Zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen
0215
2016
978-3-7720-5557-7
978-3-7720-8557-4
A. Francke Verlag
Norbert Alzmann
In dieser Arbeit steht die ethische Reflexion bei der Beurteilung von Tierversuchsanträgen im Mittelpunkt. Es werden Kriterienkataloge analysiert, mit deren Hilfe man insbesondere den Nutzen eines Versuchs gegen das Leid der Tiere abwägen kann, um zu einem Urteil über die ethische Vertretbarkeit eines Versuchsvorhabens zu gelangen. Diese Handreichung erfolgt vor dem Hintergrund einer Geschichte der Tierversuchsethik und deren Reflexion. Ein weiteres Augenmerk liegt auf den Herausforderungen, die mit der Beurteilung der Belastung von Versuchstieren verbunden sind. Daher werden Anforderungen an Kataloge zur Bewertung der Belastung und des Leidens dieser Tiere reflektiert.
<?page no="0"?> Zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen Norbert Alzmann Tübinger Studien zur Ethik · Tübingen Studies in Ethics 6 <?page no="1"?> Zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen <?page no="2"?> Tübinger Studien zur Ethik Tübingen Studies in Ethics 6 Herausgegeben vom Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Schriftleitung: Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn Prof. Dr. Friedrich Hermanni Dr. Roland Kipke Prof. Dr. Thomas Potthast Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing <?page no="3"?> Norbert Alzmann Zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8557-4 Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine aktualisierte Fassung meiner Dissertation aus dem Jahre 2010. Die Überarbeitung erfolgte, um die geänderte Gesetzeslage zu berücksichtigen. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Graduiertenkolleg 889 Bioethik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Eberhard Karls Universität Tübingen) sowie des Messerli Forschungsinstituts der Veterinärmedizinischen Universität Wien, Medizinischen Universität Wien und Universität Wien. <?page no="5"?> Inhalt Inhalt Abkürzungen, Begrifflichkeiten ................................................. 15 Rechtsrahmen ...................................................................................... 16 .......................................................................................... 17 Einleitung .............................................................................................. 19 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte ............ 27 1.1 Tierethik in der Philosophiegeschichte ............................... 27 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte ............................. 32 1.2.1 Ethische Grundpositionen......................................................... 33 1.2.1.1 Anthropozentrik..............................................................35 1.2.1.2 Pathozentrik.....................................................................35 1.2.1.3 Biozentrik .........................................................................35 1.2.1.4 Holismus...........................................................................36 1.2.2 Wichtige Positionen und ihre prominentesten Vertreter .... 36 1.2.2.1 Anthropozentrismus nach Kant...................................36 1.2.2.2 Generalisiertes Mitleid nach Ursula Wolf ..................39 1.2.2.3 Pathozentrismus nach Singer .......................................41 1.2.2.4 Biozentrismus nach Schweitzer....................................50 1.2.2.5 Die Theorie der Tierrechte nach Regan ......................51 1.2.2.6 Holismus nach Gorke.....................................................53 1.2.3 Kasuistische Überlegungen in der Tierethik.......................... 54 1.2.4 Mittlere moralische Regeln in der Tierethik .......................... 55 1.2.4.1 Ausweisen von „mittleren moralischen Regeln“......56 1.2.4.2 Ethische Argumentation auf der Grundlage von moralischem Konsens ....................................................57 1.2.4.3 Mittlere Regeln als Ausgangsbasis für anwendungsbezogene Urteile ......................................58 1.2.4.4 Mittlere moralische Regeln für die Tierethik.............60 1.3 Konkrete Konsequenz für die Praxis ................................... 62 ........ <?page no="6"?> Inhalt 6 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung .... 65 2.1 Kurze Entwicklungsgeschichte des rechtlichen Tierschutzes ............................................................................... 65 2.2 Änderung des Grundgesetzes - das Staatsziel Tierschutz ................................................................................... 67 2.2.1 Folgen der Änderung des Grundgesetzes.............................. 68 2.2.2 Justitabilität des Tierschutzes nach Veränderung von Art. 20a GG........................................................................... 70 2.2.3 Staatsziel Tierschutz und Tierversuche .................................. 71 2.2.4 Bestandsaufnahme der Genehmigungspraxis: Es wird ein Handlungsbedarf sichtbar ................................... 73 2.3 Freiheit und Nutzen als Legitimationsgrundlage ............ 75 2.4 Das deutsche Tierschutzgesetz ............................................. 76 2.4.1 Kommissionen ohne zwingend vorgeschriebene ethische Fachexpertise................................................................ 78 2.4.2 Der Antragsteller ohne konkrete Orientierungshilfe im Gesetz ...................................................................................... 80 2.4.3 Fehlende Qualitätskontrolle...................................................... 83 2.5 Bewertung von Anträgen in der beratenden Kommission und der Behörde.......................................... 85 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch ........... 93 3.1 Präzisierungen der gesetzlichen Vorschriften ................... 93 3.2 Probleme bei der Nutzen-Schaden-Abwägung ................ 94 3.3 Hilfsmittel zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit 97 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ ....................................................... 100 3.4.1 Welche Faktoren werden unter „Belastung“ verstanden? 105 3.4.2 Wie sind die Begriffe „Schmerzen“ / „Leiden“ / „Schäden“ definiert? ................................................................. 106 3.4.3 Der Beitrag der „Animal Welfare Science“ zur Frage der Empfindungsfähigkeit von Tieren und zur Erheblichkeit von Belastungen ............................................... 117 3.4.4 Welchen Tieren kann eine „Leidensfähigkeit“ zuerkannt werden? ................................................................... 122 3.4.5 „Leidensbewertungssysteme“: Wie lässt sich Leiden messen? ....................................................................................... 128 3.4.6 Diskussion .................................................................................. 130 <?page no="7"?> Inhalt 7 4 Vorstellung von Kriterienkatalogen zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit .......................... 141 4.1. Die Güterabwägung bei Klaus Gärtner ............................ 143 4.1.1 Die Rahmenbedingungen........................................................ 143 4.1.2 Das Sinnbild der Waage........................................................... 145 4.1.3 Der Status der Grundlagenforschung bei Gärtner.............. 146 4.1.4 Diskussion .................................................................................. 146 4.1.5 Zusammenfassung.................................................................... 151 4.1.6 Fazit ............................................................................................. 152 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter ...................... 153 4.2.1 „Bepunktung“ zur Abwägung der eth. Vertretbarkeit ...... 153 4.2.2 Bewertung der „Forschungs-Kriterien“................................ 158 4.2.2.1 Die Zielsetzung des Experiments ..............................158 4.2.2.2 Das Potential das Forschungsziel zu erreichen .......159 4.2.3 Bewertung der „Tierkategorien“............................................ 159 4.2.3.1 Die Tierart.......................................................................159 4.2.3.2 Die Bewertung des Kriteriums „Schmerz” ..............159 4.2.3.3 Die Dauer von Unbehagen oder Stress .....................160 4.2.3.4 Die Dauer des Experiments ........................................160 4.2.3.5 Die Anzahl der Versuchstiere.....................................160 4.2.3.6 Die Qualität der Tierpflege .........................................161 4.2.4 Die Gesamtbewertung ............................................................. 161 4.2.5 Diskussion .................................................................................. 162 4.2.5.1 Die ethische Position von Porter ................................162 4.2.5.2 Generelle Kritik: „Ein wertvoller Denkanstoss“ .....163 4.2.5.3 Kritik des methodischen Vorgehens bei Porter.......165 4.2.5.4 Kritik der einzelnen Kategorien .................................169 4.2.5.5 Anmerkungen................................................................174 4.2.6 Zusammenfassung.................................................................... 178 4.2.7 Fazit ............................................................................................. 180 4.3 Das „holländische Modell“ von Tjard de Cock Buning und Elmar P. Theune („Leiden-Schema“) ...................... 181 4.3.1 Institutioneller Hintergrund ................................................... 181 4.3.2 Die Checkliste ............................................................................ 183 4.3.3 Abschätzung der Relevanz für menschliche (oder tierliche) Interessen ........................................................ 184 4.3.4 Ethische Beurteilung mit Hilfe eines Entscheidungsbaumes ........................................................................................ 193 4.3.5 Die Entscheidungsmatrix Belastung versus Bedeutsamkeit ........................................................................... 195 4.3.6 Diskussion .................................................................................. 197 <?page no="8"?> Inhalt 8 4.3.6.1 Die ethische Position von de Cock Buning und Theune.............................................................................197 4.3.6.2 Methodisches Vorgehen im holländischen Modell 205 4.3.7 Zusammenfassung.................................................................... 208 4.3.8 Fazit ............................................................................................. 212 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch .............................................................. 213 4.4.1 Einleitung ................................................................................... 213 4.4.2 Hilfen für die ethische Abwägung......................................... 215 4.4.3 „Eigentliche Güterabwägung“ mit Hilfe zweier „Checklisten“ ............................................................................. 218 4.4.4 Abwägung Nutzen gegen Belastung aus Sicht von „Verteidiger“ und „Gegner“................................................... 222 4.4.5 Diskussion .................................................................................. 227 4.4.5.1 Die ethische Position von Scharmann u. Teutsch ...227 4.4.5.2 Bewertung aus dem Blickwinkel von „Verteidiger“ und „Gegner“.......................................228 4.4.5.3 Generelle Punkte ...........................................................230 4.4.6 Zusammenfassung.................................................................... 231 4.4.7 Fazit ............................................................................................. 233 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand ............. 233 4.5.1 Einleitung ................................................................................... 233 4.5.2 Die Beurteilung von Tierversuchen nach ethischen Gesichtspunkten........................................................................ 234 4.5.3 Die Beurteilung von Tierversuchen mit Hilfe eines Punkteschemas .......................................................................... 236 4.5.4 Die Beurteilungskategorie „Versuch“ ................................... 239 4.5.4.1 Die Bedeutung des Versuchs ......................................239 4.5.4.2 Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen respektive das Tier........................................................240 4.5.4.3 Schmerzen, Leiden und Schäden ...............................240 4.5.4.4 Die Dauer des Versuchs bezogen auf die natürliche Lebenslänge ................................................241 4.5.4.5 Dauer und Häufigkeit der schmerzhaften/ unangenehmen Handlung ..........................................242 4.5.4.6 Die Anzahl der Tiere ....................................................242 4.5.4.7 Die „Tierklasse“.............................................................242 4.5.5 Die Beurteilungskategorie der Haltungsbedingungen ...... 243 4.5.5.1 Die Pflege der Tiere ......................................................243 4.5.5.2 Die Unterbringung der Tiere ......................................244 4.5.5.3 Die Fütterung der Tiere ...............................................244 4.5.6 Die Beurteilungskategorie „Personal“ .................................. 244 <?page no="9"?> Inhalt 9 4.5.6.1 Die Qualifikation des Personals .................................244 4.5.6.2 Die Anzahl der Personen.............................................245 4.5.7 Diskussion .................................................................................. 245 4.5.7.1 Die ethische Position von Uta Mand.........................245 4.5.7.2 Kritik an der Methodik ................................................246 4.5.8 Zusammenfassung.................................................................... 252 4.5.9 Fazit ............................................................................................. 253 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu, Tramper, Vorstenbosch und Joles („Utrecht-Schema“) 254 4.6.0 Einleitung ................................................................................... 254 4.6.1 Die Beschreibung des letztendlichen Ziels........................... 258 4.6.2 Gewicht menschlicher Interessen an der Realisierung des Forschungsziels .................................................................. 258 4.6.2.1 Gesundheitsinteressen .................................................259 4.6.2.2 Interessen des Erkenntnisgewinns ............................260 4.6.2.3 Ökonomische Interessen..............................................261 4.6.3 Berechnung des Gesamtwertes des Forschungsprojekts... 261 4.6.4 Abschätzung der Relevanz des Experiments....................... 262 4.6.4.1 Ersatz möglich? .............................................................263 4.6.4.2 Generelle Qualität der Methodik ...............................263 4.6.4.3 Qualität des Experiments aus der Perspektive der Versuchstierkunde.................................................264 4.6.4.4 Notwendigkeit der Durchführung des Experiments um das Ziel des Forschungsprojekts zu erreichen..264 4.6.4.5 Wahrscheinlichkeit das Ziel des Forschungsprojekts zu erreichen ....................................................265 4.6.4.6 Beurteilung der Forschergruppe................................265 4.6.5 Berechnung des Belanges des Experiments für den Menschen.................................................................................... 266 4.6.6 Einschätzung und Bewertung des Schadens an den Interessen der Tiere................................................................... 266 4.6.6.1 Die voraussichtlichen Schmerzen und das Unbehagen .....................................................................267 4.6.6.2 Die Dauer der Belastung..............................................267 4.6.6.3 Die Anzahl der Tiere ....................................................267 4.6.6.4 Berechnung der Gesamtbelastung der Tiere............268 4.6.6.5 Der Intrinsische Wert ...................................................268 4.6.6.6 Psychologische Komplexität .......................................268 4.6.7 Berechnung des tierischen Leids............................................ 269 4.6.8 Abschätzung der ethischen Vertretbarkeit des Tierexperiments......................................................................... 269 4.6.9 Diskussion .................................................................................. 270 <?page no="10"?> Inhalt 10 4.6.9.1 Die ethische Position von Stafleu, Tramper, Vorstenbosch und Joles................................................270 4.6.9.2 Methodische Aspekte ...................................................274 4.6.9.3 Welche Gewichtungen sind dem System hinterlegt? .......................................................................276 4.6.10 Zusammenfassung................................................................... 282 4.6.11 Fazit ............................................................................................ 283 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack ..................................................................................... 285 4.7.1 Aufgaben der Genehmigungs- und Überwachungsbehörde ....................................................................................... 285 4.7.2 Die Ermittlung des Nutzens.................................................... 285 4.7.2.1 Medizinisch begründete Experimente ......................285 4.7.2.2 Unbedenklichkeitsprüfung von anderen Stoffen und Produkten.................................................287 4.7.2.3 Die Einordnung des Nutzens .....................................287 4.7.3 Ermittlung der Belastung der Versuchstiere........................ 289 4.7.3.1 Fragen zur Ermittlung der Belastungen ...................289 4.7.3.2 Einordnung der Belastung in Schweregrade...........291 4.7.4 Die Güterabwägung ................................................................. 294 4.7.5 Diskussion .................................................................................. 297 4.7.6 Zusammenfassung.................................................................... 298 4.7.7 Fazit ............................................................................................. 299 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ für die Güterabwägung ........................................................ 300 4.8.1 Einleitung ................................................................................... 300 4.8.2. Die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz ....... 301 4.8.2.1 Der Weg eines Tierversuches von der Planung bis zur Auswertung......................................301 4.8.2.2 Versuchszwecke gem. Schweizerischem Tierschutzgesetz............................................................304 4.8.3 Zweckbestimmung des Internet-Programms ...................... 306 4.8.4 Zu untersuchende Forschungsbereiche ................................ 307 4.8.5 Diskussion .................................................................................. 312 4.8.5.1 Die ethische Position von SAMW und SCNAT.......312 4.8.5.1.1 Die Schweizerischen „Ethische(n) Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“ .............................314 4.8.5.1.2 Der Status des Begriffes „Würde des Tieres“ ..........323 4.8.5.2 Die Gewichtung der einzelnen Kategorien..............326 4.8.6 Zusammenfassung.................................................................... 330 4.8.7 Fazit ............................................................................................. 332 <?page no="11"?> Inhalt 11 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge .............. 335 5.1 Zusammenfassende Gegenüberstellung der einzelnen Kategorien ..................................................... 335 5.1.1 Kriterien, die von allen Autoren verwendet werden ......... 338 5.1.2 Kriterien, die nur von einigen Autoren verwendet werden ........................................................................................ 341 5.1.3 Kriterien, die nur vereinzelt verwendet werden................. 343 5.2 Die Methodik der Autoren ................................................... 347 6 Diskussion ..................................................................................... 353 6.1 Abschätzung der „Nutzen“-Seite ....................................... 353 6.1.1 Herangehensweisen an die Güterabwägung....................... 353 6.1.2 Betrachtung der Zwecke .......................................................... 354 6.1.2.1 Vorrangig medizinische Aspekte, nachgeordnet reiner Wissenserwerb.........................354 6.1.2.1.1 Häufigkeit und Größe des Patientenkollektivs .......355 6.1.2.1.2 Auch veterinärmedizinische Ziele werden berücksichtigt.................................................................356 6.1.2.2 Wohlergehen, Lebensqualität .....................................356 6.1.2.3 Die „3R“ ..........................................................................357 6.1.2.4 Auch ökonomisch motivierte Interessen müssen beurteilt werden .............................................357 6.1.2.5 Der Status der Grundlagenforschung bei den einzelnen Autoren ..........................................358 6.1.2.5.1 Beschränkung der Leidenszufügung im Falle der Grundlagenforschung ..........................359 6.1.2.5.2 Unsicherheitsfaktoren des Nutzens: Zweifel an der Übertragbarkeit der Ergebnisse sowie entfernte Wahrscheinlichkleit des Nutzens. Besonders Problematisch bei Grundlagenforschung.................359 6.1.2.5.3 Ohnehin zweifelhafter Nutzen bei schweren Belastungen....................................................................361 6.1.3 Qualität der Versuchsdurchführung und Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung................................. 362 6.1.4 Die Publikation der Ergebnisse und das „Credit Rating“ der Forschergruppe..................................... 362 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite ..................................... 363 6.2.1 Die Belastung der Versuchstiere ............................................ 363 6.2.1.1 Die prospektive Belastungseinschätzung.................366 6.2.1.1.1 Umfang der Belastungsbeurteilung ..........................366 <?page no="12"?> Inhalt 12 6.2.1.1.2 Methodische Kritik an den „Belastungskatalogen“ zur prospektiven Schweregradeinstufung...............368 6.2.1.1.3 Verwendung der Zeitspannen in den untersuchten Kriterienkatalogen zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit .......................................372 6.2.1.1.4 Die Frage des Blickwinkels bei der Belastungseinschätzung...............................................373 6.2.1.1.5 Generelle Kritik an der prospektiven Belastungseinstufung ...................................................374 6.2.1.1.6 Veterinärmedizinische Expertise zur prospektiven Belastungseinschätzung notwendig................379 6.2.1.1.7 Probleme der Eignung der Belastungskataloge für unterschiedliche Versuchstier-Spezies ...............379 6.2.1.1.8 Forderungen an einen geeigneten „Belastungskatalog“ zur prospektiven Einstufung......................380 6.2.1.1.9 Diskussion ......................................................................381 6.2.1.1.10 Die Frage der Obergrenze der Belastung .................386 6.2.1.2 Die aktuelle („retrospektive“) Belastungsermittlung.......................................................................388 6.2.1.2.1 Schwierigkeiten bei Erkennen von Leidenszuständen .......................................................................388 6.2.1.2.2 Diskussion ......................................................................392 6.2.1.3 Leidensbewertungskataloge .......................................396 6.2.1.3.1 Anforderungen an einen „idealen“ Leidensbewertungskatalog .......................................................396 6.2.1.3.2 Leidensbewertungssysteme im Bereich des konventionellen Tierversuchs.....................................397 6.2.1.3.3 Retrospektive Leidensbewertungssysteme..............398 6.2.1.3.4 Bewertung aller Leidensbewertungssysteme ..........400 6.2.1.3.5 Leidensevaluierung bei transgenen Tieren..............403 6.2.1.3.6 Die in einem Leidensbewertungskatalog zu berücksichtigenden Fragestellungen.........................403 6.2.2 Haltungsbedingungen, Pflege sowie Qualifikation des Personals.............................................................................. 409 6.2.2.1 Die Frage der Haltungsbedingungen........................410 6.2.2.2 Haltungsbedingungen: Teil der ethischen Abwägung oder lediglich vorgelagerte Versuchsvoraussetzung? .............................................411 6.2.2.3 Stichhaltige Gründe für eine Verbesserung der üblichen Tierhaltungen................................................412 6.2.2.4 Verwendung der „Haltungsbedingungen“ in den Kriterienkatalogen............................................414 <?page no="13"?> Inhalt 13 6.2.2.5 Zwei verschiedene Positionen über die Inhalte der ethischen Abwägung sind zu differenzieren: Die streng am augenblicklichen Experiment orientierte Position und die Position, die prä- und postexperimentelle Faktoren mit einbezieht ...415 6.2.3 Das Lebensbilanzmodell.......................................................... 417 6.2.4 Die Frage nach dem Wohlergehen......................................... 418 6.2.4.1 Wohlergehen ist mehr als bloße Abwesenheit von Schmerzen und Schäden......................................418 6.2.4.2 Die Lebensqualität der Versuchstiere .......................419 6.2.5 Die sinnesphysiologische Entwicklungshöhe der Versuchstierart ................................................................... 420 6.2.6 Der Eigenwert der Tiere........................................................... 424 6.2.7 Retrospektive Betrachtung, Nachsorge, Überwachung..... 426 7 Fazit und Ausblick ..................................................................... 427 7.1 Die gegenwärtige Praxis ....................................................... 427 7.2 „Mittlere moralische Regeln“ als kleinster gemeinsamer Nenner ............................................................ 429 7.3 Erkennbare Entwicklungen ................................................. 430 7.4 Ungewissheiten bei Tierversuchen in der Grundlagenforschung ........................................................... 436 7.5 Schwerst belastende Versuche sind nicht zulässig ........ 439 7.6 Kodifizierung der Forderungen in ethischen Leitlinien ................................................................................... 440 7.6.1 Der CODEX VETERINARIUS ................................................ 440 7.6.1.1 Klare Stellungnahmen..................................................440 7.6.1.2 Der Status des CODEX VETERINARIUS .................441 7.7 Novellierung des Tierschutzgesetzes notwendig? ......... 444 7.8 Ein Kriterienkatalog zur ethischen Vertretbarkeit sollte verwendet werden ...................................................... 444 7.8.1 Bedingungen, die an einen „idealen“ Katalog zu stellen sind ............................................................................ 444 7.8.1.1 Transparenz als Grundbedingung.............................444 7.8.1.2 Belastungseinschätzung durch Experten .................445 7.8.1.3 Einschätzung des Nutzens und der wissenschaftlichen Qualität: Untergliederung zur Präzisierung notwendig...............................................446 <?page no="14"?> Inhalt 14 7.8.1.4 Anpassung an die Zwecke des deutschen Tierschutzgesetzes ........................................................447 7.8.1.5 Grundlagenforschung: Vorschlag der weiteren Untergliederung............................................................448 7.8.2 Ausgangsbasis für einen geeigneten Katalog: Das Modell von Stafleu et al.................................................... 449 7.8.2.1 Vorzunehmende generelle Modifikationen .............449 7.8.2.2 „Knockout-Kriterien“ zur Sicherstellung der Qualität der Forschung.........................................449 7.8.2.3 Weitere Kriterien...........................................................453 7.8.2.4 Die Güterabwägung .....................................................455 7.8.2.5 Neu einzuführende Gesichtspunkte .........................455 8 Gesamtresümee ........................................................................... 457 9 Literaturverzeichnis ................................................................... 459 Anhang I Die Schweregrad-Einteilung bei Stafleu et al. ....................................................... 478 Anhang IIa Funktionsweise des Schweizer Programms ................................................................. 479 1. „Worst“- und „best“-Werte; Bildung von Durchschnitts-Punktewerten in jeder Kategorie ....................... 479 2. Punkte-Gewichtung spezieller Antworten...................... 479 3. Ergebnis-Anzeige ................................................................. 481 4. Ergebnis-Berechnung........................................................... 483 Anhang IIb Der Schweizer Fragenkatalog ........................... 487 Anhang III Ausschnitt aus der AVV ...................................... 496 Anhang IV Vorstellung der Autoren .................................... 498 <?page no="15"?> Abkürzungen, Begrifflichkeiten Abkürzungen, Begrifflichkeiten aaO am angegebenen Ort AVV Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des deutschen Tierschutzgesetzes AgrarR Agrarrecht (Fachzeitschrift) Belastungskatalog Katalog zur prospektiven (vor Versuchsbeginn durchgeführten) Einschätzung der Belastung bzw. zur ‘retrospektiven’ (aktuellen) Ermittlung der tatsächlichen Belastung der Versuchstiere und damit zur Einstufung in »Schweregrade« BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung BPI Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie BT-Drucks. Bundestags-Drucksache BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVET Schweizerisches Bundesamt für Veterinärwesen DB Deutscher Bundestag DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft ebd. ebenda Fn. Fußnote GG Deutsches Grundgesetz GV-SOLAS Gesellschaft für Versuchstierkunde LASA Laboratory Animal Science Association NJW Neue Juristische Wochenschrift NuR Natur und Recht (Fachzeitschrift) OLG Oberlandesgericht Rn. Randnummer RStGB Reichsstrafgesetzbuch SAMW Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SCNAT Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (ehem. SANW, Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften) StGB Strafgesetzbuch <?page no="16"?> Rechtsrahmen 16 TierSchG Deutsches Tierschutzgesetz TierSchVersV TierSchlV TSchG Tierschutz-Versuchstierverordnung Tierschutz-Schlachtverordnung Schweizerisches Tierschutzgesetz TSchV Schweizerische Tierschutzverordnung TVT Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz e.V. VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz Rechtsrahmen Meine Dissertation wurde erstellt nach der Rechtslage unter dem Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Gesetz vom 18.12.2007 (BGBl. I S. 3001; 2008, 47) geändert worden ist (im vorliegenden Buch bezeichnet als „TierSchG alte Fassung“). Die Dissertation wurde 2010 von der damaligen Fakultät für Biologie der Eberhard Karls Universität Tübingen als Promotionsleistung angenommen und das Promotionsverfahren im September 2010 erfolgreich abgeschlossen. Das Inkrafttreten der am 20.10.2010 veröffentlichten europäischen Tierversuchsrichtlinie 2010/ 63/ EU im November 2010, erforderte die Umsetzung der Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht bis November 2012. Das novellierte deutsche Tierschutzgesetz trat im Jahre 2013 in Kraft. Aktuell gültig ist das Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 8 Absatz 13 des Gesetzes vom 3. Dezember 2015 (BGBl. I S. 2178) geändert worden ist (hier im Buch bezeichnet als „TierSchG neue Fassung“). Um die geänderte Rechtslage zu berücksichtigen, habe ich die in dem vorliegenden, auf meiner Dissertation beruhenden Buch zitierten Passagen des Tierschutzgesetzes, in denen sich nach der Novellierung entweder abweichende Formulierungen im Gesetzestext ergeben haben, und/ oder in denen die jeweiligen Inhalte nun anderen Paragraphen zugeordnet sind, entsprechend gekennzeichnet und ggf. den zum Tierschutzgesetz alter Fassung abweichenden Wortlaut der neuen Fassung hinzugefügt. Dasselbe gilt für die aus dem Tierschutzgesetz entnommenen und in die ebenfalls 2013 in Kraft getretene Tierschutz-Versuchstierverordnung eingefügten Inhalte. An Stellen, wo das Tierschutzgesetz alter Fassung mit dem Tierschutzgesetz neuer Fassung übereinstimmt, habe ich keine Änderung am zitierten Text vorgenommen. <?page no="17"?> Vorwort Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine aktualisierte Fassung meiner Dissertation aus dem Jahre 2010. Die Überarbeitung erfolgte, um die geänderte Gesetzeslage zu berücksichtigen (s. hierzu Kapitel „Rechtsrahmen“). Daher wurden zusätzlich bei einigen Aspekten (u.a. Obergrenze der Belastung, rückblickende Bewertung, sinnesphysiologische Entwicklungshöhe) Ergänzungen angefügt. Die diesem Buch zugrunde liegende, im Jahre 2010 von der damaligen Fakultät für Biologie der Eberhard Karls Universität Tübingen (seit Herbst 2010 Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät) als Promotionsleistung angenommene Dissertation wurde durch ein dreijähriges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Graduiertenkollegs Bioethik am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW, seit Herbst 2009 Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften), Tübingen, gefördert. Ich danke Frau Prof. Dr. Eve-Marie Engels, Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften im Fachbereich Biologie der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen und Sprecherin des damaligen Graduiertenkollegs Bioethik, für ihr großes Engagement bei der Betreuung meiner Dissertation, wertvolle Anregungen, ihre stete Unterstützung und für die Möglichkeit, die Dissertation an ihrem Lehrstuhl anzufertigen. Frau Prof. Dr. Engels gilt mein größter Dank. Des Weiteren spreche ich meinen Dank dem viel zu früh und unerwartet im April 2007 verstorbenen Herrn Prof. Dr. Werner J. Schmidt, Abt. Neuropharmakologie, Zoologisches Institut der Universität Tübingen, für die Zweitbetreuung aus. Ich danke ihm für wertvolle Anregungen und sein großes Engagement bei der Betreuung. Frau Prof. Dr. Elisabeth Hildt, Chicago, seinerzeit Philosophisches Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Fakultät für Biologie der Universität Tübingen, danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Meinem Kollegen Herrn Dr. László Kovács, der mir seit Anbeginn meiner Dissertation ebenfalls stets mit seinem wertvollen Rat zur Seite stand, gilt mein besonderer Dank. Mein großer Dank gilt dem wissenschaftlichen Koordinator des IZEW, Herrn Prof. Dr. Thomas Potthast, für wertvolle Anregungen und Unterstützung. Den Koordinatoren des Graduiertenkollegs, Herrn Dr. Olaf J. Schumann und später Herrn Dr. Axel Kühn, danke ich für wertvolle Anregungen und ebenfalls jedwede Unterstützung. Herrn Prof. Dr. Hanspeter A. Mallot, Lehrstuhl für Kognitive Neurowissenschaft und damaliger Dekan der Fakultät für Biologie, danke ich <?page no="18"?> Vorwort 18 sehr für die kritische und konstruktive Durchsicht der Dissertation. Weiterhin danke ich besonders Frau Prof. Dr. Vera Hemleben, Lehrstuhl für Allgemeine Genetik, zugleich stellvertretende Sprecherin des Graduiertenkollegs Bioethik von 2004-2006, und Herrn Prof. Dr. Peter Hausen (†) für ihr stetes Engagement im Kolleg und die wertvollen Anregungen in den Kolloquien. Allen Professorinnen und Professoren des Trägerkreises des Graduiertenkollegs Bioethik danke ich für die Förderung durch das Kolleg. Den Kollegiatinnen und Kollegiaten des Graduiertenkollegs, ebenso wie meinen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften sowie Frau Sigrun Heinze vom Lehrstuhlsekretariat, gilt mein Dank für konstruktive Diskussionen und eine stets freundliche Arbeitsatmosphäre. In den Kolloquien im Kolleg und am Lehrstuhl konnte ich wichtige Anregungen für die Entwicklung meiner Arbeit erhalten. Hervorheben möchte ich meine Kolleginnen Dr. Judith Benz-Schwarzburg, Dr. Arianna Ferrari und Dr. Lilian Marx-Stölting. Meinen Kollegen Dr. Jochen Fehling und Dr. Michael Willam sowie Herrn Jochen Schnauffer danke ich für wertvolle Gespräche; Herrn Nico Schrader danke ich für anregende Diskussionen. Im Jahre 2006 wurde von der Akademie für Tierschutz, Neubiberg, eine Umfrage durchgeführt. Im Rahmen meiner Dissertation war ich an der Ausarbeitung der Fragen beteiligt, da für mich bestimmte Fragestellungen von Relevanz waren. Ich danke Frau Dr. Irmela Ruhdel, Herrn Roman Kolar, stellvertretender Leiter der Akademie, sowie Frau Dr. Ursula G. Sauer für die konstruktive Zusammenarbeit. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Klausurwoche zur Thematik der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen in Berlin im Jahre 2007 sowie der Veranstalterin, Frau Prof. Dr. Dagmar Borchers, Bremen, und dem Veranstalter, Herrn Prof. Dr. Jörg Luy, Berlin, gilt mein Dank für kontroverse Diskussionen und wertvolle Anregungen. Frau Prof. Dr. Silke Schicktanz sowie Herrn Dr. Christoph Maisack danke ich ebenfalls für wertvolle Anregungen. Meiner Familie gebührt tiefer Dank für die Unterstützung und Frau Waltraud Czech (†) für wertvolle Diskussionen. Schließlich danke Frau Prof. Dr. Eve-Marie Engels und Herrn Prof. Dr. Thomas Potthast für die Ermöglichung des Druckkostenzuschusses im Rahmen des Graduiertenkollegs 889 Bioethik. Für einen weiteren Druckkostenzuschuss danke ich Herrn Prof. Dr. Herwig Grimm, Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung des Messerli Forschungsinstituts in Wien. Dieses Buch widme ich meiner Tochter, meinen Eltern und meinen verstorbenen treuen Freunden Waltraud Czech und Andreas Weimer. <?page no="19"?> Einleitung Einleitung Leben ist wertvoll und soll geschützt werden. Diesem ethischen Wertmaßstab würde wohl fast jeder Bürger in Deutschland zustimmen. Doch in manchen Situationen entsteht ein Dilemma: Ein Leben muss für ein anderes geopfert werden. Wie der Mensch mit anderen Lebewesen umgeht, hat vielleicht die höchste moralische Relevanz. Die meisten von uns sind täglich direkt vor diese Frage gestellt, aber es gibt auch Systeme, auf die wir als Bürger weniger direkt oder überhaupt keinen Einfluss mehr haben. Entscheidungen werden unüberschaubar und das führt in vielen Bereichen zu einer Gleichgültigkeit oder auch zu einer übertriebenen Irritation. Beide Extreme sind zu bedauern. Ethische Reflexion ist nun geboten in jedem Bereich, in dem mit Leben umgegangen wird. Ein häufig vorgebrachter Vorwand gegen die Bestrebungen, die Lebensqualität der Labortiere zu verbessern, ist, dass diese Tiere bereits ein viel besseres Leben haben als viele andere Tiere in der Nutztierhaltung. Tiere in der industrialisierten Massentierhaltung würden durch Transporte und Schlachtungen viel mehr Leiden ertragen müssen als Tiere im Labor, deshalb sollten die Bemühungen in jene Richtung gelenkt werden. Ohne Zweifel sind die Schmerzen und das Leid dieser ‘Nutztiere’ manchmal größer als jener im Labor. Dass man in diesem Bereich noch viel zu verbessern hat, steht für mich außer Frage. Aber zugleich müssen wir auch erkennen, dass dramatische Zustände in einem Bereich nicht dazu führen dürfen, dass wir in anderen Bereichen weniger empfindlich werden und über schlimme Belastungen gleichgültig hinwegschauen. Wir sollten nicht nur über entfernte Probleme nachdenken, sondern sehr wohl auch darüber, was in unserer Verantwortung liegt und was wir selbst besser machen könnten. Gerade uns in Deutschland dürfte diese Forderung nicht fremd sein, denn wir haben altruistische und löbliche Förderungsprojekte in der Dritten Welt gegründet - dort, wo die Not am schlimmsten ist, wo Kinder hungern und junge Erwachsene an für uns banalen Krankheiten sterben müssen. Auf unsere Aktionen sind wir zu echt stolz. Aber wir haben dabei nie vergessen, unseren Alten, Kranken und anderen Leidenden in unserem eigenen Land zu helfen, auch wenn sie selbst in ihrer Krankheit deutlich besser gestellt waren, als viele Menschen in armen Regionen von Afrika. Unsere ethischen Verpflichtungen beziehen sich nicht nur auf abstrakte Zustände, die wir nicht im Stande sind zu verändern, sondern vor allem auf Situationen, in denen wir persönlich aktiv werden können. So ist es auch mit Tieren in der Forschung. In mancher Hinsicht hat das Laborschwein eine privilegierte Stellung gegenüber einem Artgenossen, der in Massenställen gehalten wird und zum Schlachten bestimmt ist. Dennoch R <?page no="20"?> Einleitung 20 ist sein Leben nicht frei von unnötigem Leid und Stress. Vom Forscher wird nicht erwartet, dass er sich für die Verbesserung der Haltungsbedingungen in Massenställen einsetzt, aber er muss sich sehr wohl darüber Gedanken machen, wie er die Lebensumstände seiner Versuchstiere gestaltet. Wenn diese Tiere zu seinen Forschungszwecken dienen sollen, verdienen sie auch eine höhere Achtung als bloße Forschungsobjekte. Einst wurde ein anschaulicher Slogan dazu kreiert: „Eine Maus ist kein Reagenzglas“. Leider wurden Versuchstiere lange Zeit als Maschinen betrachtet. Schmerz und Leid waren ihnen abgesprochen, auch wenn dieser Stress zur Verzerrung von Ergebnissen führte. Bei verzerrten Ergebnissen nahm man noch mehr Tiere in den Versuch auf, um die nötige Validität der Ergebnisse zu erreichen. Eine solche Haltung ist heute veraltet und würde von keinem Forscher 1 guten Willens befürwortet. Die Gesamtstandards im Umgang mit Tieren sind besser geworden, außerdem haben sich die ethischen Ansprüche innerhalb der Forschung verändert. In dieser Arbeit sollen aber keine allgemeinen Probleme der Tierexperimente besprochen werden. Ich werde mich auf einen kleinen Ausschnitt der Probleme beschränken - auf die Rolle der Ethik in der Beurteilung von Tierversuchsanträgen. Dazu möchte ich in erster Linie meine Vorschläge formulieren. Es ist nicht meine Absicht, Verbote auszusprechen und Forschern das tägliche Handwerk zu erschweren. Im Gegenteil! Ich nehme vielmehr den Blickwinkel von Seiten des Forschers ein und versuche, dessen Situation zu verbessern, die durch eine in vielerlei Hinsicht offene und auch unvollständige gesetzliche Regelung orientierungslos geworden ist. Forscher treffen Entscheidungen über Tierversuche und dabei sind sie gesetzlich verpflichtet, ihre Entscheidungen ethisch zu begründen - dies in einer Umgebung, die unterschiedliche ethische Positionen vertritt und dadurch mehr zur Verwirrung als zur Klarheit beiträgt. Mit dieser Arbeit will ich aber auch auf der Seite der Genehmigungsbehörden und der diese beratenden Kommissionen stehen, die Tierversuche zu bewerten haben. Ihre Berufung gilt dem Schutz der Tiere vor unnötigen oder unangemessenen Schmerzen, Leiden oder Schäden. Die hohe Arbeitsbelastung der einzelnen Kommissionen und ihrer Mitglieder, die uneinheitliche Herangehensweise von unterschiedlichen Kommissionen (s. „Bestandsaufnahme“ in Kapitel 2.2.4 sowie die Ergebnisse empirischer Untersuchungen in Kapitel 2.5) und der häufig diagnostizierte Mangel an ethischer Qualifikation (vgl. Kapitel 2.4.1, 2.4.2) wirken jedoch als erschwerende Umstände, die selbst bei intensivstem Bemühen der Mitglieder eine Ungleichbehandlung von Antragstellern - dadurch auch eine Ungleichbehandlung von Tieren - und damit 1 Der Einfachheit halber verwende ich in diesem Buch einheitlich die maskuline Form. Es versteht sich von selbst, dass immer auch die feminine Form gemeint ist. <?page no="21"?> Einleitung 21 eine Ungerechtigkeit hervorrufen können. Schließlich will ich auch an der Seite der Tiere stehen, denn diese werden im Versuchsprozess zu Objekten des Erkenntnisgewinns und verlieren u.U. an angemessener Zuwendung und Fürsorge, die ihnen als Lebewesen zustehen und die sie darüber hinaus durch ihre Leistung in der Forschung für uns Menschen verdienen. Es ist mir dabei wichtig, auf Probleme der prospektiven Einschätzung der Belastungen der Tiere einzugehen, also derjenigen Einschätzung, die durchgeführt wird, bevor die Tiere in die Experimente gehen (Kapitel 3.4 sowie 6.2.1.1). Diese Belastungseinschätzung ist von zentraler Bedeutung, da sie als eines der wichtigsten Kriterien in die Güterabwägung zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit eines Versuchsvorhabens eingeht und damit maßgeblich ist für die Entscheidung darüber, ob der in Aussicht gestellte Nutzen die zu erwartenden Belastungen rechtfertigt und damit der Versuchsantrag genehmigt werden kann. Zunächst muss jedoch geklärt werden, was denn genau unter „Belastung“ des Versuchstieres verstanden wird, was wir etwa unter „Schmerzen“, „Leiden“ und „Schäden“ zu verstehen haben (Kapitel 3.4.1, 3.4.2). Ich werde auch die Ergebnisse einer umfassenden Studie vorstellen, die sich mit verschiedenen „Leidensbewertungssystemen“ auseinandergesetzt hat und die entsprechende Empfehlungen gibt (Kapitel 6.2.1.3). „Schmerzen“ kann man als ‘Teilmenge’ von „Leiden“ verstehen. Infolgedessen beschäftigen sich „Belastungskataloge“ mit der Frage danach, wie ‘stark’ die Schmerzen sind bzw. sein werden, denen ein Tier ausgesetzt wird. Ein „Leidensbewertungskatalog“ geht meinem Verständnis nach darüber hinaus und evaluiert noch weitere Faktoren, um zu einer ‘Gesamtbilanz’ zu gelangen. Die Begriffe „Belastungskatalog“ sowie „Leidensbewertungskatalog“ werden jedoch nicht trennscharf verwendet. Auch verwenden und kombinieren verschiedene Kataloge unterschiedliche Kriterien. Mein Fokus sind jedoch „Kriterienkataloge“, mit deren Hilfe man die Frage der ethischen Vertretbarkeit eines Versuchsantrages lösen möchte. Diese Frage beruht im Kern auf einer ‘Güterabwägung’. Stellt man sich zur Abwägung der Güter symbolisch eine Waage vor, so enthält die Güterabwägung zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit auf Seiten des Experiments v.a. den Nutzen und als eines der massgebenden Kriterien auf Seiten der Waagschale der Versuchstiere die Belastung bzw. das Leiden der Tiere. Daher ist es zweckmäßig, die Erkenntnisse und Empfehlungen der Untersuchung der „Leidensbewertungssysteme“ mit zu berücksichtigen. Der Leser mag einwenden, dass ich in der vorliegenden Arbeit nicht explizit die Frage thematisiere, ob es denn ein moralisches Gebot gibt, Tierversuche durchzuführen. Die Verfolgung dieser Frage ist nicht Ziel meiner Arbeit. Vielmehr geht es in dieser Arbeit darum, den Rahmen der vorgeschriebenen Regeln durch Angabe von Kriterien für die Prüfung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen zu konkretisieren und die Be- <?page no="22"?> Einleitung 22 folgung dieser Regeln durch eine Operationalisierung der Reflexions- und Entscheidungsprozesse für alle Beteiligten zu erleichtern. Solche Prozesse sollen transparenter werden, damit sie für den Forscher berechenbar und für die Entscheidungsträger besser kommunizierbar werden. Eine wichtige Ausgangsthese ist, dass explizit die ethische Reflexion im Kontext von Tierversuchen zu wenig von den eigentlichen Entscheidungsträgern geleistet wird / geleistet werden kann. Die Ethik findet im Biologiestudium und ähnlichen Disziplinen zu wenig Beachtung, wenn sie überhaupt in den Lehrplan aufgenommen wird. Es steht mittlerweile außer Frage, dass Forschung in den Lebenswissenschaften eine ethische Dimension hat. Dennoch werden Möglichkeiten zur Weiterbildung von Forschern in diesen Bereichen sehr selten angeboten und selten wahrgenommen - besonders dann, wenn sie nicht verpflichtend sind. Man scheint eine Regelung durch Gesetze zu erwarten, obwohl es offensichtlich ist, dass Gesetze in Detailfragen der Abwägung und in Dilemmasituationen nur selten effektiv sein können. Die Entscheidungen sind ethisch relevant, ihre Begründung kann aber nicht allein durch das Gesetz erfolgen. Zur methodischen Vorgehensweise gehört, dass ich zunächst die bekanntesten ethischen Positionen kurz zusammenfasse, ihre Kernaussagen benenne. Danach stelle ich, wo es sich anbietet, einen Bezug zwischen diesen ethischen Positionen und dem rechtlichen Rahmen in Deutschland her, wobei ich auf die einzelnen Gesetze, auf deren theoretische Haltung und deren Wirkung auf die Praxis eingehe. Im dritten Schritt werde ich einige mit dem deutschen System mehr oder weniger kompatible praktische Vorschläge zur Handhabung ethischer Reflexion zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit von beantragten Tierversuchen darstellen und kritisch diskutieren. Das Kapitel 1 behandelt deshalb die Ethik der Tierversuche aus verschiedenen Blickrichtungen. Zunächst setze ich mich mit der Entwicklungsgeschichte der Tierethik aus dem Blickwinkel der Philosophie auseinander (s. Kapitel 1.1) und stelle fest, dass die Stellung der Tiere in der Geschichte immer schon sehr unterschiedlich bewertet wurde, da die herrschenden philosophischen Rahmen zu wenig konkret waren und dadurch einen zu großen Spielraum für die Deutung gelassen haben. Seit Darwin setzt sich zumindest für die wissenschaftliche Bewertung des Mensch-Tier- Verhältnisses ein konkreterer Deutungsrahmen durch und dieser hat Konsequenzen für die ethische Bewertung. Nach dieser Klarstellung gehe ich auf unterschiedliche Begründungsebenen (s. Kapitel 1.2: Höchste moralische Prinzipien, Kasuistik bzw. mittlere Regel) in der Ethik ein und benenne dabei auch die bekanntesten „Zentrismen“ (s. Kapitel 1.2.1 Ethische Grundpositionen: Anthropozentrismus, Pathozentrismus, Biozentrismus und Holismus). Ich stelle jeweils die Gedankenführung der wichtigsten Vertreter der einzelnen Positionen vor (s. Kapitel 1.2.2) und kristallisiere <?page no="23"?> Einleitung 23 ihre Ansprüche gegenüber der Forschung an Tieren heraus. Ich habe nicht den Anspruch, eine ethische Position als die beste auszuweisen, dennoch werden auch Kritikpunkte benannt. Nachdem ich die Kasuistik (s. Kapitel 1.2.3) und die „mittleren moralischen Regeln“ (s. Kapitel 1.2.4) vorgestellt habe, komme ich zur Situation in der alltäglichen Praxis (s. Kapitel 1.3). Als Fazit lässt sich für die Lösung des konkreten Problems der Güterabwägung zur Bestimmung der ethischen Vetrtretbarkeit von einzelnen Tierexperimenten herausarbeiten, dass es eine Postition einer „mittleren Ebene“ gibt, die von Vertretern der unterschiedlichen ethischen Grundpositionen durchaus akzeptiert werden kann. Dies ist auch meine eigene Position. Sie stützt sich auf die vier mittleren Prinzipien. Diese können auch von Antragstellern, die unterschiedliche ethische Positionen vertreten, akzeptiert werden. Unter der Notwendigkeit der praktischen Anwendbarkeit der Kriterienkataloge erscheint mir diese Position auch aus pragmatischen Gründen die plausibelste Lösung zu sein. Im Kapitel 2 stelle ich dann die rechtlichen Grundlagen der Tierversuche in Deutschland dar. Dabei zeige ich, welches Gesetz durch welche ethische Position motiviert war und wie diese Position in der Praxis umgesetzt wird. Zunächst gehe ich - nach einem kurzen Abriss der Entwicklungsgeschichte des rechtlichen Tierschutzes (s. Kapitel 2.1) - auf das novellierte Grundgesetz der Bundesrepublik ein (s. Kapitel 2.2), aus dem eine neue Haltung der Entscheidungsträger abzuleiten ist: Durch die Einfügung des Staatsziels „Tierschutz“ ins Grundgesetz, ist der Schutz der Tiere vor nicht artgemäßer Haltung und vor vermeidbaren Leiden nun ein verfassungsrechtlich geschütztes Gut, das gegenüber Grundrechten wie der Freiheit der Forschung prinzipiellen Gleichrang besitzt (s. Kapitel 2.2). 2 Es ist für Tierversuche eine neue Legitimationssituation entstanden. Tierversuche benötigen neben der Berufung auf die Freiheit der Forschung eine zusätzliche Legitimationsgrundlage. Im deutschen Tierschutzgesetz (TierSchG) wird benannt, dass Tiere ohne vernünftigen Grund nicht getötet oder geschädigt werden dürfen (§ 1 Satz 2 TierSchG s. Kapitel 2.4). Der vernünftige Grund wäre also ein angemessener Nutzen für die Gesellschaft, der aus dem Tierversuch mit einiger Sicherheit zu erwarten ist. 3 Im Genehmigungsverfahren für Tierversuchsvorhaben macht die Anwendung des Tierschutzgesetzes die Abwägung des Nutzens gegenüber den Belastungen der Versuchstiere notwendig: Die Belastungen der Versuchstiere müssen im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sein (§ 7 Abs. 3 2 Welchem der beiden Güter in Konfliktsituationen der Vorrang einzuräumen ist, hängt von einer an den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ausgerichteten Güter- und Interessenabwägung ab. 3 Was ein vernünftiger Grund im konkreten Fall ist, ist ebenfalls aufgrund einer an den Umständen des Einzelfalles ausgerichteten Güter- und Interessenabwägung zu entscheiden. <?page no="24"?> Einleitung 24 TierSchG alte Fassung bzw. jetzt § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung). Es ist eine Güterabwägung erforderlich, für die aber gerade die Adressaten des Gesetzes im Gesetzestext selbst sowie der präzisierenden Verwaltungsvorschrift keine detaillierte Hilfestellung vorfinden (s. Kapitel 2.4.1 und 2.4.2). Das geht auch aus mehreren empirischen Analysen der Praxis hervor (s. Kapitel 2.5). Es zeigt sich ein dringender Bedarf an Klärung und Operationalisierung, dies benenne ich im Kapitel 3, in dem ich zeige, dass es durchaus Hilfestellungen in der Literatur gibt. Es ist mir wichtig bereits an dieser Stelle zu betonen, dass ich eine Unterscheidung treffe zwischen a) den ethisch-moralischen Intuitionen/ Einstellungen von Forschern 4 und b) der Ethik als wissenschaftlicher Disziplin. Niemand spricht dem Forscher ein ethisch-moralisches Empfinden und Urteilsvermögen (a) ab. Im Gegenteil: Idealerweise sollte ein Studium einer Disziplin, die an die Grenzen dessen führen kann, was eine Gesellschaft als Ganzes - bzw. eine Wissenschafts-Gemeinschaft („scientific community“) als Teil einer Gesellschaft - für (noch) vertretbar hält, 5 das Problembewusstsein gerade bezüglich dieser „Grenzen“ schärfen und damit das Verantwortungsbewusstsein des Handelnden stets in einem Höchstmaß fördern. Wie jedoch viele Lehrende, die sich mit der Hochschuldidaktik beschäftigen, aus meiner Sicht zu Recht bemängeln, kommt in der Ausbildung der (Natur-) Wissenschaftler die Schulung der Fachdisziplin Ethik leider oft zu kurz bzw. wird an manchen Hochschulstandorten überhaupt (noch) nicht angeboten. Wie fruchtbar und gewinnbringend die Auseinandersetzung mit Ethik für Studierende der Naturwissenschaften bzw. der Medizin (sofern man die Medizin begrifflich nicht unter die Naturwissenschaften subsummieren möchte) sein kann, zeigt sich an Hochschulstandorten, denen es gelingt, die Disziplinen ‘interdisziplinär’ unter einem Dach zu vereinen und entsprechende Lehrangebote für Studierende zu implementieren, wie dies beispielsweise in Tübingen mit langer Tradition und aus meiner Sicht mustergültig realisiert wird. Das umfassende Kapitel 4 beschäftigt sich mit einzelnen Modellen, die zur Operationalisierung der ethischen Bewertung der Tierversuche erarbeitet worden sind. Solche „Kriterienkataloge“ 6 werden aber in der Praxis nur 4 Gleiches gilt selbstverständlich auch für die Mitarbeiter in der Genehmigsungsbehörde sowie die Mitglieder der beratenden Kommissionen, die den Behörden zur Seite gestellt werden. 5 Solche Grenzen können sein: Der Beginn oder das Ende des menschlichen Lebens; die Frage des Einsatzes und der Begrenzung lebensverlängernder intensivmedizinischer Maßnahmen; die Frage danach, ob Lebewesen geklont werden dürfen; wie auch die Frage danach, welche Tierexperimente bis zu welchem Belastungsausmaß als vertretbar erachtet werden. 6 Noch einmal der Klarheit wegen: Ich verwende den Begriff „Kriterienkatalog“ stellvertretend für ein System, mit dem man anhand verschiedener zu evaluierender <?page no="25"?> Einleitung 25 vereinzelt eingesetzt - sie sind schon gar nicht verpflichtend, zumindest nicht in der Bundesrepublik. Mein Plädoyer ist, dass solche Kataloge verwendet werden sollten, um die Vergleichbarkeit der Bewertung der Tierexperimente, die Transparenz und die Gerechtigkeit zu gewährleisten. Dabei stellt sich heraus, dass manche vorgeschlagenen Modelle nicht alle relevanten Aspekte berücksichtigen und einer Verbesserung bedürfen. Auch zeigt sich, dass es ethische Kriterien gibt, die in allen untersuchten Katalogen Verwendung finden, dies zeige ich im Kapitel 5, in dem die Kataloge verglichen und im Kapitel 6, wo sie diskutiert werden. Im Kapitel 7 werde ich im Anschluss an mein Fazit Entwicklungen der Kataloge aufzeigen und auf ethische Leitlinien eingehen. Anschließend werde ich benennen, welche Anforderungen ein „idealer“ Katalog erfüllen sollte und welche Kriterien er unbedingt enthalten sollte (s. Kapitel 7.8.1). Hierbei werde ich die deutsche Gesetzeslage durchaus im Auge behalten. Ich hoffe, dass ich praxisnah argumentieren kann und dass meine Vorschläge Anwendung in Behörden und ’Tierversuchskommissionen’ finden und auch den Forscher selbst motivieren können, einen geeigneten Kriterienkatalog zu verwenden und die Prüfung der ethischen Vertretbarkeit seiner Tierversuchsvorhaben so gewissenhaft und umfangreich als irgend möglich durchzuführen. Kriterien zu einer möglichst ‘objektiven’ Güterabwägung gelangt, deren Ergebnis eine Aussage über die ethische Vertretbarkeit und damit die Genehmigungsfähigkeit eines Tierversuchsvorhabens ermöglicht. Davon abzugrenzen ist der Begriff „Belastungskatalog“. Letztgenannter soll helfen, den Schweregrad der Belastung(en) der Versuchstiere zu bestimmen. Dieser „Schweregrad“ ist dann einer der Kriterien, die in dem „Kriterienkatalog“ zusammen mit weiteren Kriterien gegen wiederum andere Kriterien in einer Güterabwägung abgewogen werden. <?page no="27"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 1.1 Tierethik 7 in der Philosophiegeschichte Die moralische Relevanz des Umgangs mit Tieren ist keine neue Erfindung der postmodernen Zeit. Menschen haben sich immer schon Gedanken darüber gemacht, welches Verhältnis sie zu den Tieren haben, wie sie Tiere behandeln sollen und welche Handlungen an Tieren ethisch akzeptabel sind. Lange Zeit mangelte es an wissenschaftlich vertrauenswürdigen Erkenntnissen, die als feste Grundlage des Mensch-Tier-Verhältnisses hätten dienen können. So lässt sich im Rückblick auf die Geschichte des Tierschutzes feststellen, dass Menschen auch innerhalb einer philosophischen Epoche unterschiedliche Meinungen dazu entwickelt haben. Die ersten Beispiele haben wir bereits in der griechischen Antike. Aristoteles (384-322 v. Chr.) hat sich die Tiere als Geschöpfe vorgestellt, die dem Menschen unterlegen sind und deshalb von ihm gebraucht werden können. Er vertrat die Ansicht, dass jedes Lebewesen einen Leib und eine Seele besitzt. Die Seele soll aber über den Leib herrschen und dies ist bei Menschen am weitesten entfaltet. Der Mensch verfügt über Vernunft und kann auf diese Weise einerseits seinen eigenen Leib und seine Begierden führen, wie auch den Leib anderer Wesen z.B. der Tiere beherrschen. Für den Leib ist es nützlich vom vernunftbegabten Seelenteil beherrscht zu werden und es ist schädlicher, wenn der Leib die Seele beherrscht, d.h. Tiere sind zu unserem Gebrauch bestimmt (Aristoteles in Clarke und Linzey 2002, S. 88-90, hier S. 88). In der späteren griechischen Antike findet Plutarch (* um 45, gest. um 125) jedoch einen anderen Zugang zu den Tieren, nämlich den über das Mitleid. Er leitet aus der Empfindungsfähigkeit der Tiere ab, dass es nicht 7 Begriffsbestimmung: „Tierethik heißt jene Bereichsethik, die auf die dem menschlichen Handeln am Tier zugrunde liegenden moralischen Prinzipien und Normen reflektiert.“ (Baranzke 2002a, S. 282). „Überzeugungen sind oft gefährliche Feinde der Wahrheit.“ (Friedrich Nietzsche) <?page no="28"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 28 gut ist, sie zu töten, leiden zu lassen, sie von ihren Jungen zu trennen, etc. Auf dieser Grundlage plädiert er für eine vegetarische Lebensweise (Badura 2000, S. 20f.). Aristoteles behauptet zwar, dass die Mehrheit der Menschen von Nutzpflanzen lebt und nur die faulsten „nähren sich von den Haustieren, ohne arbeiten zu müssen“, er begründet dieses Urteil aber nicht mit dem Verlangen nach Tierschutz, sondern mit einer anderen Tugendhaftigkeit des Menschen (Aristoteles in Clarke und Linzey 2002, S. 89f.). Das Mittelalter hat diese beiden Positionen aufgenommen und in das eigene Weltbild integriert. So hat Thomas von Aquin (1225-1274) von der freien Nutzung und der uneingeschränkten Herrschaft über die vernunftunbegabten Wesen (wie Tiere) gesprochen, denn sie werden „durch die natürliche Ordnung zum Gebrauch des Menschen geordnet, weswegen der Mensch sie ohne Unrecht gebraucht, sei es, indem er sie tötet, sei es auf irgendeine andere Weise“ (Thomas von Aquin in Clarke und Linzey 2002, S. 33-39, hier S. 36). Fast zeitgleich spricht sich jedoch Franziskus von Assisi (1181/ 82-1226) für die Einladung der Tiere in die göttliche Gnade aus. In der frühesten Lebensbeschreibung von Thomas von Celano wird berichtet, dass Franziskus die Tiere zum Weihnachtsgottesdienst bringen ließ und danach „in der umliegenden Gegend viele Tiere, die verschiedene Krankheiten hatten, von diesen befreit wurden“ (Celano 1229). Die Idee, dass nur der Mensch über Vernunft verfügt, gab es also bereits in der Antike. In der Philosophie der Neuzeit, in der Tiere weiterhin als nicht vernunftbegabt galten, wurden sie vor allem nach René Descartes (1596-1650) als Körper-Automaten behandelt (Descartes in Clarke und Linzey 2002, S. 41-44, hier S. 43). Auch Jean-Jaques Rousseau (1712-1788), einer der wichtigsten geistigen Wegbereiter der französischen Revolution, formuliert eine ähnliche Einstellung, wenn er sagt, dass er in jedem Tier nichts weiter als eine künstliche Maschine sieht. „In der menschlichen Maschine erkenne ich genau dasselbe. Es gibt nur einen Unterschied: Bei den Verrichtungen der Tiere bewirkt die Natur alles, während der Mensch als frei handelndes Wesen von sich aus vieles dazu beiträgt. Jene wählen und verwerfen aus bloßem Instinkt, dieser aus Freiheit“ (Rousseau in Clarke und Linzey 2002, S. 62-64, hier S. 62). Auch wenn diese Ansicht intuitiv so unplausibel klingt, gab es neuzeitliche Denker, die bestritten haben, dass auch Tiere Schmerzen empfinden können (Irrgang 2000, S. 561). Aber auch zu dieser Zeit gab es bedeutende Denker, die sich mit den Fähigkeiten der Tiere eingehender beschäftigen und zu anderen Schlüssen kamen. John Locke (1632-1704) sieht zwischen Tieren und Menschen einen eher nur graduellen Unterschied. Tiere können nur unvollkommen vergleichen, aber wir können ihnen ein gewisses Maß an Vernunft nicht abstreiten. „Tiere abstrahieren nicht, sind aber dennoch keine bloßen Maschinen“ (Locke in Clarke und Linzey 2002, S. 49-54, hier <?page no="29"?> 1.1 Tierethik in der Philosophiegeschichte 29 S. 51-53). Den unwürdigen Umgang mit Tieren, Tierquälerei, Jagdsport, Bärenhatz und Hahnenkämpfe prangert zur selben Zeit auch Alexander Pope (1688-1744) mit schweren Worten an (Pope in Clarke und Linzey 2002, S. 105-111, hier S. 105f.). Immanuel Kant (1724-1804), der wohl bekannteste deutsche Philosoph der Aufklärung, setzt sich mit Tierethik eher nur implizit auseinander, aber in seiner Tugendlehre und seiner Vorlesung über Ethik (ca. 1775-1785) nimmt er auch Bezug auf den Umgang mit Tieren. Auch wenn Tiere, die als Eigentum der Menschen bezeichnet werden können, für sich selbst keinen besonderen Schutz verdienen würden, dürfen sie nach Kant nicht beliebig behandelt werden (Kant 1956, S. 578f.). In all den vorgestellten Epochen wurde der Umgang mit Tieren auf keine philosophisch einheitliche Basis gestellt. Sowohl der Anspruch auf Schutz der Tiere als auch die Begründung des Tierschutzes gingen bei einzelnen Philosophen auseinander und hatten keinen wissenschaftlich stabilen Bezugspunkt. Die Art der Seele, die den Tieren zugesprochen werden konnte, wurde intuitiv unterschiedlich gewertet, genauso die Vernunftfähigkeit der Tiere oder ihre Schutzwürdigkeit in der göttlichen Weltordnung - je nach philosophischer Haltung. Ein argumentativer Durchbruch in der Möglichkeit einer anderen Sichtweise auf das Tier entsteht durch die Arbeiten von Charles Darwin (1809-1882). In der Evolutionstheorie wird das Verständnis des graduellen Unterschiedes zwischen Mensch und Tier begründet und - nimmt man die Evolutionstheorie ernst - folgt aus ihr auch eine scharfe Distanzierung zum Tier-Bild der Neuzeit. Darwin geht zunächst im ersten und zweiten Teil in der Abstammung des Menschen detailliert auf morphologische Ähnlichkeiten der Tiere mit dem Menschen ein und kommt zum Schluss, dass die Ähnlichkeiten so vielfältig sind, dass sie sich am besten durch eine biologische Verwandtschaft erklären lassen. „[Des Menschen] Körper ist nach demselben homologen Plane gebaut wie der anderer Säugethiere. Er durchläuft dieselben Zustände embryonaler Entwicklung. Er behält viele rudimentäre und nutzlose Bildungen bei, welche ohne Zweifel einstmals eine Function verrichteten. Gelegentlich erscheinen Merkmale wieder bei ihm, welche, wie wir allen Grund zu glauben haben, im Besitze seiner frühen Urerzeuger waren. Wäre der Ursprung des Menschen von dem aller übrigen Thiere völlig verschieden gewesen, so wären diese verschiedenen Erscheinungen bloße nichtssagende Täuschungen; eine solche Annahme ist indessen unglaublich.“ (Darwin 1966, S. 162). Die biologische Verwandtschaft war zwar eine neue Sichtweise der Tatsachen, aber dass körperliche Ähnlichkeiten nachzuweisen sind, durfte für die Denker der Neuzeit nicht revolutionär klingen. Sie hätten auch behauptet, dass der Körper des Menschen nur eine Maschine ist, wie jeder andere <?page no="30"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 30 Körper. Nun geht Darwin aber auch in dieser Hinsicht weiter. Er zeigt auch anschaulich, dass die so genannten geistigen Eigenschaften des Menschen, die ihn von den Tieren grundsätzlich unterscheiden sollten, wie Verstand und Gefühle, von den geistigen Eigenschaften der Tiere nicht genuin verschieden sind. „Geistige Kräfte können von dem Naturforscher nicht verglichen oder classificiert werden; er kann aber zu zeigen versuchen, wie ich es gethan habe, daß die geistigen Fähigkeiten des Menschen und der niederen Thiere nicht der Art nach, wenn schon ungeheuer dem Grade nach von einander abweichen. Eine Verschiedenheit des Grades, so groß sie auch sein mag, berechtig uns nicht dazu, den Menschen in ein besonderes Reich zu stellen […].“ (Darwin 1966, S. 163). Darwin hat also den postulierten Sonderstatus des Menschen durch empirische Tatsachen bezweifelt. Man kann es nicht anders erwarten, als dass der Anspruch auf eine solche Veränderung des Verhältnisses der Tiere zu den Menschen zunächst auf Kritik stößt, denn sie verlangt nach der Veränderung des etablierten Umgangs mit Tieren, folglich nach der Veränderung der alltäglichen moralischen Praxis. Wir wissen aber aus der Wissenschaftstheorie, dass sogar Naturwissenschaften, die den Anspruch erheben, nachweisbare und überprüfte Erkenntnisse als richtig anzunehmen, eine längere Zeit bis zur vollständigen Etablierung neuer Sichtweisen brauchen (vgl. Kuhn 1997). Es ist also nicht verwunderlich, wenn sich solche Erkenntnisse auch in der öffentlichen Bewertung der Tiere und im Umgang mit ihnen nur sehr langsam durchsetzen. Eve-Marie Engels betont die „wichtige aufklärerische Funktion“ von Darwin, indem er uns vor Augen führt, dass bei vielen Menschen „durch die tief im Bewusstsein verwurzelte Annahme einer Kluft zwischen Tier und Mensch [...] ein Bewußtsein für den Reichtum und das breite Spektrum kognitiver Fähigkeiten und Leistungen bei nichtmenschlichen Tieren“ fehlt (Engels 2007, S. 146f.). Engels erklärt, mit einer Unterscheidung zwischen Grad und Wesen bestimmter Fähigkeiten können auch Wertannahmen über Mensch und Tier verbunden sein: „Wer von einem nur graduellen Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgeht, hebt die qualitative Nähe des Menschen zum Tier hervor. Wer dagegen von einem wesentlichen Unterschied beider ausgeht, betont die qualitativen Differenzen oder beansprucht gar eine qualitative Kluft.“ (ebd, S. 147). Fragen dieser Art stünden besonders dort im Mittelpunkt, wo in Konfliktsituationen - wie beispielsweise bei Tierversuchen - Güterabwägungen zwischen der Berücksichtigung der Interessen und des Wohls von Tieren und derjenigen von Mensch zu treffen seien. Darwin erhebe nicht den Anspruch, dass seine Theorie für die Ethik von unmittelbarer normativer Relevanz sei. Dennoch könne man sich die <?page no="31"?> 1.1 Tierethik in der Philosophiegeschichte 31 Frage stellen, „ob im Lichte der Evolutionstheorie nicht eine Erweiterung des kategorialen und normativen Rahmens der Ethik naheliegt oder gar geboten“ sei (ebd., S. 204). Dies sei u.a. davon abhängig, welche Bedeutung man der Erkenntnis über die menschliche Natur generell für die Ethik beimesse. „Eine Ethik, die [... dieser] einen hohen Stellenwert einräumt, hat ihre Kategorien sowie ihre Werte, Prinzipien und Normen laufend im Lichte neuerer wissenschaftlicher Ergebnisse zu reflektieren und gegebenenfalls zu modifizieren und zu erweitern. Zu diesen Ergebnissen gehören auch die Evolutionstheorie, die Ethologie und die evolutionäre Anthropologie.“ (ebd., S. 204f.). Die Menschenwürde lasse sich nicht für andere Arten in Anspruch nehmen. Für Engels stellt sich jedoch die Frage, „ob diese nicht auch über eine jeweils artspezifische Würde verfügen.“ Was den Menschen mit anderen Lebewesen verbinde, sei das Prinzip des Lebendigen. Aus der verwandtschaftlichen Beziehung des Menschen mit den übrigen Lebewesen, lasse sich für Engels möglicherweise eine „neue und anders fundierte Solidarität mit der übrigen Natur ableiten.“ (ebd., S. 205f.). Der Tierschutzgedanke führte bereits vor Darwins berühmtem Werk im 19. Jahrhundert zu institutionalisierten Formen der Tierrechtsbewegung. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Vivisektion und Vegetarismus öffentliche Themen. Eine wichtige Persönlichkeit in Deutschland war der in Tübingen geborene evangelische Pfarrer und Tierschutzpionier Christian Adam Dann (1758-1837). Dann verfasste aus seiner Empörung gegen Tierquälerei im Jahre 1822 die Schrift: „Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen“ (Dann 2002a). Eine weitere Schrift erschien 11 Jahre später (Dann 2002b). Dann berief sich darauf, dass der Tierschutz eine biblische Forderung sei und begründete dies mit der Bibelstelle „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig“ (Buch der Sprüche, Kap. 12, Vers 10). Bzgl. Tierversuchen forderte Dann, darauf zu verzichten, wenn die entsprechenden Untersuchungen auch an menschlichen Leichen möglich wären. Der ebenfalls in Tübingen geborenen evangelische Pfarrer Albert Knapp (1798-1864), ein Freund Danns, wurde von dessen Schriften so sehr beeinflusst, dass er elf Monate nach Danns Tod im Jahre 1837 den ersten Tierschutzverein Deutschlands gründete. Der deutsche Philosoph Leonard Nelson (1882-1927) vertrat in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Auffassung, dass Tiere moralische Rechte besitzen. Sie seien als „Träger von Interessen“ in dieser Eigenschaft zu respektieren (Nelson 1924, S. 286 ff.). Diese Tierrechte schließen <?page no="32"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 32 insbesondere ein „Recht auf Leben“ ein. Die Menschenpflicht zur Lebenserhaltung bestünde also im Tötungsverbot (Nelson 1932, S. 168). In aktuellen Tierethik-Debatten finden sich eine Reihe von unterschiedlichen Begründungsarten und Theorien, die zunächst Verwirrung und bei manchen vielleicht Orientierungslosigkeit hervorrufen. Um eine Orientierung in diesen Debatten zu ermöglichen und eine solide Grundlage für die Bewertung des Umgangs mit Tieren zu schaffen, soll nachfolgend kurz auf die wichtigsten tierethischen Positionen eingegangen werden. 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte Tierethik bewegt unterschiedliche Gruppierungen in der Gesellschaft. Je nach Zugang zum Thema versuchen diese ihre Ansichten zu begründen. Die Art der Begründung des Tierschutzes ist jedoch aus ethischer Sicht sehr relevant, denn selbst streng kohärente Systeme der Argumentation können zu unterschiedlichen Schutzansprüchen führen. Mit diesem Problem setzen sich zahlreiche Ethiker auseinander. Hier sollen der ethischen Herangehensweise nach unterschiedliche Arten der Begründung vorgestellt werden, die gemeinsam als Grundlage der Bewertung von Tierversuchen dienen werden. In der Begründung der Forderungen bezüglich des Umgangs mit Tieren in der Forschung sollen unterschiedliche und möglichst viele ethische Positionen zur Geltung kommen. Die folgende Einteilung von ethischen Positionen richtet sich zunächst nach der Ebene der Begründung. Viele Positionen versuchen, Prinzipien als allgemeine Handlungsregeln auf der rationalen Ebene zu begründen. Dazu gehören die im Folgenden (Abschnitt 1.2.1) vorgestellten „Zentrismen“, die jeweils andere Objekte zum Gegenstand direkter moralischer Rücksichtnahme erklären und sich damit vor allem in der Definition der moralischen Gemeinschaft voneinander unterscheiden, nämlich in der Frage, welche Wesen um ihrer selbst Willen schützenswert sind. Wichtige Vertreter verschiedener Positionen sollen anschließend im Abschnitt 1.2.2 vorgestellt werden. Die kasuistische Argumentation, die jeden Fall einzeln betrachten möchte, stelle ich in Abschnitt 1.2.3 vor. Manche Ethiker versuchen, Prinzipien auf der mittleren Ebene zwischen grundlegenden ethischen Positionen und den Einzelfällen zu identifizieren. Darauf gehe ich im Abschnitt 1.2.4 ein. <?page no="33"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 33 1.2.1 Ethische Grundpositionen Der „moralische Zirkel“ Martin Gorke stellt eine Einteilung der ethischen Argumentationstypen nach dem „Umfang der Rücksichtnahme“ vor, „die der natürlichen Mitwelt entgegengebracht werden soll.“ (Gorke 2000, S. 84). In seinem „moralischen Zirkel“ (vgl. Abbildung bei Gorke 2000, S. 86, s. nachf. Abb. 1) unterscheidet er zwischen den Positionen der Anthropozentrik, Pathozentrik, Biozentrik und Physiozentrik oder auch des Holismus. Diese Positionen unterscheiden sich danach, wer oder was jeweils als Gegenstand einer direkten moralischen Berücksichtigung anerkannt wird, oder anders ausgedrückt, welche Entitäten nach Ansicht ihrer Vertreter einen Eigenwert haben und damit um ihrer selbst willen schützenswert sind statt nur als Mittel für die Zwecke anderer betrachtet zu werden. In der Anthropozentrik ist dies der Mensch, in der Pathozentrik sind es alle empfindungsfähigen Lebewesen, in der Biozentrik ist es die gesamte belebte Natur, also alle Lebewesen einschließlich der Pflanzen, und im Physiozentrismus oder Holismus ist es auch die unbelebte Natur sowie überindividuelle „Systemganzheiten wie Arten, Ökosysteme und die Biospäre als Ganze“ (Gorke 2000, S. 85). Zu diesen vier Kategorien sind die meisten Teilnehmer der Tierethikdebatte zuzuordnen. Eine Erweiterung des Kreises der moralisch relevanten Entitäten ist nicht denkbar, da im Holismus bereits alle Entitäten berücksichtigt werden. Theoretisch wäre hingegen eine weitere Einschränkung des kleinsten Kreises möglich. Leider gab es in der Geschichte der Menschheit dafür Beispiele (z.B. Rassismus), die Analyse dieser Positionen wäre aber aus der Sicht der Tierethik irrelevant. <?page no="34"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 34 Abb. 1: Grundtypen der Ökologischen Ethik und die Bereiche direkter menschlicher Verantwortung (nach Gorke 2000, S. 86). Es sind diejenigen Naturobjekte, denen ein Eigenwert zugeschrieben wird, angegeben. 