Lebenswelten, Textwelten, Diversität
Altes und Neues Testament an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften
0917
2014
978-3-7720-5550-8
978-3-7720-8550-5
A. Francke Verlag
Bernhard Mutschler
Renate Kirchhoff
Desmond Bell
Der Band stellt die Bedingungen biblisch-theologischer Lehre an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (Fachhochschulen) dar, diskutiert entsprechende hermeneutische und didaktische Entscheidungen und konkretisiert sie an ausgewählten Beispielen. Grundlegend ist die Orientierung an den Lebenswelten der Studierenden. Diversität wird im Blick auf Zielgruppen und Bibeltexte reflektiert. Zum Adressatenkreis gehören Kolleginnen und Kollegen im Alten und Neuen Testament, Lehrende an evangelischen und katholischen Hochschulen sowie alle Leserinnen und Leser, die an grundsätzlichen Fragen von Textwelten, Lebenswelten und Diversität interessiert sind.
Die Herausgeber des Bandes lehren Biblische Wissenschaften an den Evangelischen Hochschulen in Bochum, Freiburg und Ludwigsburg.
Mit einem Geleitwort von Nikolaus Schneider und einer aktuellen Übersicht über die Studiengänge an Kirchlichen Fachhochschulen in Deutschland.
<?page no="0"?> A . F R A N C K E V E R L A G T Ü B I N G E N Desmond Bell / Renate Kirchhoff / Bernhard Mutschler (Hrsg.) Lebenswelten Textwelten Diversität Altes und Neues Testament an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften <?page no="1"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Band 20 · 2014 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp <?page no="3"?> Desmond Bell / Renate Kirchhoff / Bernhard Mutschler (Hrsg.) Lebenswelten Textwelten Diversität Altes und Neues Testament an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften Mit einem Geleitwort von Nikolaus Schneider und einer aktuellen Übersicht über die Studiengänge an Kirchlichen Fachhochschulen in Deutschland A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 1862-2666 ISBN 978-3-7720-8550-5 <?page no="5"?> Inhalt Geleitwort ................................................................................................................... vii Einführung.................................................................................................................... ix Vorwort ...................................................................................................................... xi 1 Gesellschaftliche Bedingungen der Thematisierung Biblischer Theologie 1.1 Renate Kirchhoff Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit - Zu den Bedingungen disziplinären Lehrens und Lernens an einer Hochschule für Soziale Arbeit ............................................................................ 3 1.2 Philipp A. Enger „Versammle das Volk, damit sie lernen und hören“ (Dtn 31,12) - Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 25 1.3 Jane S. Webster Teaching the Bible in a Secular Context - What is Urgent and Relevant for Students? ....................................................................................................... 47 2 Thematisierung Biblischer Theologie im Kontext von Diversitätsdiskursen 2.1 Carsten Gennerich Religiosität von jungen Erwachsenen/ Studierenden - Werthaltungen und Glaubensvorstellungen als Grundlage zur Entwicklung theologischer Bildungsperspektiven ............................................................... 65 2.2 Beate Aschenbrenner-Wellmann Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne - Überlegungen aus sozial(arbeits)wissenschaftlicher Perspektive ........................................ 101 3 Postmoderne Bibeldidaktik im Hochschulbereich - Kompetenzziele 3.1 Bernd Beuscher „Ich und mein Magnum“ - Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik unter postmodernen Umständen ........................................... 131 <?page no="6"?> vi 3.2 Katja Baur Mein Text - dein Text - unser Text? Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren ................................................... 145 3.3 Desmond Bell Nicht so, als sei es erst gestern gewesen - Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen ......................................................................................... 167 4 Konkretionen 4.1 Bernhard Mutschler Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese - Hermeneutische Erkundungen anlässlich einer neu entwickelten Lehrveranstaltung ............................................................................................. 183 4.2 Renate Kirchhoff „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ - Von der emanzipatorisch motivierten Abwehr von Religion zur Reflexion der eigenen Praxis des Konstruierens von Wirklichkeit .............................................................. 213 4.3 Desmond Bell Nach dem Text die Selbsthilfegruppe? Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten ...................................................................................... 227 5 Biblische Theologie und Diversität Bernhard Mutschler Die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität - Begriffliche Annäherungen, literarische und historische Beobachtungen, theologische Überlegungen zu einem neueren Diskurs 249 Autorinnen und Autoren ................................................................................. 321 Mitgliedshochschulen der Rektorenkonferenz Kirchlicher Fachhochschulen in Deutschland .................................................................... 323 <?page no="7"?> Geleitwort des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, die (ehemaligen) Fachhochschulen, sind eine unentbehrliche Bereicherung der evangelischen Ausbildungslandschaft. In ihrer einzigartigen Weise verbinden sie Theoriebildung mit einem besonderen Praxisbezug. Dies verdeutlicht der vorliegende Band, der nach Rolle und Beitrag der Biblischen Theologie in den Studiengängen Soziale Arbeit und Religions- und Gemeindepädagogik fragt. Während in den Studiengängen der Religions- und Gemeindepädagogik biblisch-theologische Kompetenzen zu den Schlüsselkompetenzen von Studierenden gehören und deren Vermittlung zunehmend wichtiger wird, zählt Biblische Theologie z.B. in den Studiengängen der Sozialen Arbeit und der Pflegewissenschaft eher zu den Bezugswissenschaften. Gerade diese unterschiedliche Positionierung der Biblischen Theologie als Leit- oder als Bezugswissenschaft macht das Gespräch von Lehrenden und Studierenden in sozialen und pädagogischen Studiengängen vielgestaltig und spannend. Das vorliegende Buch gibt gute Anregungen, über die Funktionsbestimmung der Biblischen Theologie als Leit- oder als Bezugswissenschaft weiter nachzudenken. Es vereint Beiträge von Lehrenden in Studiengängen der Sozialen Arbeit und Religions- und Gemeindepädagogik aus den verschiedenen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften mit internationalen Perspektiven. Die Autorinnen und Autoren diskutieren und illustrieren an konkreten Beispielen, inwiefern die biblisch-theologische Lehre durch die Diversität an den Hochschulen, die Diversität der Lehrenden und Studierenden und die Diversität in der Gesellschaft gegenwärtig herausgefordert ist und gelingt. Die Evangelischen Hochschulen verantworten eine Vielfalt von Studienabschlüssen der Religions- und Gemeindepädagogik, Gemeindediakonie und Sozialen Arbeit, mit denen Absolventinnen und Absolventen in einer vielgestaltigen Praxis innerhalb und außerhalb von Kirche und Diakonie tätig sind. Zu unterschiedlichen Gelegenheiten in diesen vielfältigen sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern kann sich die Relevanz von biblischtheologischen Kenntnissen erweisen. So wünsche ich diesem Buch eine weite Verbreitung und seinen Leserinnen und Lesern einen anregenden und fruchtbaren Gebrauch. Hannover, den 25.11.2013 Dr. h.c. Nikolaus Schneider Vorsitzender des Rates der EKD <?page no="9"?> Friedrich W. Horn Ein Blick auf die bibelwissenschaftliche Arbeit an den Fachhochschulen und Hochschulen für Angewandte Wissenschaft - Eine Einführung Evangelische Theologie und vor allem auch Biblische Theologie werden nicht nur an Universitäten in theologischen oder philosophischen Fakultäten unterrichtet, sondern auch an Evangelischen Fachhochschulen und Hochschulen für Angewandte Wissenschaft. Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland werden gegenwärtig zehn Evangelische Fachhochschulen geführt, daneben weitere Fachhochschulen oder Hochschulen für Angewandte Wissenschaft in anderer Trägerschaft. In ihnen wird eine Theologie der pädagogisch-sozialen Berufe gelehrt‚ die weder von universitärer Theologie noch von den klassischen Sozialwissenschaften in vollem Umfang erfasst und dargestellt wird. Unter den Bedingungen der Theologie als einer Bezugswissenschaft kommt der Biblischen Theologie hier wiederum eine Schlüsselrolle innerhalb der theologischen Fächer zu. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der NET haben vor einigen Semestern den Wunsch ausgesprochen, mehr über die spezifischen Bedingungen der Lehre und der Vermittlung Biblischer Theologie an Fachhochschulen und Hochschulen für Angewandte Wissenschaft zu erfahren. Es liegt im Interesse und im Profil der NET, den Zusammenhang von neutestamentlicher Exegese und Theologie zu betonen und nach dem spezifischen Beitrag der Bibelwissenschaft für die gesamte Theologie zu fragen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber waren der Meinung, dass innerhalb der neutestamentlichen Fachwissenschaft in der Regel zu geringe Kenntnisse über die bibelwissenschaftliche Arbeit an den Fachhochschulen und Hochschulen für Angewandte Wissenschaft vorherrschen, und sie möchten dieser Einschätzung mit der Auftragsarbeit dieses Buches entgegentreten. Aus den verschiedenen Kontakten und Gesprächen mit Lehrenden an Fachhochschulen und Hochschulen für Angewandte Wissenschaft ist das vorliegende Buch entstanden, das von Prof. Dr. Desmond Bell, Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, von Prof. Dr. Renate Kirchhoff, Evangelische Hochschule Freiburg, und von Prof. Dr. Bernhard Mutschler, Evangelische Hochschule Ludwigsburg, in Verbindung mit weiteren Fachkolleginnen und Fachkollegen maßgeblich gestaltet und herausgegeben wird. Wir sind ihnen allen zu großem Dank verpflichtet. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Dr. h.c. Nikolaus <?page no="10"?> Friedrich W. Horn x Schneider, hat in einem Geleitwort zu diesem Buch auf die Vielfalt der sozialen und pädagogischen Arbeitsfelder aufmerksam gemacht und an die biblisch-theologische Grundlegung in den Studiengängen Soziale Arbeit, Religions- und Gemeindepädagogik erinnert. Im Herausgeberkreis nehmen wir das Buch als einen biblischen, vor allem neutestamentlichen Beitrag zur Theologie auf und wünschen anregende Lektüre. <?page no="11"?> Desmond Bell, Renate Kirchhoff, Bernhard Mutschler Vorwort Dieses Vorwort informiert (1.) über Entstehung und Konzeption des Bandes, skizziert (2.) die Rolle der Theologie an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, führt anschließend (3.) in die Gliederung des Bandes ein und wagt schließlich (4.) einen kurzen Ausblick. 1 Zur Entstehung und Konzeption des Bandes Das Interesse der Herausgeberinnen und Herausgeber der Reihe Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, die Unterschiede zwischen der biblischtheologischen Lehre an universitären theologischen Fakultäten und Instituten einerseits und an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften andererseits zur Darstellung zu bringen, stand am Anfang der Genese dieses Bandes. Dieses Interesse aufgreifend analysiert der vorliegende Band Bedingungen der biblisch-theologischen Lehre an (Fach-) Hochschulen, stellt exemplarisch hermeneutische und didaktische Entscheidungen, die daraus resultieren, dar und konkretisiert sie an ausgewählten Beispielen. Da die Orientierung an den Lebenswelten der Studierenden ein didaktisches (kein methodisches! ) Grundprinzip darstellt, ist die Reflexion von Diversität nicht nur im Blick auf die Texte, sondern auch im Blick auf die Zielgruppen angezeigt. Der Titel „Textwelten - Lebenswelten - Diversität“ bildet insofern zentrale Perspektiven ab, unter denen biblisch-theologische Lehre an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaft erfolgt. Ziel des Bandes ist, diesen Ansatz biblisch-theologischer Lehre für eine breitere Fachwelt informierend und orientierend zu erschließen. Dazu zählen wir neben unseren Altes und Neues Testament lehrenden Fachkolleginnen und -kollegen auch diejenigen Kolleginnen und Kollegen an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, die andere, vor allem human- und sozialwissenschaftliche Disziplinen vertreten und mit denen wir gemeinsam interdisziplinär lehren, forschen und weiterbilden. Studierende sowie Absolventinnen und Absolventen unserer Studiengänge, die konzeptionelle, didaktische und hermeneutische Begründungen für die Konzeption von Lehre an unseren Hochschulen nachfragen, werden die Beiträge unseres Bandes ebenso mit Gewinn studieren können wie andere Leserinnen und Leser, die an grundsätzlichen Fragen von Text- und Lebenswelten interessiert sind. <?page no="12"?> Desmond Bell, Renate Kirchhoff, Bernhard Mutschler xii 2 Theologie an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften In der Bundesrepublik gibt es derzeit achtzehn (Fach-)Hochschulen in kirchlicher Trägerschaft, die eine Vielzahl von Studiengängen der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaften anbieten und hierfür zumeist staatliche Refinanzierungsleistungen in Anspruch nehmen können. Die meisten dieser Hochschulen sind sowohl in der Hochschulrektorenkonferenz als auch in der Rektorenkonferenz kirchlicher Fachhochschulen vertreten. 1 An allen diesen achtzehn Hochschulen gibt es theologische Professuren, deren Inhaberinnen und Inhaber zum einen die jeweiligen gemeindepädagogisch-religionspädagogischen oder diakonischen Studiengänge mitverantworten und mitgestalten, zum anderen Theologie in nichttheologische pädagogisch-soziale Studiengänge eintragen. 2 Diese Lehr-Lernsettings sind interdisziplinär gestaltet. Theologie muss ihre Relevanz an diesen Hochschulen in einer Weise begründen, die auch bei kirchlich ungebundenen und religiös indifferenten oder uninteressierten Adressaten und Adressatinnen eine hinreichende Plausibilität entfaltet; das unterscheidet sie von der Theologie an Theologischen Fakultäten und Instituten an Universitäten. Zwar waren in der Pädagogik und der Sozialen Arbeit biblische Traditionen und Texte zunächst bei der Konstituierung sowohl des Handlungsfeldes als auch der dieses Handeln reflektierenden Wissenschaften wesentlich beteiligt. In der weiteren Entwicklung sowohl der Handlungsfelder als auch der Disziplinen der Pädagogik und der Sozialen Arbeit als Wissenschaften war jedoch eher die Emanzipation von kirchlichem Einfluss und Leitungsanspruch identitätsstiftend. Dabei ist allerdings zu differenzieren: Während seitens der Kirchen an der besonderen Beziehung von Kirche und Bildung bzw. Kirche und Sozialer Arbeit festgehalten wird und diese Affinität nach Auskunft der Mitgliedschaftsstudien der EKD zumindest der Sicht der kirchlich gebundenen gesellschaftlichen Mehrheit entspricht, ist die Einschätzung seitens der Diskurse in der Pädagogik und der Sozialen Arbeit deutlich ambivalenter. 1 Vgl. das Verzeichnis der Hochschulen im Anhang dieses Bandes (S. 323-330). Von diesen zu unterscheiden ist eine kleine, aber wachsende Anzahl von Hochschulen, die vom Wissenschaftsrat akkreditiert wurden, aber nicht der Rektorenkonferenz, sondern der „Konferenz missionarischer Ausbildungsstätten“ (KMA), z.T. auch der „Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten e.V.“ (KbA) angehören. 2 An den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in kirchlicher Trägerschaft werden verschiedene pädagogische und soziale Bachelorstudiengänge sowie ganz unterschiedliche (auch forschungsorientierte) Masterstudiengänge angeboten. Die Beiträge in diesem Band reflektieren vor allem die Bedingungen, unter denen Biblische Theologie in pädagogischen und sozialarbeitswissenschaftlichen Bachelor-Studiengängen gelehrt wird. <?page no="13"?> Vorwort xiii Will Biblische Theologie ihre Plausibilität im Kontext anderer Wissenschaften begründen, steht sie dabei allerdings vor größeren Herausforderungen als etwa die theologische Ethik, die Praktische Theologie und die Religionspädagogik, insofern ihre interdisziplinär ausgerichteten Wissenschaftstraditionen vor allem in geschichts- und sprachwissenschaftliche, jedoch kaum in sozialwissenschaftliche Disziplinen weisen. Im Unterschied zu ihrer Stellung an den Theologischen Fakultäten und den theologischen Abteilungen an philosophischen Fakultäten muss die Theologie - und damit auch die Biblische Theologie - an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften ihre Aufgaben vielfach in der Position einer Bezugswissenschaft, nicht einer Leitwissenschaft, erfüllen. 3 Auch als Bezugswissenschaft muss ihre Position jedoch immer neu ausgehandelt werden. Die Position, die die Thematisierung Biblischer Theologie an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften dabei hat, ist exemplarisch für die Rolle der Bibel in der Gegenwartsgesellschaft; zugleich leistet die Biblische Theologie an diesen Hochschulen einen zentralen Beitrag zur Aushandlung der „Zukunftsfähigkeit“ einer sinnvollen Auseinandersetzung mit biblischen „Textwelten“ in der Gesamtgesellschaft außerhalb der Kirchen. Unter den Bedingungen der Theologie als Bezugswissenschaft kommt der Biblischen Theologie mithin eine Schlüsselrolle innerhalb der theologischen Fächer zu. 3 Zur Gliederung des Bandes An den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften gestalten Studierende ihr Verhältnis zu einer religiösen und speziell christlichen Deutung von Wirklichkeit in mannigfaltiger, häufig divergenter Weise. Die vorliegenden Beiträge reagieren auf diese Vielfalt und machen sie in unterschiedlicher Weise zum Thema. Ziel ist es zu zeigen, in welcher Weise die Biblische Theologie - und grundlegender: der Bezug auf biblische Texte - zum Kompetenzerwerb der Studierenden in sozialen und pädagogischen Studiengängen beiträgt. Die fünf Abschnitte des vorliegenden Bandes thematisieren (1.) die Bedingungen, unter denen Biblische Theologie in Studiengängen an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften gelehrt wird, ordnen diese (2.) in den Diversitätsdiskurs ein, präsentieren (3.) didaktische Grundlegungen der Lehre, um dann (4.) Beispiele konkreter Lehre zu präsentieren und abschließend (5.) einen Blick auf biblische Traditionen zu erläutern, die als Modell für den Umgang mit Vielfalt gelten können. 3 Zum Begriff der Bezugs- und Leitwissenschaften vgl. den Beitrag von Renate Kirchhoff (2014), Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit. Zu den Bedingungen disziplinären Lehrens und Lernens an einer Hochschule für Soziale Arbeit, in diesem Band S. 3-24, insbesondere S. 3f., Anm. 1. <?page no="14"?> Desmond Bell, Renate Kirchhoff, Bernhard Mutschler xiv 3.1 Gesellschaftliche Bedingungen der Thematisierung Biblischer Theologie Die Bedingungen, unter denen in pädagogischen und sozialen Bachelor- Studiengängen Biblische Theologie gelehrt wird, sind zunächst einmal allgemein-gesellschaftliche Bedingungen. 4 Dazu gehört, dass Religion als eine persönliche Option gilt, der man sich nicht stellen muss und die im Kontext professionellen Handelns bisher nur ausnahmsweise zu einer gezielt gestalteten Dimension des kommunikativen Handelns wird. Nichttheologische Studiengänge sind auch an kirchlich nicht gebundene und religiös uninteressierte Studierende gerichtet, die dann nach dem Ertrag einer Bezugnahme auf biblische Theologie im Studium fragen und diesen kritisch befragen. Das religiöse Spektrum derjenigen Studierenden, die sich selbst als religiös verstehen, ist zudem breit. Renate Kirchhoff (Evangelische Hochschule Freiburg) beschreibt verschiedene Faktoren, die die Lehre Biblischer Theologie im Studium der Sozialen Arbeit prägen. Zu ihnen gehört, dass die Theologie - und damit auch die Biblische Theologie - aktuell kaum noch als Bezugswissenschaft der Wissenschaft Soziale Arbeit gilt. Das wiederum liegt an der wissenschaftstraditionell begründeten Skepsis gegenüber der Wissenschaftlichkeit und der Relevanz der Theologie für die Soziale Arbeit. Kirchhoff verdeutlicht, dass Biblische Theologie disziplinspezifische Möglichkeiten hat, mit diesen Bedingungen konstruktiv umzugehen und einen spezifischen Beitrag zur Fachlichkeit von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen leisten kann. Philipp Enger (Evangelische Hochschule Berlin) versteht die Gemeindepädagogik als eine Disziplin, in der die Theologie die Rolle einer Bezugswissenschaft hat. Die Lehre der Biblischen Theologie im Studium der Gemeindepädagogik sollte der postmodernen Vielfalt der Interpretationszugänge zur Wirklichkeit, der Theorie-Praxis-Verzahnung des Studiums sowie den Erwartungen der Studierenden an das Studium Rechnung tragen. Am Beispiel der Pentateuchkritik beschreibt er die daraus entstehenden Anforderungen an die Lehre. Jane Webster (Barton College, Wilson, North Carolina 5 ) hat sich im US-amerikanischen Kontext mit Fragestellungen befasst, die denen der biblisch-theologischen Lehre an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Deutschland in hohem Maße entsprechen. Als Initiatorin der Programmeinheit „Teaching Biblical Studies in an Undergraduate Liberal Arts Context” der Society of Biblical Literature (SBL) wurde sie deswegen um einen Gastbeitrag in diesem Band gebeten. 4 Vgl. oben Anm. 2. 5 Barton College ist ein traditionsreiches und renommiertes christliches College, das seinen 1.200 Studierenden u.a. Studiengänge in Sozialer Arbeit, (Heil-) Pädagogik und Pflege anbietet. <?page no="15"?> Vorwort xv Webster geht von der Beobachtung aus, dass Colleges und Hochschulen in den USA die Kompetenzen, die Studierende in der Lehre der Biblischen Theologie erwerben, zumeist ignorieren. Auch den Studierenden selbst erscheint die Erkundung verschiedener Zugänge zu biblischen Texten zunächst als wenig relevant. Unter diesen Bedingungen gelte es, die Lehre an den professionellen Kompetenzen auszurichten, die die Studierenden erwerben wollen, und an dem, was für sie darüber hinaus sonst besonders bedeutsam ist. Der Respekt vor den Bedarfen der Zielgruppe sollte deshalb dem Interesse, in der Lehre strikt der Logik der biblisch-theologischen Disziplinen zu folgen, vorgeordnet werden. 3.2 Thematisierung Biblischer Theologie im Kontext von Diversitätsdiskursen Die Lehre der Biblischen Theologie wird konzeptioniert angesichts einer auch religiösen Vielfalt unter den Studierenden. Vielfalt ist dabei nicht nur eine Bedingung, unter der die Lehre stattfindet, sondern auch eine Bedingung, unter der Studierende studieren und zukünftig professionell handeln. Deshalb zielt die Lehre der Biblischen Theologie auch auf einen Erwerb von Kompetenzen im Umgang mit und Gestaltung von Vielfalt. Carsten Gennerich (Evangelische Hochschule Darmstadt) präsentiert Ergebnisse eigener Studien zur Religiosität von Studierenden an der Evangelischen Hochschule Darmstadt und dokumentiert Befunde zu Werthaltungen der Studierenden. Diese lassen Schlussfolgerungen über religiöse Deutungspräferenzen zu, die mit Blick auf das professionelle Kriterium einer inklusiven Arbeit kritisch geprüft werden können. Anhand einer Textstichprobe der Studierenden zur Gottesfrage untersucht er weiterführende theologische Bildungsperspektiven für eine professionelle Arbeit mit heterogenen Zielgruppen. Beate Aschenbrenner-Wellmann (Evangelische Hochschule Ludwigsburg) geht davon aus, dass in den sozialen und pädagogischen Berufen die Wertschätzung von Diversität, die Umsetzung von Inklusion und die Verwirklichung von Menschenrechten einen Paradigmenwechsel erfordert: Anderssein bedeutet nicht mehr, Defizite zugeschrieben zu bekommen, sondern wird als Potenzial und Ressource wahrgenommen und anerkannt. Nach einer vergleichenden und bewertenden Darstellung wesentlicher Entwicklungslinien des Diversitäts- und Menschenrechtsdiskurses führt die Autorin wechselseitige Ergänzungsmöglichkeiten auf. Ihr gilt eine entsprechende Diversitätskompetenz als eine Schlüsselqualifikation der sozialen und pädagogischen Berufe in Zeiten der Postmoderne. <?page no="16"?> Desmond Bell, Renate Kirchhoff, Bernhard Mutschler xvi 3.3 Postmoderne Bibeldidaktik im Hochschulbereich: Kompetenzziele Angesichts von Wissenschaftstraditionen der Leitdisziplinen, den disziplinären Standards der Biblischen Theologie und den Anforderungen an die Qualifikation für professionelles Handeln im jeweiligen Studiengang ist es erforderlich, Elemente einer Didaktik zu skizzieren, die Ziele der Lehre Biblischer Theologie benennt und begründet. Dies geschieht im Folgenden auf curricularer Ebene. Bernd Beuscher (Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen- Lippe) beschreibt zunächst Herausforderungen einer Identitätssuche in der Postmoderne. Seine These ist, dass die Bezugnahme auf biblische Traditionen Optionen eröffnet, Identität zu verstehen als selbstbewusste Gelassenheit gegenüber einer unabschließbaren Entwicklung - jenseits der verzweifelten Suche, „ich selbst sein zu wollen“. Diese theoretischen Ausführungen konkretisiert er punktuell im Blick auf kindheitspädagogische Praxis. Katja Baur (Evangelische Hochschule Ludwigsburg) verfolgt in Seminaren zum interreligiösen Lernen das Ziel, Studierende zum Perspektivenwechsel zu veranlassen und zu befähigen. Sie beschreibt das didaktische Modell des „Lernens in der Gegenwart der Anderen“, bei der die Lektüre von Bibel und Koran der Ausgangspunkt ist. Die Rezeption von individuellen Zugängen von Studierenden und die Authentizität der Lehrpersonen erweist sie als zentrale Faktoren für interreligiöse Kompetenzbildungsprozesse in trialogischen Lernarrangements. Desmond Bell (Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe) reflektiert die Spannung zwischen dem Konsens wissenschaftlicher Exegese, dass historisches Arbeiten grundsätzlich notwendig sei, und der Erfahrung, dass Studierende häufig keinen Bedarf haben, sich historisches Wissen und historische Fertigkeiten anzueignen. Er zeigt, dass in der Erschließung biblischer Textwelten eine Form historischen Denkens gelernt werden kann, die dazu befähigen kann, mit der Vielfalt an Zugängen zur Wirklichkeit heutiger Lebenswelten umzugehen. 3.4 Konkretionen Die folgenden Beiträge dieses Bandes skizzieren konkrete Lehr-/ Lernsituationen und zeigen an ausgewählten Beispielen, wie unter den erläuterten Bedingungen Biblische Theologie gelehrt wird, um zum fachlichen Kompetenzerwerb der Studierenden beizutragen. Jenseits der spezifischen Ziele, die in den drei Lehr-/ Lernsituationen verfolgt werden, ist ihnen gemeinsam, dass die Arbeit an Biblischen Texten für die Studierenden zum Anlass wird, zum einen die eigene religiöse Gestimmtheit zu reflektieren und weiterzuentwickeln und zum anderen den Umgang mit und die Gestaltung von Vielfalt zu fördern. <?page no="17"?> Vorwort xvii Bernhard Mutschler (Evangelische Hochschule Ludwigsburg) zeigt, in welcher Weise gerade als schwierig geltende biblische Texte in einer semester- und studiengangsübergreifenden Veranstaltung mit Gewinn in die Auseinandersetzung mit einem thematischen Semesterschwerpunkt seiner Hochschule eingebracht werden konnten. Biblische Texte bedürfen hier einer genauen literarischen, historischen und theologischen Betrachtung und einer reflektierten und zeitgemäßen Auslegungsmethodik und Hermeneutik. Mutschler zeigt, dass mit Hilfe historisch-kritisch und systematischtheologisch kontrollierter Auslegung eine zeitgemäße, diversitätssensible Bibelexegese möglich ist. Renate Kirchhoff stellt eine Veranstaltung mit Studierenden der Sozialen Arbeit vor, in der die Studierenden nach der Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis die Erzählung einer neutestamentlichen Heilungsgeschichte interpretieren. Das Verfahren zeigt, dass gerade die Konfrontation mit der Fremdheit des biblischen Textes die Möglichkeit bietet, einen Schritt über die emanzipatorisch bedingte Ablehnung von Religion hinauszugehen: Studierende analysieren, wie religiöse Deutung von Wirklichkeit „funktioniert” und nutzen den biblischen Text für eine eigene Deutung aktueller Lebenslagen. Desmond Bell beschreibt eine Lehr-/ Lernsituation im BA-Studiengang Gemeindepädagogik und Diakonie, deren Inszenierung auf die Wahrnehmung von Ambiguität in der biblischen Überlieferung zielt. Sein Beitrag zielt nicht darauf, die sachlichen Widersprüche innerhalb biblischer Texte aufzuzeigen, sondern grundsätzliche Aporien und (bisher) unlösbare Fragen der biblischen Überlieferung darzustellen und diese exemplarisch als Chance zu nutzen, Spannungen auszuhalten und inmitten dieser Spannungen ein Verhältnis zu ihnen zu entwickeln. Angesichts der Komplexität der Wirklichkeit gilt es nicht, diese zu reduzieren, sondern mit der durch sie ausgelösten Ambiguität und Ambivalenz umzugehen. 3.5 Die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität Der abschließende Beitrag spitzt die Thematik des Bandes noch einmal auf das Thema Diversität hin zu. Bernhard Mutschler beschreibt Diversität als ein Charakteristikum biblischer Schriften, das kanonisch und literarisch, kulturell und historisch, sozial und theologisch fassbar und beschreibbar ist. Fokussiert man Diversität unter Menschen, dann gelten in der Bibel insbesondere benachteiligten Mitmenschen Schutz und Aufmerksamkeit. In diesem Sinn kann Jesus von Nazareth Muster sein für eine grundlegende Diversitätssensibilität, Diversitätsfreundlichkeit, Diversitätsreduktion und Diversitätsgerechtigkeit gegenüber Menschen. Die Exegese transzendierend begründet Mutschler christli- <?page no="18"?> Desmond Bell, Renate Kirchhoff, Bernhard Mutschler xviii che Diversitätskompetenz trinitarisch und heilsgeschichtlich. Vor dem Hintergrund seiner Arbeit an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigt er, dass biblische Traditionen und Überlieferungen in ganz unterschiedlichen Studiengängen als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Vielfalt plausibel gemacht werden können. 4 Ausblick Der vorliegende Band legt keinen Entwurf für eine biblisch-theologische Hermeneutik und auch keinen einheitlichen hochschuldidaktischen Ansatz vor. Ein solches Unterfangen würde auch kaum einer mit dem Leitwort „Diversität“ gekennzeichneten Situation gerecht werden. Dennoch lassen sich aus den hier zusammengestellten Beiträgen einige mögliche Antworten auf die Frage ablesen, wie Biblische Theologie, der innerhalb der theologischen Fächer eine Schlüsselrolle zukommt, ihre Rolle im interdisziplinären Diskurs unter den Bedingungen einer Bezugswissenschaft aushandelt. Die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften bieten für einen solchen Diskurs aufgrund ihrer Interdisziplinarität beste Voraussetzungen. Mit Blick auf die Entwicklung der Rolle der Biblischen Wissenschaften an den Universitäten in Europa oder Nordamerika, mit Blick auch auf die Zahl der Studierenden, die in Deutschland Theologie mit dem Ziel des Pfarramts studieren, ist jedoch absehbar, dass auch die Theologischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum zukünftig noch stärker als bisher herausgefordert werden, sich innerhalb der Universitäten neu zu positionieren. Mittelfristig wird es auch hier für die Biblischen Wissenschaften darauf ankommen, ein neues Verhältnis zu den Kultur-, Geistes-, Sozial- oder Humanwissenschaften und zu deren Deutungen von Lebens- und Textwelten zu finden. Wenn der vorliegende Band hierzu einen - exemplarisch auf das Thema Diversität zugespitzten - Denkanstoß geben kann, wäre eines seiner Ziele erreicht. Wir danken den Herausgeberinnen und Herausgebern der Neutestamentlichen Entwürfe zur Theologie für die Aufnahme in ihre Reihe und Frau Rahel Kafka, Wuppertal, für die sorgfältigen Korrekturen und die vielfältigen Korrespondenzen mit den Verfasserinnen und Verfassern. Desmond Bell, Bochum Renate Kirchhoff, Freiburg Bernhard Mutschler, Ludwigsburg <?page no="19"?> 1 GESELLSCHAFTLICHE BEDINGUNGEN DER THEMATISIERUNG BIBLISCHER THEOLOGIE <?page no="21"?> Renate Kirchhoff Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit. Zu den Bedingungen disziplinären Lehrens und Lernens an einer Hochschule für Soziale Arbeit Abstract: Biblische Theologie ist nur ausnahmsweise für die Wissenschaft Soziale Arbeit als Bezugswissenschaft im Blick. Zudem sind in Fragen der Religiosität die Studierendengruppen fast so heterogen wie die Bevölkerung in Deutschland. Diese und weitere Bedingungen, unter denen die Lehre der Biblischen Theologie an Hochschulen für Soziale Arbeit stattfindet, sind Gegenstand dieses Beitrags. Seine These ist, dass Biblische Theologie disziplinspezifische Möglichkeiten hat, mit diesen Bedingungen konstruktiv umzugehen, so dass sie einen Beitrag zur Fachlichkeit von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen leisten kann. Der Ansatz wirbt dafür, die Unterscheidung zwischen Text- und Lesewelt zu nutzen, um die Studierenden als Subjekte sowohl des Lesevorgangs als auch ihrer Konstruktion von Wirklichkeit anzusprechen. Unter dieser Voraussetzung ermöglicht es die Lehre, dass Studierende biblische Texte als Modell christlicher Deutung von sozialer und individueller Realität wahrnehmen und zur Deutung gegenwärtiger Aspekte von Wirklichkeit nutzen. Der Titel „Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit“ ist eher ein programmatischer Anspruch als eine Beschreibung der Organisation eines faktisch geführten Diskurses über Bezugswissenschaften der Wissenschaft Soziale Arbeit (WSA). 1 Faktisch allerdings ist die Theologie an 1 Die Rede von Leit- und Bezugsdisziplin dient der Strukturierung von Disziplinen mittels ihrer Hierarchisierung, vgl. Peter Rusterholz (u.a.) (Hg.) (2007), Aktualität und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften, Bern, S. 7f. Diese Form der Strukturierung passt aus zwei Gründen nicht zum System der Hochschulen für Angewandte Wissenschaft: Zum einen gibt es hier Disziplinen wie die Wissenschaft Soziale Arbeit oder die Gemeindediakonie, die in Deutschland universitär nur ausnahmsweise (WSA) oder gar keinen (Gemeindediakonie) Disziplinstatus haben. Zum anderen erfolgt die Lehre in den Studiengängen längst interdisziplinär: Dozierende präsentieren im Lehrteam themenbezogen Beiträge der eigenen Disziplin zur Analyse und Gestaltung von Wirklichkeit. Zur Kritik an der hierarchischen Strukturierung aus der Perspektive der Sozialen Arbeit s. Wolf Crefeld (2009), Braucht die Wissenschaft von der Kunst und dem Handwerk der Sozialen Arbeit Bezugswissenschaften? , in: Albert Mühlum (u.a.) (Hg.), Soziale Arbeit in Wissenschaft und Praxis, Lage, S. 74-87. Ich ordne hier dennoch hierarchisch zu, weil a) Standardliteratur der WSA noch so verfährt. Wie ich zeigen werde, gibt es b) insofern eine Hierarchie in der Beziehung zwischen WSA und Theologie, als die WSA sich nach ihrem Selbstverständnis nicht auf die Theologie beziehen muss, während die Theologie sowohl aus der Perspektive der Trägerin der evangelischen <?page no="22"?> Renate Kirchhoff 4 konfessionellen Hochschulen ein integraler Bestandteil der Curricula von Studiengängen der Sozialen Arbeit. Der Bezug auf biblische Texte und auf Ergebnisse exegetischer Forschung ist damit eingeschlossen. Der vorliegende Artikel will zum einen Bedingungen beschreiben, unter denen diese Lehre erfolgt; er will zum anderen zeigen, welchen spezifischen Anteil die Biblische Theologie zur Fachlichkeit der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen leisten kann. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als ein Beitrag zum Diskurs über Angewandte Theologie 2 im Studium der Sozialen Arbeit. 3 Die Rolle Hochschulen für Soziale Arbeit als auch aus der Perspektive der Theologinnen und Theologen an den Hochschulen einen Beitrag zur Fachlichkeit von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern leisten muss und auch faktisch leistet. 2 Zu den Dimensionen einer Theologie an Hochschulen für Angewandte Wissenschaft s. Ralf Evers (u.a.) (2011), Theologie und Soziale Wirklichkeit - zur Einführung in die Reihe und den Band, in: Volker Herrmann (u.a.) (Hg.), Theologie und Soziale Wirklichkeit. Grundbegriffe (Theologie und soziale Wirklichkeit), Stuttgart, S. 7-10. Diese Reihe unternimmt es, aufgrund von Gegenstandsbereichen und Aufgaben, die der Theologie und den Sozialwissenschaften gemeinsam sind, interdisziplinäre Zugänge zu Grundbegriffen zu bieten (so im ersten Band der Reihe). 3 Dieser Diskurs wird weitgehend von Theologen und Theologinnen an Hochschulen für Soziale Arbeit getragen, s. etwa Stephanie Bohlen (2010), Theologie und soziale Arbeit - Ansätze für den Dialog, in: Michal Opatrný (u.a.) (Hg.), Theorie und Praxis der Karitativen Arbeit. (Südböhmische Universität, Theologische Fakultät) České Budějovice, S. 30-38; Ekkehard Börsch (2007), Herausforderung und Infragestellung. Theologie an kirchlichen Fachhochschulen für Sozial- und Gesundheitswesen, in: Arnd Götzelmann (Hg.), Menschwerdung des Menschen. Ausbildung für helfende Berufe in kirchlicher Verantwortung. Festschrift für Dieter Wittmann, Freiburg, S. 35-55; Friedrich Heckmann (1999), Überlegungen über ein theologisches Lehrangebot zur angewandten Ethik im Studium der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik, in: Friedrich Heckmann; Michael Brömse (Hg.), Evangelische Sozialethik und soziale Arbeit, Hannover, S. 13-19; Arnd Götzelmann (2007), Zum kirchlichen Bildungs- und Diakonieauftrag. Wider manch fehlende Einsicht in der evangelischen Kirche in die Bedeutung ihrer Fachhochschulen, in: ders., Menschwerdung des Menschen, S. 56-84; Ralf Hoburg (2004), Theologie als Dienstleistung und Beratung. Der praktische Wert theologischer Forschung an Fachhochschulen, Pastoraltheologie 93 (6), S. 229-246; Ralf Hoburg (Hg.) (2008), Theologie der helfenden Berufe, Stuttgart; Kirchenamt der EKD (Hg.) (1997), Entwicklungen und Perspektiven der Evangelischen Fachhochschulen in Deutschland, Hannover; Rainer Krockauer (u.a.) (Hg.) (2006), Theologie und Soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München; Martin Lechner (2000), Theologie in der Sozialen Arbeit. Begründung und Konzeption einer Theologie an Fachhochschulen für Soziale Arbeit, München; Peter Orth (2006), Bildungsstandards für eine religiöse Bildung in Studiengängen des Sozial- und Gesundheitswesens, in: Herbert Frohnhofen (u.a.) (Hg.), Bildung, (Schriftenreihe der Katholischen Fachhochschule Mainz, 1) St. Ottilien, S. 82-111; Stefanie Roeder (2010), Das Evangelische Selbstverständnis an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland - Westfalen - Lippe. Eine empirische Studie, (Denken und Handeln NF 4) Bochum; Renate Zitt (2006), Berufliche Bildung und Diakonie - Horizonte und Perspektiven, in: Gottfried Adam (u.a.) (Hg.), Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Handbuch des diakonisch- <?page no="23"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 5 speziell der Biblischen Theologie in Studiengängen der Sozialen Arbeit ist - soweit ich sehe - bisher noch nicht eigens reflektiert worden. Der Zugang meiner Ausführungen unterscheidet sich von dem der Diakoniewissenschaft dadurch, dass er mit der Frage nach den Bedingungen der Lehre von der Perspektive der WSA als Leitdisziplin ausgeht. Diesen Weg habe ich gewählt, weil er der Situation an Hochschulen für Soziale Arbeit entspricht: Theologische Zugänge zur Wirklichkeit müssen im Studium der Sozialen Arbeit ihre Relevanz erweisen und können diese - anders als in der theologischen Disziplin Diakoniewissenschaft - gerade nicht voraussetzen. Diese Situation entspricht dem Auftrag der Hochschulen für Soziale Arbeit, die nicht speziell für Kirche und Diakonie als Anstellungsträger ausbilden, sondern auch für andere Träger Sozialer Arbeit. Evangelische Hochschulen für Soziale Arbeit qualifizieren Menschen, die ihre Fragen nach Selbst, Welt und einem guten Leben 4 sehr unterschiedlich und auch nicht christlich gestalten; sie präsentieren im Kontext des Studiums der Sozialen Arbeit christlichtheologische Zugänge zur Wirklichkeit als eine zentrale Option, aber eben als eine Option. 5 Die Biblische Theologie teilt mit anderen Disziplinen zunächst die Bedingungsfaktoren, unter denen überhaupt die Lehre an konfessionellen sozialen Lernens, Stuttgart, S. 339-352; Renate Zitt (2008), Dialogische Theologie in Bildungsprozessen. Perspektiven kirchlicher Bildungsverantwortung im Studium der Sozialen Arbeit, in: Johannes Eurich (u.a.) (Hg.), Diakonie und Bildung. Heinz Schmidt zum 65. Geburtstag, Stuttgart, S. 196-209; s. auch die Themenhefte der Pastoraltheologie 71 (3) 1982 und 93 (6) 2004. S. auch: Rektorenkonferenz kirchlicher Fachhochschulen (Hg.) (2008), Entdeckungen. Theologie und Ethik in Studium und Praxis der Sozialen Arbeit, Opladen; Zur Notwendigkeit kirchlicher Fachhochschulen. Stellungnahme des Rates der EKD vom 24.4.1970, in: epd-Dokumentation 18/ 70 und Sozialpädagogik 12/ 1970, S. 226. Gleichzeitig gehört die Thematisierung der Theologie in nichttheologischen Studiengängen in die Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz der Theologie, vgl. etwa: Ulrich H.J. Körtner (1997), Theologie in dürftiger Zeit. Die Aufgabe der Theologie und das Problem einer biblischen Hermeneutik im gegenwärtigen Kontext von Kirche und Gesellschaft, in: Ingo Baldermann (u.a.) (Hg.), Biblische Hermeneutik, (JBTh, 12) Neukirchen-Vluyn, S. 153-179. 4 Mit der Frage nach „Selbst, Welt und einem guten Leben“ rekurriere ich insofern auf die Struktur eines funktionalen Religionsbegriffs, als ich mit diesen Fragen Leistungen skizziere, die ich einer Religion zuschreibe, die Leistung nämlich, in je spezifischer Ausgelegtheit diese Fragen zu stellen und/ oder auch zu beantworten. Zugleich gehe ich davon aus, dass Menschen nicht auf Religion festgelegt sind, so dass diese Fragen auch ohne Transzendenzbezug auskommen und nicht unter dem Stichwort „Religiosität“ gefasst werden können und dürfen. Vgl. dazu Renate Kirchhoff, Hartmut Rupp (2008), Religiöse und philosophische Bildung in Kindertagesstätten - Einführung in die Expertise, in: dies. (Hg.), Religiöse und philosophische Bildung, (Materialien zur Frühpädagogik, 2) Freiburg, S. 11-22. 5 Diese Chance ergänzt das Bildungshandeln, das auf kirchliche Beheimatung zielt oder an diese anknüpft, wie dies etwa in der Diakonenausbildung der Fall ist. Zur Chance der Optionalität s. Kap. 3. <?page no="24"?> Renate Kirchhoff 6 Hochschulen für Soziale Arbeit stattfindet. Zu diesen allgemeinen Bedingungsfaktoren gehören zunächst verschiedene Ansprüche. Markant identifizieren lassen sich etwa a) die Ansprüche der Kirchen als Trägerinnen der Hochschule, b) die Ansprüche der Diakonie als einer Anstellungsträgerin der zukünftigen Absolventen und Absolventinnen, c) die Ansprüche der WSA als Leitdisziplin. Für Biblische Theologinnen und Theologen sind zusätzlich d) die Ansprüche der eigenen Disziplin zu ergänzen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf eine Beschreibung von Ansprüchen der WSA als Leitdisziplin (Kap. 2) und eine Skizze von Bedingungen auf Seiten des Curriculums und der Studierenden (Kap. 3). Dazu beginne ich mit einer Definition der Biblischen Theologie und ihrer Rolle in der Theologie (Kap. 1) und schließe mit einer knappen Beschreibung der disziplinären Möglichkeiten der Biblischen Theologie, die genannten ausgewählten Bedingungsfaktoren in der Gestaltung der Lehre aufzugreifen (Kap. 4.). Eine Konkretion bietet mein zweiter Aufsatz in diesem Band. Mein Ziel ist es, zu zeigen, dass gerade die hermeneutisch-methodische Unterscheidung zwischen Text- und Lesewelt eine Chance darstellt, um biblische Texte als Modell christlicher Deutung von sozialer und individueller Realität wahrzunehmen und als Tradition zur Deutung gegenwärtiger Aspekte von Wirklichkeit zu nutzen. Die Biblische Theologie leistet damit einen Beitrag zur Kompetenzentwicklung von Studierenden der Sozialen Arbeit. 6 1 Biblische Theologie als Disziplin der Theologie und als Bezugswissenschaft der Wissenschaft Soziale Arbeit Biblische Theologie unterliegt als eine theologische Disziplin den Bedingungen, unter denen Theologie überhaupt an Hochschulen für Soziale Arbeit gelehrt wird. Es gibt jedoch Spezifika aufgrund der Rolle, die die Biblische Theologie im Kanon der theologischen Disziplinen hat; zudem hat die Biblische Theologie disziplinspezifische Möglichkeiten, auf die allgemeinen Bedingungsfaktoren zu reagieren. 6 Siehe Renate Kirchhoff, „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ Von der emanzipatorisch motivierten Abwehr von Religion zur Reflexion der eigenen Praxis des Konstruierens von Wirklichkeit, S. 235-248 in diesem Band. <?page no="25"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 7 1.1 Die Biblische Theologie und die Vorstellung vom Verstehen des Textes Biblische Theologie ist im Folgenden die Verbindung aus wissenschaftlicher Exegese des Alten und des Neuen Testamentes 7 mit einer hermeneutisch reflektierten Anwendung der Texte, die individuell und gesellschaftlich relevant ist. 8 Exegese samt Anwendung ist „biblisch“, insofern sie Teil eines Überlieferungsprozesses ist, der Identitätsvergewisserung und Identitätspraxis realisiert. 9 Relevanz ist gegeben, wenn die Anwendung - verstanden als Wahrnehmung, Deutung und Bewertung gegenwärtiger Wirklichkeit unter Bezugnahme auf Texte - auf gelingenderes Leben 10 für bestimmte Zielgruppen gerichtet ist. Diese Vorstellung von Relevanz verbindet Ziele der Angewandten Theologie mit Zielen anderer Wissenschaften an einer Hochschule für Soziale Arbeit. 11 Eine hermeneutisch reflektierte Anwendung ist eine, die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens reflektiert und (jeweils vorläufig) bestimmt. Meinen Ausführungen liegen Elemente einer konstruktivistischen Hermeneutik zugrunde: Verstehen ist nicht verstehen von etwas, sondern Konstruktion von Verstandenem unter jeweils zu bestimmenden individuellen, 7 Zur Vielfalt an methodisierten Zugängen zu biblischen Texten und ihren Kontexten s. Stefan Alkier (u.a.) (Hg.) (1998), Exegese und Methodendiskussion, (TANZ, 23) Tübingen; Jens Schröter (2000), Zum gegenwärtigen Stand der neutestamentlichen Wissenschaft. Methodologische Aspekte und theologische Perspektiven, (NTS, 46) S. 262-283; Oda Wischmeyer (2004), Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 8) Tübingen (u.a.); Marcus Döbert (2009), Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma, (Religionskulturen, 3) Stuttgart. 8 Zur Unterschiedlichkeit der Rede von „Biblischer Theologie“ s. Bernd Janowski (2011), Einführung: Wie biblisch ist die Theologie? , in: Martin Ebner (u.a.) (Hg.), Wie biblisch ist die Theologie, (JBTh, 25) Neukirchen-Vluyn, S. 3-5.3; Hans Weder (2011), Biblische Theologie, in: a.a.O., S. 19-40.22. 9 Vgl. Christoph Schwöbel (2011), Wie biblisch ist die Theologie, in: a.a.O., S. 7-18.10. 10 Dies ist eine Definition des Ziels Sozialer Arbeit, zu Definitionen s. Hans Thiersch (Hg.) (1995), Zeitdiagnose soziale Arbeit. Zur wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der Sozialpädagogik in Theorie und Ausbildung, Weinheim (u.a.), S. 22. Diese Definition ist so grundlegend, dass sie für jedes professionelle Handeln mit Menschen gilt. Theologie als Interpretationspraxis (vgl. Ingolf U. Dalferth [2004], Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung, ThLZ.F 11/ 12, S. 53-74.54) verbindet in analoger Weise die Aufgabe der Beschreibung von Wirklichkeit mit der Aufgabe - unter Offenlegung der reflektierten Kriterien - diese zu bewerten. 11 Die Ausrichtung auf das gute Leben als Element einer Verantwortungsethik nutzt Kerstin Röser (2012), Lesen als ethischer Akt. Die Verantwortung der Lesenden in der Interpretation biblischer Texte, in: Marianne Heimbach-Steins, Bibelhermeneutik und christliche Sozialethik, Stuttgart, S. 63-89.76f., wenn sie die Relevanz biblischer Texte für eine (katholische) Sozialethik beschreibt. Wie im vorliegenden Aufsatz haben die Texte nicht nur eine das Handeln orientierende Funktion, sondern sind bereits bei der Analyse und Bewertung der sozialen und strukturellen Wirklichkeit wirksam. <?page no="26"?> Renate Kirchhoff 8 sozialen und kulturellen Bedingungen des Verstehens, die das Verstandene prägen. 12 Die (mindestens anteilig auch) historisch arbeitende Exegese geht dabei davon aus, dass die Texte an die alltägliche Lebenswelt gebunden sind und diese Bindung näherungsweise zu ermitteln ist. Solches Bemühen um andere Textverständnismöglichkeiten setzt die Einsicht in die grundsätzliche Perspektivität des eigenen Textverstehens voraus: Das Textverständnis anderer Leserinnen und Leser unterscheidet sich von dem eigenen, seien dies antike oder zeitgenössische Leserinnen und Leser. 13 Die Aneignung des Textes wie die Frage nach historischen Verstehensmöglichkeiten sind dabei auch in der Person des Lesenden bzw. der Fragenden miteinander verknüpft. Denn sowohl die antike Textwelt als auch die aktuelle Lesewelt gibt es nur in der - jeweils kontextuellen - Perspektive der Lesenden und Fragenden. Um das aktuell aneignende Textverständnis von einer Rückfrage nach anfänglichen Verstehensmöglichkeiten abzugrenzen, nutze ich die Unterscheidung von Text- und Lesewelt. 14 Die Textwelt ist das Verständnis des Textes, das durch die Einordnung des Textes in seine Abfassungs- und anfänglichen Rezeptionssituationen entsteht. Die Annäherung an diese erfolgt mittels der Analyse von sprachlichen und formalen Merkmalen des Textes auf der Ebene des Erzählten und durch die Analyse der soziokulturellen Kontexte der Verfasser und der anfänglichen Rezipientinnen und Rezipienten der Texte. Die Lesewelt ist das Verständnis des Textes, das durch die Einordnung des Textes in die Welt des heutigen Lesers und der heutigen Leserin sowie ihrer soziokulturellen Kontexte erfolgt. Die Annahme des 12 Vgl. Peter Lampe (1998), Die urchristliche Rede von der „Neuschöpfung des Menschen“ im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie, in: Stefan Alkier (u.a.) (Hg.), Exegese und Methodendiskussion, Tübingen, S. 21-32.23. Zur Relevanz der Frage nach der Referenz der Theologie für die Hermeneutik biblischer Texte, s. Döbert, Theologie, S. 51-88. Der grundsätzlich instruktiven Darstellung von Lampes konstruktivistischwissenssoziologischem Ansatz durch Döbert (a.a.O., S. 62-65) ist entgegenzuhalten, dass Döbert von einer Positionslosigkeit konstruktivistischer Zugänge zu Wirklichkeit ausgeht. Denn aus der phänomenologischen Einsicht Lampes (a.a.O., S. 31), dass alle Menschen bezüglich der Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten in einem Boot sitzen, folgt gerade nicht, dass alle religiösen Wahrheitsansprüche auch normativ gleichgeschaltet würden (Döbert, a.a.O., S. 64), sondern dass Kriterien für die Zurückweisung eines Wahrheitsanspruchs diskursiv ermittelt werden müssen. 13 Die Einsicht in die Perspektivität eigenen Verstehens bedeutet im Blick auf biblische Texte, dass jede Textrezeption ihre Autorität erweisen und zugeschrieben bekommen muss. Denn wenn die Vorstellung, man könne verstehen, „was dasteht“, Multiperspektivität des Textverstehens nur ignoriert, dann ist die Behauptung von Autorität durch die Verwendung eines biblischen Textes nicht eingelöst. 14 Sowohl mit dieser Unterscheidung knüpfe ich an Wolfgang Iser (1994), Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, 4. Aufl. München, an als auch mit der Voraussetzung einer bleibenden Bindung der Texte an die alltägliche Lebenswelt; vgl. a.a.O., S. 115. <?page no="27"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 9 Lesers und der Leserin, dass der Text und die Textwelt fremd sind, hat heuristische Wirkung. 15 1.2 Biblische Theologie im Kanon der theologischen Disziplinen „Wie biblisch ist die Theologie? “ titelt das Jahrbuch für Biblische Theologie im Jahr 2011 16 und greift damit die Frage auf, in welchem Umfang und in welcher Art die theologischen Disziplinen biblische Traditionen und - was nicht dasselbe ist - exegetische Ergebnisse aufgreifen. Das Thema ist Symptom einer Diskussion um die Frage, ob die exegetischen Fächer selbst noch biblisch sind und sein müssen: Beziehen sie sich explizit auf die Überlieferungsprozesse, in denen die Texte zur Vergewisserung von Identität herangezogen wurden und werden? Müssen sie dieses, um noch als theologische Disziplin gelten zu können, oder müssen sie eine solche Engführung des Fragens und Antwortens nicht gerade vermeiden, um noch als wissenschaftliche Disziplin gelten zu können? 17 Die Beiträge befassen sich mit der Frage, in welchem Sinne das je eigene Fach biblisch ist; dass sich das je eigene Fach auf biblische Texte und exegetische Ergebnisse beziehen muss und auch bezieht, ist offenbar unstrittig. 18 In welchem Umfang die Bezugnahme auf biblische Texte mit einer Berücksichtigung aktueller exegetischer Ergebnisse zu tun hat, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Deutlich ist, dass der Bezug auf biblische Texte und auf die Ergebnisse ihrer Exegese in der Religionsdidaktik und in der Gemeindepädagogik seinen unstrittigen Ort hat. Das liegt unter anderem daran, dass mit ihnen Elemente christlicher Tradition vermittelt werden können, ohne dass dazu eine Anerkenntnis des Charakters der Texte als Heiliger Schrift erforderlich wäre. Außerdem können die Texte etwa im Kontext des Theologisierens als Deutefolie genutzt werden, die die Zielgruppen als Ko-Konstrukteure von Wirklichkeit erproben, ohne die christliche Rezeptionsgeschichte zu kennen oder berücksichtigen zu müssen. 19 Hier sind die Texte das Material zur Artikulation eigener Vorstellungen von Selbst, Welt und einem guten Leben. Sie schließen aufgrund ihrer Relevanzoption 20 die Möglichkeit ein, diese Vorstellungen (anteilig) christlich zu gestalten. Die biblischen Texte haben eine ungebrochene Rele- 15 Zur Relevanz der Kategorie der Fremdheit im Leseprozess s. Wolfgang Stegemann (1999), Kulturanthropologie des Neuen Testaments, VF 44, S. 28-54.31f. 16 Ebner, Theologie (s.o. Anm. 7). 17 Vgl. Schwöbel, Theologie, S. 9-11. 18 Freilich kann sich die Außenperspektive von der disziplinären Binnenperspektive unterscheiden, s. Schwöbel, Theologie, S. 8. 19 Vgl. Friedrich Schweizer (2011), Welche Exegese braucht die Religionspädagogik? Oder: keine biblische Religionspädagogik ohne religionspädagogische Exegese? , in: Ebner, Theologie, S. 265-285.269f. 20 Vgl. Rainer Bucher (2011), Wann und unter welchen Umständen wäre die Praktische Theologie biblisch? , in: Ebner, Theologie, S. 247-263.257. <?page no="28"?> Renate Kirchhoff 10 vanz vor allem in solchen Bildungskontexten, in denen Menschen ohne christliches Selbstverständnis und/ oder ohne christlich-religiöse Sozialisation Subjekte sind. Das Studium der Sozialen Arbeit ist ein solcher Bildungskontext, in dem in der Regel junge Erwachsene unterschiedlicher Religiosität Vorstellungen von Selbst, Welt und einem guten Leben entwickeln, reflektieren und darüber in einen Diskurs treten (s.u. 3.2). 2 Biblische Theologie in der WSA 21 Nach dem Selbstverständnis der Wissenschaft Soziale Arbeit gehört zwar nicht speziell die Biblische Theologie zu ihren Bezugswissenschaften; manchen Disziplinvertretern gilt allerdings die Theologie insgesamt als Bezugswissenschaft, so etwa neben der Philosophie, der Politikwissenschaft, der Geschichte, der Ökonomie, der Soziologie, der Ethik, dem Recht, der Pädagogik, der Psychologie, der Medizin und der Biologie. 22 Engelke rechnet die Theologie zu den Bezugswissenschaften, weil sie sich mit dem „Glaubensgehalt“ 23 einer Religion befasse, zu der die Interpretation des individuellen Lebens sowie der sozialen und globalen Wirklichkeit 24 gehöre. Der hinreichende Grund für den Status als Bezugswissenschaft ist bei ihm also, dass es gemeinsame Gegenstandsbereiche der Theologie und der WSA gibt. Allerdings hat die Theologie nach Engelke 25 ein Manko, aufgrund dessen sie seiner Ansicht nach zu einer nachrangigen Bezugswissenschaft wird: Da die großen Religionen ihr „Leben und Weltverhältnis“ 26 , sowie ihre „Werte und Normen für das Zusammenleben der Menschen“ 27 aus einer göttlichen Offenbarung ableiten, kann die Theologie „nur bedingt“ eine Bezugswissenschaft für die Soziale Arbeit sein. In dieser These drückt sich ein Zweifel an der Wissenschaftlichkeit speziell der Theologie aus. Denn Voraussetzungshaftigkeit konstatiert Engelke für jede Wissenschaft; die Voraussetzungshaftigkeit der Theologie unterscheidet sich seiner Ansicht nach jedoch von 21 Unberücksichtigt bleibt die Frage nach der Rolle der Biblischen Theologie in Forschung und Lehre von Theologen und Theologinnen an Hochschulen für Soziale Arbeit. 22 Die Reihe entstammt Ernst Engelke (2009), Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen, 3. Aufl. Freiburg i. Br., S. 302; s. auch Markus Babo (2001), Um des Menschen willen. Zur Relevanz des christlichen Sinnhorizontes in der Sozialen Arbeit, in: Thomas Schumacher, Die Soziale Arbeit und ihre Bezugswissenschaften, (Dimensionen Sozialer Arbeit und der Pflege, 12) Stuttgart, S. 125-144. - Wenn die Theologie die Funktion einer Bezugswissenschaft hat, dann sind vor allem die Ethik und die Anthropologie diejenigen Disziplinen, die angefragt werden. 23 Engelke, Wissenschaft, S. 307. 24 So interpretiere ich „Lebens- und Weltverständnis“ bei Engelke, Wissenschaft, S. 307f. 25 Vgl. a.a.O., S. 308. 26 Ebd. 27 Ebd. <?page no="29"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 11 derjenigen aller anderen Wissenschaften. 28 Theologisch ist die Frage der Wissenschaftlichkeit der Theologie ein Thema der Prolegomena einer Dogmatik, und jede einzelne theologische Disziplin reflektiert die disziplinspezifischen Kriterien für Wissenschaftlichkeit. Der Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Theologie ließe sich ebenso entkräften wie die These, dass in der wissenschaftlichen Theologie „Werte und Normen“ einfach abgeleitet würden (s.u. 3.1). Dass nun die Theologie aufgrund der von ihm bestimmten Voraussetzungshaftigkeit ihre Wissenschaftlichkeit einbüßt, irritiert angesichts seiner Bestimmung dessen, was WSA ist. Denn wenn Engelke die WSA als Handlungswissenschaft beschreibt, die normative Handlungstheorien zu entwickeln habe, erklärt er die Voraussetzungshaftigkeit geradezu zu einem notwendigen Merkmal der WSA. 29 Eine normative Handlungswissenschaft muss genau die Kritik treffen, die für Engelke Grund ist, die Theologie als Bezugswissenschaft zu disqualifizieren. Denn eine normative Handlungswissenschaft leitet Bewertungen von Normen ab und ignoriert die Vielfalt an Wirklichkeitskonstrukten und Moralen der handelnden Subjekte. Der Beschreibung einer WSA als normativer Handlungswissenschaft wird innerhalb der WSA zwar vielfältig widersprochen 30 , Engelkes Skepsis gegenüber der Wissenschaftlichkeit der Theologie ist in den Diskursen der WSA allerdings kein Thema. Ob eine WSA Normen zu vertreten oder zu reflektieren hat, wird - wie erwähnt - strittig diskutiert; darüber, dass sie sich mit Normen auseinanderzusetzen hat, besteht jedoch ein weitgehender Konsens. In der Ethik als Disziplin der WSA spielen denn auch biblische Texte vereinzelt eine Rolle. So gilt vor allem das Nächstenliebegebot (Lev 19,18; Mk 12,31; Mt 5,43; 22,39; Lk 10,26) als Inbegriff eines bis heute gültigen mitteleuropäischen Werts. 31 Zu den wenigen Fundstellen sozialarbeitswissenschaftlicher Literatur, die auf biblische Texte verweisen, gehören außerdem solche, in denen sie als Quelle zur Rekonstruktion der Geschichte sozialen Handelns dienen: So 28 Vgl. Engelke, Wissenschaft, S. 307; Ernst Engelke (u.a.) (Hg.) (2008), Theorien der Sozialen Arbeit, 4. Aufl., Freiburg i. Br., S. 20-22. 29 Vgl. a.a.O., S. 17. 30 So beschreibt etwa Kraus es als Aufgabe der WSA, gerade normenkritisch die Werteorientierung der Praxis zu reflektieren, s. Björn Kraus (2012), Was ist und soll eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit? Antworten und Fragen, in: Silke Birgitta Gahleitner (u.a.) (Hg.), Über Soziale Arbeit und über Soziale Arbeit hinaus. Ein Blick auf zwei Jahrzehnte Wissenschaftsentwicklung, Forschung und Promotionsförderung, Lage, S. 19-39.29. 31 Vgl. C. Wolfgang Müller (2007), Von der tätigen Nächstenliebe zum Helfen als Beruf, in: Andreas Lob-Hüdepohl (u.a.) (Hg.), Ethik Sozialer Arbeit, Paderborn (u.a.), S. 13- 19. - Die Bezugnahmen betonen die Interpretations- und Korrekturbedürftigkeit der Texte. Dass dies so betont wird, könnte Folge der Vorstellung sein, man könne lesen und anwenden, was dasteht. Das Gebot der Nächstenliebe hat allerdings schon biblisch eine Rezeptionsgeschichte, in der es unter den jeweiligen sozialen und politischen Bedingungen interpretiert wurde. <?page no="30"?> Renate Kirchhoff 12 dient das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) 32 oder die Einsetzung der Sieben für den Dienst an den Tischen (Act 6,1-7) 33 als Quelle für den Verweis auf historische Wurzeln für die berufliche Soziale Arbeit. Als Fazit ist festzuhalten, dass in der WSA Bezugnahmen auf biblische Texte oder exegetische Ergebnisse kaum eine Rolle spielen. 34 Die wenigen Bezugnahmen nutzen eine wirkungsgeschichtliche und/ oder eine historische Relevanz. Diese Rolle haben die Texte auch in der Lehre der Sozialen Arbeit und stehen hier neben anderen Quellen zur Geschichte der Sozialen Arbeit und dem Selbstverständnis der Sozialen Arbeit. 3 Biblische Theologie im Studium der Sozialen Arbeit Die Bedingungen des Lehrens von Biblischer Theologie sind geprägt von Vorstellungen und Erwartungen der Fachvertreterinnen und Fachvertreter der Sozialen Arbeit an die Disziplin und deren Vertreterinnen und Vertreter. Die Tatsache, dass in Einführungen in die WSA Bezüge auf Theologie und speziell auf Biblische Theologie weitgehend fehlen, führt zu diffusen Erwartungen und auch Skepsis. Zwar gibt es - soweit ich sehe - bisher keine Erhebung über die Erfahrungen mit und die Erwartungen an die Theologie und ihre Disziplinvertreterinnen und -vertreter von Seiten der WSA. Deutlich ist allerdings, dass die Skepsis, ob die theologischen Kolleginnen und Kollegen mit ihrer Fachlichkeit einen Beitrag zur Kompetenzentwicklung der Studierenden der Sozialen Arbeit leisten können und wollen, die Verhandlungen über Anteile in der Lehre und die Gestaltung interdisziplinärer Lehrveranstaltungen prägen. Vieles hängt an der individuellen Bereitschaft der Theologinnen und Theologen, sich in fachfremde Diskurse einzuarbeiten, um in einer - auch in der Wahrnehmung der Vertreter und Vertreterinnen der WSA und ihrer klassischen Bezugsdisziplinen - relevanten Weise Angewandte Theologie zu implementieren. Vieles hängt außerdem daran, wie die Trägerin der Hochschule das Verhältnis zu ihr gestaltet. Denn auch 32 Vgl. C. Wolfgang Müller (2006), Wie Helfen zum Beruf wurde, Band I, Basel (u.a.), s. 12f.; ders., Nächstenliebe, S. 13f. 33 Vgl. Engelke, Wissenschaft, S. 32f. 34 In der Diakoniewissenschaft spielt der Bezug auf biblische Texte eine wichtige Rolle. Hier dienen Bezüge auf biblische Texte und auf die Biblische Theologie dazu, den diakonisch-sozialen Auftrag der Kirche theologisch zu begründen (vgl. etwa die prägnante Aufzählung in: Arnd Götzelmann [2007], Zum kirchlichen Bildungs- und Diakonieauftrag, in: ders. (Hg.), Menschwerdung des Menschen. Ausbildung für helfende Berufe in kirchlicher Verantwortung, Freiburg, S. 56-81.70-73). Sie folgen deshalb der theologischen Begründungslogik; sie sind für nicht oder kaum christlich sozialisierte Studierende dennoch ein wichtiges Deuteangebot, wenn es als solches in die Lehre eingebracht wird. - Die Diakoniewissenschaft ist trotz ihrer Interdisziplinarität als Bezugswissenschaft der WSA kaum im Blick, so dass ihr Textbezug für die vorliegenden Ausführungen nicht berücksichtigt wird. <?page no="31"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 13 wenn die theologischen Kolleginnen und Kollegen darauf wenig Einfluss haben, repräsentieren sie die Trägerin im Haus. Hier sei exemplarisch auf zwei Bereiche verwiesen: Die nicht ganz unberechtigte Befürchtung ist regelhaft, dass die Trägerin in Berufungsverfahren konfessionelle Interessen stärker gewichten könnte als Kriterien der disziplinären Fachlichkeit. Sollte die Trägerin diese Befürchtung bestätigen, kann das Bild von einer selbstreferentiellen und autoritär-dogmatischen Kirche entstehen oder sich erhärten. Dieses Bild - wie realistisch oder unrealistisch es auch sein mag - prägt die Erwartungen an die Implementierung der Angewandten Theologie in die Lehre. Die Trägerin kann natürlich auch die positiven Erwartungen an die Theologie und ihre Disziplinvertreterinnen und -vertreter fördern; so zum Beispiel, wenn kirchliche und diakonische Institutionen die unterschiedlichen disziplinären Kompetenzen der Hochschule zur Qualitätsentwicklung in eigenen Handlungsbereichen in Anspruch nehmen (Projekte, Evaluationen, Beratung). Diese beiden Beispiele für „weiche Faktoren“, die die Bedingungen des Lehrens prägen, sollen darauf verweisen, dass die Theologie an einer Hochschule für Soziale Arbeit Anteil hat an den Bedingungen, unter denen Kirche und Diakonie auch sonst gesellschaftlich wahrgenommen werden. Es sind kontextbezogene Erfahrungen, die das Bild der Institution wie der Disziplin prägen. Spezifisch ist das Feld „Hochschule“, in dem die Erfahrungen gemacht werden und sich auswirken. An einer Hochschule für Soziale Arbeit prägen solche „weichen Faktoren“ die Konzeption, Organisation und Durchführung von Lehrveranstaltungen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie interdisziplinär durchgeführt werden, also durch ein Team aus Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen. Darin liegen für die Angewandte Theologie die Chance und die Notwendigkeit, diese Bedingungen selbst zum Thema zu machen. 3.1 Biblische Theologie und die Gestaltung des Curriculums des Studiums der Sozialen Arbeit In den interdisziplinären Kontexten ist das Interesse der Vertreterinnen und Vertreter der WSA sowie anderer Bezugswissenschaften der WSA verbunden mit der Frage, was die Biblischen Theologinnen und Theologen zur Professionalisierung der Studierenden beizutragen haben, sodass ein „Abgeben“ von zeitlichen Ressourcen im Curriculum des Studiums der Sozialen Arbeit aus ihrer Perspektive lohnt. Grundsätzlich müssen alle Vertreterinnen und Vertreter von Bezugsdisziplinen zeigen, dass sie einen Beitrag zur Professionalisierung leisten. Von der Theologie wird jedoch nicht selbstverständlich erwartet, dass sie einen Beitrag zum fachlich relevanten Kompetenzerwerb der Studierenden leistet. Die Theologie muss also zunächst ihr Potential erweisen; dies geschieht, indem sie sich in die disziplinäre Logik einspeist und zugleich ihren spezifischen Zugang zum jeweiligen Thema <?page no="32"?> Renate Kirchhoff 14 einbringt. Denn eine Lehre, die dem innertheologischen Diskurs insofern gleicht, als sie von der Zustimmung der Funktionalität theologischer Diskurse ausgeht, marginalisiert sich: Studierende und Vertreterinnen und Vertreter anderer Disziplinen werden sie nicht nur als irrelevant, sondern als anmaßend bewerten. Eine Lehre allerdings, die die Logik der eigenen theologischen Disziplin nicht mehr sichtbar macht und also auf den Anspruch verzichtet, etwas vom Gegenstand und/ oder Zugang her fachspezifisch Theologisches einzubringen, ist verzichtbar: Wenn am Ende nur WSA gelehrt wird, dann ist diese Lehre in der Regel besser durch Fachvertreterinnen und -vertreter der WSA einzubringen. Es sind vor allem drei Bereiche, in denen Theologie zum Kompetenzerwerb beiträgt: a) Entscheidungen treffen Ein Konsens der WSA hinsichtlich ihres Gegenstands lässt sich dahin gehend beschreiben, dass sie sich mit Normen auseinandersetzen muss. Ihr Ziel ist es für die Profession und damit auch in der Lehre, dass Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen instand gesetzt werden, begründete Entscheidungen zu treffen. 35 Dieses Ziel verfolgt auch der Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit 36 , wenn er „ein integriertes Verständnis der Methoden, Verfahrensweisen und der beruflichen Ethik von Sozialer Arbeit“ 37 als ein Qualifikationsziel des BA Soziale Arbeit nennt. Unter den professionellen allgemeinen Fähigkeiten und Haltungen, die in jedem grundständigen Studium der Sozialen Arbeit zu erwerben sind, nennt der Qualifikationsrahmen eine „Empathie für soziale Aufgabenstellungen“ und die Ausübung der beruflichen Rolle „unter Einbeziehung der eigenen Persönlichkeitsmerkmale und auf der Basis eines reflektierten Welt- und Menschenbildes“ 38 . Ziel der Ethik in der Sozialen Arbeit ist es dabei, sowohl in die wichtigsten normativen Leitoptionen der Sozialen Arbeit einzuführen als auch zu befähigen, den sozialarbeiterischen Alltag ethisch zu reflektieren und zu begründen. Auf der Ebene der Gestaltung professionellen Handelns können christliche Welt- und Menschenbilder eine Rolle spielen; ihre orientierende Wirkung ist jedoch nicht einfach ableitbar, sondern muss letztlich gesetzt werden. Das gilt nun nicht speziell für christliche Welt- und Menschenbilder. Sondern jede Vorstellung vom Menschen, die normativ wirksam werden soll, ist gesetzt; 35 Mit Blick auf die praktische Soziale Arbeit wird deren Orientierung an den Prinzipien der Menschenrechte und der Sozialen Gerechtigkeit in den Blick gerückt, vgl. die International Federation of Social Workers (IFSW), http: / / ifsw.org/ policies/ statementof-ethical-principles/ (7.7.2012). 36 Vgl. Ulrich Bartosch (u.a.) (2008), Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit (QR SArb). Version 5.1. Beschlossen vom Fachbereichstag am 4. Dezember 2008 in Lüneburg (www.fbts.de/ uploads/ media/ QRSArb_Version_5.1.pdf, [6.1.2012]). 37 Bartosch, Qualifikationsrahmen, S. 8. 38 Bartosch, Qualifikationsrahmen, S. 16; vgl. Lob-Hüdepohl, Ethik Sozialer Arbeit, S. 7f. <?page no="33"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 15 das gilt zum Beispiel auch für Menschenrechte, die in der WSA von besonderer Bedeutung sind. Ihre Normativität bedarf nicht nur der Zustimmung, sondern auch eines fortwährenden kontextuellen Diskurses darüber, worin genau sie bestehen sollen. Aufgrund der analytischen und orientierenden Funktion, die die Reflexion auf christliche Welt- und Menschenbilder entwickeln kann, sind es vor allem Ethik und Anthropologie, die von der Theologie ins Curriculum eingebracht werden. 39 In welchem Umfang und in welcher Form biblische Texte und exegetische Ergebnisse genutzt werden, hängt u.a. von der exegetischen und hermeneutischen Kompetenz der Lehrenden ab. 40 Die Chancen des Rekurses speziell auf biblische Texte liegen darin, dass ein Offenlegen des hermeneutischen Prozesses eine Praxis der Beteiligung der Studierenden als Subjekte darstellt: Studierende nehmen wahr, dass Normen nicht abgeleitet, sondern unter Bezugnahme auf Traditionen gesetzt werden. Dieses zu zeigen, ist auch mit anderen theologischen Traditionen und nicht nur mit biblischen Texten möglich. Allerdings hat die Biblische Theologie diesen hermeneutischen Prozess selbst zum Gegenstand, die biblischen Texte sind eine vielen Menschen einfach zugängliche Größe und sie rufen bei vielen Studierenden eigene Zuschreibungen zur Kirche als Institution auf, die aufgerufen werden müssen, wenn es darum geht, christliche Deuteoptionen ins Spiel zu bringen. 41 b) Spiritualität von Zielgruppen fördern Die ethischen Prinzipien der International Federation of Social Workers (IFSW) benennt die Förderung spiritueller Integrität 42 der Klientinnen und Klienten als Ziel sozialarbeiterischen Handelns. Um dieses Ziel zu verwirklichen, ist es erforderlich, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nicht nur Elemente religiöser Praxis identifizieren können und also eine religiöse Sprache kennen. Um den Klienten und Klientinnen als Träger negativer und positiver Religionsfreiheit gerecht zu werden ist es zusätzlich erforderlich, dass sie eine religiöse Sprache anteilig auch selbst sprechen. Ein Wissen über Religionen ist notwendig, es reicht jedoch kaum aus, um religionssensibel zu handeln. Vielmehr müssen Bildungsprozesse an einer Hochschule so inszeniert werden, dass sie Selbstreflexion in Fragen der Konstruktion von Selbst, Welt und einem guten Leben und einen basalen Erwerb einer religiösen 39 Vgl. Roeder, Selbstverständnis, S. 71. 40 Zur Funktion biblischer Texte in der (katholischen) Sozialethik s. zuletzt: Heimbach- Steins, Bibelhermeneutik. 41 Freilich gibt es gesetzte Normen und von diesen abgeleitete Handlungsanweisungen, die dann wiederum als Normen beschrieben werden können. Diese Normen „zweiter Ordnung“ könnten dann als abgeleitete Normen bezeichnet werden. Die Diskussion um die unterschiedlichen Ordnungen von Normen bleibt hier ausgeklammert. 42 Vgl. Das Statement of Ethical Principles der International Federation of Social Workers (IFSW) 4.1, http: / / ifsw.org/ policies/ statement-of-ethical-principles/ (7.7.2012). <?page no="34"?> Renate Kirchhoff 16 Sprache ermöglichen. Es muss keine konfessionell geprägte Sprache sein, die erworben wird. An einer evangelischen Hochschule werden Elemente der christlichen Tradition als Deuteangebot in jedem Fall und vorrangig präsentiert. Ziel ist dabei nicht, dass die Elemente der christlichen Tradition auch faktisch angeeignet werden; Ziel ist es aber, dass Absolventinnen und Absolventen ihr Verhältnis zur christlichen Religion reflektieren und begründen können. c) Mit Vielfalt umgehen Im Studium der Sozialen Arbeit begegnet den Studierenden Religionszugehörigkeit und Religiosität zunächst als eine Heterogenitätsdimension; hier gehört die religionssensible christliche Theologie zum selbstverständlichen und unhinterfragten Gegenstand der Lehre. Es gehört auch aus der Perspektive der Studierenden zur eigenen Fachlichkeit, Religiosität (bei Zielgruppen) wahrzunehmen, mit ihrer Auswirkung auf Klientinnen und Klienten und ihre sozialen Systeme zu rechnen, sie als Ressource oder Krisenfaktor zu identifizieren und zu bewerten. Dabei geht es zunächst um die Religiosität der Klientinnen und Klienten, nicht um die eigene. Aufgabe der Theologie ist es in diesem Zusammenhang, die Unterschiedlichkeit der religiösen Konstruktionen von Wirklichkeit sichtbar zu machen, selbstreflexive Prozesse zu fördern und religionssensible Konzepte und Methoden zur Förderung von Toleranz zur Verfügung zu stellen. Das schließt die Identifikation und Ablehnung sowohl von religiöser als auch säkularer Intoleranz ein. Entscheidungen treffen, Spiritualität fördern und mit Vielfalt umgehen zu können, sind Kompetenzen, die sich im Hinblick auf Wissen, Können und Haltung (QR SArb) beschreiben lassen. Können und Haltung setzen voraus, dass die Studierenden sich dessen bewusst sind, wie sie selbst nach Selbst, Welt und einem guten Leben fragen, und dass sie in der Lage sind, diesen Bereich bewusst zu gestalten. Dass die diesbezügliche Selbstreflexion ein Bestandteil der Lehrveranstaltungen wird und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung in Theorie und Praxis des eigenen Fragens eröffnet werden, sind notwendige Voraussetzungen für die Entwicklung der genannten Kompetenzen. Die Biblische Theologie leistet dazu einen Beitrag, indem sie exemplarische Grundtexte der christlichen Tradition bekannt macht, und zwar in einer Weise, die dem Stand der bibelwissenschaftlichen Forschung methodisch und hermeneutisch entspricht. Die Studierenden lernen am Beispiel von Texten der christlichen Heiligen Schrift, dass Traditionen kontextuell angeeignet werden müssen, um Wirklichkeit deuten und Handeln orientieren zu können. Diese Einsicht ist eine Voraussetzung für religionssensibles Handeln und zugleich ein Weg, biblische Texte als Deuteoptionen aufzubereiten. <?page no="35"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 17 3.2 Studierende der Sozialen Arbeit als Zielgruppe Befragt man Studierende der Sozialen Arbeit, warum sie an einer Evangelischen Hochschule studieren, dann zeigt sich, dass ihre Vorstellungen von der Konfessionalität der Hochschule eher die Qualität der Gestaltung des Bildungsprozesses und die Haltung der Lehrenden betreffen als die Themen der Lehrveranstaltungen. 43 Im Laufe des Studiums scheint sich dies insofern zu ändern, als Studierende „theologische Bezüge und Motive sozialen und diakonischen Handelns“ 44 unter Bezug auf biblische Motive wie „Nächstenliebe“ oder auf andere theologisch zentrale Motive wie „soziale Gerechtigkeit“, „Toleranz“ etc. beschreiben können und also zu ihren Wissensbeständen rechnen. Ob sie sich die Motive angeeignet haben oder aneignen werden, ist aus guten Gründen offen. Denn Ziel der Lehre sollte es sein, Studierende zu einer reflektierten Entscheidung auch in Fragen von Selbst, Welt und einem guten Leben zu befähigen, nicht aber im Sinne einer Resultatsdidaktik vorgegebene Inhalte weiterzugeben. 45 Die Erfahrung an der Hochschule zeigt zudem, dass eine Reduktion von Komplexität in aller Regel nicht nur auf Ablehnung stößt und damit unwirksam bleibt, sondern eine Ablehnung der kirchlichen und diakonischen Institutionen bewirkt bzw. eine bereits vorhandene verstärkt. Diese Erfahrung lässt sich anhand von Merkmalen adoleszenter Religiosität präzisieren. Die Studierenden im Alter von 18-30 Jahren sind in einer Lebensphase, die als verlängerte Adoleszenz gilt. 46 Zu den typischen Aufgaben dieser Phase gehört die Exploration der eigenen Identität und der Umgang mit einer gegenüber anderen Lebensphasen erhöhten Multioptionalität. Wenn man diese Phase der Identitätssuche mit den Dimensionen Exploration (Erkundung) und Commitment (Verpflichtung) zu beschreiben versucht, 47 ist eine 43 Zitt hat Studierende der Sozialen Arbeit in Darmstadt befragt, s. Renate Zitt (2006), Berufliche Bildung und Diakonie - Horizonte und Perspektiven, in: Gottfried Adam (u.a.) (Hg.), Unterwegs zu einer Kultur des Helfens, Stuttgart, S. 339-352.340. Spezifisch ist für die Evangelische Hochschule in Darmstadt, dass es am Ort auch eine staatliche Hochschule gibt; dadurch ist es wahrscheinlich, dass die Studierenden eine bewusste Entscheidung für eine Evangelische Hochschule getroffen haben. Das ist nicht in gleichem Maße für Hochschulen vorauszusetzen, an denen diese Wahlmöglichkeit nicht besteht. 44 Zitt, Bildung, S. 342. 45 Zur Kritik an einer Didaktik, die immer schon weiß, was wahr ist, s. unter Bezug auf Zilleßen bei Joachim Kunstmann (2010), Religionspädagogik. Eine Einführung, 2. Aufl. Tübingen (u.a.), S. 46. 46 Vgl. Klaus Hurrelmann (2012), Lebensphase Jugend. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Jugendforschung, 11. Aufl., (Grundlagentexte Soziologie) Weinheim (u.a.), S. 43. Zu den Kriterien der Zuordnung zum Jugendalter s. Hurrelmann, Lebensphase, S. 11-56; zur Diskussion s. Heinz Streib (u.a.) (2011), Jugend und Religion. Bestandsaufnahmen, Analysen und Fallstudien zur Religiosität Jugendlicher, Weinheim (u.a.), S. 17-24. 47 Zur Etablierung und Entwicklung des Modells s. Streib, Jugend, S. 18f. <?page no="36"?> Renate Kirchhoff 18 Dominanz der Erkundung gegenüber der Verpflichtung festzustellen. Für die Religion hat das die Konsequenz, dass etwa im Unterschied zur sozialen Verpflichtung, erwerbstätig zu werden oder sich zur Option einer Partnerschaft zu verhalten, kaum sozialer Druck besteht, sich religiös zu verhalten oder sich zur Religion zu verhalten. 48 Die Mehrheit der Studierenden wird einem religiösen Gesamtentwurf skeptisch gegenüberstehen, jedoch vielfach erwarten, dass die Vertreterinnen und Vertreter kirchlicher Institutionen von ihnen Zustimmung zu einem Gesamtentwurf einfordern. 49 An die Stelle eines Gesamtentwurfs tritt die Verbindung von Sinnelementen aus unterschiedlichen Systemen. Jugendliche deuten Erfahrungen unter Rückgriff auf eine „kulturelle Programmatik“. Das können Elemente der großen Religionen sein, die im gesellschaftlichen Diskurs Deutemöglichkeiten unter anderen darstellen. Wenn Jugendliche sich auf Elemente von Traditionen der großen Religionen beziehen, kann dies bewusst oder unbewusst geschehen; vielfach ist der Bezug auf die Traditionen durch den neuen Kontext und die Kombination mit anderen Deutelementen kreativ und unabhängig von traditionellen Systematiken. Deshalb ist ein diskursiver Religionsbegriff 50 angemessen, wenn es um die Beschreibung der Religiosität von Jugendlichen geht. Legt man einen solchen Religionsbegriff zugrunde, lassen sich vier Typen der Religiosität von Jugendlichen ausmachen, 51 zu denen die Studierenden aufgrund ihres Alters (fast ausnahmslos) gehören: 1.) Ein Teil der Studierenden praktiziert ihre Religiosität im Rahmen traditioneller organisierter Religion der christlichen Kirchen. Insbesondere an Übergängen und in Krisen nehmen sie kirchliche Deuteangebote wahr. Unter den Studierenden der Sozialen Arbeit sind in jedem Jahrgang 2.) auch Studierende vertre- 48 Vgl. Streib, Jugend, S. 19. 49 Religion erfüllt diesen Anspruch empirisch nicht mehr (Streib, Jugend, S. 24); wer ihn für eine Religion erhebt, macht sich vielmehr des Fundamentalismus verdächtig. 50 Ein diskursiver Religionsbegriff - im Unterschied zu substantiellen und funktionalen Beschreibungen von Religion - zielt darauf, den „Anwendungsprozess kulturell vermittelter Deutungsmuster“ begrifflich zu erfassen (Streib, Jugend, S. 14). Religion als diskursiver Prozess verzichtet darauf, Religion substantiell festzulegen, und versteht sie stattdessen als Möglichkeitsraum, der nicht mehr auf konventionelle Sprachmuster festgelegt werden kann. Zu den vier Typen s. Carsten Gennerich in diesem Band, Anmerkung 1. 51 Die folgende Typologie stammt von Streib und Gennerich, vgl. Streib, Jugend, S. 24-31; die Charakteristik der Gruppen s. S. 27. Ich konkretisiere die vier Typen anhand von meinen subjektiven Erfahrungen mit Studierenden der Sozialen Arbeit in Freiburg. - Diese religiöse Typisierung korreliert mit der Anerkenntnis von je spezifischen Werten, vgl. Streib, Jugend, S. 27-31. - Der Anteil an Studierenden, die eine nichtchristliche Religion praktizieren, ist an konfessionellen Hochschulen gering. Es ist auch aus religionspädagogischen Gründen ein Ziel, verstärkt Studierende anderer Religionszugehörigkeit für ein Studium an der EH zu gewinnen, weil die Vielfalt Religiosität sichtbarer macht und die Bereitschaft erhöht, Religiosität als mögliche Ressource zu reflektieren. <?page no="37"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 19 ten, die ihre Religiosität in solchen freikirchlichen Gruppen praktizieren, die von starker Abgrenzung nach außen und Kontrolle nach innen geprägt sind. Ein großer Anteil an Studierenden praktiziert 3.) Religiosität jenseits von etablierten religiösen Organisationen und Gruppen. 52 Sie sind ansprechbar für religiöse Fragen, wenn diese das alltägliche (berufliche und private) Handeln mit überindividueller Sinngebung verbinden. 4.) Die letzte Gruppe lehnt Religion als schädlich oder als irrelevant ab. 53 Ihre Vertreter und Vertreterinnen setzen auf ein naturwissenschaftlich belegbares Weltbild, in dem sich religiöse Fragen nicht stellen; hier begegnet die Überzeugung, dass es Gott und eine andere als die sinnlich zugängliche Wirklichkeit nicht gibt. Eine atheistische oder indifferente Religionsauffassung kann mit positivistischen Zugängen zur Wirklichkeit verbunden sein oder bleibt in einer unentschiedenen, beobachtenden Position gegenüber Wirklichkeitskonstruktionen mit und ohne Gott. Mit dieser Beschreibung der Religiosität von Jugendlichen ist keine Aussage über ihre Haltung gegenüber Theologie im Studium getroffen. Es ist jedoch wahrscheinlich, und die Lehrerfahrung bestätigt dies, dass ihre Bereitschaft, sich mit theologischen Themen zu beschäftigen und sie mit anderen eigenen Wissens- und Erfahrungsbeständen zu verknüpfen, wächst, wenn sie explizit als Möglichkeit, Wirklichkeit zu verstehen, zu beschreiben und zu bewerten, gestaltet sind. 4 Biblische Theologie: Neue Chancen für eine alte Bezugsdisziplin Deutlich geworden ist, dass die Theologie keine allgemein anerkannte Bezugswissenschaft der WSA ist. Damit nicht identisch, aber stellenweise damit verbunden, ist eine Skepsis gegenüber der Wissenschaftlichkeit der Theologie in der WSA. Diese Kritik ließe sich zwar sowohl ausdifferenzieren 54 als auch mit dem Verweis auf die Prolegomena einer christlich- 52 Vgl. Streib, Jugend, S. 82. Zu den Ergebnissen der Bielefelder Online-Befragung s. Streib, Jugend, S. 38-54: In Deutschland sagen 55% der Jugendlichen von sich, dass sie nicht religiös sind; in den neuen Bundesländern sind dies 78%, in den alten 47% der Jugendlichen. Über 50% verstehen sich als weder religiös noch spirituell oder an übernatürlichen Dingen interessiert. Von den Konfessionslosen sagen in den alten Bundesländern 25%, dass sie an übernatürlichen Dingen interessiert sind, 10% in den neuen Bundesländern. Konfessionszugehörigkeit allein sagt nur, dass sie die Institution nicht ablehnen oder sich (noch) nicht von ihr gelöst haben. Weitere Aussagen über Inhalte, Funktionen und individuelle Religiosität lassen sich daraus nicht ableiten. 53 Vgl. Streib, Jugend, S. 102-106.107-110. 54 Die Diskussion um die Wissenschaftlichkeit der Theologie beschäftigt sich vor allem mit solchen Gegenstandsdefinitionen, die den konstruktiven Charakter transzendenter Wirklichkeit nicht hinreichend abbilden sowie mit der Konfessionalität der theologi- <?page no="38"?> Renate Kirchhoff 20 theologischen Dogmatik entkräften. Ertragreicher ist es allerdings, als Theologe bzw. Theologin an einer Hochschule für Soziale Arbeit die Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Theologie als einen potentiellen Bedingungsfaktor der Lehre wie der kollegialen Zusammenarbeit zu berücksichtigen. Dies kann die Biblische Theologie, indem sie speziell die Unterscheidung von Text- und Lesewelt nutzt. Diese Unterscheidung ist nicht nur Voraussetzung eigener Fachlichkeit, sondern mit ihr begegnet die Biblische Theologie der Erwartung bzw. Befürchtung, der Bezug auf biblische Texte realisiere einen Anspruch auf exklusive Deutekompetenz. 55 Eine solche Erwartung hat verschiedene Ursachen; eine davon ist die Tatsache, dass der öffentliche Umgang mit biblischen Texten oft binnenreferentiell konzipiert ist und/ oder den hermeneutischen Prozess vom Text zum Kontext nicht offenlegt. Zu Recht würden Studierende an einer Hochschule einen entsprechenden Anspruch auf Deutehoheit zurückweisen, unabhängig davon, ob sie die Frage nach Selbst, Welt und gutem Leben christlich oder unter Bezug auf andere Traditionen konstruieren. 56 Im Blick auf die Relevanz des Bezugs auf biblische Texte im Studium der Sozialen Arbeit unterscheide ich im Folgenden idealtypisch zwischen einem Bezug auf biblische Texte als Quellen und als Traditionen zur Deutung von Wirklichkeit. 4.1 Biblische Texte als Quellen Biblische Texte haben - wie ausgeführt - ihren Ort in der Rekonstruktion von Formen sozialen Handelns im jüdisch-christlichen Traditionsbereich. Wie andere antike Quellen auch sind sie angemessen nur im Zusammenhang mit dem zu rekonstruierenden sozio-kulturellen Kontext zu verstehen. Diese Kontextualisierung darf den Studierenden nicht erspart werden, wenn nicht vorschnell Komplexität reduziert, die Vorstellung von der Unwissenschaftlichkeit der Theologie und die Ablehnung von Theologie als Dogmatismus gefördert werden soll. Diese Anforderung an den Bezug auf biblische Texte als Quellen richtet sich sowohl an die WSA als auch an die theologischen Disziplinen im Studium der Sozialen Arbeit. schen Disziplinen, vgl. etwa aus philosophischer Perspektive Herbert Schnädelbach (2011), Theologie an der Universität, in: Wilhelm Gräb (u.a.) (Hg.), Universität - Theologie - Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher, Leipzig, S. 15-23.16f. 55 Theologisch ist diese Vorstellung gegeben, wenn die Heiligkeit der Schrift als ihre substantielle Eigenschaft vorgestellt ist. Anders aus hermeneutischer Sicht s. Renate Kirchhoff (2003), Ethik in der Bibel - Bibel in der Ethik: Über die Verwendung biblischer Texte im ethischen Kontext, (ZNT, 11), S. 25-32 und insbesondere Döbert, Theologie. 56 S. Kap. 3.2: Typen 1, 3 und 4. <?page no="39"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 21 4.2 Biblische Texte als Traditionen zur Deutung von Wirklichkeit und zur Orientierung von Handeln Im Zusammenhang eines Rekurses auf biblische Texte als Tradition zur Deutung von Wirklichkeit ermöglicht die Unterscheidung von Text- und Lesewelt dreierlei: a) Studierende nehmen sich als Subjekt des Lesevorgangs wahr, das entscheiden kann und muss, ob und wenn ja in welcher Weise es selbst dem Text Autorität zuschreiben will. In jedem Fall erleben Studierende, dass die Reaktionen auf diese Entscheidungssituation - aus jeweils guten Gründen unterschiedlich ausfallen. Die Lektüre eines biblischen Textes veranschaulicht, was für jeden Verstehensprozess gilt: Verstehen ist immer mit Zustimmung oder Ablehnung der Autorität des Gelesenen (oder Gehörten) verbunden, und die Antwort darauf ist immer auch sozial geprägt. Einsicht in die Kontextualität von Verstehen ist ein Grundelement eines reflektierten Welt- und Menschenbildes. Dass diese Einsicht mittels eines Textes provoziert wird, der für Christinnen und Christen (ggf. auch Jüdinnen und Juden, Muslimas und Muslime) Autorität hat, lehrt Religiosität als Praxis der Zuschreibung von Bedeutung zu verstehen, was insbesondere für die Ausbildung von interreligiöser Kompetenz zentral ist. b) Studierende lesen den biblischen Text als historische religiöse Kommunikation und fragen nach seiner potentiellen Wirkung in der damaligen Zeit. Dabei nehmen sie bei der Interpretation der Texte wahr, dass Religiosität eine Form der Aneignung sozialer und/ oder politischer Wirklichkeit sein kann und nicht ein gesonderter, allein privater Bereich individuellen Lebens ist. Für die Fachlichkeit ist zentral, dass die Studierenden mit grundlegender Relevanz religiöser Lebensdeutung bei Zielgruppen rechnen und eine Haltung des Fragens einnehmen, um Funktion und Bedeutsamkeit der Deutung des Textes oder eines Klienten/ einer Klientin zu erfassen. c) Die Studierenden lernen Formen der Deutung gegenwärtiger Realität mittels des Bezugs auf biblische Texte kennen. Diese Deutevorgänge konfrontieren zugleich mit der Frage nach den eigenen Deutungen der Wirklichkeit und den Traditionen, die die Studierenden selbst oder theoretische Entwürfe der WSA dazu nutzen. Dabei wird deutlich, dass die Alternative nicht mehr Neutralität oder Konfessionalität, 57 sondern reflektierte oder unreflektierte kulturelle Programmatik ist: Autoritär und diskursunfähig sind nicht solche Menschen, die unter Bezug auf Traditionen Wirklichkeit deuten, sondern die die Partikularität ihrer Deutungen ignorieren oder leugnen. 58 Das gilt sowohl für religiöse als auch für nicht religiöse Deutun- 57 S. Kap. 3.2: Typen 3 und 4. 58 S. Kap. 3.2: Typen 2 und 4. <?page no="40"?> Renate Kirchhoff 22 gen. 59 Die Analyse der Rezeption biblischer Texte zur Deutung von jeweils gegenwärtiger Realität kann hier auch Modellfunktion haben, wenn sie zeigt, wie Traditionen zu Deutefolien werden. Dies ermöglicht es den Studierenden zu reflektieren, auf welche kulturellen Programmatiken sie selbst aktuell zurückgreifen und zukünftig zurückgreifen wollen, um ihr berufliches Handeln zu deuten und zu gestalten. 60 Selbstreflexion wie Reflexion des fachlichen Handelns setzt die Kenntnis verschiedener Deutesysteme voraus; es ist die Aufgabe der WSA, Vergleichen und Entscheiden - etwa im Bereich von Ethik - zu ermöglichen. Ihre Aufgabe ist es nicht, selbst Normen zu vertreten, aber normenkritisch die Praxis zu reflektieren und Kompetenzen zu vermitteln, die berufliche Praxis normenbasiert zu gestalten. 61 Voraussetzung für einen entsprechenden Kompetenzerwerb ist die Einsicht, dass jedes Handeln, das auf ein gelingenderes Leben zielt, notwendig auf Vorstellungen von Selbst, Welt und einem guten Leben basiert. Biblische Texte sind (jüdisch-)christliche Traditionen, die nicht nur historisch durchgehend relevant für die Interpretation und Gestaltung sozialen Handelns waren; sie sind in einer Gesellschaft, in der christliche Sozialisation und Bildung rückläufig ist, besonders gut geeignet, christliche Deutung von Wirklichkeit wahrzunehmen und zu praktizieren. In der Unterscheidung zwischen Text- und Lesewelt lässt sich religiöse Kommunikation zunächst aus der Distanz wahrnehmen („So kommunizierten bzw. kommunizieren Menschen mittels religiöser [und zwar speziell jüdisch-christlicher] Deutesysteme über Wirklichkeit“), um dann die Möglichkeit zu eröffnen, sie für die Deutung heutiger Realität zu nutzen („So kann man/ ich heutige Wirklichkeit religiös [und zwar speziell christlich] deuten“). Dieser Einsatz der Texte bleibt im Modus des Angebots 62 und knüpft damit sowohl an die Situation an, in der sich speziell Studierende befinden (vgl. 3.2), als auch an die Optionalität religiöser Deutung von Wirklichkeit in einer pluralen Gesellschaft. Diejenigen, die Wirklichkeit positivistisch konstruieren, erhalten Anstöße zur Veränderung. 63 59 So ist ja gerade für die konstruktivistischen Diskurse in der Sozialen Arbeit die Frage nach den individuellen und sozialen Bedingungen menschlicher Deutung zentral. Zu dieser Fragestellung s. Björn Kraus (2013), Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines Erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit. Weinheim. - Eine Übersicht über konstruktivistische Perspektiven in Sozialer Arbeit s. bei Heiko Kleve (2011), Vom Erweitern der Möglichkeiten, in: Bernhard Pörksen (Hg.), Schlüsselwerke des Konstruktivismus, Wiesbaden, S. 506-519. 60 Zur Auseinandersetzung mit eigener Praxis der Konstruktion von Wirklichkeit im Kontext des Studiums der Sozialen Arbeit s. Zitt, Bildung, S. 350. 61 Kraus, Wissenschaft, S. 29. 62 Die Möglichkeit zu wählen ist eine notwendige Voraussetzung für eine Aneignung, die diskursfähig bleibt. Eine hinreichende Voraussetzung darf sie nicht werden! Vgl. dazu Kunstmann, Religionspädagogik, S. 46. 63 S. Kap. 3.2. <?page no="41"?> Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit 23 Der von der Biblischen Theologie gestaltete Bezug auf den biblischen Text greift Herausforderungen auf, die spezifisch sind für die Angewandte Theologie an einer Hochschule für Soziale Arbeit. Sie leistet einen disziplinspezifischen Beitrag zur Qualifikation von Studierenden der Sozialen Arbeit und zur Verständigung über Grundlagen und Ziele fachlichen Handelns von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. 64 Auswahlbibliographie Döbert, Marcus (2009): Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma. (Religionskulturen, 3) Stuttgart. Ebner, Martin (u.a.) (Hg.) (2011): Wie biblisch ist die Theologie? (JBTh, 25) Neukirchen-Vluyn. Engelke, Ernst (2009): Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen. 3. Aufl. Freiburg i. Br. Götzelmann, Arnd (2007): Zum kirchlichen Bildungs- und Diakonieauftrag. Wider manch fehlende Einsicht der evangelischen Kirche in die Bedeutung ihrer Fachhochschulen. In: Ders., Menschwerdung des Menschen. Ausbildung für kirchliche Berufe in kirchlicher Verantwortung. FS f. Dieter Wittmann. Freiburg i. Br., S. 56-84. Heimbach-Steins, Marianne (u.a.) (Hg.) (2012): Bibelhermeneutik und christliche Sozialethik. Stuttgart. Kraus, Björn (2012): Was ist und soll eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit? Antworten und Fragen, in: Gahleitner, Silke Birgitta (u.a.) (Hg.): Über Soziale Arbeit und über Soziale Arbeit hinaus. Ein Blick auf zwei Jahrzehnte Wissenschaftsentwicklung, Forschung und Promotionsförderung. Lage, S. 19-39. Rektorenkonferenz kirchlicher Fachhochschulen (Hg.) (2008): Entdeckungen. Theologie und Ethik in Studium und Praxis der Sozialen Arbeit. Leverkusen. Zitt, Renate (2006): Berufliche Bildung und Diakonie - Horizonte und Perspektiven. In: Adam, Gottfried (u.a.) (Hg.): Unterwegs zu einer Kultur des Helfens. Stuttgart, S. 339-352. 64 Für die Entwicklung einer professionellen Identität ist es konstruktiv, die motivationalen Wurzeln etwa der großen Akteure und Akteurinnen des Hilfehandelns wie der Entwicklung der Sozialen Arbeit als Beruf zu benennen, die diese unter Bezug auf biblische Traditionen explizit artikulierten. Denn die Ausübung der beruflichen Rolle „unter Einbeziehung der eigenen Persönlichkeitsmerkmale und auf der Basis eines reflektierten Welt- und Menschenbildes“ (s. Bartosch, Qualifikationsrahmen, S. 16) wird über die Wahrnehmung von Modellen gefördert. <?page no="43"?> Philipp A. Enger „Versammle das Volk, damit sie lernen und hören“ (Dtn 31,12) - Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik Abstract: Die moderne Subjekt- und Erfahrungsorientierung in der Religionspädagogik und die postmoderne Vielfalt der Interpretationszugänge in der Bibeldidaktik stellen Funktion und Beitrag der Biblischen Theologie im praxisbezogenen Studiengang „Gemeindepädagogik“ immer wieder in Frage. Diese selbstkritische Fragestellung wird am konkreten Beispiel der Pentateuchkritik durchgespielt. Dazu werden die Motive zum und Erwartungen der Studierenden an den gemeindepädagogischen Studiengang erhoben sowie ihre Interessen hinsichtlich der Biblischen Theologie. Danach wird versucht, die Biblische Theologie in die komplexe Fachtheorie und sich verändernde Berufszielsetzung der Gemeindepädagogik einzupassen. 1 Das didaktische Dilemma eines Alttestamentlers im Fach „Biblische Theologie“ eines gemeindepädagogischen Studiengangs Es ist immer sinnvoll, ein Buch von vorn anzufangend zu lesen - auch den Tenach, das Alte Testament. Schöpfung und Erzelterngeschichten legen nicht nur literarisch und theologisch den Grund alttestamentlicher Theologie und Anthropologie sowie des altisraelitischen und jüdischen Selbstverständnisses, sie sind auch ein beliebtes Thema gemeindlicher Bildungsangebote vom Kindheitsbis zum Seniorenalter. So legt es sich didaktisch nahe, die hochschulische Begegnung mit dem Alten Testament im Rahmen eines gemeindepädagogischen Studiums mit der Genesis zu beginnen. Die Textgrundlage dieser Erstbegegnung ist bekanntlich diachron vielschichtig und dadurch mehrdeutig; gleichzeitig entfaltet der synchrone Erzählgang eine stringente und komplexe Theologie, deren Durchdringung ein ganzes Studium füllen könnte. Damit eröffnet sich ein didaktisches Dilemma für den Alttestamentler im gemeindepädagogischen Hochschulseminar: Stellt er den Studierenden das historisch-kritische Modell der Pentateuch-Entstehung vor oder übergeht er diese zeitraubende Vermittlungsaufgabe, um sich der literarischen Struktur, der kanonischen Intertextualität und dem theologischen System zu widmen? Eine kurze Skizzierung des Für und Widers der didaktischen Argumente zur Frage „Pentateuch-Kritik im Gemeindepädagogikstudium? “ illustriert das Dilemma: <?page no="44"?> Philipp A. Enger 26 Einerseits macht die Vorstellung der Grundzüge der Pentateuchkritik die Studierenden mit wissenschaftlichen Modellen und kritischen Argumentationsweisen vertraut. Andererseits stellt sich die Frage, welches Modell vorgestellt werden soll: Soll es das klassische Vier-Quellen- Modell sein, das in der religionspädagogischen Unterrichtsliteratur immer noch präsent, aber in der alttestamentlichen Wissenschaft längst widerlegt ist, oder das Münsteraner Modell, 1 weil es dem klassischen Modell am nächsten kommt und am übersichtlichsten ist, oder das Modell, das man persönlich für am überzeugendsten hält, oder verschiedene Modelle, 2 um die historisch-kritische Arbeitsweise anschaulich werden zu lassen und die eigenständige Urteilsfähigkeit der Studierenden zu fördern? Erschwerend kommt hinzu, dass die aktuellen Modelle im Vergleich zum klassischen Modell alle recht komplex sind und eher abschreckend auf „Einsteiger und Einsteigerinnen“ in die exegetische Wissenschaft wirken. Einerseits werden die Studierenden mit dem historischen Gewordensein biblischer Texte konfrontiert; sie entwickeln ein Verständnis für die Kontexteinbindung von Texten und bekommen den Prozess theologischer Konstruktion veranschaulicht. Andererseits desavouiert die Unübersichtlichkeit der Forschungslage die wissenschaftliche Rekonstruktionsfähigkeit: Der nicht-priesterliche Schöpfungsbericht (Gen 2,4b-25) wird je nach Modell wahlweise zu einem Produkt der sogenannten salomonischen Aufklärungszeit (10. Jh. v.Chr., klassisches Vier-Quellen- Modell), der assyrischen Epoche (8. Jh. v.Chr., Münsteraner Modell) oder auch der nachexilischen Zeit (5. Jh. v.Chr., so Eckart Otto 3 ). Einerseits müssen sich die Studierenden mit dem biblischen Nebeneinander von verschiedenen theologischen Wahrheiten auseinander setzen und die Komplementarität wie Reziprozität von Glauben und Wissen reflektieren. Andererseits kann das Nebeneinander der zwei Schöpfungsberichte (und weiterer Schöpfungsvorstellungen in den Psalmen, bei Hiob und bei Deutero-Jesaja) auch auf synchroner Ebene wahrgenommen und diskutiert werden; und jenseits der Schöpfungstexte halten sich die inhaltlichen oder theologischen Differenzen zwischen den Pentateuchquellen für nicht-exegetische Augen in Grenzen. 1 Entwickelt von Peter Weimar und Erich Zenger; vgl. Erich Zenger (2008), Einleitung in das Alte Testament, 7. Aufl., (Kohlhammer Studienbücher Theologie, 1/ 1) Stuttgart, S. 100-106. 2 Z.B. die übersichtliche Auswahl a.a.O., S. 106-23. 3 Eckart Otto (1996), Die Paradieserzählung Genesis 2-3. Eine nachpriesterliche Lehrerzählung in ihrem religionsgeschichtlichen Kontext, in: Anja A. Diesel u.a. (Hg.), „Jedes Ding hat seine Zeit …“. Studien zur israelitischen Weisheit, (FS D. Michel; BZAW, 241) Berlin/ New York, S. 167-192. <?page no="45"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 27 Einerseits schult die historisch-kritische Rekonstruktion der Textgeschichte die Wahrnehmung literarischer Konstruktionen und Differenzen. Andererseits sind verhältnismäßig viele Voraussetzungen (weite Bibelkenntnis, Geschichte Israels, Deuteronomistisches Geschichtswerk u.a.) notwendig, um die Modelle der Pentateuch-Kritik nachvollziehen zu können; und die literarische Wahrnehmungsfähigkeit kann auf der synchronen Ebene viel effizienter geübt werden. Einerseits wird die Quellenscheidung bei den Schöpfungsberichten in der religionspädagogischen Unterrichtsliteratur (z.B. Schulbücher) regelmäßig thematisiert; darauf müssen Gemeindepädagoginnen und -pädagogen vorbereitet sein. Andererseits ist sie sonst kaum nutzbar in der gemeindepädagogischen Alltagspraxis. Einerseits fördert die Kenntnis der Diskussionen und Argumentationen der Pentateuch-Kritik die Dialogfähigkeit der Studierenden mit der rationalistischen, säkularen Umwelt. Andererseits verlangt die adäquate Vermittlung viel Aufwand und fördert demgegenüber recht wenig Ertrag für die eigenständige theologische Denk- und Sprachfähigkeit zutage: Für die pädagogische Vermittlung sind je nach Anzahl der vorzustellenden Modelle, Rückgriff auf Selbststudium und Einsatz von interaktiven Methoden ein bis vier Seminareinheiten à 90 Minuten zu veranschlagen. Dieses Für und Wider ließe sich weiter fortführen; aber das Dilemma ist deutlich geworden. Wenn Kompetenz „eine Disposition [ist], die Personen befähigt, bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen“ 4 , so stellt sich die Frage, welche Anforderungssituation sich einem zukünftigen Gemeindepädagogen oder einer zukünftigen Gemeindepädagogin stellen sollte, in der er oder sie die Kenntnis eines Modells zur Pentateuch-Entstehung zielführend nutzen könnte. Demgegenüber zeigen die Argumente für eine Einführung in die Pentateuch-Kritik, dass durch sie als der bedeutsamsten entstehungsgeschichtlichen Frage der alttestamentlichen Literatur grundlegende akademische Kompetenzen vermittelt werden können, die nicht nur den wissenschaftlichen Selbstwert von Gemeindepädagogen und -pädagoginnen steigern, sondern auch für das komplexe Denken und die theologische Sprach- und Diskursfähigkeit förderlich sind. Um die Frage nach der Biblischen Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik zu vertiefen, erhebe ich zuerst, wer Gemeindepädagogik studiert und welche Interessen er oder sie an die Biblische Theologie heranträgt, um dann 4 Eckhard Klieme u.a. (2007), Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, (Bildungsforschung, 1) Bonn, S. 72. <?page no="46"?> Philipp A. Enger 28 als ein der Wissenschaftsherkunft nach Außenstehender einen interessierten Blick auf die Gemeindepädagogik zu werfen. 2 Die Perspektiven der Studierenden der Gemeindepädagogik 2.1 Motive zum und Erwartungen an den Studiengang Wer studiert Gemeindepädagogik warum und wozu? Die evangelische Religionspädagogin Nicole Piroth befragte im Herbst 2011 an den acht deutschen Hochschulen, die einen grundständigen Bachelor-Studiengang evangelische Religionsbzw. Gemeindepädagogik anbieten, 221 Studierende im ersten Fachsemester zu ihren Studienmotivationen, persönlichen Hintergründen und Berufsvorstellungen. 5 Daraus ergab sich - um das Ergebnis vorwegzunehmen -, dass das Bild bunter wird; die Herkünfte wie die Studienziele werden vielfältiger, ebenso treten die Vorerfahrungen und Erwartungen auseinander. „Prinzipiell sind heute ein weites Motivspektrum und höchst unterschiedliche persönliche Erfahrungen für die Wahl eines religionspädagogischen Studiengangs ausschlaggebend: Die Wahl des Studienfaches kann Ergebnis eines langjährigen Hineinwachsens in evangelische Kinder- und Jugendarbeit und ehrenamtliche Mitarbeit in Gemeinde oder christlichem Verein sein, manche lernen erst in Zivildienst oder FSJ Berufsfelder und Studiengänge kennen. Aber auch biographische Umbruchsituationen, der Wunsch nach beruflicher Umorientierung oder ein Studienfachwechsel können ausschlaggebend sein. Daneben gibt es unter den Studierenden auch einen nicht unerheblichen Anteil derer, die ursprünglich ,Soziale Arbeit‘ studieren wollten, sich aber aufgrund der großen Bewerbungszahlen in diesen Studiengängen schlechte Chancen auf einen Studienplatz ausrechneten.“ 6 Ähnliche Divergenzen zeigen sich auch bei der religiösen Prägung der Studierenden. Auch wenn 203 der 221 Studierenden in N. Piroths Befragung Mitglied der evangelischen Kirche waren, 7 so begegnet innerhalb dieser formellen Einheitlichkeit ein breites Spektrum an religiösen Sozialisationen, Lebenspraxen und Überzeugungen. So nehmen meiner Wahrnehmung nach die freireligiösen, charismatischen und evangelikalen Prägungen unter den Studierenden zu - ebenso die distanzierten und unerfahrenen religiösen Prägungen. Demgegenüber scheinen mir die volkskirchlichen und liberalen Prägungen zurückzugehen. Dies deutet sich in N. Piroths Untersuchung an, 5 Vgl. Nicole Piroth (2012), „Ich kann später bei der Kirche arbeiten, muss es aber nicht“. Studienmotivationen und Berufvorstellungen von Studierenden der Religions- und Gemeindepädagogik, in: Praxis Gemeindepädagogik 65 (3), S. 65-70. 6 A.a.O., S. 66. 7 Vgl. a.a.O., S. 67. <?page no="47"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 29 wenn sie die sehr unterschiedlichen Erwartungen an Studium und Lehre beschreibt: „Die einen befürchten, in den Veranstaltungen auf ‚stark konservative und dogmatische’ Lehrende zu treffen, dass ein Studium ‚zu christlich’ sein könnte, und hoffen, dass das Studium ‚nicht zu sehr an die Institution Kirche gebunden ist’. […] Andere hingegen befürchten eine ‚zu große Liberalität bzgl. der Theologie’, eine ‚zu kritische Theologie’, die Zweifel am eigenen Glauben hervorruft.“ 8 Daraus folgt m.E. ein breites Spektrum an Vorerfahrungen mit biblischen Texten. Verfügen die einen über ein breites bibelkundliches Wissen, kennen die anderen nicht einmal die grundlegenden Geschichten des Alten und Neuen Testaments; stehen die einen fest in der Überzeugung, dass ihnen in der Bibel Gottes wahrhaftiges Wort entgegenspricht, halten die anderen solche biblizistischen Grundhaltungen für vormodern und überholt und sind manchmal eingeübt in symbolische und metaphorische Deutungen biblischer Texte. Bei aller Unterschiedlichkeit der Hintergründe lassen sich nach N. Piroths Befragung sechs Hauptmotivationen zum Studium der evangelischen Religionsbzw. Gemeindepädagogik identifizieren: 1. der Wunsch, später mit Menschen zu arbeiten, 2. die eigenen ehrenamtlichen Erfahrungen, 3. das Streben nach einem sinnvollen Beruf, 4. das Interesse an sozialen Fragen, 5. die guten Erfahrungen in Gemeinde bzw. Verein und 6. das Interesse an theologischen Fragen. 9 Das in dieser Rangfolge zurücktretende Interesse an theologischen Fragen deckt sich mit meiner Beobachtung, dass sich unter den Studierenden der evangelischen Religionsbzw. Gemeindepädagogik ein nicht unerheblicher Anteil von Studienwechslern und -wechslerinnen aus der evangelischen Theologie befinden sowie von Studierenden, die sich bewusst gegen ein Theologie-Studium entschieden haben. In den Bewerbungsgesprächen an der Evangelischen Hochschule Berlin weisen die Bewerberinnen und Bewerber bei der Frage nach ihrer Studienmotivation immer wieder darauf hin, „etwas Praktisches machen“ und „schon im Studium praktische Erfahrungen sammeln“ zu wollen. Umgekehrt spiegelt sich darin ein gewisses Desinteresse an abstraktem Wissen und theologischer Theorie wider, das auch die Erträge der historisch-kritischen Forschung betrifft. Hinsichtlich dem Interesse an der Biblischen Theologie nimmt N. Piroth einen großen 8 A.a.O., S. 68. Entsprechend konstatiert sie auch ein „weite[s] Spektrum des Interesses für einzelne Themen“ unter der Studierendenschaft ein und derselben Hochschule (a.a.O., S. 69). 9 Vgl. die Grafik a.a.O., S. 66. Alle sechs Antworten erreichten einen Mittelwert von 4,0 oder mehr auf einer Auswahlskala von 5 (= spielt große Rolle) bis 1 (= spielt keine Rolle). <?page no="48"?> Philipp A. Enger 30 Unterschied wahr: „Zeigen in Kassel (100%) und Moritzburg (96,3%) fast alle Studierenden an der ‚Arbeit mit biblischen Texten’ im Studium ‚großes bzw. sehr großes Interesse’, so in Bochum nur ein Viertel (25%) der Studierenden.