gegen den Katholizismus, hat das Patarenertum zwischen Bosnien und der westlichen Welt jene Felsenwand zu errichten begonnen, die im späteren Verlaufe von dem Islam weiter 3 Alle Angaben über den Entstehungskontext von Andrićs Dissertation wurden dem Aufsatz „O Andrićevom doktoratu“ von Konstantinović (S. 260-264, S. 272) entnommen. 4 In der zweisprachigen Ausgabe Der Nobelpreisträger Ivo Andrić in Graz / Nobelovac Ivo Andrić u Gracu von Tošović (2008) wird den Inhalt der Dissertation ausführlich wiedergegeben. <?page no="194"?> 194 Davor Dukić angeführt und zu einer solchen Mächtigkeit erhöht wurde, dass sie auch heute noch, wiewohl sie längst zerfallen ist, in einer dunklen Scheidelinie nachwirkt, die nicht ohne Anstrengung und Gefahr überschritten wird. (237) 5 Den Schwerpunkt des zweiten Kapitels („Die Ausbreitung des Islams als unmittelbare Einwirkung der türkischen Herrschaft“) stellt die Islamisierung Bosniens dar. Die Hauptursache einer relativ erfolgreichen Islamisierung findet Andrić in den Bemühungen der Bosnier, vor allem des bosnischen Adels, ihren Grundbesitz zu behalten. Auch im Knabenzins [Devşirme], als einer Art sozialen Aufstieges, sieht Andrić ein Mittel für das rasche und erfolgreiche „Eindringen des Islams“. Die zentrale Bedeutung in der Dissertation ist in ihrem dritten Kapitel enthalten („Der Einfluss der sozialen und administrativen Einrichtungen des Islams, in ihrer Verkörperung in der türkischer [sic! ] Herrschaft, auf das Leben der nicht-muhammedanischen Bevölkerung“). Hier führt Andrić die wesentlichen imagotypen Attribute des osmanischen Bosniens aus: „gesellschaftliche Ungleichheit“, „wirtschaftliche Unterordnung“, „Konservativismus“, „Korruption“, „Bestechlichkeit“ und ähnliches. Der letzte Satz im Kapitel fasst die Einstellungen des Autors zu diesem Thema zusammen: Nicht einmal jenem Teile der Südslaven, der zum Islam übertrat, konnten die Türken einen kulturellen Inhalt oder eine höhere historische Mission bringen; für den christlichen Teil ihrer Untertanen aber führte ihre Herrschaft nur zu einer Verrohung der Sitten und zu einem Rückschritt in jeder Beziehung. (280) Der zitierte Absatz stellt einen axiologischen Höhepunkt des ganzen Kapitels dar, denn zusammengefasst wird der Gedanke, dass die türkische Zeit keine positiven Errungenschaften für die moslemische Bevölkerung mit sich gebracht hat. Das vierte Kapitel („Das geistige Leben des katholischen Bevölkerungsteils während der Türkenherrschaft in seiner charakteristischen Verkörperung dem literarischen und kulturellen Wirken der Franziskaner“) ist eine Skizze aus der Geschichte der franziskanischen literarischen Kultur in Bosnien. In diesem Teil ist imagologisch relevant, dass Andrić bei den bosnischen Franziskanern dieselben Eigenschaften wie bei den Patarenern, „ihren Landesleuten und Glaubensgegnern“, bestätigt findet, und zwar „[den] Drang nach geistiger Unabhängigkeit, die Widerspenstigkeit, eine gewisse Exklusivität und Neigung zur Xenophobie“ (290). Um in der osmanischen Gesellschaft überleben zu können, müssten sie auch die Sitten der Macht- 5 In der Literatur über Andrićs Dissertation werden immer wieder dieselben Passagen zitiert. Ich werde auf solche Stellen hinweisen, da dies für eine weitere Erforschung der Dissertation beziehungsweise für ihre Interpretationen nützlich sein könnte. Vgl. dieses Zitat auch bei Beganović: „Islam und Christentum zwischen Ablehnung und Verflechtung“, S. 110. <?page no="195"?> 195 Die Dissertation von Ivo Andrić haber übernehmen und nachahmen, meint Andrić: „Sie mussten sich der Bestechung und der ‚List‘ bedienen“ (292). Im fünften Kapitel („Die serbisch-orthodoxe Kirche, ihre Entwicklung und ihr Wirken während der türkischen Herrschaft, als Ausdruck des geistigen Lebens des orthodoxen Bevölkerungsteiles“) wird vor allem die literarische Kultur und das Schulwesen der bosnischen Orthodoxen vom 16. bis 19. Jahrhundert kurz dargestellt. Noch kürzer ist der Anhang, der ganz der bosnischen Alhamijado-Literatur gewidmet ist und den bezeichnenden Titel trägt „Das hybride Schrifttum des bosnischen Muhamedaner [sic! ] als Erscheinungsform der Einwirkung des Islams auf diesen Bevölkerungsteil“. Sein letzter Satz schließt sich an den oben zitierten letzten Satz des dritten Kapitels an und wiederholt seine einseitig ausgeführte These vom verheerenden Einfluss des Islams: „Auch auf diesem Gebiete erwies sich die Einwirkung des Islams als äußerst hemmend und unfruchtbar“ (328f.). Obwohl seine Dissertation in dieser Form rasch und positiv bewertet wurde, haben die Gutachter auch einige kritische Bemerkungen gemacht, vor allem in Hinblick auf die mangelhaft ausgeführte vergleichender Perspektive (365). Exemplarisch für die kritischen Einstellungen ist die Behauptung des serbischen Historikers Sima Ćirković, der allerdings erst mehr als fünf Jahrzehnte nach ihrer Entstehung und auf Aufforderung von Vladimir Dedijer seine kritischen Punkte zusammenfasste. 6 Er hat dem Autor den unkritischen Gebrauch der schon damals veralteten Literatur über die mittelalterliche Geschichte Bosniens vorgeworfen. Andrić hat seine Dissertation nie publiziert - obwohl im Gutachten „die beabsichtigte Drucklegung“ erwähnt wurde (365) -, und nach der erfolgreichen Verteidigung hat er sie nicht mehr weiter bearbeitet. Dazu findet sich in seiner Korrespondenz eine explizit negative Beurteilung seiner eigenen Arbeit. Kurz nach erfolgreicher Verteidigung der Dissertation hat Andrić in einem privaten Brief an seine Zagreber Freundin Zdenka Marković geschrieben: „Ich habe viel Zeit und Energie in diese Arbeit investiert. Es ist jetzt Zeit, etwas Vernünftigeres zu machen.“ 7 Diese persönliche Herabwürdigung seiner eigenen Dissertation ist ein Beweis dafür, dass Andrić sie nur als eine Möglichkeit zur Rettung seiner diplomatischen Karriere angesehen hat und dass sie nur mit externer Motivation geschrieben wurde. Allerdings hat er darin zugleich das Hauptthema seines literarischen Interesses im akademischen Diskurs behandelt. Gleichzeitig hat er damit auch seinen zukünftigen ideologischen Kritikern zusätzlichen Stoff 6 Vgl. Tošović: Ivo Andric, S. 112. 7 Popović, Radovan: Andrićeva prijateljstva. Beograd: Službeni glasnik 2009, S. 85. Im Original lauten die Sätze: „Mnogo vremena i energije sam uložio u taj posao. Sada valja misliti da se štogod pametnije radi.“ Das selbe Zitat findet sich auch bei Eismann, Wolfgang: „Ivo Andrićs Dissertation im Kontext zeitgenössischer Bosnienbilder“, in: Tošović: Ivo Andrić, S. 59-75, S. 64. <?page no="196"?> 196 Davor Dukić gegeben. Da ich mich auch zum Lager der kritischen Analytiker des Werks von Andrić zähle, werde ich zwei Aspekte seiner Dissertation hervorheben, wovon der erste - der Status der Kultur der muslimischen Bosniaken - sich im primären Fokus befindet und eindeutige negative Urteile über diese Kultur fixiert, womit er für unser Thema von zentraler Bedeutung ist. Der zweite von mir besprochene Aspekt betrifft Andrićs Bewertung der kulturellen Hybridisierung, die in der Dissertation nicht expliziert und deshalb als kontextabhängig und interpretationsbedürftig erscheint. III.1 Vernachlässigung der Kultur der muslimischen Bosniaken Der Titel der Dissertation - Die Entwicklung des geistigen Lebens in Bosnien unter Einwirkung türkischer Herrschaft - verspricht eine analytische Darstellung der frühneuzeitlichen und modernen Kultur der muslimischen Bosniaken, weil man gerade in dieser Religionsgruppe vom stärksten Einfluss der osmanischen Herrschaft und islamischen Kultur ausgeht. In der fünfteiligen Dissertation ist, wie vorher erläutert, das längste, vierte Kapitel den bosnischen Katholiken und das gerade halb so lange fünfte Kapitel dem bosnischen „orthodoxen Bevölkerungsteil“ gewidmet. Hätte sich Andrić im Titel seiner Dissertation anstatt der angesprochenen Besprechung des ganzen „geistigen Lebens in Bosnien“ nur auf das „geistige Leben der nicht-muhamedanischen Bevölkerung“ beschränkt, hätte er sich diesen Vorwurf ersparen können. Aber auch dann würde man ausführlichere Informationen über die bosnisch-islamische Kultur erwarten, die als eigentliches Hauptthema ausschließlich im kurzen Anhang der Dissertation auftaucht. Die Ursachen für diese Vernachlässigung kann man zweifach erklären: a) Der Autor identifiziert die bosnischen Muslime mit der gesamten Periode der türkischen Herrschaft. Ein Argument dafür ist der undifferenzierte Gebrauch des Begriffs „die Türken“, womit sowohl die Osmanen als auch die muslimischen Bosniaken bezeichnet werden. Miranda Jakiša hat in diesem Zusammenhang mit Recht bemerkt, dass Andrić die Originalausgaben seiner literarischen Werke mit Glossaren versehen hat, in denen hervorgehoben wird, dass „die Ausdrücke Türken und türkisch oft im Laufe der Erzählung auch für die bosnischen Muslime verwendet [werden], selbstverständlich nicht im rassischen und ethnischen Sinne, sondern als falsche, aber damals übliche Bezeichnungen“ 8 8 Vgl. Jakiša, Miranda: „Literatur als Archiv und Ort des Kulturtransfers: Die Habsburgermonarchie und die Osmanen bei Ivo Andrić“, in: Kurz, Marlene/ Scheutz, Martin/ Vocelka, Karl/ Winkelbauer, Thomas (Hg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Wien. Wien-München: <?page no="197"?> 197 Die Dissertation von Ivo Andrić zu verstehen sind. Das ist aber die Anmerkung eines reifen und vorsichtigen Schriftstellers, der als junger Doktorand und Diplomat sich einer undifferenzierten Benennungsstrategie bedient, welche in einer wissenschaftlichen Arbeit völlig unangebracht, allerdings für jede Charakterisierung des Feindes in einem projugoslawisch-islamophoben Weltbild in der Regel zum Einsatz kam. b) Die Kultur der muslimischen Bosniaken wird als ein unerwünschtes historisches Phänomen aufgefasst. Die Bestätigung dieser These beziehungsweise eine Variante von ihr, findet man schon am Anfang des zweiten Kapitels, in der oft zitierten Hauptthese der Dissertation: Von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, dass Bosnien im kritischsten Momente seiner geistigen Entwicklung, zur Zeit als die Gärung der geistigen Kräfte ihren Höhepunkt erreichte, durch ein asiatisches Kriegervolk erobert wurde, dessen soziale Einrichtungen und Sitten die Negation jedweder christlichen Kultur bedeuten und dessen Religion - unter anderen klimatischen und gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden und jeder Anpassung unfähig - das geistige Leben des Landes unterbunden, entstellt und zu einer Ausnahmeerscheinung gestaltet hat. (243) 9 Mit der Unterschätzung ihrer Rolle und der damit verbundenen Vernachlässigung der bosnischen Muslime ist auch eine oberflächliche Darstellung der osmanischen Kultur und türkischen Herrschaft verbunden. Die Lebensumstände der christlichen Bevölkerung im osmanischen Bosnien werden anhand einer Raja-Gesetzessammlung aus dem 7. Jahrhundert geschildert, die für die Christen und Juden im eroberten Damaskus bestimmt war. Andrić hat diese Darstellung unkommentiert aus dem schon damals mehr als hundert Jahre alten Buch Des osmanischen Reichs Staatsverfassung und Staatsverwaltung, dargestellt aus den Quellen seiner Grundgesetze (1815) des berühmten Osmanisten Joseph von Hammer übernommen. Offenbar ist er überzeugt, dass diese Gesetzessammlung aus dem 7. Jahrhundert die Essenz des Islams wiedergibt und deshalb von ihm auch im 20. Jahrhundert funktionalisiert wird. Zur Illustration der klischeehaften Repräsentation der osmanischen Kultur in Andrićs Dissertation kann man einen Satz aus dem ersten Kapitel zitieren, in dem erklärt wird, warum die osmanische Eroberung Bosniens so schnell und erfolgreich erfolgte: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2005, S. 635-646, S. 640; das selbe Zitat findet sich auch bei Beganović: „Islam und Christentum zwischen Ablehnung und Verflechtung“, S. 96-97, siehe Anmerkung 6. 9 Dasselbe Zitat findet sich auch bei Konstantinović: „O Andrićevom doktoratu“, S. 268; Vučković: „Značaj disertacije za genezu Andrićevog književnog dela“, S. 174; Rizvić: Bosanski muslimani, S. 34; Lovrenović: Ivan: „Šest decenija tajne“, in: Bosna Franciscana XIII (2005), H. 23, S. 109-112, S. 111. <?page no="198"?> 198 Davor Dukić Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Türken, welche ins Land drangen, der politischen und sozialen Zersplitterung und Anarchie Bosniens ihre Einigkeit und absolute Zentralisation in der Verwaltung, eiserne Disziplin und blinden Gehorsam entgegensetzten; und ebenso, dass sie den lähmenden religiösen Streitigkeiten in Bosnien ihren felsenfesten Glauben, der bis zum Fanatismus reichend, ihnen Angriffsfreude und nie erlahmende Widerstandskraft verlieh, entgegenstellen konnten. (241) In diesem kontrastiven Image, das eine charakteristische Figur des imagotypen Denkens mit klarer Polarisierung der Rollen in sich birgt, findet man eine ganze Reihe der überwiegend positiven Stereotypisierungen der osmanischen Kultur beziehungsweise des osmanischen Staates (politische Einigkeit, Verwaltungszentralisation, Gehorsam und Disziplin), welche ihre Herkunft aus dem frühneuzeitlichen christlichen antiosmanischen Diskurs ableiten und hinreichend bekannt sind. 10 Die negativen Attribute sind genauso traditionell und stereotyp und bilden dabei einen starken Kontrast zu den positiven: Im dritten Kapitel schreibt Andrić den Türken die Bestechlichkeit als ihren essentialistischen Charakterzug zu: Die Bestechlichkeit, die wie es scheint, die Türken als ein Rassenlaster schon bei ihrem ersten Erscheinen zeigten, nahm im Laufe der Zeit, mit dem Schwinden ihrer Macht, noch mehr zu und verbreitete ihren schädlichen und zersetzenden Einfluss im Lande. (278f.) Genauso widersprüchlich zu den schon zitierten positiven Attributen der Türken erscheint ein kontrastives Image der christlichen und türkischen Knaben in Andrićs Darstellung der Knabenlese [Devşirme] am Ende des zweiten Kapitels: Diese Kinder, als Abkömmlinge von urwüchsigen, gesunden Bergbewohnern, haben kraft ihrer angeborenen Intelligenz und Tüchtigkeit viel leichter als die arbeitsscheuen und mit Lastern behafteten Türken Ehren und Ansehen erlangt. (252) 11 Die These Andrićs, nach der die türkische Herrschaft in Bosnien durchaus negative Wirkungen sowohl in materieller wie auch in geistiger Hinsicht hinterlassen hat, muss man nicht mit weiteren Zitaten aus seiner Dissertation bekräftigen. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage: Warum hat Andrić die Einwirkung der türkischen Herrschaft so negativ bewertet? 12 Die naheliegen- 10 Beispielsweise gerade in den Werken von Bartol Đurđević (erste Hälfte des 16. Jhs.), den auch Andrić in seiner Dissertation (als Bartholomäus Georgievitz) auf S. 250 erwähnt hat. Vgl. zu Đurđević meinen Aufsatz „Das Türkenbild in der kroatischen literarischen Kultur vom 15. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Lauer, Reinhard/ Majer, Hans Georg (Hg.): Osmanen und Islam in Südosteuropa. Berlin: De Gruyter 2014, S. 163-164. 11 Dasselbe Zitat findet sich auch bei Vučković: „Značaj disertacije za genezu Andrićevog književnog dela“, S. 177; Rizvić: Bosanski muslimani, S. 43. 12 Eine gewisse axiologische Ambivalenz in der Darstellung der Osmanen findet man <?page no="199"?> 199 Die Dissertation von Ivo Andrić de Antwort, dass es nur aufgrund der vermeintlichen zivilisatorischen Inferiorität des Osmanischen Reiches erfolgt, ist nicht ganz zutreffend, da Andrić zumindest zur Zeit der Eroberung von Bosnien, aber auch noch ein Jahrhundert danach den Osmanen gewisse zivilisatorische Vorteile zugesteht. In diesem Zusammenhang ist vor allem das heute noch sehr oft hervorgebrachte historiographische Stereotyp über die goldene Zeit des Osmanischen Reiches im 16. Jahrhundert und über seinen Verfall im 17. Jahrhundert anzuführen, ein Stereotyp, das Andrić direkt auf Bosnien übertragen hat. 13 Die plausiblere Antwort beziehungsweise den ideologischen Hintergrund für seine äußerst negative Bewertung der osmanischen Herrschaft in Bosnien kann man in Andrićs Konzept der Hybridisierung suchen. III.2 Einseitige Bewertung der Hybridisierung Hier soll es keinesfalls um eine anachronistische Projektion eines postmodernen Terminus auf die Zeit der ersten Moderne gehen, sondern dieses Konzept lässt sich schon aus dem Titel im Anhang aus Andrićs Dissertation ablesen: „Das hybride Schrifttum der bosnischen Muhamedaner“. Nicht nur der explizite Gebrauch dieses Terminus der Hybridisierung ist von Bedeutung, sondern vielmehr die implizite Bewertung seines Inhalts. Am Ende des ersten Zitats in diesem Beitrag, beziehungsweise am Ende einer der wichtigsten Thesen der ganzen Dissertation wird Bosnien als eine „Ausnahmeerscheinung“ definiert, womit auch der hybride Charakter der gesamtbosnischen Kultur bezeichnet wird. An diesen Satz schließt eine auch oft zitierte Anmerkung an: Diese, wie sämtliche anderen Stellen dieser Abhandlung, an denen vom Einflusse der türkischen Herrschaft die Rede ist, sind nicht etwa als eine Kritik der islamischen Kultur als solcher [sic! ] zu verstehen, sondern nur als Kritik jener Folgen, die ihre Übertragung auf ein christliches, slavisches Land zeitigte. (334) 14 Der Sinn dieser Anmerkung ist eigentlich die Kritik jener Hybridisierung, aus deren Folge Bosnien zu der von Andrić genannten Ausnahmeerscheinung wird. Es soll daher nicht weiter verwundern, dass Andrić, was schon hervorgehoben wurde, auch die bosnische Alhamijado-Literatur negativ bewertet. 15 natürlich auch in Andrićs Dissertation. Neben den schon zitierten positiven Attributen des osmanischen Staates (Andrić: S. 241) werden in der Dissertation folgende Errungenschaften relativ positiv bewertet: die ersten 150 Jahre der osmanischen Herrschaft in Bosnien wegen der Errichtung öffentlicher Bauwerke (Andrić: S. 272f.), Wesir Topal Osman-Pascha (1865-1869) (Andrić, S. 276) und noch einige „Statthalter und Staatswürdenträger“ (Andrić: S. 347f., siehe Anmerkung 74). 13 Andrić, S. 272f. 14 Dasselbe Zitat findet sich auch bei Konstantinović: „O Andrićevom doktoratu“, S. 270; Rizvić: Bosanski muslimani, S. 34-35; Eismann: „Ivo Andrićs Dissertation im Kontext zeitgenössischer Bosnienbilder“, S. 68, Anm. 6. 15 Zoran Konstantinović hat in seinem Aufsatz auch das ideologische Potential des <?page no="200"?> 200 Davor Dukić Dass bei Andrić jede Form kultureller Hybridisierung als ein wesentliches Kennzeichen des vormodernen Bosniens negativ bewertet wird, bestätigen einige semantisch-axiologische Merkmale aus seinen später entstandenen historischen Romanen. Die analytische Argumentation soll sich dabei, zumindest wenn es um Die Brücke über die Drina [Na Drini ćuprija, 1945] und Wesire und Konsuln [Travnička hronika, 1945] geht, auf die Ebene der einzelnen Figuren konzentrieren, weil das ganze Bosnien - und hier sind Višegrad und Travnik einfach Metonymien für Bosnien - als ein hybridisierter Raum dargestellt wird. Im Roman Die Brücke über die Drina gibt es mindestens vier Figuren, die das Konzept der Hybridisierung verkörpern: zwei von ihnen kann man als ethnische, die anderen zwei als kulturelle Bastarde definieren. Der einzige von ihnen, der aus der Perspektive des Erzählers durchaus positiv bewertet wird, ist Toma Galus, ein serbisch-österreichischer Mischling, der im Roman Na Drini ćuprija eine Nebenrolle spielt. Salko Ćorkan, der andere ethnische Bastard im gleichen Roman - der Sohn einer Zigeunerin und eines Osmanen -, ist der bekannte Višegrader Narr und deshalb auch mit gewissen paternalistischen Sympathien dargestellt. Die kulturellen Bastarde sind mehr oder weniger kranke Persönlichkeiten: Der Regimentsarzt Dr. Balash, ein magyarisierter Slowake leidet unter Minderwertigkeitskomplexen, und Gustav, ein Deutschtscheche und eine der negativsten Figuren im Roman, ist von einer pathologische Brutalität gekennzeichnet. 16 Weniger komplex und stärker präsent scheint das Thema der hybriden Charaktere im Roman Wesire und Konsuln zu sein. Die Levantiner wie Davna, Giovanni Mario Cologna oder die Frau von Nicola Rotta, obwohl eigentlich nur als Nebenfiguren, sind mit vielen Kommentaren des Erzählers so plastisch dargestellt, dass der „Levantinismus“ als ein Begriff, oder vielmehr als ein selbstständiges Thema des Romans funktioniert. Dabei wird dieser Begriff aus der Perspektive des zentralen ideologischen Bewusstseins im Roman in Begriffs „das Hybride“ bei Andrić bemerkt: „Das Hybride bedeutet für Andrić offensichtlich nicht nur, dass etwas eine doppelte Herkunft hat, sondern scheint es, als ob er die Bedeutung dieses Wortes direkt von dem Begriff hybris ableitete, so dass das Hybride etwas Aufgeblasenes, Eingebildetes wäre, was als eine furchtbare Last aufgelegt wurde und einen unaufhörlichen Druck ausübt. Und damit ist es so, als ob er eine Bestimmung für die Beziehung, die er in der Sphäre des Geistigen definieren will, gefunden hätte: die ganze Begegnung Bosniens mit den Türken ist eigentlich hybrid.“ [„Hibridno za Andrića očito znači ne samo da je nešto dvojakog porekla, već značenje ove reči kao da neposredno izvodi iz pojma hybris, pa bi hibridno bilo nešto što je nadmeno, uobraženo, što je naleglo kao stravičan teret i što neprekidno pritiskuje. A time kao da je našao određenje za odnos koji želi da definiše u sferi duhovnog: hibridan je zapravo celokupan susret Bosne sa Turcima.“, S. 142] 16 Über die hybriden Figuren des Romans Die Brücke über die Drina vgl. meinen Artikel „Logik der interkulturellen Handlung(en) in Ivo Andrićs Roman Die Brücke über die Drina (1945)“, in: Tošović, Branko (Hg.): Andrićs Brücke - Andrićeva ćuprija. Graz- Banja Luka-Beograd: Institut für Slawistik der Karl-Franzens-Universität, Narodna i univerzitetska biblioteka Republike Srpske, Beogradska knjiga 2013, S. 241-254, S. 248. <?page no="201"?> 201 Die Dissertation von Ivo Andrić der Erzählrede vorwiegend negativ bewertet. Auch Anna Maria von Mitterer, die hysterische Frau des österreichischen Konsuls und eine von den negativsten Figuren im Roman, wird als ein hybrider Charakter konzipiert, als eine „polnisch-ungarisch-wienerische Mixtur“. 17 Alle diese Beispiele bilden, wenngleich sie keine endgültigen Beweise für die grundsätzlich negative Bewertung der Hybridisierung sind, zumindest die Bausteine für diese These von der negativen Bewertung der meisten hybriden Erscheinungen in Andrićs Romanen. Dies stellt jedenfalls eine starke Tendenz in Andrićs Opus dar. 18 IV. Dissertation im postimperialen Kontext Unter dem postimperialen Kontext verstehe ich hier - in etwas vereinfachter Darstellung - vor allem das postmoderne Umdenken der alte Imperien beziehungsweise die Revalorisierung ihres kulturellen Erbes, die als eine Art historischer Nostalgie und als Folge einer Enttäuschung mit modernen Nationalkulturen interpretiert werden kann. Die heutigen Analytiker verstehen Osmanisches und Habsburger Reich als, vereinfachend gesagt, multikulturell funktionierende Gesellschaften, 19 was Andrić sowie auch die zeitgenössischen Anhängern von „Mlada Bosna“ [„Junges Bosnien“] und wahrscheinlich die Mehrheit der damaligen Intellektuellen im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen auf keinen Fall so verstanden haben, waren sie doch im Emanzipationskampf engagiert. Darf man dann dem jungen Andrić aus dem Jahre 1924 in einer anachronistisch anmutenden Manier den Mangel an Sensibilität für ein (post)imperiales Denken vorwerfen? Poststrukturalistische Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung operieren jedenfalls mit dieser Begrifflichkeit, beispielsweise wird der ideologische Inhalt der Dissertation von Andrić durch eine Art postkolonialer Interpretation seines literarischen Werkes relativiert, wie etwa im Text von Davor Beganović, und auch hier wird schließlich eine postimperiale Interpretation der Dissertation unternommen. 17 Eine ausführliche Analyse des Themas „Hybridisierung“ im Roman Wesire und Konsuln findet man in meinem Artikel „Wesire und Konsuln - eine imagologische Analyse“, der im diesem Roman gewidmeten Sammelband des Projekts „Andrić-Initiative“ des Instituts für Slawistik an der Universität Graz bald publiziert wird. 18 Davor Beganović meint, dass die Metapher der „Scheidewand“ aus Andrićs Dissertation in seinem literarischen Werk durch die Metapher der „Schwelle“ ersetzt wurde. Im sogenannten Franziskaner-Zyklus beziehungsweise in den Erzählungen In der Klosterherberge (U musafirhani, 1923), Am Kessel (Kod kazana, 1930) und Die Probe (Proba, 1951), findet er einige Motive, die als Affirmation des Hybriden interpretiert werden könnten. Vgl. Beganović: „Islam und Christentum zwischen Ablehnung und Verflechtung“, S. 114-124. 