8 Darunter (in kleiner Schriftgröße) stehen die Kriterien, die in der jeweiligen Theorie für die moralische Berücksichtigungsfähigkeit angeführt werden. 8 Anm.: Was ich in der Abbildung mit „auch Unbelebtes“ bezeichnet habe, benennt Gorke im Originalschaubild genauer als „Unbelebtes und überorganismische Ganzheiten (z.B. Ökosysteme, Bergketten)“. Menschsein Leidensfähigkeit Leben Existenz Personalität <?page no="35"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 35 1.2.1.1 Anthropozentrik Kriterien für die moralische Relevanz und die Schutzwürdigkeit sind bei anthropozentrischen 9 Positionen das Menschsein, die Personalität, die Vernunftfähigkeit und damit die Moralfähigkeit, über die nur der Mensch verfüge. Nach diesen Kriterien soll nur der Mensch einen Eigenwert haben. Er und seine Interessen stehen im Mittelpunkt der ethischen Überlegungen. Daraus folgt nicht, dass alle anderen Wesen ohne moralische Konsequenzen frei verfügbar wären. Ihnen wird lediglich eine indirekte moralische Berücksichtigung zugestanden. Der Schutz der Tiere sowie auch der Naturschutz werden in dem Maße verlangt, in dem sie menschlichen Interessen dienen. Wichtige Vertreter sind Immanuel Kant mit seiner These der indirekten Pflichten gegenüber Tieren, sowie Jürgen Habermas mit seiner Diskursethik. 1.2.1.2 Pathozentrik Der Pathozentrik liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Leiden immer und grundsätzlich etwas Negatives ist. Es gilt deshalb als moralisch verwerflich, Leiden zu verursachen und die Verhinderung von Leiden verdient moralische Anerkennung. Aus diesem Grunde sollen alle leidensfähigen Lebewesen geschützt werden. Das Kriterium für die Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft wird in der Pathozentrik in der Leidensfähigkeit gesehen. Lebewesen, die Leid verspüren können, sollen um ihrer selbst Willen geschützt werden. Wichtige Vertreter dieser Argumentation sind Peter Singer sowie Ursula Wolf. 1.2.1.3 Biozentrik Im Biozentrismus wird im Gegensatz zu den beiden oben vorgestellten Positionen davon ausgegangen, dass Leben an sich etwas Wertvolles ist und deshalb Schutz verdient. Mehr noch: Es wird in jedem Lebewesen ein innerer Drang nach Leben erkannt. Es ist ein Subjekt von einem Lebenszweck und damit um seiner selbst willen da. In der Biozentrik ist deshalb die Tötung von Lebewesen unabhängig von ihrer Organisationshöhe und 9 Der Begriff „anthropozentrisch“ leitet sich aus den griechischen Wörtern „anthrôpos”, der Mensch und “kentron”, der Mittelpunkt ab. Die Unterscheidung der Begriffe „Anthropozentrismus“ und „Anthropozentrik“ ergibt sich durch das Anfügen des Suffix “-ik”, wodurch der Bezug auf die moralische Begründung dargestellt wird. Von „Anthropozentrismus“ spricht man, wenn man sich auf den Gegenstandsbereich des moralischen Schutzes bezieht. Pathozentrik (pathos = Leid) ist dementsprechend eine ethische Position mit dem Fokus auf die Leidensfähigkeit, Biozentrik (bios = Leben) stellt das Kriterium des Lebendig-Seins in die Mitte der moralischen Überlegungen. Für den Holisten ist alles, was es gibt, moralisch relevant. <?page no="36"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 36 Leidensfähigkeit grundsätzlich aus ethischen Gründen abzulehnen. Jedes Lebewesen verdient eine moralische Berücksichtigung um seiner selbst willen, d.h. die moralische Gemeinschaft stimmt hier folglich mit der Gesamtheit der Lebewesen überein und das Kriterium der Schutzwürdigkeit ist allein das „Lebendig-Sein“. Der bekannteste Vertreter der Biozentrik ist Albert Schweitzer. 1.2.1.4 Holismus Der holistische Ansatz dehnt die Schutzwürdigkeit auf die unbelebte Natur aus und definiert dadurch die Natur als Objekt direkter menschlicher Verantwortung. Natur soll nicht nur geschützt werden, weil sie menschlichen Zwecken dient, sondern sie ist für sich so wertvoll, dass sie einen Schutz um ihrer selbst willen verdient. Die holistische Argumentation bietet vor allem im Bereich Umweltschutz eine angemessene Struktur, unterschiedliche Werte gegeneinander abzuwägen. In der Tierethik folgt aus dem Holismus eher Verwischung der Grenzen und eine Unschärfe der Kriterienbildung. Deshalb werden holistische Argumente in der Tierethik eher selten gebraucht. Als Vertreter des Holismus wird hier Martin Gorke vorgestellt. Um die einzelnen Positionen, ihre Begründungsstruktur und ihren Schutzanspruch klar zu stellen, sollen nun einzelne Vertreter in der Tierethikdebatte mit Blick auf ihre Position bezüglich Tierexperimenten vorgestellt werden. Im Anschluss an die Darstellung der einzelnen Positionen sollen aus diesen Positionen gemeinsame ethische Ansprüche an Tierversuche ermittelt werden, damit aus ihnen praktische Schlüsse für den Umgang mit Tieren in Experimenten gezogen werden können. 1.2.2 Wichtige Positionen und ihre prominentesten Vertreter 1.2.2.1 Anthropozentrismus nach Kant Vor allem im deutschen Sprachraum nimmt Kants Ethik einen zentralen Stellenwert ein. Das macht eine Auseinandersetzung mit seiner Position auch im Kontext der Tierethik erforderlich. Obwohl Kant ein Philosoph der Aufklärung war und sich vor der Darwinschen Revolution wesentlich auf den vernunftbegabten Menschen konzentriert hat, kann seine Ethik durchaus auf tierethische Fragestellungen angewendet werden. 10 Der entscheidende Ausgangspunkt von Kants Ethik und damit auch seiner Überlegungen zur Natur- und Tierethik ist die Vernunftfähigkeit des Menschen. Der Mensch ist nicht nur ein Naturwesen, das naturgesetzlichen 10 Die Kant-Rezeption ist in Bezug auf die Tierethik so vielfältig, dass hier auf die systematische Darstellung späterer Auslegungen verzichtet wird. <?page no="37"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 37 Kausalzusammenhängen unterworfen ist, sondern auch ein Vernunftwesen. Durch seine Vernunft kann sich der Mensch „in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge“ versetzen als diejenige, die durch die Naturgesetze bestimmt ist. Als Vernunftwesen verfügt der Mensch nach Kant nämlich über die Idee der Freiheit und den Willen als das Vermögen, sich im Urteilen und Handeln an moralischen Gesetzen zu orientieren, „der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen.“ (Kant 1999, S. 52 [427]). Diese Gesetze sind somit keine dem Menschen von außen oktroyierten Handlungsvorschriften, sondern vielmehr moralische Gesetze, deren Notwendigkeit er kraft seiner Vernunft einsieht. In diesem Sinne handelt der Mensch „aus Pflicht“, nicht nur „pflichtmäßig“ (ebd., S. 15f. [397]). Kant kennzeichnet den Willen als „ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.“ In diesem Sinne ist der Wille „nichts anderes als praktische Vernunft.“ (ebd., S. 35 [412]). Entscheidend für den moralischen Wert einer Handlung sind nach Kant nicht die Konsequenzen einer Handlung, sondern das „Prinzip des Wollens“, nach dem sie ausgeführt wird. „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ (ebd., S. 18f. [400]). Mit diesem Gesetz meint Kant den kategorischen Imperativ, den er in drei Formulierungen anführt. Für Kants natur- und tierethische Auffassung Weichen stellend ist nun seine Annahme, „die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst.“ Nach Kant ist dies ein „subjektives Prinzip menschlicher Handlungen“, weil sich der Mensch sein eigenes Dasein so vorstellt (ebd., S. 54 [429]). Als Wesen, die mit Vernunft und einem Bewusstsein unserer selbst ausgestattet sind, wehren wir uns dagegen, „bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ betrachtet und behandelt zu werden (ebd., S. 53 [428]). Unserem Selbstverständnis nach haben wir ja nicht nur einen „relativen Wert“, einen „Preis“. Vielmehr verfügen wir über einen „inneren Wert“, den Kant als „Würde“ bezeichnet. Und dies gilt nicht nur für mich selbst, sondern auch für jedes andere Vernunftwesen. Denn auch dieses stellt sich aus demselben Grund wie ich sein eigenes Dasein als Selbstzweck vor. Wenn ich in Bezug auf mich selbst für das Argument vom Selbstzweckcharakter Gültigkeit beanspruche und es als tragfähige Grundlage für eine menschenwürdige Behandlung meiner Person durch andere dienen soll, so muss ich diesen Selbstzweckcharakter auch anderen vernünftigen Wesen zugestehen. Dementsprechend lautet Kants Kategorischer Imperativ in der Fassung des praktischen Imperativs: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (ebd., S. 54f. [429]). Entsprechend der Unterscheidung zwischen Wesen, die Selbstzweck sind, über einen inneren Wert oder auch Würde verfügen und solchen, die einen relativen Wert oder einen Preis haben, differenziert Kant zwischen <?page no="38"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 38 Personen und Sachen. Da das entscheidende Vermögen von Vernunftwesen ihre Moralfähigkeit ist, bestimmt Kant Personen und Sachen auch auf folgende Weise: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“ (Kant 1989, S. 329) und „Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist.“ (ebd., S. 330). Direkte Pflichten hat der Mensch nach Kant nur gegenüber anderen Personen, da diese Vernunftwesen sind, nicht aber gegenüber der übrigen Natur wie Kristallen, Pflanzen und Tieren. Aus diesem Grund wird Kants Ethik auch als anthropozentrisch bezeichnet. Dennoch dürfen wir nach Kant mit der außermenschlichen Natur nicht beliebig nach unserer Willkür verfahren. Die Zerstörung von Kristallen und Pflanzen läuft der „Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider“, weil es das für die Förderung der Moralität wichtige Gefühl schwächt oder gar auslöscht, „etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben“ (ebd., S. 578). Für unsere Zeit folgt aus Kants Position auch, dass z.B. Eigenschaften der Natur, die als Lebensbedingungen gelten, im Hinblick auf spätere Generationen zu schützen sind 11 . Auch die Artenvielfalt wäre zu schützen, da sie der Glückseligkeit anderer dient. Um so mehr sind wir zu einem humanen Umgang mit Tieren verpflichtet, da diese ein „Analogon der Menschheit“ sind (Kant 1991, S. 256). „In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird.“ (Kant 1989, S. 578f.). Die Kantische anthropozentrische Ethik verlangt also durchaus einen konsequenten Tierschutz. Der Tierschutz kann bei Kant aber nur indirekt über Verpflichtungen des Menschen gegenüber anderen Menschen oder sich selbst begründet werden. In der konkreten Umsetzung müssen die Ansprüche dieses Ansatzes jedoch nicht unbedingt niedriger sein als ein pathozentrisch oder biozentrisch begründeter Tierschutz. So sind nach Kant „martervolle physische Versuche, zum bloßen Behuf der Spekulation, wenn auch ohne sie der Zweck erreicht werden könnte“ zu verabscheuen (Kant 1989, S. 579). Kant fordert hier also Alternativen zu Tierversuchen, wo diese möglich sind. Obwohl 11 Vgl. hierzu auch den Anspruch des Art. 20a Grundgesetz: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ <?page no="39"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 39 Tiere nach Kant keine Würde haben, die durch Tierversuche verletzt werden könnte, hält er Tierversuche für moralisch bedenklich, wenn sie nur der Spekulation dienen. Ein solcher Umgang mit Tieren könnte die charakterliche Empfindlichkeit des Menschen schwächen. 1.2.2.2 Generalisiertes Mitleid nach Ursula Wolf Ursula Wolf baut ihre Position maßgeblich auf der Grundlage von Artur Schopenhauers (1788 - 1860) Mitleidsethik auf. Schopenhauer distanziert sich von Kant und verlangt eine neue Grundlage für die Ethik. Aus den Gesetzmäßigkeiten der Vernunft lassen sich für ihn keine ethischen Maßstäbe entwickeln, denn diese dienten immer dem eigennützigen Handeln. Nach Schopenhauer gibt es drei Grundtriebfedern des menschlichen Handelns, den Egoismus, die Bosheit und das Mitleid. Die Verfolgung des eigenen Wohls ist zwar eine der Grundtriebfedern der menschlichen Handlungen, kann aber keinen moralischen Wert haben (Schopenhauer 1979, S. 100f). Die zweite Triebfeder des Handelns ist die Bosheit, die das fremde Wehe will und bis zur äußersten Grausamkeit geht. Die dritte Triebfeder ist das Mitleid, das das fremde Wohl will. Dieses allein ist die Grundlage moralisch wertvoller Handlungen. Das Leiden des Anderen kann uns zum Helfen, also zum Handeln auffordern. Das Mitleid können wir Menschen durch unsere Empathie-Fähigkeit auch bei Tieren nachempfinden. „Mitleid mit Thieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch seyn“ (Schopenhauer 1979, S. 139). Dieses Mitleid ist nach Schopenhauer die Grundlage der ethischen Bewertung menschlicher Handlungen - auch der Handlungen gegenüber den Tieren. Wenn wir die Metaphysik aus unseren moralischen Prämissen herausnehmen, d.h. „eine radikale Ablehnung religiöser und politischer Konventionen“ (Wolff 1990, S. 72) vornehmen, und eine liberale Moral einführen, müssen wir als Konsequenz die moralische Berücksichtigung von Menschen auf alle leidensfähigen Tiere ausweiten, denn wir sind alle Wesen, „die in verschiedenen Bereichen nach ihrem guten Leben suchen und entsprechend in verschiedenen Hinsichten leiden bzw. an ihrem guten Leben gehindert werden können“ (Wolff 1990, S. 76). Die Eigenschaft, die Wesen zu Objekten der Moral macht, ist deshalb die Leidensfähigkeit (Anm.: Auf die Definition von „Leiden“, der Frage danach, welche Tiere wohl in welcher Weise leidensfähig sind und auch auf die Probleme der Beurteilung des „Leidens“ bei Tieren gehe ich später in Kapitel 3.4.2-3.4.4 vertiefend ein). „Die Moralkonzeption, die sich ergibt, ist also die eines generalisierten Mitleids.“ „Zu diesen Wesen, die leiden können, denen es subjektiv gut oder schlecht gehen kann, gehören ebenso Tiere, auch wenn ihr Bezug auf das eigene Wohl weniger reflektiert ist.“ (ebd.). „Generalisiert“ ist dieses Mit- <?page no="40"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 40 leid deswegen, weil es alle Lebewesen einschlie t, die verletzbar sind und nicht nur solche, die einen Bezug auf einen höheren, unverletzlichen Wert haben. Durch diesen Anspruch der Berücksichtigung aller leidensfähigen Wesen spricht sich Wolf nicht für einen utilitaristischen Ansatz aus. Schopenhauer folgend, verabschiedet sie auch eine metaphysische moralische Autorität, die unbedingte Pflichten rechtfertigen könnte. Das generalisierte Mitleid als Grundkonzept erlaubt zunächst keine konkreten Schlüsse: „Die Situation entspricht genau derjenigen in der kantischen Moral; auch dort ist die Achtung vor der Würde der Person zunächst eine solche zentrale Vorstellung, und noch keine bestimmte inhaltliche Vorschrift.“ (ebd.). Hingegen verkörpert das generalisierte Mitleid eine Haltung gegenüber allen leidensfähigen Wesen. Sie verdienen Berücksichtigung, können dies aber nicht als ihre Rechte einfordern. Unter diesen Umständen sind vernünftige Wesen in der moralischen Pflicht, die Rechte leidensfähiger, aber nicht vernunftbegabter Wesen zu respektieren. Tierversuche sind nach Wolf eine Verletzung dieser Rechte aufgrund der unbegründeten Annahme, dass das Leiden der Tiere weniger wiegt als das Leiden der Menschen. Sie führt verschiedene Begründungsarten der Tierversuche vor und kritisiert sie aufgrund ihrer Ethik-Theorie. Viele Tierversuche werden aus Interesse an neuen Erkenntnissen durchgeführt. Diese sind moralisch nicht vertretbar, weil sie das Leiden der Tiere gar nicht ernst nehmen, sondern geistige Befriedigung von Menschen anstreben. Die Begründung durch eine starke Verpflichtung des Menschen zur Hilfe trifft auf Tierversuche ebenfalls nicht zu, denn das Gefühl der Verpflichtung zur Hilfe würde Menschen vielmehr dazu bringen, mit vorhandenen Mitteln bereits erkrankten Menschen zu helfen. Diese sich opfernde Verpflichtung ist eine Selbsttäuschung, deren tatsächliche Opfer Tiere sind. Es gibt Begründungen zu Tierversuchen, in denen ein direkter Bezug zu anderen Menschen oder Tieren hergestellt wird, denen durch die Tierversuche geholfen werden soll. Diese postulieren eine angebliche Notstandssituation, die sich als Vergleich einer unabwendbaren Katastrophe bedient. Eine solche unabwendbare Katastrophe ist jedoch in keinem Tierversuch direkt gegeben (Wolf 1990, S. 108ff.). Ekkehard Fulda kritisiert am Ansatz Wolfs, dass sie bei ihrer „generellen moralischen Verurteilung von wissenschaftlichen Tierversuchen“ versäumt, konkretere Versuchstypen zu beschreiben (Fulda 1992, S. 197). Es gebe durchaus auch Versuchsdurchführungen, bei denen dem Tier keine nennenswerten Beeinträchtigungen zugefügt würden. Auch wenn man mit dem Ansatz des generalisierten Mitleids der Auffassung sei, dass die elementarste Form moralischen Unrechts die Zufügung von physischen Schmerzen sei, so wären damit nicht schon alle Tierversuche generell abzulehnen (ebd.). „Mit einer solchen ethischen Konzeption wären dagegen Tierversuche moralisch vertretbar, bei denen psychische Schmerzen, wie <?page no="41"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 41 weithin auch Angst, Streß oder weitere Belastungen und Schädigungen sich in einem engen Rahmen halten.“ (Fulda 1992, S. 198). 1.2.2.3 Pathozentrismus nach Singer Peter Singer ist einer der meist umstrittenen Tierethiker unserer Zeit. Er ist vor allem durch das plausible und äußerst konsequente System seiner Ethik und durch seine durchaus häufig kontraintuitiven Forderungen im Umgang mit Menschen bekannt geworden. Leider werden seine Thesen deshalb in der Öffentlichkeit oft falsch gedeutet, und diese Deutungen gehen auch in die Kritik ein. Hier soll sein Ansatz nur im Hinblick auf die ethische Begründung der Schutzansprüche für die Tiere kurz zusammengefasst und die Anwendung für die Tierversuche dargestellt werden. Singer geht primär vom utilitaristischen Ansatz in der Ethik aus, d.h. der Nutzen einer Handlung steht im Zentrum der moralischen Bewertung und nicht die Haltung des Menschen (Wolf) oder sein guter Wille (Kant). Ziel von jeder ethisch relevanten Handlung soll immer das „größte Glück der größten Zahl“ sein. Dieses Glück ist nach Singer die Befriedigung der individuellen Interessen. Singer spricht allen, die von unserer Handlung betroffen sind, ein gleiches Maß an Interessenberücksichtigung zu. Daraus folgt, dass das Interesse von jedem Betroffenen ethisch gesehen gleich viel zählt und die Interessen unter den Betroffenen gegeneinander abgewogen werden können. Das heißt: „Wenn X und Y von einer möglichen Handlung betroffen wären und X dabei mehr zu verlieren als Y zu gewinnen hätte, ist es besser, die Handlung nicht auszuführen“ (Singer 1994, S. 39). Da Interessen unterschiedliche Qualitäten haben können, ist eine Ungleichbehandlung in manchen Fällen gerechtfertigt. Diese Fälle müssen jedoch begründet werden. Man darf keine Gruppe von Betroffenen zu Minderwertigeren erklären, damit ihre Interessen weniger wiegen. Die Zugehörigkeit zu einer Menschenrasse erlaubt nicht die Ausbeutung einer anderen Rasse. Unter den einzelnen Menschen gibt es auch Unterschiede, trotzdem sollten Interessen von z.B. weniger intelligenten Individuen nicht missachtet werden. Damit kommt Singer auch zur Begründung seines Tierschutzes: Interessen von Wesen dürfen nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einer Art bewertet werden. Damit sind Interessen von nichtmenschlichen Tieren grundsätzlich nicht anders zu bewerten als die Interessen von Menschen. Eine Höherwertung der Interessen kann aufgrund der Spezieszugehörigkeit rational nicht begründet werden. Singer geht also von einem Gleichheitsprinzip aus, welches besagt, dass ähnliche Interessen ähnlich gewichtet werden sollen. Hierbei geht es Singer nicht um die Gleichheit der betroffenen Individuen an sich, sondern um die Gleichheit der Interessen. Weil diese aber sehr differieren können, fordert Singer, nicht alle gleich zu behandeln, sondern alle Beteiligten ent- <?page no="42"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 42 sprechend ihrer Interessen zu behandeln. Dieses Gleichheitsprinzip sieht Singer nicht auf den Menschen begrenzt. Entscheidendes Kriterium dem Gleichheitsprinzip entsprechend behandelt zu werden, ist für ihn die Leidensfähigkeit als Voraussetzung dafür, überhaupt Interessen haben zu können. Das Gleichheitsprinzip verlangt, dass vergleichbare Leiden auch unterschiedlicher Lebewesen genauso viel zählen, womit jegliche Form des Speziesismus gegen das Gleichheitsprinzip verstößt: „‘Speziesisten’ [… messen] da, wo es zu einer Kollision ihrer Interessen mit denen von Angehörigen einer anderen Spezies kommt, den Interessen der eigenen Spezies größeres Gewicht bei.“ (Singer 1984, S. 73f.). Singer leitet daraus eine konsequente Änderung der Behandlung von Tieren ab bzgl. allen Bereichen des Umgangs mit ihnen (unsere Ernährung, Tierhaltungsmethoden, Tierversuche, Jagd usf.). Wenn ein Krebspatient an seiner Krankheit stärker leiden würde als eine Versuchsmaus, hätte nach Singer die Linderung des größeren Leidens Vorrang, aber nicht, weil es menschliches Leiden ist und das andere das Leiden einer Maus, sondern weil es ein größeres Leiden - möglicherweise auch mentales Leiden ist (vgl. dazu vertiefend den Abschnitt „Vergleichbarkeit von Schmerzen? “ im nachfolgenden Exkurs über ‘Speziesismus’). Die Maus würde am Experiment weder mentales Leiden noch eine vorangehende Angst haben, denn sie wüsste nicht, dass sie am Experiment teilnehmen wird. In der Abwägung zwischen Leiden ist jedoch höchste Sorgfalt geboten, denn auch manche Menschen haben keine Vorstellung davon, was ihnen geschehen wird. So müsste man sich vor einem Versuch an Mäusen fragen, ob die gleichen Experimente an schwer geistig Behinderten oder an Säuglingen - vielleicht Waisen - gebilligt werden würden. Nichtmenschliche Lebewesen, Säuglinge und schwer geistig behinderte Menschen gehören nach Singer zur selben Kategorie, was das Argument betrifft, dass sie eben keine Vorstellung davon hätten, was mit ihnen geschehen wird, weshalb sie weniger unter einem Experiment leiden würden als beispielsweise ein normaler erwachsener Mensch (Singer 1994, S. 88). Bei einigen Tieren, bei denen man höhere kognitive Fähigkeiten nachweisen kann, hätte man sogar einen vernünftigen Grund, diese Experimente eher abzulehnen, als bei schwer geistig Behinderten, denn diese Tiere haben eine Vorstellung davon, was auf sie zukommt, so dass sie damit vergleichbare Qualen wie der Krebspatient erleiden. Andererseits kann es leidvolle Situationen geben, in denen geistige Kräfte (Antizipation, Erinnerungsvermögen und größeres Wissen) zu einer Entlastung beitragen. So leiden z.B. Kriegsgefangene, denen erklärt wird, dass sie durchsucht und eingesperrt werden, ihnen aber nichts getan wird und sie nach Ende des Krieges entlassen werden, durch diese Einsicht weniger als Wildtiere, die ebenso eingesperrt werden (Singer 1994, S. 88f.). <?page no="43"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 43 Nach diesen Überlegungen kommt Singer zu dem Schluss, dass Tierversuche in einer angemessenen Abwägung gerechtfertigt werden können, aber nur dann, wenn vor dem Experiment ein klarer Hinweis besteht, dass durch das Leiden von wenigen Tieren das Leiden von Tausenden von Menschen verhindert werden kann. Ein erheblicher Teil der Tierversuche hingegen ist gar nicht auf die Reduzierung von menschlichem Leid gerichtet, sondern auf vage abstrakte Erkenntnisse, Produktprüfungen oder Grundlagenwissen (Singer 1994, S. 94ff.). In der Abwägung zwischen dem erwarteten Nutzen und dem verursachten Leiden lassen sich diese Experimente nicht rechtfertigen. Für Singer sind Forscher aber meistens speziesistisch voreingenommen und nehmen an Tieren Experimente vor, die sie an Menschen mit gleichem oder niedrigerem Niveau der Empfindung, des Bewusstseins und der Sensibilität nicht tun würden (Singer 1994, S. 97). Nach dem Prinzip der gleichen Interessenabwägung sind nach Singer solche Tierversuche ethisch nicht vertretbar, weil sie auch nicht an Menschen durchgeführt werden. Exkurs Speziesismus: Der Begriff „Speziesismus“ 12 ist ein Terminus technicus in der Tierethik- Debatte. In der Regel wird der Begriff negativ konnotiert. Der Begriff wurde ursprünglich von dem britischen Psychologen Richard D. Ryder in einem selbst herausgegebenen Flugblatt, das im Jahre1970 in Oxford veröffentlicht wurde, verwendet. Der Begriff „Speziesismus“ versucht, die Ungleichbehandlung von Lebewesen aufgrund ihrer Art (der Spezies) sprachlich fassbar zu machen, denn eine Ungleichbehandlung im Alltag sei oft eine unbewusste Selbstverständlichkeit. Die Ansicht Ryders wurde durch einen Beitrag in einem Buch von Peter Singer populär. Singer verwendet den Begriff in der Folge selbst, und er verwendet ihn auch bewusst provozierend. Leider werden die Gedanken Singers in der Literatur sehr häufig verkürzt wiedergegeben und dadurch auch aus dem Zusammenhang gerissen. Dies kann zur Folge haben, dass komplexe Gedankengänge, die Singer mit einfachen und plausiblen Beispielen zur Verdeutlichung seines Gedankenganges quasi ‘entwickelt’ 13 , nicht angemessen nachvollzogen und in der Folge bisweilen missverstanden werden können. Um dieses Riskio zu vermeiden, werde ich nachfolgend den Gedankengang Singers im Hinblick auf sein Verständnis von „Speziesismus“ ausführlich wiedergeben. 12 Der Begriff ist ein Neologismus aus Spezies und -ismus; zu deutsch etwa: „Artenarroganz“, <http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Speziesismus> (abgerufen am 20.02.2010, zuletzt abgerufen am 16.12.2015). 13 Singer versucht dabei, den Leser Schritt für Schritt auf eine Schlussfolgerung „hinzuführen“, und er konstruiert hierbei mitunter auch selbst „Einwände“, mit denen er sich dann kritisch auseinandersetzt. <?page no="44"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 44 Begriffsprägung durch Richard D. Ryder Richard D. Ryder erklärt: „The word [speciesism] refers to the widely held belief that the human species is inherently superior to other species and so has rights or privileges that are denied to other sentient animals.“ 14 Ryder verfolgte mit der Verwendung des Begriffes eine ‘wachrüttelnde’ Absicht, um alltägliche Missstände überhaupt ins Bewusstsein zu rücken und dadurch eine Bewusstsseinsänderung vorzubereiten. Denn zunächst ist das Gewahrwerden eines Missstandes die Voraussetzung dafür, sich damit konkret auseinanderzusetzen und dann vielleicht zu einer Einstellungs- und letztlich Verhaltensänderung zu gelangen.: „Ryder used the term as a deliberate ‘wake-up call’ to challenge the morality of current practices where nonhuman animals are being exploited in research, in farming, domestically and in the wild, […]“. 15 Ryder plädiert für einen gleichen moralischen Status aller empfindsamen (“sentient”) Lebewesen: „Ryder pointed out, that all such prejudices are based upon physical differences that are morally irrelevant. He suggested that the moral implication of Darwinism is that all sentient animals, including humans, should have a similar moral status.“ 16 „The gap between men and other animals now appears smaller than ever, although, indeed, scientists have agreed since the days of Darwin in principle there is no essential difference biologically. Why then do we still make an almost total distinction morally? If all organisms are on the same physical continuum then surely it cannot even be argued that ws should be on a different moral continuum.“ (Ryder 1971, S. 80) Zum Begriff „species“ erklärt Ryder: „Some mention should be made of the word ‘species’. Most people appear to imagine that this is a precisely defined word, but this is not the case. There is in fact no single criterion which distinguishes between all so-called species.” (ebd., S. 80f). Zur Ungleichbehandlung verschiedener Spezies erklärt er: “If it is accepted as morally wrong to deliberately inflict suffering upon innocent human creatures, then it is only logical to also regard it as wrong to inflict suffering on innocent individuals of other species.“ (ebd., S. 81). Von Ryder und Singer wird die Artarroganz als ein Analogon zum Rassismus verstanden. Genauso wie Rassisten ungerechtfertigt die Interessen der eigenen „Rasse“ bevorzugen, würden Anhänger der Artarroganz un- 14 Dr. Richard Ryder, <http: / / www.richardryder.co.uk/ speciesism.html> (abgerufen am 21.3.2010; Webseite mittlerweile abrufbar unter <http: / / www.62stockton.com/ richard/ #speciesism>, zuletzt abgerufen am 22.12.2015). 15 Ebd. 16 Ebd. <?page no="45"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 45 gerechtfertigt die Interessen der Mitglieder ihrer eigenen Art über diejenigen aller anderen Lebewesen stellen. 17 Begründung mit dem Gleichheitsprinzip bei Singer Der Begriff des Speziesismus kann durch Bezugnahme auf das Gleichheitsprinzip erläutert werden. Nach Singer ist Kern des Gleichheitsprinzips, „daß wir in unseren moralischen Überlegungen den ähnlichen Interessen all derer, die von unseren Handlungen betroffen sind, gleiches Gewicht geben“ (Singer 1994, S. 39). Hierbei versteht Singer Gleichheit nicht als deskriptive Gleichheit von Zuständen, sondern als präskriptive Norm zur gegenseitigen Behandlung. Man dürfe dieses Gleichheitsprinzip aber nicht auf den Umgang mit unseren Mitmenschen beschränken. Nach Singer sind Rassismus und Sexismus Verstöße gegen das Gleichheitsprinzip, weil Rassisten und Sexisten die Interessen bestimmter Menschen eben deshalb weniger ernst nehmen, weil jene zu einer anderen Rasse oder zum anderen Geschlecht gehören. In Analogie zum Rassismus und zum Sexismus spricht Singer dann von Speziesismus, wenn Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit, also aufgrund der biologischen Spezies, der diese angehören, diskriminiert werden: „Speziesismus, das Wort ist nicht besonders schön, aber ich weiß kein besseres, ist ein Vorurteil oder eine Haltung der Voreingenommenheit zugunsten der Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies und gegen die Interessen der Mitglieder anderer Spezies.“ (Singer 1996, S. 35). Rassismus und Speziesismus als Verstoß gegen das Grundprinzip der Gleichheit In seinem Buch Praktische Ethik führt Singer in das Kapitel „Rassismus und Speziesismus“ ein, indem er noch einmal darauf hinweist, dass es sich bei dem „Grundprinzip der Gleichheit“, auf dem die Gleichheit aller Menschen beruhe, um das „Prinzip der gleichen Interessenberücksichtigung* 18 “ handle (Singer 1994, S. 82). Singer betont, dass nur ein grundlegendes moralisches Prinzip dieser Art es uns gestatte, „eine Form von Gleichheit zu vertreten, die alle menschlichen Wesen umfaßt - trotz aller Unterschiede, die zwischen ihnen bestehen“ (ebd., S. 82). Er führt aus, dass dieses Prinzip eine adäquate Basis für menschliche Gleichheit wäre; es sei aber eine Basis, 17 <http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Richard_Ryder> (abgerufen am 20.02.2010; zuletzt abgrufen am 16.12.2015). 18 Die Übersetzung in der deutschen Ausgabe von 1994 (2. Auflage, Stuttgart: Reclam) lautet „Interessenabwägung“. In dem Sammelband Texte zur Tierethik von 2008 verwendet die Herausgeberin Ursula Wolf jedoch die Übersetzung „Interessenberücksichtigung“. Diese Übersetzung scheint mir ebenfalls zutreffender und besser geeignet, weshalb ich hier auch diese Übersetzung verwende und die betreffenden Textstellen ebenfalls mit einem * markiere. <?page no="46"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 46 „die sich nicht auf Menschen beschränken läßt“. Singer: „Ich schlage [...] vor, daß wir, wenn wir das Prinzip der Gleichheit als eine vernünftige moralische Basis für unsere Beziehungen zu den Mitgliedern unserer Gattung akzeptiert haben, auch verpflichtet sind, es als eine vernünftige moralische Basis für unsere Beziehungen zu denen außerhalb unserer Gattung anzuerkennen - den nichtmenschlichen Lebewesen.“ (im Original ‘nonhuman animals’, gemeint wären i.d.R. „nichtmenschliche empfindungsfähige Lebewesen”, also keine Pflanzen. In der Tierethik werde auch von „nichtmenschlichen Tieren“ gesprochen, so die Übersetzer des Buches von Singer). Singer betont selbst, „Dieser Vorschlag erscheint zunächst bizarr. [...] Wie kann jemand unsere Zeit damit vergeuden, Gleichheit für Tiere zu fordern, während so vielen Menschen die wirkliche Gleichheit vorenthalten wird? “ (ebd., S. 82f.), um damit aber festzustellen: „In dieser Haltung drückt sich ein verbreitetes Vorurteil dagegen aus, die Interessen von Tieren ernst zu nehmen - ein Vorurteil, das nicht besser fundiert ist als das der weißen Sklavenhalter, die nicht bereit waren, die Interessen der afrikanischen Sklaven ernst zu nehmen“ (ebd., S. 83). „Es fällt uns leicht, die Vorurteile unserer Großeltern zu kritisieren, von denen sich unsere Eltern frei gemacht haben. Viel schwieriger ist es, uns von unseren eigenen Ansichten zu distanzieren, um leidenschaftslos nach Vorurteilen in unseren Überzeugungen und Wertvorstellungen Ausschau zu halten. Dazu ist allerdings eine Bereitschaft nötig, den Argumenten zu folgen, wohin auch immer sie führen, ohne im voraus anzunehmen, die Sache sei der Aufmerksamkeit nicht wert.“ (ebd., S. 83). Das Prinzip der gleichen Interessenberücksichtigung* schließe ein, „daß unsere Rücksicht auf andere nicht davon abhängig sein darf, was sie sind oder welche Fähigkeiten sie haben [...]. Auf genau dieser Grundlage können wir behaupten: Die Tatsache, daß manche Menschen nicht zu unserer Rasse angehören, berechtigt uns nicht dazu, sie auszubeuten, und ebenso bedeutet die Tatsache, daß manche Menschen weniger intelligent sind als andere, nicht, daß ihre Interessen mißachtet werden dürfen. […] Die Tatsache, daß bestimmte Wesen nicht zu unserer Gattung gehören, berechtigt uns nicht, sie auszubeuten [...].“ (ebd., S. 83). Prinzip der gleichen Interessenberücksichtigung als grundlegendes moralisches Prinzip Singer rekurriert darauf, dass viele Philosophen die gleiche Interessenberücksichtigung* „in der einen oder anderen Form als grundlegendes Prinzip der Moral vertreten“ (ebd., S. 84). Hierbei hätten aber nur wenige erkannt, dass das Prinzip über unsere eigene Spezies hinaus anzuwenden sei. Als einen „von diesen wenigen“ benennt Singer Jeremy Bentham, den er als „Vater des modernen Utilitarismus“ bezeichnet (ebd.). Er zitiert so- <?page no="47"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 47 dann Bentham und weist darauf hin, dass dieser „die Fähigkeit zu leiden als jene entscheidende Eigenschaft aus[zeichne], die einem Lebewesen Anspruch auf gleiche Interessenberücksichtigung* verleiht.“ (ebd.). Empfindungsfähigkeit als Grundvoraussetzung für Interessen Singer betont, „die Fähigkeit zu leiden - oder genauer, zu leiden und/ oder sich zu freuen oder glücklich zu sein“, sei nicht einfach eine weitere Fähigkeit wie beispielsweise die Sprachfähigkeit oder die Befähigung zu höherer Mathematik (ebd., S. 84f.). „Die Fähigkeit zu leiden und sich zu freuen ist vielmehr eine Grundvoraussetzung dafür, überhaupt Interessen haben zu können, eine Bedingung, die erfüllt sein muß, bevor wir überhaupt sinnvoll von Interessen sprechen können.“ (ebd., S. 85). Singer versucht, den Gedankengang anhand eines Beispiels klar zu machen, indem er erläutert, es sei Unsinn zu sagen, es sei nicht im Interesse des Steins, dass ein Kind ihm auf der Straße einen Tritt gebe. Denn ein Stein habe keine Interessen, weil er nicht leiden könne. „Nichts, was wir ihm [dem Stein] zufügen können, würde in irgendeiner Weise auf sein Wohlergehen Einfluß haben. Eine Maus dagegen hat ein Interesse daran, nicht gequält zu werden, weil sie dabei leiden wird. Wenn ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, sich zu weigern, dieses Leiden zu berücksichtigen.“ (ebd.). Es komme dabei nicht auf die Natur des Wesens an, denn das Gleichheitsprinzip verlange, dass sein Leiden ebenso zähle wie das gleiche Leiden eines anderen Wesens, „soweit sich ein ungefährer Vergleich ziehen läßt.“ „Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit (wir verwenden diesen Terminus als bequeme, wenngleich nicht ganz genaue Abkürzung für die Fähigkeit, Leid oder Freude bzw. Glück zu empfinden) die einzig vertretbare Grenze für die Rücksichtnahme auf die Interessen anderer. Diese Grenze durch irgendwelche anderen Merkmale wie Intelligenz oder Rationalität festsetzen hieße sie willkürlich festsetzen. Weshalb dann nicht irgendeine andere Eigenschaft wie zum Beispiel die Hautfarbe herausgreifen? “ (ebd.). Singer erklärt: „Rassisten verletzen das Prinzip der Gleichheit, indem sie bei einer Kollision ihrer eigenen Interessen mit denen einer anderen Rasse den Interessen von Mitgliedern ihrer eigenen Rasse größeres Gewicht beimessen. [...] Ähnlich messen jene, die ich ‘Speziesisten’ nennen möchte, da, wo es zu einer Kollision ihrer Interessen mit denen von Angehörigen einer anderen Spezies kommt, den Interessen der eigenen Spezies größeres Gewicht bei.“ (ebd., S. 85f.). Hier stellt sich jedoch die zentrale Frage, ob die Schmerzen und Leiden, die dem Prinzip der gleichen Interessenberücksichtigung zugrunde liegen, beim Menschen und anderen Spezies vergleichbar sind. <?page no="48"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 48 Vergleichbarkeit von Schmerzen? Zur Vergleichbarkeit des Schmerzes vertritt Singer die Ansicht: „Menschliche Speziesisten erkennen nicht an, daß der Schmerz, den Schweine oder Mäuse verspüren, ebenso schlimm ist wie der von Menschen verspürte.“ Er schließt diesen Gedankengang mit der Feststellung, dass darin „wirklich schon das ganze Argument dafür [bestehe], das Prinzip der Gleichheit auf nichtmenschliche Tiere auszudehnen“. Singer weist an dieser Stelle aber durchaus darauf hin, dass es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis gibt. Er relativiert: „[...] es mögen Zweifel daran geäußert werden, worauf diese Gleichheit in der Praxis hinauslaufen soll.“ (ebd., S. 86). Bezüglich der Vergleichbarkeit von Schmerzen meint Singer, die Feststellung, „daß der Schmerz, den Schweine oder Mäuse verspüren, ebenso schlimm ist wie der von Menschen verspürte“, möge zu der Erwiderung veranlassen, der von einer Maus empfundene Schmerz sei wohl nicht genauso schlimm wie der von einem Menschen empfundenen Schmerz. Menschen hätten ein viel größeres Bewusstsein von dem, was ihnen zustoße, und das mache ihr Leiden schlimmer. Man könne das Leiden eines Menschen, der langsam an Krebs sterbe, nicht mit dem der Maus im Laboratorium vergleichen, die dasselbe Schicksal treffe. Singer räumt in Anbetracht einer solchen Erwiderung ein, „Ich gestehe vollkommen zu, daß in dem eben beschriebenen Fall der krebskranke Mensch normalerweise mehr leidet als das nichtmenschliche Krebsopfer. Aber das widerlegt die Ausdehnung der gleichen Interessenberücksichtigung* auf nichtmenschliche Wesen in keiner Weise. Vielmehr bedeutet es, daß wir bei Vergleichen zwischen den Interessen von Angehörigen verschiedener Gattungen Sorgfalt walten lassen müssen.“ (ebd., S. 86). Singer betont - aus meiner Sicht zu Recht -, „In manchen Situationen wird ein Individuum der einen Spezies mehr leiden als ein Individuum einer anderen.“ In solch einem Fall sollte man dennoch das Prinzip der gleichen Interessenberücksichtigung* anwenden, dies bedeute aber im Endeffekt: „Der Linderung des größeren Leidens den Vorrang geben.“ (ebd., S. 86. Hervorhebung von N. A.). Singer weist darauf hin, dass „normale erwachsene Menschen“ geistige Fähigkeiten hätten, „deretwegen sie unter gewissen Umständen mehr leiden als Tiere unter denselben Umständen.“ (ebd., S. 87). Es gebe viele Bereiche, „in denen die überlegenen geistigen Kräfte des normalen erwachsenen Menschen ins Gewicht fallen“ würden. Singer benennt beispielsweise Antizipation, ein detailliertes Erinnerungsvermögen, größeres Wissen darüber, was geschehen werde (ebd., S. 88). Diese Unterschiede würden erklären, „weshalb ein Mensch, der an Krebs stirbt, wahrscheinlich mehr leidet als eine Maus. Es ist die geistige Qual, die die Lage des Menschen so viel schwerer erträglich macht.“ (ebd.). <?page no="49"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 49 Singer betont jedoch, dass diese Unterschiede nicht in jedem Falle bewirken, dass das größere Leiden bei den Menschen liege: „Manchmal werden die Tiere wegen ihres beschränkteren Verstandes mehr leiden.“ (ebd.). Auch dies illustriert Singer anhand eines Beispiels: Während eines Krieges könnten Menschen gefangen genommen und man könnte ihnen erklären, dass sie zwar eingesperrt, aber im Übrigen nicht geschädigt und nach Beendigung der Feindseligkeiten auf freien Fuß gesetzt würden. Würde man hingegen ein wildes Tier fangen, könnte man diesem nicht klarmachen dass sein Leben nicht bedroht wäre. „Ein wildes Tier kann zwischen dem Versuch, es zu überwältigen und einzusperren, und dem, es zu töten, nicht unterscheiden: das eine verursacht ihm denselben Schrecken wie das andere.“ (ebd., S. 89). Exakte Leidens- oder Schmerzvergleiche sind nicht möglich Singer begegnet dem Einwand, Vergleiche inzwischen den Leiden verschiedener Gattungen seien unmöglich, weshalb das Prinzip der Gleichheit im Falle des Interessenkonfliktes zwischen Tieren Menschen nicht anwendbar sei damit, dass er einräumt: „Es stimmt, daß Leidensvergleiche zwischen Angehörigen verschiedener Gattungen sich nicht exakt durchführen lassen. Auch Schmerzvergleiche zwischen verschiedenen menschlichen Wesen können nicht genau sein.“ (ebd.). Er betont aber, dass es hier auf Genauigkeit jedoch gar nicht ankomme. Die Anwendung des Gleichheitsprinzips auf das Zufügen von Schmerz sei zumindest in der Theorie ganz folgerichtig. „Schmerz und Leiden sind schlecht und sollten vermieden oder vermindert werden, ohne Ansehen der Rasse, des Geschlechts oder der Spezies des leidenden Wesens. Wie schlimm ein Schmerz ist, hängt davon ab, wie intensiv er ist und wie lange er dauert, aber Schmerzen derselben Intensität und Dauer sind gleich schlimm, sowohl für Tiere als auch für Menschen.“ (ebd., S. 89f.). Zum Wert eines Lebens Würde man den Wert des Lebens betrachten, könne man nicht ganz so zuversichtlich sagen, „Leben sei Leben und gleich wertvoll, unabhängig davon, ob es menschliches oder tierisches Leben ist.“ (ebd., S. 90). Es sei kein Speziesismus, die Meinung zu vertreten, das Leben eines selbstbewussten Wesens, das abstrakter Gedanken fähig wäre, für die Zukunft planen könne, komplizierte Akte der Kommunikation vollziehen könne etc., sei mehr wert als das Leben eines Wesens ohne diese Fähigkeiten. Es bleibe dahingestellt, ob sich diese Ansicht rechtfertigen lasse oder nicht, sie könne aber nicht einfach als speziesistisch verworfen werden, weil hier gerade nicht die <?page no="50"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 50 Spezies die Grundlage sei, auf der ein Leben für wertvoller gehalten werde als ein anderes. Für Singer stellt der Wert des Lebens ein „bekanntermaßen schwieriges ethisches Problem“ dar und wir könnten nur dann zu einem vernünftigen Schluss über den vergleichbaren Wert von tierischem und menschlichem Leben gelangen, wenn wir den Wert des Lebens im Allgemeinen diskutieren würden. An dieser Stelle differenziert Singer also zwischen den Schlüssen, die aus der Erweiterung des Prinzips der gleichen Interessenberücksichtigung* über unsere Spezies hinaus zu ziehen sind und den Schlussfolgerungen hinsichtlich des Wertes des Lebens, die er an anderer Stelle diskutiert. 1.2.2.4 Biozentrismus nach Schweitzer Die Ethik Albert Schweizers ist ein Teil seiner umfassenden Kulturphilosophie. Für ihn sind Fragen nach moralischer Handlung und ethischer Verantwortung eingebettet in die Reflexion über Kulturgeschichte, Weltanschauung und Mystik. Damit stellt er die Einzelprobleme in große Zusammenhänge, wird aber nicht abstrakt, sondern bleibt praktisch und pragmatisch. Eine zentrale Grundlage seines Biozentrismus ist der christlich motivierte Ansatz von Mitgeschöpflichkeit mit der Natur und die Bejahung des Lebens. Ebenfalls zu den Grundlagen der Schweitzerschen Ethik gehört die Annahme eines jedem lebendigen Organismus innewohnenden Willens zum Leben. Allem, was lebt, kommt ein moralischer Wert zu und dieser soll aus ethischer Sicht beachtet werden. Auf dieser Grundlage bietet er schlüssige Argumente für den Umgang mit Tieren in seiner erstmals 1923 erschienenen Schrift Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben (Schweitzer 2007, S. 306-328). Durch diese Ethik ist der Mensch eingeladen, Leben beizustehen, zu helfen und lebendigen Wesen keinen Schaden zuzufügen. Er soll nicht fragen, inwiefern ein Lebewesen Anteilnahme verdient oder inwiefern es empfindungsfähig ist, sondern er soll für das Leben in jeder Form Verantwortung tragen so weit er nur kann. Er soll mit dem Leben mitleiden, es lieben und sich für das Leben begeistern. Das denknotwendige Prinzip der Ethik heißt deshalb bei Schweitzer: „Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen.“ (Schweitzer 2007, S. 308). Der Mensch gerät aber in manchen Fällen in eine notwendige Konfliktlage, wenn er ein Leben für ein anderes - vielleicht für das eigene Leben - vernichten muss. Sein Immunsystem bringt Bakterien um, seine Füße zerstampfen beim Spazieren Insekten auf der Wiese. Die erwartete Hingebung an das Leben kann also nur unvollkommen gelingen. Dennoch bleibt das Grundprinzip gültig: Es ist immer böse, Leben zu vernichten. In Konfliktfällen muss der Mensch subjektive Entscheidungen fällen, aber das ändert nichts am moralischen Wert einer Tötung. Der ethische Mensch fragt deshalb jedes <?page no="51"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 51 Mal ernsthaft nach, ob es wirklich notwendig ist, ein Leben zu töten. Er verwechselt das Unvermeidliche nicht mit dem Unbedeutenden. „Diejenigen, die an Tieren Operationen oder Medikamente versuchen oder ihnen Krankheiten einimpfen, um mit den gewonnenen Resultaten Menschen Hilfe bringen zu können, dürfen sich nie allgemein dabei beruhigen, daß ihr grausames Tun einen wertvollen Zweck verfolge. In jedem einzelnen Falle müssen sie erwogen haben, ob wirklich Notwendigkeit vorliegt, einem Tiere dieses Opfer für die Menschheit aufzuerlegen. Und ängstlich müssen sie darum besorgt sein, das Weh, soviel sie nur können, zu mildern.“ (Schweitzer 2007, S. 317). Das Leiden des Tieres ist zum Teil nicht vermeidbar, aber umso mehr soll der Mensch bemüht sein, diese Leiden durch ein Wohlergehen in anderer Hinsicht auszugleichen. Der Mensch hat in diesem Sinne eine ethische Verpflichtung zu allem, was in seiner Möglichkeit steht, seinem Versuchstier Gutes zu tun und dieses Leben zu fördern sowie „aller Kreatur alles irgend mögliche Gute anzutun“ (ebd.). Schweitzer prangert die Praxis der Tiertransporte, Tierquälerei und notwendiges aber unbarmherziges Töten ebenso wie überflüssige Experimente an Tieren an. Schweitzer geht auf die Entwicklungslinie der Ethik, die er kritisch verfolgt, mit Optimismus ein und verspricht sich eine Besserung der Situation, wenn die menschliche Kultur ihre Krise wieder überwindet und der Mensch den Kreis seiner Verantwortlichkeit zunehmend erweitert und schließlich Humanität gegenüber allem Lebendigen zeigt. Schweitzer beobachtet eine solche Erweiterung der Solidarität im Verlaufe der Menschheitsgeschichte. In der griechischen Antike wurden bereits alle freien Menschen ihres eigenen Landes als gleichwertig und unterstützenswert angesehen. In der Renaissance verbreitet sich in Europa die Idee der Humanität, die das Wohlergehen aller Menschen im Blick hat. Es wurden also immer mehr Wesen berücksichtigt und die Ethik der Hingebung an alles Lebendige ist die späte Erfüllung der Ethik, oder „Die Forderung des Mitgefühls gegenüber allen lebenden Wesen ist es also, die der Sittlichkeit die letzte Vollkommenheit verleiht.“ (Schweitzer 2003, S. 109). Diese durchaus optimistische Vision über die künftige Leistung der Ethik lässt sich durch die neuen Erkenntnisse über die Leidens- und Reflexionsfähigkeit der Tiere (Benz-Schwarzburg 2007) und durch die gesellschaftliche Fixierung des Tierschutzes (vgl. Tierschutzgesetz) erkennen. 1.2.2.5 Die Theorie der Tierrechte nach Regan Tom Regan verfolgt die völlige Abschaffung des Gebrauchs von Tieren in der Wissenschaft (Regan 1988, S. 29). Er setzt sich von graduellen Verbesserungen des Tierschutzes dezidiert ab. Nach Regan haben die Menschen unmittelbare Pflichten gegenüber Tieren, „genauso, wie wir einige unmittelbare <?page no="52"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 52 Pflichten dem Mitmenschen gegenüber haben“ (ebd., S. 35). Er betrachtet Tiere als „empfindende Subjekte eines Lebens mit selbständigem Eigenwert“ (ebd., S. 42). Seinen „radikalen Standpunkt“ (Fulda 1992, S. 190) unterstreiche Regan mit der Forderung: „Alle haben den gleichen Eigenwert, seien es menschliche Lebewesen oder nicht“ (Regan 1988, S. 41). Von diesem inhärenten Wert der Subjekte 19 lassen sich moralische Rechte ableiten. „Nur beim Vorliegen ganz außergewöhnlicher Bedingungen, in extremen Ausnahme-situationen, [...] wären nach Regan Verletzungen der individuellen Rechte zum Zweck der Vermehrung des Allgemeinwohls moralisch zu rechtfertigen.“ (Fulda 1992, S. 190, Hervorhebung von N. A.). Regan sehe die Tiere „als Individuen durch die ethischen Tierschutznormen geschützt.“ (ebd., S. 191). Regan geht also davon aus, dass alle Lebewesen, die das Kriterium erfüllen, ein „subject-of-a-life“ zu sein, einen inhärenten Wert haben, wobei dieser nicht abgestuft ist. Ein „subject-of-a-life“ zu sein, bedeutet für Regan, dass ein Lebewesen über Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Gefühle, Interessen und die Fähigkeit zu individuellem Wohlbefinden verfügt: „To be the subject-of-a-life […] involves more than being alive and more than merely being conscious. […] individuals are subjects-of-a-life if they have beliefs and desires; perception, memory, and a sense of the future, including their own future; an emotional life together with feelings of pleasure and pain; preference and welfare-interests; the ability to initiate action in pursuit of their desires and goals; a psychophysical identity over time; and an individual welfare in sense that their experiental life fares well or ill for them, logically independently of their utility for others and logically independently of their beeing the object of anyone else’s interests. Those who satisfy the subject-of-a-life criterion themselves have a distinctive kind of value - inherent value - and are not to be viewed or treated as mere receptacles.” (Regan 1985, S. 243.). Da für Regan der inhärente Wert nicht abgestuft ist, muss man die unterschiedliche Konstitution der Lebewesen berücksichtigen (man kann nur Gleiches mit Gleichem gleichsetzen). Regan entwirft einen sog. „lifeboat case“ (Regan 1988, S. 285f.): In einem Rettungsboot gibt es fünf Überlebende, die alle ungefähr dasselbe Gewicht haben und etwa denselben Raum einnehmen. Dabei handelt es sich um vier normale erwachsene Menschen 19 Anm.: „Inherent value“, dieser bezieht sich auf Individuen. Dieser Wert kann nicht abgestuft sein - im Gegensatz zum „intrinsic value“ (intrinsischer Wert), der abgestuft sein kann und beispielsweise von der Fülle von positiven Erfahrungen abhängt. „Inherent value“ und „intrinsic value“ sind inkommensurabel (nicht vergleichbar), der „inhärente Wert“ ist auch nicht auf den „intrinischen Wert“ reduzierbar. <?page no="53"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 53 und einen Hund. Wenn nicht alle untergehen sollen, muss einer von ihnen über Bord geworfen werden. Wenn alle einen Eigenwert und damit das Recht auf Nichtschädigung haben, stellt sich die unausweichliche Frage, ob nun durch Auslosung, d.h. durch Zufall, entschieden werden soll, wer geopfert werden soll, der Hund oder einer der Menschen. Nach Regan wäre dies jedoch unter Berücksichtigung der von ihm vertretenen Rechte- Auffassung keine angemessene Lösung. Vielmehr greift für ihn in diesem Fall das „worse-off-principle“. Dabei wird danach gefragt, wer den größeren Schaden davontragen würde, wenn man ihn über Bord werfen würde, ein Mensch oder der Hund. Nach Regan wäre der Hund zu opfern, da der Mensch durch den Verlust seines Lebens den größeren Schaden davontragen würde. Der durch den Tod verursachte Schaden ist nach Regan abhängig von den Möglichkeiten der Erfüllung, die durch den Tod verhindert werden. In diesem Sinne würde nach Regan der Tod für den Menschen zweifellos einen größeren Schaden beinhalten als für den Hund (Regan 1985, S. 324). 20 Hier wird der Mensch also bevorzugt, obwohl Regan kein Anthropozentriker ist. 1.2.2.6 Holismus nach Gorke Martin Gorke geht von einem umfassenden ethischen Anspruch auf Naturschutz aus und zeigt, dass das Artensterben in der Welt auf menschliches Handeln zurückzuführen ist und damit in der ethischen Verantwortung des Menschen liegt. Er nimmt auf die Liste der moralisch zu berücksichtigenden Wesen alle Wesen auf: Ökosysteme und die Natur an sich sind ebenfalls Teile der moralischen Gemeinschaft. „Nichts Natürliches existiert nur als Mittel für anderes. Alles existiert auch um seiner selbst willen und ist damit zumindest potentiell moralisches Objekt“ (Gorke 2000, S. 85). Für den umfassenden Artenschutz sprechen starke Intuitionen. Die Begründung dieser Intuitionen beschränkt sich jedoch häufig auf bekannte anthropozentrische Argumente oder auf den Schutz von empfindungsfähigen Wesen. Für den Artenschutz sprechen in der anthropozentrischen Ethik eine Reihe von Gründen, die v. a. auf den Nutzen bezogen sind, aber auch der ästhetische Wert und der Heimat-Wert. Dabei versprechen nicht alle Arten einen ökonomischen Nutzen, manche Arten - gerade die höher entwickelten - haben für die Erhaltung der Menschen keine Schlüsselfunktion und bei einigen Arten wäre der ästhetische Nutzen auch kaum zu identifizieren. Ein umfassender Artenschutz lässt sich also in der Anthropozentrik nicht begründen, und davon unterscheidet sich die Pathozentrik kaum. Auch der Bio- 20 „Now, the harm that death is, is a function of the opportunities for satisfaction it forecloses, and no reasonable person would deny that the death of any of the four humans would be a greater prima facie loss, and thus a greater prima facie harm, than would be true in the case of the dog.“ (Regan 1983, S. 324). <?page no="54"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 54 zentrismus fokussiert zu sehr auf das Individuum, wobei das Artensterben ein kollektiver Prozess ist. Für den Holismus spricht eine Ethik, die sich auf einen altruistischen Standpunkt stellt. Der ethische Mensch soll nicht nach dem Nutzen seines Handelns schauen, sondern Verantwortung für das eigene Handeln in jeder Dimension seines Handelns übernehmen. Dazu gehören globale Folgen wie der Untergang von Arten. Gorke verlangt einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel, damit die Argumente für den Holismus besser fruchtbar gemacht werden können: „Der gesellschaftliche Bewußtseinswandel, wie er angesichts der ökologischen Krise heute allseits gefordert wird, kann durch die holistische Perspektive nur gewinnen. [...] Die Zuschreibung eines Eigenwerts an alles natürlich Gewordene könnte so zum Motor einer neuen Selbstbescheidung des Menschen werden, die nicht nur den Umgang mit der Natur, sondern auch mit seinesgleichen humanisiert.“ (Gorke 2000, S. 96). 1.2.3 Kasuistische Überlegungen in der Tierethik Im Gegensatz zu den deduktiven Modellen der ethischen Entscheidungsfindung, d.h. zur Herangehensweise, in der aus einem obersten Prinzip (s. 1.2.1) konkrete Entscheidungen abgeleitet werden, verzichten induktive Modelle (Kasuistik) in der Begründung von Tierexperimenten auf ethische Axiome und versuchen, kontextsensitive Schlüsse aus Einzelfällen abzuleiten (Jonsen und Toulmin 1989, S. 25f.). Ein Experiment an einem Tier kann in der Forschung nicht als kontextfrei ethisch begründet werden. In einem größeren Forschungsprojekt werden mehrere Tiere verwendet und dies in der Hoffnung auf neue wichtige Erkenntnisse. Die Schädigung eines einzelnen Tieres (Einzelfall) in einem Experiment steht somit immer im Kontext von erwarteten Ergebnissen aus dem gesamten Experiment und wird im Blick auf diese Ergebnisse legitimiert. Nimmt man die beiden Seiten - das verursachte Leiden des Tieres und den Nutzen eines Experiments - zusammen, müssen Einzelfälle zusammen mit den Erwartungen zu Ende untersucht werden, d.h. der prospektiven Entscheidung muss eine retrospektive Bewertung folgen, die beim nächsten vergleichbaren Fall die Bewertung maßgeblich beeinflussen soll. Diese Herangehensweise kann bei der Bewertung von Tierversuchen weitere Kritik bekommen, denn kontextsensitive moralische Intuitionen verblassen, wenn die Bewertung der Einzelfälle immer wieder von Menschen vorgenommen wird, die selbst durch regelmäßige Versuche an Tieren eine Routine und eine berufsabhängige Intuition entwickelt haben. Berufsspezifische Intuitionen sind deshalb nicht zuverlässig und sollten durch berufsunabhängige Intuitionen ausgeglichen werden. Unterschiedliche Ansätze in der Ethik erlauben unterschiedliches Vorgehen: <?page no="55"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 55 Aus dem praktischen Einzelfall auf die allgemeine Regel, oder aus der abstrakt begründeten Regel auf den Einzelfall zu schließen. Wenn man die unterschiedlichen Herangehensweisen jedoch genauer untersucht, kommt man in vielen Entscheidungen zu konvergierenden Ergebnissen. So ähnlich wie in der Medizinethik können wir auch in der Tierethik angesichts der Verschiedenheit der Positionen mittlere moralische Regeln der Tierethik entziffern. Das ist das, worauf sich alle Vertreter unterschiedlicher Positionen einigen können, ein „gemeinsamer Nenner“. Im Folgenden sollen die „mittleren moralischen Regeln“ näher vorgestellt werden: 1.2.4 Mittlere moralische Regeln in der Tierethik Zur Entscheidungsfindung in Konfliktsituationen - wie diejenige bei der Verwendung von Tieren für Zwecke des Menschen - erweist sich die Verwendung von „mittleren moralischen Regeln“ als hilfreich. Danach sollen nicht eine abstrakte Idee bzw. eine bestimmte Ethik, wie der deontologische Ansatz Kants oder der Utilitarismus (s. 1.2.1 und 1.2.2), und die aus ihnen ableitbaren Konsequenzen ethische Regeln des Handelns vorgeben, denn die Grundideen weichen stark voneinander ab. Vielmehr soll der Ansatz der „mittleren moralischen Regeln“ Konvergenzen und Gemeinsamkeiten verschiedener Grundpositionen erkennen und daraus leitende Handlungsprinzipien herauszukristallisieren versuchen. Dies wurde von Beauchamp and Childress getan - allerdings zunächst für die Medizinethik mit Blick auf klinische Entscheidungen (Beauchamp und Childress 2001). Sie haben vier Prinzipien ärztlichen Handelns identifiziert: Respekt vor der Autonomie, Nichtschädigung, Wohltun und Gerechtigkeit. Diese Prinzipien wurden nicht frei erfunden, sondern aus der täglichen Praxis abstrahiert und gehen teilweise weit in die Geschichte bis auf Hippokrates zurück. In Anlehnung an diese Prinzipien ist es möglich, Überlegungen zum Umgang mit Tieren zu formulieren. Silke Schicktanz gelang diese Übertragung in ihrer Analyse zur Xenotransplantation (Schicktanz 2002). Schicktanz kritisiert, die in der Tierethik- Diskussion immer wieder erneut unternommen „Versuche zu begründen, warum Tiere überhaupt einen moralischen Status haben, sind nicht hinreichend für die Beantwortung der Frage, welche moralischen Handlungsanweisungen im Umgang mit Tieren im konkreten Fall daraus folgen.“ (Schicktanz 2002, S. 203). Sie wählt daher für ihre Überlegungen als Ausgangspunkt eher Konvergenzen und Konsense in der derzeitigen Debatte. <?page no="56"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 56 Die Konvergenzen seien „eher auf einer mittleren Ebene ethischer Regeln angesiedelt.“ (ebd.). Diese Regeln wären durch moralische Standards - wie die derzeitige Rechtslage oder bestimmte Ethik-Kodizes - und weithin geteilte Meinungen gestützt. „Die argumentative Stärke solcher Konvergenzüberlegungen liegt vor allem darin, daß sie auch unter Bedingungen konkurrierender Moraltheorien konsensfähige Urteile zu erarbeiten erlaubt.“ (ebd.). So entwickelt Schicktanz für die Tierethik vier „mittlere moralische Regeln“ - in Analogie zu den mittleren Regeln in der Medizinethik: 1.2.4.1 Ausweisen von „mittleren moralischen Regeln“ Ausweisen von „mittleren moralischen Regeln“ durch das Auffinden von Kohärenz, Konvergenz und Konsens in Theorie und Praxis Ein Rückgriff auf die „bewährte“ Praxis lasse sich nach Silke Schicktanz so verstehen, dass man durch das Aufsuchen von Konvergenzen und Konsensen zwischen verschiedenen ethischen Theorien ein „bewährtes Set an Handlungsanweisungen“ wieder finde, welches „in erster Instanz als unstrittig angenommen“ werde (Schicktanz 2002, S. 43f.). Schicktanz rekurriert auf Bettina Schöne-Seifert: Die Plausibilität des kohärentistischen Ansatzes liege daran, „daß es die schwierige Frage nach ethischen Letztbegründungen unsinnig werden lässt [...], daß es der bereits vorhandenen Theorie einen wesentlichen Stellenwert bei der Beurteilung neuer Problemfälle zubilligt, ohne sie jedoch festzuschreiben, und daß es schließlich der Weise gerecht wird, in der wir tatsächlich moralisch zu argumentieren meinen.“ (Schöne-Seifert 1996, S. 562). Ein Problem dieses Ansatzes sei, dass die Frage auftauche, was dann die „bereits vorhandene Theorie“ sein solle. Es gibt für Schicktanz dennoch gute Gründe, dieses Modell als Verfahren für anwendungsbezogene Fragen anzuwenden: „Es gibt pragmatische und plausible Argumente, solche kohärentistischen Verfahren weiterzuentwickeln.“ (Schicktanz 2002, S. 44). Ein pragmatisches Argument sei, dass das „wechselseitige Argumentationsmodell ‘von oben nach unten’ und ‘von unten nach oben’“ in der Praxis tatsächlich zu differenzierten ethisch reflektierten Analysen und Urteilen bezüglich einer bestimmten Praxis führen könne. Ein weiteres Argument (Schöne-Seifert 1996, S. 564) beinhalte die medizinethische Praxis (z.B. Kommissionsarbeit), in der es angesichts drängender Entscheidungsprobleme und des Theorienpluralismus manchmal als „fruchtbarer“ empfunden werde, „einen Minimalkonsens der mittleren Ebene als Ausgangspunkt zu nehmen, anstatt theoretische Debatten zu führen.“ Es stelle sich allerdings die Frage, „wie verbindlich ein solches moralisches Urteil sein kann.“ (Schicktanz 2002, S. 44). Eine Möglichkeit diese Verbindlichkeit wie auch Nachvollziehbarkeit, Plausibilität und Authentizität solcher Handlungsanweisungen zu errei- <?page no="57"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 57 chen, sieht Schicktanz darin, die „‘bereits vorhandene Theorie’ auf einer breiten Basis aufzubauen.“ (ebd.). Schicktanz rekurriert auf Hubig und Bayertz: Solch eine breite Basis könnte sich aus konvergenten Urteilen bilden, die z.B. von vielen der konkurrierenden Moraltheorien geteilt werden (Hubig 1999) oder auf moralische Konsense aufbauen (Hubig 1993, Bayertz 1996). Nach Hubig konvergieren die unterschiedlichsten Rechtfertigungsstrategien oft in erstaunlicher Weise, „so dass sich der Pluralismus als Perspektivenpluralismus erweist, und deren Aufweis die Generierung starker Argumente ermöglicht“ (Hubig 1999, S. 197). Schicktanz erklärt mit Bezugnahme auf Hubig, diese Konvergenz biete dann die Basis, auf der „eine Konkretisierung für die Fragen der Technik- Sozial- und Wissenschaftsethik vollzogen werden kann.“ (Hubig 1993, S. 114). „Unter Konvergenz wird hier die Entwicklung ähnlicher vergleichbarer Urteile bzw. Aussagen innerhalb eigentlich unterschiedlicher theoretischer Entwicklungsstränge verstanden. […] Es lassen sich […] trotz des vielfältigen methodischen Pluralismus und in den verschiedensten konkurrierenden Ansätzen in der Tierethik konvergente mittlere Regeln für den Umgang mit Tieren finden. Diese können gar in gewisser Hinsicht mit dem medizinethischen Ansatz von Beauchamp und Childress verglichen werden.“ (Schicktanz 2002, S. 45). Eine besonders weit verbreitete Regel im Umgang mit Tieren besage, dass die absichtliche und willkürliche Zufügung von Leid durch den Menschen moralisch falsch sei und es als „mittlere Regel“ gelte, (unnötiges) Leid zu vermeiden. Diese Konvergenz lasse sich finden, obwohl sie unterschiedlich motiviert und begründet sein könne. Es ist für Schicktanz jedoch möglich, dass die Anwendung dieser normativen Regel „in Einzelfällen zu unterschiedlicher Bewertung einer bestimmten Praxis führt, weil entweder unterschiedliche Situationseinschätzungen erfolgen, oder […] noch zusätzliche Wertannahmen zum Zuge kommen.“ (ebd.). 1.2.4.2 Ethische Argumentation auf der Grundlage von moralischem Konsens Ein weiteres Maß für die Stärke eines konvergenten Arguments wäre für Schicktanz nicht nur die quantitative Übereinstimmung - wenn es also bei vielen Ansätzen wiederzufinden ist - „sondern auch eine inhaltliche, qualitative Übereinstimmung“. Diese Form der Übereinstimmung bezeichnet Schicktanz als „moralischen Konsens“. (Schicktanz 2002, S. 46) Bayertz (1996, S. 63) verstehe unter Konsens einen „ethischen Grundbegriff“, mit dem die intersubjektive Verbindlichkeit moralischer Normen gerechtfertigt werden könne, sofern die Individuen moralisch autonom wären. „Konsense werden also als Mittel zur moralischen Geltung aufgefasst.“ (Schicktanz 2002, S. 46). <?page no="58"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 58 Die Verwendung des Konsens-Begriffs werde im engen Sinne häufig mit der Diskursethik Apels oder Habermas’ (1996) in Verbindung gebracht: „Diejenigen Normen sind demgemäß moralisch richtig und verbindlich, auf die sich rational argumentierende Personen in einem herrschaftsfreien Diskurs einigen können.[…] Hierzu gelten die Voraussetzungen, daß die am Diskurs Beteiligten einen überparteilichen ‘moral point of view’ einnehmen.“ (Schicktanz, 2002, S. 46). Nach Schicktanz beinhaltete der moralische Konsens in der Diskussion eine „Doppelbedeutung“ (ebd.): im engen Sinne der Diskursethik werde er als Legitimation von moralischen Normen, und im weiteren Sinne als Übereinstimmung zwischen verschiedenen Ethikansätzen bzw. ihren Vertretern verstanden. Schicktanz verwendet für ihre ethische Argumentation den zweiten weiter gefassten Sinn, unter dem sie den Terminus „Konsens“ verstehen möchte. 1.2.4.3 Mittlere Regeln als Ausgangsbasis für anwendungsbezogene Urteile Schicktanz rekurriert auf Julian Nida-Rümelin, für den das hohe Maß an Übereinstimmung in normativen Grundfragen häufig durch die versteckten divergierenden Überzeugungen in empirischen Fragen verdeckt werde (vgl. Nida-Rümelin, 1996, S. 58f). Der Konsensbereich moralischer Überzeugungen gelte allerdings weniger für Prinzipien, als für „bestimmte Arten generischer Handlungen“ (ebd., S. 59). Rümelin führe an, es gebe weitgehend Konsens darüber, dass es moralisch unzulässig sei, eine Person bewusst zu töten. „Auf der Ebene der abstrakten Prinzipien, […] gibt es dagegen tiefgreifende Meinungsunterschiede“ (Schicktanz 2002, S. 47): Ob nämlich der Konsens auf Rechte, Pflichten, Glücksmaximierung etc. zurückzuführen sei. „Man könnte aber auf der Ebene der prima facie Regeln, den mittleren moralischen Regeln, häufiger Konsense finden.“ (ebd.). Erneut verweist Schicktanz auf Hubig, der den Begriff der „pragmatisch-provisorischen Moral“ vorschlägt. Diese Moral siedelt die Dissense ebenfalls auf der Ebene der obersten Prinzipien an. Hier konfligieren die Prinzipien häufig miteinander. Auf der Ebene der Vorzugsregeln, welche keinen Absolutheitsanspruch der Geltung beanspruchen könnten, werde dagegen die Verknüpfung von verschiedenen Regeln konstruktiv als „Suchraum“ aufgefasst (Schicktanz 2002, S. 48, mit Verweis auf Hubig 1999, S. 205). Schicktanz verwendet daher den Begriff „Prinzip“ für elementare Überlegungen, „die für den harten Kern einer ethischen Theorie stehen“ (Schicktanz 2002, S. 48). Sie benennt beispielsweise das Prinzip der Selbst- <?page no="59"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 59 zwecklichkeit bei Kant, das Prinzip der Nutzenmaximierung im Utilitarismus und das Prinzip der Universalisierbarkeit für die kognitivistischen Theorien. Abb. 2: Ich gebe hier die Abbildung von Schicktanz wieder, die schematisch das Wechselspiel zwischen idealen Theorien, „mittleren moralischen Regeln“ und praxisbezogenen Normen verdeutlichen soll (nach Schicktanz 2002, S. 47). Anstelle der bei Beauchamp und Childress (2001) bezeichneten „mittleren Prinzipien“ oder „Prinzipien mittlerer Reichweite“, schlägt Schicktanz die synonym zu verwendenden Begriffe „mittlere moralische Regeln“ vor. Diese mittleren Regeln (vgl. Abb. 2, gelber Kasten) zeichnen sich dadurch aus, „daß es moralische Regeln sind, über deren Geltung erfahrungsgemäß ein hohes Maß an Verständigung (Übereinstimmung durch Konvergenz oder Konsens) hergestellt werden kann“ (Schicktanz 2002, S. 48). Sie sind ferner mit verschiedenen konkurrierenden Begründungsansätzen vereinbar (vgl. Abb. 2: Theorien A, B und C). Diese mittleren Regeln müssen aber immer „im Bereich eines Anwendungsgebietes ein gewisses <?page no="60"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 60 Maß an Konkretisierung erfahren“. Die mittleren Regeln befinden sich also auf einer „mittleren Argumentsationsebene“ (ebd.). „Aus den mittleren allgemeinen moralischen Regeln werden dann im Rekurs auf die Praxis bzw. in kohärentistischer Argumentation sehr praxisnahe, kontextspezifische Normen entwickelt. Sowohl Konsense als auch Konvergenzen lassen sich am ehesten formal als prima-facie-Verpflichtungen oder mittels Vorrangregeln darstellen, die genügend Spielraum für die Komplexität der Theorie und den jeweiligen Kontext der Situation haben.“ (Schicktanz 2002, S. 48). Neben dem Konvergenzprinzip der Ethiken wäre noch das Komplementaritätsprinzip sinnvoll anzuwenden, betont Schicktanz mit Verweis auf Hubig (1993, S. 116), denn die wechselseitige Ergänzung ethischer Perspektiven diene dazu, „Orientierungsunsicherheiten gerade bei neuen Problemen zu überwinden, wie sie sich bei den aktuellen Fragen der Bioethik stellen.“ (Schicktanz 2002, S. 48). Bei der Problembeschreibung wäre es sinnvoll „nicht nur sollensethische Aspekte zu thematisieren […]: Wessen Rechte werden verletzt? Welche Pflichten haben wir gegenüber Menschen und Tieren? Welche Verantwortung trägt der Arzt etc.? “ (ebd.). Es wären auch strebensethische Aspekte zu berücksichtigen: Welche Auswirkungen hat die betrachtete Technik auf ein wünschenswertes Arzt-Patienten-Verhältnis? Welche Auswirkungen hat die Einführung einer neuen Technik auf ein ideales Mensch-Tier- Verhältnis? 1.2.4.4 Mittlere moralische Regeln für die Tierethik Die Nichtschädigungsregel Die Nichtschädigungsregel berücksichtigt im Modell von Schicktanz primär leidensfähige und empfindungsfähige Tiere. Leidensvermeidung ist in den meisten Ethiken eine direkte (vgl. Pathozentrismus) oder eine indirekte (vgl. Anthropozentrismus) handlungsleitende Regel, die nicht nur bei Menschen, sondern auch beim Umgang mit Tieren angewendet werden kann. Auch die Diskursethik von Habermas soll Tiere durch eine moralanaloge indirekte Pflicht schützen. In der kontraktualistischen Ethik in der Tradition von John Rawls können Tiere ebenfalls in Analogie zu Föten und geistig Schwerstbehinderten unter dem Schleier des Nichtwissens berücksichtigt werden (vgl. Rowlands 1997, 2002). Die Wohltunregel Die Wohltunregel bezieht sich auf das Wohlbefinden der Tiere, das mehr als das Fehlen von Leiden beinhaltet. Ziel ist nach dieser Regel, einen art- <?page no="61"?> 1.2 Begründungen in der Tierethik-Debatte 61 spezifischen Normalzustand des Daseins zu erhalten oder wieder herzustellen. Das Wohlbefinden der Tiere ist natürlich nicht in jeder Dimension mit dem Wohlbefinden des Menschen vergleichbar, deshalb soll darauf besonders geachtet werden, wie das soziale und das individuelle Verhalten der Tiere ist und welche Bedingungen zum sozialen und individuellen Wohl der Tiere erfüllt werden müssen. Respekt vor dem Eigenwert des Tieres Das Prinzip des Respekts vor der Autonomie kann in der Tierethik keine direkte Entsprechung finden. Schicktanz gelingt es jedoch, eine Analogie zu erstellen, indem sie den Respekt vor dem Eigenwert des Tieres vorschlägt. Diese moralische Regel wird in der Tierethik vor allem durch Tierrechtstheoretiker begründet. Vielleicht der früheste Vertreter dieser Position war Tom Regan mit seinem Buch The Case for Animal Rights (Regan 1983, 1985). Er stellt das Konzept eines inhärenten Wertes (inherent value) vor, der jedem Individuum unabhängig von seiner Leistung oder seinen Eigenschaften zukommt und Grund für dessen moralische Berücksichtigung um seiner selbst willen ist (Regan 1985, S. 235f.). Hierfür ist es erforderlich, ein „subject-of-a-life“ zu sein, d.h. über Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Gefühle, Interessen und die Fähigkeit zu individuellem Wohlbefinden zu verfügen (vgl. die Definition bei Regan für die Zuschreibung „subject-of-alife”, s. Kapitel 1.2.2.5). Damit werden auch solche Tiere berücksichtigt, von denen wir ausgehen, dass sie selbst nicht nach moralischen Regeln handeln können. Regan trifft eine Unterscheidung zwischen denen, die zur ethischen Reflexion fähig und zu moralischem Handeln verpflichtet sind (moral agents) und denen, die in der ethischen Reflexion und in moralisch relevanten Handlungen um ihrer selbst willen berücksichtigt werden sollen (moral patients) (Regan 1985, S. 260f.): „We owe them respectful treatment, not out of kindness, nor because of the ‘sentimental interests’ of others, but because justice requires it.“ (ebd. S. 261). Ähnliche Argumente vertritt auch die Position, die eine Würde der Kreatur oder eine Würde der Tiere anerkennt (Hoerster 2004). Gleichbehandlung Das vierte medizinethische Prinzip wurde von Schicktanz ebenfalls für die Tierethik angepasst, indem es nicht Gerechtigkeit, sondern Gleichbehandlung genannt wurde. Nach der Regel der Gleichbehandlung sollen alle Wesen, die gleiche Qualitäten haben, gleich behandelt werden, bei allen hingegen, die unterschiedlich sind, sollen unterschiedliche Behandlungskriterien verwendet werden. Die Unterschiede müssen dabei für die Behandlungskriterien rele- <?page no="62"?> 1 Ethische Positionen in der Tierversuchsdebatte 62 vant sein. Wenn also in einem Forschungsprojekt das Leiden von Menschen durch Tierexperimente vermieden werden soll, sollen dazu entsprechende Leidenskriterien bei Tieren verwendet werden und nicht ihre Artzugehörigkeit. Eine begründete Abstufung, wie Singer sie vornimmt, ist durchaus möglich, aber sie bedarf der Begründung auf der Grundlage der Gleichbehandlung. Fazit Trotz Unterschieden in den ethischen Grundpositionen, die ich im Abschnitt 1.2.1 vorgestellt habe, ist also eine Konvergenz möglich, die zu den mittleren moralischen Regeln führt: Nichtschädigung, Wohltun, Eigenwert, gleiche Interessenberücksichtigung. 