“ 10 Die Biblische Theologie stößt bei den Studierenden auf unterschiedlich großes Interesse - nicht nur zwischen den Hochschulstandorten, sondern auch innerhalb. Dabei mögen die Anliegen an die Biblische Theologie eher der praktischen Anwendbarkeit dienen als der historisch-literarischen Erkenntnis. Weit disparater jedoch erscheinen die Vorkenntnisse biblischer Texte und die Erwartungen an die Zielsetzung biblischer Theologie. Folglich treten neben die Vermittlung der Erkenntnisse der exegetischen Wissenschaften zunehmend die Präsentation grundlegender Bibelkunde und eine Apologetik historisch-kritischer Theologie. Darüber hinaus stellen die verschiedenen Studienziele, die durch die Bachelor-Studiengänge möglich werden, die Biblische Theologie innerhalb des gemeindepädagogischen Studiums vor neue Herausforderungen: Berufseinstieg bei Kirche oder bei einem anderen Arbeitgeber, 11 Zweitstudium, konsekutiver Master und weiterbildender Master, Studium eines zweiten Schulfachs u.a. Es bedarf einer anschlussfähigen Biblischen Theologie, deren vermittelte Kompetenzen auch außerhalb der gemeindlichen Bildungsarbeit einsetzbar sind. Neben die Bibel als Offenbarungsschrift und als historische Quelle tritt somit die Bibel als Kulturgut (nicht nur als Literatur), das in den Dialog mit der säkularen Welt gestellt werden will. 12 2.2 Interessen und Prioritäten bezüglich des Fachs „Biblische Theologie“ Um die Perspektive der Studierenden auf die Biblische Theologie zu klären, wurden am Ende des Sommersemesters 2012 die Studierenden der gemeindepädagogischen Studiengänge an der Evangelischen Hochschule Berlin 13 10 A.a.O., S. 69. 11 N. Piroths Befragung zeigt, dass die berufliche Lebensplanung der Studienanfängerinnen und -anfänger nicht mehr eindeutig an die evangelische Kirche gebunden ist. So will nur gut die Hälfte der befragten Studierenden später sicher als Gemeindepädagogin oder Diakon arbeiten (vgl. ebd.). 12 Vgl. dazu ausführlich Gerd Theißen (2003), Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh, S. 28-62.175-201. 13 Zu diesem Zeitpunkt studierten zwei der befragten Jahrgänge noch im auslaufenden Diplom-Studiengang Ev. Religionspädagogik (insgesamt 40 Studierende) und zwei Jahrgänge schon im neuen Bachelor-Studiengang Ev. Religionspädagogik (insgesamt 67 Studierende). Im Diplom-Studiengang mussten sich die Studierenden zwischen den Studienschwerpunkten Gemeindepädagogik und Religionsunterricht entscheiden, und es flossen nur die Antworten der Studierenden mit dem ersten Studienschwerpunkt in die Befragung ein. Im Bachelor-Studiengang sind beide Studienschwerpunkte inte- <?page no="49"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 31 befragt. Von 107 Studierenden nahmen 77 an der Befragung teil (72,0%). Zusätzlich wurden am Anfang des Wintersemesters 2012/ 13 die Studienanfängerinnen und -anfänger des Bachelor-Studiengangs Evangelische Religionspädagogik befragt; hier beteiligten sich 32 von 33 Studierenden (97,0%). Die Studierenden messen unter den Fachdisziplinen der gemeindepädagogischen Studiengänge der Biblischen Theologie die größte Bedeutung innerhalb ihres Studiums zu. Innerhalb einer Prioritäten-Rangfolge ergaben sich folgende Mittelwerte: Biblische Theologie 3,23 Systematische Theologie 4,37 Religionspädagogische Didaktik 4,40 Religionspädagogische Methodik 4,61 Soziologie und Psychologie 4,75 Praktische Theologie (insbes. Gemeindeaufbau, Kirchenkunde, Gottesdienstlehre) 5,08 Kirchengeschichte 5,85 Ethik und Philosophie 6,16 Religionswissenschaft 6,44 Danach sollten die Studierenden einschätzen, wie viel ihrer Studienarbeitszeit sie in das Studium der Biblischen Theologie investieren. Es ist festzuhalten dass es sich um eine subjektive Prozentzahl handelt, die mehr den „gefühlten“ Arbeitsaufwand (und auch den vermuteten ideologischen Wert) wiedergibt als die real gemessene Arbeitszeit. Dennoch ist die Zahl von einem Drittel der Studienarbeitszeit überraschend hoch, im Durchschnitt 33,76%. 14 Auch bei der Studienanfängern und -anfängerinnen steht die Biblische Theologie (3,52) an der Spitze der Bedeutsamkeit. Bei ihnen haben aber „Ethik und Philosophie“ (4,61 - Rang 4) eine höhere Priorität als „Systematische Theologie“ (5,39 - Rang 7) sowie „Praktische Theologie“ (4,48 - Rang 2) als „Religionspädagogische Didaktik“ (5,13 - Rang 6). Sie erwarten am Anfang ihres Studiums einen noch höheren Anteil an Studienarbeitszeit, die sie der Biblischen Theologie widmen werden, nämlich durchschnittlich 43,29%. Unter den Teilbereichen der Biblischen Theologie setzen die Studierenden eine Priorität auf neutestamentliche und alttestamentliche Theologie sowie auf Bibelkunde und Hermeneutik. 15 Dahinter treten die Religionsgeschichte griert, so dass die Antworten aller befragten Studierenden in die Befragung aufgenommen wurden. 14 Fünf Studierende machten hier keine Angaben. 15 Dasselbe Bild zeigt sich bei den Erwartungen der Studienanfängerinnen und -anfänger. <?page no="50"?> Philipp A. Enger 32 und die Einleitungswissenschaft, die zumindest in der alttestamentlichen Forschung derzeit die Hauptschwerpunkte bilden, deutlich zurück. Neutestamentliche Theologie 2,59 Alttestamentliche Theologie 3,03 Bibelkunde 4,08 Biblische Hermeneutik 4,70 Religionsgeschichte Israels und des Urchristentums 4,77 Einleitungswissenschaft 5,70 Altorientalische und antike Religionsgeschichte 6,30 Realgeschichte Israels 6,68 Realgeschichte des frühen Judentums und des frühen römischen Kaiserreichs 7,16 Innerhalb einer Auswahl von zehn angebotenen Themen der Biblischen Theologie konnten die Studierenden eine Prioritätensetzung vornehmen, indem sie eine begrenzte Zahl von 20 Punkten zur Gewichtung der Bedeutsamkeit verteilen konnten; je mehr Punkte sie einem Bereich verliehen, desto wichtiger erschien er ihnen. Folgende Mittelwerte ergaben sich: Gottesbild und Christologie 3,00 Historischer Jesus 2,39 Politische und gesellschaftsbezogene Theologie 2,16 Soteriologie (insbes. Toraverständnis und Rechtfertigungslehre) 2,08 Gestaltung von Gemeinde und Gemeinschaft 2,00 Ethik 1,93 Urchristlicher Glaube und Gemeindeleben 1,87 Kult und Gottesdienst 1,63 Theologie und religiöse Praxis des Judentums 1,58 Altorientalische und antike Religiosität 1,27 Es fällt zum einen auf, dass dem historischen Jesus eine weitaus höhere Bedeutung eingeräumt wird als der Rechtfertigungslehre. Die Vorbildfunktion der Jesus-Gestalt übt möglicherweise eine größere religiöse Attraktivität aus als die abstrakte paulinische Erlösungslehre; vielleicht macht sich hier auch eine thematische Gewichtung zugunsten der Evangelien gegenüber den Brieftexten in Religionsunterricht und Jugendarbeit bemerkbar. Zum anderen ist auffällig, dass der politischen und gesellschaftsbezogenen Theologie eine höhere Priorität zugeordnet wird als der Ethik. Hier mögen sich größere sozialals individualethische Anliegen niederschlagen. Darüber hinaus liegt ein gewisses Warnsignal in dem geringen Interesse an der Theologie und religiösen Praxis des Judentums. Die hohe Sensibilität für den jüdisch- <?page no="51"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 33 christlichen Dialog, der die kirchliche Theologie und Praxis im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts prägte, scheint spürbar nachzulassen. Die Studienanfängerinnen und -anfänger setzen die Prioritäten ein wenig anders. Auch bei ihnen steht „Gottesbild und Christologie“ (3,00) eindeutig an der Spitze, allerdings gefolgt von „Ethik“ (2,81) und „Gestaltung von Gemeinde und Gemeinschaft“ (2,72). Erst dann rangieren „politische und gesellschaftsbezogenen Theologie“ (2,31) und „historischer Jesus“ (2,03) auf den Plätzen vier und fünf. „Soteriologie (insbes. Toraverständnis und Rechtfertigungslehre)“ erhält bei den Erstsemestern eine noch geringere Bedeutung (1,56 - Rang 7), was möglicherweise an den erfahrungsgemäß fremden Begriffen „Soteriologie“ und „Rechtfertigungslehre“ liegen mag. Der „Theologie und religiösen Praxis des Judentums“ wird von ihnen mit im Mittel 1,28 Punkten eine noch geringere Bedeutung eingeräumt (allerdings ebenfalls Rang 9). Die Prioritätensetzung bei den einzelnen Textbereichen des Alten und Neuen Testaments überrascht wenig. Auch hier konnten die Studierenden jeweils eine begrenzte Anzahl von Punkten, kumulierend entsprechend der Bedeutung, auf die vorgegebenen Textbereiche verteilen. Im Alten Testament fällt lediglich die nachrangige Bedeutungszuschreibung an die Prophetie auf, was möglicherweise an ihrer Aufteilung in der angebotenen Auswahl liegt: 16 Exodus 3,00 Psalmen 2,55 Urgeschichte 2,45 Sinaigesetzgebung 2,45 Erzelterngeschichte 2,38 Frühzeit des Königtums (1Sam 1 bis 1Kön 12: Saul, David, Salomo) 1,97 Landnahmeerzählung 1,79 Weisheitsliteratur (Hi, Koh, Spr, Hhld) 1,71 Spätvorexilische und exilische Propheten (Jer, Ez, Deutero-Jes) 1,70 Vorexilische Propheten (Hos, Am, Mi, Proto-Jes) 1,66 Mittlere und späte Königszeit (1Kön 13 bis 2Kön 25: Reichsteilung bis Untergang Judas) 1,55 Geschichte und Propheten der Perserzeit (Hag, Sach, Trito-Jes, Jon, Jo, Mal, Dan) 1,52 Richtererzählungen 1,40 Bei der Priorisierung der Textbereiche des Neuen Testaments hätte man vielleicht aufgrund von Lehrerfahrungen in der gemeindlichen Jugendarbeit 16 Bei den Studienanfängern und -anfängerinnen rücken die Psalmen deutlich auf Rang 1 (3,41); ebenso rückt die Weisheitsliteratur weit nach vorn auf Rang 4 (2,22). Dagegen rutschen die Propheten auf die letzten Ränge. <?page no="52"?> Philipp A. Enger 34 und im Religionsunterricht der Sekundarstufe I ein größeres Interesse an der Johannesoffenbarung erwartet: 17 Synoptische Evangelien 3,04 Johannesevangelium 2,44 Paulusbriefe 2,42 Apostelgeschichte 2,01 Johannesoffenbarung 1,64 Deuteropaulinische Briefe (Eph, Kol, 1/ 2Tim, Tit) 1,23 Katholische Briefe (1/ 2Petr, 1-3Joh, Jud, Jak, Hebr) 1,19 Die führende Priorität, die der Biblischen Theologie von Studierenden der gemeindepädagogischen Studiengänge an der Ev. Hochschule Berlin eingeräumt wird, begründet nur zum Teil die viele (subjektiv wahrgenommen) investierte Studienarbeitszeit. Die biblischen Themen beschränken sich nicht nur auf die Seminare und Module der Biblischen Theologie, sondern tauchen auch in den anderen theologischen Fachdisziplinen sowie als Inhalte der gemeindepädagogischen Praxis wieder auf. Darüber hinaus vermittelt möglicherweise die hohe Gewichtung der Wissenskompetenzen in den biblischen Seminaren und Modulen den Eindruck, viel vorbereiten und lernen zu müssen. Verbunden mit der erstrangigen Bedeutsamkeit der neu- und alttestamentlichen Theologie unter den Teilbereichen der Biblischen Theologie, legt sich zudem die Vermutung nahe, dass die Biblische Theologie in bestimmten Themenfeldern (z.B. Christologie, Gotteslehre, Auferstehung, Rechtfertigung) Funktionen der Systematischen Theologie mit übernimmt, auch wenn sie die systematisch-theologischen Fragestellungen vielleicht „nur“ als didaktischen Zugang zu den biblisch-theologischen Erträgen nutzt. Hinsichtlich der Themensetzung der Biblischen Theologie im gemeindepädagogischen Studium entsteht der Eindruck, dass die Studierenden die praktische Nutzbarkeit und die Konzentration aufs Wesentliche zum Kriterium ihrer Prioritätensetzung machen. Bibelkunde, alt- und neutestamentliche Theologie und biblische Hermeneutik bestimmen die Themen gemeindepädagogischer Unterrichtseinheiten; Religions- und Realgeschichte sowie Einleitungsfragen bleiben Hintergrundwissen. Folglich stehen bei den biblischen Textbereichen die „Schlager“ der gemeindepädagogischen Praxis ganz oben in den „Charts“ der studentischen Prioritätenliste. 17 Dies spiegelt sich noch bei den Studienanfängerinnen und -anfängern wider, bei denen das Johannesevangelium auf Rang 1 des Interesses (2,75 Punkte) liegt und die Johannesoffenbarung auf Rang 4 (2,13 Punkte). <?page no="53"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 35 3 Die Perspektive des fachlich Außenstehenden auf die Gemeindepädagogik Das dargestellte Dilemma, das sich auf den ersten Blick grob auf die Frage reduzieren lässt „Wie viel theoretische Fachwissenschaft ist für eine praktische Wissenschaft zur professionellen Anwendung notwendig und sinnvoll? “, erhält im Rahmen der Gemeindepädagogik eine weitere Dimension, die sich daraus ergibt, dass für einen Außenstehenden „Gemeindepädagogik“ ein in alle Richtungen offener Begriff ist. Diese unbedarfte Außenperspektive findet ihre binnenperspektivische Erklärung in Karl Foitziks Beschreibung der „Gemeindepädagogik“ als „Container-Begriff“: „‚Gemeindepädagogik’ ist ein Begriff, der mit unterschiedlichem Interesse und divergierenden inhaltlichen Konnotationen verwendet wird, ein ‚Container- Begriff’, in den jede und jeder die theologischen und pädagogischen Vorstellungen einbringt, die ihr bzw. ihm wichtig sind. […] Von Anfang an wird der Begriff von Arbeitsgruppen im Kontext der Suche nach neuen Berufsprofilen anders interpretiert als von Kirchenleitungen, von Gemeindepädagogen und -pädagoginnen anders als von Theologinnen und Theologen.“ 18 Neben der theoretischen Unklarheit, dass „bis heute wesentliche wissenschaftstheoretische und enzyklopädische Grundfragen dieser Disziplin strittig und wenig geklärt“ 19 sind, stellen also unterschiedliche reale Interessengruppen unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Anforderungen an die Gemeindepädagogik und damit implizit auch an eine Biblische Theologie innerhalb der Gemeindepädagogik. In den relativ offenen Systemen „Hochschule“ und „Evangelische Kirche“ wirkt ein „Container- Begriff“ möglicherweise angemessen, aber er führt zu diffusen und disparaten Erwartungen und Ansprüchen an den Inhalt des Containers. 3.1 Berufstheorie und Multidisziplinarität Neben dem frühen programmatischen Anspruch, dass die Gemeindepädagogik ein umfassendes gemeindliches und kirchliches Handlungskonzept darstellen solle, das „ein neues Verständnis von Gemeinde und Pfarramt und ihres Auftrags in unserer Gesellschaft“ 20 einläute, ist sie vorrangig und 18 Karl Foitzik (2002), Gemeindepädagogik - ein „Container-Begriff“, in: ders. (Hg.), Gemeindepädagogik. Prämissen und Perspektiven, Darmstadt, S. 11-46, hier S. 11. 19 Peter Bubmann; Götz Doyé; Hildrun Kessler; Dirk Oesselmann; Nicole Piroth; Martin Steinhäuser (2012), Einleitung, in: dies. (Hg.), Gemeindepädagogik, Berlin/ Boston, S. 1-29, hier S. 6; des Weiteren vgl. deren anschließenden aktuellen Überblick über die wissenschaftstheoretischen Spannungsfelder, konzeptionellen Divergenzen und aktuellen Herausforderungen. 20 Dieter Aschenbrenner; Gottfried Buttler (1970), Die Kirche braucht andere Mitarbeiter. Vom Universaldilettanten zum Spezialisten. Analysen, Thesen und Materialien zum <?page no="54"?> Philipp A. Enger 36 systemfunktional eine Berufstheorie. Der kirchenreformerische Impetus führte zu Beginn der 70er Jahre zur Etablierung eines (vermeintlich) neuen Berufsbildes zwischen alten, speziell zwischen Pfarrerin und Diakon; daneben waren zwei pädagogische Berufsbilder in der Evangelischen Kirche bereits vorhanden, die Religionslehrerin und der Katechet. 21 Dementsprechend verfügt die Gemeindepädagogik über verschiedene Überschneidungsbereiche mit anderen Berufstheorien, die sich in den verschiedenen Ausbildungsgängen und vorgegebenen Berufszielen widerspiegeln. Die berufstheoretische Einordnung spannt sich von der Reduktion auf eine handlungsfeldorientierte Unterdisziplin der Praktischen Theologie innerhalb von Theologen- und Diakoninnen-Ausbildung bis zur Hochschätzung als ordinierter Dienst in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands. Neben den Hochschulausbildungen findet in Ostdeutschland an verschiedenen Orten (Brandenburg, Moritzburg, Ludwigslust, Kloster Drübeck) eine (teilweise) zweistufige gemeindepädagogische Ausbildung auf Fachschulniveau statt. Die gemeindepädagogischen Studiengänge an Hochschulen in evangelischer Trägerschaft bzw. mit kirchlicher Teilfinanzierung firmieren mehrheitlich unter dem Titel „Evangelische Religionspädagogik“; sie kombinieren oft die Ausbildung mit Anteilen der Sozialen Arbeit oder der Diakonik. 22 Das Lehrpersonal besteht aufgrund der Berufungsvoraussetzungen und der mangelnden Promotionschancen bzw. -wünsche unter Gemeindepädagoginnen und -pädagogen (bisher mit einer Ausnahme) ausschließlich aus Vertreterinnen und Vertretern anderer Professionen - vorrangig Theologinnen und Theologen. Die berufstheoretische Offenheit mündet in eine „multidisziplinäre Herangehensweise […]. Vertreter/ -innen der gemeindepädagogischen Forschung und Lehre bezeichnen Gemeindepädagogik deshalb als ‚Verbund- und Integrationswissenschaft’.“ 23 Damit gerät allerdings die Biblische Theologie innerhalb der Gemeindepädagogik in grundlegende Unklarheiten hinsichtlich Auftrag und Ziel. In einem multidisziplinären Studiengang, der oft noch mit anderen Studienanteilen kombiniert wird, wird ihr Studienanteil konsequenterweise geringer. Daraus resultieren aber Anfragen an Qualität und Quantität der biblisch-theologischen Kompetenzen bei den Studierenden auf Basis des Vergleichs mit Theologinnen oder staatlich ausgebildeten Religi- Berufsbild und zur Ausbildung des kirchlichen Mitarbeiters im Gemeindedienst, Stuttgart, S. 50. 21 Vgl. Hildrun Kessler (2012), Gemeindepädagogische Berufstätigkeit zwischen Sozialarbeit und Pfarramt, in: Peter Bubmann u.a. (Hg.), Gemeindepädagogik, Berlin/ Boston, S. 265-96. 22 Vgl. die Übersicht über die aktuell in Deutschland angebotenen Studiengänge bei Piroth, Ich kann später bei der Kirche arbeiten, S. 67. 23 Götz Doyé, Gemeindepädagogik - fachwissenschaftliche und berufstheoretische Perspektiven, in: ders.; Hildrun Kessler (Hg.), Konfessionslos und religiös, Leipzig 2002, S. 93-114, hier S. 101. <?page no="55"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 37 onslehrern, gerade wenn Gemeindepädagoginnen und -pädagogen später ordiniert oder staatlich anerkannt an der Schule arbeiten werden. Umgekehrt müsste je nach angestrebtem Berufsziel eine zielgerichtete Kompetenzenbestimmung der Biblischen Theologie variieren; eine Berufstätigkeit in der Sozialen Arbeit verlangt nach anderen biblisch-theologischen Kompetenzen (z.B. ein Schwerpunkt bei der Sozialethik) als eine im Religionsunterricht (z.B. eine Ausrichtung an den Lehrplänen des Bundeslandes) oder im ordinierten Dienst der öffentlichen Wortverkündigung (z.B. ein Schwerpunkt in paulinischer Theologie). Trotz dem Vorbild des Apostels Paulus fällt es gemeinhin schwer, jedem jedes und allen alles zu sein (1Kor 9,19-22). Darüber hinaus führt das besondere, aber ebenfalls ungeklärte Verhältnis zur Evangelischen Religionspädagogik für die „gemeindepädagogische“ Biblischer Theologie dazu, dass ihr wenig eigenständige Konzepte und Entwürfe einer gemeindepädagogischen Bibeldidaktik 24 zur Verfügung stehen. Kann die Breite der bibeldidaktischen Forschung und Theorie in der schulischen Religionspädagogik umstandslos auf die Gemeindepädagogik übertragen werden, oder ist eine Adaption notwendig, oder bedarf es eigener Konzeptionen? Die strukturell sehr unterschiedlichen Lernorte und die weiteren Handlungsfelder über die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen hinaus legen wohl letzteres nahe. 3.2 Sektoraler und dimensionaler Grundansatz Die Gemeindepädagogik wird in der Regel über ihre Handlungsfelder wahrgenommen und entsprechend konzipiert. 25 „Zu den gemeindepädagogischen Handlungsfeldern zählen neben klassischen pädagogisch-theologischen Feldern kirchlich-gemeindlicher Arbeit wie Christenlehre, Kinderkirche und Kindergottesdienst, Konfirmanden- und Jugendarbeit auch Arbeit mit Familien, Erwachsenen und Seniorinnen/ Senioren, Offene Arbeit, Kulturarbeit und andere Formen gemeinde- und gemeinwesenbezogener Bildungsarbeit.“ 26 24 Möglicherweise füllt diese Lücke Mirjam Zimmermann; Ruben Zimmermann (Hg.) (2013): Kompendium Bibeldidaktik, Tübingen. 25 Vgl. die einschlägigen Kompendien und Lehrbücher: Gottfried Adam; Rainer Lachmann (Hg.) (1987), Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen; Gottfried Adam; Rainer Lachmann (Hg.) (2008), Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen; Christian Grethlein (1994), Gemeindepädagogik, Berlin/ New York; Klaus Wegenast; Godwin Lämmermann (1994), Gemeindepädagogik. Kirchliche Bildungsarbeit als Herausforderung, (PTh, 18) Stuttgart u.a. 26 Matthias Spenn; Michael Haspel; Hildrun Kessler; Dorothee Land (2008), Lernwelten und Bildungsorte der Gemeindepädagogik. Bedingungen, Bezüge und Perspektiven, Münster, S. 10. <?page no="56"?> Philipp A. Enger 38 Wie die gemeindliche Praxis und ihre Angebote, so haben sich die gemeindepädagogischen Handlungsfelder in den letzten Jahrzehnten ausdifferenziert und vermehrt. Waren es im alten „Gemeindepädagogischen Kompendium“ noch sieben, so sind es im neuen sechszehn. 27 Die gemeindepädagogische Praxis wird vielfältiger und vielförmiger. Diese Tendenz der Ausweitung gemeindepädagogischen Handelns wird von dem konzeptionellen Anspruch unterstützt, die gemeindepädagogische Praxis nicht „versäult“, d.h. in starr abgegrenzten Arbeitsgebieten, wahrzunehmen, sondern „dimensional“, d.h. in allem gemeindlichen und kirchlichen Handeln die pädagogische Komponente sichtbar zu machen. 28 Die quantitative und perspektivische Horizonterweiterung gemeindepädagogischer Berufspraxis stellt auch die auf sie vorbereitende Biblische Theologie vor weitere Herausforderungen. Sie muss nicht nur ihre inhaltlichen Themen 29 überdenken, sondern auch überlegen, wie sie selber „multidimensional“ 30 biblische Texte präsentieren kann, und überblicken, wie die gemeindepädagogische Dimension 31 in ihr selbst zum Tragen kommt. Dennoch schlägt „das spöttische Berufsbild einer/ s GemeindepädagogIn als ‚eierlegende Wollmilchsau’“ 32 als überfordernder Anspruch auf die gemeindepädagogische Biblische Theologie durch, denn sie muss die vielen verschiedenen Bedürfnisse und Interessen der avisierten Nutzer und Nutzerinnen gemeindpädagogischer Angebote in den Blick nehmen. Beispielsweise empfinden die Studierenden der Gemeindepädagogik besonderen Respekt für die Erwachsenenbildung und die Arbeit mit Seniorinnen und Senioren. Sie fühlen sich oft diesen praktischen Aufgaben nicht gewachsen, da sie zumeist aus der gemeindlichen Jugendarbeit kommen und dort freiwillig tätig waren. Sie fürchten das unbekannte Handlungsfeld und das vermeintlich verkehrte Altersgefälle, die prognostiziert höheren inhaltlichen Ansprüche und die erwartbar existentielleren Fragestellungen. Die Biblische Theologie könnte hier unterstützende Angebote machen, indem sie ihre Inhalte eher thematisch als historisch- 27 Vgl. Adam; Lachmann, Gemeindepädagogisches Kompendium, S. 7f; Adam; Lachmann, Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, S. 5f. 28 Vgl. Gottfried Adam; Rainer Lachmann, Was ist Gemeindepädagogik? , in: dies., Gemeindepädagogisches Kompendium, S. 13-54, hier S. 21ff. 29 Z.B. die urchristliche Gottesdienstpraxis, um gemeindepädagogischer Gottesdienstgestaltung Orientierung zu geben, oder die Zeit- und Ewigkeitsvorstellung bei Qohelet, die oft in der Trauerarbeit eingesetzt wird. 30 Z.B. die Psalmen als Gottesdienstliteratur, als pädagogisches Medium und als seelsorgliches Brevier. 31 Hier begegnet der Wunsch nach einer eigenständigen gemeindepädagogischen Bibeldidaktik wieder. 32 Martin Steinhäuser (2002), Gemeindliche Arbeit mit Kindern begleiten. Empirische Studien der Aufgaben und Strukturen gemeindepädagogischer Fachaufsicht, Münster u.a., S. 172. <?page no="57"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 39 literarisch aufbereitet oder indem sie vermehrt Eigenrecherche und selbstorganisiertes Lernen einübt. 3.3 Veränderungen der gemeindepädagogischen Berufswelt Anders als im Kompositum „Religionspädagogik“ scheint in „Gemeindepädagogik“ das erste Glied nicht den vermutlichen Inhalt, sondern den vermeintlichen Ort oder das vermeintliche Objekt dieser Spezialpädagogik zu beschreiben. Ist es schon theologisch schwierig zu bestimmen, was eine christliche Gemeinde ist, 33 so wird es gemeindepädagogisch noch schwieriger zu erklären, welche Funktion und welchen Inhalt das erste Glied des fachbezeichnenden Kompositums hat: „Das eigentliche Problem der Gemeindepädagogik scheint mir im Begriff von Gemeinde zu liegen. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, wie Gemeinde als soziale Realität zu beschreiben ist, und welche Lernleistungen in ihr als Kommunikation und Institution erkennbar sind, sondern um die zentrale Rückfrage nach ihrem Selbstverständnis.“ 34 Das Studium der Gemeindepädagogik bereitet auf eine ungemein bunte Vielfalt von Gemeinden und Gemeindekonzeptionen vor - Milieus und Ortstraditionen, regionale Kulturen und kommunale Situationen, prägende Persönlichkeiten und einflussreiche Gemeindegruppen u.v.a. färben die Gemeinden unterschiedlich. Die Institution „Gemeinde“ ist m.E. variantenreicher und disparater als z.B. die Institution „Schule“. Die Verständnisse und Funktionen der Bibel in dieser Vielfalt von Gemeinden sind ähnlich bunt. Aktuell verdichtet sich die Unklarheit des Begriffs „Gemeinde“ dadurch, dass die realen Gemeinden wie ihre theologischen und soziologischen Konzeptionen starken Veränderungen unterworfen sind, ausgelöst durch Mitgliederverlust, demographischen Wandel und Ressourcenknappheit. Drei Tendenzen dieser Veränderungen von Gemeinde sollen hier aufgegriffen werden, um sie auf ihre möglichen Auswirkungen auf eine Biblische Theologie im Studiengang Gemeindepädagogik zu befragen. 33 Die immer währende Frage wurde aktuell wieder problematisiert durch Uta Pohl- Patalong (2003), Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentation und ein alternatives Modell, Göttingen. 34 Roland Degen (2000), Zur Funktion von Gemeindepädagogik angesichts gegenwärtiger Herausforderungen - am Beispiel des Umgangs mit Menschen ohne kirchliche Tradition, in: ders., im leben glauben lernen. Beiträge zur Gemeinde- und Religionspädagogik, Münster, S. 152-66, hier S. 165. <?page no="58"?> Philipp A. Enger 40 3.3.1 Regionalisierung der Arbeitsstrukturen und Qualifizierung von Freiwilligen Gemeindepädagogische Aufgaben und Angebote werden zunehmend auf kreiskirchlicher oder regionaler Ebene konzipiert und durchgeführt. 35 Dadurch verschieben sich die Aufgaben der Gemeindepädagoginnen und -pädagogen von der gemeindepädagogischen Basisarbeit vor Ort in den klassischen Handlungsfeldern hin zu Management, Koordination, Supervision und Qualifizierung von meist freiwilligen oder geringfügig beschäftigten Mitarbeitenden. Biblische Texte gewinnen bei diesen Aufgaben neue Funktionen. Sie werden verstärkt als Leitbilder, oder besser: paradigmatische Erzählungen, für die gemeindepädagogische Arbeit eingesetzt, und sie werden vermehrt zu Inhalten von erwachsenenpädagogischen Fortbildungen. Es wird noch wichtiger sich über biblische Texte zu verständigen, als sie zu vermitteln - ein altes Anliegen der Gemeindepädagogik. 36 Die Biblische Theologie kann dafür elementarisiertes, exegetisches Grundwissen zur Verfügung stellen, das wissenschaftliche Informiertheit mit kritischer Wahrnehmungsschärfe verbindet. Die Anforderungssituationen werden vermehrt in der qualifizierenden Erwachsenenpädagogik liegen. Die gemeindepädagogische Biblische Theologie muss dafür vermehrt Vieldeutigkeiten vorstellen und erarbeiten, damit gemeindepädagogische „Regionalmanager und -supervisorinnen“ Dialoge initiieren, Gedankenimpulse setzen und Themenvariationen anbieten. 3.3.2 Nachlassendes religiöses Wissen Unabhängig von Krisenmeldungen und Dementis über Traditionsabbrüche und Entkirchlichung 37 lässt sich ein Nachlassen religiösen Wissens über Geschichten, Vorstellungen und Praktiken diagnostizieren - nicht nur bei den Konfessionslosen, auch bei den evangelischen Kirchenmitgliedern bis hinein in die Kerngemeinde. Dieses wachsende Wissensdefizit betrifft sowohl die gemeindepädagogische Praxis als auch die gemeindepädagogischen Studiengänge. Nutzer und Nutzerinnen gemeindepädagogischer Angebote bringen immer weniger und diffuseres Wissen über christliche Traditionen und Vorstellungen mit; biblische Texte sind immer seltener bekannt, biblische Bilder und Figuren oft nur noch über die anspielende Verwendung in Filmen oder Werbung. In geringfügigerem, aber ähnlichem Maße gilt das auch für die Studierenden der Gemeindepädagogik. Die Ko- 35 Vgl. das Thema der Zeitschrift „Praxis Gemeindepädagogik“, Heft 3 des 65. Jahrgangs (2012): „Regional arbeiten“. 36 Foitzik, „Container-Begriff“, S. 37f. 37 Vgl. Rüdiger Schloz (2006), Kontinuität und Krise - stabile Strukturen und gravierende Einschnitte nach 30 Jahren, in: Wolfgang Huber; Johannes Friedrich; Peter Steinacker (2006): Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, Gütersloh, S. 51-88. <?page no="59"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 41 ordinaten für das Verhältnis von Vermittlung und Verständigung verschieben sich. Das gesellschaftlich und gemeindlich weniger vorhandene biblische Wissen bedeutet für die Biblische Theologie in gemeindepädagogischen Studiengängen, dass die Kenntnis selbst von biblischen Kerntexten (Exodus aus Ägypten oder Passion Jesu) nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Bibelkunde wird wieder nötig - nicht als abrufbares Wissen, sondern als erstmaliges Kennenlernen. Um mit der Sprache vertraut zu werden, müssen Bibeltexte gemeinsam gelesen werden, Worte und Wendungen erklärt und eigene Ausdrucksfähigkeit geübt werden. Biblische Theologie wird im dreifachen Sinn zur Sprachschule; sie macht vertraut mit der biblischen Sprache der Texte, mit der theologischen Sprache für biblische Exegese und mit der religiösen Sprache der persönlichen Interpretation. Selbst für langjährig hoch aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer kirchlicher Jugendarbeit sind die biblischen Worte und Geschichten oft „Traditionsmonolithe“, die in ihrer persönlichen religiösen Landschaft bezugslos herumstehen. In der Biblischen Theologie wird es dadurch schwieriger, die Studierenden einen eigenen Weg vom Text zur aktuellen Bedeutung finden zu lassen; sie benötigen Interpretationsangebote und -hilfen, um die Monolithe in die religiöse Umgebung einzubinden. 3.3.3 Kirche bei Gelegenheit Soziologische Untersuchungen und Kommentare diagnostizieren, dass das Christentum von den meisten gegenwärtigen Kirchenmitgliedern als „Lebenshintergrund“ 38 wahrgenommen wird, auf den nicht stetig, sondern nur bedarfsweise zurückgegriffen wird. Die lebensbegleitende Funktion der Kirche ist folglich keine kontinuierliche, sondern eine sporadische. „Mit der Wortfolge ‚Kirche bei Gelegenheit’ sollen Konstellationen zu denken gegeben werden, wo sich kirchliches Handeln mit bestimmten thematischen oder biographischen Anlässen treffen kann.“ 39 Dieser Impuls gilt auch der gemeindepädagogischen Praxis. 40 Es gilt die gemeindepädagogische Dimension in anderen praktisch-theologischen Handlungsfeldern sichtbar zu machen, gemeindepädagogische Angebote von regelmäßigen Formaten auf projektartige oder anlassbezogene umzustellen und didaktische Konzepte stärker lebensthematisch als curricular zu denken. Die Biblische Theologie 38 Detlef Pollack (2012), Säkularisierung auf dem Vormarsch, in: Zeitzeichen 12 (9) 2012, S. 14-16, hier S. 15. 39 Michael Nüchtern (1991), Kirche bei Gelegenheit. Kasualien - Akademiearbeit - Erwachsenenbildung, Stuttgart u.a. 1991, S. 10. 40 Vgl. Peter Bubmann (2012), Die Zeit der Gemeinde. Kirchliche Bildungsorte zwischen Kirche auf Dauer und Kirche bei Gelegenheit, in: ders. u.a., Gemeindepädagogik, S. 85-105. <?page no="60"?> Philipp A. Enger 42 innerhalb eines gemeindepädagogischen Studiengangs könnte hierbei unterstützend wirken. Sie könnte Hermeneutik und wissenschaftliche Exegese stärker verbinden, damit historische und theologische Informationen nicht für sich als reines Lernwissen stehen bleiben. Ein kanonischer Zugang (canonical approach) könnte darüber hinaus innerbiblische Diskurse und Wirkungsgeschichten sichtbar machen, sodass Perikopen weniger als Elemente eines summarischen Curriculums wirken denn als Hologramme eines kanonischen Themas. Die Darstellung religions- und kulturgeschichtlicher Kontexte würde zusätzlich die Herausforderungen der Lebenswelt und die lebenspraktischen Intentionen der biblischen Texte und Themen veranschaulichen, die wiederum Anknüpfungspunkte für wirklichkeitsnahe Aktualisierungen bilden könnten. 4 Didaktische Perspektiven Martin Rothgangels Feststellung bezüglich der (allgemeinen) Religionspädagogik gilt ebenso für die (seines Erachtens ihr untergeordnete) Gemeindepädagogik, „dass sie nicht einfach eine ‚Anwendungswissenschaft’ ist, die theologische Erkenntnisse anderer Teildisziplinen der Theologie methodisch geschickt an bestimmte Adressaten vermittelt“ 41 . Umgekehrt heißt das aber auch, dass diese theologische Teildisziplin, „welche die Menschen in ihrem jeweiligen Lebensalter und ihrer jeweiligen Lebenswelt differenziert wahrnimmt und davon ausgehend theologische Aneignungsprozesse bedenkt“ 42 , eine biblische Bezugswissenschaft benötigt, die ihr ihre Erkenntnisse funktional und kontextbezogen aufbereitet sowie die beruflichen Anforderungssituationen der Absolventinnen und Absolventen in den Blick nimmt. Diese bezugswissenschaftliche Ausrichtung kann sich nicht beschränken auf die Reduktion von Stoffmenge und Komplexität gegenüber dem Studium der reinen Wissenschaft. Hochschuldidaktische Elementarisierung bedeutet strukturelle Adaption der Inhalte, bezogen auf die zu erwerbenden Kompetenzen. Die Studierenden der Gemeindepädagogik räumen der Biblischen Theologie hohe bzw. höchste Priorität in ihrem Studium ein. Sie investieren einen Großteil ihrer Studienarbeitszeit in das Fach - einerseits wegen der zugeschrieben Wichtigkeit, andererseits aber auch, weil das Fach ihnen (subjektiv) viel abverlangt. Innerhalb der Biblischen Theologie rangieren die 41 Martin Rothgangel (2012), Was ist Religionspädagogik? Eine wissenschaftstheoretische Orientierung, in: ders.; Gottfried Adam; Rainer Lachmann (Hg.), Religionspädagogisches Kompendium, 7., grundlegend neu bearbeitete und ergänzte Auflage, Göttingen, S. 17-34, hier S. 31 (zu seinem und seiner Mitherausgeber Verständnis des Verhältnisses von allgemeiner Religionspädagogik und Gemeindepädagogik vgl. a.a.O., S. 19). 42 A.a.O., S. 31f. <?page no="61"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 43 vermeintlich anwendungsbezogeneren Teilbereiche (Bibelkunde, Hermeneutik, Theologie) vor dem Hintergrundwissen der literatur- und religionsgeschichtlichen Teilbereiche. Unter den Themen der Biblischen Theologie interessieren die Studierenden nach dem theologischen Fundament von Gotteslehre und Christologie vor allem das evangelische Vorbild des historischen Jesus sowie die Aktualität der politischen und gesellschaftsbezogenen Theologie - vor Soteriologie und Ethik. Diese Studierenden der Gemeindepädagogik sind nach Herkunft und Vorwissen sehr verschieden. Befand sich der Studiengang „Gemeindepädagogik“ schon häufig in Kombination mit einem anderen Studienfach, so differenzieren sich durch die Bachelor/ Master-Studiengänge die Studienziele weiter aus. Das „Woher? “ und „Wohin? “ der Studierenden fächert sich immer weiter auf. Zudem vermehren sich die Handlungsfelder der Gemeindepädagogik. Und schließlich korrespondiert dem multidisziplinären Ansatz der Gemeindepädagogik auf der Seite der Biblischen Fachwissenschaft die Einbeziehung neuer wissenschaftlicher Perspektiven wie literaturwissenschaftliche, sozial- und kulturgeschichtliche. Die gemeindepädagogische Biblische Theologie steht vor der dreifachen Herausforderung, dass die Studierenden, die gemeindepädagogischen Anforderungssituationen und die exegetischen Erkenntnisse vielfältiger werden. Welche hochschuldidaktischen Perspektiven können diesen Herausforderungen gerecht werden? Der Vielfalt der Voraussetzungen steht in der Biblischen Theologie eine Vielfalt der Interpretationen gegenüber. Auch auf der Ebene der historischen Entstehungssituation postuliert die kritische Exegese keine objektive Wahrheit. Texte sind polyvalente Phänomene - schon in ihrem Entstehungsmoment. Biblische Texte sind als konzeptionell kanonische Texte von vornherein multidimensional, d.h. für verschiedene Funktionen erstellt: gleichzeitig pädagogisch, liturgisch, paränetisch, poimenisch u.a. Diese historische Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten sollte eine Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik anschaulich und nachvollziehbar machen. Darüber hinaus muss sie die literarische Analyse von biblischen Texten einüben. Die synchronen Textstrukturen zu erkennen, ist die Voraussetzung für jede Hermeneutik - auch für die historisch-kritische. Dann kann die Biblische Theologie auch andere wissenschaftlich fundierte, d.h. kritisch reflektierende und intersubjektiv begründende Hermeneutiken vorstellen. Der gegenwärtigen Lebensweltorientierung der Gemeindepädagogik entspricht in der Biblischen Theologie die historische Lebensweltorientierung der kommunikativen Entstehungssituation. Die religions-, sozial- und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen der biblischen Texte binden sie in Lebenswirklichkeiten ein, die fremd und analog zugleich sind. Diese Ambivalenz von Fremdheit und Wiedererkennbarkeit beleben und konzentrieren die interpretatorische Aktualisierung. Die Biblische Theologie lehrt his- <?page no="62"?> Philipp A. Enger 44 torisch reale Menschen und ihre Lebenswelten differenziert über ihre überlieferten sprachlichen Ausdruckformen wahrzunehmen. Die fehlende Vertrautheit mit biblischen Texten macht die Bibelkunde wieder wichtiger. Es geht dabei nicht um Bulimie-Lernen, sondern um Kennen-Lernen. Dazu gehört auch das Üben von textgemäßem Nacherzählen und Paraphrasieren von Geschichten. Die Diffusität medial vermittelter Kenntnisse der biblischen Geschichten kann nur durch deren reale Kenntnis aufgehoben werden. Texte wollen zum einen vorurteilsfrei und zum anderen selber beobachtet werden, genauso wie andere Wissenschaftsobjekte, z.B. Menschen oder naturwissenschaftliche Vorgänge. Die zunehmende Fraktionierung von Bildungsprozessen in Projekte und Bausteine erhöht die Notwendigkeit, biblische Perikopen in intertextuelle und thematische Bezüge sowie in literarische Großstrukturen einbinden zu können. Dadurch gewinnen, historisch-kritisch betrachtet, redaktionsgeschichtliche Erträge bis hin zum canonical approach an Relevanz. Zusammenhänge herstellen zu können, produziert Orientierung und gedankliche Bewegungsfreiheit. Wenn die Gemeindepädagogik die Verständigung über Inhalte gegenüber deren Vermittlung bevorzugt, so muss sich dieser Anspruch auch im Studium widerspiegeln. Die Biblische Theologie hat daran in zweierlei Hinsicht ihren Anteil. Sie fördert die theologische Sprachfähigkeit der Studierenden, wenn sie ihre Themen interaktiv und dialogisch aufbereitet. Und sie erarbeitet im hochschulischen Verständigungsprozess trotz aller Rezeptionsästhetik Kriterien für die Grenzen der Interpretation. Angesichts von medialen Adaptionen biblischer Elemente einerseits und fundamentalistischen Auslegungen andererseits bleiben die Kompetenzen kritischen Denkens und rationalen Argumentierens relevant. Diese hochschuldidaktischen Überlegungen führen m.E. zu dem Schluss, dass es didaktisch begründet oder gar notwendig ist, die historisch-kritische Modellierung der Pentateuchentstehung im Studium der Gemeindepädagogik zu thematisieren. Der moderne Mensch fragt, wie es wirklich gewesen ist. Erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann er sich für andere Wirklichkeitswahrnehmungen öffnen. Allerdings kann die historisch-kritische Rekonstruktion nicht mehr einziges Interpretationsparadigma bleiben; sie kann aber zusätzlich Impulsgeberin für andere sein. Die Pentateuchkritik exemplifiziert am wichtigsten Textbereich des Alten Testaments folgende exegetische Grunderkenntnisse: Sie veranschaulicht den Prozess hermeneutischer Aneignung von Geschichten zur identitätsstiftenden Rekonstruktion von Geschichte. Dadurch wird erkennbar, dass Religion ein steter Weiterentwicklungsprozess ist, der Traditionen unter aktuellen Anforderung reformiert. <?page no="63"?> Die Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Gemeindepädagogik 45 Sie beschreibt die ersten 500 Jahre der Interpretationsgeschichte der Erzählungen über Erzeltern, Exodus und Offenbarung von Gottes Weisung. Dabei fächert sich die Interpretationsvielfalt schon in der biblischen Zeit auf und erlaubt die produktive Auseinandersetzung. Sie etabliert das biblische Paradigma des immer wieder neu und anders Erzählens. Damit konfiguriert sie Kirche von Anfang an als kreative Erzählgemeinschaft. Auswahlbibliographie Adam, Gottfried; Lachmann, Rainer (Hg.) (2008): Neues Gemeindepädagogisches Kompendium. Göttingen. Bubmann, Peter; Doyé, Götz; Kessler, Hildrun; Oesselmann; Piroth, Nicole; Steinhäuser, Martin (Hg.) (2012): Gemeindepädagogik. Berlin/ Boston. Ritter, Werner; Rothgangel, Martin (Hg.) (1998): Religionspädagogik und Theologie. Enzyklopädische Aspekte; FS W. Sturm. Stuttgart u.a. Theißen, Gerd (2003): Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik. Gütersloh. Zimmermann, Mirjam; Zimmermann, Ruben (Hg.) (2013): Kompendium Bibeldidaktik. Tübingen. <?page no="65"?> Jane S. Webster Teaching the Bible in a Secular Context - What is Urgent and Relevant for Students? Abstract: In debates over the place of biblical studies in secular colleges and universities, students’ learning goals are often ignored. By exploring various approaches to the study of the Bible and identifying what might or might not seem urgent and relevant to students, this essay urges instructors to align their curriculum to meet their student objectives of developing job skills and making personal meaning. In this way, instructors first honor student needs, and only secondarily promote the benefits of biblical studies. 1 Introduction Although academic institutions find their historical roots in theological and biblical studies, many contemporary administrators in American secular colleges and universities now challenge the historical priority of biblical studies in the general curriculum. While it would be political suicide to drop courses altogether, administrators sideline biblical studies passively. They might actively promote professional programs (such as nursing, teaching, engineering, etc.) through marketing, funding, and technology, and ignore the “soft degrees” in the humanities. They permit professional programs to grow so large that students have few electives in the humanities. Some institutions have dropped biblical studies from the list of required courses; some refuse to replace departing faculty members. They respond to pressure from governments who promote science, technology, and mathematics programs to create a more competitive economy. As a result, courses in biblical studies are in decline and at risk of being deemed “obsolete”. This is true not only for biblical studies, of course, but also for many programs in the humanities including history, literature, art, philosophy, classics, and foreign languages. 1 Rather than take on the institutional rationale for the attrition of humanities, this paper will focus on what students possibly gain — or do not gain — from biblical studies courses in a secular context. By secular context, 1 For a discussion of the place of Biblical Studies in American colleges, see Jane S. Webster and Glenn S. Holland (eds.) (2012), Teaching the Bible in the Liberal Arts Classroom, Sheffield. See also http: / / www.humanitiescommission.org/ _pdf/ hss_report.pdf (01.09.2013). <?page no="66"?> Jane S. Webster 48 I refer to institutions of higher education that do not promote a theological agenda; in the United States, these institutions would include state universities, liberal arts colleges, 2 community and technical colleges, and some public high schools. I will also focus on the place of biblical studies in undergraduate liberal arts institutions where students must take some courses regardless of their “major” field of study; these “general education” or “core curriculum” courses assure that students acquire such basic skills as critical thinking, communication, physical fitness, computation, research, global awareness, community service, and computer proficiency. What do students gain in a biblical studies course? Before we launch into this exploration, let me establish a number of premises. First, students are more likely to learn, if they believe what they are learning is personally important to them. In other words, they will struggle to understand and remember those things which to them seem most urgent and most relevant in the real world. Second, although students might learn in response to extrinsic motivators such as praise, grades, access to graduate school, and awards, they will likely not remember the content long term if they view it as neither urgent nor relevant. Third, when instructors identify urgent and relevant learning goals of their students, they can align their curriculum to maximize learning. They will also understand both how to frame and how to promote programs in biblical studies and in all humanities in their institutions. For teaching scholars in biblical studies, this is both an urgent and relevant task in the secular context. So how do we determine what is urgent and relevant to young people? For college students today, the most urgent and relevant learning goals center on getting and keeping a job in their chosen field. In the aftermath of the financial crisis in 2008, many students struggle with rising tuition, costs of loans, and family demands; they get less financial support from endowments, scholarships, and government grants. They are taking more and more student debt, upwards of $26,000 depending on the institution; nearly 40% of householders under 35 still have outstanding student loans. 3 Students also face staggering unemployment rates (around 8% nationally 4 ), so they will have more difficulty paying off their loans when or even if they 2 In the United States of America, the term “university” usually refers to an institution that offers doctorates, emphasizes research, has larger classes often taught by graduate students, and a higher ratio of faculty to students. In contrast, “liberal arts colleges” offer mainly undergraduate degrees (a four-year program leads to a Bachelors of Science or Art) often in a residential setting; they promote a more general interdisciplinary education emphasizing “good citizenship” and global awareness. Classes are usually smaller and are taught by full-time faculty rather than teaching assistants. 3 Drew DeSilver (2013): In time for graduation season, a look at student debt, http: / / www.pewresearch.org/ fact-tank/ 2013/ 05/ 13/ in-time-for-graduation-seasona-look-at-student-debt/ (01.09.2013). 4 http: / / data.bls.gov/ timeseries/ LNS14000000 (23.09.2013). <?page no="67"?> Teaching the Bible in a Secular Context 49 graduate. They hear the contemporary debates: Is a college degree really worth it? As a result, fewer students choose to go to college; more drop out because of financial concerns. Those who continue with their studies often take on additional outside employment: 71% of the 19.7 million American college undergraduates worked in 2011; more than half worked at least 20 hours a week; 20% worked at least 35 hours a week year-round. 5 As they take on more and more employment, they delay graduation and generate more debt; nationally, more than 60% of bachelor’s graduates take longer than four years, with close to 30% taking longer than six years. 6 Low income students are especially at risk. 7 Under the shadow of unrelenting and staggering debt, students are motivated to learn those things that will most likely help them to get and keep a job in a meaningful and sustainable career. In my experience, whenever I say things in my classrooms such as “This will help you get/ keep a job”, students grow very quiet and acutely attentive; I have touched the very reason they are there. In light of this urgency, students view their education pragmatically: how will this information or skill help me in my career? Eschewing an education to become “informed citizens”, students seek professional degrees where they learn content and skills directly related to their career field; 8 they thus avoid “soft courses” in the humanities where the content and skills seem “less useful” or “not applied in the real world”. They will engage a humanities course, however, if useful skills are included, such as writing or critical thinking. They see these generic skills as both urgent and relevant. With far less urgency, college students seek to understand themselves and where they fit into the world; they see their college education as an opportunity — a rite of passage — to transition from adolescent to adult. In Big Questions, Worthy Dreams: Mentoring Emerging Adults in Their Search for Meaning, Purpose, and Faith, Sharon Daloz Parks describes the important psychosocial and intellectual development tasks of emerging adults. She claims that young people seek to make meaning of experiences, beliefs, and values, but also to reflect on, test, and transform them (Parks refers to this as “faith development”) 9 ; young people seek to understand where they belong; they seek a sense of purpose. She urges academic advisors and instructors to create both opportunities and supportive environments in which young 5 http: / / www.census.gov/ prod/ 2013pubs/ acsbr11-14.pdf (23.09.2013). 6 http: / / www.completecollege.org (01.09.2013); http: / / www.completecollege.org/ docs/ Three%20Policies%20to%20Reduce%20Time %20to%20Degree%20-%20Nate%20Johnson.pdf (01.09.2013); 7 http: / / money.cnn.com/ 2011/ 11/ 21/ news/ economy/ income_college/ index.htm (01.09.2013). 8 http: / / www.kiplinger.com/ slideshow/ business/ T012-S001-10-best-college-majorsfor-a-lucrative-career/ index.html (01.09.2013). 9 Sharon Daloz Parks (2000), Big Questions, Worthy Dreams: Mentoring Emerging Adults in Their Search for Meaning, Purpose, and Faith, San Francisco, p. 10. <?page no="68"?> Jane S. Webster 50 people might be able to engage these questions and to “awaken critical thought […] to the broader challenges now facing our society and world” 10 . Supporting Parks’ assessment, Barbara Walvoord’s quantitative research shows that college students choose to take introductory courses in biblical and religious studies — not to develop critical thinking skills nor to acquire knowledge, but in order “to make personal meaning”. In other words, for emerging adults, making sense of the self and the world is both timely and relevant. Although students might take courses in biblical studies in order to explore these big questions, they will differ in the way they view the Bible as a resource for self-reflection. Students are most likely both to enroll and to learn in courses where they face the urgent and relevant tasks of developing knowledge and skills that will help them to get and keep a job and, of secondary importance, where they have an opportunity to make personal meaning. In the analysis below, I will describe various approaches to teaching biblical studies in a secular context, outline a number of student learning outcomes, and measure their urgency and relevance to emerging young professionals. My hope is to encourage instructors who teach biblical studies in a secular context to examine and transform their approaches and learning goals to best meet the needs of their students. In the conclusion, I will consider some of the implications for biblical scholar-teachers. 2 The Historical Critical Approach As Susanne Scholz observed, teaching biblical studies in America has been heavily influenced by Friedrich Schleiermacher. In this model, students engage a historically-situated scientific method in order to understand the present in light of the past. 11 Students might trace the history of the Bible through Adam, Abraham, Moses, David, the prophets, Ezra, Jesus, and Paul, or through the periods of the Patriarchs, Egyptians, Canaanites, Assyrians, Babylonians, Persians, Greeks, and Romans. They might treat the biblical text as an archeological artifact that informs the political development of the Levant, the development of Hebrew or Greek language, or the cross-cultural development of religions. More specifically, they might compare the Enuma Elish and the Genesis creation account, Hammurabi’s Code and the Ten 10 See Parks, Big Questions, p. xi. 11 See Friedrich Schleiermacher (1990), Brief Outline on the Study of Theology, Translation of the 1811 and 1830 editions, with essays and notes by Terrence N. Tice, Lewiston NY, cited in Susanne Scholz (2010), Redesigning the Biblical Studies Curriculum: Toward a ‘Radical Democratic’ Teaching Model, in: Elisabeth Schüssler Fiorenza and Kent Harold Richards (eds.), Transforming Biblical Education: Ethos and Discipline; Atlanta, pp. 269-292, p. 270. <?page no="69"?> Teaching the Bible in a Secular Context 51 Commandments, or Habakkuk and the Qumran pesher. They might map out the battles of Joshua and David, track the routes of Jesus and Paul, read excerpts of Josephus, Tacitus, or Philo. They might compare different genres and consider the possible Sitz im Leben. They might compare theories of historical Jesus research. They might unpack the Documentary Hypothesis, the Four-Source theory of the Gospels, or the disputed authorship of the “Pauline” letters. Students who study the Bible with the historical critical approach become familiar with the basic biblical structure, plot, major characters, and themes; they might be introduced to selected scholarly and confessional debates; they are able to locate the Bible in its larger cultural context. But to what end? Why should contemporary students know this? What advantage will they have when they apply for a job? What do they learn in this type of course that will help them in their lives, especially if they are not religiously committed to the Bible as a sacred text? Before handheld communication devices, a “well-informed” person needed to know content in order to function in polite society. Now that a quick internet search will reveal the identity of Moses, David, and Jesus in seconds, young people no longer see the need for learning this type of content. They do not see the relevance of learning about source, form, or transmission theories. They do not care whether Paul wrote the First Letter to Timothy or not. They do not care to engage arcane debates about church politics, divine land grants, or parsing ethical laws. If they are not religiously committed, they just do not care about any of it. If they do not care to know or to understand, they will not be motivated to learn. Although they often use this approach to teaching biblical studies, instructors have difficulty defending their curriculum in a secular context; they resort to student learning goals as “cultural awareness” or “literacy”. They argue that students should know and understand these past events in order to make sound decisions in the present, supporting the view that events in the past shape the contours of contemporary society, politics, geography, relationships, etc. In a world where most people are either Jews or Christians, this has value; in a secular context, however, students may be better served by courses in history. Biblical studies per se have limited appeal. This curricular model does have one principle value, however: it challenges religiously committed students who understand the Bible as the inerrant word of God. When students have been exposed to the Bible through a historical critical approach, they often struggle over contradictions within the text, multiple perspectives, or obvious cultural biases. They learn that the Bible does “not fall directly out of heaven”, but is shaped by the history and culture of the people who wrote it. They learn that the book is not univocal. As a result, some students soften their assertive exclusivist readings; some <?page no="70"?> Jane S. Webster 52 even claim they lose their faith. In a world where violence is sparked by exclusivist religious claims, generating religious doubt in students may be an objective worth pursuing, but few instructors would make it obvious; students would avoid the course. We need to rethink the historical critical approach altogether. 3 The Cultural Approach The cultural approach to biblical studies considers the impact and interpretation of the Bible in popular culture. Film courses are probably the most common, but others integrate literature, art, music, and drama. Biblical studies courses like these interest students because they provide opportunities for students to explore and to understand what they already see before them. They also appeal to multiple learning styles, especially visual and aural, engaging more of the senses and “helping students stay awake”. In the introduction to Teaching the Bible through Popular Culture and the Arts — a useful resource for courses in Bible and Culture — Mark Roncase and Patrick Gray claim that using popular culture to teach the Bible does not “dumb it down”. “Rather, by failing to incorporate it, many instructors miss valuable opportunities to capitalize on their students’ natural interests and to nurture their capacity to engage and analyze classic texts like the Bible and the traditions informed by it.” 12 They hope students will examine the gap between the Bible and its influences with “more familiar cultural forms”. But instructors again need to be clear about their learning objectives. Some cultural studies courses merely disguise historical criticism “creatively”. For example, if students compare the story of Moses in the two films The Ten Commandments (1956) and The Prince of Egypt (1998), or the story of Jesus in The Greatest Story Ever Told (1965) and The King of Kings (1961), they might learn how the sociohistorical context of the filmmakers affects the presentation of the biblical topic; this might lead to a study of how the sociohistorical context influences the writing and interpretation of the Bible, an important understanding that tempers our own declarative assumptions about the way the world works. Again, I wonder, “to what end? ” Why would students care about this? If students trace the artistic or literary representation of biblical women throughout history, what do they gain other than interesting party conversation topics? What is urgent and relevant to students? Why do they need to learn this? A different approach focuses first on the cultural products and draws in biblical studies as a conversation partner. For example, a course on film and Bible might trace how filmmakers use lighting, point of view, color, etc. to 12 Mark Roncase and Patrick Gray (eds.) (2007), Teaching the Bible through Popular Culture and the Arts. Atlanta, p. 3. <?page no="71"?> Teaching the Bible in a Secular Context 53 enhance the biblical narrative; students become familiar, not only with the tools and vocabulary of film analysis, but with biblical narrative and motifs. The same approach might be used for literature, art, music, etc. Students learn how to do a close reading of culture. Instructors may help students learn that they can transfer these analytical skills from one discipline to another. A more fruitful approach leads students through analysis of various artifacts with the goal to understand how people shape — and are shaped by — culture. For example, a course might analyze how some filmmakers use the “authentic” biblical stories to critique contemporary culture: Paolo Pasolini’s Gospel of Matthew challenges Italian politics and Mel Gibson’s Passion of Christ challenges the loss of Catholic influence in America. The filmmakers both interpret the cultural context through the lens of the Bible and interpret the Bible through the lens of the cultural context. Alternatively, a course might trace motifs and themes through literature or art in order to explore how the biblical ideas enhance, challenge, or interpret the art form, or how the art form interprets the Bible. For example, when biblical motifs and themes are identified in T.S. Eliot’s The Hollow Men or the film Armageddon (1998), students might consider what possible value or critique is applied. This type of course teaches students to ask themselves why the Bible is used in producing this artifact and what its ultimate impact might have. They also learn to query the social context, bias, and agenda of the artist/ author/ filmmaker, a skill that can be fruitfully applied to any other cultural artifact such as a political speech, advertisement, television program, documentary, or newspaper. As students learn that culture and its artifacts are not static or univocal but are open to interpretation, they might be more willing to listen to alternate voices and to work for social change; they might be willing to explore ways to use biblical motifs to address their own social concerns. They would also see how the power of traditional religious images and motifs may move even the most resilient of mountains. (Remember Martin Luther King Jr.’s use of the prophets Amos and Isaiah in his “I Have a Dream” speech? He challenged deeply entrenched racial hatred with biblical words.) Students would also become informed consumers. If they know something about the Bible, they are more likely to identify subliminal (or obvious) attempts to use it to persuade or to manipulate. The course would be interesting and, for those students headed towards related careers (e.g., public relations, advertising), might be relevant. But unless the course intentionally integrates the big questions of emerging adults, it would be less urgent. <?page no="72"?> Jane S. Webster 54 4 The Skills Acquisition Approach Research shows that employers expect college graduates to have acquired certain skills, such as critical thinking (ability to solve problems), communication (both written and oral), computation, and computer proficiency. Because the world of information expands exponentially making previous “content” obsolete, they argue, it is better to teach students how to think, adapt, transfer, create, and learn. In response, many institutions have shifted their curricular goals from “knowledge of content” to “skill acquisition”. As many professional programs — such as those that lead to careers in health, engineering, or business — are skill-specific, and often subject to certain externally-imposed standards, institutions require the humanities “nonprofessional” courses to teach skill development. In other words, the assumption seems to be that the value of humanities courses is not in their content, but in their potential to develop skills. Many biblical scholarteachers thus find themselves in the position of being instructors, not in their field of specialty, but in skills development. While some instructors balk at these new demands, others embrace the opportunity to secure their future in the curriculum by exploring ways to teach skills using “their content”. Biblical studies courses lend themselves quite well to the teaching of skills, particularly writing. I have had considerable success marketing my Old Testament and New Testament introductory courses this way: “If you can learn to write about this difficult book, you can write about anything, including a job application, an annual report, or a patient care plan. The template (standard form) and the rubrics (criteria for excellence) are the same; just the content will change. You will become a proficient writer.” I have found that students develop most quickly when I provide a sample one-page essay that makes the “writing moves” explicit in side comments; this becomes their template. Their task is to reproduce the same format in a series of essays that use the content from different biblical books. For example, they follow the template to write one page about the Christology of Mark, then Matthew, then Luke, then John, then the Gospel of Thomas. They learn to read with a purpose (acquiring biblical literacy as a side bonus), select evidence, cite sources, develop a bibliography, and create a short argument (also known as an “executive summary”). They write a one-page essay for most class sessions, not only to obtain repeated practice of a similar task, but to prepare themselves well for class discussion. They get prompt feedback based on a rubric. Early in the semester, I meet with individual students to identify specific writing challenges and to give targeted instruction: You want to go into business? This is the form you will use for an annual report. You want to go into nursing? This is the form you will use in a nursing care plan, etc. Students quickly learn that when they improve their writing skills, they also see more success at this stage of their college career, <?page no="73"?> Teaching the Bible in a Secular Context 55 and will project that success into their chosen profession. Students understand that learning to write is both relevant and urgent. Similarly, courses might focus on oral communication skills. Traditionally, sermons or church-related teaching were the vehicle through which biblical research and reflection were communicated; in a secular context, these modes of communication are inappropriate. Instead, instructors might consider assessments such as a 20-second pitch (“If you are on the elevator with a future employer, how would you sell yourself? ”), a speech, or a presentation. Instruction for oral communication must again be explicit and central to the course: what makes a good speech? How do we persuade? What distracts? Rubrics identify standards, explain expectations, and provide a useful tool for grading; they should be used consistently and thoughtfully. Students learn how to speak publically — an urgent and relevant skill — and they learn something about the Bible, as a consequence not as the main attraction. Future employers also want their college graduates to be able to solve problems. Distinct from critical thinking which may or may not be applied, problem-solving includes identifying a problem and its cause, researching and testing possible solutions, evaluating results, and communicating appropriately. That is, problem-solving is applied critical thinking. In some courses in biblical studies, instructors “teach critical thinking” by asking students to analyze, compare, evaluate, and apply themes, ideas, and characteristics of one biblical text with another; but this does not really solve a realworld problem in a secular context. Although students can argue for or against ethical decisions (solve problems) in a religious context where the Bible has authority, in a secular context where the Bible has little or no authority, students can use the Bible only as a source for possible explanations or solutions in the past. The Bible is not a relevant resource for critical thinking in a secular context. Granted, some instructors, hoping to develop critical thinking, pose a problem to students and test various arguments. In the past, for example, I have asked students to solve the problem of why there are four gospels or who wrote the Pauline letters. Together we explore the evidence and test various solutions. And although these problems prevail in the academy of biblical scholars, students in a secular classroom do not find the questions either relevant or urgent, even if the instructor draws attention to the various moves of critical thinking in order to teach problemsolving. A more promising approach presents the problem-solving opportunity of a “Metaquestion”, such as “What is truth? ” or “Why do people suffer? ” and uses the Bible as a source text for possible responses. <?page no="74"?> Jane S. Webster 56 Students learn both how to solve problems and how to make personal meaning when they engage these types of “authentic life questions” 13 . In addition to the skills of writing, oral communication, and problemsolving, many future employers expect college graduates to have some general knowledge of the way the world works, to be “globally aware.” Through humanities courses in such disciplines as world history, geography, and comparative political science, art, and literature, students learn ways that people think and live differently based on their particular circumstances. As the Bible shapes Western culture to a significant degree, students who are “biblically literate” will be more culturally aware and sensitive. In Religious Literacy: What Every American Needs to Know — And Doesn’t (2008), Stephen Prothero lists important religious ideas and motifs that predominate in Western culture. (I provide a selected list of his biblical questions in an appendix.) Courses that focus on biblical literacy help students to identify and to understand the basis of Western assumptions, and thus to understand those who are informed by them. For example, by studying the Bible, students will learn that cultures based on the Bible value the trickster (Jacob, David), the “one who dies for many” (Jesus), and deferred justice (heaven and hell). Is this urgent? Jacques Berlinerblau thinks so. While observing that “secularists are free to remain oblivious” to religious traditions, he warns that “now is not the best time to exercise this freedom” 14 . Whether secularists like it or not, religious people are still in the majority; if we ignore religious understanding, we do so at our peril: “One flinch and secularists everywhere may have the opportunity to experience the end of days right along with the euphoric faithful.” 15 When religious fundamentalism threatens global peace, even our very existence, indifference to religion is not a viable option. More specifically, he argues that “in a society where interpretations of the Bible routinely affect the lives of all citizens, learning how to criticize claims made on behalf of the Bible is a useful civic virtue” 16 . Thus, he argues that all people should understand that the Bible is not univocal, nor are its interpreters: he says, “In response to the fanatic’s self-assertion that ‘The Bible says this! ’ the intellectual responds, ‘Well, maybe not’[…].They infect the social body with doubt […] [and provide] countless reasons to hesitate before acting on the Bible’s behalf.” 17 Both Berlinerblau and Prothero argue that biblical liter- 13 See Jane S. Webster (2012), Teaching with Meta-Questions, in: Jane S. Webster and Glenn S. Holland (eds.); Teaching the Bible in the Liberal Arts Classroom, Sheffield, pp. 217-222. 14 Jacques Berlinerblau (2005), The Secular Bible: Why Non-believers Must Take Religion Seriously, New York, p. 1. 15 Berlinerblau, Secular Bible, p. 2. 16 Berlinerblau, Secular Bible, p. 112. 17 Berlinerblau, Secular Bible, p. 127. <?page no="75"?> Teaching the Bible in a Secular Context 57 acy is an urgent student learning outcome. And although students pursuing a professional degree might find this interesting, they are less likely to see these goals as urgent and relevant left to their own devices; instructors might remind them that learning about the bible contributes to the goal of global awareness highly esteemed by employers. 5 The Ethical Approach Biblical studies courses that use the ethical approach attempt to raise issues requiring students to decide how they might or should act based on some rational purpose or clear philosophy. Because emerging adults seek to understand their purpose in the world, this type of course has potential relevancy; if the issues that arise are of ultimate concern to students - addressing thorny topics such as sexuality, racism, power and authority, violence, etc. - courses like these might be deemed urgent. Although the Bible sometimes has something of value to say on these topics, and is often used to argue both sides of the argument even if it doesn’t, few members of a secular audience would find these arguments convincing or relevant. Instructors might design a course that exposes the diversity of voices on a particular topic, such as cross-cultural marriage, inclusive/ exclusive community boundaries, authority structure (egalitarian or hierarchical) and source (tradition, charisma, or revelation), legitimate use of violence, and the nature of caring for neighbors and self. Although pulled into the conversation, the Bible has less to contribute to more urgent issues of sexual orientation, “appropriate” sexual relationships, contraception, abortion, suicide, euthanasia, career-counseling, and family values. Biblical scholars would shudder if they had to use biblical characters as role models in contemporary culture: the characters are just too flawed. The Bible often challenges “common” principles of ethical norms: most American students believe, for example, that their political and social life in based on the Ten Commandments until asked how they rationalize shopping (“Thou shalt not covet”) on a Saturday (“Honor the Sabbath”). “Do onto others as you would have them do unto you” provides a helpful starting point, but it is neither limited to the Bible nor to Western religious thought. 18 Some instructors have experimented with service learning in biblical studies courses, with mixed results. Service learning “is a type of experiential education in which students participate in service to the community and reflect on their involvement in such a way as to gain further understanding 18 See Scholz, Redesigning, for a more optimistic and generous appraisal of using biblical studies courses for teaching ethical values such as social justice, democracy, understanding of the self and responsible citizenship in a globalized world. <?page no="76"?> Jane S. Webster 58 of course content and of the discipline and its relation to social needs and an enhanced sense of civic responsibility” 19 . This model provides opportunities for students to learn alongside others in a social context where they can practice authentic skills with growing autonomy. While these goals meet the agenda of their institutions and instructors, students themselves may be less willing to “work without pay” or “waste their time painting walls”, or “fooling around when they should really be doing homework”! Furthermore, instructors in biblical studies are challenged to design service learning courses that apply course content directly to a community setting. Unlike nursing students who can do blood pressure tests in the mall, biology students who can test river water for contaminants, or accounting majors who can do taxes for low-income families, outside of a church, the Bible has little relative merit in application, especially in an institution that is secular by its own definition. However, if the goal of service-learning is to provoke students to make meaning within or outside of a religious tradition, to learn the contours and power relations of the self and the other, then engagement with community members in conversation with the Bible may reap clear rewards. 20 In some cases, students will encounter “the other” for the first time when they enter college, making this learning objective both relevant and urgent. While religious studies in general can consider “what is good for the community”, the Bible declares what is good in the community, even though it may not always be good for all of its members. (Biblical texts have historically supported slavery and ethnic cleansing, after all.) Students with little or no religious commitment might be intrigued to learn how some who profess faith use the Bible to motivate their groups to social action and change. 6 Conclusion Recent debates in religious studies in general — and in biblical studies in particular — focus on why the Bible should regularly appear in the college curriculum: study of the Bible and its traditions shapes our cultural understanding, teaches us to use critical thinking skills such as historical criticism, provides a locus for developing self-understanding, and informs our ethical 19 J.A. Hatcher and R. Bringle (1997): Bridging the Gap between Service and Learning, Reflection in: College Learning 45, pp. 153-158, cited in R. Devine, J. Favazza, and F.M. McLain (2002), Introduction, in: From Cloister to Commons: Concepts and Models in Service Learning in Religious Studies, Washington DC, pp. 1-8, p. 1. 20 See for example, Bradley D. Dudley who requires his Hebrew Bible students to pack food and feed the hungry in order to raise awareness of social issues of oppression, poverty, hunger, and homelessness, issues shared by emerging Israelite society and reflected throughout the text. ‘The History and Religion of Ancient Israel’: An Introductory Course to the Hebrew Bible, in: Devine, From Cloister to Commons, pp. 169-181. <?page no="77"?> Teaching the Bible in a Secular Context 59 bearings. But in the college dorms and cafeterias, the conversations focus on how biblical studies courses are irrelevant and a waste of time. Teachers of the Bible in a secular context can align their learning goals with the goals of their students by discerning what to them is both relevant and urgent, and offering learning opportunities that intentionally respect and honor those goals. As a result, students will likely engage the material with more enthusiasm, work harder at skill development, and retain content longer. As an added bonus, students will endorse effective courses and enrollments will increase. Instructors of biblical studies will no longer be deemed irrelevant and at risk. If we can keep biblical studies in the classroom, students will have the opportunity to dialogue with a classic text that has shaped and continues to shape history, culture, and ethics. Instructors might begin to revise their student learning goals most readily in skills-based courses, depending on their own strengths and interests. Most biblical scholars have successfully learned to write and can provide appropriate guidance to students in ways to craft an argument, to conduct research, and to cite sources using the biblical text as a primary source. The problem for some, however, is that biblical scholars have not been trained as composition teachers. Some, who actively resist having to teach something out of the range of their expertise, might be better suited to faculty positions in seminaries or graduate schools. The rest of us can learn how to teach. As one who has struggled to be a relevant biblical studies teacher in a secular context, I offer a few concrete suggestions. First, help students learn the targeted skill by giving them multiple low-stakes assignments that develop specific skills and culminate in a final product, use rubrics and templates to clarify expectations and form, and provide prompt feedback. Allow the skill to become the priority in your course, speaking about it often and in multiple ways, referring to it at least once in every class session. In this way, you hold up the students’ best interest. Second, let go of the traditional historical-critical content of biblical scholarship in favor of biblical literacy and global awareness; students do not really need to understand the Documentary Hypothesis. Third, to capture student interest, integrate cultural literacy into your course with film, music, literature and art. Fourth, make space in the classroom for students to explore personal meaning through engaging the Bible, either by framing the course with a meta-question, using service learning, or facilitating ethical discussions. Align your curricular goals with the urgent and relevant goals of the students. I agree with Berlinerblau: We do not have the luxury of ignoring dangerous religious fundamentalism of any kind. We know that religious, cultural, and historical understandings are urgent and relevant to the survival of the planet. But in a troubled economy, emerging adults have other things on their mind. Let’s meet them where they are, and honor their intention to <?page no="78"?> Jane S. Webster 60 succeed and to make meaning in their own lives. As a happy consequence, we also introduce them to a diverse and powerful religious artifact. Appendix: From S. Prothero’s Religious Literacy: What Every American Needs to Know — and Doesn’t (pp. 235-236). (Only Biblical Literacy questions are included here.) 1. Name the four Gospels. List as many as you can. 2. Where according to the Bible was Jesus born? 3. President George W. Bush spoke in his first inaugural address of the Jericho road. What Bible story was he invoking? 4. What are the first five books of the Hebrew Bible or the Christian Old Testament? 5. What is the Golden Rule? 6. “God helps those who help themselves”: Is this in the Bible? If so, where? 7. “Blessed are the poor in spirit, for theirs is the kingdom of God”: Does this appear in the Bible? If so, where? 8. Name the Ten Commandments. List as many as you can. 9. Match the Bible characters with the stories in which they appear. Draw a line from one to the other. Hint: Some characters may be matched with more than one story or vice versa: Adam and Eve Exodus Paul Binding of Isaac Moses Olive Branch Noah Garden of Eden Jesus Parting of the Red Sea Abraham Road to Damascus Serpent Garden of Gethsemane Selected Literature Berlinerblau, Jacques (2005): The Secular Bible: Why Non-believers Must Take Religion Seriously. New York. The Bible, its History, and Literature, National Council on Bible Curriculum in Public Schools (NCBCPS). Devine, Richard, Joseph A. Favazza, and F. Michael McLain, eds. (2002): From Cloister to Commons: Concepts and Models in Service Learning in Religious Studies. Washington (DC). Dyas, Dee, and Esther Hughes (2005): The Bible in Western Culture: The Student’s Guide. New York. <?page no="79"?> Teaching the Bible in a Secular Context 61 Parks, Sharon Daloz (2000): Big Questions, Worthy Dreams: Mentoring Emerging Adults in Their Search for Meaning, Purpose, and Faith. San Francisco. Prothero, Stephen (2007): Religious Literacy: What Every American Needs to Know about Religion — and Doesn’t. New York. Roncase, Mark and Patrick Gray, editors (2005): Teaching the Bible: Practical Strategies for Classroom Instruction. Atlanta. Roncase, Mark and Patrick Gray, editors (2007): Teaching the Bible through Popular Culture and the Arts. Atlanta. Schüssler Fiorenza, Elisabeth and Kent Harold Richards, eds. (2010): Transforming Biblical Education: Ethos and Discipline. Atlanta. Schippe, Cullen, and Chuck Stetson, eds. (2006): The Bible and Its Influence. New York. Walvoord, Barbara E. (2008): Teaching and Learning in the College Introductory Religion Courses. Malden, (MA). Webster, Jane S. and Glenn S. Holland, eds. (2012): Teaching the Bible in the Liberal Arts Classroom. Sheffield. Weimer, Maryellen (2002): Learner-Centered Teaching: Five Key Changes to Practice. San Francisco. Wray, Tina J. (2011): What the Bible Really Tells Us: The Essential Guide to Biblical Literacy. New York. http: / / www.bibleliteracy.org/ Site/ index.htm. http: / / www.humanitiescommission.org/ _pdf/ hss_report.pdf. www.sbl-site.org/ education/ teachingbible.asp. <?page no="81"?> 2 THEMATISIERUNG BIBLISCHER THEOLOGIE IM KONTEXT VON DIVERSITÄTSDISKURSEN <?page no="83"?> Carsten Gennerich Religiosität von jungen Erwachsenen/ Studierenden - Werthaltungen und Glaubensvorstellungen als Grundlage zur Entwicklung theologischer Bildungsperspektiven Abstract: Evangelische Hochschulen für angewandte Wissenschaften bilden für Berufe im sozialen Bereich aus. Ziel der dort ausgebildeten Professionalität ist es, soziale Prozesse so beeinflussen zu können, dass u.a. Inklusion unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft gefördert wird. Ergebnisse eigener Studien zur Religiosität von Studierenden an der Evangelischen Hochschule Darmstadt werden beschrieben und analysiert. Dazu werden Befunde zu Werthaltungen der Studierenden dokumentiert, die Schlussfolgerungen über religiöse Deutungspräferenzen zulassen und mit Blick auf das professionelle Kriterium einer inklusiven Arbeit kritisch geprüft werden können. Danach werden eine Textstichprobe von Studierenden zur Gottesfrage untersucht und weiterführende theologische Bildungsperspektiven für eine professionelle Arbeit mit heterogenen Zielgruppen erörtert. 1 Einleitung Biblische Theologie steht an evangelischen Hochschulen vor einer doppelten Herausforderung. Sie sollte nicht nur unter Berücksichtigung der vorhandenen religiösen Einstellungsstrukturen der Studierenden vermittelt werden, sondern sollte auch der persönlichen Verankerung fachlicher Professionalität bei den Studierenden zugutekommen. Wenn nun die Sinnpotentiale biblischer Theologie nur im Kontext vorhandener und im Alltag genutzter religiöser Einstellungsstrukturen Relevanz entwickeln können, dann ist ihre Beachtung im Bildungsprozess von besonderem Gewicht. Denn daran hängen nicht nur Erfahrungen subjektiver Plausibilität von Theologie, sondern auch die professionellen Haltungen der späteren Absolventinnen und Absolventen. Diese Herausforderung vor Augen berichtet dieser Beitrag über Wertorientierungen und Glaubensvorstellungen von Studierenden an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Sie haben vermutlich auch für andere evangelische Hochschulen einen exemplarischen Charakter. 1 1 Einen allgemeinen Überblick über die Religiosität Jugendlicher/ junger Erwachsener bieten Heinz Streib; Carsten Gennerich (2011), Jugend und Religion, Weinheim. Die Autoren unterscheiden vier Typen der Religiosität: Religiosität im Rahmen traditionel- <?page no="84"?> Carsten Gennerich 66 Der Beitrag geht in drei Schritten vor. In einer ersten Orientierung werden unter (2) und (3) die Wertorientierungen der Studierenden beschrieben und daraus sich ergebene Bildungsherausforderungen benannt. Dann wird unter (4) in einem zweiten Schritt die Diversität von Glaubensvorstellungen bei Studierenden exemplarisch entfaltet und mit Blick auf professionellen Normen sozialer Berufe reflektiert. Schließlich wird daran anschließend (5) der Bildungsbedarf in einer kreuzestheologischen Perspektive diskutiert. 2 Wertorientierungen von Studierenden an der Evangelischen Hochschule Darmstadt (EHD) Grundlegende professionelle Normen und Zielkriterien in den sozialen Studiengängen der EHD 2 , wie sie z.B. im Leitbild der Hochschule und in den Präambeln der Studiengänge formuliert werden, repräsentieren universalistische und selbstentfaltungsbezogene Werte (z.B. „Anerkennung von Differenzen zwischen Menschen“, „Entwicklung fördern“, „Offenheit“, „Teilhabe“, „Chancengleichheit“, „Selbstbestimmung“). 3 Die Professionalität sozialer Berufe gründet daher in einem profilierten normativen Kontext. Entsprechend bedeutsam ist, dass die Studierenden entsprechende Wertorientierungen mitbringen, ggf. entwickeln und kultivieren. In einem ersten Schritt soll daher nach den Wertorientierungen der Studierenden gefragt werden. Wie stehen sie zu den genannten professionsbezogenen Werten? Eine Antwort auf diese Frage klärt erstens über einen wertebezogenen Entwicklungsbedarf auf, ermöglicht dann aber auch zweitens eine theologische Reflexion darüber, wie von den vorhandenen Einstellungsstrukturen der Studierenden aus eine Brücke zu den professionellen Zielkriterien geschlagen werden könnte. Es ist also davon auszugehen, dass die theologische Bildung an evangelischen Hochschulen einen Beitrag zur Begründung der professionellen Normen leisten könnte. Das ist vor allem deshalb hoch bedeutsam, weil Werte in der Bevölkerung nicht nur von der aktuellen Lebenssituation determiniert werden, 4 sondern auch aufgrund ler religiöser Organisationen (Kirchenreligion), Religiosität in Gruppen mit starker Abgrenzung nach Außen und innerer Kontrolle (Sektenreligion), Religiosität jenseits von etablierten religiösen Institutionen und Gruppen (Mystik und Spiritualität), Haltungen jenseits von Konfession und religiöser Selbstattribution (Säkularität). Im vorliegenden Beitrag wird der dortige Forschungsüberblick nicht wiederholt, sondern gezielt bezogen auf Studierende evangelischer Hochschulen erweitert. 2 Soziale Arbeit (wahlweise mit gemeindepädagogisch-diakonischer Qualifikation), Inclusive Education, Pflege- und Kindheitswissenschaft. 3 Siehe dazu entsprechende Texte auf der Homepage der EHD http: / / www.ehdarmstadt.de 4 Vgl. dazu Carsten Gennerich (2010), Empirische Dogmatik des Jugendalters, Stuttgart, S. 30.50-65. <?page no="85"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 67 fehlender Begründungen einen willkürlichen Charakter haben und daher der Manipulation zugänglich sind. Begründungen für Werthaltungen können daher diese stabilisieren und machen wertkonformes Handeln wahrscheinlicher. 5 Das bedeutet, dass die theologische Bildung an evangelischen Hochschulen einen Beitrag dazu leisten kann, dass die professionellen Normen auch angesichts gesellschaftlicher Interessenkonflikte gegenüber der Öffentlichkeit und im Handeln gegenüber den Zielgruppen fundiert und auch auf der Basis eines christlich geprägten Menschenbildes vertreten werden können. Eine Möglichkeit, die Wertorientierungen der Studierenden in Relation zu den professionellen Normen darzustellen, bietet das zweidimensionale Wertefeld im Anschluss an Shalom Schwartz. 6 Denn es bildet den Möglichkeitsraum von Wertsetzungen vollständig ab, sodass sowohl beliebige Wertepositionierungen von Studierenden also auch die professionellen Normen abgebildet werden können. Sodann können mit den Dimensionen des Wertefeldes Zusammenhänge mit Einstellungen zu zentralen Motiven der Bibel berechnet werden. Das ermöglicht dann Überlegungen zur wahrscheinlichen Rezeption biblischer Deutungsmuster und eine Reflexion darüber, wie theologische Interpretationen eine Brücke zwischen der Ausgangssituation der Adressatinnen und Adressaten und den professionellen Zielkriterien schlagen können. 7 Im Anschluss an die international etablierte Beschreibung von Wertorientierungen sei daher hier das Wertefeld kurz vorgestellt. Werte der Bewahrung und Werte der Offenheit für Wandel stehen sich dabei gegenüber sowie Werte der Selbst-Transzendenz (d.h. der Bereitschaft für Bedürfnisse anderer einzutreten) und Werte der Selbst-Steigerung (d.h. der Maximierung eigener Interessen). Anhand dieser Dimensionen können alle bekannten Werteklassen beschrieben werden. Siehe dazu Abbildung 1. 5 Siehe dazu Mark M. Bernard; Gregory R. Maio; James M. Olson (2003), Effects on introspection about reasons for values: Extending research on values-as-truisms, in: Social Cognition 21, S. 1-25 und Mark M. Bernard; Gregory R. Maio; James M. Olson (2003), The vulnerability of values to attack: Inoculation of values and value-relevant attitudes, in: Personality and Social Psychology Bulletin 29, S. 63-75. 6 Shalom H. Schwartz (1992), Universals in the content and structure of values, in: Advances in Experimental Social Psychology 25, S. 1-65. 7 Vgl. Gennerich, Dogmatik. <?page no="86"?> Carsten Gennerich 68 Abbildung 1: Die beiden Basisdimensionen von Wertorientierungen und die empirisch validierte Zuordnung von Werteklassen zu den Basisdimensionen nach Shalom H. Schwartz 8 . Abbildung 1 zeigt die empirisch validierte Zuordnung verschiedener Werteklassen zu Bereichen des Wertefeldes, das durch die beiden Wertebasisdimensionen Bewahrung vs. Offenheit für Wandel sowie Selbst-Transzendenz vs. Selbst-Steigerung aufgespannt wird. Die beschriebenen professionellen Normen verorten sich vollständig im Bereich der beiden Werteklassen des Universalismus und der Selbstentfaltung. D.h. „Anerkennung von Differenzen“, „Entwicklungsförderung“, „Offenheit“, „Teilhabe“, „Chancengleichheit“ und „Selbstbestimmung“ gehören zum Wertebereich oben/ links. Damit sind der Ort und die Position der intendierten Professionalität 8 Vgl. Schwartz, Universals, p. 14. Schwartz differenziert zusätzlich noch Konformitätswerte, die sich jedoch empirisch nicht von Traditionswerten unterschieden und daher hier vernachlässigt werden können. Sicherheit Tradition Macht Leistung Prosozialität Universalismus Selbstentfaltung Hedonismus Autorität Reichtum soziale Macht fähig erfolgreich ehrgeizig Vergnügen Leben genießen wagemutig tolerant anregendes Leben Kreativität neugierig Freiheit soziale Gerechtigkeit Gleichheit Natur schützen hilfsbereit ehrlich vergeben demütig fromm Schicksal annehmen höflich Eltern ehren nationale Sicherheit soziale Ordnung sauber gesund Offenheit für Wandel Bewahrung Selbst-Transzendenz Selbst-Steigerung eigene Ziele wählen Stimulation <?page no="87"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 69 beschrieben. Wie verorten sich nun die Studierenden in diesem Feld? In welcher Beziehung stehen sie zu den beschriebenen professionellen Normen? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Studierenden in Relation zu einer repräsentativen Normstichprobe der Bevölkerung betrachtet werden. Dafür wurde hier eine im Anschluss an Schwartz entwickelte Wertemessung von Micha Strack genutzt. 9 Sie ermöglicht, Studierende im Wertefeld bezogen auf eine repräsentative Vergleichsstichprobe zu verorten. Im Rahmen kleinerer Forschungsprojekte wurden die Basisdimensionen bei Studierenden verschiedener Studiengänge an der EHD erhoben. Abbildung 2 bildet die Ergebnisse ab. 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 -0,20 -0,40 -0,60 -0,80 0,80 0,60 0,40 0,20 0,00 -0,20 -0,40 -0,60 -0,80 IHP (N = 17) BEK (N = 22) Aufbaustudium Gemeindepädagogik (N = 3) Soziale Arbeit mit GPD (N = 79) BEK (N = 55) BEK (N = 42) Master Soziale Arbeit (N = 9) Offenheit für Wandel Selbst-Transzendenz Bewahrung Selbst-Steigerung Abbildung 2: Studierende verschiedener Studiengänge im Wertefeld (regressionsanalytisch vorhergesagte Faktorscoremittelwerte auf der Basis der Normstichprobe von Strack) Abbildung 2 zeigt, dass sich die Studierenden der Evangelischen Hochschule Darmstadt mit einer deutlichen Tendenz im oberen Feldbereich verorten. Studierende des Studiengangs „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ 9 Zum Fragebogen und zur Normstichprobe siehe Micha Strack (2004), Sozialperspektivität, Göttingen, S. 178 bzw. Gennerich, Dogmatik, S. 421f. <?page no="88"?> Carsten Gennerich 70 (BEK) sind mit drei Stichproben repräsentiert und verorten sich einmal mittig (unten/ links), ein zweites Mal im Bereich universalistischer Werte (oben/ links) und ein drittes Mal im Bereich prosozialer Werte (oben/ rechts). Daraus resultiert für BEK-Studierende eine Gesamttendenz im oberen Bereich. Studierende des Masters Soziale Arbeit und des Aufbaustudiums Gemeindepädagogik (hierbei handelt es sich um Berufstätige im Bereich der Gemeindepädagogik mit einer sozialpädagogischen Ausgangsqualifikation) verorten sich etwas weniger profiliert im Bereich universalistischer Werte und Studierende für Integrative Heilpädagogik (IHP) vergleichbar im Bereich prosozialer Werte. Eine besonders ausgeprägt prosoziale Wertorientierung zeigen schließlich Studierende der Sozialen Arbeit mit gemeindepädagogisch-diakonischer Qualifikation (GPD). Was ergibt sich nun aus diesem Befund? Drei Stichproben liegen im Bereich universalistischer Werte und drücken damit eine Haltung aus, die den professionellen Zielwerten entspricht. Die anderen Stichproben liegen in deutlicher Nähe zum Wertebereich oben/ links, der Werte der Selbstentfaltung und des Universalismus repräsentiert. Die generelle Ausgangssituation für Entwicklung einer professionellen Haltung ist daher als günstig einzuschätzen. Eine grundlegende Umkehr bezogen auf vorgängige Orientierungen scheint nicht notwendig, sondern es geht offenbar eher um eine graduelle Weiterentwicklung der Haltungen, wie sie z.B. bei den Master- Studierenden gegenüber den BA-Studierenden der Sozialen Arbeit mit gemeindepädagogisch-diakonischer Qualifikation als Entwicklung zum Ausdruck kommt. Wie begründet sich nun die beschriebene altruistische Wertorientierung der Studierenden? Der Befund ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Studierenden an der EHD Frauen sind (78% Frauen und 22% Männer im WS 2012) und in empirischen Befunden Frauen im Vergleich zu Männern generell eher in den oberen Feldbereichen lokalisiert sind. 10 Die Werthaltungen beruhen daher zunächst auf einer geschlechtsspezifischen Sozialisation und sind daher nicht fachlich oder theologisch fundiert und daher im Konfliktfall potentiell labil. Gleichwohl ist es auch denkbar, dass eine evangelische Hochschule Studierende aus dem Milieu von Kirchengemeinden besonders anspricht, sodass auch eine gewisse theologische Begründungsfähigkeit für die eigene Wertepositionierung möglich erscheint. Denn die durchschnittlich altruistische Wertorientierung der Studierenden entspricht der Grundausrichtung christlicher Ethik. 11 Da wir jedoch noch sehen werden, dass die theologische Reflexionsfähigkeit der Studierenden auch deutliche Grenzen aufweist (siehe dazu die dokumen- 10 Vgl. dazu Gennerich, Dogmatik, S. 52f. 11 Vgl. a.a.O., S. 350-378. <?page no="89"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 71 tierten Texte von Studierenden im Anhang), bleibt das Erfordernis bestehen, theologische Bildungsprozesse subjektorientiert zu initiieren. An diesem Punkt kommt nun die bereits genannte Pointe des analytischempirischen Zugangs über das Wertefeld in Spiel. Denn für unterschiedliche Themenbereiche der Biblischen Theologie können Antworten auf die Frage abgeleitet werden, welche Interpretationen Studierende in Abhängigkeit von ihrer Werteposition als plausibel erleben und welche Interpretationen ihre bereits gefassten Überzeugungen kritisch konfrontieren. Die von mir vorgelegte „Empirische Dogmatik des Jugendalters“ leistet dies, indem sie die thematischen Motive Sünde, Glaube, Rechtfertigung, Stellvertretung, Weisheit, Vorsehung, Gericht, Exodus, Umkehr, Wunder, Auferstehung, Reich Gottes, Schöpfung, Nächstenliebe, Positionswechsel und Gemeinschaft thematisiert und theologische Interpretationen dieser Motive mit den Einstellungsmustern von Jugendlichen/ jungen Erwachsenen/ Studierenden verschiedener Feldbereiche ins Gespräch bringt. Es zeigt sich, dass vor allem für die beiden oberen Feldbereiche entwicklungsförderliche Interpretationen von der theologischen Wissenschaft bereitgestellt werden. Eine intentionale theologische Bildungsarbeit, die auf eine Förderung der theologischen Basis professioneller Arbeit im sozialen Bereich zielt, kann so subjektorientiert geleistet werden. In der so skizzierten verallgemeinernden Perspektive wird jedoch die zugleich auch vorhandene Heterogenität der Studierenden nicht ausreichend beachtet. Es empfiehlt sich daher, über allgemeine Gesamttendenzen hinaus immer mit Studierenden aus verschiedenen Feldbereichen in einer Lerngruppe zu rechnen. Um einer angemessen differenzierten Betrachtung der Studierenden willen, soll daher im Folgenden eine BEK-Studierendengruppe (in Abbildung 2 die Gruppe mit N = 55) näher analysiert werden. 3 Studierende des Studiengangs BEK in differentieller Perspektive Exemplarisch soll im Folgenden eine Gruppe BEK-Studierender mit ihren Gottesbildern analysiert werden. Die hier beschriebenen Studierenden, vor allem die im Anhang des Beitrags exemplarisch dokumentierten und zur Lektüre empfohlenen originalen Studierendentexte, können als repräsentativ für die Studierendenschaft in Darmstadt gelten. Im SS 2012 haben die Studierenden (N = 55; Alter 20 bis 31 Jahre, Altersdurchschnitt 23,1 Jahre) den genannten Wertefragebogen ausgefüllt, sowie schriftlich zu fünf Aspekten ihres Gottesbildes Stellung genommen: a) Definitionsversuch; b) Gefühle; c) Bereiche und Orte, wo Gott relevant ist; d) Wie man sich zu Gott verhält; e) Missverständnisse über Gott. Die Antworten von 12 Studierenden sind im Anhang protokolliert. Ihre Auswahl zielte darauf, möglichst ver- <?page no="90"?> Carsten Gennerich 72 schiedenartige sowie prägnante (eher ausführliche als stichwortartige) Selbstdarstellungen zu präsentieren. In einem zweiten Schritt wurde die Vorauswahl dann so reduziert, dass für jeden Quadranten drei Fälle erhalten blieben. Die Verortung der im Detail analysierten 12 Studierenden und der übrigen 43 Studierenden im Wertefeld ist in Abbildung 3 dargestellt. 2,50 2,00 1,50 1,00 0,50 0,00 -0,50 -1,00 -1,50 -2,00 -2,50 2,50 2,00 1,50 1,00 0,50 0,00 -0,50 -1,00 -1,50 -2,00 -2,50 54 43 40 38 28 20 19 18 14 10 8 2 Offenheit für Wandel Selbst-Transzendenz Bewahrung Selbst-Steigerung Abbildung 3: 55 Studierende des BEK-Studiengangs (5. Semester) im Wertefeld (Verortung auf Basis der vorhergesagten Faktorscorewerte der Normstichprobe) Abbildung 3 zeigt, dass jenseits der prosozial orientierten Gesamttendenz der Gruppe gleichwohl eine beachtliche Heterogenität der Individuen vorliegt. Immerhin mehr als die Hälfte der Gruppe liegt jenseits des prosozialen Feldbereichs oben/ rechts. Es ist daher empirisch wahrscheinlich, dass sich in den Glaubensüberzeugungen eine vergleichbare Heterogenität abbildet. Somit ist es auch geboten, die mutmaßliche Verschiedenheit der Studierenden mit der Perspektive einer individuellen Förderung im Detail zu analysieren. 12 12 Carsten Gennerich (2012), Religiosität Jugendlicher in kompetenztheoretischer Perspektive, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (1), S. 128-163, 130f. <?page no="91"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 73 In diesem Sinne sollen im Folgenden die in der Abbildung mit Zahlen markierten Fälle detailliert analysiert werden. Die Fallzahlen des Anhangs und der folgenden Erörterung entsprechen diesen Markierungszahlen. 4 Fallinterpretation orientiert an der hermeneutischen Perspektive der Wertefeldregionen Die im Anhang zitierten Fälle geben für sich selbst stehend bereits einen ersten Einblick in die Religiosität junger Erwachsener an evangelischen Hochschulen. In ihnen kommt die Lebendigkeit und auch biographische Verortung der Religiosität der Studierenden zum Ausdruck. Die folgende Analyse kann die damit angesprochene Reichhaltigkeit der Fälle kaum umfassend würdigen, sondern versucht einen vertiefenden Erkenntnismehrwert dadurch zu gewinnen, dass die religiösen Selbstdarstellungen mit den quantitativ gewonnen und andernorts dokumentierten Befunden der Wertefeldanalyse in Beziehung gesetzt werden. 13 Neben einer vertieften empirischen Einsicht ermöglicht dies, gezielt theologische Impulse zu prüfen, die sich bereits im Rahmen der bisherigen quantitativen Analysen als anschlussfähig und theologisch weiterführend für Jugendliche/ junge Erwachsene verschiedener Feldregionen erwiesen haben. 4.1 Fälle im Bereich oben/ rechts 14 Die Fälle 14, 18 und 38 (drei 23jährige Frauen) liegen oben/ rechts. Fall 14 (vgl. dazu die Dokumentation im Anhang) zeichnet sich durch eine klare prosoziale Orientierung aus. Das bedeutet: Die hier zu Wort kommende 13 Den umfassendsten Bericht über entsprechende Befunde bietet Gennerich, Dogmatik. Da diese Befundmuster auf Korrelationen zurückgehen, also auf einem statistischen Zusammenhangsmaß beruhen, und weil diese im Fall psychischer und sozialer Gegebenheiten nie vollständig sind, sondern nur mehr oder weniger starke Tendenzen widerspiegeln können, ist damit zu rechnen, dass sich Individuen ggf. auch gegenläufig zur statistischen Gesamttendenz darstellen können. Aus solchen Abweichungen können dann ggf. wieder weiterführende, das Individuum besser verstehende Schlussfolgerungen gezogen werden. Noch wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich in den Einzelfällen Deutungsmuster wiederfinden, die häufig mit der entsprechenden Werteposition des Individuums einhergehen. 14 Die Bereichsbezeichnungen „oben/ rechts“ etc. beziehen sich auf die theoretische Abbildung 1 und die empirischen Positionierungen von Abbildung 3. Wie aus Abbildung 3 ersichtlich, verorten sich die Fälle relational zu den Achsen, sodass manche Fälle zueinander über die Feldkategorisierungen „oben/ rechts“ etc. hinweg näher beieinander liegen können als andere Fälle innerhalb eines der vier kategorial unterschiedenen Feldbereiche. Die Verwendung der Achsen zur Unterscheidung von vier Feldbereichen hat daher angesichts der fließenden empirischen Übergänge einen komplexitätsreduzierenden, didaktischen Sinn. <?page no="92"?> Carsten Gennerich 74 Studierende bejaht Werte wie Hilfsbereitschaft und steht ablehnend hedonistischen Werten gegenüber (vgl. Abb. 1). Sie stellt mehr als in allen anderen Fällen ein kohärentes dogmatisches Konzept als für die eigene Person gültig dar. Sie orientiert sich daher seit ihrer, wie sie selbst sagt, „Bekehrung“ in einem konservativen Deutungsrahmen. Dies ist durchaus typisch für junge Erwachsene im Feldbereich oben/ rechts, denn hier werden am deutlichsten klassisch-konventionelle Deutungsmuster der Theologie bejaht. 15 Allerdings wäre ihre deutlich ausgedrückte Abgrenzung gegenüber Judentum und Islam mehr am Bewahrungspol zu erwarten, weil dort stärker die Differenz der eigenen zur anderen Religion betont wird. 16 Das lässt zwei Möglichkeiten der Interpretation zu: Entweder eine exklusivistische Position wird hier durch andere Orientierungen so überlagert, dass sie im Mittel sich nicht darstellen kann. Oder aber die Studierende vertritt einen harten Pluralismus, der Differenzen betont und zugleich Andersgläubigen Toleranz entgegenbringt. 17 Mit Blick auf eine professionelle Haltung in der Arbeit mit Kindern wäre freilich die zweite Option zu präferieren und ggf. zu unterstützen. Fall 18 zeigt ebenfalls eine positiv geprägte Darstellung des eigenen Erlebens im Glauben. Jedoch ist die Religiositätsdimension kaum dogmatisch geprägt, vielmehr basiert sie auf einer familiär vermittelten Imagination von Geborgenheit, die auf Gottes fürsorglicher Allgegenwart beruht. Ebenfalls im Kontrast zu Fall 14 betont Fall 18, dass es „kein richtig und falsch“ bei Fragen des Gottesbildes gebe. Offenbar sichert die familiäre Einbindung ihrer Religiosität die nötige Überzeugungsstabilität, sodass diese nicht dogmatisch konstruiert werden muss und entsprechend auch eine Betonung von Überzeugungsgrenzen nicht notwendig ist. Gleiches gilt für die Relativierung der Kirche in ihrer Funktion der Unterstützung des Glaubens: Im Fall 18 betont die Studierende gegenüber der Kirche ihre Freiheit und im Fall 14 ihre Einbettung in der Gemeinde. Die Probandin des Falls 38 hat ebenfalls eine ungebrochen positive Beziehung zu ihrem Glauben. Das Glaubensverständnis ist einerseits von Offenheit geprägt: In ihrer Perspektive lässt Gott zugleich Nähe und Distanz zu und ist dennoch verlässlich für die junge Frau da. Ebenso schätzt sie die 15 Gennerich, Dogmatik, S. 155. Die kohärente dogmatisch orientierte Selbstdeutung kann zudem auf eine Freikirchenzugehörigkeit hinweisen, da sich Mitglieder von Freikirchen ebenfalls profiliert im Bereich prosozialer Werte verorten und etwa 10% der Studierenden dieser Lerngruppe aus Freikirchen kommen, vgl. a.a.O., S. 61. 16 Carsten Gennerich; Stefan Huber (2006), Value priorities and content of religiosity, in: Archiv für Religionspsychologie 28, S. 253-267. 17 Zum Begriff des „harten“ Pluralismus in Abgrenzung zum „weichen“ vgl. Karl Ernst Nipkow (1992), „Oikumene“: Der Welt-Horizont als notwendige Vorrausetzung christlicher Bildung und Erziehung im Blick auf die nichtchristlichen Religionen, in: Johannes Lähnemann (Hg.), Das Wiedererwachen der Religionen als pädagogische Herausforderung, Hamburg, S. 166-189. <?page no="93"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 75 Gemeinde und betont gleichzeitig ihre Freiheit der Gemeinde gegenüber. Andererseits wendet sie sehr strikt - und das ist typisch für Jugendliche/ junge Erwachsene im Feldbereich oben/ rechts - ein vorsehungstheologisches Deutungsmuster an: Egal, was passiert, Gott hat einen guten Plan mit der eigenen Person. 18 In ihrer Reflexion bewältigt ihre religiöse Überzeugung daher auch negative Erfahrungen, sodass Gott aufgrund seines guten Willens nicht nur temporäre Distanz erträgt, sondern auch in scheinbar negativen Schicksalserfahrungen zum Ziel kommt. Eine gewisse theologische Kohärenz findet sich damit auch im Fall 38. Welche theologischen Bildungserfordernisse lassen sich nun soweit aus der bisherigen Analyse ableiten? Die Kenntnis die Wertefeldpositionierung verweist zunächst darauf, dass bezogen auf die drei Studierenden und die notwendige Wertebasis beruflicher Professionalität die Entwicklung in Richtung Offenheit zu fördern ist. Auch generell stellt sich die Frage nach der Pluralitätsfähigkeit der religiösen Orientierungen im Wertebereich oben/ rechts. 19 Angewendet auf Fall 14 zeigt sich ein kohärentes dogmatisches Deutungsmuster mit einer Tendenz zur Abgrenzung gegenüber davon abweichend erscheinenden Glaubenspositionen. Die Frage ist daher, wie es im späteren professionellen Kommunikations-Kontext bei dieser Selbstpositionierung gleichwohl möglich werden kann, auch jene Kinder mit dazu nicht auf Anhieb passend erscheinenden religiösen Vorstellungsfiguren zu fördern. Bei Fall 18 liegt die Problematik durchaus ähnlich. Denn die naive familiär orientierte Glaubenskonstruktion scheint kaum bezogen auf alternative Sichtweisen hin reflektiert zu sein, sodass ebenfalls ein Reflexionsdefizit bezogen auf andersartige Glaubenskonstruktionen von Kindern vorliegen könnte. Bei Fall 38 scheint die Entwicklungsherausforderung dagegen geringer, denn die Studierende drückt deutlich auch öffnende Perspektiven aus. Es scheint hier daher weniger schwierig, die Studierende einzuladen, ihre Deutungsmuster (z.B. vom „Plan Gottes“) reflexiv zu erweitern. Es zeigt sich damit, dass sich die Wertorientierung der drei Studierenden in ihrem Profil der Religiosität widerspiegelt. Wenn man Wertorientierungen als Indikatoren der lebensweltlichen Situation der Studierenden versteht (s.o.), dann ergibt sich daraus, dass eine Entwicklung vorhandener Einstellungsstrukturen ein entsprechendes Gewicht auf die theologische Argumentation legen muss. Auf der Basis des Wertefeldes lässt sich dabei schlussfolgern, dass eine solche theologische Argumentation Offenheit fördern kann, die zugleich Unsicherheit auffängt. Das Wertefeld ermöglicht daher, für die Gespräche mit den Studierenden vorab entsprechend fokussierende theologische Inputs zu reflektieren. Eine gezielt weitende theologische Reflexion trägt dabei zur Ausbildung der Kompetenzbasis bei, die für die individuelle 18 Gennerich, Dogmatik, S. 242-248. 19 A.a.O., S. 400. <?page no="94"?> Carsten Gennerich 76 Förderung von Kindern in religiös heterogenen Gruppen notwendig ist. Denn die verschiedenen, kontextuell unterschiedlich verankerten Glaubensvorstellungen der Kinder bedürfen weiterführender Impulse, die kaum angemessen allein aus dem persönlichen Überzeugungssystem abgeleitet werden können. 20 4.2 Fälle im Bereich unten/ rechts Die Fälle 8, 10 und 28 repräsentieren den Bereich unten/ rechts. Allgemein finden sich für den Feldbereich unten/ rechts relativ strikte Ordnungsvorstellungen (Tun-Ergehen-Zusammenhang), die den Gedanken von Umkehr, Vergebung und bedingungsloser Annahme der Person nur schwer denkbar machen. 