19 So beispielsweise Barkey, Karin: Empire of Difference. The Ottomans in Comparative Perspective. Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 3-27. <?page no="202"?> 202 Davor Dukić Aus dieser Warte ist der ethnische Essentialismus, den man nicht nur in Andrićs Dissertation, sondern auch in Kommentaren seines auktorialen Erzählers regelmäßig findet, 20 das grundlegende Ideologem in Andrićs Denken, das folglich auch sein Erzählwerk prägt. Damit verbunden sind die positiven Bewertungen der rassischen, konfessionellen und schließlich der nationalen Homogenität, und dementsprechend die negative Bewertung jeder Hybridisierung. Andrićs geostrategisches Denken ist im folgenden Zitat aus dem zweiten Kapitel seiner Dissertation prägnant zusammengefasst: Nach seiner geographischen Lage hätte Bosnien die Donauländer mit dem adriatischen Meere, d. h. zwei Peripherien des serbo-kroatischen Elementes und zwei verschiedene Zonen der europäischen Kultur zugleich miteinander verbinden sollen. Dem Islam anheimgefallen, ist es nicht bloss ausser Stand gesetzt worden, diese seine natürliche Aufgabe zu erfüllen und an der kulturellen Entwicklung des christlichen Europas, dem es nach den ethnographischen und geographischen Merkmalen angehört, teilzunehmen, sondern es ist vielmehr, dank der einheimischen islamisierten Elemente, sogar zu einem mächtigen Bollwerk gegen den christlichen Westen geworden. In dieser unnatürlichen Lage bleibt Bosnien während der ganzen Dauer der Türkenherrschaft. (244f.) 21 Diese Sätze über Osmanen, die einen Bruch in der Geschichte Bosniens darstellen und vielmehr noch über das osmanische Bosnien, das einen radikalen Bruch im serbo-kroatischen Kontinuum bewirkt, hat der junge Andrić geschrieben, aber wahrscheinlich würde er den gleichen Sachverhalt auch fünfzig Jahre später unterschreiben. Zynisch ausgedrückt, der vorgestellte eigene geokulturelle Raum Andrićs ist auch nicht einheitlich, sondern zweiteilig: serbo-kroatisch, beziehungsweise dreiteilig: pannonisch-(dinaridisch)-adriatisch. Das sind für Andrić natürlich nur die inneren Grenzen einer einheitlichen westlich-christlichen, europäischen Welt. 22 Die gesamte orientale bzw. islamische Welt ist hingegen für Andrić die Welt des Anderen, die in seiner Dissertation - darüber gibt es keinen Zweifel - ganz negativ bewertet wird. In seinem literarischen Opus, vor allem im kurzen Roman Der verdammte Hof (Prokleta avlija, 1954) ist die Repräsentation des Orients jedoch etwas ambiva- 20 Das gilt besonders für den Roman Die Brücke über die Drina. Mehr darüber in meinem schon zitiertem Aufsatz „Logik der interkulturellen Handlung(en)“, S. 250-251. 21 Dasselbe Zitat findet sich auch bei Konstantinović: „O Andrićevom doktoratu“, S. 269; Lovrenović: „Šest decenija tajne“, S. 110. 22 Im viel zitierten Aufsatz von Esad Duraković wird die Ideologie der Dissertation als eurozentrisch bezeichnet. Das ist offensichtlich nicht falsch, jedoch bleibt ungeklärt, ob der Eurozentrismus eine ideologische Ausgangsposition in Andrićs Denken oder eher nur ein Nebenprodukt seiner jugoslawischen nationalen Ideologie ist, wie es Ivan Lovrić in seinem Aufsatz „Šest decenija tajne“ auf S. 111 suggeriert. Der ethnische Essentialismus und die Ablehnung der kulturellen Hybridisierung sehe ich als grundlegende Ideologeme des Wertesystems von Andrić, die in die Konkretisierungen beider genanten Ideologien integriert werden können. <?page no="203"?> 203 Die Dissertation von Ivo Andrić lenter. Die Dissertation von Andrić bleibt den Grenzen des Denkens in nationalen Kategorien verhaftet, womit sie eine leichte Beute für viele poststrukturalistischen Paradigmen der heutigen Literatur- und Kulturwissenschaft darstellt, die eine Kritik jedes Nationalismus als einer essentialistischen Kategorie implizieren. Andrić hat eine Form kultureller Hybridität an der Grenze zweier Großreiche registriert. Es scheint, dass er in den 1920er Jahren sogar den Rest des Osmanischen Reiches als eine einheitliche Kultur imaginiert hat. Und ein struktureller Vergleich des damaligen Königreichs Jugoslawien mit den multiethnischen und multikulturellen Imperien war für ihn wahrscheinlich nicht nur subversiv, sondern schlicht undenkbar. Deshalb kann man, folgt man dem Standpunkt des heutigen westlich-ideologischen Mainstreams, der Dissertation von Andrić denselben Konservativismus zuschreiben, den Andrić seinen bosnischen Landsleuten sowohl in seiner Dissertation als auch in seinem literarischen Werk so oft zugeschrieben hat. <?page no="204"?> 204 Davor Dukić <?page no="205"?> 5 Postimperiale Retrospektiven <?page no="206"?> 6 <?page no="207"?> 207 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse Marijan Bobinac Imperiale, nationale und transnationale Diskurse im essayistischen Werk Miroslav Krležas In achtzig Jahren (2014), falls sich jemand wieder in unserer Situation befinden und Wiener Grafen und Gräfinnen auf slawischen Bällen beim Kanonendonner und im Galgenschatten beschreiben wird, sollte er sich daran erinnern, dass es genau so in Wien auch vor achtzig Jahren (1934) zuging, und auch vor hundertsechzig Jahren (1848), und auch vor dreihundertsechsundneunzig Jahren (1618), und dass in Wien seit Menschengedenken im Galgenschatten und beim Kanonendonner getanzt wird. Diese Stadt wird deswegen Walzerstadt genannt, weil da Frauen und Kinder aus Kanonen getötet werden. 1 In diesen Zeilen, die Miroslav Krleža im Februar 1934 angesichts der brutalen Niederschlagung des Arbeiteraufstandes in Wien geschrieben hat, machen sich nicht nur seine Erschütterung über das Blutvergießen in der österreichischen Metropole sowie seine Entrüstung über die Gleichgültigkeit der Eliten bemerkbar; darin lässt sich unschwer auch ein wichtiger thematischer Aspekt erkennen, den Krleža in seinen fiktionalen wie auch nichtfiktionalen Texten oft variiert und unterschiedlich pointiert hat: seine radikale Kritik an der jahrhundertelangen habsburgischen Dominanz in Mittel- und Südosteuropa und an ihren - seiner Meinung nach - verheerenden Folgen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Daher kann es nicht verwundern, dass er im Kontext dieser Herrschaftspraxis nicht nur den Februarkrieg, sondern auch die gleichzeitig stattfindende Niederlage der österreichischen Sozialdemokratie betrachtet, einer politischen Bewegung, die sich - wie der kommunistisch gesinnte Krleža nicht anzumerken vergisst - schon Jahrzehnte davor durch ihre Unterwürfigkeit zum habsburgischen Staat kompromittiert habe. 1 Krleža, Miroslav: „Bečke varijacije“ [Wiener Variationen], in: Ders.: Evropa danas [Europa heute]. Zagreb: Zora 1956, S. 61-77, hier S. 77 (im Weiteren kurz als BV mit Seitenangabe zitiert; diese, wie auch alle anderen Zitate aus Krležas Werk wurden übersetzt von mir, M.B.). Zuerst erschienen in Krležas Zeitschrift Danas (3/ 1934, S. 357-365). <?page no="208"?> 208 Marijan Bobinac Genauso unterwürfig erscheint ihm das Verhalten kroatischer Eliten, welche - wie er in vielen Texten davor und danach hervorzuheben pflegte - durch Jahrhunderte für Habsburger Galgen zu errichten halfen und unbesorgt in ihren Schatten mittanzten: Die Tatsache, dass zahlreiche kroatische Adelige und Industrielle schreckliche Repressalien an der Zivilbevölkerung ignoriert und sich ungeachtet dessen an der Wiener Ballsaison 1934 beteiligt haben, wird von Krleža in Verbindung mit vergleichbaren Ereignissen während der Revolution 1848 gebracht, als sich der Kroate Banus Jelačić entschieden auf die Seite der habsburgischen Zentralgewalt stellte und daraufhin auf Hofbanketten gefeiert wurde. Kein Zweifel: Dieser oft variierte Gedanke Krležas - hier im Zusammenhang eines sich ständig wiederholenden Danse macabre inszeniert - weist weit über den aktuellen Anlass hinaus. Schon der Titel Wiener Variationen, mit dem er seinen Essay versieht, lässt auf die eigentümliche geschichtsphilosophische Konzeption des kroatischen Autors schließen, die - worüber auch in der Forschung Einigkeit herrscht - wesentlich durch Schopenhauers und Nietzsches Denken beeinflusst ist. Im Grunde handelt es sich um ein zyklisches geschichtsphilosophisches Modell, in dem sich der Lauf der Historie - wesentlich „von Diskontinuität, Machtmißbrauch und Dummheit gekennzeichnet“ 2 - in der Form einer „Wiederkehr des Immergleichen“ konstituiert. Die Geschichte begründet sich daher nicht auf einem linearen Kontinuum, das einen Sinn und ein Endziel hat; sie wird vielmehr von der Erfahrung der Kontingenz, als eine Art „Zirkelbewegung“ begriffen, ein Geschichtsverständnis, dem man nur mittels wechselseitiger Spiegelung von Gegenwart und Vergangenheit gerecht werden kann, wobei der Eindruck von einer Unveränderlichkeit menschlicher Verhaltensweisen über historische Epochen hinweg entstehen und dadurch auch die Vorstellung von einer Eigendynamik des geschichtlichen Prozesses suggerieren kann. Die periodisch verlaufende Wiederholung des historischen Geschehens, und namentlich im Bereich einer exzessiven Macht- und Gewaltausübung im Namen der gesellschaftlichen Oberschicht, gilt nach Krleža für die bisherige Geschichte. Zur Zukunft hin lässt der undogmatische Marxist aber „eine utopische Tür“ 3 offen und hält Modelle einer andersartigen, humanen Gesellschaftsorganisation für wünschenswert und möglich, obwohl seine Zukunftsprojektionen - wie einschränkend festzuhalten wäre - selten eine präzise Gestalt annehmen und kaum über eine abstrakte Würdigung des historischen Exempels Lenins oder der Oktoberrevolution hinausgehen. Eine Alternative zur Konzeption eines linear verlaufenden Geschichtsverständnisses in der bürgerlichen Historiographie, deren Darstellung nach Krleža ausschließlich aus 2 Žmegač, Viktor: „Krležas Geschichtsverständnis im europäischen philosophischen Kontext“, in: Bobinac, Marijan (Hg.): Porträts und Konstellationen 1. Deutschsprachig-kroatische Literaturbeziehungen. Zagreber germanistische Beiträge, Beiheft 6/ 2001, S. 3-18, S. 13. 3 Ebd. <?page no="209"?> 209 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse der Sicht sozialer Eliten erfolgt, sieht er in der Betrachtungsperspektive „von unten“, aus dem Blickwinkel Unterdrückter und Benachteiligter, jener sozialen Schichten, deren Existenz sich - seiner Meinung nach - durch Jahrhunderte im Zeichen immer wiederkehrender Ausbeutung, Verfolgung und Misshandlung abspielte und sich in dieser Form auch in seiner Gegenwart fortsetze. Von einer solchen Geschichtsauffassung sind auch Krležas Ansichten über das Verhältnis des imperialen, von Deutschösterreichern und Magyaren dominierten Zentrums zu kleinen, „peripheren“ Nationen der Donaumonarchie geprägt. Dass es sich dabei um ein Verhältnis der Asymmetrie zu Gunsten von Wien und Budapest handelt, ist für Krleža von Anfang an klar. An vielen Stellen seines essayistischen Werks sucht er diese These insbesondere am Beispiel des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 darzustellen, eines Vertragswerks, welches auch in der heutigen Imperienforschung als der wohl wichtigste Grund für die Dauerkrise in den letzten Jahrzehnten des Habsburgerreiches und darüber hinaus auch für dessen endgültigen Zerfall genannt wird. So äußert sich der amerikanische Historiker Solomon Wank zu dieser Frage 1997 folgendermaßen: The supranational ideology was weakened by the fact that in practice the Habsburgs ruled in a national sense in favour of the Germans and Magyars. This was implicit in the Compromise of 1867. In early February 1867, as the negotiations with the Magyar oligarchy were nearing their end, Baron (later Count) Friedrich Beust, the foreign minister, stated: „I am quite aware that the Slavic peoples of the Monarchy will view this policy [dualism] with distrust; but the government cannot ever be fair to all nations. Therefore we have to rely on the support of those with the most vitality and those are the Germans and the Hungarians.“ 4 Auch „mit zunehmender Modernisierung“ ist die Habsburger Monarchie, wie der deutsche Historiker Konrad Clewig bemerkt, „nicht zu einer Solidargemeinschaft geworden“; schuld daran war vor allem die politische Führung, die „[k]ein Konzept zur Förderung regionaler Entwicklung in ressourcenschwachen Gebieten entwickelt und durchgesetzt hätte“. Die Entwicklungskonzepte des Zentrums waren „nach der Maßgabe der wirtschaftlich erfolgreichen Kernbereiche geschmiedet“, am Ausgleich des Entwicklungsgefälles „war man nicht orientiert“. Insofern ist es, so Clewig, unwichtig, ob das Zentrum Wien als „deutsch“ oder als „multiethnisch“ zu begreifen ist: Entscheidend ist, „dass es […] ein Zentrum war mit wenig Verständnis für die Bedürfnisse der Peripherie“. Oder, mit anderen Worten, die Habsburger Monarchie „kannte keine Mittel, um an der Peripherie Nicht-Peripherie zu machen“. 5 4 Wank, Solomon: „The Habsburg Empire“, in: Barkey, Karen/ Hagen, Mark von: After Empire. Multiethnic Societies and Nation Building. Boulder/ Colorado: Westview Press 1997, S. 45-56, S. 51. 5 Clewig, Konrad: „Der begrenzte strategische Wert. Dalmatien als habsburgische Rand- <?page no="210"?> 210 Marijan Bobinac Sich immer der bevorzugten politischen und ökonomischen Stellung der beiden größten k.u.k.-Nationen innerhalb der Monarchie bewusst, schließt Krleža in seine Überlegungen zum Habsburger-Komplex konsequent auch den peripheren, südslawisch-kroatischen Kontext ein und rückt dabei immer den Gegensatz zwischen den privilegierten, dem habsburgischen Zentrum treuen einheimischen Eliten und der benachteiligten, jeglicher Emanzipationsmöglichkeiten beraubten Mehrheit der Nation in den Vordergrund. Im Hinweis auf die Machtverhältnisse an der Peripherie des Reichs macht sich aber auch ein anderer Aspekt imperialer Gebilde erkennbar, auf den die neuere Imperienforschung 6 einen besonderen Akzent legt: Betrachtet man nämlich solche Staatsformationen ausschließlich als ein einseitig asymmetrisches System von Hegemonialverhältnissen und von einseitiger Machtausübung, so kann der Blick auf ihre Komplexität und insbesondere auf die sehr unterschiedliche Machtverteilung in ihren Randzonen verdeckt werden. Falsch wäre es daher - wie Krleža frühzeitig erkennt -, die Schuld an der Misere in Kroatien und anderen südslawischen Gebieten der Monarchie nur an Wien und/ oder Budapest zu delegieren und gleichzeitig die Verantwortung eigener, zumeist inkompetenter und korrupter Eliten zu vergessen. Das - in Krležas Augen - lakaienhafte Verhältnis der kroatischen Führungsschicht zu den traditionellen österreichischen Eliten hat sich auch nach dem Zerfall der Donaumonarchie und der darauffolgenden Gründung des gemeinsamen südslawischen Staates nicht wesentlich geändert, ein Umstand, den er im Essay Wiener Variationen an der kroatischen (wie auch gesamtjugoslawischen) Teilnahme an den Wiener Bällen 1934 zu illustrieren sucht. Die Angaben zum Wiener Ballkalender entnimmt er der Neuen Freien Presse vom 11. Februar 1934, jener Ausgabe dieser Zeitung, die ihm - wie er hinzufügt - „als der letzte Wiener Gruß vor der Katastrophe“ (BV 63) in die Hände kam, und fokussiert dabei auf die Darstellung der „St. Sava- Feier der jugoslawischen Kolonie“, die sich - wie er aus dem Zeitungstext im deutschen Original zitiert - „in den letzten Jahren immer mehr zu einem Wiener Eliteball entwickelt [habe] und […] sich eines stets steigenden Zuspruchs aus den besten Kreisen der Gesellschaft“ (BV 64) erfreue. In seinem spezifischen, redundant-summierenden und zugleich ironisierenden Stil zählt Krleža viele Namen kroatischer und jugoslawischer Prominenter auf, die - zusammen mit zahlreichen Vertretern der Wiener hohen Gesellschaft - bei dieser Gelegenheit zu den Klängen des Donauwellenwalzers im Musikvereinssaal getanzt haben. Schon sechsundachtzig Jahre davor, 1848 - führt Krleža seine Argumentation weiter - hat sich beim Slawenball in provinz“. In: Maner, Hans-Christian (Hg.): Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens. Münster: Lit Verlag 2005, S. 217-234, S. 232f. 6 Vgl. Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt 2005. <?page no="211"?> 211 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse Wien neben den slawischen Aristokraten und Intellektuellen auch die hohe österreichische Prominenz versammelt: […] der regierende Fürst Lichtenstein, Fürst Schwarzenberg, Fürst Lambach, Graf Harrach, Graf Czernin, Graf Albert Attems, Graf Auersperg, Graf Wrbna, Graf Deym, Graf Kolovrat, Graf Salm-Salm, Graf Fesstetich, Graf Leo Thun, Graf Kinski, Graf Sándor-Sándor, Graf Orsich, Vizekanzler Baron Bedekovich, Baron Szilàgyi, Metel Ozsegovich, General Simunich, Vuk Stefanovich Karadzich, Doktor Miklossich, und viele andere Patrioten und slawische Prominente. (BV 65) Als bemerkenswert erscheint hier nicht nur die negative Konnotierung der Wiener hohen Gesellschaft, welche - wie Krleža den geschichtlichen Bogen mit seiner Gegenwart schließt - „ununterbrochen schon die sechsundachtzigste Saison auf Wiener Slawenbällen“ (BV 65) tanzt und in ihren Bann nach wie vor auch kroatische und südslawische Eliten zieht. Die Aufmerksamkeit verdient hier auch die Tatsache, dass Krleža in diesen karnevalistischen Trubel auch die südslawischen nationalen Integrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts mit einschließt, zu denen er sich, und insbesondere zum Illyrismus, der kroatischen nationalen „Wiedergeburtsbewegung“, zumeist negativ zu äußern pflegte. Die von ihm häufig wiederholte These, wonach diese Bewegungen nicht nur minderwertige kulturelle Produkte hervorgebracht haben, sondern sich darüber hinaus auch willfährig für habsburgische imperiale Interessen gebrauchen ließen, sucht er in den Wiener Variationen durch Zitate aus dem literarischen Werk des kaiserlichen Generals und Gelegenheitsdichters Banus Josip Jelačić zu illustrieren, über dessen Gedichte - so Krleža - „auf den Bällen als über das letzte und allerwichtigste literarische Ereignis geredet wurde, während Jelačić in Wien gleichzeitig österreichische Föderalisten erschießen und Galgen vor den Wiener Kirchen errichten ließ […]“ (BV 66). Verfehlt wäre es also, wollte man in Krležas Betrachtungen über den habsburgisch-imperialen Komplex eine grundsätzlich ablehnende Haltung allem Österreichischen gegenüber erblicken und nicht mitunter auch dessen Solidarisierung mit der unterdrückten Mehrheit der österreichischen Bevölkerung bemerken. Denn die Folgen dieser Politik österreichischer Eliten - und namentlich in Bezug auf die Hauptstadt Wien - lassen sich nach Krleža nur als verheerend bezeichnen: Wien ist die kaiserliche Residenzstadt, die all ihre Schlachten und alle Kriege in ihrer jahrhundertelangen Geschichte verloren hatte, gesiegt aber hatte sie ausschließlich in Wien [...] gegen ihre eigenen Bürger: während der Gegenreformation, im Jahre achtundvierzig und heute. Was für ein Fluch liegt auf dieser Stadt seit Jahrhunderten, so dass dem gesunden menschlichen Verstande beschieden ist, in Wien ewig im Zeichen des Henkerbeils und des Tanzes sein zu müssen, und dass die Mehrheit ihrer Bevölkerung zwischen den Galgen von Jelačić und Dollfuß jahrhundertelang kleinmütig schweigen muss, als Hochverräter bespuckt und gebrandmarkt! (BV 73) <?page no="212"?> 212 Marijan Bobinac Wie die Donaumonarchie - so Krleža - die Emanzipationsbestrebungen ihrer Bevölkerung zu verhindern wusste, als Imperium im internationalen Kontext gleichzeitig aber immer schwächer wurde und schließlich von der europäischen politischen Szene verschwand, so werde nun in ihrem Nachfolgestaat, der kleinen Republik Österreich, der Parlamentarismus abgeschafft und im gleichen Zuge auch eine brutale Repression gegen die politische Opposition und die streikenden Arbeiter durchgeführt. Folgerichtig erscheint es daher, dass Krleža diesen Tiefpunkt der bisherigen österreichischen Geschichte als einen weiteren Beleg für seine These von der Perpetuierung der Historie im Zeichen von Gewalt und Dummheit darzustellen sucht. Es wurde schon darauf hingewiesen, wie kurzsichtig ihm in diesem Zusammenhang die Politik der österreichischen Sozialdemokratie wirkt, deren gewaltsamer Untergang 1934 sich für den kroatischen Autor in vielerlei Hinsicht auch aus ihren austromarxistischen Illusionen erklären lässt. Obwohl Krleža - wie ebenso erwähnt - ein undogmatischer Anhänger der kommunistischen Ideologie war und daher häufig in Konflikt mit der Parteilinie geriet, stimmte er mit deren grundsätzlicher Ablehnung der Politik der sozialdemokratischen und der bürgerlichen Parteien, ja der parlamentarischen Demokratie überhaupt überein. So überrascht es auch nicht, dass er einer noch schärferen Kritik die - seiner Meinung nach - würdelose Zustimmung der liberalen Öffentlichkeit zu grausamer Niederschlagung des Arbeiteraufstandes durch die Exekutive unterzieht und dabei namentlich ihr Hauptorgan, die Neue Freie Presse, und ihren Kolumnisten, den berühmten Schriftsteller Felix Salten ins Visier nimmt. Die liberale Zeitung und ihr prominenter Mitarbeiter - zugleich jahrzehntelange Objekte scharfer satirischer Angriffe Karl Kraus’, des wohl bedeutendsten Vorbilds Krležas unter seinen Zeitgenossen - werden dabei vom kroatischen Autor nicht nur wegen ihrer Unterstützung für die Verbrechen der Dollfuß’schen Regierung attackiert, sondern darüber hinaus auch in sein eigentümliches Beziehungsnetz zwischen dem (ehemaligen) habsburgischen Zentrum und der südslawischen Peripherie einbezogen. Saltens Kolumne über die tragischen Ereignisse in Wien, die unter dem Titel Nervenprobe in der Neuen Freien Presse vom 18. Februar 1934 erschienen ist, wird von Krleža daher als Heuchelei entlarvt und in einen viel weiteren Kontext gerückt: In fremde Häuser einbrechen, hundertfünfzig Frauen und Kinder umbringen, aus Kanonen auf Küchen und Töpfe der Proletarier schießen, ganze Vorstädte mit Dynamit in die Luft jagen, und all das als „Nervenprobe“ und als eine „mutige Bravour im Äußersten der Unerschrockenheit“ zu bezeichnen, zugleich Präsident des österreichischen PEN-Clubs zu sein und sich am Kongress von Dubrovnik zu beteiligen, dort für die gegendeutsche Resolution stimmen, und parallel dazu mit Habsburg und Dollfuß zu kokettieren, Kant zu zitieren und Mitarbeiter der „Neuen Freien Presse“ zu sein, Felix zu heißen, Semit und Antisemit zu sein, und all das in einer Person heißt Felix Austria Salten! (BV 76f.) <?page no="213"?> 213 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse Krleža, der von Anfang an dem PEN-Club abgeneigt war und aus diesem Grunde auch dem historischen Kongress dieser Organisation in Dubrovnik 1933 fernblieb, nutzt hier die Gelegenheit aus, mit seiner Polemik gegen Salten auch seinen kroatischen Gegnern im liberalen literarischen Lager einen Seitenhieb zu versetzen: „[…] Felix Salten, Präsident der österreichischen Sektion des PEN-Clubs, ein Freund unserer Herren anerkannten Schriftsteller, auch Mitglieder des PEN-Clubs, ein Liberal, wie all diese liberalen Herren dieser liberalen Organisation des PEN-Clubs sind“ (BV 76). Wie Salten - so Krleža - nicht in der Lage ist, von seinen habsburgisch-liberalen Illusionen angesichts des faschistischen Vormarsches loszukommen und das zeitgenössische Geschehen in der Politik und Kultur in all seiner Komplexität zu erfassen, so geben sich ähnlichen Täuschungen auch die Vertreter der liberalen literarischen Szene in Kroatien hin, welche - von der Entwicklung im jugoslawischen Gesamtstaat tief enttäuscht - sich nun wieder für die österreichische Idee zu begeistern scheinen. Überhaupt: Viele Wesenszüge der untergegangenen Welt der Donaumonarchie lassen sich unschwer - wie Krleža schon zehn Jahre davor, 1924, nach einem Aufenthalt in Wien bemerkt - auch im neu begründeten südslawischen Königreich und namentlich in der politischen Praxis ehemaliger gegenhabsburgischer Aktivisten feststellen: Diese Kaiserstadt ist zugrunde gegangen! Mit all ihren Palästen, Baronen, spanischem Zeremoniell und Denkmälern! Und was dabei unlogisch ist und ich persönlich nicht begreifen kann: Wie können diese kleinen, provinziellen, in ihre Irredenta verliebten Patrioten, die endlich - im Zusammentreffen verschiedener Umstände - der Verwirklichung ihrer Ideale habhaft geworden sind, daran denken, dass der einzige Zweck unserer konjunkturellen Nachkriegsvereinigung war, die Methoden dieser Kaiserstadt in einer unintelligenten balkanischen Version auferstehen zu lassen? 7 Nichts Wesentliches hat sich - so Krleža in einem anderen Aufsatz aus den zwanziger Jahren - im neuen staatlichen Rahmen verändert, und insbesondere ist die autoritäre Herrschaftspraxis gleich geblieben: „Durchsuchungen, Polizei, Detektive, Verfolgungen, Protokolle, alles ist aufs Haar so geblieben, wie es auch war“; während „diese Maschine“, setzt Krleža fort, „früher von närrischen österreichischen Baronen und Paralytikern gesteuert“ wurde, so stehen jetzt an ihrem Steuer „irgendwelche provinzielle Zwetschken-, Lebkuchen- und Kerzenhändler und analphabetische Journalisten“. 