1.3 Konkrete Konsequenz für die Praxis Ethiktheorien für die Forschungspraxis? In der Darstellung von Positionen zur Tierethik wurde sichtbar, dass unterschiedliche Begründungen unterschiedliche Ansprüche an die Tierethik stellen und eine einheitliche ethische Position derzeit nicht zu erwarten ist. Die Positionen und Herangehensweisen stehen nebeneinander und sie lassen sich in keine zweckmäßige Hierarchie einordnen. Ob der Forscher in seinem Labor die vorgestellten Theorien (1.2.1) im Einzelnen oder zusammen verwerten kann, ist mit guten Gründen zu bezweifeln. Er hat weder die entsprechende Ausbildung noch die Arbeitskapazität, die hochkomplexen philosophischen Theorien auf einem Niveau kennen zu lernen, dass er aus ihnen für seine Forschungsprojekte klare Richtlinien gewinnen könnte. Er verfügt nicht einmal über angemessene Kriterien zur Auswahl einer Theorie. Auch wird ihm die Kritik der ausgewählten Theorie beinahe unmöglich sein, es sei denn, er investiert viel Zeit und Energie in eine ethische Weiterbildung. Der Schluss, dass die Diversität der Positionen und ihre Unzugänglichkeit für den Naturwissenschaftler die Formulierung von normativen Grenzen unmöglich macht, wäre jedoch falsch. Trotz der Unterschiede bieten ethische Theorien wichtige Anhaltspunkte zur Bewertung des Umgangs mit Tieren in Tierversuchen. Eine Letzbegründung ist zwar nicht möglich, aber in der angewandten oder noch genauer formuliert in der anwendungsbezogenen oder anwendungsorientierten Ethik (vgl. Engels 1999, S. 38) auch nicht notwendig. Als Ausgangsgrundlage für die Bewertung der geforderten Schutzansprüche für Tiere sollte die Rationalität der Theorie, eine Widerspruchsfreiheit mit wissenschaftlichen Tatsachen und mit anderen ethischen Normen, Pflichten und Prinzipien (Nida-Rümelin 1996, S. 42f.) <?page no="63"?> 1.3 Konkrete Konsequenz für die Praxis 63 ausreichen. Nach diesen Kriterien lassen sich nicht mehr alle moralischen Positionen begründen, aber die hier vorgestellten gehören zu den meistreflektierten Positionen, die diese Kriterien erfüllen können. Regeln, denen alle Beteiligten zustimmen können Die meisten Forscher würden aber sicherlich den vier oben (s. 1.2.4.4) genannten Prinzipien der mittleren Ebene zustimmen können (vgl. Schicktanz 2002, S. 203). Schicktanz wählt die mittlere Ebene, weil sie von Konvergenzen ausgehen will und diese hier zu finden hofft. Das hat auch den Vorteil, dass man nicht über Letzbegründungen streiten muss. Unterschiedliche Theorien können aus unterschiedlichen Gründen dieselben Regeln fordern. Auch wenn z.B. Kant vermutlich den Eigenwert von Tieren nicht annehmen würde, könnte er bezüglich ihrer Behandlung zu denselben Ergebnissen kommen wie Regan. Im Kapitel 4 werde ich ausgewählte Kriterienkataloge zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchsvorhaben vorstellen. Ob sich die in diesen Katalogen verwendeten Aspekte mit den mittleren moralischen Regeln rechtfertigen lassen, ist eine der zentralen Fragen, die ich beantworten möchte (s. später Kapitel 7.2). Um die Praxistauglichkeit weiterer Überlegungen zu gewähren, müssen zunächst die juristischen Grundlagen des Tierschutzes sowie relevante Regelungen dargestellt werden, denn diese geben den Rahmen für die aktuelle Praxis vor, in der Verbesserungen allein aus ethischen Gründen notwendig zu sein scheinen. <?page no="65"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 2.1 Kurze Entwicklungsgeschichte des rechtlichen Tierschutzes Der Gedanke des rechtlichen Tierschutzes reicht bis in die Antike zurück. Der früheste überlieferte Gesetzestext, der Codex von Hammurabi, enthält bereits Regeln für den Umgang mit Tieren (Teutsch 1987, S. 71). Der römische Jurist Ulipan (170-228) soll die erste Formulierung dieser Art für den Corpus juris civilis des oströmischen Kaisers Justinian vorgeschlagen haben: „Das Naturrecht ist jenes Recht, welches die Natur allen Lebewesen gegeben hat und welches nicht nur dem Menschen eigen ist.“ (Teutsch 1987, S. 171). Im Mittelalter und teilweise sogar noch in der Neuzeit wird in der Rechtspraxis so etwas wie eine Anerkennung einer Rechtspersönlichkeit des Tieres sichtbar. So werden in England sogar bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Tierprozesse abgehalten, in denen angeklagte Tiere zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, wobei andere Tiere zusehen mussten (Lorz 1987, S. 30). Den Tieren wurde allerdings nur in rein negativer Weise eine Art Rechtspersönlichkeit zugesprochen: Nämlich zur Bannung, Verurteilung und Bestrafung. Im Zuge der Aufklärung und einem zunehmend naturwissenschaftlich geprägten Weltbild verloren sich schließlich solche Praktiken. Im Jahre der Französischen Revolution, 1789, zog der Engländer Jeremy Bentham - Begründer der ethischen Theorie des sog. Utilitarismus - die Parallele von den Menschenrechten zur Befreiung von Sklaven, zu Rechten der Tiere, die eine entsprechende Grundlage zur „Befreiung der Tiere“ bilden sollten. Nach den Utilitaristen begründet das Merkmal der Leidensfähigkeit das moralische Recht der Tiere auf Achtung, Schutz und Schonung. „Fast jede wichtige Idee hat ihre Geschichte, wir können sogar sagen, daß jede Idee ihre Geschichte enthält. Das gilt genauso […] für unsere Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit wie auch für alle Ideen, die unser intellektuelles Erbe bilden.“ (Clarke und Linzey 2002, S. 15) <?page no="66"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 66 Anfang des 19. Jahrhundert, im Jahre 1822, gab es ein sog. „Anti- Grausamkeitsgesetz“ in England, und schließlich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert bereits Vorschläge, höher entwickelten Tieren eigene Rechte zuzuerkennen. Diese sollten dann von menschlichen „Anwälten“ juristisch vertreten und gerichtlich einzuklagen sein, analog zur Vertretung unmündiger Menschen (Teutsch 1987, S. 176). Diese Tendenz setzte sich im Strafgesetzbuch des neu gegründeten deutschen Reichs 1871 durch, in dem die ersten gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Tiere in Deutschland formuliert wurden (Reichsstrafgesetzbuch RStGB 1871). Seither fand der rechtliche Tierschutz sowohl eine Konkretisierung als auch eine Ausweitung, die sich durch das verbesserte Verständnis der Fähigkeiten der Tiere auch empirisch begründen ließ. Nachdem in Deutschland während des Nationalsozialismus das erste Tierschutzgesetz erlassen wurde, das „Reichstierschutzgesetz“ von 1933, regelt das deutsche Tierschutzgesetz den Umgang mit Tieren im Jahre 1972, und thematisiert im Besonderen den rechtlichen Rahmen der Durchführung von Tierversuchen. Ob dadurch der juristische Status der Tiere geändert wurde, war noch umstritten. Die Intensivierung des Tierschutzes im Rahmen des Rechtekonzeptes kommt in der „Universelle(n) Erklärung der Tierrechte“ zum Ausdruck, die im Jahre 1978 im „Forum Europarat“ veröffentlicht wurde. Im Hinblick auf Tierversuche lautet der Artikel 8 der Erklärung folgendermaßen: „Art. 8, 1. Tierversuche, die physische und psychische Leiden mit sich bringen, sind mit den Rechten der Tiere unvereinbar, ob es sich um medizinische, wissenschaftliche, wirtschaftliche oder sonstige Versuche handelt. 2. Ersatztechniken müssen entwickelt werden.“ (Zit. n. Teutsch 1987, S. 172). Im Jahre 1986 wird das deutsche Tierschutzgesetz novelliert. Es werden beratende Kommissionen eingeführt (§ 15 TierSchG alte Fassung bzw. jetzt § 15 TierSchG neue Fassung und § 42 Tierschutz-Versuchstierverordnung - TierSchVersV), die die genehmigenden Behörden bei der Entscheidungsfindung der Genehmigung von Tierversuchsanträgen unterstützen sollen. Seit 1990, stellt sich die Frage nach dem juristischen Status der Tiere in Deutschland nicht mehr. Hier wurde im neuen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegt: „Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt“ (§ 90a BGB). Tiere bilden im Sinne dieses Gesetzes eine eigene Kategorie zwischen Personen und Sachen. <?page no="67"?> 2.2 Änderung des Grundgesetzes - das Staatsziel Tierschutz 67 2.2 Änderung des Grundgesetzes - das Staatsziel Tierschutz Juristen konnten diese Sonderstellung der Tiere in der juristischen Praxis dennoch wenig umsetzen. Tiere wurden weiterhin kaum von Sachen unterschieden und dementsprechend behandelt. Diese Tatsache war eine große Motivation für den Gesetzgeber, zum stärksten Mittel zu greifen und den Tierschutz zum Staatsziel zu erheben. 21 So fand der Tierschutz 2002 explizit Eingang in das Grundgesetz (GG), in das nur höchste Werte und notwendigste Regelungen eingehen. Der Artikel 20a des GG wurde um die Worte „und die Tiere“ erweitert. Er lautet nun folgendermaßen: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ (§ 20a GG, DB 2002, 14/ 8860, Hervorhebung von N. A.). Zu schützen sind also nicht nur die Gesamtheit der natürlichen Lebensgrundlagen, sondern nun auch hervorgehoben von diesen Lebensgrundlagen die Tiere - ein Sonderstatus im verfassungsrechtlichen Sinne. Die neue verfassungsrechtliche Stellung wurde nicht ohne Vorbilder eingeführt, denn auf der Landesebene gab es bereits viele Beispiele, wo den Tieren ein ähnlicher Status zugesprochen wurde. Typisch waren hierbei zwei Aspekte: (1) Tiere werden als Mitgeschöpfe betrachtet und deshalb besonders geschützt, (2) Tiere sollen vor vermeidbaren Leiden und Schäden geschützt werden. 22 Was die Mitgeschöpflichkeit bedeutet, ist umstritten. Meinungen gehen von dem strengen individuellen Schutz jedes einzelnen Tieres (wie es manche Tierrechtsorganisationen verlangen) bis zu einer ideelen Definition 21 Anm. 1: Wie schwierig der Weg zu einer Gesetzesänderung war, beschreibt E. von Loeper (Loeper, v. 2002). Anm. 2: Dokumente zur Entstehungsgeschichte Art. 20a GG: Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, BT-Drucks. 12/ 6000 = Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung (Hrsg. Deutscher Bundestag) 5/ 93; Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP v. 20.1.1994, BT-Drucks. 12/ 6633; Gesetz zur Änderung des GG v. 27.10.1994, BGBl. I S. 3146; Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, CDU/ CSU, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP v. 23.4.2002, BT-Drucks. 14/ 8860; Gesetz zur Änderung des GG v. 26.7.2002 (BGBl. I S. 2862). 22 Z.B. Verfassung des Landes Baden Württemberg, Art. 3b: „Tiere werden als Lebewesen und Mitgeschöpfe im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung geachtet und geschützt.“ / Verfassung von Berlin, Art. 31 (2): „Tiere sind als Lebewesen zu achten und vor vermeidbarem Leiden zu schützen.“ / Verfassung Rheinland Pfalz, Art. 70: „Tiere werden als Mitgeschöpfe geachtet. Sie werden im Rahmen der Gesetze vor vermeidbaren Leiden und Schäden geschützt“. <?page no="68"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 68 ohne praktische Folgen auseinander (Scholz 2002). Der Gesetzgeber hat bereits in der Einleitung des Gesetzesentwurfes zum Ausdruck gebracht, dass er eine Veränderung des Umgangs mit Tieren beabsichtigt, weil neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung die Leidens- und Empfindungsfähigkeit der Tiere in ein neues Licht stellen. Notwendig war die Veränderung des Rechtsstatus der Tiere, denn „die einfachgesetzlichen Regelungen des Tierschutzgesetzes reichen dazu nicht aus“ (DB 2002, 14/ 8860). Die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz wertet die rechtliche Stellung der Tiere im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern auf, auch gegenüber solchen, die im Grundgesetz festgeschrieben sind - wie z.B. die Freiheit von Forschung und Lehre. Für die gebotene Abwägung zwischen den Interessen der Tiernutzung und dem Anspruch auf Tierschutz war es notwendig, die Rechtsebenen anzugleichen, d.h. den Tierschutz auf Verfassungsrang zu erheben (DB 2002, 14/ 8860). 2.2.1 Folgen der Änderung des Grundgesetzes Im Sinne des Gesetzgebers sollen Tiere in dreierlei Hinsicht besser geschützt werden: „Schutz vor nicht artgemäßer Haltung, vor vermeidbaren Leiden sowie vor der Zerstörung der Lebensräume der Tiere“ (DB 2002, 14/ 8860). Die ersten zwei der drei Ziele betreffen auch Tierexperimente - bedeuten also eine gewisse Einschränkung der Forschung. Allerdings genießt auch die Forschungsfreiheit verfassungsrechtlichen Schutz (Art. 5 Abs. 3 GG). In einigen juristischen Kommentaren zum veränderten Grundgesetz wird dennoch eine anthropozentrische Position vertreten. Rupert Scholz, Mitautor und -herausgeber des als Standardwerk geltenden Grundgesetzkommentares Maunz/ Dürig/ Herzog/ Scholz, legt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so aus, wonach „der Tierschutz keinen eigenen Stellenwert darstellt, sondern lediglich als ein Element des ‘Gemeinwohls’, bzw. des ‘öffentlichen Interesses’ anzuerkennen sei“ (Scholz 2002, S. 47). Daraus folgt einerseits, dass die Abwägung zwischen Forschungsinteressen und Tierschutz nicht direkt erfolgen kann. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz erübrigt sich nicht die Güterabwägung zwischen dem Schutz der Tiere und dem Interesse der Öffentlichkeit an Forschung. Andererseits muss auch Scholz anerkennen, dass das Wohl der Tiere explizit als Teil des Gemeinwohls verstanden wird und eine geplante Verletzung auf dieser Ebene besonderer Rechtfertigung bedarf. Die Sicht, dass der Gesetzgeber nicht nur Tierarten als ökologische Lebensgrundlage, sondern ausdrücklich auch einzelne Tiere schützen wollte, findet in den Auslegungen wenig Echo, obwohl das der Grund war, warum die Änderung im Grundgesetz überhaupt durchgesetzt wurde. Im Kommentar des Gesetzesentwurfs hat der Gesetzgeber doch verlangt, dass es hier „um jedes einzelne Tier in seiner aktuellen Existenz“ geht (DB 2002, 14/ 8860). <?page no="69"?> 2.2 Änderung des Grundgesetzes - das Staatsziel Tierschutz 69 Wie soll aber in dieser Situation zwischen den beiden Rechtsgütern Tierschutz und Forschungsfreiheit entschieden werden? Die beiden Schutzgüter sind im Grundgesetz „prinzipiell gleichgeordnet“ 23 und keine einseitige oder absolute Priorität ist feststellbar, deshalb muss nach der Aufnahme des expliziten Tierschutzes ins Grundgesetz eine Abwägung zwischen den beiden stattfinden. Wie diese Abwägung vorgenommen werden soll, wird im Grundgesetz nicht weiter thematisiert (wie wir weiter unten sehen werden, gibt es dazu jedoch vom Bundesverfassungsgericht klare Grundsätze, die nun auch hier anzuwenden sind: Die vom BVerfG entwickelten Grundsätze zur Herstellung praktischer Konkordanz). Vor dieser Frage stehen jedoch alle Betroffenen, besonders jene, die nun in eine verfassungsrechtliche ‘Dilemmasituation’ geraten sind, nämlich Forscher, die Tierexperimente durchführen. Bei der Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ging es darum, den „ethischen“ Tierschutz verfassungsrechtlich abzusichern. Bei Kollisionen mit anderen Grundrechten kommt dem Tierschutzanliegen damit ohne Zweifel eine erhöhte Bedeutung zu. Die bisher nur einfachgesetzlichen Normen zum Schutz der Tiere sind durch diesen Rechtsakt aufgewertet worden und müssen nun bei einer Güterabwägung zwischen verschiedenen Grundrechten in Betracht gezogen werden. Diese Rechtsnormen scheinen daher künftig auch in der Lage zu sein, vorbehaltlose Freiheitsgrundrechte von Tiernutzern einzuschränken. Drei Prinzipien des ethischen Tierschutzes fassen Caspar und Schröter zusammen: 1) Das Integritätsprinzip, welches verlange, dass Tiere grundsätzlich so zu behandeln sind, dass ihnen keine Leiden, Schäden oder Schmerzen zugefügt werden. 2) der Minimierungsgrundsatz, der Eingriffe an Tieren an den Grundsatz des zureichenden Interesses und der Minimierung bindet. 3) das Prinzip der Würde der Kreatur. Dieses fordert, dass Tiere um ihrer selbst willen geachtet werden (Caspar und Schröter 2003, S. 39-42). Von Loeper leitet aus der Änderung des GG eine juristisch begründete Begrenzung des menschlichen Handlungsraumes ab. Aus der neuen Formulierung lassen sich ethische Minimalgrenzen neu diskutieren. Die Idee von einem ethischen Mindestmaß für das menschliche Verhalten wurde ja bereits in der Begründung des Gesetzesentwurfs formuliert. Der verfassungsrechtlichen Verankerung des Tierschutzes würden Mindeststandards entsprechen, die beispielsweise den Grundsatz artgerechter Tierhaltung (§ 2 TierSchG), den Betäubungsgrundsatz (§ 4) oder die Schranken der Verhältnismäßigkeit bei Tierversuchen (§ 7 TierSchG alte Fassung bzw jetzt § 7 und § 7a TierSchG neue Fassung) umfassen. Hinzu kämen strafrechtliche 23 Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 310, § 8 Rn. 6. <?page no="70"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 70 Verbotsnormen des § 17 Nr. 1 und 2 TierSchG, die sittliche Anforderungen im Umgang mit dem Tier festlegen (Loeper, v. 2002, S. 60f.). Zusammenfassend kann betont werden, dass der Tierschutz nun formaljuristisch einen Stellenwert hat, der selbst mit dem Grundrecht auf Freiheit von Forschung und Lehre eine Konfliktlösung nach Maßgabe praktischer Konkordanz einfordert - so dass allen beteiligten Interessen 24 möglichst ohne große Einschränkungen nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit zu ihrer Geltung verholfen werden soll. Dazu erläutert Christoph Maisack: „[… Es] gelten die vom BVerfG entwickelten Grundsätze zur Herstellung praktischer Konkordanz, d. h.: Es muss anhand der Umstände des Einzelfalls im Wege der Abwägung ermittelt werden, welchem Verfassungswert für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht zukommen soll; dabei darf keiner der konkurrierenden Verfassungswerte einseitig bevorzugt und auf Kosten des anderen realisiert werden; auch darf keiner mehr zurückgedrängt werden, als es zur Realisierung des jeweils anderen logisch und systematisch zwingend erscheint; im Wege der Abwägung ist nach einer Entscheidung zu suchen, die jeden der beiden Verfassungswerte, wenn auch beschränkt durch den jeweils anderen, zu möglichst optimaler Wirksamkeit gelangen lässt […].“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 291, § 7 Rn. 50). 2.2.2 Justitabilität des Tierschutzes nach Veränderung von Art. 20a GG Die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz ist eine allgemeine Selbstverpflichtung des Staates, deshalb vergleicht Scholz die rechtliche Kraft des Tierschutzes mit der Staatszielbestimmung Umweltschutz: Sie ist nur von begrenzter Justitiabilität, die Aufgabe der Konkretisierung liegt beim Gesetzgeber (Scholz 2002, S. 55). Aus der Veränderung lässt sich kein konkretes gesetzgeberisches Tierschutzprogramm ableiten, aber das war auch nicht der Sinn der Novellierung. Es entstand kein einklagbares Recht, die Veränderung ist dennoch eine wichtige Veränderung. Auch wenn konkrete Maßnahmen zunächst offen geblieben sind, wurde ein Staatsziel vorgegeben. Über den Weg dorthin zu diskutieren, ist die Aufgabe der Politik. 24 Vgl. Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 310, § 8 Rn. 6: „Dies folgt daraus, dass Staatsziele und die durch sie geschützten Rechtswerte den anderen Verfassungsgütern prinzipiell gleichgeordnet sind (auch den vorbehaltslos gewährleisteten Grundrechten […]). Bei der Abwägung zwischen Tierschutz und Forschungsfreiheit kann deshalb nicht mehr abstrakt einem der beiden Güter von vornherein eine Dominanz zugesprochen werden, wie dies früher zugunsten der Forschungsfreiheit geschehen ist. Stattdessen muss die Abwägung konkret, d.h. nach dem jeweiligen Grad der (Ziel-)Betroffenheit der konkurrierenden Güter erfolgen.” <?page no="71"?> 2.2 Änderung des Grundgesetzes - das Staatsziel Tierschutz 71 Die Veränderung nimmt also zunächst den Staat selbst in die Verpflichtung. Die Staatszielbestimmung hat zur Folge, dass die drei Staatsgewalten - Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung - den Tierschutz stärker als bisher berücksichtigen müssen, z.B. bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und bei der Nutzung von Ermessensspielräumen, aber auch bei politischen Entscheidungen, wie sie der Gesetz- und Verordnungsgebung zugrunde liegen. 25 Die Staatsgewalten sind also berufen, ihre Haltung gegenüber Tieren und somit ihre Praxis bezüglich des Umgangs mit Tieren zu verändern. 2.2.3 Staatsziel Tierschutz und Tierversuche Nachdem gezeigt wurde, welche Absichten mit der Aufnahme des Staatsziels Tierschutz ins GG im Jahre 2002 verbunden waren und welche staatlichen Organe primär von dieser Änderung betroffen sein sollten, würde man logisch erwarten, dass die folgenden Jahre die Konkretisierung der Aufgaben und des Weges zu diesem Ziel beinhalteten und auch zu einer Veränderung der Forschungspraxis geführt haben sollten. Nun scheint dieser Prozess viel langsamer zu sein, als erwartet. Es ist mittlerweile klar, dass die bisherige tierexperimentelle Praxis aus Sicht des Tierschutzes unbefriedigend war, weil die Forschungsfreiheit vor der Novellierung des GG als vorbehaltloses Grundrecht juristisch absolut gesetzt wurde und damit den bestehenden gesetzlichen Einschränkungsparagraphen des Tierschutzgesetzes praktisch den Boden entzogen hat. Vor der Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz genügte es, wenn der experimentierende Forscher die ethische Vertretbarkeit seiner Experimente bejahte. Seine Freiheit hatte in jeder Hinsicht Vorrang. Dies spiegelte sich auch in der Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes wider, wonach den zuständigen Behörden nur eine wissenschaftliche „Plausibilitätskontrolle“ zugestanden war. Eine eigenständige Überprüfung der Sachlage blieb ihnen verwehrt. Durch die Erhebung des Tierschutzes zum Staatsziel im GG entfällt diese einseitige Un-Abwägbarkeit der Forschungsfreiheit und die staatlichen Behörden sollen nun die einschränkenden Bestimmungen des Tierschutzgesetzes als Erwägungskriterien in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Über das Wie dieser Veränderung gehen die Meinungen jedoch weit auseinander. Einerseits stellt sich eine inhaltliche Frage, nämlich wie Tierversuche nach dem neuen Rechtsstatus der Tiere zu begründen sind, andererseits eine prozedurale Aufgabe: Die Begründungen sollen transparent und so abgefasst sein, dass sie für die Mitarbeiter in den 25 Insbesondere sei der Gesetzgeber dazu aufgefordert, „eine wirksamere und tierschutzfreundlichere Gesetzgebung mit Blick auf den Normenvollzug aufzulegen.“ (Caspar und Schröter 2003, S. 49). <?page no="72"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 72 Genehmigungsbehörden sowie die Mitglieder der beratenden Kommissionen (‘Tierversuchskommissionen’) 26 nachvollziehbar und wiederum transparent überprüfbar sind. Die Ausstattung des Tierschutzrechts mit Blick auf das Prozedere wird von Caspar und Schröter als außerordentlich bedeutend eingestuft: Sie meinen es sei unumgänglich, das bisherige Instrumentarium auszubauen und aufzustocken. Caspar und Schröter würden die Einführung einer tierschutzrechtlichen Verbandsklage, die Einführung einer Tierschutz- Ombutsperson, die Verbesserung der Stellung von Tierschutzbeauftragten und ein neues Aufgabenverständnis der ‘Tierversuchskommissionen’ für hilfreich ansehen. Diese Kommissionen sollten einer Reform unterzogen werden bzgl. Zusammensetzung und Befugnissen. So sollten vermehrt auch GeisteswissenschaftlerInnen als Mitglieder berufen werden, wie dies in anderen Ethikkommissionen bereits der Fall ist. Außerdem soll der Einfluss dieser Kommission in verfahrensrechtlicher Hinsicht gestärkt werden (Caspar und Schröter 2003, S. 49-58). Über die Neuregelung der Prozesse - wie Begründungen von Tierversuchen zu überprüfen sind - müssen auch Überlegungen zur angemessenen Begründung angestellt werden. Dazu gehört z.B. eine grundsätzliche Klärung von sog. unbestimmten Rechts-Begriffen wie „Unerlässlichkeit“ und „ethische Vertretbarkeit“. Diese sollen für die Vollzugspraxis nun mit konkretem Inhalt gefüllt werden, damit sie rechtswirksam sein können. Unerlässlich kann dementsprechend nur ein Eingriff genannt werden, für den es keine gleichwertigen Alternativmethoden nach dem 3R-Prinzip nach Russel und Burch (1959; „refinement“, Verfeinerung - „reduction“, Verminderung - „replacement“, Ersatz) gibt. Tierversuche dürften auch dann nicht als unerlässlich gelten, wenn diese Ersatzmethoden zeit- und kostenintensiver sind (Caspar und Schröter 2003, S. 78). Nach dieser Auslegung dürfte es somit eine „wirtschaftliche Unerlässlichkeit“ nicht mehr geben. 26 Gemeint sind die beratenden Kommissionen nach § 15 TierSchG und § 42 TierSch- VersV. Hier heißt es: „[...] Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder muss die für die Beurteilung von Tierversuchen erforderlichen Fachkenntnisse der Veterinärmedizin, der Medizin oder einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung haben. In die Kommissionen sind auch Mitglieder zu berufen, die aus Vorschlagslisten der Tierschutzorganisationen ausgewählt worden sind und auf Grund ihrer Erfahrungen zur Beurteilung von Tierschutzfragen geeignet sind; die Zahl dieser Mitglieder muss ein Drittel der Kommissionsmitglieder betragen. [...].“ (Zitat aus § 15 TierSchG alte Fassung; inzwischen sind die Zusammensetzung und Fachkenntnisse der Tierversuchskommissionen in § 42 TierSchVersV geregelt, inhaltlich unverändert). Es ist also von erforderlichen (veterinär)medizinischen/ naturwissenschaftlichen Fachkenntnissen die Rede sowie von der Befähigung zur Beurteilung von Tierschutzfragen aufgrund von Erfahrung. Explizite ethische Expertise (gar durch ein geisteswissenschaftliches Studium der Philosophie, Theologie oder Ethik) wird nicht gefordert. <?page no="73"?> 2.2 Änderung des Grundgesetzes - das Staatsziel Tierschutz 73 2.2.4 Bestandsaufnahme der Genehmigungspraxis: Es wird ein Handlungsbedarf sichtbar Zusammenfassend zu den Überlegungen des vorangehenden Abschnittes lässt sich sagen, dass das Ziel im Grundgesetz klar gestellt wurde (nämlich durch den interfraktionell, d.h. durch alle Fraktionen getragenen Willen, den Tierschutz durch seine Einfügung als Staatsziel ins Grundgesetz zu stärken), der Weg dorthin jedoch unklar ist. Seit der Tierschutz als Staatsziel definiert wurde, waren 7 Jahre vergangen (Stand 2010), es zeichneten sich auch kleinere Entwicklungen ab, ‘bahnbrechende’ Gerichtsentscheide oder maßgebliche einfachgesetzliche Änderungen im TierSchG gab es jedoch seit Einführung des Staatsziels nicht. Es fehlte dadurch an Klarheit, was „ethischer Tierschutz“ für die Forschung bedeutet. Es steht u.a. eine m.E. notwendige Konkretisierung der Vorgaben des Tierschutzgesetzes aus. Anregungen zu einer konkretisierenden Entwicklung der Rahmenbedingungen für die Forschung mit und an Tieren wurden von den Teilnehmern der Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, „Tierschutz in guter Verfassung? - Bestandsaufnahme und Handlungsbedarf nach seiner Einführung ins Grundgesetz“ 27 im Jahre 2004 erarbeitet. Die Tagung thematisierte u.a. die Erfahrungen bezüglich der Genehmigung von Tierversuchen vor und nach Einführung des Staatsziels „Tierschutz“ ins Grundgesetz. Als Ergebnis der Arbeitsgruppe „Tierversuche - Rechtsetzung und Vollzug“, deren Mitglied ich war, wurden folgende Gesichtspunkte festgehalten (Rusche 2004, S. 153-155): Damit sich nach der Änderung des Grundgesetzes eine neue Rechtspraxis und Rechtskultur entwickeln könne, obliege den Tierversuchs-Genehmigungsbehörden nun eine zentrale Funktion. Die Behörden sollten ihrem inhaltlichen Prüfauftrag bezüglich der Unerlässlichkeit, ethischen Vertretbarkeit, etc. der beantragten Versuche wesentlich stärker in rechtlich verbindlichen Verfahren nachgehen als bisher 28 . Dazu sei es dringend notwendig, die Ausstattung der Behörden bzw. ihre diesbezüglichen Kapazitäten sicherzustellen. Es wurde „übereinstimmend […] für wünschenswert erachtet, die Arbeit und Arbeitsweise der beratenden Kommissionen bundesweit zu vereinheitlichen und zu harmonisieren […]“. (z.B. durch eine Mustergeschäftsordnung) (Rusche 2004, S. 154). Mitarbeiter von Genehmigungsbehörden und Amtstierärzte sollten angemessene Qualifikationen (Versuchstierkundliche und ethologische 29 Kenntnisse) 27 19.-21. März 2004, Tagungsort: Evangelische Akademie in Bad Boll. 28 Einige der Konsequenzen im Hinblick auf die Genehmigung von Tierversuchen formuliert beispielsweise Kathrin Herrmann, Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGESO) Berlin, an anderer Stelle wie folgt: „Seit dem Inkrafttreten der Staatszielbestimmung ‘ethischer Tierschutz’ [...] besitzen die Genehmigungsbehörden ein eigenständiges Prüfrecht auf Unerlässlichkeit und ethische Vertretbarkeit von Tierversuchsanträgen.“ (Herrmann 2008, S. 76). 29 Verhaltenskundliche. <?page no="74"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 74 besitzen. Es wurde auch „für erforderlich gehalten, dass Antragstellern und Kommissionsmitgliedern Hilfestellung zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit geleistet werden sollte.“ (z.B. auf nationaler Ebene eine fachübergreifende Arbeitsgruppe bestehend aus Wissenschaftlern, Juristen, Ethikern und Tierschutzvertretern mit der Aufgabe zu betrauen, sich auf Kriterien der ethischen Abwägung zu einigen). In den Kommissionen solle bei der Bewertung von Projektanträgen „ein echter Prozess der ethischen Abwägung in Gang kommen und sich im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung vollziehen“. 30 Dieser Prozess solle auch inhaltlich transparent sein, z.B. wie die Unerlässlichkeit eines Experiments definiert und kontrolliert werde. Auch ein großer Teil der Forscher fühle sich überfordert, Projektanträge ethisch zu bewerten, da ihnen hierfür grundlegende Kenntnisse fehlten. Deshalb solle in der Aus- und Weiterbildung der Wissenschaftler die Anleitung zur Durchführung ethisch-juristischer Abwägungen und Bewertungen stärker berücksichtigt werden. Die auf der Tagung wiedergegebenen Einschätzungen und Desiderate wurden ähnlich auf dem Workshop „Die Rolle der Tierversuchskommissionen in der biomedizinischen Forschung in Deutschland“ 31 im Oktober 2005 in Tübingen geäußert 32 und sie wurden durch die Ergebnisse einer Umfrage zur Tätigkeit von Genehmigungsbehörden und der beratenden Kommissionen im Jahre 2006 bestätigt. Auf die Ergebnisse dieser Umfrage gehe ich später im Kapitel 2.5 ein. Die Forderungen, die auf der Tagung in Bad Boll von der interdisziplinär zusammengesetzten Arbeitsgruppe formuliert und anschliessend im gesamten Plenum vorgestellt und diskutiert wurden, betreffen den Weg zum neuen Staatsziel. Um diese Schritte jedoch im Kontext der Tierversuchspraxis genauer zu verstehen und danach eine Kritik auf ethischer Basis zu ermöglichen, müssen hier nachfolgend die Vorschriften unseres deutschen Tierschutzgesetzes und der dieses Gesetz umgebende Rahmen erläutert werden. 30 Bei der Forderung nach einem „echten Prozess der ethischen Abwägung“ wird darauf abgezielt, dass vor Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz mit Berufung auf ein Verfassungsgerichtsurteil vielerorts keine inhaltliche Prüfung der ethischen Vertretbarkeit, sondern lediglich eine Plausibilitätsprüfung durch die Kommission und die Genehmigungsbehörde stattfand. Vgl. auch ausführlich Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 309, § 8 Rn. 6 ff. 31 Interdisziplinäre Tagung „Wie funktioniert Bioethik? “ des DFG-Graduiertenkollegs „Bioethik“ sowie des Interfakultären Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen (seit Ende 2009 Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften). 6.-8. Okt. 2005, Tübingen. 32 Vgl. Alzmann 2008. <?page no="75"?> 2.3 Freiheit und Nutzen als Legitimationsgrundlage 75 2.3 Freiheit und Nutzen als Legitimationsgrundlage Die Aktivitäten der Forschung werden als ein basales Recht auf Freiheit im Grundgesetz geschützt (Art. 5 Abs. 3 GG). 33 Die Freiheit zur Themen- und Methodenwahl in der Forschung wird aus diesem Grundrecht abgeleitet. Dieses Recht kann aber keineswegs unbeschränkte Geltung haben. Einschränkungen sind notwendig, wenn die Forschung wichtige Werte zu verletzen droht, die ebenfalls durch das GG geschützt sind. 34 Forschung an Tieren berührt solche Werte im Grundgesetz (Art 20a GG), die eine gleichwertige Berücksichtigung verdienen. Forschungsprojekte, die mit Eingriffen oder Behandlungen an Tieren verbunden sind, sollten deshalb eine weitere, zusätzliche Legitimationsgrundlage haben. Eine solche ist der Nutzen, den der angestrebte Erkenntnisgewinn für die Gesellschaft haben kann. Er kann, in Verbindung mit dem Grundrecht auf Freiheit der Forschung, Tierexperimente rechtfertigen, sofern sich aus einer Abwägung ergibt, dass die Belastungen der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind (§ 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung bzw. § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung). Manche Forschung dient Zwecken der Gesellschaft und wird deshalb von der Gesellschaft befürwortet. Die Zwecke, zu denen Tierversuche durchgeführt werden dürfen - und sie dürfen laut Gesetz nur durchgeführt werden, soweit sie zu einem dieser Zwecke auch unerlässlich sind -, werden im Tierschutzgesetz benannt: „1. Vorbeugen, Erkennen oder Behandeln von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden oder Erkennen oder Beeinflussen physiologischer Zustände oder Funktionen bei Mensch oder Tier, 2. Erkennen von Umweltgefährdungen, 3. Prüfung von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf ihre Wirksamkeit gegen tierische Schädlinge, 4. Grundlagenforschung. [...].“ (§ 7 Abs. 2 TierSchG alte Fassung; gem. § 7a Abs. 1 Nr. 1 bis 8 TierSchG neue Fassung sind weitere Zwecke hinzugekommen, s. Kap. 7.8.1.4). Für diese Zwecke ist es also wünschenswert, neue Erkenntnisse zu erlangen, aber auch für diese Zwe- 33 Art. 5 Abs. 3 GG: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ 34 So werden bestimmte belastende Forschungen am Menschen im Sinne unseres Grundgesetzes - trotz Art. 5 GG - verboten und so können nach Auffassung namhafter Autoren auch für Tierversuche Grenzen gesetzt werden. Vgl. auch Lorz und Metzger (1999, S. 244 Rn. 55): „Schranke für alle Versuche mit Wirbeltieren: Abwägungsgebot ([TierSchG § 7] Abs 3 Satz 1) a) Die grundsätzlich gewährleistete Wissenschaftsfreiheit (Art 5 III GG) wird von dem Abwägungsgebot (wie auch von dem Unerläßlichkeitsgebot des Abs 2) berührt. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen ist deshalb nicht selbstverständlich. Aber schon wegen der Vorgaben des EG Rechts schränken sie die Freiheit der Wissenschaft nicht unzulässig ein [...].“ <?page no="76"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 76 cke nicht mit allen Mitteln. Die Realisation der Zielsetzungen wird eingeschränkt durch die ethische Vertretbarkeit der Mittel. 2.4 Das deutsche Tierschutzgesetz Da der Staat Tiere bereits lange vor der Novellierung des Grundgesetzes (durch die Einführung eines Staatsziels Tierschutz) unter Schutz stellte, wurden elementare Regeln zum Umgang mit Tieren bereits im Tierschutzgesetz von 1972 festgelegt. „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“ (§ 1 Satz 2 TierSchG) - ist der leitende Gedanke 35 des Gesetzes. Die Tiere sind in unserer Gesellschaft somit vor Beliebigkeit geschützt. In diesem Gesetz finden sich auch die allgemeinen Regeln für die Durchführung von Forschungsexperimenten an Tieren. 36 Das geltende Tierschutzgesetz verlangt dem Forscher ethische Überlegungen ab: Der Forscher muss abwägen und anschließend rechtfertigen, ob seine Ziele die Belastung von Versuchstieren rechtfertigen. So wurde in Deutschland festgelegt, dass vor der Genehmigung eines Versuchsvorhabens durch die zuständige Behörde 37 eine ethische Abwägung stattzufinden hat. 38 Diese Abwägung muss zunächst der Forscher durchführen, der den Tierversuch plant und der dann die ethische Vertretbarkeit des Vorhabens im Versuchsantrag wissenschaftlich begründet darzulegen hat. 39 35 Der Grundsatz des TierSchG wird in § 1 formuliert: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ 36 Die Ausarbeitung von Einzelverordnungen und Verfahren wird im Gesetz in die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft delegiert (§ 16d TierSchG). 37 § 8 Abs. 1 TierSchG: „Wer Versuche an Wirbeltieren durchführen will, bedarf der Genehmigung des Versuchsvorhabens durch die zuständige Behörde. [...]“ Der Einfachheit halber nenne ich diese ‘Genehmigungsbehörde’. 38 Dies verlangt das TierSchG in § 7 Abs. 3 Satz 1: „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind.“(Zitat aus § 7 Abs. 3 Satz 1 TierSchG alte Fassung. Inzwischen ist dieser Satz erweitert um Kopffüßer und findet sich in § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung.) 39 § 8 Abs. 3 TierSchG alte Fassung: „Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn 1. wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass a) die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 und 3 vorliegen, [...].“ Dazu J. Steike: „Gemäß § 8 Abs. 3 lit. a TierSchG darf eine Tierversuchgenehmigung nur erteilt werden, wenn unter anderem das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 und 3 TierSchG wissenschaftlich begründet dargelegt worden ist. § 7 Abs. 2 regelt die Unabdingbarkeit des Tierversuches, diese ist fachwissenschaftlich darzulegen. § 7 Abs. 3 TierSchG regelt die ethische Vertretbarkeit des Tierversuches, diese ist ethisch-wissenschaftlich darzulegen.“ (Steike 1996, S. <?page no="77"?> 2.4 Das deutsche Tierschutzgesetz 77 Dieser Versuchsantrag wird dann von mehreren Institutionen einer strengen Prüfung unterzogen 40 : Der Antrag muss vom lokalen Tierschutzbeauftragten (TierSchB) kommentiert werden, der für die Einrichtung, an der der Tierversuch durchgeführt werden soll, zuständig ist. Der Antrag samt Kommentar vom TierSchB wird dann an die Genehmigungsbehörde zur Begutachtung weitergeleitet, denn das Gesetz delegiert die Kontrolle über die Tierversuche in die Zuständigkeit von Behörden, die unter dem Landesrecht stehen. Diese Behörden sollen zur Unterstützung ihrer Arbeit beratende Kommissionen 41 berufen, die aus Fachleuten der Veterinärmedizin, Medizin oder anderen naturwissenschaftlichen Bereichen, sowie aus von Tierschutzorganisationen benannten geeigneten Personen zusammengesetzt sind. 42 Seit 1987 arbeiten solche beratende Kommissionen in Deutsch- 268). Mittlerweile regelt § 8 Abs. 1 TierSchG neue Fassung, wann die Genehmigung eines Versuchsvorhabens zu erteilen ist: “Wer Versuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern durchführen will, bedarf der Genehmigung des Versuchsvorhabens durch die zuständige Behörde. Die Genehmigung eines Versuchsvorhabens ist zu erteilen, wenn 1. wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass a) die Voraussetzungen des § 7a Absatz 1 und 2 Nummer 1 bis 3 vorliegen, [...].“ Die zuvor zitierten Kernelemente sind gleich geblieben, in der neuen Fassung bestimmt... § 7a Abs. 1, dass Tierversuche nur durchgeführt werden dürfen, soweit sie zu einem der dort benannten Zwecke unerlässlich sind; § 7a Abs. 2 Nr. 1: „Der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist zugrunde zu legen.“; § 7a Abs. 2 Nr. 2: „Es ist zu prüfen, ob der verfolgte Zweck nicht durch andere Methoden oder Verfahren erreicht werden kann.“; § 7a Abs. 2 Nr. 3: „Versuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind.“ 40 Vgl. hierzu Goetschel im Kommentar zum TierSchG: „Ob der Tierversuch nach Abs 3 Satz 1 ethisch vertretbar ist, verlangt eine Abwägung, die der Gesetzesanwender [...] stellvertretend für die Mehrheit der Bevölkerung vorzunehmen hat: Die dem Tier tatsächlich im Experiment zugemuteten Schmerzen, Leiden oder Schäden sind in ein Verhältnis zu setzen zu dem durch das Versuchsergebnis erhofften Erkenntnisgewinn des Menschen. Maßgebend ist aber insoweit nicht das Urteil des Forschers, vielmehr hat eine objektive Bewertung zu erfolgen. Alles andere führte zu dem in einem Rechtsstaat unerträglichen Ergebnis, dass der Rechtsunterworfene über den Inhalt des ihn betreffenden Rechts zu befinden hätte.“ (Goetschel in Kluge 2002, S. 210 § 7 Rn. 53, Hervorhebung im Original). 41 Die Aufgaben und Zusammensetzung der beratenden Kommission sind in § 15 des Tierschutzgesetzes und § 42 der Tierschutz-Versuchstierverordnung geregelt. Die beratenden Kommissionen werden bisweilen umgangssprachlich auch als ‘Tierversuchs-Kommissionen’ benannt. 42 Die eigentliche Entscheidungsmacht liegt bei den Kommissionen. Sie legen ihr Votum der Behörde vor und es kommt erfahrungsgemäß nur selten vor, dass die Behörde diesem Votum widersprechen würde (Schöffl 1997, S. 392; Kolar und Ruhdel 2007, S. 330). Deshalb wird im Folgenden mehr auf die Arbeit der Kommissionen als auf die <?page no="78"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 78 land. Ihre primären Aufgaben sind die Plausibilitätsprüfung und eine ethisch fundierte Kosten-Nutzen Abwägung des Tierleids gegenüber dem Nutzen für den Menschen. 43 Alle diese Prozesse sind gesetzlich vorgeschrieben: Es muss die ethischen Überlegungen geben. Wie diese ethischen Überlegungen anzustellen sind, wie sie gar zu operationalisieren sind, damit sie in gleicher Weise in den verschiedenen Genehmigungsbehörden/ Regierungsbezirken/ Bundesländern durchgeführt werden, schreibt das Gesetz aber nicht vor. Zudem fehlen konkrete Angaben hinsichtlich der bei der Frage der ethischen Vertretbarkeit zu berücksichtigenden Kriterien als auch solche hinsichtlich der Gewichtung dieser Kriterien bzw. Aspekte. Der Gesetzgeber hat die ethische Vertretbarkeit gefordert, ohne dem Forscher einen Leitfaden für seine ethische Entscheidungsfindung an die Hand zu geben. Ebenso benötigt die genehmigende Behörde - wie auch die beratende Kommission - für die Prüfung der ethischen Vertretbarkeit in gleicher Weise Kriterien, anhand derer sie ethisch vertretbare von ethisch nicht vertretbaren Tierversuchsvorhaben unterscheiden kann. Leider wird die Arbeit der Kommission als ‘black box’ konzipiert, ohne dass (1) alle entscheidungsrelevanten Kompetenzen - vor allem ethische Fachexpertise - in der Zusammensetzung der Kommissionen gesichert, (2) notwendige Informationen zur Abwägung definiert und (3) die Qualität des Entscheidungsprozesses überprüfbar gemacht würde. 2.4.1 Kommissionen ohne zwingend vorgeschriebene ethische Fachexpertise Ethische Fachexpertise wird im Gesetz weder beim antragstellenden Wissenschaftler, noch bei den Behörden, noch bei den beratenden Kommissionen explizit verlangt, obwohl die definierten Aufgaben eindeutig eine ethische Abwägung zwischen unterschiedlichen Werten erfordern. 44 Es ist mir wichtig an dieser Stelle noch einmal darauf hinzuweisen, dass „moralisch“ nicht mit „ethisch“ zu verwechseln ist, d.h. moralische Intuitionen, die wohl in der Mehrheit der Fälle den Entscheidungen in den Kommissionen zu Grunde liegen, 45 sind nicht dasselbe wie Ethik als Wissenschaft (vgl. dazu der Behörden eingegangen. Die Entscheidungsbefugnis jedoch liegt bei der zuständigen Behörde. Diese ist nicht an das Votum der sie beratenden Kommission gebunden. 43 Bei geringem Nutzen muss auf stark belastende Tierversuche verzichtet werden! 44 „Mithin müssen sowohl die Genehmigungsbehörde als auch der Antragsteller vertiefte Kenntnisse der jeweiligen Fachmethodiken haben, um ihrer Darlegungspflicht beziehungsweise Kontrollbefugnis nachkommen zu können.“ (Steike 1996, S. 270). 45 Siehe in Kapitel 2.5 das Ergebnis einer empirischen Untersuchung zur Arbeit der Kommissionen. <?page no="79"?> 2.4 Das deutsche Tierschutzgesetz 79 auch meine Ausführungen in der Einleitung). Das Tierschutzgesetz verlangt explizit, dass Versuche an Wirbeltieren (im TierSchG neue Fassung auch Versuche an Kopffüßern) nur durchgeführt werden dürfen, „wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. [...].“ (§ 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung bzw. jetzt § 7a Abs. 2 Nr. 3 neue Fassung) und dieses „wissenschaftlich begründet dargelegt“ wurde (§ 8 Abs. 3 Satz 1 TierSchG alte Fassung bzw. jetzt § 8 Abs. 1 Nr. 1 TierSchG neue Fassung). Dies gilt umso mehr, weil Aufgaben und Pflichten der beratenden Kommissionen in der Verwaltungsvorschrift von Juli 1988 dahingehend präzisiert wurden, dass nun die Kommission innerhalb von vier Wochen (alte Fassung; jetzt hat die zuständige Behörde gem. § 32 TierSchVersV innerhalb von 40 Arbeitstagen ab dem Eingang eines den Anforderungen entsprechenden Antrags dem Antragsteller ihre Entscheidung über den Antrag mitzuteilen) zu einem Genehmigungsantrag Stellung nehmen und sich insbesondere dazu äußern muss, ob das Vorhaben nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis unerlässlich und ethisch vertretbar und in Fällen erheblicher Belastung für die Versuchstiere von hervorragender Bedeutung ist. Diese explizit ethischen Abwägungen sollen gem. § 8 Abs. 3 TierSchG (alte Fassung bzw. jetzt § 8 Abs. 1 Nr. 1 TierSchG neue Fassung) vom antragstellenden Forscher angestellt werden und werden später im Verlaufe des Genehmigungsverfahrens durch eine Kommission überprüft, die aus 2/ 3 Naturwissenschaftlern - die meist selbst Tierversuche durchführen - und 1/ 3 Vertretern, die aus Vorschlagslisten von Tierschutzorganisationen benannt wurden, zusammengesetzt sind - hierbei sei noch erwähnt, dass die Benennung dieser „vom Tierschutz“ vorgeschlagenen Personen der Behörde obliegt, die jedoch nicht an diese Vorschlagsliste gebunden ist, was verschiedentlich kritisiert wurde. Dass die Kommissionen bisweilen Schwierigkeiten haben, den Aufgaben adäquat nachkommen zu können, wurde verschiedentlich benannt (s. dazu auch Kapitel 2.5), wird meinem Eindruck nach aber zu wenig wahrgenommen. Und es sind - fachlich gesehen - nicht nur die fehlende ethische Expertise zu bemängeln, auch die Frage der Alternativlosigkeit bedarf der Einschätzung fachkundiger Experten, und niemand kann alle Forschungsdisziplinen auf dem jeweils aktuellsten Kenntnisstand adäquat überblicken. Dies betrifft sodann auch die Frage der Einschätzung der benötigten Anzahl der Versuchstiere 46 . Nicht jede Kommission kann sich glücklich schätzen, einen Statistiker in ihren Reihen zu haben. Die Kommissionen sind - was den Arbeitsaufwand 46 So verlangt das TierSchG explizit: „Tierversuche im Hinblick auf […] die Zahl der verwendeten Tiere […] auf das unerlässliche Maß zu beschränken“ (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b TierSchG neue Fassung; in § 9 Abs. 2 Satz 3 der alten Fassung lautete die Bedingung: „Für den Tierversuch dürfen nicht mehr Tiere verwendet werden, als für den verfolgten Zweck erforderlich ist.“). <?page no="80"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 80 und Zeitdruck zur Begutachtung und Entscheidungsfindung betrifft - außerdem bisweilen sehr stark belastet, was noch erschwerend hinzukommt (s. Kap. 2.5). 2.4.2 Der Antragsteller ohne konkrete Orientierungshilfe im Gesetz Die beratende Kommission hat die Aufgabe, die wissenschaftliche Plausibilität und die ethische Vertretbarkeit zu prüfen. Die ‘black box’ der Kommissionsarbeit, die wohl zur Entlastung und Individualisierung der Beurteilung führen soll, kann aber auch für den Antragsteller von Nachteil sein. Durch die mangelnde Transparenz verfügt er über keine Kenntnis über die an ihn gestellten Erwartungen. In der Praxis ist es häufig so, dass Forscher nicht wissen, was von ihnen konkret verlangt wird bzgl. der ethischen Güterabwägung. 47 Eine Hilfestellung zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit gibt es im Tierschutzgesetz, der Tierschutz-Versuchstierverordnung und der AVV nicht. Zu der von den beteiligten Instanzen (Antragsteller, Behörde, beratende Kommission) vorzunehmenden Güterabwägung w rde sodann auch festgestellt, dass der Gesetzgeber „[…] eine Anleitung, nach welchen Kriterien die Abwägung erfolgen sollte, oder auch nur eine Definition des Begriffes ‘ethisch vertretbar’ […] nicht mitgeliefert [habe].“ 48 Die Antragsteller müssen zwar eine Bewertung vornehmen und diese in einen Kontext von ethischer Vertretbarkeit stellen 49 , aber durch ihre zumeist rein naturwissen- 47 Vgl. beispielsweise TVT Merkblatt Nr. 50 (1997), S. 2: „Während sich noch relativ einfach begründen läßt, ob ein Tierexperiment wissenschaftlich unerläßlich ist, ruft die Forderung nach ‘ethischer Vertretbarkeit’ bei vielen Wissenschaftlern, die einen Tierversuchsantrag stellen, eher Ratlosigkeit hervor.“ 48 Scharmann und Teutsch 1994, S. 193. - Der Gesetzgeber wäre dazu schon deshalb nicht in der Lage, da sehr unterschiedliche Meinungen darüber herrschen, was „ethisch vertretbar“ sei oder was z.B. „wesentliche Bedürfnisse“ oder „berechtigte Interessen“ des Menschen seien. Zudem gebe es „keine einhellige Meinung darüber, welche Art der Belastung für Tiere noch zumutbar und wann eine Leidensbegrenzung zu fordern ist.“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 193). Kritisch auch Mayr 2007b, S. 363: „Zur konkreten Bewertung der ethischen Zulässigkeit von Tierversuchen geben Tierschutz- und Grundgesetz nur einen sehr groben Rahmen vor. Die in ihnen angelegte ‘Interpretationsfreiheit’ reicht zu weit und ist unter Tierschutzgesichtpunkten wenig zufrieden stellend.“ Aus Sicht eines von Seiten eines Tierschutzverbandes benannten Kommissionsmitglieds s. Sauer 200 , S. 317ff. 49 Der Forscher hat die ethische Vertretbarkeit seines Vorhabens im Versuchsantrag wissenschaftlich begründet darzulegen: „Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn 1. wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass a) die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 und 3 vorliegen, [...].“ (§ 8 Abs. 3 TierSchG alte Fassung; nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a neuer Fassung müssen die Voraussetzungen des § 7a Absatz 1 und 2 Nummer 1 bis 3 TierSchG neue Fassung vorliegen). § 7 Abs. 2 alte Fassung besagt, dass Tierversuche nur durchgeführt werden dürfen, wenn sie zu einem der dort <?page no="81"?> 2.4 Das deutsche Tierschutzgesetz 81 schaftlich ausgerichtete Ausbildung sind sie unter Umständen nicht in der Lage, der Forderung nach einer wissenschaftlich begründeten Darlegung der ethischen Vertretbarkeit in angemessener Art und Weise nachzukommen. 50 Folglich sind Anträge oft von unzureichender Qualität. Sie sind unvollständig, gehen auf relevante Informationen nicht ausführlich genug ein, enthalten Aussagen, die zum Teil unplausibel sind und ihre wissenschaftliche Darlegung lässt viel zu wünschen übrig (Lindl et al. 2001, S. 177). Blumer et al. identifizieren bei der vom Antragsteller abverlangten wissenschaftlich begründeten Darlegung der ethischen Vertretbarkeit zwei generelle Probleme: „Die Forderung des Gesetzgebers an den Antragsteller, die Voraussetzungen des § 7 Abs. 3 des Tierschutzgesetzes (TierSchG) wissenschaftlich begründet darzulegen - und zwar nicht fachwissenschaftlich [i.S.v. naturwissenschaftlich], sondern ethisch-wissenschaftlich - führt sowohl für Antragsteller als auch für die Genehmigungsbehörden zu einer problematischen Situation. Zum einen ist dem Gesetzestext nicht zu entnehmen, welches der zahlreichen momentan diskutierten Ethikkonzepte zugrundegelegt werden soll [...]. Zum anderen wird in aller Regel in den medizinischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen gar kein - oder zumindest kein ausreichendes - Wissen über Ethik vermittelt, das die künftigen Wissenschaftler befähigen würde, sich mit dem Problem adäquat auseinanderzusetzen [...]. Ethik ist eine Wissenschaft, eine Reflexionstheorie und nicht etwa eine subjektive Einstellung.“ (Blumer/ Liebich/ Ricken/ Wolf 1995, S. 221). Dass junge Wissenschaftler nicht immer und nicht überall adäquat in Ethik ausgebildet werden, ist ein Mangel. Wünschenswert wäre daher, verstärkt die Ausbildung in Ethik in die Studiengänge der Naturwissenschaftler und Mediziner 51 zu implementieren und die Weiterbildung in Ethik für Personen zu fördern, die bereits ihre naturwissenschaftliche Ausbildung abgeschlossen haben. Ein weiteres Problem ist die Beurteilung der Belastungen: Eine prospektive Beurteilung der Belastungen, denen die Tiere im Versuch ausgesetzt benannten vier Zweckbereiche unerlässlich sind, wobei der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zu Grunde zu legen ist und auch die Alternativlosigkeit zu prüfen ist. Abs. 3 alte Fassung verlangt die ethische Vertretbarkeit sowie eine hervorragende Bedeutung bei länger andauernden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden. 50 Um es mit Jörn Steike auszudrücken: „Der Tierversuchsdurchführende forscht regelmäßig nicht auf dem Gebiet der Ethik.“ (Steike 1996, S. 269). 51 Die Medizinethik ist zwar gut etabliert, aber ihr Gegenstand ist in der Regel der Umgang mit dem Menschen in Forschung und Therapie. <?page no="82"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 82 werden, können Mitglieder der Kommission oft nicht leisten. 52 Die Grundlage dieser Prüfung ist der Antrag, den ein Forscher einreichen muss, bevor er Experimente an Tieren vornimmt. Der Forscher ist gesetzlich dazu verpflichtet, in seinem Antrag eine Einschätzung der Belastung der Tiere vorzunehmen. Im Gesetz wird explizit verlangt, dass „Schmerzen, Leiden und Schäden [...] den Tieren nur in dem Maße zugefügt werden [dürfen], als es für den verfolgten Zweck unerlässlich ist; insbesondere dürfen sie nicht aus Gründen der Arbeits-, Zeit- oder Kostenersparnis zugefügt werden.“ (§ 9 Abs. 2 Satz 3 TierSchG alte Fassung bzw. wortgleich in § 7a Abs. 2 Nr. 4 TierSchG neue Fassung), aber bereits die ethische Verpflichtung des Forschers - sowie finanzielle und organisatorische Gründe - gebieten ihm, dass er nach der Einschätzung der Belastung überlegt, ob die Belastung auf irgendeine Weise reduziert werden könnte. Dazu sind die 3R-Prinzipien (Russel und Burch 1992) eine praktische Anleitung. Weder Kommission noch Behörde sind in der Lage, die Belastung in einem Tierversuch prospektiv sicher einzuschätzen. Solche Schätzungen scheinen auch die Forscher selbst vor Schwierigkeiten zu stellen. Im Kapitel 3.4 möchte ich daher vertiefend auf die Probleme der Belastungseinschätzung eingehen. Vergleicht man Forschungsanträge mit retrospektiven Forschungsberichten, stellt sich heraus, dass die Belastung der Tiere häufig prospektiv unterschätzt wird (Lindl et al. 2001, S. 176). In einer umfassenden Studie untersuchten Lindl und seine Kollegen die Ergebnisse von beantragten und genehmigten tierexperimentellen Versuchsvorhaben in Bezug auf das Forschungsziel, den wissenschaftlichen Nutzen und die medizinische Relevanz. Gegenstand der Untersuchung waren alle eingereichten Tierversuchsanträge über einen Beobachtungszeitraum von 3 Jahren in einer ‘Tierversuchskommission’ (51 Anträge). Prospektiv wurde anhand der Versuchsvorhaben ermittelt, wie die Belastung der Tiere einzustufen ist, und ob die Begründung für die gewählte Tierart und die ethische Rechtfertigung nach derzeitigen Kriterien tatsächlich ausreichend ist. Zusätzlich wurden alle Antragsteller mit einem Fragebogen detailliert zu ihren Versuchsvorhaben befragt. Aufgrund von recherchierten Publika- 52 Sodann w rd auch bemängelt, dass es keinen bundesweit einheitlich vorgeschriebenen Katalog zur Einschätzung der Belastung der Versuchstiere gibt. Ein sog. „Belastungskatalog“ ermöglicht Tierart-spezifisch die prospektive Einschätzung der Belastung (vor Versuchsbeginn) und damit die Einstufung in „Schweregrade“ und zwar in Abhängigkeit vom durchzuführenden Eingriff. Die Einstufung basiert auf Erfahrungswerten. Wünschenswert ist es, ebenso eine retrospektive Einstufung vorzunehmen. Untersuchungen konnten zeigen, das es hier oft Diskrepanzen gibt und die prospektiven Einschätzungen häufig zu niedrig vorgenommen werden, die Tiere im Versuch also tatsächlich stärker leiden (vgl. Völkel und Labahn 1997). u e <?page no="83"?> 2.4 Das deutsche Tierschutzgesetz 83 tionen in entsprechenden Fachorganen wurde anschließend retrospektiv ermittelt, inwieweit der im Antrag in Aussicht gestellte Erkenntnisgewinn mit der ausgewählten Tierart und dem experimentellen Ansatz erzielt werden konnte sowie ob die Autoren Aussagen über die tatsächliche Belastung der Tiere und die ethischen Vertretbarkeit, bzw. über eingesetzte Alternativmethoden und eigene kritische Anmerkungen gemacht hatten. Die ausgewerteten Anträge und die damit zusammenhängenden Publikationen lassen erkennen, dass bei vielen tierexperimentellen Versuchsvorhaben das postulierte Ziel nicht oder nur teilweise erreicht wurde (Lindl et al. 2001, S. 173). Es gab auch eine relativ große Zahl von Tierversuchsvorhaben, die zu keinerlei Publikation führten, obwohl die Bedeutsamkeit des Experiments hoch eingestuft war. Das lässt Zweifel aufkommen, ob die Informationen zur ethischen Rechtfertigung von tierexperimentellen Versuchsvorhaben in den Anträgen zuverlässig sind. 2.4.3 Fehlende Qualitätskontrolle Zur Qualitätssicherung der Entscheidung formulieren weder das Gesetz noch die Verwaltungsvorschrift einschlägige Regeln. Im Gegenteil: Ein Antrag, der drei Monate lang bei einer Kommission nicht bewertet und damit nicht von der Behörde entschieden wurde, galt als bewilligt (§ 8 Abs. 5a TierSchG alte Fassung; sog. Genehmigungsfiktion), d.h. im Sinne des Gesetzes erfüllt er die Kriterien der ethischen Vertretbarkeit (Anm.: Da die Tierversuchsrichtlinie 2010/ 63/ EU eine solche Genehmigungsfiktion nicht vorsieht, ist diese mit dem Änderungsgesetz 2013 aus dem deutschen TierSchG neuer Fassung gestrichen worden). Dieses Verfahren widerspricht der Logik jeglicher Qualitätskontrolle. In den Anträgen stünden häufig falsche Angaben oder pauschale Standardformulierungen, die eine echte Abwägung zwischen wissenschaftlichen Zielen und Belastungen der Tiere nicht ermöglichten. Die Entscheidung über Anträge durch die Kommissionen, deren Mitglieder u.U. auch im Interessenkonflikt mit den zu bewertenden Anträgen stünden (Gruber und Kolar 1997; Kolar und Ruhdel 2007, s. nachfolgend Kapitel 2.5) und weder über angemessene Entscheidungskompetenzen noch über zuverlässige Informationen verfügten, könne auch ohne die Kommissionen getroffen werden, kritisiert Roman Kolar 53 (Kolar 2000, S. 231). Nach altem TierSchG gab es keine Erfolgskontrolle für einzelne Anträge. Die tatsächliche Belastung des Tierversuchs 53 Stellvertretender Leiter der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbundes e.V. (DTB). „[…] für die beratenden Kommissionen in Deutschland […] gilt, dass diese Gremien über keinerlei echte Entscheidungskompetenz verfügen. Zu welcher Entscheidung sie auch gelangen, die Bewilligung (oder - zumindest theoretisch - die Ablehnung) eines Antrages kann letzten Endes auch ohne ihre Zustimmung erfolgen.“ (Kolar 2000, S. 231). <?page no="84"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 84 wurde den Angaben im Antrag nicht gegenübergestellt (wie diese beispielsweise im Genehmigungsverfahren der Schweiz realisiert ist) und retrospektiv wurde keine Bewertung vorgenommen. Eine falsche prospektive Einschätzung der Belastung hatte für den Forscher keinerlei Konsequenzen. Eine retrospektive Analyse der Belastung wurde seit langem gefordert, aber trotz Kritik schien es in diesem Bereich keine Entwicklung zu geben (Kolar 2000, S. 232). 54 Da die Tendenzen der Unterschätzung der Belastung in einzelnen Experimenten und Forschungseinrichtungen relativ konstant ist, könnten Kommissionen diesen „Faktor“ bereits in ihrer Entscheidung mitberücksichtigen. Dies würde langfristig dazu führen, dass sich eine bewusste Unterschätzung der Belastung nicht auszahlen würde, denn in der Bewertung der nächsten Anträge durch die Kommission würde dieser Unterschied zur Last fallen. Eine vergleichbare Prozedur könnte der Überschätzung der Bedeutsamkeit des Experiments vorbeugen. Dazu müssten natürlich retrospektive Protokolle geführt oder zuverlässige Berichte erstattet werden. Die Kommission könnte die Ergebnisse mit den entstandenen Publikationen vergleichen. Nach dem Tierschutzgesetz neuer Fassung (§ 8 Abs. 5 i.V.m. § 33 Abs. 1 Nr. 3 und § 35 TierSchVersV) kann die Genehmigungsbehörde eine rückblickende Bewertung von Versuchsvorhaben durch die zuständige Behörde anordnen. Bei bestimmten Versuchen ist eine rückblickende Bewertung stets vorzusehen (vgl. Kap. 6.2.1.2.2). 54 Es sei angemerkt, dass auch eine retrospektive Qualitätskontrolle des Outcomes der Experimente stets sinnvoll ist. So äußern beispielsweise Lindl, Völkl und Kolar plakativ: „Nach 10 Jahren keine Umsetzung in der Humanmedizin nachweisbar“ (Lindl, Völkel und Kolar 2005, S. 143. Vgl. auch beispielsweise: Lindl et al. 2001). Ich wüsste überdies keinen Wirtschafts-Bereich zu benennen, in dem es nicht eine Qualitätskontrolle gäbe, und sei es nur deshalb, um sicherzustellen, dass das eingesetzte (Steuer-)Geld auch Erfolg versprechend verwendet wurde. Im Bereich der Tierversuche kommt die ethische Dimension des Zufügens von Schmerzen, Leiden und Schäden, die den Versuchstieren explizit und unausweichlich zugefügt werden, noch hinzu. Ob die Bewilligungsprozedur für Drittmittel hier ein ausreichendes Instrument zur Qualitätskontrolle im Hinbilck auf die ethische Vertretbarkeit der Tierexperimente ist, die im Rahmen von Projekten durchgeführt werden, für die der Projektleiter um Finanzierung ersucht, kann ich nicht ausreichend beurteilen. Sicherlich haben große Wissenschaftsorganisationen, wie beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), strenge Anforderungen, die für die Bewilligung einer Projektförderung erfüllt sein müssen. Meines Erachtens kann dies jedoch kein Ersatz sein für eine adäquate Prüfung durch die beratende Kommission, die ihren Fokus nicht primär auf das Erzielen wissenschaftlichen Fortschrittes legt, sondern vielmehr auf die Gewährleistung der ethischen Vertretbarkeit der beantragten Vorhaben. <?page no="85"?> 2.5 Bewertung von Anträgen in der beratenden Kommission und der Behörde 85 2.5 Bewertung von Anträgen in der beratenden Kommission und der Behörde Leider gibt es nicht viel Literatur zur Arbeitsweise der beratenden Kommissionen und der Behörden. Die Praxis der beratenden Kommissionen, die die Genehmigungsbehörden für Tierversuche unterstützen sollen, wurde seit der Einführung dieser Kommissionen im Jahre 1987 jedoch mehrfach empirisch untersucht. Der Deutsche Tierschutzbund e.V. führte die erste Umfrage im Jahre 1989 bundesweit (in allen 11 damaligen Bundesländern) durch. 1995 folgte dann eine zweite bundesweite Umfrage, deren Ergebnisse mit den Daten aus 1989 verglichen wurden (vgl. Schöffl et al. 1997). Es zeigt sich, dass sowohl 1989 als auch 1995 nur ein prozentual sehr geringer Anteil der Anträge abgelehnt wurde. Die Begründung war mit gleicher Häufigkeit entweder ein schlechtes wissenschaftliches Konzept oder die mangelnde ethische Vertretbarkeit. Solange 1989 Kommissionsmitglieder, die von Tierschutzorganisationen delegiert wurden, mit ihrer Leistung und Anerkennung in der Kommission eher unzufrieden waren, haben sie 1995 ihre Arbeit positiv und sinnvoll eingeschätzt. Es könnte angenommen werden, dass in den Kommissionen durch die Zeit Vorurteile abgenommen haben und eine sachlichere Reflexion möglich wurde. 1995 schien das Thema „Belastung der Tiere“ in den Kommissionen bereits intensiv diskutiert zu werden. Einige wenige Kommissionsmitglieder gaben bereits an, dass sie zur Beurteilung der Belastung der Tiere Belastungskataloge verwenden (Schöffl et al. 1997, S. 391). Man wollte mit diesen Katalogen erreichen, dass die Bewertung der Anträge zumindest kommissionsintern einige Transparenz erhält, gerechter und berechenbarer wird. Die Idee einer Qualitätssicherung in den Kommissionen ist also durchaus nicht neu. Eine weitere umfassende Umfrage wurde 2006 ebenfalls vom Deutschen Tierschutzbund e.V. (DTB) durchgeführt (Kolar und Ruhdel 2007) 55 . Zusammen mit Wissenschaftlern der Akademie für Tierschutz des DTB in Neubiberg habe ich im Rahmen meiner Dissertation die Fragen ausgearbei- 55 Zu dieser Umfrage s. auch Ruhdel et al. 2007. „The main type of advice mentioned concerns the actual ethical evaluation process so that it can be concluded that more competence in ethics is need ed within that process.“ (Kolar und Ruhdel 2007, S. 332) <?page no="86"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 86 tet. Es wurde ein Fragebogen für die beratenden Kommissionen entwickelt, dessen Fragen sich an die beiden bereits durchgeführten Umfragen des DTB der Jahre 1989 und 1995 anlehnten, um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu erreichen und damit die Situation der beratenden Kommissionen zu Beginn der Einführung dieses Gremiums, sechs Jahre danach sowie weitere elf Jahre nach der zweiten Umfrage vergleichen zu können. Erstmalig wurden mit der Umfrage im Jahre 2006 auch die Behörden eingeschlossen, wozu ein zweiter spezifischer Fragebogen ausgearbeitet wurde. Ein weiterer Fokus der Befragung war, die Situation nach Einführung des Staatsziels Tierschutz zu erfassen und zu ermitteln, ob sich durch die Einführung des Staatsziels die Arbeit der Behörden oder der Kommissionen verändert habe, z.B. in Bezug auf die Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit. Die 29 Genehmigungsbehörden, die in den 16 Bundesländern für die Genehmigung der Tierversuchsanträge zuständig sind, wurden mit Fragebögen angeschrieben. Jede Behörde wird von einer oder in einigen Fällen auch von mehreren beratenden Kommissionen unterstützt. Die Anzahl der Mitglieder der beratenden Kommissionen beträgt daher im Minimum 174, dazu kommt im Minimum dieselbe Anzahl an stellvertretenden Mitgliedern. Die meisten Behörden behandeln die Namen der Mitglieder der Kommissionen vertraulich, so dass die an die Mitglieder der beratenden Kommissionen gerichteten Fragebögen über die Behörden mit Bitte um Weiterleitung versendet wurden. Die von Seiten von Tierschutzorganisationen benannten Kommissionsmitglieder, die dem Deutschen Tierschutzbund namentlich bekannt waren, wurden direkt angeschrieben. Von den Fragebögen an die Genehmigungsbehörden wurden insgesamt 16 Fragbögen ausgefüllt zurückgesendet, wobei zwei Ministerien stellvertretend für mehrere der ihnen zugeordneten Behörden geantwortet haben, so dass insgesamt für 21 von 29 Behörden Informationen zur Auswertung vorlagen. Sieben Behörden antworteten auch nach wiederholten Rückfragen nicht. Von den Fragbögen an die Mitglieder der beratenden Kommissionen wurden 52 zurückgesendet, davon 37 von ordentlichen Mitgliedern und 14 von stellvertretenden Mitgliedern. 35 Antworten (70%) stammten von Mitgliedern, die von Tierschutzorganisationen benannt waren, 15 (30%) von Forschern. Es wurden mehrere Gesichtspunkte abgefragt, von denen ich mich hier auf die für meine Arbeit wesentlichen beschränken möchte, ich werde daher hier nur diese Ergebnisse vorstellen. Bei einigen Fragen waren mehrere Antwortmöglichkeiten gleichzeitig möglich. Auch wurden einige Fragen nicht von allen Befragten beantwortet. Diese beiden Umstände sind bei der Interpretation der Ergebnisse zu beachten. Es wurde keine signifikante Veränderung in der Anzahl der Ablehnungen im Vergleich zu den früheren Untersuchungen erkennbar. Bzgl. der <?page no="87"?> 2.5 Bewertung von Anträgen in der beratenden Kommission und der Behörde 87 Anzahl der zu genehmigenden Anträge wurden im Zeitraum, der dieser Befragung zugrunde lag, nämlich von 2003 bis 2005, in 17 Behörden knapp 3.792 Anträge behandelt, wobei im Beobachtungszeitraum die Anzahl der Anträge jährlich zunahm. Von den eingegangenen Anträgen wurden 95,8 % genehmigt, 1,3 % wurden abgelehnt. Die verbleibenden 2,9 % wurden nach Rückfragen der Behörde vom Antragsteller zurückgezogen (Kolar und Ruhdel 2007, S. 328). Bzgl. der Arbeitsbelastung der beratenden Kommissionen hat sich eine Überlastung durch die Menge der Anträge in einzelnen Kommissionen gezeigt. Es wurde festgestellt, dass die Anzahl der zu bearbeitenden Anträge in den einzelnen Kommissionen stark variiert. Pro Sitzung wurden in 8 Kommissionen (von 19 Antworten) 8 bis 10 Anträge behandelt, in 5 Kommissionen wurden 11 bis 20 Anträge behandelt. Dabei ist relevant, wie oft die Kommissionen tagen. Auch diese Intervalle variierten signifikant: mehr als 2/ 3 der Kommissionen tagten alle 2 bis 4 Wochen (9 von 19 Antworten) bzw. zwischen 5 und 8 Wochen (6 von 19 Antworten). Nur 3 Kommissionen tagten weniger als alle 2 Monate. Eine Kommission tagte lediglich 2 bis 4 Mal im Jahr. In dieser Studie wurde explizit auf die Entstehung einer Entscheidung eingegangen und auf die ethischen Maßstäbe, die in der Entscheidung eine Rolle spielen. Bzgl. der ethischen Bewertung wurden die Behörden und Kommissionen befragt, wie sie zu ihrer Entscheidung über die ethische Vertretbarkeit eines beantragten Tierversuchs gelangen und auf welche Fachkompetenzen in Ethik sie zurückgreifen können (ob z.B. Mitglieder der Kommission einen Abschluss in Bioethik, Philosophie oder Theologie oder anderer Arten von [Zusatz-]Ausbildungen haben, wie beispielsweise interdisziplinäre Weiterbildungen). 19 von 20 Behörden gaben an, sich immer der ethischen Bewertung ihrer beratenden Kommission anzuschließen, mehr als die Hälfte (11 Antworten) erklärten, sie würden zusätzlich eine eigene ethische Bewertung vornehmen. Eine Behörde gab an, sie würde ihre Entscheidung ausschließlich aufgrund eigener Bewertung treffen. Zur Durchführung der ethischen Bewertung verwendeten die Behörden Publikationen, Expertenberichte, Belastungskataloge, Gerichtsentscheide, Internetrecherchen, sowie den Informationsaustausch mit anderen Behörden. Über 2/ 3 der Behörden (11 von 17 Antworten) verfügten nicht über spezifische Kompetenzen in Ethik. 5 Behörden zogen externe Ethiker beratend hinzu; 4 Behörden griffen auf die Fachkompetenzen von Mitgliedern ihrer beratenden Kommissionen zurück; 2 Behörden erklärten, sie hätten Mitarbeiter, die über Weiterbildungen in Bioethik oder Philosophie verfügten. 6 Behörden konnten auf keinerlei Fachkompetenz in Ethik zurückgreifen. Eine Behörde beantwortete diese Fragestellung nicht. <?page no="88"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 88 Bei der Frage danach, wie die Kommissionen die ethische Bewertung durchführen, zeigten die Antworten der Mitglieder der beratenden Kommissionen, dass die Mehrheit (81%: 42 von 52 Antworten) eine eigene Bewertung der ethischen Vertretbarkeit - die sich nicht auf die Ausführung des Antragstellers stützt - vornimmt. Der Maßstab der ethischen Entscheidung war bei der Mehrheit der Kommissionsmitglieder ihre Intuition und die persönliche Überzeugung: Es wurde am häufigsten nach der Intuition / dem eigenen moralischen Empfinden vorgegangen (10 Antworten). Seltener wurden vergleichbare Publikationen (6 Antworten) und Fallstudien (5 Antworten) als Vergleichswerte genannt. In Einzelfällen wurden selbst erstellte Kataloge (3 Antworten) oder/ und externe Expertenberichte als Hilfestellung verwendet. 3 Antworten benannten Diskussionen in der Kommission, um zur ethischen Bewertung zu gelangen. Je ausführlicher der Antragsteller auf die ethisch relevanten Aspekte eingegangen ist, desto öfter sind Kommissionsmitglieder der Bewertung des Antragstellers gefolgt (10 Antworten). Vertreter von Tierschutzorganisationen erklärten (jeweils eine Antwort), dass eine ethische Bewertung überhaupt nicht durchgeführt werde, dass Ethik gar kein Thema sei oder dass der Verweis auf die Grundlagenforschung jegliche anderen Gesichtspunkte überwiegen würde. 54% (28 von 52 Antworten) erklärten sich zufrieden mit der Durchführung der ethischen Bewertung. Ein Drittel der Kommissionsmitglieder (26 %, 19 von 52 Antworten) war der Auffassung, dass die Abwägung der ethischen Vertretbarkeit nicht angemessen gewährleistet sei. „Diese nannten [...] vor allem die mangelnde ethische Ausbildung und mangelnde Kriterien zur ethischen Abwägung als Gründe.“ 56 (Ruhdel et al. 2007, S. 63) (jeweils 14 Antworten). Die Kommissionsmitglieder erklärten mit 11 Antworten, es würden Probleme bezüglich des Entscheidungsprozesses bestehen, da das Votum, das an die Behörde gerichtet werde, auf einer Mehrheitsentscheidung in der Kommission beruhe und damit ethische Bedenken überstimmt würden. Auch der Zeitmangel wurde als ein Faktor identifiziert, der der Qualität der Entscheidung entgegenwirkt: Fünf Antworten benannten Zeitmangel als Begründung für einen unzureichenden ethischen Diskurs (Kolar und Ruhdel 2007, S. 330). Die Behörden wurden nach der Grundlage ihrer Entscheidungsfindung für die Bewilligung eines Antrages gefragt. 57 % der Behörden (12 von 21 Antworten) erklärten, sie würden dem Votum ihrer beratenden Kommission folgen, wohingegen 43 % (9 Antworten) erlärten, dass sie dies nicht unbedingt tun. In den letztgenannten Fällen trafen die Behörden in 25 % der Fälle eine andere Entscheidung, als das Votum der Kommission vorschlug. 56 „They mostly referred to insufficient education in ethics and insufficient criteria for the evaluation.“ (Kolar und Ruhdel 2007, S. 330). <?page no="89"?> 2.5 Bewertung von Anträgen in der beratenden Kommission und der Behörde 89 Die bzgl. des Entscheidungsfindungsprozesses befragten Mitglieder der Kommissionen erklärten zu 75 % (39 von 52 Antworten), die Entscheidung der Kommission würde durch einen Mehrheitsbeschluss getroffen. 48 % (25 Antworten) gelangten zu einem Konsens nach eingehender Debatte, 23 % (12 Antworten) erklärten, dass die verschiedenen Meinungen mit allen beinhalteten Argumenten der Behörde übermittelt werde. 11 % (6 Antworten) benannten weitere Varianten, wie die Übermittlung eines Minderheitenvotums der Vertreter der Tierschutzorganisationen an die Behörde. In Einzelfällen wurden Varianten benannt wie etwa die Beschlussfassung nach Befragung des Antragstellers, oder die Gegenwart eines Behördenvertreters sowie dessen Mitwirkung am Entscheidungsfindungsprozess. Fünf Antworten zeigten, dass Mitglieder der Kommission über eigene Anträge entscheiden (9,6%) und 30 Mitglieder (57,7%) erklärten, dass sie über Anträge aus dem Institut entscheiden, in dem sie arbeiten. Die Behörden und Kommissionen wurden auch nach Vorschlägen befragt, die ihre Arbeit verbessern bzw. unterstützen würden. 16 Behörden benannten insgesamt 24 Vorschläge: Verwendung von standardisierten Belastungskatalogen (5 Antworten), Entwicklung von Kriterien für die Bewertung der ethischen Vertretbarkeit (4 Antworten), bessere Kooperation mit den Tierschutzbeauftragten (4 Antworten), regelmäßige Treffen der Behördenmitglieder (3), zusätzliches Personal (3 Antworten), Aus- und Weiterbildung (3) Stärkung der Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET) (1 Antwort), Höhere Bereitschaft der Teilnahme von Repräsentanten von Tierschutzorganisationen sich als Kommissionsmitglieder nominieren zu lassen (1 Antwort). Die Mitglieder der beratenden Kommissionen haben insgesamt 74 Vorschläge benannt. 14 davon betrafen Änderungen der formalen Rahmenbedingungen der Kommissionsarbeit: 5 Antworten benannten den Wunsch nach einer paritätischen Besetzung der Kommission mit der selben Anzahl von Vertretern aus Tierschutzorganisationen und von Vertretern aus der Forschung. Die Einführung von Berichten über genehmigte Experimente wurde 4 mal benannt. Weiterhin wurde vorgeschlagen: Die Einführung einer Liste von Tierexperimenten, die mit schwerem Leiden einhergehen und daher nicht genehmigt werden dürften (1 Vorschlag); die Unabhängigkeit der Tierschutzbeauftragten (1 Vorschlag); Begrenzung der Grundlagenforschung (1 Vorschlag); Einführung von Pilotstudien für neue Versuchsanordnungen (1 Vorschlag), alle Experimente sollten genehmigungspflichtig sein (lediglich Anzeigepflicht sei nicht akzeptabel) (1 Vorschlag). Generellere Vorschläge (insgesamt 60) betrafen folgende Themengebiete: Unterstützung der Bewertung der ethischen Vertretbarkeit (11 Vorschläge), Verfügbar-machung relevanter Literatur (11), Aus- und Weiterbildung (11), Verfügbarmachung von Belastungskatalogen (9), Zugäng- <?page no="90"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 90 lichmachen von Datenbank-Recherchen oder den Zugriff auf Datenbanken (8), Verfügbarmachung von Expertenberichten (7), verbesserter Informations-Austausch zwischen den Behörden (1), Begutachtung sprezifischer Aspekte der Versuche durch Dritte (1), unabhängige Kommissionsvorsitzende (1), weniger Anträge pro Sitzung (1). In der Diskussion der Ergebnisse der Umfrage betonen Kolar und Ruhdel, dass die Zahlen eindeutig zeigen, dass in einigen Kommissionen und Behörden die Arbeitsbelastung zu hoch sei (Kolar und Ruhdel 2007, S. 331). 10 oder gar bis zu 20 Anträge in einer Sitzung von 2 bis 3 Stunden durchzuarbeiten „makes it impossible to thoroughly analyse, evaluate and discuss these applications. A satisfactory examination of all applications is not ensured under these circumstances.