21 Bei Fall 8 zeigt sich zunächst, dass die Studierende eine gravierende persönliche Erfahrung zur Kritik der Vorstellung geführt hat, ein allmächtiger Gott sorge für ein gerechtes Schicksal der Menschen. Allerdings überwindet sie die Vorstellung nicht ganz, da sie weiterhin an eine beeinflussende Schicksalsmacht glaubt. Damit verortet sie sich weiterhin im Feldbereich unten/ rechts und nicht etwa im Feldbereich unten/ links, in dem die Zufälligkeit allen Geschehens betont wird. 22 Deutlich wird auch, dass sie ihr problematisches Ordnungsschema ebenso wenig in Richtung auf die Möglichkeit einer schicksals- und leistungsunabhängigen Bejahung der eigenen Person überwindet, sondern sogar eher in Richtung eines Weniger an Akzeptanzerfahrung (statt göttlicher Fürsorge nur noch eine abstrakte Schicksalsmacht). Die Frage bleibt daher offen, ob und wie die Studierende die humane Vorstellung einer veränderungsfähigen und unbedingt wertvollen Person in ihr Selbstbewusstsein integrieren kann, die gerade auch für Bildungsprozesse eine unerlässliche Annahme darstellt. Der junge Mann in Fall 10 ist besonders deutlich im Bereich von Machtwerten positioniert. Status und gesellschaftliche Anerkennung sind ihm daher offenbar ein besonderes Bedürfnis. Er grenzt sich mit negativer Emotionalität vom biblischen Gottesbild ab und beschreibt Glauben primär aus einer distanzierten Beobachterposition. Als Ursache dafür kommt ein für ihn wichtiges Anliegen in Frage: „Gott sollte eher anzweifelbar sein“. Zudem sollte das Christentum in der Gesellschaft weniger Einfluss haben. Die Kirchen macht er offenbar dafür verantwortlich, dass er keine Freiheit bezogen auf seinen Zweifel erleben kann. Die Anerkennungsthematik findet daher in 20 Vgl. dazu z.B. Gennerich. 21 Gennerich, Dogmatik, S. 400-401. 22 Vgl. Gennerich, Dogmatik, S. 250 („keine Zufälle im Leben“ unten/ rechts) gegenüber S. 238 u. 333 („Zufall“ links u. unten/ links). <?page no="95"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 77 Fall 10 ihren Ausdruck als Erfahrung der Exklusion aufgrund der wahrgenommenen Illegitimität von Zweifel. Fall 28 betont tendenziell Sicherheitswerte. In der Selbstdarstellung findet sich diese Tendenz bei ihren glaubensbezogenen Gefühlen, die sie mit den Begriffen „Halt“, „Sicherheit“ und „Geborgenheit“ beschreibt. Allerdings finden sich auch Hinweise, die eine Entwicklungsdynamik indizieren: Mit Gott verbindet sich auch „Hoffnung“ und „Zukunft“ sowie die Idee einer Entwicklung zur „Selbstständigkeit“. Sie steht damit mitten in der Spannung zwischen den oppositionellen Wertebereichen der Sicherheit und Selbstentfaltung (siehe Abb. 1). Ihre nur gering profilierte Positionierung entspricht der simultanen Präsenz beider Pole. Dies zeigt sich auch auf der Ebene ihrer Deutungsmuster. Sie lehnt eine Rechtfertigung von Fehlverhalten in der Perspektive Gottes ab, weil dies dazu führe, dass die Zuschreibung von Verantwortlichkeit unterminiert werde. 23 Dieses Deutungsmuster ist durchaus typisch für Menschen im Feldbereich unten/ rechts, weil damit offenbar moralische Orientierungen stabilisiert werden können. 24 Damit geht jedoch zugleich die Problematik einher, dass eben eine Person tendenziell auf ihr Fehlverhalten festgelegt wird und eine Umkehr und die Möglichkeit der Veränderung nicht stark genug gedacht werden kann. 25 Ihre Vorstellung eines Gottes, für den verschiedene Völker lediglich verschiedene Namen haben, hat demgegenüber wiederum einen eher öffnenden Charakter. Denn die Differenz konkreter Gottesvorstellungen wird hier auf einer höheren Ebene wiederum als Einheit gedacht. Ebenso könnte durchaus auch die ihr so bedeutsame Verantwortlichkeit und die Verheißung der Möglichkeit von Umkehr zusammengedacht werden. Eine dementsprechende Option 26 scheint ihr jedoch nicht als Deutung zur Verfügung zu stehen. Es ergibt sich damit, dass sie durch ihre Bestreitung einer Rechtfertigung von Fehlverhalten möglicherweise Perspektiven der „Weiterentwicklung“ hemmt. 23 Tatsächlich zeigt sich die von Fall 28 befürchtete Unterminierung von Verantwortung jedoch vor allem bei Personen unten/ links, die Normen und Regeln relativieren (siehe Gennerich, Dogmatik, S. 83 u. 102). Zugleich jedoch sind dies Personen, die zum Rechtfertigungsgedanken am wenigsten Zugang haben (a.a.O., S. 83, 89 u. 191), sodass sich der Zusammenhang ergibt, dass erst eine Lösung für das Problem verfehlter Standards ermöglicht, Standards für die eigene Person als verbindlich zu bejahen. Denn ohne den Gedanken der Rechtfertigung wäre bei verfehlten Standards eine Abwertung der eigenen Person die Folge, sodass dann zum Schutz des Selbstwertgefühls Werte und Normen eher vergleichgültigt werden. 24 A.a.O., S. 237f. 25 A.a.O., S. 294-298. 26 So wird z.B. beim Sündenbegriff Verantwortlichkeit und Positivität (Gnade/ Vergebung) zusammengedacht, siehe a.a.O., S. 71, 73 u. 81. Ähnlich auch Robert C. Roberts (2007), Spiritual emotions, Grand Rapids, der z.B. christliche Reue über die gleichzeitige Präsenz eines Schuld- und Vergebungsbewusstseins definiert. <?page no="96"?> Carsten Gennerich 78 Was ergibt sich aus der skizzierten Analyse? Es zeigt sich, dass die Studierenden unten/ rechts einer Theologie bedürfen, die ihnen erlaubt die Möglichkeit der Umkehr und einer unbedingten Anerkennung der Person zu denken und die zugleich ihrem Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle gerecht wird. Da sich das hier beschriebene empirische Muster in den umfassenden statistischen Analysen der „Empirischen Dogmatik des Jugendalters“ wiederfindet und dort für solche Muster anschlussfähige Theologien exploriert wurden, kann die theologische Planung der Lehre daraus Anregungen beziehen. Bezogen auf die Rechtfertigungsthematik von Fall 10 wäre dies z.B. die Tillichsche Reformulierung der Rechtfertigungslehre als Rechtfertigung des Zweiflers. 27 Bezogen auf die Gerechtigkeitsthematik können theologische Interpretationen des Jüngsten Gerichts weiterführen, die das Gericht als transzendente Wirklichkeit konzipieren und die dabei Verantwortlichkeit und Gnade zugleich denken können. Dann muss sich Gerechtigkeit nicht als empirische Wirklichkeit erweisen und Gnade muss nicht zur Relativierung von Verantwortung führen. 28 Eine Entwicklung in Richtung des Bereichs oben/ links würde somit durch eine Auflösung blockierender Denkfiguren des Bereichs unten/ rechts gefördert. Das Bedürfnis nach moralischer Orientierung wird so beachtet, ohne die Möglichkeit neuen Lebens aufgrund eines Festgelegtseins auf die Vergangenheit zu verneinen. 4.3 Fälle im Bereich oben/ links Die Fälle 20, 40 und 43 verorten sich im Bereich oben/ links. In Fall 20 stellt sich der zweite junge Mann unserer Fallauswahl dar. Er hat gegenüber Glaubensfragen eine konstruktiv-reflektierte Einstellung. Er betont eine simultane Präsenz von „Angst/ Wut/ Ohnmacht“ und „Erleichterung“ in seinem gefühlsmäßigen Erleben. Das deutet auf eine Ambiguitätstoleranz hin, die besonders im Bereich oben/ links ihren Ort hat. 29 Ebenso reflektiert zeigen sich seine Überlegungen zu möglichen Missverständnissen. Denn er kritisiert ein unangemessenes Gottesbild, das Gott mit den eigenen Wünschen gleichschaltet, und wendet die zugrundeliegende Logik zugleich mit einer rechtfertigungstheologischen Perspektive auf Menschen an, die sich außerhalb des Glaubens verorten. Auch die bewusste Wahrnehmung der seinen Überlegungen zugrundeliegenden Annahmen („angenommen“) zeigt ein hohes Reflexionsniveau an. In diesem Selbstdarstellungsmuster spricht 27 Zur Rechtfertigung des Zweiflers siehe a.a.O., S. 181 u. 214f (die Fälle Christin und Mike). 28 Siehe dazu a.a.O., S. 256-262. 29 Carsten Gennerich (2007), Empirie und Ästhetik: Empirische Zugänge zum religionspädagogischen Ansatz von Dietrich Zilleßen, in: Magazin für Theologie und Ästhetik 45, www.theomag.de. <?page no="97"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 79 sich daher insgesamt eine bildungsgeprägte Glaubensorientierung aus, die wiederum durchaus typisch für den Bereich oben/ links ist. 30 Die junge Frau in Fall 40 lokalisiert sich relativ profiliert im Bereich von Selbstentfaltungswerten am Pol der Offenheit. Sie grenzt sich von einer engen Kopplung von Gott/ Glaube und Kirche ab. Das entspricht der generellen Tendenz, dass Jugendliche/ junge Erwachsene im Bereich von Selbstentfaltungswerten am meisten der Aussage zustimmen: „Ich brauche keine Kirche“. 31 Überaus interessant ist jedoch, wie kohärent sie die von ihr betonte Autonomie mit ihrem Glauben verbindet. Gott ist „Gedankensammelpunkt“ und stellt einen Raum zum Überdenken von Zielen und Entscheidungen bereit. Ihr Glaube hat daher ähnlich zu Fall 20 einen reflexiven Charakter. Weil sie in Gott Ruhe und Kraft findet, scheint sie der offenen Zukunft relativ angstfrei begegnen zu können und betont weniger als fast alle anderen Studierenden Sicherheitswerte, zu denen sie in Opposition steht (vgl. Abb. 3). Auch sonst betont sie offene Haltungen: Toleranz gegenüber religiös differenten Überzeugungen sowie die Wahrnehmung Gottes im außerreligiösen Bereich. Ihr gelingt damit eine religiöse Begründung ihrer Selbstentfaltungsorientierung, sodass sie sich in dieser Perspektive getragen weiß. Fall 43 verortet sich besonders profiliert im Bereich von Werten der Selbstentfaltung und des Universalismus. Die religiöse Orientierung dieser 22jährigen ist stark relativistisch und kritisch bezogen auf Glaubensfragen geprägt. Sie nimmt viele Widersprüche wahr, sodass für sie konkrete Glaubensaussagen keine generelle Verbindlichkeit erlangen. Auch aus grundsätzlichen Erwägungen (d.h. Kriegsgefahr) steht sie kritisch einer konfliktprovozierenden Verabsolutierung von Glaubensaussagen gegenüber. Des Weiteren kritisiert sie eine Theologie, die den Aufmerksamkeitsfokus von der Gegenwart und der mit ihr verbundenen Verantwortlichkeit abzieht. Sie befürchtet also, dass Gott auf Kosten der eigenen Autonomie die Verantwortung zugeschrieben wird. Anders als im Fall 40 stehen ihr keine theologischen Deutungsmuster zur Verfügung, die eine Legitimation und Rechtfertigung ihrer persönlichen Erkenntnisse ermöglichen, sodass sie sich oppositionell zu (konventionellen) religiösen Deutungsmustern positioniert. 32 Was bedeutet dieser Befund? Die Werte der drei Jugendlichen sowie ihre tolerant-reflexive Haltung entsprechen bereits den eingangs zitierten profes- 30 Gennerich, Dogmatik, S. 56f. 31 A.a.O., S. 377. 32 Dazu gehören z.B. Konzepte präsentischer Eschatologie wie die von Rudolf Bultmann (1960), Die christliche Hoffnung und das Problem der Entmythologisierung, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd. 3., Tübingen, S. 81-90. Und auch der Umkehrgedanke kann die Aufmerksamkeit für die Gegenwart öffnen, vgl. Gennerich, Dogmatik, S. 271 u. 322. <?page no="98"?> Carsten Gennerich 80 sionellen Zielkriterien, die ebenfalls im Wertebereich Selbstentfaltung und Universalismus verortet waren. Bei den Fällen 20 und 40 verbindet sich eine offene religiöse Haltung mit einem emotional positiven Zugang zu religiösen Themen und Praxisformen, sodass eine Haltungsbasis für eine religiöse Entwicklungsförderung unterschiedlicher Kinder gegeben scheint. Etwas anders gelagert ist die Situation bei Fall 43, da sich hier eine tendenziell negative Emotionalität gegenüber einer religiösen Wirklichkeitserschließung auszusprechen scheint. Dies könnte durchaus eine Barriere darstellen, wenn es darum geht, die religiöse Entwicklung von Kindern subjektsensibel zu fördern. Da sich die Studierende in Fall 43 vor allem gegenüber unangemessenen Deutungsmustern abgrenzt, scheinen ihr Deutungsmuster, die in ihrem eigenen Wertekontext wirklichkeitserschließend sind, nicht bekannt zu sein. Für sie hilfreiche Denkperspektiven könnten offenere theologische Deutungsansätze bereitstellen. Die „Empirische Dogmatik des Jugendalters“ bietet hier eine Suchhilfe an, da sie die Vielfalt theologischer Ansätze ins Gespräch mit den Einstellungsstrukturen von Jugendlichen/ jungen Erwachsenen in den unterschiedlichen Feldbereichen bringt. Für den Feldbereich oben/ links erwiesen sich dabei etwa die folgenden Ansätze als kommunikativ weiterführend: pneumatologische Modelle der Wirksamkeit Gottes 33 , befreiungstheologische Schöpfungsdeutungen 34 oder Gordon Kaufmans konstruktivistisches Theologie- und Glaubensverständnis 35 . 4.4 Fälle im Bereich unten/ links Die Fälle 2, 19 und 54 verorten sich schließlich im Feldbereich unten/ links, wobei der Fall 19 noch fast exakt in der Mitte zwischen Bewahrung und Offenheit für Wandel liegt und nur äußerst schwach in Richtung auf den Pol der Selbst-Steigerung profiliert ist. Der Fall 2 formuliert eine positive Beziehung zum Glauben. Das ist ungewöhnlich für den Bereich unten/ links. Typisch für diesen Feldbereich ist vielmehr eine Kritik gegenüber zu stark konkretisierten Gottesvorstellungen, wie sie auch die 24jährige von Fall 2 hier äußert („zu klare Vorstellungen“). 36 Es zeigt sich damit, dass suchendoffene Gottesbilder durchaus eine positiv-konstruktive Gottesbeziehung gewährleisten können. Fall 19 stellt eine für den Bereich unten/ links typische, kritische Position gegenüber Gott und Glauben dar. Sie beschreibt Gott als eine Illusion, die aus dem menschlichen Hoffnungsbedürfnis resultiert und der sie selbst 33 A.a.O., S. 225-226. 34 A.a.O., S. 328. 35 A.a.O., S. 139. 36 Vgl. dazu ausführlich Carsten Gennerich (2011), Gottesbilder Jugendlicher, in: Petra Freudenberger-Lötz; Ulrich Riegel (Hg.), „Mir würde das auch gefallen, wenn er mir helfen würde“: Baustelle Gottesbild im Kindes- und Jugendalter, Stuttgart, S. 176-192. <?page no="99"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 81 keine Realität zuschreiben kann. 37 Interessanterweise begründet sie ihre Ablehnung von konventionellen Glaubensvorstellungen nicht mit ihrem eigenen Bedürfnis nach Autonomie, vielmehr ist sie sogar kritisch gegenüber der Selbstmächtigkeit des Menschen. So gesehen hat sie durchaus ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein im theologischen Sinne, wenngleich sie nicht gleichzeitig einen Zugang zur Vorstellung von Gottes Gnade und Zuwendung hat. 38 Dass ihr keine kohärente Konstruktion wie im Fall 2 gelingt, scheint daran zu liegen, dass ihr Gottesbild von der Vorstellung eines kausal wirksamen innerweltlichen Eingreifens geprägt ist und weniger vom Aspekt der Zuwendung wie im Fall 2 (dort „Wärme“, „nicht alleine sein“). Fall 19 hat trotz ihrer Kritik mit der Gottesfrage gleichwohl nicht abgeschlossen. Sie beschreibt sich als „auch unsicher“ und drückt das Bedürfnis aus „ein Teil von mir möchte glauben“. Der andere Teil von ihr dagegen ist „wütend“, dass Gott in ihr wichtigen Situationen nicht gehandelt hat. Ihr fehlt eine Möglichkeit, beide Aspekte ihres Erlebens in einer angemessenen Gottesvorstellung zu integrieren. Fall 54 ist am profiliertesten im Bereich unten/ links verortet. Die 22jährige hat wiederum typisch für Jugendliche/ junge Erwachsene unten/ links keine Beziehung zum Glauben und keine Bindung zu Gott. Sie berichtet von keiner religiösen Sozialisation. Hypothetisch lässt sie sich auf eine Gottesvorstellung ein, erlebt Gott dann aber „grausam“. Die zugrundeliegende Gottesvorstellung benennt sie zu Beginn ihrer Selbstdarstellung: Gott habe „eine große Macht“ und bestimme „aller Schicksal“. Ihre Analyse der Gegenwart ist jedoch dominant negativ bestimmt (nur „ab und an gibt es auch positive Erlebnisse“). In der Konsequenz folgt daraus, dass Gott dies im Falle seiner Existenz zu verantworten habe. Die Vorstellung eines Gottes, der sich liebend dem Menschen zuwendet, ist für sie demgegenüber offenbar nicht prägend. Vielmehr ist ihr die Vorstellung Gottes als gnadenloser Richter, der das Leben der Menschen bewertet, präsenter, sodass sie sich genötigt sieht, sich von einem derartigen Gottesbild ebenfalls abzugrenzen („Wer nicht an Gott glaubt, kommt in die Hölle“ als Missverständnis). 39 37 Die Glaubensdefinition „Illusion, die auf Wunschdenken zurückgeht“ verortet sich unten/ links, Gennerich, Dogmatik, S. 155. 38 Vgl. a.a.O., S. 71 u. 73. 39 Mit Blick auf die Frage der Fürsorglichkeit Gottes lässt sich ein Gefälle auf der Dimension Selbst-Transzendenz vs. Selbst-Steigerung festmachen. So zeigte sich auch bei den im unteren Bereich lokalisierten Fällen 8, 10 und 19 eine Kritik gegenüber der Vorstellung eines fürsorglichen Gottes. Diese Tendenz plausibilisiert sich vor der Hintergrundannahme unterschiedlicher Bindungserfahrungen in der Kindheit. Denn sichere Bindungen gehen mit einer Bejahung von Selbst-Transzendenzwerten einher (vgl. dazu Gennerich, Dogmatik, S. 186-188) und Erfahrungen von Vernachlässigung und Konflikt mit einer stärkeren Bejahung von Selbst-Steigerungswerten (vgl. a.a.O., S. 63). Dabei kann angenommen werden, dass im Falle sicherer Bindungen ein stabiles Modell des Vertrauens in die Zuverlässigkeit und Fürsorge von Bezugspersonen entwi- <?page no="100"?> Carsten Gennerich 82 Welche Erkenntnisse hat die Analyse soweit geliefert? Die Studierenden unten/ links haben weniger einen Bedarf an einer progressiv-öffnenden Theologie hin zum Pol „Offenheit für Wandel“. Vielmehr geht es für sie darum, eine Haltung zu gewinnen, die sie für die Bedürfnisse anderer stärker öffnen kann, also in Richtung auf den Pol „Selbst-Transzendenz“. An den vorgängigen Sozialisationserfahrungen, die die vorliegende Haltung bedingen (siehe Fußnote 39), wird man kaum etwas ändern können. Jedoch wird es hier entscheidend sein, die zugrundeliegenden Erfahrungen theologisch anzuerkennen. Die theologischen Deutungsmuster, die die Studierenden 19 und 54 kennen gelernt haben, vermögen das offenbar nicht. Daher rührt offenbar ihre emotional negative Haltung gegenüber Gott („Illusion“/ “wütend“, „grausam“). Dabei besteht Anlass zur Hypothese, dass auch unabhängig von der Kategorie Gott ihnen eine konstruktive Integration ihrer Wirklichkeitserfahrung misslingt. Und dann besteht durchaus die Gefahr für diese Studierenden, dass sie in den betreffenden Wirklichkeitsbereichen generell, d.h. auch in der professionellen Arbeit mit Kindern, nicht im wünschenswerten Ausmaß Zukunft eröffnende Perspektiven kreativ denken können. Es bedarf daher einer Theologie, die zunächst den Studierenden selbst Anerkennung verschafft, sodass sie dann auch leichter die Bedürfnisse anderer anerkennen können. Die Wertefeldanalysen haben gezeigt, dass besonders theologische Deutungsmuster dies vermögen, die eine Nähe zur Expression von Erfahrungen haben. Dazu zählen einige theologische Sündenkonzepte und klageorientierte Gebetstheologien. 40 Insgesamt zeigen sich damit unter den Studierenden vielfältige und zum Teil miteinander im Konflikt stehende Glaubensvorstellungen. Für diese konnten auf der Basis einer Wertefeldanalyse weitgehend plausible weiterführende religiöse Bildungsperspektiven abgeleitet werden. Über die so beschriebene differentielle Auswertung hinaus sollen nun in einer stärker integrierenden Perspektive die Glaubensdiskurse im Zusammenhang analysiert werden. ckelt wurde, sodass einzelne schmerzhafte Erfahrungen, in denen keine unmittelbare Hilfe erfahren wird, die stabile „sichere Basis“ nicht mehr in Frage stellen. So ist es denkbar, dass eine Differenz der empirischen Erfahrung zum positiven inneren Beziehungsmodell, das Eltern und Gott umfasst, eher toleriert werden kann. 40 Gennerich, Dogmatik, S. 117-119; Carsten Gennerich (2013), Empirische Dogmatik zum Gebet: Eine religionspädagogische Perspektive, in: Evangelische Theologie 73 (1), S. 16-35. <?page no="101"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 83 5 Vorfindliche Glaubensdiskurse und theologische Bildungsperspektiven In diesem Abschnitt möchte ich mit Rückgriff auf kreuzestheologische Perspektiven weiterführende Impulse für die zwölf analysierten Studierenden entwickeln. Anhand der Kreuzestheologie können zugleich die professionell begrenzenden Aspekte der Religiosität Studierender deutlich aufgezeigt werden. Die dabei zugrunde liegende didaktische Entscheidung, Studierende mit Ansätzen der akademischen Theologie zu konfrontieren, ist jedoch nicht selbstverständlich, wie nachfolgend in einem Zwischenschritt gezeigt wird. 5.1 Spezifika bezogen auf Studierende an evangelischen Hochschulen Mit Blick auf Gymnasiasten plädiert Eva Maria Stögbauer für eine Zurückhaltung gegenüber theologischen Interpretationen. 41 Stattdessen sieht sie einen religionsdidaktischen Gewinn darin, dass Schülerinnen und Schüler ihren Glauben explorieren und in Sprache fassen. Dies sei mit einem intrinsischen Motivationsgewinn verbunden. 42 Ihre empirische Studie selbst entspricht diesem Muster und ermöglicht uns zugleich Spezifika des Lernorts „Evangelische Hochschule“ schärfer zu fassen. Vergleichbar zu unserer Befragung hat Stögbauer über schriftliche Äußerungen zum Thema Gott 265 bayrische Gymnasiastinnen und Gymnasiasten der 10. bis 12. Klasse befragt (Altersdurchschnitt 16,7). 43 Die Äußerungen klassifiziert sie bezogen auf die Frage nach dem Leid. Sieben Typen unterscheidet sie: (1) Gottesbekenner („Gott ist für mich“), die eine persönliche-erlebnisgeprägte Beziehung zum Glauben haben. (2) Gottessympathisanten („Gott ist für uns“), die die Beziehung zu Gott allgemeiner kollektiv-menschlich beschreiben. (3) Gottesneutrale, die den Gottesbegriff mit innerer Distanz charakterisieren. (4) Gotteszweifler formulieren Anfragen an Gottesbilder, die sie kennengelernt haben. (5) Gottesrelativierer decken die Abhängigkeit des Gottesbildes von menschlichen Bedürfnissen auf. (6) Gottesverneiner positionieren sich in Abgrenzung zum Glauben. (7) Gottespolemiker und Tabubrecher formulieren ihre Ablehnung über den sechsten Typus hinaus mit einer aggressiven Attitüde. Ein Vergleich mit unserer Textstichprobe zeigt, dass die Unterschiede eher gradueller Natur sind. Die Typologie von Stögbauer lässt sich durchaus auf unsere Fälle anwenden. Unsere Fälle 18 und 38 entsprechen dem Typ der Gottesbekenner. Das Muster der Gottessympathisanten findet sich bei 41 A.a.O., S. 110. 42 A.a.O., S. 310. 43 Eva Maria Stögbauer, (2011), Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen: Eine qualitativ-empirische Spurensuche, Bad Heilbronn. <?page no="102"?> Carsten Gennerich 84 den Fällen 2 und 28. Fall 43 entspricht den Gottesneutralen. Vergleichbar zu den Gotteszweiflern formuliert bei uns die Studierende in Fall 8 Zweifel an Gott. Als Gottesverneiner lässt sich Fall 10 verstehen. Zuschreibungen gegenüber Gott wie „perverse kranke Person“ in Fall 19 oder „grausam“ in Fall 54 verweisen auf die Gottespolemiker. Allerdings gibt es auch Unterschiede zu notieren. Kaum einordnen lassen sich die Fälle 14, 20 und 40. Bei Fall 14 liegt über Stögbauers Fälle hinausgehend eine elaboriert dogmatisch orientierte Beschreibung des eigenen Glaubens vor. Neben der Möglichkeit einer Milieudifferenz in den Stichproben könnte die elaborierte Dogmatik von Fall 14 als Entwicklungsfortschritt im jungen Erwachsenenalter gewertet werden. Bei den Fällen 20 und 40, die ich oben als bildungsgeprägt beschrieben habe, könnte sich ebenso der Bildungsunterschied zwischen Gymnasium und Hochschule bemerkbar machen. Die so beschriebene Typologie Stögbauers entspricht nun bei genauerem Hinsehen ihrer Zurückhaltung gegenüber theologischen Interpretationen. Denn die sieben Kategorien lassen sich auf einer Skala der Annahme bzw. Ablehnung des Glaubens an Gott positionieren. Die Typologie bietet daher keine ergiebigen Brücken zu theologischen Diskursen. Schon die Organisation der Daten zielt daher nicht auf eine zielgerichtete Optimierung theologischer Bildung. Evangelische Hochschulen stellen gegenüber Gymnasien einen völlig anderen Kontext dar. Dies zeigt sich bereits bei der Rückmeldung der Studierenden auf die Aufgabenstellung. Denn die hier befragten Studierenden empfanden die geforderte Exploration bzw. Explikation ihrer Glaubensvorstellungen als unnötige Wiederholung bereits vielfach erlebter Unterrichtserfahrungen. Die Erwartung eines weiterführenden Inputs ist daher im Vergleich zu Gymnasien an Hochschulen offenbar dominanter. Hinzu kommt, dass das Leitbild der Evangelischen Hochschule und die Präambeln der Studiengänge ein christliches Menschenbild als Grundlage der Arbeit formulieren und die Förderung von Teilhabe bzw. Inklusion als Zielperspektiven der ausgebildeten Professionalität benennen. Es erscheint mir daher geboten, zu fragen, welche theologischen Impulse den Studierenden mitgegeben werden können, sodass sie im Dialog mit dem Leitbild und den Präambeln über ihre Professionalität hinreichend Rechenschaft geben können. 5.2 Die Glaubensdiskurse der Studierenden im Gespräch mit der Kreuzestheologie Im Folgenden möchte ich unter Rückgriff auf kreuzestheologische Erwägungen die vorfindlichen Glaubensdiskurse der Studierenden reflektieren. Dies ermöglicht, Perspektiven aufzuzeigen, wie die vorhandenen Glaubensvorstellungen so erweitert werden können, dass eine auf Inklusion zielende <?page no="103"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 85 Professionalität gestärkt und nicht unterminiert wird. 44 Es geht daher darum, dass die Studierenden alternative Deutungsmöglichkeiten kennen lernen, die ihnen neuartige und sinnstiftende Positionierungen in ihrem professionellen Kontext ermöglichen. Bevor wir auf die Diskurse der Studierenden eingehen, seien Grundgedanken der lutherischen Kreuzestheologie kurz skizziert. Ein zentraler Gedanke ist die Unterscheidung einer theologia gloriae und einer theologia crucis. Die „Theologie der Herrlichkeit“ nimmt Gott für eine Steigerung und Optimierung der eigenen Lebensverhältnisse in Anspruch. Der Glaube an Gott helfe, dass man erfolgreich sei. Der Glaube wird dabei also mit einem empirisch aufweisbaren Segen assoziiert. Die Kreuzestheologie geht dagegen davon aus, dass Leid und Schwachheit Orte sind, an denen Leben zu finden sind und Gott erkannt werden kann. 45 Denn Leid führt in die Einheit mit Christus am Kreuz. Durch diese Teilhabe am Leiden Gottes in Christus darf der Glaubende zugleich hoffen, auch mit Christus an der Auferstehung teilzuhaben und so Zukunft eröffnet zu bekommen. Leiden kann so positiv erfahren werden. Stellen wir für diesen Gedankengang soweit fest, wie er im Wertefeld positioniert ist. Denn darüber lässt sich abschätzen, wie er die unterschiedlichen Studierenden erreicht und in welcher Relation er zu den genannten Zielkriterien der Professionalität steht. Unter dem Aspekt der Leidensakzeptanz positioniert sich die Kreuzestheologie zunächst im Bereich „Tradition“ (vgl. Abb. 1). Zugleich sind jedoch Leid und Schwachheit entsicherte „Orte“, die Sicherheits- und Machtwerten oppositionell gegenüber stehen und somit im Bereich oben/ links zu verorten wären. D.h., dass der Gehalt der Kreuzestheologie je nach Akzentuierung im oberen Bereich mehr links oder rechts profiliert werden könnte. Eine vergleichbare Varianz zeigt sich bei einer kreuzestheologischen Formulierung des Rechtfertigungsglaubens. Denn wird ein gelingendes Leben betont nicht über Stärke und Status (Macht) definiert, resultiert eine eher universalistische Position der Kreuzestheologie. Ebenso würden über Stärke und Status Standards gesetzt, die zur Selbst- und Fremdabwertung führen, wenn sie verfehlt werden. Eine kreuzestheologische Prävention sozialer Abwertung entspricht daher Toleranzwerten, die sich wiederum im Bereich des Universalismus verorten. Wenn jedoch das Verständnis eines von Gott geschenkten Lebens befreiend gegenüber leistungsorientierten 44 Der Rückgriff auf Glaubensdiskurse zeigt des Weiteren, dass Studierende sich mit Bejahung und Ablehnung auf die gleichen Deutungsmuster beziehen können, sodass bei unterschiedlicher Positionierung doch zugleich die zugrunde liegenden Deutungen dieselben sein können. 45 Zu dieser kreuzestheologischen Grundannahme siehe ausführlich und als Grundlage der folgenden Überlegungen: Michael Plathow (2001), Wirklichkeit - erschlossen im Kreuz: Martin Luthers Kreuzestheologie im heutigen Kontext, in: Kerygma und Dogma 47, S. 180-202. <?page no="104"?> Carsten Gennerich 86 Biographie-Idealen 46 wie Erfolg, Wohlbefinden und Lebensgenuss (Leistung, Hedonismus) in Anschlag gebracht wird, resultiert eine oppositionelle Position im Bereich oben/ rechts (vgl. Abb. 1). Je nach Akzentuierung bietet die Kreuzestheologie also erweiternde Perspektiven, die den ganzen oberen Bereich des Wertefeldes abdecken. Schließlich kann die Kreuzestheologie in einer pointiert diakonischen Perspektive als Basis für ein inklusives Gemeindeverständnis herangezogen werden. 47 Denn in der Perspektive der Kreuzestheologie sind alle Gemeindeglieder beschädigte Geschöpfe, die der Gnade Gottes bedürfen. Alle Glieder der Gemeinde sind so prinzipiell gleich und auch Zweifel kann hier als „Beschädigung“ integriert werden. Mehr noch: Weil Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist (2. Kor 12,8), kann der Schwache unbedingte Wertschätzung erfahren, sodass anders als in sonstigen gesellschaftlichen Kontexten eine wirkliche Inklusion denkbar wird und eben auch die Kraft, die im Schwachen wirkt, von den gleichfalls und anders bedürftigen Starken wahrgenommen werden kann. Eine andere Dynamik gewinnt jedoch eine theologia gloriae, die auf „Herrlichkeit“, d.h. auf Wachstum und Perfektion zielt. Die in einer relativen Perspektive „biographisch Beschädigteren“ werden so hierarchisch als die Hilfsbedürftigen qualifiziert und die scheinbar Gesünderen und Erfolgreicheren als die Hilfeleistenden. Es geht dann primär darum, die einen auf das Niveau der anderen zu bringen, mit der Folge, dass diejenigen, die den damit verbundenen Leistungsgesetzen nicht folgen können oder wollen, ausgegrenzt werden. Die Kreuzestheologie verhilft daher zu einem inklusiven Gemeindeverständnis, das im Sinne der genannten Leitkriterien auf ein inklusives Professionsverständnis ausgedehnt werden kann. Ein so formuliertes diakonisches Gemeindeverständnis positioniert sich daher deutlich im Bereich oben/ links (Gleichheit/ Inklusion vs. Macht/ Hierarchie). Zusammengefasst zeigt sich daher, dass die Kreuzestheologie eine Brücke zwischen den Bereichen oben/ rechts und oben/ links bieten kann. Die konservativeren Studierenden (vgl. Abb. 2) könnten sich daher auf der Basis der Kreuzestheologie in Richtung des Bereichs oben/ links entwickeln. Die Kreuzestheologie eignet sich demnach, um persönliche Grundannahmen der Studierenden zu prüfen, die bezogen auf eine inklusive Arbeit mit marginalisierten Menschen an ihre Grenzen stoßen. Das soll im Folgenden geschehen. 46 Vgl. Plathow, Wirklichkeit; stärker anwendungsbezogen Gennerich, Dogmatik, S. 185.201.221 u. 224. 47 Siehe als Grundlage für die folgende Überlegung H.-Hermann Brandhorst (2006), Kleine Dogmatik der Diakonie, in: Volker Herrmann; Martin Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik, Bd. 2. Neukirchen-Vluyn, S. 68-77. <?page no="105"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 87 5.2.1 Die Frage des fürsorglich handelnden Gottes Bezogen auf die Idee eines fürsorglich eingreifenden Handeln Gottes zeigen sich unterschiedliche Akzentsetzungen. Fall 8 lehnt angesichts selbst erfahrener Schicksalsschläge die Vorstellung eines allmächtigen, eingreifenden Handeln Gottes ab. Schmerzhafte Erfahrungen und Gottes Fürsorge kann die junge Frau von Fall 8 nicht zusammendenken. Ähnlich wird auch in den Fällen 19 und 54 ein fürsorgliches Handeln Gottes in der Welt verneint, sei es, dass ihm das Schöpfersein abgesprochen wird (Fall 19) oder seine Existenz (Fall 54). Fall 38 dagegen bejaht gerade in einem solchen Fall Gottes Wirksamkeit, indem sie einen guten Plan Gottes annimmt, der sich am Ende herausstellen wird. Allerdings erwägt sie dies auf einer eher hypothetischen Ebene und nicht bezogen auf eigene schmerzliche Erfahrungen. Von der Logik her wird hier die empirische Evidenz nicht zum Maßstab der Bewertung von Gottes Handeln erhoben, sondern am fürsorglichen Handeln Gottes wird paradox festgehalten. Vergleichbares leistet auch bei Fall 20 der Verweis darauf, dass Gottes Handeln nicht mit der Erfüllung der eigenen Wünsche gleichgesetzt werden kann, sodass die Differenzerfahrung durch die Stabilisierung eines erweiterten Gottesbildes tragbar gemacht wird. Bei Fall 28 zeigt sich Gottes Fürsorge darin, dass er Kraft gibt, schwierige Situation zu meistern. Die Anfrage an das Gottesbild durch Leiderfahrungen wird hier dadurch zurückgewiesen, dass der Mensch für das Leid verantwortlich gemacht wird. Die Deutung hat damit jedoch für Leidende einen eher beals entlastenden Charakter. Auffällig bei den genannten Deutungen ist, dass sie eigenes, reales Leid ausschließlich theologisch negativ qualifizieren. Leid kommt nicht als ein Ort zum Ausdruck, an dem Leben zu finden ist. Das kann als ein Defizit bewertet werden. Demgegenüber bietet die Kreuzestheologie die Möglichkeit, eine in den Texten ungelöste Deutungsproblematik aufzulösen: Um eine Zuschreibung der Verantwortung für das Leid auf Gott zu vermeiden, wird wie in Fall 28 in neun weiteren Fällen der Studierendenstichprobe nicht Gott, sondern der Mensch zur Verantwortung gezogen. Das ist nicht unproblematisch, weil das Deutungsmuster einen stark gesetzlichen Charakter hat. Der leidende Mensch leidet dadurch doppelt, unter seinem Leid und der impliziten Schuldzuschreibung. Es bleibt bei den Studierenden unklar, mit welchem Deutungsmuster denn eine Wahrnehmung realen, schmerzhaften Leids in der Perspektive des Evangeliums möglich sein soll. In Fällen, in denen auf das eigene schwere Schicksal wie bei Fall 8 und 19 verwiesen wird, wird nämlich eine distanziert-ablehnende Beziehung zu Gott konstruiert. Das Deutungsmuster der innerweltlichen Fürsorge Gottes kommt hier an eine Grenze der Deutungsplausibilität. Erwägenswert wäre daher durchaus die Vorstellung, dass im Leiden der Mensch selbst an Christi Leiden teilhat und daher auch mit Christi Auferstehung auf Zukunft hoffen darf. Die mit insgesamt 13 Nennungen dominierende Annahme, dass Gott <?page no="106"?> Carsten Gennerich 88 „Schutz garantiert“ („Schutz“, „Beschützer“, „beschützen“ explizit genannt), wird mit der Verkündigung des Gekreuzigten daher heilsam relativiert. Eine kurze Explikation der Kreuzestheologie in der Hochschullehre würde daher den Möglichkeitsraum für entsprechende Deutungen erweitern. Da die Deutung von Leid als Strafe und von Erfolg als Gottes verdienter Segen unten/ rechts verortet ist, 48 ist anzunehmen, dass die Auflösung einer solchen theologia gloriae auch dazu beiträgt, den Weg in Richtung einer religiösen Deutungskultur zu öffnen, die mit den Werten oben/ links in einem förderlichen Passungsverhältnis steht. 5.2.2 Die Frage der Erfahrung von Anerkennung Bei den Fällen 14, 18, 20, 28, 38 und 40 wird die Beziehung zu Gott als leistungsbzw. voraussetzungslos konzipiert. Bei den Fällen 20 und 40, die beide auf der Seite des Pols „Offenheit für Wandel“ liegen, schenkt Gott z.B. die Möglichkeit, mit Standards und ihrer Verfehlung frei umzugehen, sodass der eigene Weg gefunden werden kann. Der Fall 54 unten/ links denkt dagegen scheinbar keine Möglichkeit einer Gottesbeziehung. Allerdings betrachtet er die Hölle für Ungläubige als Missverständnis Gottes, sodass er ex negativo für eine Gottesbeziehung nach dem Modell der Voraussetzungslosigkeit plädiert, die er offenbar aber so nicht in seinen Erfahrungen mit der Kirche erlebt hat. Der gleichfalls unten/ links verortete Fall 19 erwägt das Weihnachtsfest als Erfahrung geschenkter Geborgenheit („es war immer schön“), nimmt dann jedoch eine ablehnende Position gegenüber dieser Möglichkeit ein. Möglicherweise ist dafür nicht nur der religiöse Bedeutungsgehalt von Weihnachten ausschlaggebend, sondern der geschenkhafte Charakter der Erfahrung, die nicht dem Weltbild der Studierenden entspricht. Etwas deutlicher wird die Distanz zum Rechtfertigungsgedanken auch - wie oben bereits benannt - bei Fall 28. Die Studierende sieht als Ursache für Verantwortungslosigkeit die Gnade gegenüber einem Fehlverhalten und lehnt daher die Anwendung des Gnadengedankens ab. Der Gedanke der bedingungslosen Zuwendung Gottes ist daher offenbar allen bekannt, jedoch unterschiedlich zugänglich. Eine offene Frage ist dabei jedoch, inwiefern der Rechtfertigungsgedanke angemessen und radikal genug verstanden wird. Denn nicht alle Studierenden kennen wirklich belastende Lebenswelten aus eigener Erfahrung, sodass die Zuwendung Gottes möglicherweise tendenziell mit der Annahme verbunden ist, dass Gott den befriedigenden Verlauf der eigenen Biographie garantiert (z.B. wenn Gott „Geborgenheit“ vermittelt wie in Fall 18 oder die Entwicklung zur Selbständigkeit fördert wie in Fall 28). Von Schwachheit und Leid bzw. Sün- 48 Gennerich, Dogmatik, S. 242, 257-258. <?page no="107"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 89 de erfährt man dagegen nur sehr begrenzt in den Texten bzw. vor allem bei Studierenden, die sich vom Glauben distanziert haben (und d.h. offenbar von einer dominanten theologia gloriae). Eine kreuzestheologische Lesart der Rechtfertigungslehre ermöglicht demgegenüber - wie oben beschrieben, auch negative biographische Erfahrungen konstruktiv und befreit von gesellschaftlichen Bewertungen in das Selbstkonzept zu integrieren. Es kann dann angenommen werden, dass damit auch professionell wünschenswerte Empathie verstärkt freigesetzt wird. 49 Diese ist u.a. wiederum eine notwendige Bedingung für die eingangs benannte professionelle Norm „Entwicklung fördern“. 5.2.3 Die Frage der Definition von Zugehörigkeit Auffällig ist zunächst, dass die Frage der Inklusion bezogen auf den Diskurs über Kirche kaum thematisch wird. Vordringlich geht es um die Frage der Relevanz der Kirche. Fall 14 formuliert den Sinn der kirchlichen Gemeinschaft eher liturgisch (Gott dienen), Fall 38 mit Bezug auf den Gedanken der Koinonia (keiner braucht einsam sein). Die Formulierung bei Fall 28 umschließt wohl beide Aspekte (genieße gemeinsam eine Beziehung zu Gott zu haben). Die Fälle 18 und 40 betonen demgegenüber besonders, dass Gott auch außerhalb der Kirche zu finden ist (Fall 40) bzw. dass ein Gebet zu Gott auch außerhalb der Kirche möglich ist (Fall 18). Da auch die gemeinschaftsbejahenden Fälle 28 und 38 die Möglichkeit des Glaubens mit geringem Kirchenkontakt betonen, scheint die potentielle Spannung „mit oder ohne Kirche“ für die Studierenden kein wirkliches Problem zu sein. Die Abgrenzung gegenüber der Kirche scheint damit weniger antiinstitutionell zu sein, sondern auf die Entdeckung der eigenen Glaubenspraxis mitten im Alltag zu deuten. Die Frage der Zugehörigkeit wird bei den Studierenden, die eine eher positive Beziehung zum Glauben haben, dabei nicht kritisch wahrgenommen. Anders scheint dies jedoch bei Studierenden zu sein, die sich als zweifelnd erleben. Denn Fall 8 benennt ihren Zweifel als Grund für ihre „Selbstexklusion“ aus der Kirche. Kirche erlebt sie offenbar nicht als eine Gemeinschaft der Zweifler. Ähnlich sieht dies bei Fall 10 aus, der sich ebenfalls als Zweifler versteht und außerhalb der Kirche positioniert. Nun lässt sich fragen, ob denn die Studierenden mit einer eher positiven Beziehung zum Glauben eine theologische Handhabe hätten, um der Problematik der Exklusion zu begegnen. Dass die Studierenden eine entsprechende Kompetenz haben, scheint eher nicht der Fall zu sein. Dies zeigt sich angesichts ihres Diskurses zur religiösen Vielfalt: So ist unter den Studie- 49 Empathie ist bezogen auf Erfahrungsbereiche blockiert, in denen eine kohärente Organisation paralleler eigener Erfahrungen bisher nicht gelungen ist, vgl. Gianine D. Rosenblum; Michael Lewis (2004), Emotional development in adolescence, in: Gerald R. Adams (Ed.), Blackwell handbook of adolescence, Malden, MA, S. 269-289. <?page no="108"?> Carsten Gennerich 90 renden die Anerkennung unterschiedlicher Religionen strittig. Die Studierende in Fall 14 grenzt sich von der Möglichkeit eines Gottes ab, der über verschiedene Traditionen verehrt wird. Zugehörigkeit wird damit exklusiv über einen spezifischen Glaubensinhalt definiert. Die Fälle 10, 28 und 43 positionieren sich demgegenüber mit der Differenz akzeptierenden Überzeugung, dass ein Gott sei, der verschiedene Seiten (Fall 10) bzw. verschiedene Namen (Fall 28) habe bzw. unterschiedlich interpretiert werde (Fall 43). Einen gänzlich relativierenden Charakter haben sodann die Auffassungen der Fälle 18, 40 und 54, die das Problem weniger theoretisch lösen, sondern ganz dispensieren, indem sie jegliche Auffassung als legitim behaupten und die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung von richtig/ falsch im Gebiet der Religion verneinen. Der Problematik eines Exklusivismus wird also mit einer Strategie des Relativismus begegnet. Damit bleiben jedoch ausschließende Grundüberzeugungen unwidersprochen und inklusive Gemeinschaftsnormen können kaum gefördert werden. Es stellt sich daher auch hier die Frage nach einer erweiternden theologischen Perspektive. Auch hier bietet sich daher - wie oben skizziert - die Kreuzestheologie als eine Basis für ein inklusives Gemeindeverständnis an. Mit ihr kann für eine Inklusion von Menschen unabhängig von ihrer Leistung, ihrem Status und ihrem Schicksal argumentiert werden. Die religiösen Überzeugungen der Studierenden können so in eine Richtung elaboriert werden, die sich stützend und begründend auf die angesprochenen professionellen Normen der Gleichheit und Teilhabe beziehen. Zusammenfassend zeigt sich somit, dass begrenzte theologische Deutungsmuster sich so erweitern lassen, dass Deutungsprobleme, die die Studierenden selbst wahrnehmen oder die sich vor dem Hintergrund professioneller Normen ergeben, reflexiv-hypothetisch „gelöst“ werden können. Ob sich dann die Studierenden ihnen bisher nicht bekannte theologische Deutungsmuster auch aneignen, ist eine andere Frage. Denn zunächst geht es darum, dass anhand exemplarischer, problembezogener Erörterungen die Attraktivität und Notwendigkeit theologischer Reflexion entdeckt werden kann. Ich gehe dabei davon aus, dass die Aneignung neuer Deutungsmuster zum einen von zufälligen bzw. nicht-bekannten Faktoren abhängig ist. D.h., die individuellen religiösen Konstruktionen lassen sich nicht determinieren. Theologisch gesprochen unterliegen sie dem Wirken des Heiligen Geistes. Gleichzeitig lassen sich jedoch auch Gesetzmäßigkeiten aufdecken. Eine didaktische Reflexion auf den Bahnen empirischer Zusammenhänge führt im Ergebnis dazu, dass professionell angemessene oder persönlich plausible religiöse Konstruktionen im rezipierenden Individuum mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zustande kommen. Eine Reflexion unter Rückgriff auf die Heuristik des Wertefeldes bietet in diesem Sinne eine Orientierung und leitet zu einer strukturierten Suche an, sodass Studierenden neue Deutungsmuster gezielter angeboten werden können. Eine wertschätzende Auf- <?page no="109"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 91 nahme der vorfindlichen Religiosität der Studierenden im Prozess der didaktischen Umsetzung eines solchen Bildungsanliegens versteht sich dabei von selbst. 6 Anhang: Ausgewählte Texte von Studierenden 6.1 Oben/ rechts Fall 14 (weiblich, 23 Jahre) Definition: Es gibt viele Religionen, in denen Gott oder mehrere Götter angebetet werden. Im Christentum, das in Deutschland hauptsächlich vertreten ist, gibt es den dreieinigen Gott, der Vater, Sohn und Heiliger Geist ist. Er hat die Welt erschaffen und durch Jesus die Welt von der Sünde gerettet. „Gott ist die Liebe“ wird in der Bibel definiert. Gott ist allmächtig. Das Anbeten anderer Götter ist Götzendienst, sie sind Projektion menschlicher Bedürfnisse und Wünsche, auf die die Menschen anbeten können. Oft gibt es einen Heilsweg, auf dem die Menschen bestimmte Regeln und Verhaltensweisen + Gesetze einhalten müssen, um am Schluss erlöst zu werden bzw. sich selbst zu erlösen. Nur bei Gott steht die Erlösung am Beginn des Glaubenslebens, woher Gesetze + Traditionen eher drittrangig sind. Gefühl: Wenn ich an Gott denke, freue ich mich und verspüre inneren Frieden. Gefühle sind allerdings nicht das, wovon das Glaubensleben geleitet werden sollte, genauso wenig wie der Verstand. Beide sind aber Bestandteile des Menschen, können jedoch trügerisch wirken. Entscheidend für den Glauben ist der Wille. Meine positiven Gefühle kommen daher, dass ich mich bekehrt habe, d.h., meine Sünden vor Gott gebracht habe und von ihm ewiges Leben und Heilsgewissheit geschenkt bekommen habe. Orte: Gott ist in jedem Lebensbereich relevant, für einen Gläubigen gibt es keine Bereiche, aus denen er Gott aussperren möchte oder kann und keine Räume, in die Gott hingehört und andere, an denen er nicht zu suchen hat. Die Kirchen stellen besondere Begegnungsstätten mit Gott dar, in denen man sich besonders darauf konzentriert, ihm als Gemeinschaft der Gläubigen zu dienen. Verhalten: Man verhält sich zu Gott idealerweise gehorsam, anbetend, demütig, freudig gehorchend. Man kann mit seinen Freuden und Problemen vor Gott kommen wie zu einem Vater. Missverständnisse: a) Oft wird er für eine bestrafende Person gehalten, die einem keinen Spaß gönnt. Vielleicht, weil in der Bibel viele Anweisungen gegeben werden, wie ein gutes Leben geführt werden kann. Diese stellten sich bei ihrer Befolgung jedoch als vernünftige Regeln heraus, die den Menschen vor selbstbetrügerischer Mentalität schützen und ein wirklich erfülltes <?page no="110"?> Carsten Gennerich 92 Leben schon auf Erden ermöglichen. b) Ein weiteres Missverständnis besteht darin, dass der Glaube, der zu einer Religion gehört, auf die auf ihn hinweisende Tradition reduziert wird. c) Ein anderes Missverständnis ist, dass manche Menschen glauben, alle Götter der verschiedenen Religionen oder zumindest der monotheistischen Religionen, seien eigentlich ein einziger Gott, der nur unterschiedliche Namen hat. Das lässt sich leicht anhand der gegensätzlichen Glaubensinhalte der Religionen ad absurdum führen. Fall 18 (weiblich, 23 Jahre) Definition: Gott ist für mich eine übernatürliche Kraft. Gott ist überall und bei jedem Menschen. Gott muss mir nicht in Form eines Gegenstandes oder Person erscheinen, sondern ich weiß, er ist in meiner Nähe. Gefühle: Ich fühle Geborgenheit, wenn ich an Gott denke. Als ich ein kleines Kind war (4 Jahre) ist meine Uroma gestorben. Ich war anfangs sehr traurig darüber. Meine Mutter sagte mir, meine Uroma wäre nun bei Gott und würde immer zu mir runter schauen und mich begleiten. Da meine Uroma mir sehr nahe gestanden hat als Kind, verbinde ich Gott mit Geborgenheit. Ich sehe 2 offene Hände vor mir, die mich schützen. Auf diesen Händen sitzt meine Oma und strahlt mich an. Orte/ Verhalten: Gott ist überall. Gott begleitet jeden Menschen auf verschiedene Arten. Ich muss nicht in die Kirche zum Gottesdienst gehen, um zu Gott zu beten. Ich finde, man kann an jedem Ort in jeglicher Situation zu Gott beten. Aus diesem Grund ist Gott für mich überall. Man sollte meiner Meinung nach sich öffnen für den Glauben. Es gibt kein richtig und falsch. Missverständnisse: Für mich gibt es keine Missverständnisse. Jeder hat sei eigenes Gottesbild und seinen eigenen Glauben. Es gibt im Glauben einer Religion kein richtig und falsch, denn jeder Mensch ist individuell und hat eigene Vorstellungen an das, was er glaubt. Fall 38 (weiblich, 24 Jahre) Definition: Gott ist für mich eine Art körperlose Macht, die alle Dinge beeinflusst, evtl. sogar steuert. Gott gibt Kraft, wenn ich mich hilflos fühle, egal wo ich bin. Es gibt Zeiten, da stehe ich Gott näher und Zeiten, in denen ich mich entferne, aber ich kann immer zu Gott zurückkommen. Gefühle: Bei dem Wort Gott fühle ich immer etwas Positives, denn selbst wenn etwas passiert, was wir als schrecklich empfinden, hat das Geschehene einen Grund. Dieser Grund ist uns jedoch i.d.R. nicht bewusst oder nicht begreifbar. So ist evtl. ein Berufssportler nicht dazu bestimmt, Sportler zu sein und durch eine Verletzung, mit der er seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, findet er seine wahre Bestimmung (/ Berufung). Desweiteren fühle ich bei dem Wort etwas Positives, weil Gott Menschen zu Gemeinschaften werden lässt. Ist man mit Gott, ist man nie wirklich alleine. <?page no="111"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 93 Ort: Gott ist für mich immer und überall. Besonders deutlich wird dies natürlich in Gemeinden, aber d.h. nicht, dass Gott nicht auch bei mir ist, wenn ich nicht regelmäßig die Gemeinde besuche. Verhalten: Ich denke, man kann immer, wenn man es braucht, zu Gott sprechen und wenn man Gott nicht versteht, darf man das auch sagen. Man sollte den richtigen Weg für sich selbst finden, wie man mit Gott umgehen möchte. Missverständnisse: Kirche und Gott sind nicht das Gleiche. Ich muss nicht in die Kirche gehen, um an Gott glauben zu können, denn Gott ist immer und überall. Gott straft uns nicht, weil wir uns von Gott entfernen bzw. belohnt uns, wenn wir Gott nahe sind, Gott ist einfach da und gibt uns Kraft, wenn wir sie brauchen. 6.2 Unten/ rechts Fall 8 (weiblich, 23 Jahre) Definition: Wenn ich einen Definitionsvorschlag zum Begriff „Gott“ machen soll, fällt mir Folgendes dazu ein: Gott ist für mich persönlich ein Wesen, das mit dem Glauben identifiziert wird. Es ist etwas, an was die Menschen glauben, jedoch ist die Existenz nicht wissenschaftlich bewiesen. Christen, die an Gott glauben, identifizieren sich meist mit der Bibel. In der Bibel steht geschrieben, dass Gott Menschen, Tiere und Pflanzen erschuf. Gefühle: Wenn ich an Gott denke, habe ich erstmal ein neutrales Gefühl, weil ich mich nicht so verbunden fühle. Ich bin mir nicht sicher, ob es Gott überhaupt gibt und ich denke, dass es Menschen gibt, die Christen sind, obwohl sie nicht an Gott glauben. Früher war ich oft im Kindergottesdienst, weil es ein „geschützter“ Ort war, in dem Spiele und Geschichten vorgelesen wurden. Doch seit einigen Jahren besuche ich die Kirche nicht mehr, da es Schicksalsschläge gab, die mich an der Existenz Gottes zweifeln lassen haben. Jedoch denke ich, dass es etwas gibt, das das Schicksal beeinflusst. Orte: Kindergarten, Schule, Altenheim, Kirche bzw. kirchliche Einrichtungen, Hospiz, Krankenhäusern. Verhalten: Ich denke, dass sich Menschen ihr persönliches Verhalten zu Gott zu einfach machen. Wenn etwas gut läuft und man Erfolg hat, dankt man Gott. Wenn es Schicksalsschläge gibt, gibt man Gott die Schuld dafür. Ich bin nicht der Meinung, dass Menschen oft „einen Schuldigen“ für ihr Verhalten suchen sollten. Missverständnisse: Ein großes Missverständnis für mich persönlich ist folgendes: „Gott ist allmächtig“. <?page no="112"?> Carsten Gennerich 94 Fall 10 (männlich, 23 Jahre) Definition: Im Juden- und Christentum Oberhaupt der Religion. Etwas ohne Geschlecht, das auf Bildern meist als alter Mann dargestellt wird. Gilt in den Religionen als Schöpfer alles Existenten, der in 6 Tagen und einem anschließenden Ruhetag alles, die Erde und das Universum erschaffen hat. In Erzählungen erscheint Gott meist durch Symbole. Gott soll die 10 Gebote, die „Verfassung“ des Juden- und Christentum an Moses übergeben haben. Gefühle: distanziere mich von den oben genannten Glaubensrichtungen; teile einige christliche/ moralische Werte; zweifle die Existenz eines Gottes an; glaube an die doppelte Verwendung von Gottheiten in anderen Religionen, viele glauben an denselben Gott, der unterschiedliche Seiten hat. Orte: Glaubensstätten, wie Kirchen, Moscheen, Synagogen …; Friedhöfe; Kindergärten und Schulen, Hochschulen, religiöse Arbeitsstätten; Privathäuser; Gedanken; Rituale (Gebete, Lieder). Verhalten: man spricht in Gedanken und Gebeten zu ihm, ich aber nicht; man behandelt ihn ehrfürchtig → keine Kritik; man redet über ihn, diskutiert; Ausbildung neuer Glaubensrichtungen, Neuauslegung der Bibel. Missverständnisse: Christentum sollte nicht Staatsreligion in Deutschland sein; Gott sollte eher anzweifelbar sein. Fall 28 (weiblich, 26 Jahre) Definition: Übermenschliche, spirituell greifbare „Gottheit“/ Existenz, Oberhaupt des chr./ ev. Glaubens, Schöpfer der Welt, „wacht“ über Menschen begleitet jeden Menschen individuell auf seinem Weg durch das Leben; fördert die „Weiterentwicklung“ des Menschen zur Selbstständigkeit. Gefühle: Gott gibt Hoffnung, Halt und Zukunft, sowie Sicherheit und Geborgenheit. Glaube an Gott gibt Kraft, auch schwierige Situationen im Leben zu meistern. Man kann in jeder Situation zu ihm sprechen. Orte: Gott ist immer relevant, in guten wie in schlechten Zeiten; Gott ist mitten im Leben! Verhalten: Das ist individuell! Manche Menschen leben alleine ihren Glauben an Gott aus, andere tun dies in einer Gemeinschaft. Oder man verbindet beides! Ich habe eine sehr persönliche Beziehung zu Gott und genieße es ebenfalls, gemeinsam mit anderen Menschen eine Beziehung zu Gott zu haben. Für mich gibt es nur Gott und jedes Volk hat verschiedene Namen für ihn! Z.B. Allah. Missverständnisse: Gott ist nicht nur in schlechten Zeiten da, sondern auch in guten Zeiten. Man kann Gott nicht für alles Schlechte dieser Welt verantwortlich machen, da der Mensch lernen muss, für seine Taten Verantwortung zu übernehmen. Gott ist keine Rechtfertigung für „Fehlverhalten“. Bsp.: Durch Beten/ Beichten wird Fehlverhalten aufgehoben, das rechtfertigt „schlechte Dinge“ zu tun. <?page no="113"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 95 6.3 Oben/ links Fall 20 (männlich, 23 Jahre) Definition: Vater, Sohn und heiliger Geist. Gefühle: a) Angst/ Wut/ Ohnmacht: Ausgehend von der Annahme, dass Gott allmächtig ist, stellt sich die Frage der eigenen Einflussmöglichkeiten auf das eigene Leben und die Umwelt. Die Angst vor unabwendbaren „Katastrophen“ und die aus der Ohnmacht, (scheinbar) nichts gegen diese tun zu können, entspringende Wut sind resultierende Gefühle. b) Erleichterung: Ich empfinde Erleichterung in Situationen, in denen ich „Glück“ habe, beispielsweise beim Finden verlorener Schlüssel. Das „Glück“ halte ich dabei für „Handeln“ Gottes. Darüber hinaus wird mein Gewissen bei begangenen Fehlern erleichtert, beziehungsweise durch das „Ausschalten“ der Schuldebene kreativer Umgang mit den Fehlern möglich. Orte: Angenommen Gott ist allmächtig: Alle. Die Relevanz Gottes wird durch Menschen sichtbar, die Orte nutzen und Themenbereiche diskutieren. So werden beispielsweise von Hafenmissionaren auf Schiffen religiöse Orte auf Zeit geschaffen (es wird beispielsweise ein Altar in Form eines Tisches aufgestellt, der später wieder ein Tisch ist). Verhalten: Es fällt mir sehr schwer, diese Frage zu beantworten, da eine Kommunikation mit Gott nicht wie menschliche Kommunikation abläuft. Ein bestimmtes Verhalten ruft nicht zwangsläufig eine eindeutige Reaktion hervor. Missverständnisse: a) Es gibt Gott nicht. b) Gott als „Wunschautomat“ zu sehen im Sinne von: Ich lebe fromm, also erfülle mir meine Wünsche. Auch umgekehrt funktioniert der Irrtum: Ich gehe nicht in die Kirche, bin nicht getauft etc., also kümmert sich Gott nicht um mich. Fall 40 (weiblich, 20 Jahre) Definition: Gott ist für mich ein Gedankensammelpunkt. In schwierigen Momenten bin ich ihm nah und schöpfe somit neue Kraft und Mut. Dies kann überall geschehen… Gefühle: Wenn ich an Gott denke, denke ich an etwas, das konstant und durchweg positiv ist. Ich werde gesehen von allen Seiten und Gott weiß, wie es in mir ausschaut. Wenn ich an Gott denke, werde ich ruhig und gelassen und kann meine momentane Lebenssituation überdenken und neue Entschlüsse u. Zielsetzungen fassen. Ich bekomme dadurch innerliche Ruhe und schöpfe Kraft für das, was noch geschieht. Orte: Gott ist zumal an jeglichen Feiertagen relevant, da ich dadurch immer wieder an Gott erinnert werde und jedes Fest eine erneute Einladung zu Gott ist. Es ist ein Angebot, zur Ruhe zu kommen und sich auf seine Herkunft u. die wichtigen Dinge im Leben zu besinnen. Jegliche Bereiche des <?page no="114"?> Carsten Gennerich 96 Lebens, in denen man sich freut, diese erleben zu dürfen, sind Bereiche, in denen Gott relevant für mich ist. Sei es ein schöner Nachmittag mit Freunden oder ein prägendes Ereignis. In Situationen, in denen ich mich besonders spüre, ist Gott ebenfalls relevant. Sei es beim Sport, in Extremsituationen oder beim Sex. Verhalten: Meiner Meinung nach verhält man sich offen und ehrlich zu Gott, weil Gott durchweg ehrliche Gefühle gibt. Man kann Gott nicht suchen. Gott begegnet einem in unterschiedlichen Situationen. Missverständnisse: Früher dachte ich, dass Gott nur in der Kirche zu finden ist, dass er rein in Glaubensstrukturen verstrickt ist. Jedoch kann ich auch ohne ersichtliche religiöse Aspekte Gott begegnen. Gott hat für jeden eine andere Wichtigkeit und Auffassung, dies gilt es zu respektieren. Fall 43 (weiblich, 22 Jahre) Definition: Gott ist ein „Name“, hinter dem sich ALLES verbergen kann. Für jeden anders interpretiert. Gefühle: widersprüchlich: sagen & machen von vielen „Gottesmenschen“ ist anders/ unterschiedlich/ stimmt nicht überein; manchmal habe ich das Gefühl, dass die Bibel „falsch“ gelebt wird - dass Jesus falsch verstanden ist/ interpretiert wird; mir kommt es oft so vor, dass in der Kirche & bei allen, die damit zu tun haben, die Gegenwart vergessen wird, dass der Vergangenheit & der Zukunft deutlich mehr Beachtung geschenkt wird - warum? Gott übernimmt die Verantwortung bzw. oft habe ich den Eindruck, dass die eigene Verantwortung auf Gott übertragen wird. Dadurch ist man dann nicht mehr für das eigene Leben verantwortlich, was ich für das wichtigste halte. Ich könnte noch viel mehr aufschreiben. Woher diese Gefühle kommen, kann ich nicht sagen. Verhalten: Sprache: „Oh, mein Gott“, „so Gott will“. Oft, wenn es Menschen nicht gut geht; Kirche. Missverständnisse: Bewertungen anderer Glaubensinterpretationen sind meiner Meinung nach nicht im „göttlichen Sinne“ - also ein Missverständnis! Aus dem genannten Missverständnis erwachsen auch oft Kriege, zwischen allen möglichen Gruppen. 6.4 Unten/ links Fall 2 (weiblich, 24 Jahre) Definition: Gott ist undurchsichtig, nicht greifbar als Gegenstand/ Person, dennoch für (jeden)? erreichbar. Gefühle: Verständnis den Menschen gegenüber, die an ihn glauben. Unverständnis denen gegenüber, die sich Gott als einzige Wahrheit zum Lebens- <?page no="115"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 97 inhalt machen und anderes nicht tolerieren. Wärme (Gott ist überall und für den zugänglich → nicht alleine sein). Orte: In dankbaren Situationen; während Unsicherheiten, kritischen Situationen; in Situationen, in denen man sich die Welt oder das Geschehen nicht mit wissenschaftlichen Dingen erklären kann. Verhalten: Respektvoll/ ehrlich (auch wenn man nicht an ihn glaubt). Missverständnisse: Zu klare Vorstellungen vom Bild Gottes → Gott ist der einzige Weg, die Lösung, Entscheidungsträger. Fall 19 (weiblich, 24 Jahre) Definition: Für mich spielt „Gott“, wie er evtl. für andere real und existent sein mag, keine Rolle mehr. Früher einmal vielleicht. Als ich jünger war, schien „Gott“ eine unerreichbare (körperlich gesehen), mysteriöse Person zu sein & ich stellte mir vor, dass diese Person über magische Fähigkeiten verfügte, allmächtig war - zaubern konnte! Irgendwo oben in den Wolken. Wenn ich mal betete (in Situationen, wo es mir meist weniger gut ging oder ich Ärger hatte), wünschte ich mir immer etwas. Allerdings ging es so nie in Erfüllung, was immer zu Enttäuschung meinerseits führte. Heute ist „Gott“ in meinem Kopf vielleicht noch eine Person (optisch), aber ich glaube eher, dass „ER“ für manche eher ein Hoffnungsschimmer ist. Eine Art Strohhalm, an dem man sich festhält, wenn es das Leben gerade schwer mit einem meint. Wenn man nicht weiter weiß, dann heißt es: „Ach, ja richtig, da war ja was! Gott! “ Natürlich möchte man einerseits an jmd./ etw. glauben, aber ich habe den Glauben an „Gott“ verloren. Ich kann an keine Übermacht irgendwo da draußen glauben, deren Alltag darin besteht, Voyeur zu sein, und uns wie bei einem Puppenspiel zuzuschauen - der Fädenzieher zu sein, die Lösung! Es gibt zu viel auf der Welt, was ich nicht begreife und viel Schweres, was mir selbst schon widerfahren ist und wogegen „Er“ nichts unternimmt! Gefühle: Sollte ich mich irren und es gibt jemand (ein „Gott“), der über uns steht und allmächtig ist, dann ist diese Person für mich eine perverse, kranke Person, wenn sie immer noch meint: WIR wären unser eigener Herr und müssten selbst entscheiden auf der Erde. In Lagen wie Hunger/ Tod/ Krankheit etc., wo wir als menschliche Rasse Egoisten sind, müsste er doch mal eingreifen! ! Es macht mich wütend, ich bin enttäuscht, verletzt, aber auch unsicher. Ich denke diese Gefühle spiegeln einfach meine Erfahrungen im Leben wider. Der plötzliche Tod von Menschen (guten Menschen! ), die ich liebe, … Orte: Ja, an Weihnachten sind wir immer in die Kirche gegangen oder auch manchmal bei anderen Anlässen, und es war immer schön, aber hatte das mit „Gott“ zu tun? Ich denke, ein Teil von mir möchte glauben. Religion und somit auch Gott sind in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtig und <?page no="116"?> Carsten Gennerich 98 manchmal auch unausweichbar. Für mich ist das ok. Auch beruflich gesehen! Ich akzeptiere den Gedanken anderer Menschen und sträube mich grundsätzlich nicht dagegen. Im Moment kann ich jedoch sagen, dass „ER“ nicht relevant ist. Nicht bewusst zumindest! Verhalten: Momentan vermeide ich „Gott“ und es macht mich wütend! Ich reagiere abweisend zu aufkommenden Themen. Missverständnisse: Da keiner weiß, ob es ihn/ sie/ es gibt, sind da zahlreiche Missverständnisse. Für mich persönlich ist ein Missverständnis, dass Gott der Schöpfer von Himmel & Erde und allem, was darauf lebt, ist. Fall 54 (weiblich, 22 Jahre) Definition: Gott ist für mich ein „Geist“, der angeblich im Himmel sein Zuhause hat. Viele Menschen glauben, dass er eine große Macht hat und unser aller Schicksal bestimmt. In verschiedenen Kulturen/ Religionen hat Gott auch einen anderen „Namen“. An Gott wird geglaubt und zu ihm wird gebetet. Gott hat mit der Geburt von Jesus zu tun und wird in der Bibel oft genannt. Er ist für Feste verantwortlich und wird allmächtig bezeichnet. Ob Gott erfunden ist oder nicht, für manche ist er ein wichtiger Bestandteil des Lebens und ihrer Welt und für andere hat er keinerlei Bedeutung. Gott ist da oder auch nicht. Gefühle: Ich persönlich habe keine Gefühle, wenn ich das Wort Gott höre, denn ich habe keine Verbindung zu dem Glauben. Aber wenn ich mir dann vorstelle, dass es ihn doch geben sollte, finde ich es grausam, was er mit der Welt und den Menschen macht. Ab und an gibt es auch positive Erlebnisse. Was ich auch noch empfinde ist, dass einigen meiner Freunde und Bekannten wichtig ist, was ich toleriere und akzeptiere. Orte: Schule/ Universitäten; Kindertagestätten; Kirche + kirchliche Einrichtungen; Friedhof; Feste + Feiern; in Familien. Verhalten: Ich persönlich verhalte mich nicht zu Gott, denn ich habe keine Bindung zu Gott oder einer Religion. Ich denke aber, dass man mit Respekt den Menschen gegenübertreten sollte, die an Gott glauben wie auch die Menschen, die an Gott glauben, mit Respekt den ungläubigen Menschen entgegentreten sollten. Meiner Erfahrung nach wird Gott respektiert und Gläubige haben Ehrfurcht vor Gott und hoffen/ bauen auf ihn. Missverständnisse: Wer nicht an Gott glaubt, kommt in die Hölle. Es gibt noch viele andere „Missverständnisse“, die ich aufzählen könnte, jedoch sind es meiner Meinung nach Ansichten, die als „Missverständnisse“ ausgelegt werden. Jeder hat seine eigene Ansicht und somit gibt es keine richtigen/ falschen „Missverständnisse“. <?page no="117"?> Religiosität von jungen Erwachsenen / Studierenden 99 Auswahlbibliographie Gennerich, Carsten (2012): Religiosität Jugendlicher in kompetenztheoretischer Perspektive. In: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 11 (1), S. 128-163. Gennerich, Carsten (2010): Empirische Dogmatik des Jugendalters. Stuttgart. Streib, Heinz; Gennerich, Carsten (2011): Jugend und Religion. Weinheim. <?page no="119"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne - Überlegungen aus sozial(arbeits)wissenschaftlicher Perspektive Abstract: Vielfalt, Diversitätsmanagement, ambivalente Postmoderne und Menschenrechtsfragen sind Schlagworte, die in den letzten Jahren Einzug in die bundesrepublikanische Diskussion über Gleichstellungspolitik, Chancengerechtigkeit und Antidiskriminierungsarbeit sowie in Praxisansätze zur Überwindung von Ausgrenzung, Benachteiligung und Rassismus von Minderheiten gehalten haben. In den sozialen Berufen erfordert die Wertschätzung von Diversität, die Umsetzung von Inklusion und die Verwirklichung von Menschenrechten einen Paradigmenwechsel: Anderssein bedeutet nicht mehr Defizite zugeschrieben zu bekommen, Vielfalt stellt keine Bedrohung der Funktionsfähigkeit und Effektivität einer Organisation dar, sondern wird als Potenzial und Ressource wahrgenommen und anerkannt. In diesem Beitrag werden daher zunächst wesentliche Entwicklungslinien des Diversitäts- und Menschenrechtsdiskurses vergleichend dargestellt, um nach einer kritischen Bewertung - im Sinne einer Weiterentwicklung - wechselseitige Ergänzungsmöglichkeiten in Richtung einer partizipatorisch-reflexiven Diversität als eine Schlüsselqualifikation der soziale Berufe in Zeiten der Postmoderne aufzeigen zu können. 1 Einleitung Vielfalt, Diversitätsmanagement, ambivalente Postmoderne und Menschenrechtsfragen sind Schlagworte, die in den letzten Jahren Einzug in die bundesrepublikanische Diskussion über Gleichstellungspolitik, Chancengerechtigkeit und Antidiskriminierungsarbeit sowie in Praxisansätze zur Überwindung von Ausgrenzung, Benachteiligung und Rassismus von Minderheiten gehalten haben. In den sozialen Berufen erfordert die Wertschätzung von Diversität, die Umsetzung des Inklusionsgedankens und die Verwirklichung der Menschenrechte einen Paradigmenwechsel: Anderssein bedeutet nicht mehr Defizite zugeschrieben zu bekommen, Vielfalt stellt keine Bedrohung der Funktionsfähigkeit und Effektivität einer Organisation dar, sondern wird als Potential und Ressource wahrgenommen und anerkannt. <?page no="120"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 102 „Überlegungen zum Umgang mit Differenz und Andersheit (Othernes) markieren eine ebenso grundlegende wie fachlich und politisch hochaktuelle Aufgabenstellung Sozialer Arbeit. Die Thematik ist grundlegend, weil die Thematisierung von Differenz(en) - in Form von Armut, Desintegration oder abweichendem Verhalten - überhaupt erst den Katalysator bereitgestellt hat für die institutionelle Etablierung Sozialer Arbeit seit dem 19. Jahrhundert (vgl. Maurer 2001; Rommelspacher 2003; Peukert 2008; Dollinger 2006).“ 1 Im Rahmen einer notwendigen theoretischen wie methodischen Neuorientierung der Profession und Disziplin werden seit den 1980er Jahren zunehmend bislang „anerkannte“, binäre Differenzordnungen (Behindert- Nichtbehindert, Frau-Mann, Alt- Jung etc.) durch dekonstruktivistische und intersektionale oder multisektionale Ansätze in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang fanden Diversitätsorientierung oder Diversitätssensibilität Eingang in den sozialarbeiterischen Theorie-Praxis-Diskurs. Zeitgleich etablierte sich - ausgehend von Staub-Bernasconis Veröffentlichung zur Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft 2 , ihrer Weiterentwicklung des sog. Doppelmandats (Hilfe und Kontrolle) zum Tripel-Mandat mit einer erforderlichen ethischen Grundhaltung 3 sowie durch die Definitionen der internationalen und nationalen Berufsverbände der Sozialen Arbeit - eine Diskussion zum Thema „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“. Beide Argumentationsstränge verlaufen jedoch häufig miteinander unverbunden und verlieren dadurch an Aussagekraft durch gegenseitige Impulsgabe. In diesem Beitrag werden daher zunächst wesentliche Entwicklungslinien beider Perspektiven vergleichend dargestellt, um nach einer kritischen Bewertung, im Sinne einer Weiterentwicklung, wechselseitige Ergänzungsmöglichkeiten in Richtung einer partizipatorisch-reflexiven Diversität als eine der Schlüsselqualifikationen der soziale Berufe in Zeiten der Postmoderne aufzeigen zu können. 1 Fabian Kessl; Melanie Plößer (2010), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit, Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Eine Einleitung, in: Fabian Kessl; Melanie Plößer (Hg.), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit, Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen, Wiesbaden, S. 1. 2 Vgl. Silvia Staub-Bernasconi (1995), Systemtheorie, soziale Probleme und soziale Arbeit, lokal, national, international oder: vom Ende der Bescheidenheit, Stuttgart. 3 Vgl. Silvia Staub-Bernasconi (2003), Soziale Arbeit als (eine) „Menschenrechtsprofession“, in: Richard Sorg, Soziale Arbeit zwischen Politik und Wissenschaft, Münster. <?page no="121"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 103 2 Diversität - Definitionen, Zugangswege und Erklärungsmodelle Der Begriff Diversität, allgemein mit Verschiedenheit, Unterschiedlichkeit oder Vielfalt übersetzt, bewegt sich - wie die nachfolgenden Beispiele zeigen - in einem breit gefächerten Definitionsrahmen: „Diversity umfasst all das, worin sich Menschen unterscheiden können […] und dabei sowohl äußerlich wahrnehmbare als auch subjektive Unterschiede. Rasse, Geschlecht, Alter oder körperliche Behinderungen zählen zur ersten Kategorie; Erziehung, Religion und Lebensstil zur zweiten.“ 4 „Die Diversity einer Organisation ist als kontextabhängige Ressource zu verstehen, die die Heterogenität und Homogenität von Organisationsmitgliedern beschreibt und ein Potenzial zur Generierung nachhaltiger Wettbewerbsvorteile impliziert.” 5 „Diversity ist eine unschätzbare Quelle für Talent, Kreativität und Erfahrung. Sie umfasst die Vielfalt der unterschiedlichen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Hautfarben, ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen, der Geschlechter und der Altersgruppen - also alles, was jeden von uns innerhalb der Gesellschaft einzigartig und unverwechselbar macht.“ 6 „’Diversity ist not only the right thing to do, it’s the smart thing to do’ (D. Zetsche Daimler AG). Diversity bezeichnet die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen uns. Vielfalt bringt nicht den Erfolg. Erst die Wertschätzung der Unterschiede ist der Schlüssel zum Erfolg.“ 7 „Diversität meint Vielfalt und bezeichnet aktuelle Bestrebungen, sich von Identitätspolitik und -denken zu entfernen [...] (Es) wird nicht mehr in Kategorien von Identitäten gedacht, sondern auf einer stufenlosen Skala können stereotypisierende Effekte (wie die Homogenisierung von Gruppen, die Konstruktion von Identitäten) verhindert werden. […] Binarismen, wie männlich/ weiblich oder natürlich/ kulturell werden als diskursiv erzeugt entlarvt. Methodisch heißt das, die Vielfalt in die Fragestellungen zu integrieren, und dadurch differenzierte Ergebnisse gewinnen zu können.“ 8 4 Dieter Wagner; Peyvand Sepehri (2000), Managing Diversity. Eine empirische Bestandsaufnahme, in: Personalführung 7, S. 51. 5 Martina Harms; Patrick Müller (2004), Diversity Management, in: Uwe Seebacher; Gabi Klaus (Hg.), Handbuch Führungskräfte Entwicklung, USP Publishing, Hannover. 6 Siemens AG (Hg.), Leitsätze für Promoting and Managing Diversity, S. 1. Online verfügbar unter http: / / www.siemens.com/ sustainability/ pool/ cr-framework/ diversity_ guidelines_d.pdf (03.01.2013). 7 Ursula Schwarzenbart; Daimler Global Diversity Office (2007), Gender und Diversity in der Technikkultur, S. 2, Liesel Beckmann Symposium, Online unter http: / / www.tum-ias.de/ fileadmin/ material_ias/ pdf/ Schwarzenbart_Diversity_20 Management.pdf (03.01.2013). 8 Therese Frey Steffen (2006), Gender. Grundwissen Philosophie, Leipzig, S. 127. <?page no="122"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 104 Diversität einheitlich zu bestimmen oder zu verstehen ist in vielerlei Hinsicht weder möglich noch wünschenswert, denn „[...] people define diversity in different even conflicting ways. Consequently, an increasing diverse workforce is variously viewed as opportunity, threat, problem, fad, or even nonissue.“ 9 Rosenzweig stellt hierzu fest: „[…] as several writers have observed, diversity can be viewed through lenses other than legal or ethical, and diversity has been defined, studied, and approached in quite different ways.“ 10 Mit welchen Vorannahmen, Blickwinkeln, Betrachtungsweisen und Bewertungen Akteurinnen und Akteure mit dem Diversitätsbegriff jonglieren, hängt dabei von ihrer kulturellen Prägung, dem sozio-ökonomischen Status, ihrem Bildungsstand oder der beruflichen Tätigkeit ab. Wichtig ist allerdings festzuhalten, dass Diversitätskonzepte diskursiv erzeugt werden, d.h. durch Fachartikel, Vorträge von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis, wobei unterschiedliches und oft auch widersprüchliches Wissen über Diversität vermittelt wird 11 . Dies gilt gleichermaßen für Diversität als Konstrukt insgesamt wie für die bekannten Dimensionen Alter, Geschlecht oder Ethnizität. Häufig werden mit dem Begriff Diversität alle wahrgenommenen bzw. konstruierten Identitäten oder Charakteristika, durch die sich ein Mensch von anderen unterscheidet, bezeichnet. Um die sich daraus ergebende Komplexität bearbeitbar und Diversität als Ressource gestaltbar zu machen, werden einerseits erklärende Dimensionen, wie z.B. ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, andererseits Kontexte der Wirksamkeit, wie Gender Mainstreaming oder interkulturelle Öffnung von Organisationen, gewählt. Um unzulässige Verallgemeinerungen, Stereotypenbildungen und Kulturalisierung zu vermeiden, sind jedoch im Sinne des intersektionalen Ansatzes Überschneidungen zwischen den einzelnen Diversitätsdimensionen zu beachten, da gesellschaftliche Dominanzverhältnisse nicht durch einzeln und voneinander getrennt gedachte Kategorien reflektiert und verändert werden können. Zudem ist es im Diversitätsdiskurs wesentlich, neben der Fokussierung auf Unterschiedlichkeit, auch Gemeinsamkeiten und Verbindendes zwischen Menschen zu berücksichtigen, 9 Parshotam Dass; Barbara Parker (1999), Strategies for Managing Human Ressource Diversity. From Resistance to Learning, in: Academy of Management Executive, Vol 13, Nr. 2, S. 68. 10 Philipe M. Rosenzweig (1999), Strategies for Managing Diversity, in: Business Day, Financial Times, S. 2ff, zitiert nach Paivand Sepehri (2002), Diversity und Managing Diversity in internationalen Organisationen, München und Mehring, S. 75. 11 Vgl. Gertrude Krell u.a. (2011), Diversity Sudies, Grundlagen und Disziplinäre Ansätze, Frankfurt a.M., New York, siehe auch Gertrude Krell (2012) im Vortrag „Vielfältige Hochschulen-einfältige Hochschulpolitik“ Düsseldorf, Online verfügbar unter http: / / www.cedin-consulting.de/ vielfalt-gestalten-in-nrw/ tagung-vielfalt-als-gewinn (03.01.2013). <?page no="123"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 105 denn „diversity refers to any mixture of item characterized by differences and similarities.“ 12 Diversität umfasst zunächst - im Sinne einer Zustandsbeschreibung - alle Merkmale, in denen sich Menschen oder Gruppen unterscheiden und ähnlich sind, darüberhinaus auch eine Haltung, die mit der bewussten Wertschätzung und Akzeptanz von Verschiedenheit einhergeht. 13 Diversität als Phänomen oder Konstrukt wird dabei sowohl im Hinblick auf gruppenbildende Kategorisierungen wie Geschlecht oder Alter wie auf individuelle Attribute bzw. Attributionen wie Werte, Einstellungen oder Interessen verwendet. Eine Grundidee von Diversitätskonzepten ist es, die mit Vielfalt verbundenen Probleme zu reduzieren und vorhandene Chancen zu realisieren. Hierzu ist es erforderlich, Diversität als Konzept des Managements eines Umgangs mit Verschiedenheit (Managing Diversity) innerhalb von Organisationen zu etablieren und Diversitätskompetenz bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Sinne einer Schlüsselqualifikation in Zeiten der Globalisierung zu stärken. Diversität kann als Bezeichnung für sehr verschiedene Phänomene verwendet werden: Eine Tatsachenbeschreibung: Menschen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht und gleichen sich aber auch Einen Leitgedanken: Das Bewusstsein für Vielfalt und die eigene Einstellung zu Unterschiedlichkeit bestimmt den jeweiligen Umgang mit anderen Menschen Ein Management-Instrument: Eine gezielte Berücksichtigung und bewusste Nutzung und Förderung von Vielfalt als Mittel der Erfolgssteigerung einer Organisation Ein Konzept: Eine grundlegende, positive Ausrichtung von Organisationen oder Sozialräumen in Richtung Vielfalt und Individualität. 14 Die Wurzeln des Diversitätskonzepts liegen einerseits in der USamerikanischen Menschen- und Bürgerrechtsbewegung und sind dadurch mit Antidiskriminierungsgesetzen und einer rechtlich orientierten Equity- Perspektive verbunden, andererseits werden sie mit dem Bestreben von Organisationen, Vielfalt als Ressource für ihren Unternehmenserfolg zu verwenden, in Bezug gesetzt. So wurden in den 1960er Jahren Gesetze erlas- 12 Roosevelt R. Thomas (1996), A Diversity Framework, in: Martin M. Chemers; Stuart Oskamp; Mark A. Costanzo (Hg.) (1995), Diversity in Organizations. New Perspectives for a Changing Workplace, Thousand Oaks, S. 246. 13 Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird für erstere Lesart diversity (mit kleinem d) für letztere Diversity im Sinne von Vielfalt richtig managen (DIM) verwendet. 14 Vgl. Nadine Brose; Heike Ellermann; Daniel Reichenbach (2006), Vom Umgang mit Verschiedenheit(en) oder warum Diversity Management? Online unter http: / / www.best-off.org/ de/ (05.03.2010). <?page no="124"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 106 sen, die insbesondere die Benachteiligung ethnischer Minderheiten in Unternehmen abbauen helfen sollten (equal employment opportunity). Durch in den 1970er Jahren entwickelten Affirmative Action-Programmen erfolgte eine Umsetzung in zielgerichtete Maßnahmen, um benachteiligten Personengruppen bessere Beschäftigungschancen zu gewährleisten. Affirmative Action-Programme beinhalten sowohl Trainings- und Sensiblisierungsworkshops für die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft als auch gezielte Förderprogramme für sogenannte benachteiligte Zielgruppen. Besonders kontrovers wird bis heute die vorgenommene Quotierung bei Stellenbesetzungen diskutiert. In einer Weiterentwicklung entstanden „Valuing Diversity“-Programme, die einen respektvollen Umgang mit Unterschieden im Unternehmenskontext ermöglichen sollten. Ihre Grundannahme lautet, dass diskriminierendes Verhalten gegenüber Frauen oder ethnischen Minderheiten durch persönliche Veränderung und entsprechende Lernprozesse modifiziert werden kann. 15 In der Folge entstand der Ansatz des Managing Diversity, der vor allem die Interessen der Organisation im Blickfeld hat und auf eine Maximierung der Produktivität durch eine optimale Nutzung der Humanressourcen zielt. Verschiedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird zum Wettbewerbsvorteil der Unternehmen in einem globalen Markt. Die Organisation als Gesamtsystem gerät nun ins Blickfeld; sie muss ihre Kultur so verändern, dass sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Talenten einbringen können. Gardenswartz und Rowe 16 verwenden ein Schichtenmodell (s. nachfolgende Abbildung) mit einer strukturierenden Einteilung in die vier Bereiche zur Beschreibung dieser Unterschiede: Persönlichkeit, innere, äußere und organisationale Dimension. Persönlichkeit stellt dabei eine zentrale Größe dar, die für die individuellen Aspekte einer Person steht, also für Einstellungen, Haltungen und Verhaltensmuster. Diese werden ergänzt durch als unveränderbar gedachte Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Hautfarbe. Mit der äußeren Dimension werden Aspekte beschrieben, welche sich im Laufe des Lebens häufiger verändern und die von den Personen selber beeinflusst werden können: Ausbildung, Einkommen oder Freizeitverhalten. Die organisationale Dimension berücksichtigt insbesondere das berufliche Umfeld und dafür relevante Faktoren, wie die Funktion oder die Dauer der Zugehörigkeit zu einer Institution. Wichtig ist dabei zu beachten, dass es sich bei den Dimensionen um Zuschreibungen und Kategorisierungen, die von außen vorgegeben werden, handelt. Angemessener wäre, von 15 Vgl. Roosevelt Thomas (1992), Beyond Race and Gender. Unleashing the Power of Your Total Work Force by Managing Diversity, New York. 16 Nach: Lee Gardenswartz; Anita Rowe (Hg.) (2003), Diverse Teams at Work, Capitalizing on the Power of Diversity, Society for Human Resource Management, Alexandria. <?page no="125"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 107 „fluiden, multiplen Identifikationen und Desidentifikationen“, wie dies Koall und Bruchhagen formuliert haben, zu sprechen. 17 Abbildung nach Gardenswartz und Rowe 18 Diversity Management (DiM) basiert auf wenigen Grundannahmen, die in der englischsprachigen Fachliteratur kaum theoretisch oder empirisch begründet werden. Eines der Argumente für die Einführung von DiM lautet, dass die Wertschätzung von Vielfalt im Unternehmen zu einer größeren 17 Vgl. Iris Koall; Verena Bruchhagen (2007), Loosing Gender-Binarity? Winning Gender Complexity! Intersektionelle Ansätze und Managing Diversity, in: Journal Netzwerk Frauenforschung NRW, Nr. 22, S. 32-42. 18 Gardenswartz; Rowe. Die „inneren und äußeren Dimensionen“ wurden übernommen aus: Marylin Loden; Judy Rosener (1991), Workforce America! Managing employee diversity as a vital ressource, Homewood (Ill.). <?page no="126"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 108 Kreativität und einer Erhöhung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit führe. Als ebenso erforderlich wird die Weiterentwicklung der Organisation nach dem Leitbild der „multikulturellen Organisation“ 19 , ausgehend von einer ausführlichen Unternehmensanalyse in Form eines „Culture Audits“, betrachtet. Wie auch bei anderen Prozessen der Organisationsentwicklung gehören zu den Umsetzungsstrategien die Zielvereinbarungen und die Evaluation der Maßnahmen zur Implementierung der angestrebten Veränderungen. Um Diversity-Management-Konzepte aus dem angloamerikanischen Raum, die häufig im Bereich der Profit-Unternehmen eingesetzt werden, auf den sozialen Bereich oder in Non-Profit-Organisationen zur Anwendung kommen zu lassen, ist eine doppelte Übersetzungsarbeit notwendig. Hierbei heißt es zu klären, wie eine Entpolitisierung der Fragen nach Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit vermieden werden kann oder wie die Berücksichtigung von Unterschieden, ohne essentialistische Zuschreibungen zu (re)produzieren 20 , möglich ist. In jüngster Zeit wird das Thema „Differenz in Deutschland“ auch im Nonprofit-Bereich unter verschiedenen Überschriften diskutiert. Bezeichnungen wie „Pädagogik der Vielfalt“, „Diversity Education“, „Differenzsensibilität“, „Diversitätsbewusstsein“ oder „Diversity Management“ markieren eine programmatische Relevanz von Differenz in den Erziehungskontexten 21 . Trotz aller Verschiedenheit der Konzepte geht es immer um die Anerkennung der individuellen Lebensentwürfe von Menschen. Soziale Arbeit zielt dabei vor allem auf die Schaffung von Zugangsgerechtigkeit. Für Böhnisch/ Schröer/ Thiersch 22 bedeutet dies „die Schaffung gerechter Zugänge zu Ressourcen der Lebensgestaltung wie zur Erreichung gesellschaftlich anerkannter Ziele und Integrationswege“. Hier werden explizit die zwei Dimensionen von Gerechtigkeit, die Verteilungs- und die Anerkennungsgerechtigkeit, angesprochen. Unter Verteilungsge- 19 Vgl. Taylor Cox (1993), Cultural Diversity in Organisations. Theory Research and Practice, San Francisco. 20 Vgl. Sonja Kubisch (2003), Wenn Unterschiede keinen Unterschied machen dürfen. Eine kritische Betrachtung von „Managing Diversity“, Online unter http: / / www.ashberlin.eu/ fileadmin/ user_upload/ pdfs/ Profil/ Frauenb%C3%BCro/ Quer/ Wenn_Unterschiede_keinen_Unterschied_machen_d%C3%BCrfen_-_Eine _krititsche_Betrachtung_von_Managing_Diversity.pdf (03.01.2013). 21 Vgl. Ulrike Hormel (2008), Diversity und Diskriminierung, in: Sozial Extra - Zeitschrift für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, H. 11/ 12. Vgl. Rudi Leiprecht (2008), Eine diversitätsbewusste und subjektorientierte Sozialpädagogik, in: Neue Praxis 38 (4), S. 426-438. Vgl. Florian Lamp (2010), Differenzsensible Soziale Arbeit, in: Fabian Kessel; Melanie Plößer (Hg.) (2010), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit, Wiesbaden, S. 1-217. 22 Lothar Böhnisch; Wolfgang Schröer; Hans Thiersch (Hg.) (2005), Sozialpädagogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung, Weinheim/ München, S. 251. <?page no="127"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 109 rechtigkeit wird verstanden, dass allen Menschen ausreichend psychische und physische Grundlagen für ihre Lebensgestaltung garantiert werden. Bei der Anerkennungsgerechtigkeit steht die Gewährleistung von ausreichenden Partizipationsmöglichkeiten für die Mitglieder einer Gesellschaft, um strukturelle, kulturelle und individuelle Diskriminierungen zu verhindern, im Vordergrund. Beide Dimensionen sollten in einer gerechtigkeitsfundierten Sozialen Arbeit - in Anlehnung an N. Fraser 23 - nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Differenzbzw. Diversitätssensibilität stellt somit eine Haltung dar, die einen selbstreflexiven Blick ermöglicht und die Heterogenität in der eigenen Identität erkennt und anerkennt, um auf dieser Grundlage für bzw. mit den Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit maßgeschneiderte biografie- und zielgruppenorientierte Angebote zu entwickeln. „Die Differenzsensibilität ist dabei eine wertvolle Ergänzung, nicht als Ersatz für sozialpädagogische, genderpädagogische oder interkulturelle Wissensbestände zu sehen. Vielmehr gilt es, eine Balance zu entwickeln, die sowohl das Spezialwissen berücksichtigt, als auch eine Perspektive einzunehmen, die die verschiedenen Achsen der Differenz in ihren vielschichtigen Wirkungen auf das Individuum integrativ einbezieht.“ 24 Wichtig ist es, auf bestehende Interdependenzen zwischen den einzelnen Dimensionen von Diversität, die unter den Stichworten Intersektionalität und Transsektionalität diskutiert werden, hinzuweisen. In dieser Betrachtungsweise werden z.B. Geschlecht, Alter, Sexualität als gesellschaftlich vorgegebene Ordnungsmöglichkeiten verstanden, die eine sich gegenseitig verstärkende, ungleichheitshervorbringende Wirkung besitzen können. Differenzkategorien gelten als sozial hergestellt und dienen eindeutig dazu, existierende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, wie beispielsweise die geschlechterhierarchische Arbeitsteilung, aufrechtzuerhalten. Auffallend ist bei den aktuellen Diskussionslinien - und nicht nur in der Betriebswirtschaft und im Managementbereich - meiner Meinung nach, dass in der Vielfalt der verwendeten Begriffe der Terminus „Ungleichheit“ oft fehlt; stattdessen werden die positiv oder zumindest neutral besetzten Bezeichnungen Vielfalt oder Verschiedenheit herangezogen. Statt von der Überwindung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit wird von anerkennungswerter Diversität oder Differenz gesprochen, um weniger auf strukturelle Benachteiligungen und Diskriminierungen, sondern auf wertzuschätzende gruppenspezifische oder individuelle Diversität verweisen zu können. 23 Vgl. Nancy Fraser (2004), Feministische Politik im Zeitalter der Anerkennung. Ein zweidimensionaler Ansatz für Geschlechtergerechtigkeit, in: Joachim Beerhorst; Alex Demirovic; Michael Guggenmoos (Hg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, (Edition Suhrkamp, 2382) Frankfurt a.M., S. 453-474. 24 Lamp, Differenzsensible Soziale Arbeit, S. 205. <?page no="128"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 110 Anforderungen an den Diversitätsdiskurs „Die Aufmerksamkeit, die bei diversitätsbewussten Ansätzen gefordert ist, ist also voraussetzungsvoll und muss theoretisch reflektiert und zugleich offen gegenüber empirischen Phänomenen sein. Es handelt sich um eine untersuchende Haltung, die es ermöglicht, ,mehr‘ zu sehen und zu hören, angemessene Fragen zu stellen und - gemeinsam mit anderen - zu einer verändernden Praxis zu kommen.“ 25 Hierbei ist eine anspruchsvolle Balance herzustellen, die berücksichtigt, dass Differenzlinien zwar wahrgenommen, aber Personen nicht auf Unterschiede oder getroffene Unterscheidungen reduziert werden; nur durch diese Haltung kann Gerechtigkeit und Inklusion als Zielsetzung verfolgt werden; bei einer Berücksichtigung von Unterschieden und Unterscheidungen Menschen nicht in gruppenbezogene Gussformen einsortiert werden dürfen; individuelle Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten gleichermaßen Berücksichtigung finden sollen; Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die Bedeutungen von Unterschieden für die beteiligten Personen und Kontexte erfassen und im Hinblick auf soziale Benachteiligungen überprüfen, denn nicht alle Differenzlinien führen zu hinterfragbaren Dominanz- und Machtverhältnissen. 26 Durch den erweiterten „egalitären“ Differenzbegriff 27 , der die Kategorien Geschlecht, Alter, Ethnizität etc. einbezieht, besteht die Gefahr, die spezifische gesellschaftliche Relevanz, beispielsweise des Unterscheidungsmerkmals „Ethnizität“, abzuschwächen bzw. durch eine hierarchiefreie Vorstellung pluraler Differenzen zu relativieren. Denn nur durch die Konzentration auf ethnisch-kulturelle Unterschiede als Lernziel interkultureller Lernprozesse in einer Migrationsgesellschaft kann der besonderen Bedeutung dahinterstehender In- und Exklusions-Mechanismen umfassend Rechnung getragen werden 28 . Hier könnte der Modebegriff „Diversity“ als zu unspezifisch im Hinblick auf eine Analyse und Bearbeitung von Ungleichheitsverhältnissen gelten. „Diversität in den noch populären Zugriffen wird in den meisten Fällen einfach mit Differenz gleichgesetzt. Die Relevanz diversitätsbezogener Gleichheitsdimensionen wird wenig, - oftmals gar nicht - herausgearbeitet. So verstanden trägt Diversität dazu bei, Differenzvorstellungen zu fixieren. Differenz wird mit Heterogenitätsvorstellungen verknüpft und soll so, positiv aufgeladen, mit dem Ziel der Akzeptanz „gestaltet“ werden. 25 Rudolf Leiprecht (Hg.) (2011), Diversitätsbewusste Soziale Arbeit, Schwalbach, S. 8. 26 Vgl. ebd. 27 Annedore Prengel (1995), Pädagogik der Vielfalt, Opladen, S. 62. 28 Vgl. Georg Auernheimer (2003) (Hg.), Interkulturelle Kompetenz, Opladen. <?page no="129"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 111 Solche Zugriffe lassen ‚die Norm‘ und ihr Verhältnis zur Homogenisierung von Normalität weitgehend unberührt.“ 29 3 Soziale Arbeit - eine Menschenrechtsprofession? ! Gegenstand der Sozialen Arbeit ist immer auch der Umgang mit Verschiedenheit und Ungleichheit, wobei je nach historischem Zusammenhang unterschiedliche Differenzlinien in den Vordergrund treten. Da individuelle Problemlagen sowie Chancen und Grenzen von Gemeinwesen und Sozialräumen zunehmend in einer globalen Perspektive betrachtet und analysiert werden müssen, bieten sich Anknüpfungspunkte mit der Menschenrechtsdebatte an, die zudem den Kampf um soziale Gerechtigkeit und Emanzipation sowie die eigene Rolle bei der Reproduktion sozialer Ungleichheit kritisch zu hinterfragen hilft. 30 Menschenrechte stellen ein System von Rechten dar, das unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie der Erfahrungen von Diktatur und Gewalt entwickelt worden ist. „Als Menschenrechte lassen sich allgemein jene Rechte definieren, die unserer Natur eigen sind und ohne die wir als menschliche Wesen nicht existieren können. Die Menschenrechte und die grundlegenden Freiheiten erlauben uns, unsere menschlichen Eigenschaften, unsere Intelligenz, unsere Begabung und unser moralisches Bewusstsein voll zu entwickeln und zu gebrauchen und unsere geistigen und sonstigen Bedürfnisse zu befriedigen. Sie gründen im zunehmenden Verlangen der Menschheit nach einem Leben, in dem die unveräußerliche Würde und der Wert jedes einzelnen Menschen Anerkennung und Schutz findet.“ 31 Als Merkmale der Menschenrechte werden folgende Aspekte genannt: Menschenrechte sind angeboren und unveräußerlich Menschenrechte gelten als egalitär; sie stehen allen Menschen gleichermaßen zu Menschrechte sind unteilbar 29 Martha Eggers, Inklusion und Differenz in der frühkindlichen Bildung. Was kann Diversität leisten? S. 2-3. Online verfügbar unter http: / / www.migration-boell.de/ web/ diversity/ 48_3366.asp (24.10.2012). 30 Vgl. Birgit Rommelspacher (2003), Zum Umgang mit Differenz und Macht. Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession, in: Heiko Kleve; Gerd Koch; Matthias Müller (Hg.), Differenz und Soziale Arbeit, Berlin, Millow, Straßburg, S. 70-86. 31 IFSW; IASSW; Vereinte Nationen- Zentrum für Menschenrechte (Hg.) (2002), Menschenrechte und Soziale Arbeit. Ein Handbuch für Ausbildungsstätten der Sozialen Arbeit und für den Sozialberuf, (Arbeitsmaterialien aus dem Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten, Hochschule für Technik und Sozialwesen) Weingarten, S. 4. <?page no="130"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 112 Menschenrechte werden als universell betrachtet; sie gelten ihrem Anspruch nach für alle Menschen weltweit 32 Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob hinter der formulierten Allgemeingültigkeit nicht immer auch spezifische Sichtweisen und Teilbzw. Machtinteressen stehen: „Die Geschichte der Formulierung universaler Menschenrechte ist also sowohl eine Geschichte der Durchsetzung von Dominanzansprüchen wie auch ein Ansporn für Emanzipations- und Befreiungsbewegungen der dadurch ausgeschlossenen Gruppen. Insofern ist der Universalismusanspruch in diesem Zusammenhang immer ambivalent einzuschätzen und zwar sowohl in seiner Funktion, Dominanz zu rechtfertigen, wie auch in der, ein Korrektiv für geltendes Unrecht zu sein, das Ziele für eine gerechtere Gesellschaft formuliert und deren Anspruch aufrecht erhält.“ 33 Menschenrechte stellen demzufolge keinen festgefügten Kodex ethischer Standards dar, sondern sind Ausdruck einer permanenten Auseinandersetzung. Auf der Suche nach einer grundlegenden Orientierung der Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit wurden die Menschenrechte zur Bezugsgröße sozialarbeiterischen Handelns und der dahinterstehenden sozialethischen Fundierung. 34 Staub-Bernasconi 35 hat diese Bezüge entscheidend mit ausformuliert und die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession bezeichnet. Als ihre spezifischen Zugangsmöglichkeiten gelten folgende drei Bereiche: Im Sinne der Menschenrechtsbildung informiert sie über Menschenrechte und ihre Umsetzung und sensibilisiert Menschen für diese Thematik; in der Arbeit mit den Adressatinnen und Adressaten und innerhalb der Einrichtungen und Organisationen soll sie ein reales Feld für gelebte Menschenrechte darstellen; als lokal und überregional tätige sozialpolitische Akteurin kann sie die Umsetzung von Menschenrechten einfordern und vertreten. 36 32 Vgl. Hinrich Wildfang (2010), Soziale Arbeit - eine Menschenrechtsprofession. Ein Leitfaden für die sozialarbeiterische Praxis in Deutschland, Saarbrücken. Britta Utz, Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Menschenrechte (2010/ 2011), Handbuch der Menschenrechtsarbeit, Berlin. 33 Rommelspacher, Menschenrechtsprofession, S. 80. 34 Vgl. Friedrich Vahsen; Gudrun Mane (2010), Gesellschaftliche Umbrüche und Soziale Arbeit, Wiesbaden, S. 101ff. 35 Vgl. Silvia Staub-Bernasconi (2008), Menschenrechte in ihrer Relevanz für die Theorie und Praxis Sozialen Arbeit, in: Widersprüche, H. 107, Frankfurt a.M., S. 9ff.; dies., Systemtheorie. 36 Vgl. Christian Spatschek (2008), Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession, Begründung und Umsetzung eines professionellen Konzepts, in: Sozial Extra Jahrgang 5/ 6, Wiesbaden. <?page no="131"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 113 Die besondere Bedeutung der Menschenrechte kommt auch in der international anerkannten Definition Sozialer Arbeit zum Ausdruck: „Die Profession Soziale Arbeit fördert sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen und die Stärkung und Befreiung von Menschen, um das Wohlergehen zu stärken. Gestützt auf Theorien über menschliches Verhalten und sozialer Systeme greift Sozialarbeit an den Stellen ein, wo Menschen in ihrer Umwelt in Wechselwirkung stehen. Die Grundlagen von Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit sind für die Soziale Arbeit wesentlich.“ 37 Menschenrechte und Menschenwürde sowie soziale Gerechtigkeit stellen wichtige ethische Prinzipien der Profession dar. Soziale Arbeit basiert auf der Achtung vor dem besonderen Wert und der Würde aller Menschen, d.h. sie achtet das Recht auf Selbstbestimmung, sie fördert das Recht auf Beteiligung, sie „behandelt“ jede Person ganzheitlich, Stärken werden erkannt und entwickelt. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter haben die Verpflichtung, soziale Gerechtigkeit zu fördern und negativer Diskriminierung entgegenzutreten, indem sie Verschiedenheit anerkennen, Mittel für eine gerechte Verteilung der Ressourcen besorgen, ungerechte politische Entscheidungen und Praktiken zurückweisen, Solidarität fördern und sozialen Ausschluss, Stigmatisierung und Unterdrückung verhindern. 38 Obrecht und Staub-Bernasconi gelten als wichtige Impulsgeberinnen und -geber für den Theoriediskurs zur Verankerung der Menschenrechtsidee in der Sozialen Arbeit. Obrecht 39 geht in seiner Bedürfnistheorie von gemeinsamen, in der Struktur des Organismus verankerten Grundbedürfnissen (physische, psychische, soziale, kulturelle etc.) aller Menschen aus, die einen rechtlichen Schutz benötigen; der konkrete Umgang mit den Bedürfnissen wird als kulturell unterschiedlich gestaltet betrachtet. Eine Gesellschaft muss so konstruiert sein, dass alle Menschen ihre grundlegenden Bedürfnisse befriedigen können und an Aushandlungsprozessen darüber beteiligt sind. Diese Überlegungen greift Staub-Bernasconi 40 in ihrer Argumentation für eine Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession auf, in der sie die Men- 37 IFSW; IASSW; Vereinte Nationen - Zentrum für Menschenrechte (Hg.) (2002), Menschenrechte und Soziale Arbeit. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. Werner Obrecht (2001), Das systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit als Disziplin und als Profession. Eine transdisziplinäre Antwort auf die Situation der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Bereich und die Fragmentierung des professionellen Wissens, (Zürcher Beiträge zur Theorie und Praxis Sozialer Arbeit, 4) Zürich. Vgl. Werner Obrecht (2009), Was braucht der Mensch? Grundlagen der biopsychosoziokulturellen Theorie menschlicher Bedürfnisse und ihre Bedeutung für eine erklärende Theorie sozialer Probleme, Ligue Médico-Sociale, Luxemburg. 40 Vgl. Silvia Staub-Bernasconi (2008), Menschenrechte. <?page no="132"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 114 schenrechte als Antwort auf fundamentale und universale menschliche Grundbedürfnisse bezeichnet. Wichtig ist für die Autorin hierbei der Verweis auf die Notwendigkeit einer internationalen Ausrichtung Sozialer Arbeit mit einem weltweiten Engagement und Problembewusstsein sowie eine radikale Orientierung an den Grundbedürfnissen der Menschen mit Priorität auf Menschenrechten der 2. Dimension, d. h. auf den wirtschafllichen, sozialen und kulturellen Rechten, wie z.B. auf Sicherheit, Arbeit, Ernährung, Wohnen, Gesundheit und Bildung. 41 In einer systemtheoretischen Begründung Sozialer Arbeit erweitert Staub-Bernasconi das bestehende „Doppelmandat“ (Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle) in Richtung Tripel-Mandat, das in einer schützenden Menschenwürde und den Menschenrechten gesehen wird. Menschenwürde bildet die ethische Grundlage und die Menschenrechte die rechtliche Basis und ein handlungsleitendes Gerüst für die Einlösung unterschiedlicher Rechte. Soziale Arbeit kann auf dieser Grundlage selbstbestimmt Aufträge definieren und ausführen, muss sich allerdings für den interkulturellen und interdisziplinären Diskurs öffnen und Fragen der Einheit und Differenz ins Blickfeld nehmen sowie die zentrale Stellung der Menschenrechte in der Ausbildung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter berücksichtigen. „Die Menschenrechte geben der Profession die Möglichkeit, zu klären, was ihre langfristigen Ziele sind. Sie werden den Sozialarbeiter verstören, der sich zur Ruhe gesetzt hat und mit den gerade herrschenden Theorien des lokalen Gemeinwesens Frieden geschlossen hat - und zwar vor allem dann, wenn diese lokalen Werte und Normen mit den Werten und Normen der Profession in Konflikt stehen. Menschenrechte werden von der organisierten Profession fordern, ja sie zwingen, zu sozialen Fragen klar Stellung zu nehmen. Angesichts der Pluralität, die auch in der sozialen Arbeit herrscht, sind die Menschenrechte ein notwendiger Maßstab und eine Orientierung für konstruktive Aktion“ 42 . Das dritte Mandat wird als eigenes Referenzsystem, das wissenschaftlich und ethisch begründet ist, definiert. Es ermöglicht eine kritisch-reflexive Distanz gegenüber Adressatinnen und Adressaten, Politik, Trägern und Finanzgebern und eine Legitimationsbasis für die Entscheidung über eine Annahme oder die Verweigerung von Arbeitsaufträgen sowie die Möglichkeit zur Formulierung eigenbestimmter Aufträge. 43 Der Anspruch Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession hat zahlreiche kritische Stimmen auf 41 Zur 1. Dimension gehören bürgerliche und politische Freiheits- und Beteiligungsrecht sowie Abwehrrechte gegenüber dem Staat (z.B. Diskriminierungsverbot, Verbot von Folter, Religions- und Meinungsfreiheit); zur 3. Dimension gehören die kollektiven Rechte oder die Rechte der Völker z.B. auf Entwicklung, Frieden, saubere Umwelt. 42 M. Gore zitiert nach Silvia Staub-Bernasconi (2008), Menschenrechte, S. 13. 43 Vgl. ebd. <?page no="133"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 115 den Plan gerufen, die hierbei unterschiedliche Argumentationsstränge verfolgen. Kritik am Menschenrechtsparadigma der Sozialen Arbeit Bielefeld 44 betrachtet eine bedürfnisorientierte Begründung der Menschenrechte als problematisch, da nicht für jedes Bedürfnis ein Rechtsanspruch bestehe. Er spricht sich deshalb für eine Begründung der Menschenrechte über den Begriff der Gerechtigkeit aus. Menschenrechte stellen für ihn die politisch-rechtlichen Standards menschenwürdigen Lebens dar; sie sind jedoch keine Philosophie oder Religion aus der sich allgemein verbindliche Werte ableiten lassen. Die Würde des Menschen ist seiner Meinung nach als zentraler Wert dagegen weltweit anerkannt. Menschenrechte haben nach Bielefeld immer eine kulturkritische Komponente, da sie auf Lernprozessen beruhen, mit Aufklärung zu tun haben und dadurch auf Distanz zur traditionellen Kultur gehen. Sie beruhen auf Pluralisierungserfahrungen moderner Gesellschaften. „Die Geschichte der Verwirklichung der Menschenrechte ist somit von Anfang an nicht nur ein Prozess sukzessiver Verrechtlichung von Freiheits-, Gleichheits- und Partizipationsforderungen, sondern immer auch eine Geschichte des Protestes gegen Einseitigkeit in der Positivierung von Menschenrechtsnormen, die mit neuem Recht oft auch neues Unrecht geschaffen oder altes Unrecht festgeschrieben haben.“ 45 Eine ganze Reihe von Einwänden richtet sich gegen die Universalisierung der Menschenrechte denn: Menschenrechte sind von ihrem Ursprung her westlich bzw. westlich geprägt, Menschenrechte sind individualistisch, sie konzentrieren sich auf den Aspekt der Freiheit vom Staat (negieren positive Funktionen des Staatswesens), beinhalten nur Rechte und keine Pflichten 46 44 Vgl. Heiner Bielefeld (2004), Die Würde als Maßstab. Philosophische Überlegungen zur Menschenrechtsbildung, in: Claudia Mahler; Anja Mihr (Hg.), Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven, Wiesbaden. Vgl. Heiner Bielefeld (1998), Ein von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal. Der Streit um die Universalität der Menschenrechte, in: Amnesty International (Hg.), Menschenrecht im Umbruch. 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt. 45 A.a.O., S. 81. 46 Vgl. Asbjørn Eide (2000), Der Prozess der Universalisierung der Menschenrechte und seine Bedrohung im Zeitalter der Globalisierung, in: Wilhelm Krull (Hg.) Zukunftsstreit, Weilerswist, S. 32-50, zitiert nach Vahsen; Mane, Gesellschaftliche Umbrüche, a.a.O. <?page no="134"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 116 „Deshalb erscheinen allumfassende Ableitungen der Aufgaben und Orientierung einer Profession und Disziplin aus den Menschenrechten als problematisch. Allzu leicht verliert sich der gut gemeinte Ansatz in einer fundamentalen Paradoxie.“ 47 Zudem werden Menschenrechte erst durch ihre Verletzung und die entsprechende Empörung darüber in den Mittelpunkt gesetzt. Für die Soziale Arbeit wären vielmehr interzivilisatorische Ansätze erforderlich, denn stellen wir Differenzaspekte und kulturelle Abhängigkeiten in den Focus, fällt die eurozentrische Zuordnung der Menschenrechte besonders in den Blick. Aus der bisherigen Argumentation lässt sich eine hohe Bedeutsamkeit menschenrechtspolitischer Grundlagen und Instrumente für die Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit ableiten. Allerdings müssen die Menschenrechte als prozesshaft, weiterentwickelbar sein und in den jeweiligen Regionen und Kulturen (ggf. unterschiedlich) umgesetzt werden. Menschenrechte sind auch im Westen nicht unumstritten; es besteht die Notwenigkeit eines permanenten Kampfes um die konkrete Verwirklichung und Ausgestaltung. Auch die theoretische Fundierung des Menschenrechtsparadigmas scheint nicht ausreichend. Soziale Arbeit in der Postmoderne und als eine Menschenrechtsprofession muss meinem Verständnis nach eng verknüpft werden mit einer international/ interkulturell und diversitätsorientierten Sozialen Arbeit, Interdependenzen, auf die im Kapitel 5 eingegangen wird. 4 Postmodere - Schlaglichter aus sozial(arbeits-) wissenschaftlicher Perspektive Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse umfassen soziale, gesellschaftliche, politische, ökonomische und technologische Veränderungen. Stichworte hierfür sind: Globalisierung, Flexibilisierung oder Deregulierung. Aufgabe der Sozialwissenschaften ist es dabei, den beobachtbaren Wandel zu erfassen, zu analysieren und zu interpretieren. Häufig werden die wahrnehmbaren Change-Prozesse unter dem Stichwort „Postmoderne“ beschrieben, die allerdings nicht nur den realen gesellschaftlichen Wandel umfasst, sondern auch als ein philosophisch-theoretisches Konzept betrachtet werden kann. „Allgemein bezeichnet Postmoderne in der Soziologie die Gesamtheit gegenwärtiger soziokultureller Prozesse, die auf eine zunehmende Differenzierung und Pluralisierung von weltanschaulichen Orientierungen, Wertsystemen, Einstellungen, Lebensstilen, Verhaltensweisen und Formen sozialer Beziehungen hinauslaufen, verbunden mit einer Zunahme von Orientierungsschwierigkeiten, Ge- 47 Vahse; Mane, a.a.O. S. 111. <?page no="135"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 117 gensätzen, Widersprüchen und Konflikten, aber auch von Möglichkeiten autonom-individueller Lebensgestaltung.“ 48 Kennzeichen dieser Postmoderne ist die Ambivalenz von Chancen und Grenzen, die Vergrößerung der Möglichkeitsräume der Beteiligten wie auch die Gefahr von Destabilisierung und Entfremdungstendenzen. 49 Eine Vielzahl von Theorien versucht, die komplexen Wandlungsprozesse zu erfassen: Moderne, postmoderne Gesellschaft (Etzioni), postindustrielle Gesellschaft (Bells), Postmoderne (Welsch), reflexive Moderne (Giddens/ Beck), flüchtige Moderne (Bauman) stellen unterschiedliche gesellschaftstheoretische Konzepte dar, die die Lebenssituation der Menschen beschreiben. 50 Bei einer Analyse der Lebensbedingungen wird dabei zunehmend eine staatenübergreifende transnationale und transkulturelle Perspektive notwendig. 51 Die Postmoderne wäre ohne die Moderne des 20. Jahrhunderts nicht denkbar. Deshalb zeige ich zunächst in Anlehnung an Beck und Giddens 52 wesentliche Merkmale der Moderne auf: Durch Säkularisierung, Demokratisierung und Industrialisierung erfolgt eine funktionale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche (Wissenschaft, Kultur, Politik, Religion etc.) Eine neue gesellschaftliche Ordnung entsteht auf der Grundlagen von Klassen, Schichten und Milieus Die moderne Gesellschaft ist geschlechterspezifisch differenziert und eine kapitalistische Erwerbsgesellschaft Normen und Werte werden universalisiert, insbesondere in Form der Menschenrechte; es entwickelt sich ein demokratischer Rechts- National- und Wohlfahrtsstaat Bürokratisierung des Staats und Durchdringung der Gesellschaft und der Wirtschaft durch die Verwaltung. Die Grenzen zwischen Moderne und Postmoderne verlaufen fließend. Der Begriff Postmoderne wird ab den 1960er Jahren vor allem in Kunst, Architektur und Literatur verwendet und bedeutet in diesem Kontext vor allem die Vielfalt von Konzeptionen und die sich daraus ableitenden Kombinationsmöglichkeiten. Im Anschluss daran entwickeln sich die philosophischwissenschafts-theoretischen und die gesellschaftstheoretischen Diskurse der Postmoderne. In diesen Denkbewegungen werden diskriminierende Macht 48 Karl-Heinz Hillmann (2004), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, S. 683. 49 Vgl. Rolf Frankenberger (2007), Gesellschaft - Individuum - Gouvernementalität. Theoretische und empirische Beiträge zur Analyse der Postmoderne, Berlin. 50 Vgl. Vahsen; Mane, Gesellschaftliche Umbrüche. 51 Vgl. Ludger Pries (Hg.) (1997), Transnationale Migration, (Soziale Welt, Sonderband 12) Baden-Baden. 52 Vgl. Ulrich Beck; Anthony Giddens; Scott Lash (1996), Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. <?page no="136"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 118 und Herrschaftsprozesse, Fortschrittsgläubigkeit und Machbarkeitsvorstellungen in Frage gestellt. Postmoderne umfasst hier einen Prozess und ein (vorläufiges) Ergebnis der Veränderung der oben geschilderten wissenschaftlichen, philosophischen und gesellschaftlichen Grundannahmen und Aussagen der Moderne. 