8 An die Stelle der kompromittierten imperialen k.u.k-Herrschaftsform ist ein kleinformatiges, aber nach wie vor auf Dominanzverhältnissen aufgebautes Imperialgebilde getreten, welches den südslawischen Völkern - wie Krleža bald nach der 7 Krleža, Miroslav: „Razgovor sa sjenom Frana Supila“. In: Ders.: Deset krvavih godina. Sabrana djela Miroslava Krleže, Bd. 14-15, Zagreb: Zora 1957, S. 177-210, S. 204f. 8 Krleža, Miroslav: Panorama pogleda, pojava i pojmova. Sarajevo: Oslobođenje 1975, S. 145f. <?page no="214"?> 214 Marijan Bobinac Gründung des SHS-Königreichs klar wird - weder eine nationale noch eine politische, soziale oder kulturelle Emanzipation zu bringen vermag. Eine Alternative zu imperialen Staatsgebilden, zu jenem deutsch-magyarisch dominierten vor 1918 wie auch zu jenem serbisch dominierten in der Zwischenkriegszeit, sieht Krleža in einer konsequenten Beachtung von politischen, sozialen und kulturellen Rechten „kleiner“ Nationen, wobei er dabei nicht an einen separaten kroatischen Weg denkt, sondern sich - wenn vom jugoslawischen Gesamtstaat die Rede ist - für eine Gleichberechtigung aller Nationen in einem föderalen Rahmen einsetzt. Zu den Grundsätzen seines Denkens gehört demnach der Standpunkt einer „kleinen“ Nation, einer Nation, die weder ganz zu West-, noch ganz zu Osteuropa gehört (Mitteleuropa als Begriff benutzte er nur ungern). Für eine solche, „kleine“ Nation ist es konstitutiv, dass sie trotz ihrer eigenständigen Kulturtradition - und damit nähern wir uns wieder der antiimperial geprägten geschichtsphilosophischen Einstellung des kroatischen Autors an - jahrhundertelang als Objekt der Großmächte starker kultureller Überfremdung ausgesetzt war. 9 Die prekäre Lage kleiner Nationen lässt sich allerdings nicht nur durch einen beschleunigten Ausbau eigenständiger kultureller Institutionen beseitigen; hierzu muss auch ein völlig neues Bewusstsein von der eigenen nationalen Existenz in all ihren zeitlichen und räumlichen Aspekten konstruiert werden, ein neues - in den Termini der heutigen Kulturtheorie ausgedrückt - Narrativ, welches nicht auf romantischen Phrasen wie bisher, sondern - wie Krleža apodiktisch zu behaupten pflegte - auf einer „wahrhaftigen Darstellung der Fakten“ beruhen würde. In vielen essayistischen Texten aus der Zwischenkriegszeit hat Krleža verschiedene Segmente eines solchen Narrativs ausgearbeitet, wobei insbesondere seine radikale Verwerfung nationalistischer Selbstdarstellungen südslawischer Nationen (in diesem Zusammenhang wäre vor allem seine heftige Polemik gegen die sogenannte „kroatische literarische Lüge“ 10 zu nennen) sowie seine Bemühungen um die Formulierung einer spezifisch südslawischkroatischen Synthese kultureller Traditionen ins Auge fallen. Es liegt auf der Hand, dass man an eine systematische Verwirklichung dieses Anliegens ohne eine starke Unterstützung öffentlicher Stellen nicht denken kann. Daher kann es nicht verwundern, dass Krleža - der als Kommunist und radikaler Kritiker der königlich-jugoslawischen Herrschaftspraxis in der Zwischenkriegszeit auch selbst staatlichen Repressalien ausgesetzt war - die Gelegenheit zur Umsetzung diesbezüglicher Pläne erst nach dem Zweiten Weltkrieg, im Tito- 9 Vgl. dazu: Lauer, Reinhard: „Literarische Weggefährten. Ästhetische Weichenstellungen zu den Essays von Miroslav Krleža“. In: Krleža, Miroslav: Essays. Über Literatur und Kunst. Frankfurt/ Main: Athenäum 1987, S. VII-XVII, hier S. XII (im Weiteren kurz als Lauer mit Seitenangabe zitiert). 10 Der so betitelte Essay Hrvatska književna laž (Die kroatische literarische Lüge) wurde zum ersten Mal in der Zeitschrift Plamen 1 (1919) veröffentlicht. <?page no="215"?> 215 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse Jugoslawien bekam. Falsch wäre es allerdings zu glauben, dass sich Krležas Zusammenarbeit mit den kommunistischen Herrschern 1945 problemlos gestalten konnte. Im Gegenteil, sie erschien vorerst denkbar schwierig, hat er sich doch in den dreißiger Jahren mit der Führung der jugoslawischen KP in ästhetischen und politischen Fragen gründlich zerstritten: Als Befürworter einer engagierten avantgardistischen Literatur wollte er nämlich nicht nur die von der Partei verordneten Richtlinien des Sozialistischen Realismus in seinem eigenen Schaffen anwenden, sondern hat sich darüber hinaus im sogenannten Streit auf der jugoslawischen literarischen Linken, der um 1930 ausgebrochen ist und bis in die unmittelbare Nachkriegszeit dauerte, zum führenden Opponenten der parteitreuen ästhetischen Linie profiliert. Allem Anschein nach wurde Krležas Annäherung an seine ehemaligen Parteigenossen - wie vom führenden Krleža-Forscher Stanko Lasić vermutet wird - durch Tito selbst ermöglicht: Der pragmatische Politiker war sich nämlich der Bedeutung des Autors - spätestens seit den dreißiger Jahren galt Krleža als einer der hervorragendsten kroatischen und jugoslawischen Schriftsteller - für die Kulturpolitik des neuen kommunistischen Staates bewusst und ging über die früheren Konflikte taktvoll hinweg. 11 Im Gegenzug verstrickte sich Krleža in keine neuen Polemiken mit der Partei, ein Umstand, der ihn allerdings nicht daran hinderte, zeit seines Lebens die Position eines undogmatischen Marxisten aufrechtzuerhalten und darüber hinaus - insbesondere nach Titos Bruch mit Stalin 1948 - wesentlich zur Eröffnung neuer ästhetischer Perspektiven für jugoslawische Künstler und damit indirekt auch zu - wie auch immer unzulänglichen - Demokratisierungstendenzen in der Gesellschaft beizutragen. In dieser neuen Position, die jener eines Literaturpapstes nicht unähnlich war, erhielt Krleža die Möglichkeit, an der Durchsetzung seiner kulturpolitischen Anliegen zu arbeiten. Seine Vorstellungen von Inventarisierung und Uminterpretierung nationaler Kulturtraditionen sowie vom Aufbau fehlender Institutionen verknüpften sich in der Gründung des Zagreber lexikographischen Instituts 1950, zu dessen zentralem Projekt er - als lebenslanger Institutsleiter - die Arbeit an einer jugoslawischen Enzyklopädie machte. 12 Dass 11 Vgl. dazu: Lasić, Stanko: Krleža. Kronologija života i rada. Zagreb: GZH 1982, S. 323f. 12 An seinem großen lexikographischen Werk hat Krleža dreißig Jahre gearbeitet: Nachdem zwischen 1955 und 1971 acht Bände erschienen sind und die Enzyklopädie somit als abgeschlossen galt, begann sein Team eine zweite, wesentlich erweiterte Ausgabe vorzubereiten. Vor seinem Tode 1981 konnte Krleža jedoch nur den ersten Band der neuen Edition sehen; bis 1990 folgten noch fünf weitere Bände, so dass das vielfältige Material über Jugoslawien und dessen Teilrepubliken bis zum Buchstaben K bearbeitet und präsentiert wurde. Die Arbeit an der Enzyklopädie wurde aber in den achtziger Jahren immer mehr von Streitigkeiten zwischen den einzelnen nationalen Redaktionen begleitet, die ihren Ursprung in unterschiedlichen Einschätzungen über einige, vor allem national bestimmte Sachverhalte des enzyklopädischen Materials hatten und schließlich zur vorzeitigen Beendigung des Projektes führten. Eine genauere Erforschung dieses <?page no="216"?> 216 Marijan Bobinac ihm dabei eine großangelegte aufklärerische Mission mit starken kulturpolitischen Implikationen vorschwebte, geht unter anderem auch aus Krle as programmatischem Essay über die primären Aufgaben des geplanten lexikographischen Projektes hervor, den er unter dem Titel O nekim problemima enciklopedije (Über einige Probleme der Enzyklopädie) im Jahre 1952 präsentierte: Im Gegensatz zu bisherigen südslawischen nationalen Partikularismen, die wesentlich zu den Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts in der Region beigetragen haben, soll die neue Enzyklopädie, so Krle a, „die Vision einer Gesamtheit im Sinne haben und dabei das ganze Relief unseres durch Jahrhunderte zerschlagenen Torsos, an den Peripherien starker politischer, ökonomischer, strategischer und kultureller Zentren betrachten, Zentren, welche durch Jahrhunderte systematisch auf die Spaltung unseres nationalen Bewusstseins gewirkt haben“. 13 In seinem Essay macht Krle a insbesondere darauf aufmerksam, dass die geplante Enzyklopädie von Jugoslawien als einem föderalistischen sozialistischen Staat ausgeht, ein Konzept, das sich grundsätzlich von den beiden misslungenen südslawischen Integrationsprojekten unterscheidet - dem „romantischen“, das vor allem im kroatischen Illyrismus der 1830er und 1840er Jahre zum Vorschein kam und sich als Illusion erwies, und dem „royalistischen“, das zum ersten gemeinsamen Nationalstaat südslawischer Völker unter der serbischen Karađorđević-Dynastie 1918 führte, sein Ende aber schon zwanzig Jahre später im Chaos des Zweiten Weltkriegs fand. In diesem Zusammenhang sollte auch auf Krležas Ansichten über die Nationsbildung bei den südslawischen Völkern hingewiesen werden: Entgegen den Vorstellungen der weitverbreiteten mythenbildenden nationalistischen Populärpublizistik, welche Blutsverwandtschaften und Kulturidentitäten zu übergeschichtlichen Konstanten macht und daraus einen, angeblich über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Organismus der Nation entstehen lässt, geht Krleža von der Überzeugung aus, dass sich die modernen Nationen, so auch jene südslawischen, erst im Zeitalter der bürgerlichen Romantik und des gleichzeitig beginnenden Auflösungsprozesses multinationaler Großreiche formiert haben. Obwohl Krležas Nationsverständnis in erster Linie seiner spezifischen, marxistisch inspirierten Grundanschauung verpflichtet ist, so lässt sich seine Kritik am essentialistisch-ontologischen Nationsbegriff sehr wohl auch als eine Art Vorwegnahme wichtiger Denkansätze der modernen Nationalismusforschung Prozesses würde zweifellos einen guten Einblick in die kulturellen Hintergründe von Konfliktzonen zwischen den Meganarrativen einzelner Völker bzw. einzelner föderaler Einheiten bieten und dadurch unter Umständen auch zur Erklärung des staatlichen Zerfalls 1991 zusätzlich beitragen. 13 Krleža, Miroslav: „O nekim problemima enciklopedije“ [Über einige Probleme der Enzyklopädie], in: Ders.: Eseji. Sarajevo: Oslobođenje 1973, Bd. II, S. 309-350, S. 314 (im Weiteren kurz als OENP mit Seitenangabe zitiert). Den Text hat Krleža im Januar 1952 an der Sitzung der Zentralredaktion der Jugoslawischen Enzyklopädie vorgetragen und ein Jahr später in der Zagreber Literaturzeitschrift Republika (2-3/ 1953) veröffentlicht. <?page no="217"?> 217 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse begreifen, ein Umstand, der sich insbesondere an seiner Überzeugung von der Konstruktivität der modernen Nation ablesen lässt. Bei seinen Überlegungen über die Konstituierung eines neuen (trans) nationalen Narrativs sucht sich Krle a jedoch nicht nur von den partikularistisch-nationalistischen südslawischen, sondern gleichermaßen auch von den imperialen, das südslawische Konglomerat ignorierenden Narrativen der größeren Nachbarnationen abzuheben. Die neue Enzyklopädie soll - so Krle a - auf einer solchen Darstellung historischer Quellen beruhen, aus welcher klar hervorgehen wird, dass „die Strömung eigener Kräfte in unterschiedlichen Bereichen und in unterschiedlichen Zuständen in einem nonkonformistischen Sinne ein Dauersymptom der höheren Stufe kulturellen Bewusstseins war, das ihre Atomisierung dauerhaft als eine historische Schwäche empfand“ (OENP, 314). Mit diesem Anliegen waren auch Krle as Hoffnungen verbunden, das enzyklopädische Werk könnte einerseits zur Stärkung der Identität des heterogenen Vielvölkerstaates Jugoslawien beitragen, auf der anderen Seite aber auch Chancen für die Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus bieten. Dass sich Krle a dabei, wie Reinhard Lauer in einem anderen Zusammenhang betont, immer auf Distanz „von den kulturpolitischen und literaturästhetischen Polen“ hielt, dass er „sichere Orientierungsmarken“ 14 vermied, sieht man auch daran, dass er bei der Bestimmung von Prioritäten seines enzyklopädischen Projektes den Akzent gerade auf „nonkonformistische Kräfte“ setzt. Schon in seinen Essays der Zwischenkriegszeit hat er auf einige Orientierungspunkte im „zerschlagenen Torso“ der südslawischen Kulturen hingewiesen, welche bei dessen künftiger Zusammenfügung als tragend dienen und dadurch zu einer neuen Identitätsfindung und einem neuen Selbstverständnis beitragen könnten: Aus der Epoche des Mittelalters wählt er die Bogumilen aus, eine häretische Glaubensbewegung im vorislamischen Bosnien, die imposante Grabdenkmäler hinterlassen hat, in der frühen Neuzeit hebt er den kroatischen Theologen und Schriftsteller Juraj Križanić (1618-1683), einen der ersten Befürworter des Panslawismus hervor, in der Neuzeit wiederum fällt seine Wahl auf den vormodernistischen kroatischen Dichter Silvije Strahimir Kranjčević (1865-1908). Krle as Wahl gehorcht einer eigentümlichen Logik: sowohl die mittelalterliche, den Katharern verwandte Glaubensbewegung als auch die beiden kroatischen Intellektuellen aus späteren Zeiten lassen sich nämlich - stark vereinfachend gesprochen - durch ihre gegensätzliche Einstellung zu den mächtigen konfessionellen und politischen Imperialgebilden auf der einen sowie durch ihren Hang zum Prometheischen, Manichäischen, Prophetischen, zugleich aber auch zu sozialer, konfessioneller oder ethnischer Gleichberechtigung auf der anderen Seite kennzeichnen. Im Gegensatz zum geltenden kroatischen kulturhistorischen Kanon, der die Linie Renaissance - nationale Wiederge- 14 Lauer: „Literarische Weggefährten“, S. XVII. <?page no="218"?> 218 Marijan Bobinac burtsbewegung - Moderne verfolgt, setzt sich Krle a damit in einer unkonventionellen Art und Weise für „eine Linie der jugoslawischen Tradition und Kontinuität“ ein, die von den Bogumilen bis zu Križanić und Kranjčević, den beiden „geistigen Fackelträgern“ 15 reicht. Obwohl sich für diese These nie eine eindeutige wissenschaftliche Bestätigung finden ließ, obwohl Krle a später seine Positionen einigermaßen revidieren und auch einige andere Phänomene und Gestalten aus der südslawischen Kulturgeschichte als Orientierungspunkte vorschlagen wird, wird er auf seine grundsätzlich „nonkonformistische“ Vorgangsweise bei der Bestimmung der „Kontinuität der südslawischen Zivilisation durch Jahrhunderte“ nie verzichten. Krle a lässt keinen Zweifel daran, wo die Ursachen für die fehlenden historischen Zusammenhänge bei den Südslawen liegen: Den Umstand, dass sie viel mehr einem „zerschlagenen Torso“ als einem lückenlos verlaufenden Kontinuum gleichen, hat neben den eigenen nationalen Eliten mit ihrem Kampanilismus, Partikularismus und Philistertum - so Krle a auch in seinem Essay Über einige Probleme der Enzyklopädie aus dem Jahre 1952 - vor allem die jahrhundertelange imperiale Fremdherrschaft der Habsburger, Osmanen und Venezianer verschuldet. Bei der Darlegung seiner These, wonach die imperialen Zentren nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht waren und die Südslawen in jeder Hinsicht rücksichtslos auszunutzen suchten, führt Krle a als ein besonders anschauliches Beispiel die Teilnahme kroatischer Truppen im Rahmen des kaiserlichen Heeres am Dreißigjährigen Krieg an: Dabei - wie auch in einigen späteren Kriegen - ist „die Schande der militärischen Brutalität Tillys, Isolanis, Piccolominis, Wallensteins, Maria Theresias oder Radetzkys auf uns alle als auf eine barbarische Soldateska gefallen“; „andere haben sich aber“, wie Krle a mit dem Hinweis auf den Egoismus größerer Nachbarnationen zu pointieren sucht, „den Ruhm unserer Dichter und Künstler angeeignet“. 16 Dieser Zustand - spitzt Krle a seine These zu - dauert bis in unsere Gegenwart hinein: Heute noch „sind wir von der Animosität jener Kräfte umkreist, die uns durch Jahrhunderte im kolonialen Zustand hielten“, „jener Kräfte, die uns zu Barbaren erklären wollen, denen aber periodische Angriffe auf unser Land zu ihrem einzigen - wie es scheint - historischen Auftrag wurden“. (ONPE 320) Eine der bedeutendsten Aufgaben der neuen Enzyklopädie wird daher, so Krle a, darin bestehen, die tatsächliche Rolle der Slawen in der Kultur 15 Diese These formuliert er zum ersten Mal 1919 in der polemischen Schrift Hrvatska književna laž (Die kroatische literarische Lüge): „Und wenn es eine Linie der jugoslawischen Tradition und Kontinuität gibt, sie bricht sich von den Bogumilen bis Križanić, und von Križanić bis zu Kranjčević, den beiden geistigen Fackelträgern.“ Plamen 1 (1919). 16 Zum stereotypen Kroatenbild in der deutschsprachigen Literatur vgl. auch: Bobinac, Marijan: „Wilde Krieger und treue Vaterlandsverteidiger. Zum Kroatenbild in der deutschsprachigen Literatur“, in: Ders.: Zwischen Übernahme und Ablehnung. Aufsätze zur Rezeption deutschsprachiger Dramatiker im kroatischen Theater. Wrocław - Dresden: Atut-Neisse 2008, S. 195-214. <?page no="219"?> 219 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse und Kunst des südosteuropäischen Raums zu bestimmen: „In diesem Sinne sollte man Begriffe ordnen, Tatsachen prüfen und den Dingen und Verhältnissen ihren rechten Ort zuweisen, dies wird, „pro foro externo“, eine unserer Aufgaben sein. Schillers Motiv aus Wallensteins Lager Kroat, wo hast du das Halsband gestohlen hat auch D’Annunzio in einer seiner giftigen Pasquillen variiert, niemandem würde es aber einfallen, sucht Krle a in seinem assoziativ-eruptiven Stil zu argumentieren, das Blutbad an den Zagreber Demonstranten, welches vom österreichisch-italienischen Bataillon im Juli 1845 angerichtet wurde, als „ein Skandal der italienischen Soldateska zu konstruieren“. (ONPE 320) Obwohl es sich beim Schiller-Zitat keineswegs um die erste Thematisierung von Kroaten als wilden Kriegern und einfältigen Plünderern handelt, so gebührt ihm doch ein repräsentativer Platz in der langen Tradition dieses Topos - nicht zuletzt deswegen, weil sie aus der Feder des Weimarer Klassikers stammt. Im bunten Treiben der Wallenstein-Trilogie kommt zwar den kroatischen Soldaten - und dies ist überhaupt charakteristisch für den Kroatendiskurs in der deutschsprachigen Literatur - nur eine nebensächliche Rolle zu; die Beharrlichkeit aber, mit der deutschsprachige Autoren nach diesem Bild vor Schiller und nach ihm gegriffen haben, weist darauf hin, dass die Einschränkung der Kroatendarstellung auf den militärischen Bereich durchaus zu einem Stereotyp von „langer Dauer“ aufgefasst werden kann. (ONPE 320) Auch einem anderen Stereotyp, der im Westen mit Südslawen, aber auch mit Balkan allgemein assoziiert wird, sollte man, so Krle a, entschieden entgegenwirken: Es handelt sich um den sogenannten „Morlakismus“, eine Art des balkanischen „Orientalismus“, an dessen Verbreitung sich westeuropäische Intellektuelle wie Alberto Fortis, Herder, Goethe oder Prosper Mérimée seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beteiligt haben und der - wie Krle a verärgert bemerkt - noch in der unmittelbaren Gegenwart, das heißt am Anfang der fünfziger Jahre, von der jugoslawischen Fremdenverkehrswerbung unbesorgt weitergepflegt wird. Diese „morlakische ‚couleur locale‘“ ist, so Krle a, „heute wohl das einzige, wonach uns Westeuropa kennt“, ein Sachverhalt, der südslawische Länder als „zurückgeblieben, archaisch, bäuerisch“ zeigt: „Es ist nicht wahr“, setzt er fort, dass Jugoslawien nur als „Heimat der Dscheswa, der orientalischen Pluderhose, der Feredscha […], der Tamburizza und der Blutrache, betrachtet aus der Perspektive eines venezianischen Abbé des 18. Jahrhunderts“ bezeichnet werden könne; vielmehr ist es „ein Land, welches seit Jahrhunderten, um den Preis unvorstellbarer Opfer, beharrlich und beständig, mit allen möglichen kulturellen und politischen Mitteln ihre verdammte Zurückgebliebenheit überwinden will, in die es vom Sturm der Historie versetzt wurde“. Und trotzdem, wie Krle a abermals zu bekräftigen sucht, war „dessen Wille nach der Zivilisation ungewöhnlich intensiv, das heißt in keinerlei Hinsicht weniger intensiv als in anderen europäischen Ländern“. (ONPE 317) <?page no="220"?> 220 Marijan Bobinac In der Flut historischer Bilder, die von Krle a in seinem Enzyklopädie- Essay zur Darstellung des jämmerlichen Zustands südslawischer Kulturen eindrucksvoll verwendet werden, macht sich immer wieder seine negative Bewertung der Bilanz des 19. Jahrhunderts bemerkbar. Dass er in diesem Zusammenhang insbesondere die nationalromantischen Narrative südslawischer Wiedergeburtsbewegungen in den Vordergrund rückt, kann nicht verwundern, hat er sie doch auch davor oft als Vorwegnahme radikaler nationalistischer Ideologien kritisiert. Daher stellt er auch der neuen Enzyklopädie zur Aufgabe, sich auf eine kritische Art und Weise mit der südslawischen Romantik zu beschäftigen und dabei auch den - in seinen Augen unheilvollen - Einfluss west- und mitteleuropäischer Autoren auf ihre südslawischen Zeitgenossen näher zu beleuchten. Wie fatal sich ausländische Einwirkungen zeigen konnten, suchte Krleža häufig am Beispiel des Dramas und des Theaters darzustellen, einem Beispiel, das ihm als Theaterautor am nächsten war: Kroatische und südslawische Dramatiker haben - wie er im Essay Über einige Probleme der Enzyklopädie schreibt - unkritisch „die Ideen und Techniken Ifflands, Kotzebues, Eckartshausens, Schillers, Goethes, Körners und Grillparzers“ übernommen und sie - je nach Bedarf - für „staatsrechtliche, legitimistische, royalistische und dynastische Programme“ (ONPE 337f.) verwendet. Seine negativen Urteile über die Anfänge der neueren kroatischen und südslawischen Dramatik und deren Nachahmung von naheliegenden Vorbildern aus dem deutschen Sprachraum sind schon deswegen nicht von der Hand zu weisen, da fast keine südslawischen Bühnenwerke aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Entstehungszeit überlebt haben. Die Tatsache aber, dass die Illyristen und ihre Nachfolger - trotz all ihrer „schäumenden Romantik“ und hohlem patriotischen Pathos - die Grundlagen für ein neues nationalsprachliches Drama und Theater geschaffen haben, wird von Krleža fast völlig ignoriert. Genauso ungerecht fällt auch sein Urteil über einige deutschsprachige Dramatiker aus, deren Einfluss er in den Anfängen des neueren kroatischen Theaters feststellen will; während er aber für die beiden Weimarer Klassiker anderswo auch anerkennende Worte findet, glaubt er Grillparzer mit den - aus späterer Sicht - ästhetisch minderwertigen Dramatikern wie Kotzebue oder Körner gleichsetzen zu können. Krležas eigentümliche Werturteile lassen sich - wie gesagt - nur im Kontext seiner Bemühungen um die Vermittlung und Bewusstmachung von wenig bekannten, seiner Meinung nach aber gewichtigen historischen Kontinuitäten südslawischer Völker adäquat verstehen. Es würde daher zu kurz greifen, wollte man seine ablehnende Haltung im Falle Grillparzers nur mit einer grundsätzlichen Animosität gegenüber der habsburgischen Welt erklären. Zwar sieht es so aus, als ob Krleža über keine gründlichen Kenntnisse vom Schaffen des Wiener Dichters verfügt und es folglich in einen Topf mit der romantisch-pathetischen Dramatik geworfen habe. Dieser Eindruck könnte vor allem an jener Stelle im Enzyklo- <?page no="221"?> 221 Imperiale, nationale und transnationale Diskurse pädie-Essay entstehen, an der Krleža an die vermeintliche Aussage Grillparzers erinnert, wonach „Shakespeare […] uns Neuere alle verdorben“ habe und sie daraufhin mit folgendem Kommentar versieht: „Hat man das Aufkommen des romantischen, sog. patriotischen Nationalbewusstseins bei Serben und Kroaten um die Mitte des 19. Jahrhunderts vor Augen, so könnte dieser Satz paraphrasiert werden: ‚Grillparzer hat uns alle verdorben. ‘ “ (ONPE 311f.) Auf der anderen Seite war Krležas Einstellung zum Burgtheaterklassiker auch durch dessen ambivalente Rezeption bei den nichtdeutschsprachigen Völkern der Monarchie beeinflusst, deren Spuren offensichtlich auch weit ins 20. Jahrhundert hineinragten. Auf Ablehnung stieß dabei vor allem Grillparzers dramatische Umsetzung einiger Stoffe aus der tschechischen und ungarischen Nationalgeschichte (König Ottokars Glück und Ende, Der treue Diener seines Herrn); genauso problematisch fand man auch die neujosephinischen, zentralistischen Ansichten des Wiener Dichters, der sich bekanntlich für die Aufrechterhaltung einer reformierten und modernisierten Monarchie, allerdings mit der führenden Rolle des deutschsprachigen Teiles einsetzte, eine Position, die den zentrifugalen nationalstaatlichen Vorstellungen anderssprachiger Völker diametral entgegengesetzt war und daher bei ihren führenden Intellektuellen auf Widerstand stieß. 