“ (ebd.). Die Autoren betonen mit Verweis auf Rusche 1997 57 , Gruber und Kolar 1997, Kolar 2000 und Kolar 2005, dass dieser Missstand bereits mehrfach und über einen Zeitraum von über einer Dekade bemängelt wurde und dennoch unverändert blieb. 58 Angesichts der unverändert hohen Genehmigungsquote im Vergleich mit den früheren Erhebungen kritisieren Kolar und Ruhdel „the system must rather be seen a formality than a ethical crossroad. [...] Obviously, the ethical justifiability of an application is oftentimes not substantially questioned under the current authorisation process.“ (Kolar und Ruhdel 2007, S. 332). Zur Kompetenz der Kommissionsmitglieder bemerken Kolar und Ruhdel: „The high demand for advice, education, supply for information etc. expressed by ethics committee members is an indication that for a significant part of these it is hard to cope with theses demands. The main type of a dvice mentioned concerns the actual ethical evaluation process so that it can be concluded that more competence in ethics is needed within that process.” (ebd.). Den Umstand, dass Kommissionsmitglieder über eigene Anträge tagen, sehen Kolar und Ruhdel als skandalös, dies sei in keiner anderen offiziellen Kommission, die eine Kontrollfunktion ausübe, möglich. Darüber hinaus, 57 Im Aufsatz von Kolar und Ruhdel 2007, S. 331, wird an dieser Stelle die Jahresangabe Rusche 1995 benannt. Dies ist jedoch ein Schreibfehler. Richtig ist 1997. 58 Interessanter Weise wird in der aktuellen Umfrage bei Befragung der Kommissionsmitglieder nach Verbesserungsvorschlägen die Anzahl der Anträge nur mit einem Vorschlag thematisiert. Möglicherweise lässt sich dies damit interpretieren, dass sich die Mitglieder der stark belasteten Kommissionen mit diesem Zustand ‘abgefunden’haben, aber das ist an dieser Stelle reine Spekulation. Aus persönlichen Gesprächen mit Kommissionsmitgliedern, sowie aufgrund der Diskussionsbeiträge von Kommissionsmitgliedern auf der Tagung in Bad Boll sowie auf dem Workshop in Tübingen, lässt sich jedenfalls eine klare negative Bewertung des hohen Arbeitsaufkommens (durch die große Menge an pro Sitzung zu bearbeitenden Anträgen) durch einzelne Kommissionsmitglieder feststellen. <?page no="91"?> 2.5 Bewertung von Anträgen in der beratenden Kommission und der Behörde 91 wenn in nahezu 60% der Antworten Kommissionsmitglieder über Anträge von Kollegen aus dem eigenen Institut urteilen, „it is without doubt that a clear conflict of interest exists for many members, and the functioning of the whole system is jeopardised.“ (ebd.). Mit Verweis auf das ähnliche Ergebnis der Umfrage des Jahres 1995 hinsichtlich dieses Interessenkonfliktes (Rusche 1997; Gruber und Kolar 1997), fragen sich Kolar und Ruhdel, warum dies immer noch toleriert werde (Kolar und Ruhdel 2005, S. 332). Die ethische Bewertung betreffend, gaben die meisten Behörden die große Bedeutung der beratenden Kommission zu erkennen. Kolar und Ruhdel werten dies als Indikator dafür, dass Ethikkommissionen ein wertvolles Instrument innerhalb des Evaluierungsprozesses wären. Nichts desto trotz lies die Umfrage auch eine Reihe von Schwierigkeiten sichtbar werden: „it is hard to accept, that some licensing authorities cannot draw on any type of professional ethical competence.“ Die hohe Anzahl an Rückmeldungen von Kommissionsmitgliedern, die auf schwer wiegende Defizite in der ethischen Bewertung und der Überprüfung der Unerlässlichkeit der Versuchsvorhaben hinweisen „indicates the need to improve the system“. Die fehlende Parität der Zusammensetung der Ethikkommissionen rundet die Kritik ab. Die Vorschläge zu Verbesserungen, die von Behördenmitarbeitern und Kommissionsmitgliedern benannt wurden, zeigen eine signifikante Überlappung hinsichtlich einzelner Aspekte: Diese bezögen sich teilweise auf den Bedarf an Hilfestellung bei der schwierigen Aufgabe, das Leiden der Tiere gegen den potentiellen Nutzen abzuwägen. Dies würde auch den vielfach artikulierten Bedarf an der Einführung offizieller, standardisierter Belastungs-kataloge, wie sie in vielen anderen Ländern existieren, unterstreichen (Kolar und Ruhdel 2007, S. 333). „It also supports the call for more ethics in ethics committees, be it by involvement of competent individuals or education and training of existing persons involved. The same is true for knowledge about/ competence in alternative methods.” (ebd.). Abschließend kommen Kolar und Ruhdel zum Urteil: “Even when interpreting the results of the present survey carefully, one must conclude that the German system for authorisation of animal experiments needs to be reformed urgently.” Die Dringlichkkeit einer Reform werde unterstrichen durch das Faktum, dass auf viele der beobachteten Probleme bereits früher hingewiesen wurde. Die Einführung des Staatsziels Tierschutz in das deutsche Grundgesetz im Jahre 2002 „has still had only a limited impact on the licensing practice“, folgern Kolar und Ruhdel (ebd.). Eine durchaus viel versprechende Hilfestellung scheinen Kriterienkataloge zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit von Versuchsvorhaben zu <?page no="92"?> 2 Rechtlicher Rahmen tierexperimenteller Forschung 92 sein, denn diese machen Entscheidungsprozesse transparent, für Dritte kritisierbar, für den Antragsteller berechenbar und die Entscheidungsfindung schneller und gerechter. Natürlich bleiben bei diesen Katalogen - vor allem bei den selbst erstellten - die ungeklärten Fragen, wie sie zusammengestellt wurden, welche Wertungen sie beinhalten und mit welchem Anspruch sie verwendet werden; diese Punkte konnten in der Umfrage noch nicht erörtert werden. Dennoch können solche Kriterienkataloge ein nützlicher Bestandteil der Entscheidungsfindung werden, wenn sie ethische und gesetzliche Forderungen berücksichtigen. Wenn man den rechtlichen Rahmen des Tierschutzes in der Forschung aus ethischer Perspektive betrachtet, muss man feststellen, dass Tierschutz im verfassungsrechtlichen Kontext von vielen Juristen im anthropozentrischen Sinne ausgelegt wird 59 , das Tierschutzgesetz hingegen in seinen theoretischen Ansprüchen der pathozentrischen Ethik am nächsten steht, in der Praxis der Bewertung der Tierversuchsanträge sich jedoch eine mangelhafte kasuistische Ethik etabliert hat. Unter diesen Unstimmigkeiten muss man nach Möglichkeiten suchen, wie man in der Bewertung der Tierversuche allen Gesetzen und auch dominierenden Positionen der Ethik gerecht wird. Hierzu wurden international mehr oder weniger gelungene Konzepte entwickelt, die im folgenden Kapitel vorgestellt und im Hinblick auf die deutsche Situation kritisch diskutiert werden. 59 Zumindest vor Einführung des Staatsziels „Tierschutz“, das dem ethischen T rschutz Rechnung tragen soll. e <?page no="93"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 3.1 Präzisierungen der gesetzlichen Vorschriften Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift (AVV) Präzisierend zum TierSchG sind Einzelheiten zu den für die Genehmigung relevanten Fragestellungen in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (AVV) niedergelegt. Die AVV hat auch nach neuer Rechtslage (TierSchG neue Fassung und Tierschutz-Versuchstierverordnung) weiterhin Gültigkeit, soweit sie nicht bestehenden Gesetzen oder Verordnungen widerspricht (gem. der Normenhierarchie haben Gesetze und Verordnungen Vorrang gegenüber Verwaltungsvorschriften). Bis zum Zeitpunkt Dezember 2015 liegt allerdings noch keine aktualisiserte AVV vor, obgleich die bisherige AVV geändert werden sollte. Dort sind in Anl. 1 zu Nummer 6.1.1 die erforderlichen Angaben für den Antrag auf Genehmigung eines Versuchsvorhabens nach § 8 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes alter Fassung benannt. Unter Punkt 1 „Angaben zum Versuchsvorhaben“ werden neben der Angabe des Zwecks des Versuchsvorhabens und der Darlegung der Unerlässlichkeit und Alternativlosigkeit unter Punkt 1.7 „Ethische Vertretbarkeit des Versuchsvorhabens“ die „wissenschaftlich begründete Darlegung, dass die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind“ verlangt (1.7.1). Zu der vorzunehmenden Güterabwägung wurde jedoch festgestellt, dass der Gesetzgeber eine Anleitung zur Durchführung nicht mitgeliefert habe (Scharmann und Teutsch 1994, S. 193; vgl. auch Kapitel 2.4.2). Kommentare zum Tierschutzgesetz Eine weitere Möglichkeit der Präzisierung des gesetzlichen Rahmens für die Beteiligten sind die Kommentare des Tierschutzgesetzes. Christoph Maisack, Koautor eines bekannten Kommentars zum TierSchG, betont auch eine ethische Güterabwägung. „[§ 7 Abs. 3] Satz 1 schreibt vor, dass vor der Durchführung von Tierversuchen abzuwägen ist zwischen den zu „Ethik ist eine Wissenschaft, eine Reflexionstheorie und nicht etwa eine subjektive Einstellung“ (Blumer, Liebich, Ricken und Wolf 1995, S. 221) <?page no="94"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 94 erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere einerseits sowie dem Versuchszweck und seiner Bedeutung für die Allgemeinheit andererseits“. 60 Maisack schließt daraus für die ethische Vertretbarkeit, dass diese ein bestimmtes Verhältnis der Belastung der Tiere zum formulierten Erkenntnisgewinn und dem daraus resultierenden Nutzen für den Menschen darstellt (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 291, § 7 Rn. 49). Er verdeutlicht diese „Nutzen-Schaden-Relation“ am Sinnbild einer Waage, wo in die eine Waagschale die durch den Versuch verursachten Schmerzen, Leiden und Schäden eingegeben werden, in die andere der „mögliche oder wahrscheinliche Erkenntnisgewinn und der davon erwartete medizinische oder sonstige Nutzen“ (ebd.). Eine Voraussetzung der Abwägung in jeder ethischen Entscheidung ist, dass man eine Klarheit über die Faktenlage schafft, d.h. alle ethisch relevanten Tatsachen, wie Erkenntnisgewinn, Belastungsgrad etc. sollen möglichst exakt ermittelt und beachtet werden. Diese Fakten sind für die Einschätzung der einzelnen Gewichte auf der Waage unerlässlich. 3.2 Probleme bei der Nutzen-Schaden-Abwägung Inkommensurable Abwägungsgüter Eine Schwierigkeit in dieser Abwägung liegt in der Unvergleichbarkeit der miteinander kollidierenden Werte. Es sind nicht nur die Belastungen der Tiere gegen diejenigen der Menschen abzuwägen, sondern es sind tatsächliche Belastungen von Versuchstieren gegen einen nur möglichen Erkenntnisgewinn und einen möglicherweise daraus resultierenden Nutzen für den Menschen abzuwägen (Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Diese Schwierigkeit ist aber nicht nur im Tierschutzrecht zu finden. Andere Ethikkommissionen haben vergleichbare Schwierigkeiten, z.B. ein klinisches Ethikkomitee, das über die Durchführung von Humanversuchen entscheiden oder die Grenzen der ethisch vertretbaren Reproduktionstechniken definieren soll. Die Abwägungen in der Kommission sollen sich nach moralischen Werten richten. Diese sind in Bezug auf die Tierethik leider noch nicht so eindeutig etabliert wie bei Versuchen am Menschen. Um eine Güterabwägung vorzunehmen und den „erwarteten Nutzen des Experiments wie auch die wahrscheinliche Belastung der Tiere“ 61 abschätzen zu können, stößt man notwendigerweise auf Probleme. Prospektive Aussagen sind in der Wissenschaft besonders schwierig. Wäre der Nutzen, d.h. auch das Resultat eines Experiments mit Sicherheit abzusehen, müsste man das Experiment gar nicht durchführen, denn es würde 60 Bundestags-Drucksache 10/ 3158 S. 22. 61 Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 291, § 7 Rn. 50. <?page no="95"?> 3.2 Probleme bei der Nutzen-Schaden-Abwägung 95 keinen Gewinn an Erkenntnis bringen. Der Nutzen eines Experiments ist deshalb prinzipiell immer unsicher und je sicherer man ihn machen kann, desto überflüssiger wird das Experiment selbst. Die andere Seite ist nicht weniger mit Ungewissheiten behaftet. Die Belastung der Tiere scheint zwar absehbar zu sein, aber wie einzelne Tiere im Versuchsplan reagieren, hängt zum Teil beispielsweise eben gerade von der prognostizierten Wirkung der im Experiment zu prüfenden Stoffe ab. Hinsichtlich der Realisierbarkeit der Einschätzung der Belastung zeigt sich in der Praxis, dass „selbst grobe Schätzungen der Belastungen schwierig und diskussionsbedürftig sind“ (Mertens 2006, S. 255). 62 Den Schwierigkeiten der Belastungseinschätzung werde ich daher ein besonderes Augenmerk widmen (s. Kapitel 3.4 sowie 6.2.1). Diese Probleme verschärfen sich sogar bei Versuchen im Bereich der Grundlagenforschung, da eine Vorabschätzung ihres Nutzens an keiner praktischen Anwendung zu messen ist (Scharmann und Teutsch 1994, S. 195f.). Der Problematik von Tierexperimenten in der Grundlagenforschung werde ich daher ebenfalls ein besonderes Augenmerk widmen. Darüber hinaus sind transgene Tiere ein häufiger Sonderfall, denn bei deren „Herstellung“ kann prospektiv keine verlässliche Aussage über mögliche unerwünschte Schmerzen, Leiden und Schäden getroffen werden kann, die neben dem erwünschten zu erzeugenden Krankheitsbild auftreten können. Das Leben des transgenen Versuchstiers ist möglicherweise bereits von Geburt an mit Leiden behaftet, die auf die gentechnische Modifikation zurückgeführt werden können. Bei konventionellen Tierversuchen kann die Belastung nach einem etablierten Modell 63 eingeschätzt werden, aber auf transgene Tiere könnten solche Einschätzungen nicht angewandt werden. Viele ethisch relevante Folgen einer genetischen Modifikation am Tier wären nicht absehbar, betont Kathrin Herrmann. 64 Belastungsobergrenze in der Diskussion Ein weiteres häufig diskutiertes Problem in der Nutzen-Schaden-Abwägung ist die mögliche Begrenzung der verursachten Belastungen. Im Falle von länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden der Versuchstiere müssen die angestrebten Versuchsergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier von hervorragender Bedeutung sein werden (7 Abs. 3 Satz 2 TierSchG alte 62 Vgl. Hanno Würbel (2007, S. 14): Es bestehe auch die Möglichkeit, dass Signale von Tieren vom Menschen aus dessen Sicht falsch interpretiert werden, so „können selbst Experten voreingenommen sein, wenn es um die Einschätzung von Leiden bei Tieren geht“. 63 Beispielsweise der weit verbreitete ´Schweizer Belastungskatalog´. 64 Vgl. Herrmann 2008, S. 77, siehe dazu auch Kapitel 6.2.1.1.7. <?page no="96"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 96 Fassung bzw. jetzt § 25 Abs. 1 TierSchVersV, dort werden nun außer den Wirbeltieren auch die Kopffüßer benannt). Daraus stellt sich die Frage, ob vermutlich hervorragende Ergebnisse jede Art von Schmerzen und Leiden legitimieren können, oder ob es eine Höchstgrenze von Belastung geben sollte, die bei keinem vermuteten Nutzen überschritten werden darf. Nach Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz ist erneut und verstärkt zu hinterfragen, ob die Lösung wissenschaftlicher Probleme, sofern sie vermutlich von hervorragender Bedeutung sein wird, ein hinreichendes Kriterium für die ethische Vertretbarkeit von schwerwiegenden Tierversuchen an Wirbeltieren sein kann. Eine Selbstbeschränkung wie in der Schweiz oder wie in Großbritannien 65 wird seit Jahren in Deutschland gefordert 66 und dies nicht nur für den Bereich der Grundlagenforschung. Die Problematik der Obergrenze von Belastungen wird nun jedoch von der EU-Tierversuchsrichtlinie aufgegriffen. Erwägungsgrund 23 der Richtlinie fordert: „Aus ethischer Sicht sollte es eine Obergrenze für Schmerzen, Leiden und Ängste geben, die in wissenschaftlichen Verfahren nicht überschritten werden darf. Hierzu sollte die Durchführung von Verfahren, die voraussichtlich länger andauernde und nicht zu lindernde starke Schmer- 65 In den „Ethischen Grundsätzen und Richtlinien für Tierversuche“ der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT wird in Bezug auf die den Versuchstieren zugemuteten Belastungen eine Obergrenze gezogen, deren Überschreitung ethisch nicht zu rechtfertigen ist. In diesen Richtlinien heißt es: „Bestimmte Versuchsanordnungen sind für Tiere voraussichtlich mit derart schwerem Leiden verbunden, dass eine Güterabwägung immer zugunsten der Tiere ausfallen wird. Wenn es nicht gelingt, durch Änderung der zu prüfenden Aussage andere, weniger belastende und ethisch vertretbare Versuchsanordnungen zu finden, muss auf den Versuch und damit auf den erhofften Erkenntnisgewinn verzichtet werden“ (SAMW und SCNAT 2006b, Ziffer 3.5). Großbritannien hat eine ähnliche Regel eingeführt: „The secretary of state will not license experiments producing serious injury or severe pain without effective anaesthesia”. Maria Biedermann folgert daraus, dass demnach schwerstbelastende Tierversuche nicht genehmigt würden, wenn die Schmerzen oder Leiden nicht gelindert werden könnten (Biedermann 2008, S. 68). 66 So sprachen sich Teilnehmer der BMBF-Klausurwoche „Kriterien und Grenzen ethisch vertretbarer Tierversuche“ im September 2007 für ein Verbot schwer belastender Tierversuche aus (vgl. Mayr 2007a, S. 358). Weiterhin forderten auch Teilnehmer des Workshops „Die Rolle der Tierversuchskommissionen [...]“ im Oktober 2005 (vgl. Alzmann 200 , S. 324) eine solche Selbstbeschränkung. Dort wurde auch auf eine auf Grundlage der ethischen Prinzipien der SAMW und SCNAT veröffentlichten „Liste nicht mehr zulässiger Tierversuche an Zürcher Hochschulen“ verwiesen („Negativliste“ s. AG für Tierschutzfragen an den Zürcher Hochschulen 1997). Zudem wünschten sich auch fast die Hälfte der im Rahmen einer Umfrage befragten Kommissionsmitglieder Änderungen der gesetzlichen Regelungen. So wurde hier u. a. „[...] das Erstellen von Listen von Tierversuchen, die Aufgrund ihrer hohen Belastungen unabhängig vom Erkenntnisgewinn verboten sein sollten“ benannt (Ruhdel et al. 2007, S. 65; vgl. auch Kapitel 2.5 der vorliegenden Arbeit). <?page no="97"?> 3.3 Hilfsmittel zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit 97 zen, schwere Leiden oder Ängste auslösen, untersagt werden.“ Bei der Umsetzung in nationales Recht wurde daher festgelegt: „Tierversuche nach Absatz 1 dürfen nicht durchgeführt werden, wenn die erheblichen Schmerzen oder Leiden länger anhalten und nicht gelindert werden können. Abweichend von Satz 1 kann die zuständige Behörde die Durchführung eines Tierversuchs nach Satz 1 genehmigen, soweit die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen und wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass die Durchführung des Tierversuchs wegen der Bedeutung der angestrebten Erkenntnisse unerlässlich ist.“ (§ 25 Abs. 2 TierSch- VersV. Abs. 1 s. Fußnote 102. Vgl. dazu auch Kap. 3.4.6 sowie 6.2.1.1.10). 3.3 Hilfsmittel zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit Es wurden viele Schwierigkeiten bei der ethischen Entscheidungsfindung identifiziert. Die rechtlichen Rahmen definieren keine konkrete ethische Position, die abverlangt werden könnte, die Antragsteller sind u.U. nicht angemessen ausgebildet, dass sie eine solche wissenschaftlich begründete Darlegung der ethischen Vertretbarkeit in angemessener Form leisten könnten. Die Entscheidungsautoritäten arbeiten bundesweit nicht einheitlich, was ein vergleichbares Schutzniveau für alle Tiere in Deutschland unmöglich macht. Intuitionen werden wohl zumeist als Legitimationsgrundlage verwendet (s. Kapitel 2.5). Der Informationsfluss zwischen Kommission und Antragsteller ist bisweilen nicht ausreichend (Kolar 2000). Somit haben Forscher kaum Orientierungshilfe, wenn sie einen Tierversuch planen. Im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte wurden verschiedentlich im In- und Ausland Versuche unternommen, dem Antragsteller wie auch den Institutionen, die sich mit der Genehmigung von Tierexperimenten zu befassen haben, Hilfsmittel in Form von Kriterienkatalogen an die Hand zu geben. Diese Kataloge sollen helfen, die ethisch relevanten Kriterien umfassend zu beleuchten, zu einander in Beziehung zu setzen und letztlich eine Abwägung zu treffen, um zu ermitteln, ob ein Versuchsvorhaben ethisch vertretbar ist, oder ob die Genehmigung zu verweigern, bzw. nur unter Auflagen zu erteilen ist. Die in der einschlägigen Literatur vorgestellten Kriterienkataloge weisen bisweilen große methodische Unterschiede in der Herangehensweise an die Problemstellung auf. Die meisten bekannten Kataloge sind gut durchdacht und sehr bemüht, den Anforderungen gerecht zu werden: Ein Werkzeug bereit zu stellen, das es durchführenden, beratenden und entscheidenden Personen ermöglicht, eine möglichst objektive, unparteiliche, intersubjektive und reproduzierbare sowie transparente Abwägung treffen zu können, um der Verantwortung gerecht zu <?page no="98"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 98 werden, Forschung mit und an lebendigen, empfindungs- und leidensfähigen Lebewesen betreiben zu dürfen. Dies in einem Kontext, der geprägt ist von Anforderungen einer zunehmend krankenden Gesellschaft, einem politischen und wirtschaftlichen Druck, Karriere- und Profilierungsinteressen, aber auch dem Anspruch einer Verantwortung für sich selbst, für andere (die Patienten), für künftige Generationen, aber auch - und ganz besonders - für die Versuchstiere: Den „Mitgeschöpfen“ 67 , die ihre Interessen nicht artikulieren können und die dem good-will der Menschen ausgeliefert sind, die tagtäglich mit ihnen zu tun haben: Transporteure, Tierpfleger, Tierärzte und Tierexperimentatoren. Die Verwendung eines geeigneten Kriterienkatalogs hat viele Vorteile. Kriterienkataloge sind praxisorientiert und sie erfüllen den Anspruch intersubjektiver Vergleichbarkeit der Ergebnisse und dienen damit der Gerechtigkeit im Sinne der Gewährleistung eines vergleichbaren Schutzniveaus für die Versuchstiere unabhängig vom jeweiligen Versuchslabor und dem jeweiligen Verantwortungsbereich der genehmigenden Behörde. Zudem übersieht der Forscher bei Verwendung eines geeigneten Kriterienkataloges keine ethisch relevanten Kriterien, da diese in übersichtlicher und logischer Reihenfolge abgearbeitet werden können. Häufig herrscht im Alltag des Wissenschaftlers großer Zeitdruck. Ein Kriterienkatalog dient der Erleichterung des Prozedere. Die Verwendung eines Kriterienkataloges soll und darf aber nicht die eigene ethische Urteilsbildung des Forschers ersetzen, dies möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen. Die Anwendung eines jeden guten Kriterienkataloges verlangt aber auch bei jeder Entscheidung, die in den einzelnen dort durchzuführenden Schritten zu treffen ist, eine vorherige Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gesichtspunkt und damit eine Urteilsbildung bezüglich dieses Kriteriums, die durch das Eintragen des jeweiligen (Teil-) Ergebnisses in den Katalog abgeschlossen wird. Kriterienkataloge beinhalten idealer Weise bereits die gesellschaftlich akzeptierten Werte und Normen. Ein solcher Katalog muss eine Art „Filter“ haben, der diese ethischen Normen beinhaltet, welche transparent zu machen sind. Diese ethischen Normen spiegeln sich - neben der unterschiedlichen Gewichtung verschiedener Versuchszwecke - in der Festlegung gewisser Mindestanforderungen wider, die erfüllt sein müssen, damit das Experiment ethisch vertretbar und damit genehmigungsfähig ist. Der „Filter“ hilft somit ethisch vertretbare von ethisch nicht vertretbaren Versuchsvorhaben zu unterscheiden. Das Ergebnis muss eindeutig sein. Es darf keinen Spielraum für individuelle Interpretationen zulassen. Der Kata- 67 Tierschutzgesetz, Grundsatz: § 1, Satz 1: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen.“ <?page no="99"?> 3.3 Hilfsmittel zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit 99 log muss darüber hinaus auch einfach anwendbar und allgemeinverständlich sein (Biedermann 2008a, S. 68). Begründung der Reihenfolge der ausgewählten Kriterienkataloge Im folgenden Kapitel 4 sollen diese Kataloge ausführlich vorgestellt und kritisch diskutiert werden. Zunächst möchte ich jedoch erläutern, weshalb die dort vorgestellten Kataloge in genau dieser Reihenfolge präsentiert werden. Dies hat drei Gründe: a) die Reihenfolge ist chronologisch, d.h. sie entspricht der Reihenfolge des Jahres der jeweiligen Veröffentlichung. b) Die Kataloge weisen jeweils methodische Weiterentwicklungen auf, im Sinne einer Optimierung der Vorgehensweise als auch einer Vervollständigung in Hinblick auf die verwendeten zu evaluierenden Kriterien. Besonders der Katalog von Porter, der wohl das erste „scoring system“ vorgestellt hat, erfuhr eine Fülle konstruktiver Kritiken. Wir werden sehen, dass einige und zum Teil sehr gewichtige Kritikpunkte in später publizierten Katalogen wohl berücksichtigt und dann auch umgesetzt wurden. Zudem ist eine Differenzierung von Problempunkten festzustellen, die am Anfang noch relativ pauschal wahrgenommen und behandelt wurden. Ein besonderes Augenmerk soll hier auf die Behandlung der Belastungseinschätzung der Versuchstiere geworfen werden. Deshalb wird zunächst die Frage der Belastungseinschätzung unter Zuhilfenahme von Katalogen zur Einstufung des Schweregrades der Belastung wie auch die zu Grunde liegenden Definitionen der Begrifflichkeiten „Schmerzen“, „Leiden“ und „Schäden“, im nachfolgenden Kapitel 3.4, einführend behandelt werden. Auf spezifische Probleme beim Erkennen von Leidenszuständen werde ich in der Diskussion im Kapitel 6.2.1 vertiefend eingehen. c) Es ist eine gewisse „ethische Entwicklung“ zu erkennen. Und zwar Entwicklung nicht in dem Sinne, dass die Moral im Umgang mit Tieren zu Anfang schlecht gewesen wäre und sich kontinuierlich verbessert hätte. Nein: Die Moral im Umgang mit den Versuchstieren war damals - vor Zwanzig Jahren - vielleicht auch gut. Aber es hat sich seitdem etwas an der ethischen Begründung getan. Ich stelle eine Entwicklung in der Begründung der verwendeten Kriterien im Hinblick auf den zu Grunde liegenden ethischen Bezugsrahmen fest. Doch dazu mehr im Anschluss an die Diskussion der Kriterienkataloge. <?page no="100"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 100 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ Seit den 1980er Jahren wurden für die standardisierte Erfassung der Belastung von Versuchstieren zahlreiche Schweregradskalen entwickelt (übersichtlich dazu: Moyal 1999). Regina Binder 68 erläutert, es werde von der überwiegenden Anzahl der in der Praxis angewandten Belastungskataloge versucht, die Belastung der Tiere mit Hilfe eindimensionaler Skalen zu quantifizieren (Binder 2009, S. 251): Die Zuordnung einzelner Maßnahmen zu einem bestimmten Schweregrad erfolge hierbei primär nach der Art der Manipulation bzw. des Eingriffs. Nur wenige Belastungskataloge würden den Schweregrad nach Symptomen bzw. nach dem klinischen Zustand des Tieres einteilen. Üblicherweise würden die Skalen in drei bis sechs Belastungsgerade eingeteilt und mit mehr oder weniger detaillierten Beispielen hinterlegt. (ebd.). Eine Schweregradskala möchte ich im Folgenden besonders hervorheben, die Skala des Battelle-Institutes, da diese m.E. mit einem interessanten Ansatz auch Faktoren wie die Belastungshäufigkeit sowie weitere Belastungs-beeinflussende Faktoren wie die Narkose mit berücksichtigt. Die Studie des Battelle-Instituts zur umfassenden Ermittlung des „Belastungsmaßes“ Das Frankfurter Battelle-Institut, das im Jahre 1988 eine vom Bundesminister für Forschung und Technologie in Auftrag gegebene Studie veröffentlicht hat, 69 hat die Belastungseinstufung von Tierexperimenten erhoben und mit weiteren 5 Belastungskatalogen verglichen. Dabei zeigte sich, dass bei einer mittleren Belastung mit der Battelle-Methodik eine bessere Auflösung erreicht wurde, als dies die Skalen lieferten, die zum Vergleich herangezogen wurden. Um das Maß für die Belastung, dem die Tiere durch die Versuche ausgesetzt waren, zu errechnen, haben die Autoren der Battelle-Studie folgende Angaben verwendet, die mittels Fragebögen erhoben wurden: Belastungsgrad: „die subjektive Einschätzung des Befragten [Anm.: der Experimentator] über den Grad der Belastung, der das Tier im Versuch ausgesetzt ist. 68 Leiterin der „Dokumentations- und Informationsstelle für Tierschutz- und Veterinärrecht“ der Veterinärmedizinischen Universität Wien. 69 „Datenerhebung zum Einsatz von Tieren in Forschung und Entwicklung: Verbraucherschutz, Umweltschutz, Arzneimittel, Versuchstiere, Tiermodelle, Verwendung, Forschungsziele, Belastung, Alternativmethoden, Umfrage, Industrie, Hochschule“ <?page no="101"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 101 Hier war im Fragebogen eine Skala in vier Stufen vorgegeben, die ‘Schmerz-Skala des BPI’ [...]“ 70 Belastungsdauer: „die Zeit, in der das Tier belastet ist. Diese geht oft über die Dauer der Arbeit am Tier hinaus und kann Tage bis Wochen betragen.“ Belastungshäufigkeit: „die Häufigkeit, mit der die Belastung für das Tier auftritt. Es wurden Einmalbelastung, Mehrfachbelastung und Dauerbelastung unterschieden.“ Narkose: „das Abfangen der versuchsbedingten Belastung. Bei operativen Eingriffen muß unterschieden werden, ob nach Abklingen der Narkose weiterhin eine Belastungssituation besteht.“ Anschließend wurde die Belastung der Versuchstiere wie folgt berechnet: „Belastungsgrad und Belastungsdauer addieren sich zu einer ‘Belastungsstärke’. Ob diese durch eine Narkose in ihrer Wirkung gemildert wird, ist so wichtig, daß dies als multiplikativer Faktor eingeführt wurde: Narkose ‘ja’= x 1, ‘nein’= x 2. Dies bedeutet, daß ein Versuch, bei dem die Belastungsstärke einen Wert ‘5’ hat, wie folgt weiter verrechnet wird: Wacht das Tier belastungsfrei aus der Narkose auf, wird der Versuch mit ‘5 x 1’ bewertet; besteht dagegen die Belastung nach der Narkose noch weiter fort, wird mit ‘5 x 2’ weiter gerechnet. Die gleiche Logik führt dann dazu, daß auch die Häufigkeit der Belastung (einfach = x 1, mehrfach = x 2, dauernd = x 3) multiplikativ eingeht.“ (Battelle-Institut 1988, S. 13). Die Autoren erklären: „In dieser Kette additiver und multiplikativ Faktoren wurden konstante Faktoren eingebunden, um die Berechnungen des Belastungsmaßes versuchsunabhängig so aneinander anzupassen, daß die Abstufung einzelner Versuche nach dem Belastungsmaß vom Fachmann akzeptiert werden kann.“ (Battelle-Institut 1988, S. 14). 70 Kategorien des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) (1984), vgl. „Anlage zum Fragebogen: Die ‘Schmerzskala des BPI’ Wie schmerzhaft sind Versuche für das Tier? “ auf S. 184 der Battelle-Studie, dort zitiert aus: Tiere in der Arzneimittelforschung, BPI 1986. Vgl. dazu Moyal 1999, S. 115, sowie Tabelle 14 auf S. 118: „Vom BPI (1984) […] erstellte Kategorien“. Die Tabelle weist die Kategorie (als Ziffern von 0.1 bis 3.0), den Schweregrad („gering“, „mittel“, „hoch“, „sehr hoch“) und in der Spalte „Versuch“ Beispiele jeweiliger experimenteller Maßnahmen auf. <?page no="102"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 102 Diese konstanten Faktoren wurden am Zahlenmaterial des Battelle- Instituts erprobt, da hier „die Möglichkeit der raschen Rückfrage bei den Experimentatoren“ bestand, ob nämlich die Abstufung der Versuche untereinander Sinn mache. Nachdem diese Faktoren ermittelt waren, ergab sich folgende Formel für das Belastungsmaß: Belastungsmaß = (2x Belastungsgrad + 0,5x Belastungsdauer) x Narkose x (0,5x Belastungshäufigkeit) Mithilfe der damit ermittelten Größe „Belastungsmaß“ konnten die Versuche in Gruppen zusammengefasst werden, die den Gruppen anderer ‘Schmerz-Skalen’ vergleichbar waren: „Versuche mit leichter Belastung entsprechen einem Belastungsmaß von 10 - 15, Versuche mit mittelschwerer Belastung entsprechen einem Belastungsmaß von 16 -19, Versuche mit schwerer Belastung entsprechen einem Belastungsmaß von über 19.“ (ebd.). Vergleich des Battelle-„Belastungsmaßes“ mit anderen Belastungskatalogen Folgende Belastungsskalen wurden verwendet, um das Belastungsmaß, das aus den Battelle-Daten errechnet wurde, zu vergleichen (Battelle- Institut 1988, S. 91-95): 1. „Die Deutsche Forschungsgemeinschaft diskutiert eine Belastungsbeschreibung in zwei Stufen mit insgesamt fünf Unterstufen. Die Stufen sind ‘Kurze, nicht erhebliche Schmerzen und Leiden’, sowie ‘Erhebliche, andauernde Schmerzen und Leiden’.“ (Battelle- Institut 1988, S. 91). 2. „Aus der zentralen Versuchsanlage der Universität Ulm stammt eine Veröffentlichung, die Tierversuche in sechs Kategorien der Belastung unterteilt.“ (Battelle-Institut 1988, S. 92). 3. „Das niederländische Veterinärinspektorat veröffentlichte eine Liste mit dem Titel: ‘Categories of discomfort - List of examples’, in dem Tierversuche in drei Belastungsstufen eingeteilt sind und an Hand von Beispielen die Eingruppierung von Versuchen erleichtert werden soll. Die drei Kategorien heißen ‘geringe Belastung’, ‘Mäßige Belastung’ und ‘Schwere Belastung’.“ (Battelle-Institut 1988, S. 93). 4. „Das schweizerische Bundesamt für Veterinärwesen unterscheidet vier Schweregrade eines Versuchs, <?page no="103"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 103 Grad I = geringfügige Belastung des Tieres, Grad II = mittelgradige Belastung des Tieres, Grad III = schwere Belastung des Tieres und Grad IV = sehr schwere Belastung des Tieres.“ (ebd.). 5. „Das amerikanische Landwirtschaftsministerium schlägt 1987 vor, Tierversuche in vier Kategorien der Belastung zu ordnen: Kategorie 1 = ‘little or no pain or distress’ [geringer oder kein Schmerz/ Qual] Kategorie 2 = ‘minor pain or distress of short duration’ [schwacher Schmerz/ Qual von kurzer Dauer] Kategorie 3 = ‘significant, but unavoidable pain or distress’ [deutlicher, aber unvermeidbarer Schmerz/ Qual] Kategorie 4 = ‘severe pain or distress or chronic unrelieved pain’ [schwerer Schmerz/ Qual oder chronische Schmerzen ohne Analgesie]" (Battelle-Institut 1988, S. 94). Zu den benannten Belastungskatalogen wurde jeweils eine Reihe von Beispielen aufgelistet, auf die ich hier nicht näher eingehe. Ergebnis der Battelle-Untersuchung Für alle Versuche der in der Studie erhobenen Datenbasis, für die das Belastungsmaß errechnet werden konnte, wurde auch eine Bewertung mit den anderen fünf Belastungsskalen (s. oben) durchgeführt (Battelle-Institut 1988, S. 95). Der Vergleich ergab folgendes Ergebnis: „Vergleicht man die Versuche, die Belastung von Tieren in Versuchen quantitativ zu beschreiben, so ergibt sich, daß alle eindimensionalen Skalen, wenn man sie auf die gleichen Versuche anwendet, sehr gut vergleichbare Ergebnisse liefern. Durch die Einführung der weiteren Dimensionen ‘Dauer der Belastung’, ‘Narkose’, ‘Mehrfachbelastung’ konnte in einem Belastungsbereich, der bei einer mittleren Belastung (ab Belastungsmaß 15) beginnt, eine bessere Auflösung erreicht werden, als dies die eindimensionalen Skalen liefern. Im mittleren bis fast ganz hohen Belastungsbereich sind alle eindimensionalen Skalen stark schwankend. Was die Versuche mit extremer Belastung angeht, so sind alle Skalen vergleichbar.“ (Battelle- Institut 1988, S. 96). Dieses Ergebnis halte ich für sehr bedenkenswert: Gerade im mittleren bis fast ganz hohen Belastungsbereich erwiesen sich die eindimensionalen Skalen als „stark schwankend“. Das ist ethisch relevant, denn dies sind gerade diejenigen Belastungsbereiche, die zum einen möglichst vermieden werden sollten und bei denen zum anderen in einer Güterabwägung besonders hohe Anforderungen zu stellen sind. Hierzu fordert beispielsweise die Schweizerische Ethikkommission in den „Ethische(n) Grundsätze und <?page no="104"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 104 Richtlinien für Tierversuche“ (2005) unter Ziffer 3.2: „Je schwerer oder längerdauernd das voraussichtliche Leiden des Tieres ist, desto dringlicher stellt sich die Frage nach der Zumutbarkeit und Verantwortbarkeit eines Versuches.“ In der Praxis also mit Belastungskatalogen zu arbeiten, die gerade in den ethisch besonders problematischen Bereichen Ungenauigkeiten aufweisen, das halte ich für bedenklich. Status der von der DFG diskutierten Belastungsbeschreibung In der Publikation Rusche und Apel (2001): „Nerv getroffen - Ein Jahrzehnt Hirnforschung an der Universität Bremen - Forschungsaussagen: Ethische Bewertung. Realität.“ werden auf den Seiten 141 - 147 in „Anhang C: Belastungskataloge“ die 5 Belastungskataloge aus dem Battelle-Forschungsbericht wörtlich zitiert, u. a. auch ‘die von der DFG diskutierte Belastungsbeschreibung’. 71 Rusche und Apel machen auf Seite 145 dazu noch folgende Anmerkung: „Zur Art der Veröffentlichung dieser Belastungskataloge finden sich in der so genannten Battelle-Studie keine Hinweise.“ Bei Hirt, Maisack und Moritz im Kommentar zum Tierschutzgesetz wird ‘die von der DFG diskutierte Belastungsbeschreibung’ wie folgt benannt (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 239, § 7 Rn. 54): „Zieht man anstelle des CH-Belastungskatalogs den von der DFG herausgegebenen Katalog heran (zitiert nach Rusche/ Apel S. 141), [...]“. 72 Es ergibt sich möglicherweise unbeabsichtigt eine Falscheinschätzung des Status des beschriebenen Belastungskatalogs, denn eine von der DFG lediglich ‘diskutierte’ Belastungsbeschreibung, die in einer im Jahre 1988 veröffentlichten Studie des Battelle-Instituts vorgestellt wurde, 73 wurde nun in der Literatur wiederholt als ‘von der DFG herausgegebener Katalog’ oder ähnlich zitiert. Auch Binder benennt in ihrer Übersichtstabelle „ausgewählter Schweregradskalen“ die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ mit 2 bzw. 5 Belastungsstufen (Binder 2009, S. 252). Dem Leser mag damit eine Aktualität dieses ‘DFG-Belastungskataloges’ nahegelegt werden, die u.U. nicht besteht: Man bedenke, dass auch der bei Rusche und Apel 2001 zitierte Katalog jüngstenfalls aus dem Jahre 1988 stammt. Ein offizieller Be- 71 Zusätzlich zitieren Rusche und Apel noch einen sechsten Belastungskatalog aus Alternatives To Laboratory Animals (1986, Band 14, Seite 98). Es ist dies der Katalog: „Scientists Center of Animal Welfare, Bethesda, Maryland USA, Categories of Biomedical Experiments Based on Increasing Ethical Concerns for Non-Human Species.“ 72 Anm.: Mit „CH-Belastungskatalog“ ist an dieser Stelle der Schweizer BVET- Belastungskatalog gemeint. 73 Wie auch Rusche und Apel in einer Anmerkung bemerkt haben, wird diese von der Deutschen Forschungsgemeinschaft diskutierte Belkastungsbeschreibung in der Battelle-Veröffentlichung zitiert, ohne nähere Angaben über die Autoren des DFG- Kataloges, dessen Erstellungs-Datum, dessen Datum und Organ der Erstveröffentlichung sowie dessen Status. <?page no="105"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 105 lastungskatalog der DFG existiert derzeit jedoch nicht. Nach der Mitteilung 74 von Prof. Dr. Gerhard Heldmaier, Vorsitzender der DFG-Senatskommission für tierexperimentelle Forschung, gibt es eine Schweregradeinstufung der DFG, die schon seit etwa 20 Jahren von vielen Genehmigungsbehörden als Raster bei der Bewertung von Versuchsvorhaben eingesetzt werde. Dies geschehe aber aus pragmatischen Gründen und sei nicht gesetzlich geregelt. Der Katalog wäre wohl auch nie von den Gremien der DFG offiziell z.B. als verbindliches Kriterium für die Bewilligung von Forschungsmitteln eingerichtet worden. Die Ursprünge dieses Kataloges zu rekonstruieren sei leider nicht erfolgreich gewesen. In Deutschland war kein bestimmter Belastungskatalog zur prospektiven Schweregradeinstufung offiziell empfohlen oder gar gesetzlich vorgeschrieben. Offensichtlich wurden auch Kataloge verwendet, deren Status unklar ist. Wie die Battelle-Studie gezeigt hat, liefern die untersuchten Kataloge zudem gerade in denjenigen Bereichen, die von besonderer Relevanz sind, stark streuende Ergebnisse. Dies alles spricht m.E. dafür, ein Gremium zu beauftragen, einen geeigneten Katalog zu erstellen, der dann zumindest einheitlich empfohlen werden sollte. Wie wir in Kap. 2.5 gesehen haben, besteht ein großes Desiderat für die Verwendung eines solchen Kataloges. Seit 2013 sehen § 31 sowie § 35 TierSchVersV eine Schweregrad- Einstufung gem. Art. 15 Abs. 1 i.V.m. Anh. VIII der Richtlinie 2010/ 63/ EU vor (vgl. dazu Kap. 3.4.6). Um die Thematik der Belastungs-Einstufung - die ein zentrales Kriterium bei der Güterabwägung zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit eines Versuchsvorhabens ist - besser verstehen zu können, bedarf es jedoch zunächst eine Auseinandersetzung mit den der Belastungseinstufung zugrunde liegenden Begriffen. Daher möchte ich im Folgenden erklären, was unter „Belastung“ zu verstehen ist, wie die Begriffe „Schmerzen“, „Leiden“ und „Schäden“ definiert sind und wo in der praktischen Anwendung grundsätzliche Schwierigkeiten auftreten. 3.4.1 Welche Faktoren werden unter „Belastung“ verstanden? Die Belastung eines Versuchstieres stellt in der Tierschutzgesetzgebung - in Deutschland wie auch international - ein „konstitutives Element des Tierversuches“ dar. Hierbei wird „das abstrakte Konzept der Belastung [...] durch die Begriffe Schmerzen, Leiden und Schäden konkretisiert.“ (Binder 2009, S. 241). 75 74 Persönliche Mitteilung, April 2010. 75 Binder verweist auf das deutsche Tierschutzgesetz, wonach Versuche an Wirbeltieren nur dann durchgeführt werden dürfen, „wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind.“ (§ 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung, bzw. erweitert um Kopfüßer in § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung). <?page no="106"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 106 Den mitunter anzutreffenden Begriffen Angst und Distress komme zwar keine eigenständige rechtliche Bedeutung zu, weil diese bereits „unter den Begriff Leiden zu subsumieren sind“, dennoch sieht Binder die ausdrückliche Nennung des Begriffes „Angst“ im Österreichischen sowie im Schweizer Tierschutzgesetz als Hinweis darauf, „dass diese Belastungsart in ihrer Bedeutung nicht unterbewertet werden darf.“ (Binder 2009, S. 241). Bei den Begriffen Schmerzen und Leiden (einschließlich Angst und Distress) handle es sich um subjektive Erfahrungen beziehungsweise Empfindungen, die ein Mindestmaß an Schmerzempfindungsbeziehungsweise Leidensfähigkeit voraussetzen, weshalb Binder sie im pathozentrischen Tierschutzkonzept verortet sieht. Dem hingegen kann auch ein „(vermeintlich oder tatsächlich) empfindungsloses Tier“ geschädigt werden. Das Tierschutzrecht überschreitet folglich mit dem Schadensbegriff den pathozentrischen Bezugsrahmen. Dies trage dem Umstand Rechnung, „dass der Schutz der Tiere ein allgemein anerkanntes öffentliches Interesse darstellt [...] und damit auch anthropozentrisch begründet ist.“ (ebd.). 3.4.2 Wie sind die Begriffe „Schmerzen“ / „Leiden“ / „Schäden“ definiert? Bezug nehmend auf die Definition von Schmerz, Distress und Leiden erklären die Autoren des Berichtes einer FELASA 76 -Arbeitsgruppe „Schmerz und Distress“ (erstveröffentlicht 1994, ins Deutsche übersetzt 1995 77 ), dies wären Begriffe, die ursprünglich der Beschreibung menschlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen dienten. Es sei „nicht einfach, die Definitionen solcher ‘Gemütszustände’ auf vergleichbare Situationen bei Labortieren zu übertragen.“ (GV-SOLAS 1995, S. 3. Die Experimentatoren müssten jedoch mit den komplizierten Konzepten von Schmerz, Distress und Leiden „ver- 76 Federation of European Laboratory Animal Science Association. 77 Es sei bemerkt, dass die Gesellschaft für Versuchstierkunde GV-SOLAS (1995, S. 2) in ihrem Bericht betont, dass die Begriffe „Distress“, „Suffering“ und „Leiden“ weder in der Übersetzung noch im Original ganz einheitlich verwendet würden. Deutschen Lesern sei zum Verständnis empfohlen, „den Begriff ‘DISTRESS’ mit ‘über dem physiologischen Stress liegende BELASTUNG’ zu interpretieren.“ (ebd.). „[...] solange das Gegenteil nicht klar bewiesen ist, müssen wir davon ausgehen, daß alle Tiere Schmerzen wahrnehmen und darunter leiden können“ (Iggo 1985) <?page no="107"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 107 traut und in der Lage sein, diese Zustände bei ihren Tieren zu erkennen, zu bewerten, unter Kontrolle zu halten und nach Möglichkeit auszuschalten.“ (ebd.). Der Begriff „Schmerzen“ „Schmerz“ als medizinischer Fachbegriff, wird in der Labortierkunde unter Bezugnahme auf die von der International Association for the Study of Pain (1979) veröffentlichte Arbeitsdefinition definiert als „unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die im Zusammenhang mit tatsächlicher oder potentieller Schädigung oder in Form einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ (zitiert nach Gesellschaft für Versuchstierkunde GV- SOLAS 1995, S. 3). Diese und weitere Schmerzdefinitionen würden betonen, „daß Schmerz eine Erfahrung ist“ (Gesellschaft für Versuchstierkunde GV-SOLAS 1995, S. 4). Die Autoren stützen sich auf Erkenntnisse von Physiologie und Psychologie, wonach es notwendig sei, dass eine Wahrnehmung erzeugt werde. Hierfür sei es wiederum erforderlich, dass ein Tier bei Bewusstsein sei, also über eine funktionierende Hirnrinde verfüge. Für die Beurteilung, ob ein Tier Schmerzen erleide, sei eine Schmerzreaktion ein wichtiger Aspekt. Die Autoren betonen jedoch, dass die bei ihnen verwendete Definition von Schmerz sich auf ‘physischen’ und ‘nozizeptiven’ Schmerz beschränke. Folglich sei ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt, dass Schmerz eine Wahrnehmung oder Erfahrung nozizeptiver Stimuli sei, „d. h. von Stimuli einer Intensität, die ausreicht, Verletzungen oder Gewebeschäden beinahe oder tatsächlich hervorzurufen.“ (ebd.). Voraussetzung dafür, dass einem Tier Schmerzen zugefügt werden, ist also die Fähigkeit des Tieres, Schmerzen zu empfinden, so auch Regina Binder. Sie betont, dass die Schmerzempfindung „im Zweifelsfall unter Bedachtnahme auf die jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu beurteilen ist.“ (Binder 2009, S. 242). Es werden akute von chronischen Schmerzen unterschieden, hierbei können letztere begrifflich in Leiden übergehen. „Die Frage, ob einem Tier in concreto Schmerzen zugefügt werden bzw. welchem Belastungsgrad diese zuzuordnen sind, ist im Einzelfall unter Zugrundelegung der Physiologie und der speziellen Ethologie der jeweiligen Tierart, d.h. unter Bedachtnahme auf die Merkmale innerkörperlicher Zustände und auf arttypische Ausdrucksweisen (Schmerzäußerungen), zu beurteilen.“ (ebd.). Der Begriff „Leiden“ Regina Binder erklärt, der Begriff „Leiden“ gelte als eigenständiger Begriff des Tierschutzrechts. Goetschel und von Loeper fassen unter Leiden „alle <?page no="108"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 108 nicht bereits vom Begriff des Schmerzes umfassten Beeinträchtigungen im Wohlbefinden, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne fortdauern.“ (Goetschel und v. Loeper 1993, S. 5). Auf die tierschutzrechtlichen Definitionen werde ich weiter unten noch vertieft eingehen. Mit Verweis auf Loeffler erklärt Binder, der Begriff „Leiden“ bezeichne - im Unterschied zu Schmerzen - ein komplexes Erleben, welches das Wohlbefinden der betroffenen Entität beeinträchtigt, aber neurophysiologisch kaum erfasst werden könne (vgl. Loeffler 1993, S. 81). Nach heutigem Kenntnisstand werde die Leidensfähigkeit bei Wirbeltieren bejaht, wobei „in Anbetracht der vielfältigen Organisationsformen im Tierreich von einer graduell unterschiedlich ausgeprägten Leidensfähigkeit der einzelnen Tierklassen“ auszugehen sei. Als Ursache für Leiden - die sowohl körperlicher als auch psychischer Art sein können - kommen insbesondere Verhaltens- und Funktionsstörungen in Frage. Leiden setze begrifflich eine gewisse zeitliche Dauer voraus - im Unterschied zum Schmerz, der auch durch ein kurzes einmaliges Ereignis ausgelöst werden könne, „sodass die Befindlichkeit über eine bloß augenblickliche bzw. ganz kurzfristige Beeinträchtigung hinausgehen muss.“ (Binder 2009, S. 243). Binder betont, die Beurteilung von Leiden habe im Einzelfall vor dem Hintergrund des artgemäßen Normalverhaltens anhand arttypischer Leidensäußerungen zu erfolgen, wie beispielsweise Trauerhaltung, Apathie, Störungen des Verhaltens oder der Körperfunktionen. Die Autoren Salomon, Appl, Schöffl, Tritthart und Juan haben im Auftrag des österreichischen Bundeskanzleramtes und des Ministeriums für Wissenschaft und Verkehr eine bemerkenswerte und umfassende Studie zur „Erfassung und Bewertung des Leidens sowie der Belastung transgener Tiere im Tierversuch im Vergleich zu konventionellen Tierversuchen“ durchgeführt, die im Jahre 2001 publiziert wurde. 78 Die Studie verfolgte die Ziele, eine Zusammenstellung von Modellen zur Evaluierung der Belastung beziehungsweise des Leidens (Leidensbewertungssysteme), den Vergleich dieser Modelle im Hinblick auf die 3R, die Diskussion optimierter Ansätze zu Leidensevaluierung, die Zusammenstellung leidensrelevanter Faktoren für transgene Tiere sowie eine Analyse und Diskussion der Probleme der Belastungsbewertung zu erbringen (Salomon et al. 2001Endb., Endbericht, S. 4). In ihrer Studie widmen sich Salomon et al. also intensiv und umfassend der Frage nach tierlichem Leiden und der Problematik der Leidensbewer- 78 Die im Jahre 2001 erfolgte Publikation besteht aus zwei Teilen: a) der mit 249 Seiten ausführlichen Studie „Erfassung und Bewertung des Leidens [....]“ im hinteren Teil der Publikation, sowie b) im vorderen Teil der Publikation dem 36seitigen „Endbericht zur Studie Erfassung und Bewertung des Leidens [...]“. Ich differenziere die beiden Teile mit Salomon et al. 2001a (die Studie) sowie mit Salomon et al. 2001Endb. (den Endbericht). <?page no="109"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 109 tung im Versuchstierbereich. Die Autoren kommen nach ausführlicher Bearbeitung der Literatur und Analyse zahlreicher Schmerz-, Leiden-, Furcht/ Angst-, Schaden- und Distress-Definitionen zu dem Schluss, „daß die Begriffe Schmerzen, Leiden, Schaden, Angst und Distreß alle eine bestimmte Qualität körperlichen und/ oder seelischen Mißempfindens bezeichnen.“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 10). Über die Charakteristika jeder einzelnen Wahrnehmung herrsche in der Fachliteratur jedoch Uneinigkeit. Erschwerend komme die Tatsache hinzu, dass bei der Abgrenzung dieser Empfindungen gegeneinander mehrere dieser Qualitäten nebeneinander auftreten oder ineinander übergehen können. Nach Ansicht der meisten Experten sei die Empfindung von „Leid“ ein psychisches Phänomen, „wenngleich Leidensgefühle durchaus von physischen Vorgängen begleitet, bzw. durch diese verursacht werden können.“ (ebd.). Goetschel (1986) bezeichne Leiden als „seelische Missbehagensempfindung“, die Gesellschaft für Versuchstierkunde GV-SOLAS verstehe unter Leid „einen speziellen ‘Gemütszustand’, der nicht identisch ist mit Schmerz oder Distreß, wohl aber eine Konsequenz von einer [sic! ] dieser beiden Einflüsse sein kann. Physischer Schmerz und Distreß können zu Leiden führen, wenn sie von ausreichender Intensität und/ oder Dauer sind. Leiden tritt auf, wenn Schmerz oder Distreß für das betreffende Tier nicht mehr tolerierbar ist, das heißt, wenn der physische Schmerz die Schmerztoleranzschwelle überschritten hat bzw. der Distreß für das Tier nicht mehr bewältigbar ist.“ (GV-SOLAS 1995, zit. nach Salomon et al. 2001Endb., S. 10f.) Salomon et al. betonen, dass dieser Definition - „um Missverständnissen vorzubeugen“ -, hinzuzufügen sei, dass „für das Tier nicht mehr bewältigbarer Distreß“ zumeist nicht dadurch entstehe, „daß das physische und psychische Potential eines Tieres bestimmten Umweltbedingungen adäquat (also Distreß reduzierend) zu begegnen überschritten wird, sondern vielmehr wird das Tier durch inadäquate Haltungsbedingungen oder den Experimentiermodus daran gehindert [...], in geeigneter Weise auf bestimmte negative Stimuli zu reagieren.“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 11). Dawkins formuliere Leiden folgendermaßen: „Leiden tritt ein, wenn unangenehme subjektive Empfindungen akut oder längere Zeit andauern, weil das Tier nicht in der Lage ist, Handlungen zu setzen, die normalerweise aus seiner Sicht angebracht wären, Gefahren hinsichtlich des Lebens und der Fortpflanzung zu reduzieren“ (Dawkins 1997, zit. nach Salomon et al. 2001Endb., S. 11). Dawkins (1990) interpretiere Leiden als Adaptation im Darwinschen Sinn, da Leiden unter „normalen“, von Menschen unbeeinflussten Bedingungen dazu führe, dass das Tier auf eine Weise reagiere, die zu einer Verbesserung seiner Situation und zu einer Erhöhung seiner individuellen Fitness führe. Die britische Gesellschaft für Versuchstierkunde (LASA, 1990) weise ebenfalls auf den psychischen Ursprung des Leidensgeschehens hin. Die <?page no="110"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 110 Gesellschaft bezeichne jede Beeinträchtigung des Empfindens als Schmerz, Leid oder Schaden. Hierbei sei der Normalzustand des Empfindens durch Gesundheit, Zufriedenheit und die Erfüllung sozialer und ethologischer Bedürfnisse charakterisiert. Salomon et al. betonen, dass die LASA damit - im Gegensatz zu anderen Autoren - nicht versuche, das Leiden von anderen Qualitäten des Unwohlbefindens abzugrenzen. Ähnlich allgemein würden Bittermann und Plank (1990) Leid als einen Dauerzustand von Unlust bis zu extremen Schmerzen formulieren. Der Ansicht der beiden Autoren nach inkludiere Leid folgende Empfindungen: Schmerz, Krankheit, Angst, Furcht, seelische Entbehrung sowie Hoffnungslosigkeit. Leiden werde verursacht durch Krankheit, Verletzung, fehlende oder zu viel Nahrung, Durst, Kälte, Hitze, Mangel an Bewegung, Isolation von Artgenossen, Entzug von Sinnesreizen und Behinderung der Ausübung essentieller Bedürfnisse. Binder benennt darüber hinaus noch als Verursacher von Leiden die Vergesellschaftung mit unverträglichen Artgenossen sowie Lichtentzug. Sie betont mit Verweis auf LASA 1993, dass bereits eine geringfügige Einschränkung des freien Zugangs zu frischem Trinkwasser Leiden verursachen könne (Binder 2009, S. 244). Eine in Zusammenhang mit der Vornahme experimenteller Maßnahmen erforderliche Immobilisierung von Versuchstieren stelle insbesondere für Kleinnagetiere sowie für Wildtiere einen „beträchtlichen Stressor“ dar (ebd.). Salomon et al. führen noch Lorz an, der im Gegensatz zu Bittermann und Plank den Leidensbegriff deutlich vom Schmerzempfinden abgrenze: „Leiden erfaßt alle vom Begriff des Schmerzes nicht erfasste Unlustgefühle. Leiden werden durch der Wesensart des Tieres zuwiderlaufende, instinktwidrige und vom Tier gegenüber seinem Selbst- und Arterhaltungstrieb als lebensfeindlich empfundene Einwirkungen verursacht. Leiden ist keine reine Augenblicksempfindung.“ (Lorz 1987, zit. nach Salomon 2001Endb., S. 11). Ihre Vorstellungen unterschiedlicher Leidensdefinitionen schließen Salomon et al. mit dem Verweis auf Zimmermann (1985) ab, der Leiden als einen Zustand definiere, der bei Tieren mit Bewusst- und Selbstbewusstsein auftreten könne, wenn speziesspezifische Bedürfnisse (z.B. Bewegung, adäquate Umwelt, ausreichend Futter und Wasser, Sozialleben einschließlich Sexualität, Gesundheit) nicht erfüllt würden. Da im Tierschutzgesetz in Art. 7 Abs. 3 (alte Fassung, bzw. § 7a Abs. 2 Nr. 3 neue Fassung) gefordert wird, dass die Schmerzen, Leiden und Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sein müssen und die AVV sowie die TierSchVersV eine prospektive Belastungseinstufung in verschiedene Schweregrade vorsieht, ist es notwendig, sich mit den tierschutzrechtlichen Definitionen näher zu befassen. <?page no="111"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 111 Der Begriff „Leiden“ im deutschen Tierschutzrecht In seinem Hauptreferat „Bedeutung von Leiden im Tierschutzrecht“ auf dem 21. IGN-Meeting 2007 79 „Animal Suffering and Well-Being - International Symposium on the State of Science“, erläutert Christoph Maisack, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 80 und des Bundesverwaltungsgerichts 81 sind Leiden „alle nicht bereits vom Begriff des Schmerzes umfassten Beeinträchtigungen im Wohlbefinden, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne fortdauern.“ (Maisack 2007, S. 31). Diese Definition sei in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt. 82 Teilweise werde noch eine andere Definition verwendet: „Leiden werden durch der Wesensart des Tieres zuwiderlaufende, instinktwidrige und vom Tier gegenüber seinem Selbst- oder Arterhaltungstrieb als lebensfeindlich empfundene Einwirkungen und durch sonstige Beeinträchtigungen seines Wohlbefindens verursacht“. 83 Maisack betont, dies bedeute keine Einschränkung zu der BGH- Definition, dies würde bereits der Hinweis auf die „sonstigen Beeinträchtigungen“ zeigen (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 80 § 1 Rn. 17). „Das Tierschutzrecht verfügt damit über einen eigenständigen Leidensbegriff“, der nicht der Human- oder Veterinärmedizin entstamme (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 80 § 1 Rn. 17). Insbesondere dürfe dieser Begriff nicht mit dem verwechselt werden, was die Humanmedizin meine, wenn sie von einem „Leiden“ im Sinne von einer chronischen Erkrankung spreche (Maisack 2007, S. 31). Maisack betont mit Verweis auf VGH Mannheim (aaO) und Lorz und Metzger (1999, § 1 Rn. 34), dass die Beeinträchtigung nicht körperlicher Natur zu sein brauche, eine Beeinträchtigung des seelischen Wohlbefindens reiche aus. Der Begriff „Wohlbefinden“ im Tierschutzrecht Maisack betont, der Leidensbegriff setze auch eine Definition des Begriffs „Wohlbefinden“ voraus. Gemäß der amtlichen Begründung zum Änderungsgesetz von 1986 zum Tierschutzgesetz werde Wohlbefinden vom Gesetzgeber definiert als „Zustand von physischer und psychischer Harmonie des Tieres in sich und mit der Umwelt, welcher insbesondere durch die 79 „Leiden und Wohlbefinden bei Tieren - Internationales Symposium zum Stand der Wissenschaft“. Giessen, 21.-22. September 2007. Organisiert von der Professur Tierschutz und Ethologie der Justus-Liebig-Universität Giessen gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für Nutztierhaltung (IGN). 80 BGH NJW 1987, S. 1833f. 81 BVerwG NuR 2001, S. 454f. 82 Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 80 § 1 Rn. 17 mit Verweis auf Lorz und Metzger 1999, § 1 Rn. 33 mN. 83 VGH Mannheim NuR 1994, S. 487f. <?page no="112"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 112 Freiheit von Schmerzen charakterisiert wird. Regelmäßige Anzeichen des Wohlbefindens sind Gesundheit und ein in jeder Beziehung normales Verhalten“. 84 Das VG Düsseldorf definiert folgendermaßen: „Das Wohlbefinden des Tieres beruht auf einem art-, bedürfnis- und verhaltensgerechten Ablauf der Lebensvorgänge“. 85 Maisack betont, nicht zuletzt daraus erkläre sich die „besondere Bedeutung des Verhaltens als Indikator für erhebliche Beeinträchtigungen im Wohlbefinden“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 80, § 1 Rn. 18). Maisack leitet aus der BGH-Definition für „Leiden“ und der Definition des Begriffs „Wohlbefinden“ des Änderungsgesetzes von 1986 für die Feststellung von Leiden bei Tieren folgende Konsequenz ab: „Wohlbefinden ist mehr als Gesundheit“. Maisack verweist dabei auch auf den § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 TierSchG alte Fassung (jetzt § 18 Abs. 1 Nr. 2 TierSchVersV) 86 , dort werde zwischen Wiederherstellung des Gesundheitszustandes und Wiederherstellung des Wohlbefindens unterschieden. Er betont: „Ein Tier kann also auch leiden, wenn es gesund ist.“ (Maisack 2007, S. 31). Von dem Grundsatz, dass jede Beeinträchtigung im Wohlbefinden Leiden bedeutet, gelten zwei Einschränkungen (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 80 § 1 Rn. 19, mit Verweis auf BGH aaO): Die Beeinträchtigung müsse 84 Amtliche Begründung zum Änderungsgesetz von 1986 zum Tierschutzgesetz, zit. nach Maisack 2007, S. 31. 85 VG Düsseldorf AgrarR 2002, S. 368, zit. nach Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 80, § 1 Rn. 18. 86 § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 TierSchG alte Fassung: „Im Einzelnen gilt für die Durchführung [von Tierversuchen] Folgendes: […] 5. Wird bei einem Wirbeltier ein schwerer operativer Eingriff vorgenommen oder ist das Tier in einem mit erheblichen oder länger anhaltenden Schmerzen oder Leiden oder mit erheblichen Schäden verbundenen Tierversuch verwendet worden, so darf es nicht für ein weiteres Versuchsvorhaben verwendet werden, es sei denn, sein allgemeiner Gesundheitszustand und sein Wohlbefinden sind vollständig wiederhergestellt und der weitere Tierversuch a) ist nicht mit Leiden oder Schäden und nur mit unerheblichen Schmerzen verbunden oder b) wird unter Betäubung vorgenommen und das Tier wird unter dieser Betäubung getötet.“ Geändert nun in § 18 Abs. 1 TierSchVersV: „Ein Wirbeltier oder ein Kopffüßer, das oder der bereits in einem Versuchsvorhaben verwendet worden ist, darf in einem weiteren Versuchsvorhaben, für das auch ein zuvor noch nicht verwendetes Tier verwendet werden könnte, nur dann verwendet werden, wenn 1. das Tier nicht in einem Tierversuch verwendet worden ist, der nach Artikel 15 Absatz 1 in Verbindung mit Anhang VIII der Richtlinie 2010/ 63/ EU als „schwer“ einzustufen ist, 2. sein allgemeiner Gesundheitszustand und sein Wohlbefinden vollständig wiederhergestellt sind, 3. das Tier im Rahmen des weiteren Versuchsvorhabens nicht in einem Tierversuch verwendet wird, der nach Artikel 15 Absatz 1 in Verbindung mit Anhang VIII der Richtlinie 2010/ 63/ EU nicht als „schwer“ einzustufen ist und 4. die erneute Verwendung im Einklang mit einer tierärztlichen Empfehlung steht, die Art und Umfang der Schmerzen, Leiden und Schäden berücksichtigt, die das jeweilige Tier während seines gesamten bisherigen Lebensverlaufs erfahren hat.“ <?page no="113"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 113 über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und dürfe sich auch nicht nur um eine reine Augenblicksempfindung handeln. a) Nicht ausreichend sei also eine reine Augenblicksempfindung. Andererseits würden Beeinträchtigungen, die sich wiederholen, ausreichen („wenn sich kurzzeitige Wohlbefindensstörungen mehrmals wiederholen“) (Maisack 2007, S. 32 sowie Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 80 § 1 Rn. 19). b) Die zweite Einschränkung ist, dass ein „schlichtes Unbehagen“ nicht ausreichend wäre. Darunter könne beispielsweise die Vorstufe zu Angst oder ähnlichen Empfindungen verstanden werden. Auch „bloße Aufregungen, Anstrengungen, oder vorübergehende Belastungszustände“ ließen sich noch dem Unbehagen zuordnen (ebd.). Maisack betont, die Grenzen wären indes fließend, so dass auch solche Zustände bei längerer Dauer und/ oder starker Intensität in Leiden münden könnten (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 81 § 1 Rn. 19 mit Verweis auf Lorz und Metzger 1999, § 1 Rn. 35). Eine ‘Nachhaltigkeit’ der Beeinträchtigung werde für die Feststellung, ob Leiden vorliege, nicht verlangt. Hierauf weise der Bundesgerichtshof (aaO), das VGH Mannheim (NuR 1994, S. 488) und das OLG Düsseldorf (NuR 1994, S. 517) ausdrücklich hin. Maisack betont, auf Erheblichkeit und/ oder zeitliche Dauer des Leidens komme es nur dort an, wo das Gesetz dies ausdrücklich verlange, beispielsweise bei § 17 Nr. 2b. 87 Wichtig ist festzuhalten: Leiden setze also nicht voraus, dass Tiere krank oder verletzt sind; des Weiteren bedeute Wohlbefinden mehr als die Abwesenheit von Krankheit (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 81 § 1 Rn. 21). Leiden kann durchaus aber zu einer Krankheit führen. „Bis Leiden krank macht wird oft lange gelitten“. 88 Hinweise auf das Vorliegen von Leidenszuständen Ein deutlicher Hinweis auf Leiden eines Tieres liege in der Abweichung seines Verhaltens vom Normalverhalten, wobei unter Normalverhalten diejenigen Verhaltensabläufe zu verstehen wären, „die von der überwiegenden Mehrheit der Tiere der betreffenden Art, Rasse, Geschlechts- und Altersgruppe unter natürlichen oder naturnahen Haltungs-bedingungen gezeigt werden“, erklärt Maisack (Maisack 2007, S. 31). Hierbei wären unter natur- 87 § 17 TierSchG: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder 2. einem Wirbeltier a) aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder b) länger anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.“ 88 H. Würbel in: Landestierärztekammer Hessen, Kongressband zur Fortbildung am 6.5.2006, S. 145, zit. nach Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 81, § 1 Rn. 21. <?page no="114"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 114 nahen Haltungsbedingungen solche Haltungsbedingungen zu verstehen, „die sowohl die freie Beweglichkeit als auch den vollständigen Gebrauch aller (vorhandenen) Organe ermöglichen und in denen alle (Umwelt-)Reize und Stoffe vorhanden sind, deren das Tier bedarf, um sich artgemäß zu entwickeln und zu erhalten und alle Bedingungen, die zur Auslösung seiner natürlichen, angeborenen und erlernten Verhaltensabläufe führen.“ Maisack erklärt, ob ein Verhalten vom Normalverhalten abweiche, könne anhand von Ausprägung, Dauer und Häufigkeit festgestellt werden. „Eine Abweichung im Normalverhalten (nach Ausprägung, Dauer und/ oder Häufigkeit) kann also ausreichen, um ein Leiden auf Seiten des Tieres anzunehmen.“ (ebd.). ‘Erhebliche’ Leiden Erhebliche Leiden im Sinne der Paragraphen 17 und 18 TierSchG 89 können auch durch Krankheits- und Verletzungsanzeichen sowie physisch messbare Funktionsstörungen angezeigt werden, erklärt Maisack (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 81 § 1 Rn. 21). Hauptsächliche Indikatoren wären jedoch Verhaltensstörungen. Liege eine Verhaltensstörung vor, so lasse sich die von ihr ausgehende Indizwirkung für ein erhebliches Leiden nicht mit dem Fehlen pathologischer oder anderer physisch messbarer Anzeichen verrechnen, denn - so Maisack - „andernfalls würde man Leiden unzulässigerweise mit Krankheit gleichsetzen“ (ebd.). Auf den Zusammenhang zwischen Bedürfnisunterdrückung und Leiden weise auch die EU-Kommission hin: „Ist ein Tier nicht in der Lage, ein Bedürfnis zu befriedigen, so wird sein Befinden früher oder später darunter leiden“. 90 Maisack betont, dies entspreche der Feststellung des VG Düsseldorf 91 , dass das Wohlbefinden des Tieres auf einem art-, bedürfnis- und verhaltensgerechten Ablauf der Lebensvorgänge beruhe (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 81 § 1 Rn. 21). „Zugleich wird deutlich, dass bereits aus Art, Ausmaß und zeitlicher Dauer, mit der ein Verhaltensbedürfnis unterdrückt oder zurückgedrängt wird, 89 § 18 TierSchG benennt in Abs. 1 Nr. 1, sowie in Abs. 2 das Kriterium „erhebliche Schmerzen, Leiden oder Schäden“: „(1) Ordnungswidrig handelt, wer vorsätzlich oder fahrlässig 1. einem Wirbeltier, das er hält, betreut oder zu betreuen hat, ohne vernünftigen Grund erhebliche Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügt, 2. […]“ „(2) Ordnungswidrig handelt auch, wer, abgesehen von den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1, einem Tier ohne vernünftigen Grund erhebliche Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügt.“ 90 Legehennenmitteilung S. 6 = BT-Drucks. 13/ 11 371 S. 15, zit. nach Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 81, § 1 Rn. 21. 91 VG Düsseldorf AgrarR 2002, 368. <?page no="115"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 115 auf erhebliches Leiden geschlossen werden kann, auch ohne Hinzutreten weiterer Indikatoren; erst recht natürlich bei Betroffensein mehrerer Bedürfnisse […].“ (ebd., S. 81f., § 1 Rn. 21). Im Gesetz werden unterschiedliche Ausprägungen von Leiden benannt, und zwar Leiden als solche, „nicht unerhebliche“ Leiden, „erhebliche“ Leiden, sowie „erhebliche und zugleich länger anhaltende oder sich wiederholende“ Leiden (Maisack 2007, S. 32). Maisack vertieft den seines Erachtens „(besonders wichtigen) Begriff ‘erhebliche Leiden’“ (ebd.). Zunächst verweist er auf die Definition des Bundesgerichtshofs, bei dieser gehe es „um die Ausgrenzung von Bagatellfällen“. „Erheblich“ wäre synonym mit „beträchtlich“, „gravierend“, „gewichtig“. Maisack weist auf die Problematik dieser Definition hin, denn die Reichweite zwischen „kein Bagatellfall mehr“ und „gravierend, gewichtig“ sei sehr groß (ebd.). Es stelle sich die Frage, ob es notwendig wäre, dass das Leiden die Stufe „gravierend“ erreiche, oder ob es bereits genüge, wenn das Leiden von mittlerer Intensität und damit kein Bagatellfall mehr wäre (ebd.). Dafür, dass mittelgradige Beeinträchtigungen ausreichen, spreche für Maisack die historische und systematische Auslegung, denn das Tierschutzgesetz von 1972 folge einem früheren Entwurf von 1961, welcher an den Stellen, in denen es heute „erheblich“ heiße, noch formuliert habe: „mehr als geringfügig“ (Maisack 2007, S. 32). Maisack betont, in jedem Falle wäre es falsch, „erheblich“ mit „schwer“ gleichzusetzen, denn „Tierversuche, die zu schweren, d. h. für einen Menschen nicht mehr erträglichen Leiden führen, sollten durch das Änderungsgesetz von 1986 als mit dem Prinzip der Mitgeschöpflichkeit nach § 1 unvereinbar ausgeschlossen werden“ (Maisack 2007, S. 32). Zugleich würden aber in § 7 Abs. 3 Satz 2 TierSchG alte Fassung (jetzt in § 25 Abs. 1 und 2 TierSchVersV) Tierversuche, die mit erheblichen und zugleich länger anhaltenden oder sich wiederholenden Schmerzen oder Leiden verbunden sind, unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen. 92 Daraus folgert Maisack, „also muss ‘erheblich + länger anhaltend’ weniger sein als schwer, und ‘erheblich’ für sich genommen sogar deutlich weniger“ (ebd.). 92 § 7 Abs. 3 Satz 2 TierSchG alte Fassung bzw. jetzt in § 25 Abs. 1 TierSchVersV, erweitert um Kopffüßer: „(1) Tierversuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern, die bei den verwendeten Tieren zu voraussichtlich länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“ <?page no="116"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 116 Angst als Ausprägung von Leiden Maisack erklärt, „auch Angst ist Leiden“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 82, § 1 Rn. 22). 93 Er benennt eine Vielzahl von Ausdrucksmittel wie etwa Zittern, sträuben der Haare, stark erhöhter Herzschlag u.v.m. Erhebliches Leiden könne durch Ausmaß, Intensität und Dauer eines dieser Indizien angezeigt werden, „erst recht durch das Zusammentreffen mehrerer.“ (ebd.). Bei Panik und Ähnlichem werde man erhebliches Leiden stets annehmen müssen. Der Begriff „Angst“ Nach Hans Hinrich Sambraus (1997, S. 34) wird unter „Angst“ ein „unangenehmer emotionaler Zustand in Erwartung eines stark negativen Ereignisses“ verstanden. Binder erklärt, man müsse grundsätzlich davon ausgehen, dass Angst für Tiere eine größere Belastung darstelle als für den (erwachsenen) Menschen. Dieser sei aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten im Regelfall in der Lage, Rationalisierungsstrategien und Sinnfindungsmechanismen zu entwickeln. Angst könne für Tiere belastender sein als Schmerzen, dennoch „dürfte in der Praxis das Belastungspotential psychischer Faktoren häufig unterschätzt werden.“ (Binder 2009, S. 244). Daher wäre auch im Zusammenhang mit vergleichsweise geringen Belastungen, wie etwa einer Routineapplikation (z.B. Blutabnahme), zu beachten, dass bereits Vorbereitungshandlungen wie Immobilisierung, Fellrasur oder Desinfektion häufig nicht unerhebliche Angst auslösen können (Moyal 1999, S. 106). Generell müsse davon ausgegangen werden, dass Angst vor Neuem und Unbekanntem andere Belastungen verstärken könne, erklärt Binder mit Verweis auf Scharmann und Teutsch 1994. Der Begriff „Schaden“ Zum Begriff des Schadens erklärt Binder, das ethologische Konzept der Bedarfsdeckung und Schadensvermeidung definiere „Schaden“ als Abweichung von einem typusgemäßen Normzustand (Binder 2009, S. 244). Ein tierschutzrelevanter Schaden liege dann vor, wenn sich der körperliche oder psychische Zustand eines Tieres durch menschliche Einwirkung zum Schlechteren verändere (ebd.). Ein Schaden kann reversibel aber auch irreversibel sein. Da die Schädigung eines Tieres nicht voraussetze, dass dieses schmerzempfindungsbzw. leidensfähig ist, stünde der Schadensbegriff in einem anderen Begründungszusammenhang als die Begriffe Schmerzen, Leiden und Angst. „Ein Schaden wird zwar meist - zumindest ab einem 93 Maisack verweist dabei unter anderem auf: OLG Frankfurt/ M NJW 1992, 1639; Lorz und Metzger 1999, § 1 Rn. 36; v. Loeper 2002, § 1 Rn. 23. <?page no="117"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 117 bestimmten Stadium - mit Schmerzen oder Leiden verbunden sein, doch ist dies eben nicht zwingend der Fall.“ (Binder 2009, S. 245). Beispielsweise stelle ein induzierter Tumor bereits dann einen Schaden dar, wenn dieser vom Versuchstier noch gar nicht wahrgenommen werden könne. In gleicher Weise seien blind gezüchtete Hühner geschädigt, „auch wenn nicht beurteilt werden kann, ob und inwieweit ihr Wohlbefinden tatsächlich beeinträchtigt ist.“ (ebd.). Zwangsläufig stellt sich nun die Frage, wie denn die inneren Zustände von Tieren mit wissenschaftlichen Methoden gemessen werden können, und anhand welcher Kriterien man etwa den ‘Schweregrad’ einer Belastung bestimmen kann. In den vergangenen Jahren hat sich ein Zweig der Naturwissenschaften herausgebildet, der sich mit diesen Fragestellungen im Besonderen beschäftigt: Die „Animal Welfare Science“, die mit interdisziplinären Ansätzen etwa aus der Versuchstierkunde, der Verhaltensforschung (Ethologie), der Physiologie, der Biologie und Veterinärmedizin, aber auch mit Ansätzen aus dem humanmedizinischen Bereich, etwa der Psychologie, versucht, plausible Antworten auf Fragen nach der Empfindungsfähigkeit sowie dem Ausmaß von Schmerzen, Leiden und Ängsten aber auch darüber hinaus gehende Fragen, wie etwa die Frage nach Wohlbefinden und sogar Freude bei Tieren, zu erarbeiten. Im folgenden Kapitel soll daher an einem Beispiel beleuchtet werden, mit welcher Vorgehensweise plausible und damit relevante Aussagen über die Schmerz- und Leidensfähigkeit bestimmter Tiergruppen gewonnen werden konnten. 3.4.3 Der Beitrag der „Animal Welfare Science“ zur Frage der Empfindungsfähigkeit von Tieren und zur Erheblichkeit von Belastungen Der Ethologe Hanno Würbel betont in seinem Aufsatz „Biologische Grundlagen zum ethischen Tierschutz“ zur Umsetzung eines ethischen Tierschutzgedankens bedarf es „eingehender Kenntnisse der Biologie der betroffenen Tierarten, ihrer Ansprüche an die Umwelt sowie der biologischen Folgen von Mißachtungen dieser Ansprüche.“ (Würbel 2007, S. 11). Bezüglich der Bewertung von Maßnahmen an Tieren, die unter dem Aspekt der Tiergerechtheit vorgenommen werde, unterscheidet Würbel ver- „Die Biologie ist […] aufgefordert, wissenschaftlich begründete Aussagen zur Erheblichkeit von Leiden zu machen.“ (Würbel 2007, S. 19) <?page no="118"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 118 schiedene Bewertungs-Ebenen. Der Biologe könne auf der experimentellen Bewertungsebene - also der Ebene der Morphologie, Physiologie und des Verhaltens - Unterschiede in den Auswirkungen bestimmter Maßnahmen auf Tiere statistisch bewerten. Diese Unterschiede würden in einem zweiten Schritt, der fachspezifischen Bewertungsebene vor dem Hintergrund biologischer und veterinär-medizinischer Grundannahmen, Theorien und Modelle sowie der vorhandenen Fachliteratur auf ihre Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden der Tiere interpretiert. Auf der ethisch-moralischen Bewertungsebene werde dann überlegt, ob eine Maßnahme als tiergerecht beurteilt werden könne, das bedeute, „ob wir sie den Tieren gegenüber für zumutbar halten“. Dies hänge allerdings von unserer Tierschutzethik ab, „vor allem aber vom gesellschaftlichen Nutzen der mit dieser Maßnahme verfolgten Ziele“, dies wäre die gesellschaftspolitische Bewertungsebene. Die Biologie kann nach Würbel durch geeignete Studien und korrekte Interpretation der Befunde die nötigen Voraussetzungen für eine faire Interessen- und Güterabwägung liefern (ebd.). Würbel erklärt, aufgrund der pathozentrischen Ausrichtung unseres Tierschutzgedankens bemesse sich die Interessen- und Güterabwägung auf gesellschaftspolitischer Ebene „letztlich immer an der Erheblichkeit der Leiden der Tiere, das heißt an der Intensität und Dauer der durch die zu beurteilende Maßnahme verursachten Leiden.