53 Stellvertretend für die Diskurse in der Philosophie kann die poststrukturalistische Machtanalyse und Vernunftkritik von Foucault 54 genannt werden; der hier etwas genauer zu beschreibende Aspekt der Postmoderne als gesellschaftliches Phänomen wird mit den Autoren Bell 55 , Sennett 56 oder Beck 57 in Verbindung gebracht. Kennzeichen der postmodernen Gesellschaft sind demnach: Enttraditionalisierung, Auflösung überkommener Sozialstrukturen, Werte-, Normen- und Verhaltensmuster Pluralisierung von Werten, Normen, Lebensformen, Kulturen Emanzipation, Infragestellung geschlechterspezifischer Aufgaben- und Rollenverteilung Globalisierung von Wirtschaft, Politik, Kultur Zunahme der Kommunikationsmöglichkeiten, Technisierung, Digitalisierung etc. Krise von Erwerbsarbeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit Flexibilisierung, Mobilisierung von Arbeit, sozialen Beziehungen und Lebensorten Neue Formen der Spiritualität und Religiosität Neofundamentalismus, vernetzter Rechtsextremismus sowie globalisierter Terrorismus. Das Verhältnis zwischen Moderne und Postmoderne gestaltet sich je nach Sichtweise der Autorinnen und Autoren recht unterschiedlich. Während Habermas 58 postmoderne Denkerinnen und Denker als Bezwingerinnen und Bezwinger der Moderne mit ihrem aus der Gültigkeit der Vernunft abgeleiteten Standards betrachtet, betont Welsch in seinem Werk „Unsere postmoderne Moderne“ 59 die Verwirklichung der Moderne in der Postmoderne „Die Postmoderne ist keineswegs, was ihr Name suggeriert und ihr geläu- 53 Vgl. Frankenberger (2007), Gesellschaft, S. 29ff. 54 Vgl. Michel Foucault (1993), Technologien des Selbst, hg. von Luther H. Martin, Frankfurt a.M. 55 Vgl. Daniel Bell (1975), Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a.M./ New York. 56 Vgl. Richard Sennett (2002), Der flexible Mensch - Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin. 57 Vgl. Ulrich Beck; Wolfgang Bonss (Hg.) (2001), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M. 58 Vgl. Jürgen Habermas (1985), Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 59 Vgl. Wolfgang Welsch (1987/ 2008), Unsere postmoderne Moderne, Weinheim. <?page no="137"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 119 figstes Missverständnis unterstellt: eine Trans- und Anti-Moderne. Ihr Grundinhalt - Pluralität - ist von der Moderne des 20. Jahrhunderts selbst schon propagiert worden.“ 60 Erst in der Postmoderne wird das Desiderat der Moderne in der Breite der Wirklichkeit eingelöst. Postmoderne bezeichnet den Prozess und das (vorläufige) Ergebnis der Transformation gesellschaftlicher, philosophischer und wissenschaftlicher Grundmuster der Moderne. Eine „Kurzformel“ dafür ist weder sinnvoll noch möglich. 61 Für Welsch 62 ist neben intensiver und extensiver Pluralität vor allem Hybridität das Strukturmerkmal der Postmoderne und Irritation ihr wichtiges Ziel. Pluralität darf dabei jedoch nicht zu Beliebigkeit und Oberflächlichkeit führen; ein gleichmacherisches „anything goes“ ist nicht mit einer ehrlichen und produktiven Praxis der Pluralität vereinbar. „,Postmoderne‘ ist eine anspruchsvolle Konzeption, kein Relax-Szenario. Als solches wird sie allenfalls diskriminiert.“ 63 Für Bauman wird in „Flüchtige Moderne“ der postmoderne Standpunkt - bezogen auf unsere Wahrheitsansprüche - deutlich: „Wir Menschen sind mit allem ausgestattet, was jeder braucht, um den richtigen Weg zu finden, der, erst einmal entdeckt, der eine und einzige Weg für alle ist.“ 64 Kennzeichen der Postmoderne ist die Vielfalt; es gilt Abschied zu nehmen von den Eindeutigkeiten der Welt. Die Postmoderne passt nicht zu theoretischen Absolutheitsansprüchen. Ihr Theorieansatz liegt vielmehr in der „unaufhebbaren Heterogenität verschiedener Paradigmen“ 65 ; daher ist auch die Gesellschaft unaufhebbar plural. „Diese Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung der Pluralität von Formen der Lebenspraxis impliziert eine Kritik von Tendenzen der herrschaftlichen Vereinheitlichung und Uniformierung und setzt die Explikation von Bedingungen voraus, die die selbstbestimmte Entfaltung von Vielfältigkeiten verhindern und einschränken.“ 66 Postmoderne und ihr Wahrheitsverständnis bewirken Konsequenzen für den Bereich der Ethik; da keine allgemeingültigen Werte bestehen, lassen sich auch kaum allgemeinverbindliche Regelungen für das menschliche Zusammenleben formulieren. Postmoderne Theorien sind in diesem Zusammenhang immer „relativistisch“. Dennoch hält auch nach Welsch das „Dogma der absoluten Heterogenität“ einer näheren Prüfung nicht stand. Als Lösungsmöglichkeit bietet sich seiner Meinung nach die sog. „transver- 60 A.a.O., S. 6. 61 Vgl. Frankenberger, Gesellschaft. 62 Vgl. Welsch, Postmoderne. 63 A.a.O., S. 323. 64 Zygmund Bauman (2003), Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M., S. 198. 65 Vgl. Welsch, Postmoderne. 66 Albert Scherr (1990), Postmoderne Soziologie - Soziologie der Postmoderne? , in: Zeitschrift für Soziologie 19 (1), S. 8. <?page no="138"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 120 sale Vernunft“ an, die „[…] weder das Maß wirklicher Differenz ignoriert noch Kommunikationsansprüche unnötig preisgibt […]“ 67 . Doch auch hier bleibt der Aspekt der Beliebigkeit in der Bewertung von Vernunft und Rationalität erhalten. Denn: „Wird Postmodern jedoch affirmativ verwendet, als Zustand deklariert, der sich durch eine völlige Auflösung übergreifender Strukturen auszeichnet und als theoretische Forderung nach dem Verzicht auf Begriffe formuliert, die allgemeine Strukturmerkmale gesellschaftlicher Lebensformen bestimmen, dann stellt sich die Postmoderne als Variante relativistischer Konzepte dar, die über keinerlei Möglichkeiten der kritischen Analyse mehr verfügen.“ 68 Postmoderne als empirisch fundierte Lebensweise, inkludiert neben den geschilderten theoretischen Diskurslinien, Herausforderungen für Einzelne, Organisationen und Sozialräume, die für ein gelingendes Leben bewältigt werden müssen. Zu nennen sind hierbei Verunsicherung und Desorientierung aufgrund pluraler und teilweise widersprüchlicher Lebenssituationen, die die Gefahr der Desintegration aufgrund von Individualisierung, Mobilität und Flexibilisierung beinhalten. Hier ist die Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft gefragt, denn im Zuge der Globalisierung entstehen neue und alte Formen der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeiten, deren Steuerung nur noch teilweise durch den Staat und seine Institutionen möglich ist. Als gedankliche wie umsetzungsorientierte Lösungsmöglichkeiten erscheinen in dieser komplexen Veränderungssituationen die Wertschätzung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit wie in der Diversitätskonzeption geschehen sowie strategisch eingesetztes Diversitätsmanagement kombiniert mit den Grundsätzen der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession. Kleve bezeichnet die Soziale Arbeit als eine postmoderne Disziplin, die Konzepte zur Orientierung in ambivalenten und unübersichtlichen beruflichen Situationen benötigt. „Aber die postmoderne Perspektive ist nicht so sehr als festgeklopftes Lehrwissen zu verstehen, sondern eher als eine Suche nach Möglichkeiten, um in einem Feld konstruktiv zu agieren, das hinsichtlich seiner Praxis mit Ambivalenz und in Bezug auf seine Wissenschaft mit theoretischer Unübersichtlichkeit konfrontiert ist.“ 69 67 Welsch, Postmoderne, S. 7. 68 Scherr, Postmoderne Soziologie, S. 11. 69 Heiko Kleve (2007), Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoretisch-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft, Aachen, S. 110-111. <?page no="139"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 121 Professionelles Handeln in der Postmoderne ist gekennzeichnet durch Komplexität, Ambivalenz und Unbestimmtheit. So lassen sich auch die Aufgaben einer postmodernen Sozialen Arbeit wie folgt bestimmen: „Als Profession vermittelt sie zwischen unterschiedlichen psychologischen Notwendigkeiten und sozialen Erwartungen, die einhergehen mit unterschiedlichen Not-, Leidensbzw. Exklusionslagen bezüglich der Teilnahme an gesellschaftlicher Kommunikation und hilft diesbezüglich, indem sie soziale Inklusionen, also Teilnahmechancen an gesellschaftlicher Kommunikation, zu reaktivieren versucht. Als Disziplin ist Sozialarbeit ebenfalls eine Vermittlungsinstanz, und zwar bezüglich unterschiedlicher disziplinärer Konzepte, die sie focussiert auf ihren Gegenstandsbereich und dessen Reflexion.“ 70 5 Zum Zusammenhang zwischen Diversität und Menschenrechten in der Postmoderne Diversitätsorientierung oder -sensibilität ist eine häufig genannte Anforderung an Menschen und Institutionen in der Postmoderne. Damit persönliche, organisatorische und sozialräumliche Diversität als Ressourcen wirksam werden können, ist eine theoretische Fundierung von Diversität für den sozialen Sektor zu leisten. Wie im nachfolgenden Schaubild zu sehen, werden dabei als ethisch-normative Quellen „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession“, „Globale Soziale Arbeit“ und „Soziale Teilhabe“ herangezogen. Erstere beschreibt Menschenrechte gemeinhin als common sense einer sich bildenden Weltgesellschaft (hier werden Menschenrechte als Normenkatalog weitgehend global anerkannt), die zweite positioniert sich quer zu nationalen Grenzen und verknüpft strukturelle Analysen mit der Alltagswelt von Einzelnen auf lokaler Ebene, die dritte verweist auf Solidarität, Inklusion und die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, ferner auf ein Recht auf Teilhabe und nicht nur auf eine Verpflichtung zur Teilnahme im Rahmen des sog. aktivierenden Sozialstaats. Diese drei Theorie-Ansätze lassen sich mit den Ausprägungsformen von Verschiedenheit zu den Kombinationspaaren „Ungleichheit - soziale Teilhabe“, „Vielfalt - Menschenrechtsprofession“ und „Unterschiedlichkeit - Globale Soziale Arbeit“ verbinden. 71 70 A.a.O., S. 65. 71 Vgl. Beate Aschenbrenner-Wellmann (2009), Diversity-Kompetenz. Überlegungen zu einer Schlüsselqualifikation für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, in: Beate Aschenbrenner-Wellmann (Hg.), Mit der Vielfalt leben. Verantwortung und Respekt in der Diversity- und Antidiskriminierungsarbeit mit Personen Organisationen und Sozialräumen, Stuttgart, S. 61-85. <?page no="140"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 122 Analytisch-theoretische Fundierung von Diversität in der Sozialen Arbeit 72 Um in den verschiedenen Handlungsfeldern wirksam werden zu können, darf Diversitätssensibilität als Wertschätzung von Vielfalt, Verschiedenheit, Unterschiedlichkeitunter ethischnormativen Gesichtspunkten nicht im beliebigen Bereich verbleiben. Gut kombinierbare Orientierungen bieten hierbei meiner Meinung nach menschenrechtspolitische Grundlagen und Instrumente, die sich in den alltäglichen Dilemmata der Praxis der Sozialen Arbeit mit z.B. folgenden Fragestellungen zeigen: Was empfehlen Sie einer Lehrerin, die die Angst einer Schülerin vor weiblicher Genitalverstümmelung thematisiert? Wie agieren Sie, wenn Sie als Mitarbeiterin einer Familienberatungsstelle den Konflikt zwischen gesetzlichen und religiösen Normen bei der Frage nach einer möglichen Abtreibung erleben? Welche Position nehmen Sie gegenüber einem Jugendlichen ein, der sich beklagt, wegen seines ausländisch klingenden Namens keinen Termin für ein Bewerbungsgespräch zu erhalten? 72 Grafik aus: Aschenbrenner-Wellmann, Vielfalt, S. 69. <?page no="141"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 123 Wie unterstützen Sie einen älteren Menschen, der sich aufgrund seines Lebensalters vom Arbeitsmarkt und von gesellschaftlichen Teilhabeprozessen ausgeschlossen fühlt? Wie weit können/ sollen/ müssen Sie Diskriminierungen zurückweisen und bestehende Ungerechtigkeiten aufdecken? Mit diesen Fragestellungen professionell umzugehen, bedeutet unterschiedliche Standpunkte einnehmen, Argumente abwägen und die eigene Haltung zu handlungsleitenden Werten reflektieren zu können. Hier ist interkulturelle Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit gefragt. Dies gilt auch für die mittlerweile „klassisch“ gewordene Kopftuchfrage. Es gilt zu klären, welche Bedeutung das Kopftuch im Kontext der Beteiligten hat und dies möglichst unvoreingenommen. Eine wesentliche Schwierigkeit kann darin liegen, „[…] dass der Widerstand gegen die eigenen Emanzipationsvorstellungen selbst emanzipatorisch sein kann. Solange die Mehrheitsgesellschaft glaubt, ein Monopol auf Emanzipation beanspruchen zu können, unterläuft sie ihre Forderungen nach Freiheit und Gleichheit selbst und wird insofern auch selbst repressiv.“ 73 So wird deutlich, inwieweit die Formulierung allgemeiner Rechte, wie z.B. das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, zum Kampf um Macht und Deutungshoheit werden kann. In der Formulierung der Menschenrechte sollten sich deshalb zunehmend die Perspektiven aller Menschen wiederfinden; dies hat einen ständigen Prozess der Dekonstruktion angenommener Allgemeingültigkeiten zur Folge. In dem damit entstehenden Feld der Auseinandersetzungen bieten die Menschenrechte einen normativen Rahmen, müssen aber fortlaufend selbstreflexiv und kritisch hinterfragt werden. Wichtige Impulse können hier aus dem anerkennungsgeleiteten Diskurs von Vielfalt und Verschiedenheit kommen. Die Postmoderne gilt als „ Apologetin der Differenzsensibilität“ 74 . In den Sozialwissenschaften wird Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Heterogenität daher häufig im Kontext des Konzepts der Postmoderne diskutiert. Schlagworte hierfür sind „Dekonstruktion“, „Inklusive Erziehung“, „Cultural Studies“, „Postcolonial Studies“, „Managing Diversity“ oder „Pädagogik der Vielfalt“. Das philosophische Konzept der Dekonstruktion geht auf J. Derrida zurück, der in einer grundsätzlichen Kritik am westlichen Verständnis der Moderne mit deren Auffassung von Funktion, Struktur und Totalität, eine Philosophie der Differenz (Postrukturalismus) entwickelt hat. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das, „[…] was sich nicht in ein System einfügen lässt“ 75 , das Fragment. Dekonstruktion erweist sich in allen Theorie- und Handlungsfeldern als gut anwendbar, in denen Binarismen (Mann 73 Rommelspacher, Differenz und Macht, S. 8. 74 Vgl. Lamp, Differenzsensible Soziale Arbeit. 75 Florian Lamp (2007), Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis, Bielefeld, S. 148. <?page no="142"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 124 - Frau; Ausländerin/ Ausländer - Inländerin/ Inländer etc.), und die dahinterstehenden hierarchischen Strukturen und Machtunterschiede aufgelöst werden sollen. Insofern ist dieser Ansatz, bezugnehmend vor allem auf J. Butler 76 , in der Geschlechterforschung und in der Queer Theory stark verbreitet, da hier nicht nur die Ausblendung von Differenz oder Diskriminierung als Problem betrachtet wird, sondern die binäre Logik selbst, die auf einer grundlegenden Unterschiedlichkeit der Geschlechter und ihrer hierarchischen Anordnung beruht. Postkolonialer Theorie geht es darum, Rekolonialisierungsprozesse herauszufordern und aufzuzeigen, „[…] wie das Normale und auch die Vorstellung des guten Lebens mit der kolonialen Beherrschung untrennbar verklammert ist.“ 77 Das von Said 78 formulierte Konzept des „othering“ zeigt auf, dass die Anderen ständig neu erzeugt und auf die Position der Unterschiedlichkeit festgeschrieben werden müssen, um Identität zu erzeugen. In der Pädagogik der Vielfalt geht es um die Anerkennung der gleichberechtigt Verschiedenen auf der Grundlage eines demokratischen Differenzbegriffs, d.h. wahrgenommene Unterschiedlichkeit kann nicht als Legitimation für Hierarchien herangezogen werden. 79 Ziel der pädagogischen Arbeit ist deshalb die Anerkennung der gleichberechtigt verschiedenen Subjekte, die sich zwar in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden, aber auch Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufweisen. Mit dem amerikanischen Slogan „Celebrate Diversity“ wird auf Gemeinsamkeiten der gerade geschilderten Diskurse in der Inklusiven Pädagogik, Diversity Education, Pädagogik der Vielfalt, Menschenrechtsbildung oder der Demokratischen Erziehung verwiesen, denn trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten und verschiedener Kontextbedingungen weisen die Ansätze gemeinsame Zielsetzungen auf. 80 Menschenrechte können in diesem Zusammenhang zur Klärung grundlegender Kategorien für diversitätssensibles Handeln, wie z.B. „Gleichheit“ und Verschiedenheit“, einbezogen werden. Dabei muss zunächst eine Definition erfolgen, um welche Gleichheit es sich handelt und in welcher Hinsicht von Gleichheit gesprochen werden kann, denn pauschale Gleichheitsaussagen führen schnell zu einer undifferenzierten Gleichsetzung. Auf der Grundlage gleicher Bedürfnisse und Rechte (wie z.B. in der UN Kinderrechtskonvention, in der Behindertenrechtskonvention) können dann Perspektiven für eine Soziale Arbeit, in der 76 Vgl. Judith Butler (1991), Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 77 María do Mar Castro Varela (2010), Un-Sinn. Postkoloniale Theorie und Diversity, in: Fabian Kessl; Melanie Plößer (Hg.), Differenzierung, Normalisierung, Andersheit, Wiesbaden, S. 255. 78 Vgl. Edward Said (1978), Orientalism, New York. 79 Vgl. Annedore Prengel (1994), Pädagogik der Vielfalt, Opladen. 80 Vgl. Annedore Prengel (2010), Wie viel Unterschiedlichkeit passt in eine Kita? Theoretische Grundlagen einer inklusiven Praxis in der Frühpädagogik Online unter http: / / www.weiterbildungsinitiative.de/ uploads/ media/ WiFF_Fachforum_ Inklusion_Impulsreferat_Prof._Dr._Prengel.pdf (05.10.2012). <?page no="143"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 125 die Heterogenität von Menschen in den Focus gestellt wird, entwickelt werden. Hierzu ist es notwendig, die eigenen kulturell geprägten Vorannahmen über Ethnizität, Geschlecht, Lebensweisen oder sexuelle Orientierung zu kennen und zu hinterfragen. Dies gilt gleichermaßen für die beteiligten Personen wie auch für die betroffenen Organisationen und deren Bereitschaft für interkulturelle und diversitätsbezogene Öffnungsprozesse. Hierbei müssen die menschenrechtsrelevanten Dimensionen, wie Gerechtigkeit und Teilhabe, zusammengedacht werden mit der Notwendigkeit einer Anerkennung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit unter Berücksichtigung vorhandener Mechanismen der Diskriminierung, Ausgrenzung und sozialen Ungleichheit. Dies erfordert einen tiefgreifenden Lern- und Veränderungsprozess der beteiligten Menschen und Organisationen, der mit dem Aufbau und der Weiterentwicklung einer partizipatorisch-reflexiven Diversitätskompetenz verbunden ist. 6 Ausblick: Partizipatorisch-reflexive Diversitätskompetenz als Schlüsselqualifikation Diversität und Postmoderne erfordern, dass sich alle Prozessbeteiligten auf Neues einstellen, Zwei- und Mehrdeutigkeiten wahrnehmen und respektieren sollen. Die hierfür notwendige Kompetenz kann als Schlüsselqualifikation für soziale Berufe im Zeitalter der Globalisierung gesehen werden. Ähnlich wie die Interkulturelle Kompetenz setzt sich Diversitätskompetenz - eher statisch betrachtet - aus einer Kombination aus Wissen, Einstellungen und Haltungen sowie konkreten Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen, die eingesetzt in durch Vielfalt gekennzeichnete Interaktionssituationen deren Verlauf erfolgreich gestalten, Bestandteile und wesentliche Inhalte, wie z.B. Offenheit und Neugier, Ambiguitätstoleranz, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, werden häufig in Merkmalslisten 81 dargestellt. Meiner Meinung nach lassen sich für den Zusammenhang zwischen Diversität, Menschenrechten und Postmoderne wichtige Bestandteile der Diversitätskompetenz anführen: 81 Vgl. Beate Aschenbrenner-Wellmann (2003), Interkulturelle Kompetenz in Verwaltung und Wirtschaft. Theorie und Praxis eines Change-Prozesses von der monokulturellen zur globalen Kompetenz, Berlin; dies. (2012), Vom interkulturellen Lernen zum Diversitätslernen in der Migrationsgesellschaft. Entwicklungslinien, Widersprüche und Perspektiven, in: Beate Aschenbrenner-Wellmann; Birgit Groner, Kulturelle MittlerInnen in der Migrationsgesellschaft, Stuttgart, S. 155-189. <?page no="144"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 126 1. Kognitive Dimension: Kenntnis über Theorien sozialer Ungleichheit und Inklusion Instrumente und Grundlagen der Menschenrechts- und Antidiskriminierungsarbeit Kenntnis der Prinzipien des Empowerments, sozialer Teilhabe und Sozialraumorientierung Wissen über die Entstehung und Konstruktion von Verschiedenheit. 2. Affektive Dimension: Bewusstheit gegenüber eigenen Werten, Einstellungen und Haltungen und deren Einfluss auf das eigene Verhalten differenzierte Wahrnehmung der eigenen Person, Kultur und Organisation Ambiguitätstoleranz Anerkennen des Verschiedenen als gleichberechtigt und wertvoll 3. Verhaltensbezogene Dimension: Fähigkeit zu situationsbezogenem Handeln und zur Steuerung von Change-Prozessen selbstreflexives Handeln im Kontext von Abhängigkeit, Empathie und Fürsorge Fähigkeit als ProzessbegleiterIn, die Empowerment als professionelle Haltung berücksichtigt Wichtig ist eine über die Merkmalslisten hinausgehend prozesshafte und situationsbezogene Betrachtungsweise, die Diversitätskompetenz als Ergebnis eines Lern- und Veränderungsprozesses sieht, welche aber je nach Begegnungssituation und Prozessbeteiligten sowie Rahmenbedingungen (Macht, Strukturen der Organisation, rechtliche Konstellationen etc.) unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Unabhängig davon soll Diversitätskompetenz immer mit den methodischen und haltungsmäßigen Bestandteilen: Reflexivität, Partizipation und Empowerment ausgestattet sein. Diese Betrachtungsweise wird im nachfolgenden Schaubild skizziert: <?page no="145"?> Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne 127 Diversitätskompetenz im Change-Prozess 82 Diversitätskompetenz entsteht nicht aus sich selbst heraus, sondern erfordert eine gestaltungsoffene und heterogen verlaufende Bildungsprozesse ermöglichende Lernkultur sowie diversitätssensible und veränderungsbereite Organisationen. Als ethisch-normative Orientierungsgrößen können hierbei kritisch hinterfragte Menschenrechte dienen, denn Menschenrechtsperspektiven, interkulturelle und internationale sowie Diversitätsorientierung bzw. Öffnung von Menschen und Organisationen sind wesentliche Bausteine für die postmoderne Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Ein Verständnis Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession kann eine Vorreiterinnen- Rolle für andere Berufe aus dem pädagogischen oder juristischen Bereich bewirken, wobei weder Menschenrechte noch Diversitätsdiskurse zum Zwecke der eigenen Professionsentstehung instrumentalisiert werden dürfen. Eine Reflexion bestehender Widersprüche, wie beispielsweise die „Unversöhnlichkeit“ zwischen der Anerkennung der Differenz und der gleichzeitigen Notwendigkeit der Dekonstruktion von Unterschiedlichkeiten, erweist sich als ständig notwendige Auseinandersetzung mit dem professionellen Denken und Handeln im Sinne eines lebenslangen Lernprozesses. 82 Grafik in Anlehnung an: Aschenbrenner-Wellmann, Vielfalt, S. 73. <?page no="146"?> Beate Aschenbrenner-Wellmann 128 Auswahlbibliographie Aschenbrenner-Wellmann, Beate (Hg.) (2009): Mit der Vielfalt leben. Verantwortung und Respekt in der Diversity- und Antidiskriminierungsarbeit mit Personen, Organisationen und Sozialräumen. Stuttgart. Aschenbrenner-Wellmann, Beate (2012): Vom interkulturellen Lernen zum Diversitätslernen in der Migrationsgesellschaft - Entwicklungslinien, Widersprüche und Perspektiven. In: Aschenbrenner-Wellmann, Beate; Groner, Birgit ( Hg.): Kulturelle MittlerInnen in der Migrationsgesellschaft. Stuttgart, S. 155-189. Bendl, Regine; Hanappi-Egger, Edeltraud; Hofmann, Roswitha (Hg.) (2006): Agenda Diversität: Gender - und Diversitätsmanagement in Wissenschaft und Praxis. München und Mering. Kessl, Fabian; Plößer, Melanie (Hg.) (2010): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Wiesbaden. Kleve, Heiko; Koch, Gerd; Müller Matthias (Hg.) (2003): Differenz und Soziale Arbeit. Berlin/ Milow/ Straßburg. Krell, Gertraude; Riedmüller, Barbara; Sieben, Barbara; Vinz, Dagmar (Hg.) (2007): Diversity Sudies. Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt a.M./ New York. Lamp, Fabian (2007): Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung. Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis. Bielefeld. Leiprecht, R. (Hg.) (2011): Diversitätsbewusste Soziale Arbeit. Schwalbach. Staub-Bernasconi, Silvia (2008): Menschenrechte in ihrer Relevanz für die Theorie und Praxis Sozialen Arbeit. In: Widersprüche Heft 107. Frankfurt a.M., S. 9 ff. Welsch, Wolfgang (1987/ 2008): Unsere postmoderne Moderne. Weinheim. <?page no="147"?> 3 POSTMODERNE BIBELDIDAKTIK IM HOCHSCHULBEREICH - KOMPETENZZIELE <?page no="149"?> Bernd Beuscher „Ich und mein Magnum“ - Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik unter postmodernen Umständen Abstract: Im Gegensatz zu „verzweifelten Versuchen, Ich selbst sein zu wollen“ (von Sören Kierkegaard als „Krankheit zum Tode“ diagnostiziert), ist Identität (unter postmodernen Strukturbedingungen) im Horizont christlicher Optionen kein erreichbares „ready-made“, sondern selbstbewusste Gelassenheit unabschließbarer paradoxer Entwicklung: „Sich selbst zu verlieren, um sich selbst zu gewinnen“ (S. Kierkegaard). Dies als sichtbarer Ausschnitt eines unüberschaubaren größeres Prozesses zwischen Sterblichkeit (alias Geburt) und Geburtlichkeit (alias Tod). „When too perfect - liebe Gott böse.“ Nam June Paik 1 Die Umstände: „anything is going“. Was, wenn Strukturen kein organisierendes Zentrum haben? Die Konstruktion des Begriffs „postmodern“ verrät mit der vorangestellten Silbe „post“ die Sehnsucht, signifikante Phänomene der Moderne schon hinter sich gelassen zu haben. Versuche, eine Bilanz der Postmoderne zu ziehen, 1 bestätigen diese Sehnsucht und verdecken sie zugleich. „Postmodern“ ist somit zunächst Ausdruck und Abkürzung einer Klage: Die Moderne fühlt sich alt, weil sie an ihre Grenzen geraten ist. Werte zu schützen sowie Veränderungen gesellschaftlicher Maßstäbe rechtzeitig erkennen und entsprechend vorsorgend kontrollieren zu können, war der Stolz des homo faber von Kant bis Star-Trek. Heute gehen jedoch viele Science-Fictions selbst „Zurück in die Zukunft“ und träumen in allem postmodernen Tohuwabou von Zeit-Räumen, wo innen und außen, oben und unten, männlich, weiblich, sächlich, gut und böse, Subjekt und Objekt, Naturwissenschaft und Glaube, Kopie und Original (noch und wieder) klar getrennt erscheinen oder wenigstens prinzipiell unterscheidbar sind. Die Krise hatte sich angekündigt. Zu Beginn dieses Jahrhunderts attestierte Sigmund Freud der Menschheit zwei große Kränkungen ihrer naiven 1 Vgl. z.B.: Post-Moderne. Eine Bilanz. Sonderheft Merkur (9/ 10) 1998. <?page no="150"?> Bernd Beuscher 132 Eigenliebe: Die Erde ist nicht Mittelpunkt des Weltalls (Kopernikus), und die Krone der Schöpfung hat eine animalische Natur (Darwin). Freud zählte seine psychologische Forschung als dritte große Kränkung, da sie dem Ich nachweist, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Haus. Als Milleniumbilanz kann ergänzt werden, dass die ungebrochene Zuversicht der Phase der Erfindungen und Welt(raum)eroberungen verstört wurde durch Weltkriege bzw. Dauerkriege in der Welt, durch Auschwitz, Hiroshima, Tschernobyl und Fukushima, durch gentechnologische Überforderungen sowie vielfache und komplex miteinander verwobene Countdowns ökologischer Crashs und technologischer Abstürze. Eine Pluralität von Sprachen, Modellen, Verfahrensweisen jeweils innerhalb eines Ansatzes hat sich Bahn gebrochen. Damit ist eine Radikalität von Pluralität erreicht, von der die kritisch gemeinte Anzeige „bunter Vielfalt nebeneinander“ gerade keine Ahnung hat. Dem ebenso vielwie falschzitierten „anything goes“ steht im Original ausdrücklich die Betonung „anything goes, is going“ gegenüber. 2 Stets charakterisiert man Postmoderne als „Anything goes“ und klagt deshalb: rien ne va plus! Dabei hatte Paul Feyerabend ausdrücklich anders betont: „anything goes, is going“ hieß es kursiv betont bei ihm, und er verwahrte sich verzweifelt gegen „Sonntagsleser, Analphabeten und Propagandisten“, die ihm immer wieder in entgegengesetzter Betonung „Anarchie“ unterstellten. „Postmoderne“ heißt: Man ist unsicher geworden. Was ist „Science“, was „Fiktion“, was „Scientology“? Man weiß nicht mehr, was man davon (be)halten soll. Viele Politiker und (Religions-)Pädagogen verfallen einem Identitätswahn, der nicht nur bei Jugendlichen als Fremdenhass seine Kehrseite zeigt. „Wo Alles fremdartig ist! “ 3 wollen sie das Eigene im Fremden betonen und nichts davon wissen, wie viel Fremdes immer schon im Eigenen ist. In (selbst)destruktiver Gewalt entlädt sich der seit der Aufklärung stetig angewachsene Stress der Subjekte, Identität, Sozietät, Kontinuität und Pietät leisten zu sollen. Es entwickelt sich eine Flucht in die Zukunft als Euphorie, die sich auf EDV-gestützte Hochtechnologien kapriziert. 4 Die Multimedia-Welt der EDV-Technologien ist wie die postmoderne Lebenswelt eine komplexe und verwirrende Welt, aber sie wird im Gegensatz zur analogen Postmoderne vorgestellt als eine Welt, in der klare, eindeutige und allgemeingültige, für jeden verbindliche, jederzeit abrufbare Gesetze herrschen. Wenn etwas nicht funktioniert, dann hat das im Gegensatz zur analogen Welt prinzipiell einen behebbaren Grund. 2 Vgl. Paul Feyerabend (1979), Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt, S. 66.67.86-88. 3 Karl Barth (1989), Der Römerbrief (Zweite Auflage von 1922), Zürich, XXIX. 4 Vgl. dazu Bernd Beuscher, (1999), Remedia. Religion, Ethik, Medien. Eine religionspädagogische Theologie der Medien, Norderstedt. <?page no="151"?> Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik 133 „Postmoderne“ ist also Index für den gesellschaftlichen Phänomenkomplex, der mit der Wendung vom Ende der Selbstverständlichkeit universaler Systeme und Metaerzählungen als Welterklärungs- und Weltanschauungsmodelle monistischen Typs charakterisiert wurde. Weitere postmoderne Faktoren sind die bereits genannte radikale Pluralität und der damit verbundene Verzicht auf Gesamtdeutungsambitionen samt jeglichem abschließenden Vokabular sowie die Einsicht in die Unmöglichkeit von Außenstandorten. Diese Faktoren werden unter dem Stichwort „postmodern“ allgemein gesellschaftlich als „Verunsicherungen“, „Identitätsstörungen“ und „Orientierungsschwierigkeiten“ beklagt. Daraus folgt zwangsläufig eine große Anziehungskraft ideologischer Images mit ihren verschiedenen Mechanismen totaler und sicherer Alles-Erklärung. Angesichts der vielfältigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umbruchphänomene gewinnen so weltanschauliche Orientierungsfragen zunehmend an Bedeutung. Religionspädagogen und Religionspädagoginnen können sich heute der Erwartung, „Pädagotchi“, „Wertedealer“ oder „Ethitainer“ zu sein, nur schwer entziehen. Es wird eine religionspädagogische Hauptfrage sein, unter welchen Bedingungen der Mensch „in Frag- Würde“ leben kann, anstatt sich der Lebenskomplexität durch Blasiertheit zu entziehen. Dazu darf sich Ideologiekritik nicht in intellektueller Reflexion erschöpfen, sondern wird schon im (bibel)didaktischen Setting angelegt sein müssen. Der grundsätzliche Verzicht auf „Gesamtdeutungsambitionen“ führt als Konsequenz mit Tillich gegen Barth zur Gelassenheit eines „Positiven Paradox“ 5 , das gerade die „Paradoxie einer Meta-Erzählung namens ,Ende der Meta-Erzählungen’“ 6 zu meiden versteht. „Dies spätestens ist der Punkt, wo eine theologische Grundierung dieses postmodernen Denkens durchscheint. Das Absolute ist in ihm nicht schlechthin ausgeschlossen nur ,gibt’ es das Absolute nicht. Es kann es nicht ,geben’, weil das Absolute darin vergegenständlicht und zu einem Endlichen herabgesetzt wäre. Das Absolute, das Unendliche ist strikt als Nicht-Darstellbares, als Unfassliches zu wahren und gerade als solches wirksam. Genau so stellt es komplementär zum ,Tod Gottes’ einen entscheidenden Antrieb postmodernen Denkens dar.“ 7 Schlüsselbegriff eines postmodernen theoretischen Ansatzes, der bemüht ist, seine Objekte durch beherzten Zugriff nicht zugleich zu zerstören oder zu 5 Vgl. dazu Bernd Beuscher (1993), Positives Paradox. Entwurf einer neostrukturalistischen Religionspädagogik, Wien. 6 Wolfgang Welsch (1989), Postmoderne. Zwischen Indifferenz und Pluralität, in: Peter Burtscher (u.a.) (Hg.), Postmoderne - Philosophem und Arabeske, (Salzburger Schriften zur Rechts-, Staats- und Sozialphilosophie, 8) Frankfurt, S. 22. 7 Wolfgang Welsch (1988), Religiöse Implikationen und philosophische Konsequenzen ,postmodernen’ Denkens, in: Alois Halder (u.a.) (Hg.), Religionsphilosophie heute, S. 126. <?page no="152"?> Bernd Beuscher 134 verfremden, ist „Struktur“. „Struktur“ ist zu verstehen als eine fragmentarische Ganzheit, die im Hinblick auf die Prozesse der Zusammensetzung erkennbar wird, also nichts Statisches. „Struktur“ hat nicht den Charakter irgendeiner beliebigen statischen Form, sondern stellt sich dar als Organismus von Transformationen. Inspiriert durch Derrida ergeben sich jedoch weitere Konsequenzen, die verhindern, dass „Struktur“ Zentralismus auf höherer Ebene wiederholt: „Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde, obgleich sie immer schon am Werk war, bis zu dem Ereignis, das ich festhalten möchte, immer wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte. Dieses Zentrum hatte nicht nur die Aufgabe, die Struktur zu orientieren, ins Gleichgewicht zu bringen und zu organisieren - es lässt sich in der Tat keine unorganisierte Struktur denken -, sondern es sollte vor allem dafür Sorge tragen, dass das Organisationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen könnten. Indem das Zentrum einer Struktur die Kohärenz des Systems orientiert und organisiert, erlaubt es das Spiel der Elemente im Innern der Formtotalität. Und noch heute stellt eine Struktur, der jegliches Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar. Doch das Zentrum setzt auch dem Spiel, das es eröffnet und ermöglicht, eine Grenze.“ 8 Das führt unweigerlich zu der Frage: „Wie aber nun, wenn der Struktur in Wahrheit das Zentrum fehlte? [...] Was wäre, wenn sich nachweisen ließe, dass Strukturen in Wahrheit kein organisierendes Zentrum besitzen? [...] Alsdann stünden wir auf dem Boden einer Theorie, die nicht von innerhalb der Grenzen des klassischen Strukturalismus spräche, sondern diese Grenzen überträte. Wir stünden auf dem Boden dessen, was [...] mit ,Neostrukturalismus’ bezeichnet wird.“ 9 Theologisch adaptiert ergibt sich die Frage: Wie aber nun, wenn sich Wahrheit als Struktur dezentralistisch zeigt? Diese Überlegungen sind unterwegs zu einem Strukturalismus unter Aufgabe jeglicher (immer schon Ich-erschlichener bzw. Ich-erschleichender) Zentren. Gelegenheit einmal mehr zu betonen, dass „Dekonstruktivismus“ sein „De-“ nicht primär von „destruktiv“, sondern von „dezentral“ hat! Dekonstruktion, nicht Demolition! 10 Neostrukturalismus ist somit eine einheitliche Theorie, die nicht vom Standpunkt des narzißtischen Ich aus formuliert ist. Das Ich gefällt sich dann weder als „Herr“ noch als „Knecht“. Es herrscht weder das ungebrochene Streben und Irren noch das gebrochene Resignieren. Das Ich lässt sich ein 8 Jacques Derrida (1993), Die Struktur, das Zeichen und das Spiel der Wissenschaft vom Menschen, in: Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart, S. 114.115. 9 Manfred Frank (1988), Was ist Neostrukturalismus, Frankfurt, S. 76. 10 Vgl. Dazu Jean-Luc Nancy (2008), Dekonstruktion des Christentums, Zürich-Berlin, S. 25. <?page no="153"?> Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik 1 5 auf die Passage, die Tour, das Flanieren, das Wandern („wandern“, mhd. „wanderen“ bedeutet eigentlich „wiederholt wenden“; Buße tun) im Übergangselement Welt. Folgende Parameter bilden dabei den Spielraum: Gelassenheit (Konfirmation als Entsicherung des Glaubens) Angewiesenheit (das/ der/ die Fremde als Spiegel der (Selbst)Erkenntnis: Gemeinde) Getriebenheit (Angst als Index von Welt: Unruhe des Herzens) Getrostheit (Paradox der Gnade). 11 „Kann die Verschiedenheit des Einen, kann der Übergang zu radikaler Vielheit, in der das Eine nur Eines neben Anderen ist, theologisch fruchtbar gemacht, ja überhaupt mitgemacht werden? Und sind alle Religionen dazu gleichermaßen in der Lage? Oder wäre gerade hierzu eine bestimmte Religion etwa die christliche in besonderer Weise befähigt? [...] Es gilt künftig Phänomene religiöser Profanität ins Auge zu fassen.“ 12 2 Die Aufgabe: Ich ist ein anderer - und Gott Gott sein lassen. Persönlichkeitsentwicklung als Entbindung per Entzug Der französische Psychoanalytiker und Philosoph Jacques Lacan hat beschrieben, dass die Basis jeder gesunden psychologischen Entwicklung die Ausbildung einer Einbildung ist. Das weitere Gedeihen der Persönlichkeit hängt dann davon ab, wie weit sie sich im sozialen Geschehen und Weltumgang nach und nach von dieser Einbildung wieder entwöhnen lässt. Das soll hier im im Titel kursiv betonten „entwickeln“ mitschwingen: Persönlichkeitsentfaltung per Entbindung, Entwöhnungstoleranz und Entzugsfähigkeit. Man kann diese Fähigkeit als eine der wesentlichen Herausforderungen von Bildung und Erziehung bezeichnen. Besondere Verantwortung kommt dabei der religiösen Bildung zu: Hier ist der Lackmustest auf ideologische oder seriöse Religion. Werden nur emotionale Löcher gestopft oder gilt als Paradigma das Fremde und das Fragmentarische, Exodusmotiv und Kenosis? Bei der Frage nach der Identität geht es also immer zugleich auch um die Frage nach Weltanschauung, Weltkommunikation und Religion: Wie ist eine einheitliche, das heißt systematisch angelegte reflektierte und angewandte Theologie denkbar, die weder den Standpunkt des narzißtischen Ich einnimmt und im Ansatz regressiv verharrt noch sich in vielerlei Formen von Selbstapotheose oder in der Projektion verschiedener Gottesbilder als alter ego produziert? Es gilt die These, dass die biblischen Traditionen dieser Aufgabe vorzüglich gewachsen sind. 11 Beuscher (1993), Positives Paradox, Wien, S. 144. 12 Welsch, Religiöse Implikationen, a.a.O., S. 128.129. <?page no="154"?> Bernd Beuscher 1 3 Die Analyse: Glänzende Bildung. Das gute Ansehen bleibt, auch wenn der Narzißmus Risse bekommt Was bilden wir uns ein? Und: Wie bilden wir uns ein? Die „psychische Geburt des Menschen“ 13 vollzieht sich als „glänzende Bildung“. Jacques Lacan untersuchte entsprechende Phänomene unter dem anschaulichen Titel „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“ 14 . Dort rekonstruierte er, dass der Mensch nicht mit einem ausgeprägten, identitätsgewissen und selbstsicheren Lebensgefühl auf die Welt kommt, sondern dass in der Zeit vom 6. bis zum 18. Lebensmonat der Verlust der „somatopsychischen omnipotenten Fusion“ 15 mit der Mutter, das verlorene Totalversorgtsein, als Grundbefindlichkeit menschlichen Daseins die Disposition bildet für ein markantes spiegelndes Aha-Erlebnis. Als Spiegel kann dabei nicht nur der Garderobenspiegel der elterlichen Wohnung fungieren, sondern alles mögliche: die sich in Ton und Aufmerksamkeit niederschlagende Euphorie und der Stolz der Eltern, der Teddy, die Puppe, das Spielzeug, das Haustier und später das (schnelle, dicke, elegante, schrottige) Auto, das Handy, der Screen, die Klamotten, die gewohnte Ordnung sowie allerlei Rituale oder liebgewonnene Denkgewohnheiten wie zum Beispiel die vom „lieben Gott“. Spiegel kann alles sein, „ein bestimmter Geruch, ein bestimmtes Wort, ein bestimmtes Knistern, ein bestimmter Körperteil, ein bestimmtes Zeichen - bestimmt immer von anderswoher, zum Beispiel durch die Mutter (aber was heißt schon Mutter; auch das kann alles Mögliche sein)“ 16 . Lacan hatte beobachtet, dass und wie „der Komplex der Entwöhnung“ 17 unter den in dieser Welt unvermeidlichen Eindrücken der Zerrissenheit und der kreatürlichen Ängste eine reaktive Selbstbespiegelung als „Fata morgana [...] der totalen Form des Körpers“ 18 bewirkt. Damit ist gemeint, dass der Mensch viel früher in der Lage ist, sich die Einheit seines Bildes einzubilden, als diese Einheit an seinem eigenen Körper motorisch herzustellen. Dies gehört zur elementaren Dynamik einer gesunden psychischen Entwicklung und ist auch der Grund, warum z.B. körperbehinderte Kinder ohne psychische Probleme Bilder von sich malen können, die keinerlei Beeinträchtigung 13 Vgl. Margaret S. Mahler, Fred Pine, Anni Bergman (1987), Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation, Frankfurt. 14 Jacques Lacan (1975), Schriften I, Frankfurt, S. 61-70. 15 Mahler; Pine; Bergman, Die psychische Geburt, S. 63. 16 Bodo Kirchoff (1993), Freud wieder ernst genommen: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus. Ich denke da, wo ich nicht bin. Unter dem Eindruck von Jacques Lacan: Die Kastration ist (k)ein Märchen, in: Beuscher, Positives Paradox, Wien, S. 210. 17 Jacques Lacan (1980), Schriften III, Olten, S. 47ff. 18 Lacan, Schriften I, S. 64. <?page no="155"?> Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik 1 aufweisen, während „physisch gesunde Kinder körperlich behinderte Gestalten zeichnen, in denen sie sich projektiv wahrnehmen“ 19 . „Ich“ fürchtet sich zunächst auf der Folie unsicherer und banger Ahnungen, aber dann erkennt und anerkennt „Ich“ sich übers Körperschema 20 sozusagen „sportlich“ als total toll. Die kleine Person nimmt die unsichere Vorgabe an und beginnt, daraus etwas zu machen. „Ich-Identität“ ist sozusagen eine narzißtische Produktion imaginärer „Fiktion-Studios“; Buch, Regie und Bühne werden von woanders gestellt. 21 Es handelt sich um eine halluzinatorische Einbildungsleistung, die bei gesunder psychischer Entwicklung in frühen Phasen der Kindheit selbständig, gerne und hochmotiviert erbracht wird. Angesichts vielfältigster, mannigfacher irritierender und dissoziierender Einflüsse nimmt das Individuum bereitwillig Gelegenheiten wahr, sich als Ganzes, als Einheit, als eine „runde Sache“ anzusehen, zu bestätigen und zu versichern. Derartige imaginäre, narzißtische Entwürfe des Selbst sind bedürfnisorientiert, sie entsprechen den berechtigten und begründeten Bedürfnissen nach Sicherheit, Ganzheit, Totalität. Solche imaginäre (Selbst)Totalisierung ist notwendig. Sie überbrückt die Eindrücke von Selbstverlust, Selbstzerstückelung, des Zerfließens, der Haltlosigkeit, der mannigfachen existentiellen Unsicherheiten. Eine besondere Rolle spielt hier der Blick des Anderen, den in erster Linie die Eltern sowie professionelle pädagogische Kräfte zu verantworten haben. Gibt es durchgehend ausreichend Möglichkeit, in dieser Phase (sowie später generell in Phasen) der Unsicherheit, Anfechtung und Irritation Ansehen zu genießen? Die menschliche Existenz ist eine hinfällige, zerbrechliche Existenz: Es geht um das unverschämte Glück, die unausweichliche Schuld, die schockierende Gewalt, den plötzlichen Tod, das quälende Leid, die endlose Langeweile, die Dämonen der Einsamkeit. Der Blick eines anderen (Heinz Kohut spricht vom „Glanz in den Augen der Mutter“ 22 ) kann hier als Matrix eines Gefühls der Einheit, Identität und Dauerhaftigkeit dienen, was die Evidenz der existenziellen Ausgangssituation dem „Mängelwesen“ gerade nicht geben kann. Prägt und trägt auf diese Weise in der elementarpädagogischen Phase im Idealfall die wohlwollende Außenwahrnehmung die Selbstwahrnehmung 23 , 19 Francoise Dolto (1988), Über das Begehren. Die Anfänge menschlicher Kommunikation, Stuttgart, S. 85. 20 „Körperschema“ bezeichnet die innere Repräsentanz meiner selbst. 21 Die Aufteilung nach dem Schema von George Herbert Mead (Me/ I/ Self) scheint mir zu simplifizierend; darauf muss an anderer Stelle eingegangen werden. 22 Heinz Kohut (1981), Narzißmus, Frankfurt, S. 141.142. 23 Fällt dies Ansehen aus, wird versagt oder gar Negatives gespiegelt, kommt es im besten Fall zu dem, was Max Raabe so schön besingt mit dem Titel: „Ich bin nur gut, wenn keiner guckt.“ <?page no="156"?> Bernd Beuscher 1 so liegt die Herausforderung für die weitere pädagogische Verantwortung darin, die Fragen, die das Leben/ das Reale im Kind bald durch seine sozialen Dispositive weckt, nicht zu tabuisieren, sondern zu kultivieren. „Wo war ich, bevor ich in Mamas Bauch war? “ „Wo ist Lucky Luke (das Meerschweinchen) jetzt? “ „Opa, wann stirbst du? “ „Wann sind wir endlich da? “ - so fragen Kinder auf der ganzen Welt, und zwar nicht nur in konfessionellen, sondern auch in kommunalen Kindergärten. Hier gilt als (religions)pädagogischer Grundbescheid generell als Erstantwort „Gute Frage! “ Damit wird kommuniziert, dass das gute Ansehen bleibt, auch wenn der Narzißmus Risse bekommt und sich auf Fremdes hin öffnet. Noch ehe ein Wort der Belehrung gefallen ist, ist die Art und Weise, wie wir reagieren, eine Lektion, die Kinder nicht vergessen. „Das ist halt so.“ „Du kannst vielleicht fragen! “ „Sei still! “ „Willst du ein Eis? “ „Geh und spiel mit deinem Chemiebaukasten! “: Bereits an Tonfall und Blick spüren Kinder das Ablenken und Ausweichen, das Tabuisieren sofort. Und sie merken es sich genau. Für ihr waches, unbefangenes Fragen werden sie mit Scham und Verlegenheit geimpft. Sie spüren: „Ich liege falsch.“ Später bleibt ihnen keine andere Möglichkeit als Wissenschaftsgläubigkeit, Esoterik oder Ignoranz. Religion ist die Übung, im Verbund einer gewachsenen und weiter wachsenden Tradition das Antworten zu verantworten. Das unterscheidende Qualitätskriterium liegt dabei nicht im Gegensatz von „Determinismus“ und „Freiheit“, 24 sondern im Gegensatz von „Identität“ und Differenz“. Heilsame und unheilvolle religiöse Strukturen unterscheiden sich dadurch, dass sich jene von der „Anderheit“ des Anderen, diese von seiner (ideologischen) Einverleibung her konstituieren, jene von der Differenz, diese von der Identität herleiten. 4 Die Umsetzung: Identität paradox. Vom „getrosten Verzweifeln an sich und seinen Werken“ Das Leben erlaubt keine fixe Identität. Zum Beispiel der Traum ewiger Jugend: Viele Zeitgenossen führen uns unfreiwillig drastisch dessen Illusion vor Augen. Aber auch jenseits vom schönheitschirurgischen Machbarkeitswahn warten auf jeden Menschen Fragen, die in die Rubrik „Identität“ fallen: Wer bin ich? Bin ich gut? Was wird aus mir? Warum gerade ich? Warum gerade ich nicht? Warum? ! Ich möchte gerne was werden und wer sein! 25 24 „Die These vom Determinismus und die von der Freiheit koinzidieren im Innersten: beide proklamieren Identität” (Theodor W. Adorno [1975], Negative Dialektik, Frankfurt, S. 261). 25 Vgl. dazu Bernd Beuscher (2011), Set Me Free, Göttingen. <?page no="157"?> Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik 1 Das moralökonomische Konzept einer schönen Identität in tüchtiger Rechtschaffenheit auf der Basis von Wollensollen und bewusster Gläubigkeit ist im Register des Evangeliums immer schon die Hölle. Das muss sich nur wieder herumsprechen. 26 Machen wir uns doch nichts vor: Wir leiden unter Obsessionen und Zwängen. Was treibt uns? Unsere Motive sind uns oft gar nicht bewusst. Wir handeln gegen besseres Wissen oft! Wir sind unvernünftig - oft! Wir hören uns sagen: „Das habe ich doch nicht gewollt! “ „Ich konnte einfach nicht anders! “ „Oops, I did it again! “ Shit happens. Ich ist ein anderer. Wir sind uns fremd. Es ist immer schon mehr Fremdes im Eigenen, als wir wahrhaben wollen. Im Fremden treffen die Problemkreise Kontingenz und Koexistenz zusammen. Das Störende, Dunkle und Verwirrende verwundet unsere Ordnungen, Absicherungen und Abgrenzungen. Das Fremde lauert überall. Hinkende, Lahme, Schwache, Arme, Ängstliche, Verblendete, Betrogene, Enttäuschte, Irrende, Orientierungslose, Abhängige, Verlassene geben das Bild ab für das Verdrängte und Ausgegrenzte, das Ungewohnte und Ungewöhnliche, dem wir uns doch nicht entziehen können, weil es in uns selbst existiert. Wo wir es mit Neuem, Ungewohntem, Unübersichtlichen, Fremden zu tun bekommen, werden Angst und Ohnmachtsgefühle ausgelöst. Wir wollen nicht behindert sein. Die Karten sind verschiedenen verteilt. Ich habe zu verantworten, wofür ich nichts kann. Das ist peinlich. Man wird kontaminiert mit dem ohnmächtigen Gefühl der „Scham, nichts dagegen tun zu können, dass man nichts dafür kann.“ 27 Es droht Identitätsdiffusion. Ein entsprechender Klick bei Wikipedia führt direkt in Abgründe: „Identitätsdiffusion beschreibt das Problem der Zersplitterung der eigenen Ich- Identität (Selbstbild). Sie beruht auf den Zweifeln der eigenen z.B. ethnischen, sozialen oder geschlechtlichen Identität, entstanden durch Unsicherheiten im eigenen Handeln und Entscheidungen bzw. Orientierungslosigkeit. Es sind Unsicherheiten in Bezug darauf, ob der ,richtige‘ Weg gewählt wurde oder Ängste, nicht zu wissen, zu wem man sich in der Zukunft entwickelt oder auch welche Werte und Normen als die eigenen übernommen werden sollen. Diese Diffusion betrifft die meisten Jugendlichen und löst sich im Laufe einer normalen Entwicklung auf. Jedoch in extremen Fällen kann eine Nichtbewältigung von latenten Krisen zu ernsthaften Entwicklungsstörungen führen, die sich erst im frühen Erwachsenenalter bei der Ausübung von sozialen Verhältnissen (Intimität) aufzeigen. Jugendliche, die mit den äußerlich aufgezwungenen gesellschaftlichen Anforderungen nicht zurechtkommen, treten die Flucht an, in deren Folge sie Pflichten wie die Schule, Ausbildung oder sich selbst vernachlässigen (häufigstes Problem ist die Entscheidung zu einem bestimmten Berufsbild). 26 Vgl. dazu www.howdoesthegospelhappen.com (25.09.2013). 27 Günther Anders (1992), Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, München, S. 70. <?page no="158"?> Bernd Beuscher 1 Die Identitätsdiffusion kann bis zur völligen Aufgabe der eigenen Identität und einer Überidentifizierung mit Leitbildern und Idolen führen. Identitätsdiffusion ist nicht nur ein Adoleszenzproblem. Sie betrifft ebenso Erwachsene, die z.B. arbeitslos oder chronisch krank (oder beides) werden, dadurch ihre bisherigen Kommunikationspartner verlieren und dann neue überhaupt nicht oder nicht im erforderlichen Umfang gewinnen können. Identitätsdiffusion findet sich besonders häufig bei Menschen, die in ihrer Kindheit emotional missbraucht wurden, (das Stichwort dazu heißt Parentifizierung).“ 28 „Tschakka, du schaffst es! “ „Du must nur wollen! “ „Reiß dich zusammen! “: Münchhausen-Identitätsstrategien - seien sie geistig-reflexiv oder sittlichautopoietisch gedacht - nannte Sören Kierkegaard „Krankheit zum Tode“. Mit der Überschrift „Identität paradox“ wird dagegen als ein „Evangelium“ die Option eines ziemlich verrückten, gelassenen Lebensregisters angezeigt. Wie sich das anfühlt, wird spürbar in einem seelsorgerlichen Brief Martin Luthers an seinen jüngeren Klosterbruder August Spenlein: „Heute brennt die Versuchung zur Vermessenheit in vielen und besonders in denen, die sich mit allen Kräften bemühen, gerecht und gut zu sein [...] Sie streben so lange aus sich selbst heraus, gut zu handeln, bis sie die Zuversicht haben, vor Gott bestehen zu können [...] Hüte Dich, dass Du nicht einmal nach einer so großen Reinheit trachtest, dass Du vor Dir nicht als ein Sünder erscheinen oder gar sein willst. Denn Christus wohnt nur in Sündern [...] Folglich wirst Du nur in ihm Frieden finden durch getroste Verzweiflung an Dir und Deinen Werken.“ 29 Luthers Verständnis christlicher Identität will also gar „keine ‚guten Menschen’ machen (wie sein Freund Melanchthon das wollte), sondern er möchte die Menschen in die ambivalente Wahrheit ihres eigenen Daseins leiten“ 30 . Im Gegensatz zum Pietismus, der den frommen Menschen verklärt, 31 übersetzte dementsprechend Paul Tillich „Heiligung“ mit „paradoxer Selbst- Bejahung“ als einem „reifen Verhältnis des Subjekts zu sich selbst“ 32 . Vorrausetzung dazu ist Scham- und Schuldfähigkeit. Sich-etwas-schämenkönnen, „schuldlose Schuld“ aushalten zu können, ist nicht selbstverständlich, sondern als Zeichen persönlicher Reife ein wichtiges Ziel emanzipatorischer Bildungsarbeit. Schulderfahrung und ein theologisch aufgeklärter, transmoralischer erzieherischer Umgang damit ist für die frühkindliche Selbst- und Weltbildentwicklung enorm wichtig. Ein Umgang mit der 28 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Identit%C3%A4tsdiffusion (25.09.2013). 29 Martin Luther an Georg Spenlein, 8. April 1516, in: Martin Luther (1982), Ausgewählte Schriften, hrsg. von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt a. M., S. 13f. 30 Matthias Kroeger (2004), Im religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche, Stuttgart, S. 226. 31 „Der Pietismus hat versucht, das Werk Jesu Christi deutlich zu machen durch den Bezug auf die Heiligung. Dadurch wurde der fromme Mensch verklärt“ (Hans Joachim Iwand [1964], Gesetz und Evangelium, hrsg. von Walter Kreck, München, S. 13). 32 „Das Prinzip der Selbst-Transzendierung“: Paul Tillich (1966), Systematische Theologie, Band III, Berlin, S. 266.270. <?page no="159"?> Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik 1 Schuldfrage ohne theologische Aufklärung wirkt schizophrenisierend: Einerseits reden wir Schuld aus und reagieren auf existenzielle Gewissensnot mit juristischem Bescheid („noch klein“, „noch ein Kind“, „kann doch nichts dafür“, „Verhältnisse sind Schuld“, „macht doch nichts“), andererseits heißt es oft unerbittlich „selber schuld“, „du konntest ja nicht hören“ usw. Eine theologisch-realistische Selbst-und Welteinschätzung birgt ein großes Selbst- und Weltveränderungspotenzial. Es lässt mich gelassener mit mir selbst, mit meinem (befremdlichen) Wollen und Streben und Sehnen, und mit dem (befremdlichen) Nächsten umgehen. Es geht um die Option, dass es etwas Weiteres, Anderes gibt als Moral, dass es eine Macht gibt, die jenseits von gut und böse steht und das Leben allererst lebenswert und human macht. Diese Macht heißt in der christlichen Theologie „Agape“ und folgt ganz eigenen Gesetzen. Das Register der Liebe überholt das Register der Moral. „Agape“ heißt: Es gibt ab sofort eine andere Option als Moral in dieser Welt. Und ohne diese transmoralische Qualität ist alle Moral lebensfeindlich. „Hier bekommt nicht Gott Recht im Menschen, sondern der Mensch bekommt Recht in Gott.“ 33 Das ist dann die Identität, die sich „Christ“ nennt. Dessen Hauptmerkmal zeigt sich darin, dass er alle Opferspielchen opfert und darauf verzichtet, sich (und andere) über Schuld zu definieren: „Wie zerrissen muss ein Mensch leben, dessen Gottesverhältnis wesentlich vom Opfergedanken geprägt ist. Es gibt keine Versöhnung des Menschen mit sich selbst, solange ein Mensch sich darauf angewiesen fühlt, als erstes Gott mit sich versöhnen zu müssen. Die wahre Form der Armut beginnt nicht mit den verdienstlich guten Werken des Abgebens, sondern mit dem Vertrauen eines vorbehaltlosen Seindürfens [...] Die Kernfrage der ‚Demut’ lautet ganz einfach: wie ich es aushalte, ich selber zu sein, nicht mehr und nicht weniger.“ 34 Gelassen sein: Das klingt verrückt - wie die Kinder (Mk 10,15). Es handelt sich um einen transmoralischen Ansatz. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. God happens. Ich kann mein Ändern leben. Ich setze alles darauf, dass ich so, wie ich bin, Ansehen vor Gott genieße. Es gilt die These, eine christliche Identität sei eine soziale Plastik, die nicht aus Moral, sondern aus Agape geformt ist. Die Identität eines Christenmenschen definiert sich nicht durch Ort, Milieu, Regelwerk, Corporate Identity, Erfolg oder Scheitern, sondern durch die Gleichnishaftigkeit ihrer sozialen Qualität als einer Person, die unbedingtes Ansehen genießt und - bei Gott auf Triangulation umgestellt hat. Dual-narzißtische Symbiosen versuchen, traumatische Erfahrungen zu kompensieren. Ein dritter Pol - ein Fremder, Besuch, Schwiegereltern, Kollegen oder ein Kind - bedeuten für diese ein Problem und nicht die Chance zu einer Bereicherung oder Entlas- 33 Hans Joachim Iwand (1941), Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, München, S. 12.13. 34 Eugen Drewermann (1989), Kleriker, Olten, S. 682-684, 687, 705. <?page no="160"?> Bernd Beuscher 1 tung. Der Weg aus dieser symbiotischen Falle ist Triangulation. Symbiosen sind immer harmonistisch und perfektionistisch. Man muss sich immer „total gut“ verstehen. Triangulationen bieten eine Distanz zum Perfektionismus und Toleranz für kleine Abweichungen, was auch unter widrigen Umständen Lebensqualität bewahrt: „Sobald die Triangulierung einsetzt, werden wechselnde Bündnisse und geteilte Loyalitäten möglich. Der oder die Dritte können sich in den Konflikt zwischen Zweien einmischen oder Abstand halten. So kann Unabhängigkeit erprobt werden, ohne dass Rückhalt verloren geht […] Die wichtigste Botschaft der Triangulierung an die Symbiose ist, dass es nicht nur möglich, sondern wohltuend ist, ein Liebesobjekt loszulassen und dadurch Platz für eigene Wünsche zu gewinnen. In der Symbiose muss alles gemeinsam sein; Trennung und Beziehungsverlust sind identisch […] In der Welt der Triangulierung hingegen bleibt das Gute gut, auch wenn ich mich für Stunden, Tage, selbst Jahre von ihm trenne […] So hilft die Triangulierung, Gutes im Erleben einer Beziehung zu erhalten und notfalls zu retten, während die Symbiose dazu verführt, entweder alles Nachteilige zu verleugnen oder - wenn das nicht mehr gelingt - auch das Gute zu entwerten.“ 35 In der Performance des Gelassen-Seins christlicher Identität wird der Gefühlskontakt zu unseren seelischen Abgründen nicht gekappt. Entsprechende (Selbst)Beobachtungen werden nicht tabuisiert: „Das habe ich nicht gewollt! Alle waren nett und freundlich zu mir. Ich weiß nicht, weshalb ich so böse wurde. Wie kommt es nur, dass man so oft tut, was man gar nicht will? Ich möchte doch gut sein.“ Gute Fragen! Wenn Kinder und Jugendliche die wesentliche humane Erfahrung machen, dass wir oft gegen besseres Wissen handeln, dass trotz guter Absicht etwas schief läuft und sie ihr Gewissen plagt, lässt theologisch aufgeklärte Bildung sie nicht im Stich. Statt „moralischem Judo“, Empörungsaggressivität, Gesinnungsterror und Gesellschaftsanklage pflegt und übt sie ein starkes, grenzbewusstes Selbstbewusstsein, das gelassen und nüchtern der Realität auch langfristig gerecht zu werden vermag. Das befreit und macht stark. Erzieherinnen klagen, dass ihre Moralpredigten keine fünf Minuten vorhalten. Sozialarbeiter verzweifeln am Heilungswiderstand ihrer Klientel. Nur in der Unterscheidung zwischen moralischem Selbsterlösungsregister und dem transmoralischen Register der Liebe (Agape) eröffnet sich überhaupt die Chance, Pädagoge oder Sozialarbeiter bleiben zu können, ohne am Menschen zu zerbrechen, ohne auch Menschen zu zerbrechen. Dies läuft auf Übungen hinaus, deren „Spezifikum darin besteht, die Heranwachsenden hinsichtlich ihrer Grenzen sensibel werden zu lassen“ 36 . 35 Wolfgang Schmidtbauer (2012), Partnerschaft und Babykrise, Gütersloh, S. 163.165.166. 36 Susanne Heine, Glaubensentscheidung und Glaubenserziehung. Zur pädagogischen Aktualität der Kontroverse zwischen Erasmus und Luther, in: Ev. Theol. 46 (2), S. 125. <?page no="161"?> Identität entwickeln als Kompetenzziel von Bibeldidaktik 1 Bibelgeschichten sind Lebensgeschichten. 37 Im Blick auf Identitätsbildungsprozesse ist das beste an ihnen, dass sie am laufenden Band Helden dekonstruieren, Gottprotze stolpern lassen, Triumphatorgeprahle zum Stottern bringen, Reichtum, Besitz und Macht vom Thron steigen lassen und stattdessen Kinder, Aussätzige, Frauen, Ausländer, Verbrecher, Heiden, Unreine, Zweifelnde und Verzweifelnde, Betrübte und Getrübte, Hungrige und Durstige als Propheten des Daseins vor Augen führen. 37 Martina Steinkühler, Bibelgeschichten sind Lebensgeschichten, Göttingen 2011. <?page no="163"?> Katja Baur Mein Text - dein Text - unser Text? Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren Abstract: An der EH Ludwigsburg unterrichten die jüdische, muslimische und christliche Dozierende seit fünf Jahren wöchentlich gemeinsam nach dem didaktischen Modell: „Lernen in Gegenwart der Anderen“. Eine konstruktivistisch geprägte, auf die Fähigkeit zur Übernahme von Perspektivenwechsel zielende, Auseinandersetzung mit der Bibel lädt in Seminaren zum interreligiösen Lernen ein zu Fragen nach Lesarten (2), Fremdheit von Texten und Personen (3), der Funktion der Bibel (3), der Hermeneutik interreligiöser Bibelstudien (4), Modellen zur Auslegung (5), Fremdheit in der Bibel selbst (6) und methodischen Konsequenzen für trialogisches Lernen (7). Ein Ergebnis zeigt, dass die Rezeption individueller Zugänge von Studierenden und die Authentizität der Lehrpersonen zentrale Faktoren für das Gelingen interreligiöser Kompetenzbildungsprozesse in trialogischen Lernarrangements sind. 1 Biblische Diskurse als Lernfeld sozial- und religionspädagogischer Kompetenzbildung An der EH Ludwigsburg gehört die Ausbildung einer interreligiösen Kompetenz zum Profil der Hochschule, das im Leitbild verankert ist. Alle Studierenden sollen sprach- und deutefähig werden, die Verschiedenheit religiöser Lebenswelten in ihrem Feld diversitätsorientiert gestalten zu können. Dazu ist es auch wichtig, Texte der biblischen, koranischen Tradition oder der Thora verstehen und kompetent damit umgehen zu können, um z.B. auf fundamentalistische Vereinnahmungen oder Interpretationen angemessen reagieren zu können. Aus diesem Grunde gehört das Lesen, Deuten und Kommunizieren von Texten der Heiligen Schriften der Abrahamiten zum Grundbestand interreligiöser Seminarinhalte. Wenn wir nun in unseren Seminaren zum interreligiösen Lernen zusammen mit Studierenden Texte aus Thora, Bibel und Koran lesen und vergleichen, machen wir zunehmend die Erfahrung, dass den Studierenden unterschiedlicher religiöser Herkunft Sätze, Begriffe und Gedanken der Bibel mindestens so unverständlich sind wie Suren des Korans. Und wenn wir Dozentinnen vor und mit den Studierenden im Trialog über Texte debattieren, sind etliche Studierende irritiert ob mancher Anfrage oder Antwort dieser Texte. Dabei muten wir den Studierenden eine doppelte Fremd- <?page no="164"?> Katja Baur 146 heitserfahrung zu: Zum einen sollen sie die Fremdheit der Heiligen Schriften - und damit auch der Bibel - als Teil ihres Geheimnisses wahrnehmen. Zum anderen erleben sie die Fremdheit authentischer Zeugen in Gestalt von drei Dozentinnen, die jede Woche das Seminar zusammen gestalten und bewusst als Jüdin, Christin und Muslima miteinander lehren. Im Sinne einer performativen Religionsdidaktik laden wir die Studierenden zu eigenen Entdeckungsreisen mit religiöser Vielfalt ein. Eine Reflexion der Erfahrungen im Blick auf mögliche Konstruktion von Wirklichkeit oder eine Deutung des religiös bestimmten Weltbildes zeigt, dass interreligiöses Lernen nicht nur eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Texten oder Lehren der Religionen ist, sondern mit Menschen, die ihre Religion unterschiedlich denken, glauben und leben. In diesem doppelten Setting eines „Lernens in Gegenwart Anderer“ entdecken Studierende schnell, dass die Lesart und die Perspektive, mit der man Texte wahrnimmt und deutet, entscheidend sind für die Erschließung und Rezeption biblischer oder koranischer Aussagen. In den Seminaren machen wir dabei eine typische Erfahrung: Fremdheit als Fremdbegegnung mit Texten und anders glaubenden Personen kann Studierende motivieren, aus Empathie und Neugierde heraus das ihnen Unbekannte verstehen zu wollen, mit den Augen der anderen zu lesen und zu sehen und dabei zu sein (inter-esse). Dem entgegen irritiert manche Studierenden die regelmäßige Anwesenheit religionsverschiedener Dozentinnen sowie die Aufgabe, auch Texte aus Thora und Koran neben der Bibel zu lesen. Sie reagieren mit Interesselosigkeit. Dazu kommt hin und wieder ein Harmoniebedürfnis dieser Studierenden, die sich lieber in religiös homogenen Gruppen aufhalten und ein Lernen an Differenzen sowie die Erfahrung, dass Menschen unterschiedlich glauben und denken, schwer aushalten. Soziales und religionspädagogisches Handeln basiert auch auf der Fähigkeit, Bedürfnisse einzelner und von Gruppen in Bezug auf homogene oder heterogene Bildungs- und Unterstützungsprogramme wahrzunehmen, zu gestalten und reflektieren zu können. Das gilt auch für den Umgang mit Religiosität. Studierende sollen das Menschenrecht eines jeden Menschen auf Religion in ihrem Feld gestalten können. Sie sind dabei aufgefordert, religiöse Bedürfnisse daraufhin zu befragen, wo und wie Räume von Homogenität oder Heterogenität nötig und wo Konflikte auszuhandeln sind. Die Beschäftigung mit Texten der Heiligen Schriften der Abrahamiten (und nicht nur dieser, doch ereignet sich exemplarisches Lernen gut anhand dieses Diskurses) und die Begegnung mit authentischen Lehrpersonen oder Mitstudierenden, die eigene Glaubensaussagen auf diese Texte beziehen, ist dabei in doppelter Weise bildsam: Denn es werden dabei nicht nur Lerninhalte vermittelt, sondern außerdem die Fähigkeit zur Differenzbildung und zur Unterscheidung von Perspektiven und Intentionen entwickelt. Wir muten diese Aufgabe Studierenden in interreligiösen Seminaren zu, indem wir problemorientiert anhand von Konflikten der Praxis nach unterschiedlichen <?page no="165"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 147 Perspektiven zur Konfliktlösung unter Rückgriff auf Texte und Traditionen fragen. Es bleibt eine Herausforderung, Überzeugungen des eigenen Glaubens oder Textverstehen vor dem Hintergrund anderer Glaubensüberzeugungen oder einer anderen Hermeneutik des Umgangs mit Texten zu kommunizieren, um schrittweise miteinander in Dialog zu treten. Dieses Ziel gilt es in didaktische Überlegungen zu einer postmodernen Bibeldidaktik für interreligiöse Lernarrangements im Hochschulunterricht zu überführen. Dabei sind sowohl das Lehr-Lernsetting als auch der Lehrinhalt so zu gestalten, dass sie zu Perspektivenwechseln einladen. Aus diesem Grunde frage ich nun zuerst, wie sich Anspruch und Wirklichkeit verhalten, wenn man Texte der Heiligen Schriften miteinander lesen möchte (2), sodann wie mit Fremdheit von Texten und Personen umzugehen ist (3), welche verbindende Bedeutung der Bibel selbst zukommt (3), welche Hermeneutik interreligiösen Bibelstudien zugrunde liegt (4), an welchen Modellen sie sich orientieren können (5), welche Impulse zur Begegnung mit Fremdheit der Bibel zu entnehmen sind (6) und welche methodischen Möglichkeiten sich für trialogisches Lernen und Lehren mit der Bibel dadurch ergeben (7). Auch wenn die Ausführungen auf Texte aller Heiligen Schriften (Thora, Bibel, Koran) bezogen werden können, seien sie vorrangig an biblischen Texten exemplarisch veranschaulicht. 2 Am Anfang war das Wort: vom Umgang mit Texten und seiner Bedeutung für den Trialog „Verstehst Du auch, was Du liest? “ Die Frage des Kämmerers aus Apg. 8 würde ein Rabbiner sicherlich anders beantwortet haben als Philippus. Wie nun lesen und deuten Menschen unterschiedlicher Zugehörigkeit zur abrahamitischen Gemeinschaft die Heiligen Schriften und damit auch die Bibel? Um sich dieser Frage zu nähern, ohne einander zu kategorisieren oder zu vereinnahmen, gilt es zwischen hermeneutischen Prozessen, Methoden und Perspektiven zu unterscheiden: Hermeneutische Prozesse orientieren sich am Wortfeld selbst (hermeneuein = auslegen) und am Bild des Dolmetschers, der - dem Götterboten Hermes gleich - Nachrichten von der einen in die andere Welt bringt und dabei Grenzen zwischen Regionen und Kulturen überwindet. Insofern lautet eine stimmige Übertragung von Bibelübersetzen: „üb (zu) ersetzen“, also im Prozess des Übersetzens das Ersetzen von Worten mit dem Ziel inhaltlicher Übertragung zu üben. Als Lehre vom Verstehen, Auslegen und Vermitteln zielt hermeneutische Kompetenz auf die Fähigkeit, einem Text gegenüber sprach- und deutefähig zu sein. D.h., wenn Menschen miteinander Bibel lesen, müssen sie sich darüber austauschen, welche Funktion der Text für <?page no="166"?> Katja Baur 148 sie, ihr Gegenüber und ihr Miteinander hat. Ist er Gottes Wort selbst, repräsentiert er dieses oder spricht er in Bildern und Geschichten von einer göttlichen Wirklichkeit, die vor oder hinter dem geschriebenen Text liegt? Als Hilfsmittel für hermeneutische Klärungen dienen verschiedene exegetische Methoden. Doch selbst wenn die Methoden (historisch-kritisch, feministisch, befreiungstheologisch, psychologisch, rabbinisch…) als „Handwerkszeug der Schriftgelehrten“ bei den Religionen ähnlich wären, dienen sie unterschiedlichen Zielen. Insofern sind die Auslegenden Handlanger der Hermeneutik. Desweiteren ist die hermeneutische Perspektive zu betrachten. Der perspektivische Diskurs lebt vom spezifischen Blick auf einen Textabschnitt oder eine Schlüsselszene, die nicht nur angeschaut, sondern durchschaut wird. Perspektivisches Wahrnehmen und Deuten hat den Charakter elementarisierten Vertiefens. Der Ausschnitt des Textes öffnet den Blick für das Text-Ganze und stellt es in einen Zusammenhang mit einer spezifischen Weltsicht. Wenn Menschen, die in Judentum, Christentum oder Islam beheimatet sind, mit unterschiedlichen Intentionen, Perspektiven und Methoden miteinander Texte der Heiligen Schriften lesen, stoßen sie auf Fragen, die auch in unseren Seminaren auf Klärung drängen: 2.1 Wie verstehen und sehen wir „das Wort“ in eigenen und fremden Texten? Für die jüdische Dozentin ist die Thora ein Buch der Weisung, d.h. sie lenkt den Blick bei der Beschäftigung mit Texten der Thora auf das Gesetz, das zu halten und zu bewahren ist. Ähnlich argumentiert auch die muslimische Dozierende, die den Koran als Rechtleitung vorstellt, der Hinweise zur praktischen und spirituellen Lebensgestaltung gibt. Die Bibel hingegen ist ein Buch, das Erfahrungen von Menschen mit Gott beschreibt und - im protestantischen Kontext - das Handeln als Frucht des Glaubens ausweist. Sie erzählt davon in Geschichten. Insofern ist eine eher „ethische Lesart“ für Christen nicht der primäre Zugang zum Schriftverstehen. Dennoch regt eine ethische Frage an, im Diskurs biblische Texte auf ihren Bezug zum eigenen Leben, zur Werteorientierung und zum eigenen Glauben hin zu befragen. Dem entsprechen die vier Ebenen interreligiösen Lernens, die auch für uns leitend für die Auswahl biblischer und anderer Texte anhand von aktuellen Herausforderungen sind. Sie umfassen den Dialog der Spiritualität (Feste und Gebetstexte der Heiligen Schriften, das Vater-unser), der Lehre (Gottesvorstellungen der Heiligen Schriften, insbesondere Jesus), des alltäglichen Lebens (z.B. Speisegebote, gender- Herausforderungen) und der Ethik (z.B. Schöpfungsverantwortung, Sterben und Tod, gleichgeschlechtliche Partnerschaften). Ethische Diskurse nehmen den größten Raum ein, weil sich an <?page no="167"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 149 ihnen letztlich der praxisrelevante Diskurs um religiösen Fundamentalismus, Säkularismus, Extremismus oder den Umgang mit Absolutheitsansprüchen am Besten aufzeigen lässt: „Erfahren wird Gott besonders als Gott der Ethik […]. Das eigentliche Ziel Gottes ist die Heiligung der Menschheit, oder, um mit E. Levinas zu sprechen: die Entheidnung der Welt.“ 1 2.2 Wie gehen wir mit der Übersetzung der Schrift ins Deutsche um? Wenn wir Texte der Heiligen Schriften in deutscher Übersetzung miteinander lesen, gilt es, die damit gleich mitgelieferte Interpretation wahrzunehmen. Für die jüdische Dozierende ist die Sprache der Thora das Hebräische. Bis heute wird die Schrift in dieser Sprache gelernt und gelesen. Sie ist die liturgische Sprache in Synagogen des orthodoxen oder konservativen Judentums. Sprache besitzt Heiligkeit, denn sie transportiert nicht nur Informationen, sondern ist Offenbarung Gottes. Es gibt zwei Aspekte, die das Schriftverstehen vieler jüdischer MitbürgerInnen umkreisen: Da beim Hören oder Lesen der Thora Sprache und Bedeutung zusammenhängen, ist der Inhalt der Thora auf die religiöse Praxis zu beziehen und an dieser zu messen. (vgl. das „halte“ und „bewahre“ als der Thora entnommene Lebensweisung). Die religiöse Praxis der Gegenwart bildet also den ersten Kreis, innerhalb dessen ein Text ausgelegt werden kann. Der zweite Auslegungskreis bezieht die rabbinische Tradition ein. In der Regel wird in den deutschen Einheitsgemeinden ein Text im Rückgriff darauf erklärt, sodass aus der Gegenwart eine Verbindung zur eigenen Geschichte (im Sinne weiterer Verstehensräume) hergestellt wird. Diese Absicherung bewahrt davor, beim Übersetzen nicht eigene Philosophien in Texte einzutragen (so z.B. die innerjüdische Kritik an der Übersetzung von Moses Mendelssohn, dem man vorwarf, Gedanken der Aufklärung in seine Wortwahl aufzunehmen. 2 Wenn die jüdische Dozentin im Seminar Texte auf der Basis ihrer Tradition mit uns liest, lädt sie uns ein, anhand dieser beiden „Umkreisungen“ die Bedeutsamkeit des Textes für ihre Glaubensgemeinschaft zu erspüren und zugleich zu fragen, wie dieser Text mit „unserer Brille gelesen“ auf uns wirkt und was er uns sagen würde. Die Thora ist „ihr“ Buch, die Bibel das Buch der Christen, das - wie der Koran - nichts zur jüdischen Heilsgeschichte vermittelt. Insofern hat sie nicht den Anspruch, in Texten des Zweiten Testaments oder des Koran für Juden relevante Glaubensüberlieferung zu suchen. Aber sie fragt nach und an, was Begriffe des 1 Franz Mußner (2003), Die religiöse Erfahrung des Christen als „Fremderfahrung“, in: Gunda Brüske; Anke Haendler-Kläsener (Hg.), Oleum laetitiae (Festgabe für P. Benedikt Schwank OSB), Münster, S. 145.155. 2 Vgl. Matthias Morgenstern (2013), Darf man die Bibel übersetzen? Bibel übersetzen im Judentum, in: Bibel heute 193, S. 22-24. <?page no="168"?> Katja Baur 150 Neuen Testaments oder des Ersten Testaments für Christen bedeuten und ob bzw. warum Jesus die Seinen mit diesen oder jenen Gedanken aus dem Judentum herausbewegte. Dabei ist sie darauf bedacht, christliche oder muslimische Vereinnahmung jüdischer Lesarten zu prüfen und ggf. zu korrigieren. Wenn sie dann Texte der christlichen oder muslimischen Tradition mit uns liest, fragt sie nach der Verortung des Textes in der Praxis pietatis von Christen und Muslimen oder den Bezugsschriften unserer Religionen, die das Auslegegeschehen beeinflussen könnten. So stellt sie beim gemeinsamen Bibellesen zunächst Fragen an den Text, möchte wissen, wie er von verschiedenen christlichen Schulen ausgelegt wird und welche Position die Studierenden sich zu eigen machen. Durch ihre Rückfragen kommen wir oft in einen Diskurs darüber, ob oder wie die Logik jüdischer Auslegungstraditionen mit christlichen Richtungen zu parallelisieren sei. Gerade die befreiungstheologische und feministische Lesart, d.h. eine Wahrnehmung von Texten aus der Perspektive gefühlter Sklaverei, ermöglichen es, Exoduserfahrungen, die hinter einzelnen Texten liegen, miteinander zu entdecken, zu benennen und dann doch unterschiedlich zu deuten. Dabei wird den Studierenden deutlich, dass gleiche Begriffe nicht gleiche Bedeutungen intendieren. Der hermeneutische Zugang der jüdischen Lehrperson in unseren Seminaren bewegt sich somit für sie selbst und in ihrer Fremdwahrnehmung christlich-biblischer Texte im Rahmen einer klassisch jüdischen Hermeneutik, die dem Lehrhaus entlehnt ist und auf Debatte und Positionierung im Rahmen von Auslegungstraditionen der Tradition zielt. Auch die muslimische Dozierende betont, dass der Koran in Originalsprache zu lesen ist. Sie wird nicht müde, hervorzuheben, dass das Rezitieren, d.h. das Hören auf die Schrift, bis heute vor dem Lesen steht. Insofern sind die Melodien der Koranrezitation mit ausschlaggebend für dessen Verstehen. Wenn wir im Seminar miteinander Texte erarbeiten, bittet sie stets darum, zunächst den Text einige Male laut vorzulesen. Dieser Zugang ist etlichen Studierenden fremd, doch entdecken sie bei vertrauten biblischen Texten dadurch manchmal Neues. Im Blick auf die Bibel legt die muslimische Dozentin dar, dass der Koran in ihrem Selbstverständnis als Kommentar zur Bibel zu betrachten ist. Insofern stellt sie biblische Texte in den Dienst islamischer Theologie, sofern sie diese in ihre eigene Tradition zu integrieren sucht. Nach dem Koran sind die „Leute der Schrift“ (Juden und Christen) schutzbedürftig und ihre Schriften werden von Muslimen als Wahrheit anerkannt. Obwohl nach Vorstellung des Korans auch Thora und Bibel auf der himmlischen Urschrift basieren, haben sich in diesen Schriften doch Menschen- und Gotteswort so vermischt, dass erst durch den Koran das reine Gotteswort erschienen ist. Er gilt als reine Abschrift der himmlischen Urschrift. Christen sind Andere, aber keine Ungläubigen, weil auch ihre Schrift eine heilige Schrift ist. <?page no="169"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 151 Von Annemarie Schimmel stammt die Beschreibung des Koran als Inlibration, die vom Offenbarungsverständnis her der Inkarnation im Christentum entspricht. Nach dieser Sicht wäre der Koran für Muslime, was Christus für die Christen ist. Das Alternativkonzept des Koranverstehens aus christlicher Sicht stammt von Angelika Neuwirth, die den Koran als Zeugnis eines spätmittelalterlichen Diskurses im europäischen Kontext sieht. In der Begegnung mit Muslimen bleibt dennoch vor allem die hohe Würde des Textes und seinen Anspruch auf Rechtleitung zu respektieren. Auf dieser Grundlage werden beim gemeinsamen Lesen und Verstehen des Korans Unterschiede zu Thora- und Bibeltexten offen gelegt bzw. am koranbasierten Maßstab ethisch-moralischen Handelns geprüft. Wenn die muslimische Dozierende mit uns einen Thora- oder Bibeltext liest, fragt sie vor diesem Hintergrund, welche Rechtleitung der Text vermittelt oder was er fürs Gebet austrägt. Das gilt besonders für Texte, die vom Leben Jesu handeln. Sie führen immer wieder zu interessanten Seminardiskussionen, die nach der Bedeutung Jesu in Koran und Bibel fragen. Im Gespräch über Texte der Heiligen Schriften bringt die muslimische Dozierende ab und zu den Begriff „Wetteifer“ ein. Sie erklärt, dass Suren des Korans auffordern, in Religionsverschiedenheit um den richtigen Glauben miteinander zu wetteifern. Interreligiöses Bibellesen sollte deshalb ihrer Meinung nach den Charakter des Wetteifers haben, womit sie sich der Didaktik des Lehrhauses nahe sieht. Hin und wieder zeigt sich der Schatten der Globalisierung bei Seminardiskussionen anhand des Korans. So wie Muslime in Deutschland zunehmend darunter leiden, dass sie nicht mehr als Person wahrgenommen werden, sondern aufgrund von Gewalttaten einzelner „islamischer Terroristen“ in den deutschen Medien selbst in die Nähe von Terroristen und Attentätern gerückt werden („was machen die da in der Moschee“? ), hat auch die muslimische Lehrbeauftragte zunehmend Mühe, Intentionen und Wegweisungen des Islam, die zu Liebe und Frieden auffordern, als Rechtleitung des Korans zu vermitteln. Denn der Horizont der Wahrnehmung ist für viele Studierende nicht die Intention, sondern die Tagespresse, die den Koran selbst als Aufforderung zur Gewalt vermittelt. Als christliche Dozierende ist es mir wichtig, die Beziehung der unterschiedlichen Übersetzungen der Bibel zum Urtext hervorzuheben. Immer wieder ist der Blick in den hebräischen, griechischen oder aramäischen Urtext eine Hilfe zum Verstehen der Bibel. Dennoch ist die Sprache, in der die biblischen Autoren ihre Erfahrungen mit Gott, Jesus, dem Glauben aufgeschrieben haben, nicht der verwendbare Schlüssel zum Text. Erst Übersetzungen machen es möglich, das „Priestertum aller Gläubigen“ lebbar zu machen, das mit einer Lesekompetenz in Bezug auf die Bibel verbunden ist. Der lange Übersetzungsprozess durch die semitische, hellenistische, römische, mittelalterliche und neuzeitliche Welt kann einerseits als Problem ge- <?page no="170"?> Katja Baur 152 sehen werden, weil Texte dadurch je neu interpretiert wurden und sich von ihrer „Quelle“ entfernt haben. Andererseits liegt in dem Bewusstsein, dass die Bibel selbst Zeugnis vielfältiger Zeugen und Zeuginnen ist und mit Hilfe immer neuer Perspektiven bis heute weitergereicht wurde, auch eine große Stärke und Fülle. Die dadurch erkennbare Vieldeutigkeit (nicht Beliebigkeit) erlaubt hervorragende Anknüpfungsmöglichkeiten für postmoderne Gesellschaften eben durch die bereits in ihr selbst liegende Multiperspektivität (Begriff von Maurice Baumann). Eine Querverbindung zwischen den Religionen liegt ebenfalls bereits in der Struktur der (christlichen) Bibel: So wie die Bibel selbst zwei Teile im Sinne einer „Bündnisurkunde“ zusammenfügt, so ist ihre Grundaussage bis heute die Dokumentation des Bundes zwischen Gott und den Menschen. Und da Juden und Muslime in diesem Bund in den Spuren des Glaubens Abrahams einen Platz haben, kann man auch mit ihnen zusammen Glaubenszeugnisse in den Texten entdecken. Insofern ist die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Wortfeldern, Handlungen oder Glaubensformen zentral für die gemeinsame Auseinandersetzung. Sofern Texte des „erneuerten Testaments“ miteinander bewegt werden, versteht die christliche Dozierende sich als Gastgeberin, die bei Bedarf auch den einen oder anderen Input zum Textverstehen einbringt (vgl. Modell nach Theo Sundermeier 3 ). Wird ein Text des Korans miteinander betrachtet, rutscht sie in die Rolle eines Gastes. Im Blick auf die Frage, ob der Bund des Glaubens an den einen Gott Abrahams eint, gibt es im Seminar immer wieder Diskussionen, die sich an Texten entfalten. Hier kommen die unterschiedlichen innerchristlichen Auslegungstraditionen ins Gespräch: Die klassisch protestantische Lesart orientiert sich daran, dass nicht die Bibel das Wort Gottes ist, sondern Jesus als das Wort Gottes bezeugt. Davon berichten die Zeugen, die die Bibel aufgeschrieben haben. Insofern ist das Menschenwort das Kleid, in das sich das Gotteswort in Schale wirft. Dabei gilt, dass nicht der Text selbst, sondern das durch ihn bezeugte Wort auf Auslegung drängt. Anders als Texte aus Thora und Koran, die in ihrer Reihung die Heilsgeschichte von Anfang bis zum Ende bezeugen, sind Texte der Bibel eher mosaikartig zu lesen. Das „Buch der Bücher“ versteht sich eher als Gründungsgeschichte, denn als Chronolo- 3 Das Modell der einladenden Gastfreundschaft nach Theo Sundermeier bedeutet, dass ich im Dialog mit Fremden zugleich die Rolle des Gastgebenden und des Gastes einnehmen kann. Als GastgeberIn bin ich in der Lage, mich im religiösen Zuhause einzuladen und dieses der oder dem Fremden zu erklären; als Gast bin ich in der Lage, mich im religiösen Zuhause einer oder eines Fremden in angemessener Weise zu benehmen und kundig zu sein über die No-Goes. Vgl. Katja Baur (2007), Zu Gast bei Abraham. Ein Kompendium zur interreligiösen Kompetenzbildung, Stuttgart, S. 17 und Theo Sundermeier (1996), Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen, S. 133. <?page no="171"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 153 gie einer Heilsgeschichte. Diese Unterschiede gilt es ernst zu nehmen, wenn biblische Texte auf den durch sie bezeugten Wahrheitsgehalt befragt werden. Beim gemeinsamen Entdecken eines biblischen Textes sind alle Seminarteilnehmenden deshalb eingeladen, zuerst einmal die Schauplätze, Szenen und Worte des Textes zu unterstreichen, die ihnen besonders ins Auge fallen. Ansatz ist das Modell des Theologisierens, das es den Lesenden zutraut, sich selbst im Text zu finden und das sola scriptura Prinzip ernst nimmt. Es geht davon aus, dass Jesus selbst als „Mitte der Schrift“ Orientierung gibt, um biblische Texte begreifen zu können. 3 Die Bibel als Kulturgut für alle? Die Bibel ist immer noch das am häufigsten vorhandene Buch in deutschen Haushalten. Nicht nur die Traubibel ziert den Wohnzimmerschrank, sondern zunehmend finden sich auch Bibel und Koran an exponierten Stellen in Wohnräumen. Spuren der Bibel prägen das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Deutschland, auch wenn dieses im Zuge säkularer Strömungen eher unbewusst geschieht. Dennoch führt mangelnde Bibelkenntnis zu nationaler und kultureller Heimatlosigkeit. Wer z.B. die Architektur von Städten und Kirchen, Themen der Literatur, Bildworte in Musik und Kunst oder sogar Zitate der Werbung verstehen will, kann von biblischem Wissen profitieren. Und wer in einem Land lebt, in dem Ostern, Pfingsten und Weihnachten gesetzliche Feiertage sind, tut gut daran, die dem Fest zugrunde liegenden biblischen Traditionen und Texte zu kennen. Das gilt analog natürlich auch für die muslimischen und jüdischen Hochfeste. Leider ist festzustellen, dass biblische Grundlagen christlicher Feste hinter Volkstradition und Marketing zurücktreten. Gerade deshalb sollte die Bibel auch heute noch als Kulturgut und Kulturführer hoch gehalten werden, der kulturelle und nationale Identitätsstiftung und das „Lesen-Können“ von Kultur, Sprache und Geschichte fördert. Aber die Bibel ist kein Buch für Christen allein. Sie ist ein Buch für alle, die in Deutschland leben. Denn sie ist verschriftliches Zeugnis der Grund- und Grenzfragen unseres Lebens: „Mit der Bibel als dem Grundlagenbuch abendländischer Literatur bekannt zu machen, ist dabei ebenso eine wichtige, über den Religionsunterricht hinausgehende Aufgabe, wie die Möglichkeit, Menschen verschiedenen Glaubens mit ihren Erfahrungen, Fragen und Erwartungen in die Begegnung mit biblischen Texten mit hineinzunehmen und sich gemeinsam bzw. im Dialog von den biblischen <?page no="172"?> Katja Baur 154 Texten ansprechen, heraus-fordern, ermutigen, trösten zu lassen - ohne die Anderen damit konfessionell vereinnahmen zu wollen.“ 4 Trotz der Anforderung der Praxis, auch gemeinsam Texte der Heiligen Schriften auf Inhalte hin zu befragen und daraus Impulse für soziales und religionspädagogisches Handeln zu entwickeln, gibt es neben einigen Praxismaterialien wenig wissenschaftliche Ausführungen zu einer interreligiösen Bibeldidaktik. Insofern hat das hier beschriebene Ludwigsburger Konzept Leuchtturmcharakter. 4 Hermeneutische Lesart der Bibel im abrahamitischen Trialog Wir verorten den Diskurs über Texte der Bibel in einem hermeneutischen Viereck: Die Auseinandersetzung mit Texten der Bibel ereignet sich im Gespräch über mein eigenes Vorverständnis und meine Erwartung an den Text, über historische Kontexte und Intentionen des Autors/ der Autorin, über ein Wahrnehmen des Textes selbst und über den Dialog mit einem Gegenüber, das nicht meiner Religionsgemeinschaft angehört. Anders als in der klassischen Bibeldidaktik, die im hermeneutischen Dreieck einen Schwerpunkt auf die Ebenen Text und Autor/ Autorin legt, und die Perspektive des Lesenden sowie dessen Interesse am Heute hintenan stellt (indem z.B. die Methode der historisch-kritischen Exegese vor allem den zeitgebundenen Ursprung von Aussagen in der Vergangenheit zu ergründen sucht), ist im didaktischen Viereck die Bedeutung für Lesende heute durch die beiden Pole des s“ und der „Anderen“ gegeben. Dabei tritt der Blick auf den Text mit dem Focus auf die Erarbeitung seiner ursprünglichen Bedeutung für die Autorin/ den Autor (Intention der Autorin/ des Autors) sowie seiner Bedeutung für die Lesenden in der Entstehungszeit (Text im historischen Kontext) in einen fruchtbaren Dialog mit dem Blick auf den Text aus der heutigen Perspektive der Eigen- und Fremdwahrnehmung (ein Wahrnehmen und Deuten des Textes von mir als Text meiner heutigen, eigenen Tradition und als Text, auf den zusammen mit mir eine Person einer mir fremden Religion einen für ihre oder seine Lesart typischen Blick auf „meinen“ Text wirft.) Der Focus liegt dabei auf der Begegnung mit dem Ziel, den Texten Differenzen und gemeinsame Lösungen für die Gestaltung einer friedlichen, gerechten und schöpfungsverantwortlichen Gesellschaft zu entnehmen und diese Impulse ins eigene Leben hineinzubuchstabieren. 5 4 Johannes Lähnemann (1999), Die Bibel - ein Buch interreligiösen Lernens? , in: Godwin Lämmermann (u.a.), Bibeldidaktik in der Postmoderne, Stuttgart, S. 287. 5 Bereits Schleiermacher macht deutlich, dass es ohne ein Sich-Einfinden ins Gegenüber kein Verstehen der Anderen im Sinne eines „nachschöpferischen“ Vorgangs gibt. Das gilt auch für die verschiedenen Ebenen, die beim Text-Verstehen in einen Dialog zu bringen sind. Wilhelm Dilthey konkretisiert dieses Anliegen mit „gestaltpädagogi- <?page no="173"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 155 Auf dieser Ebene bewegt sich auch das Lexikon der Bibelhermeneutik. Es zeigt auf, dass Bibelhermeneutik keine alleinig christliche oder binnentheologische Aufgabe ist, sondern ein Auslegungsgeschehen, das Erkenntnisse aller Wissenschaften, insbesondere der Kulturgeschichte und Religionsgeschichte nutzt und in gleicher Weise biblische Impulse an diese rückbindet. In diesem Verständnis ist es gewünscht, biblische Texte mit Menschen aus nichtchristlichen Religionen zu lesen und mit ihnen zusammen auszulegen: „Wir suchen die Position einer Bibelhermeneutik in der Spannung zwischen Bibeltext und Textrezeption, indem wir Textualität als Ausgangspunkt wählen, Verstehen multiperspektivisch definieren und vor allem die gegenwärtig im Bereich der Textinterpretation leitenden wissenschaftlichen Disziplinen an der Bibelhermeneutik beteiligen: die Sprach- und Literaturwissenschaften sowie die Kulturwissenschaften.“ 6 5 Inklusive und exklusive Lesarten trialogischer Bibelbegegnung Wenn man mit Menschen jüdischer oder muslimischer Zugehörigkeit Texte der christlichen Bibel liest, ist zunächst zu überlegen, wie sich der eigene und der fremde Blick auf einen Text zueinander verhalten. Um das Phänomen der Fremdheit zunächst begrifflich zu klären, nutze ich die Kategorien von Inklusion und Exklusion. Sie scheinen mir geeigneter als die klassische Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, weil sie den Konstruktionscharakter der Phänomene von Eigenem oder Fremdheit besser zum Ausdruck bringen: Gleichsein und Ungleich-sein als Erfahrung von Begegnung gehen in multikulturellen Gesellschaften Hand in Hand. Unstrittig ist, dass jeder Mensch beide Erfahrungsräume benötigt, um sich im Vertrauten zu beheimaten und sich durch Neues weiter zu entwickeln. In welche Kategorie kann man trialogische Bibeldiskurse einpassen? Während das Zusammenleben von Kulturen und Staaten nach dem Diversity-Modell heute als zukunftsweisend gehandelt wird, ist der Diskurs, ob das Diversity-Modell auch ein wegweisendes Modell für das Zusammenleben in religiöser Vielfalt ist, noch nicht beendet. Kritiker eines religiösen Diversitätsmodells bevorzugen den Begriff der Pluralitätsfähigkeit gegenschen“ Aspekten, indem er darauf verweist, dass Erleben und Verstehen die Voraussetzungen sind, um Erklärungen zum Text zu begreifen. Damit ist der Boden für Gadamers Verständnis von Hermeneutik als kommunikativem Geschehen bereitet, was sich im hermeneutischen Dreieck konstituiert. Text, Autorin/ Autor und Leserin/ Leser treten in einen wechselseitigen Diskurs. Dieses ergänze ich nun um die andersreligiösen Leserinnen und Leser. 6 Oda Wischmeyer (2009), Einführung; in: dies., Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe - Konzepte - Theorien, Berlin, S. IX-XXIX; S. XXIV. <?page no="174"?> Katja Baur 156 über dem der Diversität. Sie sehen darin das Anliegen einer Leitbildkultur besser aufgehoben. Diese basiert auf einer gemeinsamen (oft an christlichen Überzeugungen des Abendlandes ausgerichteten) Werteorientierung, auf die die religiöse Verschiedenheit quasi draufgesattelt ist. D.h. die kulturelle Nähe von Christentum und gesellschaftlichen Grundwerten, die in jüdischen Werten gründet und sich in islamischen Lebensregeln wiederfindet, bildet dann den Referenzrahmen, innerhalb dessen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Textverstehen ausgetauscht werden. Dabei sind die Selbstverpflichtung zum Dialog und die individuelle Verantwortung wichtige Anker, um Pluralität als Chance zur Kommunikation zu gestalten. Das wirkt sich auch bei Diskursen um das Für und Wider einer religionsoffenen Bibeldidaktik aus. 5.1 Exklusive Lesarten biblischer Texte Wer die aristotelischen Prinzipien „gleich und gleich gesellt sich gern - Gleiches wird nur von Gleichen erkannt“ zum Maßstab von Text-Verstehen erhebt, ist davon überzeugt, dass nur die Menschen, die zu einer Religionsgemeinschaft gehören, die ihnen in Thora, Bibel oder Koran anvertrauten Texte wirklich verstehen können. Sie erkennen und entdecken in ihren eigenen Texten durch den Blick auf Analogien das, was sie miteinander verbindet. Kommunikation und Aktion sind dann berechenbar und verlässlich. Wo sich das „Ich“ im Andern spiegelt, wird Kongruenz, traditionell als „das Eigene“ bezeichnet, zum Indikator für Textdeutung. Jürgen Moltmann begründet diese Haltung mit dem Verweis auf die Macht des Eros, die Menschen zur Gemeinschaft zusammenfügt. 7 Religion und damit auch die Heiligen Texte, die Religionen sich zu eigen machen, sind in diesem Sinne erosgeprägte Gemeinschaftssysteme der Entsprechung. Die Liebe Gottes, von der die Texte zeugen, wird unter den Zeugen geteilt. Auf dieser Basis dienen die Heiligen Schriften der Identitätsbildung. Widerspruch oder kritische Anfragen an Textinhalte haben hier nur im Rahmen der eigenen Übereinkünfte Platz. Von Fremden grenzen sich derart analogisch geprägte Gruppen ab. Zu dieser Vertrautheit der Gleichgesinnten, die in Thoralerngruppen, Koran- oder Bibelgruppen oder im Hauskreis über Heilige Texte nachsinnen, gehört auch ein liturgisches Umgehen mit Texten der Heiligen Schriften. Dieses prägt auch die Auslegungsperspektive. So lobt das Volk Israel JHWH als Gott, der das Volk erwählt und durch den Exodus hindurch zum Zion führt. So lobt die an Pfingsten versammelte Jüngerschar den auferstandenen Jesus Christus, der seiner Gemeinde im Geist treu bleibt. So lobt die 7 Jürgen Moltmann (1990), Die Entdeckung der Anderen. Zur Theorie des kommunikativen Erkennens, in: EvTh 50, S. 400-414; S. 403. <?page no="175"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 157 muslimische Gemeinschaft im Namen Allahs, des Barmherzigen, den Koran als Wegweisung. Weil biblische Texte und die der anderen Heiligen Schriften immer in gottesdienstliches und spirituelles Leben eingebunden waren und sind, haben analogorientierte Lesegruppen durchaus ihre Bedeutung. In interreligiösen Seminaren ist der Austausch unter Studierenden mit Dozierenden in homogenen Gruppen (bezeichnet als Intra-Lernen) deshalb ein wichtiger Anker einer trialogischen Lernkultur. Eine Verabsolutierung von Texten oder Gruppen kann aber auch dazu führen, exklusiv zu denken: Nur wer teilhat an einer Religionsgemeinschaft, kann den Text auch verstehen. In exklusiven Konzeptionen ist damit ein gemeinsames Bibel- oder Thoralesen von religionsverschiedenen Menschen auf Augenhöhe nicht möglich. Es würde über ein Frage-Antwortgeschehen kaum hinausführen. Nach diesem Modell wären die jüdische oder muslimische Lehrkraft immer „unwissende“ Gäste in einem Lernsetting, das die christliche Dozierende als „wissende“ Gastgeberin prägt. Da derartiger Umgang mit Textverstehen dualistisch denkt und Grenzen zwischen „innen“ und „außen“ zieht, nennt man es auch Exklusivmodell. In der Kategorisierung der Modelle zum Umgang mit Fremdheit nenne ich Analogiemodelle mit exklusiver Lesart „Multi-Modelle“. 8 Multimodelle stehen in der Gefahr, zum Einfallstor für fundamentalistische Lesarten der Heiligen Texte zu werden. Sie reißen einzelne Worte oder Sätze aus Kontexten heraus oder übergehen die Tradition von Text und Glaubensgemeinschaft. Im Extremfall behaftet dualistisches Denken das Vertraute mit positiven Phänomenen und das Unbekannte mit Negativen bis hin zur Unterscheidung zwischen dem guten Nahen und dem bösen Fremden, dem geisterfüllten und dem gottfernen Text oder Gegenüber. Der Übergang von Fremdheit und Feindschaft wird im dualistischen Modell fließend. Es zeigt sich z.B. darin, dass einige Nichtmuslime in Werbung und Karrikatur respektlos mit Korantexten umgehen oder 1933 die Heiligen Schriften der Juden von Nichtjuden öffentlich verbrannt wurden. 5.2 Inklusive Lesarten biblischer Texte Anders das heterogene Modell (Differenzmodell): Es basiert auf der aristotelischen Weisheit, dass anderes nur von anderem erkannt werden kann. D.h. der Mensch nimmt erst durch Distanz und Differenz, traditionell als „das Fremde“ beschrieben, dialektisch wahr, wer er oder sie ist, weil er oder sie erkennt, was er oder sie selbst eben nicht ist. Aus dieser Basis entwickelt 8 Zu den Dialogmodellen vgl. Katja Baur (2007), Zu Gast bei Abraham, S. 12-26, und dies. (2009), Abraham - Impulsgeber für Frieden im Nahen Osten, Münster u.a., S. 36- 56. <?page no="176"?> Katja Baur 158 Kuschel, eine „Konstruktive Theologie der Anderen“. 9 Die Art der Begegnung mit dem unbekannten Gegenüber ist in diesem Modell geprägt vom Widerspruch oder Schmerz. Auch hier wird Gemeinschaft durch Begegnung gestiftet, allerdings eine Gemeinschaft, die ihre Verschiedenheit achtet und als Potential begreift. Entweder ist das Fremde ein „Gegenüber“, zu dem in Interaktion und Kommunikation Kontakt aufgenommen wird (Diversity- Modell der versöhnten Vielfalt in Verschiedenheit) oder ein „Gegeneinander“, das mit Desinteresse im Außenbereich des Selbst stehen gelassen oder bekämpft wird. Wie das Analogie-, so zeigt auch das Differenzmodell sein spezifisches Profil im Umgang mit Grenzen: Fremdes wird im Differenzmodell aus der Perspektive der Entgrenzung betrachtet. Mit einer Perspektive, die ich außerhalb meiner selbst wähne, schaue ich auf Neues und nehme dieses ins eigene Weltbild auf. Zu unterscheiden ist hier zwischen einen Modell, das Fremdheit als Übergang betrachtet und damit überwindet, und einem Modell, das Fremdheit als unüberwindbare Grenze beschreibt, die gerade nicht überschritten, sondern als Teil eines Ganzen bestehen bleiben soll. Im „Überwindungsmodell“ wird die Fremdheit von Texten oder Personen als Konstruktion im eigenen Selbst verstanden. Aus konstruktivistischer Perspektive ist Fremdheit ein relativer Begriff: Unbekanntes kann durch Neukonstruktionen ins Selbst integriert und damit überwunden werden. Dem Bild des Dolmetschens entsprechend wird Fremdes dabei zunächst ins Eigene subordiniert, dann integriert und später inkludiert. Wer begriffen hat, wird zum „Fremdenführer“. Er oder sie nimmt Andere mit auf den Weg, das ihnen Unbekannte zu entdecken und sich vertraut zu machen. Voraussetzung ist das Wissen darum, dass der Umgang mit fremden Texten den eigenen Horizont erweitert ebenso wie der Umgang mit Menschen mir fremder Religionen. Indikator ist die Vernunft, die Gefühle gegenüber einer Bedrohung durch Fremdheit zu überwinden sucht. Dieser Ansatz spiegelt sich auch in einer entsprechenden Bibeldidaktik, die z.B. mit Elementen des Bibliodramas gefühlsmäßige Erlebnisse mit Inhalten biblischer Texte auf der Erfahrungsebene zum Ausdruck bringt und danach auf der Reflexionsebene das Fremde zu beschreiben und zu verstehen sucht. Kants Differenzmerkmale, mit denen Menschen sich zu unterscheiden und zu bekämpfen suchen (Hab-, Ehr- und Herrschsucht) werden kognitiv in konstruktive Differenzmuster überführt (Hab-, Ehr-, Herrschaft). In diesem Modell wird das Bild von Mitte und Rand zugunsten eines Bildes im Stil eines Netzes ersetzt, in dem verschiedene Knotenpunkte ein in sich Ganzes zusammenhalten. Auf 9 Vgl. in Karl Ernst Nipkow (2005), Das Eigene und das Fremde. Zu einer Pädagogik und Theologie des Anderen, in: ders., Christliche Pädagogik und Interreligiöses Lernen - Friedenserziehung - Religionsunterricht und Ethikunterricht, (Pädagogik und Religionspädagogik zum Neuen Jahrhundert, 2) Gütersloh, S. 330-350; S. 334. <?page no="177"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 159 dieser Basis kann man mit unterschiedlichen Menschen auf Augenhöhe Texte der Heiligen Schriften zusammen lesen und sich im Übersetzen üben. Anders das Modell, das am Charme radikaler Fremdheitserfahrung festzuhalten sucht. Mit Waldenfels beschreibt es Sachen, Texte und Personen selbst als fremd, unabhängig davon, wie das wahrnehmende Subjekt diese konstruiert und beschreibt: „Das Fremde steht für das Unmittelbare inmitten aller Vermittlungen. Das Fremde lässt sich weder lokalisieren noch globalisieren, es ist immerzu anderswo.“ 10 Das Fremde ist nicht das ganz Andere, sondern es ist das Andere, das sich an einem anderen Ort befindet als dem, an dem ich mich bewege. Es kommt auf mich zu, überrascht mich und ist da, bevor ich es ins Blickfeld nehme. Dieselbe Sache kann also anders betrachtet werden je nachdem, von welcher Perspektive aus ich schaue. Aber die Vielperspektivität führt nicht automatisch dazu, dass ich das Neue als Teil einer anderen Perspektive betrachte. Es kann neu und anders bleiben. Insofern bezeichnet Levinas das Wesen der Fremdheit als „Störenfried“. Auch ein biblischer Text kann so ein Störenfried sein, der außerhalb meiner selbst ist, mir entzogen und unverfügbar. Und Jesus selbst, der sich selbst ent-äußerte, wird zum Inbegriff einer „Fremdvorstellung“, die darauf basiert, dass Fremdes von außen auf mich zukommt und mir unverfügbar bleibt. Der Offenbarungscharakter der Heiligen Schriften hat so einen „Störenfriedcharakter“. Dabei wirken oft mehrere Dimensionen von Fremdheitskonfrontation ineinander, etwa kulturelle, religiöse und nationale Fremdheit wie z.B. in Paulus’ Damaskuserlebnis. Die plurale Rede von „der Fremdheit eines Textes“ ist somit auch bibeldidaktisch angemessener als die singuläre von „dem fremden Text“. Die Heiligen Schriften der Abrahamiten sind auf diesem Hintergrund ebenso zu lesen wie ihr Gott zu verstehen: Der Text als das mir Fremde, auf mich in Fremdheit Zukommende, nicht von mir Konstruierte, mich Ergreifende, kann mir ohne mein Zutun, ohne Einbindung in spirituelle Praxis oder die Tradition, zur Offenbarung des unverfügbaren Gottes werden, sofern ich von ihm ergriffen werde (Phil. 3). Diese Chance, die nicht als Bekehrungsintention misszuverstehen ist, ist potentiell für alle Lesenden gegeben. Wichtig bleibt festzuhalten, dass das Weltbild des Differenzmodells auf einem Menschenbild der Fragmentarität basiert, das im Sinne Henning Luthers immer ergänzungsbedürftig ist und sich als Teil eines Ganzen versteht. Insofern gibt es nicht ein Innen und Außen, nicht Textkundige und Unwissende, sondern Text-Entdeckende, die davon überzeugt sind, nie den ganzen Sinngehalt eines Textes verstehen können. Das Inklusionsmodell, das dem Differenzansatz zugrunde liegt, nimmt zunächst die eine Wirklichkeit 10 Vgl. Bernhard Waldenfels (2006), Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. <?page no="178"?> Katja Baur 160 (den einen Text) auseinander, um ihn dann zu einer neuen Sicht auf Texte oder Personen im Selbst umzustrukturieren (auch wenn postmodernes Denken mehrere Wirklichkeiten in Blick nimmt, fügt sich alles in ein großes, letztlich unbegreifbares, aber zu gestaltendes sinnvolles Ganzes). Bibeldidaktisch reichen Dekonstruktion und Neukonstruktion von Textbegegnung in diesem Prozess einander die Hand. Gut protestantisch ist damit die Grenze zwischen Gott (die vollkommene Fülle; unverfügbar; wird von Menschen nicht durch Textstudium erkannt, wohl aber offenbart Gott sich den Lesenden, wie und wann Gott es will) und Mensch (das unvollkommene Fragment, das sich nach Ganzheit sehnt und Texte mit dieser Sehnsucht liest) klar gezogen, die zwischen Menschen jedoch stetig offen. Alles wird in ein größeres Ganzes inkludiert. Somit ist auch Textverstehen ein fragmentarischer Prozess, der durch Austausch mit anderen bereichert wird, nie aber den ganzen Sinngehalt begreift. Fremdheit ist normal; jeder ist sich selbst und jede der anderen fremd, und gerade über diese Differenzerfahrung auf Gemeinsinn ausgerichtet. Mit diesem Modell ist gemeinsames Lesen und Deuten der Heiligen Schriften auf Augenhöhe möglich. Auch wenn mein andersreligiöses Gegenüber mit einer mir fremden Hermeneutik auf „meinen“ Text schaut, kann sein oder ihr Fragen und Entdecken mir Impulse zur vertieften Sicht auf meinen Text und mir mein Gegenüber vertrauter machen. Für diesen Differenz-Ansatz stehen zwei Modelle zum gemeinsamen Bibellesen Pate: das Inter- und das Transmodell. Das Inter-Modell geht davon aus, dass Texte aus Thora, Bibel und Koran so miteinander gelesen werden, dass alle Beteiligten ihren Blick auf den Text einbringen können. Zentrum der Auseinandersetzung ist ein Dialog oder Diskurs über den Text auf Augenhöhe. Dabei sollten je nach Text die Mitglieder der zugehörigen Glaubensgemeinschaft die Rolle des Gastgebenden oder Gastes einnehmen. Beide Rollen wechseln. So erklären z.B. christliche Studierende ihren muslimischen Mitstudierenden Begriffe der Bibel und werden dabei herausgefordert, Inhalte so zu kommunizieren, dass ihr Gegenüber diese verstehen kann. Sie müssen also deren hermeneutischen Zugänge kennen und „einen hermeneutischen Schuhwechsel“ vollziehen. Damit dient eine Lesart nach dem Inter-Modell besonders dem Diskurs über Identitätsbildung und Verständigung. Auch beim Inter-Modell gibt es verschiedene Facetten, die bibeldidaktische Weichen stellen: Wenn man davon ausgeht, dass es einen unsichtbaren, aber erfahrbaren Bezug zum Leben und Wirken Jesu Christi auch in nichtchristlichen Religionen gibt (so Karl Rahner mit seiner Theologie vom verborgenen Christus), dann können jüdische oder muslimische Mitmenschen im Austausch über biblische Texte auch etwas von Jesus begreifen und über ihn sprechen, obwohl sie ihn nicht im christlichen Sinne bezeugen. Wenn man dem entgegen davon ausgeht, dass jemand, der Jesus Christus nicht als <?page no="179"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 161 Weg, Wahrheit und Leben zum Vater für sich bekennt und keine Vorstellung einer auf Jesus bezogenen „Mitte der Schrift“ hat, Aussagen der Bibel kommentiert, wird man so einem Menschen kaum zutrauen, dass er oder sie sich mit der gleichen Aussage auseinandersetzt wie man selbst. Dennoch können sowohl eine vorausgesetzte Brücke oder ein angenommener Graben ermöglichen, mit dem Gegenüber über eigenes und fremdes Verstehen eines Textes in diskursive Auseinandersetzung zu treten. Im Trans-Modell werden Texte aus Thora, Bibel und Koran auf ihre gemeinsamen ethischen und mystischen Grundlagen hin gelesen und gedeutet, die sich in gemeinsamen Symbolisierungen, Aktionen oder spirituellen Erfahrungen mit Inhalten biblischer Texte ausdrücken. Das Bild der Überbrückung, mit dem Welsch, Hicks oder Knitter arbeiten, steht hier Pate: Wichtig ist es, Aussagen der Bibel so zu verstehen, dass die in ihnen enthaltenen urmenschlichen Aussagen in neuen, eher vor- oder nachsprachlichen Formen miteinander erlebbar werden. Ziel des gemeinsamen Austausches über biblische Texte ist es damit, die Differenzen des Nicht- Verstehens in Erfahrungen eines gemeinsamen Neu-Sehens und -Verstehens zu überführen. Wer mit dem Begriff der Fremdheit bibeldidaktisch umgeht, tut also gut daran, das Phänomen von Differenz und Fremdheit zunächst einem der obigen Modelle von Fremdverstehen zuzuordnen, um das didaktische Handeln an inhaltliche Konzeptionen rückzubinden. In Seminaren zum interreligiösen Lernen arbeiten wir nach dem Inter- Modell. Wir tun dies auch im Wissen darum, dass es angesichts unterschiedlicher Mehrheiten und Minderheiten keinen vollwertigen Diskurs auf Augenhöhe gibt. Dennoch bringen jüdische, christliche und muslimische Lehrende und Studierende ihre Sichtweisen auf Texte ein und ermöglichen Fremd- und Differenzwahrnehmung, die zum Austausch motivieren. Aus dem Inter-Modell hat sich unser Ludwigsburger Modell entwickelt, das wir trialogisches Perspektivenmodell nennen. Es konzentriert sich auf die Herausarbeitung von Intentionen, Strukturen und Rahmenbedingungen einer Hermeneutik, um damit die Argumentationsgänge unterschiedlicher Perspektiven herausarbeiten und vergleichen zu können. Diese werden im Blick auf Praxiskonzepte interreligiöser Konfliktfelder miteinander ins Gespräch gebracht. 11 11 Vgl. dazu Katja Baur (2013), Trialogisches Lernen und Lehren an der EH Ludwigsburg, in: Josef Freise; Mouhanad Khorchide: WerteDialog der Religionen. Überlegungen und Erfahrungen zu Wissenschaft, Seelsorge, Bildung und Sozialarbeit, Freiburg i.Br. <?page no="180"?> Katja Baur 162 6 Die Bibel selbst wahrnehmen - Ermutigung zur Begegnung mit Fremdheit Wenn einander fremde Menschen (hinsichtlich ihrer religiösen Zugehörigkeit) ihnen fremde Texte der Heiligen Schriften miteinander lesen, ist es sinnvoll, auch die Texte selbst auf den in ihnen dargelegten „Umgang mit Fremdheit“ zu befragen. Denn Thora, Bibel und Koran sind selbst gute Fremdenführer, um die soziokulturellen Aspekte zum Umgang mit Fremdheit zu bestätigen und zu erweitern. Wenn dieses hier exemplarisch am Beispiel der Bibel als Schrift der Christen dargestellt wird, gilt es zu bedenken, dass die Fremdheit des Textes auch das Erschließungsgeschehen beeinflusst: „Sie (die Bibel) spricht aus der Ferne von fernen Dingen, die doch gegenwärtig werden durch sie und nicht abgegolten sind. Gerade wenn man die historische Distanz ernst nimmt, zeigt sich das Erstaunliche, was sich hier ereignet. das an sich Fremde wird zum Eigenen, ohne seine Fremdheit aufgeben zu müssen“. 12 Fremdheit als exklusive und inklusive Erfahrung ist den biblischen Texten nicht fremd. Sie lädt ein zu Auseinandersetzung und teilweise auch zur Begegnung. Johannes Lähnemann folgert in diesem Sinne: „1. Es gibt interreligiöses Lernen in der Bibel. 2. Es gibt interreligiöses Lernen mit der Bibel. Die Bibel ist ein Buch interreligiösen Lernens im Sinne eines Genitivus subjektivus und objektivus. Beides ist religionspädagogisch relevant, und interreligiöses Lernen mit der Bibel ist religionspädagogisch gefordert.“ 13 Texte des Ersten Testaments beschreiben die Fremdheit gegenüber Feinden (z.B. den Babyloniern) und unterscheiden zwischen Ausländern, mit denen man im eigenen Land zusammen lebt und Fremdlingen, denen man Einlass gewährt. Letztere sind zentral für den Umgang mit Fremdheit z.B. in 3. Mose 19,33-34: Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott. Dies bedeutet: Zum Fremden hin werden Grenzen geöffnet. So gewährt bereits Abraham den drei Männern aus der Fremde Gastfreundschaft, Rahab aus einem fremden Land wird aufgrund ihrer mutigen Glaubenstat vom Rand in die Mitte geholt (Jos 2-6, Hebr 11,31), Jona findet bei fremden Gottlosen Gehör, oder die nichtjüdische Rut folgt ihrer jüdischen Schwiegermut- 12 Rainer Kampling (1996), Die Chance der Fremdheit. Anmerkungen zu einem Charakteristikum der Hl. Schrift, in: ders.; Bruno Schlegelberger (Hg.), Wahrnehmung des Fremden. Christentum und andere Religionen, Berlin, S. 299-316; S. 306. 