17 Die widersprüchliche Rezeption Grillparzers, in der sich politische mit ästhetischen Elementen verschränken, lässt sich als ein anschauliches Beispiel für den Zusammenprall von beiden entscheidenden, einander bekämpfenden Narrativen der Donaumonarchie betrachten - jenes imperialen, metropolitanischen, staatserhaltenden des habsburgischen Zentrums und jenes regionalpartikularen, peripheren, staatsgefährdenden der kleineren Nationen. Nicht von ungefähr spielen diese beiden Narrative eine wichtige Rolle auch in Krležas neuem Kulturkonzept, von dem der kroatische Autor auch bei seinen Überlegungen zum geplanten lexikographischen Projekt ausgegangen ist. Obwohl er nämlich die beiden Narrative an vielen Stellen seiner fiktionalen und nichtfiktionalen Texte einer vernichtenden Kritik unterzieht und sie beide demzufolge auch entschieden verwirft, hat er trotzdem viele Elemente ihrer Konstruktionsprinzipien, wenn auch implizit, bei seinen Bemühungen um die Zusammenfügung des „zerschlagenen südslawischen Torsos“ verwenden können: So konnte sich Krleža einerseits sehr wohl auch auf nationale Narrative einzelner Völker stützen und sie - anhand unkonventioneller Beispiele und häufig wesentlich modifiziert - in sein transnational begründetes Kulturkonstrukt der Jugoslawischen Enzyklopädie aufnehmen. Andererseits konnte ihm die multikulturell und multikonfessionell organisierte Habsburger Monarchie nicht nur als Schreckbild, sondern in vielerlei Hinsicht auch als Vorbild bei der Konzipierung gemeinsamer kultureller Strukturen im gesamtjugoslawischen Rahmen dienen. 17 Zur Grillparzer-Rezeption in Kroatien vgl.: Bobinac, Marijan: „Franz Grillparzer: Vom ‚bedeutendsten Vertreter der nachklassischen Literaturperiode ‘ bis zum ‚k.u.k.- Schwarzgelben ‘ “, in: Ders.: Zwischen Übernahme und Ablehnung, S. 141-178. <?page no="222"?> 222 Marijan Bobinac Kaum ein anderes gesamtstaatliches Kulturprojekt des zweiten Jugoslawien wurde mit so viel Ehrgeiz und Ausdauer wie Krležas Jugoslawische Enzyklopädie betrieben; ihr erklärtes Ziel, das heißt wesentliche Elemente einer transnational gedachten Kultur jugoslawischer Völker zugänglich zu machen und ein Konstrukt ihrer Summen, jenes „Relief ihrer Torsi“ vorzulegen, hat sie in vielerlei Hinsicht erfüllt. Und obwohl die Konstruktion eines jugoslawischen Meganarrativs generell als gescheitert betrachtet werden kann, leben die symbolischen und narrativen Identitätskonstruktionen einzelner Völker bzw. Teilrepubliken, welche in einer Art Koexistenz des Gesamtstaatlichen und Nationalen im Rahmen von Krležas lexikographischem Werk ihre entscheidende Strukturierung fanden, auch in den postjugoslawischen nationalen Narrativen weiter. Denn - wie gesagt - darin ging es nicht nur um die Konstruierung einer gesamtjugoslawischen kulturellen Kontinuität, darin wurden gleichermaßen auch wesentliche Schritte zur Konstruktion von Identität, Erinnerung und dem Selbstverständnis jedes einzelnen Volkes und jeder einzelnen föderalen Entität des jugoslawischen Bundesstaates unternommen. Nach den verheerenden Kriegskonflikten der 1990er Jahre zeigen sich gegenwärtig in den national definierten Nachfolgestaaten - wie auch immer sich ihr Verhältnis zu ehemaligen transnationalen Gedächtnisräumen wie Jugoslawien oder der Habsburger-Monarchie gestaltet - deutliche Tendenzen zu einer Relativierung national-romantischen Potenzials ihrer Narrative, ein Umstand, der eine wichtige Voraussetzung zur Konsolidierung des südosteuropäischen Raums darstellt und Schritt für Schritt auch dessen Annäherung an europäische Integrationen ermöglichen wird. Daran, dass in diesem Zusammenhang auch Krležas Überlegungen zum Verhältnis von nationalen und transnationalen Narrativen sich als zukunftsweisend zeigen und einer neuen Lektüre bedürfen, kann kaum ein Zweifel bestehen. <?page no="223"?> 223 Weder Märchen noch Mythos Daniela Finzi Weder Märchen noch Mythos: Otto Friedländers Wien(-Buch) Mitunter ist es auch im wissenschaftlichen Kontext die zufällige, mitunter die banale Begebenheit, die konstitutiv für eine eingehendere Auseinandersetzung werden kann, und manchmal ist es geradezu die Häufung dieser im Rückblick als Trigger erkannten, an sich jedoch isolierten Momente, die eine Auseinandersetzung mit einer Frage und einem Thema, mit einem Text und einem Kontext notwendig macht und, mit Freud gesprochen, als „überdeterminiert“ 1 erscheinen lässt. Tatsächlich hatte ich in einem Forschungszusammenhang, der nichts mit Narrativen im (post-)imperialen Kontext zu tun hat, Textausschnitte eines gewissen Otto Friedländer entdeckt, die, so die Quellenangaben, seinem Buch Letzter Glanz der Märchenstadt. Das war Wien um 1900 2 entnommen waren. Unmittelbar darauf stieß ich im Standard auf den mit „Die Freude am Kleinkarierten“ betitelten und recht launischen Zeitungsartikel von Barbara Coudenhove-Kalergi, in dem die Journalistin unter Rekurs auf den Migrationshintergrund der eigenen Familiengeschichte auf Friedländer und sein besagtes Buch verweist und das „Österreichisch-Sein“ als buntes, multikulturelles Stückwerk präsentiert und propagiert. In ihrem Text ruft Coudenhove-Kalergi den, wie sie festhält, „Hofrat“ Friedländer gleichsam als Augenzeugen und Gewährsmann für die kulturelle Vielfalt im Wien der Jahrhundertwende auf: eine Vielfalt, die es auch heute noch gäbe, damals wie heute gewiss nicht immer unproblematisch (gewesen) sei, „[a]ber österreichisch“, so das Schlussfazit der Autorin, „ist sie allemal.“ 3 Diese Passage verdient meines Erachtens besondere Beachtung: Was Coudenhove-Kalergi nämlich hier sieht, ist Kontinuität, was sie hier fokussiert, 1 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, in: ders.: Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte, hg. v. Anna Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris, Otto Isakower. Band II und III. Die Traumdeutung / Über den Traum. Frankfurt/ Main: S. Fischer 6 1992, S. 1-642, S. 289. 2 Friedländer, Otto: Letzter Glanz der Märchenstadt. Das war Wien um 1900. Wien u.a.: Gardena-Verlag 1969. Im Folgenden abgekürzt als LGM. 3 Coudenhove-Kalergi, Barbara: „Die Freude am Kleinkarierten“, in: Der Standard (18./ 19./ 20.5.2013), online abrufbar unter: http: / / derstandard.at/ 1363711485794/ Die- Freude-am-Kleinkarierten (9.5.2014). <?page no="224"?> 224 Daniela Finzi ist Tradition: ein Ansatz, der dem tiefgreifenden Wandel in der Beziehung zur Vergangenheit entspricht, wie er seit den 1970er, spätestens den 1980er Jahren zu verzeichnen ist. Pierre Nora hat diese Entwicklung - nennen wir sie schlichtweg „Gedächtniskonjunktur“ - als einer der ersten diagnostiziert. Mit Boris Buden lässt sie sich auf folgende prägnante Formel bringen: „Historisches Bewußtsein ist in ein Bewußtsein vom Gedächtnis umgeschlagen.“ 4 Angesichts dieses Befundes ist es denn auch kein Zufall, dass in geschichtswissenschaftlichen Studien über die Habsburger Monarchie seit den 1970er Jahren, also zeitgleich mit dem beginnenden Gedächtnisboom, eine positive Wertung ihrer multiethnischen Tradition zu verzeichnen ist; das retrospektive Bild der Donaumonarchie wird dabei als ein kultureller Bezugsraum wahrgenommen und dargestellt. 5 Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung gilt es meines Erachtens auch und gerade für sämtliche Ansätze, die sich der „Imperiumsforschung“ verschreiben, der potentiellen Gefahr eines monolithischen Imperiumsbegriffs zugunsten eines (homogenen) Ganzen - womöglich auf Kosten genau jener Differenziertheit, die die in Wien Anfang der 00er-Jahre ansetzende Kakanien-Forschung auszeichnete 6 - gewahr zu bleiben. Denn wenngleich der Begriff des „Imperiums“ es zu erlauben scheint, die zu untersuchenden Repräsentationen in der Literatur nicht ausschließlich kulturell zu fassen und somit einem überdimensionierten Kulturbegriff, der, so erneut mit Buden, „all das absorbiert [hat], was sich früher als soziale und politische Erfahrung artikuliert hat, auch das, was einst als Lebenswelt erfahren wurde“, 7 Einhalt gebietet, ist es für einen in heuristischer Hinsicht produktiven Umgang mit der besagten Analysekategorie unumgänglich, diese auch auf die eigenen sinnstiftenden, gegebenenfalls hegemonialen Narrative hin zu überprüfen. 8 4 Buden, Boris: Zone des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2009, S. 187. 5 Vgl. Pribersky, Andreas: „Politische Mythen der k.u.k. Monarchie“, in: Müller-Funk, Wolfgang/ Plener, Peter/ Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke 2002 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 1), S. 322-330, S. 322. Pribersky verweist auf den maßgeblichen Einfluss der Studie Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum von 1848 bis 1938 von William Johnston (Wien: Böhlau 1974), die 1972 unter dem Titel The Austrian Mind: An Intellectual and Social History, 1848-1938 erstveröffentlicht wurde. 6 Vgl. z.B. Müller-Funk/ Plener/ Ruthner: Kakanien revisited, sowie Hárs, Endre/ Müller-Funk, Wolfgang/ Reber, Ursula/ Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen: Francke 2006 (= Kultur - Herrschaft - Differenz 9). 7 Buden: Zone des Übergangs, S. 61. 8 Was hingegen das Präfix „post“ angeht, so ist hier meiner Ansicht nach ganz prinzipiell zu fragen - und zu hinterfragen -, wer die sinnstiftende Macht über vergangenes Geschehen ausübt, und wie und in welchem Ausmaß wir Wissenschafter/ innen an dieser Macht-Ein- und Festschreibung, oder, anders gesagt, an einem Inklusionsprozess partizipieren? Vgl. hierzu auch Legendre, Pierre: Ce que l’Occident ne voit pas de <?page no="225"?> 225 Weder Märchen noch Mythos Der Umstand, dass wir in Coudenhove-Kalergis Beitrag zu einer gegenwärtigen Debatte einmal mehr die anscheinend ungebrochene Strahlkraft eines doch recht „positiven Bildes des multi-ethnischen Zusammenlebens im mitteleuropäischen Raum“ 9 vorfinden, bewog mich schließlich dazu, das, so Coudenhove-Kalergi, „schöne[] Buch“ von Friedländer auszuheben, um es auf den Niederschlag einer retrospektiven Utopie der Donaumonarchie, kurzum des „habsburgischen Mythos“ (Claudio Magris) hin zu prüfen. 10 In den folgenden Ausführungen möchte ich daher nach einer kurzen biographischen und werkgeschichtlichen Vorstellung und Einordnung des heute vergessenen Autors der Frage nachgehen, ob und mit welcher Absicht darin eine Mythologisierung der Donaumonarchie betrieben wird, während ich mich im zweiten Teil meines Beitrages einem Kapitel des Buches - dem Kapitel „Die Tschechen“ (LGM 169-181) - und dabei dezidiert auch dem außertextuellen Kontext zuwende. Im Unterschied zum Großteil der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, die sich mit den realen und imaginierten Räumen Südosteuropas sowie Ungarns beschäftigen und deren gesellschaftliche Machtverhältnisse an den unterschiedlichen Peripherien des Habsburgerreiches angesiedelt sind, rückt in meinen Ausführungen gewissermaßen das Zentrum ins Zentrum: Wien - als k u. k. Reichshaupt- und Residenzstadt wie auch als „Chronotopos“ 11 im Bachtin’schen Sinne. Wer also war dieser Otto Friedländer, was hat er geschrieben? Lassen sich Kurzeinträge in verschiedenen literarischen Handbüchern - so dem Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18.-20. Jahrl’Occident. Conférences au Japon. Paris: Mille et une nuits 2004, S. 14: „ L’idéologie du ‚post ‘ s’étant substituée, si j’ose dire, à l’‚ante‘, au sentiment d’un lien aux traditions contraignant, l’Occident n’est-il pas lui-même post-occidental, de sorte que la question ‚Qu’est-ce que l’Occident? ‘ devrait se perdre dans le brumes du passé folklorisé, lequel ne peut avoir dès lors ni portée ni sens? “ 9 Pribersky, Andreas: „Politische Mythen“, S. 326. 10 Dass Claudio Magris mit seinen Thesen womöglich mehr zur Fort- und Festschreibung als zur Analyse seines Untersuchungsgegenstandes beigetragen und in der Literaturwissenschaft für anhaltenden Diskussionsstoff gesorgt hat, ist bekannt. Magris’ zentrale Thesen dieses Mythos im Sinne einer sehnsüchtigen und märchenhaften Verklärung der Welt der Donaumonarchie lauten dabei folgendermaßen: 1) das kulturelle Moment des Übernationalen, 2) das Bürokratentum und 3) der Hedonismus. Vgl. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Paul Zsolnay 2000. 11 Michail M. Bachtin verstand unter „Chronotopos“ die grundlegende Beziehung von Raum und Zeit als Formen der Wahrnehmung, Erkenntnis und Repräsentation; als kulturtheoretische Kategorie erfuhr der Chronotopos im Zuge des spatial turn eine späte, doch intensive Rezeption. Vgl. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Übers. v. Michael Dewey. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2008. <?page no="226"?> 226 Daniela Finzi hundert 12 oder dem Lexikon der österreichischen Exilliteratur 13 - auch finden, und taucht Friedländers Name in Anthologien zur Wiener Alltagsgeschichte gleichfalls auf, 14 so verläuft jegliche literaturwissenschaftliche Spurensuche darüber hinaus doch im Sand. Eruieren lassen sich bloß biographische Eckdaten wie Geburtsort (Wien) und -jahr (1889), Studium (Rechtswissenschaft und Nationalökonomie) sowie der berufliche Werdegang außerhalb des „literarischen Feldes“ (Pierre Bourdieu): Friedländer war bis 1938 als Sekretär der Wiener Handelskammer im Bereich Handelspolitik, Exportfragen und Transithandel tätig, bevor er nach dem Anschluss Österreichs - wie aufgrund des bereits 1933 unter Reichskanzler Hitler erlassenen Arierparagrafen sämtliche „nichtarische Beamte“ in Österreich - zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde. Wo und in welchen Ländern Friedländer im Exil weilte, war nicht herauszufinden, fest steht jedoch, dass er 1945 aus dem Ruhestand zurückgeholt und 1946 pensioniert wurde. Während der überzeugte Pazifist in der Zwischenkriegszeit Aufsätze und Artikel über Export und handelspolitische Themen veröffentlichte, setzte in diesen frühen Nachkriegsjahren seine schriftstellerische Publikationstätigkeit ein. Lange Jahre bevor Carl Schorske mit seiner bahnbrechenden Studie Fin-De-Siècle Vienna. Politics and Culture (1980) Wien gleichsam neu „erfand“, 15 zu einem Zeitpunkt also, da in Österreich das kulturelle Vermächtnis der Habsburgermonarchie noch weitgehend vergessen war, wurde 1948 Letzter Glanz der Märchenstadt erstveröffentlicht. Die Verlage der späteren, nach seinem Tode 1963 erfolgten Ausgaben - Ring Verlag, Gardena Verlag (beide 1969) - existieren heute nicht mehr; auch hier verläuft die Spurensuche im Sand. 1985 schließlich wurde das Buch bei Ueberreuther, 2002 bei Molden verlegt. Einer Selbstaussage des Autors folgend, wurde der Text indes bereits früher geschrieben, irgendwo im Exil - „in den Jahren […], in denen Österreich nicht Österreich heißen durfte“. 16 Sowohl Letzter Glanz der Märchenstadt als auch das Nachfolgewerk Wolken drohen über Wien (1949) lassen sich als eine Sammlung lose aneinandergereihter, mitunter feuilletonistisch anmutender Essays und Erzählungen über die Kaiserstadt Wien charakterisieren, deren inhaltliche Stoßrichtung an die Prosaskizzen eines Peter Altenbergs erinnern, nicht jedoch deren sprachli- 12 Vgl. Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert, hg. v. d. Österreichischen Nationalbibliothek. München: Saur 2000, S. 377. 13 Vgl. Bolbecher, Siglinde (Hg.): Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien: Deuticke 2000. 14 Vgl. z.B. Czáky, Moritz: Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen - Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa. Wien u.a.: Böhlau 2010; Veigl, Hans (Hg.): Lokale Legenden. Wiener Kaffeehausliteratur. Wien: Kremayr & Scheriau 1991, S. 250-254. 15 Vgl. Schorske, Carl E.: Fin-de-Siècle Vienna: politics and culture. London: Weidenfeld and Nicolson 1980; sowie Ehalt, Hubert Christian u.a.: Schorskes Wien: eine Neuerfindung. Wien: Picus 2012 (= Wiener Vorlesungen im Rathaus 167). 16 Friedländer, Otto: Wolken drohen über Wien. Lebens- und Sittenbilder aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, Wien: Ring 1949, S. 11. <?page no="227"?> 227 Weder Märchen noch Mythos che Virtuosität und gedankliche Komprimiertheit aufweisen. Als Romanautor trat Friedländer 1963, seinem Todesjahr, hervor: Bei Styria erschien Maturajahrgang 1907, in dem anhand des Hauptprotagonisten Christian Freyburg, „Bürgersohn jüdischer Herkunft“, 17 erneut das Wien in den letzten Jahren der Monarchie, aber auch der Ersten Republik und des Nationalsozialismus vergegenwärtigt wird. Was wiederum die Themen „jüdisches Wien“, „jüdische Identität“ oder aber „Judenfeindlichkeit“ und „Judenhetze“ in Letzter Glanz der Märchenstadt angeht, so wird darauf über weite Strecken des Werkes nur peripher Bezug genommen - was vielleicht weniger mit einer Idealisierung der k.u.k.-Vergangenheit, als vielmehr mit der mit Traumata einhergehenden Latenzzeit zu erklären ist. 18 Wenn überhaupt, so behandelt Friedländer die insbesondere unter Bürgermeister Karl Lueger virulent gewordenen antisemitischen Strömungen der Zeit 19 als Folge unterschiedlicher Lebenspraktiken und Bewältigungsstrategien angesichts der allumfassenden Beschleunigung der Moderne. 20 Was die jüdischen Zeitgenossen von den Wienerischen unterscheide, sei dabei nicht ihre Rasse oder Religion, sondern ihre „nervöse[] Ungeduld. Diese ewig vibrierenden Menschen hat das Schicksal den Wienern auf den Hals gesetzt - den Wienern, deren Lebenselement die Ruhe, das Zeithaben, die Geduld ist, die sorgsam ihr Eigentum und ihren Eigenraum von dem des Nebenmenschen distanzieren und eine schrullenhaft, pedantische Ordnung um sich aufbauen.“ (LGM 70) Unmöglich, hier nicht Musil im Ohr zu haben: „Dort, in Kakanien […] gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo.“ 21 In 26 Kapitel unterteilt und unter rekurrentem Einsatz der direkten Rede werden in Letzter Glanz der Märchenstadt zum einen verschiedene Themenbereiche aus Politik und Alltagsleben beleuchtet (so beispielsweise „Die Regierungsmaximen“, „Wiener Sitten“, „Trinkgelder“, „Krankheiten“), zum anderen, nach ihrem Beruf oder ihrer Herkunft unterteilt, die Menschen der Stadt und ihr soziales Milieu porträtiert („Das Militär“, „Die Beamten“, „Die Millio- 17 Vgl. ebd., innere Umschlagseite. 18 Friedländer schrieb an seinem Werk in den Jahren des Dritten Reiches sowie auch unmittelbar nach Kriegsende - zu einem Zeitpunkt, da das unvorstellbare Verbrechen des systematischen Völkermordes bereits bekannt war, konnte etwaigen Ereignissen und Diskursen, die wir Nachgeborenen angesichts des Wissens um die Shoa als erste Vorboten der späteren Entwicklung lesen können, noch kein Sinn verliehen werden. 19 Vgl. zum Thema des Antisemitismus und der Juden-Hetze Edmund de Waals Familiengeschichte The Hare with Amber Eyes. A Hidden Inheritance. London: Vintage 2011. Vgl. zu Antisemitismus und Wiener Moderne Ley, Michael: Abschied von Kakanien. Antisemitismus und Nationalismus im Wiener Fin de siècle. Wien: Sonderzahl 2001. 20 Vgl. zum Spannungsfeld von sozialer Beschleunigung und psychischer Erkrankung: Rosa, Hartmut: „Beschleunigung und Depression - Überlegungen zum Zeitverhältnis in der Moderne“, in: Psyche LXV (2011), H. 11, S. 1041-1060. 21 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes und Zweites Buch, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 32. <?page no="228"?> 228 Daniela Finzi näre“, „Die Tschechen“, „Die Ungarn“): die dabei gewählte Aneinanderreihung entspricht einer Bewegung, die vom Allgemeinen ins Besondere und vom politischen in den kulturellen Bereich fortschreitet. Wie es die Kapiteltitel bereits signalisieren, bedient sich Friedländer hierbei des Verallgemeinerns und des Vereinfachens, sowie auch des Vergrößerns, des Übertreibens: Von „den“ Wienern oder „den Ungarn“, oder gar „dem“ Wiener oder „dem Ungarn“, beziehungsweise, nicht ohne Ironie dem „echte[n] Ungar[n]“ (LGM 188) ist zu lesen. Kategorische Urteile werden dabei gefällt, die mitunter einer binären Entweder-oder-Gegenüberstellung Vorschub leisten, nicht jedoch ein Drittes zulassen: „Der echte Ungar ist ein Herr oder ein Bauer, und sonst gar nichts.“ (LGM 188). Der „echte“, zumindest der „typische“ Wiener in der Zeichnung Friedländers ist übrigens ein missmutiger Raunzer, fromm und versnobt, „gewiß künstlerisch begabt, aber nicht eben schöpferisch“ (LGM 53), der typische Wiener ist Skeptiker und Relativist, der vor jedem tatsächlichen Akt des Engagements zurückschreckt, der Wiener ist vor allem eines: träge. „Denken und Reden hat für den Wiener mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Das wirkliche Leben wird durch Tradition und Gewohnheit bestimmt, und es ist so und bleibt so, wie es ist.“ (LGM 61) „Freilich, jede Verallgemeinerung ist falsch“ (LGM 68), so lässt sich der Autor bereits im ersten Fünftel des knapp 400 Seiten dicken und dabei äußerst unterhaltsamen Werkes hinter die eigenen Karten blicken. Dass bestehende Stereotype und Mythen dekonstruiert, nicht fortgeschrieben werden sollen, daran lässt der satirisch-kritische Ton, der den gesamten Text durchzieht, keinen Zweifel. Besonderes Augenmerk verdienen das erste und das letzte Kapitel, stellen sie doch die Rahmung des Buches dar und eine Art Leseanleitung für die Leser/ innen bereit. Wie die Anweisungen eines Drehbuches liest sich dieses erste Kapitel „Das Tor zu hundert Vergangenheiten“ - jene Seiten, auf die auch Coudenhove-Kalergi in ihrem Zeitungsartikel abhebt, und die, so könnte man angesichts der geschäftigen Schilderung von Raum und Handlung meinen, Peter Handkes Stück Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten präfigurieren. 22 22 In Handkes 1992 bei Suhrkamp erschienenem Text Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. Ein Schauspiel bringt ein „Dutzend Schauspieler und Liebhaber“ Banales und Besonderes gleichsam zur Anschauung, dabei die Grenzen zwischen Welt- und Kasperltheater als graduelle aufzeigend. Vgl. beispielsweise S. 10f.: „Pause. / Ein Rollschuhläufer flitzt über die Szene, ist schon vorbei. / Einer als Teppichhändler, den Teppichstapel offen auf der Schulter, tiefgebückt, zwischendurch einhaltend, mit geknickten Knien, quert hinter ihm den Platz auf seinem Kundenweg. […] Einer, als episodischer Platzwart, streut hinterher, im Zickzack über die Szene kurvend, aus einem Kübel Handvoll um Handvoll Asche aus, als Gefolge einen vereinzelten Fastgreis, der auf dem hocherhobenen Haupt, mit beiden Fäusten sie haltend, eine mächtige Wiege, samt entsprechendem Wappen, trägt, vorsichtigen Schritts, wie auf einem gespannten Seil, schließlich sein Ding ganz loslassend und es frei auf seinem Scheitel balancierend, dabei mehr und mehr ins Tänzeln geratend, aus dem zuletzt ein sicheres Spiel wird.“ <?page no="229"?> 229 Weder Märchen noch Mythos Da kommt gleich um die Ecke ein alter polnischer Jude mit langem Bart in einem Seidenkaftan, der mit Zobel verbrämt ist. […] Hinter dem Juden kommt einer, der fast genauso aussieht, unter dem Bart auf der Brust aber ein Kreuz trägt - das ist ein Mechitaristenpriester, ein armenischer Katholik […] Hinter dem Mechitaristen kommt wieder einer, der auch nicht viel anders ausschaut, aber eine sehr hohe gerade Tuchkappe ohne Rand trägt. (LGM 15) Indes: Eine Verklärung dieses multikulturellen Nebenbeziehungsweise besser: Hintereinanders stellt der Text selbst postwendend in Abrede, wenn es am Ende dieser Auflistung der unterschiedlichen Protagonisten eines beliebigen Wiener Platzes nonchalant heißt: „Na ja - das hat man schon gehört: Wien ist das Tor des Orients“ (LGM 15). Friedländer situiert Wien jedoch nicht allein auf einer räumlichen, sondern ebenso auf einer zeitlichen Achse: Wien ist das „Tor zu hundert Vergangenheiten“, womit insbesondere das Hegen und Pflegen von „Märchentitel[n]“, von „erloschene[n] Titel[n] und Würden, Ritterorden, die nur mehr dem Zwecke dienen, sich selbst zu erhalten“ (LGM 16) aufs Korn genommen werden. Im Modus der Satire prangert Friedländer hier den Selbsterhalt der politischen und diplomatischen Klasse, der schließlich zu deren Selbstversteinerung, zu einem Agieren ohne Wirkung, einem Sprechen ohne Widerhall führt, an: Und sie warten ihre Zeit ab und pflanzen sich bis dahin fort und sind indessen Sehenswürdigkeiten in Wien, wo diese kostbaren Exemplare alter Rassen sorgsam gehegt und gepflegt werden - lebende historische Denkmale: es war einmal - und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. (LGM 16f.) Wir haben es hier, so wird dem Leser/ der Leserin unweigerlich klar, mit einer Welt von gestern zu tun, die sich bereits selbst als Märchen inszeniert, und nicht ausschließlich im Nachhinein zu einem solchen gemacht wird. Mit just jenem Spannungsfeld von Traum und Wirklichkeit, 23 welches Titel und Programm späterer Konzepte von Wieder- und Neuentdeckung des zentraleuropäischen Raumes und insbesondere seiner pulsierenden Hauptstadt Wien wurde, spielend, und solcherart die Dynamik von vorauseilenden Wünschen und nachträglichen Idealisierungen vergegenwärtigend, führt Friedländer beziehungsweise sein Text den Leser/ die Leserin immer wieder zu einem erhellenden Erwachen. Wer diese Hinweise nicht wahrnehmen will, wird unsanft im letzten Kapitel, auf den letzten Seiten, wachgerüttelt und aufgefordert, die bisherigen Leseeindrücke unter der Perspektive der Entzauberung zu codieren. Nachdem der gesamte Text durchgängig im historischen Präsens verfasst ist und keinen Rückschluss über den Zeitpunkt des Verfassens erlaubt, kommt nun, angesichts des Bruchs „Krieg“, das Präteritum zur Anwendung: 23 Die 1985 im Wiener Künstlerhaus und in der Folge im Pariser Centre George Pompidou gezeigte Ausstellung über die Periode 1870 bis 1930 trug den Titel Traum und Wirklichkeit. <?page no="230"?