“ (ebd., S. 19). Die Biologie sei deshalb aufgefordert, wissenschaftlich begründete Aussagen zur Erheblichkeit von Leiden zu machen. Würbel betont, hierbei hätten Biologen allerdings ein „gravierendes Problem“, denn der Gegenstand ihrer Bemühungen, Leiden, sei mit naturwissenschaftlichen Methoden gar nicht messbar. 94 „Leiden sind subjektive Empfindungen und können nur vom empfindenden Subjekt aus der Perspektive der ersten Person direkt wahrgenommen werden. Naturwissenschaft betrachtet die Dinge jedoch konsequent von außen, aus einer Perspektive der dritten Person. Deshalb lassen sich subjektive Empfindungen mit naturwissenschaftlichen Methoden aus Prinzip nicht messen.“ (Würbel 2007, S. 19) Würbel ergänzt, dass damit jedoch der Beitrag der Biologie zur Auffassung von Leiden keineswegs zu Ende wäre, denn seit Galilo Galilei hielten es die Wissenschaftler mit dessen Credo „Messe, was meßbar ist, und mache meßbar, was nicht meßbar ist.“ (ebd.). Rekurrierend auf Sambraus (1995) erklärt Würbel, das Mittel dazu sei der Analogieschluss, durch den Leiden zwar nicht direkt messbar werden, jedoch indirekt erschlossen und plausibel dargestellt werden könnten. Der Analogieschluss beziehe sich auf den Ver- 94 Würbel verweist auf den Philosophen Thomas Nagel (1974) der für diesen Umstand die erkenntnistheoretische Begründung in seinem viel beachteten Aufsatz „What is it like to be a bat? “ (dt.: „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein? “) zusammengefasst habe. <?page no="119"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 119 gleich zwischen Mensch und Tier und basiere auf drei Kriterien (Würbel 2007, S. 19): 1. Der Ähnlichkeit der Nervensysteme, 2. der Ähnlichkeit der Situationen, 3. der Ähnlichkeit der Reaktionen. Würbel führt aus, man könne demzufolge unter folgenden Bedingungen bei einem Tier auf Leiden schließen: 1. Wenn ein Tier „über ein dem Menschen anatomisch und physiologisch ähnliches Nervensystem“ verfüge, 2. wenn das Tier einer Situation ausgesetzt sei, die vergleichbar sei mit einer Situation, die beim Menschen Leiden verursache, 3. wenn das Tier gleichzeitig Reaktionen - physiologisch und im Verhalten - zeige, die vergleichbar seien „mit denen, die wir Menschen in einer vergleichbaren Situation und bei entsprechenden Leiden zeigen würden“. (ebd.). „Zentrales Kriterium beim Analogieschluß ist zweifellos die Ähnlichkeit der Nervensysteme“ (ebd.). Damit stelle sich die Frage, wie ähnlich die Nervensysteme sein müssten, damit von vergleichbaren Empfindungen ausgegangen werden könne. „Obwohl nicht auszuschließen ist, daß subjektive Empfindungen (und damit Leidensfähigkeit) im Tierreich mehrfach unabhängig voneinander und auf Grundlage unterschiedlicher anatomischer und physiologischer Strukturen entstanden sind, ist die Plausibilität vergleichbarer Empfindungen um so größer, je mehr sich die Nervensysteme anatomisch und physiologisch gleichen.“ (ebd., S. 19f.). Aufgrund der Evolution der Tiere aus gemeinsamen Vorfahren mit den Menschen sei die Vergleichbarkeit des Nervensystems umso größer, je näher verwandt die Tiere mit dem Menschen wären. Hierbei ist für Würbel das entscheidende Kriterium die Homologie der Strukturen, wenn diese also im Verlauf der Evolution aus den gleichen Vorläufern hervorgegangenen sind. Würbel hält fest, dass die Gehirne aller Wirbeltiere morphologisch gleich aufgebaut und stammesgeschichtlich homolog seien, was jedoch nicht bedeute, „daß nicht auch Wirbellose über subjektive Empfindungen verfügen und leiden können.“ Innerhalb der Gruppe der Wirbeltiere bestehe jedoch dafür aufgrund der Homologie der Nervensysteme eine höhere Plausibilität (ebd.). Die Frage, inwieweit nichtmenschliche Wirbeltiere schmerz- und leidensfähig wären, gelte nach Koch (2004) nach wie vor als eine der schwierigsten Fragen in der Biologie überhaupt. „Die Grenze bewußter Schmerzempfindung wird von verschiedenen Wissenschaftlern auf unterschiedlichen taxonomischen Stufen angesiedelt, meist allerdings aufgrund eher zweifelhafter Kriterien.“ (Würbel 2007, S. 20). Warmblütern werde Schmerz- <?page no="120"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 120 fähigkeit generell zugesprochen, Fischen eher abgesprochen, die Fachwelt sei hinsichtlich Reptilien und Amphibien gespalten. In den vergangenen Jahren wurden an Forellen erstmals systematische Untersuchungen zum Schmerzempfinden von Fischen durchgeführt. Würbel erörtert anhand der dabei erhobenen Befunde, wie die Frage nach der Schmerz- und Leidensfähigkeit von nichtmenschlichen Wirbeltieren untersucht werden kann. Er erklärt anhand der Forschungsergebnisse von Sneddon et al. (2003) das Vorgehen, um diese Fragestellung zu bearbeiten: Zunächst wurde untersucht, ob Fische im Kopfbereich und insbesondere an den Lippen über Rezeptoren verfügen, über die potentielle Schmerzreize ans Gehirn weitergeleitet werden und dort Zielneurone zu einer reizspezifischen Aktivität anregen. Hierbei konnten verschiedene Rezeptortypen charakterisiert werden (Würbel 2007, S. 20). Im nachfolgenden Schritt wurde über Einzelzellableitungen im Gehirn nachgewiesen, dass bestimmte mit diesen Rezeptoren verbundene Nervenzellen genau dann zu feuern begannen, wenn eine Stimulation der unterschiedlichen Rezeptoren mit den jeweiligen Reizen bestimmte Schwellenwerte überschritten hatten. Anschließend untersuchten die Wissenschaftler, ob eine Reizung dieser Rezeptoren mit für uns Menschen schmerzhaften taktilen, chemischen und thermischen Reizen zu Reaktionen im Verhalten bei den Fischen führen, welche analog zu Schmerzreaktionen beim Menschen seien. So führte eine Injektion von Bienengift oder Essigsäure in die Unterlippe der Forellen im Vergleich zur Injektion von physiologischer Kochsalzlösung zu einer massiv erhöhten Kiemenschlagrate. Zudem war die Zeit bis zur nächsten Futteraufnahme um das Doppelte verlängert, darüber hinaus zeigten die Forellen charakteristische Abwehrbewegungen durch intensives Reiben der Unterlippe am Untergrund. Wübel betont, dass damit alle Kriterien erfüllt wären, die auch beim Menschen angewendet werden könnten, um Schmerzen zu diagnostizieren, denn auch beim Menschen wären Schmerzen nur indirekt erschließbar. Grund sei, dass auch für Menschen gelte, „daß Empfindungen nur subjektiv wahrnehmbar sind.“ (ebd., S. 21). Die von Patienten verbal getätigten Äußerungen von Schmerzen sind für Würbel biologisch betrachtet jedoch „nichts anderes als Verhaltensmerkmale.“ Diese könnten Hinweise auf Schmerzen liefern, „taugen jedoch weder als wissenschaftlicher Beweis, noch als objektives Maß für Schmerzen.“ So habe ein Arzt keine Möglichkeit festzustellen, ob zwei Patienten, die beide über starke Schmerzen klagten, auch tatsächlich vergleichbare Schmerzen empfinden. „Der Zugang zu subjektiven Empfindungen bei Tieren ist also nicht grundsätzlich anders als bei Menschen. Der Unterschied ist gradueller Natur und beruht in erster Linie auf der größeren Ähnlichkeit der Gehirne zweier Menschen gegenüber jener der Gehirne eines Menschen und eines anderen Tieres.“ (ebd.). <?page no="121"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 121 Würbel erläutert, man habe trotz der prinzipiellen Unmöglichkeit, Schmerzen und andere Leiden selbst bei Menschen zu messen, dennoch Mittel entwickelt, um diese wirksam zu behandeln. So sei die Überprüfung der Wirkung von Schmerzmitteln auch ein wichtiges Mittel zur Validierung der Schmerzfähigkeit bei Tieren. Nun beschreibt Würbel die Ergebnisse von Sneddon (2003): Bei gleichzeitiger Verabreichung von Morphium als Schmerzmittel zusätzlich zur Injektion von Essigsäure in die Unterlippe der untersuchten Forellen traten die zuerst beschriebenen Auswirkungen auf die Kiemenschlagrate, die Zeit bis zur Futteraufnahme sowie die Abwehrreaktionen nicht auf. Würbel zieht daraus folgenden Schluss (Würbel 2007, S. 21): „Nach allen Maßstäben, mit denen wir Schmerzen bei Menschen diagnostizieren, muß nach diesen Untersuchungen Fischen (und damit implizit allen Wirbeltieren) Schmerzfähigkeit attestiert werden.“ (ebd., S. 21f.). Streng genommen wären bei den Forellen zwar Schmerzreaktionen nachgewiesen worden, ob diese bei Fischen auch tatsächlich mit der bewussten Empfindung von Schmerzen verbunden wären, sei damit jedoch nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden. Es stelle sich die Frage, ob es sich bei den von den Fischen gezeigten Verhaltensänderungen möglicherweise nur um unbewusste, automatische Schutzreaktionen handle, „die ohne subjektive Empfindungen ablaufen und damit auch nicht weh tun“ (ebd., S. 22). Würbel schlägt in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Schmerzreaktionen und bewusster Schmerzwahrnehmung eine Brücke zu den Erkenntnissen der Forschung am Menschen. Rekurrierend auf Turk et al. (1983) erläutert er, es konnte am Menschen gezeigt werden, dass bewusst erlebte Schmerzen durch Ablenkung der Aufmerksamkeit verringert werden könnten, was sich gleichzeitig in einer Verringerung der physischen Schmerzreaktionen äußere. Ausgehend von diesen Befunden, wurden vergleichbare Untersuchungen an Geflügel durchgeführt. Würbel verweist auf Gentle (2001): Bei Hühnern wurden zunächst durch Injektion einer Substanz in die Fußgelenke akute Entzündungen ausgelöst, was zum Hinken der Tiere führte. Sobald diese jedoch einer neuen Umgebung ausgesetzt wurden, wie beispielsweise einem unbekannten Käfig oder einem neuen Substrat, zeigten die Tiere stark verminderte Schmerzreaktionen (Hinken). Würbel betont, eine solche Verminderung von Schmerzreaktionen durch Ablenkung der Aufmerksamkeit, lasse sich mit unbewussten Schmerzreaktionen nicht erklären, weil die Hühner ansonsten in einem neuen Käfig genauso hinken würden, wie in dem ihnen bekannten Käfig (Würbel 2007, S. 22). „Gleich wie bei Menschen können wir hier davon ausgehen, daß die Ablenkung der Aufmerksamkeit eine Verminderung der bewußten Schmerzwahrnehmung zur Folge hatte, die ihrerseits zu einer verminderten Schmerzreaktion führte.“ (ebd.) <?page no="122"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 122 Würbel ergänzt, er hege keinerlei Zweifel, dass die Ergebnisse eines vergleichbaren Versuches an Forellen gleich wie bei den Hühnern ausfallen würden (ebd., S. 23). Bereits die Tatsache, dass die Forellen auf die Schmerzreize mit einem Verhalten reagierten, das weder Teil ihres normalen Verhaltensrepertoires sei, noch eine Schutz- oder Therapiefunktion habe, spreche gegen unbewusst motiviertes, automatisches Handeln. „Vielmehr sprechen alle Indizien dafür, daß den Fischen die Unterlippe wehtat und sie durch Reiben am Untergrund versuchten, diesen Schmerz loszuwerden.“ (ebd.). Unser Tierschutzgedanke bezieht sich nach Ansicht von Würbel in erster Linie auf die Schmerz- und Leidensfähigkeit von Tieren, daher ziele Tierschutz primär auf das Vermeiden von Schmerzen und Leiden ab (ebd., S. 28). „Schmerzen und Leiden sind subjektive Empfindungen und können mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht direkt gemessen, über geeignete Indikatoren und mittels Analogieschluß jedoch indirekt erschlossen und plausibel dargestellt werden.“ (ebd.). Würbel versäumt nicht, darauf hinzuweisen, dass die verfügbaren Ansätze und Methoden sehr komplex seien, und meist auf der Transformation und Integration von Ansätzen und Methoden aus verschiedenen biologischen Disziplinen beruhen. Die tierschutzorientierte Biologie umfasse Theorien, Modelle und Methoden aus der Evolutionsbiologie, der Verhaltensökologie, der Neurobiologie, der Genetik, der Ethologie, der Veterinärmedizin und der Humanpsychologie (ebd., S. 28f.). 3.4.4 Welchen Tieren kann eine „Leidensfähigkeit“ zuerkannt werden? Um die zentrale Fragestellung der Studie von Salomon et al. (2001a) - die Bewertung tierischen Leidens im Rahmen des Tierversuches - zu klären, wurde von Salomon et al. zunächst durch eine Analyse der Fachliteratur untersucht, welchen Tieren eine Leidensfähigkeit zuerkannt werden könne. Die Autoren kamen zu nachfolgenden Schlussfolgerungen bzgl. der Leidensfähigkeit von Tieren (Salomon et al. 2001Endb.): 1) Wirbeltiere 1.a) Säugetiere: „Es ist davon auszugehen, daß Säugetiere aufgrund der Vergleichbarkeit anatomischer und physiologischer Strukturen sowie von Verhaltensweisen, aufgrund ihrer Fähigkeit zu kognitivem Denken und aufgrund der zwingenden Annahme, daß Säugetiere über Selbstbewußtsein verfügen, davon <?page no="123"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 123 ausgegangen werden muß, daß Säugetiere in der Lage sind, Leiden in menschlichem Sinne zu empfinden.“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 12). 1.b) Vögel: „Da auch Vögel zu kognitiven Leistungen befähigt sind, vermutlich auch über Selbstbewußtsein verfügen und in potentiell leidvollen Situationen Verhaltensweisen zeigen, die den Schluß zulassen, daß sie einem Leidensdruck ausgesetzt sind, gibt es keinen wissenschaftlichen Grund, Vögeln eine Leidensempfindungsfähigkeit abzusprechen.“ (ebd.). 1.c) ‘Niedere’ Wirbeltiere: „Auch Niederen Wirbeltieren (Fische, Amphibien und Reptilien) muß auf Basis von Verhaltensbeobachtungen zugestanden werden, Zustände von Unwohlsein empfinden zu können, die unabhängig von einer Schmerzwahrnehmung auftreten können. Ob diese Empfindungen als Leiden im menschlichen Sinne interpretieren können, kann nicht ausgeschlossen werden, bleibt aber, unter Berücksichtigung z.B. der Hirnanatomie dieser Tiere, zweifelhaft. In jedem Fall stellen diese negativen Empfindungen eine Art Distreß da, den es ebenso zu vermeiden gilt wie Leidenszustände höherer Wirbeltiere.“ (ebd.). Die Autoren betonen, dass aufgrund von neuroanatomischen, neurophysiologien und neurochemischen, sowie auf Basis von ethologischen und pharmakologischen Analogien/ Homologien zwischen Menschen und anderen Wirbeltieren davon auszugehen sei, „daß ausnahmslos alle Wirbeltiere in der Lage sind, Schmerzen in einer gewissen Art und Weise wahrzunehmen.“ Hierbei würden zahlreiche morphologische Übereinstimmungen zwischen Menschen und anderen Säugern eine Interpretation des Schmerzgeschehens bei Mamalia (Säugetiere) zwar leichter machen als bei anderen Wirbeltieren, „trotz allem gibt es keinen wissenschaftlichen Grund oder gar Beweis für die Annahme, Tiere würden Schmerz auf andere Weise wahrnehmen als Menschen.“ (ebd.). Christoph Maisack verweist auf die Kriterien des Committee on Pain and Distress in Laboratory Animals zur Feststellung der Schmerzempfindung bei Tieren: 1. Anatomische und physiologische Ähnlichkeiten bei Schmerzaufnahme, -weiterleitung und -verarbeitung mit dem Menschen; 2. Meidung von Reizen, die vermutlich schmerzauslösend sind; 3. Feststellbare Wirksamkeit schmerzhemmender Substanzen (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 78, § 1 Rn. 14). Maisack erklärt, je mehr dieser Kriterien von einer Tierart erfüllt würden, desto eher müsse für sie von einer Fähigkeit zur Schmerzempfindung, das bedeute von „Schmerzfähigkeit“ ausgegangen werden (ebd.). Nach den benannten Kriterien sei bei Säugetieren eine Schmerzempfindung, wie der Mensch sie kenne, „ohne weiteres anzunehmen, schon <?page no="124"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 124 wegen der im Grundsatz gleichen morphologischen und funktionellen Struktur des Zentralnervensystems.“ (ebd., Rn. 15). Dasselbe gelte für Vögel, für die ein „hohes Maß an Empfindungsvermögen“ anerkannt sei. Auch für andere Wirbeltiere wie Lurche und Kriechtiere stehe die Schmerzfähigkeit aufgrund der genanten drei Kriterien „außer Zweifel“ (ebd.). Hinsichtlich Fischen wäre die Schmerzfähigkeit lange Zeit umstritten gewesen, „im Gegensatz zu ihrer Leidensfähigkeit, die schon lange außer Zweifel steht.“ (ebd., Rn. 15a). Maisack betont, die Rechtsprechung gehe heute überwiegend auch von Schmerzfähigkeit bei Fischen aus, was auch dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse entspreche, da sich die o. e. Kriterien auch bei Fischen „weitestgehend nachweisen“ lassen (s. dazu auch Kapitel 3.4.3). Insbesondere das Meideverhalten sei „hinreichend belegt“, zudem sei auch das Kriterium der Wirksamkeit schmerzhemmender Substanzen belegt (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 78, § 1 Rn. 15a). Es wären die anatomischen Voraussetzungen für eine Schmerzwahrnehmung gegeben und auch klassische Neurotransmitter, die bei Säugetieren für die Schmerzwahrnehmung verantwortlich wären, seien bei Fischen nachgewiesen worden (ebd., S. 78f., § 1 Rn. 15a). Letztlich betont Maisack: „Mögen auch zur Schmerzfähigkeit in den Naturwissenschaften noch Streitfragen bestehen, so ist doch für das Tierschutzrecht ausschlaggebend, dass der Gesetzgeber bei allen Wirbeltieren die Schmerzfähigkeit grundsätzlich vermutet.“ (ebd., S. 79, § 1 Rn. 15b). Für eine Schmerzfähigkeit aller Wirbeltiere speche nicht zuletzt die „unerlässliche Warn- und Schutzfunktion“, die der Schmerz für jeden beweglichen, einer Flucht- und Abwehrreaktion fähigen Organismus besitze. „Schmerzen lösen physiologische Prozesse und Verhaltensreaktionen aus, die das Individuum vor Schäden bewahren und sein Überleben sichern sollen.“ (ebd. mit Verweis auf Bernatzky 2001, in: Der Tierschutzbeauftragte 1/ 01, S. 12). So kommt Maisack zum Resümee: „Liegen keine Erkenntnisse dafür vor, dass eine Tierart ein geringeres Schmerzempfinden aufweist als der Mensch, so muss im Analogieschluss die gleiche Schmerzwahrnehmung wie beim Menschen angenommen werden“ (Hirt/ Maisack/ Moritz, S. 79, § 1 Rn. 15b) Die Leidensfähigkeit von Wirbeltieren „kann nicht angezweifelt werden“ (Hirt/ Maisack/ Moritz S. 82, § 1 Rn. 23). Maisack erläutert, der Gesetzgeber gehe bei allen Wirbeltieren von einer dem Menschen analogen Leidensfähigkeit aus, „ebenso davon, dass sich Leiden nachweisen lassen. [...] Gutachter, die Gegenteiliges vertreten, stehen nicht auf dem Boden des Gesetzes“ (ebd.). Salomon et al. betonen mit Verweis auf Scharmann und Teutsch (1994), es werde auch in Fachkreisen zumeist die Meinung vertreten, dass bis zum <?page no="125"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 125 Beweis des Gegenteils davon ausgegangen werden müsse, dass belastende Eingriffe vom Tier in gleicher oder ähnlicher Weise wahrgenommen würden wie vom Menschen (Salomon et al. 2001Endb., S. 12). Zuletzt zitieren Salomon und Kollegen Ainsley Iggo: „[...] solange das Gegenteil nicht klar bewiesen ist, müssen wir davon ausgehen, daß alle Tiere Schmerzen wahrnehmen und darunter leiden können“ (Iggo 1985, zit. nach Salomon et al. 2001Endb., S. 12). 2) Wirbellose 2.a) ‘primitive’ Wirbellose: Bezüglich der Leidensfähigkeit bei Wirbellosen erklären Salomon et al. (2001Endb., S. 13) dass ‘primitive’ Wirbellose über keinerlei Strukturen verfügen würden, die mit dem Vertebraten-Nerven- oder gar Zentralnervensystem vergleichbar wären, obgleich sie zweifelsfrei über Strukturen verfügten, die Interaktionen mit der Umwelt erlauben würden. Diese Strukturen müssten in der Lage sein, suboptimale Bedingungen wahrzunehmen und entsprechende Reaktionen zu induzieren. „Es ist jedoch nicht wahrscheinlich, daß dieser Vorgang von Empfindungen begleitet wird, die als Leid, Schmerz, Angst, Furcht, Schaden oder Distreß bezeichnet werden können.“ (ebd.). 2.b) ‘höhere’ Wirbellose Bezüglich ‘höherer’ Wirbelloser („z.B. Annelida, Arthropoda, Mollusca“) erklären die Autoren, diese besäßen zwar ein einfaches Nervensystem, aber kein übergeordnetes Zentralnervensystem, welches bei den Wirbeltieren für die erwähnten Empfindungen verantwortlich sei. Salomon et al. betonen jedoch, dass trotz allem bei diesen Tiergruppen „zahlreiche physiologische Vorgänge beobachtbar [sind], die auch bei der Vertebraten-Streßreaktion oder Schmerzantwort ablaufen.“ „Auch wenn es also nicht wahrscheinlich ist, daß höher entwickelte Wirbellose Leid, Schmerz, Angst, Furcht, Schaden oder Distreß in ähnlicher Weise wahrnehmen die Wirbeltiere, müssen diesen Tieren doch jedenfalls Regungen zugestanden werden, die mit ‘Unwohlsein’ betitelt werden könnten.“ (ebd.). Die zu den Mollusken gehörenden Cephalopoden (Kopffüßer) sei die höchstentwickelte Gruppe der Invertebraten. Ihr Nervensystem übertreffe das der anderen Wirbellosen „bei weitem“. Es werde daher vielfach angenommen, dass diese Tiere durchaus in der Lage wären, Schmerzen und Distreß wahrzunehmen „oder gar Furcht/ Angst und Leid zu verspüren.“ (ebd.). Zu dieser Einschätzung kam auch der Rat der Europäischen Union: <?page no="126"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 126 Neben Wirbeltieren, zu denen auch Rundmäuler gehören, sollten auch Kopffüßer in den Geltungsbereich der Richtlinie aufgenommen werden, da auch diese Schmerzen, Leiden und Distress empfinden sowie dauerhafte Schäden erleiden können: „In addition to vertebrate animals, which covers cyclostomes, cephalopods should also be included in the scope of this Directive, as there is scientific evidence of their ability to experience pain, suffering, distress and lasting harm.” (Council of the European Union 2010, Erwägungsgrund 6). Zusammenfassend stellen die Autoren fest, die Frage nach dem Vorhandensein von Empfindungen wie Leiden, Schmerz, Furcht/ Angst und Distress bei Tieren könne bei Wirbeltieren „mit ‘Gewißheit’ beantwortet werden, bei Wirbellosen können aufgrund unserer mangelnden Kenntnisse nur Wahrscheinlichkeiten formuliert werden“ (Salomon et al. 2001a, S. 73). „Das uns zur Verfügung stehende Wissen und auch moralische Überlegungen lassen uns jedoch davon ausgehen, daß alle Tiere im Stande sind, Lust und Unlustgefühle zu erleben. Über Quantität und Qualität derartiger Empfindungen können speziell für Niedere Wirbellose jedoch keinerlei objektive Aussagen getroffen werden.“ (ebd.). Christoph Maisack plädiert u. a. aus moralischen Gründen für einen Schutz der wirbellosen Tiere: „Dem Gedanken vom Schutz des Schwächeren widerspräche es, bei wirbellosen Tieren übertriebene Anforderungen an den Nachweis einer Leidensfähigkeit zu stellen. Den Regeln der Evolutionslehre entspricht eher, anzunehmen, dass alle zum Ortswechsel fähigen Lebewesen schmerz- und leidensfähig sind - im Sinne eines grundlegenden Überlebensvorteils.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 76f., § 1 Rn. 8). Bei Cephalopoden und Dekapoden (Zehnfußkrebse wie z.B. Hummer und Flusskrebse) setze das Gesetz die Schmerz- und Leidensfähigkeit voraus (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 79, § 1 Rn 16). 95 Neueste Forschungsergebnisse an Krebsen belegen sodann auch eine „evidence that crustaceans might experience pain and stress in ways that are analogous to those of vertebrates.“ (Elwood et al. 2009, S. 128). So erklären Elwood und Kollegen: „Various criteria are applied that might indicate a potential for pain experience: (1) a suitable central nervous system and receptors, (2) avoidance 95 Vgl. § 8a Abs. 1 TierSchG alte Fassung: „Wer Tierversuche an Wirbeltieren, die nicht der Genehmigung bedürfen, oder an Cephalopoden oder Dekapoden durchführen will, hat das Versuchsvorhaben spätestens zwei Wochen vor Beginn der zuständigen Behörde anzuzeigen. […].“ In § 8a Abs. 1 TierSchG neue Fassung werden die genehmigungsfreien Tierversuche in Nr. 1-4 aufgezählt und wie bisher der Anzeigepflicht unterstellt. <?page no="127"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 127 learning, (3) protective motor reactions that might include reduced use of the affected area, limping, rubbing, holding or autotomy, (4) physiological changes, (5) trade-offs between stimulus avoidance and other motivational requirements, (6) opioid receptors and evidence of reduced pain experience if treated with local anaesthetics or analgesics, and (7) high cognitive ability and sentience.” (ebd.). Die Wissenschaftler haben auf induzierten Stress hormonale Antworten bei den Tieren festgestellt, die eine ähnliche Funktion wie die Glucocorticoide 96 bei Wirbeltieren haben. Elwood et al folgern: „We conclude that there is considerable similarity of function, although different systems are used, and thus there might be a similar experience in terms of suffering.” (ebd.). Bei Krusten- und Schalentieren geht der Verordnungsgeber der Tierschutz-Schlachtverordnung davon aus, dass sie schmerz- und leidensfähig sind, erklärt Maisack (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 79f. § 1 Rn 16). 97 Für andere Tierarten sei zu beachten: „Bei Wirbellosen aller Klassen, die bisher darauf untersucht worden sind, finden auf (vermutet) unangenehme oder schädigende Reize Meidereaktionen statt, die den gleichen biologischen Zweck erfüllen wie die Schmerzreaktionen beim Menschen. Dies legt ein Schmerzempfinden auch bei ihnen nahe, mag es auch (wegen fehlender neuronaler Bahnen, Zentren und Verschaltungen) von anderer Art sein als beim Wirbeltier.“ (ebd.). Auch die lebens- und arterhaltende Funktion, die der Schmerz für jedes Lebewesen besitze - soweit es einer Abwehr- oder Fluchtreaktion fähig sei -, „sollte zur Vorsicht mahnen gegenüber allen Versuchen, wirbellosen Tieren die Schmerzfähigkeit abzusprechen.“ (ebd.). Maisack betont, beim weiteren „Hinabsteigen auf der Evolutionsleiter“ sei zu bedenken, dass Leiden so lange biologisch sinnvoll wären, „wie Tiere die Fähigkeit zur Bewegung und damit zur Veränderung solcher Zustände besitzen, die für Selbstaufbau, Selbsterhaltung und Fortpflanzung abträglich sind.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 82, § 1 Rn. 23a). Es entspreche zudem dem Gedanken vom Schutz des Schwächeren, eine Leidensfähigkeit auch dort anzunehmen, wo sie lediglich wahrscheinlich erscheine (ebd.). 96 Das sind Steroidhormone aus der Nebennierenrinde. 97 Vgl. § 13 Abs. 8 Tierschutz-Schlachtverordnung (TierSchlV) alte Fassung, bzw. jetzt § 12 Abs. 11 TierSchlV neue Fassung. <?page no="128"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 128 3.4.5 „Leidensbewertungssysteme“: Wie lässt sich Leiden messen? Zur Fragestellung, wie Leiden, Schmerzen, Distreß und Ängste sowie Wohlbefinden oder Unwohlsein gemessen werden können, legen Salomon et al. dar, dass eine „Kategorisierung negativer Gemütszustände in Begriffe wie Leiden, Schmerzen, Ängste, Furcht, Schäden und Distreß nur schwer möglich und letztlich auch nicht immer unbedingt notwendig“ wäre, denn sie sind der Ansicht: „Unwohlsein muß registriert, bewertet, reduziert und vermieden werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um Leiden, Schmerzen oder Ängste handelt.“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 13). Unter diesem Gesichtspunkt seien auch diejenigen Methoden zu sehen, mit denen versucht werde, tierliches „Unwohlsein“ zu quantifizieren und welche „gemeinläufig als Leidensbewertungssysteme bezeichnet werden“. „Leid“ werde hierbei weniger in seiner ureigensten Bedeutung verwendet, sondern stehe vielmehr „als Überbegriff für negative Gefühlszustände welcher Art auch immer.“ (ebd.). Grundvoraussetzungen und Vorgehensweisen zur Beurteilung von Leiden Zum Erkennen oder gar Messen von Leiden müssten nach Ansicht von Salomon und Kollegen von Seiten des Beurteilenden drei Grundvoraussetzungen gegeben sein. Diese wären: 1) Fundierte Kenntnisse über Biologie und Verhalten der verwendeten Spezies bzw. Rasse aber auch der Einblick in die Eigenheit und den Charakter des individuellen Versuchstieres. 2) Die Bereitschaft, „Tieren Fragen über ihr befinden [sic! ] zu stellen, die es ihnen ermöglichen, auch darauf zu antworten“ (Reese 1991, zit. nach Salomon et al. 2001Endb., S. 13). 3) Die Autoren betonen, dass „antropomorphe [sic! ] Betrachtungsweisen und Analogieschlüsse“ zwar im Tierversuchsbereich vielfach angebracht wären, diese dürften jedoch nicht unkritisch angewandt und allerorts übernommen werden (Salomon et al. 2001Endb., S. 14). Denn „Bedingungen, die das menschliche Wohlbefinden nicht beeinträchtigen, können durchaus schwere Leiden bei Tieren hervorrufen.“ „Unwohlsein muß registriert, bewertet, reduziert und vermieden werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um Leiden, Schmerzen oder Ängste handelt.“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 13) <?page no="129"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 129 Um eine Leidensbewertung bei Tieren vorzunehmen, gebe es prinzipiell vier unterschiedliche Vorgehensweisen (ebd.): 1) Die Prüfung äußerlich erkennbarer Gesundheitsstörungen; 2) die Prüfung physiologischer, endokriner sowie immunologischer Parameter; 3) die Prüfung ethologischer Parameter; 4) post mortem Analysen. Jeder dieser Indikatoren würde andere Einblicke in den inneren Zustand eines Tieres gewähren und jeder Faktor weise in der Praxis bestimmte Vor- und Nachteile auf. Salomon et al. erklären, dass in den letzten Jahren zunehmend empfohlen werde, 98 für eine effektive Leidensevaluierung Parameter zumindest zweier dieser drei 99 Kategorien zu kombinieren (ebd.). Nach Salomon et al. sind für eine Leidensevaluierung grundsätzlich folgenden Faktoren zu beachten: 1) „Die bei suboptimalen Gemütszuständen auftretenden Symptome sind je nach Art, Rasse, Geschlecht, Rangordnung, Alter, Charakter, individueller Lebenserfahrung eines Tieres sowie auf das Tier einwirkenden externen Einflüssen durchaus unterschiedlich“ (ebd.). 100 2) chronische Leidenszustände wären nur schwer feststellbar, da sich viele Mechanismen zur Bewältigung akuter und chronischer Systeme überlagern könnten (die Autoren verweisen auf Sundrum 1998), bzw. Adaptationsvorgänge der ursprünglichen Stressantwort entgegenwirken könnten (die Autoren verweisen auf Hurst 1997), „oder aber länger dauernde Schmerzzustände auch bei sozialen Tieren oder Raubtieren verborgen werden müssen, um etwa die Stellung in der Gruppenhierarchie nicht zu verlieren.“ (Salomon et al. 2001Endb. S. 14). Salomon et al. ziehen ihre Schlussfolgerung mit einem Zitat von P.H.M. Griffiths: „Es gibt keine Methode der Leidensevaluierung die für alle Zwecke geeignet ist“ (Griffiths 1991, zit. nach Salomon et al. 2001Endb., S. 14). „Leidensevaluierung darf also seriöserweise niemals nach starren Schemata erfolgen, sondern muss im Detail den jeweiligen Gegebenheiten angepaßt werden.“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 14). 98 Salomon et al. verweisen auf: Flecknell 1997, Manteuffel und Puppe 1997, Haemisch 1996, Sager 1993, Reese 1991 sowie Dawkins 1980). 99 [sic! ]: die Autoren führen zwar 4 unterschiedliche Vorgehensweisen an, sprechen aber davon dass zumindest 2 von 3 Kategorien zu kombinieren seien. 100 Salomon et al. verweisen auf Otto 1997, van Zutphen et al. 1995, Stafleu et al. 1992, sowie Zimmermann 1985. <?page no="130"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 130 3.4.6 Diskussion In den Erwägungsgründen für die Überarbeitung der Richtlinie 86/ 609/ EWG zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, die in dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere 101 benannt werden, wird im Erwägungsgrund (5) erklärt: „Es liegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Faktoren vor, die das Wohlbefinden von Tieren sowie ihr Schmerzempfinden und die Art, wie sich Schmerzen, Leiden, Ängste und dauerhafte Schäden bei ihnen äußern, beeinflussen. Deshalb ist es notwendig, das Wohlbefinden von Tieren, die in wissenschaftlichen Verfahren eingesetzt werden, zu erhöhen, indem die Mindeststandards für den Schutz dieser Tiere gemäß den neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen angehoben werden.“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008). Die Kommission erklärt damit, einer der Gründe, weshalb die Richtlinie überarbeitet wird, ist dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das Wohlbefinden und das Schmerzempfinden von Tieren eine Erhöhung der Mindeststandards für Versuchstiere erforderlich machen. Diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden u.a. von der sog. „animal welfare science“, einem Teilgebiet der Biologie, erarbeitet. Anhand eines Aufsatzes des Ethologen Hanno Würbel habe ich versucht zu verdeutlichen, wie dabei die wissenschaftliche Herangehensweise an die Thematik aussehen kann. Würbel hat sein erklärtes Ziel, mit seiner Erörterung zur Bearbeitung der Fragestellung nach dem Empfinden von Schmerzen bei Wirbeltieren „aufzuzeigen, mit welch hoher Plausibilität wir über innovative Versuchsanordnungen und geeignete Indikatoren Schmerzen und Leiden bei Tieren mit naturwissenschaftlichen Methoden darstellen können“ (Würbel 2007, S. 23), mit seinem anschaulichen Aufsatz erreicht. Im Begrüßungstext zur Tagung „Animal Suffering and Well-Being - International Symposium on the State of Science“, Gießen 2007, deren Teilnehmer ich war, schreiben die Organisatoren Hanno Würbel und Andreas Steiger „Leiden und Wohlbefinden sind subjektive Empfindungen und damit einzig vom empfindenden Subjekt direkt feststellbar. […] Aus einem erkenntnistheoretischen Missverständnis heraus - was nicht erforscht werden kann, existiert nicht - wurden Tieren Empfindungen zuweilen ganz 101 Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2008): Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. (Richtlinienentwurf vom 05.11.2008, Brüssel). KOM(2008) 543 endgültig; 2008/ 0211 (COD), im Internet abrufbar unter: <http: / / eurlex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUriServ.do? uri=COM: 2008: 0543: FIN: DE: PDF> (deutsche Version); engl. Version unter: <http: / / eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUriServ.do? uri=COM: 2008: 0543: FIN: EN: PDF>, (zuletzt abgerufen am 16.12.2015). <?page no="131"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 131 abgesprochen.“ (Internationale Gesellschaft für Nutztierhaltung 2007, S. 1). Dies sei jedoch umso erstaunlicher, als Schmerzen und Leiden bei Menschen „längst erfolgreich erfasst und behandelt wurden, obwohl diese auch bei Menschen nur vom empfindenden Subjekt - dem leidenden Patienten - direkt feststellbar sind.“ (ebd., S. 2). Damit werde offensichtlich, „dass der naturwissenschaftlich-medizinische Zugang zu Leiden und Wohlbefinden bei Tieren kein grundlegend anderer ist, als jener zu Leiden und Wohlbefinden bei Menschen.“ (ebd.). So betont Würbel, „the greatest challenges to applied ethologists […] are (i) to determine sentience in animals and (ii) to establish valid and reliable measures of affective states such as suffering and well-being.” (Würbel 2009, S. 118). Schmerzen und vor allem Leiden können also nur indirekt, unter Zuhilfenahme von Analogieschlüssen und multidisziplinären Forschungsansätzen „plausibel dargestellt“ werden. Physiologie, Ethologie, Morphologie, Evolutionsforschung und andere Disziplinen können uns Aufschluss darüber geben, welche Ausdrucks- und Verhaltensphänomene sowie physiologischen Zustände von Tieren starke Indizien für das Vorliegen von Schmerz- und Leidenszuständen bei Tieren sind. Die Annahme von Schmerzen und Leiden seitens der Tiere ist dann die plausibelste und damit die beste Erklärung für die beschriebenen Phänomene. Würbel erläuterte die Herangehensweise der Schmerzbeurteilung bei Wirbeltieren am Beispiel der Untersuchungen an Forellen. Er kam zum Schluß, es würden alle Indizien dafür sprechen, dass den Fischen „die Unterlippe wehtat“ und dass ihr daraufhin beobachtbares Verhalten nicht als unbewusst motiviertes automatisches Handeln interpretierbar sei (Würbel 2007, S. 23). Auch Maisack spricht von der Indizwirkung von Verhaltensstörungen, die man als hauptsächliche Indikatoren heranziehen kann, etwa bei der Frage ob „erhebliches“ Leiden vorliege (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 81, § 1 Rn. 21). Er betont auch die „besondere Bedeutung des Verhaltens als Indikator für erhebliche Beeinträchtigungen im Wohlbefinden“ (ebd., S. 80, § 1 Rn. 18), und stellt fest, dass Wohlbefinden mehr als Gesundheit sei (Maisack 2007, S. 31). Salomon et al. weisen darauf hin, dass bereits dann für das Tier nicht mehr bewältigbarer Distreß vorliege, wenn das Tier durch inadäquate Haltungsbedingungen oder den Experimentiermodus daran gehindert werde, in geeigneter Weise auf negative Stimuli zu reagieren (Salomon et al. 2001Endb., S. 11). Zwar herrsche über die Charakteristika jeder einzelnen der Wahrnehmungen Schmerz, Leid, Schaden, Angst und Distreß in der Fachliteratur Uneinigkeit (ebd., S. 10), Salomon und Kollegen kommen jedoch zum Schluss, dass alle diese Begriffe „eine bestimmte Qualität körperlichen und/ oder seelischen Missempfindens bezeichnen.“ (ebd.). Die Autoren betonen, dass die Kategorisierung negativer Gemütszustände in <?page no="132"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 132 Begriffe wie Leiden, Schmerzen, Ängste, Furcht, Schäden und Distreß nur schwer möglich und „letztlich auch nicht immer unbedingt notwendig“ sei (ebd., S. 13). Es komme darauf an, dass Unwohlsein registriert, bewertet, reduziert und vermieden werde und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um Leiden, Schmerzen oder Ängste handle. Ich stimme voll und ganz zu, dass „Unwohlsein“ reduziert und vermieden werden sollte und zwar unabhängig davon, um welche ‘Qualität’ des Unwohlseins es sich handelt - also ob es sich etwa um Schmerzen, Leiden oder Ängste handelt. Unabdingbar für das Abstellen der Ursachen des „Unwohlseins“ ist jedoch, zu erkennen, um welche negativen Gefühlszustände es sich handelt. Aus der Qualität des Unwohlseins muss der Experimentator oder Tierpfleger sodann auf die Ursache schliessen, um diese überhaupt gezielt abstellen oder zumindest mildern zu können. Das heißt, es macht einen Unterschied, ob es einem Tier ‘schlecht geht’, weil es unter Schmerzen leidet - es wären dann ggf. schmerzlindernde Maßnahmen wie die Gabe von Analgetika einzuleiten -, oder ob es einem Tier ‘schlecht geht’, weil es psychisch leidet, etwa dadurch, da es als ‘normalerweise’ sozial lebendes Tier experimentbedingt alleine in einem kleinen, unstrukturierten Käfig gehalten wird. Dann nämlich unterscheidet sich die Maßnahme, um das „Unwohlsein“ abzustellen - also das Wohlbefinden des Tieres zu befördern - logischerweise völlig von dem ersten beschriebenen Fall. Die stärksten Hinweise darauf, welche Qualität des Unwohlseins bei einem Versuchstier vorliegt, erhält der Experimentator oder Tierpfleger freilich aus der Erfahrung, mit welchen Folgen bei einem am Tier durchgeführten Eingriff oder einer am Tier durchgeführten Behandlung zu rechnen ist. Hierbei ist jedoch die äußerliche Inspektion, also das Beobachten des Erscheinungsbildes des Tieres, der Körperhaltung und der Verhaltensreaktionen eine der wichtigsten Maßnahmen. Diese Beobachtungen reichen aber in vielen Fällen nicht aus. Wie ich in Kapitel 3.4.5 benannt habe, werden neben der Prüfung äußerlich erkennbarer Gesundheitsstörungen die Prüfung physiologischer, endokriner sowie immunologischer Parameter, die Prüfung ethologischer Parameter sowie post mortem Analysen differenziert (Salomon et al.2001Endb., S. 14). Salomon und Kollegen betonen, „jeder dieser Indikatoren gewährt andere Einblicke in den inneren Zustand eines Tieres und jeder Faktor weist in der Praxis bestimmte Vor- und Nachteile auf.“ (ebd.). Es werde zunehmend empfohlen, die Methoden der Leidensevaluierung zu kombinieren und zumindest zwei dieser unterschiedlichen Kategorien anzuwenden. Weshalb dies in der Praxis unabdingbar sein kann, benenne ich anhand eines Beispiels in Kapitel 6.2.1.2 Darüber hinaus werden im Kapitel 6.2.1 prinzipielle Probleme der prospektiven Belastungseinschätzung als auch der aktuellen („retrospektiven“) Belastungsermittlung diskutiert. . <?page no="133"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 133 Die von mir im Kapitel 3.4.2 angeführten Definitionen besonders für den Begriff „Leiden“ zeigen, dass es hier gewisse Nuancen gibt, die möglicherweise auch mit der Forschungsdisziplin desjenigen zusammenhängen, der die jeweilige Definition vorschlägt. Da Tiere ihre Schmerzen und Leiden im Unterschied zu den meisten Menschen nicht verbal kommunizieren können und ihre Feststellung daher mit Hilfe der angegebenen Methoden indirekt erfolgt, nehmen Konventionen hierbei einen größeren Stellenwert ein. In der Wissenschaftstheorie der Geometrie und Physik ist heute weitgehend akzeptiert, dass es in Geometrie und Physik konventionelle Elemente gibt. Dies besagt, „die Erfahrung legt nahe, eine bestimmte Theorie zu bevorzugen, ohne diese Entscheidung jedoch erzwingen zu können.“ (Wolters 1995, S. 463). Daher sollten meines Erachtens solche konventionellen Elemente auch in lebenswissenschaftlichen Kontexten und Disziplinen anerkannt werden und zulässig sein, ohne diesen Disziplinen den Wissenschaftscharakter abzusprechen. Dies bedeutet keineswegs, dass wir es bei der Feststellung von Schmerzen und Leiden bei Tieren mit bloßen Konventionen oder Konstrukten zu tun haben. Vielmehr legt die Erfahrung nahe, bestimmte überprüfbare und messbare Merkmale am Tier als Hinweise auf Schmerzen bzw. Leiden zu interpretieren, so dass diese Erklärung alternativen Erklärungsversuchen bevorzugt werden kann. Dies gilt auch für die Annahme unterschiedlicher Schweregrade der Belastung von Versuchstieren. Insbesondere der tierschutzrechtliche Leidensbegriff ist von hoher Relevanz, stehen doch beispielsweise in Gerichtsverfahren berufene Gutachter vor der Aufgabe, festzustellen, ob etwa „erhebliches“ Leiden bei einem Tier vorliegt und damit entsprechende Tatbestände für einschlägige Straf- und Bußgeldvorschriften (etwa § 17 oder § 18 TierSchG) erfüllt werden. Und auch im Bereich der Tierexperimente, die ja im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen, haben diese Begriffe hohe Relevanz. Dies zeigt sich etwa bei § 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung bzw. jetzt bei § 25 TierSchVersV 102 , wo Eingriffe oder Behandlungen, die zu länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden der Versuchstiere führen, nur durchgeführt werden dürfen, wenn die Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von hervorragender Bedeutung sein werden. Welche Bedeutung die Einstufung von Eingriffen und Behandlungen an Tieren in unterschiedliche „Schweregrade“ der Belastung hat, zeigt sich 102 § 7 Abs. 3 Satz 2 TierSchG alte Fassung bzw. um Kopffüßer erweitert in § 25 Abs. 1 TierSchVersV wie folgt: „Tierversuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern, die bei den verwendeten Tieren zu voraussichtlich länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“ <?page no="134"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 134 auch auf internationaler Ebene. Die EU gibt die Rahmenbedingungen für nationale Tierschutz-Gesetzgebungen - zumindest in Form von Richtlinien - vor. So wurde in dem Vorschlag der EU-Kommission für eine novellierte Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, der sog. „EU-Tierversuchsrichtlinie“ 103 im November 2008 eine prospektive Einstufung der Belastungen der Tiere gefordert, 104 die ich nachfolgend vorstellen möchte: Die prospektive Schweregradeinstufung sollte EU-weit eingeführt werden In der „EU-Tierversuchsrichtlinie“ sind Schweregrade vorgesehen, an deren Einstufung weitere prozedurale Konsequenzen gekoppelt sind, wie etwa eine retrospektive Evaluation. Die Einteilung in Schweregrade soll auch zur Unterstützung der Güterabwägung dienen: „A severity category is to be assigned to each procedure. This will assist the harm-benefit analysis of the project.“ Dies betont der im Juli 2009 veröffentlichte abschließende Bericht der Expertengruppe zur Schweregradeinstufung von wissenschaftlichen Verfahren unter Verwendung von Tieren (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009: Final Report, S. 4). 105 Zum Hintergrund der Aufgabenstellung dieser Expertengruppe, eine Schweregradeinstufung zu erarbeiten, wird erklärt, „The criteria should be developed on the basis of the current existing schemes in the EU and consideration should be given to all available information and best practice including that existing outside the EU.“ (ebd., S. 12). In dem Bericht wird eine Schweregradeinteilung in 4 Kategorien vorgenommen (ebd., S. 4 „Definitions“): „non-recovery“ (keine Wie- 103 Die Richtlinie 86/ 609/ EWG aus dem Jahre 1986 zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (Directive 86/ 609/ EEC on the protection of animals used for experimental and other scientific purposes) wurde als veraltet angesehen. Siehe dazu: Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2008): Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere. 104 Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008, Art. 15 („Einstufung des Schweregrads von Verfahren“) Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Verfahren je nach Dauer und Intensität der möglichen Schmerzen, Leiden, Ängste und dauerhaften Schäden, nach der Häufigkeit des Eingriffs, nach der Behinderung des Tiers bei der Befriedigung seiner ethologischen Bedürfnisse sowie auf der Grundlage der Verabreichung von Betäubungsmitteln oder Analgetika oder von beiden als ‘gering’, ‘mittel’, ‘schwer’ oder ‘keine Wiederherstellung der Lebensfunktion’ eingestuft werden.“ 105 Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2009): Expert working group on severity classification of scientific procedures performed on animals. FINAL REPORT, Brüssel, Juli 2009. <http: / / ec.europa.eu/ environment/ chemicals/ lab_animals/ pdf/ report_ewg.pdf> (zuletzt abgerufen am 22.12.2015). <?page no="135"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 135 derherstellung der Lebensfunktion 106 ), „mild“ (gering), „moderate“ (mittel) and „severe“ (schwer). Diese Kategorien werden folgendermaßen definiert (ebd., Hervorhebungen von N. A. Anm.: Diese Definitionen wurden später inhaltlich gleich in die letztlich verabschiedete Richtlinie 2010/ 63/ EU übernommen): Non-recovery: Procedures, which are performed entirely under general anaesthesia from which the animal shall not recover consciousness. Mild: Procedures on animals as a result of which the animals are likely to experience short term mild pain, suffering or distress. Procedures with no significant impairment of the wellbeing or general condition of the animals. Moderate: Procedures on animals as a result of which the animals are likely to experience short term moderate pain, suffering or distress, or long-lasting mild pain, suffering or distress. Procedures that are likely to cause moderate impairment of the wellbeing or general condition of the animals. Severe: Procedures on animals as a result of which the animals are likely to experience severe pain, suffering or distress, or long-lasting moderate pain, suffering or distress. Procedures, that are likely to cause severe impairment of the wellbeing or general condition of the animals. Der Schweregrad der Belastung hat zentrale Bedeutung Im Entwurf der Richtlinie vom November 2008 wurde also vorgesehen, dass Tierversuche auch nach der Schwere der Belastung zu bewerten sind. Diese Einstufung hat Auswirkungen auf insbesondere - aber nicht ausschließlich - folgende Bereiche: „Länger andauernde Belastungen“ des Schweregrades „schwer“ sollten nicht mehr genehmigungsfähig sein (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008, Art. 15 Abs. 2). 107 Weiter- 106 Kommission der Europäischen Gemeinsachaften (2008), Art. 15 Abs. 3: Unter Vollnarkose durchgeführte Verfahren, an deren Ende das Tier ohne die Möglichkeit, das Bewusstsein wiederzuerlangen, schmerzfrei getötet wird, werden als „keine Wiederherstellung“ eingestuft.“ Vgl. Pyczak 2009, S. 351: „No recovery = Eingriff in Narkose ohne Wiedererwachen“. 107 Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008, Art. 15 Abs. 2: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verfahren, die als ‘schwer’ eingestuft werden, nicht durchgeführt werden, wenn die Schmerzen, Leiden oder Ängste voraussichtlich länger andauern.“ In der engl. Version: „Member States shall ensure that the procedures classified as ‘severe’ are not performed if the pain, suffering or distress is likely to be prolonged.” <?page no="136"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 136 hin wurde in gewissen Fällen eine retrospektive Bewertung vorgesehen. 108 Zu statistischen Zwecken wurde eine Einstufung der tatsächlichen Belastung der Tiere vorgesehen: „Die Mitgliedstaaten erfassen jedes Jahr statistische Daten über die Verwendung von Tieren in Verfahren, einschließlich Daten zu den tatsächlichen Schweregraden der Verfahren und zur Herkunft und den Arten nichtmenschlicher Primaten, die in Verfahren verwendet werden, und stellen diese öffentlich zur Verfügung. […]“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008, Art. 49 „Berichterstattung“, Abs. 2.). 109 Zudem sollte die erneute Verwendung von Tieren abhängig von der Vorbelastung der Tiere sein (ebd., Art. 16 Abs. 1, sofern die vorherige Belastung als „gering“ eingestuft war und das Tier gesund ist 110 , ist eine erneute Verwendung bei „geringer“ Belastung oder bei „keine Wiederherstellung“ genehmigungsfähig; nach Art. 16 Abs. 2 des Richtlinien-Entwurfes ist nach einem Verfahren, das als „schwer“ eingestuft wurde, die erneute Verwendung in „geringer“ Einstufung - sofern das Tier nicht mehr als einmal verwendet wird - bzw. in der Einstufung als „keine Wiederherstellung“, nur mit einer wissenschaftlichen Begründung genehmigungsfähig). Nach Art. 36. Abs. 2 des Entwurfes wurde ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren („reduzierter Projektvorschlag“) vorgesehen für bestimmte Versuche, deren Belastung als „gering“ eingestuft wurde, sofern es sich nicht um nichtmenschliche Primaten als verwendete Versuchstiere handelt (also auch „geringe“ Belastung bei nichtmenschlichen Primaten sollten der Genehmigungspflicht gem. Art. 35 unterliegen). 111 108 Ebd., Art. 38 („Rückwirkende Bewertung“), Abs. 1 regelt in Verbindung mit Art. 37 Abs. 2 lit. d welche Versuche rückwirkend bewertet werden. Ausgenommen von der rückwirkenden Bewertung sind gem, Art 38 Abs. 4 alle Versuche des Schweregrades „gering“, diese jedoch mit folgender Ausnahme: „Alle Projekte, bei denen nichtmenschliche Primaten verwendet werden, sind einer rückwirkenden Bewertung zu unterziehen.” (Art. 38 Abs. 3). (Vgl. dazu auch Kap. 6.2.1.2.2). 109 Ebenso Council of the European Union 2010, Art. 49 „Reporting“ Abs. 2.. Die Erfassung der „information on the actual severity of the procedures” ist nicht an einen bestimmten prospektiven Schweregrad gebunden, sondern betrifft alle Verfahen. 110 Ebd., Art. 16 Abs. 1 lit. b: „es wird nachgewiesen, dass der allgemeine Gesundheitszustand und das Wohlbefinden vollständig wiederhergestellt sind; “ 111 Nach Art. 41A der Fassung von April 2010 können Mitgliedstaaten beschließen, ein „Vereinfachtes Verwaltungsverfahren“ für Projekte einzuführen, die als „keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“, „gering“ oder „mittel“ eingestufte Verfahren umfassen und bei denen keine nichtmenschliche Primaten verwendet werden, wenn diese Projekte zur Einhaltung von Regulierungsanforderungen („regulatory requirements“) erforderlich sind oder wenn bei diesen Projekten Tiere zu Produktionszwecken oder diagnostischen Zwecken nach bewährten Methoden verwendet werden (Council of the European Union 2010, Art. 41A „Simplified administrative procedure“). <?page no="137"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 137 In der Legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. Mai 2009 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (Europäisches Parlament 2009) 112 , wurde der Art. 15 des Richtlinienentwurfes dahingehend relativiert, dass im nun zutreffenden Art. 17 („Einstufung des Schweregrads von Verfahren“) in Abs. 2 folgendes festgelegt wurde: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Verfahren, die als ‘schwer’ eingestuft werden, eine wissenschaftliche Begründung geliefert und die Einhaltung ethischer Grundsätze überwacht wird, wenn die Schmerzen, Leiden oder Ängste voraussichtlich nicht nur vorübergehend sind. Solche Verfahren müssen eine Ausnahme darstellen; es ist eine Schaden-Nutzen- Analyse durchzuführen, und die Verfahren unterliegen der Kontrolle durch die zuständige Behörde.“ (Europäisches Parlament 2009 Art. 17, Abs. 2). Allerdings wird im selben Artikel 17, Abs. 4 erklärt: „Die Kommission vervollständigt bis zum […] auf der Grundlage internationaler Einstufungen und gemäß den in der Europäischen Union erarbeiteten bewährten Methoden die Kriterien für die Einstufung von Verfahren, wie in Anhang IX erläutert. Diese Kriterien schließen eine Obergrenze des Schweregrads, über der Tierversuche verboten sind, ein.“ (ebd., Abs. 4). Es sollte also bei einer Obergrenze der Belastungen bleiben. Nach den sog. Trialog-Verhandlungen zwischen Europäischem Parlament, dem EU- Ministerrat und der Kommission für die Tierversuchs-Richtlinie wurde im Entwurf der Richtlinie in der Fassung vom 23. April 2010 113 in der nun wiederum als Artikel 15 benannten „Classification of severity of procedures” - vorbehaltlich einer „Schutzklausel“ - weiterhin gefordert, dass Verfahren nicht durchgeführt werden, wenn diese schwere Schmerzen, Leiden oder Distress (Ängste 114 ) verursachen, die voraussichtlich lang anhalten und nicht gelindert werden können, hier heißt es nun in Abs. 2: 112 Europäisches Parlament (2009): Legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 5. Mai 2009 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere, KOM(2008)0543 - C6-0391/ 2008 - 2008/ 0211(COD). <http: / / www.europarl.europa.eu/ sides/ getDoc.do? pubRef=- / / EP/ / TEXT+TA+P6-TA-2009-0343+0+DOC+XML+V0/ / DE> (deutsche Version) bzw. die englische Version unter <http: / / www.europarl.europa.eu/ sides/ getDoc.do? pubRef=-/ / EP/ / TEXT+TA+P6-TA-2009-0343+0+DOC+XML+V0/ / EN> (zuletzt abgerufen am 16.12.2015). 113 Council of the European Union (2010), Brussels, 23 April 2010, 8869/ 10 ADD: Proposal for a Directive of the European Parliament and the Council on the protection of animals used for scientific purposes. 114 In den deutschen Übersetzungen der Richtlinienentwürfe wird der englische Begriff „distress” regelmäßig mit dem Begriff „Ängste“ übersetzt. Dabei sei darauf hingewiesen, dass der engl. Begriff „distress“ mehr umfasst, als im deutschen Sprachraum <?page no="138"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 138 „Subject to the use of the safeguard clause in Article 50(1A), Member States shall ensure that a procedure is not performed if it involves severe pain, suffering or distress that is likely to be long-lasting and cannot be ameliorated.” (Council of the European Union 2010). 115 Im Artikel 18 („Erneute Verwendung“) der Entschließung vom Mai 2009 wird die Wiederverwendung nun gem. Abs. 1 lit. a gestattet, wenn zutrifft, dass das vorherige Verfahren als ‘gering bis mittel’ eingestuft wurde und wenn wie unter lit. c bestimmt „das weitere Verfahren […] als ‘gering bis mittel’ oder ‘keine Wiederherstellung’ eingestuft [wird]. Die erneute Verwendung eines Tieres wird von veterinärmedizinischen Untersuchungen begleitet.“ Es kann nun also ein Tier, das im ersten Verfahren bereits eine als „mittel“ eingestufte Belastung erfahren hat, erneut mit einer als „mittel“ eingestuften Belastung wieder verwendet werden. Die Fassung vom April 2010 fordert darüber hinaus im dortigen Art. 16 („Re-use“), dass eine Wiederverwendung im Einklang mit tierärztlichen Empfehlungen steht, wobei der Lebensverlauf des Tieres („the lifetime experience of the animal“) berücksichtigt werden sollte. 116 Eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst die Einstufung in einen bestimmten Schweregrad Im Abschnitt „Assignment criteria and elements“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2009: Final Report, S. 5) wird von der Expertengruppe zur Schweregradeinstufung erklärt, dass die Einstufung eines Verfahrens („procedure“) 117 zu einer bestimmten Kategorie nicht nur von der mit „Ängste“ gemeint ist. „Ängste“ werden im deutschen Sprachraum zudem den „Leiden“ subsumiert. Die Übersetzung der deutschsprachigen Entwurfstexte mit dem Begriff „Ängste“ ist daher nicht ganz zufriedenstellend. 115 Die Schutzklausel in Art. 50 Abs. 1A besagt, wenn ein Mitgliedstaat es in Ausnahmefällen aus wissenschaftlich berechtigten Gründen („for exceptional and scientifically justifiable reasons“) für erforderlich hält, die Verwendung eines Verfahrens zu genehmigen, das schwere Schmerzen, Leiden oder Distress verursacht, die voraussichtlich lang anhalten und nicht gelindert werden können, so kann er eine vorläufige Maßnahme zur Genehmigung dieses Verfahrens annehmen. Dabei kann beschlossen werden, die Verwendung nichtmenschlicher Primaten in solchen Verfahren nicht zuzulassen (Council of the European Union 2010). 116 Allerdings räumt Art. 16 Abs. 2 nun ein, dass die zuständige Behörde in Ausnahmefällen abweichend von Abs. 1 lit. a - der die Wiederverwendung an den maximalen vorherigen Schweregrad „moderate“ bindet - nach einer tierärztlichen Untersuchung des Tieres die erneute Verwendung genehmigen darf, wenn das Tier nicht mehr als einmal in einem Verfahren verwendet worden ist, das schwere Schmerzen, Ängste oder ähnliche Leiden verursacht hat (Council of the European Union 2010). 117 Anm.: Gemeint ist meinem Verständnis nach eine Maßnahme. Der im Englischen verwendete Begriff „procedure“ wird in der deutschen Übersetzung mit „Verfahren“ <?page no="139"?> 3.4 Kataloge zur Einstufung der Belastung, sog. „Belastungskataloge“ 139 Art des Verfahrens abhängt, sondern auch von einer Vielzahl anderer Faktoren. Diese verschiedenartigen zusätzlichen Faktoren müssten bei der Einstufung in eine der vier Kategorien im Rahmen einer jeweiligen Einzelfallbetrachtung berücksichtigt werden. Die Faktoren beinhalten: “type of manipulation, handling nature of pain, suffering, distress or lasting harm caused by (all elements of) the procedure, and its intensity, duration, frequency and multiplicity of techniques employed cumulative suffering within a procedure prevention from expressing natural behaviour including restrictions on the housing, husbandry and care standards“ (ebd.). Es wird betont, dass die benannten Faktoren auf das Verfahren selbst bezogen sind, dass jedoch für die Einstufung noch weitere Faktoren ebenfalls berücksichtigt werden müssten, da diese die abschließende Einstufung („final classification“) signifikant beeinflussen können. Diese sind: “type of species and genotype maturity, age and gender of the animal training experience of the animal to the procedure if the animal is to be re-used, the actual severity of the previous procedures the methods used to reduce or eliminate pain, suffering and distress, including refinement of housing, husbandry and care conditions humane end-points“ (ebd.). Im Abschnitt „Examples of different types of procedure” (ebd., S. 7) werden zu den jeweiligen Schweregrad-Kategorien Beispiele von Verfahren benannt, die den jeweiligen Schweregraden zugeordnet werden. Im Bericht wird eingangs zu diesen Beispielen folgendes erklärt: “It is imperative to note that the examples given below are only indicative. The final severity categorisation can only be made as a consequence of a critical case-by-case assessment of all factors likely to have an impact on the severity of a procedure in a given situation. The presumption is that all proübersetzt und folgendermaßen definiert : „Verfahren: jede Verwendung eines Tieres zu Versuchs- oder anderen wissenschaftlichen Zwecken mit bekanntem oder unbekanntem Ausgang, die dem Tier Schmerzen, Leiden, Ängste oder dauerhafte Schäden zufügen kann, einschließlich aller Eingriffe, die dazu führen sollen oder können, dass ein Tier auf eine solche Art geboren wird oder dass eine neue genetisch veränderte Tierlinie geschaffen wird; “ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2008, Artikel 3 „Begriffsbestimmungen“ Abs. 1). <?page no="140"?> 3 Hilfsmittel zur Güterabwägung im Tierversuch 140 cedures are carried out by competent persons according to best practice.” (ebd., S. 7). Einstufung des Schweregrads der Verfahren gemäß Richtlinie 2010/ 63/ EU Die Richtlinie 2010/ 63/ EU wurde erst nach Abschluss meiner Dissertation verabschiedet und veröffentlicht und konnte daher - ebenso wie die Guidance-Dokumente (s.u.) - im Rahmen der Arbeit nicht berücksichtigt werden. Gemäß Artikel 15 Abs. 1 der Richtlinie haben die Mitgliedsstaaten alle Verfahren im Einzelfall unter Verwendung der in Anhang VIII der Richtlinie aufgeführten Zuord ungskriterien in Schweregrade einzustufen (Europäisches Parlament 2010, S. 42). Im Anhang VIII Klassifizierung des Schweregrads der Verfahren wird betont, dass der Schweregrad eines Verfahrens nach dem Ausmaß von Schmerzen, Leiden, Ängsten oder dauerhaften Schäden festgelegt wird, die das einzelne Tier während des Verfahrens voraussichtlich empfindet bzw. erleidet (ebd., S. 76). Anhang VIII Abschnitt I definiert dabei die Kategorien der Schweregrade „keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“, „gering“, „mittel“ und „schwer“. Im Abschnitt II Zuordnungskriterien wird erläutert, dass bei der Zuordnung zu der Kategorie des Schweregrades jede Intervention oder Manipulation des Tieres im Rahmen eines bestimmten Verfahrens zu berücksichtigen ist. Sie basiert auf den schwerwiegendsten Auswirkungen, denen ein einzelnes Tier nach Anwendung aller geeigneten Verbesserungstechniken ausgesetzt sein dürfte. Bei der Zuordnung werden die Art des Verfahrens und eine Reihe weiterer Faktoren, die auf Einzelfallbasis zu prüfen sind, berücksichtigt (ebd.). Diese Faktoren sind inhaltlich identisch mit jenen des Final Reports von 2009 (s.o.). Wieder wird betont, dass im Abschnitt III Beispiele von Verfahren aufgeführt sind, die auf der Grundlage von allein mit der Art des Verfahrens zusammenhängenden Faktoren den einzelnen Kategorien der Schweregrade zugeordnet werden. Die Beispiele geben jedoch lediglich den ersten Anhaltspunkt dafür, welche Klassifizierung für eine bestimmte Art von Verfahren am angemessensten wäre. Es wird betont, dass für die Zwecke der endgültigen Klassifizierung des Verfahrens jedoch zusätzliche Faktoren, die auf Einzelfallbasis bewertet werden, zu berücksichtigen sind (ebd., S. 77). Diese zusätzlichen Faktoren entsprechen wieder jenen des Final Reports (s.o.). Im Abschnitt III werden schließlich Beispiele von Verfahren aufgelistet und Schweregraden zugeordnet. An dieser Stelle möchte ich hinweisen auf die EU Guidance-Dokumente der Europ. Kommission zum „Severity assessment“ (von 2012) sowie „Severity assessment - illustrative examples“ (von 2013) (<http: / / ec.europa.eu/ environment/ chemicals/ lab_animals/ interpretation_en.htm>), die zum besseren Verständnis der Bestimmungen der Richtlinie sowie zur einheitlichen Implementierung und Anwendung unter Mitarbeit der Mitgliedstaaten ausgearbeitet wurden. n <?page no="141"?> 4 Vorstellung von Kriterienkatalogen zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit In diesem Kapitel befasse ich mich mit ausgewählten Kriterienkatalogen und versuche zu analysieren aus welcher Motivation und mit welcher Absicht sie konzipiert wurden. Weiterhin gilt es folgende Fragestellungen zu untersuchen: Welche ethisch relevanten Kriterien werden in den Katalogen abgefragt? Mit welchen Prämissen sind die Kataloge hinterlegt? Was gibt es für Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge? Sind sie für uns geeignet? Offensichtlich haben alle Kataloge gewisse Mängel, denn sonst ließe sich das Desiderat, das aus der Umfrage abzulesen ist, nicht erklären. Die Kriterienkataloge, die ich verglichen habe, wurden ausgewählt im Hinblick auf ihre Wichtigkeit - indem sie teilweise als Pioniere wichtige Anstöße gegeben haben - im Hinblick auf den Sprach- und Kulturraum in dem sie veröffentlicht wurden, sowie auf die kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Allen diesen Katalogen ist gemeinsam, dass sie bemühte und anerkennenswerte Versuche darzustellen, eine Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchsvorhaben zu leisten. Sie wollen dabei objektiv und verantwortungsvoll eine Abwägung treffen zwischen einem u.U. nur potentiell zu benennenden Nutzen und den Folgen dieser Entscheidung. Die folgenden Kataloge habe ich ausgewählt, auf die ich näher eingehen werde: Klaus Gärtner war mit seinem Aufsatz 1987 in der Deutschen Tierärztlichen Wochenschrift einer der Pioniere der Kriterienkataloge. Er definierte zwei Schadensformen in der Abwägung: Die Schäden, die durch die Forschung an den Versuchstieren verursacht werden im Gegensatz zu den Schäden, die durch die Erkenntnisse aus dem Tierversuch erspart werden. Seine Gedanken haben spätere Überlegungen maßgeblich beeinflusst und werden immer noch zitiert. Zudem zeigte sich Gärtner als ein überzeugter Vertreter der Grundlagenforschung, der sich sehr prägnant und konsequent zur Thematik geäußert hat. So wollte er in seinem hier vorgestellten Aufsatz „Anregungen zur Antragstellung aus der Sicht des Antragstellers und biomedizinischen Forschers“ geben (Gärtner 1987, S. 100). Die Position von Gärtner sehe ich stellvertretend für die Position eines Verfechters der Grundlagenforschung. Wie wir später sehen werden, ist gerade bei Tierexperimenten aus dem Bereich der Grundlagenforschung die Bestimmung der ethischen Vertretbarkeit mit besonderen Schwierigkeiten behaftet. Um die Gesamtproblematik und die Besonderheiten der Grundlagenforschung kontrastreich herausarbeiten zu können und damit für den Betrachter besonders anschaulich darzustellen, halte ich es für hilfreich, gerade solche <?page no="142"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 142 Positionen auszuwählen, die sehr konsequent die jeweilige Haltung vertreten. David G. Porter hat im Journal NATURE im Jahre 1992 ein „scoring system“ zur ethischen Abwägung vorgestellt. Porters Kriterienkatalog gliedert sich in acht Kategorien, die verschiedene Gesichtspunkte bewerten. Die Antworten in jeder Kategorie sind mit Punkten bewertet. Sowohl Nutzen als auch Leiden müssen nach diesem Modell in einem bestimmten Rahmen liegen, um als vertretbar erachtet zu werden. Das „holländische Modell“, das auf Anfrage des Dutch Veterinary Public Health Chief Inspectorate entwickelt und von Tj. de Cock Buning und E. Theune im Jahre 1994 im Journal Animal Welfare publiziert wurde. Das Modell besteht aus einer Liste mit 4 Kategorien, die mehrfach untergliedert sind. Die gestellten Fragen werden mit 2 bis 4 Antworten versehen, welche umkringelt werden und für jede Kategorie zu einem qualifizierten Gesamtergebnis führen sollen. Anhand einer Entscheidungsmatrix „Belastung / Bedeutsamkeit- Abwägung“ und eines „Entscheidungsbaumes“ wird dann eine Gesamtbeurteilung vorgenommen. Die „Checklisten“ von W. Scharmann und G. M. Teutsch, die 1994 in der Zeitschrift ALTEX vorgestellt wurden. Es handelt sich um eine Liste für die Einschätzung des erwarteten Nutzens des Experiments und eine für die Einschätzung der erwarteten Belastung der Versuchstiere. Beide Listen münden jeweils in eine zusammenfassende Bewertung. Das „erweiterte Punkteschema“ von U. Mand, das sie im Jahre 1995 in der Zeitschrift Der Tierschutzbeauftragte, sowie in ihrer tiermedizinischen Dissertation publiziert hat. Es handelt sich um eine Modifikation des Porterschen Systems und es enthält in 3 Kategorien insgesamt 12 Abschnitte. Die Antworten zu jedem Abschnitt sind jeweils - wie bei Porter - mit Punkten bewertet. Es werden für die ethische Vertretbarkeit gewisse Mindestpunktzahlen festgelegt, die eingehalten werden müssen. Das „system to support decision-making“ von F. R. Stafleu et al., das im Journal Laboratory Animals im Jahre 1999 vorgestellt wurde. Es handelt sich ebenfalls um ein Bepunktungssystem, das jedoch eine differenziertere Bepunktung mit Hilfe mathematischer Formeln erlaubt und eine Abwägung zwischen dem ermittelten Wert des menschlichen Interesses am Experiment und dem Wert des Schadens der Tiere vornimmt. Hierzu werden in acht Abschnitten mit Punkten bewertete Antworten verrechnet. Die Auflistung relevanter Kriterien von C. Maisack, die er im Kommentar zum TierSchG im Jahre 2007 publiziert hat. <?page no="143"?> 4.1 Die Güterabwägung bei Klaus Gärtner 143 Das Schweizer Internet-Programm 118 „zur Selbstprüfung“ für die Güterabwägung welches von der Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT seit dem Jahre 2007 im Internet angeboten wird. 119 Es handelt sich um ein computergestütztes Programm, das in 6 Kategorien, die teilweise noch untergliedert sind, mit Punkten bewertete Gesichtspunkte abfragt und diese dann zu einem visualisierten und verbalisierten Gesamtergebnis verrechnet. 4.1. Die Güterabwägung bei Klaus Gärtner 4.1.1 Die Rahmenbedingungen Novellierung des Tierschutzgesetzes widerspiegle das Misstrauen der Öffentlichkeit Klaus Gärtner 120 veröffentlichte 1987 - im Jahr der Einrichtung von Tierversuchskommissionen - einen Aufsatz unter dem Titel „Kriterien der materiellen Prüfung von Genehmigungsanträgen“ (Gärtner 1987). Er leitet seinen Aufsatz damit ein, dass die Novellierung des Tierschutzgesetzes von 1986 das „außergewöhnliche und unverdiente Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber den mit tierexperimentellen Methoden arbeitenden Wissenschaften“ reflektiere (Gärtner 1987, S. 100). Er erklärt, dass die Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen „besonders verschärft“ wurde. Keine Schwierigkeiten bei Rechtfertigung in der biomedizinischen Forschung Gärtner gibt dann „Anregungen zur Antragstellung aus der Sicht des Antragstellers und biomedizinischen Forschers“ (Gärtner 1987, S. 100). Hier- 118 „Ethische Güterabwägung bei Tierversuchen - Vorlage für die Selbstprüfung“. 119 < http: / / tki.samw.ch/ > (aktuelle Version im Internet: TKI v1.2.1 von 25.08.2009; letzer Zugriff am 16.12.2015). 120 Ehem. Leiter des Zentralen Tierversuchslaboratoriums der Medizinischen Hochschule Hannover; weitere Details zum Autor siehe ). „Es ist unmöglich für Forschungsansätze der Grundlagenforschung abschätzen zu wollen, ob sie von hervorragender Bedeutung für die Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse z. B. der menschlichen Gesellschaft sein können. Das könnten sie immer sein! “ (Gärtner 1987, S. 101) <?page no="144"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 144 bei erklärt er, dass die Frage, welchem wissenschaftlichen Zweck das beantragte Versuchsvorhaben diene, „keine Schwierigkeiten“ bereite. „Ähnlich unschwierig“ wäre die Beantwortung der Frage, ob ein Ausweichen auf andere Methoden als den Tierversuch mit dem Versuchsziel unvereinbar wäre (§ 7 Abs. 2 TierSchG alte Fassung, bzw. jetzt § 7a Abs. 2 TierSchG neue Fassung): „Die wissenschaftliche Darlegung der Unmöglichkeit, das Forschungsvorhaben mit anderen Methoden zu erreichen, ist in der biomedizinischen Forschung im allgemeinen leicht und kann in zwei Sätzen schlüssig dargelegt werden.“ (Gärtner 1987, S. 100) Es würden lediglich „Zweifel bestehen, ob das in so knapper Form beim Einsatz von Tierversuchen für Sicherheitsteste möglich“ wäre. Dem hingegen neu sei „die wissenschaftliche Darlegung darüber, ob das Versuchsziel und der Grad von Schmerzen, Leiden und Schäden ethisch vertretbar sind (§7 (3)).“ 121 , dies bedürfe „ausführlicher Argumente“. Hierbei müssten „wissenschaftlich, d. h. mit objektivierbaren Verfahren […] einmal der Schweregrad von Schmerzen und Leiden dargestellt und zum anderen eine ethische Abschätzung darüber durchgeführt werden.“ (ebd.). Dies bedürfe der „folgenden, vorbereitenden wissenschaftlichen Argumentation“. Gärtner bietet also den tierexperimentell arbeitenden Wissenschaftlern sogleich eine Hilfestellung in einer von ihm vorbereitenden Argumentationsführung an, damit diese den neuen Ansprüchen der verschärften Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen im Antragsverfahren gerecht werden können. In den folgenden beiden Abschnitten geht er zunächst auf die „Quantifizierung der subjektiven Begriffe Schmerzen und Leiden nach ihrem Grad und der Dauer (§ 7 (3))“ ein (ebd.), um im darauf folgenden Abschnitt mit der Überschrift „Ethische Vertretbarkeit eines Versuchsvorhabens, § 7 (3)“ zu erklären: „§ 7 (3) fordert die wissenschaftlich begründete Beantwortung der Frage, ob Versuchsziel und Grad von Schmerzen, Leiden und Schäden ethisch ver- 121 Im Gesetz ist von Versuchszweck die Rede. „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Versuche an Wirbeltieren, die zu länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“ (Zitat: § 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung. Jetzt um Kopffüßer erweitert, ansonsten inhaltlich im Wesentlichen entsprechend, jedoch aufgeteilt in § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung und § 25 Abs. 1 TierSch- VersV). . <?page no="145"?> 4.1 Die Güterabwägung bei Klaus Gärtner 145 tretbar seien. Die Argumentation kann nicht auf der Basis irgendwelcher ideologisch ausgerichteter Schulen in der absoluten Ethik erfolgen. Basis ist allein die philosophische Ethik, d. h. Gesichtspunkte der relativen Ethik. Die sachkundigen Philosophen, z. B. JONAS (1984), schlagen vor, die Schadensfolgen zu vergleichen, nämlich solche, die für das Tier entstehen, und solche, die der Wissenschaft und Gesellschaft entstehen, wenn ein Versuchsvorhaben durchgeführt oder nicht durchgeführt wird.“ (Gärtner 1987, S. 100). 4.1.2 Das Sinnbild der Waage Ein „Wägeschema“, das den Belastungen der Tiere die Schadensfolgen an Wissenschaft und Gesellschaft gegenüberstellt Gärtner fährt fort, „nach einem Studium vieler einschlägiger Literatur über die Problematik der Forschungsethik in unserer Zeit, [...] möchte ich ein einfaches Wägeschema vorstellen, das hier hilfreich sein kann [...]. Dauer und Schweregrad von Schmerzen, Leiden und Schäden, die einem Tier zugefügt werden können, stehen mögliche Schadensfolgen gegenüber, die der Wissenschaft und Gesellschaft entstehen können.“ (Gärtner 1987, S. 100f.). Über die Abschätzung der Zeitspanne von Leidens- und Schmerzzuständen bestünde weitgehender Konsens (Gärtner 1987, S. 101). Zum Schweregrad von Schmerzen und Leiden wurden in Gärtners vorherigem Abschnitt „objektivierbare Indikatoren“ benannt. Diese „können eine Basis der zu erwartenden Belastungen der Versuchstiere sein, wenn die prospektive Abwägung durchgeführt wird.“ Nun erläutert Gärtner seine Sicht der Inhalte der anderen Waagschale: „Auf der Seite der Schadensfolgen für Wissenschaft und Gesellschaft sind die Folgen der Unterlassung klinisch-medizinischer Forschung unbestritten. Hier handelt es sich um eine Unterlassung der Verbesserung medizinischer Hilfeleistung. Widersprüchlich ist die Folgeabschätzung unterlassener Grundlagenforschung. JONAS (1984) formuliert einen erweiterten Kantschen Imperativ, der die Schadensfolgen für zukünftige Generationen einbezieht. Das gilt auch hier. Nicht ausgeführte Grundlagenforschung bewirkt einen Defekt in der Komplettierung naturwissenschaftlichen Grundlagenwissens der nächsten Generationen und reduziert deren vernünftige Katastrophenprophylaxe. - Andere Schadensfolgen für Wissenschaft und Gesellschaft sind die unterlassene Suche nach verbesserter Lebensqualität (billiger Wohlstand, Verbesserung der Ernährung oder z. B. Verbesserung der Schwangerschaftsverhütung) und die aus wirtschaftlichen Aspekten immer wieder diskutierte Unterlassung der Suche nach technisch-wissenschaftlicher Innovation. Die vorgestellte Gegenüberstellung bedarf der weiteren Ausfüllung und Ergänzung.