13 Johannes Lähnemann (1999), Die Bibel - ein Buch interreligiösen Lernens? , in: Godwin Lämmermann u.a., Bibeldidaktik in der Postmoderne, S. 281. <?page no="181"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 163 ter in die Fremde und achtet deren Glauben. Fremde sind zu beherbergen (wenn nach beduinischer Weise auch nur für begrenzte Zeit), zu bewirten und anzuhören. Dies geschieht immer in Erinnerung daran, dass Israel selbst ein Fremdling im verheißenen Land war und auf dem Weg des Exodus die Fremde in all ihren bedrohlichen Facetten erlebte. Und unter dem Vorzeichen, dass die Fremde der Durchgang zum verheißenen Land, zur Heimat bei Gott selbst ist, welcher jegliche Fremdheit durch Nähe überwindet. Diese Linie setzt sich im Neuen Testament fort. Hier werden Fremde zu Nächsten: Jesus selbst stammt aus dem „heidnischen Galiläa“ und widmet sich ein Leben lang der Grenzüberschreitung, die auf Überwindung von Klassen, Öffnung homogener Gruppen und Inklusion zielt. Die grenzüberschreitende Mission der zweiten und dritten Generation von Jesusnachfolger/ Jesusnachfolgerinnen projizieren dieses entgrenzende Handeln Jesu auf die sich ins Römische Reich ausdehnende Bewegung: So bringen Jesus und seine Jünger/ Jüngerinnen in der Darstellung der Evangelien den Gott der Liebe über Stammes-, Konfessions-, Geschlechts- und Sozialgrenzen hinweg zu einer Syrophönizierin (Mk 7), zu Samaritanern, zu Zöllnern und Sündern oder hin zu „den Heiden“(Mt 8). Eher schöpfungstheologisch denn gesetzesbezogen nutzen die neutestamentlichen Texte Bilder vom Weg in die Wüste (Ort der Taufe), vom Rückzug auf Berge (Seligpreisungen), um Fremdsein als Unterwegssein zu beschreiben. Ihm haftet ein Moment des Rückzugs mit Besinnung an. Damit beinhaltet das biblische Fremdheitsverständnis des Neuen Testaments eine theologische Aussage: Fremdheit ist ein Prozess des Loslassens bzw. des Einübens in die Kultur der „Losigkeiten“ (heimatlos, besitzlos usw.). Das Loslassen ist die Voraussetzung, um neu finden zu können bzw. neu von Gott gefunden zu werden. Es gibt kein Leben im Paradies ohne den vorherigen Aufbruch in die Welt der Äcker. Es gibt keine Mahlgemeinschaft im Hause Gottes ohne ein vorheriges Einladen aller Hungrigen und Fremdgehenden. Es gibt kein Zuhause als „gemachtes Nest“, ohne das eigene Haus zuvor selbst zu bestellen. So bedeutet Fremde oder Fremd-Sein ein „Unterwegssein“ im Sinne eines Abwerfens von Lebensballast und der Neuordnung der Verhältnisse im Angesicht Jesu. Insofern ist Fremdsein selbst ein Beziehungsbegriff, der durch die Gleichzeitigkeit von Nähe und Entfernung gezeichnet ist. Nicht Personen oder Texte oder Gott selbst „an sich“ sind fremd, sondern meine Beziehung zu ihnen ist von Fremdheit gezeichnet. Theologisch betrachtet greift hier das Übergangsmodell: Eine Wahrnehmung der Fremden oder der Fremdheit Gottes ist nur möglich, wo es eine Wahrnehmung des Eigenen oder der Vertrautheit bei Gott gibt. Wenn Fremdes ins Eigene aufgenommen wird, verliert es seinen gefährlichen Charakter, dann wird der fremde Gott zum Nahen und der Feind zum Fernsten oder Nächsten, der meines Schutzes sicher sein kann: „Gott selbst <?page no="182"?> Katja Baur 164 nimmt das Fremdsein universal in Anspruch und kommt in der Welt und im Menschen Jesus als das Fremde und Andere seiner selbst auf die Menschen zu und verändert so deren Identität. Denn nun - unter dem eschatologischen Vorbehalt - ist diese Welt für Christen/ Christinnen die Fremde, die Heimat in Gott steht noch aus. Das Fremde bzw. der Fremde wird so zur theologischen Kategorie und zum theologischen Ort, denn indem Gott Mensch wurde und sich selbst in die Fremde ganz hineingab - bis zur absoluten Fremde des Todes - hat er das Fremde bzw. die Fremden als gnadenhaftes Geschenk universalisiert und als Strukturprinzip der Kirche etabliert.“ 14 Fremdheit in der Bibel beschreibt damit einen Zustand der Sehnsucht, der sich in einer Ethik der Entgrenzung äußert: So wie Fremde ins eigene Haus einzulassen sind, so will der ferne Gott dem Menschen nahe sein, indem er sich auf Augenhöhe mit ihm einlässt auf ein Leben im Zustand der Fremde. Gott geht nicht in der Fremdheit auf, aber als Fremder tritt er an die Seite und öffnet so den Blick für neue Wirklichkeit. Wer also biblische Texte aus der Perspektive gläubiger Menschen liest, wird über die Fremdheit des biblischen Textes zur Auseinandersetzung mit der Fremdheit Gottes angeregt. 15 Interreligiöses Lernen mit der Bibel fragt insofern weniger nach Methoden denn nach Haltungen. Wird in der Art und Weise, wie wir die Bibel alleine oder miteinander lesen, das grenzüberschreitende Angebot Gottes spürbar, das Menschen auffordert, in die Fremde zu gehen und sie dann neu in Beziehung zu Gott und einander stellt? Was Lähnemann (s.o., S. 284) als „entgrenzte Pädagogik des Evangeliums“ beschreibt, gilt es didaktisch als „entgrenzte Didaktik gemeinsamen Bibellesens“ fruchtbar zu machen. 7 Thora, Bibel, Koran teilen - methodische Möglichkeiten für interreligiöse Schriftdiskurse Weil die Heiligen Schriften, so auch die Bibel, ein Bildungsgut sind, das der Auseinandersetzung lohnt, müssen die verschiedenen Modelle und herme- 14 Detlef Schneider-Stengel (2006), Reflexionen und Thesen zu einem bekömmlichen christlich-islamischen Dialog, in: Rainer Bucher; Rainer Krockauer (Hg.), Pastoral und Politik: Erkundungen eines unausweichlichen Auftrags, (Werkstatt Theologie, 7) Wien/ Münster, S. 140-141. 15 Ohne auf den Umgang mit Fremden im Koran näher einzugehen, sei angemerkt, dass eine Willkommenskultur im Blick auf Fremde auch im Koran verankert ist (vgl. Bezug zu Abrahams Gastfreundschaft, Sure 51: 24-27; vgl. ebenso Sure 4: 36: „Und dient Allah und setzt Ihm nichts zur Seite; und seid gut zu den Eltern und zu den Verwandten, den Waisen, den Armen, dem Nachbar, sei er verwandt oder aus der Fremde, …“), wobei die ethische Zuspitzung auch hier dominiert. Die Bedeutung von Fremden als Hinweis auf die Fremdheit Gottes tritt dahinter deutlich zurück. <?page no="183"?> Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren 165 neutischen Zugänge in didaktischen Arrangements eines „Lernens in Gegenwart der Anderen“ gut komponiert werden. Sie sollten den Studierenden Möglichkeiten geben, ihre eigene Position im Ganzen zu suchen und zu finden. Immer zielt der Dialog auf das Wechselspiel von Intra- und Interlernen. Dieses hat sich methodisch zu konkretisieren: Anders als die Methode „Bibel teilen“, die primär die spirituelle Dimension biblischer Texte zu erfahren und miteinander zu entdecken sucht, verwenden wir in der Methodik unserer Seminare den Begriff „Heilige Schriften bzw. Bibel teilen“ für einen Prozess gemeinsamer Auseinandersetzung. Er vollzieht sich in folgenden didaktisch-methodischen Schritten: a) Motivation: ein Konflikt aus der Praxis, der zu einem Blick in die Heiligen Schriften herausfordert: z.B. Für und Wider des Alkoholtrinkens bei Schulfesten an Berufsschulen mit multikultureller Schüler- und Elternschaft. Was meine ich dazu? Was denke ich, was religiöse Juden, Christen oder Muslime? Was sagen Thora, Koran und Bibel dazu? Welche Kriterien könnten das religiös bedingtes Denken und Handeln leiten (z.B. meine Vorurteile, Fragen, Interesse am Thema usw.)? b) Konfrontation mit Texten der Bibel oder des Korans Hören auf den biblischen Text (in hebräischer, griechischer und deutscher Sprache - verschiedene Übersetzungen): Spr 20,1; Ps 104,15; Lk 21,34; Wein beim Abendmahl: Mt 26,29; evtl. 2 Petr 1,6. Rezitation von Texten aus dem Koran (auf Arabisch, dann in deutscher Übersetzung): Sure 2: 219; 4: 43; 5: 90; 16: 67. Austausch über erste Eindrücke beim Hören und eigene Erfahrungen mit den Texten und Kontexten, in denen sie einem evtl. schon begegnet sind. Gemeinsames Lesen der Texte mit Textarbeit zu möglichen Fragen oder Kontexten, die den Texten zugrunde liegen könnten; Herausarbeitung von auffälligen Szenen, Sätzen und Leitgedanken, die das Handeln bestimmen könnten. Wie verstehe ich die Texte? Wie verstehen die Mitstudierenden diese? Warum verstehen wir so oder so? c) Information über die Intentionen der biblischen Autoren, den Ort und die Adressaten sowie den biblischen Kontext der Aussagen oder den Herabsendungsanlass (Koran) durch Dozierende. Systematisierung der verschiedenen Perspektiven und ihrer Intentionen. d) Diskussion über die Eigen- und Fremdperspektiven auf die Texte: Welche Argumentationsstränge oder Glaubenshaltungen führen zu der einen oder anderen Perspektive? Was erscheint mir am eigenen oder fremden Text vertraut, fremd oder fragwürdig, warum? Wie schätze ich die Ethik, die aus den Texten abgeleitet werden kann, ein? Trialogische Diskussion der drei Dozierenden mit der Möglichkeit für Studierende, sich in diesen Diskurs mit drei Perspektiven auf das Thema mit einzubringen. <?page no="184"?> Katja Baur 166 e) Kommunikation in Kleingruppen oder im Seminar über ausgewählte Aspekte des Trialogs. f) Reflexion: kontextuelle und kulturelle Rezeption der Texte im Blick auf den Umgang mit dem Thema heute - welche Hinweise entsprechen den Intentionen der Heiligen Schriften? Sichtung von Unterrichtsmaterial oder Medien zum Thema Alkohol und Reflexion der Sachgemäßheit der Argumentation religiöser Aspekte in den Materialien. g) Evaluation der Seminarveranstaltung im Blick auf Möglichkeiten und Grenzen interreligiöser Bibelarbeit auf der Grundlage von Empathie (Lernen, verstehen zu wollen) und Sympathie (gegenseitiges Verstehen). Fazit: Lehren und Lernen in der Hochschulbildung hat Laborcharakter. So verstehen wir unser gegenwärtiges Modell trialogischer Schriftbegegnung als Experiment, um Pluralitätsfähigkeit bei Studierenden am Beispiel religiöser Herausforderungen zu fördern. Wir beschreiten als Lehrende zu dritt einen Weg im Vertrauen darauf, dass „im Anfang das Wort war und bleibt“, das all unseren Worten voraus- und vorangeht. Auswahlbibliographie Baur, Katja (2007): Zu Gast bei Abraham. Ein Kompendium zur interreligiösen Kompetenzbildung. Stuttgart. Baur, Katja (2009): Abraham - Impulsgeber für Frieden im Nahen Osten. Münster. Bongardt, Michael; Kampling, Rainer u.a. (2003): Verstehen an der Grenze. Beiträge zur Hermeneutik interreligiöser und interkultureller Kommunikation. (Jerusalemer theologisches Forum, 4) Münster. Borrmanns, Maurice (2000): Ein Buch oder viele Bücher Gottes? In: Welt und Umwelt der Bibel 15 (1) (Der Koran und die Bibel), S. 4f. Lähnemann, Johannes (1999): Die Bibel - ein Buch interreligiösen Lernens? In: Lämmermann, Godwin u.a. : Bibeldidaktik in der Postmoderne. Stuttgart. Leimgruber, Stefan (2005): Was Bibel und Koran erzählen. In: Stettberger, Herbert: Was die Bibel mir erzählt. Münster (u.a.), S. 195-209. Meißner, Stefan; Wenz, Georg (2007): Über den Umgang mit den heiligen Schriften. Juden, Christen und Muslime zwischen Tuchfühlung und Kluft. Münster (u.a.) Mohr, Ismail (2012): Das Buch Gottes und die Sunna Muhammads. In: Welt und Umwelt der Bibel 16 (1) (Der Koran - mehr als ein Buch), S. 28-32 Neuwirth, Angelika (2012): Ist der Koran vom Himmel gefallen? Die Eigenart des Koran in der neueren Koranforschung. In: Welt und Umwelt der Bibel 16 (1) (Der Koran - mehr als ein Buch), S. 10-18. Sajak, Clauß Peter (2010): Interreligiöses Lernen mit Zeugen und Zeugnissen fremder Religionen. In: ders.: Kippa, Kelch, Koran. München, S. 11-56. Schroer, Sylvia (2003): Von zarter Hand geschrieben - Autorinnen in der Bibel? In: Welt und Umwelt der Bibel 8 (2) (Wer hat die Bibel geschrieben? ), S. 28f. Willems, Joachim (2011): Interreligiöse Kompetenz. Theoretische Grundlagen - Konzeptualisierungen - Unterrichtsmethoden. Wiesbaden, S. 65-96. <?page no="185"?> Desmond Bell Nicht so, als sei es erst gestern gewesen - Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen Abstract: Die Verfasser von bibelwissenschaftlichen Einführungen setzen zumeist stillschweigend einen wissenschaftlichen Konsens über die grundsätzliche Notwendigkeit und Dignität historischen Arbeitens voraus. De facto gibt es jedoch inzwischen weder in den Geschichtswissenschaften noch in den biblischen Wissenschaften, geschweige denn bei den Studierenden an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, einen entsprechenden Konsens, sondern unterschiedliche Interpretationsansätze. Angesichts dieser Pluralität historischen Denkens ist diese selbst zu reflektieren und die Notwendigkeit und der Nutzen historischen Arbeitens - auch gegenüber Studierenden - zu bekräftigen. 1 Bestandsaufnahme Nach wie vor ist in der bibelwissenschaftlichen Literatur der historischkritische (diachrone) Zugang zu biblischen Texten tonangebend. 1 Angesichts der Dominanz der damit verbundenen Methoden in den Wissenschaften des Alten und Neuen Testaments erscheint es auf den ersten Blick fast trivial, das Wahrnehmen von Geschichte und Geschichtlichkeit ausdrücklich als (aus der Sicht der Lehrenden) erstrebenswerte studentische Kompetenz aufzuführen. Aus drei Gründen ist dies jedoch nicht der Fall: a) Biblische Wissenschaft setzt den Erwerb von Geschichtswissen voraus. Eine gezielte Umfrage in Seminargruppen lässt jedoch schnell zutage treten, dass es nicht nur um das Geschichtswissen von Schülerinnen und Schülern 2 , sondern auch um das Geschichtswissen von Studierenden an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften schlecht bestellt ist. Die Mehrheit der Studierenden haben in den ersten Semestern und - abhängig vom Studienfach - häufig auch noch nach Abschluss ihres Studiums Schwierigkeiten, früher 1 „Die Notwendigkeit der Integration neuerer Methoden wird einerseits allgemein anerkannt, andererseits wird den synchronen Auslegungsverfahren nur wenig Raum eingeräumt.“ - Wilhelm Egger; Peter Wick (2011), Methodenlehre zum Neuen Testament, 6. Aufl., Freiburg im Breisgau, S. 34, Anm. 34. Siehe dort auch Hinweise auf weiterführende Literatur zum Thema. 2 Vgl. hierzu: Klaus Schroeder; Monika Deutz-Schroeder; Rita Quasten (2012), Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt a.M. <?page no="186"?> Desmond Bell 1 8 (möglicherweise) selbstverständlich vorauszusetzende Wissensbestände abzurufen: Sie verfügen über keine Möglichkeiten, Geschichte zu periodisieren, sie können nicht mehr als ein oder zwei geschichtlich bedeutsame Ereignisse bestimmten Jahreszahlen zuordnen, sie können Begriffe wie Reformationszeit, Pietismus oder Aufklärung nicht zeitgeschichtlich einordnen. Sie halten Adam und Eva für historische Gestalten (oder meinen zumindest, eine solche Einschätzung sei von ihnen in einem bibelwissenschaftlichen Seminar gefordert), haben aber keine Vorstellung von Abfolge und Nebeneinander der Hochkulturen im Mittelmeerraum. Solange diese entsprechenden Informationen wie Lösungen von Kreuzworträtseln gegoogelt werden können, mag man historische Grundkenntnisse für entbehrlich halten und hier lediglich einen gewandelten Umgang mit Wissensbeständen konstatieren. Ein solcher Wandel muss jedoch das Verständnis von elementaren geschichtlichen Zusammenhängen erschweren. Wenn historische Informationen auf einer Ebene mit jeder beliebigen anderen Information zugänglich sind (nämlich auf der Ebene von Suchmaschinen), werden diese als gleichermaßen gültig wahrgenommen. Wenn eine Suchmaschine nicht unterscheiden kann zwischen historisch-kritischen Analysen biblischer Texte und deren historisierenden Nacherzählungen, müssen die Nutzerin und der Nutzer lernen, hier einen Unterschied zu machen. Ein solcher Lernprozess setzt Einsicht in seine Notwendigkeit voraus. Eine nachhaltige Erarbeitung von biblisch-geschichtlichen Themen kann deswegen nicht darauf verzichten, neben einer Erarbeitung der notwendigen Methoden auch die Eigenart und Bedeutung einer geschichtlichen Herangehensweise an biblische Texte im Grundsatz zu thematisieren. b) Auf die Frage, warum ein Bibeltext grundsätzlich historisch eingeordnet werden muss, wird in der Regel auf einen Verständniszuwachs verwiesen: „Ein Bibeltext kann viel besser verstanden werden, wenn die politischen, religiösen und sozialen Verhältnisse bekannt sind, in denen der Autor steht, auf die er in seinem Text anspielt und die er bei seinen Lesern voraussetzt. Durch das Aufdecken des historischen Kontextes eines Autors und der Adressaten werden Textgestalt und Textgehalt viel besser verständlich. Aber auch der Autor und die Adressaten bekommen ein deutlicheres historisches Profil.“ 3 Dieser aus wissenschaftlicher Sicht zutreffenden Aussage steht allerdings die subjektive Erfahrung der Studierenden entgegen, die sich in zweierlei Hinsicht bemerkbar machen kann: Zum einen haben einige Studierende die Erfahrung gemacht, dass sie biblische Texte bereits ohne historische Kenntnisse ausreichend gut „verstanden“ haben: Sie sind mit ihnen vertraut und betrachten sie als Lebensbegleiter. Zum anderen stellen sie fest, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Bibeltexten ihr bisheriges Vorverständnis zunichtemacht, ohne es durch ein leicht erschließbares Gegenangebot zu 3 Egger; Wick, Methodenlehre, S. 271. <?page no="187"?> Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen 1 ersetzen. Historisch-kritische Arbeit vermittelt oft gerade keinen klar konturierten Zugang zu den politischen, religiösen und sozialen Verhältnissen des Autors und seiner Erstleser, sondern eine Vielfalt an Erklärungsansätzen für mögliche Verhältnisse (man denke etwa an die Diskussion um die Datierung alttestamentlicher Texte zwischen der frühen Königszeit und der Perserzeit 4 ). Vor diesem Erfahrungshintergrund ist ein historischer Zugang zu biblischen Texten, der diesen Mehrwert an Verständnis nur behauptet, aber nicht einlöst, zum Scheitern verurteilt - es sei denn, es lässt sich am Umgang mit geschichtlichen Texten exemplarisch noch etwas Anderes lernen. c) Die Kompetenz, Geschichte und Geschichtlichkeit auf einer wissenschaftlichen Ebene zu diskutieren, stößt jedoch auch ganz grundsätzlich an eine Grenze: Auch das Phänomen „Geschichte“ ist keinesfalls so selbstverständlich vorauszusetzen wie die historisch-kritische Methodik dies suggeriert. Die Erörterung dieses letzten Aspekts ist die Voraussetzung für die Bearbeitung der vorangehenden. Erst wenn deutlich wird, was unter historischem Denken verstanden werden kann, kann auch die Eigenart und Bedeutung einer geschichtlichen Herangehensweise an biblische Texte plausibel gemacht werden. Der vorliegende Beitrag widmet sich deswegen zunächst dem Verhältnis der historisch-kritischen Exegese zur Geschichte, anschließend sollen überblicksartig einige Bemerkungen zur Diskussion über die klassische Historik aufgeführt werden, abschließend dann die bleibende Wirksamkeit geschichtlichen Denkens thematisiert werden. 2 Die historisch-kritischen Methoden und die Geschichte, die sie voraussetzen Aufgrund des erwähnten Vorrangs der historisch-kritischen Methoden könnte angenommen werden, dass eine Einführung in exegetisches Arbeiten oder eine Einführung in biblische Schriften bereits und schon immer grundlegende Argumente für einen historischen Zugang zu biblischen Texten liefert. Im Folgenden wird schlaglichtartig untersucht, ob dies der Fall ist. Kleiner methodischer Exkurs Im Rahmen eines Artikels über die Geschichtlichkeit muss hier bereits das vollzogen werden, was als Phänomen beschrieben wird: Der zu beschreibende Gegenstand wird in Bezug zu anderen Texten aus der Vergangenheit gesetzt. Dabei macht der Verfasser das, was jeder Historiker tut: 4 Vgl. die Übersicht zu Psalm 82 in: Sebastian Diez (2009), „Nun sag, wie hast du‘s mit den Göttern? “. Eine Forschungsgeschichte zu Ps 82, Diplomarbeit (überarbeitet und gekürzt), Würzburg, S. 64-66. Online verfügbar unter: http: / / opus.bibliothek.uniwuerzburg.de/ volltexte/ 2009/ 3663/ pdf/ Forschungsgeschichte.pdf (23.07.2013). <?page no="188"?> Desmond Bell 1 Er selektiert, welche Quellen er heranziehen und welche er auslassen wird. (Dabei lässt er immer, nicht nur im Rahmen eines kleinen Beitrags, mehr aus als er zur Darstellung bringen kann.) Er baut die aus den Quellen selektierten Textausschnitte zu einem neuen Text zusammen, der suggeriert, dass er etwas über Vergangenes aussagen kann. Es entsteht ein neuer, aktuellerer Text, der allerdings zu einem Zeitpunkt gelesen werden wird, an dem sich das „Alter“ der Quellen und die „Aktualität“ des Beitrags aus Sicht der zukünftigen Leserin bereits angenähert und damit relativiert haben könnten. (Was im Jahre 2015 über das Jahr 1975 geschrieben wurde, wird, falls es z.B. im Jahre 2075 gelesen würde, relativ alt aussehen.) Geht man so vor, sind unmittelbar drei Fragen zu klären: Wo ist „der Anfang“, d.h. welchen zeitlichen Einschnitt markiere ich als maßgeblich für den Beginn meiner Untersuchung? Wo ist „das Ende“? Welche Quellen werden ausgewählt? Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die Phase, in der sich die historisch-kritische Exegese einerseits nicht mehr gegenüber einer heilsgeschichtlichen Interpretation der biblischen Schriften rechtfertigen musste, sich aber andererseits im Kontext der theologischen Wissenschaften noch genötigt sah, die Übernahme „profaner“ Methoden zu legitimieren. Er setzt deswegen in den frühen 1970er Jahren ein. Als Quellen werden nicht die damaligen exegetischen Methodenbücher herangezogen, da diese für das Thema „Geschichte“ oft erstaunlich unergiebig sind, sondern die „Einleitungen“, exemplarisch reduziert auf die Einleitungen in das Neue Testament. 5 Wie also wird historisches Arbeiten in den Bibelwissenschaften traditionell begründet? 1971 leitete Günther Bornkamm mit den folgenden pathetisch klingenden Worten sein Plädoyer für eine geschichtliche Herangehensweise an das Neue Testament ein: „Ohne Traditionen ist menschliches Leben nicht denkbar. Wer das nicht wahrhaben will, zerstört die Fundamente seiner Existenz und braucht sich nicht zu wundern, wenn das eigene Lebensboot kiellos dahintreibt oder bald auf dem flachen Sand festsitzt.“ 6 Bornkamm gab damit einem existentiellen Selbstverständnis Ausdruck, das offenbar keiner weiteren Argumente bedurfte. Andere zeitgenössische Bestseller unter den „Einleitungen in das Neue Testament“ begründeten die historisch-kritische Methode nicht aus dem 5 Auf die damals strittige Terminologie von „Einführung“ und „Einleitung“ gehe ich nicht weiter ein. Vgl. Willi Marxsen (1978), Einleitung in das Neue Testament. Eine Einführung in ihre Probleme, 4. Aufl., Gütersloh, „§ 1 Einleitung in das Neue Testament als theologische Aufgabe“, S. 13-23. 6 Günther Bornkamm (1971), Bibel. Das Neue Testament. Eine Einführung in seine Schriften im Rahmen der Geschichte des Urchristentums, Stuttgart, Berlin, S. 9. <?page no="189"?> Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen 1 Bezug auf die Tradition, sondern mit der Geschichtlichkeit ihrer biblischen Quellen. So schrieb Werner Georg Kümmel: „Die wissenschaftliche Disziplin der ‚Einleitung in das NT‘ behandelt die geschichtlichen Fragen der Entstehung der nt. Schriften und ihrer Sammlung und der textlichen Überlieferung dieser Schriften und ihrer Sammlung. [...] Die Einleitungswissenschaft ist demgemäß eine streng historische Disziplin, die durch die Aufhellung der geschichtlichen Umstände bei der Entstehung der einzelnen Schriften der Auslegung die nötigen Voraussetzungen für das Verständnis der Schriften in ihrer geschichtlichen Eigenart liefert und durch die Erforschung des Werdens und der Erhaltung der Sammlung der Frage nach dem Lehrgehalt des NTs den sicheren geschichtlichen Boden verschafft.“ 7 Wer so vorgeht, muss dann die Einleitungswissenschaft gegenüber jeder „Literaturgeschichte“ als theologische Disziplin eigens begründen. Kümmel bewerkstelligt dies, indem er sich auf den besonderen Charakter der Kanonizität der neutestamentlichen Schriften bezieht. „Nicht durch ihre wissenschaftliche Methode, sondern nur durch die besondere Art ihres Gegenstandes ist darum die ‚Einleitung in das NT‘ eine theologische Disziplin.“ 8 Willi Marxsen hat dem gegenüber den naheliegenden Einwand formuliert, dass ein so beschriebener Zugang die Frage aufwirft, ob der „besondere Charakter“ des Gegenstandes „überhaupt angemessen erfaßt werden kann, wenn man mit Methoden an diese Schriften herangeht, die für jede andere Literatur üblich sind“ 9 . Anders als Kümmel sah er den besonderen Charakter der neutestamentlichen Schriften dementsprechend auch nicht in ihrer Kanonizität begründet - der Kanon selbst sei ja der geschichtlichen Analyse unterworfen -, sondern in ihrem theologischen Anspruch. „Ob dieser Anspruch zu Recht besteht, kann die im Dienste der Exegese stehende Einleitungswissenschaft nicht entscheiden.“ 10 Eine solche Prüfung sei Aufgabe der systematischen Theologie, sei dann „allerdings schon innerhalb des Neuen Testaments, nicht erst nach ihm durchzuführen“ 11 . Marxsen selbst sieht Einleitungswissenschaften, Exegese und das „Verstehen“ der biblischen Texte in einem hermeneutischen Zirkel. Die Gründe für eine historische Zugangsweise der Einleitungswissenschaft liegen für ihn einerseits in dem Ziel, die Chronologie neutestamentlicher Schriften zu rekonstruieren, vor allem aber auch in der konstruktiven Kontrolle der kirchlichen Verkündigung. „Indem sie nämlich die geschichtliche Situation erhebt, in die hinein die Aussagen der einzelnen Schriften gerichtet sind, hilft sie zu verstehen, warum die Botschaft gerade so formuliert und gegenüber früherer 7 Werner Georg Kümmel (1973), Einleitung in das Neue Testament, 17. Aufl., Heidelberg, S. 5. 8 A.a.O., S. 6. 9 Marxsen, Einleitung, S. 14. 10 A.a.O., S. 20. 11 Ebd. <?page no="190"?> Desmond Bell 1 Verkündigung variiert wurde.“ 12 Die Einleitungswissenschaften helfen und dienen der Exegese und führen zum geschichtlichen Verstehen des theologischen Anspruchs der Texte, dessen Legitimität dann systematischtheologisch zu überprüfen ist. Dass die theologische Position Marxsens auch mit Blick auf die Aufgaben und Möglichkeiten der systematischen Theologie einige Fragen aufwirft, muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Allerdings ist auffallend, dass schon in anderen einführenden Werken aus dem Ende der 70er Jahre kaum noch problematisiert wird, dass überhaupt historisch-kritisch mit Texten gearbeitet wird. Es scheint fast, als kämen in der Disziplin selbst Zweifel an ihrem methodischen Tun auf. Beinahe resigniert schreiben Hans Conzelmann und Andreas Lindemann im ersten Satz ihres Vorworts zur ersten Auflage ihres „Arbeitsbuchs zum Neuen Testament“ 1975: „Biblische Exegese, zumal des Neuen Testaments, scheint gegenwärtig weniger ‚gefragt‘ zu sein. Das mag zum einen daran liegen, daß das Interesse an Geschichte überhaupt geringer geworden ist. Es liegt zum erheblichen Teil aber auch daran, daß die Methoden der Exegese sich inzwischen so weit verfeinert und spezialisiert haben, daß sie nur noch ‚Eingeweihten‘ verständlich scheinen. Die Vielfalt der Methoden und vor allem der Ergebnisse erweckt beim Studenten den Eindruck, neutestamentliche Exegese trage weniger zum Verstehen als vielmehr zur allgemeinen Verunsicherung bei.“ 13 Überspitzt kann wohl behauptet werden, dass die Konzentration und Ausdifferenzierung des historisch-kritischen Arbeitens gerade nicht zu seinem eigenen Plausibilitätsbeweis beigetragen haben. Einschlägige Werke zur Einführung in historisch-kritisches Arbeiten leisteten es deswegen gerade nicht, Studierenden die Notwendigkeit historischen Arbeitens grundsätzlich plausibel zu machen. Nach dem Ausklingen der klassischen Einleitungswissenschaften und einer stärkeren Ausdifferenzierung exegetischer Methoden verschob sich die Priorität vielmehr entweder auf eine Begründung der jeweiligen Methodik gegenüber konkurrierenden Methoden innerhalb der biblischen Wissenschaften oder - so in der tiefenpsychologischen Interpretation - auf eine Überwindung der als „hölzern und staubig“ 14 empfundenen historischkritischen Interpretation überhaupt. Damit wurde aber auch die Chance vertan, das historisch-kritische Arbeiten gegenüber den Überlegungen einer seit den 1970er Jahren zunehmend verunsicherten Geschichtswissenschaft zu öffnen und Impulse von dort aufzunehmen. 12 Ebd. 13 Hans Conzelmann; Andreas Lindemann (1976), Arbeitsbuch zum Neuen Testament. 2. Aufl., Tübingen, S. V. 14 Vgl. Eugen Drewermann (1984), Tiefenpsychologie und Exegese, Freiburg, Band I, S. 31. <?page no="191"?> Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen 1 3 Die Historik und das Ende der Geschichte, wie wir sie kannten Dass Studierenden, die mit biblischen Texten umgehen, geschichtliches Arbeiten nicht eigens plausibel gemacht wird, könnte an sich plausibel sein, wenn vorausgesetzt werden könnte, dass die Notwendigkeit geschichtlichen Arbeitens selbstevident wäre. Dies ist jedoch nur oberflächlich betrachtet so. Im Jahre 2011 hat Jörn Rüsen in einem markanten Essay in der Zeitschrift Erwägen - Wissen - Ethik seine Theorie der Geschichtswissenschaft zusammengefasst. 15 Die zum Teil zustimmenden, zum Teil aber auch schroff ablehnenden Stellungnahmen von Fachkolleginnen und -kollegen rufen noch einmal in Erinnerung, dass auch in der Geschichtswissenschaft die Grundannahmen darüber, was ihr Gegenstand, was also „Geschichte“ sei, zutiefst divergent wahrgenommen werden. Wiederum in eklektischer Auswahl, ohne Anspruch einer umfassenden Darstellung, möchte ich aus der Diskussion der letzten 50 Jahre folgende aus meiner Sicht heute unhintergehbare Grundannahmen zu (m)einer Theorie der Geschichte benennen: „Geschichte“ ist nicht „Vergangenheit“. Geschichte ist der methodisch konstruierte und rekonstruierbare Versuch, ein bedeutsames Verhältnis zu dem herzustellen, was vergangen ist. 16 Konzepte, die den Nachweis einer „historischen Wirklichkeit“ erbringen möchten, können als gescheitert gelten. Dies heißt nicht, dass das Vorhandensein von Ereignissen der Vergangenheit bestritten werden kann, allein eignet solchen Ereignissen keine „Wirklichkeit“, die unabhängig von menschlichem Denken, menschlicher Sprache und gesellschaftlichem Diskurs empirisch nachgewiesen werden kann. Die historisch motivierte Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist ein jeweilig gegenwärtig ablaufender Prozess, Geschichte spielt sich also jeweils aktuell ab: im gesellschaftlichen Diskurs, in sozialen Inszenierungen, in der intersubjektiven Verständigung oder in den Gedanken der einzelnen Historikerinnen. Quellen aus der Vergangenheit werden aktuell und aktualisierend wahrgenommen: haptisch durch die Hände desjenigen, der mit ihnen hantiert, mental durch das Denkorgan derjenigen, die sie deutet. Die die Vergangenheit bezeugenden Quellen (die „historischen Referenten“) haben keine Autonomie gegenüber demjenigen, der sie referiert. Ohne die Deutung der Deutenden sind die Quellen 15 Vgl. Jörn Rüsen (2011), Historik. Umriss einer Theorie der Geschichtswissenschaft, in: Erwägen - Wissen - Ethik 22 (4), S. 477-490. 16 Vgl. Hans-Jürgen Goertz (2001), Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart, S. 118. <?page no="192"?> Desmond Bell 1 sprachlos und letztlich ohne Bedeutung. 17 Exemplarisch in besonderer Weise verdeutlichen kann man dies an Kontroversen über die Einschätzung der Bedeutung von archäologischen Funden, so z.B. der Ergebnisse der Ausgrabungen in Qumran (Essener-Kloster oder Handelszentrum? 18 ). Die Geschichtswissenschaften führen nicht zu einer Abbildung der Vergangenheit, sondern zu einer Selektion und Reduktion der Gesamtheit der historischen Referenten. Die Geschichtswissenschaft verhilft dem Signifikat des historischen Referenten (also dem, was durch sie interpretiert werden soll) auch nicht zur „Geltung“, sondern relativiert seine Bedeutung, indem sie es durch die Produktion neuer Signifikanten (deutender Texte) nach und nach quantitativ und qualitativ verdrängt. Diese deutenden Texte ziehen wiederum weitere Signifikanten nach sich. 19 Geschichte (history) bezieht sich wesentlich auf „Geschichten“ (stories). Im Erzählen von Geschichten (narratio) vergegenwärtigen wir uns unsere Geschichte. Die Produktion von geschichtswissenschaftlicher Literatur ist deswegen äußerlich verwechselbar mit der Produktion von historischen Romanen. Der Hauptunterschied liegt im methodisch-wissenschaftlichen Anspruch auf der einen Seite (Nachprüfbarkeit der methodischen Schritte, interkontextuelle Kohärenz und potentielle Falsifizierbarkeit der Ergebnisse) und dem 17 Vgl. a.a.O., S. 117. 18 Vgl. Ferdinand Rohrhirsch (1996), Wissenschaftstheorie und Qumran. Die Geltungsbegründungen von Ausssagen in der biblischen Archäologie am Beispiel von Chirbet Qumran und En Feschcha, Freiburg, Schweiz, Göttingen; Yizhar Hirschfeld, (2004), Qumran in context. Reassessing the archaeological evidence, Peabody, (Mass.); Yizhar Hirshfeld; Jürgen Zangenberg (dt. Bearb.) (2008), Qumran. Die ganze Wahrheit, Hamburg. 19 „9.1 Da nach dem ‚Gesetz des Signifikanten‘ bei der Frage (Suche) nach der ‚Bedeutung‘ eines bestimmten Signifikanten stets neue Signifikanten produziert werden müssen, löst die Suche nach dem Signifikat ein unaufhaltsames ‚Nachdrängen‘ der Signifikanten aus. Auf diese Weise wird das gesuchte Signifikat immer stärker durch Signifikanten ‚verdrängt‘. 9.2 Jedes Sprechen und Schreiben, gerade auch das ‚erläuternde‘, ist unausweichlich ein Akt der ‚Verdrängung der Bedeutung‘: Als ‚defektive Körper‘ sind die Signifikanten gerade keine Einholung der Wahrheit, sondern ihr ‚Nachtrag‘; den Signifikanten wird das endgültige und ‚authentische‘ Signifikat verweigert. Es handelt sich also um eine ‚Verneinung‘ des Signifikats, das im Eschaton verbleibt.“ Erhardt Güttgemanns (1983), Fragmenta semiotico-hermeneutica. Eine Texthermeneutik für den Umgang mit der Hl. Schrift, (Forum theologiae linguisticae, 9) Bonn, S. 320. <?page no="193"?> Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen 1 stilistisch-literarischen Anspruch auf der anderen Seite. Die Übergänge sind jedoch fließend. 20 Das Konzept der klassischen Historik und damit auch der historisch-kritischen Exegese beruht auf der „zutiefst europäisch verankerten, ahistorischen Idee“ 21 , dass das Verhältnis zu dem, was vergangen ist, durch Kategorien der Vernunft begründet werden kann. Dieses Konzept ist inzwischen von Vertretern der post-colonial interpretation als kontextuell, pointiert auch als „provinziell“ kritisiert worden. 22 Dies könnte mit dem Argument abgetan werden, dass etwas nicht per se deswegen falsch sein muss, weil es im Kontext der europäischen Aufklärung entstanden ist, allerdings zeigt sich bekanntlich auch in europäischen Diskursen des 20. Jahrhunderts, dass das Konzept der Vernunft (zumindest einer funktionalistischen Vernunft) in der Kritik steht. Vor dem Hintergrund dieser „Unsicheren Geschichte“ (Goertz) könnte angezweifelt werden, ob es überhaupt länger sinnvoll ist, auf einer Meta-Ebene über historisches Arbeiten nachzudenken. Dem gegenüber ist jedoch festzuhalten: „Die Entdeckung der Konstruktivität in den Quellen und in der eigenen Kohärenzstiftung durch den Ausleger ist nicht das Ende, sondern der Anfang der historischen Kritik.“ 23 Die Kohärenzstiftung des Historikers gehorcht anderen Gesetzen als die des Poeten, sie ist keine freie Konstruktion, sondern „angesichts des Quellenmaterials überprüfbar und kritisierbar“ 24 . Gerade eine Theologie, die sich auf ganz unterschiedliche Quellen aus einem Zeitraum von mehreren hundert Jahren bezieht, kann nicht anders als wissenschaftliche Kriterien zu erarbeiten, wie diese Quellen nach ihrem Kontext und ihrer Chronologie zu befragen sind. Angesichts der Faktizität dessen, dass wir in der Theologie immer mit Deutung von Geschichte zu tun haben, können wir mutig feststellen: Was auch immer „Geschichte“ bedeuten mag, sie ist für die Theolo- 20 Damit wird u.a. die Auseinandersetzung um die Geschichtstheorie von Hayden White berührt, vgl. Jörg Baberowski (2005), Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, S. 204-214, sowie Goertz, Unsichere Geschichte, S. 16-31. 21 Reinhard Bernbeck (2011), Zwischen Verschweigen und Vernetzen, in: Erwägen - Wissen - Ethik 22 (4), S. 498-500, Abs. 12. 22 Vgl. Dipesh Chakrabarty (2008), Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference. New edition, Princeton, (N.J.), Oxford, insbesondere auch das Vorwort: Preface to the 2007 Edition. Provincializing Europe in Global Times, S. ix-xxi. 23 Knut Backhaus; Gerd Häfner (2007), Zwischen Konstruktion und Kontrolle: Exegese als historische Gratwanderung, in: Knut Backhaus; Gerd Häfner (Hg.): Historiographie und fiktionales Erzählen, Neukirchen-Vluyn, S. 131-136; S. 134. 24 Gerd Häfner (2007), Konstruktion und Referenz: Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion, in: Knut Backhaus und Gerd Häfner (Hg.), Historiographie und fiktionales Erzählen, Neukirchen-Vluyn, S. 67-96; S. 95. <?page no="194"?> Desmond Bell 1 gie zutiefst wirksam, ihre wissenschaftliche Analyse ist deswegen unverzichtbar. 4 Die Wirksamkeit der Vergangenheit und der Sinn geschichtlichen Arbeitens Die Debatte über die Bedeutung von „Geschichte“ findet Analogien in Debatten über die Bedeutung von „Kunst“, „Kultur“ oder „Religion“. 25 Keiner dieser Begriffe ist definitorisch fassbar, dennoch gehen wir mit ihnen in der Alltagswelt (und de facto auch im wissenschaftlichen Alltagsgeschäft) um, ohne uns jeweils terminologisch abzusichern und über Definitionen zu verständigen. 26 Auch ein vages Konzept von „Geschichte“ leistet also einen Verständigungsbeitrag, solange es vage gehalten wird. In der Beschäftigung mit biblischen Texten ist es jedoch schon deswegen sinnvoll, diesen Bereich vager Kommunikation vorübergehend und probeweise zu verlassen, um unsere Vor-Urteile offenzulegen und so zur Rechenschaft über die pluralen Vorverständnisse beizutragen. Entsprechende Vorverständnisse werden bereits bei der zentralen Figur christlichen Glaubens wirksam. Es gibt wohl kaum ernstzunehmende Wissenschaftler, die bestreiten würden, dass eine Person gelebt hat, der der Name Jesus beigelegt wurde und mit deren Tod eine machtvolle Wirkungsgeschichte verbunden ist. Ob diese mageren Tatsachen „Jesus von Nazareth“ deswegen im engeren Sinne zu einer „historischen Persönlichkeit“ machen, darüber kann gestritten werden. Was genau und wie viel über diese Person verlässlich ausgesagt werden kann, ist strittig. Weder hat er eigene Schriften hinterlassen noch gibt es Quellen über ihn, die seiner Lebenszeit zugeordnet werden können. 27 25 So ist die Anregung Zwengers vielleicht naheliegend: „Wir sollten [...] die Geschichte - von der wir keinen diskursiven Begriff haben - ähnlich wie die Philosophie mehr als ‚Kunst‘ denn als Wissenschaft aufbauen“ - Thomas Zwenger (2011), Wissenschaft auf Teufel komm raus, in: Erwägen - Wissen - Ethik 22 (4), S. 600-603, Abs. 25. 26 Auch in Fachsprachen lässt sich keine Eindeutigkeit herstellen: Vgl. Thorsten Roelcke (1999), Fachsprachen, Berlin, S. 66-69. 27 Unstrittig ist allerdings, dass alle Versuche, Jesus von Nazareth als historische Persönlichkeit zu rekonstruieren, mehr über die jeweiligen Autoren und ihre Zeit mitgeteilt haben als über die Zeitenwende: „Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreichs verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werke die Weihe zu geben, hat nie existiert. Sie [sic] ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde.“ Albert Schweitzer (1977), Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. 3. Aufl., 2 Bände, Gütersloh, S. 620. Schweitzers bereits 1906 erarbeitete Lösung, dass das „zeitlich bedingte [...] Vorstellungsmaterial [...] hinfällig“ werde, sobald sich der Wille Jesu als solcher in unsere Anschauungswelt <?page no="195"?> Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen 1 Problematisiert man diese Frage im Kontext von Seminaren, begegnet man neben einer gewissen wohlwollenden Gleichgültigkeit auch extremen Reaktionen. Da sind einerseits die Studierenden, die äußerst irritiert darüber sind, dass Jesus nicht „historisch“ sein sollte, und den Lehrenden, die die Frage formulieren, mit großem Argwohn begegnen. Andererseits trifft man auf Studierende, die es als fast abwegig erachten, überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass Jesus von Nazareth gelebt haben könnte. 28 An diese Situation lassen sich einige Überlegungen anschließen: a) Es ist sinnvoll, sich anhand von biblischen Texten über das eigene Vorverständnis von Geschichtlichkeit Rechenschaft abzulegen. Der Anspruch einer geschichtswissenschaftlichen oder historisch-kritischen Sicht besteht hier nicht darin, für letzte Gewissheit zu sorgen, sondern sie findet ihre Rolle „in der Kritik der alltäglichen individuellen oder gesellschaftlichen Selbstverständnisse dadurch, dass in der Geschichtswissenschaft erfolgreich Geschichtskonzeptionen mit alternativen Selbstverständnissen erprobt werden. Hierdurch werden sowohl verknappende Legitimationsversuche durch Sinndeutung wie problematische Exklusions- und Inklusionsstrategien Gegenstand der Debatten.“ 29 Gesellschaftliche Debatten sind voll von „verknappende[n] Legitimationsversuche[n] durch Sinndeutung“, die europäische Geschichte kennt „problematische Exklusions- und Inklusionsstrategien“ - nicht nur solche, die sich auf biblische Texte berufen. Studierende der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften können anhand von biblischen Texten exemplarisch historische Diskursfähigkeit einüben und lernen damit en passant auch, die oft subtile geschichtliche Legitimierung der eigenen Fachdisziplinen zu befragen. b) Anhand der vorauszusetzenden Wirksamkeit von Vergangenheit stellt sich die allgemeine Frage der Konstruktion von „Prozessen“ und „Zusammenhängen“ (z.B.: Wie hängt die Gestaltung unseres Glaubenslebens mit dem „irdischen Jesus“ zusammen? ). Viel von der Verständigung über das, was im Alltagsleben als Kausalität oder Zufall wahrgenommen werden kann, unterliegt ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie die Verständigung über Geschichte. Die Frage, wie in biblischen Texten Geschichte konstruiert wird, übersetzt“ (ebd., 628), offenbart seine Zeitbedingtheit ebenso wie die von ihm zuvor dargestellten Versuche der Jesusinterpretation „von Reimarus zu Wrede“. 28 An dieser Stelle sei auf die (etwas) gelehrtere Version dieses Vorurteils verwiesen, wie sie von Francesco Carotta formuliert wurde, der behauptet, „das Evangelium entlarvt sich als die Geschichte des römischen Bürgerkriegs, als ‹Verzählung› der Historiae des Asinius Pollio“ (http: / / www.carotta.de/ dindex.html [13.07.2013]). Vgl. Francesco Carotta (1999), War Jesus Caesar? 2000 Jahre Anbetung einer Kopie, München; ders. (2012), War Jesus Caesar? Artikel und Vorträge. Eine Suche nach dem römischen Ursprung des Christentums, Kiel. 29 Robert Schnepf (2011), Existentialanalytische, anthropologische oder wissenschaftstheoretische Grundlegung einer Theorie der Geschichtswissenschaft? , in: Erwägen - Wissen - Ethik 22 (4), S. 579-582, Abs. 14. <?page no="196"?> Desmond Bell 1 hat auch etwas damit zu tun, wie Menschen allgemein „Prozesse“ und „Zusammenhänge“ herstellen. Dieses Wissen kann in Sozialen Berufen für die Reflexion jedweder Begegnung mit anderen Menschen im Kontext von Beratung und Begleitung hilfreich sein. Eine kritische Sensibilität gegenüber einlinigen, oberflächlichen, simplifizierenden Konstruktionen von Zusammenhängen gehört zur Professionalität von Sozialen Berufen. Auch hier gilt es, kritisch nach Legitimationsversuchen zu fragen und alternative Selbstverständnisse zu erproben. c) Das Motiv, sich auf Geschichte zu beziehen, hat etwas mit Subjektivität, Emotionalität und Positionalität zu tun. Die Beschäftigung mit der Geschichtlichkeit biblischer Texte bietet eine unschätzbare Gelegenheit, den enttäuschenden Abschied von der vermeintlichen Möglichkeit wissenschaftlicher „Objektivität“ so zu gestalten, dass er nicht in Resignation gegenüber wissenschaftlichen Methoden umschlägt, sondern die (methodisch reflektierte) Subjektivität als konstitutiven Bestandteil jedweden konstruktiven wissenschaftlichen Denkens zu erkennen lehrt. Gegenüber Verfechtern der Objektivität empirischer Wissenschaften lohnt hier vielleicht ein Exkurs in andere Wissenschaften, die es ebenso wenig vermögen, Begriffen wie - willkürlich herausgenommen - „Europa“, „Burn-Out-Syndrom“ oder „Zeit“ eindeutige und allgemein akzeptierte Definitionen zuzuweisen. Selbst die vermeintlich exakten Naturwissenschaften kommen in Bezug auf ihre Grundlagen an entsprechende Grenzen und müssen die Rolle des beobachtenden Subjekts und die Auswirkung seiner Beobachtungen methodisch reflektieren. 30 5 Am Ende die besseren Fragen stellen Selbstverständlich soll am Ende dieses Beitrags der zu Beginn zitierte ursprüngliche Anspruch und damit das Kerngeschäft der Exegese nicht aus dem Blick verloren werden: „Ein Bibeltext kann viel besser verstanden werden, wenn die politischen, religiösen und sozialen Verhältnisse bekannt 30 So sei z.B. an die (subjektiv) unterschiedlichen Interpretationen der „Kopenhagener Deutung“ der Quantenphysik erinnert, die jeweils von unterschiedlichen Annahmen ausgehen, um die mit der Quantenphysik verbundenen Paradoxien zu vermeiden. „Die Kopenhagener Deutung wird oft, sowohl von einigen ihrer Anhänger wie von einigen ihrer Gegner, dahingehend missdeutet, als behaupte sie, was nicht beobachtet werden kann, das existiere nicht. Diese Darstellung ist logisch ungenau. Die Kopenhagener Auffassung verwendet nur die schwächere Aussage: ‚Was beobachtet worden ist, existiert gewiss; bezüglich dessen, was nicht beobachtet worden ist, haben wir jedoch die Freiheit, Annahmen über dessen Existenz oder Nichtexistenz einzuführen.‘ Von dieser Freiheit macht sie dann denjenigen Gebrauch, der nötig ist, um Paradoxien zu vermeiden.“ - Carl Friedrich von Weizsäcker (1971), Die Einheit der Natur. Studien, München, S. 226. <?page no="197"?> Geschichtlichkeit in biblischen Texten wahrnehmen 1 sind, in denen der Autor steht, auf die er in seinem Text anspielt und die er bei seinen Lesern voraussetzt.“ 31 Darüber hinaus ist aber auch festzuhalten: Wer anhand von biblischen Texten lernt, historisch zu denken, erwirbt wissenschaftliche Schlüsselkompetenzen: Er lernt, erzählte Zeit und Erzählzeit zu unterscheiden, Zusammenhänge zu rekonstruieren, Entwicklungen zu entdecken, historischen Abstand zu würdigen, Fremdheit wahrzunehmen, voreilige Beheimatungen preiszugeben. Das mag auf den ersten Blick unbequem sein und gegenüber dem Vorverständnis biblischer Texte seltsam unpraktisch wirken, hat aber den Vorteil, dass es auf eine Welt vorbereitet, in der in allen Fragen unterschiedliche Interpretationen auf dem Spiel stehen und argumentativkonfessorisch voreinander behauptet werden müssen. Wer hier die besseren Fragen stellen kann, hat (an Erfahrung) gewonnen. Auswahlbibliographie Baberowski, Jörg (2005): Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München. Backhaus, Knut; Häfner, Gerd (2007): Zwischen Konstruktion und Kontrolle: Exegese als historische Gratwanderung. In: Knut Backhaus; Gerd Häfner (Hg.): Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese. (Biblisch-theologische Studien, 86) Neukirchen-Vluyn, S. 131-136. Goertz, Hans-Jürgen (2001): Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. (Universal-Bibliothek, 17035) Stuttgart. Häfner, Gerd (2007): Konstruktion und Referenz: Impulse aus der neueren geschichtstheoretischen Diskussion. In: Knut Backhaus; Gerd Häfner (Hg.): Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese. (Biblisch-theologische Studien, 86) Neukirchen-Vluyn, S. 67-96. Rüsen, Jörn (2011): Historik. Umriss einer Theorie der Geschichtswissenschaft. In: Erwägen - Wissen - Ethik 22 (4), S. 477-490. Schröter, Jens (2003): Neutestamentliche Wissenschaft jenseits des Historismus. Neuere Entwicklungen in der Geschichtstheorie und ihre Bedeutung für die Exegese urchristlicher Schriften. In: Theologische Literaturzeitung: Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft 128, S. 855-866. 31 Egger; Wick, Methodenlehre, S. 271. <?page no="199"?> 4 KONKRETIONEN <?page no="201"?> Bernhard Mutschler Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese - Hermeneutische Erkundungen anlässlich einer neu entwickelten Lehrveranstaltung Abstract: An einigen biblischen Texten wird man nicht gesund, sondern stößt sich viel eher wund. Sie bedürfen einer genauen literarischen, historischen und theologischen Betrachtung mit einer reflektierten und zeitgemäßen Auslegungsmethodik und Hermeneutik. Auch biblische Texte aus sehr alter Zeit sind nicht um ihretwillen geschaffen, sondern um des Menschen willen (vgl. Mk 2,27). Mit Hilfe historisch-kritisch und systematisch-theologisch kontrollierter Auslegung ist eine zeitgemäße, diversitätssensible Bibelexegese möglich. „Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt.“ (1Kor 13,11 1 ) Theologisch Dissonantes weist häufig auf einen Überschuss an bisher unentdeckter, nicht respektierter und nicht reflektierter Diversität hin. Eine diversitätssensible Bibelauslegung kann dazu beitragen, Diversitäten des Menschseins wahrzunehmen, zu erkunden, theologisch zu reflektieren und für Praxisfelder der Sozialen Arbeit, Pädagogik und Diakonie fruchtbar zu machen. So etwa könnte man ein Ergebnis eines längeren Lehrentwicklungsprozesses im Bereich Biblischer Theologie an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg stark abgekürzt zusammenfassen. Aus dem vielfältigen, oft sehr geschäftigen Lehrbetrieb an Hochschulen kann nicht oft von der Neuentwicklung einer Lehrveranstaltung berichtet werden. In den vergangenen fünf Jahren fand unter tätiger Mithilfe vieler Kolleginnen und Kollegen sowie reicher Beratung durch Studierende 2 ein Lehrentwicklungsprozess statt, der von der Feststellung eines Bedarfs über erste Versuche bis hin zur festen Verankerung in einem Studiengangscurri- 1 Übersetzung nach der Zürcher Bibel (2007), Zürich; so auch im Folgenden. Der Artikel ist Prof. Gerhard Hess in Ludwigsburg als Zeichen meines vielfachen Dankes gewidmet. 2 Ihnen sowie Kolleginnen und Kollegen sei an dieser Stelle herzlich gedankt! <?page no="202"?> Bernhard Mutschler 184 culum führte. Es handelte sich insofern um ein Lehrexperiment, als geisteswissenschaftliche Lehrveranstaltungen sonst in aller Regel deduktiv, z.B. als Folge oder Ableitung aus Kompetenzzielen, initiiert und entwickelt werden und wohl nur selten induktiv aus den Rückmeldungen von Studierenden, wie es im vorliegenden Fall gewesen ist. Dies rechtfertigt, dass im Folgenden (besonders in den Abschnitten 1 und 2) im Stil eines Werkstattberichts von der Entwicklung und Neuetablierung einer biblisch-theologischen Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Akzent erzählt wird. Darin schwingt auch persönliche Erfahrung mit, so dass ein subjektiver Anteil erkennbar ist. Ob das Ergebnis auf andere Hochschulen übertragbar oder auch nur für sich respektabel ist, kann natürlich bezweifelt werden. Dass aber der Entwicklungsprozess ausgehend von den Bedürfnissen der Studierenden nicht nur übertragbar, sondern für alle Beteiligten ein sehr lohnender Weg ist, ist allen zu einer festen hochschuldidaktischen Überzeugung geworden. Dieser Weg wird im Folgenden von den ersten Anfängen bis zum Plädoyer für eine diversitätssensible Exegese, Hermeneutik und Theologie in vier Schritten entfaltet. Zuerst wird die (1) Wahrnehmung eines zusätzlichen Bedarfs an biblischtheologischer Reflexion beschrieben. Anschließend wird die Konzeption einer (2) biblisch-theologischen Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Schwerpunkt geschildert. Ihr Hauptgedanke ist, dass (3) Stolpersteine des Glaubens mittels einer gemeinsamen Bibelauslegung als Wahrnehmungs-, Bildungs- und Gestaltungsräume für Diversität interpretiert und entdeckt werden können. Von da aus können dann auch (4) heutige Stolpersätze und ihr Verhältnis zur Diversität des Menschseins bedacht und theologisch bewertet werden. Abschließend resümiert eine (5) Zusammenfassung die wichtigsten Gedanken. 1 Wahrnehmung eines zusätzlichen Bedarfs an biblischtheologischer Reflexion Im Folgenden wird zunächst (1) das Auftreten von Irritationen trotz eines wohlgeordneten Lehrumfelds beschrieben, das an einigen Schnittstellen zwischen nichttheologischen Fachwissenschaften und biblischer Theologie zu beobachten war. Eine erste Reaktion darauf wurde durch (2) einen Semesterschwerpunkt, der ein sensibles Thema für einige Zeit in den Mittelpunkt stellte, quasi als Versuchsballon erprobt. 1.1 Irritationen innerhalb eines wohlgeordneten Umfelds Neuaufbrüche werden oft weniger gesucht als vielmehr gefunden und gewagt. Dies gilt auch im Bereich der biblisch-theologischen Hochschullehre. Beim Wechsel von einer traditionellen Universität an eine Hochschule für <?page no="203"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 185 Angewandte Wissenschaften ist eine erhebliche Umstellung in der biblischtheologischen Lehre erforderlich. 3 Bereits der Umstand, dass die so genannten „alten Sprachen“ Hebräisch, Griechisch und Latein im Bewusstsein der Studierenden einen ganz anderen Stellenwert einnehmen, hat vielfältige Konsequenzen in der Exegese. Anfangssemester bringen dadurch nicht nur für Studierende, sondern auch für Dozierende ungewohnte Erfahrungen, kontinuierliche Entdeckungen und ein immer neues Ausloten von Erwartungen, Herausforderungen und Möglichkeiten mit sich, die miteinander zu kongruieren sind. Es ist daher hilfreich, wenn Stellenwert und Funktion der verschiedenen Fachwissenschaften für die einzelnen Studiengänge gut durchdacht sind, Studien- und Prüfungsordnungen laufend aktualisiert und gut gepflegt sind sowie curriculare Entscheidungen transparent sind und offen kommuniziert werden. Liegt all dies vor, dann ist der Boden für ein fruchtbares Wirken an einer Hochschule bereitet. Umso größer waren die Überraschung und zugleich eine gewisse Irritation, als sich vereinzelt sowohl in Seminardiskussionen und Einzelgesprächen mit Studierenden als auch durch Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen (überwiegend Nichttheologen) allmählich ein zusätzlicher Bedarf zeigte, der anfangs schwer zu fassen war. Irritationen können produktiv sein. Es gilt deshalb, entsprechende Hinweise zu sammeln. So war beispielsweise von „missionarischem Übereifer“ einzelner Studierender die Rede, von Überzeugungsdruck der Studierenden auf Mitstudierende, vereinzelt auch von Intoleranz gegenüber Mitstudierenden außerhalb des Lehrbetriebs oder vom „Abtauchen“ ausgesprochen religiös geprägter und motivierter Studierender in manchen Seminardiskussionen und bei bestimmten sensiblen Themen. Nach einem Einzelfall, der von einem bewusst theologisch mitdenkenden Kollegen des Bereichs Soziale Arbeit ausführlich geschildert worden war, war der offenbar zusätzliche Bedarf an theologischer Reflexion nicht mehr zu übersehen. 4 3 Einzelheiten dazu bei Bernhard Mutschler (2013), Jesus als Lehrer der Gerechtigkeit, Überlegungen zu Gestaltungen des Galiläers in der diakonischen, sozialen und pädagogischen Hochschullehre, in: Petra von Gemünden; David G. Horrell; Max Küchler (Hg.), Jesus - Gestalt und Gestaltungen, Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (FS G. Theißen), (NTOA/ StUNT, 100) Göttingen/ Bristol (CT), S. 651-672; 654-657. 4 Eine Kieler Erhebung zu Diskriminierungserfahrungen unter Studierenden im Jahr 2010 kommt zu folgender Einschätzung bezüglich der Relevanz: „ethnische“ Herkunft 16%, soziale Herkunft 13,3%, chronische Krankheit/ Behinderung 11,9%, politische Orientierung 11,6%, Religion 11,3%, sexuelle Orientierung 10,1%, Alter 9%, Geschlecht 8,6%, Elternschaft 8,2%, vgl. Uta Klein; Fabian A. Rebitzer (2012), Diskriminierungserfahrungen von Studierenden. Ergebnisse einer Erhebung, in: Daniela Heitzmann; Uta Klein (Hg.), Diversity konkret gemacht, Wege zur Gestaltung von Vielfalt an Hochschulen, (Diversity und Hochschule) Weinheim/ Basel, S. 118-136; 126. <?page no="204"?> Bernhard Mutschler 186 1.2 Ein Semesterschwerpunkt als Versuchsballon Als nächstes fand ein Gespräch unter den fachtheologischen Kolleginnen und Kollegen statt, um Wahrnehmungen zu sammeln und sich über eine mögliche Bewertung auszutauschen. Eine erste Stichwortliste mit Themen und „Brennpunkten“ entstand. Für ein folgendes Semester wurde in den zuständigen Gremien ein exemplarisches Thema aus dieser Liste als Semesterschwerpunkt vereinbart: „Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft“. Bei der Wahl dieses Themas spielte der 200. Geburtstag von Charles Darwin am 12.02.2009 eine Rolle. 5 Ein ohnehin aktuelles Thema, so die Überlegung, sei mit Studierenden leichter aufzugreifen. Synergien könnten dadurch besser genutzt werden. Dieses Thema wurde nicht nur durch separate Hochschulveranstaltungen auf verschiedenen Ebenen bearbeitet, sondern auch bewusst an einigen naheliegenden Stellen in das normale Lehrprogramm eingespielt, so dass alle Studierende der meisten Studiengänge erreicht werden konnten. Darüber hinaus wurde denjenigen Stellen des Kerncurriculums, die sich mit den bislang als besonders sensibel wahrgenommenen biblischtheologischen Inhalten mit sozialwissenschaftlicher oder ethischer Relevanz befassten, besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt sowie eine erhöhte Wahrnehmung der Diskussionsprozesse zuteil. Aus der fortlaufenden Bearbeitung des exemplarisch gewählten Semesterthemas wurden weitere Erfahrungen und Beobachtungen gesammelt, die kontinuierlich im informellen Austausch zwischen Interessierten thematisiert und ausgewertet wurden. Studierende aus älteren Semestern spiegelten nicht nur einmal aus Seminardiskussionen zurück, dass „man es regelrecht knistern hörte“. Abschließend wurden die im Zusammenhang mit dem Semesterschwerpunkt gemachten Erfahrungen in den zuständigen Gremien erörtert und auf mögliche Verbindungen mit dem bestehenden Lehrprogramm hin systematisch durchdacht. Wie in den vorausgehenden Überlegungen und Planungen spielte dabei wieder die studentische Beteiligung eine wichtige Rolle. Als wesentliches Ergebnis wurde die Richtung vorgegeben, nach Möglichkeit eine biblisch-theologische Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Schwerpunkt zu entwickeln und versuchsweise im Lehrprogramm anzubieten. 6 Dass theolo- 5 S. z.B. www.charles-darwin-jahr.at (30.12.2012); www.amazon.de/ Das-Beste-zum- Darwin-Jahr/ lm/ RL5O4TNTDYO3U (30.12.2012). 6 Hermeneutik wird mit Gerd Theißen (1995), Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt, Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: Joachim Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 8) Gütersloh, S. 127-140, 133f., „als Theorie der Exegese“ verstanden; zur Sache s. ausführlich Emil Angehrn et al. (2009), Art. Hermeneutik, in: Oda Wischmeyer in Verbindung mit Emil Angehrn u.v.a (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe - Methoden - Theorien - Konzepte, Berlin, S. 245-255; 132f., sowie knapp Paul-Gerhard Müller (1985), Art. Hermeneutik, in: Lexikon exegetischer Fachbegriffe, (Biblische Basis Bücher, 1) Stuttgart/ Kevelaer, S. 132f. <?page no="205"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 187 gische Problemgebiete von einer gemeinsamen, hermeneutisch reflektierten Bibelauslegung her günstig zu bearbeiten wären, war nicht nur eine allgemein geteilte Überzeugung, sondern entspricht auch einem schriftorientierten evangelischen Zugang, spezifisch evangelischer Tradition und Erfahrung. Aus der Perspektive von Studierenden legt sich ebenfalls ein Zugang über Bibelwissenschaft und Bibelauslegung nahe. Denn Studierende, die ihre Bibel hoch schätzen und ihr eine hohe Autorität zuerkennen (was auch an den teilweise liebevoll und kunstvoll verzierten persönlichen Bibelausgaben ablesbar ist), sind gegenüber einem Ansatz bei der Exegese als der theologischen Basiswissenschaft sehr aufgeschlossen. 2 Konzipierung einer biblisch-theologischen Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Schwerpunkt Als Schritte auf dem Weg zur Entwicklung einer biblisch-theologischen Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Schwerpunkt werden zunächst (1) Kriterien für relevante Themen benannt, ehe der Prozess eines gezielten (2) Aufbaus eines Themenpools dargestellt wird. Auf die Umsetzung der einsemestrigen Lehrveranstaltung (3) im allerersten Durchlauf als „Biblische Lektüre“ wird ihre weitere Entwicklung bis zur (4) Übernahme der „Stolpersteine“ in das Kerncurriculum des Studiengangs Diakoniewissenschaft/ Soziale Arbeit beschrieben. 2.1 Kriterien für relevante Themen Dass der Semesterschwerpunkt „Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft“ von den Studierenden mit hohem Interesse und hoher Beteiligung aufgenommen worden war (was sicherlich auch am „Darwin-Jahr“ 2009 lag), bestätigte das Vorliegen eines zusätzlichen Bedarfs an biblisch-theologischhermeneutischer Reflexion. Auf diesen positiven Erfahrungen konnte aufgebaut und daran weitergearbeitet werden. Der nächste Schritt bestand darin, weitere relevante Themen für eine einsemestrige biblisch-theologische Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Schwerpunkt zu finden. Als „relevant“ sollte ein Thema betrachtet werden, (1) das in den künftigen Berufsfeldern der Studierenden liegt, also in den Bereichen Pädagogik, gesellschaftliche Entwicklung (Gemeinwesen), Kirche, Soziale Arbeit oder diakonisches Handeln, (2) das bereits jetzt im Studium als besonders schwierig oder problembeladen betrachtet wird und (3) das über einen wesentlichen theologischen Anteil verfügt, d.h. ein wesentlicher Teil der Problematik hängt mit einer als „geistlich“ empfundenen oder als „theologisch“ eingestuften Kontextualisierung zusammen oder wird durch diese (mit) verursacht. <?page no="206"?> Bernhard Mutschler 188 2.2 Aufbau eines Themenpools Die Suche nach solchen „heißen Eisen“ wurde auf drei Wegen vorangetrieben: Einerseits lief sie über mehrere Wochen hinweg im Hintergrund von Veranstaltungen derjenigen Dozierenden mit, die ein virulentes Interesse daran hatten; dies betraf nicht nur theologische, sondern auch pädagogische, diakonische und sozialarbeiterisch ausgerichtete Lehrveranstaltungen. Andererseits wurden die Studierenden gezielt in allen biblisch-theologischen Veranstaltungen unter den Überschriften „Verbesserung des Lehrangebots“ und „studentische Interessen bei einer künftigen Lehrentwicklung“ darum gebeten. In der Folge konnten mögliche Themen sowohl innerhalb von Seminaren als auch im kleinen Dialog abseits der Seminare vorgeschlagen werden. Insbesondere examensnahe Semester in kleinen Seminargruppen zeigten ein starkes und teilweise sehr persönlich motiviertes Interesse an der Weiterentwicklung „ihrer“ Hochschule und „ihres“ Studiengangs. Als drittes wurden schließlich alle hauptamtlich Lehrenden schriftlich um Vorschläge und Hinweise gebeten, an welchen Stellen es aus ihrer Perspektive im Zusammenhang mit theologischen Themen „knirscht“. Im Ergebnis kam auf diese Weise eine stattliche Liste mit einer Vielzahl an kleinen und großen Themen zustande, die für die Konzipierung einer biblisch-theologischen Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Schwerpunkt vorgeschlagen waren. Dazu gehörten Themen wie fremd sein, schuldig sein, Heiliger Krieg, Frau und Mann, sexuelle Orientierung, Frömmigkeit und Toleranz, Taufe, Buße und Umkehr sowie Weltgericht. Die irritierenden Bibeltexte zu diesen Themen - man könnte sie Stolpertexte nennen - sind recht zahlreich. 2.3 Ein erster Durchlauf als „Biblische Lektüre“ Mit einem gut gefüllten Themenpool konnte eine erste und zugleich frühestmögliche Umsetzung in der Lehre gewagt werden. Dafür legte sich eine Verknüpfung mit einer bereits längerfristig angekündigten Lehrveranstaltung nahe, die nicht zum Kerncurriculum, sondern zum Wahlbereich gehörte und für Studierende aller Semester und aller Studiengänge offen war. Es handelte sich um das Zusatzangebot einer „Biblischen Lektüre“. Bewusst war bei der Ankündigung eine Festlegung der konkreten Lektüreauswahl vermieden worden, damit die Interessen der Teilnehmenden weitestgehend berücksichtigt werden konnten. Im Ankündigungstext blieb offen, ob „ein biblisches Buch als Ganzes“ oder „einzelne Texte des Alten oder Neuen Testaments ausgewählt und gelesen werden“ sollten. Offen blieb auch die genaue Ausrichtung dieser Übung: ob Exegese, diakonische Ausrichtung oder persönliche spirituelle Praxis im Zentrum der Übung stehen sollten. Mit dieser Offenheit war die „Biblische Lektüre“ für einen ersten Lehrversuch im Bereich biblisch-theologisch-hermeneutischer Reflexion sehr gut <?page no="207"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 189 geeignet. Die Offenheit der Ankündigung implizierte allerdings, dass die Studierenden nicht mit einem fertigen Semesterprogramm überrascht wurden, sondern in der ersten Sitzung tatsächlich eine echte Wahl hatten zwischen der Lektüre eines Buches als Ganzes, 7 Einzeltexten zu einem theologischen Oberthema 8 oder „Stolpertexten“ (Problemtexten) zu selbst gewählten theologischen, ethischen, sozialen oder hermeneutischen Themen. Dass sich die etwa zwanzig Studierenden nach kurzer Beratung einhellig für diese dritte Möglichkeit entschieden, bestätigte indirekt einen Bedarf an zusätzlicher biblisch-theologisch-hermeneutischer Reflexion. In einem Brainstorming wurden sodann sensible Texte und Themen gesammelt; sie wiesen einige Berührungen mit dem bereits vorhandenen Themenpool auf. Damit die Interessen der Studierenden auch wirklich in die Semestergestaltung einfließen konnten, wurde erst für die zweite Sitzung ein vorläufiger Arbeitsplan in Aussicht gestellt, der in der folgenden Sitzung auch angenommen und vereinbart wurde. Aus didaktischen Gründen beschränkte sich jede Sitzung auf ein einziges biblisch-theologisches Thema, das als problembeladen empfunden wurde. Ähnlich wie die Inhalte wurde auch die Arbeitsweise der Übung gemeinsam mit den Studierenden festgelegt und allmählich weiter entwickelt. In diesem ersten Durchgang der Lehrveranstaltung, die den einfachen Titel „Biblische Lektüre“ trug, dienten Handouts als Basis für die einzelnen Sitzungen. Dabei hatten die Studierenden jeweils die Möglichkeit, bis zwei Tage vor der nächsten Sitzung 9 ihre biblischen Textvorschläge per Mail an die Sitzungsleitung zu übermitteln, so dass diese Vorschläge Eingang in das Handout für die nächste Sitzung finden konnten. Außerdem wurden die Studierenden jeweils am Ende einer Sitzung um Nachträge, Eindrücke, weitere Kommentare zur vergangenen Sitzung, sei es per Mail, sei es mündlich am Beginn der nächsten Sitzung, gebeten. Diesen Ergänzungen wurde zu Beginn der folgenden Sitzungen jeweils kurz Raum gegeben. Die Handouts zu den einzelnen Sitzungsthemen enthielten jeweils biblische Textvorschläge (Kern- oder Problemtexte), gelegentlich ergänzt durch systematischtheologische Grundinformationen oder entsprechende Stichworte sowie ganz wenige kirchengeschichtliche Grundtexte, die von der Sache her sehr naheliegend waren. Für das weitere, vertiefte Selbststudium der Studierenden wurden geeignete Literaturhinweise zum jeweiligen Thema gesammelt. Eine induktive, Anregungen und Rückmeldungen der Studierenden stets einbeziehende Arbeitsweise wurde im Folgenden beibehalten. Schließlich sind sie diejenigen, denen die Veranstaltung den größten Nutzen bringen sollte. Auch aus pädagogischen Gründen sind sie als Mitautoren ihres Semi- 7 Z.B. ein kürzeres alttestamentliches Buch, ein Evangelium, ein Paulusbrief. 8 Z.B. Gott, Jesus Christus, Heiliger Geist, Israel, Kirche. 9 D.h. Montagabend; die Veranstaltung fand am Mittwochvormittag statt (Sommersemester 2010). <?page no="208"?> Bernhard Mutschler 190 nars zu betrachten. Denn selbstbestimmtes Lernen erhöht die Motivation, das persönliche Engagement und somit den Lernerfolg jedes Einzelnen, aber auch die Prozess- und Ergebnisqualität der gesamten Gruppe. 2.4 Übernahme als „Stolpersteine“ in das Kerncurriculum Insgesamt ermutigende Erfahrungen und eine äußerst freundliche Evaluierung durch Studierende am Ende des Semesters führten mit dazu, dass die zuständigen Gremien in der Folge empfahlen, die neu entwickelte Lehrveranstaltung künftig im Jahresrhythmus in Form eines Seminars anzubieten. Dabei wurde der Name übergangsweise präzisiert zu „Grundfragen des christlichen Selbstverständnisses, der Ethik und der Theologie - dargestellt und gemeinsam bedacht anhand von Stolpersteinen der Bibelauslegung (Biblische Lektüre)“. Im Jahr darauf wurde diese unentschlossen wirkende und allzu umständliche Bezeichnung schließlich vereinfacht zu „Stolpersteine - Kontroverse Grundfragen des christlichen Selbstverständnisses aus biblischer Perspektive“. Der in der Pädagogik vielfältig gebrauchte Begriff „Stolpersteine“ bezeichnet auf sehr anschauliche Weise jedwede Art von Anstößigkeiten als „Steine des Anstoßes“. Entweder nimmt man sie in den Blick, ehe man darüber stolpert, oder man beachtet sie, nachdem jemand bereits gestolpert ist. In beiden Fällen ziehen sie Aufmerksamkeit auf sich. In jüngster Zeit wurde der Begriff „Stolpersteine“ besonders bekannt gemacht durch die von dem Künstler und Kunstpädagogen Gunter Demnig (geb. 1947) initiierte Idee, kleine Gedenkplatten mit den Namen ehemaliger jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die durch nationalsozialistische Gewalt vertrieben, deportiert oder getötet wurden, am Boden vor ihrer letzten frei gewählten Wohnung zu verlegen. Etwa 40000 Stolpersteine wurden innerhalb der ersten zwanzig Jahre (1995-2014) europaweit als dezentrale Mahnmale verlegt. 10 Aufgrund ihrer Messingoberfläche ziehen sie beim Vorübergehen Aufmerksamkeit auf sich. Analog dazu knüpft eine Lehrveranstaltung, die in jeder Sitzung ein gesellschaftlich, sozial, diakonisch oder pädagogisch relevantes theologisches Problemfeld erkundet (ein „heißes Eisen“ anrührt), sachgemäß am Begriff Stolpersteine an. Die Erweiterung als Stolpersteine des Glaubens signalisiert die fachliche Zugehörigkeit dieses Gebrauchs des Wortes Stolperstein. Während Stolperstein ein Themenfeld bezeichnet, steht der Begriff Stolpertext für einen in gegenwärtiger gesellschaftlicher, sozialer, diakonischer oder pädagogischer Hinsicht höchst problematischen Bibeltext. Als Stolpersätze schließlich werden theologisch problematische Sätze aus der Gegenwart bezeichnet. Ihre gesellschaftliche, soziale, diakonische oder pädagogische Relevanz wird häufig durch Rekurs auf Bibeltexte - in nicht 10 Vgl. www.de.wikipedia.org/ wiki/ Stolpersteine (25.05.2013). <?page no="209"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 191 wenigen Fällen Stolpertexte - begründet. Wann, wie, für welchen Studiengang und an welcher Stelle wurde das Stolpersteine-Seminar in das Kerncurriculum eingefügt? Da es in verschiedener Hinsicht als wünschenswert erschien, alle Studierenden eines Studiengangs (anstatt nur besonders Engagierte) am Ende der Eingangsphase ihres Bachelorstudiums mit dieser intensiven Form biblischtheologisch-hermeneutischen Nachdenkens zu befassen, wurde dem Seminar anlässlich eines Reakkreditierungsantrags ein Platz innerhalb des Moduls „Biblische Theologie und exegetische Kompetenz“ zugewiesen. Dieses Modul beinhaltet als weitere Veranstaltungen eine „Einführung in theologische und sozialethische Traditionen der Bibel II: Neues Testament“ sowie eine „Einführung in die exegetischen Methoden“. Seit dem Wintersemester 2013/ 14 gehören die „Stolpersteine“ daher zum Kerncurriculum des Studiengangs Diakoniewissenschaft/ Soziale Arbeit am Ende der Studieneingangsphase (zweites Semester). Welche im Blick auf diakonische, soziale und gesellschaftliche, kirchliche und pädagogische Handlungsfelder sinnvollen Bildungsprozesse können in dieser Veranstaltung eröffnet werden? Im Folgenden wird dies anhand des Themas Diversität aufgezeigt. 11 3 Stolpersteine des Glaubens als Wahrnehmungs-, Bildungs- und Gestaltungsräume für Diversität Das Seminar „Stolpersteine - Kontroverse Grundfragen des christlichen Selbstverständnisses aus biblischer Perspektive“ eröffnet eine Reihe von Denk- und Handlungsräumen, die (1) Diversität wahrnehmen lassen, (2) Bildungsprozesse zum Thema Diversität initiieren und dadurch allmählich (3) Handlungskompetenzen für die Mitgestaltung von Diversität wachsen und heranreifen lassen. Stark verkürzt kann hier ein Dreischritt aus (4) wahrnehmen - sich bilden - mitgestalten gesehen werden. 3.1 Wahrnehmungsräume für Diversität Viele religiös motivierte Studierende sozialer und pädagogischer Berufe sind am Beginn ihres Studiums (oft unausgesprochen) der Meinung, biblische Inhalte seien leicht verständlich. Die Bibel insgesamt wird von Studierenden z.B. als „einfach“, „klar“, „einheitlich“, „topaktuell“ und „irrtumslos“ be- 11 Die Voraussetzungen für Forschungen in diesem Bereich sind an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg sehr gut: Seit 2007 gibt es vor Ort das Institut für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen (IAD) mit Prof. Dr. Beate Aschenbrenner-Wellmann an der Spitze (s. auch ihren Beitrag in diesem Band, S. 101-128). Zum Begriff der Diversity s. einführend Albrecht Grözinger (2008), Homiletik, (Lehrbuch Praktische Theologie, 2) Gütersloh, S. 243-246. <?page no="210"?> Bernhard Mutschler 192 trachtet; sie offenbare einen „Plan für das eigene Leben“, der wiederum selbst „einfach“, „klar“ usw. sei. Zweifellos drückt sich in solchen und vergleichbaren Haltungen eine Hochschätzung der Bibel als „Heiliger Schrift“ aus. Zugleich zeigt sich jedoch eine (in vielen Fällen gänzlich unbewusste) Differenzierungsschwäche. Biblische Texte werden dann weiterhin unter einem aus Kinder- oder Jugendtagen vertrauten harmonistischen Vorzeichen gelesen, wie es in der Jugendarbeit, auf einer Bibelschule oder in jahrelanger Jungschar- und Kinderkirchsozialisation (nur in Ausnahmefällen im Elternhaus) kennen gelernt, eingeübt und übernommen wurde. Dass dieser bisherige Gruppenkonsens an einer Hochschule nicht geteilt und nicht gewissermaßen „mit höheren, wissenschaftlichen Weihen“ fortgesetzt wird, löst in den meisten Fällen eine Zeitlang Verunsicherung und Irritationen, mindestens aber Erstaunen, Zurückhaltung und eine zumindest anfängliche Skepsis gegenüber dem neu Gehörten aus. Um allmählich Abstand zum bisherigen, über mehrere Jahre eingeübten und vertrauten bibelhermeneutischen Paradigma zu gewinnen und es eines Tages vielleicht sogar ganz zu entlassen, sind regelmäßige Gespräche und Seminardiskussionen in ansprechender und vertrauensvoller Atmosphäre unerlässlich - als Wahrnehmungsräume für Diversität. Die Arbeit am eigenen Bibelauslegungsparadigma kann durch verschiedene Entdeckungen gefördert werden wie: Andere Studierende (oder der Dozent) arbeiten offenbar mit anderen Interpretationsansätzen, nicht alle Bibelstellen passen in das Raster des eigenen Paradigmas, bei genauerem Nachfragen kommt das eigene an seine Grenzen, bei schwierigeren Fragen oder kontroversen Problemen (theologischen „Problemzonen“, Stolpertexten) sind auch andere Deutungen möglich, Konsequenzen des eigenen Paradigmas werden als untragbar oder zumindest als unbefriedigend erkannt. Lust am Entdecken und Wahrnehmen befördern das bibelhermeneutische Nachdenken; vermeintlicher Zwang oder Widerwille dagegen ersticken es. Weitere förderliche Bedingungen sind ein geschützter Raum 12 , Begleitung durch einen erfahreneren Bibelausleger 13 und Möglichkeiten zum Austausch mit Mitstudierenden auch außerhalb des Seminars, z.B. bei gemeinsamen Mahlzeiten oder am Abend. Freude an der Vorläufigkeit, am Denken, an Sprache und Spiel sowie Mut zum ungeschützten Formulieren begünstigen ebenfalls ein eigenständiges bibelhermeneutisches Nachdenken. 12 Dies bezieht sich nicht nur auf den Seminar- oder Vorlesungsraum, sondern auch auf den Studien- und Lebensraum insgesamt. Wer nicht sofort Rechenschaft gegenüber der bisherigen religiösen Peer-Group geben muss, erfährt weniger Sozialkontrolle und genießt dadurch deutlich mehr Freiheit zum eigenständigen Denken und Ausprobieren. Ein von der bisherigen Umgebung getrennter Wohnort ist daher während eines theologischen Studiums sinnvoll. 13 Gegebenenfalls auch durch einen Hochschulseelsorger. <?page no="211"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 193 All dies trägt dazu bei, dass im Verlauf eines Semesters ein großer, mehrdimensionaler Wahrnehmungsraum für Diversität entstehen kann. Nicht weniger als fünf grundlegende Wahrnehmungsräume für Diversität sind mittels gemeinsamer Textauslegung zu kontroversen Grundfragen des christlichen Selbstverständnisses zu entdecken und sprachlich zu erschließen. Diese sind (1) Diversität der biblischen Quellen und Traditionen: Sie sind keineswegs „einheitlich“, sondern umfassen Zeugnisse verschiedener, größtenteils sonst unbekannter Autoren aus verschiedensten Regionen der Antike und rund einem Jahrtausend mit durchaus verschiedenen Inhalten, Absichten und Theologien. (2) Diversität der Möglichkeiten, Bibeltexte zu interpretieren: Die Ansätze zur Auslegung der Heiligen Schrift sind weder „einfach“ noch „klar“. Erst recht gibt es keinen Königsweg, der für alle Menschen, Zeiten und Anlässe gleich oder gleich geeignet wäre. Auch die wissenschaftliche Bibelauslegung kennt keinen festgelegten oder abgeschlossenen Kanon von Methoden, sondern gleicht eher einem bunten Strauß, der für Ergänzungen offen ist und aus dem (im Einzelfall begründet) verschieden ausgewählt werden muss. 14 (3) Diversität der Interpreten: Sie sind keineswegs „irrtumslos“, legen oft weder ihre Voraussetzungen noch ihr Vorverständnis, ihre Methodik oder ihr erkenntnisleitendes Interesse offen. Ihre Auslegung ist vielfach mit ihrer Identität, Person, Geschichte, Vorbildung, ihren Interessen, ihrem Standort usw. verknüpft. Allerdings ist dies meist nicht sichtbar und wenn überhaupt, dann nur bei sehr genauer Wahrnehmung und mit relevanten Zusatzinformationen. (4) Diversität zwischen Eigenem und Fremdem: Biblische Welten vor Jahrtausenden entsprechen nicht der eigenen von heute; der viel zitierte „garstige Graben der Geschichte“ 15 trennt sie voneinander. Insofern konfrontiert biblische Lektüre immer mit etwas Fremdem, das auch in sich unterschieden ist. Die Texte für sich sind weder „topaktuell“ noch offenbaren sie einen „Plan für das eigene Leben“. 14 Theissen, Methodenkonkurrenz, S. 137f plädiert für eine „polyvalente Exegese“ und spricht von einer „Pluralität von Exegesen“ bzw. von einer „Pluralität hermeneutischer Grundhaltungen: Glauben, Hoffnung, Liebe. Alle drei sind legitim und werden es bleiben. Die Liebe aber ist die größte unter ihnen.“ Methoden werden ebd., 130 bestimmt als „bewährte Dialogregeln über Texte, die Konsens ohne Zwang und Dissens ohne Feindschaft ermöglichen sollen“. 15 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing (1967), Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Lessings Werke Bd. 3: Schriften 2, Antiquarische Schriften, Theologische und philosophische Schriften eingeleitet von Karlmann Beyschlag, Frankfurt am Main, S. 307-312; 311, angesichts des Abstands zwischen „zufällige(n) Geschichtswahrheiten“ und „notwendigen Vernunftwahrheiten“: „Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe.“ Dazu ausführlich Gerd Theißen; Dagmar Winter (1997), Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, (NTOA, 34) Freiburg (Schweiz)/ Göttingen, S. 233-240 mit einer ernüchternden, aber zweifellos zutreffenden Einschätzung, ebd., 235: „Nach über 200 Jahren historisch-kritischer Forschung ist der Graben tiefer, länger und breiter geworden.“ <?page no="212"?> Bernhard Mutschler 194 Neben historischen, literarischen und hermeneutischen Wahrnehmungsräumen ist auch eigens die kulturelle, soziale und theologische Anthropologie in den Blick zu nehmen, d.h. die (5) Diversität des Menschseins: In der Bibel dargestellte Menschen sind weder „einheitlich“ noch „einfach“, „klar“, „irrtumslos“ oder immer „planmäßig“. 16 Ihre Diversität in allen Bereichen scheint vielmehr ins Unermessliche zu gehen. Biblische Texte bieten deshalb einen besonders geeigneten Wahrnehmungsraum für die Diversität des Menschen. Dabei ist das immense kulturelle Erfahrungswissen der Bibel durch ihre hohe Verbreitung annähernd allgemein verfügbar. Aufgabe der Bibelwissenschaft ist in diesem Kontext, zur Entdeckung von Wahrnehmungsräumen anzuleiten und diese offenzuhalten, Erschließungsmethoden weiterzuentwickeln und auszuwerten sowie relevante literarische, historische und theologische Basisinformationen zu sichten und in die verschiedensten Diskurse einzubringen. Die genannten fünf Wahrnehmungsräume für Diversität haben einen hohen Stellenwert. Denn die Art und Weise, Intensität und das Ergebnis ihrer Wahrnehmung bestimmen wesentlich den konkreten Gegenwartsbezug von Bibelauslegungen (Exegesen). Um die verschiedenen Wahrnehmungsräume für Diversität auch nur in Grundzügen zu erfassen und einordnen zu können, sind weite Bildungsräume erforderlich. Das Seminar zu den Stolpersteinen des Glaubens möchte diese Bildungsräume eröffnen, in sie einführen, ihren Wert erkennen helfen und damit Bildungsprozesse mit initiieren. 3.2 Bildungsräume für Diversität Liegt der Schwerpunkt von „Wahrnehmungsräumen“ beim Entdecken der verschiedenen Dimensionen von Diversität im Zusammenhang der Bibelauslegung, so werden unter der Perspektive „Bildungsräume“ die Dimensionen von Diversität inhaltlich, sprachlich, historisch, literarisch, systematisch und gegenwartsbezogen erkundet und aufgearbeitet. Bei dieser Aufgabe sind in hohem Maß eigenes Engagement und Interesse gefordert. Sie kann jedoch in einem zweistündigen Seminar nur stückweise geleistet werden und ist letztlich eine lebenslange Herausforderung und Aufgabe. Weitere Veranstaltungen, ausführliches Selbststudium und wiederum der Austausch mit Mitstudierenden auch außerhalb von Lehrveranstaltungen sind dafür förderlich. Der besondere Wert eines Seminars liegt in den Möglichkeiten zu 16 Detailstudien dazu bei Bernhard Mutschler (2013), Beziehungsreichtum, Bibelhermeneutische, sozialanthropologische und kulturgeschichtliche Erkundungen, Tübingen, passim; exemplarisch ebd., S. 82-90 (zur Beziehungsgeschichte von Isaak und Rebekka). <?page no="213"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 195 vernetzen, sich auszutauschen, nachzufragen, zu begleiten, Impulse zu setzen sowie in Chancen aufgrund der Heterogenität der Gruppe. Der mögliche Bildungs- und Erkenntnisgewinn in den fünf genannten Wahrnehmungsräumen ist immens. Denn grundlegende Einsichten in die Diversität der biblischen Quellen und Traditionen, in die Diversität der Möglichkeiten, Bibeltexte zu interpretieren, in die Diversität der Bibelausleger selbst, in die Diversität zwischen Eigenem und Fremdem und last but not least in die Diversität des Menschseins bilden das unverzichtbare Handwerkszeug für eine geistes- und sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit der christlichen Bibel und für professionelle Begegnungen und Interaktionen mit Menschen heute auf der Grundlage dieser religiösen Tradition. Das Sich-Aneignen dieser Bildungsräume kann deshalb geradezu als Schulung in Diversity-Kompetenz verstanden werden. Ein wesentlicher Katalysator für den hier beschriebenen Prozess der Selbstbildung ist die innere Bereitschaft 17 , dass überkommene, anerzogene Einstellungen und Perspektiven probeweise zurückgestellt werden und eröffnete Bildungswelten mutig und fleißig erkundet und erarbeitet werden. Die Entwicklung der eigenen Person geschieht stets mit einer Offenheit nach vorne; sie resultiert nicht automatisch aus der bisherigen Biographie und ist mehr als deren Verlängerung - wenn sie denn wirklich „Entwicklung“ (und nicht pure Prolongation) sein soll. In diesem Sinn kann das Stolpersteine-Seminar Selbstbildungsprozesse zum Thema Diversität initiieren und Bildungsräume für Diversität eröffnen. Diese Bildungsräume stellen eine tragfähige theologische Grundlage für den allmählichen Erwerb von Handlungskompetenzen in sozialen, diakonischen und pädagogischen Berufen dar. 3.3 Gestaltungsräume für Diversität Berufsfelder der Sozialen Arbeit, Pädagogik und Diakonie haben es wie nur wenige andere mit Menschen zu tun. Menschen sind auf Dauer „Andere“, ungeachtet dessen, ob sie einfach als Mensch oder eher in ihrer sozialen Rolle als Patienten, Klienten, Schülerinnen und Schüler, Gäste, Kunden usw. begegnen. Menschen sind stets voneinander verschieden. Ihre Verschiedenheit ist die Voraussetzung ihrer Einzigartigkeit. Diese wiederum ist Bestandteil ihrer Gottebenbildlichkeit und gehört zu ihrer menschlichen Würde. Trotz ihrer Verschiedenheit sind sie als gleichberechtigt (egalitär) und gleichwertig zu betrachten. Faire, ganze Teilhabe (Inklusion) und Chancengleichheit sind darum notwendige und wichtige gesellschaftliche Ziele. Wie kann die Balance aus Gleichheit und Verschiedenheit gehalten werden, ohne dass Diskriminierung entsteht? Wie passen Partizipation und Diversität 17 Im Umkehrfall handelt es sich um ein schier unüberwindliches Hemmnis. <?page no="214"?> Bernhard Mutschler 196 zusammen? Wie wird in sozialen, diakonischen und pädagogischen Berufen mit der Diversität von Menschen konkret umgegangen? 18 Der Umgang mit Diversität ist wie ein freier Raum, der zu gestalten ist. Wertvolle und gewichtige Anstöße, Grundsätze, Beispiele und Haltungen für diese Gestaltungsaufgabe verdanken sich dem Grundbuch des Christentums, der Bibel. Sie werden erzählt, geboten oder vorgelebt. Sowohl die Breite an guten und schlechten Möglichkeiten des Umgangs mit Diversität in der Bibel als auch beispielsweise die Aufforderungen zu wechselseitiger Annahme, zu Versöhnung, Vergebung und Nächstenliebe haben sensibilisierendes und orientierendes Potential. Von Texten aus dem kulturellreligiösen Schatzhaus der Bibel ausgehend werden im Stolpersteine-Seminar Anschlüsse an soziale, diakonische und pädagogische Handlungsfelder gesucht, ethische Urteilsbildung eingeübt und handlungsleitende Optionen entwickelt, durchgespielt und diskutiert. Das Seminar wird so zum Gesprächsraum, Interpretationsraum, Wahrnehmungsraum, Bildungsraum und Gestaltungsraum für Diversität. 3.4 Wahrnehmen - sich bilden - mitgestalten Der hier beschriebene biblisch-theologisch-hermeneutische Dreischritt aus wahrnehmen - sich bilden - mitgestalten, wie er mit Hilfe der Stolpersteine in der konkreten, gemeinsamen Bibelauslegung eingeübt wird, ist nicht linear zu denken, sondern genau genommen zirkulär. 19 Denn neben „Voranschreiten“ ist auch „Zurückschreiten“ oder „Springen“ erlaubt und manchmal sogar notwendig. Wahrnehmen - sich bilden - mitgestalten bezeichnen drei grundlegende Vollzüge biblisch-theologisch-hermeneutischer Reflexion. Alle drei zielen darauf ab, biblische Texte mit modernen sozialen Welten zu verbinden. Insofern handelt es sich im Kern um eine kleine hermeneutische Anleitung zu einer wissenschaftlich und für die eigene Person reflektierten, anwendungsorientierten Bibelauslegung. Werden Stolpersteine und biblische Stolpertexte als Einladung zur gemeinsamen Reflexion und als Chance zur Wahrnehmung, Selbstbildung und 18 S. dazu die grundlegenden Beiträge von Beate Aschenbrenner-Wellmann (2009), Diversity-Kompetenz - Überlegungen zu einer Schlüsselqualifikation für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, in: Beate Aschenbrenner-Wellmann (Hg.), Mit der Vielfalt leben, Verantwortung und Respekt in der Diversity- und Antidiskriminierungsarbeit mit Personen, Organisationen und Sozialräumen, (Schriften der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 2 = Publikationen des Instituts für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen, 1) Stuttgart, S. 61-85; Jo Jerg (2009), Respekt vor dem Anderen - Differenz als Herausforderung in Vielfaltsgemeinschaften, in: Beate Aschenbrenner- Wellmann (Hg.), Mit der Vielfalt leben, a.a.O., S. 12-32. 19 Eine strukturelle Parallele ist z.B. der „rhetorische Zirkel“ als Modell der Predigtvorbereitung, s. Gert Otto (1976), Predigt als Rede. Über die Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, (UB, 628) Stuttgart, S. 88-90. <?page no="215"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 197 Mitgestaltung im Blick auf Diversität betrachtet, dann verlieren sie ihren von manchen als bedrohlich empfundenen Charakter. Mit einer gehörigen Portion Neugier werden aus Stolpersteinen und Stolpertexten dann Sprungbretter zur eigenen theologischen Bildung und zur reflektierten Einübung in den zeitgemäßen, der gleichen Würde aller Menschen angemessenen Umgang mit Diversität. Von diesem Blickwinkel aus sind theologische Stolpersteine (Stolpertexte) als Chancen zu begreifen: auf eine biblisch-theologische Horizonterweiterung, auf eine hermeneutische Geschicklichkeits- und Beweglichkeitsübung, auf eine sozialanthropologische Entdeckungstour und auf die Entwicklung zeitgemäßer Gestaltungsräume und Gestaltungsmaßstäbe zu einer menschlich und theologisch angemessenen Berücksichtigung von Diversität. Stolpersteine des Glaubens sind Sprungbretter zur theologischen Dissonanzbewältigung und zur sprachlichen und gedanklichen Durchdringung sozialer Realitäten. Im Lehrbetrieb einer Hochschule für Soziale Arbeit, Diakonie und Religionspädagogik begegnen theologische Stolpersteine manchmal in Gestalt von Stolpersätzen. Besonders in den Anfangssemestern werden sie ohne Weiteres schroff formuliert. Vielfach und zumal von „bibelgläubigen“ Studierenden werden Stolpersätze mehr oder weniger reflektiert durch biblische Stolpertexte begründet. Es lohnt sich, auch Stolpersätze aus der Gegenwart eigens auf ihr Verhältnis zur Diversität des Menschseins hin zu beleuchten. 4 Heutige Stolpersätze und ihr Verhältnis zur Diversität des Menschseins Legt man biblische Stolpertexte mit einer engen Hermeneutik und sozusagen buchstabengläubig aus, dann erhält man als Ergebnis theologische Stolpersätze, wie sie unter Studierenden manchmal verbreitet sind. Wie verhalten sich solche Stolpersätze zur Diversität des Menschseins, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Im Folgenden wird zunächst eine (1) Reihe von Stolpersteinen in Form eines „kleinen Credos“ vorgestellt; anschließend wird diese Reihe knapp (2) theologisch kommentiert und ihr (3) Verhältnis zur Diversität des Menschseins ermittelt. Daraus ergeben sich einige notwendige Einsichten als wichtige (4) hermeneutische Konsequenzen. Abschließend wird mit drei weiteren Konsequenzen (5) für eine diversitätssensible Theologie plädiert. 4.1 Ein kleines Credo aus christlichen Stolpersätzen Damit Stolpersätze auch als Stolpersätze wahrnehmbar sind, werden sie im Folgenden zugespitzt formuliert. Sie können durch biblische Stolpertexte <?page no="216"?> Bernhard Mutschler 198 begründet werden, die sehr eng am Wortsinn orientiert ausgelegt und unvermittelt auf die Gegenwart übertragen werden. Diese Art der Auslegung ist nicht nur bei Studierenden in Anfangssemestern, sondern auch bei vielen Menschen in der Kirche anzutreffen. 20 Insofern lohnt sich eine Auseinandersetzung mit ihnen in mehrfacher Hinsicht. Ausdrücklich sei vorab erklärt: Der Verfasser dieses Artikels distanziert sich von jedem einzelnen wie von der Gesamtheit der folgenden Sätze; sie werden hier aus heuristischen Gründen angeführt und betrachtet. Zur leichteren Kommunizierbarkeit werden die Stolpersätze einfach durchgezählt: (1) Weil die Bibel aktuell, irrtumslos und göttlichen Ursprungs ist, ist sie auch in der Gegenwart ganz ernst zu nehmen. Man sollte deshalb auch vor harten Konsequenzen nicht zurückschrecken. (2) Gott hat die Welt in sechs Tagen geschaffen. (3) Männer sind bei Gott mehr wert als Frauen, Frauen haben sich darum unterzuordnen. (4) Homosexualität ist eine ganz üble Sünde und darum intolerabel. (5) Gottes heiligen Zielen soll man sich unterordnen und dafür kämpfen. Wie biblische Beispiele zeigen, legitimiert dies notfalls Gewalt (auch in der Erziehung). (6) Abweichler, Verweigerer und Bekehrungsunwillige sind ernsthaft zu warnen, ggf. aber auszuschließen und „auszurotten“. (7) Mit der Taufe bekennen Menschen ihren Glauben an Gott und binden sich fest an ihn. (8) Krankheit ist das Ergebnis von Sünde, Heilung erfolgt durch Krankensalbung und „ernsthaftes Gebet“. (9) Die Bekehrung der ganzen Welt zum alleinigen Herrn Jesus Christus ist das Ziel christlicher Mission. Ärgerlicherweise sträuben sich ausgerechnet fast alle Juden dagegen (sie müssten es eigentlich besser wissen! ). (10) Man muss sich aus freien Stücken entscheiden, zu Gott bekehren und Buße tun. (11) Am Ende des Lebens und der Welt stehen unüberbrückbar ewige Seligkeit oder ewige Verdammnis (z.B. für die Sünde „wider den Heiligen Geist“). (12) (Raum für einen zu ergänzenden Stolpersatz. Welcher fehlt? ) Mögen manche, vielleicht sogar viele dieser Stolpersätze auf den ersten Blick als überzogen erscheinen; sie verdanken sich jedoch in dieser oder ähnlicher 20 Daher mahnt Friedrich Mildenberger (1991), Biblische Dogmatik, Eine biblische Theologie in dogmatischer Perspektive, Bd. 1: Prolegomena: Verstehen und Geltung der Bibel, Stuttgart et al., S. 71 mit Recht an: „Der Schriftgebrauch der Glaubenden bedarf einer umfassenden Anleitung von der Übersetzung und Einrichtung der Bibel bis hin zur Einübung des Lesens und Verstehens, bei der sich Fachwissen und Verstehen gegenseitig ergänzen sollten.“ <?page no="217"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 199 Form konkreten Äußerungen in Lehrveranstaltungen. Der Charakter einer Zusammenstellung bringt es mit sich, dass wohl zum Glück niemand alle diese Stolpersätze für sich in Anspruch nehmen möchte. Wie wird theologisch darin argumentiert, und welcher Stellenwert kommt der Diversität des Menschseins dabei zu? 4.2 Ein kurzer Kommentar zum kleinen Credo aus Stolpersätzen Der erste Stolpersatz betrifft die (vermeintliche) Irrtumslosigkeit der Bibel. Für ihre Vertreter resultiert sie aus ihrem „göttlichen Ursprung“ und impliziert automatisch detailgenaue Aktualität für alle Zeiten. 21 Alle drei Aussagen stützen sich dabei gegenseitig. Mehr als problematisch wird diese Position bei widersprüchlichen Aussagen der Bibel oder offensichtlich überholten Geboten. 22 Nicht zuletzt kann dadurch auf sehr leichte Weise verbrecherische Gewalt legitimiert werden: als „harte Konsequenz aus der Bibel“ verbrämt, die jedoch „in Gehorsam“ zu erfüllen sei. 23 Der hermeneutische erste Stolpersatz ist insofern für alle weiteren grundlegend, als hier eigenständiges, zumal kritisches vernünftiges Nachdenken (das Sapere aude! eines Immanuel Kant 24 ) von vornherein als unterlegen betrachtet und damit diskreditiert wird. Offenbarung und Vernunft werden in einen prinzipiellen Gegensatz gebracht, z.B. durch die Festlegung auf die göttliche Autorität der „buchstäblichen Richtigkeit“ der Heiligen Schrift. „Man muss es halt glauben! “ lautet eine gängige Antwort auf das vernünftige Hinterfragen einer 21 Siehe z.B. www.gotquestions.org/ Deutsch/ was-wir-glauben.html (31.12.2012): „Wir glauben der Bibel, bestehend aus dem Alten und Neuen Testament, das inspirierte, unfehlbare und autoritative Wort Gottes zu sein“. 22 Z.B. Dtn 22,22 mit Joh 8,2-11, dazu und zu den Konsequenzen für die Bibelhermeneutik s. Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 42-61. 23 Die Liste der allein in den letzten 200 Jahren aus vorgeblich christlichen Motiven oder unter einem christlichen Vorwand ausgeübten Gewalttaten ist sehr lang: Feindschaft (mit Verfolgung) gegenüber Juden, Angehörigen anderer Religionen, Atheisten, Andersbegabten, Menschen mit Assistenzbedarf, Wohnsitzlosen, sozial Schwächeren, Fremden, „Anderen“; Benachteiligung von Frauen, Beibehaltung der Sklaverei (1Tim 6,1f), unzählige Todesstrafen, so genannte „Züchtigungen“ - gemeint ist die Prügelstrafe - von Kindern. 24 Vgl. Immanuel Kant (1784), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? , in: Berlinische Monatsschrift 2, S. 481-494; 481; als Online-Ressource: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Mündigkeit_(Philosophie) [31.12.2012], Hervorheb. im Original): „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ <?page no="218"?> Bernhard Mutschler 200 biblizistischen Haltung. Aus ihr erwächst insbesondere ein „Buchstabenglaube“ 25 . Aber ist das mit dem biblischen Wort „Glaube“ gemeint, wie z.B. Paulus und Jesus es gebrauchen? Gefährlich sind „Buchreligionen“ dann, wenn sie ihren normativen Buchbestand absolut, d.h. über eine aus den normativen Schriften zu erhebende Vorstellung von Gott, setzen. 26 Dann leiden Beziehungsqualität 27 , Freiheit, Toleranz, Offenheit, Gerechtigkeit, Fairness und Frieden oder werden zunehmend ganz verbannt. Die Stolpersätze (2) bis (4) können durch das Thema Schöpfung bzw. (vermeintliche) Schöpfungsordnungen zusammengefasst werden. Wiederum hat der „Buchstabenglaube“ fatale Konsequenzen: Der Charakter der einschlägigen Schöpfungstexte, der Schöpfungserzählungen (Gen 1,1- 2,4a.4b-25), als religiöse Bekenntnisse wird verkannt; stattdessen werden sie in historischem und naturwissenschaftlichem Sinn (gegen ihren Textsinn) als genaue Geschichte der Entstehung des Lebens („Schöpfungsgeschichte“) missinterpretiert. Auf diese Weise gerät biblischer Glaube schnell und dauerhaft, aber eigentlich völlig überflüssigerweise in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu naturwissenschaftlichen, z.B. geologischen oder paläoanthropologischen Erkenntnissen 28 sowie zu Erkenntnissen der Vor- und Frühgeschichte. Der biblische Patriarchalismus wird schöpfungstheologisch verklärt, legitimiert, konserviert, vor jeglicher Form von Modernisierung geschützt - und letztlich nur verbrämt. Die mehr als diskriminierenden biblischen und höchst menschlichen Aussagen zur Homosexualität werden (ganz und gar zu Unrecht! ) als gültiges Wort des Gottes, der Geist und Liebe ist (Joh 4,24; 1Joh 4,16b), betrachtet. Was „Sünde“ ist - seinsmäßige und existenzielle Trennung von Gott -, wird dabei verkannt und verharmlost. Bereits eine zurückhaltende historische Verortung der entsprechenden Texte lässt sie in ganz anderem Licht erscheinen. Der fünfte und sechste Stolpersatz enthält Aussagen zur praktischen Ethik. Dabei wird eine vollkommen theonome Lebensgestaltung eingeschärft und mit dem zelotischen Eifer eines Pinhas oder Elia - beide wurden in ihrem Eifer zu Mördern (Num 25,7f; 1Kö 18,22.40 29 ) - durchgesetzt. Mit 25 Dazu kritisch bereits Paulus in 2Kor 3,6: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ 26 Der „Bezugpunkt des Glaubens“ ist Gott, nicht die Bibel, s. Siegfried Zimmer (2008), Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, 2., überarbeitete Auflage, Göttingen, S. 35-42.42f. 27 Allem voran die Liebe: zum Nächsten, gegenüber Feinden (Mt 5,43-48; Lk 6,27-36), zu sich selbst und oft genug auch gegenüber den alltäglichen, nächsten Angehörigen. 28 Dabei wird der Charakter biblischer Texte missverstanden oder ausgeblendet. Zu einer evolutionären Sicht auf kulturelle und religiöse Entwicklungen s. Gerd Theißen (1984), Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München, passim, bes. S. 25-36. 29 Die Spur ließe sich vielfach in die Kirchengeschichte hinein fortsetzen, z.B. durch die Kreuzzugspredigten eines Bernhard von Clairvaux. In Act 5,1-11 liegt eine Erzählung <?page no="219"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 201 einer konsequenten Umsetzung dieser kompromisslosen Gebote der Intoleranz, die oft durch Gedanken an Reinheit, Einheit oder Heiligkeit eines Volkes, einer Gemeinde oder einer auserwählten Schar der Heiligen überhöht werden, wäre das gewaltsame Ende religiöser, ethischer oder kultureller Diversität erreicht. 30 Die Stolpersätze (7) bis (10) befassen sich mit Heilsvorsorge bzw. Heilsfürsorge. Während der siebte und zehnte Stolpersatz die ausschlaggebende Initiative und entscheidende Verantwortung für das Heil beim Menschen festschreiben (was hieße dann eigentlich Heil sola gratia, allein aus Gnade? Was wäre eine Taufe als Selbstbesiegelung wert? ), ruft der neunte zu einer „Bekehrung der ganzen Welt“ auf 31 und subsumiert das leider historisch sehr belastete und religiös manchmal als angespannt wahrgenommene Verhältnis gegenüber Juden ausgerechnet unter diesem Thema. Der achte Stolpersatz konstruiert einen notwendigen Zusammenhang zwischen physischer Gesundheit und Sünde. Krankheit wäre demnach eine Strafe Gottes (Tun-Ergehen-Zusammenhang), die der Erziehung des Menschen dient und nicht in erster Linie medizinisch, sondern religiös zu „behandeln“ wäre. Aber kann man beispielsweise Nierenversagen, AIDS oder Tumorerkrankungen als sinnvolles Erziehungsmittel denken? Welches Gottesbild wird durch solche Interpretationen impliziert? Eine erschreckende Zwanghaftigkeit ist erneut ein Grundzug dieser Stolpersätze. Der vorletzte Stolpersatz schließlich schreibt ein streng dualistisches Belohnungsverfahren fest. Nach dem Prinzip von „Warnung und Konsequenz“ 32 wird religiöser Druck aufgebaut und eschatologisch begründet, um dadurch irdisches Wohlverhalten zu motivieren. Das Ergebnis ist eine unverblümte, handfeste Drohung. Der Platzhalter anstelle eines zwölften Stolpersatzes erinnert daran, dass die gesamte Reihe lediglich eine Auswahl darstellt und prinzipiell unabgeschlossen ist. Ihre Ergänzung orientiert sich an der eigenen biographischen, frömmigkeitlichen, theologischen sowie hermeneutischen Prägung und Entwicklung. mit schwarzer Pädagogik vor: angsteinflößend, drohend, „große Furcht“ als Ergebnis (V. 11). Im Gegensatz dazu lehnte Jesus von Nazareth nach Lk 9,54f. Strafwunder ab. 30 Zum hermeneutischen Umgang mit der biblischen Anleitung zur Prügelstrafe gegenüber Schutzbefohlenen s. Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 105-107. 31 Mir scheint der traditionelle Begriff „Missionsbefehl“ als Bezeichnung für Mt 28,18-20 missverständlich, weil Gott sine vi (…) sed verbo leitet (CA 28, vgl. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche [1930 = 12 1998], Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession, Göttingen, S. 124,9) anstatt wie ein Befehlshaber (Kommandeur) durch Befehle (Kommandos). Ist es nicht sachgemäßer, vom „Auftrag zur Mission“ zu sprechen? 32 Vgl. bereits im sechsten Stolpersatz, S. 198.200f. in diesem Band. <?page no="220"?> Bernhard Mutschler 202 4.3 Versuch einer Gesamtbewertung der Stolpersätze im Blick auf die Diversität des Menschseins Überblickt man die Stolpersätze als Ganzes, dann haben die allermeisten 33 von ihnen eine trennende und polarisierende anstatt eine verbindende und versöhnende Tendenz. Die Polarisierung erfolgt nicht in zwei gleichwertige Teile, sondern stets in ein Gut und Böse. Zwischen diesen beiden Polen gibt es wenig, da die Zuordnung zu einem der beiden Pole als stark und strikt gedacht wird. Anders formuliert: Es liegt ein theologisches Gesamtbild in Schwarz und Weiß zugrunde. Zwischen- oder Grautöne sind nicht vorgesehen. Was bedeutet dies für die Frage nach Diversität? Eine starke, dualistisch angelegte Polarisierung bewirkt, dass menschliche Verschiedenheiten nicht beibehalten, sondern aufgelöst werden. Aus biblisch-theologischer Sicht sind dagegen drei grundsätzliche Einsprüche zu erheben: (1) Dass Gott die Vielfalt des Lebens nicht nur geschaffen, sondern alles gut geschaffen hat 34 , sie liebt und bisher erhält, bleibt im Einzelnen wie in der Gesamtsicht der Stolpersätze unerwähnt und ungedacht. In direktem Gegensatz zur Denkweise der Stolpersätze ist darum festzuhalten: Gott schafft und erhält Diversität. (2) Die historisch nur mühsam erkämpfte Gleichberechtigung und Freiheit von Männern und Frauen, die erst im 20. Jahrhundert international erklärte gleiche und unbedingte Würde allen menschlichen Lebens sowie eine Fülle an persönlichen, kulturellen, religiösen und sozialen Freiheitsrechten werden in der Denkweise der Stolpersätze nicht respektiert, im Gegenteil. Gleichberechtigung geht bei dieser unter, Menschen werden durch ihr geschöpfliches Sein oder ihre für sich selbst frei gewählte Lebensweise als Sünder gebrandmarkt, und Andersdenkende wie Anderslebende werden stetig im Namen der christlichen Religion zu Selbstrevisionen in bestimmte Richtungen gedrängt. Demgegenüber lässt sich mit guten theologischen Argumenten 35 zeigen: Gott stattet verschiedene Menschen mit gleicher Würde und gleichem Recht aus und gibt allen Menschen ihre Freiheit. (3) Vergleicht man die Selbstsicherheit und Selbststilisierung biblischtheologischer, ethischer und schließlich eschatologischer Richtigkeit, wie sie in den Stolpersätzen zum Ausdruck kommt, mit dem „Weg des Sohnes Gottes in die Fremde“ 36 , dem kein Mensch zu gering war und kein Leid erspart 33 Weniger ausgeprägt nur in den Stolpersätzen (7) und (10). 34 Gen 1,31: „Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und sieh, es war sehr gut.“ 35 S. etwa Dtn 15,12; Ps 8,6; Mt 18,10 (im Kern bereits ein Diskriminierungsverbot); Gal 3,28. 36 S. Karl Barth (1953), Die Kirchliche Dogmatik, Bd. 4: Die Lehre von der Versöhnung, Erster Teil, Zollikon/ Zürich, S. 171(-231). Ähnlich Eberhard Jüngel (1986), Der Gott entsprechende Mensch, Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage theologischer Anthropologie, in: ders., Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen, (BETh, 88) München, S. 290-317; 308 (zuerst in: Hans-Georg Gadamer; Paul Vogler [Hg.] [1975], Neue Anthropologie, Bd. 6: Philoso- <?page no="221"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 203 blieb, dann zeigt sich auch hier ein deutlicher Gegensatz zur Denkweise der Stolpersätze: Gott steht nicht auf der Seite der „religiösen Sieger“ des Weltgeschehens, im Gegenteil. Als Ergebnis dieser Gesamtbewertung ist festzuhalten: Das biblische Zeugnis von Gott steht im Widerspruch zu den insgesamt als diversitätsfeindlich zu bezeichnenden Stolpersätzen. Daraus ergeben sich erstens Konsequenzen für die den Stolpersätzen zugrunde liegende Bibelhermeneutik und zweitens Konsequenzen für eine diversitätssensible Theologie. 4.4 Hermeneutische Konsequenzen Wenn Treue zur Heiligen Schrift so verstanden wird, dass anstelle methodisch kontrollierter Schriftauslegung nur die Übertragung eines oberflächlich als wörtlich und „richtig“ erkannten Sinns in die Verhältnisse der Gegenwart stattfindet, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Die im ersten Stolpersatz (S. 198-200 in diesem Band) formulierten Prämissen sind deshalb kritisch in den Blick zu nehmen. (1) Die biblischen Texte sind nicht „aktuell“, sondern allesamt beinahe 2000 Jahre alt, überwiegend sogar noch älter. Sie beziehen sich nicht auf die Neuzeit, sondern auf die Antike als Zeit ihrer Entstehung. Dies betrifft zumal Aussagen zum Menschsein, da sich die Kulturgeschichte seither in nicht geringem Umfang weiter entwickelt hat. Die historische Distanz zu den antiken Texten ist bei der Bibelauslegung unbedingt zu berücksichtigen, um nicht Kurzschlüssen zu erliegen. Wer biblische Texte unvermittelt auf die Gegenwart bezieht, nimmt ihre geschichtlichen Umstände und damit letztlich auch ihren theologischen Anspruch nicht ernst. 37 (2) Die biblischen Texte sind nicht „irrtumslos“, da sie sich durchgängig menschlicher Autorschaft verdanken. Wo Menschen am Werk sind, ist keine Perfektion zu erwarten. Zudem korrigieren sich biblische Texte bereits selbst innerhalb der Bibel, so dass dort vielfältige Revisions- und Auslegungsprozesse stattfinden. 38 Wer biblische Texte für „irrtumslos“ hält, lässt nicht nur Differenzierungsbereitschaft und Genauigkeit vermissen, sondern nimmt ihr literarisches Verhältnis zu sich selbst und damit letztlich auch ihren theologischen Anspruch nicht ernst. (3) Die biblischen Texte sind nicht pauschal „göttlichen Ursprungs“, sondern enthalten „Gottes Wort im Menschenwort“. 39 Sie geben Erfahrungen, Erzählungen, Lobpreisungen, Schicksale und Anfechtungen phie Anthropologie, Erster Teil, Stuttgart/ München, S. 342-371, Hervorheb. im Original): „Der Wesenszug göttlicher Hoheit ist ein unaufhaltsamer Zug in die Tiefe.“ 37 Vgl. Eckart Reinmuth (2006), Anthropologie im Neuen Testament, (UTB, 2768) Tübingen/ Basel, S. 39: Werden biblische Texte „für allgemeine, zeitlos gültige Aussagen verwendet, liegt die Gefahr ihrer ideologischen Nutzung nahe”. 38 Vgl. dazu Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 50-52. 39 Vgl. ebd., S. 47-49. <?page no="222"?> Bernhard Mutschler 204 von Menschen im Verhältnis zu dem Gott, dem sie vertrauten, wieder. Fast durchgängig wurden die Texte erst später verfasst oder zumindest gestaltet. Liest man die Bibel als ein Buch menschlicher Zeugnisse, dann ist auch ihr theologischer Anspruch viel eher zu entdecken. Nur in dieser Form ist Gottes Zuspruch als solcher zu vernehmen. Dies alles zeigt: Eine biblizistische Hermeneutik verstellt eher den Textsinn als dass sie ihn erschließt. Ohne eine Berücksichtigung des historischen Gewordenseins der biblischen Texte und ihrer menschlich begrenzten (perspektivischen) und kontingenten Verfasserschaft mit der Möglichkeit des Irrtums wird im Kern „an die Bibel“ geglaubt anstatt an den dreieinigen Gott. Eine verantwortungsvolle Auslegung beachtet stattdessen in differenzierter Weise historische und literarische Besonderheiten der Texte, in die die theologischen Aussagen eingebettet sind. 40 Daher werden bereits mit dem ersten der Stolpersätze die Weichen in eine falsche, weil geschichtsvergessene, literarisch ignorante und letztlich biblizistische Richtung gestellt. Indem man die Bibel nur in ihrer Oberflächenstruktur wahrnimmt, nimmt man sie jedenfalls keineswegs in ihren theologischen Aussagen ernst, sondern eben nur oberflächlich. Biblizistische Arten der Auslegung unterliegen zudem einem Verdacht auf Bequemlichkeit mit pragmatischen Absichten. Es ist anzunehmen, dass heutige Stolpersätze mitunter interessegeleitet sind und auch aus diesem Grund nur in oberflächlich formalistischer Weise an biblische Stolpertexte angeschlossen werden. In diesen Fällen stellt der Rückbezug auf antike Bibeltexte keine Begründung, sondern allenfalls ein Begründungssurrogat dar, das einen Mangel an zeitgemäßen Begründungen (für meist rückwärtsgewandte, exkludierende, diskriminierende oder in anderer Weise die Würde von Menschen verletzende Absichten) offenbart. Insofern dieser Mangel mit Hilfe einer höheren, kaum angreifbaren Autorität ausgeglichen werden soll, läge faktisch ein Missbrauch biblischer Texte vor. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sie nur im übertragenen Sinn als „Heilige“ Schrift verstanden werden dürfen. 41 4.5 Plädoyer für eine diversitätssensible Theologie Aus der Gesamtbewertung der betrachteten Stolpersätze ergeben sich drei weitere wichtige Konsequenzen. Erstens ist Vorsicht geboten vor einer Schwarz-Weiß-Theologie jeglicher Couleur. Die Beobachtung, dass bestimmte Lesarten christlicher Religion offenbar sehr gefährlich für Menschen sein können, ist erschre- 40 Zu Grundzügen historisch-kritischer Bibelauslegung s. Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 54-57. 41 Vgl. ebd., S. 57. <?page no="223"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 205 ckend, wenn auch nach zweitausend Jahren Kirchengeschichte keineswegs neu. Schraffurartige theologische Sätze in der Art der Stolpersätze 42 haben einen Hang zu menschengefährdender, diskriminierender und darum unerlaubt starker Vereinfachung, Verkürzung und Vereinheitlichung unter dem vorgeblich theologisch ehrenwerten Siegel von Reinheit, Heiligkeit und Biblizität 43 . Einer christlichen Theologie im Zeichen des Gekreuzigten entsprechen aber leise, respektvolle Töne in Liebe gegenüber Gott und gegenüber allen von ihm sehr gut geschaffenen Menschen viel eher. Daraus resultieren Respekt 44 und Achtsamkeit gegenüber allen Menschen, ganz zu schweigen von den christlichen Geboten der Nächsten- und sogar Feindesliebe. Zweitens kann die Bedeutung sorgfältiger, sachkundiger, differenzierter und zurückhaltender Bibelauslegung als der unverzichtbaren Grundlage theologischen Denkens nicht hoch genug geschätzt werden. 