> 230 Daniela Finzi An diesem Sommerabend gingen die ersten Schüsse über die russische Grenze. Aus Stammgästen wurden Heerführer, aus Kellnern Messeordonanzen, aus allen ihren verfehlten Berufen strömten die Enttäuschten und Gescheiterten, von ihrem Joch erlöst, zu den Fahnen; […]. Endlich einmal etwas anderes! - Endlich einmal ein männliches, ein kühnes, ein abenteuerliches Leben! - Endlich einmal „Geschichte“! Staunend sah man da, daß der Krieg der allgemeinen Wehrpflicht zahllosen Menschen als Erfüller, Befreier und Beglücker nahte! So wird nachträglich aller vergangener Glanz entzaubert: Wie schlecht muß doch eine Ordnung gewesen sein, die den Krieg so vielen Menschen als Wohltäter erscheinen ließ - oder: wird jede, auch die beste Ordnung mit der Zeit zur Plage, von der befreit zu werden als Glück empfunden wird? (LGM 376f.) Diese Zäsur, die der Krieg mit sich bringt, umfasst mithin sämtliche Register, umfasst die Ordnungen im realpolitischen wie auch im symbolischen Raum. Und es betrifft das Imaginäre, es betrifft die Erinnerung - jenes Reich, aus dem man bekanntlich nicht gerne vertrieben wird. Hierin ist Friedländer mehr als deutlich - womit es, so meine Zwischenbilanz, denn auch nicht zulässig ist, ihn der Mythen- oder Märchenbildung zu bezichtigen oder sein Buch einer Lesart zuzuführen, die auf affirmative Weise die vermeintlich utopische Kraft der Doppelmonarchie akzentuiert. Wie schlecht muß doch eine Ordnung gewesen sein, die den Krieg so vielen Menschen als Wohltäter erscheinen ließ. Wenden wir uns nun dem Kapitel „Die Tschechen“ sowie den Lebensumständen der tschechischen Arbeitsmigrant/ innen im Wien der Jahrhundertwende zu. Friedländer nimmt darin, nach allgemein gehaltenen Ausführungen über „die“ Tschechen (in Wien), das tschechische Dienstmädchen Anna ins Visier - stellvertretend für jene Bevölkerungsgruppe, die um 1900 die zahlenmäßig am stärksten vertretene Immigrantengruppe in Wien, einer boomtown ausmachte. Innerhalb einer Generation, von 1870 bis 1900, hatte Wien sich verdreifacht: Ergebnis sowohl der Eingemeindungen der am Stadtrand gelegenen Vororte als insbesondere auch der Binnenmigration aus der gesamten Monarchie. Gerade 40 Prozent der ca. 1,7 Millionen Einwohner/ innen Wiens um 1900 waren hier geboren. 24 Dieser Wandel in der Bevölkerungsstruktur ging mit Austauschprozessen und Mehrfachidentitäten einher, und forcierte gleichzeitig Gegensätzlichkeiten, die zu Abstoßung und Ängsten führten, Konflikten, die hochgespielt wurden. Anna ist eine der über 410.000 Zuwanderer/ innen (der ersten Generation), die aus Böhmen und Mähren kamen, und immerhin ca. 25 Prozent der Gesamtbevölkerung Wiens bildeten. 25 Anna ist eine ethnisch „Fremde“ - jedoch: Was verstand man unter „fremd“ in der österreichischen Monarchie, greift hier überhaupt unser Verständnis von „fremd“ im Sinne von kultureller Markierung? Denn in der Tat konnten „Fremde“ im alten Österreich 24 Vgl. Csáky: Das Gedächtnis der Städte, S. 133. 25 Vgl. ebd., S. 134. <?page no="231"?> 231 Weder Märchen noch Mythos beziehungsweise im altösterreichischen Staatsrecht auch „fremde Inländer“, nämlich Reisende aus den Provinzen, sein. 26 Ein Verständnis von „fremd“ im Sinne ethnischer Differenz geht hier nicht ganz auf, darauf macht auch folgendes Beispiel, das gleichzeitig den von Seiten der Wiener Stadtverwaltung ausgeübten Assimilationsdruck zum Ausdruck bringt, aufmerksam: In Wien mussten alle Vertreter/ innen anderer Sprach- und Religionsgemeinschaften, die Bürger/ innen von Wien werden und somit etwaige berufliche und gesellschaftliche Nachteile vermeiden wollten, den Bürgereid ablegen. Dank der Ablegung des Eides, der mit beinhaltete, „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht halten [zu] wolle[n]“, 27 wurde er/ sie sodann offiziell als Deutsche/ r, nicht länger als „Fremde/ r“ registriert. Weiters zu berücksichtigen ist außerdem der besondere Umstand, dass in Zisleithanien Bevölkerungserhebungen nicht nach der Mutter-, sondern nach der Umgangssprache erfolgten. „Die konkrete, im Alltag gesprochene Sprache bildete das primäre, differenzierende Merkmal, um in den städtischen Ballungszentren sogenannte ‚Fremde‘ von den ‚Einheimischen‘ zu unterscheiden.“ 28 „Damit der Wiener sein verträumtes, unpünktliches, an kleinen Freuden und Genüssen so reiches Leben führen könne“, so hebt das Kapitel an, „arbeitet unauffällig und still eine Präzisionsmaschine, deren rastlose und fleißige Arme die Tschechen sind.“ (LGM 169) Insbesondere Bauarbeiter und Maurer wurden in Wien benötigt, um die großen Bauvorhaben der Hauptstadt zu bewältigen; Migrant/ innen aus tschechischsprachigen Gebieten kamen aber gleichfalls als Handwerker oder Gewerbetreibende, als Taglöhner, als Fabriksarbeiter/ innen, als Gesinde in bürgerliche und adelige Haushalte mit der Aussicht auf ein gesicherteres Auskommen als zu Hause nach Wien. Moritz Csáky spricht diesbezüglich gar von „Menschenhandel“, von Agenten, die mährische und böhmische Dörfer bereisten, „um nach Arbeitskräften auch unter Kindern Ausschau zu halten und sie in Sammeltransporten nach Wien zu überführen.“ 29 Friedländers Anna war 16 Jahre alt, als sie in den Dienst bei 26 Vgl. Burger, Hannelore: „Pass und ‚Identität‘ in der österreichischen Monarchie“, in: Müller-Funk/ Plener/ Ruthner: Kakanien revisited, S. 63-73, S. 67. Vgl. außerdem auf S. 68 die Erörterungen von Johann Pezzl, Schriftsteller und Sekretär von Staatskanzler Kaunitz, wer aller unter „Fremde“ falle: „Das Personal von der Reichskanzlei und die Reichsagenten; alle auswärtigen Minister samt deren Personal; die Studierenden, welche aus den Provinzen oder aus fremden Ländern sind, de[r] große[] Haufen der auswärtigen Handwerksburschen; die Leute aus den Provinzen und umliegenden Örtern, welche des Handels oder anderer Geschäfte wegen sich mehrere oder nun einen Tag in der Stadt aufhalten; wirkliche Ausländer, welche wegen Geschäften oder zum Vergnügen hier leben; endlich die Reisenden.“ 27 Mischler, Ernst/ Ulbricht, Josef (Hg.): Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, Band 4. Wien: Alfred Hölder 2 1909, S. 978, zit. n. Burger: „Pass und ‚Identität‘“, S. 67. 28 Vgl. Csáky: Das Gedächtnis der Städte, S. 153f. 29 Ebd., S. 138. <?page no="232"?> 232 Daniela Finzi einem Wiener Bürgerhaushalt eintrat und, so suggeriert es der Text, in ihrer Position als Kindermädchen und später als Dienstmädchen auch einen festen Platz im Familienhaushalt einzunehmen begann. „Mein Gott, und ich hab’ geglaubt, die Anna lebt und stirbt mit uns.“ (LGM 175), so die „gnädige Frau“ bei Friedländer. Die hohe Arbeitsbelastung und die überlange Arbeitszeit, die potentielle Rund-um-die-Uhr-Inanspruchnahme von Seiten der „Herrschaft“, das Fehlen von festen Pausen oder regelmäßigen freien Tagen, die schlechte, zumeist licht- und luftlose Unterkunft, aber auch die betonte Herablässigkeit von Seiten der herrschaftlichen Familie - kurzum all das, was das „Bild eines durchschnittlichen Dienstbotenschicksals um die Jahrhundertwende“ 30 ausmacht, ist hier einer Weichzeichnung, einer Idealisierung gewichen. An einer Kritik, zumindest an einer Dokumentation der realen spezifischen Strukturen des häuslichen Dienstes beziehungsweise der tschechischen Dienstmädchen, „die um die Jahrhundertwende ungefähr 10% der Gesamtzahl der tschechischen Zuwanderer ausmachten, […] die unterste, am schlechtesten entlohnte und am meisten ausgebeutete Schicht des Hauspersonals [blieben]“, 31 ist Friedländer nicht interessiert - nein, ausgespart bleiben die vielfältigen Auswirkungen und Ausbrüche der herrschaftlichen Verfügungsgewalt, und genausowenig wird die „Dienstbotenfrage“ als „Frauenfrage“ im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen allgemeinen Unterdrückungsformen der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft und der Entwicklung des häuslichen Dienstes zu einem ausschließlichen Frauenberuf diskutiert. 32 Im Unterschied zu den rahmenden Kapiteln des Buches, denen auch Ansätze eines subversiven Gestus bezüglich Stereotypisierung und Mythenbildung beschieden werden können, laboriert Friedländer im Kapitel „Die Tschechen“ vielmehr an einer Umwertung bestimmter stereotyper Urteile: eine Umwertung, die mit einer Entlastung jener, die die Deutungshoheit über die Heterostereotypen beanspruchen, einhergeht. Ihren „böhmische[n] Singsang“, der laut Autor für den/ die Wiener/ in „so sehr mit Heimat und Kinderstube verbunden [ist], daß er sich geborgen und zu Hause fühlt“, (LGM 170) hat auch Anna nicht abgelegt. Doch während in einschlägigen Studien über die Wiener Tschechen 33 deren gebrochenes Deutsch - despektierlich: das 30 Vgl. Pauleweit, Karin: Dienstmädchen um die Jahrhundertwende. Im Selbstbildnis und im Spiegel der zeitgenössischen Literatur. Frankfurt/ Main u.a.: Peter Lang 1993 (= Deutsche Sprache und Literatur 1381), S. 27. 31 Tichy, Marina: Alltag und Traum. Leben und Lektüre der Wiener Dienstmädchen um die Jahrhundertwende. Wien u.a.: Böhlau 1984 (Kulturstudien 3), S. 25. 32 Vgl. ebd., S. 12. 33 Vgl. Pressler, Gertraud: „‚Wie Böhmen noch bei Österreich war‘. Zum Topos des Tschechischen im Wienerlied des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Vales, Vlasta (Hg.) Zu Hause in der Fremde. Tschechen in Wien. Praha: Scriptorium 2002, S. 125-134. Vgl. außerdem zur sprachlichen Situation der Tschechen in Wien Waissenberger, Robert: „Die tschechische Minderheit und die Badenischen Sprachenverordnungen“, in: Traum und Wirklichkeit. Wien 1870-1930. 93. Sonderausstellung des Historischen Museums <?page no="233"?> 233 Weder Märchen noch Mythos „Böhmakeln“ - als Zielscheibe des xenophoben Spotts und der abwertenden Klischees untersucht wird, versteht beziehungsweise verharmlost Friedländer die „Witze“ der Wiener über die Tschechen und ihre Sprache als „zärtliche[n] Spott“ (LGM 170). Insgesamt könnten die Wiener die Tschechen recht gut leiden, schließlich seien sie bescheiden, ihr Ehrgeiz nicht maßlos. „Sie sind nicht wie die Juden“, so bringt Friedländer Tschechen/ Tschechinnen und Juden/ Jüdinnen schließlich in Opposition, „die sich einbilden, daß jeder Tag einen Fortschritt bringen muß“ (LGM 171). Sparsam, gutmütig, unfreiwillig komisch, (gezwungenermaßen) fleißig, fromm - Friedländers Auflistung ließe sich fortsetzen. Die Adjektive „fremd“, „exotisch“, „anders“ jedoch kämen darin nicht vor. Und wirklich: wirft man einen Blick auf die Leitthemen der Exotismen der Zeit - also Orientalismus und Anti-Tsiganismus -, in denen es um Gegenüberstellungen von „Arbeit vs. Müßiggang, Religion vs. Aberglaube, Nomadentum vs. Seßhaftigkeit sowie um Sexualität und politische Herrschaft“ ging, 34 so erweisen sich die ersten Begriffshälften - Müßiggang, Aberglaube, Nomadentum - als völlig irrelevant. Weder Anna noch „die“ Tschechen treten in diesem Sinne als Vertreter/ innen einer „Gegenwelt“ auf. Nichtsdestotrotz fungiert Anna sehr wohl als Alteritätspartnerin: Dass sich Identität über Alterität konstituiert, stellt mittlerweile einen semiotischen und kulturwissenschaftlichen Gemeinplatz dar. Er fundiert gleichfalls jenes Syntagma vom „konstitutiven Außen“ beziehungsweise auch, je nach Übersetzung, „konstitutiven Äußeren“, auf das man in kulturwissenschaftlichen Texten jüngeren Datums mit losem Verweis auf Jacques Derrida, Judith Butler, Homi K. Bhabha und Ernesto Laclau stößt. Darunter ist die Erkenntnis zu subsumieren, dass sich jeglicher Diskurs von einem Außen abgrenzt, welches für die Herstellung des Diskurses gerade notwendig ist, beziehungsweise dass sich Subjekt- und Identitätskonstitutionen immer einem Ausschluss verdanken - dem Ausschluss von etwas, das eigentlich innerhalb des Subjektes liegt. 35 Auf der Stadt Wien. Wien: Eigenverlag der Museen der Stadt Wien 1985, S. 152-155. 34 Uerlings, Herbert: „Das Subjekt und die Anderen. Zur Analyse sexueller und kultureller Differenz“, in: ders./ Hölz, Karl/ Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.): Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001 (= Studienreihe Romania 16), S. 19-53, S. 37. 35 Vgl. dazu Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, hg. u. übers. v. Michael Hintz u. Gerd Vorwallner. Wien: Passagen 2001; Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Übers. v. Karin Wördemann. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997, S. 23; sowie Moebius, Stephan: Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida. Frankfurt/ Main u.a.: Campus 2003 (= Campus Forschung 834). Eine konzise Zusammenfassung findet sich auch bei: Marchart, Oliver: „Kunst, Raum und Öffentlichkeit(en): Einige grundsätzliche Anmerkungen zum schwierigen Verhältnis von Public Art, Urbanismus und politischer Theorie“, in: eipcp (europäisches institut für progressive kulturpolitik), online abrufbar unter: http: / / eipcp.net/ transversal/ 0102/ marchart/ de vom 3.9.2011 (20.9.2013) . <?page no="234"?> 234 Daniela Finzi die personale Konstellation bei den von Friedländer geschilderten Figuren, auf das Dienstmädchen Anna, 38, und die nur um zwei Jahre ältere „gnädige Frau“ umgelegt, bedeutet dies zunächst, dass Anna als Dienstmädchen das bürgerliche Selbstbewusstsein erhält, indem sie als Vertreterin ihrer Klasse - nicht ihrer Ethnie - der Herrschaft ununterbrochen die eigene übergeordnete Position vor Augen führt. Wir sind bei Hegels Narrativ von Herr und Knecht, das bekanntlich von jeglicher kulturellen Differenz absieht 36 - gewollt oder nicht: hier ermöglicht der Text, Herrschaft als eine asymmetrische Relation zu konzeptualisieren, hier wirft er die Klassenfrage auf. Auf dem Prüfstand steht schließlich im weiteren Verlauf des Kapitels denn auch nicht länger Anna, sondern die „gnädige Frau“ als Vertreterin des Wiener Bürgertums, das spätestens mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges und den politischen Erschütterungen nach 1918 in einer schweren Krise steckt. Denn Anna - und das ist der besondere Clou der Geschichte - ist diejenige, die sich der Aufkündigung des Arbeitsbeziehungsweise Ausbeutungsverhältnisses bemächtigen wird, überrascht sie doch eines Tages ihre Vorgesetzte mit der Kündigung. Ihr als Schneider in Chicago lebender Bruder kenne jemanden, der eine Frau suche, ein „gewisser Novak, ein Tischler, […] und wenn sie einander nicht gefallen, ist es auch kein Unglück, denn die Arbeit braver Tschechinnen wird drüben mit Gold aufgewogen.“ (LGM 175) Was dann folgt, ist rasch erzählt: Anna ist sechs Wochen später in Amerika und schickt ihre ersten Ansichtskarten und Briefe: postalische Medien (der Übertragung 37 ), die Friedländer als Signa des unaufhaltsamen Aufstiegs der Anna Novak inszeniert. Tragen die weitgereisten Postsendungen anfangs noch die kaum leserliche, doch in ihrer Unerschließbarkeit umso vertrautere Schrift der Anna, folgt nach Hochzeitsanzeige und Geburtsanzeige eines Sohnes der erste auf Englisch verfasste Brief: recht leserlich, ohne schwerwiegende orthographische oder grammatikalische Fehler. Die bisherige Asymmetrie in der Relation der beiden „Alteritätspartnerinnen“ hat sich in ihr Gegenteil verkehrt, Stand und Klasse haben ihre Macht und ihr symbolisches Kapital eingebüßt. Jugend, sexuelle Attraktivität, Adaptabilität, Mobilität - sämtliche Trümpfe sind nunmehr aufseiten von Anna. Nachdem ihre Antagonistin, „alternde Frau i[m] alten Wien“ (LGM 178), im Krieg den Sohn an der Front, den Ehemann an der Grippe sowie das Vermögen verloren hat, nachdem im Frost- und Hungerjahr 1920 erst die aus Chicago eintreffenden Lebensmittelpakete die Misere ein bisschen erträglicher machen, 36 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: „Das Eigene und das Andere / Der, die, das Fremde. Zur Begriffserklärung nach Hegel, Levinas, Kristeva, Waldenfels“, in: kakanien revisited, online abrufbar unter: http: / / www.kakanien.ac.at/ beitr/ theorie/ WMueller-Funk2 vom 15.9.2002 (20.9.2013). 37 Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von: Winkler, Hartmut: „Übertragen - Post, Transport, Metapher“, in: Fohrmann, Jürgen (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart-Weimar: Metzler 2004, S. 283-294. <?page no="235"?> 235 Weder Märchen noch Mythos findet dieser Reigen der Verkehrungen seinen Abschluss und Höhepunkt in der Schilderung eines Vormittags im Frühling 1927. Dank der Vermietung von Zimmern lebt die „Gnädige“ immer noch in jener Wohnung, in der einst Anna ihren Dienst angetreten hat. Als es an besagtem Vormittag an der Tür läutet, sieht sie durch das Guckloch einen „feine[n] alte[n] Herr[n] mit einer anscheinend viel jüngeren Frau. Sie sehen wie Ausländer aus; vielleicht wollen sie mieten. Ängstlich macht die gnädige Frau ein wenig auf, da sagt der alte Herr: ‚I am Nowak from Chicago, and this is Anna.‘“ (LGM 180). Die beiden sind zur Beethoven-Feier nach Wien gekommen, schließlich ist Herr Nowak - Besitzer eines großen Möbelwarenhauses - Mäzen der Philharmonischen Gesellschaft in Chicago. Auch ihr Sohn, mittlerweile Student, ist mit nach Wien gekommen, interessiert er sich doch für das Rote Wien und die Psychoanalyse. Gleichzeitigkeit - in der Gegensätzlichkeit (aufsteigende Neureiche versus gefallenes Großbürgertum) sowie in der Ungleichzeitigkeit (Verheißungen des 20. versus Verlust(e) des 19. Jahrhunderts) - dominiert dieses Schlusstableau: Während die eine ungläubig die Insignien des sozialen Aufstiegs der anderen registriert, schießen dieser beim Anblick des elendigen Zustandes der Wohnung und ihrer ehemaligen Vorgesetzten die Tränen in die Augen. Ein gemeinsames Mittagessen im Grand Hotel, eine gemeinsame Spazierfahrt in Nowaks Luxuslimousine - und aus ist das Kapitel, aus ist der Spuk, der „tolle[] Traum“ (LGM 181), aus das Märchen des American Dream, welcher für Friedländer doch attraktiver als der „habsburgische Mythos“ ist. <?page no="236"?> 236 Daniela Finzi <?page no="237"?> 237 Ungarische Nationalhelden als Kommuisten der ersten Stunde Erika Regner Ungarische Nationalhelden als Kommunisten der ersten Stunde. Die nationale Linie der ungarischen Kommunisten nach 1945 und ihre Spuren in der Literatur 1948 erhielt Gyula Illyés für seine 1936 geschriebene Studie Petőfi, die 1971 unter dem Titel Petőfi. Ein Lebensbild in deutscher Übersetzung erschienen ist, den Kossuth-Preis. Der Preis, der neben dem von 1963 bis 1990 vergebenen Staatspreis der Ungarischen Volksdemokratie [Magyar Népköztársaság Állami Díja] die höchste staatliche Anerkennung im sozialistischen Ungarn war, wurde am 15. März 1948, also am 100. Jahrestag der Ungarischen Revolution 1848/ 49, auf einen Gesetzesantrag der Ungarischen Kommunistischen Partei hin ins Leben gerufen und nach Lajos Kossuth, dem Anführer des Aufstandes gegen Österreich, benannt. Vergeben wurde der Preis an Personen, die herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kunst, Literatur oder der sozialistischen Aufbauarbeit geleistet hatten. 1 Diese Kombination von sozialistischem Inhalt und nationalgeschichtlicher Verbundenheit mutet - auf den ersten Blick - befremdlich an. Tatsächlich jedoch sind die Entstehungsgeschichte des Kossuth-Preises und seine Vergabe an Illyés für sein Werk über den ungarischen Nationaldichter und -helden Petőfi ein Ergebnis der bewusst verfolgten nationalen Linie der Ungarischen Kommunistischen Partei beziehungsweise der Partei der Ungarischen Werktätigen, wie sie sich von 1948 bis 1956 nannte, die im Folgenden kurz umrissen und deren Einfluss auf das literaturpolitische Programm sowie die Literaturproduktion der frühen 50er Jahre anhand von ausgewählten Beispielen aufgezeigt werden soll. Between 1945 and 1948 Hungarian communists portrayed themselves as advocates of the „truest“ popular traditions. Textbooks and scholarship described Hungarian history as a perpetual struggle between progressive patriots - from the anti-Habsburg Calvinist kuruc fighters of the seventeenth century to the political leaders of the 1848 revolution, Lajos Kossuth and Sándor Petőfi - and 1 Vgl. Darvas, Pálné/ Klement, Tamás u.a. (Hg.): Kossuth-díjasok és Állami Díjasok almanachja. 1948-1985. Budapest: Akadémia Kiadó 1988, S. 1f. und S. 50. <?page no="238"?> 238 Erika Regner reactionary, clerical-minded traitors of the people’s interests (the labanc). The exploitation of national symbols in the coalition years was of an evident tactical nature, but it was not simply an ideology adopted to compensate for a lack of popularity. Hungarian communists created a peculiar ideological syncretism in which pro-Soviet internationalism and patriotism could cohabitate. 2 Die Verbindung von Patriotismus und Sowjet-Orientierung war von großer Wichtigkeit für die Ungarische Kommunistische Partei. Der von Bottoni angesprochene Mangel an Popularität bezieht sich auf das grobe Image-Problem der Ungarischen KP, mit dem letztere insbesondere in der Koalitionszeit zu kämpfen hatte und das mehrere Ursachen hatte. So gehörte der Kommunismus nicht zum bekannten politischen Repertoire Ungarns, das heißt die ungarischen Kommunisten spielten bis auf die kurze Zeit der Räterepublik keine Rolle in der politischen Geschichte Ungarns. Die kollektive Erinnerung an die Räterepublik von 1919 war jedoch in der breiten Bevölkerung durchwegs negativ geprägt. Die Kommunisten galten als „anti-nationale Kraft“ - ein Ruf, der auf ihren zur Zeit der Räterepublik radikal verfochtenen Internationalismus zurückzuführen war und den ihre aktuelle Verbindung zur Roten Armee, die sich vom Befreier zur Besatzungsmacht gewandelt hatte, zusätzlich verstärkte. Sie galten als „Agenten Moskaus“. Die direkte Einflussnahme Moskaus auf die Partei und deren Orientierung an der Sowjetunion war eine Tatsache. Trotzdem hält auch Mevius fest: „Certainly from 1945 onwards, communist parties presented themselves as heirs to national traditions and guardians of national interests.“ 3 In seiner Monographie Agents of Moscow 4 zeigt er, dass diese nationale Taktik tatsächlich auf direkte Anweisung Moskaus verfolgt wurde. Die kommunistischen Regime sollten nicht ihre Nationalflaggen verbrennen, sondern sie mit kommunistischen Symbolen ergänzen. Die Volksdemokratien sollten die gebräuchlichen Nationalfeiertage beibehalten, sie aber schlicht mit sozialistischem Inhalt füllen. 5 1948 erschien beim Budapester Szikra-Verlag der Band A fordulat éve [Das Jahr der Wende], der Beiträge von Rákosi Mátyás versammelt. In einer darin erschienen Rede führt der Generalsekretär der UKP aus: Eine dieser Fragen ist: der nationale Charakter unserer Partei. Jeder kennt die Bedeutung dessen, dass wir im Abzeichen unserer Partei neben dem roten Stern eine Flagge mit den Nationalfarben tragen. […] Wir müssen betonen, dass wir Kommunisten die Partei der Nation sind, also lasst uns stolz die Nationalflagge schwenken, unter der Petőfi, Kossuth und Táncsics gekämpft 2 Bottoni, Stefano: „Sovietization and nationalism in Hungary“, in: The Historical Journal 52 (2009), S. 789-797, S. 794. 3 Mevius, Martin: „Reappraising Communism and Nationalism“, in: Nationalities Papers 37 (2009), S. 377. 4 Mevius, Martin: Agents of Moscow. The Hungarian Communist Party and the Origins of Socialist Patriotism 1941-1953. Oxford: Oxford University Press 2005. 5 Vgl. Mevius: „Reappraising Communism and Nationalism“, S. 390. <?page no="239"?