“ (Gärtner 1987, S. 101). <?page no="146"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 146 4.1.3 Der Status der Grundlagenforschung bei Gärtner Grundlagenforschung ist immer „notwendig“ und kann immer „wesentlichen Bedürfnissen“ dienen Im folgenden Abschnitt seines Aufsatzes erklärt Gärtner dann, „Grundlagenforschung kann immer wesentlichen Bedürfnissen dienen (§ 7 (3) Satz 2)“. Er präzisiert den Sachverhalt dann damit, dass er in vier Unterabschnitten erklärt „1. Leben ist multifaktoriell organisiert“ und „2. Multifaktorielle Systeme werden am besten mittels nichtdeterministischer Suchstrategien analysiert“ (Gärtner 1987, S. 101), womit er im dritten Unterabschnitt postuliert: „3. Für jede Grundlagenforschung muß die Qualität ‘notwendig’ unterstellt werden“ (Gärtner 1987, S. 102), um dann mit „4. Kriterien der ethischen Qualität in der Grundlagenforschung“ zu schließen. In diesem Abschnitt erklärt Gärtner: „Kriterien der ethischen Qualität sind in Untersuchungen der Grundlagenforschung nicht mehr der Zweck, aber ganz gewiss die Form solcher Experimente (MOHR, 1981). Gefordert werden müssen hochqualifizierte, möglichst beste Methodik, Berücksichtigung aller wirklich absehbaren Schadenswirkungen des Experimentes, Publikation der Ergebnisse in der bestmöglichen Form, um sie dem überindividuellen Informationspool einer Gesellschaft zugänglich zu machen und zu erhalten.“ (Gärtner 1987, S. 102) 4.1.4 Diskussion Vielzitiertes Sinnbild der Waage Gärtner plädiert für eine sorgfältige und vernünftige Güterabwägung bei jedem Tierversuch. Dabei sollen die Leiden des Tieres einerseits und die Schadensfolgen für Wissenschaft und Gesellschaft andererseits gegeneinander abgewogen werden. Gärtner symbolisiert seine Position anhand des Sinnbilds einer Waage. Die eine Waagschale trägt dem Umstand des Leidens der Tiere Rechnung. Der Schaden des Tieres bemisst sich bei Gärtner am Schweregrad und der Dauer: Gärtner unterteilt die zeitliche Komponente in kurzfristig, mittelfristig, lang andauernd (wiederholt), sowie die Komponente des Schweregrades der zugefügten Schmerzen, Leiden und Schäden in geringgradig, mittelgradig und erheblich. Diese Kategorien werden bei der ethischen Abwägung berücksichtigt. 122 Diese Waagschale wird nach Gärtner 122 Uta Mand findet diese Einteilung der Zeitspanne nicht praktikabel bzw. sie hält es für „nicht möglich, eine allgemein verbindliche Einteilung in solche Zeitspannen vor- <?page no="147"?> 4.1 Die Güterabwägung bei Klaus Gärtner 147 entsprechend der wesentlichsten Neuerungen des Tierschutzgesetzes im § 7 Abs. 3 gefüllt (TierSchG alte Fassung; jetzt: § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung). Dieser fordere „die wissenschaftlich begründete Beantwortung der Frage, ob Versuchsziel und Grad von Schmerzen, Leiden und Schäden ethisch vertretbar seien.“ (Gärtner, 1987, S. 100). Nach Gärtner kann aber die Begründung nicht auf der Basis einer absolut gesetzten Ethikschule erfolgen, sondern muss vielmehr Gesichtspunkte einer relativen Ethik vereinen (Gärtner 1987, S. 100). Die andere Waagschale bemisst das Ausmaß des Schadens, der durch die Unterlassung eines Tierversuchs für die klinisch-medizinischen Forschungen und damit für die Gesellschaft entstehen würde. Gärtner hält diese Schadensfolgen für unbestritten. Er zählt folgende Kriterien in der Abbildung seines „Wägeschemas“ auf der Waagschale der „Schadensfolgen für Wissenschaft und Gesellschaft“ auf: 123 „Unterlassene Verbesserung d. med. Hilfeleistung Unterlassene Komplettierung naturwiss. Grundlagenwissens für die nächste Generation. Reduktion ihrer vernünftigen Katastrophenprophylaxe Unterlassene Suche nach verbesserten Lebensqualitäten (billiger Wohlstand. Ernährung. Schwangerschaftsverhütung) Unterlassung der Suche nach techn.-wiss. Innovationen“ (Gärtner 1987, S. 101). Gärtner geht in diesem Zusammenhang auch auf die möglichen Unterlassungsschäden durch nicht-durchgeführte Grundlagenforschung ein. Er betont, dass Grundlagenforschung immer von hervorragender Bedeutung sein könnte, aber einen praktischen Nutzen, deren Unterlassung als Schaden gewertet werden könnte, als Ziel nicht angeben kann. Gärtner identifiziert deshalb für die ethische Qualität der Grundlagenforschung nicht den Zweck sondern die Form der Forschung: Hochqualifizierte, beste Methodik, Berücksichtigung von allen „wirklich absehbaren Schadenswirkungen“, Publikation der Ergebnisse in der bestmöglichen Form (Gärtner 1987, S. 102). zunehmen. Je nach Schweregrad der Schmerzen und Leiden variiert auch die subjektiv unterschiedlich lang empfundene Zeitspanne der Versuche.“ (Mand 1995, S. 230). Auf diesen Kritikpunkt werde ich später noch zu sprechen kommen. 123 Wobei Gärtner am Ende dieses Kapitels abschließend anmerkt: „Die vorgestellte Gegenüberstellung bedarf der weiteren Ausfüllung und Ergänzung.“ (Gärtner 1987, S. 101). <?page no="148"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 148 Zu den Gegenständen der Güterabwägung Das Gesetz fordert eine Güterabwägung zwischen Versuchszweck (als Nutzen) und dem Grad von Schmerzen, Leiden und Schäden (vgl. Hirt/ Maisack/ Moritz 2007), dies habe ich im Kapitel zuvor vorgestellt. Gärtner erläutert in seinem Aufsatz seine Auslegung dessen, was im damals neuen § 7 Abs. 3 TierSchG gefordert sei. Die im § 7 Abs. 2 TierSchG (alte Fassung) angeführten legalen Zwecke für Tierversuche umschreibt Gärtner kurz wie folgt: „Forschung (Krankheiten, Grundlagen), Sicherheitsteste (Umwelt-, Verbraucherschutz)“ (Gärtner 1987, S. 100; die nun in § 7a Abs. 1 TierSchG neue Fassung erweiterten Zwecke s. Kap. 7.8.1.4). In seinem Wägeschema konzentriert er sich auf Seiten des Nutzens für den Menschen jedoch ausschließlich auf die Abwehr von „Schadensfolgen für Wissenschaft u. Gesellschaft“ (ebd., S. 101). Damit verrechnet er keine zwei empirischen Größen - wobei auch der nur potentielle Nutzen eines Versuchs zumindest in etwa abschätzbar ist - sondern er verrechnet die Erfahrungsgrößen „Schmerzen, Leiden, Schäden eines Tieres“ (ebd.) die faktisch eintreten können, mit der nicht fassbaren und nicht belegbaren Größe Schaden für Wissenschaft und Gesellschaft - ich möchte es einmal formulieren als „Angst vor negativen Folgen in der Zukunft“. Der Tierversuch erscheint nun nicht mehr als ein ethisch bedenkliches Mittel zur Förderung der Wissenschaften, das in unausweichlichen Dilemma-Situationen das geringere von zwei etwa gleich großen Übeln darstellt und zum Überleben in Kauf genommen werden muss, sondern der Tierversuch erscheint nach Gärtners Denkart von 1987 - wie ich ihn verstehe - als ein notwendiges und zwingendes Opfer im Kampf für die ‘Bewahrung vor Schäden und Krankheiten’. 124 Dies drängt sich angesichts der über die Jahrzehnte andauernden Debatte um den Tierversuch als absolut unumgängliches Paradigma der biomedizinischen Forschung geradezu auf. Gärtners Ansatz wurde in der Literatur immer wieder herangezogen, und könnte dazu gebzw. missbraucht werden, jedwedes Tierexperiment zu legitimieren, ja geradezu zu fordern. Ob es auch andere Wege geben könnte, um zu gewinnbringenden Forschungsergebnissen zu gelangen - außer durch die Methode Tierversuch - steht in dieser Denkweise m.E. oftmals bedauerlicherweise völlig außen vor. In der vorliegenden Arbeit möchte ich aber auf diese Debatte nicht weiter eingehen. 124 Hierbei ist der ‘Unterlassungsschaden’ (diesen Begriff möchte ich einführen, da ich denke, dass er das am besten wiedergibt, was Klaus Gärtner meint) nach Gärtner bei der Nichtdurchführung des Tierexperiments unvergleichlich größer, als der Schaden am Versuchstier - besonders dann, wenn die Zeitachse nicht begrenzt wird, denn dann kann ein solcher ‘Unterlassungsschaden’ an der Gesellschaft ja theoretisch ins Unendliche anwachsen und würde damit in einer Abwägung immer das größere Gewicht auf der Waage einnehmen. <?page no="149"?> 4.1 Die Güterabwägung bei Klaus Gärtner 149 Darüber hinaus halte ich es nicht für gerechtfertigt, beim Unterlassen eines Tierversuchs sofort und zwingend von einem Schaden an der Gesellschaft zu sprechen. Unterlässt man einen Tierversuch, dann bleibt zwar auch der (hypothetische) Nutzen aus - wobei immer unklar bleiben wird, ob und in welchem Maße ein prospektiv veranschlagter Nutzen überhaupt eintreten wird -, aber es entsteht noch kein unmittelbarer Schaden. Die von Gärtner vertretene Position überzeugt mich aus folgenden Gründen nicht: Die drohenden Schadensfolgen, von denen Gärtner spricht, sind Schäden und Krankheiten, die er nicht näher beschreibt und zu deren zukünftiger Verhütung schon heute die Forschung mit einer „random-Suchstrategie“ beitragen müsse (Gärtner 1987, S. 102). Vom Eintritt eines Schadens durch die Unterlassung eines Tierversuchs zu sprechen wäre meines Erachtens erst dann gerechtfertigt, wenn es konkrete Belege dafür gäbe, dass ein bestimmter Tierversuch für die Wohlfahrt der Menschheit von essentieller Bedeutung wäre, z.B. weil bestimmte Tierversuche die einzige Rettung vor einer Pandemie wären. Im Unterschied zu Gärtner, der für eine tierexperimentelle Forschung nach „random-Suchstrategie“ plädiert, halte ich aus wissenschaftlichen und ethischen Gründen die Durchführung von Tierversuchen aufs Geratewohl für nicht gerechtfertigt. Tiere würden für einen vagen Nutzen Schmerzen, Leiden und Schäden ausgesetzt. Ethische Begründung der Gegenstände der Abwägung bei Klaus Gärtner Gärtner lehnt eine Absolutstellung einer ideologisch ausgerichteten Ethik ab und will stattdessen eine relative Ethik zur Grundlage seines Ansatzes machen. Er verweist auf „sachkundige Philosophen“ wie Hans Jonas. Dabei bleibt es unklar, welche ethische Position Gärtner bevorzugen möchte, welche Werte er wie hierarchisiert. Neuer kategorischer Imperativ nach Jonas Die ethische Begründung wird mit einem Verweis auf den erweiterten Kantschen Imperativ von Hans Jonas 125 abgerundet. Nach Jonas bezieht sich Kants kategorischer Imperativ ausschließlich auf die Gegenwart und auch in Kants Philosophie wird der Zukunft und dem Fortbestand der Menschheit kaum Beachtung geschenkt. Jonas führt aus, dies sei durch einen simplen Umstand begründet: Dieses Problem war zur Zeit Kants noch nicht aktuell. Jonas erklärt, erst seit kurzer Zeit haben die Technologien der Menschen eine Stufe erreicht, auf welcher die Auslöschung der Menschheit oder gleich der ganzen Biosphäre in den Bereich des Mögli- 125 Jonas hat diesen erweiterten Kantschen Imperativ, den er bereits 1979 formuliert hat (s. nachfolgende Fussnote), in seinem 1984 erschienen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Warum wir heute eine Ethik der Selbstbeschränkung brauchen“ erwähnt. <?page no="150"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 150 chen rücken. Deshalb muss sich diese neue Dimension des Möglichen in der Formulierung eines neuartigen kategorischen Imperativs niederschlagen, welcher lauten soll: „Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d. h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben.“ (Jonas 1984, S. 83). 126 Jonas fordert jedoch ethische Schranken der Forschung bei Bedrohung Ziel dieses Imperativs war es, dort eine Form von Demut und Bescheidenheit zu etablieren, wo man als Forscher ein Gebiet betritt, auf welchem der unbedachte Forscherdrang den Fortbestand des Lebens riskieren könnte. Aus der Perspektive Gärtners ist das Eintreten von Schäden etwas, dem die heutige Forschung Rechnung zu tragen habe. Im Gegensatz zu Jonas thematisiert er nicht die Risiken einer zügellosen Forschung. Jonas „Hermeneutik der Furcht“ interpretiert Gärtner als Furcht vor negativen Folgen bei Unterlassung von Forschung. Bei Jonas ist es aber genau umgekehrt. Gärtner scheint Jonas in dem von ihm zitierten Jonasschen Aufsatz eigenwillig zu interpretieren, denn ich sehe für die Position von Gärtner keinen Grund, sich auf den erweiterten Kantschen Imperativ nach Jonas (1984) zu berufen, da dieser forderte, die Zukunft der Menschheit nicht durch schrankenloses Forschen zu gefährden, während Gärtner glaubt, dass nur eine unbeschränkte Forschung der chronischen Gefährdung künftiger Generationen der Menschheit entgegentreten kann. So attestiert Gärtner den Versuchsvorhaben aus der Grundlagenforschung einen „generellen Anspruch, von hervorragender Bedeutung zur Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse sein zu können.“ Gärtner unterstreicht: „Für jede Grundlagenforschung muß die Qualität ‘notwendig’unterstellt werden“ (Gärtner 1987, S. 102). Legitimation für die Grundlagenforschung In der Zusammenfassung zu seinem Aufsatz verdeutlicht Gärtner einmal mehr seine Intention: Es geht ihm besonders um eine Legitimation für die 126 Die ursprüngliche Formulierung des erweiterten Kantschen Imperativs bei Jonas lautet wie folgt: „Ein Imperativ, der auf den neuen Typ menschlichen Handelns paßt und an den neuen Typ von Handlungssubjekt gerichtet ist, würde etwa so lauten: ‘Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden’; oder negativ ausgedrückt: ‘Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens’; oder einfach: ‘Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden’; oder, wieder positiv gewendet: ‘Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein’.“ (Jonas 1979, S. 36). <?page no="151"?> 4.1 Die Güterabwägung bei Klaus Gärtner 151 Grundlagenforschung, die - wie er eingangs feststellt - im Vergleich zur wissenschaftlichen Darlegung im Falle der biomedizinischen Forschung - diese sei „leicht und kann in zwei Sätzen schlüssig dargelegt werden“ - schwieriger darzubringen wäre. Die Folgenabschätzung einer Unterlassung eines Tierexperiments im Bereich der medizinischen Forschung sei eindeutig eine „Unterlassung der Verbesserung medizinischer Hilfeleistung“. „Widersprüchlich“ sei jedoch die Folgenabschätzung unterlassener Grundlagenforschung. Nun zieht Gärtner jedoch den kantschen Imperativ nach Jonas heran - wie bereits erwähnt hat Jonas diesen in seinem 1984 erschienenen Aufsatz aber mit anderer Intention formuliert -, um aus diesem abzuleitenden bzw. mit diesem zu rechtfertigen, dass eine „nicht ausgeführte Grundlagenforschung […] einen Defekt in der Komplettierung naturwissenschaftlichen Grundlagenwissens der nächsten Generationen“ bewirke und „deren vernünftige Katastrophenprophylaxe“ reduziere. Gärtner begründet „den generellen Anspruch“ der Grundlagenforschung, „von hervorragender Bedeutung zu Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse sein zu können“ (Gärtner 1987, S. 102), indem er „die wissenschaftliche Begründung dafür“ vorträgt: Eine multifaktorielle Organisation des Lebens verlange nichtdeterministische Suchstrategien nach einer random-Suchstrategie. „Jede Grundlagenforschung“ erhält von ihm damit die „Qualität ‘notwendig’“ und als Kriterium der ethischen Qualität gilt für ihn „nicht mehr der Zweck“, sondern nur noch „die Form solcher Experimente“, d.h. es gibt für Gärtner keinen Anhalt die Legitimation eines Experiments der Grundlagenforschung ethisch zu hinterfragen, sehr wohl aber die Art und Weise wie das Experiment durchgeführt wird. 4.1.5 Zusammenfassung Gärtner erklärt, die Novellierung des Tierschutzgesetzes widerspiegle das Misstrauen der Öffentlichkeit. Die Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen wurde „besonders verschärft“. Eine Rechtfertigung von Experimenten in der biomedizinischen Forschung bereite - im Gegensatz zur Grundlagenforschung - keine Schwierigkeiten. Gärtner führt das Sinnbild der Waage als Metapher für die Güterabwägung ein. Er stellt ein „Wägeschema“ vor, das den Belastungen der Tiere die Schadensfolgen an Wissenschaft und Gesellschaft bei Unterlassung eines Experiments gegenüberstellt. Bei der ethischen Begründung der Gegenstände der Abwägung verweist Gärtner auf „sachkundige Philosophen“. Es bleibt unklar, welche ethische Position Gärtner bevorzugen möchte. Die ethische Begründung wird mit einem Verweis auf den erweiterten Kantschen Imperativ von Hans Jonas abgerundet. Jonas hat diesen neuen Imperativ in seinem 1984 <?page no="152"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 152 erschienenen Aufsatz aber mit anderer Intention formuliert: Jonas fordert ethische Schranken der Forschung bei Bedrohung. Gärtner glaubt jedoch, dass nur eine unbeschränkte Forschung der Gefährdung künftiger Generationen entgegentreten könne. Der Status der Grundlagenforschung ist bei Gärtner klar umrissen: Grundlagenforschung sei immer „notwendig“ und könne immer „wesentlichen Bedürfnissen“ dienen. Er begründet dies mit einer multifaktoriellen Organisation des Lebens, die nichtdeterministische Suchstrategien erfordere. Gärtner identifiziert für die ethische Qualität der Grundlagenforschung nicht den Zweck sondern nur die Form der Forschung: Er fordert zu Recht eine hochqualifizierte, beste Methodik, sowie eine bestmögliche Publikation der Ergebnisse. 4.1.6 Fazit Die Position Gärtners in seinem Aufsatz von 1987 lässt ethische Kriterien lediglich bei der Qualität der Forschung zu. So ist für ihn die Grundlagenforschung als legitimer Zweck von Tierversuchen kein Gegenstand ethischer Betrachtung, sondern lediglich die Form der Durchführung der Experimente. Er attestiert der Grundlagenforschung per se eine hervorragende Bedeutung. Gärtner beruft sich auf eine Ethik der medizinischen Hilfeleistung und Katastrophenprophylaxe jetziger und künftiger Generationen des Menschen. Versuche zu Gunsten von Verbesserungen der Veterinärmedizin, die letztlich den Tieren zu Gute kommen, werden bei Gärtner leider nicht thematisiert. Gärtners Auffassungen bzgl. der „leichten“ Darlegung der Unerlässlichkeit im biomedizinischen Bereich und der Unterstellung der generellen Notwendigkeit im Falle von Experimenten aus dem Bereich der Grundlagenforschung, sehe ich als stellvertretend für eine große Anzahl von Wissenschaftlern in der Mitte der 1980er Jahre. Im Folgenden werden wir sehen, dass andere Autoren m.E. eine deutlich kontrastierende Position zur Sichtweise Gärtners einnehmen. <?page no="153"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 153 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 4.2.1 „Bepunktung“ zur Abwägung der eth. Vertretbarkeit Einen der ersten maßgeblichen Versuche, einen Kriterienkatalog für die Abwägung der ethischen Vertretbarkeit vorzustellen, unternahm David G. Porter 127 , mit seinem Aufsatz „Ethical scores for animal experiments“ im Journal NATURE im Jahre 1992. Porters Position geht von dem Defizit aus, dass für das ethische Problem des Gebrauchs von Tieren in der Forschung keine praktikable und humane Lösung angeboten würde. Er kritisiert das weitgehend unausgesprochene Dogma der uneingeschränkten Vorrangstellung des Menschen. Die Tiere würden primär als „Werkzeuge zur Forschung“ angesehen. Porter möchte eine Lösung anbieten und als Voraussetzung für ein „Ethik-Tool“ benötige man ein Ideal. „An ideal of the animal rights movement, which might better be referred to the ‘Schweitzerian’ ideal, as it is close to that advanced by Albert Schweitzer, is that we should avoid harming sentient animals whenever possible.” (Porter 1992, S. 101). Porter plädiert für einen Wechsel der Philosophie wissenschaftlichen Forschens und er fordert eine Qualität und Notwendigkeit eines Experiments, welche die Belastung der Tiere hinlänglich rechtfertigt. Jedes Experiment mit einem empfindungsfähigen Wesen stelle eine Abweichung vom Ideal dar. Ziel des wissenschaftlichen Forschens sollte sein, so wenig wie möglich vom Ideal abzuweichen. (ebd.). Ein „scoring system“ als Lösungsvorschlag Porter schlägt ein einfaches Punktesystem („scoring system“) vor, um das Tierexperiment aus der Sicht des Versuchstieres zu sondieren. Der Forscher 127 Chef der Abteilung für biomedizinische Wissenschaften der Universität von Guelph, (Ontario, Kanada); Weitere Details über den Autor siehe ). „Animals have been seen primarily as tools for research… The toolkit’s novelty is that it advocates a change in philosophy and then challenges the investigator to ensure that the proposed experiments are of a quality and exigency sufficient to justify the total demand that will be made of the animal.“ (Porter 1992, S. 101) <?page no="154"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 154 wird aufgefordert, sich so objektiv wie möglich in die Rolle eines Versuchstieres hinein zu versetzen, um so das Experiment einschätzen zu können. Porters System besteht aus 8 unterschiedlichen Kategorien, die Faktoren behandeln, die zu Schmerz oder Stress führen und andere, die die Notwendigkeit und Qualität des Experiments einschätzen sollen, sowie eine Kategorie zur verwendeten Tierart. In jeder der 8 Kategorien können maximal 5 Punkte erreicht werden, wobei die jeweilige Nummerierung der fünf zur Verfügung stehenden Attribute zugleich die damit erzielte Punktzahl darstellt. Hierbei ist eine niedrige Punktzahl erstrebenswerter als eine höhere, womit in einer Kategorie 1 Punkt das beste zu erzielende Ergebnis und 5 Punkte das schlechteste zu erzielende Ergebnis darstellt. Tab. 1: Katalog von Porter (1992) A) Ziel des Experiments („Aim of experiment”) 128 1. Linderung von erheblichen Schmerzen bei Mensch oder Tier („Alleviation of substantial human or non-human pain“) 2. Linderung mäßiger Schmerzen oder Leiden bei Mensch oder Tier („Alleviation of moderate human or non-human pain or suffering“) 3. Eindeutiger Nutzen für menschliche oder nicht-menschliche Gesundheit oder Wohlergehen 129 („Clear benefit to human or non-human health or welfare“) 4. Gewisser Nutzen für menschliche oder nicht-menschl. Gesundheit oder Wohlergehen („Some benefit to human or non-human health or welfare“) 5. Grundlagenforschung für Erkenntnisfortschritt 130 (ohne deutliche Linderung von Schmerzen oder Nutzen für die menschliche oder tierliche Gesundheit) („Fundamental research for the advancement of knowledge (no clear alleviation of pain or benefit to human or animal health)“) 128 Kursiv: Original-Formulierung bei Porter 1992. 129 Formulierung bei Teutsch (1994): Eindeutiger Nutzen für die Gesundheit oder das Wohlergehen von Mensch oder Tier 130 Formulierung bei Teutsch (1994): Grundlagenforschung für die Wissensvermehrung <?page no="155"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 155 B) Realistisches Potential des Experiments, durch das Experiment das Versuchsziel zu erreichen 131 („Realistic potiental of experiment to achieve objective“) 1. Ausgezeichnet („Excellent“) 2. Sehr gut („Very good“) 3. Durchschnittlich/ günstig („Average/ fair“) 4. Begrenzt („Limited“) 5. Sehr begrenzt oder unmöglich zu beurteilen („Very limited or impossible to assess“) C) Die zum Versuch verwendete Tierart („species of animal“) 1. hat geringes Empfindungsvermögen/ Bewusstsein („low sensibility/ consciousness“) z.B. Mollusken 2. hat gewisses Empfindungsvermögen („some sensibility“) z.B. Cephalopoden 132 , Fische, Amphibien 3. ist empfindungsfähig bei möglicherweise 133 begrenztem Bewusstsein („sentient but possibly limited consciousness“) z.B. Reptilien 4. ist empfindungsfähig und bewusst („sentient and conscious“) z.B. Säugetiere, außer den in Gruppe 5 aufgeführten; Vögel 131 Anders bei Fulda 1993, S. 90: „Realistische Einschätzung der Möglichkeit das Versuchsziel zu erreichen“. Anders bei Reetz 1993, S. 78: „Tatsächliches Potential eines Versuches, die Zielsetzung zu erreichen“. Anders bei Scharmann 1993, S. 68: „In dieser [Kategorie] soll die Möglichkeit das Versuchsziel zu erreichen, realistisch eingeschätzt werden.“ (Unterstreichung im Original). Anders bei Teutsch 1993, S. 64: „Die realistische Einschätzung der Möglichkeit, das Versuchsziel zu erreichen, ist [1. ... ] “. 132 Die Klasse der Cephalopoden (Kopffüßer), die zum Stamm der Mollusken (Weichtiere) gehört, wird von Scharmann 1993, S. 68, nicht aufgeführt. Möglicherweise ist er nicht der Ansicht Porters, dass Cephalopoden eben nur ein gewisses Empfindungsvermögen haben. 133 So auch bei Reetz 1993, S. 78. Anders die Übersetzung bei Teutsch 1993, S. 64: „wahrscheinlich“. <?page no="156"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 156 kenntnisfähigkeit 134 („sentient, highly intelligent and precognitive“) z.B. Primaten 135 , Karnivoren, Wale 136 D) Die voraussichtliche 137 Schmerzbelastung („Pain likely to be involved“) 1. Keine („None“) 2. Minimal bis leicht („Minimal/ slight“) 3. Mäßig („Moderate“) 4. Beträchtlich („Considerable“) 5. Schwer („Severe“) 134 So auch bei Scharmann 1993, S. 68. Anders bei Reetz 1993, S. 78: „Empfindungsfähig, hoch intelligent und vorausschauend“. Die Übersetzung von „precognitive“ bei Reetz als „vorausschauend“ ist von Reetz sicherlich im Sinne von „antizipatorisch“ zu verstehen. Was Porter genau unter „precognitive“ versteht, darüber hat er leider nichts erklärt. Es spricht dagegen, dass er „vorausschauend“ im Sinne von antizipatorisch gemeint haben könnte, da diese kognitive Leistung unter „highly intelligent“ zu subsummieren wäre. Er stellt „precognitive“ aber bewusst neben „highly intelligent“ als ein weiteres Merkmal. Möglicherweise hat Porter mit „precognitive“ das gemeint, was im deutschen Sprachgebrauch als „Präkognition“ naben Telepathie und Hellsehen in der Parapsychologie als ‘Außersinnliche Wahrnehmung’ (ESP, ‘extrasensory perception’) eingeordnet werden kann (vgl. <http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Präkognition>; letzer Zugriff am 16.12.2015) und sich auf wissenschaftlich noch nicht geklärte Wahrnehmungsfähigkeiten bezieht (vgl. z.B. die sehr populärwissenschaftlichen Theorien bei Rupert Sheldrake). Nach einer Theorie von Jon Taylor (1998, „A New Theory for ESP“) könnte auch die Fernwahrnehmung als präkognitives Phänomen gelten. Vorraussschauendes Denken, wie es im Sinne von überlegtem vorausschauendem Denken im Strassenverkehr, bei vorausschauender Planung einer neuen Firmeninvestition oder beim Schachspiel gemeint ist, wäre eher mit „foresighted thinking“ zu übersetzen (www.leo.org, Diskussionsforum). 135 Porter weist in einer Fußnote darauf hin (Porter 1992, S. 102), dass nicht alle Primaten so empfindungsfähig sind wie Menschenaffen, jedoch handle es sich bei den meisten Primaten um gefährdete Arten. Sofern nicht eine zusätzliche Kategorie entwickelt würde zur Berücksichtigung der Überlebensaussichten der Arten, sollten alle Primaten seiner Ansicht nach möglicherweise am besten der Gruppe 5 zugeordnet werden. 136 Im Original: „cetaceans“. So auch Reetz 1993, S. 78. Scharmann 1993, S. 68, führt außer „Wale“ zusätzlich noch „Delphine“ an. 137 Anders bei Teutsch 1993, S. 64: „Die vermutete Schmerzbelastung“. Reetz 1993, S. 78: „Zu erwartender Schmerz“. 5. ist empfindungsfähig und mit hoher Wahrnehmungs- und Er- <?page no="157"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 157 E) Die Dauer der Belastung 138 („Duration of discomfort or distress“) 1. Keine oder sehr kurz („None or very short“) 2. Kurz („Short“) 3. Mäßig („Moderate“) 4. Lange („Long“) 5. Sehr lange („Very long“) F) Die Dauer des Experiments in Relation zur Lebensdauer („Duration of experiment“) Die Dauer des Experiments wird in Relation gesetzt zur „normalen“ Lebensdauer des Tieres. (Bsp.: Ein 10 Tage dauernder Versuch hat bei einem Tier, das nur 100 Tage lebt, eine höhere Belastung zur Folge, als bei einem Tier, das 10 Jahre lebt). 1. Sehr kurz („Extremely short 10 -5 LS“) (Live-Span = Lebensdauer) 2. Kurz („Short 2 x 10 -4 LS“) 3. Mäßig 139 („Moderate 2 x 10 -3 LS“) 140 4. Lang („Long 2 x 10 -2 LS“) 141 5. Sehr lang („Very long >2 x 10 -1 LS“) G) Anzahl der Tiere („Number of animals“) 1. 1-5 2. 5-10 3. 10-20 4. 20-100 5. > 100 138 So bei Scharmann 1993, S. 69 und bei Teutsch 1993, S. 64. Anders bei Reetz 1993, S. 78: „Dauer von Unwohlsein und Leiden“. Fulda 1993, S. 94: „Belastungsdauer“ („bei der Belastung durch Unbehagen, Distress oder Angst“). 139 Bei Reetz 1993, S. 78: „mäßig lang“. 140 Wahrscheinlich Fehler bei Porter im Original, wie auch bei Scharmann 1993, S. 69: „2 x 10 -2 “ Hier korrigiert von -2 auf -3 . 141 Scharmann 1993, S. 69: „2 x 10 -1 “ <?page no="158"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 158 H) Die Qualität der Pflege und Haltung 142 („Quality of animal care“) 1. Ausgezeichnet („Excellent“) 2. Sehr gut („Very good“) 3. Gut („Good“) 4. Mittelmäßig („Average“) 143 5. Schlecht („Poor“) 4.2.2 Bewertung der „Forschungs-Kriterien“ 4.2.2.1 Die Zielsetzung des Experiments In der Kategorie A „aim of experiment“ stellt Porter die moralische Vertretbarkeit des Zufügens von Schaden infrage, es sei denn das Ziel eines Experiments ist es, ausdrücklich eine Reduktion von Schmerzen oder Leiden zu erzielen. Das Ideal zu befolgen führt davon weg, für das Streben nach Profit Schmerz zuzufügen (zum Beispiel um die Tier-Produktion zu steigern) oder um der Befriedigung der Wissbegierde willens oder um lediglich geringere Unannehmlichkeiten für Menschen zu reduzieren, führt Porter aus. Der Bedarf nach lediglich von Erkenntnisgewinn motivierter Forschung (‘curiosity driven’ research) oder Grundlagenforschung, die nicht unmittelbar auf medizinische oder gesundheitliche Probleme abzielt, wird von Porter durchaus anerkannt. Solche Forschung habe oft zu unerwarteten wertvollen Entdeckungen geführt. Da aber eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass dies eben nicht der Fall sein wird - so Porter - sei es schwierig, das Zufügen von Leiden im Falle solcher Vorhaben zu quantifizieren. Die Gewichtung solcher Versuchsvorhaben erfordere deshalb Experimente, die geringe Kosten in den verbleibenden Kategorien verursachen, um beim Ideal zu bleiben (Porter 1992, S. 102). 142 Teutsch 1993, S. 64, ebenso Fulda 1993, S. 94 sowie Scharmann 1993, S. 70. 143 Anmerkung: Porter hatte die Punkte 3 und 4 im Original versehentlich vertauscht. <?page no="159"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 159 4.2.2.2 Das Potential das Forschungsziel zu erreichen In der Kategorie B „Realistisches Potential das (Forschungs-) Ziel zu erreichen“ („Realistic potential to achieve objective“) wird die Qualität des Forschungsvorhabens bewertet. Hierfür benötige man eine Einschätzung der Chancen das gesetzte Ziel zu erreichen. Dies bedeutet abzuschätzen, wie weit das Vorhaben von seinem endgültigen Ziel entfernt sei. Es wäre zum einen erforderlich, dass das Experiment gut geplant und statistisch stichhaltig sei, sowie zum anderen die Notwendigkeit des Experiments realistisch zu beurteilen (ebd.). 4.2.3 Bewertung der „Tierkategorien“ 4.2.3.1 Die Tierart In der Kategorie C „species of animal“ reicht die Skala von „relatively insensitive creatures“ (1 Punkt) bis hin zu „highly sensitive and intelligent mammals“ (5 Punkte). Porter sieht bei der Einstufung von Tieren als „niedere“ Tiere 144 die Schwierigkeit, eine moralische Unterscheidung zwischen verschiedenen Lebensformen treffen zu wollen. Er hält es für möglich, dass an dieser Stelle eine Kategorie ethischer Berücksichtigung („an ethicon? “, Fragezeichen im Original) benötigt werden könnte, wo einer Schnecke dann möglicherweise ein Punkt und einem Schimpansen eine Million Punkte zugeschrieben werden könnten. Zudem sollte die Skala nicht starr sein: „The scale could thus be modified, and should be revised as understanding is gained of the sentience of different living creatures” (Porter 1992, S. 101). 4.2.3.2 Die Bewertung des Kriteriums „Schmerz” Der Schmerz des Versuchstieres wird in Kategorie D „Pain likely to be involved“ behandelt. Obwohl ein verstärktes Interesse besteht, Schmerz bei Tieren zu beurteilen, sei eine sichere Beurteilung schwierig. 145 Porter fordert, im Zweifel für das Tier zu entscheiden: „Wherever there is doubt, the ideal should impel us to err in favour of the animal.“ (ebd.). Porter benennt Fragen, die sich der Wissenschaftler stellen sollte: Würde ein Experimentator eine Maßnahme, die er mit einem oder zwei Punkten eingestuft hat, auf sich selbst anwenden? Werden Routine-Operationen, die in vielen Laboratorien häufig angewendet werden, [zumindest] in der „low-pain category“ eingestuft, und werden diese mit schmerzlindernden Mitteln durchgeführt? Zudem stellt Porter die Frage, ob der Experimentator in der geplan- 144 Porter benennt beispielsweise Mollusken. 145 Porter verweist auf den working party report der Laboratory Animal Society Association (LASA), der einen Schweregradindex zur Verfügung stellt, welcher herangezogen werden kann, um Maßnahmen der Kategorie D zu beurteilen. <?page no="160"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 160 ten Methode geübt ist, so dass versehentliches Zufügen von Leid vermieden wird. Er weist ferner darauf hin, dass die Einstufung in Kategorie D die Verwendung von Analgetika mit in Betracht ziehen sollte und zwar in Verbindung mit dem aktuellen Kenntnisstand über deren Effektivität. Außerdem sollten Faktoren wie post-operativer Schmerz sowie die Fertigkeit des Experimentators in den vorgesehenen Eingriffen abgeschätzt werden. 4.2.3.3 Die Dauer von Unbehagen oder Stress Die Kategorie E „Duration of discomfort or distress“ bezieht sich auf Faktoren, die Stress, Unbehagen oder Angst beinhalten können. Folgende Fragen werden gestellt: In welchem Ausmaß werden die Tiere eingeschränkt, von sozialem Kontakt zu Artgenossen isoliert, oder in eine unfamiliäre, beängstigende Umgebung platziert oder thermalem Stress ausgesetzt etc.? Wie werden die normalen Verhaltensmuster von Nahrungsaufnahme, Schlaf und Exkretion beeinträchtigt? 4.2.3.4 Die Dauer des Experiments Die in Kategorie F behandelte „Duration of experiment“ setzt die Länge des eigentlichen Versuches zur gewöhnlichen Lebensdauer („livespan“) des Versuchstieres ins Verhältnis. Ein monatelang andauerndes Experiment an einer Ratte würde eine viel größere Belastung darstellen, als dies bei einem Hund oder einem Schaf aufgrund deren längerer Lebensspanne der Fall wäre. Deshalb müsse die Lebensspanne des Tieres in ein Verhältnis zu der gesamten Auswirkung eines Experiments gesetzt werden. Kategorie F setzt voraus, dass Tiere Zeit in Relation zu ihrer natürlichen Lebensspanne wahrnehmen (‘perceive’), eine Hypothese, für die wir - so Porter - keine Belege haben. Er stellt diese Annahme jedoch nach dem „‘benefit of doubt’ principle“ 146 an. 4.2.3.5 Die Anzahl der Versuchstiere Es sei umstritten, ob der Tod an sich ein Übel darstellt, betont Porter. Hundert Tiere in einem Experiment zu töten stelle jedoch eine größere Abweichung vom Ideal dar, als fünf Tiere zu töten. Es sei nicht immer einfach, die Kategorie G „Number of animals“ angemessen einzustufen, da die Verwendung von vielen Tieren für eine kürzere Zeitspanne (Kategorie F) niedrigere Scores erzeugen könne, als weniger Tiere länger zu verwenden. Dies sein ein Dilemma, das kein Punktesystem auflösen könne, da es keine 146 Benefit-of-the-doubt principle [insur.]: Das Günstigkeitsprinzip. Benefit of the doubt [law]: Günstige Auslegung zweifelhafter Umstände. Wiss.: In dubio pro reo. (Quelle: www.Leo.org). <?page no="161"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 161 „ethisch akzeptable Anzahl“ gebe. Porter fordert, dass Experimente statistisch konzipiert werden sollten, so dass weder exzessive Tier-Zahlen auftreten noch unnötige Wiederholungen von Experimenten durchgeführt werden. 4.2.3.6 Die Qualität der Tierpflege Der Gütegrad der Pflege, die ein Tier erfährt, sollte im Kapitel H „Quality of animal care“ bewertet werden. In einer Fußnote bemerkt Porter, dass diese Kategorie alle Aspekte der Umgebung des Versuchstiers evaluiert, während dieses nicht im Experiment steht. Sie enthält beispielsweise die Qualität der Umgebung und deren Geeignetheit für die spezifische Tierart, die Käfighaltung, die Fertigkeiten der Pfleger, die Qualität der post-operativen Pflege, die Beleuchtungsbedingungen sowie die Ventilation. 4.2.4 Die Gesamtbewertung Abschließend soll eine Gesamtbewertung durchgeführt werden. Ein Maximum von 40 Punkten kann erreicht werden (8 Kategorien mal 5 Punkte). Dies wäre zugleich der schlechteste zu erzielende Wert. 147 Der minimale unvermeidbare Punktestand von 8 Punkten (8 x 1 Punkt) spiegelt für Porter die Spannung zwischen dem Ideal und der Praxis wieder, und ermahnt, dass jedes Experiment mit einem empfindungsfähigen Tier eine Abweichung vom Ideal darstelle. Porter fordert, die Begrenzungspunktzahl („cut-off score“) sollte so niedrig wie möglich sein. Da die 6 tierbezogenen Kategorien (C-H) im schlechtesten Falle bis zu 30 Punkte zählen (6 x 5 Punkte), sollte ihr Beitrag nicht größer (und damit schlechter) als die Hälfte davon sein, nämlich 15 Punkte. Die Kategorien A (Zielsetzung des Experiments) und B (Realistisches Potential das Ziel zu erreichen) sollten zusammen nicht mehr als 7 Punkte beitragen. Insgesamt sollte „a working cut-off of about 21“ Punkten erfolgen 148 . Unter dem Gebot des Ideals sollte der cut-off score im Laufe der Zeit abwärts angepasst werden. Zusätzliche Kategorien könnten erstellt werden, z.B. für gefährdete Spezies (Porter 1992, S. 102). 147 Wie bereits erwähnt, geben die bei der Unterteilung der Befragungsbereiche verwendeten Zahlen zugleich die dafür vorgesehene Punktezahl an. Alle Kriterien haben Punkte von 1 bis 5 (in ganzen Zahlen), wobei eine niedrige Punktzahl ein besseres Ergebnis repräsentiert als eine hohe Punktzahl. 148 Anm.: Wie das gemeint sein soll ist nicht klar geworden, denn 15 + 7 = 22. Dies wird im Folgenden nochmals thematisiert werden. Sofern Experimente in vitro ohne vorherige Prozeduren am Tier in vivo ausgeführt werden, werden nur die Kategorien A, B, C, G und H bewertet und Porter schlägt vor, dafür könnte dann ein cut-off-point von rund 16 Punkten verwendet werden. <?page no="162"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 162 Das vorgeschlagene System würde wohl einige Experimente ausschließen, die unter der aktuellen Rechtslage rechtens sein könnten, daher könnte ein begrenzter Wissensverlust die Folge sein, gibt Porter zu bedenken. Obgleich es jedoch wichtig sei, die Suche nach neuem Wissen nicht zu unterdrücken, meint Porter, sollten ethische Standards - durch die Entwicklung neuer Wege des Wissenserwerbs mit weniger Tierleid - verbessert werden. Ein etwaiger Rückschritt aufgrund ethischer Hemmnisse wäre wohl vorübergehend. Porter meint, die Wissenschaftler seien erfindungsreich und könnten ihre Aktivitäten hin zu Experimenten mit geringeren Punktzahlen umlenken, zum Gebrauch von anderen experimentellen Ansätzen oder gar hin zur Untersuchung von unerforschten Problemen, die dafür überhaupt keine invasiven Experimente mehr erfordern. 4.2.5 Diskussion 4.2.5.1 Die ethische Position von Porter Kritik am Dogma der Vorrangstellung des Menschen, Rückgriff auf ein an Albert Schweitzers Ethik angelehntes Ideal Ich sehe in Porters Position eine Kontrastierung zu derjenigen von Klaus Gärtner. Motiviert von der Kritik an dem unausgesprochenen „dogma that ‘humans come first’“ (Porter 1992, S. 101), das die Versuchstiere „primarily as tool for research“ ansieht, will Porter eine Lösung in Form eines Kriterienkataloges anbieten. Als Voraussetzung für sein „ethical-tool“ bezieht er sich auf „an ideal of the animal rights movement, which might better be referred to the ‘Schweitzerian’ ideal, as it is close to that advanced by Albert Schweitzer” (ebd.). Dieses Ideal gebiete, wann immer möglich, die Schädigung von empfindungsfähigen Tieren zu vermeiden. Forderung nach einem Wechsel der Philosophie wissenschaftlichen Forschens und nach einer akzeptablen Qualität und Notwendigkeit von Experimenten Porter wünscht einen Wechsel der Philosophie wissenschaftlichen Forschens, und er fordert eine Qualität und Notwendigkeit des Experiments, welche die Belastungen, die den Tieren aufgebürdet werden, auch rechtfertigen: „The toolkit’s novelty is that it advocates a change in philosophy and then challenges the investigator to ensure that the proposed experiments are of a quality and exigency sufficient to justify the total demand that will be made of the animal.“ (ebd.). <?page no="163"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 163 „A similar holistic approach“ 149 , der jedoch ein Bepunktungssystem vermissen ließ, sei erst vor kurzem für Tierversuchs-Review-Kommitees empfohlen worden, bemerkt Porter. Aus dieser Formulierung könnte man vermuten, Porter sieht sein System als „holistic approach“. Prorter nimmt Bezug auf das „Schweitzerian ideal“, wobei er jedoch die Vermeidung der Schadenszufügung an empfindungsfähigen Tieren, wann immer dies möglich sei, im Zentrum seiner Überlegungen hat (ebd.). Dies spricht dafür, dass Porter eine pathozentrische Sichtweise vertritt. Für Porter stellt jedes Experiment eine Abweichung vom Ideal dar: „The premise of my scoring system is that every experiment on a sentient animal represents a departure, however small, from the Schweitzerian ideal.” (ebd.). Ziel des wissenschaftlichen Forschens solle sein, so wenig wie möglich vom Ideal abzuweichen. Zudem solle das Ideal „generate constant pressure to avoid experiments on animals wherever possible, to seek alternatives and to reduce the cut-off for unacceptable experiments.” (ebd.). Porter stellt dem Experimentator also nicht nur generell die Verwendung von Versuchstieren in Rechnung, er fordert darüber hinaus die Verwendung von Alternativen zu Tierexperimenten und unterstützt dies dadurch, dass sein System einen konstanten Druck erzeugen solle, in diese Richtung zu wirken. Porter, der die Entwicklung des „Centre for Animal Welfare of the Ontario Veterinary College“ förderte (s. Anhang IV), hat seinen Aufsatz Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts in NATU- RE veröffentlicht. Für einen Wissenschaftler ist es sicherlich ein gewisses Risiko in Bezug auf das Ansehen innerhalb seiner Wissenschaftscommunity, in einem der angesehensten und von Vertretern der meisten Fachdisziplinen gelesenen Journal für einen Wechsel der Philosophie wissenschaftlichen Forschens zu plädieren. 4.2.5.2 Generelle Kritik: „Ein wertvoller Denkanstoss“ Die umfangreichste Diskussion erlebte der Vorschlag von Porter 1992, der wohl als Erster ein Punktesystem zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit vorstellte. Zum einen gab es hierbei ein von vielen Autoren ausgesprochenes Lob, wie beispielsweise von Ekkehard Fulda: Es werde ein „nachahmenswertes Beispiel dafür gegeben, dass man eben alle relevanten Aspekte auch bewusst und explizit in die Abwägung der ethischen Vertretbarkeit einzubeziehen hat. [...] Porter führt uns deutlich vor Augen, dass man eben, um zu einer eindeutigen Entscheidung zu kommen, auch wirklich, d.h. aktuell und explizit eine Grenze angeben muss.“ (Fulda 1993, S. 80). 149 Prentice et al. (1990). <?page no="164"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 164 Zum anderen wurde auch mannigfaltig konstruktive Kritik geäußert. Diese betraf Gesichtspunkte, die durch Modifikation schnell zu beheben sein sollten, aber auch Gesichtspunkte, die in Porters System nach Ansicht der Autoren noch fehlten. Auf wesentliche dieser Kritikpunkte werde ich in den folgenden beiden Kapiteln eingehen. Weitere Kritik wurde an der Verwendung ganz bestimmter Kategorien geäußert, die nach Ansicht einiger Autoren kein Teil der Güterabwägung zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit des Tierversuchsvorhabens sein sollen. Dazu gehört beispielsweise die Frage danach, ob die Haltungsbedingungen Gegenstand der Güterabwägung sein sollen. Porters Vorschlag hat zunächst viel positive Kritik erfahren: Sein Vorschlag wird - durch die Präsentation einer praktikable Methode, ethisch vertretbare gegen unzulässige Versuche abzugrenzen - als Beitrag zur Versachlichung der Diskussion gewertet (Teutsch 1993, S. 63). Dabei hält Teutsch es für besonders bemerkenswert, dass dieser „von einem wachen ethischen Bewusstsein inspirierte Vorschlag“ von einem Vertreter der biomedizinischen Forschung stamme, da dadurch die „verbreitete Skepsis gegen fachfremde Geisteswissenschaftler“ nicht greifen könne. Porters Bezugnahme auf Albert Schweitzers Konzept der Ehrfurcht vor dem Leben komme der Ethik des deutschen Tierschutzgesetzes - der Verantwortung für das Tier als Mitgeschöpf gerecht zu werden - sehr nahe (ebd., S. 64). E. Fulda lobt, alle relevanten Aspekte würden erfasst, bewertet und in die Abwägung einbezogen, wobei die zu berücksichtigenden Merkmalsdimensionen in ihren jeweiligen Ausprägungen abgestuft sind und in die Bewertung je nach Ausprägungsstufe mit unterschiedlichem Gewicht eingehen. Die Umkehr der Beweislast, dass sich nämlich der Forscher rechtfertigen muss, sei in ethischer Perspektive grundsätzlich zu begrüßen (Fulda 1993, S. 80f.). „[... Porter] formuliert, worin die Abwägungsaufgabe besteht. Porter hat m.E. vor allem erkannt, daß es mit der normativen Zielvorgabe (Tierschonung) allein nicht getan ist, sondern daß diese erst auf die pragmatischen Bedingungen der Forschungssituation hin zu konkretisieren ist.“ (Fulda 1993, S. 82). Als negative Kritikpunkte werden Bedenken gegen eine Bewertung mit Punkten und eine Festlegung einer Zulässigkeitsgrenze geäußert (Teutsch 1993, S. 64). Es bestünde die Gefahr dass der diffizile Vorgang des Wägens „zum bloßen Punktezählen verkommt“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). Ein Punktesystem berge obendrein die Gefahr der Versuchung die Angaben auf- oder abzurunden um zur ethischen Vertretbarkeit und damit zur Genehmigungsfähigkeit zu gelangen. So schlägt Teutsch zunächst eine Verwendung des Katalogs ohne „Punktezählen“ vor (Teutsch 1993, S. 64). <?page no="165"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 165 4.2.5.3 Kritik des methodischen Vorgehens bei Porter Gewichtung: Alle Kriterien gleich gewichtet Bei Porter sind alle Kriterien gleich gewichtet, was auf Seiten tierischen Leids bedeutet, dass heterogene Faktoren, wie das Leid der Tiere, die Zahl der Tiere und die Qualität der Haltungsbedingungen in diesem Katalog gleichwertig sind. Keine eigentliche Abwägung der Kategorien Porters Kriterienkatalog gliedert sich in acht Kategorien. Sowohl Nutzen als auch Leiden müssen nach diesem Modell in einem bestimmten Rahmen liegen, um als legitim erachtet zu werden. Eine Abwägung zwischen diesen beiden Faktoren („Scoring the science“: Kategorie A+B versus den Tierkategorien D bis H) erfolgt nicht. Damit liegt keine eigentliche Güterabwägung vor, sondern lediglich ein Abstecken eines legitimen Feldes. Fulda kritisiert gleichsinniges Aufsummieren anstelle von gegenseitigem Aufrechnen: Dies scheint „insofern der Intuition zu widersprechen, als in ihm beide Seiten der Abwägung in ein und derselben Richtung aufsummiert werden - obwohl sie doch eigentlich gegeneinander zu stellen wären.“ (Fulda 1993, S. 87). Es laufe „der Intuition zuwider, Güter, die gegeneinander abzuwägen sind, in ein und derselben Richtung abzutragen und aufzusummieren.“ (ebd., S. 88). An einem Beispiel sollen die Bedingungen erläutert werden (in Klammern die jeweilige Punktzahl): „Scoring the science“: A Aim of experiment: Clear benefit to human 3+2 = 5 Punkte or non-human health or welfare (3) <= 7 B Realistic potential of experiment 7 Punkte to achieve objective: Very good (2) maximal zulässig „Tierbezogene Kategorien“: 5 + 14 = 19 C Species of animal: Some sensibility (2) cut-off: 22 D Pain likely to be involved: Moderate (3) Summe = 14 Punkte E Duration of discomfort or distress: Short (2) <= 15 F Duration of experiment: Short (2) 15 Punkte G Number of animals: 5-10 (2) maximal zulässig H Quality of animal care: Average (3) <?page no="166"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 166 Die Summen der Punktzahlen für das Experiment (A und B, im Beispiel 5 Punkte) und die Summe der „Tierkategorien“ (C-H, im Beispiel 14 Punkte) ergibt 19 Punkte und liegt damit unter dem cut-off-Wert von 22 (Anm.: Wie von weiteren Autoren bemerkt wird, liegt der rechnerische cut-off Wert bei 22 und nicht bei 21 Punkten; möglicherweise handelt es sich bei Porter, der im Original von 21 Punkten spricht, um ein Versehen). Somit wäre nach Porter dieses Experiment ethisch vertretbar. Willkürliche Grenzziehung Die „willkürliche und unbegründete Grenzziehung“ durch das Ziehen der Grenze in der Mitte dessen, was an Punkten maximal anfallen kann, ist für Fulda „ethisch unbefriedigend“. „Porters Festlegung der Abwägungssgrenze (7 + 15 =22 ‘Minus’-Punkte; weshalb Porter von 21 Punkten spricht, bleibt unklar) erfolgt offensichtlich völlig willkürlich“ (Fulda 1993, S. 80, Hervorhebungen im Original). 150 Zudem bemängelt Fulda: „Auch, daß an die beiden Merkmalsgruppen [„scoring the science“ und „tierbezogene Kategorien“] in der Aufsummierung unterschiedliche Maßstäbe - in Form von Punktzahl-Obergrenzen - angelegt werden, bleibt ohne jede Begründung.“ In der Tat wären in den Kategorien A und B zusammen im „worst-case“ 5+5 = 10 Punkte als schlechtester zu erzielender Wert möglich. Porter definiert jedoch den schlechtesten noch zulässigen Wert bei 7 Punkten, also einem schlechteren Punktwert, als die Hälfte des theoretisch schlechtesten Ergebnisses. Daraus ist zu schliessen, dass Porter in den beiden „Scoring the science“-Kategorien weniger streng ist, also schlechtere Ergebnisse toleriert, als in den „Tierkategorien“: In den Kategorien C-H wäre die theoretisch schlechteste Punktzahl (6 Kategorien x 5 Punkte) = 30 Punkte. Hier liegt der von Porter definierte zulässige Maximalwert exakt bei der Hälfte, nämlich 15 Punkten. Von Seiten der Versuchstiere aus betrachtet ist es natürlich zu begrüßen, eine geringe noch vertretbare zulässige Maximalpunktzahl (‘Minus’-Punktezahl, um mit Fulda zu sprechen) zu haben. Die Nutzenseite Der Nutzen wird zu gleichen Teilen aus der Bedeutung des Versuchs für den Menschen und der Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung des Experiments berechnet. Auf der Nutzenseite dürfen in den Kategorien A und B nicht mehr als 7 von 10 möglichen Punkten erzielt werden (im schlechtesten Falle) - das ist wie bereits oben erwähnt mehr als die Hälfte der max. Punktzahl -, womit rechnerisch durchschnittlich 3,5 Punkte für jede Kategorie bleiben. 150 Fulda ist jedoch der Ansicht, wenn Porter dafür plädieren sollte, „die Grenzziehung zunächst nur pragmatisch aufzufassen, so ist dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden.“ (Fulda 1993, S. 81). <?page no="167"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 167 (Anm.: uch hier gilt wieder: Je höher die Punktzahl, desto schlechter ist das Ergebnis). Damit ergibt sich durchschnittlich betrachtet als Mindestanforderung für jedes Experiment ein leicht unterdurchschnittlicher 151 Nutzen für den Menschen. Die Schadensseite Die Einschätzung tierischen Leidens erfolgt anhand von sechs Kategorien, die ebenfalls alle gleich gewichtet sind. Somit hat jede der sechs Kategorien einen Anteil von 16,67% (100% / 6 = 16,67%) an der Berechnung des Leidens. In diesen Kategorien sind insgesamt 30 Punkte möglich (6 x 5 Punkte), aber nach Porters Setzung sind nur Experimente vertretbar, die 15 Punkte oder weniger erzielen - dies ist die Hälfte der max. Punktzahl. Damit ließen sich durchschnittlich 2,5 (= 15 / 6 Kategorien) Punkte auf jede Kategorie verteilen, was in den meisten Fällen ein etwa durchschnittliches Leiden für das Versuchstier bedeuten würde. Problematisch erscheint hier vor allem, dass das Ausmaß erlaubten tierischen Leidens sich nicht durch den erwarteten Nutzen zu legitimieren braucht, sondern absolut und für jedes Experiment gleich ist - d.h. ein größerer Nutzen legitimiert kein größeres Leiden und größeres Leiden erfordert keinen größeren Nutzen -, solange man nur auf beiden Seiten innerhalb der legitimen Punktzahlen bleibt. Ein hypothetisches Versuchsvorhaben De Cock Buning und Theune sehen eine weitere Konsequenz: „Even when the rationale is inadequate, the project might still be approved when the other scores do not exceed 22 (or 23 with the additional question).” (de Cock Buning und Theune 1994, S 113). Diese Aussage ist jedoch nicht ganz zutreffend, denn die „Begründung“ („the rationale“, de Cock Buning und Theune meinen damit sicherlich die Nutzensseite mit den Kategorien A+B) ist ja - sofern sie das Maximum von 7 Punkten nicht übersteigt - für Porter noch legitim (s. auch das nachfolgende Beispiel), obgleich man sicherlich der Ansicht sein kann, dass dies bereits eine „inadequate“ Begründung eines Tierexperiments ist. Es sind m.E. vor allem die bislang kritisierten Umstände, die nach Porters Katalog folgenden hypothetischen Versuch vertretbar erscheinen lassen, in Klammern die jeweilige Punktzahl: 151 3 Punkte bedeuten in Porters Kategorie B „durchschnittlich“, 4 Punkte „begrenzt“. Somit liegt der rechnerisch ermittelte Durchschnittswert von 3,5 Punkten zwischen diesen beiden Bewertungen. <?page no="168"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 168 A Aim of experiment: Some benefit to human or non-human health or welfare (4) B Realistic potential of experiment 3+4 = 7 Punkte, to achieve objective: Average (3) dies ist gerade noch zulässig 7 + 15= 22 C Species of animal: Some sensibility (2) D Pain likely to be involved: Severe (5) E Duration of discomfort or distress: Very Long (5) Summe = F Duration of experiment: Extremly Short (1) 15 Punkte G Number of animals: 1-5 (1) dies ist gerade H Quality of animal care: Excellent (1) noch zulässig Somit könnte man bis zu fünf Tintenfischen (Cephalopoden) in einem recht kurzen Experiment extremste Schmerzen zufügen, solange man sie artgerecht hält. Voraussetzung für eine Genehmigungsfähigkeit wäre lediglich ein gewisser Nutzen und ein durchschnittliches Potential, das gesetzte Versuchsziel durch das Experiment zu erreichen. Ein weiteres Gedankenexperiment: A Aim of experiment: Some benefit to human or non-human health or welfare (4) 3+4 = 7 Punkte B Realistic potential of experiment to achieve objective: Average (3) C Species of animal: sentient, highly intelligent 7+ 15= 22 and precognitive (5) D Pain likely to be involved: Considerable (4) E Duration of discomfort or distress: Short (2) Summe = F Duration of experiment: Short (2) 15 Punkte G Number of animals: 1-5 (1) H Quality of animal care: Excellent (1) Die Gesamtpunktzahl beträgt 22 Punkte, somit könnten 1-5 Schimpansen, die exzellent gehalten werden, kurzfristig beträchtliche Schmerzen zugefügt werden. <?page no="169"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 169 Fehlende Ermutigung in vitro-Methoden zu verwenden De Cock Buning und Theune (1994, S. 113) bemängeln das Fehlen einiger Aspekte. Ihrer Ansicht nach ermutigen die Fragen den Forscher nicht, zu rechtfertigen, warum in vitro Methoden nicht möglich wären. Sie schlagen ergänzend folgende Frage vor: „Überzeugende Gründe für die Verwendung von Tieren: Ja = 1, Zweifel = 3, nein = 5 [Punkte].“ 4.2.5.4 Kritik der einzelnen Kategorien Tab. 2: Auflistung von Kritikpunkten an den Kategorien von Porter Ich verwende als Abkürzung für de Cock Buning und Theune das Kürzel: dCB&T Kategorie bei Porter Kritiker Kategorie A: „Versuchsziel“ Verwendung eines ungeeigneten Skalenniveaus: Die einzelnen Merkmalsdimensionen gehen „rein additiv und mit jeweils gleichem Gewicht ein (Gewichtungsfaktor 1)“. Hierbei sind die einzelnen - einheitlich jeweils fünf - Merkmalsausprägungen in ganzen Einerschritten abgestuft. Fulda erklärt, damit sei für die einbezogenen Merkmalsdimensionen ein kardinales - hier seines Erachtens ungeeignetes - Skalenniveau vorausgesetzt. 152 152 Fulda verweist auf Mayntz et al. Kap. 2, insbes. 38-50 und erläutert, bei einer kardinalen Skalierung werde einer bestimmten Stufe nicht nur eine Rangziffer zugeordnet, sondern ein Abstand einer bestimmten Maßzahl bedeute zugleich einen entsprechend großen Abstand des ethisch relevanten Wertes, den der erwartbare Erkenntnisgewinn aus dem Tierexperiment darstellen soll. Fulda: „Ein bestimmtes Merkmal geht in seiner ersten (sozusagen mildesten) Ausprägung mit dem Gewicht 1, und in seiner z.B. vierten Ausprägung mit dem Gewicht 4 in die Aufsummierung der Indexpunkte ein.“ Von den einbezogenen Merkmalen sei damit vorausgesetzt, „daß ihre Ausprägung x-ter Stufe auch tatsächlich ‘x-mal so gravierend’ wie die erste Stufe einzuschätzen ist (umgekehrt ausgedrückt: die erste Stufe ist x-mal so tolerabel wie die x-te Stufe dieses Merkmals).“ (Fulda 1993, S. 85). Seiner Ansicht nach ist „die Dimension ‘Ziel oder Zweck’ höchstens ordinal skalierbar“. [Anm.: Bei einer Ordinalskala - oder auch Rangskala - bestehen Wertunterschiede zwischen den einzelnen Merkmalen, es wird jede Merkmalsausprägung genau einer Kategorie zugeordnet. Diese Kategorien lassen sich in eine Rangfolge bringen und mit Zahlen oder Namen bezeichnet: Z.B. „gut/ mittel/ schlecht“; od. Platzierung nach einem Wettkampf: „Erster, Zweiter, ... Letzter.“ Die Objekte sind somit größer oder kleiner, besser oder schlechter, wobei aber keine Abstände zwischen den einzelnen Objekten definiert sind. Daher müssen die Abstände zwischen den einzelnen Kategorien nicht unbedingt gleich sein - im Gegensatz zu einer „kardinalen“ Skalierung, die in Zahlen gemessen wird]. Damit zeige sich für Fulda, dass zentrale Merkmalsdimensionen, insbesondere die Forschungsziele (A) sowie die Tierart (C), „nicht sinnvoll auf kardi- <?page no="170"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 170 Linderung von Schmerzen und Leiden als höchstes Ziel der Forschung? Dass das höchste Ziel der medizinischen Forschung die Schmerzlinderung sei, erscheint unverständlich 153 und wird leider von Porter nicht weiter begründet. Die Frage der Häufigkeit einer Erkrankung ist nicht berücksichtigt. 154 (Mand 1995a, S. 232) Kategorie A wäre sicherlich zu ergänzen um das Kriterium der „Lebensverlängerung“. 155 (Fulda 1993, S. 89) Kategorie B: Potential des Experiments, damit das Versuchsziel zu erreichen 156 Problem der Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen den Stufen. (Fulda 1993, S. 90) Vorschlag der multiplikativen Verknüpfung von Kriterien der Wichtigkeit des Versuchsziels (A) mit der Qualität der Forschung (B): Verminderung der Maßzahlen aus Kat. A durch einen Faktor zwischen 0 und 1 aus Kategorie B. 157 (Fulda 1993, S. 91) nalem Skalenniveau abgestuft werden können, weshalb ihre additive (subtraktive) Verrechnung mit den übrigen Merkmalen fragwürdig wird.“ (Fulda 1993, S. 80, Hervorhebungen im Original). 153 Denkt man z.B. an einen schwerkranken Krebspatienten, dann ist es für diesen Menschen wohl ungleich wichtiger, vom Krebs geheilt zu werden, als bloß die durch die Erkrankung verursachten Schmerzen, also dessen Symptome, zu lindern. 154 Mand setzt ihren Schwerpunkt Häufigkeit einer Erkrankung, dadurch soll nicht ermöglicht werden wie dies bei Porter möglich sei dass Versuche, die zur Linderung einer zwar mit großen Schmerzen verbundenen aber sehr seltenen, kaum auftretenden Krankheit beitragen, eine höhere Bewertung erhalten, als sehr häufig auftretende aber etwas weniger leidvolle Krankheiten (vgl. Mand 1995, S. 232). Dies ist im Hinblick auf Gerechtigkeitsaspekte jedoch problematisch, denn ein Patient, der an einer seltenen Erkrankung leidet wird nach dieser Denkart gegenüber einem Patienten mit einer häufigeren Erkrankung benachteiligt. 155 Fulda erläutert: „Eine Verlängerung der weiteren Lebenserwartung angesichts schwerer Krankheit oder eines schweren Unfalls hat in der humanmedizinischen Ethik grundsätzliche Priorität, auch dann, wenn sie mit schweren und langdauernden Schmerzen für die betroffenen Patienten verbunden sind.“ (Fulda 1993, S. 90). 156 Anders Fulda 1993, S. 90: „Realistische Einschätzung der Möglichkeit das Versuchsziel zu erreichen“. 157 Fulda schlägt vor - unter der Annahme, den einzelnen Ausprägungen der Kategorie A wären bestimmte Wertmaßzahlen zuzuordnen, welche dann „u. a. gegen einen geeigneten Index der Beeinträchtigungen der Versuchstiere abgewogen werden könnten“ - „so wären diese Maßzahlen zu vermindern, wenn das Ziel des Experiments bzw. seine Anwendung nur mit geringer Wahrscheinlichkeit zu erreichen ist, bzw., wenn nicht einmal über die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung eine Aussage gemacht werden kann (Ausprägung 5).“ Fulda ist der Ansicht, „die Art der rechnerischen Verknüpfung wäre intuitiv eher multiplikatliv mit einem Faktor <?page no="171"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 171 Die Kategorie bedarf der genaueren Beschreibung, möglicherweise aufgegliedert in verschiedene Faktoren, wobei die Abstufungen der Werteskala überdacht werden sollten. (Reetz 1993, S. 76) Kategorien A und B sind zur Einschätzung des Versuchszecks nicht ausreichend: Es fehlen Überlegungen zur Unerlässlichkeit. 158 (Reetz 1993, S. 76) Wo ist die Grenze der Genehmigungsfähigkeit zu ziehen? Es sollten Grenzen definiert werden, die unabhängig von den übrigen Kriterien einzuhalten wären. 159 (Reetz 1993, S. 77) Die Frage der Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse ist nicht berücksichtigt. (Mand 1995, S. 232) Kategorie C: „Tierart“ Verwendung eines ungeeigneten Skalenniveaus: Die Abstufung der Tierarten könne höchstens auf Ordinalskalenniveau erfolgen. (Vgl. die Kritik bei Kategorie A). (Fulda 1993, S. 93) Modifikation durch das Kriterium der „Leidensfähigkeit“: Von einer eher pathozentrisch orientierten Tierschutzethik her gesehen wäre die Kategorie entsprechend der Leidensfähigkeit zu modifizieren. 160 (Fulda 1993, S. 93) Die Wahl der Tierart muss sich nach dem Versuchsziel richten: Sie sei ein Kriterium der Validität eines Versuchsplanes und müsse v o r der ethischen Abwägung überprüft werden. (Näheres dazu später in den Anmerkungen). (Reetz 1993, S. 74) Doppelte Gewichtung der Tierart, da die Einstufung der Belastung in D das Kriterium der Tierart enthält, wo sich die Einstufung der Belastung nämlich auf artspezifische psycho- (dCB&T 1994, S. 113) zwischen 1 und 0 vorzunehmen (der nicht mit dem geschätzten Wahrscheinlichkeitswert identisch zu sein braucht) als wie bei Porter in additiver Form.“ (Fulda 1993, S. 91). 158 Reetz gibt zu bedenken, „[...] es fehlen hier zumindest Überlegungen zur Unerlässlichkeit eines Vorhabens; d. h. wie zwingend es ist, ein Versuchsvorhaben durchzuführen sowohl bezüglich der Fragestellung (Stichwort wissenschaftlicher Kenntnisstand) als auch hinsichtlich des Durchführungszeitpunktes. Es wäre ja denkbar, daß ein Tierversuch zu einem späteren Zeitpunkt ohne Informationsverlust durch alternative Methoden ersetzt werden könnte.“ (Reetz 1993, S. 76). 159 „Für einige Kriterien, wie Porters Kat. B könnte es sinnvoll sein, Grenzen zu vereinbaren, die unabhängig von den übrigen Kriterien einzuhalten wären und insofern die Genehmigungsfähigkeit eines Versuchsvorhabens limitieren würden.“ (Reetz 1993, S. 77). So wäre bei Porter ein Vorhaben, das in Kategorie B in Stufe 5 eingruppiert werden müsste noch genehmigungsfähig, sofern es in Kategorie A der Stufe 1 oder 2 zugeordnet würde (Reetz 1993, S. 76). 160 Fulda bemerkt, die Kategorie sei zudem nicht unbedingt mit bestimmten biozentrischen Wertvorstellungen vereinbar, „insbesondere nicht mit der von Albert Schweitzer betonten Verpflichtung auf Schutz und Schonung von allem Leben.“ (Fulda 1993, S. 93). <?page no="172"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 172 logische- und Verhaltensparameter (nach Morton und Griffith 1985) bezieht. 161 Hierarchie der Leidensfähigkeit ist zu kritisieren. (Näheres dazu später in den Anmerkungen). Kategorie D: „Grad der Belastung“ Grad der anzunehmenden Belastung bedarf einer Präzisierung. 162 (Teutsch 1993, S. 64) Kategorie E: „Dauer der Belastung“ Die Werteskala sollte überdacht, zumindest die einzelnen Abstufungen genau definiert werden. (Reetz 1993, S. 76) Es sollten weitere Gesichtspunkte bedacht werden, z.B. Wiederholung von Eingriffen: „Wie wirken sich gleichartige wiederholte Eingriffe oder Behandlungen aus? Tritt durch Gewöhnung eine Belastungsminderung ein oder ist angstbedingt gar der gegenteilige Effekt zu erwarten? “ (Reetz 1993, S. 76) Kategorie F: „Dauer des Experiments in Relation zur Lebensdauer“ Das gleiche empirische Geschehen wird u.U. doppelt in Rechnung gestellt, denn die Lebensqualität der Tiere hängt neben eventuell eintretenden Spätfolgen von der Qualität der Pflege und Haltung ab. Dieses Kriterium sei jedoch eigens als Kategorie H berücksichtigt worden. (Fulda 1993, S. 94) Dass Tiere Zeit in Relation zu ihrer Lebensspanne wahrnehmen wäre eine Annahme für die wir bislang keine Hinweise haben. Selbst wenn sie berechtigt sei, so bleibe die Frage offen, inwieweit dies die Tiere zusätzlich belasten würde und durch welche Kriterien diese Art Belastung beschrieben werden könnte. (Reetz 1993, S. 75) Gefahr der Bevorzugung von Tieren mit einer langen Lebensspanne, um damit die Gesamtpunktzahl zu reduzieren. 163 (dCB&T 1994, S. 113) 161 „The result is a duplication of the species aspect in two different questions which were supposed to be independent. In other words, the species aspect is weighed twice in the Porter model.” (De Cock Buning und Theune 1994, S. 113). Ähnlich gibt Reetz zu bedenken, „die Empfindungsfähigkeit einer Tierart [dürfte] den Grad der individuellen Belastung beeinflussen […].“ (Reetz 1993, S. 74). 162 Hier ist jedoch darauf zu verweisen, dass Porter auf einen britischen Belastungskatalog verwiesen hat, der zur Einschätzung des Grades der Belastung der Tiere verwendet werden könne. Je nach dem was für einen Belastungs-Katalog zur Belastungseinschätzung man verwendet, hat man damit auch mehr oder weniger differenzierte und detaillierte Kriterien zur Einstufung zur Verfügung. Das Endergebnis der Einstufung wird dann in den Ethik-Katalog übertragen, womit sich u.U. eine detaillierte Ausgestaltung dieser Frage dort erübrigt. <?page no="173"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 173 Negative Interaktion mit dem „species score“ der Frage C; Befürchtung der Verwendung empfindsamerer Tierarten im Kontrast zum „Replacement“-Prinzip. 164 (dCB&T 1994, S. 113) Porters Frage F ist nicht unabhängig von den Fragen C (Tierart) und D (Grad der Belastung). Der Anspruch eines „credit-point systems“ sei aber die Unabhängigkeit der Kategorien. (dCB&T 1994, S. 113) Kategorie G: „Anzahl der beim Experiment eingesetzten Tiere“ Überschneidung der Tierzahlen an den Eckwerten der einzelnen Stufen, dadurch fragliche Eingruppierung. 165 Der Tod des Versuchstieres ist bei Porter unberücksichtigt. 166 (Mand 1995, S. 232) Vorschlag eines „Index der kumulierten Beeinträchtigung“: Teilgruppen von Tieren die versch. Schadens-/ Belastungsgrade aufweisen werden mit unterschiedlichen relativen Gewichten verrechnet. (Näheres dazu später in den Anmerkungen). (Fulda 1993, S. 95) Die Anzahl der benötigten Versuchstiere wie auch die Tierart wären abhängig vom Versuchszweck; sie seien Kriterien für die Validität sind vorab kritisch zu prüfen. (Näheres dazu später in den Anmerkungen). (Reetz 1993, S. 74) Kategorie H: „Qualität der Pflege und Haltung“ Besondere Kategorie Pflege und Haltungsbedingungen: Gute Haltung als Kompensation? (Näheres dazu später in den Anmerkungen). 163 De Cock Buning und Theune verdeutlichen dies an einem Beispiel: Ein 8 Stunden andauerndes Experiment mit Mäusen (Lebensdauer ein Jahr) würde bei Porter mit 10-3 LS gewichtet somit als „mäßig“ eingestuft (3 Punkte). Das selbe Experiment mit Schimpansen (Lebensdauer 50 Jahre) würde mit 2 x 10 -5 LS bewertet, was als „sehr kurz“ (1 Punkt) betrachtet würde ( e Cock Buning und Theune 1994, S. 113) 164 De Cock Buning und Theune erklären, „there might be some rationale for the livespan idea“ (De Cock Buning und Theune 1994, S. 113) und führen aus: Kleine Tiere mit hoher Metabolismusrate leben gewöhnlicherweise kürzer und es würde häufig angenommen, dass sie „intensiver“ leben. Andererseits würden z.B. Schimpansen als empfindsamer eingeschätzt als Mäuse oder Frösche. 165 Mand hat später für jede Stufe die nächst höhere Tierzahl als Anfangswert einsetzt: Stufe 1: 1-5 Tiere. Stufe 2: 6-10 Tiere. Stufe 3: 11-20 Tiere usf. (vgl. Mand 1995, S. 231). 166 Mand hält es für wichtig, den eingeplanten Tod eines Tieres „sehr stark zu gewichten“ (Mand 1995, S. 232). So auch Maisack: „Tod als schwerster Schaden“ (vgl. Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 292 f). Fulda meint, es sei „freilich unbestritten, daß ein Experiment mit größerem Verbrauch an Tieren sich vom ‘Schweitzerischen Ideal’ der Tierschonung’ […] weiter entfernt als eines, in dem weniger Tiere den Tod finden.“ (Fulda 1993, S. 95). <?page no="174"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 174 Die Qualität von Tierpflege und -Haltung hat keinen Bezug zu einem konkreten Versuchsvorhaben, „und kann daher auch kein Kriterium in [sic! ] Rahmen der ethischen Abwägung […] sein.“ 167 (Näheres dazu später in den Anmerkungen). (Reetz 1993, S. 75) 4.2.5.5 Anmerkungen Verknüpfung vom Versuchsziel mit Kriterien der Qualität der Forschung Der Vorschlag der multiplikativen Verknüpfung von Kriterien der Qualität der Forschung mit dem Versuchsziel bei Fulda, wodurch eine Verminderung der Maßzahlen aus Kategorie A durch einen Faktor zwischen 0 und 1 aus Kategorie B erzielt wird, wird später bei Stafleu et al. (1999) realisiert werden. Der Vorschlag macht Sinn: Ein Experiment mit hoch stehendem Forschungsziel, aber einer ‘lausig’ geplanten Durchführung kann nicht so stark gewichtet werden, wie ein ausgezeichnet geplantes Experiment. Dazu kommt, dass ein schlecht geplantes Experiment ohnehin keine guten Chancen hat, überhaupt ein verwertbares Ergebnis zu liefern. Hierfür also Tiere zu ‘quälen’ und dann zu töten kann nicht ethisch vertretbar sein. So werden bei Stafleu et al. auch Mindestanforderungen für die Qualität des Experiments eingeführt, die erfüllt sein müssen, damit das Experiment überhaupt bewilligt werden kann. Der Gedanke eines „Ethicons“ Porters Vorschlag eines „Ethicons“ verdient besondere Hervorhebung: Ich verstehe den Gedanken eines „Ethicon“ bei Porter als eine Überlegung, Punkte zu vergeben alleine dafür, dass ein Tier im Versuch eingesetzt und letztlich dafür geopfert wird. Dies kann interpretiert werden als eine Gewichtung für den Eigenwert der Tiere. Porter stellt diesen Gedanken jedoch nur in den Raum und kann sich noch nicht entschließen, eine solche Kategorie tatsächlich einzufordern, indem er ihn in sein Bepunktungssystem als ebenfalls zu bewertendes Kriterium aufnehmen würde. Stafleu et al. verwirklichen dies jedoch 8 Jahre später. Mit einem festen Punktewert, den sie für den „Intrinsischen Wert“ des Versuchstieres vergeben, zeigen sie: Es werden Werte verletzt, was eigentlich nicht entschuldbar ist und was man in die Waagschale auf Seiten des Tieres mit eingeben muss. Den Ausführungen Porters nach, wobei ein Schimpanse wesentlich stärker gewichtet würde als beispielsweise ein Mollusk, deutet darauf hin, dass Porter diesen „Ethischen Punkt“ - das „Ethicon“ - an gewisse Merkmale binden würde, 167 Es sei denn es handle sich um „versuchsbedingte(n) Sonderformen der Tierhaltung“ (Reetz 1993, S. 75). <?page no="175"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 175 die womöglich wieder an der Empfindungsfähigkeit des Tieres oder an dem Kriterium des Personencharakters festgemacht werden. Er bemerkt sodann auch: „The scale could thus be modified, and should be revised as understanding is gained of the sentience of different living creatures.“ (Porter 1992, S. 101). Es ist also die Empfindungsfähigkeit des Tieres, die für ihn das maßgebliche Kriterium darstellt. Nicht so jedoch bei Stafleu et al.: Sie gewichten jedes Tier in gleicher Weise, und kommen damit der Ethik Albert Schweitzers noch näher, als eine etwaige Graduierung bei Porter es realisieren würde. Die Hierarchie der Leidensfähigkeit ist zu kritisieren Die Meinung, dass mit der Komplexität des Nervensystems auch die Leidensfähigkeit eines Wesens steigt, dass also z.B. Primaten stärker leiden können als Insekten, wird heute vielfach akzeptiert und auch in einigen Kriterienkatalogen als gegeben vorausgesetzt. Wenn die Leidensfähigkeit eines Tieres von seiner sinnesphysiologischen Komplexität abhängig sein sollte, dann liegt es auf der Hand, dass man eine Hierarchie der Leidensfähigkeit aufstellt. Es ergibt sich versinnbildlicht eine Pyramide, mit den Wirbellosen und Insekten ganz unten und nichtmenschlichen Primaten und dem Menschen an der Spitze. Dass eine solche Vorstellung von zoologischer Sicht aus nicht mit guten Gründen kritiklos geteilt werden kann, sollte an dieser Stelle mit Nachdruck betont werden. Porter erklärt letztlich zu seiner Kategorie C „Species of animal“: „The objective of C is to demonstrate the extend to which we depart from our ideal when we harm a chimpanzee, while reminding us of a finite, if small, departure when we harm a mollusc.“ (Porter 1992, S. 101). Er sieht also eine Graduierung der verschiedenen Tierarten vor. Hier sei angemerkt, dass sich Albert Schweitzer, der in der Theorie einen egalitären Biozentrismus vertritt, sich in der Praxis ebenfalls zu einem hierarchischen Biozentrismus gezwungen sieht. Ist „Zeit“ ein relativer Begriff? Bezüglich der Kategorie „Dauer des Experiments in Relation zur Lebensdauer“ erklärt Scharmann: „Diese Meßeinheit wurde gewählt, weil Zeit eine relativer Begriff ist: Ein Experiment, das einen Monat lang dauert, fordert von einer Maus einen höheren Anteil ihrer normalen Lebenszeit als von einem Hund oder Schaf.“ (Scharmann 1993, S. 69). Interessanter Weise rechnet Scharmann die Messwerte beispielsweise für eine Ratte um („angenommene Lebensdauer 1000 Tage“), wobei sich folgende Zeiteinheiten ergeben: 1. 15 min; 2. 5 Stunden; 3. 3 Wochen; 4. 6-7 Monate; 5. >7 Monate. <?page no="176"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 176 Der oben zitierten Meinung Scharmanns ist sicherlich zuzustimmen, jedoch bleibt unklar, ob Tiere, die weniger lange leben, Zeit auch anders wahrnehmen, als Tiere mit einer längeren Lebensspanne. Vorschlag: „Index der kumulierten Beeinträchtigung“. Teilgruppen mit unterschiedlichen, relativen Gewichten verrechnen Es sei klar, „daß die Anzahl der Tiere bei der Einschätzung der Intensität und der Dauer von Schmerzen, Leiden und Schäden eingehen sollte.“ Denn ein Experiment, bei dem erhebliche Schmerzen für eine zahlenmäßig geringe Kontrollgruppe auftreten sei eher zu vertreten sei als eines mit vergleichbarer Tierzahl, bei dem die meisten Tiere solche Schmerzen erleiden müssten, begründet Fulda. Er schlägt vor: „Sinnvoll wäre daher ein Index der kumulierten Beeinträchtigung o.ä. [...], in dem die Teilgruppen von Tieren, die verschiedene Schadens- und Belastungsgrade aufweisen, auch in unterschiedlichen, relativen Gewichten eingehen.“ (Fulda 1993, S. 95f.). Die Intensität und Dauer von Schmerzen, Leiden und Schäden sollten dabei mit der Anzahl der erwartbarerweise jeweils betroffenen Tiere kombiniert werden. 168 „Ein solcher Index würde auch die absolute Zahl der eingesetzten Tiere widerspiegeln“ und durch Division mit der Gesamtzahl der Versuchstiere erhielte man daraus ein Maß der erwarteten durchschnittlichen Beeinträchtigung (ebd, S. 96). Wir sehen später, dass in dem schweizer Internet-Programm (2007) der Anteil der Tiere, für die der jeweilige Schweregrad der Belastung zutrifft, dann explizit abgefragt wird. Tierart wie auch Anzahl der benötigten Tiere muss sich nach dem Versuchsziel richten: Kriterien der Validität und v o r der ethischen Abwägung zu prüfen „Die Tierart ist integraler Teil eines Versuchsansatzes“. Sie müsse sich einerseits nach dem Versuchsziel richten („Stichwort: Modellbildung“) und habe andererseits gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 1 TierSchG (alte Fassung) 169 zu erfolgen. Reetz erklärt, „d.h. es ist das sinnesphsychologisch niedrigst entwickelte Tier zu verwenden, mit dem das Versuchsziel erreicht werden 168 „[…] etwa nach der Vorschrift: Intensitätsstufe x Dauer(stufe) x Anzahl der Tiere in einheitlicher Belastungsgruppe.