45 Mehr noch, es gibt eine Verpflichtung zu Bildung und Aufklärung auch unter Christen. Nicht allein ad extra, sondern zuerst ad intra gilt das „Lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe! “ des auferstandenen Christus in Mt 28,20. In der Ausbildung von kompetenten Fachkräften für Religionspädagogik und Gemeindepädagogik, für Frühpädagogik und für Heilpädagogik, für Weiterbildung und für Lifelong Learning, für den Diakonat und für Soziale Arbeit, für Pflegewissenschaft und für Organisationsentwicklung leisten kirchliche Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW, bis vor wenigen Jahren Fachhochschulen, kurz FH, genannt) seit mehreren Jahrzehnten einen wichtigen, unersetzlichen Beitrag für eine verantwortungsvolle, liebevolle, gesellschaftlich relevante Bibelauslegung, die dem Wohl jedes einzelnen Menschen verpflichtet ist. Analog zu Jesu Auskunft in der Sabbatfrage könnte man formulieren (Mk 2,27): Die Bibel ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um der Bibel willen. Daher haben die Mitglieder einer dem reformatorischen Erbe verbundenen evangelischen Kirche eine besondere Verpflichtung zu immer neuer, eigener biblisch-theologischer und hermeneutischer Reflexion. Biblische Texte können im Kampf gegen Leid und Not 42 Häufig mit einer Nähe zu Apokalyptik und Millenarismus. 43 Der Begriff „Bibeltreue“ wird dabei häufig euphemistisch verwendet, insofern genau genommen eine Buchstabentreue gemeint ist, die eine notwendige literarische, historische, biblisch-theologische und insbesondere hermeneutische Reflexion vermissen lässt. 44 Zu Begriff und Entwicklung von Respekt s. den gleichnamigen, grundlegenden Artikel von Jerg (siehe oben Anm. 18). 45 Zu „Exegese als theologische(r) Basiswissenschaft“ s. Michael Theobald (2011), Exegese als theologische Basiswissenschaft, Erwägungen zum interdisziplinären Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese, in: Martin Ebner, Irmtraud Fischer u.v.a. (Hg.), Wie biblisch ist die Theologie, (JBTh, 25) Neukirchen-Vluyn, S. 105-139, bes. 123- 130.134-138; zuvor bereits Josef Blank (1979), Exegese als theologische Basiswissenschaft, in: ThQ 159, S. 2-23. <?page no="224"?> Bernhard Mutschler 206 z.B. konfrontieren, orientieren, interpretieren, sensibilisieren und motivieren, aber auch trösten, anleiten, begleiten und nähren. 46 Drittens ist das Wohl jedes einzelnen Menschen kein donum superadditum, sondern eine zentrale Verpflichtung jedes Kirchenmitglieds. 47 Der tatkräftige Einsatz für assistenzbedürftige, bedrängte, diskriminierte und ausgeschlossene Menschen 48 gleich welcher Herkunft und Zugehörigkeit ist gelebter christlicher Glaube und geschieht im Geist Jesu, der von sich sagt: „Ich aber bin mitten unter euch als einer, der bedient.“ 49 Aus diesem Grund ist Nachfolge Christi notwendigerweise mit der Linderung und Abwehr eines als leidvoll erfahrenen Realitäts- und Selektionsdrucks verbunden. Tatkräftige Nächstenliebe ist im Sinne Jesu eines der beiden höchsten Gebote (Mk 12,28- 34; V. 31). Sie trägt die Verheißung ewigen Lebens: „Tu das, und du wirst leben“ (Lk 10,25-28; V. 28). Die Entdeckung von Diversität(en) zwischen Menschen kann theologisch sachgemäß durch eine diversitätssensible Lektüre und Interpretation biblischer Texte angeleitet werden. Stolpertexte, Stolpersteine und sogar Stolpersätze haben ihren Sinn als theologisches Experiment. Sie sind „Theologie auf Probe“ und tragen dabei nicht letztgültige Wahrheiten in sich. Aber sie können zum Sprungbrett für eine gegenwartsrelevante Entdeckung - verstanden als Wahrnehmung, Bildung und Mitgestaltung - von Diversität werden. In diesem Sinn ist es nicht nur heute Zeit für eine diversitätssensible Theologie, beginnend mit einer biblischen Theologie und Hermeneutik. Aufgrund der unabsehbaren Folgen für konkrete, einzelne Menschen ist eine diversitätssensible Theologie zu allen Zeiten mehr als wünschenswert und im wörtlichen Sinne notwendig! 50 Eine letzte Bemerkung betrifft die Terminologie: Im Gegensatz zum sozialwissenschaftlichen Diskurs, der üblicherweise - wenngleich oft mehr als Zielsetzung (Utopie) wie als Wirklichkeits- oder Zustandsbeschreibung 51 - 46 Dazu und zur Umsetzung in der Lehre s. Mutschler, Jesus, S. 663-668; ferner in diesem Band S. 269f. 47 Zum allgemeinen Diakonentum aller Gläubigen s. Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 200, Anm. 115; S. 212, Anm. 165. 48 Auch hier leisten kirchliche Hochschulen für Angewandte Wissenschaften einen wichtigen Beitrag durch Bildung, Forschung und Entwicklung. Beispielsweise unterhält die Evangelische Hochschule Ludwigsburg einen Studiengang Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik, und bei ihr ist das Institut für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen, kurz IAD, angesiedelt. 49 Lk 22,27, zur Auslegung s. Bernhard Mutschler (2008), Theologische Antworten aus Lk 22,24-30 (Rangstreit der Jünger) auf die Frage: Was bedeutet „Evangelisch - Diakonisch“? , in: Richard Edtbauer; Alexa Köhler-Offierski (Hg.), Evangelisch - Diakonisch, (Evangelische Hochschulperspektiven, 4) Freiburg im Breisgau, S. 31-47; 39-42; zum Auftrag zur Hilfe für Notleidende s. auch Mt 25,31-46; Joh 13,1-17. 50 Für eine Fülle an bibelhermeneutischen, sozialanthropologischen und kulturgeschichtlichen Konkretionen s. jetzt Mutschler, Beziehungsreichtum. 51 Hinweis meiner Kollegin Beate Aschenbrenner-Wellmann, Ludwigsburg. <?page no="225"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 207 das Adjektiv „diversitätsgerecht“ verwendet 52 , erscheint eine analoge Normsetzung für die Exegese als schwierig. Jahrhundertealte Texte sind in aller Regel nicht diversitätsgerecht, und man möchte sie als Exeget auch nicht in ein entsprechendes Schema pressen. Aber sie enthalten durchaus Hinweise auf die Achtung von Minderheiten, das Unterlaufen von Vorurteilen und Stereotypien usw. Ausgehend von den Texten ist daher „diversitätssensibel“ als geeignete Begriffsbildung vorzuschlagen. Denn in den Texten können Hinweise auf praktizierte (oder verweigerte) Diversität entdeckt werden. Dazu ist in erster Linie eine Sensibilität für ausgelegte Texte im Zusammenhang mit Diversität erforderlich und nützlich. Ein Forum mit dem Anspruch von Gerechtigkeit kommt hingegen gedanklich von der Gegenwart her und begibt sich nicht ausreichend in die Leserichtung und den Textfluss hinein. Ich schlage daher die Bezeichnung „diversitätssensibel“ im Zusammenhang mit Exegese vor. In anderen theologischen Disziplinen mag eine begründete terminologische Entscheidung durchaus anders ausfallen, z.B. in der theologischen Sozialethik. 5 Zusammenfassung Folgende Ergebnisse und Überlegungen werden als Resümee festgehalten: Stolpersteine des Glaubens als Anlass zur Entwicklung einer Lehrveranstaltung 1. In den vergangenen fünf Jahren fand im Bereich Biblische Theologie an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg ein Lehrentwicklungsprozess statt, der induktiv durch Rückmeldungen von Studierenden initiiert und wesentlich beeinflusst wurde. Im Ergebnis entstand eine biblischtheologische Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Akzent: „Stolpersteine - Kontroverse Grundfragen des christlichen Selbstverständnisses aus biblischer Perspektive“. Sie verbindet gemeinsames bibelhermeneutisches Nachdenken mit diversitätssensibler Exegese im Blick auf Konkretionen aus Sozialer Arbeit, Pädagogik und Diakonie. 2. Innerhalb eines wohlgeordneten Lehrumfelds wurden zunächst Irritationen bei Studierenden wahrgenommen, die „durch ihren Glauben“, d.h. letztlich bibeltheologisch veranlasst oder mit begründet waren. Es zeigte sich sowohl hermeneutischer als auch biblisch-theologischer Gesprächsbedarf. Eine erste Antwort darauf wurde anhand des Themas „Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft“ versucht, das als Semesterthema im Dar- 52 Analog zu „gendergerecht“. Erwägenswert wäre auch „diversitätsorientiert“ in Analogie zu „inklusionsorientiert“. Weitere denkbare Optionen sind diversitätsbewusst, diversitätsoffen, diversitätsfreundlich, diversitätsachtsam usw. <?page no="226"?> Bernhard Mutschler 208 win-Jahr 2009 gewählt wurde. Mit Veranstaltungen in verschiedenen Bereichen wurden insgesamt positive Erfahrungen gemacht, die im Ergebnis einen induktiven Lehrentwicklungsprozess in Gang setzten. 3. Nach der gemeinsamen Sammlung von theologisch „heißen Eisen“, die sich sehr stark in pädagogischen, sozialen oder diakonischen Feldern auswirken, wurde unter Beteiligung von Studierenden und Lehrenden eine biblisch-theologische Lehrveranstaltung mit hermeneutischem Schwerpunkt in den Blick genommen. Diese fand zunächst als „Biblische Lektüre“ statt, bei der in jeder Sitzung ein „Stolperstein des Glaubens“ ausgehend von gemeinsamer Bibelauslegung hermeneutisch sowie in seinen sozialen Konsequenzen und Bezügen behandelt wurde. Eine hohe Beteiligung möglichst vieler Studierender war von Anfang an ein Teilziel der Veranstaltung. Lebendige und teilweise sehr kontroverse Diskussionen wurden ein wichtiges Charakteristikum. 4. Diese von Studierenden sehr positiv evaluierte Übung wurde in den folgenden Semestern weiter entwickelt und dabei stetig von Studierenden, Kolleginnen und Kollegen in Gesprächen und Beratungen begleitet. Als „Stolpersteine-Seminar“ fand sie schließlich Eingang in den regulären Lehrbetrieb und fand Platz im Modul „Biblische Theologie und exegetische Kompetenz“ des Studiengangs Diakoniewissenschaft/ Soziale Arbeit (zweites Semester). Analog zu Stolpersteinen des Glaubens (Themen) wurden als Stolpertexte diejenigen Bibeltexte bezeichnet, die sich in Bezug auf die Handlungsfelder Diakonie, Soziale Arbeit und Pädagogik als besonders schwierig erwiesen haben. 5. Innerhalb der Studieneingangsphase haben Studierende in aller Regel eine nicht unerhebliche Selbstentwicklungsaufgabe im Bereich biblischer Hermeneutik zu bewältigen. Diese wird durch die handlungspraktischen Konsequenzen eines anwendungsorientierten Studiengangs zusätzlich erschwert. Denn was in anderen Studiengängen wochen- und monatelang in Ruhe „ausgebrütet“ werden kann, erhält mit konkreten Berufsfeldern vor Augen unmittelbar praktische Relevanz. Bei der Entfaltung eines zugleich persönlichen wie wissenschaftlich angemessenen und praxistauglichen Bibelauslegungsparadigmas sind Studierende auf Begleitung und Unterstützung angewiesen. Gerade für religiös stark sozialisierte Studierende beginnt eine Phase der Unsicherheit. Stolpertexte der Bibel als Gelegenheit zur Entdeckung von Diversität 6. Das Stolpersteine-Seminar eröffnet grundlegende Wahrnehmungsräume für Diversität: im Bereich der biblischen Quellen und Traditionen, im Bereich der Möglichkeiten, zeitgemäß und wissenschaftlich verantwortet Bibeltexte zu interpretieren, im Blick auf die Verschiedenheit der die Bibel Auslegenden, im Bereich der Konfrontation des Eigenen mit dem Fremden <?page no="227"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 209 sowie last, but not least im Bereich des Menschseins. Die Bibelauslegung erscheint als multioptionales Feld, das Studierende nicht nur theoretisch durchdenken sollten, sondern in dem sie auch selbst eigene Erfahrungen (und viel Austausch untereinander) benötigen, um eine begründete Beurteilungskompetenz im Blick auf Bibelauslegungen aufzubauen. 7. Das Stolpersteine-Seminar kann Bildungsräume für Diversität erkunden helfen und zahlreiche Bildungsprozesse in diesem Bereich initiieren. Dabei spielen Offenheit und innere Bereitschaft der Studierenden eine wichtige Rolle. Fleiß und nicht erlahmendes Interesse sind erforderlich, um sich in fremde kulturelle, historische und religiöse Welten einzudenken und von da aus nach den Aussageabsichten von Texten zu fragen. Empathisches, aber auch analytisches und sorgfältig differenzierendes Denken bewirken eine Steigerung der eigenen Diversity-Kompetenz. Sie bringen aber auch manchen Zweifel und manches Hinterfragen bisheriger theologischer Ansichten und Positionen mit sich. 8. Nach Wahrnehmungsräumen und Bildungsräumen eröffnet das Stolpersteine-Seminar stets auch den Blick auf Gestaltungsräume für Diversität in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, der Pädagogik und der Diakonie. Menschsein, Verschiedenheit, Diversität, Gleichwertigkeit, Partizipation, Inklusion, Menschenwürde, Gemeinschaft, Sozialität und viele weitere Stichworte sind im Blick auf (zunächst noch semi-) professionelles Handeln zu reflektieren. Dabei steht die Suche nach eigenen Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten auf der Basis theologisch begründeter Wertsetzungen und Überzeugungen im Vordergrund. 9. Der Dreischritt aus wahrnehmen - sich bilden - mitgestalten kennzeichnet nicht eine Abfolge, sondern drei grundlegende Vollzüge biblischtheologisch-hermeneutischer Reflexion im Kontext sozialer und pädagogischer Berufe. Stolpersteine des Glaubens sind eine Einladung zu diesen Grundvollzügen! Sie können zum Sprungbrett werden für eigene Horizonterweiterungen im Blick auf Menschen und das Menschsein, im Blick auf Auslegungsregeln (Hermeneutik, Methodik) und im Blick auf Bibeltexte und biblische Theologie. Stolpersteine sind zumal Einladungen, die Diversität des Menschseins immer weiter und neu zu entdecken und eine Kultur der Achtsamkeit, der Wertschätzung und des Respekts vor dem Anderssein zu entwickeln. Stolpersätze der Gegenwart als Nötigung zu klaren hermeneutischen Grundentscheidungen 10. Im Gegensatz zu biblischen Stolpertexten sind Stolpersätze der Gegenwart nicht historisch gewachsen und aus fernen Zeiten überkommen. Sie sind nicht durch den „garstige(n) breite(n) Graben der Geschichte“ (Lessing) geschützt, sondern drängen als Sätze der Gegenwart auf ihre unmittelbare <?page no="228"?> Bernhard Mutschler 210 Verwirklichung und Umsetzung. Dies macht sie so gefährlich. Umgekehrt sind die Menschen der Gegenwart ebenfalls nicht durch den „garstige(n) breite(n) Graben der Geschichte“ vor religiös motierten - und damit unbedingt motivierenden - Stolpersätzen der Gegenwart geschützt. 11. Stolpersätze der Gegenwart beruhen meist auf einer geringen biblisch-theologischen bzw. hermeneutischen Bildung; manchmal sind sie jedoch interessegeleitet oder zusätzlich interessegeleitet. In allen diesen Fällen wird sehr eng am biblischen Wortsinn entlang ausgelegt und unvermittelt auf die Gegenwart übertragen. Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit heutigen Stolpersätzen ist notwendig, um ihnen begründet widersprechen zu können und ihre scheinbare Faszination (die auch auf ihrer Einfachheit beruht) entzaubern zu können. Zu diesem Zweck wurde eine Reihe von Stolpersätzen untersucht. 12. Dabei zeigte sich, dass ein Buchstabenglaube nicht den Sinn eines Textes trifft, sondern an dessen Oberfläche verbleibt. Vernünftigen Einwänden kann ein Buchstabenglaube kaum anders begegnen, als der Vernunft ein Mitspracherecht in Glaubensfragen zu bestreiten. Das sacrificium intellectus (Opfern des Verstandes) ist auf Dauer jedoch zunehmend unbefriedigend und senkt die Gesprächsfähigkeit mit Nicht-Gleichgesinnten. Daher muss nach anderen Wegen der Auslegung gesucht werden. 13. Stolpersätze sind theologisch äußerst riskant. Einerseits schließen sie gegenüber einer bildungsorientierten, weltoffenen und weltzugewandten Form von Religion ab. Andererseits fördern sie eine vereinfachende Sicht auf Welt und Mensch, so dass Unterdrückung, Diskriminierung und Exklusion bis hin zu Verbrechen religiös begründet werden können. Die historischen Beispiele für Zelotismus und für apokalyptische Grundhaltungen warnen; aber auch die Erzählungen zu Gestalten wie Pinhas oder Elia schrecken ab. Ein streng dualistisches Weltbild verstärkt solche extremen Tendenzen. Sie sind häufig mit der Gewissheit verbunden, selbst - im Gegensatz zu den vielen anderen - auf dem richtigen Weg zu sein und am Ende der Geschichte als „Sieger“ dazustehen. 14. Auch im Blick auf ihre mangelnde Nähe zu Diversität sind Stolpersätze sehr problematisch. Sie polarisieren überwiegend zwischen Gut und Böse und lassen tendenziell keine Grautöne mehr zu. Im Gegensatz dazu ist aus theologischer Sicht klarzustellen: Gott schafft und erhält Diversität. Er hat „alles sehr gut“ geschaffen (Gen 1,31) und stattet verschiedene Menschen mit gleicher Würde und gleichem Recht aus. Er gibt allen Menschen ihre Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung. Gott steht nicht auf der Seite der „religiösen Sieger“ der Weltgeschichte, im Gegenteil. Die meisten Stolpersätze sind nicht diversitätsfreundlich. 15. Hermeneutisch bedeutet dies, dass die Bibel nicht als „aktuell“, „irrtumslos“ oder „göttlichen Ursprungs“ zu betrachten ist. Es handelt sich stattdessen um sehr alte Texte aus einer bestimmten Zeit. Sie wurden von <?page no="229"?> Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese 211 Menschen verfasst und enthalten lediglich Widerspiegelungen der Güte Gottes. Genauer ist daher von „Gottes Wort im Menschenwort“ zu sprechen. Eine Hermeneutik, die diese historischen, literarischen und theologischen Zusammenhänge verdeckt oder nicht ernst nimmt, ist als biblizistisch zu bezeichnen und abzulehnen. Sie ist weder wissenschaftlich redlich noch diversitätsfreundlich oder pädagogisch und sozial verträglich. Da sie Bibeltexte gleichsam nur an ihrer Oberfläche wahrnimmt, ist sie vor jeder Art von Oberflächlichkeit nicht geschützt. 16. Zu pflegen ist stattdessen eine historisch und literarisch achtsame und geschulte Exegese. Sie interpretiert Texte zunächst für die Zeit ihres Entstehens bzw. ihrer ersten Veröffentlichung. Ansatzpunkte für einen Bezug auf die Gegenwart werden eigens reflektiert. Eine historisch und literarisch genaue Exegese bietet die Basis für eine methodisch und wissenschaftlich verantwortbare, diversitätssensible Theologie. Angeregt durch Mk 2,27 könnte man formulieren: Die Bibel ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um der Bibel willen. Wo dies im Bewusstsein bleibt, ist die Bibel besser vor Missbrauch geschützt. Diversitätssensible Bibelexegese als Chance zur Verständigung und Hilfe zum gemeinsamen Leben 17. Diversitätssensible Exegese verdankt ihre Bezeichnung dem Umstand, dass sie ganz von den Texten her kommt, mit ihnen denkt und sich von ihnen leiten lässt. Demgegenüber erscheint „diversitätsgerecht“ als ein von außen an die Texte herangetragenes Kriterium; in anderen Kontexten mag dies legitim sein. Zur Charakterisierung einer Auslegung oder Hermeneutik ist „diversitätssensibel“ aber das vorsichtigere und sachgemäßere Attribut. Eine diversitätssensible Bibelauslegung ist wünschenswert, da sie dazu beiträgt, Diversitäten des Menschseins wahrzunehmen, theologisch zu reflektieren und für Praxisfelder der Sozialen Arbeit, Pädagogik und Diakonie fruchtbar zu machen. 18. Prinzipiell wären das Plädoyer für eine diversitätssensible Schriftauslegung, die Gedanken zu einer zeitgemäßen Hermeneutik der Schriftauslegung sowie zum produktiven Umgang mit Stolpersteinen, Stolpertexten und Stolpersätzen auch auf andere Religionen und ihr Verhältnis zu deren normativen Texten zu übertragen. Dieses Gespräch ist zweifellos in geeignetem Rahmen zu suchen und zu führen. 53 Aber ist nicht eine notwendige Voraussetzung dafür, dass man sich zunächst immer wieder um eine Verständigung im eigenen Haus bemüht und sozusagen vor der eigenen Haustür kehrt? 53 Vgl. dazu Katja Baur (2014), Mein Text - dein Text - unser Text, Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren, S. 145-166 in diesem Band. <?page no="230"?> Bernhard Mutschler 212 Auswahlbibliographie Baur, Katja (2014): Mein Text - dein Text - unser Text. Fremdheit in den Heiligen Schriften wahrnehmen, deuten und kommunizieren (in diesem Band S. 167-188). Jerg, Jo (2009): Respekt vor dem Anderen - Differenz als Herausforderung in Vielfaltsgemeinschaften. In: Beate Aschenbrenner-Wellmann (Hg.): Mit der Vielfalt leben. Verantwortung und Respekt in der Diversity- und Antidiskriminierungsarbeit mit Personen, Organisationen und Sozialräumen. (Schriften der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 2 = Publikationen des Instituts für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen, 1) Stuttgart, S. 12-32. Jüngel, Eberhard (1986): Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage theologischer Anthropologie. In: ders.: Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen. (BETh, 88) München 1986, S. 290-317. Zuerst in: Hans-Georg Gadamer; Paul Vogler (Hg.) (1975): Neue Anthropologie. Bd. 6: Philosophie Anthropologie. Erster Teil. Stuttgart/ München, S. 342-371. Klein, Uta; Rebitzer, Fabian A. (2012): Diskriminierungserfahrungen von Studierenden: Ergebnisse einer Erhebung. In: Daniela Heitzmann; Uta Klein (Hg.): Diversity konkret gemacht. Wege zur Gestaltung von Vielfalt an Hochschulen. (Diversity und Hochschule) Weinheim/ Basel, S. 118-136. Mutschler, Bernhard (2013): Beziehungsreichtum. Bibelhermeneutische, sozialanthropologische und kulturgeschichtliche Erkundungen. Tübingen. Mutschler, Bernhard (2013): Jesus als Lehrer der Gerechtigkeit. Überlegungen zu Gestaltungen des Galiläers in der diakonischen, sozialen und pädagogischen Hochschullehre. In: Petra von Gemünden; David G. Horrell; Max Küchler (Hg.) unter Mitarbeit von Ralph Hochschild und Markus Lau: Jesus - Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (FS G. Theißen). (NTOA/ StUNT, 100) Göttingen/ Bristol (CT), S. 651-672. Theißen, Gerd (1995): Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel. In: Joachim Mehlhausen (Hg.): Pluralismus und Identität. (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 8) Gütersloh, S. 127-140. Theobald, Michael (2011): Exegese als theologische Basiswissenschaft. Erwägungen zum interdisziplinären Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese. In: Martin Ebner; Irmtraud Fischer; Jörg Frey; Ottmar Fuchs; Berndt Hamm; Bernd Janowski; Ralf Koerrenz; Gabrielle Oberhänsli-Widmer; Dorothea Sattler; Samuel Vollenweider; Michael Welker; Rudolf Weth; Michael Wolter; Erich Zenger (Hg.): Wie biblisch ist die Theologie. (JBTh, 25) Neukirchen-Vluyn, S. 105-139. Zimmer, Siegfried (2008): Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts. 2., überarbeitete Auflage. Göttingen. Zürcher Bibel (2007). Zürich. <?page no="231"?> Renate Kirchhoff „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ - Von der emanzipatorisch motivierten Abwehr von Religion zur Reflexion der eigenen Praxis des Konstruierens von Wirklichkeit Abstract: Die Konzeption der Veranstaltung „Bewerten und Entscheiden - Was heißt hier richtig leben? “ stellt der folgende Beitrag als ein Beispiel dafür vor, wie die Biblische Theologie zur Reflexion von Selbst, Welt und einem guten Leben beitragen kann. In diesem Lehrkontext werden biblische Texte in disziplinspezifischer Weise so eingesetzt, dass sie auch von Studierenden erprobt werden können, die Wirklichkeit nicht christlich konstruieren. 1 Die Rahmenbedingungen des Seminars Die Veranstaltung „Bewerten und Entscheiden - Was heißt hier richtig leben? “ gehört zu einem „Modul Diversity II“ im 5. Semester des Bachelor- Studiengangs Soziale Arbeit. Es setzt theoretische und methodische Grundkenntnisse in der Analyse und der Gestaltung von Vielfalt voraus und zielt auf praktische und theoretische Vertiefung. Die Gegenstände der sieben zur Auswahl stehenden Seminare sind unterschiedlich; gemeinsam ist allen Seminaren, dass sie (theoretisch und/ oder praktisch) Normalitätskonzepte und Machtverhältnisse im Kontext von Diversität analysieren. 1 Die teilnehmenden Studierenden haben die Möglichkeit, aus eher methodisch und eher theoretisch orientierten Seminaren auszuwählen. Das Seminar, dessen Konzeption hier vorgestellt wird, gibt in seiner Beschreibung zu erkennen, dass es erkenntnistheoretische und ethische Fragen verbindet mit Elementen der Selbstreflexion, und dass die thematischen Konkretionen aus philosophischer und theologischer Perspektive reflektiert werden. Die Ankündigung des Seminars skizziert seinen Inhalt folgendermaßen: „Menschen realisieren im Kontakt mit anderen Menschen eigene Vorstellungen von sich selbst, der Welt und dem, was sie für ein gutes Leben für Menschen erachten. Die Gestaltung professioneller Kontakte erfordert es, diesen Prozess zu reflektieren, zu gestalten und die damit verbundenen Normalitätskonzepte kritisch in 1 Vgl. die Modulbeschreibung aus dem Semester 12/ 13 unter: http: / / www.ehfreiburg.de/ inc/ template/ ehfreiburg/ de/ Pdf/ studieren/ vorlesungsverzeichnis / Archiv-SA/ SA_RP%20VV%20WiSe%2012_13.pdf, (8.5.2013). <?page no="232"?> Renate Kirchhoff 214 den Blick zu nehmen. Das Seminar wird das Themenfeld im Diskurs zwischen zwei Disziplinen (Wissenschaft Soziale Arbeit, Theologie) exemplarisch abschreiten. Leitend ist dabei die Einsicht, dass jeder individuelle und soziale Prozess des Wahrnehmens und Bewertens Heterogentitätsdimensionen realisiert. Teilnehmende sollten Lust an der Selbstreflexion, am gemeinsamen Theologisieren und Philosophieren sowie am konstruktiven Streit zwischen unterschiedlichen Perspektiven auf Wirklichkeit mitbringen.“ 2 Beide Fächer sind durch jeweils einen Vertreter bzw. eine Vertreterin der Disziplin vertreten, so dass das Seminar auch durch seine Leitung interdisziplinär ausgerichtet ist. Gefragt nach den Motiven für die Auswahl des Seminars wird deutlich, dass der Themenbezug für die Mehrheit der Studierenden von untergeordneter Bedeutung ist: Nur ein Drittel der etwa 15 Teilnehmenden wählt das Seminar aufgrund seines Themas. Die übrigen nennen die aufgrund der Interdisziplinarität erwartete kontroverse Diskussion zwischen den Dozierenden als Motiv, den Seminarstil der Dozierenden, den sie aus anderen Veranstaltungen schätzen, oder ganz einfach die für sie günstige zeitliche Lage im Semesterplan. Doch wer dieses Seminar wählt, hat sich auf theoretische Zugänge aus den Disziplinen Wissenschaft Soziale Arbeit (WSA) und Theologie eingestellt und ist bereit, sich selbst zu reflektieren. Der theoretische Zugang in der WSA ist insbesondere die erkenntnistheoretische Fundierung professioneller Entscheidungs- und Handlungskompetenz. In der Theologie sind dies vor allem die Lektüre biblischer Texte als Kommunikation und die Reflexion ihrer „Anwendung“; dabei ist bedeutsam, dass es sich bei den Texten nicht nur um christliche Grundtexte handelt, sondern zugleich um Beispiele religiöser Kommunikation. 3 Die Studierenden sind zwischen 20 und 30 Jahren alt; in den Studierendengruppen sind 2/ 3 weiblich. Bisher waren keine muslimischen Studierenden in der Gruppe; jedes Mal sind einige Studierende darunter, die ein Grundwissen über die christliche Religion haben, sowie solche, die christlich 2 Ebd. 3 Vgl. dazu Björn Kraus (2013), Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit, Weinheim; zur Exegese und Hermeneutik Jens Schröter (2000), Zum gegenwärtigen Stand der neutestamentlichen Wissenschaft. Methodologische Aspekte und theologische Perspektiven, NTS 46, S. 162-283; ders. (2010), Wie theologisch ist die Bibelwissenschaft? Reflexion über den Beitrag der Exegese zur Theologie, in: Martin Ebner (u.a.) (Hg.), Wie biblisch ist die Theologie? , (JBTh, 25) Neukirchen-Vluyn, S. 85-104; Marcus Döbert (2009), Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für eine neues Paradigma, (Religionskulturen, 3) Stuttgart. <?page no="233"?> „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ 215 sozialisiert sind und eigene Erfahrung mit christlicher religiöser Praxis mitbringen. 4 Das Modul wird mit einem schriftlichen Leistungsnachweis (Hausarbeit) abgeschlossen. Die Veranstaltung ist als Seminar in zwei Blöcken von jeweils 1,5 Tagen (Freitag/ Samstag) organisiert. 2 Die Ziele des Seminars und ihre Begründungen Ziel des Seminars ist es, die Kontextualität des eigenen Konstruierens von Selbst, Welt und einem guten Leben wahrzunehmen und zu überprüfen sowie sich reflektiert zu eigenen und fremden Konstruktionen zu verhalten. Dazu gehören religiöse Konstruktionen. Unter einer religiösen Konstruktion von Wirklichkeit werden im Seminar Fragen und Antworten verstanden, die Selbst, Welt und ein gutes Leben 5 zum Gegenstand haben. 6 In seinem ersten Block liegt der Schwerpunkt des Seminars darauf, der Kontextualität und Perspektivität der eigenen Wahrnehmung gewahr zu werden und sie theoretisch zu reflektieren unter der Frage nach Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens. In dieser Phase des Seminars dient eine wunderhafte Erzählung dazu, das eigene Konzept von Normalität und die Vorstellungen von christlicher Religion aufzurufen und reflektieren zu können. Anschließend dient ein Rollenspiel aus dem Bereich der Paarberatung dazu, die Vorstellungen von dem, was eine („normale“) Beziehung ist, zu analysieren. Die daran anschließende theoretische Auseinandersetzung mit der Frage von Parteilichkeit versus Neutralität im Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle 7 reflektiert die Einsicht in die Kontextualität von Verstehen im Kontext einer konstruktivistischen Kommunikationstheorie. 8 4 Zum funktionalen Religionsbegriff sowie zur allgemeinen Beschreibung der Religiosität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen s. Kap. 3.2 meines Aufsatzes „Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit“ in diesem Band. 5 Religiöse und philosophische Bildung haben Themen zum Gegenstand, die ich unter „Selbst, Welt und einem gutes Leben“ subsumiere; vgl. dazu Renate Kirchhoff, Hartmut Rupp (2008), Religiöse und philosophische Bildung in Kindertagesstätten, 11f., in: dies. (Hg.), Religiöse und philosophische Bildung (Materialien zur Frühpädagogik, 2) Freiburg i. Br., S. 11-16. 6 Dieser Prozess trägt bei zur Entwicklung von Bemühungen, die in bestimmter Hinsicht fremden Adressaten und Adressatinnen zu verstehen. Was hermeneutische Kompetenz ist, lässt sich beim Lesen biblischer Texte beschreiben und erproben; sie ist paradigmatisch für jede Verstehensbemühung. 7 Björn Kraus (2005), Neutralität als professionelle methodische Haltung in der Sozialen Arbeit. Anspruch und Grenzen, Unsere Jugend. Die Zeitschrift für Studium und Praxis der Sozialpädagogik 4/ 2005, S. 147-157. 8 Für die Soziale Arbeit s. Björn Kraus (2013), Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale <?page no="234"?> Renate Kirchhoff 216 In seinem zweiten Teil liegt der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung der eigenen Vorstellung vom Menschen und der daraus erwachsenden Anforderungen an das eigene Handeln. Die Frage nach dem assistierten Suizid wählten die Studierenden des letzten Seminars als Konkretion. Nach einer grundlegenden Einführung in das Verhältnis von Moral und Ethik werden die Bedingungen und Möglichkeiten moralischen Positionierens und ethischen Reflektierens diskutiert. Die Studierenden nehmen die Relevanz eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus in den Blick und reflektieren, dass zwar aus einer Erkenntnistheorie keine normativen Prinzipien abgeleitet werden können, aber die Erkenntnistheorie die logischen Fundamente und Grenzen ethischen Argumentierens liefert. 9 Vor diesem Hintergrund diskutiert die Seminargruppe die Frage, ob es eine theologische Ethik geben könne und nicht ihre Verpflichtung gegenüber einem Wertesystem dem Anspruch einer Ethik widerspreche; Ziel ist es, zu erarbeiten, dass keine Ethik ohne gesetzte Werte auskommt, und also die Kontextualität kein Spezifikum christlicher Ethiken ist. 10 Die theologische Tradition, die dazu genutzt wird, um ein Element eines christlichen Menschenbildes vorzustellen, ist die paulinische Rede vom christusgläubigen Menschen als Soma/ Leib im Sinne eines Verpflichtungsbegriffs. 11 Meine Ausführungen beschränken sich auf den ersten Teil des ersten Seminarblocks, in dem die Konfrontation mit dem biblischen Text im Mittelpunkt steht. 2.1 Die Fremdheit des Textes und die Kontextualität der eigenen Vorstellungen von Selbst, Welt und einem guten Leben wahrnehmen Die Studierenden haben bereits theoretische und methodische Kenntnisse zur Analyse kultureller und religiöser Kontexte von Zielgruppen. Diese dienen dazu, das eigene fachliche Handeln so gestalten zu können, dass es geeignet ist, Klientinnen und Klienten bei der eigenen Lebensbewältigung zu unterstützen. Hier soll nun die Kontextualität auch der je eigenen Konstruktion von Selbst, Welt und einem guten Leben Gegenstand sein. Selbst, Welt und gutes Leben als Gegenstand der Theologie knüpft an einen funkti- Arbeit, S. 66-117; für die Theologie s. Andreas Klein (2011), Konstruktivistische Diskurse und ihre philosophische und theologische Relevanz, in: Andreas Klein; Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie, Neukirchen-Vluyn, S. 13-43. 9 Kraus (2013), Erkennen, S. 158-179. 10 Johannes Fischer (2007), Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, (Forum Systematik, 11) Stuttgart. 11 Renate Kirchhoff (1994), Die Sünde gegen den eigenen Leib. Studien zu porne und porneia in 1Kor 6,12-20 und dem sozio-kulturellen Kontext der paulinischen Adressaten, (StUNT, 18) Göttingen, S. 138-145. <?page no="235"?> „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ 217 onalen Religionsbegriff an. Dieser dient dazu, einen disziplinären Zugang zu solchen Themen zu eröffnen, die auch grundlegend für die Wissenschaft Soziale Arbeit (WSA) sind und in den alltäglichen fachlichen (und privaten) Vollzügen orientierend wirken. Die genannten Gegenstände der Reflexion eignen sich als ein gemeinsamer Nenner mit der Sozialen Arbeit und der WSA, insofern der Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit (QR SArb) entsprechendes Wissen und entsprechende Kompetenzen benennt. Die „Fähigkeit zur Kommunikation und Interaktion mit allen fachlichen und nichtfachlichen Akteuren des Arbeitsfeldes und ihres gesellschaftlichen Umfeldes“ und die Fähigkeit „unter Berücksichtigung professioneller und ethischer Standards sowie der beruflichen Rolle“ Lösungsstrategien zu entwickeln und die „Ausübung einer Berufsrolle auf der Basis eines reflektiertes Welt- und Menschenbildes“ zählen zu den im Studium zu erreichenden Kompetenzen. 12 Die Sprache, in der diese Fragen gestellt oder auch aktuell beantwortet werden, ist sowohl disziplinär gebunden als auch in sozio-kultureller Hinsicht kontextuell. Jede Disziplin und jeder Mensch greift auf vorhandene sprachliche und traditionelle Systeme zurück, um die eigene Sicht zu konstruieren und zu kommunizieren. Texte, Modelle und Symbole der großen Religionen und Philosophien gehören dazu, ohne dass sie in jedem Fall als solche bekannt wären oder in jedem Fall bewusst als solche rezipiert würden. Im Seminar sollen die Studierenden im Austausch über den biblischen Text erleben, dass sie Unterschiedliches lesen und betonen, und dass sie das Gelesene mit verschiedenen Elementen heutiger Wirklichkeit deutend verknüpfen. Der biblische Text hat dabei katalysatorische Funktion: Da der Verstehensprozess vor allem ein kreativer Konstruktionsprozess der Lesenden ist, 13 konfrontiert die Reflexion des Leseprozesses mit dem Interpretationsverhalten der Lesenden. Aufgrund seines literarischen Kontextes und seiner Wirkungsgeschichte handelt es sich bei dem biblischen Text um religiöse Kommunikation, so dass er Religiosität als eigenes Thema aufruft. 12 Vgl. Ulrich Bartosch (u.a.) (Arbeitsgruppe Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit des FBTS), Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit (QR SArb), http: / / www.fbts.de/ fileadmin/ fbts/ Aktuelles/ QRSArb_Version_5.1.pdf, S. 14-16; (10.5.2013); wegen dieser zu erlangenden Kompetenzen gehören Grundlagen der Hermeneutik und Phänomenologie zu den wissenschaftlichen Grundlagen der WSA. Diese beiden philosophischen Disziplinen sind zugleich Teil der theologischen Dogmatik wie der praktischen Theologie. 13 Vgl. dazu Kap. 1.1 meines Aufsatzes „Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit“ in diesem Band. <?page no="236"?> Renate Kirchhoff 218 2.2 Den Text als religiöse Deutung von Wirklichkeit wahrnehmen Studierende der Sozialen Arbeit sollen religiöse Sprachfähigkeit erwerben. Denn im Kontext fachlicher Kontakte werden sie sich darum bemühen, die Lebenswelten, die subjektive Deutung der Lebenslagen, zu verstehen. Um die religiösen Elemente der Lebenswelten zu identifizieren und in der spezifischen Fassung ihres Klienten beziehungsweise ihrer Klientin verstehen zu können, ist es notwendig, dass die Studierenden die Bilder reflektieren, die sie von Religionen, religiösen Institutionen und religiösen Menschen haben. Die Einsicht, dass sie selbst sich zu den Texten verhalten müssen, die für andere Autorität haben und/ oder denen sie selbst Autorität zusprechen, 14 spricht sie als Subjekte der Konstruktion von Wirklichkeit an und befähigt sie, fremde Konstruktionen überhaupt wahrnehmen zu können, und zwar insbesondere solche Konstruktionen, in denen Selbst, Welt und gutes Leben der Gegenstand sind. Biblische Texte sind dabei nicht nur Zeugnisse und Modelle religiöser Deutung von Wirklichkeit, sondern sie sind auch als Bezugstexte für heutige christliche Deutung von Wirklichkeit im Blick. 2.3 Die eigene wertende Reaktion auf die antike Deutung der Wirklichkeit wahrnehmen und ihre individuellen und sozialen Voraussetzungen reflektieren Biblische Texte sind eine kontextuelle Form, Vorstellungen vom Trägerkreis, seinem Bezug zu anderen Gruppen sowie zur jeweiligen politischen Macht auszudrücken und ideale Merkmale gruppenspezifischen Verhaltens gegenüber anderen Menschen zu artikulieren. Ziel ist es, sie in der Lehrveranstaltung als spezifische, kontextuelle religiöse Kommunikation zu lesen. Nun sind biblische Texte nicht nur alte, sondern auch heilige Texte: Christen und Christinnen weisen ihnen besondere Autorität zu, indem sie sie von Anfang an und bis heute zur Deutung von individueller und sozialer Wirklichkeit heranziehen. Die Bezugnahme auf sie ruft deshalb sowohl für Mitglieder der Religionsgemeinschaft als auch für Nichtmitglieder Vorstellungen davon auf, was christliche Konstruktion von Wirklichkeit ist. Das Lesen eines biblischen Textes regt deshalb sowohl zur Auseinandersetzung mit den im Text repräsentierten Deutungen von Wirklichkeit (Textwelt) als auch mit aktuellen Deutungen (Lesewelt) sowie mit dem eigenen Verhältnis zu christlichen Deutungen von Wirklichkeit an. 15 Zu erwarten ist, dass Studierende nicht nur interessiert, sondern auch ablehnend oder ratlos auf die Konfrontation mit biblischen Texten reagieren. 14 Zur zugeschriebenen Autorität biblischer Texte s. Renate Kirchhoff (2003), Ethik in der Bibel - Bibel in der Ethik: Über die Verwendung biblischer Texte im ethischen Kontext, ZNT 11, S. 25-32. 15 Zu Text- und Lesewelt s. Kap. 1.1 meines Aufsatzes in diesem Band. <?page no="237"?> „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ 219 In der Ratlosigkeit drückt sich u.a. der Zweifel an der fachlichen Relevanz 16 der Beschäftigung mit biblischen Texten aus. Mit Ablehnung reagieren Studierende auf den vermeintlichen Autoritätsanspruch der Texte; mit dieser Ablehnung verweigern sie die Zustimmung zur Autorität nicht nur der Texte, sondern auch der Institution Kirche, die diese repräsentieren. Im Seminar gilt es, die Gründe für die Ablehnung zu ermitteln. Immer wenn heutige Rezipientinnen und Rezipienten in Theologie und Kirche biblische Texte wie ein „objektives Wahrheitskästchen“ nutzen, aus dem sie Aussagen zu Selbst, Welt und einem guten Leben einfach abzuleiten scheinen, wird die Vorstellung von einem Wahrheitsanspruch der Texte selbst, mindestens aber derer, die mit ihnen umgehen, genährt. Rezipientinnen und Rezipienten in Theologie und Kirche mögen den hermeneutischen Prozess der Interpretation teilweise aus pragmatischen Gründen unterschlagen; die fehlende Transparenz fördert allerdings binnenkirchlich eine fundamentalistische Leseweise der Texte, außerhalb der Kirche bestätigt sie die Vorstellung von autoritären, aber illusionären kirchlichen Machtansprüchen. Ein unmittelbarer Anspruch auf Autorität dessen, „was da steht“, ist nicht nur aus hermeneutischen Gründen verfehlt, sondern er basiert auch auf der falschen Annahme, man könne Menschen zur Übernahme von Deutungen bezüglich Selbst, Welt und einem guten Leben zwingen. Für die Generation der heute 20-30-Jährigen (s.o.) ist nicht einmal mehr mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Druck zu rechnen, sich überhaupt zur Religion zu verhalten. Religiöse Deutungen von Wirklichkeit haben auch an einer Evangelischen Hochschule Angebotscharakter, sie sind für Studierende weder selbstverständlich noch unreflektiert akzeptabel. Im Seminar kann die Ablehnung einer verkürzten Anwendung der Texte hermeneutisch reflektiert werden. Dabei ist zu erarbeiten, dass die Skepsis der Studierenden durchaus angebracht ist; sie ist jedoch nicht gegenüber den Texten angebracht, sondern gegenüber den sie Rezipierenden. Denn der Autoritätsanspruch ist kein Merkmal des Textes, sondern ein Merkmal des Vorverständnisses, das die Studierenden aufgrund von eigenen Erfahrungen entwickelt haben und das nun den Lesevorgang prägt. Diese Unterscheidung ermöglicht für diejenigen, die einen Autoritätsanspruch von Kirche kritisieren, die Texte als Deutung von antiker und heutiger Wirklichkeit zu lesen und ihr Potential wahrzunehmen. 16 Die Relevanz ist aus verschiedenen Gründen nicht mehr vorauszusetzen, vgl. dazu Kap. 2 meines Aufsatzes „Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit“ in diesem Band. <?page no="238"?> Renate Kirchhoff 220 2.4. Die Fremdheit des biblischen Textes beschreiben und zur Kontextualität der eigenen Konstruktion von Wirklichkeit in Beziehung setzen Grundsätzlich ist jeder biblische Text geeignet, disparate und deutlich spürbare Reaktionen zu provozieren. Eine wunderhafte Erzählung setzt den Akzent speziell auf ein Element der Fremdheit, das die Verflochtenheit der Religion mit der Kultur verdeutlicht. Die Vorstellung, dass es in Nordeuropa besonders begabte Charismatiker gibt, ist in Nordeuropa weder unter christlichen noch unter nicht-christlichen Menschen evident. Das gilt auch, wenn interkulturelle und interreligiöse Erfahrungen eine Zurückhaltung gegenüber verallgemeinernden Aussagen über das gebieten, was „ist“. Der biblische Text ist nach 70 n.Chr. entstanden. Seine anfängliche Überlieferung gehört in eine Zeit, in der man einzelnen besonders begabten Männern solche charismatischen Machterweise zutraute. Aus diesem Grund wird im Neuen Testament nirgends die Frage aufgegriffen, ob Jesus heilen und exorzieren konnte. Davon gehen die Texte und die Lesenden aus. Strittig war eher, in wessen Vollmacht und zu wessen Gunsten er handelte. Die so genannten Wundergeschichten thematisieren also nicht das Wunder selbst, sondern mittels der Erzählung von dem charismatischen Machterweis ein anderes Problem, das Jesus löst. 17 Deshalb ist es sinnvoll, das Erzählte von der pragmatischen Funktion der Erzählung zu unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung ist noch kein Urteil über die Historizität des Erzählten getroffen; die Frage nach der Historizität des Erzählten ist jedoch zu stellen, und zwar zu gleichen Teilen als Frage nach antiken und aktuellen Vorstellungen von dem, was konsensuell als möglich vorstellbar ist. Eine wunderhafte Erzählung wird im Seminar sehr direkt zur Unterscheidung zwischen dem Erzählten einerseits und der mit der Erzählung intendierten Wirkung auf anfängliche Hörerinnen und Hörer andererseits führen, so dass die Differenz zu den heutigen in Nordeuropa dominierenden Vorstellungen sichtbar wird. Ein Nachteil besteht darin, dass die intendierte Wirkung aus dem Text nicht erschlossen werden kann; vielmehr wird die Seminarleitung auf Nachfrage extratextuelle Informationen zur Verfügung stellen, damit die Studierenden schlussfolgern können. 18 Die Themati- 17 Zur exegetischen Diskussion um die antiken Bezeichnungen für wunderhafte Ereignisse sowie um die Gattungen wunderhafter Erzählungen s. Ruben Zimmermann (Hg.) (2013), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Gütersloh, S. 18-40. 18 Der Text richtet sich an Christusgläubige aus Juden und Heiden im Römischen Reich des 1. Jahrhunderts nach 70 n.Chr.; die Zielgruppe gehört zur in sich differenzierten breiten Unterschicht. Er ist Teil des Markusevangeliums als eines Makrotextes, der die Traumatisierung durch den jüdischen Krieg und die erlebte Diskriminierung durch Teile der römischen Bevölkerung thematisiert und als notwendiges Element der Nachfolgepraxis bewertet. Bei der erzählten Zeit handelt es sich um die letzte Phase des Lebens Jesu, also ca. 30 n. Chr. <?page no="239"?> „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ 221 sierung des langen Atems, den die Studierenden brauchen, um Textwelt und Lesewelt zu unterscheiden, kann genutzt werden für eine Sensibilisierung für die Aufgabe im Zusammenhang anderer kommunikativer Settings. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Kontext dessen, was ein Klient einer Sozialarbeiterin erzählt, dieser nicht bekannt ist; vielmehr tendiert die Vorstellung, ihn zu kennen und sich also nicht mehr um ihn bemühen zu müssen, dazu, ihn zu verkennen und also unfachlich zu handeln. 2.5 Deutung und Bewertung von Wirklichkeit als einen Prozess verstehen, der immer unter Bezugnahme auf Tradition erfolgt Wer biblische Texte verwendet, tut dies in der Regel mit dem Anspruch, eine überindividuell gültige Interpretation der jeweiligen Wirklichkeit zu praktizieren. Dabei wird mittels des Textbezugs zweierlei geleistet: Zum einen richtet er die Aufmerksamkeit auf das Element der Wirklichkeit, das gedeutet werden soll; und zum anderen wirbt er in der Gemeinschaft derer, für die die Bibel Heilige Schrift ist, um Zustimmung zum Ziel der Verwendung des Textes. Insofern hat der Bezug auf biblische Texte die gleiche Funktion wie der Bezug auf die Menschenrechte: Er dient einer wertenden Beschreibung sozialer (und individueller) Wirklichkeit. Mit der Nutzung der Texte ist zugleich der Anspruch verbunden, eine überindividuell gültige Interpretation der jeweiligen Wirklichkeit zu praktizieren - auch darin gleicht der Bezug auf biblische Texte dem Bezug auf die Menschenrechte. Zugleich aber nimmt diese Bezugnahme für sich in Anspruch, dass alle diejenigen, für die diese Texte relevant sind, sich zu dem Element der Wirklichkeit verhalten müssen, das mit ihnen gedeutet wird. Interpretation biblischer Texte geht mit dem Anspruch einher, dass alle Christinnen und Christen - und selbstverständlich auch die wissenschaftliche Theologie - sich mit diesem Element der Wirklichkeit zu beschäftigen haben. Auch das gilt für die Menschenrechte entsprechend; allerdings unterscheiden sich der Kreis der potentiell Mobilisierten, die Traditionssysteme, die herangezogen werden, und die Formen, in denen ihre Akzeptanz gefördert wird. Für Studierende, die keine religiöse Sozialisation erfahren haben und also wenig oder nichts wissen über vergangene und aktuell gelebte Weisen, Wirklichkeit christlich zu sehen, soll Religiosität als eine Sprache sichtbar werden, in der Wirklichkeit beschrieben und gedeutet wird. Säkulare Beschreibung und Deutung von Wirklichkeit hat an der Stelle der Religiosität nicht eine Leerstelle, sondern nutzt andere Traditionen zur Beschreibung und Deutung von Wirklichkeit. <?page no="240"?> Renate Kirchhoff 222 Diese anderen Traditionen auszumachen, ist eine Voraussetzung dafür, sich um ein Verstehen religiöser Interpretation von Wirklichkeit bemühen zu können. 19 3 Die Durchführung 3.1 Hinführung Die Einheit 20 beginnt mit einer grundlegenden Einführung in Gegenstand und Ziel von Hermeneutik in Theologie und WSA und ihrer Relevanz für Kommunikation im Kontext von Vielfalt. Meine Darstellung konzentriert sich auf die theologischen Zugänge, die erkenntnistheoretischen beschreibe ich nicht. 21 Im Focus sind die Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens von schriftlicher und mündlicher Kommunikation. Je ein Beispiel aus dem privaten und dem beruflichen Alltag konkretisiert die Ausführungen. 3.2 Einsatz und Diskussion des Textes: Die Blindenheilung vor Jericho (Mk 10,46-35) A: Die Arbeit mit dem Bibeltext wird eingeführt als Übung, mit der die Kontextualität von Verstehen, die in der Einführung thematisiert wurde, am eigenen Verstehensprozess sowie dem der anderen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer beobachtet werden kann. Die Auswahl eines biblischen Textes wird damit begründet, dass a) ein antiker Text direkter mit der eigenen Distanz zur Kommunikation konfrontiert als zeitgenössische Texte; b) religiöse - in diesem Fall jüdisch-christliche - Kommunikation geeignet ist, eigene existentiell relevante Konstruktionen von Wirklichkeit aufzurufen, zumal die Texte bis heute eine Bezugsgröße für Deutung aktueller 19 Von einem solchen Nebeneinander zunächst gleichberechtigter Konstruktionen von Wirklichkeit auszugehen, bedeutet jedoch nicht, dass eine Bewertung der Konstruktionen unmöglich wäre. Denn das Bemühen um eine Beschreibung von Verschiedenheit löst noch nicht die Konflikte, die aus den in der Verschiedenheit begründeten Interessen entstehen. Zur Notwendigkeit und Möglichkeit wertenden Handelns s. Björn Kraus, Erkennen, S. 158-169; zur theologischen Kritik an einem subjektivistischen Glauben s. Michael Welker (2004), Subjektivistischer Glaube als Falle, EvTh 64, S. 239- 248. 20 Das Seminar beginnt mit der Vorstellung des gesamten Seminars: Leistungsnachweis, Arbeitsformen, grober Ablauf. Es folgt die Vorstellung der geplanten Konkretionen, bei der die Studierenden eigene Wünsche einbringen können; die Einführung endet mit der Vorstellung des Ablaufs des ersten Blocks. 21 Zu den erkenntnistheoretischen Zugängen s. die Einführung von Kap. 2 sowie Kap. 2.1 meines Aufsatzes „Biblische Theologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit“ in diesem Band. <?page no="241"?> „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ 223 Wirklichkeit darstellen. Die Studierenden erhalten Grundinformationen über anfängliche Lesesituationen des Textes, damit sie ihn als Kommunikation im 1. Jh. des römischen Reichs verstehen können. B: Die Studierenden lesen eine Übersetzung, die nah am griechischen Text bleibt. Dies erleichtert es, die Fremdheitserfahrung als solche zu identifizieren. Studierende, die christlich sozialisiert und gebildet sind, erleben durch den Unterschied zu gängigen Übersetzungen eine Irritation; diese verweist darauf, dass Übersetzen und Lesen Konstruktionsprozesse sind und es keinen Konsens hinsichtlich dessen gibt, was dasteht. C: Nach dem gemeinsamen Lesen und der Möglichkeit, erste sachliche Rückfragen zu stellen, reflektieren die Studierenden je für sich 10 Minuten ihre Erstreaktion. Es gehört zur Aufgabe, entstehende Sachfragen zu notieren, diese jedoch gedanklich nicht weiter zu verfolgen. Denn zum einen können sie Sachfragen ohne textexterne Informationen kaum klären; und zum anderen soll sich die Aufmerksamkeit auf die Versuche richten, die kognitiven Dissonanzen zu bewältigen. D: Die Studierenden berichten einander in Dreiergruppen über ihre Erstreaktionen und versuchen, sie mit der eigenen Biographie und der eigenen sozialen und kulturellen Prägung in Verbindung zu bringen, also zu erklären und zu interpretieren. Jede Person berichtet und erklärt 10 Minuten; die anderen hören aktiv zu, enthalten sich jedoch jeglicher Kommentare sowie solcher Fragen, die eines Irrtums oder einer gedanklichen Inkonsistenz o.ä. überführen sollen. Diese sollten sie allerdings kurz notieren, da sie viel über die eigenen Verstehensbemühungen und über die Bewertungen des Gehörten aussagen können. Es gilt wahrzunehmen, was der/ die andere verstanden hat, wie er/ sie auf das Verstandene reagiert hat, und erste Erklärungsversuche zu hören. Nachdem alle über ihre Reaktionen gesprochen und diese reflektiert haben, tauscht sich die Kleingruppe für 30 Minuten anhand von Leitfragen aus: 1.) Gibt es ähnliche Erstreaktionen? Worin genau besteht die Ähnlichkeit? Worauf sind sie zurückzuführen? 2.) Welche Themen und Intentionen des Textes haben Sie ermittelt? Was würden Sie den Text/ die Verfasser/ die Lesenden fragen, um sie genauer zu erfassen? E: Im Plenum (60 Min.) berichten die Studierenden exemplarisch von eigenen Beobachtungen und Analysen, verschaffen sich aktiv weitere Informationen über die Textwelt, die sie brauchen, um die Intentionen des Textes zu skizzieren und reflektieren die Chancen und Gefahren der Bezugnahme auf den Text zur Gestaltung heutiger Wirklichkeit. <?page no="242"?> Renate Kirchhoff 224 4 „Der Text ist einfach unverschämt“ - Eine exemplarische Erstreaktion auf den Text Als Erstreaktion äußerte eine Studentin ihren Ärger: „Der ist einfach unverschämt! “. „Die Autoritätsansprüche der Kirche“ gingen ihr „wahnsinnig auf die Nerven“, es sei ärgerlich, dass Kirche immer noch meine, sie könne den Menschen die Welt erklären und dann auch noch in einer völlig abwegigen Art und Weise. Diesen Autoritätsanspruch sah sie manifestiert in dem wunderhaften Charakter der Erzählung. Auf sie wirkte es, als sollte für wahr gehalten werden, was der vernünftige Menschenverstand einer Studentin bzw. eines Studenten in Nordeuropa des 21. Jh.s in aller Regel nicht als Element der eigenen Wirklichkeitskonstruktion bewertet. Der Austausch über die in der Regel unterschiedlichen interkulturellen Erfahrungen der Studierenden führte zu einer Distanzierung gegenüber dem spontanen eigenen Urteil über sogenannte Wunder. Studierende erarbeiteten, dass es Kulturen gibt, in denen die Vorstellung von dem, was bei uns vor allem „Spontanheilung“ heißt, als Folge der Fähigkeit besonderer Menschen zur Konstruktion von Wirklichkeit gehört. Die knappe Erläuterung von antiken Vorstellungen charismatischer Männer und insbesondere Jesu im Mk bestätigte an diesem Beispiel die Kontextualität jedes Konzeptes von dem, was „wirklich“ ist. Die Kritik an dem vermeintlichen Autoritätsanspruch der Kirche führte zu Diskussionen über ethische Positionen „der Kirche“, die in der Wahrnehmung der Studierenden mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit artikuliert werden. Sie analysierten, dass der Anspruch auf allgemeine Gültigkeit vielfach mit einer Inanspruchnahme biblischer Texte einhergeht. Die Funktion der Texte in solchen Argumentationen ähnelt dem Bezug auf die Menschenrechte in diskursiven Kontexten der Sozialen Arbeit: Hier wie da scheint nur auf den ersten Blick alles gesagt zu sein; die Argumentation muss jedoch erst erweisen, dass der jeweilige Text zu Recht zur Deutung und Bewertung herangezogen wurde. Was die Studentin anfänglich als spezifisch christliche, ideologische Strategie kritisierte, bleibt kritikwürdig, ist jedoch eine Strategie, die nicht spezifisch christlich oder religiös ist. Sondern jede Bewertung von Elementen aktueller Wirklichkeit muss auf Werte zurückgreifen, deren moralische Wirksamkeit von ihrer allgemeinen Anerkennung abhängen. Im Kontext der Debatte um die Textwelt wies ein Student darauf hin, dass der Text „bildlich“ zu verstehen sei. Er thematisiere nicht die Heilung von einer körperlichen Behinderung, sondern von der Schwierigkeit, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Diese These führte zur Rückfrage nach der Situation der Trägerkreise. Historische Informationen über die Situation der Trägerkreise und deren Notwendigkeit, eigene Leidens- und Diskriminierungserfahrungen theologisch zu interpretieren, unterstützten die Unter- <?page no="243"?> „Der Text ist eine Unverschämtheit! “ 225 scheidung des Studenten. Damit war der Text als religiöse Deutung der Situation der Trägerkreise im Blick und also die Unterscheidung zwischen dem Erzählten und seiner Funktion für die Erzählenden und Hörenden. Zugleich wurde deutlich, dass der Text zur Deutung zunächst sozialer, nicht individuell relevanter Situationen diente. Einige Studierende merkten an, dass es eine für sie neue Perspektive sei, dass biblische Texte Kommunikation darstellten und diese eine Funktion für eine soziale bzw. numerische Minderheit hatte. Daraus entstand eine kontroverse Debatte über die Frage, ob der Text zur Deutung heutiger Wirklichkeit herangezogen werden könne und solle. Ein Ergebnis der Debatte war, dass der Text ungeeignet sei, Inklusion zu begründen; er tauge jedoch möglicherweise dazu, dass eine numerische oder soziale Minderheit sich ihrer eigenen Sicht der Wirklichkeit vergewissern kann. Dieses Seminar nutzt erkenntnistheoretische Zugänge zur WSA und Theologie, um Studierende zur Reflexion ihrer kontextuellen Art Wirklichkeit zu konstruieren, anzuregen. Die interdisziplinäre Besetzung ist aus Gründen der Fachlichkeit und aus Gründen der Repräsentanz von Deutesystemen hilfreich: Studierende sind sicher, dass eigene, eventuell noch unausgereifte Einwände gegen religiöse Deuteangebote - für die ich als Theologin stehe - in ihrem Recht unterstützt und gewürdigt werden. Das erhöht die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Fragen nach Selbst, Welt und einem guten Leben und zur Erprobung von Deuteangeboten. Die Verbindung von hermeneutischen und erkenntnistheoretischen Reflexionen mit Übungen und Selbstreflexion ist es, die Studierenden den Raum eröffnet, Religion in fachlichen (und privaten) Kontexten als Option denken zu können. Auswahlbibliographie Döbert, Marcus (2009): Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma. (Religionskulturen, 3) Stuttgart. Kirchhoff, Renate (2003): Ethik in der Bibel - Bibel in der Ethik. Über die Verwendung biblischer Texte im ethischen Kontext. In: ZNT 11, S. 25-32. Klein, Andreas; Körtner Ulrich H. J. (Hg.): Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie. Neukirchen Vluyn, S. 13-43. Kraus, Björn (2013): Erkennen und Entscheiden. Grundlagen und Konsequenzen eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus für die Soziale Arbeit. Weinheim Kraus, Björn (2005): Neutralität als professionelle methodische Haltung in der Sozialen Arbeit. Anspruch und Grenzen. In: Unsere Jugend. Die Zeitschrift für Studium und Praxis der Sozialpädagogik 4/ 2005, S. 147-157. Schröter, Jens (2000): Zum gegenwärtigen Stand der neutestamentlichen Wissenschaft. Methodologische Aspekte und theologische Perspektiven. In: NTS 46, S. 162-283. <?page no="245"?> Desmond Bell Nach dem Text die Selbsthilfegruppe? Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten Abstract: Zur professionellen Selbst- und Sozialkompetenz gehört es in einer pluralistischen Gesellschaft, Mehrdeutigkeiten wahrzunehmen und aushalten zu können. Da biblische Texte mit Blick auf ihre Überlieferungsgeschichte höchst komplex und mit Blick auf ihre Inhalte zumeist in höchstem Maße interpretationsoffen sind, kann in Auseinandersetzung mit ihnen das Aushalten von Ambiguität und Ambivalenz in hervorragender Weise eingeübt und reflektiert werden. Anhand von vier exegetischen Problemkreisen (Urtext, Übersetzung, Intertextualität und Geltungsanspruch) wird die Wahrnehmung von Ambiguität und Ambivalenz in konkreten Lernsituationen exemplarisch inszeniert. Wer in einer von Diversität geprägten Gesellschaft lebt, muss die ihr inhärenten Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen und Aporien 1 wahrnehmen und aushalten können, um nicht an ihnen zu irre zu werden. So zeigen neuere psychologische „Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Ambiguitäts(in)toleranz und anderen Persönlichkeitsmerkmalen [...] einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen Ambiguitätsintoleranz einerseits und Ethnozentrismus, Dogmatismus, Rigidität und Autoritarismus andererseits.“ 2 1 „Ambivalenz“ ist ein mehrdeutiger (! ) Begriff, der in unterschiedlichen Fachwissenschaften unterschiedlich verstanden werden kann. Bauman versteht ihn „als die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“, als „eine sprachspezifische Unordnung“ (Zygmunt Bauman [1995], Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, [Fischer, 12688] Frankfurt am Main, S. 13). Im Folgenden wird er verstanden als die sich in Gefühl oder Willen manifestierende doppelte, nach entgegengesetzten Richtungen hin ausgeprägte Wertigkeit oder Wirksamkeit eines Sachverhalts oder Problems. Ambiguität wird allgemeiner als Zwei- oder Doppeldeutigkeit eines Begriffs oder einer Situation aufgefasst. Damit kann der Handelnde in eine Aporie geraten, d.h. ihm wird es unmöglich, zur Lösung eines Problems zu gelangen, da in der Sache selbst oder in den Begriffen Widersprüche enthalten sind. Knappe Definitionen s.v. bei Georgi Schischkoff (1982), Philosophisches Wörterbuch, 21. Aufl., (Kröners Taschenausgabe, 13) Stuttgart. Zu einer trennschärferen Begrifflichkeit kommt Thomas Bauer (2011), Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin, S. 26-41, indem er die in verschiedenen Fachwissenschaften (u.a. der Psychologie) unterschiedlich ausgeprägten Vorstellungen von Ambiguität und Ambivalenz von seiner Definition „kultureller Ambiguität“ abgrenzt. 2 Bauer (2011), Kultur der Ambiguität, S. 36. <?page no="246"?> Desmond Bell 2 Das folgende Kapitel konkretisiert die aus den bisherigen Beiträgen gewonnenen Erkenntnisse zur Thematisierung Biblischer Theologie im Kontext des Diversitätsdiskurses exemplarisch, indem es Lernsituationen skizziert, die auf die Wahrnehmung von Ambiguität in der biblischen Überlieferung zielen. Dabei ist nicht in erster Linie beabsichtigt, auf die möglicherweise unlösbaren sachlichen Widersprüche innerhalb biblischer Texte abzuheben, wie sie oft in kritischer Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Positionen angeführt werden. Es geht vielmehr darum, für Studierende grundsätzliche Aporien und (bisher) unlösbare Fragen der biblischen Überlieferung darzustellen und diese exemplarisch als Chance zu nutzen, Spannungen auszuhalten und inmitten dieser Spannungen eine Position dazu zu finden. Das vorliegende Kapitel unterscheidet sich von den beiden vorangehenden in doppelter Weise: Zum einen handelt es sich bei den dargestellten Beispielen nicht um ein zusammenhängendes, curricular verankertes Lehr- und Lernkonzept. Die Beispiele sind vielmehr einer Vielzahl unterschiedlicher Kurszusammenhänge entnommen und belegen damit die Möglichkeit, entsprechende Übungen in unterschiedlichen thematischen Kontexten anzusetzen. Zum anderen sind die Seminare, aus denen die Beispiele gewonnen wurden, weniger interdisziplinär orientiert, als dies bei den bisherigen Beiträgen der Fall war. Sie sind vielmehr unmittelbar auf den B.A.-Studiengang Gemeindepädagogik und Diakonie an der Evangelischen Fachhochschule Bochum zugeschnitten, der den Studierenden eine kritische Beschäftigung mit biblischen Texten abverlangt. De iure gibt es zum Besuch der entsprechenden Seminare im Rahmen des Modulhandbuchs keine Alternative. Damit ist allerdings noch nichts über die Motivationslage oder die Vorkenntnisse dieser Studierenden gesagt. Häufig wird irrtümlich angenommen, dass Studierende mit dem Ziel einer professionellen Tätigkeit in Kirche und Diakonie über eine einigermaßen homogene Interessenslage und über ein einigermaßen hohes Interesse an biblischen Texten verfügen. Dies ist zumindest bei den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern an Hochschulen in landeskirchlicher Trägerschaft so nicht vorauszusetzen. In einer Umfrage unter Bochumer Erstsemestern im Wintersemester 2011/ 12 stießen biblische Themen im Durchschnitt nur auf ein mittleres Interesse. Nur 25% der befragten Studienanfängerinnen gaben an, dass sie großes oder sehr großes Interesse an biblischen Texten mitbrächten, 8% bekundeten überhaupt kein entsprechendes Interesse. 3 Darüber hinaus verfügen die meisten 3 Nicole Piroth (2013), Studienmotivation und Berufserwartungen von Studienanfängerinnen und Studienanfängern der Evangelischen Religions- und Gemeindepädagogik, Forschungsbericht, http: / / nbn-resolving.de/ urn: nbn: de: bsz: 960-opus-4162 (28.09.2013), S. 31f.; dies. (2012), „Ich kann später bei der Kirche arbeiten, muss es aber <?page no="247"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 der Studierenden in Bochum zu Beginn ihres Studiums nur über geringe Vorkenntnisse von biblischen Texten und Traditionen. Der Beitrag widmet sich im Folgenden vier ausgewählten Beispielen des Arbeitens mit Ambiguität und Ambivalenz. Vor dem Hintergrund konkreter Lehrerfahrungen wird im ersten Teilkapitel die Mehrdeutigkeit der biblischen Textgrundlage, im zweiten Kapitel anhand von Gal 4,21ff. das Problem der Übersetzungsvielfalt ins Auge gefasst. Im dritten Abschnitt wird anhand des paulinischen Textes zu den spannungsreichen intertextuellen Bezügen zwischen Altem und Neuem Testament geschritten, um dann viertens am Beispiel der Haltung zur Tora auf eine bleibende theologische Ambiguität hinzuweisen. Abschließend werden mit der Frage nach der Notwendigkeit einer „Selbsthilfegruppe“ Überlegungen zu den Konsequenzen einer entsprechenden hochschul- und bibeldidaktisch zugespitzten Seminarsituation benannt. 4 1 Von der Bibel zum Urtext? Bei einführenden Seminaren in das Verstehen biblischer Texte ist es unabdingbar, sich mit der historisch-kritischen Methodik zu beschäftigen. 5 Zum Erlernen der einschlägigen Methoden gehört, dass zunächst einmal Einigkeit über die Textgrundlage erzielt werden muss: Welches Textmaterial meinen wir, wenn wir von „biblischen Texten“ sprechen? Während sich Exegetinnen und Exegeten an dieser Stelle mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden Rechenschaft über ihre Quellen, insbesondere über das Alter und die wissenschaftliche Zuverlässigkeit der für einzelne Textstellen vorhandenen alten Handschriften und Fragmente ablegen (Textkritik), können wir uns im Seminar auf die Frage konzentrieren, welchen biblischen Gesamttext die Studierenden als angemessene Textgrundlage für ihr wissenschaftliches Arbeiten betrachten. Schnell gelangt die Lerngruppe von dieser Ausgangsfrage zu einer Favorisierung des „Urtextes“ bzw. einer Übersetzung, die sich am „Urtext“ oriennicht“. Studienmotivation und Berufsvorstellungen von Studierenden der Religions- und Gemeindepädagogik, in: Praxis Gemeindepädagogik 65 (3), S. 65-70. 4 Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die hier vorgestellten Konkretionen eigens zusammengestellt wurden, um den Umgang mit dem Thema Ambivalenz und Ambiguität zu illustrieren. Sie sind demnach nur eine von vielen hochschuldidaktischen Möglichkeiten, biblisch-theologische Themen gemeinsam zu bearbeiten. 5 Das geschilderte Beispiel stammt aus dem Seminar „Einführung in das Verständnis biblischer Texte“, das im Bachelorstudiengang Gemeindepädagogik und Diakonie an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe im ersten Semester im Rahmen des Moduls „Religion wahrnehmen“ besucht werden muss. Vgl. das gegenwärtig gültige Modulhandbuch des Studiengangs, online zugänglich unter: http: / / www.efh-bochum.de/ modulhb/ BA_GD_MHB_20130301.pdf (28.09.2013). <?page no="248"?> Desmond Bell 2 tiert. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle zunächst in grundsätzliche Fragen und Problematiken der Textüberlieferung eingeführt und folgendes festgehalten: Ein Urtext einer biblischen Schrift im Sinne eines Autographen liegt uns nicht vor. Die Forschungen am biblischen Text können zwar für einzelne Texte mit einiger Wahrscheinlichkeit eine gewisse Übereinstimmung mit dem Autographen behaupten (so z.B. beim Galaterbrief), in den meisten Fällen ist diese Nähe aber nicht anzunehmen, bei den Evangelien sind selbst frühe Überlieferungsstadien durch eine große Vielfalt an Überlieferungen gekennzeichnet. Die Rückfrage nach dem Urtext führt also in eine Situation der Vielfalt. Die heute im Handel erhältlichen Versionen des hebräischen und griechischen Alten Testaments und des Novum Testamentum Graece 6 sind demnach - wissenschaftlich gut begründete - Konstruktionen eines Textes, den es in dieser Form im Altertum nicht gegeben hat. Bereits die Vergewisserung der biblischen Textgrundlagen führt also zu einer (relativ) ambivalenten Ausgangslage: Die Suche nach dem Urtext hat wissenschaftsgeschichtlich eine Vielfalt von Überlieferungen aufgedeckt. Jeder Bezug auf einen „Urtext“ beruht also auf einem Konstruktionsversuch und ist schon insofern nach den Regeln und nach der Motivation für eine solche Rekonstruktion zu befragen. 2 Vom Urtext zur Übersetzung Innerhalb eines Studiums, das sich nicht mit textkritischen Feinheiten beschäftigen kann, ist die Frage nach einer Textgrundlage für das wissenschaftliche Arbeiten auch aus einem anderen Grunde ambivalent: „Bei der reformierten und der lutherischen Bibel handelt es sich nicht um die Übersetzung eines feststehenden Urtextes, sondern um die protestantische Version eines christlichen Kanons, die überhaupt nur in Form von Übersetzungen existiert. Es ist also die Übersetzung das Original - ähnlich wie im Fall der verfaßten Septuaginta.“ 7 6 Einschlägig: Eberhard Nestle; Erwin Nestle; Barbara Aland; Kurt Aland; Holger Strutwolf (Hg.) (2012), Novum Testamentum Graece, 28. Aufl., Stuttgart. Online zugänglich unter: http: / / www.nestle-aland.com/ de/ na28-online-lesen/ (28.09.2013). 7 Ulrich H.J. Körtner (2010), Gegeben und bezeugt - Systematisch-theologische und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte für eine Reform der Lese- und Predigtperikopen, in: Kirchenamt der EKD; Amt der UEK; Amt der VELKD (Hg.), Auf dem Weg zur Perikopenrevision. Dokumentation einer wissenschaftlichen Fachtagung, Hannover, S. 15-43; S. 31. <?page no="249"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 Um zu einem Urteil über die Qualität dieser „Originale“ zu gelangen, zielt eine weitere Seminareinheit auf einen Vergleich deutscher Übersetzungen. Ein solcher Vergleich dient einerseits der Sensibilisierung für Fragen der Übersetzung allgemein, andererseits kann er in der späteren beruflichen Praxis konkret dem Aufspüren schwieriger, interpretationsbedürftiger Begriffe und Textteile dienen. So können bereits im Vorfeld mögliche Scharnierstellen der Textinterpretation identifiziert werden. Um dies einzuüben, werden die Studierenden gebeten, unterschiedliche Versionen eines Textausschnittes aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Galatien (Gal 4,21-26) zu vergleichen. Sie erhalten dazu folgende Aufgaben: 1. Vergleichen Sie zwei Übersetzungen von Gal 4,21-26 miteinander. Versuchen Sie, die jeweiligen Eigenheiten zu bestimmen sowie mögliche Vor- und Nachteile der Übersetzung zu identifizieren. 2. Benennen Sie Stellen, an denen die Texte stark voneinander abweichen, d.h. Stellen, an denen eine spätere Interpretation genau hinsehen muss. 3. Versuchen Sie, Rückschlüsse auf das theologisch-inhaltliche Profil der von Ihnen ausgewählten Übersetzungen oder ihrer Zielgruppen zu ziehen. 4. Für diese Aufgaben wurde bewusst ein Textabschnitt ausgewählt, der beim ersten Lesen nicht allzu auffällig unverständlich ist, auf den zweiten Blick jedoch produktive Verständnisbarrieren eröffnet. Erfahrungsgemäß lenkt die geforderte Arbeit am Übersetzungsvergleich aber zunächst von der Unverständlichkeit des Textes selbst ab, so dass hier später ein gewisser Aha- Effekt erzielt werden kann. 8 Die in Seminaren geäußerte Frage, welcher Text denn die wissenschaftlich beste, also „richtige“ Übersetzung bietet, kann exemplarisch anhand von Gal 4,23 problematisiert werden. Eine Gegenüberstellung von im Seminar verwandten Bibelübersetzungen ergab folgendes Bild: 9 8 Wer einen Text ganz genau liest, hat ihn deswegen noch nicht verstanden. Sehr stark auf Einzelaspekte fokussiertes Lesen kann vielmehr das Textverständnis (ab)lenken und insofern von wichtigen anderen Fragen ablenken. 9 Hervorhebungen im Text: D.B. Zu weiteren Bibelausgaben vgl. die Kurzübersicht von Hellmut Haug (2002), Deutsche Bibelübersetzungen. Das gegenwärtige Angebot, Information und Bewertung. Aktualisierte Neuausgabe, (Wissenswertes zur Bibel, 6) Stuttgart. <?page no="250"?> Desmond Bell 2 Luther 1984 10 Zürcher Bibel 2007 11 Neue Genfer Übersetzung (NGÜ) 2010 12 Bibel in gerechter Sprache (BigS) 4. Aufl. 2011 13 Gute Nachricht Bibel (GNB) 1997 14 Neues Leben (NL) 2002 15 23 Aber der von der Magd ist nach dem Fleisch gezeugt worden, der von der Freien aber kraft der Verheißung. Der von der Magd aber ist auf natürliche Weise gezeugt worden, der von der Freien aber kraft der Verheissung. Und zwar wurde der Sohn der Sklavin infolge von menschlicheigenmächtigem Handeln geboren, der Sohn der Freien hingegen aufgrund einer Zusage ,Gottes‘. Der eine jedoch, der Sohn der Sklavin, war nach den Spielregeln der Macht geboren, der andere dagegen, der Sohn der Freien, durch die Verheißung. Der Sohn der Sklavin verdankte sein Leben den menschlichen Kräften, der Sohn der Freien verdankte es der Zusage Gottes. Der Sohn der Sklavin wurde geboren, weil Abraham versuchte, die Erfüllung der Verheißung Gottes mit menschlichen Mitteln zu erzwingen. Der Sohn der freien Frau aber wurde geboren, weil Gott selbst sein Versprechen erfüllte. Es ist leicht zu identifizieren, dass sich ein Problem der Interpretation hier an einer sachgemäßen Übersetzung des griechischen Wortes σάρξ (sárx, Luther: Fleisch) festmachen lässt. 16 Im Dialog mit den Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern kann erarbeitet werden, 10 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984 (1985), Stuttgart. 11 Zürcher Bibel (2007), Zürich. 12 Neues Testament. Neue Genfer Übersetzung (2010), 3. Aufl., Stuttgart. 13 Ulrike Bail; Frank Crüsemann u.a. (Hg.) (2011), Bibel in gerechter Sprache, 4. Aufl., Gütersloh. 14 Gute Nachricht Bibel. Altes und Neues Testament (1997), mit den Spätschriften des Alten Testaments (Deuterokanonische Schriften/ Apokryphen), revidierte Fassung, Stuttgart. 15 Antje Hoffmann (Hg.) (2002), Neues Leben. Neues Testament mit Psalmen und Sprüchen, Holzgerlingen. 16 (Erst) bei der Luther-Revision von 1984 wurde die von Luther favorisierte durchgängige Wiedergabe von sarx als „Fleisch“ aufgeben und „kontextbezogen verschieden“ übersetzt. Vgl. Wilhelm Gundert (1980=1993), Art. Bibelübersetzungen, IV., TRE 6, S. 266-299; S. 270, Z. 34-40. <?page no="251"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 dass es Unterschiede zwischen philologischen und dynamischäquivalenten Bibelübersetzungen gibt, die Übergänge hier jedoch fließend sind dass alle Übersetzer bereits Vorentscheidungen getroffen haben, die das Verständnis der biblischen Textes leiten (das liegt in der Natur der Sache) und dass es nützlich ist, über diese Unterschiede Bescheid zu wissen dass vor allem in philologisch genauen Übersetzungen heiliger Schriften „stets ein erstaunlich hoher Grad an Unklarheiten [...] toleriert wird“ 17 dass eine intensivere Beschäftigung mit schwer verständlichen biblischen Texten mehr Informationen benötigt als die Übersetzung eines biblischen Textes bieten kann. Auch die Beschäftigung mit Bibelübersetzungen führt also zu einer ambivalenten Situation: Die Studierenden haben ein Mehr-Wissen über die biblische Textüberlieferung, „die Bibel“ muss ihnen aber entgleiten. Dieser Eindruck muss dadurch sekundiert werden, dass in anderen (z.B. eher bibelkundlichen) Seminarkontexten auf die nun naheliegende Frage der Grenzen des biblischen Kanons ebenfalls erweiternde Antworten gegeben werden müssen. Einerseits wird hier auf den unterschiedlichen Kanon der jüdischen und der christlichen Tradition, aber auch auf die konfessionellen Unterschiede - so z.B. zwischen der katholischen und der protestantischen Tradition - aufmerksam gemacht. Andererseits kann ein kanongeschichtlicher Rückblick sowohl auf den „qualitativen Plural“ 18 , die qualifizierte Pluralität des Neuen Testaments als auch die literaturgeschichtliche Problematik der „Ausgrenzung“ theologisch anders gewichteter Traditionen verweisen. 19 Die Beschäftigung mit dem biblischen Text und seiner Geschichte führt also dazu, dass Dynamiken von Sinnfestschreibung und Sinnfreigabe, von Inklusion und Exklusion nachgezeichnet werden und so der biblische Text bereits in seinem pluralen Bestand als ein in sich diverser Text „offenbar“ werden kann. 20 „Die ‚Bibel‘ führt demnach historisch-hermeneutisch gesehen nicht auf einen festen Grund, sondern in ein komplexes Interpretationsgefüge vielfältiger Kommunikationen.“ 21 17 So in Bezug auf die Bibelübersetzungen im Altertum Sebastian P. Brock (1980=1993), Art. Bibelübersetzungen, I.1.1, TRE 6, S. 161; hier: S. 161, Z. 39f. 18 Stefan Alkier (2010), Neues Testament, (UTB basics, UTB, 3404), S. 39. 19 Vgl. a.a.O., S. 39-50. 20 Vgl. unten den Beitrag von Bernhard Mutschler, Die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität. Begriffliche Annäherungen, literarische und historische Beobachtungen, theologische Überlegungen zu einem neueren Diskurs, Kap. 2. 21 Christian Grethlein (2013), Was gilt in der Kirche? Perikopenrevision als Beitrag zur Kirchenreform, (Theologische Literaturzeitung, Forum, 27) Leipzig, S. 23. <?page no="252"?> Desmond Bell 2 3 Vom Text zur Intertextualität Kehren wir zurück zu Gal 4,21-26: „ 21 Sagt mir doch, ihr, die ihr euch dem Gesetz unterstellen wollt: Habt ihr das Gesetz nicht vernommen? 22 Es steht doch geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien. 23 Der von der Magd aber ist auf natürliche Weise gezeugt worden, der von der Freien aber kraft der Verheissung. 24 Dies verweist auf etwas anderes: Die beiden Frauen bedeuten zwei Bundesschlüsse, die eine den vom Berg Sinai, der Nachkommen für die Sklaverei hervorbringt das ist Hagar. 25 Der Name Hagar bezeichnet nämlich den Berg Sinai in der Arabia. Er entspricht dem gegenwärtigen Jerusalem, der Stadt nämlich, die mit ihren Kindern in der Sklaverei lebt. 26 Das himmlische Jerusalem aber, das ist die Freie, und sie ist unsere Mutter.“ (Gal 4,21-26, Zürcher Bibel 2007.) Wie bereits oben geschildert, wird dieser Text im Seminar auch deswegen eingeführt, weil er nicht offensichtlich unverständlich ist, aber dennoch Verständnisschwierigkeiten bietet, an denen sich die Seminarteilnehmerinnen unabhängig von ihren Vorkenntnissen abarbeiten können. Zum Abschluss des Übersetzungsvergleichs muss danach gefragt werden, was dieser Text denn semantisch leistet. Hierzu muss zunächst geklärt werden, auf welche alttestamentlichen Erzählungen sich Paulus in seinen Ausführungen bezieht. An dieser Stelle kann in einem ersten Schritt den Studierenden mit Bibelkenntnis Gelegenheit gegeben, gemeinsam zu rekonstruieren, in welcher Weise „die Bibel selbst“ - bzw. genauer: die Pentateuchredaktion - die von Paulus aufgegriffene Erzelternerzählung genealogisch und chronologisch mit dem Bundesschluss am Sinai verbunden hat. Tabellarisch kann dies so dargestellt werden 22 : Stamm-Vater Abraham Verheißung zum großen Volk machen, ihm einen großen Namen machen, ein Segen sein lassen, in ihm alle Geschlechter auf Erden gesegnet sein lassen (Gen 12,2f; vgl. 22,17f) dies Land geben (Gen 12,7, vgl. 22,17) Bund schließen und über alle Maßen mehren, Vater vieler Völker sein lassen, einen ewigen Bund mit ihm aufrichten (Gen 17,2-7) Stamm-Mütter (Frauen Abrahams) Hagar Sara Verheißung Nachkommen mehren (Gen 16,10) Völker sollen aus ihr werden und Könige über viele Völker (Gen 17,15) Erstgeborene Söhne Ismael Isaak 22 Formulierungen in der Tabelle in Anlehnung an die Luther-Bibel (1984). <?page no="253"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 Verheißung Nachkommen mehren (Gen 16,10), zu einem (großen) Volk machen (Gen 17,20; 21,13) ein wilder Mensch sein und seinen Brüdern zum Trotz wohnen lassen (Gen 16,12) einen ewigen Bund aufrichten (Gen 17,19) Frau der erstgeborenen Söhne eine Ägypterin Rebekka Nachkommen 12 Söhne Esau Jakob [„Ismaeliter“/ „Araber“] 2 Söhne von 2 Frauen 12 Söhne und eine Tochter von 4 Frauen [Edomiter] [Israeliten] Verknüpfung mit Sinaiperikope Emigration der Jakobstämme nach Ägypten Sklaverei Freiheit / Befreiung durch Mose Bundesschluss am Sinai mit Verkündigung der Tora Paulus liegt im Galaterbrief alles daran, die Abrahams-Verheißung für den Christusglauben zu beanspruchen und die Sinai-Tora mit „Unfreiheit“ zu verbinden. Im Rahmen einer typologisch-allegorischen Exegese der Abrahamsgeschichte fokussiert er die „Verheißung“ inhaltlich auf die Christusverheißung und tilgt sie aus der Abraham/ Hagar/ Ismael-Tradition. „Sklaverei“ lädt er im Gegenzug in der Abraham/ Hagar/ Ismael-Tradition inhaltlich auf und blendet sie (mit der gesamten Jakobstradition und der Sinai-Perikope) aus der Abraham/ Sara/ Isaak-Traditionslinie aus. Durch die aus heutiger Sicht abenteuerlich anmutende etymologische Identifikation von Hagar und Sinai gelingt es ihm schließlich, die Tora aus dem Bedeutungsfeld Befreiung/ Freiheit in das vorbereitete Bedeutungsfeld Sklaverei umzusetzen und so „in radikaler Umwertung aller jüdischer (sic) Werte die Gesetzesexistenz Israels durch die Sklavenexistenz Hagars und Ismaels“ 23 zu interpretieren. In einem zweiten Schritt wird deswegen im Seminar rekonstruiert, wie Paulus die Abrahamstradition für seine theologischen Ziele in den Dienst nimmt: 23 Hans Hübner (1984=1993), Art. Galaterbrief, TRE 12, S. 5-14; S. 8, Z. 48-49. <?page no="254"?> Desmond Bell 2 Stamm-Vater Abraham Verheißung ! Verheißung an einen Nachkommen = Christus (Gal 3,16 nach dem gr. Text von Gen 22,18) Stamm-Mütter (Frauen Abrahams) die Magd [Hagar] vs. die Freie [Sara] Konnotation Unfreiheit vs. Freiheit Erstgeborene Söhne auf natürliche Weise gezeugt [Ismael] vs. kraft der Verheißung gezeugt [Isaak] Verknüpfung mit Sinaiperikope Hagar = Sinai ! Emigration der Jakobstämme nach Ägypten Bundesschluss am Sinai [mit Verkündigung der Tora] Bundesschluss am Sinai mit Verkündigung der Tora Konnotation Sklaverei vs. Sklaverei Freiheit / Befreiung durch Mose Identifikation das gegenwärtige Jerusalem [das Judentum zur Zeit des Paulus] vs. das himmlische Jerusalem = „unsere Mutter“ Nachkommen Nachkommen für die Sklaverei vs. [„wir“] Paulus spricht hier dem toraobservanten Israel die legitime und durch die Tora festgelegte Erbfolge Abrahams ab und ordnet sie dem Christusglauben zu. „Die in der Schrift ausgelegte Ursprungs- und Erwählungszeit Israels wird nun auf die erwählte christliche Endzeitgemeinde gedeutet [...].“ 24 Dass eine solche Spannung zwischen der erstmaligen Verwendung von biblischen Motiven und ihrer Neuinterpretation und Weiterverarbeitung in späteren Texten zu Verstehensproblemen führt, lässt sich auch an anderen Paulus-Allegoresen (1Kor 10,1-21; 2Kor 3,7-18) exemplarisch verdeutlichen. 25 Diese Verstehensprobleme werden jedoch nicht dadurch gelöst, dass man die Textgattung identifiziert, ihren Sitz im Leben beschreibt und die Texte in ihrem historischen Kontext erläutert, sie werden auch nicht durch eine genauere literatur- oder sprachwissenschaftliche Analyse des Textes geklärt. Es ergeben sich bei der Beschäftigung mit den paulinischen Texten auch nach einer handwerklich einwandfreien Exegese vielmehr grundsätzliche Fragen nach Inhalt und Anspruch der von Paulus ausgearbeiteten Motivik im Vergleich mit den von ihm herangezogenen Quellen. Von dieser Be- 24 Becker, Jürgen (1998), Paulus. Der Apostel der Völker, 3. Aufl., (UTB Theologie, 2014) Tübingen, S. 491. 25 Entsprechende Beispiele sind an der EFH Bochum dem Seminartyp „Biblische Quellen und Entwicklungen“ zuzuordnen, wie er von Studierenden des BA-Studiengangs Gemeindepädagogik und Diakonie im zweiten Semester besucht werden muss. <?page no="255"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 obachtung ausgehend lassen sich zum einen Rückschlüsse zum Umgang mit biblischen Texten innerhalb der Bibel ableiten: Die Bibel erhält ihre literarische Qualität - wie andere Werke der Weltliteratur - nicht durch Eindeutigkeit, sondern durch die Mehrdeutigkeit (Polyvalenz 26 ) ihrer Texte. Biblische Texte sind nur in ihrer Intertextualität angemessen wahrzunehmen. „Die vorausgesetzten und verwandten Textwelten“ sind „als Zugänge zum Verstehen der neutestamentlichen Texte“ 27 zu entdecken. Bereits innerhalb des Alten Testaments wurden für das Judentum normative Texte so uminterpretiert, dass eine Spannung zwischen dem zugrunde gelegten Text und seinen Neu- Interpretationen entstand. Dies setzte sich in der Verkündigung des Rabbi Jesus und im neutestamentlichen Christentum fort. Klassisch kann dies z.B. anhand der sogenannten „Antithesen“ der Bergpredigt oder der sog. „Erfüllungszitate“ im Matthäus- Evangelium illustriert werden. 28 An eine Harmonisierung der so entstandenen, zum Teil stark divergierenden Traditionen ist nicht zu denken - die Texte bleiben widerständig und müssen entsprechend neu interpretiert werden. Die biblische Tradition lässt es so von Anfang an zu, ja: erzwingt es gewissermaßen, dass sich Theologie (weiter) entwickeln kann. 26 Seit einigen Jahren stößt man in der Biblischen Theologie auch vereinzelt auf den aus den Literaturwissenschaften kommenden Begriff „Polyvalenz“, der den Sinnüberschuss und die Interpretationsoffenheit von biblischen Texten und religiösen Phänomenen abbilden kann, so etwa bei Oda Wischmeyer (2004), Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch, (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 8) Tübingen, S. 160-162; Michael Fricke (2005), "Schwierige" Bibeltexte im Religionsunterricht. Theoretische und empirische Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe, (Arbeiten zur Religionspädagogik, 26) Göttingen, §7 Rezeptionshermeneutik und Bibeldidaktik, S. 201-224. Die Bonner systematische Theologin Cornelia Richter hat in verschiedenen (2013 noch unveröffentlichten) Vorträgen das Modell einer „Theologie der Polyvalenz“ entwickelt. Da sich dieser vielversprechende Begriff jedoch noch nicht etabliert hat, wird er hier zunächst nicht weiter verfolgt. 27 So der Titel des entsprechenden Kapitels in: Wischmeyer, Hermeneutik, 12. Kapitel, S. 185-193; vgl. auch die weiterführenden Literaturhinweise ebd., S. 185. Siehe auch Alkier, Neues Testament, S. 46-50. 28 Vgl. Ulrich Luz (1985), Das Evangelium nach Matthäus, (Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 1, Teilbd. 1) Neukirchen-Vluyn u.a., Kap. II.A.2.2 „Die bessere Gerechtigkeit I: Die Antithesen (5,21-48), S. 244-318, z.B. 297; „Exkurs: Die Erfüllungszitate“, ebd., S. 134-141. „Für Matthäus und für das gesamte Urchristentum gilt: Das Alte Testament macht es erst möglich, daß der auferstandene Jesus verkündigt und verstanden werden kann. Insofern ist es nicht nur verständlich, sondern auch nötig, daß Matthäus im Konflikt mit Israel auf die Bibel programmatisch Anspruch erhebt. Der christliche Glaube kann auf diese - wirkungsgeschichtlich so verhängnisvolle - Dimension nicht verzichten“ (ebd., 141). <?page no="256"?> Desmond Bell 2 Dies lässt sich auch an den paulinischen Schriften aufzeigen: „Paulus hat sich einer Aufgabe gestellt, die unumgänglich war. Er hat unabsehbar weit reichende Konsequenzen bedacht, die sich aus der Jesus-Christus-Geschichte ergaben. In ihr hatte sich der Gott Israels neu und endgültig zu verstehen gegeben. Und dennoch war er derselbe geblieben der Gott, den die Schriften Israels bezeugten.“ 29 Die dadurch entstehenden Spannungen sind nicht aufzuheben. Neben Anknüpfungspunkten für solche grundsätzlichen hermeneutischen Einsichten birgt die Beschäftigung mit Gal 4 darüber hinaus zuletzt auch noch einmal die Möglichkeit, auf die Schwierigkeit angemessener Übersetzungen zu sprechen zu kommen. Wie kann in einer Übersetzung aus dem Koine-Griechischen die Gleichung Hagar = Berg Sinai = heutiges Jerusalem angemessen zur Darstellung gebracht werden? Anhand des Vergleichs neuerer populärer Bibelübersetzungen wird schnell deutlich, vor welchen Schwierigkeiten die Übersetzer von Gal 4,25 stehen: Neue Genfer Übersetzung (NGÜ) 2010 30 Bibel in gerechter Sprache (BigS) 4. Aufl. 2011 Gute Nachricht Bibel (GNB) 1997 Neues Leben (NL) 2002 Volxbibel 2006 31 „Hagar“ steht für den Berg Sinai in Arabien und entspricht dem jetzigen Jerusalem; denn dieses Jerusalem lebt mit seinen Kindern in der Sklaverei. Hagar ist nun der Berg Sinai in Arabien, aber er ist der gleichen Ordnungskategorie zuzurechnen wie die Stadt Jerusalem jetzt; denn sie ist in Sklaverei mit ihren Kindern. Das Wort Hagar bezeichnet nämlich den Berg Sinai in Arabien. Er entspricht dem jetzigen Jerusalem; denn dies lebt mit seinen Kindern in der Sklaverei. Und heute entspricht auch Jerusalem dem Berg Sinai in Arabien, weil es mit seinen Kindern in der Sklaverei lebt. Hagar ist übrigens der arabische Name für den Berg Sinai. Er steht für unser heutiges Jerusalem, für die Juden, die strikt an den Gesetzen kleben und nie wirklich frei werden, weil sie Jesus nicht vertrauen wollen. Entspricht Jerusalem dem Berg Sinai (so NL) oder entspricht das Wort Hagar dem jetzigen Jerusalem (so NGÜ und GNB)? Die Lösung der „Bibel in gerechter Sprache“ überzeugt hier jedenfalls nicht: Was hat es zu bedeuten, den „Berg Sinai in Arabien [...] der gleichen Ordnungskategorie zuzurechnen wie die Stadt Jerusalem“? Besonders ins Auge sticht schließlich die 29 Eckart Reinmuth (2004), Paulus. Gott neu denken, (Biblische Gestalten, 9) Leipzig, S. 243. 30 Neues Testament. Neue Genfer Übersetzung (2010), 3. Aufl., Stuttgart. 31 Martin Dreyer (2006), Die Volxbibel. Neues Testament frei übersetzt. Ein neuer Vertrag zwischen Gott und den Menschen. 3. Aufl. Köln. <?page no="257"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 Problematik der an jugendlichen Leserinnen und Lesern orientierten Aktualisierung der „Volxbibel“: Die Übersetzung zeigt, wie eine sicherlich gut gemeinte Erläuterung („die Juden, die strikt an den Gesetzen kleben und nie wirklich frei werden“) einen latent antijudaistischen Unterton bekommt. Das ist zwar einerseits theologisch leicht zu kritisieren, kommt allerdings andererseits in seiner Schärfe der polemischen Verurteilung der „Judaisten“ durch den Juden Paulus in der historischen Situation des Galaterbriefs rhetorisch seltsam nahe. „Es kann heute nicht mehr wie zu Luthers Zeiten und noch Jahrhunderte darüber hinaus die Bibel für alle (versteht sich: Nichttheologen, die den Text nicht in den Originalsprachen lesen können) geben.“ 32 Der abschließende Blick in die Bibelübersetzungen führt so die Zwickmühle des protestantischen Christentums vor Augen: An den Urtext gewiesen, wurde und wird eine ständig wachsende Zahl von biblischen Texten produziert, die die an Übersetzungen gestellten Problemstellungen unterschiedlich lösen, aber die Grundfrage nach dem Urtext, der gelten soll, gerade nicht mehr aus sich heraus beantworten können. 33 Während etwa der moderne Islam an der (hypothetischen) arabischen Urschrift des Korans festhält und ausblendet, dass auch die alten Handschriften des Korans sich durchaus unterscheiden und in eine wirkungsgeschichtliche Reihenfolge bringen lassen, steht dem Christentum die Ambiguität seiner Überlieferung ständig vor Augen. 34 4 Von der Intertextualität zur Ambiguität Das bereits angesprochene Problem der Ambiguität, das sich nicht nur angesichts der paulinischen Interpretation der Abrahamsgeschichte und der Pentateuchüberlieferung stellt, kann im Rahmen eines biblischtheologischen Seminars besonders anschaulich anhand des Themas „Gesetz“ erarbeitet werden. 35 Folgende exemplarisch ausgewählte intertextuelle Be- 32 Hellmut Haug (2001), Ein Vergleich zwischen den großen „Gebrauchsbibeln“: Lutherbibel - Einheitsübersetzung - Gute Nachricht, in: Walter Groß (Hg.), Bibelübersetzung heute. Geschichtliche Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen - Stuttgarter Symposion 2000, (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, 2) Stuttgart, S. 360. 33 In der Rückschau stellte Gundert bereits 1980 fest, die Vielzahl moderner Übersetzungen habe „den Vorteil, dass die Bibel verständlicher wird, aber auch den Nachteil, daß der Wortlaut biblischer Kernstellen nicht mehr im Gedächtnis haften kann“ (Gundert, Bibelübersetzungen, S. 268, Z. 29-31). 34 Vgl. Grethlein, Was gilt? , S. 24, sowie Bauer, Die Kultur der Ambiguität, S. 94-109 („Vielfalt als Ärgernis“). 35 Die hier geschilderten Beispiele stammen aus dem Seminartyp „Grundfragen biblischer Theologie“, der - mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen - im Bachelorstudiengang Gemeindepädagogik und Diakonie an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe im fünften Semester im Rahmen des Moduls <?page no="258"?> Desmond Bell 2 ziehungen ergeben ein spannungsreiches Feld von Tora-Deutungen, die in ihrem jeweiligen historischen Kontext unbedingte Geltung beansprucht haben. In arbeitsteiligen Gruppenarbeiten können sie einander zugeordnet und gegeneinander abgewogen werden. A) Die Haltung des Paulus zum Gesetz im Galater- und im Römerbrief Wenn Paulus im Galaterbrief das Gesetz kategorial abwertet, widerspricht dies seiner späteren Haltung zur Tora im Römerbrief. „Im Gegensatz zum Röm, in dem das Gesetz in dialektischer Argumentation sowohl zur Rechtfertigung unfähig (3,20; 8,3) als auch als Gottes Gesetz heilig und pneumatisch genannt (7,12.14; s. auch 8,2) und das Gebot als εỉς ζωήν (7,10) charakterisiert werden kann, wird in Gal 3,19f mit dem Argument vom ε ἷ ς θεός, der per definitionem keinen Mittler hat, die Inferiorität des Gesetzes gerade durch die Absentierung Gottes aus dem Gesetzgebungsprozeß bewiesen [...]. Die antinomistische Spitze des Gal gipfelt in der Behauptung von der gleichen versklavenden Funktion von Gesetz und Weltelementen (vgl. 3,23.25; 4,2 mit 4,3.9).“ 36 Dem im Römerbrief veränderten Verständnis des Gesetzes entspricht für Paulus im Übrigen auch ein differenzierteres Verhältnis zu seinem Volk Israel, das auch noch für die späteren Christen ein „bleibendes Rätsel“ 37 sein wird. B) Paulus und Matthäus Das Matthäus-Evangelium und das Corpus Paulinum unterscheiden sich u.a. im Hinblick auf ihren zeitgeschichtlichen Kontext, ihre Zielgruppe und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Matthäus-Redaktion hat ihrem Evangelium im letzten Viertel des 1. Jahrhunderts, also nach dem Tod des Paulus, seine jetzige Gestalt gegeben. Sie blickt aus ihrer damaligen politischen und gesellschaftlichen Situation auf die Jesus-Geschichte und auf die Anfänge der Christenheit zurück. Zwischen ihr und dem Tod Jesu liegt eine der größten Katastrophen des jüdischen Volkes: die Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels durch die römische Besatzungsmacht im Jahre 70 und der damit verbundene Verlust des symbolischen Zentrums jüdischen Glaubens. Auch die judenchristliche Urgemeinde war aus Jerusalem verschwunden. Zwar gibt es nach dem Jahre 70 auch dort wieder eine Versammlung von Christinnen und Christen. „Aber diese neue Gemeinde hat keine Bedeutung für die Gesamtkirche mehr. Sie ist nicht mehr die ‚Urgemeinde‘.“ 38 „Elementare Theologie in gesellschaftlicher Pluralität“ (Modulhandbuch 2013) besucht werden muss. 36 Hübner, Art. Galaterbrief, S. 8, Z. 35-39. 37 Siehe Reinmuth, Paulus, Kap.B. 9, S. 164-181. 38 Hans Conzelmann (1989), Geschichte des Urchristentums. 6. Aufl., (Grundrisse zum Neuen Testament, 5) Göttingen, S. 94. <?page no="259"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 Die Zielgruppe des Matthäus-Evangeliums war eine judenchristliche Gemeinde, das heißt sie begriff sich als jüdische Gemeinde, die in dem Rabbi Jesus den Messias Israels sah. 39 Dass diese judenchristliche Gemeinde den Bruch mit dem Mehrheitsjudentum bereits vollzogen hatte, bzw. dass das von pharisäischen Traditionen geprägte Judentum nach 70 bereits selbst die äußere Trennung von der judenchristlichen Gemeinde des Matthäus vollzogen hatte, wird heute kaum noch bestritten. 40 Matthäus spricht in Mt 23,34 von „ihren“ Synagogen, seine Gemeinde hat also eine abgrenzbare Gemeinschaftsform und einen eigenen Gottesdienst. Dennoch erkennt er scheinbar in Mt 23 - im Unterschied zu Paulus - die Pharisäer in Bezug auf ihre Lehre (allerdings ausschließlich in dieser Hinsicht) rückblickend als Autoritäten an: „ 1 Dann redete Jesus zum Volk und zu seinen Jüngern: 2 Auf den Stuhl des Mose haben sich die Schriftgelehrten und Pharisäer gesetzt. 3 Was immer sie euch sagen, das tut und haltet! Nach dem, was sie tun, aber richtet euch nicht, sie reden nur, aber tun nicht danach.“ (Mt 23,1-3, Zürcher Bibel 2007.) Während nach Paulus‘ Ansicht die Tora für die Heidenchristen abgetan ist, schlägt der matthäisch perspektivierte Jesus von Nazareth einen anderen Tonfall an: „ 17 Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Nicht um aufzulösen, bin ich gekommen, sondern um zu erfüllen. 18 Denn, amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, soll vom Gesetz nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vergehen, bis alles geschieht. 19 Wer also auch nur eines dieser Gebote auflöst, und sei es das kleinste, und die Menschen so lehrt, der wird der Geringste sein im Himmelreich. Wer aber tut, was das Gebot verlangt, und so lehrt, der wird gross sein im Himmelreich. 20 Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.“ (Mt 5,17-20, Zürcher Bibel 2007.) Dies kann aus der judenchristlichen Situation des Matthäus-Evangeliums erklärt werden, wurde jedoch im Kontext des Neuen Testaments an eine mehrheitlich aus Heidenchristen bestehende junge Christenheit überliefert, die das Matthäus-Evangelium bald zu ihrem beliebtesten Evangelium machte. Damit lesen und hören auch heutige Christinnen und Christen in aller Welt eine Botschaft, die sie auf die Tora verpflichtet - wenn auch auf eine Tora, die durch die vollmächtige und eigenständige Interpretation Jesu von Nazareth akzentuiert und durch das Doppelgebot der Liebe reguliert wird. Der grundsätzlichen Geltung der Tora tut dies jedoch aus Sicht des Evangeliums keinen Abbruch. Vielleicht nicht vom ursprünglichen judenchristli- 39 Vgl. Luz, Matthäus, I/ 1, Einleitung, Kap. 5 „Die Situation des Matthäusevangeliums“, S. 61-77; insbesondere: S. 62-65. 40 Vgl. a.a.O., S. 70-72. <?page no="260"?> Desmond Bell 2 chen Kontext des Matthäusevangeliums her, wohl aber im Kontext seiner späteren Wirkungsgeschichte steht die Gesetzesbotschaft des matthäischen Jesus damit nicht nur der paulinischen Botschaft von der Freiheit vom Gesetz, sondern auch dem Ethos des Christentums seit dem 2. Jahrhundert scharf gegenüber. C) Paulus und das Apostelkonzil Die Frage, welche Haltung zum Gesetz die angemessene christliche Haltung sein könne, war bekanntlich bereits in der frühen Christenheit umstritten. Das Vorhandensein von zwei Konfliktparteien und deren grundsätzlichen Positionen wird sowohl durch Paulus als auch durch die Schilderung der lukanischen Apostelgeschichte illustriert. Auffällig ist jedoch, dass beide Quellen von einer unterschiedlichen Lösung berichten. Während Paulus in Gal 2,1-10 für sich reklamiert, ihm sei bei seiner Heidenmission von den Autoritäten in Jerusalem nichts außer der Kollekte auferlegt worden, 41 stellt die Apostelgeschichte in ihrer Erzählung zum (fälschlich) sogenannten „Apostelkonzil“ in Act 15 als Kompromiss gegenüber den „gläubig gewordenen Juden“ (Act 11,2) das „Aposteldekret“ vor, das in den „Jakobusklauseln“ immerhin vier aus Lev 17-18 abgeleitete Enthaltungsforderungen für die Christusgläubigen aus den Völkern vorsieht: „ 28 Denn der heilige Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzubürden, ausser dem, was unerlässlich ist, nämlich: 29 euch fernzuhalten von Opferfleisch, Blut, Ersticktem und Unzucht; wenn ihr diese Grenze wahrt, handelt ihr richtig. Lebt wohl! “ (Act 15,28f., Zürcher Bibel 2007.) Die Enthaltungsforderungen beziehen sich auf den Genuss von in heidnischen Kulthandlungen geschlachtetem Fleisch, auf unerlaubte Ehen unter nahen Verwandten, auf nicht geschächtetes Fleisch sowie auf Nahrungsmittel, die Blut enthielten. 42 Der Textvergleich führt zu einer Reihe von (nicht mit Sicherheit entscheidbaren) Fragen: Hat Paulus diesen aus Sicht der judenchristlichen Urgemeinde sicherlich als sehr weitgehend empfundenen Kompromiss und damit das „wichtigste Ereignis in der Geschichte der Urkirche“ 43 (Roloff) unterschlagen? Oder hat er „die Geltung des Aposteldekrets [als] auf Syrien 41 „Einzig an die Armen sollten wir denken; eben das zu tun, habe ich mich auch eifrig bemüht“ (Gal 2,10, Zürcher Bibel 2007). 42 Vgl. Rudolf Pesch (2012), Die Apostelgeschichte, (Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament - Studienausgabe, 5) Neukirchen-Vluyn (u.a.), S. 81. Wenn diese Übereinkunft Geltung behalten hätte, wären die christlichen Gemeinden heute ebenso an rituell geschlachtetes Fleisch gewiesen wie die jüdischen und die muslimischen. 43 Jürgen Roloff (1981), Die Apostelgeschichte, insg. 17. Aufl., 1. Aufl. dieser Fassung, (Das Neue Testament Deutsch, 5) Göttingen, S. 222. <?page no="261"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 und Zilizien beschränkt“ 44 angesehen? Ist das Aposteldekret erst nach dem Galaterbrief in Kraft getreten, vielleicht so spät, dass Paulus es nicht mehr in seinen für das Problem relevanten Schriften erwähnen konnte? Auf welche Quelle kann Lukas sich berufen? Und kann davon ausgegangen werden, dass die von ihm beschriebenen „Jakobusklauseln“ (Act 15) „in der frühen Kirche teilweise noch lange wirksam“ waren, „bevor der westliche Text die Enthaltungsforderungen moralisch interpretierte“ 45 ? Am Beispiel von den oben aufgeführten Texten zur Geltung der Tora müssen alle drei Seminargruppen (A-C) sich mit der grundsätzlichen Frage von Deutung und Geltung biblischer Texte auseinandersetzen. Dabei sind alle drei Gruppen mit der Situation konfrontiert, dass sie an einem Thema arbeiten, das für das frühe Christentum eklatante Bedeutung hatte, das für das heutige Christentum (also auch für die Gruppenmitglieder) kaum noch Relevanz zu haben scheint. Dies bietet im Gegensatz zu medial wirksameren Themen (wie sexuelle Orientierung, Familie, Armut und Reichtum) den Vorteil, dass die Seminarmitglieder nicht bereits mit einer der beschriebenen Positionen emotional identifiziert sind oder werden. Exemplarisch können sie auf diese Weise lernen, widersprüchliche Texte zueinander in Bezug zu setzen, die Vielfalt der biblischen Zeugnisse zu einem Thema wahrzunehmen und die dadurch spürbar werdende Ambiguität zu verarbeiten. Sie können einüben, Verantwortung für eine angemessene hermeneutische Entscheidung gegenüber divergierenden Geltungsansprüchen und für eine darauf aufbauende angemessene Textinterpretation zu übernehmen, um sich dann zu einem späteren Zeitpunkt - mit dem entsprechenden methodischen Handwerkszeug und der notwendigen inneren Distanz - auch polarisierenderen biblisch-theologischen Themen zuzuwenden. 5 Von der Ambiguität zur Selbsthilfegruppe? „Eine ambige Situation (ambiguous situation) läßt sich definieren als Situation, die von einer Person nicht adäquat strukturiert oder kategorisiert werden kann, weil sie die dazu nötigen Hinweise (cues) nicht besitzt. Es lassen sich drei Arten dieser Situationen unterscheiden: Vollständig neuartige Situationen, bei denen die mit ihnen konfrontierten Personen noch über keine Hinweise zu ihrer Bewältigung verfügen; komplexe Situationen, bei denen eine große Zahl von Hinweisen berücksichtigt werden muß, und widersprüchliche Situationen, bei denen verschiedene Komponenten und Hinwei- 44 Pesch, Apostelgeschichte, S. 89. 45 A.a.O., S. 90. <?page no="262"?> Desmond Bell 2 se jeweils unterschiedliche Strategien plausibel erscheinen lassen, also kurz gesagt: neuartige, komplexe und unlösbare Situationen.“ 46 Für viele Studierende an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften müssen die in den vorangegangenen Abschnitten geschilderten Problemstellungen auf den ersten Blick neuartig, komplex und unlösbar erscheinen. Dem kann auch die neutestamentliche Wissenschaft kein einheitliches Denkmodell entgegenstellen - die Studierenden müssen sich eigenverantwortlich dazu verhalten. In einer nur halb scherzhaft gemeinten („ambigen“) Bemerkung äußerte ein Seminarteilnehmer vor einigen Semestern, dass die Studierenden wohl nach einer solchen zu Recht als irritierend empfundenen Seminareinheit eine Art Selbsthilfegruppe benötigten. Dieser Vorschlag hat insofern eine durchaus ernsthafte Komponente, als die Studierenden in der Tat letztlich selbst einen Weg finden müssen, mit den im Seminar aufkeimenden Fragen von Ambiguität und Ambivalenz produktiv umzugehen. Es ist kein Geheimnis, dass dies nicht von allen Studierenden akzeptiert wird. An einigen Hochschulorten führt dies beispielsweise dazu, dass Studierende aus dem evangelikalen Spektrum zu Tutorien oder Gesprächskreisen einladen, in denen auch in wissenschaftlichen Fragen Komplexität reduziert und Eindeutigkeit simuliert wird. Eine Seminarleitung tut deswegen gut daran, auch in einem biblischtheologischen Seminar über die einzelne Seminarstunde hinaus Gesprächsangebote zu signalisieren und deutlich zu machen, dass das Ausweichen in „Dogmatismus, Rigidität und Autoritarismus“ 47 angesichts der offensichtlichen Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt keine intellektuell redliche, zukunftsfähige Antwort bietet. Im Gegenteil: „Wer sich der Ambivalenz des Lebens bewusst ist, kann toleranter werden, wird kritisch nach der ‚Kehrseite der Medaille‘ fragen und manches gerechter einordnen. Wer sich klar macht, dass widersprüchliche Spannungen menschlich und auch der Bibel nicht fremd sind, braucht sich nicht zu schämen, braucht kein schlechtes Gewissen zu haben und braucht seine Gefühle nicht zu unterdrücken.“ 48 46 Stanley Budner (1962), Intolerance of Ambiguity as a Personality Variable, in: Journal of Personality 30, S. 29-50; S. 30, hier zitiert in der Übersetzung von Bauer, Ambiguitätstoleranz, S. 37. 47 Bauer (2011), Kultur der Ambiguität, S. 36 (Wiederaufnahme von Anm. 2, s.o.). 48 Christine Reents (2009): „Ambivalenzen der Seelsorge“ - was kann ich mit diesem neuen Begriff verbinden? Nur ein Alptraum von einer Klausur. Anstelle eines Nachworts, in: Anja Kramer (Hg.), Ambivalenzen der Seelsorge (FS Michael Klessmann), Neukirchen-Vluyn, S. 227-230; S. 230. <?page no="263"?> Mit der Bibel Ambiguität und Ambivalenz aushalten 2 Auswahlbibliographie Alkier, Stefan; Hays, Richard B. (Hg.) (2005): Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre. (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 10) Tübingen. Bauer, Thomas (2011): Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin. Dohmen, Christoph (1998): Die Bibel und ihre Auslegung. (C.H. Beck Wissen in der Beck‘schen Reihe, 2099) München. Fricke, Michael (2005): „Schwierige“ Bibeltexte im Religionsunterricht. Theoretische und empirische Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe. (Arbeiten zur Religionspädagogik, 26) Göttingen. Grethlein, Christian (2013): Was gilt in der Kirche? Perikopenrevision als Beitrag zur Kirchenreform. (Theologische Literaturzeitung, Forum, 27) Leipzig. Wischmeyer, Oda (2004): Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch. (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 8) Tübingen. <?page no="265"?> 5 BIBLISCHE THEOLOGIE UND DIVERSITÄT <?page no="267"?> Bernhard Mutschler Die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität - Begriffliche Annäherungen, literarische und historische Beobachtungen, theologische Überlegungen zu einem neueren Diskurs Abstract: Diversität - in der Exegese weithin noch ein fremder Begriff - ist in mehrfacher Hinsicht ein Charakteristikum biblischer Schriften. Sie ist kanonisch und literarisch, kulturell und historisch, sozial und theologisch fassbar und beschreibbar. Fokussiert man Diversität unter Menschen, dann gelten insbesondere schwächeren Mitmenschen Schutz und Aufmerksamkeit in der Bibel. In diesem Sinn steht Jesus von Nazareth wie niemand sonst für eine grundlegende Diversitätssensibilität, Diversitätsfreundlichkeit, Diversitätsreduktion und Diversitätsgerechtigkeit gegenüber Menschen. Christliche Diversitätskompetenz ist letztlich trinitarisch begründet und heilsgeschichtlich motiviert. Insofern ist die Bibel Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität. „Und Jesus zog umher in allen Städten und Dörfern, lehrte in ihren Synagogen, verkündigte das Evangelium vom Reich und heilte jede Krankheit und jedes Gebrechen.“ (Mt 9,35, vgl. bereits 4,23-25) Bibel und Diversität? Überschriften dieser Art sind eine seltene Kombination, die zudem dem Verdacht überzogener Zeitläufigkeit ausgesetzt sein dürfte. Für die Bibelwissenschaft selbst ist Diversität der Sache nach nicht unbekannt, im Gegenteil. Dann aber sollte auch entsprechend gefragt werden dürfen: Welches Verhältnis nimmt die Bibel zu Fragen der Diversität ein? Wie diversitätsfreundlich oder -feindlich ist sie? Wie könnte man Diversität von Menschen biblisch bestimmen? Welcher Umgang mit menschlicher Diversität ist in biblischen Schriften zu finden? Ergebnis und These dieses Artikels ist, dass die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für eine religiöse Fundierung des Umgangs mit Diversität sehr gut geeignet ist. Im Folgenden werden zunächst (1) Annäherungen an den Begriff Diversität - diversity - diversité unternommen sowie seine gegenwärtige Relevanz und mögliche Bewertungen vorgestellt. Anschließend wird (2) Die Bibel als ein diversitätsfreundliches Buch vorgestellt, ehe <?page no="268"?> Bernhard Mutschler 250 (3) Beobachtungen zum biblischen Umgang mit menschlicher Diversität aufgeführt werden. (4) Biblisch-theologische Überlegungen für einen gegenwärtigen Umgang mit menschlicher Diversität führen sodann auf einen Abschnitt zur (5) Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität. Zwar enden bereits mehrere Abschnitte mit einem „Ergebnis“, aber eine (6) Zusammenfassung rekapituliert und schließt den gesamten Beitrag ab. 1 Diversität - diversity - diversité. Annäherungen an einen modernen Begriff, seine gegenwärtige Relevanz und mögliche Bewertungen Das im allgemeinen Sprachgebrauch des Deutschen erst seit wenigen Jahren beheimatete Fremdwort „Diversität“ könnte durchaus auf den ersten Blick in den Verdacht eines Modewortes kommen. Umso notwendiger sind zunächst sprachliche und inhaltliche Annäherungen an den Begriff. Nach Gedanken zu (1) Herkunft und Wortgebrauch von Diversität werden verschiedene Gründe für die (2) rezente Steigerung der Relevanz des Begriffs genannt, ehe die Frage nach (3) möglichen Bewertungen von Diversität unter Menschen gestellt und ein kleiner Überblick über grundlegende Diversitätsmerkmale gegeben wird. Ein erstes (4) Ergebnis schließt den Kreis der Annäherungen an den modernen Begriff ab. 1.1 Sprachliche Annäherungen Beim Hören von Diversität, diversity oder diversité ist der lateinische Hintergrund unüberhörbar, beim Lesen unübersehbar. Das lateinische Substantiv diversitas bedeutet „Verschiedenheit“, „Unterschied“, aber auch „Gegensatz“ und „Widerspruch“. 1 Es enthält zwei Wortbestandteile: das Präfix dī- oder dis („auseinander“, deutsch etwa „zer-“ oder „ver-“), die „das Entgegengesetzte des simplex“ ausdrückt, 2 und das Verb vertere (archaistisch vortere, vgl. althochdeutsch werdan und deutsch „werden“ 3 ) mit den Bedeutungen „keh- 1 Thomas Baier; Tobias Dänzer (2013), Der neue Georges. Ausführliches Lateinisch- Deutsches Handwörterbuch, Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet von Karl-Ernst Heinrich Georges, hrsg. von Thomas Baier, bearbeitet von Tobias Dänzer, Bd. I, Darmstadt, Sp. 1733f. 2 Baier; Dänzer, Georges I, Sp. 1691. 