> 239 Ungarische Nationalhelden als Kommuisten der ersten Stunde haben. Wir müssen der Arbeiterschaft erklären, dass das Widerstreben gegenüber den nationalen Farben nur zu jener Zeit einen gewissen Sinn hatte, als diese durch die das Volk unterdrückende Herrschaft von Horthy und Gömbös vereinnahmt worden waren. Damals war diese Flagge das Sinnbild der horthystischen Reaktion, aber heute ist sie jenes der ungarischen Demokratie. - [Az egyik ilyen kérdés: pártunk nemzeti jellege. Mindenki tudja annak jelentőségét, hogy pártunk jelvényén a vörös csillag mellett a nemzetiszínű lobogót hordjuk. […] Hangsúlyoznunk kell, hogy mi kommunisták a nemzet pártja vagyunk, tehát lobogtassuk büszkén a nemzetiszínű zászlót, amely alatt Petőfi, Kossuth és Táncsics harcolt. Meg kell magyarázni a munkásságnak, hogy a nemzetiszíntől való viszolygásnak akkor volt valamelyes értelme, amikor azt Horthy és Gömbös népelnyomó uralma sajátította ki magának. Akkor ez a zászló a Horthy reakció jelképe volt, de ma a magyar demokráciáé.] 6 Rákosi betont explizit die Rolle der Kommunisten als Partei der Nation, die stolz jene Nationalflagge schwingt, unter der bereits Petőfi, Kossuth und Táncsics gekämpft hatten. Wichtig ist auch die explizite Unterscheidung des positiven Nationalgefühls unter Hammer und Sichel vom negativen Nationalgefühl bzw. Nationalismus des Horthy-Regimes, das die Flagge missbraucht hatte. Interessant ist das Dreigespann, das Rákosi hier als Symbol für die ungarische Nation wählt, nämlich jene Persönlichkeiten, die die führenden Rollen im Freiheitskampf von 1848 innehatten: Sándor Petőfi, Nationaldichter und Freiheitskämpfer, der im Kampf gefallen ist, Lajos Kossuth, der bereits erwähnte Anführer der Ungarischen Unabhängigkeitserhebung gegen Österreich, der bis zu seinem Tod im Exil für die Unabhängigkeit Ungarns kämpfte, und Mihály Táncsics, ein Publizist und Politiker, der ebenfalls an der Revolution teilgenommen hatte und sich insbesondere für die Bauern- und Arbeiterschaft stark gemacht hatte, was von seinen Mitstreitern nicht zur Gänze unterstützt wurde. Diese Verquickung der kommunistisch-internationalen Linie mit der nationalen Linie entwickelte sich schließlich zu einem festen Element in der Propaganda, ja im Programm der kommunistischen Partei. So eröffnet Mátyás Rákosi seine am 19. April 1949 bei einer Wahlveranstaltung in Budapest gehaltene Rede mit dem Titel A népfronttal a boldog, erős, független Magyarországért [Mit der Volksfront für ein glückliches, starkes, unabhängiges Ungarn] mit einem Zitat aus einem Gedicht Petőfis. Dies bildet für ihn den Ausgangspunkt, um darzustellen, wie die Revolution von 1848 von der „europäischen Reaktion“ niedergeschlagen worden sei, weil das arbeitende Volk hatte vor 100 Jahren keine, ja konnte keine kommunistische Partei haben, eine, wie unsere Partei. - [nem volt, mert nem is lehetett, 100 év előtt a dolgozó népnek kommunista pártja, olyan, mint a mi Pártunk]. 7 6 Rákosi,Mátyás: „Afordulatéve“,abrufbarunter: http: / / mek.oszk.hu/ 04400/ 04493/ 04493. htm#17 (09.04.2014) [Sämtliche Übersetzungen aus dem Ungarischen stammen von der Verfasserin.] 7 Rákosi, Mátyás: „A népfronttal a boldog, erős, független Magyarországért“, in: Ders.: <?page no="240"?> 240 Erika Regner Er fährt damit fort, die Verdienste der kommunistischen Partei um das ungarische Volk aufzuzählen und reiht diese in die Reihe der Entwicklungen auf der „internationalen Front der führenden Welt“ ein, die sogleich genauer definiert wird. Entscheidend ist, wie im Anschluss die Eingliederung Ungarns in diese internationale Front vollführt und als richtig und wichtig dargestellt wird: So wird Stalin, der weise Führer der Sowjetunion auch als großer Helfer des Ungarntums bezeichnet, was in weiterer Folge jedoch eine weit über die Konnotation des „Befreiers Ungarns nach dem Zweiten Weltkrieg“ hinausreichende implizite Bedeutung erhält. Durch das Heraufbeschwören dreier ungarischer Nationalhelden, nämlich wieder Kossuth, Petőfi und Táncsics, und das Scheitern des Freiheitskampfes, an dem diese beteiligt waren, wird nun die kommunistische Partei als Vollenderin dieses ungarischen, nationalen Freiheitskampfes dargestellt. Ja mehr noch, die Partei vollendet diesen nicht nur, sondern entwickelt beziehungsweise führt sogar auch noch weiter, was Kossuth, Petőfi und Táncsics dereinst begonnen hatten - und all dies eben mit Hilfe der Sowjetunion, als Teil der besagten internationalen Front. In diesem Kampf steht unser Befreier: die mächtige Sowjetunion und ihr weiser Führer, der große Helfer des Ungarntums, Stalin Generalissimus. Unsere Verbündeten stehen neben uns, die Volksdemokratien. Unsere Sache wird unterstützt von der siegreichen chinesischen Revolution, dem Freiheitskampf der kolonialisierten Völker Asiens, dem heldenhaften Kampf der griechischen Arbeiter, die sich hinter den kommunistischen Parteien aufreihende Arbeiterklasse Frankreichs und Italiens und allen auf dieser Welt, die sich der säbelrasselnden, einen blutigen Weltkrieg vorbereitenden Front der Imperialisten entgegenstellten. Was Kossuth, Petőfi, Táncsics sich vor 100 Jahren auf ihre Flagge geheftet hatten, aber nicht verwirklichen konnten, das werden wir jetzt vollenden und weiterentwickeln können, wenn wir mit den historischen Möglichkeiten leben. - [Mögöttünk áll e küzdelemben felszabadítónk: a hatalmas Szovjetunió és bölcs vezére, a magyarság nagy segítője, Sztálin generalisszimusz. Melletünk vannak szövetségeseink, a népi dempokráciák. A mi ügyünket segíti a győztes kínai forradalom, az ázsiai gyarmati népek felszabadító harca, a görög dolgozók hősiküzdelme, a kommunista pártok mögött felsorakozó francia, olasz munkásosztály és szerte a világon mindenki, aki szembeszáll az imperialisták kardcsörtető, véres világháborút előkészítő frontjával. Amit Kossuth, Petőfi, Táncsics száz esztendővel ezelőtt zászlajukra tűztek, de nem tudtak megvalósítani, azt mi most végre tudjuk hajtani és tovább tudjuk fejleszteni, ha élünk a történelemadta lehetőségekkel.] 8 Insbesondere der Kult um den Dichter Petőfi fand starken Widerhall in der Propaganda der ungarischen Kommunisten. Petőfi, der als ungarischer Nationaldichter und Freiheitskämpfer im kollektiven Gedächtnis der Ungarn fest verankert war, war bereits während des Zweiten Weltkriegs neuerlich zu ei- Építjük a nép országát. Budapest: Szikra 1949, S. 509. 8 Rákosi: Építjük a nép országát, S. 511. <?page no="241"?> 241 Ungarische Nationalhelden als Kommuisten der ersten Stunde nem populären politischen Symbol geworden: Am 15. März 1942 fand bei der Budapester Petőfi-Statue die größte antifaschistische, anti-deutsche Demonstration für ein unabhängiges Ungarn statt. Dieses symbolische Kapital nutzte später die kommunistische Partei zu ihren Gunsten, sie instrumentalisierten den Dichter hemmungslos, was sich zahlreich belegen lässt. So hielt beispielsweise Márton Horváth, der zu jener Zeit nach József Révai der zweitwichtigste Mann in der Kulturpolitik war, anlässlich des 100. Todestages (1949) des Dichters eine Rede mit dem Titel Lobogónk: Petőfi [Unsere Flagge: Petőfi]. Auffallend ist bereits am Anfang der Rede, wie über die Verbindungsfigur Petőfi und dessen persönliche Geschichte die Geschichte Ungarns mit jener der Sowjetunion verwoben wird, wie ein Teil letzterer zu einem integralen, ja konstitutiven Bestandteil der ersteren gemacht wird, wie ein gemeinsames Feindbild aus der Vergangenheit beschworen wird, das die gegenwärtigen Völker, jene Ungarns und der Sowjetunion, als Verbündete, als ein Volk darstellen soll: Wir melden Petőfi mit Taten anstatt mit Worten: der deutsche Tyrann liegt zerschmettert am Boden. Die Freiheit wurde zum unantastbaren Besitz von zehn Millionen Ungarn. Die Hütte hat über die Paläste gesiegt. [- eine direkte Anspielung auf ein Gedicht Petőfis. - Anm. d. Autorin]. Es gibt keinen „geliebten König“ mehr, keinen Thron und keine Krone […]. Sein eigenes Volk hat den Zar zerstampft, der die ungarische Revolution niedergeschlagen hat. Und das von seinen Tyrannen befreite russische Volk hat auch unsere Unterdrücker vernichtet und verjagt und mit unserem Volk ihren kostbarsten, mit Blut erkämpften Schatz geteilt, die Freiheit. [Szavak helyett tettekkel jelentjük Petőfinek: a német zsarnok szétzúzva a földön hever. A szabadság tízmillió magyar elidegeníthetetlen tulajdona lett. A kunyhó győzedelmeskedett a paloták felett. Nincsen többé „szeretett király“, trón és korona […] Saját népe tiporta el a cárt, aki megfojtotta a magyar forradalmat. S a zsarnokaitól megszabadult orosz nép pusztította el és zavarta világgá a mi elnyomóinkat is és osztotta meg népünkkel vérrel kiküzdött legdrágább kincsét, a szabadságot.] 9 Und so wie die Geschichte Russlands zum Teil der ungarischen Geschichte wird, so wird, laut Horváth, auch der ungarische Nationaldichter zu einem Dichter der Sowjetunion: In Moskau versammeln sich die Arbeiter der sowjetischen Hauptstadt heute, um sich die Gedenkworte der sowjetischen Dichter an Petőfi anzuhören, der auch ihr Dichter ist. [Moszkvában […] a szovjet főváros munkásai gyűlnek ma össze, hogy meghallgassák a szovjet költők megemlékezését Petőfiről, aki az ő költőjük is.] 10 9 Horváth, Márton: „Lobogónk: Petőfi“, in: Margócsy, István (Hg.): Jöjjön el a te országod. Petőfi Sándor politikai utóéletének dokumentumaiból. Debrecen: Szabad Tér Kiadó 1988, S. 257f. 10 Horváth: Lobogónk: Petőfi, S. 256. <?page no="242"?> 242 Erika Regner Horváth zieht in seiner Rede im Weiteren zahlreiche Parallelen zwischen Petőfi und Rákosi, dem Generalsekretär der Partei, und legt ebenfalls dar, wie die KP nun das Werk des Vorkämpfers vollendet. Er schreckt nicht einmal davor zurück, den historischen Bogen im Zuge seiner Beweisführung zu überspannen und letztlich die KP über die etablierten Nationalhelden der Ungarn zu stellen: In den zwischen der alten Landnahme und der heutigen Landnahme des ungarischen Volkes vergangenen 1000 Jahren konnten sich die Freiheitskämpfer der größten Revolutionen der ungarischen Geschichte, die die Zukunft erahnenden Dichter kein solch verwegenes, großes, fortschrittliches Ziel stecken, das von der Realität unserer Tage nicht übertroffen würde. [A régi honfoglalás és a magyar nép mai honfoglalása között eltelt ezer év alatt a magyar történelem legnagyobb forradalmainak szabadságharcosai, jövőt megsejtő költői nem tűzhettek ki oly vakmerő, nagy, haladó célt, amelyen a valóság napjainkban túl ne tenne.] 11 Untersucht man die von den führenden Politikern der ungarischen kommunistischen Partei gehaltenen Reden in der Phase beginnend um 1945 bis zur endgültigen Machtergreifung und Machtetablierung Anfang der 1950er Jahre, sind zahlreiche Anspielungen oder direkte Verweise auf die ungarische und sowjetische Literatur nachweisbar. Auch fand auf kulturpolitischer Ebene eine rege Beschäftigung mit verschiedenen Fragen rund um die ungarische Literatur und den ungarischen Literaturbetrieb statt. Die Literatur war insbesondere in der frühen Phase des Sozialismus in Ungarn eines der wichtigsten Instrumente der kommunistischen Propaganda. Warum dies keineswegs überraschend ist und wieso die Übernahme der oben kurz vorgestellten nationale Linie in der Literatur der ungarischen KP wichtig war, soll im Folgenden, größtenteils auf Birgit Neumanns und Astrid Erlls Arbeiten über den Zusammenhang zwischen kollektivem Gedächtnis und Literatur gestützt, verdeutlicht werden. Folgt man Benedict Andersons Überlegungen, 12 muss die Kategorie „Nation“ als imaginiert und aufgrund ihrer Konstruiertheit auch als wandelbar und historisch betrachtet werden. Gleichzeitig fungiert diese Kategorie als wichtige Bezugsgröße für die menschliche Identifikation und Identitätsbildung. Wesentliche Aspekte des Nation-Buildings sind unter anderem die Annahme eines Gruppenbewusstseins und nationaler Symbole sowie die Abgrenzung nach außen. Im gemeinsamen Sprechen über Erinnerungen, über Lebensgeschichten und Bräuche vergegenwärtigen Gruppen jene Aspekte ihrer Vergangenheit, die sie als eben diese Gruppe auszeichnen und die daher nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Durch die aktive Partizipation einzelner Akteure an einem 11 Ebd., S. 259. 12 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/ Main-New York: Campus 2 2005. <?page no="243"?> 243 Ungarische Nationalhelden als Kommuisten der ersten Stunde derartigen kollektiven Gedächtnis vermitteln sich ihnen nicht nur gruppenspezifische Erinnerungen und Wahrnehmungsschemata, die das individuelle Selbstverständnis rahmen. Vielmehr ist mit der Praxis der geteilten Vergangenheitsauslegung auch die Entstehung neuer, kollektiver Sinnhorizonte und Identitätskonstruktionen verbunden. Die kollektive Identität einer Gruppe ist das Resultat der gemeinsamen Vergangenheitsauslegung. 13 Im Zusammenhang mit dem Begriff der kollektiven Identität unterstreicht Jan Assmann jedoch die Notwendigkeit eines expliziten Bekenntnisses der einzelnen Individuen innerhalb einer Gruppe zur Gruppe. Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht „an sich“, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag. 14 Assmann betont weiter den Zusammenhang zwischen sozialem Selbstbild und der sozialen Erinnerung beziehungsweise dem Geschichtsbewusstsein. So bräuchten, laut Assmann, Gesellschaften die Vergangenheit in erster Linie zur Selbstdefinition, da die Imagination nationaler Gemeinschaften auf die Imagination einer weit in die Vergangenheit zurückreichende Kontinuität angewiesen sei. 15 Die oben erwähnte kollektive Identität, das Bewusstsein einer sozialen Zugehörigkeit, wie Assmann formuliert, leite sich aus der Teilhabe an einem gemeinsamen Gedächtnis und Wissen ab, 16 oder, wie Neumann es ausdrückt, aus der gemeinsamen Praxis der Vergangenheitsdeutung. 17 Es ist die gemeinsame Erinnerung an Vergangenes, das die Kontinuität von Erfahrung gewährleistet und die Stiftung von Identität ermöglicht. Dabei ist festzuhalten, dass die Inhalte dieser gemeinsamen Vergangenheit eine strengen Selektionsmechanismus durchlaufen haben: Das kollektive Gedächtnis orientiert sich an den gegenwärtigen Belangen der Gruppe, so daß gruppenspezifische Sinnbedürfnisse darüber bestimmen, welche Vergangenheitsreferenzen Eingang in das jeweilige Kollektivgedächtnis finden: Die erinnerte Vergangenheit existiert daher nur als partikulare und 13 Neumann, Birgit: „Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten“, in: Erll, Astrid/ Gymnich, Marion u.a. (Hg.): Literatur - Erinnerung - Identität: Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2003, S. 52f. 14 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 4 2002, S. 132f. 15 Ebd. 16 Vgl. ebd., S. 139. 17 Vgl. Neumann: „Literatur als Medium“, S. 59. <?page no="244"?> 244 Erika Regner perspektivische, d.h. als eine auf gegenwärtige Rahmen abgestimmte Konstruktion. 18 Woran sich eine Gruppe also erinnert, was die wesentlichen Motive und Merkmale ihrer gemeinsamen Geschichte beziehungsweise Geschichtskonstruktion ausmacht, sagt also mitunter mehr darüber aus, was die Bedürfnisse, Probleme und Überzeugungen der Gruppe in der Gegenwart sind, als über ihre tatsächliche, objektive Geschichte, was sich durch die eingangs besprochenen Beispiele bestätigen lässt. Literarische Werke können Einblicke in solche (vergangene) Wirklichkeitskonstruktionen und Kollektivvorstellungen geben. Betrachtet man sie, ausgehend von Pierre Noras Konzept, als Erinnerungsorte, können sie auch für die Konstitution einer bestimmten Perspektive auf die Vergangenheit funktionalisiert werden und als Stütze für das daraus sich ableitende Selbstverständnis einer Gruppe oder Nation fungieren. Doch das Potential der Literatur im Kontext der Erinnerungskultur beschränkt sich dabei nicht nur in der Affirmation bestehender Selbstbilder und kollektiver Werte, sondern umfasst auch das Gegenteil, nämlich die kritische Reflexion ebendieser oder sogar die Akzentuierung und Verbreitung subversiver oder ideologisch aufgeladener Gegenerinnerungen zur Herausbildung alternativer Identitätsmodelle 19 . Auch spielen literarische Texte eine zentrale Rolle in Hinblick auf die Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses einer Gruppe beziehungsweise als Medium der Inszenierung sowie Stiftung von Erinnerung: Literarische Werke stellen neben nicht-fiktionalen Texten wie philosophischen oder religiösen Schriften, neben Riten und Denkmälern ein zentrales Medium der kulturellen Erinnerungsbildung sowie Identitätsstiftung dar. Fiktionale Texte können nicht nur Elemente der präexistenten Erinnerungskultur auf verschiedenen textinternen Ebenen inszenieren, sie in neue Zusammenhänge überführen und so symbolisch verdichtete, oftmals alternative Vorstellungen kollektiver Erinnerungen vermitteln. Vielmehr können sie auch auf textexterner Ebene als zentrale Ausdrucksform des kollektiven Gedächtnisses wirksam werden und hiermit einen aktiven Beitrag zur gesellschaftlichen Erinnerungspraxis und Identitätsfindung leisten. 20 Nach Erll dienen dabei „Texte aller Gattungen und Genres, sowohl die populäre ‚Trivialliteratur‘ als auch die kanonisierte ‚Hochliteratur‘“ 21 als Medien des kollektiven Gedächtnisses. Literatur und Gedächtnis kreuzen sich an drei zentralen Schnittstellen: Dabei handelt es sich erstens um verschiedene Verfahren der „Verdichtung“, welche für die Erzeugung und Vermittlung prägnanter Vorstellungen von der 18 Ebd., S. 53. 19 Vgl. Neumann: „Literatur als Medium“, S. 57. 20 Ebd., S. 50. 21 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag J.B. Metzler 2 2011, S. 173. <?page no="245"?> 245 Ungarische Nationalhelden als Kommuisten der ersten Stunde Vergangenheit bedeutsam sind, zweitens um die „Narration“ als ubiquitäres Sinnstiftungsformat und drittens um „Gattungsmuster“ als spezifische, konventionalisierte Weisen der Kodierung von Geschehensverläufen. 22 Komplexe, vergangene Geschehnisse werden in der Erinnerung durch spezielle Topoi repräsentiert, wie bereits in Zusammenhang mit den von Nora geprägten Erinnerungsorten zu sehen war. Die Verdichtung ist aber auch ein typisches Merkmal der Literatur, das die Zusammenführung und Überblendung verschiedener semantischer Bereiche auf engstem Raum ermöglicht, wobei es stark rezeptionsabhängig ist, wie diese Sprachbilder oder Erinnerungsorte entschlüsselt beziehungsweise gedeutet werden. Der von Erll aufgezählte Aspekt der Narration zielt zum einen wieder auf den Selektionsmechanismus ab, der hinter der Entstehung und Ausform(ulier)ung des kollektiven Gedächtnisses wie auch eines literarischen Textes steht - aus einer Fülle von möglichen Elementen werden einige, zu erinnernde oder zu erzählende Elemente ausgewählt -, und zum anderen auf den Aspekt der Kombination dieser selektierten Elemente. Analog zur Literatur ermöglichen narrative Strategien eine sinnvolle Konstruktion der Geschichte - von den Mythen der Vorzeit bis zu den Geschehnissen der Zeitgeschichte - und in weiterer Folge deren Deutung. Die Schnittstelle des Gattungsmusters ist dabei selbsterklärend, wenn man beispielsweise an die konventionalisierten Erzählmuster innerhalb der Geschichtsschreibung denkt oder die verschiedenen Genres wie Bildungs- oder Abenteuerroman betrachtet, die verschiedene Modelle von Entwicklungsverläufen darstellen. Eine weitere Überschneidung innerhalb der Spezifika des kulturellen Gedächtnisses und jenen der Literatur zeigt Neumann auf: Ebenso wie die außertextuelle Erinnerungskultur kann sich auch die fiktionale Erinnerungswelt in eine Vielfalt von koexistierenden Vergangenheitsdeutungen auffächern. 23 Dies gibt in weiterer Folge Aufschluss über die Repräsentation und letztlich Selbstdefinition von Gedächtnisgemeinschaften. Solche multiperspektivisch erzählten oder fokalisierten Texte präsentieren unterschiedliche Erinnerungsperspektiven und legen so Gemeinsamkeiten, aber auch divergente Deutungen der geteilten Vergangenheit offen: Der Grad der Divergenz oder Interdependenz zwischen den Einzelperspektiven läßt Aussagen darüber zu, ob Erinnerungskulturen eher als in sich geschlossene, homogene Entitäten oder als heterogene und plurale Gedächtnisgemeinschaften imaginiert werden. 24 Mit dem Stichwort der Fiktionalität ist eine spezifische Stärke der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses genannt worden. So kann die lite- 22 Ebd., S. 174. 23 Neumann: Literatur als Medium, S. 70. 24 Ebd. <?page no="246"?> 246 Erika Regner rarische Erzählung zum Experimentierfeld der kulturellen Erfahrung mutieren, da sie durch ihre Fiktionalität eine Funktion der Welterzeugung erfüllt. Genau dadurch „können bestehende Gedächtnisversionen durch vergessene oder rein fiktive Elemente erweitert und neu gedeutet werden. Der Konfigurationsprozeß stellt sich folglich als ein poietischer Akt der Exploration alternativer Erinnerungswelten dar, der die kollektive Erfahrungswirklichkeit imaginativ neustrukturiert.“ 25 Die Literatur kann demnach mitunter auch gesellschaftlich verankerte Inhalte des kollektiven Gedächtnisses infrage stellen, da sie nicht nur gesellschaftlich Vergessenes und Verdrängtes wieder erinnerbar machen sondern selbst inkompatible oder sogar gegensätzliche Erinnerungsdiskurse verbinden kann. Auf diese Art wirft sie - selbstverständlich rezeptionsabhängig - neue Perspektiven auf die Kollektivvergangenheit auf, die in der realen, außerliterarischen Wirklichkeit ihre Wirkung entfalten können. Die Spezifik des Rezeptionsvorgangs besteht […] darin, daß die interpretative Erschließung der im Text entworfenen Alternativwelten neue, bislang unbekannte Aspekte der extratextuellen Wirklichkeit zugänglich macht. Die Inhalte und Formen des literarischen Texts, denen im Rezeptionsakt ein spezifischer Sinn zugewiesen wird, verändern so auch die Wahrnehmung der außerliterarischen Sinnwelten. Literatur wird mithin zur aktiv gestaltenden Kraft innerhalb individueller und kollektiver Sinnstiftungsprozesse. 26 Dieses Potential der Literatur als aktiv gestaltender Kraft, um bei Neumann anzuknüpfen, sollte nach József Révai, dem führenden Kulturpolitiker Ungarns, von der kommunistischen Machtergreifung an bis zu seiner Ablöse durch den Schriftsteller József Darvas im Jahr 1953 bewusst ausgenutzt werden. Er selbst war in diesem Sinne auf literaturtheoretischer Ebene, in der Implementierung des Sozialistischen Realismus als einzig gültigen Stil in der Literatur sowie als Literaturkritiker aktiv. Ein Beispiel, um dies zu demonstrieren, soll seine Stellungnahme bezüglich der im sozialistischen Sinne korrekten Handhabe der ungarischen Klassiker, also jener Literatur, die vor der „Befreiung“ verfasst worden war und den bis dahin gültigen Kanon ungarischer Literatur gebildet hatte, sein. In seinen 1950 verfassten „Bemerkungen zu einigen Fragen unserer Literatur“ betont er zunächst die Wichtigkeit des ungarischen literarischen Erbes und sieht dessen Lektüre als notwendige Vorarbeit zur Verwirklichung des Sozialistischen Realismus. Die Lektüre der Klassiker sollte in Révais Augen den neuen Schriftstellern des Sozialistischen Realismus eine Art Ansporn für den Klassenkampf sein: Man kann die Gegenwart nicht ohne Kenntnis der Vergangenheit darstellen. […] Woraus kann man wohl die vergangene Welt besser kennenlernen als aus unserer klassischen Literatur? Zum Patriotismus können wir die Menschen 25 Ebd., S. 69. 26 Neumann: „Literatur als Medium“, S. 71. <?page no="247"?> 247 Ungarische Nationalhelden als Kommuisten der ersten Stunde nur erziehen, wenn wir in unserem Volk das Bewußtsein wahren und wachhalten, daß zwischen den Kämpfen der Vergangenheit und denen der Gegenwart tiefe Zusammenhänge bestehen und daß wir, indem wir Neues schaffen, das von den Besten des ungarischen Volkes begonnene Werk fortsetzen und vollenden. 27 Die Parallelen dieser Textpassage zu jenem Zitat Rákosis, in dem von der Vollendung der Revolution von 1948 durch die KP die Rede ist, sind offensichtlich. Doch es geht noch weiter: Wie bereits Kossuth, Petőfi und Táncsics von Rákosi und Horváth in den eingangs besprochenen Beispielen gleichsam zu den „ersten Kommunisten“ gemacht worden sind, deutet Révai auch die Großen der ungarischen Literaturgeschichte entsprechend um oder platziert sie in einen anderen mitgedachten Kontext: [U]nser Kampf […] wird gestärkt und verbreitert durch die Erkenntnis, daß nicht nur wir die alte unmenschliche Welt hassen, sondern daß auch die großen kritischen Realisten - wie József Eötvös, Kálmán Mikszáth und Zsigmond Móricz - mit erschütternder Kraft die Verkommenheit und Fäulnis der alten Welt enthüllt und gegeißelt haben. 