“ (Fulda 1993, S. 96). 169 § 9 Abs. 2 Nr. 1 TierSchG alte Fassung: „Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an sinnesphysiologisch niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen. [...]“. Die Formulierung im § 7a Abs. 2 Nr. 5 TierSchG neue Fassung lautet folgendermassen: „Versuche an Tieren, deren artspezifische Fähigkeit, unter den Versuchseinwirkungen zu leiden, stärker entwickelt ist, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Tiere, deren derartige Fähigkeit weniger stark entwickelt ist, für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.“ <?page no="177"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 177 kann.“ 170 Er meint, „die zu verwendende Tierart [...] stellt insoweit ein Kriterium für die Validität eines Versuchsplanes dar und muß vor der ethischen Abwägung überprüft sein.“ (Reetz 1993, S. 74). Für Reetz ist die Anzahl der benötigten Versuchstiere wie auch die Tierart „direkt abhängig vom Versuchszweck und nicht frei variierbar.“ Reetz verweist auf den § 9 Abs. 2 Nr. 2 TierSchG (alte Fassung), der lautet: „Für den Tierversuch dürfen nicht mehr Tiere verwendet werden, als für den verfolgten Zweck erforderlich ist.“ (jetzt wird in § 7 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b TierSchG neue Fassung gefordert, Tierversuche sind im Hinblick auf die Zahl der verwendeten Tiere „auf das unerlässliche Maß zu beschränken“). Reetz erläutert: „Die Tierzahl muß also minimiert werden. Im Umkehrschluß bedeutet dies aber auch, daß nicht weniger Tiere verwendet werden dürfen, als für einen Versuchszweck erforderlich sind.“ Diese bedeutet aber m.E. nicht zwangsläufig, dass die Tierart wie auch die Anzahl der verwendeten Tiere aus den o. g. Gründen von der Güterabwägung ausgeschlossen bleiben sollten und damit bei einer ethischen Abwägung nicht zu gewichten wären. Kategorie Pflege und Haltungsbedingungen: Gute Haltung als Kompensation? Auf Seiten des Tieres wird in Kategorie H auch die Form der Haltung berücksichtigt. Dahinter mag der Gedanke stehen, dass eine artgerechte Tierhaltung notwendig und gerade bei belastenden Versuchen von äußerster Bedeutsamkeit ist, da die schon durch das Experiment belasteten Tiere durch eine schlechte Haltung noch zusätzlich belastet würden. Betrachtet man allerdings die Benennung der verschiedenen Abstufungen in dieser Kategorie, dann ergibt sich auch die Möglichkeit, dass Porter eine gute Haltung als eine Kompensation der experimentellen Belastungen versteht. Dafür spricht, dass er über die „sehr guten“ Haltungsbedingungen hinaus als besten Wert auch „exzellente“ Haltungsbedingungen als Kriterium anbietet. Da schon eine „sehr gute“ Haltung als artgerechte Haltung verstanden werden könnte, wird die „exzellente“ Haltung zu einer Form von besonderer Steigerung deklariert und könnte daher als Kompensation der erfahrenen Leiden verstanden werden. Qualität von Tierpflege und -Haltung: Kein Bezug zum konkreten Versuch Die Haltungsbedingungen, so wie Porter sie in seinem System werten möchte, gehen über den Zeitpunkt des konkreten Versuchsvorhabens hinaus. Reetz ist der Ansicht, Porters Kategorie H ‘Qualität der Tierpflege und - Haltung’ habe - so wie Porter die Kategorie H verstehe, „nämlich als die normalen Haltungsbedingungen“ - „keinen Bezug zu einem konkreten 170 Anzumerken ist, dass die Tierart jedoch auch selbst Teil der Fragestellung sein kein. <?page no="178"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 178 Versuchsvorhaben und kann daher auch kein Kriterium in [sic! ] Rahmen der ethischen Abwägung eines Tierversuchs sein.“ (Reetz 1993, S. 75). Dies werde insbesondere bei Versuchsvorhaben deutlich, bei denen die Haltungsbedingungen während der Versuchsphase keine Rolle spielen. 171 Reetz betont, das bedeute jedoch nicht, dass die Haltungsbedingungen zur Diskussion stünden. Das Gegenteil sei der Fall: „Die Haltungsbedingungen haben die allgemeinen Normen des Zweiten Abschnitts des TierSchG zu erfüllen, unabhängig davon, ob ein Tier im Versuch steht oder nicht, und sind insoweit auch Voraussetzung [sic! ] für die Genehmigungsfähigkeit eines Versuchsvorhabens.“ Anders sehe die Situation jedoch bei „versuchsbedingten Sonderformen der Tierhaltung“ aus, wie beispielsweise der ‘Haltung in Stoffwechselkäfigen’: „Diese können unter Umständen eine zusätzliche Belastung darstellen und müssen daher auch bei der Beurteilung der zur erwartenden Belastung Berücksichtigung finden.“ (ebd., S. 75). Die Sichtweise, dass die „normalen Haltungsbedingungen“ kein Kriterium für die Abwägung sind, halte ich für problematisch und verweise auf Kapitel 6.3.2. der Abschlussdiskussion 4.2.6 Zusammenfassung Porters Vorschlag wurde u. a. als „wertvoller Denkanstoss“ gelobt (Teutsch 1993). Porters Bezugnahme auf Albert Schweitzers Konzept der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ komme der Ethik des deutschen Tierschutzgesetzes - der Verantwortung für das Tier als Mitgeschöpf gerecht zu werden - sehr nahe (ebd., S. 64). Als Kritikpunkte werden Bedenken gegen eine Bewertung mit Punkten und die Festlegung einer Zulässigkeitsgrenze geäußert. Es bestünde die Gefahr, dass der Vorgang des Wägens zum bloßen Punktezählen verkommt (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). Ein Punktesystem berge obendrein die Gefahr der Versuchung, die Angaben auf- oder abzurunden, um zur ethischen Vertretbarkeit zu gelangen. Porters ethische Position Porter verwendet für sein „ethical-tool“ ein Ideal der Tierrechtsbewegung, das an das ‘Schweitzerische Ideal’ angelehnt sei, da es der Philosophie Albert Schweitzers nahe steht. Es gebiete, wann immer möglich, die Schädigung von empfindungsfähigen Tieren zu vermeiden. Dies ist ein pathozentrisches Kriterium. Porter plädiert für einen Wechsel der Philosophie wissenschaftlichen Forschens. Für ihn stellt jedes Experiment eine Abweichung vom Ideal dar und es soll das Ziel des Forschens sein, so wenig wie 171 Reetz nennt beispielsweise ‘finale Tierversuche’ oder ‘Versuche an frei lebenden Tieren’. <?page no="179"?> 4.2 Das „scoring system“ von David G. Porter 179 möglich vom Ideal abzuweichen. Er fordert eine akzeptable Qualität und Notwendigkeit von Tierexperimenten. Zudem fordert er die Verwendung von Alternativen, sowie die Grenze für nicht-akzeptable Experimente herabzusetzen. Kritikpunkte am methodischen Vorgehen bei Porter Alle Kriterien bei Porter sind gleich gewichtet, es erfolgt keine eigentliche Abwägung der Kategorien. Es laufe der Intuition zuwider, Güter, die gegeneinander abzuwägen wären, in ein und derselben Richtung abzutragen und aufzusummieren (Fulda 1993, S. 88). Die willkürliche und unbegründete Grenzziehung sei ethisch unbefriedigend (ebd., S. 80). Beide Merkmalsgruppen [„scoring the science“ und „tierbezogene Kategorien“] erfahren in der Aufsummierung unterschiedliche Maßstäbe in Form von Punktzahl-Obergrenzen. Problematisch erscheint mir vor allem, dass das Ausmaß erlaubten tierischen Leidens sich nicht durch den erwarteten Nutzen zu legitimieren braucht: Ein größerer Nutzen legitimiert kein größeres Leiden und größeres Leiden erfordert keinen größeren Nutzen - solange man nur auf beiden Seiten innerhalb der legitimen Punktzahlen bleibt. Es fehlt eine Ermutigung in vitro-Methoden zu verwenden (de Cock Buning und Theune 1994, S. 113). Porters Vorschlag eines „Ethicons“ verstehe ich als eine Gewichtung für den Eigenwert der Tiere. Porter stellt diesen Gedanken jedoch nur in den Raum und kann sich noch nicht entschließen, eine solche Kategorie tatsächlich einzufordern. Er würde diesen „Ethischen Punkt“ jedoch an gewisse Merkmale binden. Die Empfindungsfähigkeit des Tieres stellt für ihn das maßgebliche Kriterium dar. Die Vorstellung, dass mit der Komplexität des Nervensystems auch die Leidensfähigkeit eines Wesens steigt, führt zu einer Hierarchie der Leidensfähigkeit. In seiner Kategorie „Species of animal“ sieht Porter somit eine Graduierung der verschiedenen Tierarten vor. Diese Vorstellung wird verschiedentlich als speziesistisch bezeichnet und kann m.E. von zoologischer Sicht aus nicht mit guten Gründen kritiklos hingenommen werden. Bezüglich der Kategorie „Dauer des Experiments in Relation zur Lebensdauer“ bleibt unklar, ob Tiere, die weniger lange leben, Zeit auch anders wahrnehmen, als Tiere mit einer längeren Lebensspanne. Auf Seiten des Tieres wird auch die Form der Haltung berücksichtigt. Dahinter mag der Gedanke stehen, dass eine artgerechte Tierhaltung notwendig und gerade bei belastenden Versuchen von äußerster Bedeutsamkeit ist, da die schon durch das Experiment belasteten Tiere durch eine schlechte Haltung noch zusätzlich belastet würden. Gleiches gilt für die Pflege der Tiere. <?page no="180"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 180 4.2.7 Fazit Porters Modell hat offensichtlich einen Stein ins Rollen gebracht. Mannigfaltig konstruktive Kritik wurde geäußert, wie beispielsweise der Vorschlag einer gegenseitigen Verrechnung der Kategorien der menschlichen Interessen und jenen der tierlichen Interessen, was einer Güterabwägung intuitiv näher komme, als das Aufsummieren in gleicher Richtung (Fulda 1993). Auch sei der Vorschlag einer multiplikativen Verknüpfung von den Versuchszwecken und den Kriterien der Qualität des Experiments (ebd.) noch einmal hervorgehoben, der später bei Stafleu et al. in die Tat umgesetzt wird. Ob Stafleu und seine Kollegen dabei von Fuldas Vorschlag inspiriert wurden, kann ich nicht sagen. Fuldas Vorschlag eines Index der kumulierten Beeinträchtigung, in dem die Teilgruppen von Tieren, die verschiedene Schadens- und Belastungsgrade aufweisen, auch in unterschiedlichen, relativen Gewichten eingehen, wobei die Intensität und Dauer von Schmerzen, Leiden und Schäden mit der Anzahl der erwartbarerweise jeweils betroffenen Tiere kombiniert werden (ebd., S. 96) ist ebenfalls hervorzuheben. Wir werden sehen, dass die schweizer Autoren in ihrem Internet-Programm (2007) dann den Anteil der Tiere, für die der jeweilige Schweregrad der Belastung zutrifft, explizit abfragen. Bei Stafleu et al. wird später ein „intrinsic value“ realisiert werden, dann jedoch ohne dabei eine Graduierung zwischen verschiedenen Spezies vorzunehmen, wie es Porter mit seinem Gedanke eines „Ethicons“ in den Raum stellte. <?page no="181"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von Tjard de Cock Buning und Elmar P. Theune 181 4.3 Das „holländische Modell“ von Tjard de Cock Buning und Elmar P. Theune 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 4.3.1 Institutioneller Hintergrund Das „Dutch model“ (Theune und de Cock Buning 1991) wurde vom Department of Animal Problems der Universität Leiden/ NL entwickelt, weshalb es bisweilen in der Literatur auch als „Leiden-Schema“ bezeichnet wird. Tjard de Cock Buning 172 und Elmar P. Theune 173 erklären in ihrem im Jahre 1994 in Animal Welfare erschienenen Aufsatz „A comparison of three models for ethical evaluation of proposed animal experiments“, in den Niederlanden besitze jedes Forschungsinstitut (universitär oder in der Industrie) mindestens ein „Local Science Committee“ (LSC), welches die wissenschaftlichen Sachverhalte von Forschungsanträgen auf der Ebene der Universitätsfakultäten bzw. der wissenschaftlichen Ausschüsse in der Industrie evaluiere. In den 1980er Jahren haben die meisten Institute institutsgebundene review-Kommittees eingerichtet, die die Akzeptabilität von Tierexperimenten evaluieren („Animal Experimeentation Committees“, AEC). Jedes Forschungsvorhaben, welches Tiere verwenden möchte, hat die Bewilligung des LSC sowie des AEC zu erlangen. Zusätzlich wurde gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Tierschutzbeauftragter („Animal Welfare Officer“, AWO) von den Instituten angestellt wird, um die Forscher über Verbesserungen zu Gunsten des Tierschutzes anzuweisen. Der Tierschutzbeauftragte überprüft innerhalb der Institution, ob die Forscher und Biotechniker die gesetzlichen Anforderungen erfüllen (de Cock Buning und Theune 1994, S. 108). 172 Professor für Ethics in Health and Life sciences, Faculty of Earth and Life Sciences, Vrije Universität (VU) in Amsterdam/ NL. Weitere Details über die Autoren siehe Anhang IV). 173 Faculty of Earth and Life Sciences, Vrije Universität (VU) in Amsterdam/ NL. „As a consequence committees may develop varying local styles of evaluation, which makes a consistent jurisprudence impossible, which provokes shopping strategies along research labs and which results in a lack of confidence by the public.“ (Theune und de Cock Buning 1993, S. 144) <?page no="182"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 182 Das „holländische Formular“ Es wurde ein Formular entwickelt, das von allen Forschungsinstitutionen, welche ihre Projekte an die zuständigen AEC übermitteln wollen, ausgefüllt werden müsse. Durch dieses Formular werde die Aufmerksamkeit des Forschers auf eine Reihe ethisch relevanter Aspekte gelenkt, betonen de Cock Buning und Theune (1994, S. 108f.): Qualifikation des Personals Bewilligung des LSC (besser noch Unterstützung eines großen öffentlichen Geldgebers) Begründung für die Tierart und Anzahl der Tiere Voraussichtlicher Schweregrad von Belastungen, die durch Haltung u. Experiment verursacht werden Begründung der Analgesie Begründung dafür, dass keine Ersatzmethoden verwendet werden Begründung der Ziele Bedeutung des Projektes Die Beurteilung von Schmerz und Stress Die Beurteilung von Schmerz und Stress, dem die Tiere ausgesetzt werden, wird in drei Schweregerade (gering, mittelmäßig, schwerwiegend) eingeteilt, in Kombination mit vier Zeitspannen (< 1 Tag, 1-7 Tage, 8-30 Tage, über 30 Tage). Gemäß einem Gutachten einer speziellen Arbeitsgruppe des „National Committee on Animal Experimentation“ 174 , sollten die drei Schweregrade eher auf psychologischen und Verhaltensanzeichen begründet sein, als auf einer Liste wissenschaftlicher Prozeduren. Die dahinter stehende Philosophie sei - neben anderen Aspekten -, dass fachkundige Operateure in der Lage wären, Experimente, die als schwerwiegend eingestuft wären, durchzuführen, ohne dabei den Tieren mehr als mittelmäßigen Stress zuzufügen. Die Autoren betonen, dass dieses Modell ein regelmäßiges Feedback von den Tierpflegern hin zu den Operateuren und dem Komitee anrege (ebd., S. 109). Wissenschaftliche sowie labortierkundliche Aspekte werden im Vorfeld überprüft De Cock Buning und Theune erklären, dass ein weiteres Kennzeichen des holländischen Systems die direkte Kommunikation des örtlichen Tierschutzbeauftragten mit allen Personen sei, die mit den Tieren zu tun hätten. Die Zustimmung des Tierschutzbeauftragten sei oft obligatorisch, bevor ein Projekt vom Komitee evaluiert werden könne. Dies bedeute, dass 174 Ein unabhängiger Ausschuss, der den Gesundheitsminister berät. <?page no="183"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 183 die meisten „Laboratory Animal Science (LAS) aspects“ (Gesundheit, Haltung, Management, Alternativen) überprüft würden, bevor das Komitee überhaupt mit seiner Überprüfung beginne. Auf der anderen Seite genieße das Komitee damit „den Luxus“ Projekte zu beurteilen, die in Bezug auf die wissenschaftliche Methodik und die LAS-Aspekte relativ stimmig sind. Die Autoren betonen, dass das Komitee ‘lediglich’ die wissenschaftliche Signifikanz des Projekts gegen die Kosten auf Seiten der Tiere abwägen müsse. Da bereits ein generell akzeptiertes Modell existiere 175 , um das Ausmaß des Stresses zu bestimmen, der den Tieren durch die wissenschaftlichen Prozeduren verursacht werde, bleibe lediglich das Problem, die Signifikanz des Experiments einzuschätzen. Daher würde die Betonung im holländischen Modell auf der Einschätzung der Relevanz der menschlichen (oder tierlichen) Interessen liegen, erläutern die Autoren (ebd., S. 109). 4.3.2 Die Checkliste Eine detaillierte Kriterienliste mit dem Ziel Hilfestellung zu geben um klare Entscheidungen zu fällen Die niederländischen Autoren haben eine eher detaillierte „Checkliste” entwickelt, „to ensure that all relevant moral aspects would be on the agenda of the committee, so that they could make a clear ‘Yes’ or ‘No’ decision” (ebd.). Diese Checkliste beinhalte eine große Anzahl „scharfsinniger moralischer Aspekte mit einem hohen Unterscheidungsgrad“. Die Autoren erläutern, der Fragebogen wurde durch das Studium zahlreicher Fälle und durch Beratung mit Repräsentanten einiger der größten Forschungsinstitute sowie Inspektoren des „Veterinary Public Health Chief Inspectorate“ optimiert. Die Autoren betonen: „The checklist helps the making of clear decisions.” (de Cock Buning und Theune 1994, S. 109). Zudem werde sie die Diskussion in den Tierversuchkomitees ausweiten und vertiefen. Darüber hinaus könne eine sorgfältig ausgefüllte Checkliste als Argumentations- Dokument für jeden fungieren, der die Entscheidung eines Tierschutzkomitees infrage stellen möchte. Die Checkliste könne ebenso als Diskussionspapier in der öffentlichen Debatte über Tierexperimente dienen, um für oder gegen beantragte Aspekte zu argumentieren. Die Checkliste könne die Diskussionen und Entscheidungen in Tierschutzkomitees strukturieren (Theune und de Cock Buning, S. 150). Durch die angeführten Aspekte der Checkliste können Komitees für Außenste- 175 Die Autoren verweisen an späterer Stelle (de Cock Buning und Theune 1994, S. 127) auf eine Information der „section animal experimentation of the VHI“ in den Erläuterungen zur „Registration animal experiments and experimental animals“. <?page no="184"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 184 hende Einsicht in ihre Entscheidungen geben. Die Checkliste könne auch verwendet werden, um die Entscheidungen der verschiedenen Komitees zu harmonisieren. Im Dezember 1991 wurde die Checkliste allen Forschungsinstituten in den Niederlanden durch den nationalen Beratungsausschuss für Tierexperimente empfohlen (ebd., S. 144). 4.3.3 Abschätzung der Relevanz für menschliche (oder tierliche) Interessen Unterteilung in fünf Interessensbereiche Die Betonung des holländischen Modells liegt auf der Abschätzung der Relevanz für die menschlichen Interessen (bzw. tierlichen Interessen im Falle von tiermedizinischen Experimenten), dieses wird im Abschnitt C) abgehandelt. Es werden fünf Bereiche unterschieden: 1) Routineforschung, 2) Diagnostik, 3) Ausbildung, 4) problemorientierte Forschung sowie 5) Grundlagenforschung. Das holländische Gesetz über Tierexperimente benennt zwei Interessen, die Tierexperimente rechtfertigen können: „They must either be of interest to the health or nutrition of man or animal or they must be of scientific interest.“ (de Cock Buning und Theune 1994, S. 111). Alle anderen Interessen benötigten eine explizite Genehmigung des Gesundheitsministers. Daher sei die wesentliche Fragestellung, was die ersten vier Interessens- Gebiete (1-4) betreffe, in welchem Ausmaß die Ergebnisse der Experimente zu einer Verbesserung der Gesundheit oder Ernährung von Mensch oder Tier beitragen. In der Checkliste spezifizieren die Autoren diese menschlichen Interessen für verschiedene Formen von Forschung. Damit erhoffen sie sich, die stagnierenden Diskussionen in den Tierschutzkomitees zu unterstützen und sie erhoffen sich: „In other cases we state that there should be stronger arguments than given nowadays.“ (Theune und de Cock Buning 1993, S. 149). Anhand dreier Beispiele zeigen Theune und de Cock Buning, was ihrer Ansicht nach die Konsequenzen eines sorgsamen Umgangs mit Tiere wären. Forschung zur Verbesserung der Nahrungsmittelproduktion Das erste Beispiel benennt Forschung zur Verbesserung der Nahrungsmittelproduktion (ebd.). An der agrarwissenschaftlichen Universität, an der Theune gelegentlich Vorlesungen abhalte, würde Forschung zur Verbesserung der Effizienz der Viehzucht betrieben. Die Wissenschaftler würden dazu neigen, diese Forschung mit dem Argument zu rechtfertigen, die <?page no="185"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 185 Nahrungsmittelproduktion und anschließend die weltweite Nahrungssituation verbessern zu wollen. Entsprechend der Checkliste hätten sie nun die Frage zu beantworten, wie groß der erwartete Beitrag für die Verbesserung der Gesundheit oder Ernährung von Mensch oder Tier wäre. Dieser Beitrag würde oft nicht sehr groß sein, weil solche hoch effizienten Viehbestände nicht in Entwicklungsländern gezüchtet werden können, meinen Theune und de Cock Buning. Rinder der westlichen Länder konsumieren Futter, das von Entwicklungsländern importiert werde; soweit eine Verbesserung der Ernährung in westlichen Ländern notwendig wäre, könne man auch andere Wege beschreiten als die Effizienz von Rindern zu verbessern. Dies bedeute, dass ein Komitee in eine politische Diskussion einsteigen müsse, meinen Theune und de Cock Buning (ebd.). Gesundheit oder Ernährung als hauptsächliches Interesse Das zweite Beispiel, das die Autoren anführen, habe mit gemischten Interessen zu tun (ebd.). In der Checkliste würde versucht, zwischen Forschungsprojekten zu unterscheiden welche die Gesundheit oder Ernährung als hauptsächliches Interesse haben, von Projekten, die dieses Interesse nur als sekundäres Interesse haben. Beispielsweise sei die hauptsächliche Zielbestimmung der pharmazeutischen Forschung, neue Produkte zu entwickeln. Selbstverständlich sollten diese Produkte auf ihre Sicherheit, ihren Effekt etc. geprüft werden, bevor sie für den Markt freigegeben werden könnten. Da jedoch diese Tests Versuchstiere verwenden, müssten die Tierversuchs- Komitees die Bedeutung der Produkte selbst bemessen. Die Frage sollte sein: Sind diese Produkte im Interesse der Gesundheit oder Ernährung von Mensch oder Tier? (ebd.). Medizinische oder tiermedizinische Grundlagenforschung Das dritte Beispiel habe mit einem großen Teil der wissenschaftlichen Forschung tun, die an Universitäten durchgeführt werde, nämlich medizinische oder tiermedizinische Grundlagenforschung. Diese Forschung habe oft eine doppelte Bedeutung: Sie wäre im Interesse der Gesundheit von Mensch oder Tier, ebenso wie von wissenschaftlichem Interesse. Diskussionen in Tierschutzkommissionen würden von einem Interesse zum anderen wechseln. „A lack of ‘good reasons’ for the scientific interest tends to be compensated by a marginal health aspect.“ wissen Theune und de Cock Buning zu berichten. Als Konsequenz daraus wären die Entscheidungen sehr unklar und die Rechtfertigung von Forschungsprojekten, die in beiderlei Hinsicht niedrige Wertungen erhielten, könnte in Frage gestellt werden. Daher empfehlen die Autoren, dass die Komitees zuerst das hauptsächliche Interesse identifizieren und nur dieses Interesse bewerten sollten. Das andere Inter- <?page no="186"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 186 esse sollte aus der Diskussion heraus gelassen werden, „otherwise even a vague research project can add a bit of this and a bit of that and in the end a permission is given which cannot be clearly justified.“ (ebd.). Berufung auf die Freiheit der Forschung rechtfertigt nicht Die Autoren betonen: „In case of a scientific interest a call on academic freedom will not satisfy because the well-beeing of animals is at stake.“ (ebd.) Der wissenschaftliche Wert eines Projektes habe nach den üblichen Qualitätskriterien, die von wissenschaftlichen review boards verwendet werden, bewertet zu werden. Die Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse als wichtiges Kriterium „Problem oriented research using animals for human problems presupposes a reasonable extrapolatability.” (de Cock Buning und Theune 1994, S. 112). Dies würde davon abhängen, in welchem Ausmaß eine Erkrankung sich in gleicher Weise bei Tieren wie auch beim Menschen entwickelt und in welchem Ausmaß die tierlichen Funktionen in ähnlicher Weise wie beim Menschen funktionieren und zwar bezüglich der Anatomie, des Metabolismus und des Verhaltens, erklären die Autoren. Methodisches Vorgehen Das holländische Modell besteht aus vier Abschnitten, in denen A) die Qualität des Tierexperiments, B) die Belastung („discomfort“), C) die Signifikanz und D) die Forschergruppe 176 bewertet werden. „Each part contains detailed questions to help the committee members trace morally significant aspects of a proposal.” (ebd., S. 110). Der Fragebogen (siehe nachfolgend) wurde so gestaltet, dass man durch das Umkringeln der gewählten Antwort einen visuellen Eindruck über die Gesamtbewertung erhält: Positiv (rechte Seite) oder negativ (linke Seite). Um eine visuelle Überbewertung zu vermeiden, sei das Design so angelegt, dass alle Fragen notwendig und unabhängig voneinander wären. Auf diese Weise führe jeder Teil zu einem qualitativen Ergebnis (gering/ mittelmäßig/ groß; ausreichend/ nicht ausreichend). 176 „credentials of the research group” <?page no="187"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 187 Tab. 3: Katalog von de Cock Buning und Theune (1994) <?page no="188"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 188 <?page no="189"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 189 <?page no="190"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 190 <?page no="191"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 191 <?page no="192"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 192 <?page no="193"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 193 In der nächsten Stufe dienen diese vier Ergebnisse der Abschnitte A bis D als Input in einen Entscheidungsbaum, „resulting in a straightforward judgement.“ (de Cock Buning und Theune 1994, S. 110). 4.3.4 Ethische Beurteilung mit Hilfe eines Entscheidungsbaumes Die ethische Beurteilung gliedert sich in zwei Schritte: Zuerst werden anhand des Katalogs umfassende Daten zum beantragten Tierversuch gesammelt. Die Einzelkriterien sind in 4 Abschnitte (Aspekte A bis D) angeordnet, welchen im zweiten Schritt ein eindeutiger Wert zugewiesen wird. So kann Aspekt A beispielsweise nur die Werte „good“ oder „can be improved“ als qualitatives Ergebnis dieses Aspekts annehmen. Die erzielbaren Ergebnisse lauten: A) Qualität des Tierexperiments: Könnte verbessert werden / gut B) Belastung des Tieres („discomfort“): Schwer / mittelgradig / gering C) Bedeutsamkeit des Experiments: Gering / mittelmäßig / groß D) Forschergruppe: Unzureichend / gut Sind alle vier Aspekte bewertet worden, so wird in Teil E) anhand eines Flussdiagramms („Entscheidungsbaum“, s. nachf. Abb. 3) das beantragte Experiment bewilligt oder abgelehnt. <?page no="194"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 194 <?page no="195"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 195 Eine Schwäche im ersten Teil des Entscheidungsbaums ist nicht ausgleichbar De Cock Buning und Theune betonen, die Konstruktion des Entscheidungsbaums sei ausschlaggebend für das Resultat der Betrachtung. Denn die Anordnung der vier Aspekte innerhalb des Entscheidungsbaums sei nicht ohne Bedeutung: „When the evaluation of the first part (a) immediately leads to rejection, even brilliance of the other three parts (b-d) can obviously not compensate for the weakness of the first.“ (ebd., S. 110). Qualität des Experiments an oberster Stelle Dies bedeute, je früher ein Aspekt im Entscheidungsbaum evaluiert werde, desto stärker könne er als limitierter Faktor wirken. „In the Netherlands it is generally accepted that only a sound research design can justify animal experiments.” (ebd.). Daher werde dort die Abschätzung der wissenschaftlichen sowie der LAS-Aspekte im ersten Schritt durchgeführt. Dies sei in den Niederlanden ebenfalls übliche Praxis bei anderen zu begutachtenden Angelegenheiten, beispielsweise wenn der LSC und der Tierschutzbeauftragte das Gesuch begutachten, bevor es durch den AEC evaluiert werde. Die Autoren erklären, dass die Bewertung der „credentials of the research group“ mit einer positiven Einstellung gegenüber den „3R“ in Abschnitt D weniger wichtig sei, als die Entscheidung der Abwägung der „Belastung“ gegen die „Bedeutsamkeit“. In der Abbildung oben habe ich genau diese Abwägungs-Ebene (Belastung / Bedeutsamkeits - Abwägung) zur Hervorhebung hellgrau hinterlegt. Diese Abwägung mit allen 9 Kombinationsmöglichkeiten wird mit der Entscheidungsmatrix „Belastung versus Bedeutsamkeit“ durchgeführt. Die Form der Matrix visualisiert denselben Sachverhalt in tabellarischer Form sehr übersichtlich olgend 4.3.5 Die Entscheidungsmatrix Belastung versus Bedeutsamkeit Wie bereits erwähnt resultiert die Abwägung der drei Belastungsgrade (gering, mittelgradig, schwerwiegend) gegen drei Grade der Bedeutsamkeit (gering/ mittelmäßig/ groß) in neun Kombinationen (vgl. nachf. Tabelle). Die Zuweisung von Zustimmung und Ablehnung bei dieser Abwägung wurde nach Absprache mit den nationalen Inspektoren des „Animal Experimantation Department of the Veterinary Public Health Chief Inspectorate“ festgelegt. <?page no="196"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 196 <?page no="197"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 197 Tab. 4: Fortführung des Hauptkatalogs 4.3.6 Diskussion 4.3.6.1 Die ethische Position von de Cock Buning und Theune Die ethische Position von Tjard de Cock Buning und Elmar P. Theune (1994) wird von den beiden Autoren in diesem Aufsatz leider nicht benannt. Sie verweisen jedoch darauf, dass „the philosophical presuppositions are discussed in Theune und de Cock Buning 1992 [sic! : Veröffentlichung war 1993].“ (de Cock Buning und Theune 1994, S. 109). Im Aufsatz von 1994, in dem sie ihr „Dutch model“ vorstellen, erwähnen die Autoren jedoch, dass das holländische Gesetz über Tierexperimente nur zwei Interessen benennt, die Tierexperimente rechtfertigen: Das Interesse an der Gesundheit oder Ernährung von Mensch oder Tier oder wissenschaftliches Interesse (ebd., S. 111). Andere Interessen benötigten eine explizite Genehmigung des Gesundheitsministers. Die Gewichtung von Interessen, ein operationaler Ansatz Theune und de Cock Buning (1993) erläutern in dem mit dem Titel „Assessing interests. An operational approach“ überschriebenen Aufsatz, dass es in den Niederlanden, wie in den meisten westlichen Ländern, ein großes öffentliches Interesse an Diskussionen über Tierexperimente gebe. Die Menschen würden daran zweifeln, ob solche Experimente immer unvermeidbar wären. Es bestünden Zweifel, ob das benötigte Wissen durch die Verwendung von Tieren gewonnen werden müsse, ebenso wie es Zweifel gebe, ob das gewonnene Wissen überhaupt wichtig genug wäre. Man frage sich zudem, ob die Entscheidungen, Tiere zu verwenden, immer sorgfältig genug gefällt würden. Die hauptsächliche Zweckbestimmung der „animal care committees“ (Tierschutzkommittees) wäre, diese sorgfältige Entscheidungsfindung sicherzustellen (Theune und de Cock Buning 1993, S. 143). <?page no="198"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 198 Aufgabe der Tierschutzkommitees; „There are no scientific balancing procedures“ Theune und de Cock Buning erklären, dass die Forscher selbst für die Entscheidung verantwortlich wären, Tiere in Experimenten zu verwenden, da die niederländischen Tierschutzkomitees aus Wissenschaftlern zusammengesetzt sind, die ihre eigenen Forschungsprojekte beurteilen. Ethische Komitees wären dazu im Stande, die technische Qualität eines Forschungsprojekts zu evaluieren, sie wären fähig, die methodische Annäherungsweise zu bestimmen und sie verwenden die 3R um den beabsichtigten Einsatz von Labortieren zu bewerten. Die Tierschutzkomitees hätten jedoch nicht nur die technische Qualität zu beurteilen, ergänzen Theune und de Cock Buning, sondern Sie müssten die Belastungen, die den Tieren auferlegt würden, gegen die Relevanz der menschlichen Interessen abwägen. „Weighting animal discomfort and human interests isn’t a scientific question, in which scientists are experts, but a moral-practical question in which they (or even philosophers) are as much an expert as every other citizen.“ (ebd.). Dies beinhalte zwei Probleme für die Komitees: Zum einen glauben viele Wissenschaftler - wie andere Leute auch -, dass es unmöglich sei, eine rationale Debatte über ethisch-moralische Fragestellungen („moralpractical questions“) zu führen. Theune und de Cock Buning sind jedoch der Ansicht, dass die Antworten auf solche ethisch-moralischen Fragen mehr oder weniger angemessen gerechtfertigt werden können. Eine Entscheidung zu rechtfertigen bedeute, Gründe anzugeben, die für Akzeptanz oder Kritik offen stehen. Jeder Einzelfall bestehe aus einer spezifischen Bandbreite von Interessen. In der Diskussion müssen Gründe gefunden werden diese Interessen zu gewichten. Man könne jedoch eine solche Güterabwägung nicht in der Weise lösen, wie der Utilitarismus es einst gehofft hatte zu leisten, betonen Theune und de Cock Buning. Es gebe keine wissenschaftlichen Abwägungsprozeduren. Die Bedeutung eines Interesses könne erst in einer Diskussion über die Interessen deutlich werden. Beim Vergleich der verschiedenen Interessen und beim Austausch von Argumenten gebe man dann dem einen oder anderen Interesse mehr Gewicht (ebd.). Nach Ansicht von Theune und de Cock Buning sollten die Tierschutzkomitees versuchen, hierüber ein Konsens zu finden. In einer ethisch moralischen Debatte erscheinen manche Gründe als „gute Gründe“. Theune und de Cock Buning betonen jedoch: „Decisions however have to be renewed all the time, not only because reasons have to convince outsiders and should not wear out, but also because new arguments can and will be proposed all the time.“ (ebd., S. 144). <?page no="199"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 199 „The members ‘are not trained’ in discussing moral-practical problems” Das zweite Problem, das die Entscheidungsfindung in Tierschutzkomitees betreffe wäre, „that the members ‘are not trained’ in discussing moralpractical problems.“ (ebd.). Im alltäglichen Leben wäre es kaum erforderlich, solche Probleme zu lösen durch eine Debatte, mit Gründen, die Außenstehende überzeugen müssten. Aber die Komitees müssten Außenstehende überzeugen. „Reasons proposed in an animal care committee however are often too superficial and just an expression of an emotion or an intuition.“ (ebd.) wissen die Autoren zu berichten. Deshalb würden solche Diskussionen der notwendigen Tiefe ermangeln und könnten leicht durch persönliche Interessen der Forschergruppe oder durch das kulturelle Klima der Firma, die die Forscher anstelle, beeinflusst werden, beklagen Theune und de Cock Buning. „As a consequence committees may develop varying local styles of evaluation, which makes a consistent jurisprudence impossible, which provokes shopping strategies along research labs and which results in a lack of confidence by the public.“ (ebd.). Um diesem zweiten Problem zu begegnen, haben die Autoren ihre relativ detaillierte Checkliste erstellt, „to ensure that all relevant moral aspects are on the agenda of the committee.“ Das Ergebnis reflektiere obendrein den aktuellen Stand der Dinge der gegenwärtigen Debatte von Tierexperimenten. Theune und de Cock Buning betonen jedoch: „The debate, however, does go on. So the checklist has to be updated every few years.“ (ebd.). Das ethische Bezugssystem („ethical framework“) hinter der „operational weighting procedure“ In der Debatte über Tierexperimente wurden zwei verschiedene ethische Grundpositionen eingebracht, erklären Theune und de Cock Buning. Die eine Position argumentiert mit einer deontologischen 177 , die andere mit einer teleologischen Grundstruktur. Diese ethischen Grundpositionen würden oft 177 Deontologie (griech. deon: Das Erforderliche, das Gesollte, die Pflicht) bzw. deontoogische Ethik bezeichnet eine Klasse von ethischen Theorien, die den moralischen Wert von Handlungen davon abhängig machen, ob diese aus Pflicht erfolgten und damit Ausdruck eines guten Willens sind. Handlungen werden hier als intrinsisch gut oder schlecht bewertet, unabhängig von ihren jeweiligen Wirkungen oder Konsequenzen. Im Unterschied dazu ist für teleologisch argumentierende Ethikkonzeptionen das jeweilige Handlungsziel und seine Realisierung, die Wirkung oder Konsequenz einer Handlung entscheidend für ihre moralische Qualität und damit für ihre ethische Bewertung (altgr. télos: Zweck, Ziel, Ende). <?page no="200"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 200 mit den Grundkonzeptionen von Tierversuchsgegnern und Wissenschaftlern übereinstimmen. Die Checkliste von Theune und de Cock Buning basiere auf einer Kombination von beiden Grundpositionen (ebd.). Ein teleologischer Interessensausgleich zwischen den Unannehmlichkeiten der Tiere und den menschlichen Interessen sei in einen deontologischen Kontext von Anforderungen mit universellem Anspruch eingebettet. Diese Anforderungen könnten in einer ethischen Diskussion gerechtfertigt werden. Besonders sollte diejenige Anforderung berücksichtigt werden, dass Tiere mit Sorgfalt behandelt werden sollten. Unterschiedlicher moralischer Status von Menschen und Tieren Ethische Anforderungen wären oft an gleiche Rechte gebunden, was in diesem Zusammenhang bedeute, dass Tiere ebenso wie Menschen behandelt werden sollten. Die Checkliste basiere jedoch auf einem unterschiedlichen moralischen Status von Tieren: „We do not propose to treat animals equal to humans.“ (Theune und de Cock Buning 1993, S. 145). Im Humanbereich gewichte man bei einer Entscheidung über Experimente ebenfalls die Auswirkungen und Interessen, aber die letztendliche Entscheidung gründe sich auf einer informierten Zustimmung („informed consent“). Theune und de Cock Buning erläutern, dies bedeute, dass der Patient selber eine Entscheidung trifft, die sich auf ausreichende Informationen über das Experiment stütze. Die grundsätzliche Prämisse dafür sei, dass jedes menschliche Wesen fähig wäre und auch das Recht habe zu einer Entscheidung bzgl. des eigenen Körpers. Das bedeute, dass im Falle von Humanexperimenten ein teleologischer Ausgleich ebenso in einen deontologischen Kontext eingebunden sei. Die Anforderungen, die den Menschen betreffen, wären jedoch wesentlich strenger als diejenigen die die Tiere betreffen. Ohne Einwilligung sollten Menschen nicht in einem Experiment verwendet werden; auf der anderen Seite Tiere jedoch durchaus, erklären Theune und de Cock Buning. Autonomie des Menschen als wesentliches Kriterium Die Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren basiere auf der Vornahme, dass nur Menschen dazu fähig wären, ihr Verhalten und ihre Entscheidungen zu rechtfertigen: „People are autonomous“ (ebd.). Diese generelle Vornahme sei allgemein akzeptiert. Auch Gegner des Speziesismus würden dieser Aussage nicht widersprechen. Diese argumentieren jedoch damit, dass es durchaus Menschen gebe, die nicht autonom wären, z.B. Kinder oder demente ältere Menschen. Diesen würden wir aber dennoch den gleichen Schutz zukommen lassen, wie ‘normalen’ Erwachsenen. <?page no="201"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 201 „So why shouldn’t animals be treated in the same way? “ stellen die Autoren fragend in den Raum (ebd.). Befürworter des Speziesismus hätten gute Gründe zu einer Unterscheidung: Man müsse in der Lage dazu sein, Kindern Handlungen zuzuschreiben, wenn sie erwachsen seien und alten Menschen gegenüber, wenn man Verpflichtungen habe, die auf in der Vergangenheit getroffenen Festlegungen basieren („reciprocal obligations“, wechselseitige Verpflichtungen) (ebd., S. 146). Grenzfall der nicht-autonomen Menschen Man habe jedoch ein wirkliches Problem, Menschen zu berücksichtigen, die nicht autonom wären und dies nie sein könnten, wie beispielsweise Menschen mit Geisteskrankheiten. Theune und de Cock Buning rekurrieren auf Singer (1975 178 , S. 78), der dieses Thema aufbrachte und damit argumentiere, dass man Tiere in gleicher Weise behandeln müsse als eben diese nicht-autonomen Menschen (Theune und de Cock Buning 1993, S. 146). Es gebe jedoch Gründe, zwischen gesunden Tieren und nicht-autonomen Menschen zu unterscheiden, denn jede gesunde Person könnte solch ein ‘Patient’ werden; jede gesunde Person könnte ein Elternteil eines geistig kranken Kindes werden. Das bedeute, dass unsere Beziehung zu diesen Patienten anders wäre als gegenüber den Tieren. Dies könnte ein guter Grund dafür sein, die Tiere unterschiedlich zu behandeln. Damit würde jedoch nichts darüber ausgesagt werden, inwiefern Tiere unterschiedlich behandelt werden sollten oder gar darüber, in welcher Weise sie nun explizit zu behandeln wären. Die Behandlung von geistig kranken Menschen genauso wie die Behandlung von Tieren, hänge von kulturellen Erwägungen ab, die von einer Gesellschaft zu anderen ebenso wie von einer Zeitepoche zu anderen differieren mögen, erklären Theune und de Cock Buning. Es wäre unmöglich eine absolute Linie zu ziehen, zwischen Lebewesen die ebenso behandelt werden sollten wie gesunde Menschen und Lebewesen die nur sorgsam behandelt werden sollten. „It’s a slippery-slope where many reasons can be said to play a role.“ (ebd.). Man könnte die Auffassung vertreten, dass nicht-autonome Menschen nur sorgsam behandelt werden sollten, so wie Tiere. Man könnte auch die Auffassung vertreten, dass letztlich einige Tiere wie Menschen behandelt werden sollten. In diesem Fall könnte man fragen: Alle Tiere, oder nur die Wirbeltiere oder nur die Primaten? 178 Theune und de Cock Buning haben an dieser Stelle - wohl versehentlich - als Jahreszahl 1978 benannt. <?page no="202"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 202 „What does it mean to treat an animal with care? “ Theune und de Cock Buning erklären, dass in unserer heutigen Gesellschaft geistig kranken Menschen dieselbe Behandlung zukäme, wie anderen Menschen und dass wir Tiere sorgsam behandeln. Dies führe zu einer weiteren Fragestellung: „What does it mean to treat an animal with care? “ (ebd., 146). Auf die oben benannte Weise zwischen Tieren und Menschen zu unterscheiden, würde die Diskussion genauso wenig beenden als es hier einen neuen Start gebe, resümieren Theune und de Cock Buning. Die Autoren gestehen allerdings die vorhandene Unsicherheit ein: „The lines one draws are never certain and can always be questioned.” (ebd.). Heute würden wir die Grenze um die menschliche Spezies ziehen: Geistig kranke Menschen sollten genauso behandelt werden wie Kinder, demente alte Menschen oder gesunde Erwachsene. Konsequenterweise sollte man nicht ohne die Einwilligung ihrer Vertreter mit diesen Personen experimentieren. „Animals are outside this circle“ und könnten im Interesse der Menschheit „geopfert“ werden (ebd.). Aber nur unter der Bedingung, dass es gute Gründe gebe, dies zu tun. Ansonsten würden wir sie nicht mit Sorgfalt behandeln, schließen Theune und de Cock Buning. „To treat animals with care“: Warum ist tierliches Unbehagen überhaupt von Belang? Die Argumentation von Theune und de Cock Buning stützte sich bislang auf die Vorannahme, dass Tiere mit Sorgfalt behandelt werden sollten. Diese ethische Voraussetzung sei Grundlage jedes Gesetzes über Tierexperimente und jeder Diskussion in Tierschutz-Komitees (ebd., 147). Warum jedoch sollten sich Menschen Gedanken über Tiere machen und warum sollte tierliches Unbehagen Belang haben? Welche Einsichten und Werte stehen hinter diesen Erwägungen? Theune und de Cock Buning, erklären, die Rücksichtnahme auf Tiere sei ein neuer Gegenstand der Geschichte am Ende des 18. Jahrhunderts. Erst einige Jahrhunderte zuvor wurden Tiere als reine Maschinen betrachtet, die ohne jegliche Einschränkung gebraucht werden durften. Zwei Theorien markierten einen fundamentalen Wechsel unseres Verhältnisses gegenüber Tieren: Die Evolutionstheorie und die utilitaristische Theorie. Am Ende des 18. Jahrhunderts habe die utilitaristische Theorie das Kriterium von Schmerz und Freude wieder in die ethische Debatte eingeführt und konstatierte, das Tiere ebenfalls leiden können. Die meisten Menschen würden den berühmten Ausspruch von Jeremy Bentham kennen, seit dem es eine Debatte über tierliches Leiden gebe: „The question is not, can they reason? Nor can they talk? But can they suffer? “ <?page no="203"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 203 Die Evolutionstheorie weise auf die physische Kontinuität zwischen Tieren und Menschen hin. Der Mensch sei nicht so außergewöhnlich, wie allgemein angenommen wurde. Zwar wäre der Mensch auf vielfältige Weise außergewöhnlich, aber biologisch wäre er ein Tier. Man gebe der Wahrnehmung eine Bedeutung, aber grundlegend für diese Wahrnehmungsfähigkeit seien neurophysiologische Prozesse. Tiere reagieren neurophysiologisch in gleicher Weise wie Menschen und das wäre eben auch genau der Grund, warum Menschen sie in Tierexperimenten einsetzen (ebd.). Projektion der eigenen Wahrnehmung auf die Tiere Ob und wie ein Tier Stimuli erlebe, sei prinzipiell unbekannt, weil Tiere nicht begründen. Seit man jedoch wisse, dass eine physische Kontinuität zwischen Menschen und Tieren existiere, sollte dieses Wissen auch Konsequenzen haben, betonen Theune und de Cock Buning. Der Mensch schreibe den Reaktionen von Tieren auf Reize eine Bedeutung zu. „In everyday life people use themselves as a referential framework. They tend to project themselves on to animals and ‘recognize’ themselves. Animal behaviour is thus interpreted in human terms. People give meaning to animal behaviour as if animal experiences are similar to theirs.“ (ebd., S. 147). Die Autoren fahren fort: „It seems as if (since Darwin) people cannot do otherwise.“ Konsequenterweise sollten wir diese Interpretationen berücksichtigen und Tiere mit Sorgfalt behandelt. Die Sorge um Tiere wird zu einer Regel erhoben; Umgebungsbedingungen haben Auswirkungen auf das tierliche Wohlbefinden Theune und de Cock Buning erklären, die Sorge um Tiere zu einer Regel zu erheben, habe zwei Konsequenzen für ihre Checkliste: „Usually animal discomfort is limited to animal pain and sickness. However since we know that environmental conditions may also affect animal well-being we have to take these conditions into account too.“ (ebd.). Deshalb wurde dieses Kriterium in die Checkliste mit aufgenommen. Es wäre nach wie vor schwierig, das Ausmaß des Unbehagens, das durch die Umgebungsbedingungen verursacht werde, zu ermitteln. Über diese Problematik sei bei Versuchstieren wenig bekannt (ebd., S. 148). Die Autoren schließen daraus, dass hierzu mehr Forschung wünschenswert wäre, um Tierversuchs-Komitees bei ihrer Einschätzung von Unbehagen, das durch Umgebungsbedingungen verursacht werde, zu unterstützen. <?page no="204"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 204 Richtlinie: Annahme gleicher Empindung von Unannehmlichkeiten beim Tier wie beim Menschen Als zweite Konsequenz, die Frage des tierlichen Unbehagens zu einer Qualitätsanforderung zu erheben, schlagen die Autoren folgende Richtlinie vor: „Until the contrary is proved one should assume that if animals are submitted to certain procedures, animals will experience a similar discomfort as humans do.“ (ebd., S. 148). Sie fordern, es wäre mehr Forschung über tierliches Unbehagen notwendig, denn „different species may have different needs and may have physiological differences.“ (ebd.). Bis über diesen Gesichtspunkt ausreichend bekannt wäre, sollten Tierschutzkomitees die von Theune und de Cock Buning vorgeschlagene Leitlinie anwenden. Die menschlichen Interessen Wie bereits erwähnt wurde, benenne das holländische Gesetz über Tierexperimente zwei Bedingungen, die Tierexperimente rechtfertigen können: Wenn die Experimente von Bedeutung für die Gesundheit oder das Wohlergehen von Mensch oder Tier wären und wenn sie von wissenschaftlichem Interesse wären. Im Gegensatz zum niederländischen Gesetz erlaube der Europäische Rat zwei weitere Zwecke: Wenn die Experimente von Interesse für die Erhaltung von Pflanzen wären und wenn sie von Interesse für den Schutz der natürlichen Umgebung im Interesse der Gesundheit und des Wohlergehens von Mensch oder Tier wären (Council Directive vom 24. Nov. 1986, Art. 3). Diesem Artikel 3 zufolge könnten Tiere um der Sache der Pflanzen willen geopfert werden. In dem zuvor umrissenen ethischen Rahmen sei dies jedoch moralisch fragwürdig, weshalb Theune und de Cock Buning Pflanzen nicht als mögliche Rechtfertigung für Tierexperimente in ihrer Checkliste berücksichtigen (Theune und de Cock Buning 1993, S. 148). Der Europäische Rat erwähne den Schutz der Umwelt nicht nur im Interesse der Gesundheit sondern auch im Interesse des Wohlergehens von Mensch oder Tier. Theune und de Cock Buning merken jedoch kritisch an: „Almost anything can be submitted to the phrase ‘in the interest of the welfare of man or animal’.“ (ebd.). Wenigstens sollte dieser Gesichtspunkt präziser formuliert werden, fordern die Autoren. Sie sind der Ansicht dass eine Einschränkung auf die Gesundheit von Mensch und Tier solch eine Präzisierung wäre. In der Checkliste schränken die Autoren sich dann auch auf die Interessen ein, die im niederländischen Gesetz benannt werden, „which gives a much stronger protection to laboratory animals in the line with the standard that animals should be treated with care.“ (ebd.). <?page no="205"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 205 Die Debatte geht weiter und verlangt stetige neue Reflexion Die Checkliste spiegle den aktuellen Stand der öffentlichen Debatte wieder und füge sich in das niederländische Gesetz über Tierexperimente ein, das ebenfalls auf der Debatte basiere. „The debate however goes on. New scientific developments, new reasons or a reconsideration of old reasons may change the balance and will raise new problems to solve.“ (ebd.). Man könnte dabei an genetische Modifikationen oder die Wiederverwendung von Versuchstieren denken. Theune und de Cock Buning erwähnen, dass Biologiestudenten in Wageningen verweigern würden, mit Insekten zu experimentieren. Die gegenwärtige Diskussion über die Integrität von Tieren könnte ebenfalls Konsequenzen haben. Deshalb sollten Tierschutzkomitees die Checkliste verwenden, aber dennoch aufmerksam gegenüber Entwicklungen in der Debatte sein. Die Komitees würden an der Basis agieren und könnten und sollten deshalb sehr sensibel gegenüber der gegenwärtigen Diskussion sein, schließen Theune und de Cock Buning. 4.3.6.2 Methodisches Vorgehen im holländischen Modell Die wohl umfassendste Datenerhebung zu Tierexperimenten Mit immerhin mindestens 30 Einzelkriterien wird in diesem Katalog eine Datenmenge gesammelt, die kaum einen Aspekt eines Versuchs unbeachtet lässt. Dieser enorme Umfang hat seine Berechtigung: So, wie auch ein Richter ein möglichst sicheres Urteil dann fällen kann, wenn sein Wissen über einen Fall maximal ist, so ist auch bei der ethischen Beurteilung eines Tierversuchs ein „Zuviel“ an relevanten Informationen prinzipiell nicht denkbar 179 . Von Vorteil kann die Länge des Katalogs auch für die Selbsterkenntnis der beantragenden Forscher sein. So ist es denkbar, dass ein Forscher, der einen Antrag stellt, sich schon allein durch den Umfang des Katalogs so intensiv mit der ethischen Problematik seines geplanten Versuchs auseinandersetzen muss, dass sein Problembewusstsein schon durch die Beschäftigung mit dem Katalog geschärft wird. Ein Tierexperiment nach diesem Katalog zu beurteilen ist aufwändiger, als z.B. bei Porter, da man hier nun eine weit höhere Anzahl an Kriterien hat, die beurteilt werden müssen. Auf der anderen Seite kann eine stärkere 179 Vgl. auch C. Maisack zur Güterabwägung in § 7 Abs. 3 TierSchG: Eine umfangreiche Erhebung des Abwägungsmaterials ist notwendig, denn eine der wesentlichen Voraussetzungen einer jeden Abwägung ist »logisch vorrangig vor der Abwägung [...] die vollständige Ermittlung und Zusammenstellung des Abwägungsmaterials, d. h. aller Tatsachen, die für die Einschätzung und Gewichtung der Belastungen auf Seiten der Versuchstiere und für die Bewertung des Nutzens auf Seiten des Menschen wesentlich sein können [...].« (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 292, § 7 Rn. 51). <?page no="206"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 206 Differenzierung der Fragen auch zu einer präziseren Beantwortung führen, als es bei nur wenigen Kriterien umfassenden Katalogen der Fall ist. Der Entscheidungsbaum Der „Entscheidungsbaum“ bei de Cock Buning und Theune gibt die einzelnen Schritte an, die ihm Rahmen der Beurteilung eines Versuchsvorhabens zu untersuchen sind. Hierbei geht es jeweils in Abhängigkeit vom Ergebnis einer Untersuchungsebene weiter zur nächsten Untersuchungsebene. Äußerst interessant ist an dieser Vorgehensweise, dass ein Experiment angelehnt wird, sobald es bereits in einer der oberen Stufen des „Entscheidungsbaumes“ als nicht ausreichend eingestuft wurde. So messen die Autoren der Konstruktion dieses „Entscheidungsbaumes“ auch eine maßgebliche Bedeutung zu, wobei die Reihenfolge der vier zu evaluierenden Aspekte relevant sei: Eine Ablehnung im ersten Teil der Evaluierung, wo die Qualität des Experiments (A) bestimmt wird, lasse sich nicht durch ausgezeichnete Ergebnisse bei den übrigen, nachfolgenden Aspekten (B: Belastung, C: Bedeutsamkeit, D: Forschergruppe) ausgleichen (de Cock Buning und Theune 1994, S. 110). Je früher daher ein Aspekt im Entscheidungsbaum evaluiert werde, desto stärker wirke er als limitierter Faktor, was die in den Niederlanden allgemein akzeptierte Ansicht widerspiegle, dass nur ein stimmiges Versuchsdesign Tierexperimente rechtfertigen könne. Ethische Mindestanforderung: Eine lediglich geringe Bedeutsamkeit rechtfertigt die Ablehnung eines Tierversuchsantrags Auch in diesem Katalog wird von der Grundannahme ausgegangen, dass das Leid auf Seiten der Versuchstiere sich durch einen adäquaten Nutzen auf Seiten des Menschen rechtfertigen muss. Bemerkenswert ist, dass nicht nur mittleres sondern auch geringes Leid durch eine mindestens mittlere Bedeutsamkeit für den Menschen aufgewogen werden müssen, um das Experiment vertretbar zu machen, was für Versuchsvorhaben mit bloß geringer Bedeutsamkeit zu einer prinzipiellen Ablehnung führt. De Cock Buning und Theune erklären zu ihrer Entscheidungsmatrix: „This weighting matrix is slightly more restrictive than most researchers are inclined to formulate.” (ebd., S. 111). Die niederländischen Wissenschaftler würden üblicherweise eine Kombination von geringer Belastung und geringer Bedeutsamkeit bevorzugen, erklären die beiden Autoren (vgl. Matrix, [a]). Solche Vorhaben werden jedoch nach dieser Matrix abgelehnt, was quasi einer Mindestanforderung an ein Tierexperiment gleich kommt: Selbst ein geringer Schaden ist nicht zulässig - und damit „ethisch nicht vertretbar“ - bei lediglich geringer Bedeutsamkeit des Experiments. Bei- <?page no="207"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 207 spielsweise sehen auch Antoine F. Goetschel und Wolfgang Scharmann in gleicher Weise sämtliche Experimente - auch nur bei geringer Belastung - bei lediglich geringem Nutzen als „ethisch nicht vertretbar“ an (Goetschel 2002, S. 211, Rn. 56; Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994). Mittelgradige Belastung gegenüber mittelmäßiger Bedeutsamkeit Bezüglich mittelgradiger Belastung, die einer mittelmäßigen Bedeutsamkeit gegenübersteht (vgl. Matrix, [e]) - und im niederländischen Modell als ethisch vertretbar eingestuft wird - meinen de Cock Buning und Theune: „Pressure groups in our society, however, even prefer a ban on experiments of moderate significance and a moderate level of discomfort.” (de Cock Buning und Theune 1994, S. 111). Auch Goetschel ist der Ansicht, solche Experimente wären gemäß unserem deutschen TierSchG „nach §7 Abs. 3 Satz 2 nicht vertretbar, da keine ‘hervorragende Bedeutung’ [vorliegt]“ (Goetschel 2002, S. 211, Rn. 56). Somit differieren die Ansichten an dieser Stelle. Mittelgradige Belastung bei großer Bedeutsamkeit Ein Vorhaben, das bei einer mittelgradigen Belastung einer großen Bedeutsamkeit gegenübersteht (vgl. Matrix, [h]) wird nach der niederländischen Matrix als vertretbar eingestuft. Goetschel urteilt hier für die deutsche Situation, „nach §7 Abs 3 Satz 2 zulässige Obergrenze des ethisch Vertretbaren“ (ebd., S. 212, Rn. 56). Die Zustimmung zum Versuch ist bei schwerer Belastung trotz großer Bedeutsamkeit umstritten Schweres Leiden ist nach dem niederländischen Katalog legitim, so lange es sich durch eine große Bedeutsamkeit rechtfertigen lässt. (vgl. Matrix, [i]). An dieser Festlegung übt beispielsweise Kathrin Herrmann Kritik: „[...] ein Versuch, der mit großer Belastung, also deutlichen bis schweren Leiden oder Schmerzen für das Tier verbunden ist, [ist] aus ethischer Sicht nicht zu rechtfertigen auch wenn der Nutzen für den Menschen groß wäre. Der Nutzen für Mensch und/ oder Tier muss immer größer sein, als die Belastungen, mit denen der Versuch für die Tiere verbunden ist.“ (Herrmann 2008, S. 77). So betont auch Goetschel: „Bei dem wissenschaftlich ‘großen’ Nutzen ist der Unsicherheitsfaktor zu beachten, der jedenfalls bei schweren Stressbelastungen des Tieres umso höher einzustufen ist und einen großen Nutzen deshalb sehr zweifelhaft macht.“ (Goetschel 2002, S. 212, Rn. 56). Goetschel hat in seinem Kommentar zum deutschen TierSchG die Matrix von de <?page no="208"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 208 Cock Buning und Theune zwar übernommen, wobei er im Falle [e] differiert (s. o.), fügt jedoch in dem rechten unteren Feld der Matrix, das den großen Nutzen dem schweren Schaden gegenüberstellt (vgl. Matrix, [i]) abweichend von der niederländischen Matrix folgendes ein: „nach §7 Abs 3 unzulässig (anderer Meinung de Cock et al und Scharmann differenzieren) - großer Nutzen auch besonders strittig - “. Goetschel hält diese Versuche also für ethisch nicht vertretbar. Dieser Verzicht auf Experimente, die mit schwerer Belastung einhergehen, wurde bereits anhand der erwähnten „Selbstbeschränkung“ in der Schweiz angesprochen - diese wird in den Ethischen Grundsätzen und Richtlinien für Tierversuche der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT formuliert 180 . Darauf rekurrieren Scharmann und Teutsch: „[...] es sollte ein Gebot der Fairneß des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren sein, daß der Mensch seine Position nicht ausnutzt, sondern die Verhältnismäßigkeit zwischen seinen Ansprüchen und der Belastung des Tieres wahrt. Diese Haltung schließt die Anerkenntnis ein, daß es für die den Versuchstieren zugemuteten Schmerzen, Leiden oder Schäden eine ‘Obergrenze’ gibt, deren Überschreitung ethisch nicht zu rechtfertigen wäre.“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). 4.3.7 Zusammenfassung Ethischer Rahmen des holländischen Modells Theune und de Cock Buning erklären, es bestehe ein großes öffentliches Interesse an Tierexperimenten. Es bestünden Zweifel an der Notwendigkeit der Verwendung von Tieren und ob das gewonnene Wissen überhaupt wichtig genug wäre. Primäre Zweckbestimmung der Tierschutzkommittees wäre, eine sorgfältige Entscheidungsfindung sicherzustellen. (Theune und de Cock Buning 1993, S. 143). Hierbei sei es Aufgabe der Kommitees, die technische Qualität eines Forschungsprojekts zu evaluieren, die methodische Annäherungsweise zu bestimmen und den beabsichtigten Einsatz von Labortieren unter den Gesichtspunkten der ‘3R’ zu bewerten. Darüber hinaus müssten sie die Belastungen, die den Tieren auferlegt würden, gegen die Relevanz der menschlichen Interessen abwägen. Dabei müssten Gründe gefunden werden, um unterschiedliche Interessen zu gewichten. Theune und de Cock Buning betonen, es gebe keine wissenschaftlichen Abwägungsprozeduren. Prinzipiell müssten Entscheidungen von Zeit zu Zeit erneuert werden, da kontinuierlich neue Gesichtspunkte in die Debatte eingebracht würden (ebd., S. 144). 180 SAMW und SCNAT 2006b (3. Auflage 2005), Ziffer 3.5. <?page no="209"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 209 Ein großes Problem sei, dass die Mitglieder der Tierschutzkomitees nicht dazu ausgebildet wären, ethisch-moralische Probleme zu diskutieren. Vorgebrachte Begründungen wären häufig zu oberflächlich und lediglich Ausdruck eines Gefühls oder einer Intuition, weshalb die Diskussionen der notwendigen Tiefe ermangeln und leicht durch persönliche Interessen beeinflusst werden. Um diesen Problemen zu begegnen, haben die Autoren eine detaillierte Checkliste erstellt, um sicherzustellen, dass alle ethisch relevanten Aspekte beachtet würden. Diese Checkliste müsse von Zeit zu Zeit überarbeitet werden. Das ethische Bezugssystem („ethical framework“) hinter der „operational weighting procedure“ basiere auf einer Kombination von einer deontologischen, mit einer teleologischen Grundstruktur (ebd., S. 144). Besonders sollte diejenige Anforderung berücksichtigt werden, dass Tiere mit Sorgfalt zu behandeln seien. Die Checkliste basiere jedoch auf einem unterschiedlichen moralischen Status von Tieren und Menschen (ebd., S. 145). Die Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren basiere auf der Vorannahme, dass nur Menschen dazu fähig wären, ihr Verhalten und ihre Entscheidungen zu rechtfertigen: „People are autonomous“ (ebd.). Die Autoren verweisen auf die Diskussion um den Speziesismus und rekurrieren auf Argumente von Peter Singer. Die prinzipielle Fragestellung sei: „What does it mean to treat an animal with care? “ (ebd., S. 146). Die Grenze der Linie der gleichen Berücksichtigung werde heutzutage um die menschliche Spezies gezogen. Tiere stünden ausserhalb dieses Kreises und könnten im Interesse der Menschen „geopfert“ werden, unter der Bedingung, dass es gute Gründe gebe, dies zu tun. Die Vorannahme, dass Tiere mit Sorgfalt behandelt werden sollten, sei Grundlage jedes Gesetzes über Tierexperimente und jeder Diskussion in Tierschutz-Komitees (ebd., S. 147). In der Geschichte sei die Rücksichtnahme auf Tiere ein neuer Gegenstand am Ende des 18. Jahrhunderts. Hierbei markierten die Evolutionstheorie mit der Theorie der physischen Kontinuität zwischen Tieren und Menschen und die utilitaristische Theorie mit den Kriterien von Schmerz und Freude sowie der Leidensfähigkeit von Tieren einen fundamentalen Wechsel im Verhältnis des Menschen zum Tier. Die Autoren verweisen auf Jeremy Bentham, der als zentrales Kriterium die Leidensfähigkeit von Tieren für deren Berücksichtigung benannt hat. Tiere reagieren neurophysiologisch in gleicher Weise wie Menschen und das wäre auch genau der Grund, warum Menschen sie in Tierexperimenten einsetzen (ebd.). Wie Tiere jedoch erleben, sei prinzipiell unbekannt. Der Mensch nehme sich selber jedoch als Bezugspunkt und neige dazu, sich selbst in das Tier hinein zu projezieren. Daher werde tierliches Verhalten nach menschlichen Kategorien interpretiert (ebd.). Die Sorge um Tiere wird Theune und de Cock Buning zu einer Regel erhoben. Tierliches Unbehagen werde gewöhnlich auf Schmerz und Krank- <?page no="210"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 210 heit reduziert. Seit man aber wisse, dass Umgebungsbedingungen das tierliche Wohlbefinden ebenfalls beeinflussen, müsse dieser Umstand berücksichtigt werden, weshalb dieses Kriterium in die Checkliste mit aufgenommen wurde. Es wäre jedoch schwierig, das Ausmaß des Unbehagens, das durch die Umgebungsbedingungen verursacht werde, zu ermitteln. Über diese Problematik sei bei Versuchstieren wenig bekannt (ebd., S. 148). Die Autoren schlagen als Richtlinie vor, dass - bis zum Beweis des Gegenteils - davon ausgegangen werden sollte, dass Tiere Unannehmlichkeiten in gleicher Weise wie der Mensch wahrnehmen (ebd., S. 148). Sie fordern mehr Forschung über tierliches Unbehagen, denn verschiedene Tierarten könnten unterschiedliche Ansprüche sowie physiologische Unterschiede haben. Bei der Evaluierung der menschlichen Interessen beschränken sich Theune und de Cock Buning auf die im niederländischen Gesetz benannten Zwecke 181 und sie halten eine Verwendung von Tieren um der Sache von Pflanzen willens für moralisch fragwürdig, weshalb sie Pflanzen nicht als mögliche Rechtfertigung für Tierexperimente in ihrer Checkliste berücksichtigen (ebd.). Die Autoren möchten den Zweck des Schutzes der Umwelt einschränken auf die Gesundheit von Mensch und Tier und damit den zweiten Aspekt, den Schutz der Umwelt im Interesse des Wohlergehens von Mensch oder Tier, ausklammern.. Die Debatte gehe weiter und verlange stetige neue Reflexion. Neue Herausforderungen könnten die genetische Modifikationen oder die Wiederverwendung von Versuchstieren als auch die gegenwärtige Diskussion über die Integrität von Tieren sein. Methodische Aspekte Das „holländische Formular“ lenke die Aufmerksamkeit des Forschers auf eine Reihe ethisch relevanter Aspekte (de Cock Buning und Theune 1994, S. 108f.): Qualifikation des Personals; Bewilligung des LSC (besser noch Unterstützung eines großen öffentlichen Geldgebers); Begründung für die Tierart und Anzahl der Tiere; voraussichtlicher Schweregrad von Belastungen, die durch Haltung und Experiment verursacht werden; Begründung der Analgesie; Begründung dafür, dass keine Ersatzmethoden verwendet werden; Begründung der Ziele sowie Bedeutung des Projektes. Die Beurteilung von Schmerz und Stress, dem die Tiere ausgesetzt werden, wird in drei Schweregerade in Kombination mit vier Zeitspannen eingeteilt. 181 Vgl. Kapitel 4.3.3, Tab. 3: Routineforschung; Diagnostik (Erkennen und Nachweisen von Erkrankungen oder physischen Symptomen), Ausbildung (Vermittlung von Wissen und Training von Fertigkeiten); problemorientierte Forschung; Grundlagenforschung. <?page no="211"?> 4.3 Das „holländische Modell“ von de Cock Buning und Theune 211 Dabei soll die Zuordnung in die Schweregrade eher anhand von psychologischen und Verhaltensanzeichen begründet werden, als auf einer Liste wissenschaftlicher Prozeduren. Begründet sei dies damit, dass der Schweregrad doch sehr vom durchführenden Operateur abhänge, so dass die Belastung, die durch eine Prozedur hervorgerufen wird bei einem fachkundigen und geübten Operateur geringer ausfallen könne, als bei einem ungeübten Experimentator (ebd., S. 109). Wissenschaftliche sowie labortierkundliche Aspekte würden im Vorfeld überprüft, bevor das Komitee überhaupt mit seiner Überprüfung beginne, so dass es ‘lediglich’ die wissenschaftliche Signifikanz des Projekts gegen die Kosten auf Seiten der Tiere abwägen müsse (ebd.). Eine detaillierte Checkliste soll Hilfestellung geben, um klare Entscheidungen zu fällen. Die Checkliste könne die Diskussionen und Entscheidungen in Tierschutzkomitees strukturieren (Theune und de Cock Buning 1993, S. 150). Durch die angeführten Aspekte der Checkliste können Komitees für Außenstehende Einsicht in ihre Entscheidungen geben. Die Checkliste könne auch verwendet werden, um die Entscheidungen der verschiedenen Komitees zu harmonisieren. Es werden fünf Bereiche des menschlichen Interesses unterschieden: 1) Routineforschung, 2) Diagnostik, 3) Ausbildung, 4) problemorientierte Forschung sowie 5) Grundlagenforschung. Entsprechend dem holländischen Gesetz über Tierexperimente sei die wesentliche Fragestellung, was die ersten vier Interessens-Gebiete (1-4) betreffe, in welchem Ausmaß die Ergebnisse der Experimente zu einer Verbesserung der Gesundheit oder Ernährung von Mensch oder Tier beitragen. Medizinische oder tiermedizinische Grundlagenforschung habe oft eine doppelte Bedeutung: Sie wäre im Interesse der Gesundheit von Mensch oder Tier, ebenso wie von wissenschaftlichem Interesse. Ein Mangel an guten Gründen auf Seiten des wissenschaftlichen Interesses werde gerne durch marginale gesundheitliche Interessen ausgeglichen. Als Konsequenz daraus wären die Entscheidungen sehr unklar und die Rechtfertigung von Forschungsprojekten, die in beiderlei Hinsicht niedrige Wertungen erhielten, könnte in Frage gestellt werden. Daher empfehlen die Autoren, dass die Komitees zuerst das hauptsächliche Interesse identifizieren und nur dieses Interesse bewerten sollten (ebd., S. 149). Die Autoren betonen, die Berufung auf die Freiheit der Forschung sei nicht ausreichend, um Experimente zu rechtfertigen, da das Wohlbefinden von Tieren auf dem Spiel stünde (ebd.). Der wissenschaftliche Wert eines Projektes soll nach den üblichen Qualitätskriterien, die von wissenschaftlichen review boards verwendet werden, bewertet zu werden. Dabei sei die Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse ein wichtiges Kriterium. <?page no="212"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 212 4.3.8 Fazit Das holländische Modell besteht aus vier Abschnitten, in denen die Qualität des Tierexperiments, die Belastung, die Signifikanz und die Forschergruppe bewertet werden. Diese vier Ergebnisse dienen als Input in einen „Entscheidungsbaum“ (de Cock Buning und Theune 1994, S. 110). Eine Schwäche im ersten Teil des Entscheidungsbaums ist nicht ausgleichbar. Damit ist die Anordnung der vier Aspekte innerhalb des Entscheidungsbaums von Bedeutung: Eine Ablehnung im ersten Teil der Evaluation kann nicht durch ausgezeichnete Ergebnisse in den anderen Teilen ausgeglichen werden, mit folgendem Resultat: Je früher ein Aspekt im Entscheidungsbaum evaluiert wird, desto stärker wirkt er als limitierter Faktor. Dies bedeutet, die Qualität des Experiments steht an oberster Stelle, dies entspreche auch der Ansicht in den Niederlanden, dass nur ein stimmiges Versuchsdesign Tierexperimente rechtfertigen könne (ebd.). Die anschließend erfolgende Abwägung der „Belastung“ gegen die „Bedeutsamkeit“ mit allen 9 Kombinationsmöglichkeiten (drei Belastungsgrade mal drei Grade der Bedeutsamkeit) wird anhand einer Entscheidungsmatrix „Belastung versus Bedeutsamkeit“ durchgeführt. Diese Matrix gibt ein sehr übersichtliches Bild und wurde in der Literatur oft herangezogen. Bisweilen wird bei der Darstellung des „holländischen Modells“ jedoch das System nicht in aller Vollständigkeit und aus den vier zu durchlaufenden Einzelschritten bestehend dargestellt, sondern auf die Entscheidungsmatrix „Belastung versus Bedeutsamkeit“ reduziert (z.B. bei Scharmann und Teutsch 1994 oder in diversen Kommentaren zum TierSchG). Dies halte ich für extrem nachteilig, denn dadurch entsteht ja gerade der Eindruck, die Güterabwägung beschränke sich ausschließlich auf die Abwägung der Belastungen der Versuchstiere (und zwar der augenblicklichen durch den Versuch hervorgerufenen Schmerzen, Leiden und Schäden) gegen den Nutzen für den Menschen, der aus dem Versuch erwachsen soll. Damit fallen aber weitere wesentliche Kriterien, namentlich sämtliche Kriterien zur Beurteilung der Qualität der Forschung sowie der Haltungsbedingungen und Pflege wie auch der Expertise der Forschergruppe unter den Tisch. Auf diesen Aspekt einer somit (bezüglich der verwendeten Kriterien) reduzierten Güterabwägung werde ich noch vertieft in Kapitel 6. .2. eingehen. <?page no="213"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 213 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 4.4.1 Einleitung Wolfgang Scharmann 182 und Gotthard M. Teutsch 183 möchten mit ihrem 1994 in der Zeitschrift ALTEX erschienenen Aufsatz „Zur ethischen Abwägung von Tierversuchen“ eine Übersicht über den aktuellen Diskussionsstand zur Problematik der Tierversuche und Hilfen für die ethische Abwägung des erwarteten Nutzens für Mensch und Tier und der Belastung der Tiere geben (Scharmann und Teutsch 1994, S. 191). Für die eigentliche Güterabwägung schlagen sie ein aus zwei Checklisten bestehendes „Abwägungsschema“ vor: Eine Checkliste für die Bewertung des Nutzens des Versuchs und eine für die Bewertung der Belastung der Tiere (ebd., S. 195). Die Wissenschaftler sind bereit, sich der ethischen Abwägung zu stellen Scharmann und Teutsch stellen fest, vermutlich die Mehrzahl der experimentierenden Wissenschaftler habe die ethische Relevanz des Umgehens mit Tieren akzeptiert und sei bereit, sich der ethischen Abwägung zu stellen (ebd., S. 192). Die Autoren zeigen auf, dass sich Verteidiger, Kritiker und Gegner von Tierversuchen in einer Entwicklung befinden würden, die „wegführt von einer Anthropozentrik, die das Tier nur als verfügbares Mittel ansieht, weg auch von einem nur binnenmenschlichen Humanismus, hin zu einer Humanität, die sich auch dem Mitgeschöpf verpflichtet weiß.“ (ebd.). Es werde anerkannt, dass Tierexperimente „ethisch begründbar sein müssen und daß auch Forschungsvorhaben denkbar sind, die zwar wissenschaftlich nützlich, aber aus ethischen Gründen nicht vertretbar sind.“ (ebd.). Die beiden Autoren sehen ein „Gebot der Fairneß des Stärkeren 182 Direktor a. D. am ehem. Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärwesen. 183 Ehem. Hochschuldozent für Soziologie und Politik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. „Es wird anerkannt, daß Tierexperimente ethisch begründbar sein müssen und daß auch Forschungsvorhaben denkbar sind, die zwar wissenschaftlich nützlich, aber aus ethischen Gründen nicht vertretbar sind.“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 192) <?page no="214"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 214 gegenüber dem Schwächeren.“ Diese Haltung schließe die Anerkenntnis ein, dass es für die den Tieren zugemuteten Schmerzen, Leiden oder Schäden eine „Obergrenze“ gebe, „deren Überschreitung ethisch nicht zu rechtfertigen wäre.“ (ebd., S. 194) Zwischen Verteidigern, Kritikern und Gegnern 184 der Tierversuche bestehe eine Gemeinsamkeit: „Die Bereitschaft, alles zur quantitativen Verringerung und qualitativen Linderung der Versuche Mögliche zu tun.“ ebd., S. 192). Die „Abwägungsklausel“ Das TierSchG enthalte seit 1986 in § 7 Abs. (3) 185 eine ‘Abwägungsklausel’, „um die Verantwortung des tierexperimentell tätigen Wissenschaftlers stärker zu betonen“, so Scharmann und Teutsch. Sie umschreiben diesen Abschnitt des Tierschutzgesetzes mit eigenen Worten: „Wenn ein Tier durch ein Experiment mit Schmerzen, Leiden oder Schäden belastet wird, muß die Frage gestellt werden, ob der erhoffte Forschungsertrag diese Belastung(en) des Mitgeschöpfes Tier rechtfertigt.“ (ebd., S. 193). Es sei vom Antragsteller, wie auch durch den Tierschutzbeauftragten, die beratende Kommission sowie die Genehmigungsbehörde eine Güterabwägung vorzunehmen. Scharmann und Teutsch verweisen auf das Sinnbild einer Waage, das von Gärtner in die Diskussion eingeführt wurde. Sie erklären, eine Waagschale enthalte die dem Tier zugemuteten Schmerzen, Leiden oder Schäden und die andere Waagschale den möglichen Erkenntnisgewinn für den Menschen beziehungsweise die beim Menschen (oder einem anderen Tier - im Falle von veterinärmedizinischen Experimenten) vermiedenen Leiden. 186 184 Scharmann und Teutsch (1994, S. 191) stellen vier Kategorien vor: Befürworter der Tierversuche halten unter allen Umständen Tierversuche für notwendig und akzeptieren allenfalls wissenschaftliche Kritik; Verteidiger sind bereit, Tierversuche einer ethischen Güterabwägung zu unterziehen; Kritiker lehnen eine große Zahl von Versuchen aus ethischen und wissenschaftlichen Gründen ab und Gegner müssen aus ethischen Überlegungen alle Tierversuche ablehnen. 185 § 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung: „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Versuche an Wirbeltieren, die zu länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“ Vgl. jetzt die inhaltgleichen, um Kopffüßer erweiterte Formulierungen in § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung und in § 25 Abs. 1 TierSchVersV. 186 Letzteres entspricht der Sichtweise von Gärtner, die ich bereits vorgestellt habe (s. auch Gärtner 1987). <?page no="215"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 215 Mangel an eindeutigen Kriterien; Unvergleichlichkeit der Werte Scharmann und Teutsch meinen, es gebe sicherlich Forschungsprojekte, „bei denen der Nutzen für die menschliche Gesundheit zumindest nachträglich so offensichtlich ist, daß hierfür die Belastung der Versuchstiere als ethisch vertretbar erscheint. Aber meistens dürfte das nicht der Fall sein, und Antragstellern wie beurteilenden Institutionen bleibt mangels eindeutiger Kriterien nichts anderes übrig, als bei der Abwägung der eigenen Einschätzung und dem eigenen Gewissen zu folgen.