3 Alois Walde; Johann Baptist Hofmann ( 5 1982), Lateinisches etymologisches Wörterbuch von A. Walde, Registerband zusammengestellt von Elsbeth Berger, Bd. II, 5., unveränderte Aufl., 3 Bände, (Indogermanische Bibliothek, Zweite Reihe: Wörterbücher) Heidelberg (= Nachdruck der Aufl. Heidelberg 1938-1965), S. 765. <?page no="269"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 251 ren, wenden, drehen, umkehren, umwenden, umdrehen“. 4 Demzufolge bezeichnet diversitas, was sich „auseinander kehrt, auseinander wendet, auseinander dreht“ oder „ver-schieden“ ist, was als ungleich, nicht zusammengehörig oder -passend wahrgenommen wird. Diversitas ist als Lehnwort ins Deutsche, Englische, Französische und weitere Sprachen - zumal romanische - eingewandert. 5 Bei der auch im Deutschen gebräuchlichen Form Diversity (meist groß, manchmal auch klein und kursiv geschrieben) handelt es sich um ein indirektes Lehnwort, das auf dem Umweg über das Englische in den deutschen Sprachraum eingewandert ist. In neueren theologischen oder religionswissenschaftlichen Wörterbüchern findet sich weder ein Eintrag unter dem Lemma Diversität noch Diversität als Schlagwort im Stichwort- oder Gesamtregister.6 Auch allgemeine Wörterbücher des Deutschen verzeichnen den Begriff noch vor kurzem nicht,7 neuerdings jedoch mit den Bedeutungen „Vielfalt, Vielfältigkeit“8. In diesem Sinn kommt der Begriff im Deutschen zunächst in naturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Kontexten vor. Namentlich in den Bereichen von Umweltschutz, organischer Chemie und dem Risikomanagement von technischen Systemen (Ausfallschutz) sowie in soziologischen, kulturwissenschaftlichen und sozialarbeiterischen Diskursen wird seit wenigen Jahrzehnten mit dem Begriff Diversität jeweils fachspezifisch gearbeitet. In den Kontexten von Natur, Wirtschaft, Technik und Gesellschaft wird das Wort daher zwar durchaus verschieden gebraucht; im Kern geht es jedoch darum, eine Vielfalt zu verstehen, zu entwickeln, zu verbinden, zu erhalten oder auszutarieren. Kurzum: Vielfalt proaktiv in den Blick nehmen und gestalten. Im Vergleich zu Begriffen wie Transformation, 4 Baier; Dänzer, Georges II, Sp. 4986. 5 Span. diversidad, ital. diversitá, portug. diversidade, rumän. diversitate, rätorom. diversitad. 6 S. Walter Kasper et al. (Hg.) (2009), Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bände, Sonderausgabe (= durchgesehene Ausgabe der 3. Aufl. 1993-2001), Freiburg et al. (katholisch); Hans Dieter Betz et al. (Hg.) (2008), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4., völlig neu bearbeitete Aufl., 8 Bände und Registerband, Ungekürzte Studienausgabe (= 4 1998-2007), (UTB, 8401) Tübingen (evangelisch); Hubert Cancik et al. (Hg.) (1988-2001), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe , 5 Bände, Stuttgart (religionswissenschaftlich); Christoph Auffarth et al. (Hg.) (1999-2002), Metzler Lexikon Religion, Gegenwart - Alltag - Medien, 4 Bände, Stuttgart/ Weimar (ebenfalls religionswissenschaftlich). 7 Ursula Hermann; Lutz Götze (2005), Wahrig. Die deutsche Rechtschreibung verfasst von Ursula Hermann, völlig neu bearbeitet und erweitert von Lutz Götze, Gütersloh/ München; Klosa, Annette et al. (Hg.) (1996), Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache, 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., hrsg. von der Dudenredaktion, Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln, Mannheim. 8 Matthias Wermke et al. (Hg.) ( 24 2006), Duden. Die deutsche Rechtschreibung, 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., hrsg. von der Dudenredaktion, Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln, Mannheim et al., S. 325. <?page no="270"?> Bernhard Mutschler 252 Entwicklung oder Verlauf eignet dem Wort Diversität ein synchroner, statischer und indirekt vergleichender Charakter; im Vergleich zu Differenz und Divergenz signalisiert Diversität mehr Breite und Unbestimmtheit. Wenn von Diversität die Rede ist, bezieht sich dies in der Regel auf die Gegenwart und auf ein wertungsfreies Mehr-als-Zwei, das irgendwie miteinander vergleichbar sein könnte, ohne bereits konkret verglichen zu werden. Demgegenüber bilden Hintergründe, Entstehung und Perspektiven von Diversität ebenso wie Vergleiche bereits erweiterte Fragestellungen. Zur Wortfamilie gehören Diversifikation, diversifizieren, diversitär und divers. Letzteres wird auch als unbestimmte Mengenangabe im Sinn von „zahlreich“ oder „mehrere“ verwendet. In den theologischen Sprachraum kommt das vermeintlich neue, im Kern freilich sehr alte Wort Diversität über seine gesellschaftswissenschaftliche Wurzel: die Verschiedenheit von Menschen. 9 Allerdings erfolgt die Rezeption im Bereich von Theologie und Bibelwissenschaft sehr zögerlich. 10 Die folgenden Erwägungen beziehen sich pointiert auf Formen der Diversität unter Menschen. 1.2 Zur gegenwärtigen Relevanz von Diversität unter Menschen Diversitätserfahrungen unter Menschen gehören seit jeher zum Alltag. Dass sie gegenwärtig möglicherweise stärker wahrgenommen und reflektiert werden als in früheren Zeiten, kann an einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren liegen: Bevölkerungsdichte, Kommunikationsdichte und Austauschprozesse unter Menschen über alle Grenzen hinweg nehmen in den vergangenen Jahrzehnten exponentiell zu. Diese Entwicklung wird sowohl durch technische Neuerungen (vom Flugzeugverkehr bis hin zu Internet 9 Konzis definieren Sabine Rohrmann; Tim Rohrmann (2010), Hochbegabte Kinder und Jugendliche. Diagnostik - Förderung - Beratung, 2., überarbeitete Aufl., München/ Basel, S. 17: „Der englische Begriff Diversity bedeutet Vielfalt oder Mannigfaltigkeit und umfasst Unterschiede, die durch Geschlecht, Alter, körpe rliche Merkmale, kulturellen Hintergrund, soziale Lage oder individuelle Lebensentwürfe begründet sein können.“ 10 Z.B. ist es in Frank Crüsemann et al. (Hg.) (2009), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh weder als Lemma noch im Register aufgenommen (anders als die sachlich verwandten Begriffe Diskriminierung, Devianz oder Gleichheit). Gegenbeispiele sind Albrecht Grözinger (2008), Homiletik, (Lehrbuch Praktische Theologie, 2) Gütersloh, S. 243-246; Ulrich H.J. Körtner (2008), Theologie der Religionen - eine Form des Diversity Managements, in: Karoline Iber; Birgit Virtbauer (Hg.), Diversity Management. Eine transdisziplinäre Herausforderung, Göttingen, S. 95-112. Ähnlich wurden auch in der Pädagogik „Verschiedenheit“ und „Vielfalt“ in der Vergangenheit thematisiert, ohne von „Diversität“ zu sprechen, s. Annedore Prengel (2002), Gleichheit und Verschiedenheit in der Integrationspädagogik, in: Annebelle Pithan et al. (Hg.), Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts, Gütersloh. <?page no="271"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 253 und Smartphones) angetrieben als auch durch steigende Migrationsbewegungen aus verschiedensten Gründen (wie transkontinentale Wirtschafts- und Tourismusbeziehungen, Armut, Flucht und Vertreibung). Dadurch entsteht der Eindruck einer sich rasant ändernden Welt. Bis vor wenigen Jahrzehnten als einheitlich erscheinende Räume und Kulturen werden infolgedessen dehomogenisiert und pluralisiert. 11 Die Welt wächst zusammen ist Ausdruck dieser globalisierenden Entwicklung, in der sich Wirtschafts- und Zivilisationsräume zusammenschließen, um mit vereinten Kräften „auch in Zukunft“ - wie von Politikern und Wirtschaftskapitänen als Absicht und zur Legitimation bekräftigt wird - gewichtig auftreten zu können. Mit einer globalisierenden Entwicklung (Die Welt wird zum Dorf, Außenpolitik wird „Weltinnenpolitik“) hält das Bewusstsein vieler Menschen jedoch nicht stand. Folgen sind eine große Verunsicherung, eine neue Suche nach Distinktion und persönlicher wie kollektiver Identität oder - im Bereich der politischen Theorie, zunehmend aber auch der Praxis - die Angst vor einem „Kampf der Kulturen“ (clash of civilizations 12 ). Ein immenses Regelungs-, Steuerungs- und Bewältigungsbedürfnis entsteht. Maß und Tempo einer Modernisierung sind menschlichem Einfluss jedoch nicht vollkommen entzogen und daher mit zu bestimmen und zu gestalten. Eine Fixierung auf die Gegenwart ist jedoch zu vermeiden: Denn Geschichte und Biographien verlaufen aufgrund verschiedenster Faktoren so einzigartig, dass es wohl kein Jahrhundert, keine Generation und kein Menschenleben gab, in der Diversität nicht deutlich sichtbar und am eigenen Leib spürbar war. Aus dieser Einsicht ergeben sich mehrere Konsequenzen: Auch wenn die Bewältigung von Diversität gegenwärtig mehr als bisher wahrgenommen und zu einer Gestaltungsaufgabe wird - das Problem an sich ist nicht neu. Daher gibt es eine Fülle historisch erprobter Strategien zur Gestaltung und Bewältigung von Diversität, und zwar sowohl nachahmenswerte als auch zu unterlassende. Aus der Verbindung zwischen diesem Reichtum an Erfahrung und den gegenwärtig wahrgenommenen Herausforderungen können scheinbar „alte“ Lösungen für heute neu entwickelt, angepasst und kongruiert werden. Dies ist in einem wissenschaftlich erschlossenen und gebildeten Umfeld leichter möglich. Einer hohen Relevanz von Diversität unter Menschen auf der einen Seite entspricht sinnvollerweise eine hohe Interpretations- und Bewältigungskompetenz von Erfahrungen und Phänomenen der Diversität auf der anderen Seite. Die Herausforderungen sind in der vorliegenden Form zweifellos neu; aber die Voraussetzungen zu einer humanen Bewältigung und Gestal- 11 Für eine umfassendere Beschreibung vgl. die „Kennzeichen der postmodernen Gesellschaft“ mit denjenigen der Moderne bei Beate Aschenbrenner-Wellmann (2014), Diversität und Menschenrechte in der Postmoderne - Überlegungen aus sozial(arbeits)wissenschaftlicher Perspektive, Tübingen, S. 118 in diesem Band. 12 So bekanntlich Samuel Huntington, zuerst in Foreign Affairs (1993). <?page no="272"?> Bernhard Mutschler 254 tung sind nicht vollkommen aussichtslos. Zunächst sollte Diversität unter Menschen jedoch genauer unter einem objektivierenden und unter einem normativen Aspekt (d.h. den Fragen, was gemeint ist und welcher Maßstab für eine Bewertung geeignet ist) in den Blick genommen werden. 1.3 Bestimmungen und Bewertungen von Diversität unter Menschen Diversität im Sinn von „Verschiedenheit“ oder „Vielfalt“ von Menschen ist nicht automatisch mit einer bestimmten Wertung zu verbinden. Sie ist nicht ein absoluter Wert für sich, so dass sie bereits als solche zu bewahren oder zu überwinden wäre. Vielfach entscheidet erst die sekundäre Bewertung einer Diversität über ihre benachteiligende Auswirkung: Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung 13 sind kein Automatismus, sondern werden veranlasst und herbeigeführt. Daher sind diversitäre Merkmale, ihre negative, diskreditierende Bewertung (Zuschreibung) sowie das „angemessene“ Verhalten gegenüber „betroffenen“ Personen methodisch voneinander zu unterscheiden. 14 Es gibt sowohl Formen von Diversität, die es zu überwinden gilt - Übervorteilung, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit oder Krankheit etwa -, als auch solche, die es zu entwickeln und z.B. im Sinn von Persönlichkeitsstärkung, Bildung, Teilhabe, Fairness und Chancengleichheit zu fördern gilt. Eine weitere Unterscheidung verläuft quer dazu: Es gibt Diversitäten, die man überwinden kann, und solche, bei denen es trotz aller Anstrengung beim besten Willen nicht möglich ist. Wörter wie Diversität haben ein unklares, verschwommenes Profil, gewissermaßen plastischen Charakter. Dies ist ein Grund für ihren oft unscharfen Gebrauch, ihre Anwendungsfreundlichkeit, ihre Beliebtheit und letztlich auch für ihren Erfolg. 15 Im Interesse klarer Kommunikation und eines sinnvollen Gebrauchs ist das Wort Diversität daher zu definieren und zu bestimmen. 16 Im Zusammenhang eines sozialwissenschaftlich und 13 Für erste Informationen zu diesen Stichworten s. Heike Weinbach ( 7 2011), Art. Diskriminierung, in: Fachlexikon der Sozialen Arbeit, hrsg. vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., 7. völlig überarbeitete und aktualisierte Aufl., Baden-Baden, S. 196; Michael Wagner ( 7 2011), Art. Soziale Ausgrenzung, ebd., S. 782f; Sebastian Scheerer ( 7 2011), Art. Stigmatisierung, ebd., S. 890. 14 Vgl. Helmut Mödritzer (1994), Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, (NTOA, 28) Freiburg (Schweiz)/ Göttingen, S. 9. 15 Der trendige und insofern problematische Charakter von „Diversität“ kann viel stärker herausgearbeitet werden z.B. anhand der Liste mit 30 „Merkmale(n) der Plastikwörter“, s. Uwe Pörksen ( 4 1992), Plastikwörter, Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart, S. 37f.118-121. Hier ist freilich nicht der Raum dafür. 16 Vgl. dazu Aschenbrenner-Wellmann, Diversität, S. 103-111 in diesem Band; ferner Roswitha Hofmann (2012), Gesellschaftstheoretische Grundlagen für einen reflexiven und inklusiven Umgang mit Diversitäten in Organisationsformen, in: Regine Bendl et <?page no="273"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 255 theologisch orientierten Diskurses ist ein Verständnis von Diversität naheliegend, das mögliche „Ungleichheitsfaktoren“ von Menschen in den Blick nimmt. 17 Menschliche Verschiedenheit und Vielfalt wird dabei nicht als feststehendes (statisches) oder dynamisches Persönlichkeitsmerkmal verstanden, sondern kommt funktional unter der Perspektive von Ungleichheit, Benachteiligung und Diskriminierung in den Blick. Dabei ist die Ursache der verschiedenen Diversitäten unwesentlich: „von Natur aus“, von Menschen gemacht oder einfach nur dazu erklärt. Die Skala möglicher Ungleichheitsfaktoren ist prinzipiell unendlich; trotzdem gibt es eine ganze Reihe prioritärer Faktoren. 18 So sind Ethnie, Hautfarbe, Geschlecht, Alter und eine erste Orientierung über physische Fähigkeiten eines Menschen bereits weitgehend auf den ersten Blick äußerlich wahrnehmbar. 19 Anders verhält es sich mit kultureller und geographischer Einbindung, religiöser Verwurzelung, sexueller Orientierung und Persönlichkeitsmerkmalen. Sie sind z.B. anhand eines bloßen Fotos kaum oder gar nicht wahrnehmbar und setzen zusätzliche Informationen z.B. in Form einer Selbstmitteilung der Person voraus. Vollends entziehen sich einer schnellen Verständigung Faktoren wie Bildung und Fachkompetenz, familiärer, sozialer und beruflicher Status, Vorlieben und Gewohnheiten, Freizeitverhalten und Mitgliedschaften, Interessen und sonstige Fähigkeiten. Über diese Faktoren kann nur ein ausführliches Kennenlernen Auskunft geben. Bereits diese kleine Übersicht zeigt die Vielfalt potentieller Faktoren der Ungleichheit (Diversität 20 ). al., Diversität und Diversitätsmanagement, Wien, S. 23-60; 30-33; Wolfgang Kaiser (2008), Diversity Management. Eine neue Managementkultur der Vielfalt - für ein neues Image der Bibliotheken, Berlin, S. 14-20. 17 Vgl. Susanne Baer (2011), Art. Diversity-Management, in: Fachlexikon der Sozialen Arbeit, hrsg. vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.), 7. völlig überarbeitete und aktualisierte Aufl., Baden-Baden, S. 197f; 197. 18 Die folgende Einteilung ist entstanden in Auseinandersetzung mit Beate Aschenbrenner-Wellmann (2009), Diversity-Kompetenz - Überlegungen zu einer Schlüsselqualifikation für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, in: Beate Aschenbrenner- Wellmann (Hg.), Mit der Vielfalt leben. Verantwortung und Respekt in der Diversity- und Antidiskriminierungsarbeit mit Personen, Organisationen und Sozialräumen, (Schriften der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 7 = Publikationen des Instituts für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen, 1) Stuttgart, S. 61-85; 64; dies., Diversität, S. 107 in diesem Band. 19 Eine andere Priorisierung werden als „die Big 6“ bezeichnet: Alter, Behinderung, Ethnizität, Gender, religiöse und sexuelle Orientierung. Diese Diversitätsdimensionen sind in der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie und deren nationalen Umsetzungen festgelegt. Zu den Big 6 s. überblicksartig Regine Bendl et al. (2012), Vertiefende Betrachtungen zu ausgewählten Diversitätsdimensionen, in: dies. et al., Diversität und Diversitätsmanagement, Wien, S. 80-120 (79-135); für Praxisbeispiele s. ebd., S. 122- 126. 20 Beate Aschenbrenner-Wellmann (2012), Vom interkulturellen Lernen zum Diversitätslernen in der Migrationsgesellschaft - Entwicklungslinien, Widersprüche und Perspek- <?page no="274"?> Bernhard Mutschler 256 Ein hermeneutisch und inhaltlich hilfreiches Kriterium zum Umgang und zur Beurteilung des Umgangs mit dieser Spannweite an Diversität ist im Rahmen eines sozialwissenschaftlich und theologisch orientierten Diskurses der Blick auf das, was die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen wahrt und dem Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft von Menschen in chancengleicher und bestmöglicher Weise dient. 21 Dies bedeutet: Der Umgang mit Diversität wird - aus heuristischen und methodologischen Gründen: vorläufig - an der Menschlichkeit und dem Menschen ausgerichtet, dem Humanum. Dieses repräsentiert jedoch kein Ideal 22 , sondern nimmt Maß an den Bedürfnissen eines konkreten Menschen. 1.4 Ergebnis Erst seit wenigen Jahren ist das Wort „Diversität“ im Deutschen zur Bezeichnung von „Vielfalt“ und „Verschiedenheit“ auch allgemein gebräuchlich. Im sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Kontext bezeichnet es die Verschiedenheit von Menschen. Das Bewusstsein dafür ist in den vergangenen Jahren aus mehreren, nachvollziehbaren Gründen sprunghaft gestiegen, auch wenn das Phänomen für sich betrachtet keineswegs neu in der Geschichte ist, im Gegenteil. Im sozialwissenschaftlichen und theologischen Diskurs wird Diversität unter Menschen als potentieller Faktor der Ungleichheit, Benachteiligung, Disparität oder Diskriminierung verstanden. Dies bedeutet: Verschiedenheit und Vielfalt von und unter Menschen sind nicht bereits an sich als gut oder schlecht zu bewerten, wohl aber mögliche Konsequenzen des Ausschlusses von Gleichheit, Teilhabe, Gleichberechtigung und Fairness aufgrund bestimmter Eigenschaften der Person (Spannungsfeld Exklusion-Inklusion). Für die Beurteilung von Diversität und den Umgang mit Diversität wird als Bewertungskriterium vorgeschlagen: was die unantastbare Würde jedes einzelnen Menschen wahrt und dem Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft von Menschen in chancengleicher und bestmöglicher Weise dient. Auf der Basis dieses Humanum sind der Umgang mit und die Bewältigung von Diversität in drei Dimensionen zu enttiven, in: Beate Aschenbrenner-Wellmann; Birgit Groner (Hg.), Kulturelle Mittlerinnen in der Migrationsgesellschaft. Theoretische Grundlagen, konzeptionelle Überlegungen, Evaluation und Praxisprojekte, (Schriften der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 12 = Schriftenreihe des Instituts für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen/ IAD, 2) Stuttgart, S. 154-186; 175, bringt den Faktoren eine ordnende Struktur in vier Dimensionen bei: Persönlichkeit, Innere Dimensionen, Äußere Dimensionen, Organisationale Dimension. 21 Zu Menschenrechten als Fundament s. Aschenbrenner-Wellmann, Diversität, S. 111- 115 in diesem Band. 22 Pointiert formuliert Ulrich Bach (1981), Das annehmen, was Gott will, Die Vision vom „Patienten-Kollektiv“ Kirche, in: LM 20, S. 126 (124-127): „Das Defizitäre gehört für mich in die Definition des Humanum.“ <?page no="275"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 257 wickeln: Sensibilisierung, Setzen und Vereinbaren von Normen, konkrete Gestaltung. Oder kürzer: wahrnehmen - reflektieren - handeln 23 . 2 Die Bibel als ein diversitätsfreundliches Buch - literarische, kulturelle und theologische Perspektiven Was können Bibelwissenschaften und was kann die Bibel zum Verständnis und zum Umgang mit Diversität beitragen? Zweifellos enthält das „Buch der Bücher“ ein schier unermessliches Reservoir menschlicher Diversitätserfahrungen und normativer Ansätze zur Bewältigung dieser Diversität. Aber die Bibel ist auch bereits für sich selbst betrachtet vielfältig und in sich so verschieden wie kaum ein anderes Buch. Sie stellt daher hohe Anforderungen an ihre Leserinnen und Leser zur Bewältigung der ihr inhärenten Diversität. Diese wird im Folgenden eher exemplarisch und nur in Grundzügen umrissen. Zunächst wird ein Überblick zur (1) literarischen Diversität in der Bibel, anschließend zu ihrer (2) kulturellen und schließlich zur (3) theologischen Diversität in der Bibel gegeben. In allen drei Skizzen zeigt sich: Die aus Altem und Neuem Testament bestehende Heilige Schrift der Christen ist ein durch und durch vielfältiges und zugleich ein enorm diversitätsfreundliches Buch. Ein kurzes (4) Ergebnis fasst die Hauptgedanken zusammen. 2.1 Literarische Diversität in der Bibel In literarischer Hinsicht fällt bereits die Zweiteilung durch zwei Testamente und drei Sprachen auf. Hebräisch ist die Sprache des Alten Testaments, aber es enthält auch Anteile auf Aramäisch sowie - je nach Abgrenzung - ursprünglich griechisch geschriebene Bücher. Griechisch ist die Sprache des Neuen Testaments, obwohl sich Jesus von Nazareth und seine Jünger in ihrer Muttersprache, einem in Galiläa beheimateten Aramäisch, verständigt haben. Innerhalb des griechischen Textes finden sich eine ganze Anzahl aramäischer und lateinischer Begriffe und Fremdworte. Die Entstehungszeit der biblischen Bücher zieht sich über mehr als ein Jahrtausend hin. Während die alttestamentlichen Texte ungefähr zwischen dem neunten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert (mit einem Schwerpunkt vom siebten bis zum fünften oder vierten Jahrhundert) entstanden sind, datieren die neutestamentlichen Texte aus nur etwa 70-80 Jahren (50-120/ 130 n.Chr.). Man könnte also mit Fug und Recht statt im Singular von „dem“ Buch, der Bibel, im Plural von der „Sammlung biblischer Schriften“ sprechen. Was seit Jahrhunderten als Buch ediert wird, ist genau genommen eine zusammen- 23 Vgl. dazu Bernhard Mutschler (2014), Stolpersteine des Glaubens und diversitätssensible Bibelexegese, Hermeneutische Erkundungen anlässlich einer neu entwickelten Lehrveranstaltung, S. 191-197 in diesem Band. <?page no="276"?> Bernhard Mutschler 258 fassende Auswahl antiker Schriftrollen - eine Bibliothek - und nicht ein einziges Buch. So umfasst das Neue Testament 27 Schriften äußerst verschiedener Länge vom Postkartenformat (3 Joh) bis zur mehrbändigen Kleinmonographie (Lk und Act). Das Alte Testament umfasst in der Ausgabe als Hebräische Bibel 24 Schriften, als Septuaginta 46 und als Altes Testament in evangelischer Abgrenzung 39 Schriften. Innerhalb dieser Bibliothek gibt es eine ausgesprochene Vielfalt an Textsorten: Gedichte, Gesetze, Geschichtswerke, Briefe, Abhandlungen, Visionen, Ätiologien, Erzählungen, Aufzählungen, Spruchsammlungen und vieles andere mehr. Zur diachronen Diversität über längere Zeiträume hinweg gesellt sich eine synchrone: Texte über Jesus von Nazareth sind aus nur wenigen Jahrzehnten in vier verschiedenen Bearbeitungen erhalten (Evangelien), die teilweise aufeinander aufbauen; sie haben eigene Charaktere und sind doch theologisch konkordant. In Textbearbeitungen verbinden sich synchrone und diachrone Diversität: Bestimmte neutestamentliche Briefe setzen das Vorliegen von anderen voraus. 24 Analog gibt es eine Reihe von Bearbeitungen und Fortentwicklungen alttestamentlicher Texte, z.B. mit deuteronomistischer, chronistischer oder weisheitlicher Prägung. Die Textüberlieferung durch die Jahrhunderte erfolgte nicht nur vielfach, sondern auch vielfältig, d.h. in verschiedenen Versionen. Nicht zuletzt geben die verschiedenen, insgesamt etwa 40 neueren Übersetzungen ins Deutsche sowie die verschiedenen historisch entstandenen Bibelausgaben, die in Auswahl, Anordnung, Länge, Wortlaut und Relevanz der einzelnen Bücher differieren, ein eindrückliches Zeugnis der Diversität. 25 Eine literarische Diversität ist also in kanonischer, sprachlicher, diachroner, synchroner, überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht sowie hinsichtlich der Verfasser, Entstehungsorte, Textsorten, Bibelausgaben und Übersetzungen gegeben. 2.2 Kulturelle Diversität in der Bibel Der literarischen Diversität innerhalb der Bibel tritt eine kulturelle an die Seite. Sie wird hier exemplarisch von einer historischen und von einer sozialen Perspektive aus skizziert. Der historische Rahmen der biblischen Texte umfasst nicht weniger als sieben hegemoniale Mächte, deren Einfluss zugleich als kulturelle Paradigmen aufgewiesen werden kann: von Ägypten über die Seevölker (Philister) und den syrisch-palästinischen Raum weiter über Assur, Babylonien und Persien bis zu den verschiedenen Ausprägungen des Hellenismus (seleuki- 24 Eph setzt Kol, 2Thess setzt 1Thess und 2Petr wiederum setzt Jud voraus. Deuteropaulinische Briefe bauen insgesamt auf paulinischen auf. 25 Zu Übersetzungen sowie den Verschiedenheiten der jeweiligen Bibelausgaben s. Bernhard Mutschler (2013), Beziehungsreichtum. Bibelhermeneutische, sozialanthropologische und kulturgeschichtliche Erkundungen, Tübingen, S. 18-41. <?page no="277"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 259 disch, ptolemäisch) und zum Römischen Imperium. Innerhalb dieser sehr verschiedenen Konstellationen gibt es Zeiten der Eigenstaatlichkeit - ein freies Königtum - und Siege ebenso wie mörderische Bedrohungen, Niederlagen und Exil, kulturelle Blütezeiten ebenso wie kulturelle Überwältigungen und Enteignungen von höchster, identitätsbedrohender Brisanz. Entsprechend dieser Vielfalt sind auch die Handlungsschauplätze sowie die Adressaten von Schriften über den gesamten östlichen Mittelmeerraum verteilt: von Ägypten über Mesopotamien und Kleinasien bis nach Griechenland und Rom. Das geistige Zentrum ist ab der Zeit des Königs David (um 1000 v.d.Z.) jedoch kontinuierlich Jerusalem im Lande Israel bzw. Kanaan/ Palästina. In sozialer Hinsicht sind während einer so langen Zeit und innerhalb so umfassender geographischer Räume ebenfalls alle nur denkbaren Gegensätze anzutreffen, die sich in den Texten spiegeln 26 : kleine und große Könige, Priester und Propheten, Bauern, Sklaven, vornehme, außergewöhnlich mutige und einfache Frauen 27 mit und ohne Kinder, Freie und Geknechtete, Gefangene und Geschändete, Nomaden, Sesshafte und Zwangsverschleppte, Menschen in Schuldknechtschaft und Superreiche, Dichter, Gelehrte und einfaches Volk vom Land. Erzählt und meditiert werden Erfahrungen von Armut, Migration, Krankheit, familiären Zerwürfnissen, persönlichen Konkurrenzen, Heimatlosigkeit, Feindschaft, Gewaltverbrechen und alle Arten sozialer Not, jedoch auch von großer Liebe, von Wohlstand, Reichtum, Adel, Macht und Glück. Die Bibel ist eine Sammlung von vielfältigen Dokumenten der Sozialität, eine außergewöhnlich reichhaltige Sammlung von hohem Rang. 2.3 Religiöse und theologische Diversität in der Bibel Im Zentrum der Bibel steht das Bekenntnis zum Gott Israels. Biblische Texte stellen deshalb die kulturelle, historische und soziale Diversität in den Horizont des Glaubens und Lebens mit dem Gott Israels und Vaters Jesu Christi, d.h. in eine religiöse Dimension. 28 Diese ist dezidiert monotheistisch, jedoch keineswegs monistisch oder gar langweilig. Im Gegenteil sind z.B. „Sohn“, „Wort“, „Weisheit“ oder „Geist“ konzeptionell engstens mit Gott verbundene Repräsentationen. In älterer Zeit konkurriert eine Vielzahl von Gottes- 26 Für eine grundlegende Einführung s. Rainer Kessler (2006), Sozialgeschichte des Alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt. 27 Zu Beziehungen zwischen Mann und Frau s. Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 77-81. 28 Zur Einführung s. Michael Tilly; Wolfgang Zwickel (2011), Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums, Darmstadt; grundlegend Rainer Albertz (1992), Teil 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit; Teil 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern, (GAT 8/ 1-2) Göttingen. <?page no="278"?> Bernhard Mutschler 260 bezeichnungen miteinander 29 ; im Bereich der Kunst treten einem normativ bildlosen Vatergott zahllose weibliche Götterdarstellungen (sogar in Jerusalem) an die Seite. 30 Für das Christentum ist ein trinitarisches Gottesverständnis grundlegend, 31 das gewisse Vorläufer in altägyptischen (z.B. Re, Ptah, Amun als Vater, Wort und Geist) und in klassisch-antiken Kulten hat. 32 Trotz der zentralen Ausrichtung auf Jesus von Nazareth innerhalb des Christentums gibt es diverse Deutungen seines Todes im Neuen Testament. 33 Aufs Ganze gesehen stehen verschiedenartige theologische Entwürfe im Alten wie im Neuen Testament weitgehend unvermittelt nach- und nebeneinander. 34 Eine Auseinandersetzung mit benachbarten und fremden Göttern fand zu allen Zeiten statt. Die an Kult und Gottesdienst Beteiligten sind nicht minder divers. Das Spektrum reicht von Patriarchen als Oberhaupt einer Familienreligion 35 über erbliche Priesterschaften mit einem Hohepriester an der Spitze des eindrucksvollsten Tempels, der je in Palästina gebaut wurde, bis hin zu weitgehend egalitären Hausgemeinden im frühen Christentum. Hinzuweisen ist schließlich auf institutionelle Verschiedenheiten wie diejenige zwischen Priester und Prophet (z.B. Am 7,10-17) oder auf die programmatische Verschiedenheit von egalitären und hierarchischen Konzepten (z.B. Gal 3,28; Eph 5,21-6,9). Entsprechend vielfältig sind die Anweisungen zu einem Gott entsprechenden Leben in kultischen Vollzügen und im Alltag. Dies alles zeigt: Ebenso wie die kulturelle ist auch die religiöse und theologische 29 Eine Zusammenstellung bietet Bernhard Lang (2002), JAHWE der biblische Gott. Ein Porträt, München, S. 251-260. 30 S. nur den Ausstellungskatalog Othmar Keel (2008), Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes, Gütersloh; ferner Gerd Theißen (1984), Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München, S. 108f. 31 Vgl. dazu unten S. 321-324. 32 Meist in der Form Vater, Mutter, Kind, so z.B. in der kapitolinischen Trias Iup(p)iter, Iuno, Minerva, die im griechischen Götterkosmos mit Zeus, Hera und Athene gleichgesetzt wurde. 33 S. Martin Stiewe; François Vouga (2011), Bedeutung und Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, (NET - Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 19) Tübingen/ Basel; Jörg Frey; Jens Schröter (Hg.) (2005), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Unveränderte Studienausgabe, Tübingen. 34 Zum Neuen Testament s. als Problemskizze Ferdinand Hahn (2006), Das Zeugnis des Neuen Testaments in seiner Vielfalt und Einheit. Zu den Grundproblemen einer neutestamentlichen Theologie, in: ders., Studien zum Neuen Testament hrsg. von Jörg Frey und Juliane Schlegel, Bd. 1: Grundsatzfragen, Jesusforschung, Evangelien, (WUNT, 191) Tübingen, S. 163-181 (zuerst in: KuD 48, 2002, S. 240-260); ausgeführt als zweibändiges Werk s. ders. ( 2 2005), Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments, Theologie des Urchristentums, Bd. 2: Die Einheit des Neuen Testaments, Thematische Darstellung. 2., durchgesehene und um ein Sachregister ergänzte Aufl. Tübingen. 35 S. dazu ausführlich Rainer Albertz; Rüdiger Schmitt (2012), Family and Household Religion in Ancient Israel and the Levant, Winona Lake (IN) passim. <?page no="279"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 261 Diversität der biblischen Schriften trotz eines monotheistischen Bekenntnisses stark ausgeprägt. Einheit und Vielfalt schließen sich nicht aus, sondern stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander. 36 2.4 Ergebnis Die Sammlung antiker religiöser Schriften aus Judentum und Christentum, die heute „die Bibel“ genannt wird, weist in sich eine mehrfache und breite Diversität auf. Sprachen, Textsorten, Enstehungsorte und -zeiten, Verfasser, Überarbeitungen, Gesamtausgaben und Übersetzungen sind höchst divers und zumal bei ersten Begegnungen damit höchst verwirrend. Zahlreiche wissenschaftliche Herausforderungen warten hier auf eine solide Bearbeitung, Unklarheiten und „Rätsel“ warten auf ihre Lösung. Dementsprechend breit ist die kulturelle Diversität der Bibel, die soziologisch und historisch die gesamte zur Verfügung stehende Spannweite, wenngleich unterschiedlich ausgeführt und gewichtet, umfasst. Menschliche Diversitätserfahrungen stehen fast unbegrenzt für Anknüpfung und Vergleich, Interpretation und Horizonterweiterung zur Verfügung. Trotz der klaren theologischen Konzentration auf den einen Gott Israels liegt auch in religiöser und kultischer Hinsicht ein sehr diverses Feld vor. Verschiedene Gottesbegriffe, Institutionen, Kulte und Kommunikationsformen sind in der Bibel aufgenommen, ergänzen sich gegenseitig oder ringen teilweise hart miteinander. In literarischer, kultureller und theologischer Hinsicht vereint die Sammlung antiker religiöser Schriften aus Judentum und Christentum durchaus sehr Diverses. Insofern ist sie ein diversitätsfreundliches Buch. Zahlreiche, mehr oder minder gewaltsame Versuche zur Vereinheitlichung konnten daran im Laufe der Geschichte nichts ändern: Ihre Kanonisierung als Ganze schützt auch jeweils unliebsame und weniger verständliche Texte. Zu einer sachgerechten Auslegung sind sowohl eine wissenschaftlich gründliche, diversitätssensible Exegese 37 als auch hermeneutische Überlegungen notwendig. 38 36 Zu dieser bereits für die altorientalische Religionsgeschichte kennzeichnenden Spannung s. als klassische Darstellung Erik Hornung ( 4 1990), Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt. Zum religionsinternen und interreligiösen biblischen Pluralismus s. auch Klaus-Peter Jörns ( 4 2008), Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh, S. 103-114. 37 Vgl. dazu in diesem Band oben S. 183-212, bes. S. 204-209 und 211f. 38 Dazu S. 203f. und S. 209-211 in diesem Band. <?page no="280"?> Bernhard Mutschler 262 3 Beobachtungen zum biblischen Umgang mit menschlicher Diversität Das schier unermessliche Reservoir menschlicher Diversitätserfahrungen auch nur ansatzweise auszuloten und zu beschreiben, wäre so, als wollte man den Ozean mit einer Schale vermessen. Es würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Im Folgenden werden daher Grundaspekte des biblischen Umgangs mit Diversität und der biblischen Bewältigung von Diversität in den Mittelpunkt gerückt. Eröffnet wird mit (1) methodischen Vorbemerkungen, die zwei grundlegende Schwierigkeiten benennen. Daraufhin beginnen die inhaltlichen Aspekte mit Hinweisen auf (2) normative Ansätze zur Bewältigung von Diversität im Alten Testament. Exemplarisch für das Neue Testament wird in einem längeren Abschnitt (3) das diversitätsgerechte Handeln Jesu in den Blick genommen, ehe sodann (4) Diversität als Grundthema der biblischen Heilsgeschichte im Verhältnis zwischen Gott und Mensch entfaltet wird. 3.1 Methodische Vorbemerkungen Betrachtet man Diversität unter Menschen als potentielle Ungleichheitsfaktoren, dann ist zu fragen, welcher Umgang mit diesen Faktoren in biblischen Texten zu erkennen ist. Handelt es sich dabei um Diversity Management? Es wäre historisch unzutreffend und daher ungenau, wenn man im biblischen Kontext von Diversity Management im modernen Sinn des Begriffs sprechen würde. Denn das „wesentlich aus den USA“ stammende Konzept verbindet „Forderungen der Civil Rights-Bewegungen für Gleichberechtigung und gegen Rassismus“ mit „dem ökonomischen Interesse an der Ausschöpfung des sog. Humankapitals aller Beschäftigten“. 39 Abgesehen davon, dass dieses Konzept „in den 1960er/ 70er-Jahren“ entstanden ist 40 , sind weder ein rechtlicher Hintergrund (Emanzipation, Gleichberechtigung) noch ökonomisches Interesse 41 treibende Kräfte beim Umgang mit Diversität oder der Bewältigung von Diversität in der Bibel. Vielmehr spielen soziale, anthropologische und theologische Aspekte die entscheidenden Rollen beim biblischen Umgang mit Diversität. In der Bibel ist der menschenfreundliche Umgang mit Diversität keine Management-Disziplin, sondern eine Konsequenz aus konstitutiven Gedanken über das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. 39 Baer, Art. Diversity Management, S. 197. 40 Ebd.; ausführlicher Kaiser, Diversity Management, S. 15-17. 41 Vgl. auch Rohrmann; Rohrmann, Kinder, S. 17: „Das Konzept des diversity managements kommt ursprünglich aus der Personalentwicklung und zielt auf die optimale Ausnutzung personeller Ressourcen.“ Es ist mit einer „Orientierung an Produktivität und Erfolg“ verbunden. Für einen Ansatz „in Bezug auf Inklusion und Barrierefreiheit“ s. R. Hofmann, Grundlagen, 33-35. <?page no="281"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 263 Beim Blick in die Bibel werden weitere methodische Probleme aufgrund des Umfangs und der Diversität der Texte sichtbar: Einerseits ist ein auch nur halbwegs vollständiges Bild aufgrund des erheblichen Umfangs der Texte nicht möglich. Andererseits entsteht je nachdem, welche Texte bevorzugt zugrunde gelegt werden, ein bestimmtes, möglicherweise einseitig akzentuiertes Bild. Denn das Gesamtbild aller Texte ist keineswegs einheitlich. Jede Rekonstruktion des Umgangs biblischer Texte mit potentiellen Ungleichheitsfaktoren ist darum in unübersehbarer Weise zugleich eine Konstruktion: ein Mitbauen und mehr oder weniger eigenwilliges Akzentuieren biblischer Traditionen, das sich innerhalb bestimmter Auslegungstraditionen der biblischen Traditionen bewegt. Im Folgenden ist daher notgedrungen eine Beschränkung auf Grundtendenzen erforderlich, die ihrerseits eher nur angedeutet als dargestellt werden können. Gleichzeitig wird eine möglichst ausgewogene, am Gesamtbild der Texte orientierte Darstellung versucht. Dies schließt eine Gewichtung biblischer Texte nicht aus, sondern genau umgekehrt bewusst und programmatisch mit ein. 42 Der historische Abstand und die literarische Weite biblischer Texte sind bei einer Darstellung von Grundaspekten zum biblischen Umgang mit menschlicher Diversität im Blick zu behalten. 3.2 Erwählte Gemeinschaft und der Schutz der Schwachen - normative Ansätze zur Bewältigung von Diversität im Alten Testament Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und stillschweigende oder offene Konsense einer Gesellschaft stehen in einem unmittelbaren und aufschlussreichen Verhältnis mit dem Umgang dieser Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern. Grundlagen des Selbstverständnisses werden im Alten Testament maßgeblich durch theologische Gedanken zu (1) einer von Gott erwählten Gemeinschaft und zur Gottebenbildlichkeit des Menschen reflektiert. Auf dieser Basis werden (2) normative Ansätze für einen menschenfreundlichen Umgang untereinander entwickelt. Sie werden hier als Schlaglichter auf den Dekalog, das Bundesbuch und das Deuteronomium zu den Bereichen Sozial- und Wirtschaftsethik vorgeführt. Menschenwürde, Respekt und Schutz der Schwachen sind aber nicht überall im Alten und Neuen Testament zuhause. Daher ist auch zu reflektieren, welche Bedeutung (3) biblischen Gegengeschichten, z.B. Geschichten von Sklaverei, Exklusion und Gewalt, im Horizont der Bewältigung von Diversität zuzuweisen ist. Ein (4) Ergebnis sichert die wichtigsten Gedanken. 42 Zu Christus als der Zentralperspektive der Schriftauslegung im christlichen Kontext s. knapp Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 56f (dort auch weitere Literatur). <?page no="282"?> Bernhard Mutschler 264 3.2.1 Erwählte Gemeinschaft und Gottebenbildlichkeit des Menschen als theologische Grundlagen für den Schutz der Schwachen Blickt man auf die normativen Ansätze zur Bewältigung von Diversität in den biblischen Schriften, dann sind zwei theologische Grundlagen entscheidend: (1) Für die Gemeinde des Alten wie für diejenige des Neuen Bundes, für Juden wie für Christen ist grundlegend, dass sie von Gott zur Gemeinschaft mit ihm und untereinander erwählt und berufen sind. Dies ist das elementare Fundament des Selbstverständnisses beider Gruppen, wie es in den biblischen Texten ausgedrückt ist. Das geforderte Sozialverhalten ist eine Konsequenz dieser königlichen Gemeinschaft (Ps 93-99.100; 1Petr 2,4f.9f; 1Tim 3,15). In der Bundestheologie wird dies anschaulich und vielfältig akzentuiert und vertieft. (2) Die zweite Grundlage besteht in der Ebenbildlichkeit jedes einzelnen Menschen mit Gott, wie sie am deutlichsten im ersten Kapitel der Bibel formuliert ist. 43 Aus der göttlichen Zuerkennung der Ebenbildlichkeit jedes Menschen entspringt die Überzeugung einer besonderen (spezifischen), universal gültigen und unzerstörbaren Würde des Menschen. 44 Anders formuliert: Der Lichtglanz Gottes als des Schöpfers überträgt sich auf sein ebenbildliches Geschöpf, den Menschen. Der Mensch erhält unübersehbares und ewiges Gewicht durch Gott. Seine Identität ist dadurch charakteristisch und unvergänglich. Beides, die Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen und von seiner unantastbaren 43 Dazu konzis Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 94; ausführlich Gerhard Sauter (2011), Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh, S. 59-88; Eberhard Jüngel (1986), Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage theologischer Anthropologie, in: ders., Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen, (BETh, 88) München, S. 290-317 (zuerst in: Hans-Georg Gadamer; Paul Vogler [Hg.] [1975], Neue Anthropologie, Bd. 6: Philosophie Anthropologie, Erster Teil, Stuttgart/ München, S. 342-371). Zu neutestamentlichen Aspekten s. Ulf Liedke (2009), Beziehungsreiches Leben. Studien zu einer inklusiven theologischen Anthropologie für Menschen mit und ohne Behinderung, (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 59) Göttingen, S. 240-243. 44 Vgl. Wilfried Härle (2005), Menschenwürde - konkret und grundsätzlich, in: ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen, S. 379-410; 389-404 (zuerst in: Wilfried Härle, Bernd-Michael Haese, Kai Hansen und Eilert Herms [Hg.] [2005], Systematisch praktisch [FS Reiner Preul], [MThSt, 80] Marburg, 199-222). Man kann es vielleicht mit einem Bild verdeutlichen: Manche monetären Währungen sind mit Gold abgesichert und hinterlegt. Das Gold ist an einem sehr sicheren Ort untergebracht, so dass es vor Katastrophen, Krieg und Krisen geschützt ist. Beispielsweise lagert fast die Hälfte der gegenwärtigen Goldreserven der Deutschen Bundesbank in New York. Weitere Anteile liegen in Paris und London, nur ein knappes Drittel im Inland. In ähnlicher Weise ist die von Gott verliehene Würde, das „Grundgewicht“, jedes Menschen einem menschlichen Zugriff entzogen. Menschliche Würde ist - im Bild gesprochen - durch Gott abgesichert und bei ihm hinterlegt. <?page no="283"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 265 Würde, gehört zusammen wie zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das Wechselspiel zwischen der Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrem prinzipiellen Anderssein ließe sich verfolgen bis zur Entwicklung der Menschenrechte. 45 Sie beruhen letztlich auf der unantastbaren, unverlierbaren, immer und überall gültigen Würde jedes Menschen: „Den Ausgangspunkt für die Menschenrechte bildet die Würde des Menschen.“ 46 Grundwerte der Menschenrechte sind „Freiheit, Gleichheit und Solidarität bzw. Teilhabe“ 47 . 3.2.2 Regeln für einen menschenfreundlichen Umgang miteinander - Dekalog, Bundesbuch und Deuteronomium als Beispiele Auf der Basis einer von Gott erwählten und berufenen Gemeinschaft von Menschen mit einer jeweils unzerstörbaren, göttlichen Würde wird die Sozialethik aufgebaut. 48 Das Selbstverständnis einer aus der ägyptischen Sklaverei bzw. von Sünde und Schuld befreiten Gottesgemeinschaft, die am Sinai als „Bund“ geschlossen, gefestigt und gefeiert wurde, impliziert einige Regeln für den Umgang untereinander. Sie sind als Gottesrecht einer Gemeinschaft, die unmittelbar zu Gott ist, formuliert. 49 Dies schließt ein, „daß das Eintreten für die Schwachen nicht moralische Vorschrift ist, sondern un- 45 Vgl. ausführlich Rainer Kessler (2012), Tora und Menschenrechte, in: Thomas Klie et al. (Hg.), Differenzkompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig, S. 105-109 (99- 109); ebd., S. 106 (Hervorheb. im Original): „Man kann es in zwei Sätzen formulieren: Weil wir als Menschen gleich sind und gleiche Menschenwürde haben, können und sollen wir auch allgemeine und gleiche Menschenrechte haben. Die Gleichheit ist die Bedingung der Möglichkeit der Menschenrechte. Weil wir aber auch alle ungleich sind - nach Geschlecht, Alter, Rasse, sozialer Stellung und vielem mehr -, brauchen wir auch solche Rechte. Das Anderssein ist die Bedingung der Notwendigkeit der Menschenrechte. “ 46 Gottfried Adam (2002), Menschenrechte und Menschenwürde, in: Annebelle Pithan et al. (Hg.), Handbuch Integrative Religionspädagogik. Reflexionen und Impulse für Gesellschaft, Schule und Gemeinde, Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts, Gütersloh, S. 138-143; 139. 47 Ebd. 48 In alttestamentlichen Texten „gehören Gotteserkenntnis und zwischenmenschliches Verhalten schon früh ganz selbstverständlich zusammen“, so Werner H. Schmidt ( 7 1990), Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, (NStB, 6) Neukirchen-Vluyn, S. 110. Vgl. auch These 2 bei Christoph Schwöbel (2002), Menschsein als Sein-in- Beziehung. Zwölf Thesen zur christlichen Anthropologie, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen, S. 193-226; 194, sowie den programmatischen Untertitel bei Horst Dietrich Preuß (1991), Theologie des Alten Testaments, Bd. 1: JHWHs erwählendes und verpflichtendes Handeln, Stuttgart; zum Gemeinschaftsbezug des Ethos ders. (1992), Theologie des Alten Testaments, Bd. 2: Israels Weg mit JHWH, Stuttgart, S. 208-212. 49 Horst Seebaß (1982), Der Gott der ganzen Bibel. Biblische Theologie zur Orientierung im Glauben, Freiburg et al., S. 111-113. <?page no="284"?> Bernhard Mutschler 266 trennbar verbunden ist mit der Erkenntnis Gottes selbst“ 50 . Die Respektierung von Leben und den zum Leben notwendigen Grenzen des Einzelnen wird grundlegend im Zehnwort, den zehn Geboten, eingeschärft: nicht morden, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht gegen jemanden als falscher Zeuge aussagen, die Gesamtheit oder einzelne Teile der Existenzgrundlagen eines Menschen nicht angreifen, alt gewordene Eltern versorgen. 51 Einschränkend muss freilich ergänzt werden, dass rechtshistorisch nicht jeder Mensch (wie heute allgemein interpretiert) als Subjekt gedacht war, sondern nur der freie Israelit, d.h. wahrscheinlich nur ein oder zwei Zehntel der Gesamtbevölkerung. 52 Diese erschreckende Einsicht in antike Gesellschaften hat sehr wahrscheinlich nicht nur kulturelle und historische Gründe, sondern auch ökonomische. Im Bundesbuch, das in Ex 20 auf die zehn Gebote folgt und die Grundlage alttestamentlichen Rechts darstellt, wird „die Forderung sozialer Gerechtigkeit“ deutlich akzentuiert 53 : „ 20 Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. 21 Eine Witwe oder eine Waise sollt ihr nicht erniedrigen. […] 24 Leihst du Geld dem Armen aus meinem Volk, der bei dir ist, so sei nicht wie ein Wucherer zu ihm. Ihr sollt ihm keinen Zins auferlegen.“ 54 Im Kontext folgen der Aufruf zu einem sozialen und rücksichtsvollen Pfandrecht (V. 25f) sowie weitere Aufforderungen zu einem aufmerksamen sozialen und gerechten Verhalten gegenüber Mitmenschen und Tieren (23,1-8). Das Vergeltungsrecht (ius talionis) kommt ausdrücklich auch „dem eigenen Sklaven oder der eigenen Sklavin“ zugute und schützt damit auch die rechtlich schwächsten Glieder eines Hauses. 55 50 S. Heinrich Bedford-Strohm (1997), Menschenwürde als ein Leitbegriff für die Diakonie, in: Michael Welker (Hg.), Brennpunkt Diakonie. Rudolf Weth zum 60. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn, S. 49-64; 59. 51 Vgl. dazu knapp Matthias Köckert (2007), Die Zehn Gebote, (Beck Wissen, 2430) München, S. 73-84. Die übrigen Gebote regeln das Verhältnis zu Gott, s. ebd., S. 44-72; zur divergierenden Zählung der Gebote ebd., S. 35. 52 In ähnlicher Weise wird für das Römische Reich allein die Zahl der Sklaven in Ballungsräumen auf bis zu 90% der Bevölkerung geschätzt, so Raymond F. Collins (2002), 1 & 2 Timothy and Titus. A Commentary, (NTLi) Louisville/ London, S. 302. Zum biblischen Verständnis einer Familie s. Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 154-164. 53 Vgl. Frank Crüsemann (1992), Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloh (Nachdruck der Aufl. München 1992), S. 199(-228). 54 Ex 22,20f.24. Zum Fremdenrecht und Armenrecht s. ausführlich Crüsemann, Tora, S. 213-219. 55 Ex 21,20, analog 21,26f. Zum „Prinzip Wiedergutmachung“ s. knapp Meinrad Limbeck (1997), Das Gesetz im Alten und Neuen Testament, Darmstadt, S. 19-22; ausführlicher Eckart Otto (1994), Theologische Ethik des Alten Testaments, (ThW, 3/ 2) Stuttgart, S. 73-81. <?page no="285"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 267 Das Deuteronomium knüpft an Dekalog und Bundesbuch an. 56 Besonders geschützt ist hier die Trias der personae miserae: Fremde, Waisen und Witwen (Dtn 24,17f): „ 17 Du sollst das Recht der Fremden und der Waise nicht beugen und das Kleid der Witwe nicht als Pfand nehmen, 18 sondern du sollst daran denken, dass du Sklave gewesen bist in Ägypten und dass der H ERR , dein Gott, dich von dort befreit hat. Darum gebiete ich dir, dass du so handelst.“ Da das Menschen überlassene Land Gott selbst gehört und nicht als Privatbesitz zu verstehen ist (Lev 25,23; Ps 24,1), sind die Rechte auf Nachlese bei Getreide-, Oliven- und Weinernte ein Gottesrecht. Folgerichtig sind sie der Versorgung der deuteronomischen „Sozialtrias“, nämlich Fremden, Waisen und Witwen, vorbehalten. 57 Aus weiteren Regelungen zum Schutz der Schwachen sei nur noch hingewiesen auf die Einrichtung eines regelmäßigen Schuldenerlasses (Erlassjahr, Dtn 15,1-11) und die Vision einer armutsfreien Gesellschaft (15,4). 58 56 Zur Verbindung mit dem Dekalog s. Georg Braulik (1988), Die Abfolge der Gesetze in Deuteronomium 12-26 und der Dekalog, in: Studien zur Theologie des Deuteronomiums, (SBAB, 2) Stuttgart, passim, bes. S. 231-255; 240f., ausführlich ders. (1991), Die deuteronomischen Gesetze und der Dekalog, Studien zum Aufbau von Deuteronomium 12-26, (SBS, 145) Stuttgart. Auch der Fluchdodekalog hat ausgesprochen sozialen Charakter und ist ein Muster für den Zusammenhang von Gottesglaube (Dtn 27,15.16) und Sozialverhalten (27,16 -25). 57 Zur „Sozial-Tora“ in Dtn 24,19-22 s. Georg Braulik (1992), Deuteronomium, (NEB.AT, 2) Würzburg, S. 184; zur sozialen Sicherung s. außerdem Rainer Kessler (2006), Soziale Sicherung in vorstaatlicher, staatlicher und substaatlicher Gesellschaft, Das Beispiel des antiken Israel, in: ders., Sozialgeschichte des Alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt, S. 140-147 (zuerst in: J. Allmendinger [Hg.], Entstaatlichung und soziale Sicherheit [2003], Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig 2002, Opladen, als CD-Rom-Beilage). 58 Zu Letzterem s. Rainer Kessler (2011), „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein“ (Dtn 15,4). Alttestamentliche Grundlagen zum Umgang mit Armut und Armen, in: Johannes Eurich et al. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart, S. 19-35; ders. (2009), „Nun wohlan, ihr Reichen …! “ Zwischen Gottessegen und Mammon. Biblische Blicke auf Reichtum und Reiche, in: ders., Studien zur Sozialgeschichte Israels, (SBAB, 46) Stuttgart, S. 103-107; ders. (2006), Armenfürsorge als Aufgabe der Gemeinde. Die Anfänge in Tempel und Synagoge […], in: ders., Sozialgeschichte des Alten Israel. Eine Einführung, Darmstadt, S. 207-218 (zuerst in: ders. [Hg.] [2004], Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel [FS Luise Schottroff], Gütersloh, S. 91-102; Manfred Oeming (2006), Das Alte Testament als Grundlage des diakonischen Handelns der Kirche, in: Heinz-Dieter Neef (Hg.), Theologie und Gemeinde. Beiträge zu Bibel, Gottesdienst, Predigt und Seelsorge (FS Rudolf Landau), Stuttgart, S. 95-114; 95-105; Norbert Lohfink (1993), Armut in den Gesetzen des Alten Orients und in der Bibel, in: ders., Studien zur biblischen Theologie, (SBAB, 16) Stuttgart, S. 239-259 (zuerst Engl.: Poverty in the Laws of the Ancient Near East and of the Bible, in: TS 52, 1991, S. 34-50); ders. (1995), Das deuteronomische Gesetz in der Endgestalt - Entwurf einer Gesellschaft ohne marginale Gruppen, in: ders., Studien zum <?page no="286"?> Bernhard Mutschler 268 Nach diesen Beispielen aus Dekalog, Bundesbuch und Deuteronomium kann eingehalten werden, obgleich eine entsprechende Interpretation noch durch viele alt- und neutestamentliche Texte weitergeführt werden könnte. Für das Alte Testament wäre insbesondere das prophetische Einfordern von Gerechtigkeit auszuführen 59 , für das Neue z.B. auf Texte aus der Bergpredigt hinzuweisen, aber auch auf Mt 25,31-46 oder die Vorstellung eines gemeinsamen Leibes nach 1Kor 12,12ff, die in den „weit besseren Weg“ (vgl. 12,31) der Liebe mündet (1Kor 13). Insgesamt würde dadurch noch deutlicher, dass der Schutz der Schwachen auf der Grundlage der von Gott etablierten Bundesgemeinschaft ein grundlegendes Gottesgebot darstellt. 60 Weil Diversität im Sinn eines benachteiligenden Ungleichheitsfaktors vor Gott keine Rolle spielt (Gal 3,28), kann die Haltung der in der Gottesgemeinschaft als Volk oder Gemeinde Gottes stehenden Menschen nur eine solche sein, die allen Benachteiligungen aufgrund von Diversität entgegenwirkt. 3.2.3 Sklaverei, Exklusion und Gewalt - biblische Gegengeschichten nicht ausblenden und immer wieder aufarbeiten Nach vielen anregenden Beispielen für einen menschenfreundlichen Umgang mit Diversität ist spätestens hier der Ort für eine Einbeziehung der dunklen, menschenverachtenden Gegenseite biblischer Traditionen, sozusagen ein kräftiges sed contra. Es gibt eine Reihe biblischer Texte und Traditionen, die dem Geist einer allgemeinen Solidarität und Gleichberechtigung unter Menschen radikal widersprechen. Dies kann konkret oder normativ erfolgen und sich sowohl nach außerhalb (ad extra) als auch nach innerhalb des erwählten Volkes richten (ad intra). Dabei ist z.B. an sogenannten „Heiligen Krieg“ 61 , Bann oder Vernichtungsweihe, Todesstrafe, Blutrache, radikale Vorstellungen von der Reinheit der heiligen Gemeinde oder den Ausschluss von Kranken, Menschen mit Assistenzbedarf (s. nur Lev 21,18-20), Nicht- Erwählten, Fremden (Dtn 23,2-9) und Feinden zu denken. Auch die Diskriminierung von Frauen oder die Beibehaltung der Sklaverei ist in diesem Zusammenhang noch einmal zu erwähnen. 62 Die Reihe an normativen und konkret erfolgten Grausamkeiten, menschenunwürdigen Verhaltensweisen Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur III, (SBAB, 20) Stuttgart, S. 205-218 (zuvor in: BN 51, 1990, S. 25-40). 59 Zusammenfassende „Grundlinien des alttestamentlichen Rechts“ führt Seebass, Gott, S. 102-113; zu Jesu Stellung gegenüber dem Recht s. ebd., S. 122-130; Gerd Theißen; Annette Merz (1996), Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen, S. 321-332. 60 Die „Weiträumigkeit der Bundesvorstellung“ verfügt über ein hohes erschließendes Potential für die Begründung und für Grundsätze gegenwärtiger Diakonie, s. Gerhard K. Schäfer (1994), Gottes Bund entsprechen. Studien zur diakonischen Dimension christlicher Gemeindepraxis, (VDWI, 5) Heidelberg, S. 395-411; 396. 61 Einziger biblischer Beleg ist Joel 4,9, wörtlich: „Heiligt einen Krieg! “ 62 Vgl. Preuss, Theologie II, S. 224f. <?page no="287"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 269 und vollkommen untauglichen Versuchen eines Diversitätsausgleichs oder einer Vertiefung von benachteiligender Diversität wäre lange fortzuschreiben. An dieser Stelle ist hermeneutisches Nachdenken sinnvoll: Biblische Texte dürfen niemals „oberflächlich nivellierend“ gelesen werden, da dies insgesamt kaum weiter als zu Unfreiheit, Biblizismus und Fundamentalismus führen würde. 63 Sie sind vielmehr aus historischen und theologischen Gründen zu gewichten. Systematisch-theologische Entscheidungen spielen dabei ebenso wie die Einsicht in den historischen Charakter von Texten und in die historische Distanz eine wichtige Rolle. 64 Daher sollten Texte, die einem insgesamt sozialen und humanisierenden biblischen Hauptzeugnis in elementarer Weise widersprechen, keine prägende Autorität für die Gegenwart erhalten. Allen biblischen Zeugnissen gerecht zu werden, ist ohnehin nicht möglich. Aus dieser Einsicht, dass aufgrund der weit gespreizten Diversität der biblischen Zeugnisse ein Anschluss an die Bibel als Ganze, d.h. an sämtliche biblischen Traditionen, gar nicht möglich ist, folgt eine überaus klärende Konsequenz: Wer immer sich an biblische Texte anschließt, entscheidet faktisch in eigener Verantwortung, welchen Texten er welches Gewicht beimisst. Damit wird auch aus hermeneutischen Gründen deutlich: Würden antike Texte von Exklusion und Gewalt als richtungsweisend für die Gegenwart betrachtet, könnte man weder die entsprechenden Texte noch ihre Verfasser dafür verantwortlich machen. Es ist nicht möglich, seine eigene Verantwortung hinter biblischen Texten oder ihrer (vermeintlichen) Autorität zu verstecken. Wenn Texte von Exklusion und Gewalt trotz ihres biblischen Fundortes weder als beispielhaft noch als normativ beurteilt werden, welchen Sinn für heute können sie dann haben? Soll man sie aus dem Kanon wenigstens gedanklich ausklammern? Letzteres ist aus mehreren Gründen nicht möglich. Die biblischen Texte von Exklusion und Gewalt stehen in jeder vollständigen Bibel, sind in die jeweilige Landessprache übersetzt und sind auch Teil eines kollektiven Bewusstseins. Welcher positive Sinn kann ihnen abgewonnen werden? Biblische Texte von Exklusion und Gewalt können auch heute noch für Notlagen sensibilisieren und menschenverachtende Zustände erkennen und verstehen helfen im Sinne eines kulturellen Kapitals oder eines interpretativen Schlüssels. Sie können erfassen und interpretieren helfen, was den je eigenen Horizont übersteigt. Sie können orientierend wirken im Konzert der biblischen Stimmen über das Gebotene oder via negativa gerade nicht Gebotene. Biblische Texte von Exklusion und Gewalt können unmenschliches Handeln illustrieren und gegebenenfalls konfrontieren. Theo- 63 Vgl. S. 197-207 in diesem Band. 64 S. exemplarisch zur Frage, weshalb heutzutage Ehebrecherinnen und Ehebrecher trotz entsprechender biblischer Gebote nicht mehr gesteinigt werden, Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 42-61. <?page no="288"?> Bernhard Mutschler 270 logisch fordern sie zu Sachkritik heraus, die einen kritischen Blick auf das eigene Handeln und die eigene Geschichte, sei es als kulturelle, sei es als kirchliche Vergangenheit, mit einschließt. Je nachdem mündet die Selbstkritik in ein Schuldbekenntnis mit Vergebungsbitte ein. Biblische Texte von Exklusion und Gewalt provozieren zu einer eigenen theologischen Urteilsbildung auf der Basis von literarischer, historischer, sozialwissenschaftlicher und theologischer Arbeit. 65 Ihr normatives, gesellschaftsgestaltendes Potential ist mit den besseren theologischen Argumenten, die sich andernorts in der Bibel finden 66 , zu kritisieren, zu bestreiten und zu Recht als erloschen zu betrachten. Dabei spielt insbesondere die Ausrichtung am Leben und Wirken Jesu von Nazareth eine Rolle. 67 Mehr noch: Dem Christuszeugnis kommt nach protestantischem Schriftverständnis hermeneutisch und systematisch-theologisch eine kriteriologische Funktion für den theologischen und (als Folge daraus) gegenwartsgestaltenden Stellenwert biblischer Texte und Gedanken zu. 68 3.2.4 Ergebnis Die von Gott zur Gemeinschaft berufenen Menschen bilden eine Gemeinschaft mit ihm und untereinander. Darüber hinaus haben alle Menschen dieselbe von Gott verliehene (bei ihm hinterlegte) Würde aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit. Auf dieser Basis sichern normative Texte wie der Dekalog, das Bundesbuch oder das Deuteronomium Leben, Würde und Auskommen von Menschen. Besonderer Schutz gebührt dabei Menschen mit besonderem Schutzbedarf wie Fremden, Waisen und Witwen. Gerechtigkeit, Fairness, Barmherzigkeit, sozialer Ausgleich, die Möglichkeit zu einem Mindesteinkommen, Sicherheit der Person und ihrer Habe sind grundlegende Standards für eine Gesellschaft, die selbst Sklave in einem fremden Land war und weiß, was es bedeutet, dies alles nicht zu haben. Die Erinne- 65 Vgl. auch Bernhard Mutschler (2013), Jesus als Lehrer der Gerechtigkeit. Überlegungen zu Gestaltungen des Galiläers in der diakonischen, sozialen und pädagogischen Hochschullehre, in: Petra von Gemünden et al. (Hg.), Jesus - Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (FS Gerd Theißen), (NTOA/ StUNT, 100) Göttingen/ Bristol (CT), S. 663f (651-672). 66 Etwa der Gottes- und Nächstenliebe nach Dtn 6,5 und Lev 19,18, die im Neuen Testament mehrfach als Zusammenfassung der gesamten Tora verstanden wird. 67 Vgl. etwa Joh 7,53-8,11 gegenüber Dtn 22,22. 68 Martin Luther (1926), Disputatio pro licentia De Fide (11.09.1535), in: WA 39/ 1, Weimar, S. 47,19f (44-48): Si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam (Wenn die Gegner die Schrift gegen Christus drängen, drängen wir Christus gegen die Schrift). „Luther war kein Biblizist“, so Gerhard Ebeling (1960), Was heißt „Biblische Theologie“? , in: Wort und Glaube, Tübingen, S. 72 (69-89, zuerst: ders. [1955], The Meaning of „Biblical Theology“, in: JThS 6, S. 210-225). Vgl. auch Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 28.56.60. <?page no="289"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 271 rung an Sklaverei und Exodus ist deshalb für alle Zeiten konstitutiv. 69 Im Gegensatz dazu können biblische Texte von Exklusion und Gewalt nicht richtungsweisend für die Gegenwart sein. Sie können unerträgliche Zustände in Bezug auf Exklusion und Gewalt jedoch sensibilisieren, demaskieren, orientieren, interpretieren, illustrieren, konfrontieren, kritisieren und aufarbeiten helfen. Nicht zuletzt provozieren sie zu eigenem, theologisch begründetem Urteil. Aus diesen Gründen ist eine Beschäftigung mit biblischen Texten von Exklusion und Gewalt noch immer lohnend. 3.3 Jesus von Nazareth als Muster für diversitätsgerechtes Handeln Für das Christentum ist Jesus von Nazareth die zentrale biblische Gestalt. Durch sein Reden, Handeln und seinen Weg durch Leiden und Tod teilt sich 69 Vgl. mPes 10,5 (Sammter), in: Mischnajot ( 3 1967), Die sechs Ordnungen der Mischna, Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, Teil II: Ordnung Mo’ed übersetzt und erklärt von Eduard Banetz (mit Ausnahme des von A. Sammter bearbeiteten Traktats Schabbat), Basel, S. 251: „Von Geschlecht zu Geschlecht ist jedermann verpflichtet, sich so anzusehen, als ob er selbst aus Egypten gezogen wäre“. Dass dies auch heute berücksichtigt wird, zeigte die Rede des israelischen Staatspräsidenten Ezer Weizman, eines Enkels von Chaim Weizmann, am 16.01.1996 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag, vgl. Ezer Weizman (1996), Ansprache des Präsidenten des Staates Israel vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrates am 16. Januar 1996, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Bonn, S. 11f: „Die Erinnerung verkürzt die Distanzen. 200 Generationen sind seit den historischen Anfängen meines Volkes vergangen, und sie erscheinen mir wie wenige Tage. Erst 200 Generationen sind vergangen, seit ein Mensch namens Abraham aufstand, um sein Land und seine Heimat zu verlassen und in ein Land zu ziehen, das heute mein Land Israel ist. Erst 200 Generationen sind seit dem Zeitpunkt vergangen, als Abraham die Machpela-Höhle in der Stadt Hebron kaufte, bis zu den schweren Konflikten, die sich dort in meiner Generation abspielen. Erst 150 Generationen sind seit der Feuersäule des Auszugs aus Ägypten bis zu den Rauchsäulen der Schoah vergangen. Und ich, geboren aus den Nachkommen Abrahams im Lande Abrahams, war überall mit dabei. Ich war ein Sklave in Ägypten und empfing die Thora am dem Berg Sinai, und zusammen mit Josua und Elijah überschritt ich den Jordan. Mit König David zog ich in Jerusalem ein, und mit Zedekiah wurde ich von dort ins Exil geführt. Ich habe Jerusalem an den Wassern zu Babel nicht vergessen, und als der Herr Zion heimführte, war ich unter den Träumenden, die Jerusalems Mauern errichteten. Ich habe gegen die Römer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden. Ich wurde auf den Scheiterhaufen in Magenza, in Mainz, geschleppt, und habe die Thorah im Jemen studiert. Ich habe meine Familie in Kischinev verloren und bin in Treblinka verbrannt worden. Ich habe im Warschauer Aufstand gekämpft und bin nach Eretz Israel gegangen, in mein Land, aus dem ich ins Exil geführt wurde, in dem ich geboren wurde, aus dem ich komme und in das ich zurückkehren werde. Unstet und flüchtig bin ich, wenn ich den Spuren meiner Väter folge. Wie ich sie dort und in jenen Tagen begleite, so begleiten mich meine Väter und stehen hier und heute neben mir.“ <?page no="290"?> Bernhard Mutschler 272 Gott selbst allen Menschen mit (vgl. Joh 1,18, Gottes Offenbarung 70 ). Aus diesem Grund kommt den Überlieferungen über ihn in den Evangelien (zumal von ihm selbst nichts Schriftliches erhalten ist) ein sehr hoher Stellenwert zu. Welche Stellung zeigt sich im Lehren und Handeln Jesu gegenüber Menschen, die ihre Diversität als benachteiligenden Ungleichheitsfaktor erleben? Der Abschnitt ist folgendermaßen aufgebaut: Die kanonischen Evangelien zeigen (1) Jesus als Helfer in aktueller und struktureller Not, seine (2) Gerechtigkeit gegenüber Frauen, Kindern und Eltern, (3) Begegnungen mit gesellschaftlichen Extremen, (4) Heilungen als Zeichen der Messianität Jesu, (5) Auferweckungen vom Tod, (6) Grenzüberschreitungen zu Nichtjuden und Heiden sowie eine programmatische Verlängerung seiner Wirksamkeit durch den (7) Auftrag an die Anhänger und Nachfolger Jesu. Dies alles bedeutet im (8) Ergebnis, dass Jesus ein Muster für diversitätsgerechtes und diversitätsreduzierendes Handeln ist. 3.3.1 Jesus als Helfer in aktueller und struktureller Not Jesus greift tatkräftig in Situationen ein, in denen Menschen unter ihren jeweiligen Diversitätsmerkmalen leiden. So begegnet er Menschen in aktuellen Notlagen z.B. als Retter in schwerer See (Mk 4,35-41, Sturmstillung 71 ) oder als derjenige, der den Hunger stillt (Mk 6,32-44; 8,1-9, Speisungsgeschichten der 5000 bzw. 4000). Aber auch Menschen in einer strukturellen Not an Leib und Seele hilft er, wenn er ihnen begegnet, indem er mit ihnen spricht und sie heilt. Dazu gehören eine Frau, die seit zwölf Jahren an einem Blutfluss litt (Mk 5,24-34), eine andere, die seit 18 Jahren gebeugt war, ohne sich aufrichten zu können (Lk 13,10-17), ein Mann, der seit 38 Jahren gelähmt war und bisher vergeblich auf Helfer und Heilung hoffte (Joh 5,2-9), und schließlich ein von Geburt an Blinder (Joh 9,1-7). Sie alle werden durch Jesus von ihren langjährigen Leiden erlöst und von ihren Krankheiten geheilt. Der galiläische Wundertäter entbindet von Benachteiligungen aufgrund von Diversität. 3.3.2 Gerechtigkeit gegenüber Frauen, Kindern und Eltern In vielen Fällen stehen Einzelschicksale, mit denen Jesus zu tun hat, für seinen Umgang mit der entsprechenden Gruppe insgesamt. So ist sein unmittelbarer und unverstellter Umgang mit Frauen atypisch für seine Zeit: Der 70 Zur Problemskizze s. Wilfried Joest ( 2 1981), Fundamentaltheologie, Theologische Grundlagen- und Methodenprobleme, 2., durchgesehene und ergänzte Aufl., (ThW, 11) Stuttgart et al., S. 28-59. 71 Im Folgenden werden einzelne Begebenheiten nur exemplarisch genannt. Darüber hinaus werden die Parallelstellen in den übrigen Evangelien nicht aufgeführt. <?page no="291"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 273 vom Blutfluss Geheilten (Mk 5,25-34) können Frauen in Jesu Gefolgschaft, die seine Mission unterstützen (Lk 8,1-3), ebenso an die Seite gestellt werden wie sein Wort über gläubige Prostituierte auf dem Weg in das Gottesreich (Mt 21,31f), die Begegnung mit einer stadtbekannten Sünderin, die „viel geliebt hat“ und Jesu Füße verwöhnte (Lk 7,36-50; 7,47) oder eine heidnisch-griechische Frau, die Jesu anfängliche Widerstände gegen die Heilung ihrer Tochter durch ihn im Gespräch überwand (Mk 7,24-30). Witwen werden als gleichnisfähig und vorbildlich betrachtet (Mk 12,41-44; Lk 18,1-8). Frauen finden sich unmittelbar vor Jesu Kreuzigung (Mk 14,3-9), ausdrücklich unter dem Kreuz (Mk 15,40), bei seinem Begräbnis (15,47) und - im Gegensatz zu Männern - als erste Adressatinnen seiner Auferstehung (16,1-8). 72 Kindern wendet sich Jesus eigens zu. Er betrachtet ihre Erwartungshaltung gegenüber Gott als „Muster und Modell für Erwachsene“ (Mk 10,13-16; Mt 18,3) 73 und ruft dazu auf, sich um Kinder zu kümmern und sie „aufzunehmen“: „Wer in meinem Namen ein Kind aufnimmt wie dieses, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat“ (Mk 9,37). Mit der Aufnahme eines Kindes letztlich Gott selbst aufnehmen: Eine größere Wertschätzung und Hochachtung von Kindern, die in der Antike allgemein gering geachtet waren, ist kaum möglich. Auch eine Missachtung der alt und unterstützungsbedürftig gewordenen Eltern lehnt Jesus mit klaren Worten ab (Mk 7,8-13). Sich sozialen Pflichten gegenüber schwächeren Mitgliedern der Familie oder der Gesellschaft zu verweigern, ganz gleich ob es sich um selbstverständliche oder gebotene Unterstützungsleistungen handelt, wird von Jesus in Übereinstimmung mit alttestamentlichen Texten abgelehnt (Dtn 15,11; Jes 58,6-10). Genau umgekehrt setzt er sich zur Überwindung konkreter Not auch kritisch und korrigierend mit gängigen Toraauslegungen auseinander, wie beispielsweise die Frage des am Sabbat Erlaubten zeigt (Mk 2,23-28; 3,1-6; Lk 13,10-17; 14,1-6; Joh 5,1-18; 9,1-17): Dieser - so seine Maxime - sei „um des Menschen willen“ geschaffen und nicht umgekehrt (Mk 2,27). Theologisch ist dies höchst aufschlussreich: Gebotserfüllung dient nach Jesus von Nazareth der Ehre Gottes, wenn und insofern sie auf das Wohl des Menschen ausgerichtet ist (vgl. Joh 9,3). Die Zusammengehörigkeit des Kultus mit der Pflege der Sozialität wird von mehreren alttestamentlichen Propheten betont, in deren Tradition sich Jesus damit stellt. Benachteiligten Gruppen wie Frauen, Kindern und Älteren 74 wendet er sich in besonderer Weise zu. Das individuelle Wohl des Menschen steht dabei im Mittelpunkt. 72 Zu Jesu Umgang mit Frauen s. ausführlich Helga Melzer-Keller, Jesus und die Frauen, Eine Verhältnisbestimmung nach den synoptischen Überlieferungen, (Herders Biblische Studien, 14) Freiburg et al. 73 Vgl. Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 112f. 74 Einschließlich einer Aufmerksamkeit für Witwen, s. Mk 12,40.42; Lk 2,37; 4,25f; 7,12; 18,3.5 <?page no="292"?> Bernhard Mutschler 274 3.3.3 Begegnungen mit gesellschaftlichen Extremen Neben Frauen, Kindern und Eltern, denen man unweigerlich begegnet, wendet sich Jesus gezielt Menschen zu, die aufgrund ihrer Diversität nicht im Nahbereich jedes Menschen liegen, mehr noch: zu denen man den Kontakt auf das Notwendige beschränkte und nach Möglichkeit mied. Dazu zählen Vertreterinnen oder Vertreter aus Gruppen, die religiöse oder moralische Extreme repräsentieren wie Sünder (Mk 2,15-17; Mt 11,19; Lk 15,1f.7; 18,9-14; 19,7), Zöllner (Mk 2,15-17; Mt 11,19; Lk 15,1f; 19,1-10) und Prostituierte (Mt 21,31f) auf der einen Seite und Pharisäer (Lk 7,36-50; Joh 3,1-21, zugleich Mitglied des Sanhedrin, des Hohen Rats) auf der anderen Seite. In diesen Menschen begegnet Jesus sowohl extremer Unreinheit, die der Verachtung ausgesetzt ist, als auch extremer Reinheit, deren Vertreter oft von sich aus den Kontakt mit dem gewöhnlichen Volk mieden. Vergleichbares gilt für ökonomische und soziale Extreme wie übermäßig Reiche (Mk 10,17- 31; Lk 19,1-10) oder Bettelarme (Mk 10,46-52; 12,41-44; Joh 9,1-8). Von deren Diversitätsmerkmalen lässt sich Jesus, der sich „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ weiß (Mt 15,24), nicht den Weg zu ihnen versperren. „Auch er ist ein Sohn Abrahams“ 75 , argumentiert er im Haus des von seinen Landsleuten verachteten, neureichen Oberzöllners und Kollaborateurs Zachäus. Nachkommen Abrahams stehen nach Jesus in einer besonderen Verheißung. 76 3.3.4 Heilungen als Zeichen der Messianität Jesu Krankheit ist zwar nicht schichtspezifisch, aber sie isoliert Betroffene ebenfalls und schließt aus der Gemeinschaft aus, ganz gleich ob sie eher physisch oder eher psychisch bedingt ist. In beiden Fällen stellt sie ein soziales Konstrukt dar, das zugleich über religiöse Komponenten verfügt. Menschen mit beeiträchtigenden Diversitätsmerkmalen dieser Art wendet sich Jesus zu und hebt ihre Diversität auf. Dazu gehören z.B. Blindheit, Taubheit, Lähmung und Stummheit. 77 Mit der Aufhebung dieser vier Assistenzbedarfe erfüllt Jesus die in Jes 35,5f angekündigten Zeichen der Heilszeit, 78 so dass sie zugleich auf seine Person aufmerksam machen (Christologie). Im Unterschied zu diesen nicht ansteckenden Beeinträchtigungen wurden „Aussatz“ (Lepra) und „Besessenheit“ durch einen „Dämon“ bzw. „böse“, „unreine 75 Lk 19,9; s. analog „eine Tochter Abrahams“, 13,16. 76 Für Paulus wird der „Segen Abrahams“ physisch entgrenzt und universalisiert, s. Gal 3,7.14.29. 77 Die zahlreichen Belegstellen sind detailliert bei Monika Kohler; Bernhard Mutschler (2013), Andachten feiern mit Menschen mit Assistenzbedarf, Überlegungen und praktische Hinweise zur Gestaltung, (Schriften der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 14) Stuttgart, S. 7 Anm. 4 aufgeführt. 78 Zu weiteren Bezugnahmen auf messianische Erwartungen s. ebd., S. 8. <?page no="293"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 275 Geister“ (psychische Erkrankungen) als gefährlicher betrachtet. Der Nazarener geht auf Menschen mit diesen auch räumlich aus der Gemeinschaft exkludierenden Krankheitsbildern zu und heilt die Betroffenen (Mk 1,40-45; 14,3; Lk 17,11-19; Mt 11,5) 79 , so dass sie wieder Zugang zur Gemeinschaft finden (vgl. Mk 1,44). Diese durchaus befremdliche Tätigkeit wird von Abgesandten der Religionsbehörde in Jerusalem untersucht und bringt Jesus im Ergebnis den Vorwurf eines Bündnisses mit „Beelzebul, dem Fürsten der Dämonen“ ein (Mt 12,24; Mk 3,22-30). Der beabsichtigten Stigmatisierung entzieht sich Jesus, auch wenn er sich den bereits Stigmatisierten zuwendet und diese entstigmatisiert. 3.3.5 Auferweckungen vom Tod Das äußerste Diversitätsmerkmal für Menschen ist der Tod. 80 Er macht gelebte und nicht gelebte Beziehung irreversibel (friert sie gewissermaßen ein mit kaltem Hauch) und negiert jede weitere menschliche Möglichkeit zu selbst gestalteter Beziehung. Insofern bringt der Tod für den Betroffenen nicht ein Mehr oder Weniger an Diversität mit sich, sondern absolute Diversität, absolute Andersheit im Verhältnis zu allem, was lebt. 81 Für die Hinterbliebenen kann insbesondere ein früher Tod eines Angehörigen traumatische Auswirkungen haben: Sie werden unerwartet, akut und immens von Trauer belastet und werden diese Last möglicherweise ihr Leben lang nicht mehr vollkommen los. An diesen Fällen wird sehr anschaulich, wie die benachteiligende Diversität des Todes in Form von Trauer gewissermaßen auf die Angehörigen übergeht. Mit dieser Last der Angehörigen konfrontiert, weckt Jesus ein zwölfjähriges Mädchen wieder auf (Mk 5,21-24.35-43), schenkt er einer Witwe ihr einziges Kind, das noch ein „Jüngling“ ist, wieder (Lk 7,11-17 82 ) und den Geschwistern Maria und Marta ihren vier Tage zuvor verstorbenen Bruder Lazarus (Joh 11,1-44). Anderen hilft Jesus in Todesangst, sei es durch ein wirksames Wort des Trostes (Lk 23,39-43) oder durch 79 Kompositorisch bedingt liegt in Mk 14,3 ein Besuch ohne Heilung vor; die letzte Heilung wird am Ende von Kapitel 10 erzählt. Zu den Erzählungen über Menschen mit „Besessenheit“ s. Kohler; Mutschler, Andachten, S. 7 Anm. 5. 80 Vgl. Eberhard Jüngel ( 3 1985), Tod, (GTB, 339) Gütersloh, S. 44: „Der menschliche Tod ist so sehr wie das menschliche Leben eine soziale Tatsache.“ Als solche ist sie hier zu berücksichtigen. 81 Vgl. Dietrich Korsch (2006), Heil und Heilung, Über das Verhältnis von Religion und Gesundheit, in: Verena Wetzstein (Hg.), Was macht uns gesund? Heilung zwischen Medizin und Spiritualität, (Tagungsberichte der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg) Freiburg i.Br., S. 9-22; 20: „Der Tod ist das Ende des selbstbestimmten Lebens.“ 82 S. außerdem Mk 9,26f: „ 26 Da lag er da wie tot, so dass alle sagten: Er ist gestorben. 27 Jesus aber ergriff seine Hand und richtete ihn auf. Und er stand auf.“ Auffällig an dieser und den beiden vorgenannten Erzählungen ist, dass es sich jeweils um Kinder handelt und Jesus zuerst einem Elternteil von ihnen (weshalb eigentlich nur einem? ) begegnet. <?page no="294"?> Bernhard Mutschler 276 die Bewahrung vor der Todesstrafe (Joh 8,2-11). In ähnlicher Weise wie die Heilung von als unheilbar geltenden Kranken hat der zeichenhafte, konkrete Sieg Jesu über den Tod messianische Konnotationen (Lk 7,22 par Mt 11,5). Jesu Reden und Handeln zeigt: Auch durch den Tod fällt niemand aus der von Gott gestifteten Gemeinschaft; der Tod ist für ihn keine Grenze. 3.3.6 Grenzüberschreitungen zu Nichtjuden und Heiden Könnte man zum Bisherigen einwenden, Jesus handle nur im Rahmen seines Volkes als der von Gott erwählten Gemeinschaft, 83 so zeigen weitere Erzählungen, dass er auch dieses extrem unterscheidende Diversitätsmerkmal mehrfach überwindet. Auch für Nichtjuden ist er ansprechbar, wie die Heilungen der Tochter einer syrophönizischen Frau in der Nähe von Tyrus (Mk 7,24-30 84 ), eines Taubstummen mitten im ebenfalls stark hellenisierten Gebiet des Zehn-Städte-Verbands Dekapolis (Mk 7,31-37), eines todkranken „Knechts“ (Adjutanten? ) eines mit der jüdischen Gemeinde befreundeten römischen Hauptmanns in Kapernaum (Lk 10,1-10) oder eines Sohnes eines königlichen Beamten zeigen (Joh 4,46-54, wahrscheinlich dieselbe Erzählung). In seiner Lehre spricht Jesus von einem Samariter, der sich von seinem Mitleid anstatt von seiner divergierenden Volkszugehörigkeit leiten ließ und im Blick auf erste Hilfe und weitere Pflegekosten selbstlos, vorbildlich und vornehm handelte (Lk 10,30-35). Mehrere exemplarische Grenzüberschreitungen Jesu legen im religiösen Bereich eine Grundlage dafür, dass sich so etwas wie ein Eine-Welt-Verständnis für soziale Standards und für Internationale Soziale Arbeit entwickeln kann. (Mit-)Menschlichkeit hört nicht an ethnischen, kulturellen oder theologisch gezogenen Grenzen auf, sondern sprengt sie. 3.3.7 Der Auftrag an die Anhänger Jesu Verhalten und Lehre Jesu im Blick auf Diversitätsgerechtigkeit sind nicht exklusiv, sondern exemplarisch. Das „Muster Jesus“ soll auch für andere maßgeblich werden. Durch seine Aufforderung zur Nachahmung im Anschluss an die Erzählung vom barmherzigen Samariter („Geh auch du und handle ebenso! “, Lk 10,37 85 ) verallgemeinert er das exemplarische Handeln seiner Lehrerzählung zu einer allgemeinen Maxime. Damit leitet er zu einem auch nach heutigen Standards der Sozialen bzw. Internationalen Sozialen Arbeit, der Entwicklungszusammenarbeit und Eine-Welt-Politik durch und 83 Vgl. Mt 10,5f; 15,24; ferner 9,36-38. 84 Indem Jesus sich von einer Heidin und Frau überwinden lässt, gewinnt er das Streitgespräch nicht, sondern verliert es. 85 Jesu Aufforderung zum Tun hat bisweilen den Charakter einer überfordernden Zumutung, wie Mk 6,37 zeigt. <?page no="295"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 277 durch diversitätsgerechten Handeln an. Eine noch umfassendere Verallgemeinerung in Form eines allgemeinen Gebots findet sich im Auftrag zur Mission, der am Ende des Matthäusevangeliums programmatich formuliert wird (Mt 28,16-20). Dieser kann als Anweisung zur allgemeinen Einladung verstanden werden, sich dem Glauben an einen diversitätsgerechten, barmherzigen Gott anzuschließen, der sich in Jesus von Nazareth zeigt (Joh 1,18), und die eigene Lebensweise an der von Jesus verwirklichten Vorstellung von Gott auszurichten. Denn der erteilte Auftrag, Menschen aus allen Völkern zu lehren, „alles (zu) halten, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,20) bezieht sich auf das konkrete Vorbild, das Jesus von Nazareth gegeben hat. Dem Auftrag zur weltweiten Werbung für das Evangelium in Worten ist die zu einem früheren Zeitpunkt im Evangelium erteilte Weisung zu einem sozialisierenden Wirken an die Seite zu stellen, das die negativen Folgen von Diversität für die Betroffenen ausgleicht: „ 7 Geht und verkündigt: Nahe gekommen ist das Himmelreich. 8 Kranke macht gesund, Tote weckt auf, Aussätzige macht rein, Dämonen treibt aus! Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst sollt ihr es geben.“ 86 Ein stärker formulierter Auftrag zu Krankenpflege, Trauerbegleitung, ganzheitlich orientierter Sozialer Arbeit und psychisch wirksamer Begleitung und Assistenz ist kaum denkbar. Die Aufzählung der Beispiele ist dabei nicht exklusiv, sondern exemplarisch zu verstehen ähnlich wie diejenige der so genannten „Werke der Barmherzigkeit“ in der Erzählung vom Weltgericht (Mt 25,31-46): In visionärem Vorausgriff sitzen hier „alle Völker“ vor dem Menschensohn als Richter und werden danach beurteilt, wie sie in ihrer Lebenszeit mit Hungrigen, Bedürftigen, Schutzlosen, Isolierten, Fremden und Kranken umgegangen sind. Durch diese nur bei Matthäus überlieferte Erzählung wird die Motivation, den Weg der Liebe, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit gegenüber anderen zu gehen einerseits programmatisch universalisiert und andererseits eschatologisch verstärkt. 87 Dies alles zeigt: In seinen eigenen Auftrag als Gesalbter und „von Gott Gesandter“ nimmt Jesus seine Nachfolgerinnen und Nachfolger mit hinein: Die Sendung Gottes (missio Dei) ist nicht nur im Blick auf physische und soziale Grenzen, Tabus und Länder entgrenzt, sondern auch im Blick auf die Beauftragten. Denn „die Ernte ist groß“ (Mt 9,37) und „alle 86 Mt 10,7f. Die in Mt 28,19 manchmal als übergriffig kritisierte Formulierung „Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern“ ist als programmatische Erweiterung zu 10,5f zu lesen, wo Jesus ausdrücklich „den Weg zu den Heiden“ verbietet. 87 Vgl. bereits am Beginn der Erzählung „alle Völker“ und „voneinander scheiden“, Mt 25,32. Beide Aspekte erhalten im weiteren Verlauf der Erzählung sehr großes Irritationspotential, das zu einer weiteren Verstärkung der Motivation geeignet ist: Die „Gerechten“ kennen den christologischen Bezug der von ihnen ausgeführten Werke der Barmherzigkeit offenbar nicht (Mt 25,37-39), und der Beurteilung anhand der ausgeführten Werke der Barmherzigkeit eignen je nachdem höchst gegensätzliche, irreversible Konsequenzen (Mt 25,46). Eine möglicherweise vorhandene Erwählungsgewissheit der Leserschaft wird dadurch von zwei Seiten her erschüttert. <?page no="296"?> Bernhard Mutschler 278 Menschen“ (1Tim 2,4) sind Adressaten Gottes - als Hilfeempfänger und dann als Helfende. „Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende“, ruft der galiläische Wanderprediger und Wunderheiler seinen Anhängern zu (Mt 9,38). Diese Bitte könnte als Vorbereitung auf eine eigene Berufung und Sendung verstanden werden. 3.3.8 Ergebnis: Jesus als Muster für diversitätsgerechtes und diversitätsreduzierendes Handeln Zusammenfassend ist festzuhalten: Jesus von Nazareth arbeitet nicht nur diversitätsgerecht, sondern in starkem Maß diversitätsreduzierend, indem er Menschen von ihren jeweiligen Einschränkungen - von Hunger über Krankheit bis hin zum Tod - befreit. 88 Dabei lässt er keine einzige mögliche Überschreitung sozialer, ethnischer, geschlechts-, alters-, krankheits-, status- oder bildungsbedingter, geographischer, religiöser oder beruflicher Grenzen aus einschließlich verschiedenster Tabubrüche (Kontakt zu Heiden, unreinen Frauen, ansteckend Kranken, Toten und sogenannten Besessenen). Er lebt Solidarität mit Bedürftigen, Hilfe für andere in jedweder Situation und fortlaufende Grenzüberschreitungen in beeindruckender Selbstlosigkeit und Konsequenz vor - oft gegen Erwartungen und Wertehaltungen seiner Zeit - und fordert andere dezent, aber in klaren Worten dazu auf, seinem Beispiel zu folgen: „Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben: Wie ich euch getan habe, so tut auch ihr (…) Wenn ihr das wisst - selig seid ihr, wenn ihr’s tut“ (Joh 13,15.17 89 ). Die Aufforderung nimmt Maß am wirklich Menschlichen (an dem an Jesus orientierten Humanum, vgl. Joh 19,5), zu dem Menschen von sich aus oft nicht fähig sind. Ein Wandeln auf den Spuren dieses Vorbilds schließt deshalb notwendigerweise auch die Bereitschaft zum Tragen des eigenen Kreuzes mit ein (Mk 8,34). 90 Angesichts der Gefahr der Überforderung wird das Vermächtnis Jesu an seine Jünger tröstlich: „Ich aber bin mitten 88 Eine prägnante, zusammenfassende Charakterisierung der „Diakonie Jesu“ fi ndet sich bei Horst Seibert (1983), Diakonie - Hilfehandeln Jesu und soziale Arbeit des Diakonischen Werkes. Eine Überprüfung der gegenwärtigen Diakonie an ihrem theologischen und sozialen Anspruch, Gütersloh, S. 38-40. 89 Auch das „Vorgespräch“ zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter hat diese theologisch ambivalente, aber bemerkenswerte Pointe von der Seligkeit des Tuns: „Tu das, und du wirst leben“ (Lk 10,28). Die einleitende Frage des Gesetzeslehrers nach den Voraussetzungen für „ewiges Leben“ (10,25) zeigt, dass das Tun mit „ewigem Leben“ in Verbindung gebracht wird. 90 Zu Christus als Vorbild s. Hermann von Lips (2012), Der Gedanke des Vorbilds im Neuen Testament, in: ders., „… und nicht die Perlen vor die Säue“. Gesammelte Studien zum Neuen Testament, Zum 70. Geburtstag von Hermann von Lips herausgegeben von Christian Senkel, (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 43) Leipzig, S. 456- 459 (447-464, zuerst in: EvTh 58, 1998, S. 295-309). <?page no="297"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 279 unter euch als einer, der bedient.“ 91 Der Dienst besteht in der Beseitigung lebensmindernder und benachteiligender Folgen von Diversität unter Menschen, in einem ganz bestimmten Sinn jedoch auch vor Gott. Auf ihrem Gang durch die Zeit empfängt die Gemeinde im Heiligen Abendmahl von Christus Leben und Kräfte der kommenden Welt. 3.4 Der zum Menschen kommende Gott und der Gott entsprechende Mensch - Überwindung menschlicher Diversität durch Gott und die Entsprechung des Menschen Im Rahmen des größeren, biblisch entfalteten Dramas der Heilsgeschichte für das Wirken Jesu ist Diversität in einem dezidiert theologischen Sinn zu interpretieren. Dabei geht es um die oder den theologischen Kerngedanken der gesamten christlichen Bibel und um deren Bedeutung für den Umgang mit Diversität unter Menschen. Im Fokus des Interesses liegt das grundsätzliche, theologisch zu entfaltende Verhältnis zwischen Gott und Mensch. An dessen Beginn steht (1) eine folgenreiche Diversität: Adams Sünde und der Zwang zum Sündigen. Dann werden (2) alttestamentliche Ansätze im Umgang mit den verhängnisvollen Folgen der Diversität der Sünde betrachtet, ehe (3) der große neutestamentliche Diversitätsausgleich in den Blick kommt: Gott kommt zum Menschen im Sohn und rechtfertigt den Sünder ohne dessen Verdienst. (4) Ziel dieses Diversitätsausgleichs ist der Gott entsprechende Mensch. Ein (5) Ergebnis fasst die Grundgedanken abschließend zusammen. So wenig theologische Gedanken auf den ersten Blick sozialwissenschaftlich relevant erscheinen mögen, so sehr geht es jedoch mittelbar um nichts weniger als um eine christliche Grundmotivation zu sozialer Arbeit und um menschenfreundliche Diversitätsbewältigung. Insofern sind die folgenden Gedanken entgegen dem ersten Augenschein von hoher Relevanz. 3.4.1 Eine folgenreiche Diversität: Adams Sünde und der Zwang zum Sündigen Beginnt man die Bibel von vorn zu lesen, dann hat Gott die Werke der Schöpfung „gut“ geschaffen, wie sechsmal ausdrücklich betont wird. 92 Alles zusammen wird abschließend - gleichsam im Rückblick auf die erste Wo- 91 Lk 22,27, situiert zwischen Abschiedsmahl und Kreuzigung. Zum Kontext von Lk 22,24-30 s. Bernhard Mutschler (2008), Theologische Antworten aus Lk 22,24-30 (Rangstreit der Jünger) auf die Frage: Was bedeutet „Evangelisch - Diakonisch“? , in: Richard Edtbauer et al. (Hg.), Evangelisch - Diakonisch, (Evangelische Hochschulperspektiven, 4) Freiburg im Breisgau, S. 31-47. 92 Gen 1,4.10.12.18.21.25. Der zweite Tag, an dem die Himmelsfeste geschaffen wird, erhält das Prädikat zwar nicht (Gen 1,6-8); der dritte, an dem zwei Werke geschaffen werden, erhält es jedoch zweimal (1,10.12). <?page no="298"?> Bernhard Mutschler 280 che - sogar als „sehr gut“ bezeichnet (Gen 1,31), ehe der Tag der Ruhe gesegnet und geheiligt wird (Gen 2,3). Dieser wohlgeordnete und optimistische Grundklang, von dem die erste, jüngere Schöpfungserzählung geprägt ist, durchzieht auch die anschließende zweite bis zum Ende von Gen 2. Mit dem Einbruch der Sünde, die in Gen 3 in Form einer Ätiologie erzählt wird, erhält die bis dahin ungetrübte und ungebrochene Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch einen schweren, dauerhaften Schaden. 93 Ab jetzt häufen sich Sünde auf Sünde in rascher Folge (Gen 4-11,9). Mit der Sünde Adams beginnt biblisch betrachtet eine nicht schöpfungsgemäße, chronische, lebensmindernde und benachteiligende Form des Andersseins - der Diversität - im Verhältnis zu Gott. Sie ist irreversibel und kann bis auf weiteres nicht mehr geheilt werden. 94 Ab hier entfaltet sich in der Bibel ein Drama von universaler Bedeutung und von weltgeschichtlichem Rang: Alle Menschen sind Sünder, d.h. schuldig im Verhältnis zu Gott, und sie können gar nicht anders. 95 Jetzt muss gesündigt werden. Mit Augustin formuliert: Das vor dem Fall alternative posse peccare und posse non peccare wandelt sich in ein alternativloses non posse non peccare. 96 Der Zwang zum Sündigen, vom Kirchenlehrer als Erbsünde konzipiert, ist da. 97 Die durch die Sünde entstandene Gottferne bedeutet nicht nur eine Verfehlung des Menschen in seiner Bestimmung zur Gemeinschaft mit Gott; sie 93 Gen 2f stellt literarisch einen einzigen Zusammenhang dar, s. Claus Westermann ( 3 1985), Genesis 1-11, (EdF, 7) Darmstadt, S. 13-15.26-39 (Nachdruck der Aufl. 1972). Dies kann verdeutlichen, „daß das Versagen des Menschen (…) per definitionem unvermeidlich war“, so Meir Shalev (1999), Der Sündenfall - ein Glücksfall? Alte Geschichten aus der Bibel neu erzählt, Aus dem Hebräischen von Ruth Melcer, Zürich, S. 69 (zuerst Ivr.: Tanach achshav [1985], Tel Aviv). 94 Vgl. das Kirchenlied „Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen“ von Lazarus Spengler (1479-1534). Es war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts selbstverständlicher Bestandteil des evangelischen Gesangbuchs, s. Evangelisches Kirchengesangbuch ( 30 1981), Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart (Nachdruck der Aufl. Stuttgart 1953), Nr. 243. 95 „Sünde“ ist nach Friedrich Kluge; Elmar Seebold (1995), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Bearbeitet von Elmar Seebold, 23., erweiterte Aufl., Berlin/ New York, S. 809 abgeleitet von einem germanischen Rechtswort. Es bedeutet „‚Schuld an einer Tat‘“ und stellt eine Abstraktbildung zu einem „alten Partizip zu sein“ dar: „Das Wort bedeutet also eigentlich ‚der es (gewesen) ist‘ und das Abstraktum ‚das Gewesensein‘“, s. ebd. 96 S. etwa Aurelius Augustinus (1974), Contra Iulianum (Opus imperfectum), Tomus prior: Libri I-III recensuit post Ernestum Kalinka Michaela Zelzer, (Sancti Aureli Augustini Opera Sect. VIII Pars IV, CSEL, 85/ 1) Wien, I 98, S. 114,1-116,65; ders. (2004), Tomus posterior: Libri IV-VI recensuit Michaela Zelzer, (Sancti Aureli Augustini Opera, CSEL, 85/ 2) Wien, V 58, S. 266,10-267,27. 97 Dazu ausführlich Wolfgang Beinert; Ulrich Kühn (2013), Ökumenische Dogmatik, Leipzig/ Regensburg, S. 275-287; Christoph Gestrich (1989), Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen, S. 257-284. <?page no="299"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 281 bezieht sich auch auf das Verhältnis zu anderen Menschen, zur übrigen Schöpfung und zu sich selbst. Er möchte „wie Gott sein“ 98 und verkrümmt sich durch dieses Streben nur immer weiter in sich selbst (incurvatio in seipsum 99 ). Denn indem er sich selbst an die Stelle des Schöpfers setzt, verwechselt er Schöpfer und Geschöpf und ist „der Fundamentalunterscheidung zwischen Gott und Mensch (…) nicht mehr gewachsen“ 100 . Seine Diversität im Verhältnis zu demjenigen Menschen, der „sehr gut“ geschaffen worden war (Gen 1,31), gereicht ihm letzten Endes zu einem gewaltigen, lebensmindernden Nachteil, dem Tod (Röm 6,23a). Die durch den Einbruch der Sünde verursachte Standardabweichung des Menschen seit „Adams Fall“ hat insofern gravierende Folgen für alle Menschen. 3.4.2 Alttestamentliche Ansätze im Umgang mit den verhängnisvollen Folgen der Diversität der Sünde Wie gehen die biblischen Schriften mit dieser so grundlegenden wie verhängnisvollen Diversität des Menschen um? Es gibt verschiedene Ansätze zum Ausgleich und zur Rückführung des Menschen in eine Gemeinschaft mit Gott. Durch die Stiftung des Sinaibundes etabliert der aus der ägyptischen Sklaverei befreiende Gott gleichsam ein Vertragsverhältnis mit dem befreiten Israel, ermöglicht ihm durch den Kult (zunächst im mobilen Wanderheiligtum, später) im repräsentativ und fest gebauten Jerusalemer Tempel eine Entsühnung und Befreiung von seiner Schuld und leitet es durch die Tora zu einem bundesgemäßen Leben in allen Lebensbereichen an. Was durch den Kult zu veräußerlichen und gleichsam formalistisch und objektivistisch zu erstarren droht, wird durch prophetische Kritik angeprangert und dadurch von einer geänderten Alltagspraxis ausgehend respiritualisiert. Alttestamentliche Propheten rufen zu einem Leben in Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Rechtstreue und Barmherzigkeit auf. Stellvertretend für viele Propheten (Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia) steht das knappe Summar des Micha: „Er hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist, und was der H ERR von dir fordert: Nichts anderes als Recht zu üben und Güte zu lieben 98 So die Verheißung der Schlange, Gen 3,5. 99 Vgl. Martin Luther (1938), Der Brief an die Römer, WA 56, Weimar, S. 356,5f: Quae [sc. scriptura; B.M.] hominem describit incurvatum in se adeo, ut non tantum corporalia, sed et spiritualia bona sibi inflectat et se in omnibus querat; dazu Gunda Schneider-Flume (1985), Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung theologischer Anthropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erik H. Eriksons, Göttingen, S. 43-48; zur Situation vor Gott s. ebd., S. 103-110. 100 So Gestrich, Wiederkehr, 109 in seiner Auslegung von Gen 3. <?page no="300"?> Bernhard Mutschler 282 und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen.“ 101 Auch „Frau Weisheit“, die engstens mit Gott verbunden gedacht wird, bietet sich als Wegweiserin zu einem Gott gefälligen Leben an. In all diesen Ansätzen kommt Gott, vermittelt durch sein Wort, den Kult, Frau Weisheit oder die Tora, auf den Menschen zu, um seine Entfremdung von ihm zu nehmen und dadurch die schädigenden Folgen seiner gottfeindlichen Diversität aufzuheben oder zumindest einzudämmen. 3.4.3 Der neutestamentliche Diversitätsausgleich: Gott kommt zum Menschen im Sohn und rechtfertigt den Sünder ohne dessen Verdienst Vom Kommen Gottes im Sohn erzählt das Neue Testament: „Als sich aber die Zeit erfüllt hatte, sandte Gott seinen Sohn“ (Gal 4,4). Das Ziel seiner Mission ist ein Loskauf des Menschen von der versklavenden Macht der Sünde, eine Geistverleihung in sein Herz und eine Einsetzung zum Kind und Erben Gottes (Gal 4,5-7). In ähnlicher Weise wird das Kommen Jesu in den Evangelien und weiteren Briefen erzählt und gedeutet. Dabei wird Jesus nicht nur als ganzer, voller („wahrer“) Mensch gezeichnet, sondern zugleich als wirklicher, d.h. als sündloser Mensch: „der in allem auf gleiche Weise versucht worden ist, aber ohne Sünde“ (Hebr 4,15 102 ). Von diesem Blickwinkel aus sind seine Verkündigung und sein Wirken einschließlich seines ungewöhnlichen Umgangs mit menschlicher Diversität zu interpretieren. 103 Der von Jesus konsequent beschrittene Weg der Liebe zum himmlischen Vater und zu den Menschen führt ihn freilich in äußerste Gefahr und schließlich in den Tod. Hier beginnt ein aufregendes Wechselspiel: Indem der Sündlose in den Tod geführt wird, vermag er „die Sünde der Welt“ hinwegzunehmen (Joh 1,29). Diesen Weg setzt Gott sichtbar ins Recht, da er den toten Jesus nicht im Tod belässt, sondern sich mit ihm identifiziert und ihn dadurch vom Tod auferweckt. Das Kreuz wird durch diese unerwartete Wendung vom Zeichen des „hässlichsten Todes“ 104 zum zentralen christlichen Zeichen des Heils. Es offenbart „nicht nur den leidenden, sondern auch den richtenden und ret- 101 Mi 6,8 (Zürcher Bibel). Bekannter dürfte der Wortlaut nach der Lutherbibel sein: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der H ERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ 102 Zur christologischen Lehrbildung s. einführend Hermann Dembowski ( 2 1987), Einführung in die Christologie, (Die Theologie. Einführungen in Gegenstand, Methoden und Ergebnisse ihrer Disziplinen und Nachbarwissenschaften) Darmstadt, S. 100- 111.154-158; zur theologischen Einzigartigkeit Jesu s. Lukas Ohly (2013), Was Jesus mit uns verbindet. Eine Christologie, Leipzig, S. 49f. 103 Vgl. S. 271-279 in diesem Band. 104 S. Martin Hengel (1976), Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: Johannes Friedrich; Wolfgang Pöhlmann; Peter Stuhlmacher (Hg.), Rechtfertigung (FS Ernst Käsemann), Tübingen/ Göttingen, S. 125-184. <?page no="301"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 283 tenden Gott“ 105 . In Christus kommt Gott zum Menschen so, dass diesem, obgleich er Sünder ist und in „Feindschaft gegen Gott“ lebt (Röm 8,7), eine rettende, dauerhafte Gemeinschaft mit Gott ermöglicht wird. Dieses Heil wird ihm von Gott geschenkt, wie in Eph 2,8 betont wird: „Denn durch die Gnade seid ihr gerettet aufgrund des Glaubens, und zwar nicht aus euch selbst, nein, Gottes Gabe ist es.“ Nach der von Paulus geprägten Interpretation des Kreuzes Christi erfolgt die Rechtfertigung des Gottlosen durch Gottes Gerechtigkeit. Sie unterscheidet sich von einem menschlichen Begriff der Gerechtigkeit fundamental, da sie jegliches Verdienst des Menschen ausschließt. 106 Deshalb wird die Rechtfertigung des Gottlosen nach evangelischem, reformatorischem Verständnis sprachlich konzis und theologisch prägnant durch vier sogenannte Exklusivpartikeln (particulae exclusivae) beschrieben: „allein durch das Wort“ Gottes (solo verbo), „allein durch Christus“ (solo Christo), „allein durch (sc. Gottes) Gnade“ (sola gratia) und „allein durch Glauben“ (sola fide). 107 Indem Gott durch Christus zum Menschen kommt, überbrückt der Schöpfer ohne menschliches Zutun die lebensmindernde, letzten Endes tödliche Diversität des Menschen, die durch die Sünde entstanden ist. Mehr noch, er schafft den Menschen neu, wie Paulus in 2Kor 5,17f formuliert: „ 17 Wenn also jemand in Christus ist, dann ist das neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. 18 Alles aber kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat.“ 3.4.4 Der Gott entsprechende Mensch als Ergebnis des Diversitätsausgleichs Dass der Schöpfer-Gott dem unrein, verängstigt und verzagt gewordenen Geschöpf Sünder die Gemeinschaft nicht von sich aus ein für allemal aufkündigt (z.B. im Rahmen der Vertreibung aus dem Paradies, Gen 3,22-24), sondern er im Gegenteil diesen sucht 108 , ihm nachgeht und solche Möglichkeiten des Diversitätsausgleichs schafft, dass aus diesem wieder ein kindlich lebender 109 , zuversichtlicher und fröhlicher Mensch wird, zeigt einerseits die wirkliche Gottheit Gottes und seine Eigenschaften: Gott ist lebendig, heilig, 105 Michael Welker (2012), Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn, S. 172-178; 172. 106 Zu Gottes Gerechtigkeit s. detailliert Eberhard Jüngel (1998), Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen, S. 43-74. 107 S. ausführlich ebd., S. 126-219. 108 Bereits in die lawinenartig sich ausbreitende Sünde der so genannten Urgeschichte Gen 1-11 (zutreffender wäre die Bezeichnung Grundlagen-Erzählungen) ist die Spur des göttlichen Erhaltungswirkens eingezeichnet, s. Gen 3,8f.21; 4,15; 8,21; 11,6-9, Letzteres ist zugleich eine Ätiologie für bestehende sprachliche Diversität. 109 Metaphorisch verstanden im Sinn von unverstellt, neu beginnend, s. Mk 10,15 (par Lk 18,17; Mt 18,3); 1Petr 2,2f; dazu Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 112f; ferner mit ermahnendem Ton 1Kor 3,1-3; Hebr 5,12-14. <?page no="302"?> Bernhard Mutschler 284 frei, barmherzig, von eigener Gerechtigkeit, alles in allem „ein glühender Backofen voller Liebe“ 110 . Andererseits sind damit Erwartungen an den Menschen verbunden, dass er in seinem Menschsein dem Sein Gottes entspricht und vom neu verliehenen Status des posse non peccare Gebrauch macht. Theologisch prägnant formuliert: Der Gott entsprechende Mensch ist Ergebnis und Ziel des zum Menschen kommenden Gott. 111 Die Entsprechung des Menschen mit Gott ist an sehr vielen Stellen in den biblischen Schriften zu finden, vielfach in Form reziproker Formulierungen. Besonders prägnante Formulierungen finden sich im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26): „Ihr sollt heilig sein, denn ich, der H ERR , euer Gott, bin heilig“ (19,2 112 ), in der Bergpredigt Jesu: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48), in der lukanischen Feldrede: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“ (Lk 7,36) sowie im Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben haben jenen, die an uns schuldig geworden sind“ (Mt 6,12 113 ). Jesu Ruf in die Nachfolge kann ebenfalls als Ruf in ein Gott entsprechendes Leben verstanden werden; auch weitere biblische Begründungen der Ethik lassen sich in diesem Sinn lesen. Insbesondere die Verkündigung des Reiches Gottes duldet keinen Aufschub (Lk 9,59-62) und ist universal auszurichten (Mt 28,16-20). Die von Gott ausgehende Sendung des Sohnes (missio Dei) findet ihre Fortsetzung in der Sendung der Jünger durch den Sohn (Joh 20,21-23 114 ). Ungeachtet des Umstands, ob die Entsprechung mit Gott in Bezug auf Heiligkeit, Vollkommenheit, Barmherzigkeit, Vergebung, Verkündigung - oder worauf auch immer - bezogen und formuliert ist, liegt der entscheidende, tragende Grund des Fruchtbringens an der Verbindung mit Gott als der Quelle alles Guten: „So trägt jeder gute Baum gute Früchte“ (Mt 7,17), „denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,1-8; V. 5), „sein Gebilde sind wir, geschaffen in Christus Jesus zu einem Leben voller guter Taten, die Gott schon bereitgestellt hat“ (Eph 2,10). Das Moment der Entsprechung mit Gott auf der 110 Vgl. Martin Luther (1909), Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, nachmittags (9. Juni 1532; 1Joh 4), in: WA 36, Weimar, S. 416-430; 425,2.13: „eytel backoffen dilectionis“, „eitel brunst und ein glűender backofen voller liebe“; s. ferner Ex 34,6; Num 18,14a; Ps 86,15; 103,8; 111,4; 112,4; 116,5; 145,8; Neh 9,17; Joel 2,13; Jona 4,2; 1Joh 4,8. 111 Zur „Einwilligung in Gottes Willen“ und zum „Leben im Geist“ s. ausführlich Sauter, Leben, S. 170-175.176-204. 112 Ähnlich in Lev 11,44f; 20,7f.26; s. mit Bezug darauf 1Petr 1,15f. 113 Par Lk 11,4; s. auch die Erweiterung Mt 6,14f par Mk 11,25 sowie das Gleichnis vom Schalksknecht, Mt 18,23-35; ferner allgemein Formulierungen wie „in Einsicht mit deinem Gott gehen“, Mi 6,8d. 114 Vgl. analog Joh 6,57; 10,14f; 15,9f. Zur Analogie zwischen der innergöttlichen und der außergöttlichen Wirklichkeit s. Michael Theobald (2009), Das Evangelium nach Johannes; Bd. 1: Kapitel 1-12, Übersetzt und erklärt von Michael Theobald, (RNT) Regensburg, S. 679-681. <?page no="303"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 285 Basis des zum Menschen gekommenen Gott ist darum zentral für die Begründung einer biblischen Ethik. Sie beruht letztlich auf der Dankbarkeit. „Denn die Glaubenden wissen: weil Gott für unser Heil genug getan hat, können wir für das Wohl der Welt nicht genug tun.“ 115 3.4.5 Ergebnis Der für Menschen offenbar unüberwindliche Zwang zum Sündigen (non posse non peccare) wird biblisch betrachtet zwar nicht rational erklärt, aber anschaulich erzählt durch eine Ursprungsgeschichte in Gen 3 (Ätiologie). Er stellt eine Varianz - und darin eine Diversität - gegenüber dem „sehr gut“ (Gen 1,31) geschaffenen Menschen aus Gen 1f dar. Näherhin handelt es sich um eine Devianz: Der Mensch ist vom Weg (de via) abgekommen, der ihm durch die Schöpfung zugedacht war. Die damit begonnene Gottferne trennt den Menschen von seinem Schöpfer, von seinen Mitgeschöpfen und von einer freien, unverstellten Beziehung zu sich selbst. Der Mensch als Sünder verkrümmt sich in sich und möchte dadurch „sein wie Gott“ (Gen 3,5). Gottes Weg zum Menschen beginnt mit der Herausrufung aus der Menge der Verdammten (massa perditionis): Noah aus seiner von Gewalt und Unrecht bestimmten Umgebung (Gen 6,9.11), Abraham aus den Bewohnern von Ur in Chaldäa, das Volk Israel aus dem Sklavenland Ägypten. Der im Sinaibund gestiftete Kult ermöglicht Entsühnung und gibt Leitlinien für das Leben in Form der „Weisung“ zum Leben (Tora). Propheten mahnen zu einem Gott entsprechenden Leben, die Weisheit lädt mahnend und freundlich dazu ein. Auch in Jesus von Nazareth kommt Gott zum Menschen. Jesus wird daher als „Sohn Gottes“ bezeichnet. Er lebt wirkliches Menschsein vor und geht den Weg der Liebe und der Gerechtigkeit Gottes bis zur letzten Konsequenz, dem Tod am Kreuz (Phil 2,5-11). Die dadurch unüberbietbar aufgerichtete Gerechtigkeit Gottes rechtfertigt den Menschen einzig und allein aus der Gnade Gottes durch den Glauben, durch Christus und durch das Wort Gottes. Indem Gott einen Menschen neu „in Christus“ schafft (2Kor 5,17), wird er zu einem Gott entsprechenden Leben gerufen und begabt. „Es gibt keine befreiendere Grundlegung der Ethik als die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben.“ 116 Denn sie lässt den Menschen dankbar werden. Die große, durch Gott initiierte Überwindung der Grunddiversität des Menschen leitet wirksam zum kleinen Überwinden menschlicher Diversität an. 115 Jüngel, Rechtfertigung, S. 219 (Hervorheb. im Original). Perspektivisch werden ausgeführt: „Befreiung aus Lebenslügen“, „Gottesdienstliches Leben“, „Primat des Personseins“ sowie „Weltliche Gerechtigkeit“, ebd., S. 220-233. 116 Jüngel, Rechtfertigung, S. 220. <?page no="304"?> Bernhard Mutschler 286 4 Biblisch-theologische Überlegungen für einen gegenwärtigen Umgang mit menschlicher Diversität Versteht man Diversität in sozialwissenschaftlich-theologisch orientierter Betrachtung so, dass mögliche „Ungleichheitsfaktoren“ von Menschen in den Blick kommen, 117 dann kann die Bibel wesentliche, theologisch begründete Beiträge für den Umgang mit Diversität leisten. Um welche handelt es sich? Im Folgenden wird die Bibel zunächst (1) als in sich diversitäres, diversitätsfreundliches Buch gewürdigt, das ein Reservoir für menschliche Diversität und für Diversitätserfahrungen darstellt. Anschließend kommt sie (2) als diversitätssensibles Buch in den Blick, das gleichsam einen Schutzraum für menschliche Diversität etabliert. Danach wird die Bibel (3) als diversitätsreduzierendes Buch vorgestellt, da es ein Muster für einen menschlichen und Gott gemäßen Umgang mit menschlicher Diversität bietet, ehe sie in einem bestimmten Sinn (4) als diversitätsgerechtes Buch charakterisiert wird, das eine immense Motivation für einen diversitätsgerechten Umgang mit menschlicher Diversität bereithält. Zum Schluss wird die Bibel (5) als trinitarisches Buch betrachtet, das die Grundlage und zugleich eine Anleitung für christliches Bekennen, Denken und Gestalten von menschlicher Diversität darstellt. 4.1 Die Bibel als in sich diversitäres, diversitätsfreundliches Buch, Reservoir für menschliche Diversität und für Diversitätserfahrungen Dadurch dass die Bibel in sich von sehr großer, z.B. literarischer, kultureller und theologischer Diversität geprägt ist, 118 leistet sie einige wichtige Beiträge für den Umgang mit Diversität. Fünf davon werden hier skizziert. (1) Durch ihren Inhalt und Aufbau leitet die Bibel zu Differenzsensibilität und Diversitätsbewusstsein an. Das „heilige Buch“ der Christenheit, das Buch der Bücher, lässt sich nicht ohne weiteres vereinfachen, systematisieren oder über einen einzigen Kamm scheren. Auch sperrige, unangenehme und zu bestimmten Zeiten unverständliche Texte sind durch die Kanonisierung und durch die weite Verbreitung landessprachlicher „Vollbibeln“ (= vollständige Bibeln) geschützt. Eine Verringerung der Diversität z.B. mit der Papierschere oder mit dem Ausblenden einzelner Problemtexte ist daher nicht möglich. Erleichternde Vereinfachungen der vielschichtig aufgebauten Bibel auch aus pädagogischen Gründen (z.B. für Kinder, Neustarter im Glauben, in der Erstverkündigung) sind stets mit einem mehr oder weniger auffälligen Ausblenden von Texten und Traditionen verbunden. Wer sich ausführlich mit der Bibel beschäftigt hat, weiß: Bei sorgfältiger Betrachtung ist sie in keiner einzigen Hinsicht einfach zu verstehen. Weil die Bibel in sich so verschieden 117 Siehe S. 254f. in diesem Band. 118 Siehe S. 257-261 in diesem Band. <?page no="305"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 287 ist, verfügt sie über das Potential, ihre Leserschaft zu Diversitätssensibilität, Diversitätsfreundlichkeit und Diversitätstoleranz anzuleiten. (2) Aus der Binnendiversität der Bibel folgt ihre Multiperspektivität. Zu nahezu jedem Thema gibt es verschiedene Standpunkte und Perspektiven. Quer dazu verlaufen Spannungen zwischen Weltlichkeit und geistlicher Betrachtung, zwischen Profanität und Sakralität oder Spiritualität. So gibt es in der Bibel nicht eine einzige „heilige Sprache“, nicht ein einziges „heiliges Volk“, nicht eine einzige Ethik, keine christliche Gottesdefinition usw. Es gibt nicht einmal eine einzige Heilige Schrift, die für alle Christen gleich wäre. Diese Multiperspektivität ist nicht als Mangel, sondern als Gewinn zu betrachten, da sie dazu anleitet, gedachte oder erfahrbare Wirklichkeiten vielschichtig zu sehen, selbst zu reflektieren und weiter zu gestalten. Die Weite des biblischen Horizontes ist beizubehalten und auszuhalten; sie darf nicht willkürlich eingeschränkt werden. Daher berufen sich verschiedene Kirchen, Konfessionen und Denominationen trotz ihrer Verschiedenheit zu Recht auf die Bibel. 