28 Auch Márton Horváth wendet sich in seiner eingangs bereits erwähnten Rede Unsere Flagge: Petőfi [Lobogónk: Petőfi] an die Schriftsteller seines Landes: Die fortschrittlichsten unserer heutigen Dichter haben bereits verstanden, dass das konsequente Verfolgen von Petőfis Weg in der Politik so viel heißt wie Sozialismus, in der Dichtung so viel wie das Aneignen der Ergebnisse der sowjetischen Literatur. [Leghaladóbb mai költőink megértették már, hogy következetesen Petőfi [útj]án járni a politikában annyit jelent, mint szocializmus, a költészetben annyit, mint a szovjet irodalom eredményeinek elsajátítása.] 29 Horváth macht Petőfi also nicht nur im politischen Sinne zum Bolschewiken seiner Zeit, sondern geradezu zum Sinnbild des sowjetischen Sozialismus an sich. Folgerichtig hätten die Schriftsteller, die dem Vorbild nacheifern wollen, der sozialistisch-realistischen, sowjetischen Literatur nachzueifern - die Kontinuität der ungarischen literarischen Tradition sei also durch die Hinwendung zur sowjetischen Literatur sicherzustellen. In der Literatur selbst lässt sich die Übernahme der nationalen Linie ebenfalls nachweisen. Insbesondere die Gedichte, die Ende der 40er Jahre und Anfang der 50er Jahre von parteitreuen, kommunistischen Schriftstellern verfasst worden sind, weisen neben dem erwartungsgemäßen Schematismus und den in Verse gezwängten Propagandaparolen Elemente auf, die im Sinne der Umdeutung existenter Kollektiverinnerungsinhalte platziert worden sind. Dies soll zum Abschluss anhand von zwei Gedichten dargestellt werden. Auf deren stilistische Gestaltung soll dabei nicht eingegangen werden, da der über- 27 Révai, József: Literarische Studien. Berlin: Dietz Verlag 1956, S. 256. 28 Révai: Literarische Studien, S. 256. 29 Horváth: Lobogónk: Petőfi, S. 271. <?page no="248"?> 248 Erika Regner wiegende Teil der in diesem Zeitraum entstandenen Gedichte kaum einem erkennbaren Reimschema folgt beziehungsweise recht offensichtlich ist, dass die Verfasser weder die Zeit noch den Willen für eine ausgefeilte formelle, ästhetische Gestaltung ihrer Werke hatten. 30 Endre Darázs, einer der produktivsten parteitreuen Lyriker, verfasste das 1952 in der Anthologie Erőnk a béke [Unsere Kraft ist der Friede] erschienene Gedicht Rólad beszélünk [Wir sprechen von dir]. Seine erste Strophe lautet wie folgt: Rákóczi blickte ein letztes Mal zurück. Die Pferde waren ungeduldig und sie trugen ihren Reiter mit dem gesenkten Haupt für immer in die Ferne. Auch Kossuth wurde vom langsamen Kahn von Orschowa ins Verderben gebracht. Eingekeilt zwischen zwei Bajonetten gelangte mit erhobenem Haupt der Dritte an die Grenze. [Rákóczi utólszor visszanézett. / Türelmetlenkedtek a lovak / És örökre messzire ragadták / Lehajtottfejű lovagjukat. / Kossuthot is pusztulásba vitte / Orsováról a lassú ladik. / Két szurony közt került a határra, / Felemelt fővel a harmadik.] 31 Mátyás Rákosi wird hier gleich zu Beginn mit Franz II. Rákóczi, ebenfalls ein ungarischer Nationalheld und Freiheitskämpfer, der die führende Figur des Kuruzenaufstandes gegen die Habsburger war, und Lajos Kossuth in eine Reihe gestellt - doch für den Dichter ist es eine Stirnreihe, schon die letzte Zeile dieser Strophe stellt dies klar: Rákosi allein ging mit erhobenem Haupt ins Exil, er ist keine gebrochene Gestalt und der Rest des Gedichtes, eine Lobeshymne auf Rákosi, erzählt von seiner (Lehr)Zeit in der Sowjetunion und seiner Rückkehr. Hier nimmt die Erzählung fast schon messianische Züge an, Rákosi, „der Heimat größter Sohn“, ist zurückgekehrt - im Gegensatz zu den anfangs erwähnten Nationalhelden, die das Volk im Stich gelassen hatten. Er wurde zum Vater der Nation, der seine (! ) Nation an der Hand nimmt und zwischen den Gräbern hervor in die Freiheit führt. Darázs’ Gedicht ist klar in die Reihe jener Gedichte einzuordnen, die im Zuge des Personenkults um Rákosi anlässlich seiner Geburtstage oder wichtigen Jubiläen entstanden sind. In der fanatischen Verherrlichung der Person Rákosi liegt seine Besonderheit nicht. Wohl aber in seiner ersten Strophe, in der die bereits aus den Politikerreden bekannte Taktik des „Anknüpfens“ an die Nationalhelden und deren Instrumentalisierung klar ersichtlich ist. In derselben Anthologie, Erőnk a béke [Unsere Kraft ist der Friede], veröffentlichte auch Tamás Aczél ein Gedicht mit dem Titel Honvédeskü [Soldatenschwur]. Aczél war ein überzeugter kommunistischer Schriftsteller, der von Beginn an wichtige Positionen im Literaturbetrieb Ungarns innehatte. Mitte 30 Vgl. Buda, Attila: „A vas és az acél országa“, in: L. Simon, László-(Hg.): Munkás, paraszt, értelmiség munkaverseny lázában ég! Agitatív antológiaköltészet Magyarországon 1945- 1956. Budapest: Korona Kiadó 2002, S. 21. 31 Darázs, Endre: „Rólad beszélünk“, in: Szász, Imre: Erőnk a béke. Magyar költők a békeharcban. Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadó 1952, S. 18. <?page no="249"?> 249 Ungarische Nationalhelden als Kommuisten der ersten Stunde der 50er Jahre jedoch distanzierte er sich immer mehr von der Partei, was zu seiner aktiven Teilnahme an der Revolution von 1956 und seiner Emigration führte. 1952 las man von ihm jedoch noch folgende Zeilen: Wenn es ein Opfer braucht - dann wird es ein Opfer geben - ein selbstbewusstes, stolzes, heldenhaftes, meine Fahnen sind geheiligt durch Zrínyi, Kossuth und Petőfi. […] Ich schwöre, weil diese Heimat heilig ist, ich, der Sohn des arbeitenden Volkes. [Ha áldozat kell - áldozat / lesz - öntudatos, büszke, hősi, / megszentelte szászlóimat / már Zrínyi, Kossuth és Petőfi.[…] Esküszöm, mert szent ez a haza, / én, a dolgozó nép fia.] 32 Aczél übernimmt hier die für die damalige Zeit charakteristische militaristisch aufgeladene Sprache, die sich auch im Untertitel der Anthologie wiederfindet: Magyar költők a békeharcban [Ungarische Dichter im Friedenskampf]. Er verfasst einen Soldatenschwur auf die Heimat, die, wie aus dem Gedicht weiter ersichtlich wird, mithilfe der großen sowjetischen Armee, die für immer als „glänzendes Vorbild“ dienen soll, befreit werden konnte und in Zukunft verteidigt werden solle. Sein Gedicht mutet auf den ersten Blick subtiler an: abgesehen von der einen Erwähnung der Sowjetarmee findet man keine weitere direkte Erwähnung der Partei, der Sowjetunion, diverser Politiker oder expliziter Propagandaparolen. Doch beschwört das Gedicht in seinem durch und durch patriotischen Tonfall in jeder Strophe das „arbeitende Volk“ [dolgozó nép] herauf, was die eben vermutete Subtilität stark relativiert, hatte die ehemals Ungarische Kommunistische Partei zu jener Zeit ihren Namen bereits auf Partei der Ungarischen Werktätigen [Magyar Dolgozók Pártja] geändert - der Sohn des arbeitenden Volkes [dolgozó nép fia] ist leicht als „Sohn der Arbeiterpartei“ identifizierbar [dolgozók párt fia]. Was hier nicht explizit steht, klingt in Gedanken deutlich mit, insbesondere da es implizit das weitverbreitete und auch im vorigen Gedicht vorhandene Motiv von „Rákosi als Vater (der Nation)“ transportiert und wohl auch dem Gefühlszustand vieler Parteimitglieder entsprach, die sich nach 1945 in jüngeren Jahren voller Enthusiasmus der Kommunistischen Partei anschlossen und eine Kampfgemeinschaft für ihre Ideale zu bilden bereit waren. Dieses Bild der Kampfgemeinschaft unterstreicht Aczél, indem er ebenfalls bei den großen Nationalhelden Ungarns anknüpft, hier aber nicht wie davor Darázs (und andere) Rákosi als deren Erbe, Nachfolger oder eben Vollender deren Kampfes hinstellt, sondern das lyrische Ich selbst und die Gemeinschaft des arbeitenden Volkes, als dessen Sohn es sich bezeichnet. 32 Aczél, Tamás: „Honvédeskü“, in: Szász, Imre: Erőnk a béke. Magyar költők a békeharcban. Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadó 1952, S. 126. <?page no="250"?> 250 Erika Regner <?page no="251"?> 251 Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel Jelena Spreicer Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel - Maja Haderlaps Engel des Vergessens Im Kontext ihrer Untersuchung der antifaschistischen Erinnerungskultur in Kärnten schildert Lisa Rettl in ihrer Studie PartisanInnendenkmäler (2006) eine für den österreichischen Geschichtsdiskurs charakteristische Gespaltenheit des Gedächtnisses: Die Gespaltenheit des Gedächtnisses bezieht sich […] auf die Differenz zwischen der „plebiszitären Geschichtsschreibung von unten“, die ungeachtet der Realität des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges tendenziell eine heroische Überhöhung der Kriegsbzw. Wehrmachtsteilnehmer als „Heimatverteidiger“ vorsieht und dem offiziellen Anspruch der Republik, die sich gemäß ihrer Gründungsdoktrin - zumindest via Lippenbekenntnis - als antifaschistisch verortet. Die Gespaltenheit bezieht sich hier auf das Verhältnis Bevölkerung und Staat. 1 Die von Rettl besprochene Gespaltenheit beruht also auf einer Kluft zwischen der offiziellen Doktrin von der antifaschistischen Grundlage der Zweiten Republik und der alltäglichen Realität in Kärnten, wo aufgrund der jugoslawischen Besatzung des Landes im Mai und Juni 1945 auf der Ebene der Mikrogeschichte eine revisionistische Verwandlung von Mitläufern des NS-Regimes in „Heimatverteidiger“ getrieben wird. Außerdem thematisiert Rettl in ihrer Studie eine weitere Gespaltenheit des Gedächtnisses: „das innergesellschaftliche Verhältnis der Bevölkerung zueinander, in der sich […] die Gedächtnisinhalte der ehemaligen „Täter“ und „Opfer“ bzw. ihrer Nachfolgegenerationen gegenüberstehen.“ 2 Dabei sind die historischen Rollen klar verteilt: die „Täter“ sind die Kärntner Partisanen, die ungeachtet ihres Beitrags zur Befreiung Österreichs von der NS- Herrschaft auf der innergesellschaftlichen Ebene fast ausschließlich im Kontext der nach dem Kriegsende, während der jugoslawischen Besatzung Kärntens begangenen Verbrechen betrachtet werden, während die „Opfer“ die Kärntner Österreicher sind, die Verteidiger der Heimat gegen die kommunistische Gefahr. 1 Rettl, Lisa: PartisanInnendenkmäler. Antifaschistische Erinnerungskultur in Kärnten. Innsbruck-Wien: Studienverlag 2006, S. 12. Hervorhebung im Original. 2 Ebd., S. 13. <?page no="252"?> 252 Jelena Spreicer Diese für Kärnten spezifische, auf der gesellschaftlichen Mikroebene gepflegte Version der Geschichte spiegelt sich in mehreren historiografischen Monographien wider, in denen die slowenischen Partisanen in Kärnten als „Täter“ geschildert werden: Völkermord der Tito-Partisanen 1944-1948 (1990); 3 Die Tragödie von Bleiburg und Viktring: Partisanengewalt in Kärnten am Beispiel der antikommunistischen Flüchtlinge im Mai 1945 (2011); 4 Kärnten und die nationale Frage. 1. Aussiedlung - Verschleppung - nationaler Kampf (2005); 5 Opfer, Täter, Denunzianten: „Partisanenjustiz“ am Beispiel der Verschleppungen in Kärnten und der Steiermark im Mai/ Juni 1945: Recht oder Rache? (2007). 6 Ein Charakteristikum dieser Strömung der österreichischen Historiographie ist, dass der Begriff „Kärntner Trauma“ im Kontext des Zweiten Weltkriegs nur in Bezug auf die Verschleppungen von Kärntner Österreichern nach dem Kriegsende verwendet wird, 7 obwohl der slowenische Historiker Marjan Linasi auf der Basis intensiver Recherche die Zahl von 917 internierten, 199 ermordeten und 1070 vertriebenen slowenischen Opfern des NS-Regimes feststellte. 8 Dies zeugt von einem „hegemoniale[n] Geschichtsverhältnis“, 9 bei dem sich die slowenische Minderheit immer noch in einem postimperialen Verhältnis zur österreichischen Mehrheit befindet, und aus diesem Grund aus dem Opferdiskurs verdrängt wird. Infolgedessen leben die Mitglieder der österreichischen und slowenischen ethnischen Gruppe in Kärnten bis heute in einem tiefen innergesellschaftlichen Konflikt, in dem sich „die ehemaligen Feinde nach wie vor gegenüber[stehen]: ‚Opfer‘ und ‚Täter‘, ‚Sieger‘ und ‚Verlierer‘, […] ‚Deutschalias Heimattreue‘ und ‚Vaterlandsverräter‘ - Kärntnerslowenische PartisanInnen“. 10 Der für eine funktionale Erinnerungspolitik paralysierende Status quo hat direkte Auswirkungen auf das politische Leben Kärntens, wie die Diskussionen über das zweisprachige Schulwesen, zweisprachige Ortstafel oder PartisanInnendenkmäler zeigen. 11 Der 2011 mit dem In- 3 Völkermord der Tito-Partisanen 1944-1948. Österreichische Historiker-Arbeitergemeinschaft für Kärnten und Steiermark. Sersheim: Hartmann 1990. 4 Rulitz, Florian Thomas: Die Tragödie von Bleiburg und Viktring: Partisanengewalt in Kärnten am Beispiel der antikommunistischen Flüchtlinge im Mai 1945. Klagenfurt: Hermagoras Verlag 2011. 5 Karner, Stefan: Kärnten und die nationale Frage. 1. Aussiedlung - Verschleppung - nationaler Kampf. Klagenfurt-Wien: Hermagoras/ Mohorjeva Založba 2005. 6 Elste, Alfred/ Koschat, Michael/ Strohmaier, Paul (Hg.): Opfer, Täter, Denunzianten: „Partisanenjustiz“ am Beispiel der Verschleppungen in Kärnten und der Steiermark im Mai/ Juni 1945: Recht oder Rache? Klagenfurt-Wien: Hermagoras Verlag 2 2007. 7 Wie z.B. bei Elste, Koschat und Strohmaier: Opfer, Täter, Denunzianten, S. 15. 8 Linasi, Marjan: Die Kärntner Partisanen. Der antifaschistische Widerstand im zweisprachigen Kärnten unter Berücksichtigung des slowenischen und jugoslawischen Widerstandes. Aus dem Slowenischen übersetzt von Marica und Michael Kulnik. Klagenfurt-Laibach: Hermagoras Verlag 2013, S. 392f. 9 Rettl: PartisanInnendenkmäler, S. 23. 10 Ebd., S. 7. 11 Ebd., S. 24. <?page no="253"?> 253 Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel geborg-Bachmann-Preis ausgezeichnete Roman Engel des Vergessens 12 (2011) von Maja Haderlap stellt einen der wenigen Versuche dar, ein slowenisches Gegennarrativ zum Thema des antifaschistischen Widerstandes in Kärnten sowie der slowenischen Opfer des Zweiten Weltkriegs zu schreiben. Der Engel des Vergessens aus dem Romantitel fungiert dabei als der direkte Bezug auf Walter Benjamins „IX. These über den Begriff der Geschichte“. Genauso wie Benjamins Engel der Geschichte, der „das Antlitz der Vergangenheit zugewendet [hat]“ und dort, „wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, […] eine einzige Katastrophe [sieht], die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“, 13 versucht die Erzählerin in diesem autobiographisch motivierten Roman aus den zahlreichen Erinnerungen ihrer Familienmitglieder ein zusammenhängendes historisches Narrativ zu entwerfen. Dabei ist das Narrativ der Familienvergangenheit vom Narrativ der slowenischen Minderheit in Österreich und insbesondere in Kärnten untrennbar. Die traumatischen Kriegserfahrungen mehrerer Generationen einer Familie fungieren in diesem Fall als ein Distinktionsmerkmal, durch das eine ethnische Minderheit sich nach dem Krieg re-konstruiert und in den dominanten gesellschaftlichen Diskurs einzuschreiben versucht. Im Roman, den der Spiegel-Rezensent Wolfgang Höbel als „eine slowenisch-kärntnerische Familiensaga“ 14 charakterisiert, werden die Kindheit und das Aufwachsen der Erzählerin auf einem slowenischen Bauernhof in Lepena in der Nähe von Bad Eisenkappel (slow. Železna kapla) in Kärnten geschildert. Obwohl das aus der Kindperspektive dargestellte Leben mit den Eltern und der Großmutter auf den ersten Blick einer dörfliche Idylle gleicht, tauchen sehr früh im Roman eindeutige Signale auf, dass der Familienalltag von omnipräsenten und unheimlichen Spuren der Vergangenheit durchdrungen ist. Dabei ist die Schlüsselperson für den Bezug der Erzählerin zur Vergangenheit die Großmutter, die ihren Aufenthalt im Konzentrationslager Ravensbrück zum alltäglichen Gesprächsthema macht, sodass zahlreichen Episoden aus der alltäglichen Routine ein testimonialer Charakter verliehen wird: Beim Kochen spricht die Großmutter über die Zeit, als sie in der Küche im KZ gearbeitet hat; beim Brotbacken beschreibt sie ihrer Enkelin die Brotrationen im KZ und beim Ausräumen des Schrankes erklärt sie die spezifische KZbezogene Bedeutung des Wortes „organisieren“. In diesem Zusammenhang fallen auch die Namen Mauthausen und Dachau, wohin zahlreiche Mitglieder der slowenischen Minderheit wegen ihrer Zugehörigkeit zu Partisaneneinheiten deportiert wurden. Während die Großmutter in Ravensbrück interniert 12 Haderlap, Maja: Engel des Vergessens. Göttingen: Wallstein 2011. Haderlaps Roman wird im Folgenden mit dem Sigle EV zitiert. 13 Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders.: Erzählen. Theorie zur Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007, S. 133f. 14 Höbel, Wolfgang: „Im Keller summen die Bienen.“ In: Der Spiegel 29 (18.7.2011), S. 125. <?page no="254"?> 254 Jelena Spreicer war, entschied sich ihr Sohn, der Vater der Erzählerin, sich den Partisanen anzuschließen. Infolgedessen leidet er unter Kriegstraumata, die sich durch den übermäßigen Alkoholkonsum, Aggressivität und immer wiederkehrende Selbstmordgedanken manifestieren. Darüber hinaus werden im Roman die Mordtaten, die von den SS-Einheiten an den Slowenen in Kärnten gegen das Kriegsende verübt worden sind, in den Mittelpunkt gerückt, wodurch die slowenische Minderheit in den kärntnerischen Opferdiskurs eingeschrieben wird. Dementsprechend spielt in der Familie die Vergangenheit eine zentrale, für die Familienidentität ausschlaggebende Rolle. Der problematische Zugang zur Vergangenheit verursacht Spannungen nicht nur zwischen zwei entgegengesetzten gesellschaftlichen Gruppen, die sich gegenseitig für die während des Zweiten Weltkriegs in Kärnten begangenen Verbrechen beschuldigen, sondern auch zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Die Großmutter und der Vater nehmen aufgrund ihrer Unbeteiligtheit am Zweiten Weltkrieg eine erniedrigende Stellung gegenüber der Mutter ein. Während der Vater ihr das fehlende Verständnis für seine emotionalen Zusammenbrüche und den Alkoholkonsum vorwirft, wird sie von der Großmutter kritisiert, weil sie kein Opfer des NS-Regimes ist und deswegen nicht richtig zu einer Familie gehöre, die vom Begriff des Leides maßgeblich geprägt worden ist: „Großmutter hört nicht auf, sich zu beschweren, dass Mutter etwas Besseres sein möchte, dass sie in ihrem Leben noch nie gelitten habe, weil sie keine Vorstellung vom Leid habe.“ (EV 104) Unter dem Einfluss der Großmutter bildet das Kind die Meinung, die Erfahrung des geschichtlichen Traumas sei eine notwendige Voraussetzung für das Recht, über die Vergangenheit zu sprechen: Ich überlege, ob ich im schwelenden Streit zwischen Großmutter und Mutter Stellung beziehen müsste, und entscheide mich, letztlich auf Großmutters Seite zu stehen, weil sie im Leben viel durchgemacht hat und Mutter zu viel an mir auszusetzen hat. (EV 104) Der Konflikt zwischen der Mutter und Großmutter bricht erneut und heftig aus, als die zwei Frauen sich darüber nicht einigen können, wie viel Geschichte in der Erziehung des Kindes eigentlich erforderlich ist. Während die Mutter das Kind vor der unheimlichen Familiengeschichte so lang wie nur möglich beschützen möchte und deswegen auf die Frage, wer die Partisanen eigentlich gewesen sind, nur zögernd Antwort gibt, hält die Großmutter ihre reservierte Einstellung zum Partisanenkampf für eine Beleidigung: „Von dir [der Mutter] lasse ich mir nicht vorschreiben, wie ich das Mädchen zu behandeln habe, von dir nicht, sagt sie [die Großmutter] vorwurfsvoll und setzt sich an den Brunnen vor der Haustür.“ (EV 31, Hervorh. J.S.) Folglich entscheidet sich die Großmutter, die Erziehung des Kindes zu übernehmen. Statt der Lektüre von unterschiedlichen Texten, die von der Großmutter als „unnütze Geschichten“ bezeichnet werden, gehören zur „richtigen“ Erziehung: Tanzen, Kartenspiel und Bewirtung von Besuchern. (EV 31) Als die Erzählerin aufgrund ihrer <?page no="255"?> 255 Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel guten Noten ins Gymnasium geschickt wird, vergleicht die Großmutter das Gymnasium mit dem Lager und bringt dem Kind eine Menge Richtlinien für das Überleben bei: Auf deinen Weg ins Leben, sagt Großmutter zum Schluss, will ich dir etwas mitgeben: Sperre dich nie nach einer Selektion im Klo ein, teile die Pakete, solange sie von zu Hause geschickt werden, mit den anderen, passe auf die wenigen Sachen, die du besitzt, gut auf. Im Lager wird nämlich gestohlen, was das Zeug hält. Pflege guten Kontakt mit den Mitgefangenen, damit du nicht allein und ohne Hilfe stirbst. (EV 130) Wie an diesem Zitat zu bemerken ist, lebt die Großmutter in den 70er Jahren immer noch in einem scheinbar paradoxalen Zustand permanenter Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, in der die Gefahr einer nazistischen Verfolgung noch nicht endgültig vorbei ist. Obwohl diese Auffassung kaum mit dem restaurativen Klima der Nachkriegszeit vereinbar ist, weist der Zeit-Rezensent des Romans Ulrich Greiner auf den „Hass der ‚Reichsdeutschen‘ auf die anderssprachige Minderheit und […] [die] bis heute fortwährende[n] Ressentiments“ hin, 15 die im Roman ausführlich geschildert werden. Stellvertretend für die erwähnten Ressentiments steht die Episode, in der die Erzählerin eines Abends aus Wien, wo sie studiert, nach Hause zu Besuch kommt und den Vater im lokalen Gasthaus, wo an zwei gegenüberliegenden Tischen eine slowenische und eine österreichische Gesellschaft trinken, entdeckt. Zum Konflikt kommt es, als Tine, ein Freund des Vaters, zu erzählen beginnt, wie die Familie Peršman gegen Kriegsende von einer SS-Einheit ermordet wurde. In diesem Moment kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedern der slowenischen Minderheit, von denen die meisten mit den Partisanen gekämpft haben, und den sogenannten „reichstreuen Bürgern“. (EV 178f.) Während den Partisanen die Terrorisierung der heimattreuen Bevölkerung und der Kampf für Jugoslawien auf dem österreichischen Territorium unterstellt wird, erwidert Tine mit folgenden Worten: „Ihr glaubt noch immer, dass man unter Hitlerdeutschland für Österreich gekämpft hat. Für den deutschen Lebensraum schon, aber nicht für Österreich! Das freie Österreich war abgeschrieben wie nie zuvor. Ist das noch immer deine Heimat, das deutsche Reich[? ]“ (EV 178) Wie die Erzählerin bemerkt, entwickelt sich die Situation, als ob der Krieg nie vorbei wäre und als ob der Nazismus und der antifaschistische Kampf immer noch Gegenwart sind, wodurch die Ratschläge der Großmutter, wie man sich in einem Konzentrationslager benehmen soll, nicht mehr so grotesk erscheinen. Der Diskurs über die Vergangenheit, bei dem verschiedene gesellschaftliche Gruppen konflikthafte Narrative konstruieren, wird somit zur Arena der Ausübung von gesellschaftlichen Machtbeziehungen. In einem solchen Kontext wird auf die 15 Greiner, Ulrich: „Gerechtigkeit für die Slowenen“, in: Die Zeit 30 (21.7.2011). Online abrufbar unter: http: / / www.zeit.de/ 2011/ 30/ L-Haderlap (22.7.2014) <?page no="256"?> 256 Jelena Spreicer slowenische Minderheit Druck ausgeübt, auf das eigene kollektive Gedächtnis zugunsten des Heimatdiskurses zu verzichten. Da die Erzählerin vor dem Tod der Großmutter immer noch ein Kind ist, erwecken ihre alltäglichen Kriegsgeschichten keine Gedanken über breitere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge dieser spezifischen Familiengeschichte. Nach dem Anfang der Ausbildung in Wien wird jedoch bei der Erzählerin das politische Bewusstsein über die marginalisierte Lage der Kärntner Slowenen erweckt. In diesem Zusammenhang erweisen sich die Panikattacken, Angstzustände und Selbstmordgedanken des Vaters als Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung, die auf ganz konkrete geschichtlich-politische Zusammenhänge zurückzuführen ist. Diese Zusammenhänge sind in den 60er und 70er Jahren aus dem gesellschaftlichen Diskurs völlig verschwunden, sodass die Erzählerin die Entscheidung trifft, sich selbst mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen und den Opfern aus ihrer Familie eine Stimme zu geben. Der Bedarf der Kinder von Überlebenden, die Familiengeschichte zu rekonstruieren, wird von der amerikanischen Literaturtheoretikerin Marianne Hirsch als „postmemory“ bezeichnet und in Verbindung mit einer spezifischen Gruppe von Zeitzeugen gebracht: Children of survivors live at a further temporal and spatial remove from the decimated world of their parents. Still, the power of mourning and memory, and the rift dividing their parents’ lives, impart to them something that is akin to memory. I have chosen to call this secondary, or second-generation, memory - postmemory. 16 Hirsch definiert hier „postmemory“ als das Gedächtnis der zweiten und dritten Generation der Überlebenden, derer Kindheit von einem Geschehen dominiert wird, das sich Jahre vor ihrer Geburt abgespielt hat. Dabei wird das Narrativ des eigenen Lebens zugunsten der Narrative vorausgehender Generationen aus einem vererbten Schuldgefühl marginalisiert, sodass die Kinder von vergangenen Geschehen, die sie weder verstehen noch genau rekonstruieren können, stark geprägt werden. 