119 Ihre Ordnungen, Traditionen und Überzeugungen haben in der Bibel ein breites Fundament. Beispielsweise muss nicht überall auf der Welt am selben Tag Ostern gefeiert werden, weil bereits die synoptische und die johanneische Tradition verschiedene Tage für die Kreuzigung Jesu voraussetzen. Der Rekurs auf gemeinsame biblische Traditionen ermöglicht gegenseitige Akzeptanz in wesentlichen Fragen, ohne die eigenen Traditionen 119 Nach Hans-Joachim Eckstein ( 2 2011), Ein Herr, ein Leib - doch viele Kirchen? Einheit und Vielfalt der Kirchen in neutestamentlicher Sicht, in: Kyrios Jesus, Perspektiven einer christologischen Theologie, Neukirchen-Vluyn, 117 (103-118, zuvor in: Freikirche - Landeskirche, Historische Alternative - Gemeinsame Zukunft? [Theologie interdisziplinär 2, 2008], Holger Eschmann et al. (Hg.), Neukirchen-Vluyn, S. 98-112) setzt sich die Kirche „von Anfang an als ein Organismus aus zahlreichen - ethnisch, kulturell, organisatorisch und theologisch verschieden geprägten - Gliedern und Gliedkirchen zusammen“. Auch nach Hermann von Lips (2012), Neutestamentliche Aspekte zur Ekklesiologie, in: ders., „… und nicht die Perlen vor die Säue“. Gesammelte Studien zum Neuen Testament, Zum 70. Geburtstag von Hermann von Lips herausgegeben von Christian Senkel, (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 43) Leipzig, S. 406-417; 416 (zuerst in: Kirche, BThZ 13, 1996, S. 60-70) stand „die Vielfalt bereits am Anfang der nachösterlichen Entwicklung der Kirche“. Die gegenwärtige Ökumene kann sich daher auf die neutesta mentliche Vielfalt berufen. S. bereits die These von Ernst Käsemann (1960), Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? , in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, 2., unveränderte Aufl., Göttingen, S. 231 (214-223, zuerst in: EvTheol 11, 1951, S. 13-21): „Der nt.liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d.h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen.“ Dazu auch ausführlich Ferdinand Hahn (1986), Die Einheit der Kirche und Kirchengemeinschaft in neutestamentlicher Sicht, in: ders., Exegetische Beiträge zum Ökumenischen Gespräch, Gesammelte Aufsätze I, Göttingen, S. 116-158 (zuerst in: F. Hahn et al. [Hg. ], Einheit der Kirche. Grundlegung im Neuen Testament, [QD, 84] Freiburg 1979, S. 9-51). <?page no="306"?> Bernhard Mutschler 288 aufgeben zu müssen. 120 Die Bibel umfasst ein großes Reservoir für Diversität. (3) Die Vielfalt der Bibel fordert zu ihrer wissenschaftlichen Erforschung heraus. Vielfältige literarische, historische und theologische Klärungen sind notwendig, um biblische Inhalte im Detail immer besser auszuleuchten, zu verstehen, auszulegen und für die Gegenwart fruchtbar machen zu können. In jeder Generation und immer wieder neu sind dabei methodische und hermeneutische Gesichtspunkte wie Voraussetzungen des Verstehens, Regeln der Auslegung von Texten und Möglichkeiten der Übersetzung (Übertragung) in die Gegenwart zu bearbeiten und für andere offenzulegen. Schließlich ist Teil der wissenschaftlichen Aufgabe, aus der Fülle an Details inhaltliche Hauptlinien zu bestimmen, zu begründen und verständlich nachzuzeichnen. Denn ohne inhaltliche, auch theologische Zuspitzungen würde die wissenschaftliche Erforschung der Bibel unübersichtlich, orientierungslos und damit letztlich auch zunehmend irrelevant für Glaubensgemeinschaften und für die Gesellschaft. Biblische Diversität provoziert zur Fülle an Detailarbeit, zu Klärungen im Vorfeld und auf der Metaebene sowie zu inhaltlichen, anthropo-theologischen Zuspitzungen. (4) Die enorme Diversität innerhalb der Bibel stellt wesentliche Aufgaben der Vermittlung. Die innerbiblische Diversität ist zumal für weniger sachkundige Menschen nicht leicht nachzuvollziehen und einzuordnen. Beides, ein gewisser Einblick in Problemkonstellationen und nachvollziehbare Ansätze zu deren Lösung, ist aber zwingend notwendig, um keinen Anlass zu sinnentstellenden Verkürzungen zu geben. Wissenschaftliche Theologie und Verantwortliche in der Kirche sind insofern rechenschaftspflichtig gegenüber Gemeindegliedern und gegenüber der Allgemeinheit. Eine unsachgemäße Darstellung der komplexen innerbiblischen Diversität könnte dazu führen, unausgewogene und unverantwortliche Vereinfachungen sowohl auf dem Gebiet der Hermeneutik als auch bei theologischen Schlussfolgerungen glaubhaft erscheinen zu lassen. 121 Die „Anfälligkeit“ für Biblizismus und Fundamentalismus kann durch eine verantwortungsvolle, wissenschaftlich redliche Grundbildung erheblich gesenkt werden. 122 Wer selbst Einblick in Grundzüge biblischer Diversität gewonnen hat, ist besser gegen Verkürzungen geschützt. Analog zu Gemeindepädagogik und Jugendarbeit ist auch auf den Feldern der Erwachsenenbildung und der Sozialpädagogik darauf zu achten, dass das Reservoir menschlicher Diversitätserfahrungen in der Bibel (mit und ohne Diskriminierung) sowie wichtige normative Ansätze zur Bewältigung von Diversität in geeigneter Form und hinreichend 120 Als Beispiel dient die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). Sie wurde 1973 als Leuenberger Kirchengemeinschaft durch die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa vereinbart und umfasst gegenseitige Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. 121 Vgl. als Beispiel meine Ausführungen S. 197-207 in diesem Band. 122 Vgl. dazu u. S. (302-)308-310. <?page no="307"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 289 kommuniziert werden. Erziehung und Bildung können auf diese Weise einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen zumal aus bildungsschwachen Schichten sowie insbesondere Jugendliche und Kinder besser geschützt sind vor unzulässig vereinfachter Weltsicht, Schematisierung, menschenverachtender Einseitigkeit und Radikalisierung. Für eine globalisierte Welt ist dies zunehmend bedeutsam. Auf diese Weise kann die Bibel auch in einem säkularisierten Kontext zu einer diversitätsgerechten und menschenfreundlichen Atmosphäre beitragen. (5) Um es zugespitzt auszudrücken: Die Bibel bildet ein immenses Reservoir an Diversität. Sie kann dadurch zum Widerstand gegen Monokulturalität und monokausale Erklärungen und Weltsichten ermuntern und anleiten. In ihrem Realismus enthält sie viele negative und positive Beispiele zwischenmenschlicher Beziehungen, Auf- und Abwertungen, Ausgrenzungen und Brückenschläge. Verschiedene Perspektiven der Inkulturation des Evangeliums sind in ihr zu finden. Beeindruckend ist die Mischung aus theologischen Standpunkten (kein Relativismus, keine Beliebigkeit) und der Offenheit für Begegnungen. Offenheit, Toleranz, Multiperspektivität und eine gehörige Portion Realismus können in ihr studiert werden. Die Bibel ist ein in sich diversitäres und diversitätsfreundliches Buch, ein Reservoir für menschliche Diversität und für Diversitätserfahrungen. 4.2 Die Bibel als diversitätssensibles Buch, normativer und exemplarischer Schutzraum für menschliche Diversität Dadurch dass die Bibel eine Fülle von Bestimmungen zum Schutz menschlicher Diversität enthält, diese begründet und ausführt, leistet sie grundlegende Beiträge für den Umgang mit Diversität. Fünf Beiträge, die aufeinander aufbauen, werden hier skizziert. (1) Diversitätssensibilität verdankt sich nach biblischer Vorstellung letztlich dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Sie ist weder in betriebswirtschaftlicher Rationalität begründet, wie es der Begriff Diversity Management nahelegt, noch in der Sorge um Arterhaltung oder um ein potentielles künftiges Nutzungsinteresse, wie es z.B. bei „Biodiversität“ der Fall ist, noch durch irgendeine andere Logik von außen. Sensibilität für menschliche Diversität entspringt nach biblischer Vorstellung nicht einem Zweck. Sie ist als Korrelat zu Gott und zum Menschen zu verstehen, geschieht also zugleich „um Gottes willen“ und um des Menschen willen. Außerhalb dieser Bezugsgrößen ist sie zwecklos. Durch ihre Zwecklosigkeit nach außen zeigt die biblische Diversitätssensibilität einen hohen Eigenwert: Dass Menschen nicht normiert und einerlei sind, sondern divers, ist nach außen hin grundlos und genau deshalb von unüberbietbarer, höchster Bedeutung. Der Grund liegt im Menschsein des Menschen selbst. Dabei wird der Mensch als Partner, <?page no="308"?> Bernhard Mutschler 290 Gegenüber und Geschöpf Gottes verstanden. 123 Jeden konkreten (d.h. diversen) Menschen um seiner selbst willen ernst zu nehmen, zu achten und ihn im Verhältnis zu anderen Menschen chancengleich zu behandeln, entspricht daher diesem konkreten Menschen selbst. Es wird ihm gerecht. Die von Sozialwissenschaften als Anspruch erhobene Diversitätsgerechtigkeit ist daher gut vereinbar mit biblischen Traditionen. Mehr noch, der Ruf nach Diversitätsgerechtigkeit entspricht zutiefst einem biblischen Menschenbild. Den von Gott erschaffenen Menschen soweit gelten zu lassen, wie es die Geltungsräume anderer Menschen fairerweise zulassen, entspricht biblischer Schöpfungstheologie. Ihr zufolge erhält der geschaffene (nicht: der perfektionierte, gesunde, leistungsstarke) Mensch das Prädikat „sehr gut“ (Gen 1,31). Diversitätssensibilität und Diversitätsgerechtigkeit sind ab initio biblische Anliegen. (2) Was ist die biblische und theologische Basis für Diversitätssensibilität und Diversitätsgerechtigkeit im Umgang mit jedem Menschen? Zwei Grundlagen sind wesentlich. Einerseits ist es die dem Zugriff des Menschen entzogene menschliche Würde, die nach biblischer Überzeugung jedem Menschen aufgrund seines Daseins eignet. Menschenwürde ist ihrerseits theologisch zu begreifen als Konsequenz und sozusagen anthropologische Kehrseite der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die zweite Grundlage für das Entstehen biblischer Diversitätssensibilität und Diversitätsgerechtigkeit gegenüber Menschen ist die Zusammengehörigkeit als menschliche Gemeinschaft. Auch sie ist coram Deo zu verstehen, sei es als menschliche Gemeinschaft (Gen 1-11), sei es als herausgerufenes Volk Gottes in den Spuren Abrahams (ab Gen 12) oder als von Gott geheiligter Leib Christi (1Kor 12, d.h. Gemeinde, Kirche 124 ). Damit werden zwei auch über das Christentum hinaus bedeutsame Grundaxiome menschlichen Lebens betont und begründet: Menschen bilden untereinander eine Gemeinschaft, auch wenn sie sich persönlich fremd sind; sie sitzen in einer Art Reisegemeinschaft im selben Boot durch Raum und Zeit und bilden dadurch eine Verantwortungsgemeinschaft. Darüber hinaus kommt jedem einzelnen Menschen ungeachtet seiner konkreten Lebensumstände und seines Nutzens (Wertes) für die Gemeinschaft eine unantastbare Würde und Respekt zu. Denn er ist Gottes Geschöpf, Partner und Ebenbild. Entscheidend sind nicht persönliche Verbundenheit oder Sympathie, Meinungen und Befindlichkeiten. Menschliche Gemeinschaft und menschliche Würde - beides von ein und demselben Schöpfer gestiftet und verliehen - bilden die biblische und theologische Basis für Diver- 123 Es geht also um mehr als um ein abstraktes, von irgendwoher bestimmtes Humanum. Bereits der Begriff homo („Mensch“), von dem humanus abgeleitet ist, verweist auf Gott als (zumindest nach antikem Verständnis) notwendiges Korrelat zum Menschen, s. Walde; Hofmann, Wörterbuch I, S. 654: „opp.(ositum) deus“. 124 Für Kirche wie für Gemeinde verwendet das Neue Testament ἐκκλησία (ekklesía), d.h. die „herausgerufene“ (sc. Versammlung), s. ausführlich Eckstein, Herr, S. 104-109. <?page no="309"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 291 sitätssensibilität und Diversitätsgerechtigkeit gegenüber Menschen. Auf dieser gemeinsamen, festen Basis finden sich alle Menschen vor, und von ihr aus kann der Umgang mit Diversität gestaltet werden. (3) Durch ihre normative Fülle zu Gunsten schwächerer, d.h. diversitärer Gesellschaftsmitglieder gestalten biblische Texte und Traditionen bis heute rechtliche Vorstellungen und gesellschaftliches Leben mit. Wer könnte sich etwa die Zehn Gebote, den Gedanken eines Erlassjahres oder das Asylrecht aus der Gegenwart noch wegdenken? Sie alle wirken in vielfältiger Weise bis heute weiter, stammen aber aus altorientalischen Traditionen, die in die Bibel Eingang gefunden haben. Das biblische Sozialethos hat weder einheitliche Einzelbestimmungen noch vollkommen übereinstimmende Gesamtperspektiven. Es ist sehr vielfältig, aber es steht ausnahmslos auf der Basis einer theologisch begründeten Achtung vor dem Nächsten: seiner durch Gott verliehenen menschlichen Würde („Gewicht“, „Glanz“, hebr. דוֹב ָ כּ [kâbôd]). Eine bunte Vielfalt von Grundsätzen, Perspektiven und Standards fordert Schutz für Leben und Freiheit des Einzelnen (Jedermann-Schutz), unterstützt strukturell benachteiligte Gruppen innerhalb von Haus und Familie (Unversorgte, Frauen, Witwen, Waisen, Sklaven) und gebietet einen Mindestschutz für gesellschaftlich bedrängte Gruppen wie Fremde, unheilbar Kranke, von Dämonen Besessene (psychisch Erkrankte) oder Kriegsgefangene als Angehörige fremder Nationen, die keinen Bezug zur Israel- Gemeinschaft haben. Auch weitere bedrängte Mitglieder der Schöpfung wie Tiere 125 , die Natur oder der Boden (Brachjahr) werden geschützt, am vornehmsten durch die Ruhe des Sabbat. 126 Letztere vereint die gesamte Schöpfung und dient insofern auch einem Schutz vor sich selbst, z.B. vor inneren Antreibern. Hinter den Anweisungen zur Achtung der Menschlichkeit steht Gott selbst: „Ich bin der H ERR .“ 127 Gottesrecht schützt den Menschen vor seinesgleichen: vor menschlichem Hochmut, menschlicher Trägheit und menschlicher Lüge gegenüber anderen. Zu seinem eigenen Besten ist der Mensch der Begründung der Menschlichkeit entnommen. Über Begründungen, das Dass der Mitmenschlichkeit, muss man daher nicht diskutieren, umso mehr aber über das Wie-wann-und-Wieviel, d.h. über Mindeststandards (s. jedoch Mt 7,12) und Strategien zur Durchsetzung eines menschenwürdigen Umgangs mit Schutzbedürftigen und Benachteiligten. Deutlich ist: 125 Rainer Hagencord (2011), Die Würde der Tiere. Eine religiöse Wertschätzung, Mit einem Vorwort von Jane Goodall, Gütersloh, S. 93 formuliert für das Alte Testament eine „Gott-Unmittelbarkeit der Tiere“. Vgl. auch Thomas Oesterle (2013), Hütet die Tiere! Ein notwendiges Kapitel im Themenspektrum „Bewahrung der Schöpfung“, (Biblische Raritäten, 12) Tübingen, S. 24: Tiere sind „mitgerettete, mitgesegnete und in Gottes Verheißungen mit einbezogene […] Mitgeschöpfe“. 126 Sie ist Ziel und Abschluss der ersten biblischen Schöpfungserzählung, s. Gen 2,2f. Das Sabbatgebot im Dekalog nimmt darauf Bezug, s. Ex 20,8-11. 127 So im ersten Satz der Zehn Gebote, s. Ex 20,1 und Dtn 5,6, und beim Nächstenliebegebot, Lev 19,18. <?page no="310"?> Bernhard Mutschler 292 Durch ihre normative Fülle ist die Bibel eine Art Schutzraum für Schutzbedürftige. Zahlreiche Erzählungen verdeutlichen zudem den göttlich gebotenen Schutz exemplarisch. Biblische Normen und Exempel 128 sind dem kollektiven Bewusstsein und dem kulturellen Gedächtnis bis heute eingeschrieben, immer wieder zu interpretieren und wie ein Schatz an die nächste Generation weiterzugeben. Der Schutz des Anderen schützt auch sein Anderssein, auf das er ein Anrecht hat. (4) Durch die Vielfalt biblischer Normen und durch ihre gegenläufigen Erzählungen von Sklaverei, Exklusion und Gewalt zwingt die Bibel zu einer eigenständigen Reflexion und zu begründeten Entscheidungen gegenüber der überlieferten Diversität. Dies schließt Sachkritik an der Bibel ein. Nicht alles Biblische ist gut. Daher genügt ein denkfauler, formalistisch argumentierender „Bibelglaube“ (Biblizismus) keineswegs. Vielmehr sind Glaube, Verstehen und Gestalten (Handeln) immer wieder mit Hilfe der Bibel auf das eigene Verständnis von Gott hin auszurichten und zu konzentrieren; erst von einer selbst denkenden Perspektive aus erwächst ein klares, eigenes Urteil, das auch gegenüber den Irrungen der Geschichte bewährt und verantwortet werden kann. Welchen Beitrag leistet die Bibel für den Umgang mit Diversität durch ihre Texte von Diskriminierung, Exklusion und Gewalt? Sie zwingt zu Reflexion, Kritik und einem theologisch begründeten eigenen Urteil. Dieses hat Folgen für die Praxis. Im Blick auf unerträgliche Zustände der Gegenwart, die von Diskriminierung, Armut, Exklusion und Gewalt geprägt sind, kann die Bibel sensibilisieren, demaskieren, orientieren, interpretieren, illustrieren, konfrontieren, kritisieren und aufarbeiten helfen. Durch Kanonisierung und Bibelverbreitung sind auch diejenigen biblischen Texte, die zu Sachkritik an der Bibel und zu eigenem, theologisch begründetem Urteil provozieren, vor Vergessen und Verdrängung geschützt. Sie erfüllen wichtige hermeneutische und heuristische Funktionen. (5) Um es zugespitzt auszudrücken: Theologisch fundierte biblische Sozialnormen sind in überraschender Weise diversitätssensibel. Vielfach streben sie Diversitätsgerechtigkeit an, wie z.B. Lev 19,18 zeigt. In Gestalt des Dekalogs enthält die Bibel die einzige antike Sozialcharta, die bis heute in breiten Bevölkerungskreisen nachwirkt (spätestens im Konfirmandenunterricht lernt man sie kennen und schätzen) und Grundlage vieler Gesellschaftsordnungen ist. Sie sichert Grundrechte des Menschen unabhängig von seiner Herkunft, seinem Besitz, seinem Einfluss oder seinem Bildungsstand. Indem das Sozialrecht auf den Menschen als Mensch ausgerichtet ist, ist es diversitätsorientiert. Weil es Gottesrecht ist, stellt es eine Bastion gegen jede Verzweckung des Menschen dar. Sogar die einzigen antiken Texte von Exklusion und Gewalt mit kanonischem Rang erfüllen eine für die Gegenwart wichtige Funktion, wenn sie bis heute zur Auseinandersetzung zwingen, eigene Ur- 128 Vgl. im Judentum analog Halacha und Aggadah. <?page no="311"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 293 teilsbildung provozieren und zum Widerspruch gegen entsprechende Traditionen und Zustände aufrufen und ermutigen. Die Bibel ist ein diversitätssensibles Buch, ein normativer und exemplarisch illustrierter Schutzraum für Menschen mit ihrer Diversität. 4.3 Die Bibel als diversitätsreduzierendes Buch, Muster für einen menschlichen und Gott gemäßen Umgang mit menschlicher Diversität Dadurch dass die biblische Zentralgestalt Jesus von Nazareth nicht einen einzigen Menschen in der von seiner Diversität mit verursachten Not belässt, leistet sie unschätzbare Beiträge für den nachfolgenden Umgang mit Diversität. Erneut werden fünf Beiträge hier skizziert. (1) In Analogie zum alttestamentlichen Gottesrecht, das sich um Gottes und des Menschen willen Benachteiligten, Leidenden und Ausgeschlossenen zuwendet und deren Leben sichert, ist Jesus von Nazareth in Person als Einprägung Gottes in diese Welt zu verstehen. An seinem Weg und Wirken ist nach christlichem Verständnis abzulesen, wer Gott ist und was sein Wille und Handeln für diese Welt sind. Es ist deshalb nicht unerheblich, wenn der galiläische Wanderlehrer, der in persona sozusagen die Einblendung Gottes in Welt und Geschichte verkörpert (Joh 1,1.14.18), den aufgrund ihrer Diversität bedürftigen Menschen (Mk 2,17; Lk 19,10) um Gottes und des Menschen willen begegnet und hilft. 129 Jeder andere Zweck, jeder andere Grund und jede andere Motivation seiner Hilfe wäre sachfremd. Der Messias Gottes steht für die Sendung Gottes (missio Dei) in die Welt. Sein messianisches Handeln ist folgerichtig allein an Gott als dem Auftraggeber (Dtn 6,4f) und an den Menschen als Adressaten (Lev 19,18; 1Tim 2,4) ausgerichtet. Ihre Diversität wird durch den Christus Gottes in zugleich menschlichen und Gott gemäßen Begegnungen reduziert. (2) Das Wirken Jesu von Nazareth liest sich wie eine fortgesetzte Reihe andauernder Grenzüberschreitungen und Tabubrüche im Interesse der Mitmenschlichkeit. Zu den überschrittenen Grenzen zählen soziale, ethnische, geschlechts-, alters-, krankheits-, status- und bildungsbedingte, geographische, religiöse, sprachliche, kulturelle und berufliche Grenzen. Sie alle sind ein Ergebnis der Verschiedenheit (Diversität) von Menschen und werden von Jesus überwunden, um diese Menschen von ihrem Leiden infolge von Verschiedenheit zu befreien. In manchen Fällen wird Diversität unmittelbar beseitigt 129 Jesu „heilend-befreiende Praxis“ ist die „Tatsprache der Reich-Gottes-Botschaft“ und zugleich „Matrix caritativen Handelns“, s. Isidor Baumgartner (2011), Die heilendbefreiende Praxis Jesu in caritastheologischer Perspektive am Beispiel der Heilung eines Mannes am Sabbat (Lk 6,6-11), in: Ulrich Busse et al. (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (FS Rudolf Hoppe), (BBB, 166) Bonn, S. 527-543; 533f. <?page no="312"?> Bernhard Mutschler 294 (z.B. Krankheit geheilt), in anderen werden trennende Folgen von Diversität aufgehoben, ohne die Diversität selbst einzuschränken und alle Menschen in einen Einheitstyp zu verwandeln. In allen Fällen jedoch wird Diversität auch dadurch reduziert, dass Menschen zusammengeführt werden und - teilweise zum ersten Mal - in Gemeinschaft miteinander treten. Analog dazu werden von Jesus verschiedenste Tabuzonen betreten: Er tritt in Kontakt zu Heiden, zu unreinen Frauen, zu ansteckend Kranken, zu Toten und zu so genannten Besessenen. Tabubrüche des Menschensohnes Jesus geschehen freilich nicht aus ästhetisierenden Gründen (l’art pour l’art), nicht um des faszinierenden Tabubruchs oder der aufmerksamkeitsheischenden Grenzverletzung willen und nicht aus Gründen der Selbsterfahrung oder des Revoltierens. Diese Motive sind zwar in Geschichte und Gegenwart geläufig, nicht aber bei Jesus. Vielmehr ist für ihn auch das Überwinden von Tabus allein dadurch motiviert, dass Jesus den Heilswillen Gottes ebenso wie den geplagten Menschen jenseits der Grenze bzw. im Bereich des Tabus im Blick hat. Seine Botschaft an Umstehende ist dabei: „Auch dieser konkrete Mensch ist all seiner Diversität zum Trotz keineswegs ausgeschlossen vom Heilshandeln Gottes! “ In dieser Haltung gibt es freilich weder eine unüberwindliche Grenze noch ein zu respektierendes Tabu. Die miteinander korrelierenden Vaterunserbitten „dein Reich komme, dein Wille geschehe“ (Lk 11,2; Mt 9,10) beziehen sich in ihrer Reichweite auf jeden, auch auf den letzten, niedrigsten und am entferntesten scheinenden Menschen. Insofern findet eine sichtbare und symbolische Machterweiterung statt, ein heilsames Heimsuchen durch Gott (Lk 1,68; 7,10). Durch Grenzüberschreitungen und Tabubrüche, die an gesellschaftlicher Peinlichkeit und Uneigennützigkeit des Wundertäters nicht zu überbieten sind, weist Jesus von Nazareth auf den unschätzbaren Wert jedes einzelnen Menschen hin. Zugleich zieht er entsprechende lebensförderliche Konsequenzen zu Gunsten des Menschen. Mit der Schilderung des Galiläers enthält die Bibel ein Muster für einen zutiefst menschenfreundlichen und gleichzeitig Gott gemäßen Umgang mit menschlicher Diversität. (3) Grenzüberschreitungen und Tabubrüche bilden gleichsam nur die Spitze von Jesu Wirken. Er reduziert leidvolle Auswirkungen von Diversität nicht nur durch Heilen und Wunderwirken, sondern auch durch einfaches Dienen, durch Gespräche, Auslegen, Zusprechen, Unterrichten und Verkündigen. Sein gesamtes Wirken zielt auf eine Umsetzung des menschenfreundlichen Gotteswillens und damit auf eine Reduktion diversitätsbedingten Leids. Im Ergebnis kann er damit als Vorbild für mehrere Berufe und Berufsfelder wie Diakonat, Soziale Arbeit, Heilberufe, Pflegeberufe, pädagogische und geistliche Berufe betrachtet werden. Sie alle (und weitere Berufsgruppen partiell) setzen sich dafür ein, dass die Nachteile von Diversität für Betroffene reduziert werden. Dazu gehören aktuelle und strukturelle Notlagen ebenso wie die Arbeit mit Bedürftigen, Randgruppen und von der Gesell- <?page no="313"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 295 schaft Verschmähten. Indem Jesus andere in die missio Dei (heilvolle Sendung Gottes) einbindet, leitet die Bibel zur Weiterführung der diversitätsreduzierenden Arbeit Jesu und zur Motivierung entsprechender Berufe und Berufsgruppen an. Dabei wird die Assistenz Gottes in Gestalt des erhöhten Sohnes (Mt 28,20) bzw. des Heiligen Geistes (Joh 20,22) in Aussicht gestellt. Die Bibel regt zur Nachfolge des Diversitätsreduzierers Jesus von Nazareth an und motiviert Menschen auch über dessen engere Anhängerschaft hinaus dafür. (4) Wird Jesus von Nazareth im Gefolge des Evangelienzeugnisses nicht nur als maßgeblicher Repräsentant und „Sohn Gottes“ betrachtet, sondern auch als konkretes Muster und Vorbild für Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, dann ist im Blick auf sein Verhalten gegenüber menschlicher Diversität von einem christusorientierten oder christozentrischen Umgang mit Diversität zu sprechen. 130 Reden und Wirken Jesu von Nazareth sind leitend für einen christozentrischen Umgang mit menschlicher Diversität. Demgegenüber verblasst die Rede von einem allgemeinen und ideal(isiert)en Humanum als unkonkrete, unpersönliche und nur gedachte Größe. Im Vergleich zwischen beiden Konzepten erscheint eine Nachfolge mittels eines persönlichen Verhältnisses zum Anstifter von Diversitätsreduktion und Diversitätsgerechtigkeit leichter als die Verwirklichung einer Idee. Mehr noch: Christus als wirklicher Mensch, wie er von Gott gedacht ist, 131 ist Maßstab und Richtschnur für Humanität: für eine christozentrische Humanität (vgl. Ecce homo, Joh 19,5). Der Preis der Nachfolge des Gekreuzigten ist klar: Er ruft zur Übernahme des eigenen Kreuzes und zum Kreuztragen auf (Mk 8,34), verheißt allerdings auch vielfache neue Gemeinschaft (Mk 10,29f). Eine personale Beziehung verfügt über höheres Identifikations-, Bindungs- und Trostpotential gegenüber Menschen als jede Idee dies leisten könnte. Jesus geht nicht nur diversitätsreduzierend auf andere zu, sondern nimmt auch selbst Hilfe von anderen in Anspruch: bereits zu Lebzeiten (Lk 8,3; 19,5-7 und öfter), erst recht aber im Zusammenhang seiner Passion. 132 Indem Christus nicht nur real und mustergültig leidvolle Folgen von Diversität reduziert, sondern auch andere dazu aufruft, lädt er ein zu einem christozentrischen Umgang mit menschlicher Diversität. Seine Mission verstetigt sich durch 130 Vgl. analog Paul Philippi (1963), Christozentrische Diakonie. Ein theologischer Entwurf, Stuttgart. 131 Vgl. Ohly, Christologie, S. 33: „[...] weil Jesus das zur Darstellung bringt, was Menschsein ausmacht“. Ähnlich Kerstin Gäfgen (1991), Das Recht in der Korrelation von Dogmatik und Ethik, (TBT, 52) Berlin/ New York, S. 216: „In Christus wird positiv sichtbar, wie wahres Menschsein zu verstehen ist, welche Gestalt das Menschsein von Gott her hat.“ 132 Vgl. den Einzug nach Jerusalem, Mk 11,1-10; die Vorbereitung des Obergemachs für das Passamahl, 12,14-16; die Begleitung durch Jünger in Getsemane, 14,33-41; Simon von Kyrene als Helfer, 15,21; Elia, die Frauen, ein Schächer usw. Dabei zeigt sich nach Bach, Gott, S. 127: „Der Gottessohn braucht Hilfe.“ <?page no="314"?> Bernhard Mutschler 296 seine Anhänger und Nachfolger, die in ein von Liebe zu Gott und dem Nächsten geleitetes, durch Wort und Geist vermitteltes Verhältnis zu Christus eintreten. Jesu menschlicher und zugleich Gott gemäßer Umgang mit menschlicher Diversität ist annehmbar für andere. (5) Um es zugespitzt auszudrücken: Die durch Jesus von Nazareth ausgeübte Diversitätsreduktion beinhaltet eine persönliche Begegnung mit Gott. Gesellschaftlich gesetzte Grenzen für diese Begegnung gibt es nicht; wo doch, werden sie durch die Begegnung transzendiert. Im Ergebnis werden die nachteiligen Folgen von Diversität aufgehoben. In zweifacher Weise spricht Jesus von Diversitätsfolgen-Aufheberinnen und -aufhebern nach ihm: Die eine Gruppe setzt er förmlich ein. Sie weiß sich im Dienst der Sendung Gottes (missio Dei) und lebt in der Anerkenntnis Christi. Die andere Gruppe kennt den König und Herrn nicht (Mt 25,37-40), hilft aber trotzdem den Bedrängten (25,34-36). Auch sie empfängt den von Ewigkeit her zurückgelegten Lohn (25,34 133 ). Humanität endet nach Gottes Willen weder auf der „Empfängerseite“ an kirchlichen, gesellschaftlichen, kulturellen oder gar theologisch gezogenen Grenzen noch auf der „Geberseite“. 134 Allerdings ist diese zweite Gruppe weniger gut bezeugt im Evangelium, was ihre Existenz und Bedeutung aber nicht mindert. 135 Für beide Gruppen gilt: Wo die nachteiligen Folgen von Diversität reduziert werden, ereignet sich eine Begegnung mit Christus und in ihm mit Gott. Die Einsatzbereitschaft entzündet sich am „Wert Mensch“, der statt Erlebnis, Spaß oder einer anderweitigen Mehrung der Selbstdurchsetzung (Eigentum, Macht, Entfaltung) zählt. Der Dienst an anderen verwirklicht zugleich die eigene Person auf eine schöpfungsgemäße 133 S. außerdem Mt 7,21(-23); 16,27; Lk 10,28 in Verbindung mit 10,25; Joh 13,15.17. Das konkrete Tun, nicht das Bekennen wird dadurch akzentuiert. 134 Vgl. bereits S. 277, Anm. 87 in diesem Band; ferner Kun-Chun Wong (1992), Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium, Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium, (NTOA, 22) Freiburg (Schweiz)/ Göttingen, S. 196: „Anstatt auf dem Absolutheitsanspruch der eigenen Tradition zu beharren, ist Verständnis und Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen gefordert. Dogmatische Streitigkeiten sollten nicht in den Rang von ‚letzten Dingen‘ erhoben werden. Mt 25 ist auch den Christen des 20. Jh. [bzw. 21.; B.M.] zur Mahnung geschrieben: wir wissen nicht, wo die wahren ‚Täter des Willens Gottes‘ sich befinden. Eine Garantie dafür, daß man sie innerhalb der Mauern der (jeweils eigenen) Kirche antrifft, gibt es nicht.“ 135 Matthäus zeigt diese Möglichkeit immerhin deutlich auf. Hauptzeugnis ist Mt 25,31- 46. Vgl. auch die Öffnung (in welche Richtung? ) in Joh 10,16; ferner Frank Crüsemann, Wird der eine Gott der Bibel in vielerlei Gestalt in den Religionen verehrt? , in: Frank Crüsemann; Udo Theissmann (Hg.), Ich glaube an den Gott Israels. Fragen und Antworten zu einem Thema, das im christlichen Glaubensbekenntnis fehlt, (KT, 168) München, S. 55-58; 58: „Das Bilderverbot hält unser Verhältnis zu den anderen Religionen offen. Es erlaubt, an dem Gott Israels als dem einzigen Gott und Schöpfer festzuhalten, alles, wirklich alles, was uns begegnet, mit diesem Gott in Verbindung zu bringen, Positives wie Negatives, denn es gibt nur einen einzigen.“ <?page no="315"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 297 Weise und ehrt Gott für seine Schöpfung. Dies alles erweist die Bibel als diversitätsreduzierendes Buch, indem sie Jesus als Muster für einen menschlichen und Gott gemäßen Umgang mit Diversität vor Augen führt. 4.4 Die Bibel als diversitätsgerechtes Buch - Motivation für einen diversitätsgerechten Umgang mit menschlicher Diversität Dadurch dass die Bibel menschliches Elend, menschliche Erlösung und menschliche Dankbarkeit in grundsätzlicher, höchster und schönster Weise anschaulich macht und Formulierungen für die Übergänge bereitstellt, leistet sie unermessliche Beiträge zur Überwindung diversitätsbedingter Nachteile. Fünf davon werden hier skizziert. (1) Zwei Grundcharakteristiken des einen Menschen stellt die Bibel von Anfang an vor. Indem sie den Menschen als von Gott geschaffen und ihm ebenbildlich charakterisiert, weiß sie um sein gutes Geschaffensein und demzufolge auch um seine positiven Möglichkeiten. Der Mensch wird in der Bibel akzeptiert als dasjenige Geschöpf mit einer besonderen, einzigartigen Würde, die auf seiner Gottebenbildlichkeit beruht. In scharfem Kontrast dazu begleiten Sünde und Sündenzusammenhang den Menschen. Die Bibel weiß um die negativen Möglichkeiten des Menschen im Kleinen und Subtilen ebenso wie im ganz großen Stil mit gesellschaftlichen, kulturverändernden und letztlich mörderischen Folgen. Mit dieser realistischen Anthropologie offenbart die Sammlung heiliger Schriften ein Wissen um die äußerste Diversität des Menschen, seinen äußersten Widerspruch gegenüber sich selbst und seinesgleichen. Indem dieser zugleich und wesentlich als Widerspruch gegenüber dem Schöpfer und Gott interpretiert wird, kann er in einzigartiger, dem Menschen von sich aus unmöglichen Weise gelöst und aufgehoben werden. Die Bibel ist insofern ausgesprochen diversitätsfreundlich und diversitätssensibel, und zwar in grundlegendster und höchster Weise. Mit diesem Hintergrund können auch die zurückhaltenderen und gleichsam milderen Formen der Diversität des Menschseins wahrgenommen und ernstgenommen werden. Auch davon sind alle Menschen in meist mehr als einer Hinsicht betroffen. Völlige Diversitätsfreiheit würde Entmenschlichung und Entkonkretisierung in Richtung auf eine gedachte Idealität hin bedeuten. 136 Zu erwarten ist freilich, dass der Umgang mit Diversität ebenso wenig glückt wie ein schöpfungsgemäßes Menschsein. Bereits in der Bibel finden sich zahlreiche Beispiele dafür. In der Bibel werden Menschen gerade als nicht perfekt vorgestellt. Diversität wird anschaulich; für ein Verständnis dafür wird an vielen Stellen geworben. 136 Vgl. Liedke, Leben, S. 625: „Vor Gott ist es normal, einmalig zu sein. Das Pendant dieser Einmaligkeit besteht darin, dass es damit ebenso normal ist, verschieden zu sein.“ <?page no="316"?> Bernhard Mutschler 298 (2) Die entsetzliche Grundspannung des Menschen, dass er trotz herausragender Möglichkeiten einem niederschmetternden Verhängnis unterliegt, überträgt sich auf die gesamte Geschichte und Weltgestaltung, ohne dass der Mensch sie von sich aus lösen oder auch nur verringern kann. Hilfe kommt von einem anderen Ort. Indem die Bibel die Spannung als von Gott überwunden darstellt, ermöglicht sie dem Menschen, dass er an seiner Diversität nicht zerbrechen muss, sondern ein neuer Mensch werden kann: mit den Worten des Paulus „in Christus eine neue Kreatur“ (2Kor 5,17). Dass der Mensch seine schlimmste Bedrohung, die Grunddiversität der Sünde, als von Gott vergeben und gelöst erfährt, bringt ihn urplötzlich in eine viel vorteilhaftere Position: Er kann wieder aufrecht gehen und gewinnt neu Profil, eine neue Identität. Mit neuen Augen nimmt er auch ungleich kleinere Formen von Diversität wahr. Die selbst erfahrene Erlösung weckt die Hoffnung, dass eine Diversitätsreduktion, vielleicht sogar Diversitätsgerechtigkeit, auch in anderen, weniger gravierenden Bereichen möglich ist. Insofern die Bibel von der Versöhnung des Menschen spricht, ist sie ein diversitätsgerechtes Buch. (3) Ergebnis der Diversitätsgerechtigkeit Gottes als einer den Sünder neu als Menschen konstituierenden Gerechtigkeit ist die Dankbarkeit des Menschen. 137 Sie wird zum besten Grund für dessen diversitätsgerechtes Handeln. Da Gottes Diversitätsgerechtigkeit eine neue, menschliche Identitätsbildung bewirkt, ist der Mensch nicht mehr der alte. Seine Dankbarkeit lässt ihn neu auf die bestehenden Auswirkungen menschlicher Diversität blicken. Mit einem neuen Blick auf „das Patienten-Kollektiv“ 138 , das Kirche, Gesellschaft und Welt darstellen, erkennt er das Elend der Auswirkungen menschlicher Diversität und gleichzeitig Möglichkeiten des Handelns, diese einzudämmen, zu mildern oder sogar abzuwenden. Alttestamentliche Sozialtraditionen spielen dabei ebenso eine Rolle wie Jesu Wirken und Lehren als Muster für diversitätsgerechtes Handeln. Im Licht von Gottes Diversitätsgerechtigkeit wächst Dankbarkeit als tragfähige Motivation zu einer an den schwierigen sozialen Wirklichkeiten orientierten Auseinandersetzung mit menschlicher Diversität. Insofern bereitet die Bibel mit ihrer Hauptbotschaft auf einen menschenfreundlichen Umgang mit Diversität in herausragender Weise vor. 137 Mit dem Heidelberger Katechismus von 1563 können die drei Schritte zusammengefasst werden unter den Überschriften „Von des Menschen Elend“ (vgl. Frage 3-11), „Von des Menschen Erlösung“ (Frage 12-85) und „Von der Dankbarkeit“ (Frage 86- 129), vgl. Otto Weber (Hg.) ( 3 1986), Der Heidelberger Katechismus, (GTB, 258) Gütersloh, S. 27.20.47. Nach Lyle D. Bierma (2013), Die Ursprünge der Dreiteilung des Heidelberger Katechismus. Eine andere Sichtweise, in: Karla Apperlo-Boersma und Herman J. Selderhuis (Hg.), Macht des Glaubens - 450 Jahre Heidelberger Katechismus, hrsg. im Auftrag von Refo 500, Göttingen/ Bristol (CT), S. 37 (31-39) „finden sich seit den 1520er Jahren verschiedene Formen der Triade von Elend, Erlösung und Dankbarkeit in einer Vielzahl theologischer Bezugsquellen und Genres“. 138 Vgl. Bach, Gott, S. 127. <?page no="317"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 299 (4) Diversitätsgerechtes Handeln in den Spuren der Bibel sucht nach menschlicher Entsprechung zu Gott. Dies beginnt mit der Suche nach jeder Art von benachteiligender Diversität. Nicht Diversität von Menschen an sich ist dabei problematisch; umso mehr sind ihre ausschließenden und benachteiligenden Folgen in den Blick zu nehmen. Stigmatisierung infolge von Diversität ist abzuwenden und soweit als möglich zu mindern. Dabei wird ein christozentrischer Diversitätsausgleich, der seine Inspiration im Geist erfährt und sein Maß an Jesus Christus nimmt, angestrebt. Der von Gott zum Handeln befreite „neue“ Mensch (2Kor 5,17) ist in der Weise Mensch, wie es Gott in Christus entspricht. Der Gott-in-Christus entsprechende Mensch ist diversitätsfreundlich und diversitätssensibel; er handelt diversitätsreduzierend und diversitätsgerecht, indem er diversen Menschen in jeweils diverser Weise gerecht wird (vgl. 1Kor 9,19-23). Insofern kann Christuskonformität wie eine Medizin gegen diskriminierende und ausschließende Folgen von Diversität betrachtet werden. Der biblische Beitrag zum Umgang mit Diversität umfasst neben einer denkbar starken Motivation in Form von Dankbarkeit auch eine Anleitung zur Diversitätsgerechtigkeit gegenüber Menschen, nämlich Christuskonformität. (5) Um es zugespitzt auszudrücken: Die biblische Heilsgeschichte bietet ein Schema für den Verlauf sehr vieler Lebensgeschichten. Eine realistische Anthropologie führt vom Zwangscharakter der menschlichen Schuldverfallenheit gegenüber Gott zu einer von Gott ermöglichten Versöhnung mit der Schaffung eines neuen Menschen. Die tief empfundene Dankbarkeit über diese Form der Diversitätsgerechtigkeit Gottes lässt eine Haltung entstehen, die sich den kleineren, innerweltlichen Formen von Diversität befreit zuwendet. In der Christuskonformität liegt ein Weg, den durch ihre besondere Form der Diversität belasteten Menschen in einer Entsprechung zur Haltung Gottes gerecht zu werden. Die Bibel ist insofern ein diversitätsgerechtes Buch. Sie enthält starke, nachhaltige Motivationen sowie eine beeindruckende Anleitung für einen diversitätsgerechten Umgang mit Menschen. 4.5 Die Bibel als trinitarisches Buch, Grundlage und Anleitung für christliches Bekennen, Denken und Gestalten von menschlicher Diversität Dadurch dass die Bibel von Gott in einer trinitarischen Weise spricht, nämlich von Gott, dem Vater, von Gott, dem Sohn, und von Gott, dem Heiligen Geist, ist eine Diversität bereits im Gottesbild angelegt und verankert, deren Wirkungen nach außen eminente Beiträge zum Umgang mit Diversität leisten. In fünf verschiedene Richtungen wird dieser theologische Grundgedanke hier entfaltet. (1) Der letzte und tiefste Grund für die biblische Anschlussfähigkeit an ein Nachdenken über Diversität ist nicht mit dem Blick auf den Menschen <?page no="318"?> Bernhard Mutschler 300 erreicht, sondern mit dem Blick auf Gott. Dies kann hier freilich nur angedeutet und nicht annähernd beschrieben werden. Dass nach christlichem Verständnis Gott in sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist unterschieden ist und darum in und mit sich selbst in Beziehung ist, bedeutet eine Differenzierung in Gott selbst, obgleich ganz und gar ein und derselbe. Daran zeigt sich: Gott ist bereits für sich und in sich diversitätsfreundlich, diversitätssensibel, diversitätsreduzierend und diversitätsgerecht. Denn er ist nach biblischem Verständnis von Ewigkeit her Vater, Sohn und Heiliger Geist. Diese innerste Nähe zur Differenzierung setzt sich beim „Ebenbild“ Gottes (Gen 1,27), dem Menschen, fort: Auch er ist ein und derselbe Mensch, aber erstens in sich verschieden als Mann und Frau und zweitens als individueller Mensch gegenüber jedem anderen Menschen. 139 Verschiedenheit und Vielfalt sind in Gott selbst verankert und entspringen in ihm als der Quelle allen Lebens. (2) Werden Verschiedenheit und Vielfalt als in Gott selbst verankert gedacht und bekannt, dann kann dies sowohl eine Akzeptanz als auch einen angemessenen Umgang mit Verschiedenheit und Vielfalt beim Menschen wesentlich erleichtern. Zunächst ist dadurch auf der Ebene des Denkens und Bekennens klar, dass Diversität, sei es grundsätzlich, sei es in welcher Form auch immer, nicht als Schicksal oder Abweichung von einer Norm zu betrachten ist. Eine Diversität bedeutet weder einen Unfall in Schöpfung oder Geschichte noch eine Devianz oder mindere Form des Menschseins. Wie Gott, der Vater, Gott, der Sohn, und Gott, der Heilige Geist, jeweils ganz Gott ist (sozusagen mit der vollen Procura des Gestaltens, Offenbarens, Erleuchtens 140 ), so sind auch alle Menschen ungeachtet ihrer persönlichen und einmaligen Ausprägung ganz Mensch. Mehr noch: Ein abstraktes Menschsein ist so wenig denkbar wie ein abstraktes Gottsein. Es gibt Gott nach christlichem Verständnis nur in der konkreten Form des dreieinigen Gottes und Menschen nur in der konkreten Verwirklichung eines oder mehrerer Menschen. Menschliche Diversität ist Bestandteil des schöpfungsgemäßen Menschseins. Wenn dies so ist, dann kann sie unter theologischen Aspekten auch nicht anders denn als von Gott gewollt und geschaffen betrachtet werden. Insofern sind Menschen in all ihrer Diversität „sehr gut gemacht“ (Gen 1,31). Das Bekenntnis zu menschlicher Diversität entspricht deshalb voll und ganz dem christlichen Glauben. (3) Wenn das Bekenntnis zu und eine positive Bewertung menschlicher Diversität voll und ganz christlicher Glaubensüberzeugung entsprechen, dann können benachteiligende Folgen und Diskriminierung aufgrund von Diversität als von Menschen gemachte Folgen durchschaut und aufgedeckt werden. M.a.W., sie sind der Sünde und der Sündenverfallenheit dieser Welt 139 Zur Auslegung der imago Dei trinitatis s. Liedke, Leben, S. 262-266. 140 Opera trinitatis ad extra sunt indivisa , vgl. dazu Otto Weber ( 7 1987), Grundlagen der Dogmatik, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn, S. 435. <?page no="319"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 301 zuzurechnen. Sie verdanken sich insofern menschlichem Hochmut und Fall, menschlicher Trägheit und menschlichem Elend oder menschlicher Lüge und Verdammnis. 141 Es bedarf deshalb einer Rücknahme seiner selbst, d.h. einer realistischen Selbstbegrenzung des Menschen, einer eigenen Anstrengung des Menschen sowie des Muts zu Wahrheit und Freiheit, um benachteiligende Folgen und Diskriminierung aufgrund von Diversität abzuwenden, zu mildern oder wenigstens einzudämmen. Der Gott entsprechende, menschenfreundliche Umgang mit Diversität ist zwar eigens zu gestalten. Aber er ist nicht neu zu erfinden, sondern kann in Entsprechung zu Gottes Umgang mit menschlicher Diversität gestaltet werden. Konkret bedeutet dies: nach den Normen und Beispielen, wie sie in biblischen Traditionen niedergelegt sind, nach Anweisungen und Konkretionen Jesu Christi als des Gott voll und ganz entsprechenden Menschen und nach Überlegungen und der spontanen Intuition jedes Menschen, der sich vom Geist Gottes leiten lässt. 142 Auch hier hat eine trinitarische Betrachtung mehr als heuristischen Wert: Sie zeigt nicht nur naheliegende Wege eines dem Menschen angemessenen und Gott entsprechenden Umgangs mit Diversität auf; vielmehr befähigt, sendet und beauftragt Gott durch sein Wort den Menschen zu einem entsprechenden Umgang mit der Diversität anderer Menschen. (4) Dass Diversität in Gott selbst verankert ist und von da aus auch in der Schöpfung und im „Ebenbild“ Gottes, dem Menschen, mit göttlichem Recht zuhause ist, zeigt: Nachdenken über Diversität ist nicht nur biblisch anschlussfähig, als ob es um die momentane Anschlussfähigkeit irgendeines Modethemas ginge. Vielmehr ist Diversität ein zutiefst christliches Thema, das zum Kern christlicher Lehre gehört. Wenn gegenwärtig seine Relevanz vor allem auf dem Hintergrund allgemeiner gesellschaftlicher Prozesse und Entwicklungen entdeckt wird, kann dies dankbar als ein Ruf zur Sache angenommen werden. Tatsächlich trugen und tragen christliche Kirchen und Gemeinschaften zu allen Zeiten viel zu einem Gott gemäßen Umgang mit Diversität bei: In der Gemeinschaft des Leibes Christi feiern alle gemeinsam dasselbe Abendmahl; die Verkündigung des Wortes Gottes richtet sich an jeden Men- 141 Vgl. zu diesem auf Karl Barth beruhenden Sündenverständnis ausführlich Gäfgen, Recht, S. 209-213 (206-215). Auch andere Sündenverständnisse könnten hier und im Folgenden exemplarisch zu Hilfe genommen werden, so etwa dasjenige des Augsburger Bekenntnisses (CA II): sine metu Dei, sine fiducia erga Deum, cum concupiscentia, vgl. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (1930 = 12 1998), hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession, Göttingen, S. 53,5f. 142 Nach Wilfried Härle (1995), Dogmatik, (GLB) Berlin/ New York, S. 394f handelt es sich bei den drei Wirkweisen Gottes um „schöpferisches (= wirklichkeitsbegründendes) Wirken, offenbarendes (= wahrheitserschließendes) Wirken und erleuchtendes (= gewißheitsschaffendes) Wirken“ Gottes. <?page no="320"?> Bernhard Mutschler 302 schen in gleicher Weise; Bildungshandeln 143 , Erziehung, Pflege, Beratung, Soziale Arbeit, Fürsorge und Seelsorge speisen sich zu allen Zeiten wesentlich aus christlichen Quellen und Motiven; im Diakonat hat die Kirche eine Institution geschaffen, die diese Aspekte sichtbar mit der Nachfolge Jesu Christi nach innen und außen zur Darstellung bringt. Über die diakonischsozialarbeiterische Behandlung von Symptomen hinaus gehören auch rechtliche Rahmenbedingungen sowie eine aktive Weltgestaltung in Politik, Gesellschaft, Institutionen und vielfältigen Entwicklungspartnerschaften zu den Gestaltungsaufgaben, die aus einem trinitarischen Gottesglauben erwachsen. (5) Um es zugespitzt auszudrücken: Die christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament offenbart ein trinitarisches Gottesverständnis. Damit wird in Bezug auf den innersten Kern des Glaubens eine In-sich-Verschiedenheit (Diversität) bekannt, die ausstrahlt in die gesamte Schöpfung unter Einschluss des Menschseins. Diese Diversität ist konkret und von Gott gewollt. Daher sind diverse Menschen ganz und gar zu bejahen. Insofern Diversität Chancen mindert, Teilhabe einschränkt und Anlass für Diskriminierung ist, zeigt dies einen nicht diversitätsgerechten und damit letztlich nicht menschlichen und widergöttlichen Umgang. Menschliche Diversität ist von Gott gewollt, bejaht und geschaffen. Ihren negativen Folgen in den Spuren Gottes entgegenzutreten, ist deshalb eine religiös begründete Konsequenz, die es als Aufgabe zu übernehmen gilt. Die Anerkennung des Andersseins wurzelt in Gott selbst. Daher bedeutet Menschsein immer In-Verschiedenheit- Mensch-Sein. Gerade als trinitarisches Buch ist die Bibel Grundlage und Anleitung für ein christliches Bekennen, Denken und Gestalten von menschlicher Diversität. 5 Die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität Im Anschluss an die bisherigen Erkundungsgänge zum Verhältnis zwischen einer antiken religiösen Schriftensammlung und einem neuen Diskurs- Reizwort können nun Schlussfolgerungen gewagt werden. In welchem Verhältnis stehen die Bibel und Diversität zueinander? Das Verhältnis zwischen beiden wird unter drei Aspekten betrachtet, gleichsam drei Brückenschlägen: (1) die Bibel als Ausgangspunkt, (2) als Grundlage und (3) als Anleitung für christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität. Abschließend werden daraus einige (4) Konsequenzen zu Aufgabe, Rolle und Funktion der Bibelwissenschaften an Hochschulen für Angewandte 143 Das Bildungshandeln dient grundsätzlich auch der Ausbildung von Diversität. Denn es fördert ein Recht auf Selbstsein und eine eigene Entwicklung, auch wenn dies eine Verstärkung des Andersseins bedeutet. <?page no="321"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 303 Wissenschaften gezogen. Die ersten drei Abschnitte beginnen mit einer vorausgestellten These, der letzte endet mit einer These. 5.1 Die Bibel als Ausgangspunkt für christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität These 1: Diversität ist auf allen Ebenen in vielen Formen in der Bibel angelegt. Insofern ist die Bibel ein bewährter, naheliegender, sehr relevanter und notwendiger Ausgangspunkt für das christliche Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität. Die Bibel zu befragen und auszulegen, ist bereits aus allgemeinen Gründen naheliegend. Einige wenige seien genannt: (1) Durch sehr viele und verschiedene Einflüsse über lange Zeit hinweg ist die Bibel ein Teil unserer Kultur geworden. Jahrhundertelang hat sie Menschen durch ruhige Zeiten und durch Stürme in der Geschichte geführt. Sie ist wie ein bewährter Sextant. Warum sollte man auf diese Orientierungshilfe angesichts neuer Herausforderungen und Diskurse verzichten? Im Gegenteil ist naheliegend, neue Herausforderungen und Fragestellungen von einer erneuten Interpretation biblischer Überlieferung aus in den Blick zu nehmen. Die Bibel ist deshalb ein kulturell bewährter Ausgangspunkt für neue Fragestellungen. (2) Deshalb wurde sie, seit es Universitäten gibt, wissenschaftlich erschlossen und erforscht. Ohne Übertreibung kann festgestellt werden: Trotz ihres Alters und ihres hohen Komplexitätsgrads ist die Bibel das am besten erforschte Buch aller Zeiten. Zugleich verfügt sie über eine sehr große (wohl ebenfalls maximale) Verbreitung und nach wie vor über hohes Ansehen und eine weitgehende Akzeptanz. Sowohl Forschungsstand als auch Verbreitung und Akzeptanz sind hervorragende Voraussetzungen für Qualität und Wirksamkeit eines biblischen Beitrags. Die Bibel ist deshalb ein naheliegender Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit neuen Fragestellungen. (3) Für sehr viele Menschen, Gemeinden und für die Kirchen hat die Bibel einen sehr hohen Stellenwert und höchste orientierende Kraft. Sie ist das feststehende Grundbuch des christlichen Glaubens (im Unterschied etwa zu Gesangbuch und Liederbüchern). Dies verdankt sich keineswegs einer Bibel- Gläubigkeit oder einem blinden Traditionalismus. Denn mit der Bibel wird eine religiös und kulturgeschichtlich einzigartige Textsammlung über Gott hoch geschätzt, die alles Nachdenken über Leben und Geschichte in den denkbar größten Rahmen stellt. Die Bibel ist deshalb ein sehr relevanter Ausgangspunkt für das Suchen nach Antworten auf bedrängende Fragen. (4) Es gehört zu Wesen und Aufgabe menschlicher Entwicklung, das Alte, Überkommene, auch mit sehr neuen und ungewöhnlichen Fragen zu verbinden. Denn dadurch entsteht „Entwicklung“ im eigentlichen Sinn überhaupt erst, dass nicht einfach ein spontaner Wechsel von etwas zu etwas stattfindet, sondern ein reflektierter, gestalteter Übergang in Kontinuität und durch eine Transformation geschaffen wird. Es ist insofern besonders reiz- <?page no="322"?> Bernhard Mutschler 304 voll und hat durchaus experimentellen Charakter, bisherige Begleiter menschlicher Zivilisation vor neuen Anforderungen nicht zu verschonen, sondern beide in einen Dialog miteinander zu bringen. Die Bibel ist deshalb in eminenter Weise ein notwendiger Ausgangspunkt für ein Gespräch mit einem neuen, diskursbestimmenden Begriff wie Diversität. Neben diese allgemeinen Gründe, dass die Bibel ein Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Diversität ist, treten spezifisch inhaltliche Gründe. Da sie bereits ausgeführt wurden, genügt es, sie hier in Erinnerung zu rufen: (1) die innere Verschiedenheit der Bibel; (2) Diversität war zu allen Zeiten der Bibel ein Thema; die Auseinandersetzung mit ihr hat sich in zahlreichen, diversen Texten niedergeschlagen; sie regulieren Diversität und geben Beispiele für den Umgang mit ihr; (3) Anspruch und Wirken Jesu von Nazareth, mit Verschiedenheit umzugehen; (4) die Heilsgeschichte als Bewältigung einer sehr grundlegenden Diversität: Der zum Menschen kommende Gott eröffnet einen Weg, so dass der Mensch Gott entsprechen kann (Sünde und Versöhnung); (5) eine innere Verschiedenheit in Gott (Trinität), die Ausgangspunkt für eine vielfältige Schöpfung und Menschen in Diversität ist. 5.2 Die Bibel als Grundlage für christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität These 2: Weil Gott nach christlichem Verständnis in sich verschieden ist und die Bibel nicht nur das Grundbuch des christlichen Glaubens, sondern auch ein Buch voller Diversität ist, deshalb bildet die Bibel die materiale, kanonische Grundlage für christliches Nachdenken über Diversität, auch über konkrete Formen der Diversität und den Umgang mit ihnen innerhalb der geschaffenen und sozialen Welt. Als normative Grundlage des christlichen Glaubens innerhalb der Kirchen ist die Bibel die Grundlage für jegliches christliche Bekennen, Denken und Gestalten, also auch für dasjenige in Bezug auf Diversität. Durch das protestantische Formalprinzip des sola scriptura 144 , das sich von der katholischen Hermeneutik von „Schrift und Tradition“ absetzt, wird die Festlegung auf die Bibel als alleinige maßgebliche Grundlage (norma normans) zugespitzt. Diese wird jedoch auf der Höhe der Zeit gelesen und ausgelegt, d.h. unter Einbeziehung sinnvoller und erforderlicher Daten, Methoden und Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaften 145 und nicht unter den Vorzeichen von Biblizismus und historischem Nicht-wissen-Wollen. 146 Dazu gehört, dass die Interpretation in einem offenen (synodalen), wissenschaft- 144 Vgl. Beinert; Kühn, Dogmatik, S. 55.59-62. 145 Allen voran Theologie, Philologie, Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft; allgemeiner: hermeneutische Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, so genannte Lebenswissenschaften, Naturwissenschaften. 146 Vgl. exemplarisch meine Ausführungen in: Beziehungsreichtum, S. 43-69. <?page no="323"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 305 lich begleiteten und praxisbezogenen Diskurs mit dem Bemühen um Ausgewogenheit erfolgt. Neben diesen eher allgemeinen Gründen und Prinzipien, die im Hinblick auf jedes Thema anwendbar sind, gibt es spezifisch biblische Aspekte im Blick auf Diversität: (1) Der naheliegendste und unter theologischen Gesichtspunkten wichtigste ist, dass bereits „das im Gottesverhältnis des christlichen Glaubens implizierte Gottesverständnis“ sowohl Einheit als auch Verschiedenheit umfasst. 147 In der Trinitätslehre werden beide Aspekte miteinander vermittelt und expliziert. Sie fungiert daher „als Rahmentheorie für die Entfaltung des Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens“ 148 . Diese Rahmentheorie wird verständlicherweise besonders interessant beim Denken und Gestalten von Diversität. Denn sie behauptet und expliziert Diversität im Gottesverständnis des christlichen Glaubens und damit in seinem innersten Kern. Seit den frühchristlichen Glaubensbekenntnissen wird Diversität in Form von Trinität von der Kirche als in Gott selbst verankert bekannt. (2) Hinzu kommt, dass in der Bibel auch sonst auf allen Ebenen und bei nahezu allen Themen sehr viele und verschiedene Formen von Diversität wahrnehmbar sind: literarisch, theologisch, sozial und kulturell, um nur vier Bereiche oder Dimensionen zu nennen. (3) Schließlich ist die Bibel sowohl für ein wissenschaftlich-theologisches als auch für ein kirchliches Nachdenken, das seine theologischen, ethischen und praktischen Orientierungen in maßgeblicher Weise auf der Basis von Bibelauslegungen gewinnt, bereits von Haus aus der natürliche und erste Dialogpartner bei der Beschäftigung mit einer vergleichsweise neuen (oder neu formulierten) Thematik. Erst recht gilt dies im Kontext von Evangelischen Hochschulen, an denen verschiedene Ausprägungen religiöser und sozialer Pädagogik, Soziale Arbeit und Diakoniewissenschaft erforscht, gelehrt und studiert werden. Die Bibel als Grundbuch des christlichen Glaubens ist nicht nur eine sinnvolle und naheliegende, sondern auch eine unumgänglich notwendige und sachlich höchst relevante Grundlage für das christliche Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität. 5.3 Die Bibel als Anleitung für christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität Ist die Bibel als Ausgangspunkt und Grundlage für die Beschäftigung mit Diversität auch bereits aus allgemeinen Gründen naheliegend, so kommen 147 Vgl. Christoph Schwöbel (2002), Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens. Vier Thesen zur Bedeutung der Trinitätslehre in der christlichen Dogmatik, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen, S. 25-51; 32, zuerst in: Wilfried Härle; Reiner Preul [Hg.], Trinität, [MJTh X, 1998] Marburg, S. 129-154). 148 Ebd., S. 48. <?page no="324"?> Bernhard Mutschler 306 inhaltliche Grundsätze des Umgangs mit Diversität stärker in den Blick, wenn man die Bibel als Anleitung für eine Beschäftigung mit Diversität betrachtet. Daher lautet These 3: Die Bibel ist eine Anleitung und Provokation zu mehr menschlicher Diversitätsfreundlichkeit, mehr menschlicher Diversitätssensibilität, mehr Diversitätsreduzierung durch Menschen und zu mehr Diversitätsgerechtigkeit insbesondere gegenüber Menschen. Muster und Modell dafür ist in besonderer Weise Jesus von Nazareth. Die Erläuterung wird auf vier Hauptaspekte gekürzt und gebündelt: (1) Wenn bereits in Gott selbst als dem Schöpfer, Versöhner und Vollender aller, auch der menschlichen Geschichte Diversität in Form von Trinität bekannt und gedacht wird, dann leitet dies zu einem diversitätsfreundlichen, diversitätssensiblen, diversitätsreduzierenden und diversitätsgerechten Denken und Gestalten von in der Welt vorhandener Diversität an. Denn nur dies entspricht der in der Trinitätslehre bedachten, im trinitarischen Bekenntnis förmlich anerkannten 149 und in der trinitarischen Anrufung Gottes angebeteten Selbstunterscheidung Gottes, die Gott gnädig offenbart (d.h. diversitätsfreundlich), aufmerksam beibehält (diversitätssensibel), zur Einheit in Gott integriert (diversitätsreduzierend) und doch die Verschiedenheit der Personen aufrecht erhält (diversitätsgerecht). Eine dem in der christlichen Bibel bezeugten Gott entsprechende Gestaltung des Lebens und der Beziehungen achtet und respektiert darum das Andere, Verschiedene in seinem Anderssein (Verschiedensein), ohne es vereinnahmen, an sich angleichen, ausschließen oder abstoßen zu wollen. Die das Leben und die Beziehungen belastenden Folgen der Diversität werden so weit als möglich verringert und reduziert. Das trinitarische In-Beziehung-Sein Gottes leitet insofern ein christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität an. (2) Was bereits aus der Verschiedenheit Gottes in sich selbst und dem In- Beziehung-Sein Gottes für den Umgang mit Diversität abgeleitet werden kann, kann auch aus dem Vorhandensein einer unglaublichen Vielfalt in der Schöpfung in Verbindung mit dem Bekenntnis zu Gott als Schöpfer von allem, was ist, gefolgert werden: Dass Gott Vielfalt (Diversität) will, sie liebt und das einzelne Geschaffene wie die gesamte Schöpfung in ihrem Zusammenhang „sehr gut“ geschaffen hat (Gen 1,31). Insofern leitet die als von Gott sehr gut geschaffen bekannte Vielfalt der Welt ein christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität an. Diese Vielfalt ist im Einzelnen wie als Ganze zu respektieren, wahrzunehmen, zu schützen und hinsichtlich ihrer lebensfeindlichen Folgen zu mildern. Konkret schließt dies z.B. Natur- und Artenschutz, Luft-, Wasser- und Bodenreinhaltung 150 , aber auch Be- 149 „Als Antwort auf die Zusage des Evangeliums“, s. Schwöbel, Trinitätslehre, S. 32. 150 Die Begriffe haben euphemistischen Charakter und geben (unerreichbare) Zielvorstellungen an: Von „rein“ kann für Luft, Boden und Wasser keine Rede mehr sein - angefangen vom Weltraumschrott über immer deutlicher nachweisbare chemische Rück- <?page no="325"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 307 kämpfung von bedrohlichen Krankheiten bis hin zu ihrer Ausrottung (Pest, Kinderlähmung, Syphilis, AIDS) ein. Im zwischenmenschlichen Bereich kommt der Würde jedes Menschen als Ausdruck des von Gott verliehenen, bei ihm hinterlegten „Grundgewichts“ eine besondere Bedeutung zu. Die in der Bibel entfaltete Schöpfungstheologie als Verbindung zwischen der Gotteslehre und der geschaffenen Welt leitet insofern ein christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität an. (3) Betrachtet man die Bibel nicht nur als Sammlung jener antiken Schriften, die für das Christentum (und bereits zuvor, aber in anderem Umfang und anderer Weise für das Judentum) konstitutiv geworden sind, sondern zugleich als Sammlung, in der und durch die Gott sich für alle nachvollziehbar mitteilt (Hebr 1,1-2a), dann ist es nicht gleichgültig, dass die Bibel ein sehr diversitäres und durchaus diversitätsfreundliches Buch ist. Auch innerhalb dieser „Heiligen Schrift“ 151 hat Vielfalt in nahezu jeder Hinsicht ihren Platz. 152 In besonderer Weise werden durch biblische Normierungen (meist in Form von Gottesrecht) Schwache geschützt; dadurch werden sie ausdrücklich anerkannt und für alle sichtbar respektiert. Ergänzt werden diese Anweisungen (Halacha) durch eine Vielzahl positiver und negativer Beispiele (Aggadah). In herausgehobener Weise ist das Wirken Jesu von Nazareth als der Verkörperung Gottes in Person richtungsweisend für den gegenwärtigen Umgang mit Diversität: Er geht auf Menschen ungeachtet ihrer Diversitätsmerkmale und gesellschaftlicher Stigmatisierung zu, heilt sie an Leib und Seele, stärkt in ihnen das Vertrauen in Gottes Güte, ruft und stellt sie in seine Nachfolge. In der Verschiedenheit der Bibel, dem gebotenen Schutz für das Schwache 153 sowie dem Reden und Handeln Jesu von Nazareth zeigt sich eine von Gott gewollte, geliebte, bewahrte und - wo aus Gründen des Lebens nötig - reduzierte Diversität. Insofern leitet die Bibel in erkennbarer und nachvollziehbarer Weise ein christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität an. (4) Die beiden bereits ausgeführten 154 theologischen Grundlagen für den hier als Hauptlinie erkannten biblischen Umgang mit Diversität sind auch heute mit Gewinn das theologisch-weltanschauliche Fundament und deshalb leitend für ein christliches Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität: die Würde allen Lebens, denn es hat seinen eigenen, unverfügbaren Wert von Gott einerseits, und andererseits die Konstituierung einer Gemeinschaft, die auf stände allenthalben bis hin zu vielfältigen, völlig verfehlten Formen der Ablagerung von Müll in Luft, Boden und Gewässern („Müllbeseitigung“ wäre ebenfalls ein Euphemismus). 151 Zum Verständnis dieser metonymischen Bezeichnung s. konzis Mutschler, Beziehungsreichtum, S. 57; der Sache nach auch ebd., S. 45-52. 152 Vgl. S. 257-261 in diesem Band. 153 Vgl. so verschiedene Zusammenhänge wie Jes 42,3; Mt 11,28-30; Apk 3,2. 154 Siehe S. 264f. in diesem Band. <?page no="326"?> Bernhard Mutschler 308 der von Gott angewandten Gerechtigkeit beruht. Beides führt zu einem zugewandten, den anderen als gleichwertig und gleich geachtet respektierenden Verhalten, das durch Liebe, Gerechtigkeit und - wo immer möglich - durch Barmherzigkeit geprägt ist. Gewiss handelt es sich dabei um wohl nur selten oder nie vollständig umgesetzte Zielvorstellungen; aber ihre zeichenhaft, d.h. partiell vollzogene Umsetzung bewirkt oft mehr, als zu erwarten wäre. Zudem würde ohne ausdrückliche, klar formulierte Zielvorstellungen der Umgang mit Diversität alternativ von anderen Motiven mitbestimmt: Egoismus, Konkurrenz, Abdrängen (darwinistische Selektion), Exklusion, Tabuisierung, Diskriminierung und Stigmatisierung kämen ungehindert zum Zug. Beispiele dafür finden sich geradezu lehrbuchhaft in der Geschichte der Kirche und derjenigen der menschlichen Kultur. Insofern leitet die Bibel zu einem kontrafaktischen christlichen Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität an. Ist die Bibel deshalb ein Modell für den Umgang mit Diversität? Sowohl der Begriff „Modell“ als auch die Allgemeinheit der These würden eine Überspitzung darstellen, wenngleich die Bibel über eine hohe Erschließungskraft verfügt. Sie setzt soziale Standards und nötigt zur Auseinandersetzung mit Diversität. Die wichtigsten ihrer Traditionslinien versuchen, der Diversität unter Menschen gerecht zu werden. Dabei weisen sie über ihre Zeit hinaus. Mit weitaus größerem Recht kann Jesus von Nazareth als Muster und Modell bezeichnet werden. Er ist in jeder Hinsicht der Gott entsprechende Mensch. 5.4 Konsequenzen für Bibelwissenschaften an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften Aus der Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Bibel und dem Themenkreis Diversität ergeben sich Konsequenzen für Aufgabe, Rolle und Funktion der Bibelwissenschaften an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. 155 Im Mittelpunkt steht dabei (allgemein gesprochen) ein Lernen in Bezug auf Diversität im umfassenden Sinn des Begriffs: biblisch, literarisch, historisch, hermeneutisch, theologisch, trinitätstheologisch, anthropotheologisch, anthropologisch, sozial, kulturell, um einige Dimensionen von grundlegender Bedeutung zu nennen. Bereits diese Aufzählung zeigt, dass Diversitätslernen komplexe Prozesse und daher auch komplexe Lernprozesse umfasst. Es geschieht grundsätzlich als mehrdimensional geleitete Orientierung aus der Vergangenheit, mit Blick auf die Gegenwart und offen für die Zukunft, eine Zukunft freilich, die nicht völlig unerwartet und zufällig kommt, sondern regional und global mitgestaltete Entwicklungen ausdrücklich mit einschließt. Biblisch-historisch-theologisch-soziales Lernen in Bezug auf 155 Zum Stellenwert der Anwendungsorientierung s. Mutschler, Jesus, S. 658-661. <?page no="327"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 309 Diversität führt zum Aufbau spezifischer „Diversitäts-Kompetenz(en)“ 156 ; ihre Dimensionen sind an anderer Stelle eigens zu entfalten und zu begründen 157 Abschließend werden vier Bereiche des biblisch-historisch-theologischsozialen Lernens in Bezug auf Diversität skizziert: (1) Bibel erschließen: Die Bibel unter Berücksichtigung ihrer literarischen, historischen, kulturellen, sozialen und theologischen Vielfalt zu erschließen, ist die erste Aufgabe bibelwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen, gleichsam das Fundament für alles Übrige. Zwei Schwerpunkte beinhaltet dieser Cluster: die Erschließung der Bibel als Buch (bibelkundlich, einleitungswissenschaftlich, historisch) und die Erschließung der Bibel unter exegetischen und hermeneutischen Gesichtspunkten (literarisch, methodisch, hermeneutisch). Dabei werden Binnendifferenzierungen erarbeitet und ihre Einordnung vorgestellt und eingeübt. (2) Bibel theologisch lesen lernen: Die Bibel im Spannungsfeld des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch kennenzulernen, ist die zweite Aufgabe bibelwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen. Die Arbeit im Umfeld der theologischen Fundamentalunterscheidung beinhaltet zwei Schwerpunkte: die trinitarische Entfaltung des Gottesverständnisses biblischer Schriften unter Einschluss seines Handelns gegenüber Schöpfung und Welt (exegetisch, systematisch-theologisch) und das biblische Denken und Reden vom Menschen als Teil der Schöpfung. Letzteres schließt eine Sensibilisierung für die Wahrnehmung menschlicher Grundrelationen ein (Beziehungen zu sich selbst, zu Mitmenschen, zur Schöpfung, zu Gott). Diversität im Hinblick auf Gott und Mensch sowohl für sich betrachtet als auch in ihrem Verhältnis zueinander steht hier im Mittelpunkt. (3) Sozialwissenschaftliche Schwerpunktbildung: Die Bibel im Blick auf soziale Verhältnisse und soziale Normen zu erkunden, ist die dritte Aufgabe bibelwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen. Sie schärft den Blick für die biblische Lebenswelt und - vor diesem Hintergrund - zugleich für gegenwärtige Verhältnisse des sozialen Lebens. Vier Schwerpunkte sind eigens hervorzuheben: alttestamentliche Sozialgesetze und Schutzräume für Schwächere, typische soziale Konstellationen der Ungleichheit, das neutestamentliche Muster Jesus von Nazareth, Probleme frühchristlicher Gemeinden im Umgang mit verschiedenen Formen von Diversität (z.B. Männer/ Frauen, Juden/ Heiden, Sklaven/ Herren, Starke/ Schwache, Reiche/ Bedürftige). Soziale Ansprüche, Differenzen und Divergenzen werden erkannt, historisch und kulturell kontextualisiert und im Blick auf heutige 156 Vgl. Aschenbrenner-Wellmann, Lernen, S. 181. 157 Dies., Lernen, S. 181-183 unterscheidet kognitive, affektive und verhaltensbezogene Dimensionen. <?page no="328"?> Bernhard Mutschler 310 Verhältnisse bedacht (Bedeutung für heute, Analogien, Fortentwicklungen, Grundlinien der Problemlösung). (4) Bibelwissenschaft als Bezugswissenschaft: Die Bibelwissenschaft als Basis der Bezugswissenschaft Theologie innerhalb des pädagogischen, sozialen und diakonischen Umfelds zu erschließen, ist schließlich die vierte Aufgabe bibelwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen. Theologische Vergewisserung erfolgt wesentlich im Aufgabenbereich der Bibelwissenschaft, da die Heilige Schrift zugleich Quelle und Norm für das theologische Denken ist. Schriftauslegung dient der theologischen Identitätssicherung. Zugleich ist sie ein wichtiger Übungsraum für hermeneutisches, verbindendes und übersetzendes Denken. Drei verschiedene Reichweiten sind als Schwerpunkte zu unterscheiden: Studiengangs- und Praxisfeldbezug 158 , Gesellschaftsbezug einschließlich europäischer Perspektiven und schließlich internationale und globale Zusammenhänge. Eine bibelwissenschaftlich verantwortete Bibelinterpretation ist dabei Ausgangpunkt, Grundlage und Anleitung für die Wahrnehmung und den Umgang mit jeder Art, insbesondere jedoch sozialer Diversität. Die Bibel ist der grundlegende theologische Referenzrahmen für gesellschaftliche Diversität. Nimmt man diese vier Aspekte zusammen, dann lautet abschließend die These 4: Bibelwissenschaften bringen die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für das christliche Bekennen, Denken und Mitgestalten sozialer Räume und Relationen zur Geltung und übernehmen damit eine bestimmte Rolle für die verschiedenen Studiengänge: nämlich selbst Ausgangspunkt zur Einführung in wissenschaftliche Bibelinterpretation, Grundlage für theologisches Nachdenken und Anleitung für eine produktive, historisch orientierte Auseinandersetzung mit Diverstität zu werden. Bibelwissenschaften an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften arrangieren Settings für biblisch-historisch-theologisch-soziales Lernen in Bezug auf Diversität und führen dadurch zum Aufbau besonderer Diversitäts- Kompetenzen. 6 Zusammenfassung Nacheinander werden Ergebnisse zusammengefasst zu (1) Diversität als Begriff (Nr. 1-4), zur (2) Diversität der Bibel (Nr. 5-8), zum (3) biblischen Umgang mit menschlicher Diversität (Nr. 9-22), zu (4) biblisch-theologischen Überlegungen für den Umgang mit menschlicher Diversität 158 Innerhalb von drei Bereichen, nämlich (1) Pädagogik: Religionspädagogik, Gemeindepädagogik, Heilpädagogik/ Inklusive Pädagogik, Pädagogik der Frühen Kindheit/ Frühkindliche Bildung und Entwicklung, Erwachsenenbildung, Weiterbildung usw.; (2) Soziale Arbeit: Sozialarbeitswissenschaft, Diakoniewissenschaft, Pflegewissenschaft, Gesundheitsförderung, Psychosoziale Beratung, Supervision usw.; (3) Organisation: Organisationsentwicklung, Sozialmanagement/ Sozialwirtschaft, Management und Ethik im Nonprofitbereich usw. <?page no="329"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 311 (Nr. 23-34), zur (5) Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität (Nr. 35-38) und zur (6) bibelwissenschaftlichen Lehre an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (39-40). 6.1 Begriffliche Annäherungen an Diversität 1. Das ursprünglich aus dem Lateinischen auf dem Umweg über das Englische ins Deutsche gekommene Fremdwort Diversität bedeutet „Vielfalt, Verschiedenheit“. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs bezeichnet es meist die Verschiedenheit und Vielfalt von Menschen. Die Rezeption im Bereich von Theologie und Bibelwissenschaft ist gegenwärtig zwar im Gang, wenngleich noch zögerlich. 2. Diversitätserfahrungen werden in der modernen Welt wegen der Vielzahl ihrer Menschen und des technischen Fortschritts in Mobilität und Kommunikation stärker wahrgenommen und reflektiert als zuvor. Freilich sind sie keineswegs prinzipiell neu. Merkmal (als Grundlage von Erfahrungen), Bewertung und anschließende Reaktion sind methodisch voneinander zu unterscheiden. Daher ist Diversität von sich aus nicht automatisch positiv oder negativ zu bewerten. 3. Häufig wird Diversität verstanden im Sinn möglicher „Ungleichheitsfaktoren“ von Menschen, die eine Diskriminierung auslösen können. Zu diesen zählen Ethnie, Geschlecht, Alter, physische Fähigkeiten, Kultur, geographische Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung, ferner Persönlichkeitsmerkmale, Bildung, familiärer, sozialer und beruflicher Status, Mitgliedschaften, Freizeitverhalten usw. Die Reihung ist prinzipiell unendlich, aber statistisch priorisierbar. 4. Eine naheliegende Bewertung von Diversität erfolgt im Blick auf die Wahrung der unantastbaren Würde jedes Menschen sowie seine chancengleiche Einbindung in das Gemeinschaftsleben. Was ein Mensch benötigt, orientiert sich an den Bedürfnissen dieses Menschen. Der Umgang mit Diversität erfolgt in drei Schritten: wahrnehmen - reflektieren - handeln. 6.2 Beobachtungen zur Diversität der Bibel 5. Das „Buch der Bücher“ ist so verschieden in sich wie kaum ein anderes Buch. Es ist aber auch so gut erforscht wie kein anderes Buch, so dass ein wissenschaftlich und methodisch kontrollierter Umgang mit der Diversität der Bibel möglich ist. Ihre Binnendiversität ist dadurch mitbedingt, dass sie eine Sammlung (Bibliothek) verschiedener antiker Schriften jüdischer und frühchristlicher Herkunft darstellt. Durch ihre Kanonisierung sind die verschiedenartigen Texte und Schriften vor einem ablehnenden Zugriff durch spätere Generationen geschützt. <?page no="330"?> Bernhard Mutschler 312 6. Die literarische Diversität der Bibel ist durch ihre Mehrsprachigkeit, ihre lange Entstehungszeit von rund einem Jahrtausend in verschiedenen Ländern, die Verschiedenartigkeit ihrer literarischen Gattungen, eine Pluralität von Darstellungen zum selben Ereignis, mehrfache Überarbeitungen, eine Pluralität theologischer Konzepte und eine Vielfalt der Übersetzungen in moderne Sprachen gekennzeichnet. Die verschiedenen heute gebräuchlichen Bibelausgaben differieren in Auswahl, Anordnung, Länge, Wortlaut und Relevanz der einzelnen Bücher. 7. Die kulturelle Diversität der Bibel ist historisch und sozialgeschichtlich beschreibbar: Ägypten, Kontakte mit den Seevölkern, Assur, Babylonien, Persien, mit verschiedenen Ausprägungen des Hellenismus sowie mit Rom haben Spuren in einem Buch hinterlassen, das vorwiegend im kanaanäischen Raum mit Zentrum Jerusalem beheimatet ist. Alle denkbaren Schichten, Gruppen und Befindlichkeiten der damaligen Gesellschaft sind - wenngleich unterschiedlich ausführlich - darin vertreten. Die Bibel spiegelt ein sehr weites Spektrum des sozialen Lebens wider. 8. Die religiöse und theologische Diversität situiert sich um das monotheistische Bekenntnis zum Gott Israels. Verschiedene Gottesbezeichnungen, theologische Konzepte, z.B. mit Wort, Weisheit, Geist oder Sohn, eine Fülle von Metaphern für Gott und mehr oder weniger deutliche bini- und trinitarische Entfaltungen sind darin versammelt. Patriarchen, Priester, Hausvorstände, Propheten, Frauen und Kinder sind entweder auf ein Wanderheiligtum, den Jerusalemer Tempelkult oder kleine Gemeindeversammlungen in aller Welt ausgerichtet. Einheit und Vielfalt stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander. 6.3 Beobachtungen zum biblischen Umgang mit menschlicher Diversität 9. Aus dem fast unermesslichen Reservoir menschlicher Diversitätserfahrungen wird eine Konzentration auf Grundaspekte des biblischen Umgangs mit menschlicher Diversität vorgenommen. Es geht nach biblischem Verständnis nicht wie in der gegenwärtigen Diskussion um betriebswirtschaftliche Ressourcen und damit um „Management“, sondern um Konsequenzen des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Allen biblischen Texten gerecht zu werden, ist weder faktisch noch theologisch möglich. Daher wird eine Gewichtung und Auswahl von Grundaspekten vorgenommen. 10. Im Blick auf den biblischen Umgang mit menschlicher Diversität ist zweierlei theologisch grundlegend: Die Gemeinschaft des Volkes Israel sowie der frühen Christen versteht sich als von Gott erwählt. Ein entsprechendes Sozialethos ist die Konsequenz dieser Gemeinschaft. Außerdem ist jeder einzelne Mensch ein Ebenbild Gottes und aufgrund dieses Umstands von Gott mit einer unverletzlichen, universal gültigen Würde ausgestattet. <?page no="331"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 313 Dadurch erhält die Identität des Menschen dauerhaften Bestand (Unvergänglichkeit). 11. Drei verschiedene Ansätze des biblischen Umgangs mit menschlicher Diversität haben grundlegenden Charakter und verdienen Beachtung: (1) Biblische Normsetzungen als Schutzraum für Schwache (Nr. 12-15), (2) Jesus von Nazareth als Muster für diversitätssensibles, diversitätsreduzierendes und diversitätsgerechtes Handeln (Nr. 16-18) und schließlich eine Interpretation der (3) Heilsgeschichte als Geschichte der Entstehung und Überwindung einer grundlegenden Diversität zwischen Gott und Mensch (Nr. 19-22). 6.3.1 Schutz der Schwachen versus Texte von Exklusion und Gewalt 12. Auf der doppelten Basis von Menschenwürde und erwählter Gemeinschaft ist in der Bibel eine Reihe von normativen Ansätzen zur Bewältigung menschlicher Diversität dokumentiert. Dazu gehören die Respektierung des Lebens und der Freiheit des Lebens durch den Schutz von Besitz, Ehe, Eltern, Wahrhaftigkeit, Ruhe usw. im Zehnwort (Dekalog, Zehn Gebote). Die Existenzgrundlagen eines Menschen sind durch Gottesrecht geschützt. Dies gilt auch für weniger Bevorzugte wie Fremde, Witwen, Arme, Sklaven und sogar für Tiere und die Natur. Deuteronomium und Heiligkeitsgesetz bauen die sozialrechtlichen Regelungen von Dekalog und Bundesbuch weiter aus, z.B. durch die Regelung einer Mindesterwerbsmöglichkeit zum Lebensunterhalt oder eines regelmäßigen Schuldenerlasses. 13. Der Schutz der Schwachen stellt auf der Grundlage der Bundesgemeinschaft zwischen Gott und den aus ägyptischer Sklaverei Befreiten ein grundlegendes Gottesgebot dar. Sehr vielen Benachteiligungen aufgrund von Diversität wird dadurch entgegengewirkt. Im Neuen Testament wird diese Linie durch weitere Schutzbestimmungen und neue Begründungen ergänzt. In beiden Testamenten wird Exklusion jedoch teilweise auch bestätigt und zementiert, wie das Folgende zeigt. 14. Biblische Texte von Exklusion, Sklaverei und Gewalt - nicht nur in Einzelerzählungen, sondern auch auf der normativen Ebene - widersprechen dem Geist einer allgemeinen Solidarität und Gleichberechtigung in empfindlicher Weise. Auch sie sind jedoch historisch und kulturell zu kontextualisieren. Letztlich ist in eigener hermeneutischer und systematischtheologischer (dogmatischer, ethischer) Verantwortung darüber zu entscheiden, ob diese Texte prägend werden dürfen für die Gegenwart. 15. Diese Frage ist energisch und mit den Mitteln theologischer Sachkritik zu verneinen. Mit dem Verständnis eines Gottes, der Leben, Liebe, Freiheit und Geist ist, sind Exklusion, Selektion, lebensfeindliche Gewalt, Unfreiheit, Diskriminierung und Stigmatisierung nicht zu vereinen. Welche Rolle könnte Texten von Exklusion und Gewalt dann zukommen, wenn sie <?page no="332"?> Bernhard Mutschler 314 nicht richtungsweisend für die Gegenwart sind? Im Blick auf unerträgliche Zustände können sie sensibilisieren, demaskieren, orientieren, interpretieren, illustrieren, konfrontieren, kritisieren und aufarbeiten helfen. Gerade diese Texte provozieren zu eigenem, theologisch begründetem Urteil. Eine Beschäftigung mit ihnen ist für jede Generation neu lohnend. 6.3.2 Jesus von Nazareth als Muster für Diversitätsreduktion und Diversitätsgerechtigkeit 16. Das biblische Muster für diversitätsgerechtes Handeln par excellence ist Jesus von Nazareth, die zentrale Gestalt der christlichen Bibel. Jesus hilft in aktueller und struktureller Not, überbrückt die in der Antike übliche Zurücksetzung von Frauen, Kindern und Eltern, geht auf Vertreter sozialer Gruppen am unteren und oberen Rand zu und sucht diese gesellschaftlichen Extreme einzubinden. 17. Jesu Heilungen und Auferweckungen vom Tod geschehen im Zeichen der alttestamentlichen Verheißungen eines Messias. Ebenfalls in der Linie alttestamentlicher Heilsverheißungen überschreitet Jesus die Grenze zwischen Juden und Nichtjuden. Weitere Grenzüberschreitungen hin zu Menschen sind nach den Erzählungen der Evangelien an der Tagesordnung: Jesus überschreitet soziale, ethnische, geschlechts-, alters-, krankheits-, status- oder bildungsbedingte, geographische, religiöse oder berufliche Grenzen bis hin zum umfassenden Tabubruch (Kontakt zu Heiden, unreinen Frauen, ansteckend Kranken, Toten und so genannten Besessenen). 18. In dieses biblische Muster für diversitätsgerechtes Handeln bindet Jesu seine Anhängerschaft ein. Sie soll „ebenso handeln“ wie der barmherzige Samariter (Lk 10,37), „taufen, zu Jüngern machen und lehren“ (Mt 28,19f) sowie den messianischen Dienst an Bedürftige weitergeben, den sie selbst „umsonst empfangen“ hat (Mt 10,8). Der Auftrag zu sozialer, diakonischer Arbeit an Menschen, die durch ihre Diversität benachteiligt sind, ist hier biblisch grundgelegt. Die Sendung Gottes (missio Dei) ist universal: Der Auftrag, alle zu erreichen, ergeht an alle, an Christen und Nichtchristen. Hilfe und Assistenz für Bedürftige, Soziale Arbeit und Verkündigung können im Sinne Jesu gar nicht genug Menschen aufgetragen werden. 6.3.3 Diversität in heilsgeschichtlichen Dimensionen 19. Durch die „sehr gut“ geschaffene (Gen 1,31) und abschließend mit dem Tag der Ruhe gesegnete und geheiligte Schöpfung (Gen 2,3) geht bereits ab dem dritten Kapitel der Bibel ein jäher Riss in Form des Einbruchs der Sünde in die Welt. Seitdem „muss“ gesündigt werden (non posse non peccare, Augustin). In einer kollektiven Diversität verliert der Mensch den wahrhaftigen Bezug zu sich, zum Mitmenschen und zu Gott und verkrümmt sich stattdessen in sich selbst. <?page no="333"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 315 20. Die bedeutendste Einrichtung des Alten Testaments zur Heilung dieses Risses ist die Entsühnung mit Hilfe des Jerusalemer Tempelkults, wie er in der Tora eingerichtet und angeordnet ist. Feiertage dispensieren freilich nicht von einem entsprechenden Leben im Alltag. So wird ein Leben in Recht und Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Treue und Barmherzigkeit von den alttestamentlichen Propheten immer wieder aufs Neue eingeklagt und von „Frau Weisheit“ mit anrührendem Charme offeriert. 21. Demgegenüber rechtfertigt Gott den Sünder umsonst (gratis), wie das Neue Testament - allen voran Paulus von Tarsus - ausführt. Der jähe Riss wird zum heilsamen Riss 159 im Glauben an Christus, der den Weg der Liebe konsequent bis zu Ende gegangen ist. Sein Tod am Kreuz wird kontrafaktisch zum Heilszeichen dadurch, dass Gott ihn vom Tod auferweckt. Durch Tod und Auferstehung sowie in seinem Lehren und Handeln offenbart Jesus von Nazareth den wirklichen Menschen, der Gott entspricht. Ein Diversitätsdrama von heilsgeschichtlichem Ausmaß wird damit zu Gunsten des Menschen entschieden. 22. Von seiner Sünden-Diversität befreit, hat der Mensch wieder die Möglichkeit des Abstands vom Sündigen (posse non peccare). Er vermag dem wirklichen Menschen Jesus zu entsprechen. Indem er diesem mit seinem Leben entspricht, entspricht er Gott selbst. Aus Dankbarkeit richtet sich die „neue Schöpfung“ (2Kor 5,17) an dem zum Menschen gekommenen Gott aus, so dass er frei für den Dienst an den Bedürfnissen des Menschen mit all ihren vielen und teilweise beschwerlichen Diversitäten ist. 6.4 Biblisch-theologische Überlegungen für den Umgang mit menschlicher Diversität 23. Die Bibel leitet zu Differenzsensibilität und Diversitätsbewusstsein an. Sie ist aufgrund ihrer komplexen Entstehung ein höchst diversitäres und diversitätsfreundliches Buch geworden. Als solches ist es durch die (im evangelischen Bereich niemals formell vollzogene) Kanonisierung geschützt. Binnendiversität bedeutet Multiperspektivität und ist kein Mangel, sondern ein Gewinn. Verschiedene Standpunkte können sich mit ähnlichem Recht auf die Bibel berufen. Durch die ausgeprägte biblische Diversität ist jede Generation neu zu hermeneutischen und anthropo-theologischen Überlegungen herausgefordert. 24. Das hohe Maß am Komplexität und Diversität stellt für die Vermittlung nach innen (Kirche, Gemeinde, Religionsunterricht) und außen (Öffentlichkeit, Erwachsenenbildung) eine große Herausforderung dar. Sie bietet zugleich Chancen, als Wissenschaft oder Kirche zu einer diversitätsgerech- 159 Vgl. Christian Möller (2003), Der heilsame Riss. Impulse reformatorischer Spiritualität, Stuttgart. <?page no="334"?> Bernhard Mutschler 316 ten und menschenfreundlichen Umgebung wesentlich beizutragen. Das biblische Reservoir an Diversität kann daher als Potential gegen vereinfachte Weltsichten und für mehr Diversitätsfreundlichkeit betrachtet werden. 25. Die Bibel leitet zum Schutz menschlicher Diversität und zu mehr Diversitätsorientierung an. Sie ist aufgrund ihrer menschenfreundlichen Normen und Erzählungen ein diversitätssensibles Buch. Diese Sensibilität ist unmittelbar und eindeutig theologisch begründet, verfolgt also nicht einen anderen, fremden Zweck. Der „Wert“ menschlicher Diversität jedes einzelnen Menschen ist in Gott begründet und für Menschen nicht verfügbar. Mit demselben Recht ist menschliche Diversität durch ein vielfältiges biblisches Sozialethos geschützt. Es geht um Achtung und Respekt vor dem Anderen (als Ebenbild Gottes) und aus diesem Grund um die Sicherung seiner Lebensgrundlagen. 26. Gegenläufige biblische Regelungen und Erzählungen sind mit theologischen Argumenten in ihre Schranken zu weisen, historisch zu kontextualisieren und auf ihren potentiellen Nutzen hin zu befragen: Kulturell und heuristisch halten sie einen weiten Horizont offen, provozieren zu selbständiger Meinungsbildung und sperren sich gegen eine unkritische Übernahme aus biblischer Tradition. Mit Letzterem stellen sie ein klassisches Übungsfeld für Texthermeneutik dar. Biblische Diversitätssensibilität ist ein Menschheitserbe von weltgeschichtlicher Bedeutung. Ihr eignet enormes Potential gegen Diskriminierung, Exklusion und menschenverachtende Gewalt. 27. Die Bibel leitet zum Durchbrechen und Überschreiten menschlicher Schranken und Grenzen an, zum Übertritt von kulturellen Tabus, wenn es um die Lebensbedürfnisse von Menschen geht. Sie ist aufgrund des eindrücklichen Beispiels, das Jesus von Nazareth diesbezüglich gegeben hat, ein überaus anregendes und diversitätsreduzierendes Buch. Kein Mensch darf als von der Güte und dem Heilswillen Gottes ausgeschlossen betrachtet werden. Indem Jesus leidenskonnotierte Diversität aufhebt, bringt er das Reich Gottes exemplarisch und als spürbare Verbesserung der Lebensqualität zur Geltung. 28. Von Christus her können Prägung und Inhalte eines christlich verstandenen Humanum konkret, klar und wirklich bestimmt werden: als christusgemäßes Humanum, als mit Christus konforme Menschlichkeit. Christus wird dabei als wirklicher Mensch verstanden, der die vielfältigen und konkreten Bedürfnisse der ihm begegnenden Menschen in der Kraft seines Gott in vollkommener Weise entsprechenden Menschseins wahrnimmt und ihnen mit verschwenderisch schenkender Gerechtigkeit gerecht wird. Auf diesem christologischen Hintergrund wird das Verständnis des Humanum nicht allgemein, aber unkonkret an einer ideal(isiert)en „Menschlichkeit“ <?page no="335"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 317 orientiert, sondern konkret an der Person Jesus Christus als dem Gott in vollkommener Weise entsprechenden Menschen. 160 Ecce homo! 161 29. Christus ist der Anstifter zu wirklichem Menschsein. Er verkörpert das christusgemäße und darum Gott entsprechende Humanum. Christologie als wissenschaftliches Nachdenken über die Fragen Wer ist Jesus Christus? und Was bedeutet dies für heute? ist nicht nutzloser theologischer Zeitvertreib - wie von manchen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen kritisch beargwöhnt -, sondern stets mit einer Orts- und Verhältnisbestimmung grundsätzlicher und brennender anthropologischer und sozialer Fragen innerhalb des denkbar größten Bezugsrahmens verbunden. Im Ergebnis trägt Christologie daher stets zu einer spürbaren Qualifizierung anthropologischer und sozialer Fragen bei. Kurzum, Christus qualifiziert (offenbart) das Humanum. 30. Da das Wirken Jesu als Sendung Gottes in die Welt (missio Dei) verstanden wird, ist es mit der irdischen Wirksamkeit Jesu nicht zu Ende. Im Gegenteil, Jesus selbst setzt Nachfolger ein, die als christozentrische Diversitätsüberwinder seinen Auftrag in seinem Namen fortsetzen. Der christozentrische Umgang mit menschlicher Diversität wird dadurch prolongiert. Er lebt aus der Liebe zu Gott (Dtn 6,5) und zum Menschen in seiner konkreten Bedürftigkeit (Lev 19,18; Mt 7,12). Die Anstiftung Jesu zu Diversitätsreduzierung (-sensibilität, -freundlichkeit, -gerechtigkeit) entfaltet bis heute ihr Potential in Diakonie, Pädagogik, Pflege und Sozialer Arbeit. 31. Die Bibel leitet zu Selbstannahme des Menschen und seiner Geschichte, Vergebung der Sünden und einer immensen Dankbarkeit an. Sie ist aufgrund ihrer auf Heilung zielenden, heilsgeschichtlichen Deutung menschlicher Verfehlung gegenüber Gott ein überaus diversitätsgerechtes Buch. Sie spricht den Menschen in seinem Hochmut und Fall, seiner Trägheit und seinem Elend sowie seiner Lüge und Verdammnis an und überwindet diese kraft göttlicher Vergebung und Neuschöpfung: kraft göttlicher Diversitätsgerechtigkeit. 32. Die Erneuerung des Menschen kraft göttlicher Gerechtigkeit lässt Dankbarkeit in diesem wachsen. Aus Dankbarkeit erwächst das Bestreben, menschlicher Diversität in der Weise Jesu Christi (christuskonform) gerecht zu werden. Ein christozentrischer Diversitätsausgleich nimmt seine Inspiration und sein Maß an dem zum Menschen gekommenen Gott und sucht diesem zu entsprechen. Am Gott-in-Christus entsprechenden Menschen wird deutlich, dass und wie sehr die Bibel ein nach Diversitätsgerechtigkeit strebendes und drängendes Buch ist. 33. Der tiefste Grund für die Diversitätsaffinität der Bibel liegt im biblischen Gottesbild. Indem Gott als nach innen und außen dreieiner vorgestellt 160 Es handelt sich nach theologisch traditioneller Diktion um Sündlosigkeit. 161 „Seht, welch ein Mensch! “, so Pilatus über Jesus, vgl. Joh 19,5. <?page no="336"?> Bernhard Mutschler 318 wird, ist Diversität für ihn konstitutiv. Dies erleichtert ein Verständnis der Schöpfung als konstitutiv diversitär. Entsprechendes gilt für die Menschen, die in und mit ihrer Diversität „sehr gut“ gemacht sind (Gen 1,31). Das Bekenntnis zur Diversität von Schöpfung und Mensch ist zutiefst christlich, weil das christliche Gottesverständnis trinitarisch auszulegen ist. 34. Sofern menschliche Diversität lebensfeindlich, benachteiligend und diskriminierend wirkt, ist dies von Menschen gemacht und als widergöttlich zu begreifen. Ein Gott entsprechender, christozentrischer Umgang mit menschlicher Diversität unterläuft und durchbricht diese Schranken in der Kraft des Geistes Gottes. Menschliche Diversität entspricht einem christlichen Selbstverständnis; allerdings darf sie Menschen weder einschränken noch ausschließen. Hier haben Christen einen Auftrag zur Weltgestaltung und zur Kooperation mit anderen in diesem Sinn. Christliche Diversitätskompetenz ist letztlich trinitarisch begründet. 6.5 Die Bibel als Ausgangspunkt, Grundlage und Anleitung für den Umgang mit Diversität 35. Bereits aus allgemeinen Gründen ist die Bibel ein naheliegender, bewährter, sehr relevanter und notwendiger Ausgangspunkt für das christliche Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität. Diese Beurteilung wird durch inhaltliche Gründe bestätigt. Die Stichworte dafür lauten: literarische Diversität, soziale Diversität, Regulierungen von menschlicher Diversität, Jesus als Muster für den Umgang mit Diversität, Heilsgeschichte als Diversitätsbewältigung, trinitarische Diversität in Gott. 36. Die Bibel als normative Grundlage des christlichen Glaubens ist auch die maßgebliche Grundlage für das christliche Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität. Dies wird verstärkt dadurch, dass die Trinitätslehre „als Rahmentheorie für die Entfaltung des Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens“ 162 fungiert und die Bibel ein Buch voller Diversität und voller Anweisungen, Modelle und Erzählungen zum Umgang mit Diversität ist. Sie ist die kanonische Grundlage für das christliche Nachdenken über Diversität. 37. Die Bibel als von Diversität regelrecht durchtränkte und auf Versöhnung zielende Heilige Schrift der Christen kann als Anleitung für das christliche Bekennen, Denken und Gestalten von Diversität dienen. Maßgebliche Grundperspektiven dabei sind die trinitarische Diversität und Integration in der Einheit Gottes, phänomenale Diversität in der einen, „sehr gut“ geschaffenen Schöpfung, eine innerbiblische Diversität an sehr vielen Stellen sowie die Aufwertung und strenge Bezogenheit jedes, auch des diversesten Menschen auf Gott. 162 Schwöbel, Trinitätslehre, S. 48. <?page no="337"?> Die Bibel als Ausgangspunkt und Anleitung für den Umgang mit Diversität 319 38. Mit alledem wird deutlich: Die Bibel ist der grundlegende theologische Referenzrahmen für menschliche und gesellschaftliche Diversität. Sie ist eine altehrwürdige Anleitung und zugleich eine aktuelle Provokation zu mehr menschlicher Diversitätsfreundlichkeit, mehr menschlicher Diversitätssensibilität, mehr Diversitätsreduzierung durch Menschen und zu mehr Diversitätsgerechtigkeit gegenüber allen Menschen. Muster und Modell dafür ist in besonderer Weise Jesus von Nazareth, der damals wie heute zur Nachfolge und zu einem christozentrischen Umgang mit Diversität einlädt und ruft. 6.6 Konsequenzen für die bibelwissenschaftliche Lehre 39. Als praktische Konsequenzen für die bibelwissenschaftliche Lehre ergeben sich vier Arbeitsfelder, in denen der Themenkreis Diversität zu reflektieren und zu behandeln ist: (1) die Bibel erschließen - als Buch, methodisch und hermeneutisch, (2) die Bibel theologisch lesen lernen - entlang der Fragen nach Gott, dem Menschen und dem Verhältnis zwischen beiden, (3) sozialwissenschaftliche Schwerpunktbildung - soziale Verhältnisse und soziale Normen erkunden 163 , (4) Bibelwissenschaft als Bezugswissenschaft - Basis für theologische Orientierung in Studium, Praxisfeld, gesellschaftlichen und globalen Zusammenhängen. 40. Als höchst diverse Schriftensammlung mit einem trinitarischen Gottesverständnis kommen der Bibel eine hohe Erschließungskraft und ein hohes Orientierungsvermögen in allen mit menschlicher Diversität zusammenhängenden Themen zu. Sie begründet die Akzeptanz von Diversität, setzt soziale Standards, zeigt Wege zu einer Entsprechung des Menschen mit Gott und nötigt zur Auseinandersetzung mit konkreten Formen von Diversität und mit Diversitätsgerechtigkeit. Bibelwissenschaftliches Forschen und Lehren hat hier eine reizvolle, große und für andere Bereiche grundlegende Aufgabe. 163 Z.B. anhand der alttestamentlichen Sozialgesetze, typischer sozialer Konstellationen der Ungleichheit, Jesus von Nazareth als Muster für den Umgang mit Diversität, Probleme frühchristlicher Gemeinden im Umgang mit konkreter Diversität. <?page no="338"?> Bernhard Mutschler 320 Auswahlbibliographie Albertz, Rainer (1992): Religionsgeschichte Israels. Teil 1: Von den Anfängen bis zum Ende der Königszeit. Teil 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern. (GAT 8/ 1-2) Göttingen. Aschenbrenner-Wellmann, Beate (2009): Diversity-Kompetenz - Überlegungen zu einer Schlüsselqualifikation für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit. In: dies.: Mit der Vielfalt leben. Verantwortung und Respekt in der Diversity- und Antidiskriminierungsarbeit mit Personen, Organisationen und Sozialräumen. (Schriften der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 7 = Publikationen des Instituts für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen, 1) Stuttgart, S. 61-85. Hahn, Ferdinand (2005): Theologie des Neuen Testaments. Bd. 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologie des Urchristentums. Bd. 2: Die Einheit des Neuen Testaments. Thematische Darstellung. 2. Aufl. Tübingen. Jüngel, Eberhard (1998): Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht. Tübingen. Jüngel, Eberhard (1986): Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage theologischer Anthropologie. In: ders.: Entsprechungen: Gott - Wahrheit - Mensch. Theologische Erörterungen. (BETh, 88) München, S. 290-317. Zuerst in: Hans-Georg Gadamer; Paul Vogler (Hg.) (1975): Neue Anthropologie. Bd. 6: Philosophie Anthropologie. Erster Teil. Stuttgart/ München, S. 342-371. Kessler, Rainer (2006): Sozialgeschichte des Alten Israel. Eine Einführung. Darmstadt. Kessler, Rainer (2012): Tora und Menschenrechte. In: Thomas Klie; Dietrich Korsch; Ulrike Wagner-Rau (Hg.): Differenzkompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit. Leipzig, S. 99-109. Lang, Bernhard (2002): JAHWE der biblische Gott. Ein Porträt. München. Mutschler, Bernhard (2013): Beziehungsreichtum. Bibelhermeneutische, sozialanthropologische und kulturgeschichtliche Erkundungen. Tübingen. Sauter, Gerhard (2011): Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie. Gütersloh. Schwöbel, Christoph (2002): Menschsein als Sein-in-Beziehung. Zwölf Thesen für eine christliche Anthropologie. In: ders.: Studien zur Dogmatik. Tübingen, S. 193-226. Zuerst engl.: Human Being as Relational Being. Twelve Theses for a Christian Anthropology. In: ders.; C.E. Gunton (Hg.): Persons: Divine and Human. King’s College Essays in Theological Anthropology. Edinburgh, S. 141-165. Schwöbel, Christoph (2002): Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens. Vier Thesen zur Bedeutung der Trinitätslehre in der christlichen Dogmatik. In: ders.: Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik. Tübingen, S. 25-51. Zuerst in: Wilfried Härle; Reiner Preul (Hg.): Trinität. (MJTh, X) Marburg, S. 129-154. Theißen, Gerd; Merz, Annette (1996): Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Göttingen. Tilly, Michael; Zwickel, Wolfgang (2011): Religionsgeschichte Israels. Von der Vorzeit bis zu den Anfängen des Christentums. Darmstadt. Welker, Michael (2012): Gottes Offenbarung. Christologie. Neukirchen-Vluyn. <?page no="339"?> Autorinnen und Autoren Prof. Dr. phil. Beate Aschenbrenner-Wellmann, Dipl. Soz. Päd. (FH); MA Ethnologie, Soziologie, Deutsch als Fremdsprache, ist seit 2004 Professorin für Soziale Arbeit und Migration an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg und leitet dort seit 2007 das Institut für Antidiskriminierungs- und Diversityfragen (IAD). Sie ist langjährige Geschäftsführerin eines interkulturellen Fortbildungs- und Beratungsinstituts. Prof. Dr. theol. Katja Baur ist Professorin für Religionspädagogik an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg mit den Schwerpunkten: Schulische Religionspädagogik und Interreligiöses Lernen. Sie leitet seit 2009 das dialogEs-Institut zur Evaluation christlicher Schulen und ist Studiengangsleiterin des Masterstudiengangs Religionspädagogik. Prof. Dr. theol. Desmond Bell lehrt als Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt „Die Bibel und ihre Didaktik“ an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland - Westfalen - Lippe in Bochum und ist seit 2007 Studiengangsleiter des Bachelor-Studiengangs Gemeindepädagogik und Diakonie. Prof. Dr. päd. habil. Bernd Beuscher lehrt mit dem Schwerpunkt „Theorie und Praxis kirchlicher Bildungsprozesse“ an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland - Westfalen - Lippe in Bochum. Er ist außerordentlicher Professor am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Inhaber einer Praxis für Berufsorientierung, Persönlichkeitstraining und Lebensberatung in Duisburg. Prof. Dr. theol. Philipp A. Enger lehrt als Professor an der Evangelischen Hochschule Berlin im Studiengang Evangelische Religionspädagogik, Lehrstuhl für Biblische Theologie. Prof. Dr. rer. nat., theol. habil. Carsten Gennerich, Dipl.-Theol. und Dipl.- Psych., lehrt als Professor für Gemeindepädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Prof. Dr. theol. Renate Kirchhoff ist Professorin für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg und dort Dekanin des Fachbereichs II Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft. <?page no="340"?> 322 Prof. Dr. theol. habil. Bernhard Mutschler lehrt seit 2008 als Professor für Biblische Theologie/ Gemeindediakonie an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg. Prof. Jane S. Webster, Ph.D. (McMaster University, Canada) ist Professorin für Religionswissenschaften am Barton College, Wilson, North Carolina (USA). Sie ist Initiatorin der SBL-Programmeinheit „Teaching Biblical Studies in an Undergraduate Liberal Arts Context“ und Mitherausgeberin des Buches Teaching the Bible in the Liberal Arts Classroom (Sheffield 2012). <?page no="341"?> Mitgliedshochschulen der Rektorenkonferenz Kirchlicher Fachhochschulen in Deutschland, Studienangebot (Stand: Sommersemester 2014) Ev. Hochschule Berlin, www.eh-berlin.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit Evangelische Religionspädagogik Kindheitspädagogik Bachelor of Nursing Hebammenkunde (dual) Pflegemanagement Master-Studiengänge Master of Social Work - Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession (Weiterbildung) Leitung - Bildung - Diversität Kath. Hochschule für Sozialwesen Berlin, www.khsb-berlin.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit (auch berufsbegleitend) Schulische Religionspädagogik Bildung und Erziehung (auch berufsintegrierend) Heilpädagogik (auch berufsbegleitend) Gestaltungstherapie/ Klinische Kunsttherapie Soziale Gerontologie Master-Studiengänge Soziale Arbeit Master of Social Work - Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession (Weiterbildung) Heilpädagogik Klinische Sozialarbeit (Weiterbildung) <?page no="342"?> 324 Fachhochschule der Diakonie, Bielefeld, www.fh-diakonie.de Bachelor-Studiengänge Diakonie im Gemeinwesen Management im Sozial- und Gesundheitswesen (berufsbegleitend) Mentoring im Sozial- und Gesundheitswesen (berufsbegleitend) Heilpädagogik (berufsbegleitend) Pflegewissenschaft (dual oder berufsbegleitend) Psychische Gesundheit/ Psychiatrische Pflege (berufsbegleitend) Master-Studiengang Organisationsentwicklung und Supervision Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum, www.efh-bochum.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit Gemeindepädagogik und Diakonie Heilpädagogik/ Inklusive Pädagogik Elementarpädagogik (grundständig oder berufsbegleitend) Pflegewissenschaft Gesundheits- und Pflegemanagement Master-Studiengänge Soziale Inklusion: Gesundheit und Bildung Management in sozialwirtschaftlichen und diakonischen Organisationen Personenzentrierte Beratung (Weiterbildung) Zertifikatskurs Gemeindepädagogischer Grundkurs Ev. Hochschule Darmstadt, www.eh-darmstadt.de Bachelor-Studiengänge Integrative Heilpädagogik/ Inclusive Education <?page no="343"?> 325 Bildung, Erziehung und Kindheit Pflege- und Gesundheitsförderung Soziale Arbeit Soziale Arbeit m. gemeindepädagogisch-diakonischer Qualifikation Master-Studiengänge Soziale Arbeit Integrative Heilpädagogik/ Inclusive Education Pflegewissenschaft Religionspädagogik - Ev. Religionsunterricht Psychosoziale Beratung (Weiterbildung) Nonprofit Management (Weiterbildung) Diakonie - Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis (Europäischer Masterstudiengang) Management, Ethik und Innovation im Nonprofit-Bereich (Weiterbildung) Systementwicklung und Inklusion (Weiterbildung) Zertifikatskurs Grundlagestudium Religionspädagogik mit gemeindepädagogischem Zertifikat Ev. Hochschule Dresden, www.ehs-dresden.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit (auch berufsbegleitend) Bildung und Erziehung in der Kindheit Bildung und Erziehung in der Kindheit international Sozialpädagogik - Schwerpunkt: Elementar- und Hortpädagogik (berufsbegleitend) Pflegewissenschaft/ Pflegemanagement (berufsbegleitend) Master-Studiengänge Soziale Arbeit Sozialmanagement (M.B.A.) - Fernstudium Promotionsstudium <?page no="344"?> 326 Zertifikatskurs Theologisches Vertiefungsstudium Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, www.ku.de Fakultät für Soziale Arbeit Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit Bildung und Erziehung in Kindheit und Jugend Pflegewissenschaft (Teilzeit) Master-Studiengänge Soziale Arbeit Sozialinformatik (Weiterbildung) Fakultät für Religionspädagogik/ Kirchliche Bildungsarbeit Bachelor-Studiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit Master-Studiengang Ethisches Management - Werteorientierte Personalführung und Organisationsentwicklung Ev. Hochschule Freiburg, www.eh-freiburg.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit Religionspädagogik/ Gemeindediakonie Pädagogik der Kindheit Master-Studiengänge Soziale Arbeit (forschungsorientiert) Religionspädagogik <?page no="345"?> 327 Supervision (Weiterbildung) Sozialmanagement (Weiterbildung) Management Ethik und Innovation im Non-Profit-Bereich (Weiterbildung) Bildung und Erziehung im Kindesalter Katholische Hochschule Freiburg, www.kh-freiburg.de Bachelor-Studiengänge Heilpädagogik/ Inclusive Education Soziale Arbeit Management von Erziehungs- und Bildungseinrichtungen Management im Gesundheitswesen Pädagogik Berufspädagogik im Gesundheitswesen Pflege Master-Studiengänge Dienstleistungsentwicklung/ Development of social and health services Klinische Heilpädagogik Angewandte Ethik in Gesundheits- und Sozialwesen (Weiterbildung) Management und Führungskompetenz (Weiterbildung) Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg, www.ev-hochschule-hh.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit & Diakonie (grundständig oder berufsintegrierend) Soziale Arbeit & Diakonie - Frühkindliche Bildung (berufsintegrierend) Soziale Arbeit & Diakonie - Pflege Master-Studiengang Soziale Arbeit - Planen und Leiten <?page no="346"?> 328 CVJM Hochschule Kassel, www.cvjm-hochschule.de Bachelor-Studiengänge Religions- und Gemeindepädagogik/ Soziale Arbeit integrativ Soziale Arbeit Human Development Religions- und Gemeindepädagogik Master-Studiengang MEO: Management, Ethik und Organisation Ev. Hochschule Ludwigsburg, www.eh-ludwigsburg.de Bachelor-Studiengänge (Internationale) Soziale Arbeit Diakoniewissenschaft und soziale Arbeit Diakoniewissenschaft und internationale soziale Arbeit Religions-/ Gemeindepädagogik und Soziale Arbeit Frühkindliche Bildung und Erziehung Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik Master-Studiengänge Soziale Arbeit Religionspädagogik Frühkindliche Bildung und Erziehung Diakoniewissenschaft Diakonie - Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis (Europäischer Masterstudiengang) Organisationsentwicklung Katholische Hochschule Mainz, www.kh-mz.de Bachelor-Studiengänge Praktische Theologie Gesundheit und Pflege Soziale Arbeit <?page no="347"?> 329 Master-Studiengänge Soziale Arbeit - Beratung und Steuerung Gesundheits- und Pflegepädagogik Gesundheits- und Pflegemanagement Ev. Hochschule Moritzburg, www.fhs-moritzburg.de Bachelor-Studiengänge Ev. Religionspädagogik mit sozialarbeiterischem Profil Ev. Religionspädagogik mit musikalischem Profil Kath. Stiftungsfachhochschule München, www.ksfh.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit (auch berufsintegrierend) Bildung und Erziehung im Kindesalter (berufsintegrierend) Pflegemanagement/ -pädagogik Pflege dual (ausbildungsintegrierend) Master-Studiengänge Soziale Arbeit (Weiterbildung) Angewandte Sozial- und Bildungswissenschaften Suchttherapie (Weiterbildung) Management von Sozial-und Gesundheitsbetrieben Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen, www.katho-nrw.de Bachelor-Studiengänge Religionspädagogik Heilpädagogik Bildung und Erziehung im Kindesalter Pflegewissenschaft Soziale Arbeit Hebammenkunde Pflege (dual) <?page no="348"?> 330 Master-Studiengänge Soziale Arbeit (mit fünf verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten) Heilpädagogik Lehrer/ innen Pflege und Gesundheit Pflegemanagement Ehe-, Familien- und Lebensberatung (Weiterbildung) Supervision (Weiterbildung) Schulleitungsmanagement (Weiterbildung) Kooperationsmanagement (Weiterbildung) Sozialmanagement (Weiterbildung) Suchthilfe (Weiterbildung) Theologische Bildung Ev. Hochschule Nürnberg, www.evhn.de Bachelor-Studiengänge Soziale Arbeit Sozialwirtschaft Heilpädagogik (dual) Erziehung und Bildung im Kindesalter Erziehung, Bildung und Gesundheit im Kindesalter (dual) Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit Diakonik Gesundheits- und Pflegemanagement Gesundheits- und Pflegepädagogik Pflege (dual) Health: Angewandte Pflegewissenschaften Master-Studiengänge Erwachsenenbildung (Weiterbildung) Sozialmanagement (Weiterbildung) Social Work Theologische Hochschule Reutlingen, www.th-reutlingen.de Bachelor- und Master-Studiengang Theologie <?page no="349"?> Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 20 Herausgegeben von Eve-Marie Becker, Jens Herzer, Friedrich W. Horn, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp Der Band stellt die Bedingungen biblisch-theologischer Lehre an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (Fachhochschulen) dar, diskutiert entsprechende hermeneutische und didaktische Entscheidungen und konkretisiert sie an ausgewählten Beispielen. Grundlegend ist die Orientierung an den Lebenswelten der Studierenden. Diversität wird im Blick auf Zielgruppen und Bibeltexte reflektiert. Zum Adressatenkreis gehören Kolleginnen und Kollegen im Alten und Neuen Testament, Lehrende an evangelischen und katholischen Hochschulen sowie alle Leserinnen und Leser, die an grundsätzlichen Fragen von Textwelten, Lebenswelten und Diversität interessiert sind. Die Herausgeber des Bandes lehren Biblische Wissenschaften an den Evangelischen Hochschulen in Bochum, Freiburg und Ludwigsburg.