17 Laut Hirsch ist „postmemory“ eine besonders beeindruckende Gedächtnisform gerade aus dem Grund, dass die Verbindung zwischen Gedächtnis und dem geschichtlichen Ereignis nicht durch Erinnerung, sondern durch imaginative Investition und Kreativität vermittelt wird. Die imaginative Investition und Kreativität in Haderlaps Roman dienen jedoch weder einer privaten Identitätssuche noch einer, wie Lisa Nimmervoll es formuliert, „literarischen Geisteraustreibung“, 18 16 Hirsch, Marianne: „Past Lives: Postmemories in Exile“, in: Poetics Today 17.4 (1996). S. 659-686, S. 659. 17 Hirsch: Past Lives, S. 659. 18 Nimervoll, Lisa: „‚Der Schrecken muss zutage kommen.‘ Interview mit Maja Haderlap und Claudia Schmied“, in: Der Standard (31. Jul 2012), online abrufbar unter: http: / / derstandard.at/ 1343743479740/ Kulturministerin-trifft-Schriftstellerin-Der- <?page no="257"?> 257 Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel sondern vielmehr der Konstruktion einer ausgewogenen Geschichtsauffassung in der sowohl der österreichischen sowie der slowenischen Minderheit das Recht auf Opferstatus anerkannt wird. Als Kind und Enkelin von NS- Opfern ist die Erzählerin, genauso wie die tatsächlichen Opfer, eine Exilantin aus einer nicht mehr existierenden Welt. Während die Großmutter und der Vater über die eigenen Erinnerungen verfügen und den Familienalltag damit sogar belasten, muss die Erzählerin die verlorene Welt ihrer Familie selbst kreativ rekonstruieren. Mit dem Verlassen des Kärntner Dorfmilieus reift die Erkenntnis über die nicht nur räumliche, sondern auch diskursive Marginalisierung von Kärntner Slowenen heran: Vaters Hilferufe verwandeln sich, seit ich studiere, in gesellschaftliche, ja auch in politische. Ich beginne in öffentlichen Zusammenhängen zu denken. Bin mir sicher, dass es die Haltung zur Vergangenheit in diesem Lande mit sich bringt, dass unsere Familiengeschichten so befremdlich erscheinen und sich in solcher Verlassenheit und Isolation vollziehen. Sie stehen in nahezu keiner Verbindung zur Gegenwart. Zwischen der behaupteten und der tatsächlichen Geschichte Österreichs erstreckt sich ein Niemandsland, in dem man verloren gehen kann. Ich sehe mich zwischen einem dunklen, vergessenen Kellerabteil des Hauses Österreich und seinen hellen reich ausgestatteten Räumlichkeiten hin- und herpendeln. (EV 185) In diesem Zitat, das als Schlüsselstelle des ganzen Romans gelesen werden kann, wird das heranwachsende politische Selbstbewusstsein der Erzählerin dargestellt, die als Studentin die früher für die Privatsphäre reservierten Schmerzstellen aus dem Familienleben jetzt in Verbindung zur gegenwärtigen politischen Lage betrachtet. Die Abwesenheit des slowenischen Elements aus der Öffentlichkeit sowie die Verschwiegenheit der „tatsächlichen“ Geschichte, die zugunsten des Diskurses über die Restauration, Unabhängigkeit und Neutralität unterdrückt wird, veranlassen den Beginn der schriftstellerischen bzw. lyrischen Tätigkeit der Schriftstellerin. Das Kind, das bis dahin nur die Rolle einer stummen Zuhörerin von Familienerinnerungen einnahm, verwandelt sich in eine aktive Teilnehmerin am Prozess der Pluralisierung und Neugestaltung des künstlerischen und historiographischen Diskurses in Österreich. Als Beispiel dafür dient die Episode, in der der Vater nach Wien anlässlich der Buchvorstellung seiner Tochter kommt. Obwohl sich die Erzählerin um den Vater bemüht und versucht, ihm den Wien-Aufenthalt bestmöglich zu organisieren, ist der Vater in der Hauptstadt ständig fehl am Platz und wird zu einem Störelement. Die Hauptstadt und die Provinz erweisen sich demnach als zwei parallel existierende, voneinander abgetrennte Zeitdimensionen, zwischen denen eine unüberbrückbare Kluft entstanden ist. Während die Provinz für den unheimlichen Vergangenheitsbezug steht, wirkt die von der neueren Geschichte unbelastete Gegenwart der Hauptstadt auf die Erzählerin ebenso unheimlich. Schrecken-muss-zutage-kommen. (21.7.2014) <?page no="258"?> 258 Jelena Spreicer Während alle lyrischen Texte von Maja Haderlap auf Slowenisch entstehen, das sie im Interview mit Lisa Nimmervoll als ihre „Affektsprache“ 19 bezeichnet, ist Engel des Vergessens das erste Werk, in dem sich die Autorin für die deutsche Sprache entschied. Der Entschluss, eine im Grunde genommen slowenische Geschichte, die während der ganzen Kindheit ausschließlich auf slowenisch erzählt wird (in der Familie der Erzählerin wird nur Slowenisch gesprochen), auf Deutsch zu verfassen, hängt zusammen mit der Erkenntnis des Konstruktcharakters des Geschichtsbegriffs - und dem Bedarf nach seiner Reinskription. Dabei wird von der Erzählerin insbesondere im ersten Teil des Romans, als die Erinnerungen vor dem Internat und Gymnasium geschildert werden, ein spezifischer Sprachduktus entwickelt: die Gespräche mit den Familienmitgliedern werden hauptsächlich in indirekter Rede beziehungsweise im Konjunktiv formuliert. Statt den Worten der Großmutter durch Dialoge Ausdruck zu geben, entscheidet sich die Erzählerin für einen dialogfreien Erzählstrom, aufgrund dessen der Text schon auf dem ersten Blick einer offiziellen Zeugenaussage ähnelt: Großmutter beschließt, in diesem Jahr nach Ravensbrück zu fahren. Es heißt, die Reise werde ein paar Tage dauern. Als sie zurückkehrt und wieder neben mir im Bett liegt, bin ich erleichtert. Sie sagt, der Ausflug sei sehr anstrengend gewesen. Aus ganz Europa seien Frauen ins Lager gekommen. (EV 44) Was die Rezeption des Romans im deutschsprachigen Raum angeht, wird oft der gerade beschriebene Sprachduktus der Kritik unterzogen. Ulrich Greiner argumentiert, dass die indirekte Rede den Berichten der Erzählerin „die Objektivität einer Zeugenaussage [gibt], aber […] die Lektüre mühsam macht [und] dies umso mehr, als das gesamte Buch chronologisch von einem ‚Ich‘ erzählt wird, von dem des Kindes bis zur erwachsenen Frau“. 20 Noch ein Problem stellt für Greiner das von der Erzählerin konsequent eingesetzte Präsens dar, denn das Präsens „taugt für die poetische Skizze“, sei aber „unbrauchbar für die Inszenierung eines historischen Raums, um den es hier hauptsächlich geht. Wo alles Gegenwart ist, entsteht kein Bogen, der die Tiefe der Zeit überspannen könnte“. 21 Wenn die von Freud beschriebene Latenzzeit und der Wiederholungszwang des Traumas in Betracht genommen werden, dann ist das Präsens jedoch das einzige angemessene Tempus für den Zustand der permanenten Gegenwärtigkeit der Vergangenheit, den die Erzählerin durch den Text vermitteln möchte. Das ununterbrochene Präsens kombiniert mit dem Konjunktiv I erweckt das Gefühl einer Inszenierung - es ist, als ob sich die Geschichte vor den Augen des Lesers immer wieder von Neuem in der Gegenwart abspiele, was einer zwanghaften Wiederholung im Sinne Freuds entspricht. Ein solcher Sprachduktus übt im Romanprojekt der Erzählerin eine zweifache Funktion 19 Nimmervoll: „Der Schrecken muss zutage kommen“. 20 Greiner: „Gerechtigkeit für die Slowenen.“ 21 Ebd. <?page no="259"?> 259 Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel aus. Erstens stellt es den Zustand der dauernden Anwesenheit der Geschichte im alltäglichen Leben der Familie dar und zweitens wird durch das Präsens der Eingang des slowenischen kollektiven Gedächtnisses in die österreichische öffentliche Sphäre verlangt, damit über eine konkrete Familiengeschichte nicht ausschließlich in der Isolation der Privatsphäre gesprochen werden kann. In diesem Kontext sollen noch einmal Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte evoziert werden, und zwar die VI. These, in der Benjamin wie folgendermaßen argumentiert: Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen „wie es denn eigentlich gewesen ist“. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dasselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. 22 Die Pluralisierung des Diskurses über die Vergangenheit ist demnach nicht bloß ein Mittel zur Subversion der herrschenden diskursiven Machtverhältnisse, sondern die historische Verantwortung jeder neuen Generation, die automatisierten Muster der Vergangenheitswahrnehmung zu hinterfragen. Die von Greiner als ungewöhnlich und leserfeindlich empfundene Sprache soll aus diesem Grund als absichtlich störend analysiert werden, denn sie dient einer Reinskription der Geschichte - der Geschichte aus dem slowenischen Blickwinkel mit dem Ziel der Eröffnung eines Dialogs über die Unzulänglichkeiten und Gefahren einer polarisierten oder monopolisierten Erinnerungspolitik. Der Erfolg des Romans von Maja Haderlap zeugt von der Realisierbarkeit dieses Dialogs. Wie die Autorin selbst 2013 im Interview mit Lisa Nimmervoll und der damaligen Kulturministerin Claudia Schmied formulierte: Seit ich denken kann, sind dieses Land und die politischen Zustände in Kärnten ein Thema für mich gewesen. Dass es jetzt in dieser Heftigkeit klar an die Öffentlichkeit drängt, finde ich bemerkenswert und notwendig, weil das Verkommene offensichtlich wird und man nicht mehr herumreden kann. Die Dinge liegen auf dem Tisch. 23 22 Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, S. 131. 23 Nimmervoll: „Der Schrecken muss zutage kommen“. <?page no="260"?> 260 Jelena Spreicer <?page no="261"?> 261 Autorinnen und Autoren Autorinnen und Autoren Anna Babka ist assoziierte Professorin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Sie hat an den Universitäten Wien, Lausanne (UNIL) und Paris VIII studiert, war 2006-2011 Hertha-Firnberg sowie Elise-Richter-Stelleninhaberin des FWF. Forschungsaufenthalte und Fellowships in Frankfurt/ O. (Graduiertenkolleg Repräsentation-Rhetorik-Wissen), an der ASCA (Amsterdam) sowie der Beatrice Bain Research Group (Berkeley). Forschungsschwerpunkte sind u.a.: kulturwissenschaftlich informierte Literaturtheorie, Gattungstheorie, Theorie der Autobiographie, Rhetorik, Gendertheorie und Queertheorie sowie postkoloniale Theorie; Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Literatur der Jahrhundertwende, österreichische/ deutsche Nachkriegsliteratur und Gegenwartsliteratur. Marijan Bobinac ist Professor für deutsche Literatur an der Universität Zagreb. Studium der Germanistik, Italianistik und Theaterwissenschaft in Zagreb und Wien. Forschungsgebiete: deutschsprachige Literatur des 19.- 21. Jahrhunderts, Volkstheater, historische Dichtung; Habsburg postcolonial, komparatistische Untersuchungen zum kroatisch-deutschsprachigen Kulturtransfer. Buchpublikationen u. a.: Zwischen Übernahme und Ablehnung. Aufsätze zur Rezeption deutschsprachiger Dramatiker im kroatischen Theater, Wrocław-Dresden 2008; Reihe: Gedächtnis - Identität - Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext (hg. mit W. Müller-Funk), Tübingen-Basel 2008; Uvod u romantizam, Zagreb 2012. Milka Car ist außerordentliche Professorin am Lehrstuhl für Literaturwissenschaft der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät Zagreb. Sie promovierte über den deutschsprachigen Dokumentarroman im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (2008). Rezensentin deutschsprachiger Neuerscheinungen für das Dritte Programm des Kroatischen Rundfunks. Längere Studienaufenthalte in Wien und München. Forschungsschwerpunkte: Untersuchung der deutschsprachigen Dramatik in Kroatien: rezeptionsästhetische und kulturwissenschaftliche Aspekte; Dokumentarroman in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. <?page no="262"?> 262 Autorinnen und Autoren Davor Dukić ist ordentlicher Professor der älteren kroatischen Literatur an der Universität Zagreb (Philosophische Fakultät, Abteilung für Kroatistik). Seine Forschungsgebiete sind kroatische Literatur und Kultur in der frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, südslawische kanonisierte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und komparatistische Imagologie. Die wichtigsten Monographien und herausgegebenen Sammelbände seiner Bibliographie sind: Poetike hrvatske epike 18. stoljeća (Poetiken der kroatischen Epik im 18. Jahrhundert, 2002), Sultanova djeca: predodžbe Turaka u hrvatskoj književnosti ranog novovjekovlja (Sultans Kinder: Türkenbilder in der kroatischen Literatur der Frühen Neuzeit, 2004); Tematološki ogledi (Thematologische Aufsätze, 2008). Imagology today: Achievements, Challenges, Perspectives (Hg. 2012). Er ist seit 2013 Herausgeber der literaturwissenschaftlichen Zeitschrift Umjetnost riječi (Wortkunst). Daniela Finzi, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin am Sigmund Freud Museum Wien sowie als externe Lehrende an der Universität Wien. Sie hat über den Niederschlag des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens in der deutschsprachigen Prosa promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Balkan Studies, Psychoanalyse und Gender Studies. Anna Hodel studierte Slavistik, Russistik, Ethnologie und Geschichtswissenschaft in Basel, St. Petersburg und Zagreb. Seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Slavischen Seminar der Universität Basel. Promotionsvorhaben im Rahmen des SNF-Projekts „Erzählen jenseits des Nationalen. (Post)Imperiale Raumstrukturen in den Literaturen Osteuropas“ zu den südslavischen romantischen Literaturen. Ebensfalls seit 2012 literarische Übersetzungen aus dem Südslavischen ins Deutsche, seit 2013 Mitarbeit im Translationsprojekt „TransStar Europa“ mit dem Schwerpunkt zeitgenössische kroatische Literatur. Mutter von zwei Kindern. Daniela Kirschstein promovierte 2013 an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der Freien Universität Berlin (Writing War. Kriegsliteratur als Ethnographie bei Ernst Jünger, Louis-Ferdinand Céline und Curzio Malaparte; Königshausen & Neumann 2014). WS 13/ 14 und SS 14 Lehrbeauftragte am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit Oktober 2014 DAAD-Lektorin am Germanistischen Seminar der Universität Ljubljana. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ethnographie - Literaturwissenschaft und Ethnologie, Kriegsliteratur, postkoloniale Theorien, „Heimat“ nach 1945. <?page no="263"?> 263 Autorinnen und Autoren Ursula Knoll, Studium der Germanistik/ Judaistik/ Romanistik in Wien und Bishkek (Kirgistan). Seit 2012 OeAD-Lektorin an der Karls-Universität Prag. 2009-2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Notwendige Verschränkungen: Postcolonial-Queer. Postkoloniale Theorien und Queertheorien im Dialog mit deutschsprachiger Literatur (Univ. Wien). 2010 Raul Hilberg PhD-Fellowship am United States Holocaust Memorial Museum in Washington DC. Laufendes Dissertationsprojekt: Geständige Nazis. Zur Sexualisierung von NS-Täter- Innenschaft in der Literatur. Christine Magerski ist außerordentliche Professorin für neuere deutsche Literatur und Kultur an der Universität Zagreb. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Literatur- und Kulturtheorie sowie die Wissenschaftsgeschichte. Zu ihren Buchpublikationen zählen Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871 (2004), Theorien der Avantgarde (2011) sowie Lebenskünstler. Kleine Kulturgeschichte der Berliner Boheme (2014). Emilija Mančić ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Forschungschwerpunkte sind die symbolischen und narrativen Identitätskonstruktionen, Theorie und Methoden der Literatur- und Kulturwissenschaften. Monographie: Umbruch und Identitätszerfall. Narrative Jugoslawiens in europäischem Kontext (Tübingen 2012). Sie war Projektteilnehmerin in Rahmen des WTZ-Projektes „Narrative im (Post-)imperialen Kontext.“ Wolfgang Müller-Funk ist Professor für Kulturwissenschaften am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Gastprofessuren und Gastaufenthalte (GCSC Gießen, GWZO Leipzig, Trinity College Dublin, Lissabon, Zagreb, Szeged, Bratislava, New Delhi), von 1998-2002 war er Professor für German Cultural Studies an der Univ. Birmingham. Schwerpunkte: theoretische Grundlagen der Kulturwissenschaften, Narratologie, Literatur und Philosophie der klassischen Moderne, Austrian Studies, Essayismus, Romantik und Avantgarde. Vahidin Preljević, geboren 1975 in Brčko, Bosnien-Herzegowina. Literatur- und Kulturwissenschaftler, Germanist und Übersetzer. Leiter des Lehrstuhls für deutschsprachige Literatur und Kulturwissenschaft an der Universität Sarajevo. Forschungsaufenthalte u.a. in Wien, Mannheim, Heidelberg, Würzburg, an der FU Berlin sowie am Zentrum für Literaturforschung Berlin. Monographien zu Robert Musil und zur deutschen Frühromantik, Aufsätze zu Autoren wie Fr. Schlegel, Novalis, Hamann, Lessing, Hofmannsthal, Schnitzler, Perutz wie auch zu literatur- und kulturtheoretischen Fragen. Forschungsschwerpunkte: Poetik der Frühromantik, Verbindung von literarischer Ästhetik und kulturellen Narrationen im Ersten Weltkrieg, literarische <?page no="264"?> 264 Autorinnen und Autoren Wahrnehmungsgeschichte um 1900, Literatur und politische Imagination in Mitteleuropa 1900-1930. Übersetzte u.a. Werke von Christa Wolf, Novalis, Jan Assmann, Leo Perutz, Georg Büchner. Boris Previšić ist SNF-Förderprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Luzern. Er hat sich in Neuerer Deutscher und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Basel zur literarischen Rezeption der postjugoslawischen Kriege (Kadmos) habilitiert und war als Assistent und Dozent am Deutschen Seminar wie auch am SNF-Projekt „Erzählen jenseits des Nationalen“ zu imperialen Narrativen am Slavischen Seminar der Universität Basel tätig. Er hat über Hölderlins Rhythmus (stroemfeld) promoviert, ist sporadisch als Konzertflötist tätig und leitete Kulturprojekte in ganz Südosteuropa. Erika Regner studierte Ungarische Literaturwissenschaft und Germanistik in Wien und Paris. Als Doktorandin der Hungarologie ist sie seit 2013 auch als Lektorin am Institut für Vergleichende Europäische Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Wien tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Kulturpolitikforschung, Literatursoziologie, Minderheitenliteratur / Ungarndeutsche Literatur. Matthias Schmidt studierte Philosophie und Germanistik in Wien, wo er als DOC-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften promoviert, unter dem Arbeitstitel: „Versehrtes Erkennen. Differenzsensible Schreibstrategien im Exil bei Walter Benjamin und Siegfried Kracauer.“ 2012 war er Visiting Scholar an der UC Berkeley (Rhetoric). Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Literaturtheorie, Differenztheorien, Rhetorik, Gestus, Exil, Avantgarde, Theoretisierungen von Pornographie. Andrea Seidler ist Professorin für Ungarische Literaturwissenschaft an der Universität Wien, Abteilung für Finno-Ugristik. Forschungsschwerpunkte: historische Presseforschung, gelehrter Briefwechsel, Ego-Dokumente, Osmanenforschung, Imagologie und moderne Editionstechniken. Zentrales Interesse liegt in dem Bereich der älteren ungarischen und europäischen Literatur. Jelena Spreicer studierte Germanistik und Amerikanistik an der Philosophischen Fakultät in Zagreb. Zur Zeit forscht sie als Dissertantin an der Abteilung für Germanistik (Universität Zagreb) zum Thema der literarischen Repräsentation und Verarbeitung von Traumata in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Seit 2013 forscht sie zu diesem Thema auch an der Unviersität Wien im Rahmen des Franz-Werfel-Stipendiums. <?page no="265"?> KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Bisher sind erschienen: Band 1 Wolfgang Müller-Funk / Peter Plener / Clemens Ruthner (Hrsg.) Kakanien revisited Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie 2002, VIII, 362 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3210-3 Band 2 Alexander Honold / Oliver Simons (Hrsg.) Kolonialismus als Kultur Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden 2002, 291 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3211-0 Band 3 Helene Zand Identität und Gedächtnis Die Ausdifferenzierung von repräsentativen Diskursen in den Tagebüchern Hermann Bahrs 2003, 207 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-3212-7 Band 4 Helga Mitterbauer Die Netzwerke des Franz Blei Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert 2003, 165 Seiten €[D] 38,- ISBN 978-3-7720-3213-4 Band 5 Klaus R. Scherpe / Thomas Weitin (Hrsg.) Eskalationen Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik 2003, XV, 215 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8006-7 Band 6 Amália Kerekes / Alexandra Millner / Peter Plener / Béla Rásky (Hrsg.) Leitha und Lethe Symbolische Räume und Zeiten in der Kultur Österreich-Ungarns 2004, X, 297 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8063-0 Band 7 Vera Viehöver Diskurse der Erneuerung nach dem Ersten Weltkrieg Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift Die Neue Rundschau 2004, 352 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8072-2 Band 8 Waltraud Heindl / Edit Király / Alexandra Millner (Hrsg.) Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867-1918 2006, VIII, 273 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8131-6 <?page no="266"?> Band 9 Endre Hárs / Wolfgang Müller-Funk / Ursula Reber / Clemens Ruthner (Hrsg.) Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn 2006, VI, 295 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8133-0 Band 10 Telse Hartmann Kultur und Identität Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths 2006, XI, 213 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-7720-8170-5 Band 11 Wladimir Fischer / Waltraud Heindl / Alexandra Millner / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867 - 1918 Kulturwissenschaftliche Annäherungen 2010, 409 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8239-9 Band 12 Marijan Bobinac / Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.) Gedächtnis - Identität - Differenz Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext 2008, VIII, 293 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8301-3 Band 13 Gerald Lind Das Gedächtnis des „Mikrokosmos“ Gerhard Roths Landläufiger Tod und Die Archive des Schweigens 2011, 447 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8366-2 Band 14 Daniela Finzi / Ingo Lauggas / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac/ Oto Luthar / Frank Stern (Hrsg.) Kulturanalyse im zentraleuropäischen Kontext 2011, 257 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-7720-8434-8 Band 15 Emilija Man č i ć Umbruch und Identitätszerfall Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext 2012, 198 Seiten €[D] 45,- ISBN 978-3-7720-8466-9 Band 16 Angelika Baier „Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben“ Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap 2012, 348 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8467-6 Band 17 Daniela Finzi Unterwegs zum Anderen? Literarische Er-Fahrungen der kriegerischen Auflösung Jugoslawiens aus deutschsprachiger Perspektive 2013, 326 Seiten €[D] 59,- ISBN 978-3-7720-8475-1 Band 18 Thomas Grob / Boris Previ š i ć / Andrea Zink (Hrsg.) Erzählte Mobilität im östlichen Europa (Post-)Imperiale Räume zwischen Erfahrung und Imagination 2013, 308 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-7720-8484-3 <?page no="267"?> Band 19 Daniel Romuald Bitouh Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus 2015, 354 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8520-8 Band 20 Boris Previ š i ć / Svjetlan Lacko Viduli ć (Hrsg.) Traumata der Transition Erfahrung und Reflexion des jugoslawischen Zerfalls 2015, 230 Seiten €[D] 52,- ISBN 978-3-7720-8526-0 Band 21 Matthias Schmidt / Daniela Finzi / Milka Car / Wolfgang Müller-Funk / Marijan Bobinac (Hrsg.) Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa 2015, 264 Seiten €[D] 64,99 ISBN 978-3-7720-8547-5 Band 22 Vahidin Preljevic / Clemens Ruthner (Hrsg.) „The Long Shots of Sarajevo“ 1914-2014 Ereignis - Narrativ - Gedächtnis - Politik 2015, ca. 700 Seiten €[D] 98,- ISBN 978-3-7720-8578-9 <?page no="269"?> Die komplexen kulturellen und literarischen Wechselbeziehungen im zentraleuropäischen Raum vor der Folie des kulturellen Gedächtnisses der Habsburger Monarchie stehen im Zentrum dieses Buches. Unter Rückgriff auf Ansätze aus den Kulturwissenschaften, den Postcolonial Studies sowie der Imperiumsforschung kommt darin ein Verständnis von Literatur zum Ausdruck, das den literarischen Text als eine Verschränkung von symbolischen und sozialen Systemen analysiert. Besonderes Augenmerk gilt dabei Phänomenen der (imaginären) Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen, der Konstruktion, Transformation und Überschneidung von kulturell produzierten Räumen und Identitäten und der konstruierenden Opposition von Zentrum und Peripherie. Auch imagologische, an den Prozess des „nation building“ angelehnte Fragestellungen werden berührt.