“ Den Kernpunkt des Problems identifizieren Scharmann und Teutsch in der Unvergleichbarkeit der Werte: „Zu wägen sind ja in vielen Fällen nicht Belastungen von Tieren gegen Belastungen von Menschen (was schon schwer genug ist), sondern tatsächliche Belastungen von Versuchstieren gegen einen möglichen Erkenntnisgewinn des Menschen.“ (ebd., S. 193). 4.4.2 Hilfen für die ethische Abwägung Richtlinien für das Wägen in den ethischen Grundsätzen der SAMW und SCNAT Um die ethische Abwägung „nicht allein dem subjektiven Empfinden des jeweils Beurteilenden zu überlassen“, sei verschiedentlich versucht worden, Richtlinien für das Wägen aufzustellen (ebd.). Scharmann und Teutsch zitieren die ethischen Grundsätze der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften SAMW und der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften SCNAT: „Je schwerer das dem Tier durch den Versuch zugemutete Leiden ist, desto schärfer stellt sich die Frage nach der Verantwortbarkeit eines Versuches.“ (SAMW, SCNAT 1983, Neufassung 1994, Ziffer 3.3, zitiert nach Scharmann und Teutsch 1994, S. 193). 187 Weiterhin zitieren Scharmann und Teutsch: „Tierversuche sind umso fragwürdiger und einer besonderen Begründung bedürftig, je mehr sie ökonomisch motiviert sind und je mehr sie sich von folgenden Zielsetzungen entfernen: Erwerb, Vermittlung und Anwendung von biologischem und medizinischem Wissen sowie Verbesserung diagnostischer, therapeutischer und präventiv-medizinischer Mittel. Abzulehnen sind Tierversuche, die ausschliesslich für Güter des Luxuskonsums durchgeführt werden.“ (SAMW, SCNAT 1983, Neufassung 1994, Ziffer 3.8, zitiert nach Scharmann und Teutsch 1994, S. 193, 194). 188 187 In der aktuellen Fassung von 2005 lautet dieser Passus nun folgendermassen: „Je schwerer oder längerdauernd das voraussichtliche Leiden des Tieres ist, desto dringlicher stellt sich die Frage nach der Zumutbarkeit und Verantwortbarkeit eines Versuches.“ (SAMW und SCNAT 2006b: 3. Aufl. 2005, nun Ziffer 3.2). 188 In der aktuellen Fassung von 2005 lautet dieser Passus nun folgendermassen: <?page no="216"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 216 Andererseits werde in den ethischen Grundsätzen auch folgendes erklärt: „Je notwendiger und für menschliche Werte bedeutsamer eine durch Tierversuche zu gewinnende Erkenntnis ist, desto eindeutiger lassen sie sich verantworten […].“(SAMW, SCNAT 1989, Neufassung 1994, Ziffer 3.2, zitiert nach Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). 189 Scharmann und Teutsch betonen den Passus des Verzichts auf Erkenntnisgewinn der in den ethischen Richtlinien formuliert wird. Wir haben diesen Passus ebenfalls bereits kennen gelernt (siehe Fussnote 21). Er lautet in der alten Formulierung, die bei Scharmann und Teutsch zitiert wird, folgendermassen: „Versuche, die dem Tier schwere Leiden verursachen, müssen vermieden werden, indem durch Änderung der zu prüfenden Aussage andere Versuchsanordnungen gewählt werden oder indem auf den erhofften Erkenntnisgewinn verzichtet wird.“ (SAMW, SCNAT 1983, Neufassung 1994, Ziffer 4.6, zitiert nach Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). 190 „Tierversuche sind grundsätzlich dann ethisch vertretbar, wenn eine ethische Güterabwägung für jeden einzelnen Versuch dies erwiesen hat; dazu gehören insbesondere Tierversuche, die dem Leben und der Gesundheit von Mensch und Tier oder dem Schutz der Umwelt in einsehbarer Weise dienen; dazu gehören Versuche mit prophylaktischen diagnostischen und therapeutischen Zielsetzungen in der Medizin und Veterinärmedizin, Tierversuche, welche - auch ohne unmittelbar erkennbaren Nutzen für Leben und Gesundheit - dem Streben nach neuer Erkenntnis dienen, wenn sie mit grosser Wahrscheinlichkeit einen bedeutenden Gewinn an Kenntnis über Bau, Funktion und Verhalten von Lebewesen erwarten lassen, Tierversuche in der Aus- und Weiterbildung, bei denen keine anderen Möglichkeiten bestehen, die notwendigen Lernziele zu erreichen; als solche Ziele gelten die Vertiefung des Verständnisses für Lebensphänomene und die Vermittlung der notwendigen Fertigkeiten für die Durchführung von Tierversuchen oder von Eingriffen am Menschen.“ (SAMW und SCNAT 2006b: 3. Aufl. 2005, Ziffer 3.4). Sowie „Tierversuche, die ausschliesslich zur Erforschung und Entwicklung von Gütern des Luxuskonsums durchgeführt werden, sind abzulehnen.“ (SAMW und SCNAT 2006b: 3. Aufl. 2005, Ziffer 3.6). 189 In der aktuellen Fassung von 2005 lautet dieser Passus nun folgendermassen: „Je notwendiger und bedeutsamer aus der Sicht des Menschen eine durch Tierversuche zu gewinnende Erkenntnis ist, desto eher lässt sich der Versuch verantworten.“ (SAMW und SCNAT 2006b: 3. Aufl. 2005, nun Ziffer 3.1). 190 In der aktuellen Fassung von 2005 lautet dieser Passus nun: „Bestimmte Versuchsanordnungen sind für Tiere voraussichtlich mit derart schwerem Leiden verbunden, dass eine Güterabwägung immer zugunsten der Tiere ausfallen wird. Wenn es nicht gelingt, durch Änderung der zu prüfenden Aussage andere, weniger belastende und ethisch vertretbare Versuchsanord- <?page no="217"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 217 Zusätzlich verweisen Scharmann und Teutsch auf die Empfehlung der „British Veterinary Association“ (1983), die sie wie folgt zitieren: „Alle Genehmigungen sollten Bestimmungen enthalten, die dafür sorgen, daß ein Tier, das schwere Schmerzen oder schweren Distress erleidet, die nicht gelindert werden können, getötet werden sollte, selbst wenn das Ve rsuchsziel nicht erreicht worden ist.“ Die Abwägungsmatrix bei de Cock Buning und Theune Wer den vorgestellten Abwägungsrichtlinien konsequent folgen würde, werde sich immer wieder vor die Entscheidung gestellt sehen, auf bestimmte belastende Versuche verzichten zu sollen, erklären Scharmann und Teutsch. Wie oft Wissenschaftler diese Konsequenz tatsächlich ziehen würden, wisse allerdings niemand. Scharmann und Teutsch fahren fort: „Auch de Cock Buning und Theune (1994) kommen aufgrund der von ihnen formulierten Abwägungskriterien zu diesem Ergebnis, das sie in einer Tabelle zusammenfassen“. Scharmann und Teutsch bilden an dieser Stelle (1994, S. 194, Tab. 2) eine Matrix „Entscheidungsmöglichkeiten bei Belastung/ Nutzen-Abwägung (de Cock Buning und Theune, 1994)“ ab. 191 Diese Matrix haben wir bereits im vorherigen Kapitel kennen gelernt. Gemäß einer Selbstbeschränkung würde in der Matrix nach de Cock Buning und Theune folglich im Feld [i] eine Ablehnung erfolgen müssen. Scharmann und Teutsch diskutieren an dieser Stelle jedoch die Zustimmung von de Cock Buning und Theune zu schwer belastenden Versuchen bei großem Nutzen (vgl. Matrix, [i]) nicht näher. Aus der Argumentation von Scharmann und Teutsch geht jedoch klar hervor, dass sie sich für eine Obergrenze aussprechen, deren Überschreitung nicht gerechtfertigt werden könne, womit solche schwer belastenden Versuche unabhängig vom Erkenntnisgewinn nicht vertretbar seien, im Gegensatz zur Darstellung bei de Cock Buning und Theune. Der Fragenkatalog von Porter Als weitere Möglichkeit, die ethische Vertretbarkeit zu objektivieren und damit den Ermessensspielraum des Experimentators einzuengen, benennen Scharmann und Teutsch das von Porter (1992) entworfene Punktesystem, an dem sie jedoch strenge Kritik üben: Ein solcher Fragenkatalog biete zwar nungen zu finden, muss auf den Versuch und damit auf den erhofften Erkenntnisgewinn verzichtet werden.“ (SAMW und SCNAT 2006b: 3. Aufl. 2005, nun Ziffer 3.5). 191 Scharmann und Teutsch tragen in ihrer Darstellung dieser Matrix den „Nutzen für Mensch/ Tier“ gegen die „Belastung des Tieres“ ab (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194, Tab. 2). <?page no="218"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 218 für die Abwägung nützliche Hinweise, er könne aber auch dazu führen, „daß der sehr diffizile Vorgang des Wägens zum bloßen Punktezählen verkommt und ist deshalb nicht zu empfehlen.“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). „Alle diese Schwierigkeiten dürfen nun aber nicht dazu führen, dem §7 (3) lediglich mit einigen pauschalen Sätzen formal Genüge zu tun“, mahnen die beiden Autoren. 192 Die Abwägungsklausel würde zwar einen weiten individuellen Entscheidungsspielraum bieten, sie sei jedoch zugleich ein „moralischer und rechtlicher Appell des Gesetzgebers, nicht bloß die menschlichen Ansprüche und Vorteile im Auge zu haben, sondern auch das Interesse der Tiere an einem ‘tiergerechten’ Leben ohne Schmerzen und Leiden.“ (ebd.). 4.4.3 „Eigentliche Güterabwägung“ mit Hilfe zweier „Checklisten“ Im Vorfeld selbstkritische Reflexion des Forschers über sein Vorhaben Scharmann und Teutsch erläutern, was sie unter fairem Umgang mit dem Versuchstier verstehen und formulieren dazu Fragen, denen sich der Forscher im Vorfeld stellen sollte. In Form einer Aufzählung stellen die Autoren zudem weitere wichtige Punkte vor, die im Vorfeld geklärt sein sollten (ebd., S. 194f., tabellar. Anordnung u. Hervorhebu von N. A.): Tab. 5: Kriterien zur Selbstrefle ion „Das bedeutet einmal, die eigene Motivation für das geplante Experiment und den daraus zu erwartenden Nutzen selbstkritisch und unparteiisch zu hinterfragen. Wieweit dienen die Versuche dem eigenen Fortkommen und Prestige? Geht es bei den Experimenten möglicherweise weniger um einen verbesserten Gesundheitsschutz als um die Erzielung wirtschaftlichen Gewinns? Handelt es sich um die Verringerung von Gesundheitsrisiken, die vorwiegend durch unvernünftige Lebensführung oder bei landwirtschaftlichen Nutztieren durch intensive Haltungsbedingungen entstanden sind? 192 Vgl. völlig gegensätzlich zu dieser Ansicht der pauschale Reduktionismus bei Gärtner: „Die wissenschaftliche Darlegung der Unmöglichkeit, das Forschungsvorhaben mit anderen Methoden zu erreichen, ist in der biomedizinischen [Grundlagen-]Forschung im allgemeinen leicht und kann in zwei Sätzen schlüssig dargelegt werden.“ (Gärtner 1987, S. 100). ng <?page no="219"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 219 Rechtfertigen alle diese Gründe Experimente, die mit Leiden für die Tiere verbunden sind? “ In Form einer Aufzählung stellen die Autoren weitere Punkte vor, die sich der Experimentator fragen sollte: „Wird das Tier rechtzeitig an den Umgang mit dem Versuchspersonal und die Versuchssituation gewöhnt? (Angst vor Neuem und Unbekanntem verstärkt die Belastung.) Ist das Personal aus- und fortgebildet, um z. B. Schmerzen und Verhaltensänderungen des Tieres zu erkennen? Werden die Tiere schmerzlos getötet (auch vor Erreichen des Versuchsziels), wenn Anzeichen vorliegen, daß sie schweren Leiden ausgesetzt sind? [ 193 ] o Sind die Kriterien hierfür vom Versuchsleiter definiert worden? Bei chirurgischen Eingriffen: a) Wird der Eingriff mit der gleichen Sorgfalt ausgeführt wie beim menschlichen Patienten (auch wenn es sich z. B. „nur“ um eine Ratte handelt)? b) Ist nach dem Eingriff die ständige Überwachung (Nachsorge) gewährleistet (evtl. Nachtwache)? c) Wird, falls erforderlich und methodisch vertretbar, rechtzeitig und ausreichend lange für Schmerzlinderung gesorgt? Genügt die Tierhaltung mehr als nur minimalen Anforderungen? Lassen sich Verbesserungen der Tierhaltung vornehmen und, wenn ja, welche? “ Zwei Checklisten für Bewertung des Nutzens und der Belastung der Tiere Um „die eigentliche Güterabwägung“ vornehmen zu können, gilt es zunächst „den vermuteten Nutzen des Experiments wie auch die wahrscheinliche Belastung der Tiere abzuschätzen. Um beim Bild der Waage zu bleiben: die beiden Waagschalen sind zu gewichten.“ (ebd., S. 195). Hierfür schlagen Scharmann und Teutsch ein Abwägungsschema vor, das aus zwei Checklisten besteht: Eine Checkliste für die Bewertung des Nutzens des Versuchs, eine weitere Checkliste für die Bewertung der Belastung der Tiere. 193 Dieser Punkt wird gewöhnlich unter dem Begriff „humane endpoints“ behandelt. <?page no="220"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 220 Tab. 6: Die beiden „Checklisten“ von Scharmann und Teutsch (1994) (Hervorhebungen durch Fettdruck von N. A.): „A. Erwarteter Nutzen 1. Dient der erwartete Nutzen 1.1. der weiteren Verbesserung der Diagnose oder Therapie 1. leichter, 2. mittelschwerer oder 3. schwerer Erkrankungen; 1. 2. der Entwicklung diagnostischer oder therapeutischer Möglichkeiten, um bisher nicht oder kaum beeinflußbare 1. leichte, 2. mittelschwere oder 3. schwere Erkrankungen behandeln zu können? 2. Für wie bald und wahrscheinlich wird mit der Nutzbarmachung gerechnet? 1. Erfolg und benötigte Zeit sind nicht abzusehen 2. Chance innerhalb eines Jahrzehntes 3. Gute Chance innerhalb von 5 Jahren 3. Zusammenfassende Bewertung des Nutzens: 1. gering 2. erheblich 3. bedeutend B. Erwartete Belastung der Versuchstiere 1. Betrifft die Belastung 1.1. körperlichen Schmerz, und zwar eingestuft als 2. gering, 3. mittelschwer, 4. schwer; 1.2. psychische Belastung wie z. B. Angst vor Ungewohntem, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Beschränkung oder Unterbindung physiologischer Bedürfnisse oder Reaktionen, für die Tiere ungünstige Umweltbedingungen, und zwar eingestuft als: <?page no="221"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 221 1. gering, 2. mittelschwer, 3. schwer; 1.3. Störung des Sozialverhaltens wie z. B. Einzelhaltung sozial lebender Tiere, und zwar in Relation zu Tierart, Alter, Geschlecht, Sozialstatus sowie zur Dauer der Haltung eingestuft als: 1. gering, 2. mittelschwer, 3. schwer. 2. Wie lange hält die Belastung an? 2.1. kurzfristig: 1. weniger als 10 Minuten oder 2. weniger als 1 Stunde; 2.2. mittelfristig: 1. weniger als 1 Tag oder 2. weniger als 1 Woche; 2.3. langfristig: 1. mehr als 1 Woche, 2. mehr als 1 Monat. 3. Zusammenfassende Bewertung der erwarteten Belastung: 1. gering 2. mittelschwer 3. schwer“ Beschränkung auf den Bereich der Medizin Die Autoren weisen darauf hin, dass sich ihr Schema auf Versuche aus dem Bereich der Medizin beschränkt. Zudem werde es eingeschränkt „durch die Erfahrung, daß der Schweregrad einer Krankheit immer von vielen Umständen abhängen wird und seriös niemals konkret prognostiziert werden kann.“ (ebd., S. 195). <?page no="222"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 222 Gewissenhafte Einschätzung der Belastung und Maßnahmen zu deren Reduktion Ein fairer Umgang mit den Versuchstieren würde auch bedeuten, „gewissenhaft ohne Beschönigung die wahrscheinliche Belastung des Tieres abzuwägen und alles zu tun, damit diese so gering wie möglich ausfällt.“ Auch wenn über die Art und den Grad der Schmerzempfindung der Tiere gelegentlich noch gestritten werde, fordern Scharmann und Teutsch, dass - bis der Beweis des Gegenteils erbracht worden sei - davon ausgegangen werden sollte, „daß belastende Eingriffe vom Tier in gleicher oder ähnlicher Weise wahrgenommen werden wie vom Menschen.“ (ebd., S. 194). 4.4.4 Abwägung Nutzen gegen Belastung aus Sicht von „Verteidiger“ und „Gegner“ Die Autoren diskutieren die unterschiedlichen Ergebnisse der „Abwägung Nutzen gegen Belastung“ zu denen sie gelangen jeweils getrennt, um die Abwägung aus Sicht eines „Verteidigers“ (Scharmann) und eines „Gegners“ (Teutsch) von Tierversuchen darzulegen. Einfache Entscheidung bei unterschiedlicher Gewichtung der Waagschalen Für Wolfgang Scharmann ist die Entscheidung über die ethische Vertretbarkeit oder Nichtvertretbarkeit genau dann relativ einfach zu fällen, wenn beide Waagschalen eine unterschiedliche Gewichtung aufweisen. Scharmann erläutert: „So sollten Versuche mit geringem Nutzen zumindest dann unterbleiben, wenn sie für die Tiere mit Belastung verbunden sind - selbst wenn diese nur gering ist [vgl. Matrix, a]. Das gleiche gilt für schwer belastende Experimente, denen nur ein mittelmäßiger Nutzen zugesprochen werden kann [vgl. Matrix, f]. Umgekehrt können Versuche als ethisch zulässig eingestuft werden, wenn ihr Nutzen groß, die Belastung dagegen nur gering [vgl. Matrix, g] bis mittelmäßig [vgl. Matrix, h] ist.“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 195. Meine Anmerkungen in eckigen Klammern beziehen sich auf die Matrix bei de Cock Buning und Theune im Kapitel 4.3.5) Schwierige Entscheidung bei gleicher Gewichtung der Waagschalen Schwierig sieht Scharmann die Entscheidung aber in jenen Fällen, in denen ein mittelmäßiger Nutzen einer mittelgradigen Belastung (vgl. Matrix, [e]) oder einer großer Nutzen einer schweren Belastung gegenüberstehenden würden (vgl. Matrix, [i]). In diesen Fällen könnte nach Scharmann die „Anzahl der nutznießenden Menschen bzw. die Anzahl der belasteten Tiere in die Entscheidung <?page no="223"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 223 einbezogen werden.“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Scharmann schlägt folgende Fragestellung vor: (A) Betrifft der angenommene Nutzen 1. weniger als 5% der Bevölkerung 2. ca. 10-20% der Bevölkerung 3. mehr als 20% der Bevölkerung (B) Wieviele Tiere werden der Belastung ausgesetzt 1. weniger als 10 2. weniger als 100 3. mehr als 100 Tiere Scharmann erläutert, eine geringe Zahl an Nutznießern - in einer Region die von den Versuchsergebnissen einen Vorteil haben könnte - gegenüber einer hohen Zahl von leidenden Tieren würde die Abwägung zugunsten der Tiere entscheiden und umgekehrt. In denjenigen Fällen in denen der Inhalt beider Waagschalen gleichgewichtig erscheint (vgl. Matrix, [e] und [i]; Fall [a] entfällt weil nur geringer Nutzen), würde Scharmann dem Menschen den Vorzug geben. Dies geschehe „durchaus in der Erkenntnis, daß es für diesen Schritt keine tragfähige philosophisch-ethische Begründung gibt.“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Er ergänzt: „Nicht, weil ich den Menschen als ‘höherwertig’ ansehe, entscheide ich zu seinen Gunsten, sondern weil mir der leidende Mensche näher steht als das leidende Tier - so, wie mir meine Familie und meine Freunde näher stehen als fremde Personen.“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Problemfeld Grundlagenforschung Bezüglich der Grundlagenforschung erklärt Scharmann, Versuche aus diesem Forschungsbereich seien nicht berücksichtigt worden, „da eine Vorabschätzung ihres praktischen Nutzens zumeist nicht möglich ist.“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Dieses heiße aber nicht, „daß Tierexperimente in der Grundlagenforschung generell als ethisch bedenklich anzusehen seien.“ Dennoch sei zu fragen, „ob Tierversuche in der Grundlagenforschung die mit mittelschweren bis schweren Leiden einhergehen [vgl. Matrix: e, h, i], ethisch zulässig sind.“ Würde man den Abwägungsrichtlinien folgen, so seien solche Versuche „nur dann gerechtfertigt, wenn Sie einen besonderen und bedeutenden Nutzen für den Menschen bringen [h, i]. Ist ein solcher Nutzen in der Grundlagenforschung nicht vorhersehbar, sollten aus ethischen Gründen allenfalls Tierversuche <?page no="224"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 224 mit geringem Belastungsgrad erlaubt sein [also d].“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Anzahl Menschen gegen Anzahl Tiere zu gewichten „völlig sinnlos“ Den Gedanken von Scharmann, die Zahl der Versuchstiere mit der Zahl der möglicherweise nutznießenden Menschen in Relation zu setzen, hält Teutsch für fragwürdig, denn „an den häufigsten Krankheiten wird an vielen Stellen und zum Teil über Jahrzehnte geforscht, ehe ein Erfolg oder Teilerfolg erkennbar wird.“ Teutsch hält es für „völlig sinnlos“ beispielsweise den Anteil der herz- und krebskranken Menschen in der Bundesrepublik mit der Zahl der „verbrauchten“ Tiere, die bei einem der vielen in dieser Zielrichtung verlaufenden Tierexperimente eingesetzt wurden, in Verbindung zu bringen. Zudem müsste man dann auch alle seit Beginn solcher Versuche dafür geopferten Tiere einbeziehen. „Es ist die seltene Ausnahme, dass ein Versuch oder eine Versuchsreihe unmittelbar zur Entdeckung einer wesentlich verbesserten oder neuen Therapie führt.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Teutsch hält die 1986 erfolgte Erweiterung des § 1 des Tierschutzgesetzes durch die „Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf“ für einen Fingerzeig. Damit ist nach Teutsch auf die Frage, nach welcher Ethik die geforderte Abwägung erfolgen solle „eine zwar keineswegs ausreichende, aber immerhin weiterführende Antwort gegeben: Ein Fingerzeig in Richtung auf die Forderung der artübergreifenden Humanität nach schonender bzw. gerechter Behandlung der Tiere.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Teutsch fährt resigniert fort, an der anthropozentrischen Grundüberzeugung, „daß der Mensch dem Tier auch schwere Belastungen zufügen darf, wenn er damit entsprechend wichtige Fortschritte für die Medizin erreichen zu können glaubt, hat sich jedoch nichts geändert: auch der Appell an unsere Mitgeschöpflichkeit kann uns offenbar nicht dazu bewegen, unseren Artegoismus konsequent zu begrenzen.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Zur sinnvollen „Verschärfung der zur Qualifikation ethischer Vertretbarkeit führenden Abwägungskriterien“ formuliert Teutsch zwei Fragen: Nutzen durch einen Unsicherheitsfaktor vermindern Auf seine erste Frage: „Wie muss dem […] festgestellten Umstand, daß der tatsächlichen Belastung der Tiere nur mögliche Erkenntnisgewinne für die Medizin gegenüberstehen in der Schlußabwägung Rechnung getragen werden? “ gibt Teutsch die Antwort, es sei klar, „daß dieser Umstand nicht nur erwähnt, sondern bei der Abwägung berücksichtigt werden muß, etwa <?page no="225"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 225 in dem das Gewicht des angenommenen Nutzens um einen Unsicherheitsfaktor vermindert wird.“ Beispielsweise werde der ursprünglich festgestellte Nutzen um je eine Stufe reduziert. Dies würde bedeuten, dass ein an sich als ‘bedeutend’ angesehener Nutzen sich auf ‘erheblich’ sowie ein zunächst als ‘erheblich’ beurteilter Nutzen sich auf ‘gering’ reduziert, „während ein geringer möglicher Nutzen keine ernstzunehmende Größe mehr darstellt.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196, 197). Kann das „Prinzip der Nähe“ rechtfertigen? Zur seiner zweiten Frage: „Wie zwingend, rechtfertigend oder entschuldigend ist das [...] beanspruchte ‘Prinzip der Nähe’, wonach uns der leidende Mensch näher steht als das leidende Tier? “ erläutert Teutsch, dass das Prinzip der Nähe von Ottfried Höffe 194 in die Tierschutzdiskussion eingeführt wurde und durchaus Gründe für sich habe. Jedoch sieht Teutsch „die Gefahr der Überdehnung, nämlich aus der Nächstenpräferenz einen Nächsten-, National- und schließlich Artegoismus werden zu lassen.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196f.). Zudem komme noch ein weiteres Element hinzu: „Es ist ein ethisch relevanter Unterschied, ob ich mich, wenn Menschen und Tiere in gleicher Weise gefährdet sind, zuerst um die Menschen kümmere und dann um die Tiere, oder ob ich mir fernstehende Tiere allen möglichen Belastungen aussetze und ihnen schließlich das Leben nehme, nur weil ich hoffe, damit irgendwann einmal den mir näherstehenden Menschen helfen zu können.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). Rechtfertigung durch das Recht der Andersbehandlung aufgrund Andersseins? Teutsch führt an, dass es im Falle der Tierversuche verschiedene Ablehnungsgründe gebe, darunter auch einen „rationalen und sachlich diskutierbaren Grund“: Keiner der Autoren, die sich bei ihrer Rechtfertigung der Tierversuche auf das Recht der Andersbehandlung der Tiere aufgrund deren Andersseins berufen, habe eine „sowohl unstrittige als auch ethisch relevante Andersartigkeit der Tiere“ benannt. „Zwar ist das beim Tier feststellbare Defizit an Qualitäten wie abstraktem Denken, Selbstreflektion oder Moralität nicht strittig, aber warum diese Defizite ethisch relevant sein sollen, ist bis heute nicht belegt worden [...]. Ethisch relevant wäre es jedoch, wenn das körperliche Schmerzempfinden der Versuchstiere erheblich geringer wäre als beim Menschen.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). 194 Vgl. Höffe 1982, S. 109. <?page no="226"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 226 Teutsch verweist auf eine These von Günter Patzig, wonach „die qualitative Differenz menschlicher Lebens- und Schmerzfähigkeit gegenüber dem entsprechenden Potential bei den nichtmenschlichen Lebewesen, [...] als das wichtigste Argument für die Ungleichbehandlung von Menschen und Tieren in Betracht kommt“ (Patzig in Hardegg und Preiser 1986, S. 80f.). Dieser These sei aber nicht nur von Geisteswissenschaftlern widersprochen worden, sondern sie wurde auch von dem Versuchstierkundler Klaus Gärtner in Frage gestellt: Gärtner entgnet Patzig 195 , dieser würde unterstellen, „dass Tiere weniger leidensfähig sein sollen als wir, und zwar prinzipiell, weil sich bei uns alles vervielfache, wir daher mehr Angst hätten und daß außerdem unser Leben insofern etwas anderes sei, als wir auch noch kulturelle Freuden etc. hätten. Ich meine, wir wissen nicht, wie Tiere empfinden.“ (Protokollierter Diskussionsbeitrag von Gärtner in Hardegg und Preiser 1986, S. 85) Damit werde, so Teutsch, die Aussage von Arthur Kaufmann bestätigt: Dass wir nämlich bezüglich der Tierversuche „strenggenommen kein Argument dafür haben, das wirklich hieb- und stichfest ist“ (Kaufmann in Hardegg und Preiser 1986, S. 125). Solange dieses Begründungsdefizit bestehe, müsse Teutsch bei seiner „grundsätzlichen Ablehnung aller Tierversuche“ bleiben. Er fordert: „Gerechtigkeit für Tiere und der daraus ableitbare Gleichheitsgrundsatz […] muß in allen relevanten Fällen angewandt werden.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). Argument der „unausweichlichen Konflikte“ Teutsch erläutert, wer Tierversuche verteidigen möchte, könne trotz mangelnder Argumente in der Gleichheitsdiskussion noch auf die „auch dem Ethiker geläufige Situation unausweichlicher Konflikte“ hinweisen, die dann entstehe, wenn man nur die Wahl zwischen zwei verschiedenen Übeln habe. Teutsch: „Sind diese Übel unterschiedlich gravierend, so können wir uns immerhin für das geringere entscheiden. Was aber wenn die Übel gleich schwer sind? “ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). Schon Albert Schweitzer beschäftigte sich mit solchen Konflikten, die uns zwingen können, Schuld auf uns zu nehmen. An einem Beispiel zeigte Schweitzer, dass gleichgültig wie er sich entscheide, würde er in jedem Falle nach seinem Verständnis „Tötungsschuld“ auf sich laden, erläutert Teutsch und verweist auf Hans Driesch 196 , einen Zeitgenossen Schweitzers, der zur Minderung einer tragischen, weil unvermeidbaren Schuld, hier zwar nicht von einer Rechtfertigung durch Zwangslage sprechen, aber von Entschuldbarkeit. 195 In der Diskussion zur Veranstaltung „Der wissenschaftliche Tierversuch unter ethischen Aspekten“. 196 Vgl. Driesch 1927, S. 68-81. <?page no="227"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 227 Dennoch bleibt für Teutsch eine grundlegende Frage unbeantwortet: „Die Frage, warum die Leidtragenden solcher Zwangslagen immer nur die Tiere [...] sein sollen, warum wir also Tiere in so fundamentaler Weise anders behandeln als uns oder unseresgleichen“. Teutsch schließt: „Wir wollen nicht als Entschuldigungsbedürftige darstehen, sondern als Gerechtfertigte! Darum ist das Abrücken von der Selbstgerechtigkeit ein so schwerer Schritt, zu dem wir uns durchringen sollten, auch die nur Mitschuldigen.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 198). 4.4.5 Diskussion 4.4.5.1 Die ethische Position von Scharmann und Teutsch Eine Entwicklung die von einer reinen Anthropozentrik wegführt, hin zu einer dem Mitgeschöpf verpflichteten Humanität Scharmann und Teutsch attestieren den experimentierenden Wissenschaftlern eine Akzeptanz der ethischen Relevanz des Umgehens mit Tieren. Man sei bereit, sich der ethischen Abwägung zu stellen (Scharmann und Teutsch 1994, S. 192). Verteidiger, Kritiker und Gegner von Tierversuchen befänden sich in einer Entwicklung, die wegführe von einer Anthropozentrik, die das Tier nur als verfügbares Mittel ansehe, weg auch von einem „nur binnenmenschlichen Humanismus“, hin zu einer „Humanität, die sich auch dem Mitgeschöpf verpflichtet weiß.“ (ebd.). Es werde anerkannt, dass Tierexperimente „ethisch begründbar sein müssen und daß auch Forschungsvorhaben denkbar sind, die zwar wissenschaftlich nützlich, aber aus ethischen Gründen nicht vertretbar sind.“ (ebd). Gebot der Fairness, das aus ethischen Gründen eine Belastungsobergrenze fordert Die beiden Autoren sehen ein „Gebot der Fairneß des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren“. Diese Haltung schließe eine „Obergrenze“ der den Tieren zugemuteten Schmerzen, Leiden oder Schäden ein, deren Überschreitung „ethisch nicht zu rechtfertigen“ wäre (ebd., S. 194). Zwischen Verteidigern, Kritikern und Gegnern der Tierversuche bestehe die Gemeinsamkeit „alles zur quantitativen Verringerung und qualitativen Linderung der Versuche Mögliche zu tun.“ (ebd., S. 192). Rekurs auf die ethischen Richtlinien der Schweizer Wissenschaftler Scharmann und Teutsch rekurrieren auf die ethischen Grundsätze der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften SAMW und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT. Hier wurden Richtlinien für das Wägen aufgestellt, Um die ethische Abwägung „nicht <?page no="228"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 228 allein dem subjektiven Empfinden des jeweils Beurteilenden zu überlassen“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 193). Zusammenfassend fordern die Richtlinien: Je schwerwiegender die Belastungen sind, desto strenger muss die ethische Prüfung sein. Präferiert werden Experimente, die zu biomedizinischen Verbesserungen führen können - im Gegensatz zu den abzulehnenden Versuchen „für Güter des Luxuskonsums“. Je notwendiger und bedeutsamer die Erkenntnis aus einem Tierversuch ist, desto eindeutiger wäre dies verantwortbar. Im Falle von Tierversuchen, die zu schweren Schäden führen solle ggf. auf den Erkenntnisgewinn verzichtet werden. Scharmann und Teutsch sind übereinstimmend der Ansicht, dass der „diffizile Vorgang des Wägens [nicht] zum bloßen Punktezählen“ verkommen darf (ebd., S. 194), weshalb sie der Bepunktung im System von Porter ablehnend gegenüberstehen. Außerdem sprechen sich Scharmann und Teutsch gegen das pauschale Beantworten des Punktes der ethischen Vertretbarkeit im Versuchantrag aus (ebd.). Moralischer Appell an die Verantwortung des Wissenschaftlers Die „Abwägungsklausel“ in § 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung (jetzt: § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung und § 25 Abs. 1 TierSchVersV) sehen Scharmann und Teutsch als Aufforderung zur Güterabwägung, um die Verantwortung des Wissenschaftlers stärker zu betonen. Der erhoffte Forschungsertrag müsse die Belastung(en) des „Mitgeschöpfes Tier“ rechtfertigen. (ebd., S. 193). Die Abwägungsklausel, biete zwar einen „weiten individuellen Entscheidungsspielraum“, sei jedoch zugleich ein „moralischer und rechtlicher Appell“ des Gesetzgebers, nicht nur die menschlichen Belange im Auge zu haben, sondern auch das „Interesse der Tiere an einem ‘tiergerechten’ Leben ohne Schmerzen und Leiden.“ (ebd., S. 194). Scharmann und Teutsch betonen die Mitgeschöpflichkeit des Versuchstieres und die ethische Rechtfertigungs-Pflicht des Forschers, der seiner Verantwortung bewusst sein soll. Sie sprechen sich für eine Belastungsobergrenze aus. 4.4.5.2 Bewertung aus dem Blickwinkel von „Verteidiger“ und „Gegner“ Die Ergebnisse der Güterabwägung „Nutzen gegen Belastung“ wurde von den beiden Autoren aus deren jeweils unterschiedlichem Blickwinkel („Verteidiger“ und „Gegner“ von Tierversuchen) dargestellt, wobei sie jeweils aufeinander Bezug nehmen und auch klar benennen, an welcher Stelle sie die Ansicht des anderen Autors nicht teilen können. Dieses Vorgehen erweist sich als sehr gewinnbringend: Es erfordert - ohne den Vertreter der „gegnerischen“ Meinung anzufeinden - sich mit dessen Argu- <?page no="229"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 229 menten auseinander zu setzen und dabei seine eigene Position umso schärfer herausarbeiten zu müssen. Gefahr der Überdehnung des „Prinzips der Nähe“ Im Falle eines Gleichgewichts der beiden Waagschalen für den Nutzen und für den Schaden rechtfertigt Scharmann die Tierversuche dennoch, ohne dass er dafür eine tragfähige philosophisch-ethische Begründung gebe. In Scharmanns Rechtfertigung aufgrund des „‘Prinzip der Nähe’, wonach uns der leidende Mensch näher steht als das leidende Tier“ sieht Teutsch die Gefahr einer Überdehnung, dass nämlich aus der Nächstenpräferenz ein „Nächsten-, National- und schließlich Artegoismus“ werden könnte (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196f.). Zudem sei es ein ethisch relevanter Unterschied, ob man sich bei gleicher Gefährdungslage „zuerst um die Menschen kümmere und dann um die Tiere“, oder ob man den sich fernstehenden Tieren Belastungen aussetzen und ihnen das Leben nehmen sollte, nur weil man hoffe, „damit irgendwann einmal den mir näherstehenden Menschen helfen zu können.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). Begründungsdefizit der Andersbehandlung von Tieren aufgrund deren Andersseins Teutsch betont, keiner der Autoren, die sich bei ihrer Rechtfertigung der Tierversuche auf das Recht der Andersbehandlung der Tiere aufgrund deren Andersseins berufen, habe eine „sowohl unstrittige als auch ethisch relevante Andersartigkeit der Tiere“ benannt. Somit gebe es bezüglich der Tierversuche strenggenommen kein Argument dafür, das hieb- und stichfest wäre. Solange dieses Begründungsdefizit bestehe, müsse Teutsch bei seiner grundsätzlichen Ablehnung aller Tierversuche bleiben. Er fordert „Gerechtigkeit für Tiere“ und die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes in allen relevanten Fällen (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). Leidtragende von Zwangslagen immer nur die Tiere Für den Fall der „unausweichliche(r) Konflikte“, wenn man nur die Wahl zwischen zwei verschiedenen Übeln habe, verweist Teutsch auf Albert Schweitzer und Hans Driesch. Im Falle einer tragischen, weil unvermeidbaren Schuld, könne man zwar nicht von einer Rechtfertigung durch Zwangslage sprechen, aber von einer Entschuldbarkeit. Offen bleibt für Teutsch jedoch die grundlegende Frage, warum die Leidtragenden solcher Zwangslagen immer nur die Tiere sein sollen, die wir damit „in so fundamentaler Weise anders behandeln als uns oder unseresgleichen“. Teutsch <?page no="230"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 230 ruft schließlich zu einem Abrücken der „Selbstgerechtigkeit“ des Menschen auf (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 198). 4.4.5.3 Generelle Punkte Die kategorische Ablehnung des „Punktezählens“ des Porterschen Ansatzes erscheint mir zu restriktiv zu sein. „Daß der sehr diffizile Vorgang des Wägens zum bloßen Punktezählen verkommt“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194), glaube ich nicht, denn auch beim Vornehmen der Angaben und beim Ermitteln der Bewertungen müssen Überlegungen und Entscheidungen getroffen werden, die freilich so objektiv wie möglich angestellt werden müssen. Beschränkung auf den Bereich der Medizin Leider ist das Schema von Scharmann und Teutsch auf Versuche aus dem Bereich der Medizin beschränkt, wobei die Autoren anmerken, dass auch in diesem Bereich die Einschränkung bestünde, dass eine Krankheit „immer von vielen Umständen abhängen wird und seriös niemals konkret prognostiziert werden kann.“ (ebd., S. 195). Ihre „Checklisten“, die wertvolle Kriterien abfragen, können darüber hinaus sicherlich - nach Modifikation im Bereich derjenigen Liste die den Nutzen abfragt - auch für andere Forschungsgebiete verwendet werden. Sinnvolle differenzierte Untergliederung der Kategorie der Belastung Die Untergliederung der Kategorie der Belastung der Versuchstiere in körperliche aber auch in psychische Belastung (z.B. Angst vor Ungewohntem) sowie Störung des Sozialverhaltens halte ich für sehr gut, dies wird bei den Katalogen der anderen Autoren nicht in dieser Weise differenziert. Damit wird auch der Forderung beispielsweise von Maria Biedermann (2008a) genüge getan, psychisches Leiden wie Angst stärker bei der Ermittlung der Belastungen der Tiere mit einzubeziehen. Diese stärkere Differenzierung der Belastungseinstufung scheint mir auch der gewichtigste Beitrag der beiden Autoren in der Debatte zu sein. Begrenzung der „eigentliche(n) Güterabwägung“ auf das Experiment Die sehr sinnvollen Fragen, die sie quasi zur Selbstbeantwortung des Forschers formulieren (s. 4.4.3, Tab. 5), sind bei Scharmann und Teutsch von den Fragen, die die eigentliche Güterabwägung betreffen (ebd.) getrennt. Somit verstehen Scharmann und Teutsch die „eigentliche Güterabwägung“ - wie sie diese auch treffenderweise bezeichnen - eng begrenzt auf Faktoren, die die Belastung während des eng umgrenzten Zeitraumes des Expe- <?page no="231"?> 4.4 Die „Checklisten“ von Wolfgang Scharmann und Gotthard M. Teutsch 231 riments selber betreffen. Weitergehende Faktoren, wie die Haltungsbedingungen, die Qualität der Pflege und die Qualifikation des Personals, sowie die Tierart, die zum Versuch verwendet wird, sind bei Scharmann und Teutsch nicht Gegenstand der Kriterien, die nach ihrer Ansicht zur Abwägung der ethischen Vertretbarkeit herangezogen werden sollen. Die Anzahl der Tiere, die im Versuch verwendet werden, wird von Scharmann dann einbezogen, wenn sich eine Situation einstellt, in der - sinnbildlich gesprochen - beide Waagschalen gleich gewichtet sind. Somit stoßen wir auch hier wieder auf die Frage des Umfanges der ethischen Abwägung, die ich am Schluss in Kapitel 6 vertieft diskutieren werde. Benachteiligung von Patienten mit „orphan diseases“ Problematisch ist die Überlegung, die Anzahl der nutznießenden Patienten zu gewichten: Patienten mit seltenen Erkrankungen (sog. „orphan diseases“) wären nach dieser Denkart zweifelsohne benachteiligt und dies, obwohl diese seltenen Erkrankungen dennoch für den einzelnen Betroffenen schwerwiegende bis lebensbedrohende Folgen haben können. 4.4.6 Zusammenfassung Ethische Aspekte Scharmann und Teutsch beobachten eine Bereitschaft der Wissenschaftler, sich der ethischen Abwägung zu stellen (Scharmann und Teutsch 1994, S. 192). Sie sehen eine Entwicklung, die wegführe von einer Anthropozentrik, die das Tier nur als verfügbares Mittel ansehe, hin zu einer Humanität, die sich auch dem Mitgeschöpf verpflichtet weis (ebd.). Tierexperimente müssten ethisch begründbar sein und es wären Versuche denkbar, die zwar wissenschaftlich nützlich, aber aus ethischen Gründen nicht vertretbar seien. Ein Gebot der Fairness des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren schließe eine „Obergrenze“ der den Tieren zugemuteten Belastungen ein, deren Überschreitung ethisch nicht zu rechtfertigen sei (ebd., S. 194). Bei allen Beteiligten bestehe die Gemeinsamkeit zur quantitativen Verringerung und qualitativen Linderung der Versuche (ebd., S. 192). Scharmann und Teutsch rekurrieren auf die ethischen Grundsätze der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften SAMW und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT: Je schwerwiegender die Belastungen wären, desto strenger müsse die ethische Prüfung sein. Je notwendiger und bedeutsamer die Erkenntnis aus einem Tierversuch sei, desto eindeutiger wäre dies verantwortbar. Im Falle von Tierversuchen, die zu schweren Schäden führen, solle ggf. auf den Erkenntnisgewinn verzichtet werden. <?page no="232"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 232 Der diffizile Vorgang des Wägens dürfe nicht zum bloßen Punktezählen verkommen, weshalb Scharmann und Teutsch der Bepunktung im System von Porter ablehnend gegenüberstehen (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). Ein pauschales Beantworten des Punktes der ethischen Vertretbarkeit im Versuchantrag sei nicht akzeptabel. Die „Abwägungsklausel“ in § 7 Abs. 3 TierSchG alte Fassung (jetzt: § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung und § 25 Abs. 1 TierSchVersV) sei eine Aufforderung zur Güterabwägung, um die Verantwortung des Wissenschaftlers stärker zu betonen. Der erhoffte Forschungsertrag müsse die Belastungen des „Mitgeschöpfes Tier“ rechtfertigen (ebd., S. 193). Im Falle eines Gleichgewichts der beiden Waagschalen für den Nutzen und für den Schaden rechtfertigt Scharmann die Tierversuche dennoch aufgrund des „‘Prinzip der Nähe’, wonach uns der leidende Mensch näher stehe als das leidende Tier. Teutsch sieht darin die Gefahr einer Überdehnung hin zum „Artegoismus“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196f.). Aufgrund des Begründungsdefizits der Benennung einer unstrittigen und ethisch relevanten Andersartigkeit der Tiere, bleibe Teutsch bei seiner grundsätzlichen Ablehnung aller Tierversuche. Er fordert „Gerechtigkeit für Tiere“ und die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes in allen relevanten Fällen (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). Für den Fall der unausweichlichen Konflikte verweist Teutsch auf Schweitzer und Driesch: Man könne zwar nicht von einer Rechtfertigung durch Zwangslage sprechen, aber von einer Entschuldbarkeit. Methodische Aspekte Leider ist das Schema von Scharmann und Teutsch auf Versuche aus dem Bereich der Medizin beschränkt. Auch in diesem Bereich bestünde jedoch die Einschränkung, dass eine Krankheit seriös niemals konkret prognostiziert werden könne (Scharmann und Teutsch 1994, S. 195). Die Untergliederung der Kategorie der Belastung der Versuchstiere in körperliche aber auch in psychische Belastung (z.B. Angst vor Ungewohntem) sowie Störung des Sozialverhaltens halte ich für sehr gut. Damit wird auch psychisches Leiden wie Angst stärker bei der Ermittlung der Belastungen der Tiere mit einbezogen. Scharmann und Teutsch sehen die „eigentliche Güterabwägung“ eng begrenzt auf Faktoren, die die Belastung während des eng umgrenzten Zeitraumes des Experiments selber betreffen. Weitergehende Faktoren, wie die Haltungsbedingungen, die Qualität der Pflege und die Qualifikation des Personals, sowie die Tierart, die zum Versuch verwendet wird, sind bei Scharmann und Teutsch nicht Gegenstand der Abwägung. <?page no="233"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 233 Wenn beide Waagschalen gleich gewichtet sind zieht Scharmann zur Entscheidungsfindung die Anzahl der Patienten bzw. der eingesetzten Versuchstiere heran. 4.4.7 Fazit Das interessante Argument von Teutsch, es sei ein ethisch relevanter Unterschied, ob man sich in einer direkten Dilemmasituation zunächst um den Menschen und dann erst um das Tier kümmert - bzw. in dieser Situation das Tier zugunsten des Menschen opfert, um diesen zu retten -, bevor man sich fern stehenden Tieren alles Mögliche aufbürdet um damit „irgendwann einmal“ den einem selbst näher stehenden Menschen helfen zu können, findet sich in ähnlicher Weise in der Debatte um die ethische Vertretbarkeit der ES-Zellforschung wieder. Das plakative Argument: „Das Versuchstier oder Dein Kind! “ taucht in der Debatte um Tierversuche auch regelmäßig wieder auf. Kritiker verweisen zu Recht darauf, dass sich die Frage in dieser Schärfe in den seltensten Fällen stellen würde, dass aber in der Regel die Belastungen (Schmerzen, Leiden, Schäden, Angst) der Versuchstiere immer aktuell und manifest sind, der Nutzen für den Menschen aber hypothetisch und allzu oft zu hoch gegriffen (vgl. Lindl et al. 2001 sowie 2005). Interessant ist daher auch der Vorschlag von Teutsch, den Nutzen durch einen Unsicherheitsfaktor zu vermindern, wenn die möglichen Erkenntnisgewinne vage sind. Bzgl. der Gegenstände der Güterabwägung stoßen wir wieder auf die zentrale Frage des Umfanges der ethischen Abwägung, die ich am Schluss in Kapitel 6 noch vertieft diskutiere. 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 4.5.1 Einleitung Ausgangsbasis „Ethischer Tierschutz“; fehlende Präzisierung des Gesetzestextes Die Ausgangsbasis von Uta Mands 197 im Jahre 1995 in der Zeitschrift Der Tierschutzbeauftragte publizierten Aufsatzes „Über die in § 7 Abs. 3 des 197 Tierärztin, Universität Gießen. „Dieser Aspekt der Abwägung erfordert großes philosophisches Fachwissen und viel Zeit, ohne Subjektivität zu vermeiden und Justitiabilität zu erreichen. Ein verbindliches Wägeschema … würde eine einheitliche Beurteilung erleichtern.“ (Mand 1995, S. 234) <?page no="234"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 234 TierSchG geforderte Abwägung ethischer Vertretbarkeit von Tierversuchen“ sowie ihrer tiermedizinischen Dissertation ist der „ethische Tierschutz“ als „Leitgedanke des derzeitigen Tierschutzgesetzes“. Auch sie verweist auf § 7 Abs. 3 Satz 1 des Tierschutzgesetzes (alte Fassung, jetzt § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung). Mand identifiziert an dieser ‘Abwägungsklausel’ „die verbreitete Sachunkenntnis über die anzuwendenden ethischen Regeln“ als problematisch. „Da keine genauen Anweisungen dem Gesetzestext zu entnehmen sind“, beobachtet Mand die Abwägung in der Praxis als „oft vage und zweifelhaft.“ (Mand 1995, S. 229). Mangelnde Justiziabilität bei Ablehnung ausschließlich aufgrund mangelnder ethischer Vertretbarkeit Als naturwissenschaftlich Ausgebildeter empfinde man „zunächst Unsicherheit und Verwirrung“ angesichts der Publikationsflut im Bereich der „Tierschutzethik“. Zudem gebe der Gesetzgeber „keinerlei Hinweise, welche ‘Ethik’ angewendet werden soll.“ (ebd.). Jede der verschiedenen Ethiken basiere auf unterschiedlichen Vorstellungen. Daher werde es ihres Erachtens „immer Schwierigkeiten bereiten, einen Tierversuchsantrag ausschließlich wegen mangelnder ethischer Vertretbarkeit abzulehnen, da sich dann das Problem der mangelnden Justiziabilität des ablehnenden Urteils stellt“. „Falls der Antragsteller gegen die Ablehnung vorgeht, könnte ein bestellter Gutachter eventuell den Schwerpunkt seiner ethischen Abwägung anders setzen und zum gegenteiligen Urteil kommen. Zur Vermeidung dies es Problems sind konkrete Entscheidungshilfen notwendig.“ (ebd.) 4.5.2 Die Beurteilung von Tierversuchen nach ethischen Gesichtspunkten Zunächst müsse man in einem ersten Schritt „die moralische Qualität bestimmter Handlungen und Praktiken“ beurteilen. Hierzu verweist sie auf Fragen, die von R. Hegselmann (1991) aufgestellt wurden (ich zitiere aus Mand 1995, S. 229): Wessen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse werden wie stark berührt? Wer sind die eventuellen Leidtragenden? Wird jemandem Schaden zugefügt? Wie wird es den Schlechtestgestellten ergehen? Werden jemandem elementare Lebensmöglichkeiten genommen oder jedenfalls stark eingeschränkt? Werden die Lebensmöglichkeiten zukünftiger Generationen tangiert? <?page no="235"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 235 Wer sind die Nutznießer? In welchem Verhältnis steht das zugefügte Leid zu dem erwartbaren Nutzen? In einem zweiten Schritt, der an die Analyse der Qualität der Experimente folgen kann, könne das von Klaus Gärtner (1987) vorgeschlagene Wägeschema angewendet werden. Dieses „stellt den Schmerzen, Leiden und Schäden eines Tieres die Schadensfolgen für Wissenschaft und Gesellschaft direkt gegenüber“ (Mand 1995, S. 229). Klassifizierung der Belastung der Tiere durch Schweregrad und Dauer Gärtner (1987) benutze zur Klassifizierung der Schmerzen, Leiden und Schäden die Dauer und den Schweregrad der Experimente, wobei die Begriffe „Schmerz“ und „Leiden“ nach Gärtner eine „objektive Verbindung mit definierten klinischen und ethologischen oder ethopathologischen Indikatoren“ benötigen (Mand 1995, S. 230). Hierbei beziehe sich Gärtner auf D. B. Morton und P. H. M. Griffith (1985), die Indikatoren zur Objektivierung der Schwere experimentell erzeugter Krankheitszustände aufgestellt haben. Nicht praktikable Einteilung der Zeitspanne bei Gärtner Zur Einschätzung der Zeitspanne von Leidens- und Schmerzzuständen unterscheide Gärtner „kurzfristige“, „mittelfristige“ und „langandauernde“ Schmerzzustände; Mand hält jedoch diese Einteilung der Zeitspanne für „nicht praktikabel“. Sie hält es für „wohl nicht möglich, eine allgemein verbindliche Einteilung in solche Zeitspannen vorzunehmen. Je nach Schweregrad der Schmerzen und Leiden variiert auch die subjektiv unterschiedlich lang empfundene Zeitspanne der Versuche.“ (Mand 1995, S. 230). Probleme in der Praxis: Viel Zeit und Hintergrundwissen erforderlich „Eine gewissenhafte Beurteilung auf ethische Vertretbarkeit [erfordert] viel Zeit, aber auch Hintergrundwissen“. Wer einen Antrag auf Genehmigung eines Tierversuchsantrags stellen würde, müsse eine Abwägung vornehmen. „Solch eine Abwägung - auch wenn sie gewissenhaft durchgeführt wird - [wird] immer subjektiv sein und infolgedessen […] je nach dem persönlichen Standpunkt der abwägenden Person auch unterschiedlich ausfallen“. Dies sieht Mand als „großes Problem der ‘Abwägungsklausel’“ (ebd.). <?page no="236"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 236 Damit ein Versuch objektiver beurteilt werden könne, könne man „genau definierte Kriterien auf[stellen], die für die Genehmigung eines Versuchs vorausgesetzt werden“ (ebd.). 4.5.3 Die Beurteilung von Tierversuchen mit Hilfe eines Punkteschemas „Modifikation und Erweiterung des Porter’schen Schemas“; getrennte Beurteilung von Versuch und äußeren Bedingungen Mand hat ein Punkteschema ausgearbeitet, das für sie eine „Modifikation und Erweiterung des Porter’schen Schemas“ darstellt. Ein wichtiges Kennzeichen dieses Schemas besteht in der getrennten Beurteilung von Versuch und äußeren Bedingungen - namentlich die Haltung der Tiere, das Personal etc., „die strenger zu beurteilen sind“ (ebd., S. 230, 231). 198 Mand listet in 3 Kategorien insgesamt 12 Abschnitte auf. Wie Porter unterteilt auch Mand die einzelnen Abschnitte in jeweils fünf Unterpunkte - das sind die Antwortmöglichkeiten -, wobei die einzelnen Unterpunkte jeweils auch die zu vergebenden Punktzahlen darstellen (vgl. nachf. Tab. 7). Hierbei darf die höchste Punktzahl von 5 Punkten in keinem Abschnitt einer Kategorie erreicht werden. Damit ist eine jeweilige Höchstgrenze definiert. Die gesamte Punktzahl aller Kategorien darf nach der Festlegung von Uta Mand höchstens 36 Punkte (von theoretisch 12 Abschnitten x 5 Punkten = 60 Punkten Maximum) betragen. Hierbei dürfen in Kategorie B („Haltungsbedingungen“, theoretisch maximale Punktzahl 3 x 5 Punkte = 15 Punkte) und in Kategorie C („Personal“, theoretisch maximale Punktzahl 2 x 5 Punkte = 10 Punkte) jeweils höchstens sechs Punkte erreicht werden. Folglich darf in Kategorie A (Versuch) höchstens [36 Punkte - (2 x 6 Punkte)] = 24 Punkte erreicht werden. In allen Abschnitten der Kategorie A sind jeweils für den best möglichen Fall 1 Punkt und für den theoretisch schlechtest möglichen Fall 5 Punkte zu erzielen. Im rechnerisch insgesamt schlechtesten Fall für die gesamte Kategorie A sind folglich 7 x 5 Punkte = 35 Punkte zu erreichen. Erlaubt sind nach der Festlegung von Mand jedoch in der Kategorie A nur 198 Anm.: Es ist anzunehmen, dass Mand an dieser Stelle meint: „[…] die strenger zu beurteilen sind“, als es bei Porter der Fall ist. Für diese Annahme spricht, dass Mand erklärt, dass für sie die „äußeren Bedingungen“, also Haltung der Tiere und Personal, strenger zu beurteilen sind und dass Porter diese Trennung nicht in dieser Art und Weise vornimmt, wie es Mand nun gezielt macht. So schreibt Mand auch später bei der Beschreibung ihrer Kategorie B): „Während G. D. Porter [...] in seinem Schema die Haltung und Pflege der Tiere nur in einem Abschnitt berücksichtigt hat, soll im vorliegenden Schema eine Aufteilung in drei Abschnitte vorgenommen werden, was zu einer konkreteren Abschätzung und höheren Gewichtung dieses Aspekts führt.“ (Mand 1995, S. 233). <?page no="237"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 237 24 Punkte, Mand legt dabei zusätzlich fest, dass Kategorie A höchstens dreimal 4 Punkte erreichen darf. Folglich wären in den vier restlichen Abschnitten beispielsweise jeweils 3 Punkte zulässig. Tab. 7: Katalog von Mand (1995) Beurteilungskategorie A: Versuch I. Bedeutung des Versuchs 1. Hervorragende Bedeutung für die Bekämpfung einer häufigeren Krankheit bei Mensch oder Tier 2. Hervorragende Bedeutung für die Bekämpfung einer selteneren Krankheit bei Mensch oder Tier 3. Guter Nutzen zur Bekämpfung von Krankheiten bzw. zur Erhaltung der Gesundheit/ Grundlagenforschung mit definiertem Ziel 4. Allgemeine Lebensqualitätsverbesserung 5. Unklares Ziel/ unklarer Nutzen II. Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen 1. Erwiesen 2. Sehr wahrscheinlich 3. Mit Einschränkung 4. Unklar 5. Unwahrscheinlich III. Schmerzen/ Leiden/ Schäden 1. Keine 2. Wenig/ kurz andauernd 3. Wenig/ lang andauernd; Groß/ kurz andauernd 4. Mäßig/ lang andauernd; Tod des Tieres 5. Groß/ lang andauernd IV. Dauer des Versuchs bezogen auf die natürliche Lebenslänge 1. Sehr kurz (10 -5 Lebenslänge) 2. Kurz (2 x 10 -4 Lebenslänge) 3. Mittel (2 x 10 -3 Lebenslänge) 4. Lang (2 x 10 -2 Lebenslänge) 5. Sehr lang (>2 x 10 -1 Lebenslänge) <?page no="238"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 238 V. Dauer und Häufigkeit der schmerzhaften/ unangenehmen Handlung 1. Kurz*/ selten * kurz <= 5 min. < mittel <= _h < lang 2. Kurz/ häufig; mittel/ selten selten >= alle 6 h 3. Mittel/ häufig häufig < alle 6 h 4. Lang/ selten 5. Lang/ häufig VI. Anzahl der Tiere 1. 1-5 2. 6-10 3. 11-20 4. 21-100 5. > 100 VII. Tierklasse 1. Weichtiere/ Insekten 2. Amphibien/ Fische 3. Reptilien 4. Vögel/ Säugetiere 5. Vom Aussterben bedrohte/ geschützte Arten Beurteilungskategorie B: Haltungsbedingungen I. Pflege 1. Sehr gut 2. Gut 3. Befriedigend 4. Ausreichend 5. Mangelhaft II. Unterbringung 1. Sehr gut 2. Gut 3. Befriedigend 4. Ausreichend 5. Mangelhaft III. Fütterung (falls der Versuch es erlaubt) 1. Sehr gut <?page no="239"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 239 2. Gut 3. Befriedigend 4. Ausreichend 5. Mangelhaft Beurteilungskategorie C: Personal I. Qualifikation 1. Sehr gute zusätzliche Ausbildung, langjährige Erfahrung 2. Gute Ausbildung, langjährige Erfahrung 3. Sehr gute zusätzliche Ausbildung, keine Erfahrung 4. Durchschnittliche Ausbildung, geringe Erfahrung 5. Schlechte Ausbildung, keine Erfahrung II. Anzahl 1. Völlig ausreichend, so daß auch bei Ausfällen, z. B. durch Krankheit, der Versuch ohne negative Auswirkungen weitergeführt werden kann 2. Normalerweise ausreichend, bei Ausfällen jedoch Entstehen von Engpässen 3. Relativ hohe Belastung der Experimentatoren 4. Starke Belastung der Experimentatoren, so daß eine individuelle Betreuung der Tiere nicht mehr möglich ist 5. Durch mangelndes Personal bedingte uneinheitliche Durchführung der Versuche mit nicht immer zuverlässig reproduzierbaren Ergebnissen 4.5.4 Die Beurteilungskategorie „Versuch“ Die Beurteilungskategorie A „Versuch“ untergliedert sich in folgende Abschnitte: I. Die Bedeutung des Versuchs, II. Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen respektive das Tier, III. Schmerzen, Leiden und Schäden, IV. Die Dauer des Versuchs bezogen auf die natürliche Lebenslänge, V. Dauer und Häufigkeit der schmerzhaften/ unangenehmen Handlung, VI. Die Anzahl der Tiere, VII. Die „Tierklasse“. 4.5.4.1 Die Bedeutung des Versuchs Schwerpunkt auf der Häufigkeit einer Erkrankung Im ersten Abschnitt „Die Bedeutung des Versuchs“ innerhalb der Kategorie A („Versuch“) wird der Stellenwert des Versuchs analysiert. „Um eine gene- <?page no="240"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 240 relle Bewertung aller Versuche, die sich nicht nur auf Versuche mit Wirbeltieren oder auch Versuche höchster Qualität beschränken, zu erleichtern, sollte die Qualität bzw. Bedeutung des Versuchs genau aufgeschlüsselt werden.“ (Mand 1995, S. 232). Mand grenzt sich von Porter ab, der „als höchsten Nutzeffekt des Versuchsziels“ die Linderung von erheblichen Schmerzen bei Mensch oder Tier sieht, und ihm dafür einen Punkt vergibt (als bestes zu erreichendes Ergebnis). Mand setzt ihren Schwerpunkt auf die Häufigkeit einer Erkrankung. 199 4.5.4.2 Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen respektive das Tier Im Abschnitt „Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen“ vergibt Mand umso weniger Punkte, je besser die Übertragbarkeit des Experimentes ist. Zusammen mit dem ersten Abschnitt ergibt sich folgendes Bild: „Je weniger Punkte in diesen [beiden] Abschnitten erzielt werden, d. h. je größer die Bedeutung für Mensch oder Tier und je besser die Übertragbarkeit, desto mehr Punkte stehen für die anderen Abschnitte, also Schmerz etc., zur Verfügung.“ (ebd.). Mand hält es für „wichtig, nachzuprüfen, ob das beim Versuch erzielte Ergebnis auch auf den Menschen übertragen werden kann.“ Dies habe Porter in seinem Schema nicht berücksichtigt. 200 Mands Abschnitt II lasse sich auch für Versuche tiermedizinischer Forschungen verwenden. Dazu sollte die Übertragbarkeit auf die Tierart, für die die Forschungen bestimmt sind, analysiert werden. Sofern dieselbe Tierart verwendet wird, sollte geprüft werden „ob eventuell gesunde Tiere verwendet werden sollen, bei denen die Krankheit (künstlich) simuliert wird, und ob der künstliche Verlauf tatsächlich in jedem Fall der ‘natürlichen’ Erkrankung entspricht.“ (ebd.). 4.5.4.3 Schmerzen, Leiden und Schäden Betrachtung des Grades der Belastung immer in Verbindung mit ihrer Dauer Zum dritten Abschnitt „Schmerzen/ Leiden/ Schäden“ erklärt Mand, hier ließen sich für die Einteilung keine allgemeingültige Aussage machen. Die 199 Danach solle nicht ermöglicht werden - wie dies beim Porterschen Schema möglich sei - dass Versuche, „die zur Linderung einer mit großen Schmerzen verbundenen aber sehr seltenen, kaum auftretenden Krankheit beitragen, höher bewertet werden als sehr häufig auftretende aber etwas weniger leidvolle Krankheiten.“ (Mand 1995, S. 232). 200 Stattdessen würde Porter überprüfen, „wie die Möglichkeit, das Versuchsziel zu erreichen, realistisch eingeschätzt werden kann.“ Mand kritisiert, dies sei allerdings „nicht konkret genug formuliert.“ (ebd.). <?page no="241"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 241 erträgliche Dauer eines subjektiv empfundenen Schmerzgeschehens sei sehr von dem Grad der Schmerzen abhängig. Es wäre verständlich, dass geringgradige Schmerzen wesentlich länger ‘ertragen’ werden könnten als schwerste Schmerzzustände. Aus diesem Grund werde der Grad der Schmerzen und Leiden immer in Verbindung mit ihrer Dauer betrachtet (ebd.). Der Tod der Versuchstiere wird stark gewichtet Mand betont, es sei weiterhin „wichtig, den eingeplanten Tod eines Tieres sehr stark zu gewichten und ihm die größte noch vertretbare Punktzahl zu geben, nämlich vier Punkte“ (ebd.). Sie erläutert diese Entscheidung damit, dass in keinem Abschnitt einer Kategorie 5 Punkte erreicht werden dürften. Mand bemängelt, dass der Tod des Versuchstieres bei Porter’s Punktesystem nicht berücksichtigt wurde. 4.5.4.4 Die Dauer des Versuchs bezogen auf die natürliche Lebenslänge Berücksichtigung der tierart- und rassespezifischen Lebensdauer Mand möchte in dem Abschnitt IV „Dauer des Versuchs, bezogen auf die natürliche Lebenslänge“ die tierart- und rassespezifische Lebensdauer berücksichtigen. Ihrer Ansicht nach habe Porter dies „recht einleuchtend dargestellt“. „So sind z.B. mehrere Monate dauernde Versuche für eine Ratte wesentlich erheblicher als für einen Hund mit einer mittleren Lebensdauer von über zehn Jahren.“ (ebd.). Keine Doppelbewertung des Todes an dieser Stelle Diese Angaben beziehen sich nach Mand auf die Lebenslänge in der Gefangenschaft, da einige Tiere in Gefangenschaft bei guter Pflege wesentlich älter werden könnten als in der Natur. Mand erklärt, dass in diesem Schema der Tod des Tieres beziehungsweise die mögliche herabgesetzte Lebenserwartung bei unheilbar kranken Tieren nicht berücksichtigt würde. Sie möchte den Tod an dieser Stelle nicht noch einmal und somit doppelt bewerten, da der Tod bereits in Abschnitt III berücksichtigt wurde. Mand betont: „Ich vertrete die Ansicht, man sollte den Versuch allerdings als beendet betrachten, falls die Tiere in ‘normale Haltungsverhältnisse’ gelangen, beispielsweise die Haltung eines Hundes mit Familienanschluß“ (ebd.). Ansonsten würde eine jahrelange Nachkontrolle den Versuch wegen der so zu erhaltenden hohen Punktzahl verbieten. <?page no="242"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 242 4.5.4.5 Dauer und Häufigkeit der schmerzhaften/ unangenehmen Handlung Im Abschnitt V „Dauer und Häufigkeit der schmerzhaften/ unangenehmen Handlung“ „werden die eigentlichen ‘Leidenszustände’ in einem Versuch relativiert“ (ebd.). Zuvor wurde die absolute Dauer des Versuches berücksichtigt, „nun sollen die für das Tier vermutlich weniger unangenehmen Handlungen wie z. B. die Vorbereitung für eine Operation etc. vernachlässigt und die eigentliche Behandlung in ihrer Intensität und Dauer berücksichtigt werden“ erklärt Mand. Hier stellt sie ebenfalls fest, dass es schwierig sei, sich auf eine objektive allgemeingültige Einteilung zu beschränken. 4.5.4.6 Die Anzahl der Tiere Im Abschnitt VI „Anzahl der Tiere“ möchte Mand eine Minimierung der Versuchstierzahlen erwirken. Hier gebe es im Vergleich zum Porterschen Schema keine Unterschiede. Ein Versuch, der zu seiner Durchführung sehr viele Tiere benötige, sei wesentlich ungünstiger zu bewerten als einer, der mit wenigen Tieren auskomme. Dies treffe auch auf eine Verlängerung des gleichen Versuchs zu. Mand betont, es dürfe nicht möglich sein, dass ein Versuch, der bezüglich der übrigen Abschnitte akzeptabel wäre, aber für eine Genehmigung zu viele Tiere „verbrauchen“ würde, bei etappenweiser Beantragung mit kleinen Tierzahlen genehmigt werden könnte. „Bei einer weiteren Verlängerung von Versuchen dürfen nicht die gleichen Maßstäbe gelten wie bei der ersten Genehmigung.“ (ebd., S. 233). 4.5.4.7 Die „Tierklasse“ Abstufung im Status entsprechend der ‘Intelligenz’ der Tiere Als weiteren wichtigen Punkt für die Bewertung des Versuchs benennt Mand die in Abschnitt VII angeführte „Einteilung in ‘Tierklassen’“. Mand: „So scheint es angemessen, weniger ‘intelligenten’ Tieren einen geringeren Status zuzuerkennen als sehr hoch entwickelten. Eine entsprechende Abstufung findet man auch schon in § 9 Abs. 2 Satz 1 TierSchG 201 .“ (ebd.; sic! 201 § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 TierSchG alte Fassung lautet folgendermaßen: „Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an sinnesphysiologisch niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen. Versuche an Tieren, die aus der Natur entnommen worden sind, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an anderen Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.“ Nach § 7a Abs. 2 Nr. 5 TierSchG neue Fassung dürfen „Versuche an Tieren, deren artspezifische Fähigkeit, unter den Versuchseinwirkungen zu leiden, stärker entwickelt ist, […] nur durchgeführt werden, soweit Tiere, deren derartige Fähigkeit weniger stark entwickelt ist, für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.“ <?page no="243"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 243 Mand meint § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 TierSchG alte Fassung, bzw. jetzt § 7a Abs. 2 Nr. 5 TierSchG neue Fassung). Vermeidung der Verwendung bedrohter Tierarten Mand betont, es sei auf jeden Fall wichtig, Versuche an Tieren zu vermeiden, die in ihrer natürlichen Zahl stark reduziert sind, auch wenn dieser Punkt eigentlich dem Bereich der Bundesartenschutzverordnung zuzuordnen sei. Es sei jedoch in der Fassung vom 18.9.1989 202 kein generelles Verbot von Versuchen mit unter diese Verordnung fallenden Tierarten erlassen worden. Mand führt „vom Aussterben bedrohte/ geschützte Arten“ an letzter Stelle unter Punkt 5. in dieser Kategorie an. Mand erklärt, die weiteren Kategorien betreffen Faktoren, die das Wohlbefinden des Tieres stören: 4.5.5 Die Beurteilungskategorie der Haltungsbedingungen Konkretere Abschätzung und höhere Gewichtung der Haltung und Pflege der Tiere Mand betont, sie habe im Gegensatz zu Porter, der in seinem Schema die Haltung und Pflege der Tiere nur in einem Abschnitt berücksichtigt habe, nun eine Aufteilung in drei Abschnitte vorgenommen. Dies würde zu einer „konkreteren Abschätzung und höheren Gewichtung dieses Aspekts“ führen (ebd.). Diese Kategorie B „Haltungsbedingungen“ gliedert sich in die Abschnitte I. „Pflege“, II. „Unterbringung“ und III. „Fütterung“. Das beste zu erzielende Ergebnis wäre 3 x 1 Punkt = 3 Punkte in dieser Kategorie. Das theoretisch schlechteste zu erzielende Ergebnis wäre 3 x 5 Punkte = 15 Punkte. In dieser Kategorie dürfen aber nach der Festlegung von Mand höchstens 6 Punkte erreicht werden. 4.5.5.1 Die Pflege der Tiere Mand erklärt zum Abschnitt I „Pflege“, diese sollte der Art entsprechen. Daher wäre beispielsweise eine versuchsbedingte Einzelhaltung von normalerweise in Gruppen lebenden Tieren als für die Tiere belastend anzusehen und „mit einer höheren Punktzahl zu benoten“. Gleichwohl sollten persönliche Ansprache/ Kontakte des Experimentators zum Tier bewertet werden. „Insofern kann der Mensch unter Umständen ein Ersatz für die fehlenden Artgenossen sein.“ (ebd.). 202 BGBl I, S. 1677, ber. S. 2011; vgl. vorherige Fußnote. <?page no="244"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 244 4.5.5.2 Die Unterbringung der Tiere Im Abschnitt II „Unterbringung“ sollen alle Punkte berücksichtigt werden, die „die materielle Umgebung“ des Tieres betreffen, wie beispielsweise Stallverhältnisse, Licht und Ventilation (ebd.). 4.5.5.3 Die Fütterung der Tiere Der Abschnitt III „Fütterung“ bezieht sich nur auf Versuche, bei denen die Tiere gefüttert werden dürften. Mand betont, es solle eine abwechslungsreiche Nahrung bevorzugt werden. Bei Versuchen, die eine orale Ernährung ausschließen, werde dieser Abschnitt weggelassen. Mand erklärt, es dürften dann insgesamt nur 34 Punkte - anstelle der von Mand festgelegten zulässigen Gesamt-Höchstpunktzahl von 36 Punkten - erzielt werden, wobei dann in Kategorie B nur 4 Punkte - anstelle von 6 Punkten - erreicht werden dürften (ebd.). Uta Mand legt diese - und die übrigen - Punktzahlen fest (ebd., S. 232f.), ohne zu begründen nach welchen Maßgaben und Überlegungen sie diese Grenzen gezogen hat. Einzig im dritten Abschnitt Schmerzen/ Leiden/ Schäden gibt Mand eine Begründung an, nämlich dass sie den eingeplanten Tod sehr stark gewichten und ihm daher „die größte noch vertretbare Punktzahl“ - 4 Punkte - geben möchte. 4.5.6 Die Beurteilungskategorie „Personal“ In Kategorie C „Personal“ fasst Mand Faktoren zusammen, „die für einen erfolgversprechenden Ablauf der Versuche außerordentlich wichtig sind.“ Das wären die Qualifikation und die Anzahl des Personals (ebd., S. 233). Mand kritisiert dass Porter hierzu „keinerlei Untersuchungen“ angestellt habe. Bei einem theoretisch möglichen Punktemaximum von 2 x 5 Punkten = 10 Punkten in dieser Kategorie, sind nach der Festlegung von Mand jedoch nur 6 Punkte als schlechtestes in dieser Kategorie zu erzielendes Ergebnis erlaubt. Im best möglichen Fall können hier 2 x 1 Punkt = 2 Punkte erzielt werden. 4.5.6.1 Die Qualifikation des Personals Abschnitt I bewertet die „Qualifikation des Personals“ (ebd.). Mand erläutert, hier sollen alle Personen bewertet werden, die direkt an dem Versuch beteiligt sind, darunter auch die Tierpfleger. 203 203 Mand verweist auf § 9 Abs. 1 TierSchG (alte Fassung; jetzt: § 16 Abs. 1 TierSchVersV), dieser verlange, dass Tierversuche nur von Personen durchgeführt werden dürfen, die die dafür erforderlichen Fachkenntnisse haben. Werden Versuche an Wirbeltieren durchgeführt, würden konkrete fachliche Anforderungen an die durchführenden Personen gestellt. Operative Eingriffe an Wirbeltieren dürften nur von Personen <?page no="245"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 245 4.5.6.2 Die Anzahl der Personen Mand erklärt zum Abschnitt II „Anzahl“, dass Personen auch bei noch so guter Ausbildung von der Menge der Arbeit überfordert sein und infolgedessen schlechte Resultate liefern können (ebd.). 4.5.7 Diskussion 4.5.7.1 Die ethische Position von Uta Mand Unsicherheit und Verwirrung angesichts der Fülle der Positionen Uta Mand benennt als Ausgangsbasis ihres Aufsatzes den „ethische(n) Tierschutz“ als „Leitgedanke des derzeitigen Tierschutzgesetzes“ (ebd., S. 229). Sie bemerkt „zunächst Unsicherheit und Verwirrung“ angesichts der Publikationsflut im Bereich der „Tierschutzethik“. Ein weiterer Mangel sei, dass der Gesetzgeber keinerlei Hinweise gebe, welche ‘Ethik’ angewendet werden solle. Jede der verschiedenen Ethiken basiere auf unterschiedlichen Vorstellungen. Nach der Beurteilung der „moralische(n) Qualität bestimmter Handlungen und Praktiken“ zur Analyse der Qualität der Experimente könne das von Gärtner (1987) vorgeschlagene Wägeschema angewendet werden, welches „den Schmerzen, Leiden und Schäden eines Tieres die Schadensfolgen für Wissenschaft und Gesellschaft direkt gegenüber [stellt]“ (Mand, 1995, S. 229). Eine gewissenhafte Beurteilung auf ethische Vertretbarkeit erfordere viel Zeit, aber auch Hintergrundwissen. Bei der vorzunehmenden Abwägung sieht Mand das Problem, dass diese - auch wenn sie gewissenhaft durchgeführt werde - immer subjektiv sein und infolgedessen je nach dem persönlichen Standpunkt der abwägenden Person auch unterschiedlich ausfallen werde (ebd., S. 230). Kritik an nicht genau definierten ethischen Normen zur Abwägung „Die Kritik an der Anwendung nicht genau definierter ethischer Normen zur Abwägung von Tierversuchen“ benennt Mand als Hauptgesichtspunkt ihres Aufsatzes. „Dieser Aspekt der Abwägung erfordert großes philosophisches Fachwissen und viel Zeit, ohne Subjektivität zu vermeiden und Justitiabilität zu erreichen.“ Eine einheitliche Beurteilung würde durch die Verwendung eines verbindlichen Wägeschemas erleichtert. Dabei sieht Mand jedoch das Problem, „daß ethische Vorstellungen zeitlichen Schwankungen unterworfen sind und somit die Anforderungen der augenblicklich durchgeführt werden, die ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Veterinärmedizin, Medizin oder Biologie Fachrichtung Zoologie nachweisen können. Anm: In diesem Bereich hat es sicherlich seit 1995 große Fortschritte gegeben. <?page no="246"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 246 herrschenden Ethik durch die Vorschrift einer permanent verbindlichen Ethik unterdrückt würden.“ (ebd., S. 234). Forderung nach konkreteren Rahmenbedingungen Mand schließt letztlich: „vom Gesetzgeber [sind] für einen Versuch konkretere Rahmenbedingungen zu fordern, die etwa durch Richtlinien zu regeln wären“. Sie ist optimistisch, dass das von ihr vorgestellte Punkteschema „ein Schritt auf diesem Wege“ sein dürfte. Mand ist aber auch durchaus selbstkritisch einem solchen Schema gegenüber: „Einheitliche Schemata haben immer einen beschränkten Geltungsbereich, so daß die Einordnung eines konkreten Falles oft problematisch ist.“ (ebd.). 4.5.7.2 Kritik an der Methodik Kein Mindestnutzen definiert; keine tatsächliche Güterabwägung In Anlehnung an Porter verwendet auch Mand einen Katalog, in welchem über ein Punktesystem Mindestanforderungen definiert werden. Im Ganzen wirkt Mands Katalog wie eine Variation des Porterschen Modells, welche einerseits detaillierter ausgearbeitet ist, andererseits aber auch Rückschritte gegenüber Porter macht, was sich z.B. darin äußert, dass Mand keinen strengen Mindestnutzen für ein Tierexperiment definiert hat - sieht man einmal davon ab, dass laut ihrem Katalog Tierversuche tabu sind, die einen unklaren Nutzen (5 Punkte) haben, oder welche einen Nutzen haben, der sich wahrscheinlich nicht auf Menschen übertragen ließe (Übertragbarkeit „unwahrscheinlich“, 5 Punkte). Für die Abschnitte Bedeutung des Versuchs sowie Übertragbarkeit sind jedoch - von der Regelung der Unzulässigkeit bei Erreichen von 5 Punkten in einem der Abschnitte abgesehen - keine weiteren Festlegungen getroffen. Mand legt lediglich fest, dass in der gesamten Kategorie A maximal 24 Punkte, und dass dabei höchstens dreimal 4 Punkte erreichen werden dürfen. Auf welche Abschnitte sich die Vergabe der 4 gerade noch zulässigen Punkte bezieht, legt Mand nicht fest. Somit ist es für Mand zulässig, dass Experimente zur „allgemeinen Lebensqualitätsverbesserung“ (4 Punkte) bei einer „unklaren“ Übertragbarkeit (4 Punkte) durchgeführt werden, sofern für die übrigen Abschnitte die jeweiligen Bedingungen erfüllt sind. Ein solcher Nutzen bei unklarer Übertragbarkeit rechtfertigt aber m.E. kein belastendes Tierexperiment. Die einzelnen Abschnitte in den drei Kategorien sind alle gleich gewichtet. Eine tatsächliche Güterabwägung erfolgt auch bei Mands Katalog nicht. <?page no="247"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 247 Keine separaten Höchstpunktzahlen für den Nutzen und das Leid definiert Als Rückschritt gegenüber Porters Katalog ist zu werten, dass Mand keine separaten Höchstpunktzahlen für den Nutzen - wie oben bereits erwähnt - und und keine für das Leid der Versuchstiere angibt, wie Porter es tat. Ein Punktelimit erfolgt lediglich für die gesamte Kategorie A (maximal 24 Punkte zulässig), unter welche aber beide Faktoren subsumiert werden, nämlich der Nutzen im Abschnitt I „Bedeutung des Versuchs“ und der Schaden im Abschnitt III „Schmerzen/ Leiden/ Schäden“. Hier gilt auch wie bei Porter: Je weniger Punkte, desto besser. Fünf Punkte stellen den schlechtesten, 1 Punkt den besten Wert in jeder Kategorie dar. Mands Punkteverteilung erinnert nicht nur wegen dem verwendeten Vokabular stark an Schulnoten: Einmal 5 Punkte - als Schulnote ein „mangelhaft“ - in einem Abschnitt einer Kategorie reichen aus, damit der Versuch abgelehnt wird. Die Gesamtpunktzahl in allen zwölf Abschnitten darf höchstens 36 betragen, damit verbleiben im Durchschnitt für jeden Abschnitt 3 Punkte (36/ 12), als Schulnote hieße das „befriedigend“. Menschlicher Nutzen und tierisches Leiden werden zusammen in einer Kategorie behandelt, anstatt sie gegeneinander abzuwägen Menschlicher Nutzen und tierisches Leiden werden in der Kategorie A „Versuch“ zusammen und ohne weitere Unterscheidung behandelt. Dabei behandeln zwei Abschnitte den Nutzen des Versuchs und fünf Abschnitte das Leiden des Versuchstiers. Die nur für Kategorie A geltende Einschränkung, dass man nicht öfter als drei Mal 4 Punkte verteilen dürfe, stellt es dem Experimentator frei, ob er die 4 Punkte eher dem Tier oder dem Versuch zukommen lässt. Auch hier kann man die selbe Kritik üben wie bei Porter: Es entspräche eher der Intuition, den Nutzen des Menschen und das Leid der Tiere in getrennten Kategorien zu behandeln und anschließend gegeneinander abzuwägen, anstelle sie gleichsinnig zusammen zu addieren. Mindestanforderung in Kategorie A schließt bedenkliche Versuche nicht aus Die erlaubten drei Mal 4 Punkte (als schlechteste zu erzielenden Werte) in Kategorie A können zu bedenklichen Ergebnissen führen: Verteilt man nämlich die 4 Punkte auf die Abschnitte III („Schmerzen/ Leiden/ Schäden“), VI („Anzahl der Tiere“) und VII („Tierklasse“), dann wird auch die Tötung von einhundert Säugetieren ethisch vertretbar (s. nachfolgendes Beispiel, in Klammern die jeweilige Punktzahl): III. Schmerzen/ Leiden/ Schäden: Mäßig/ lang andauernd; Tod des Tieres (4) VI. Anzahl der Tiere: 21-100 (4) VII. Tierklasse: Vögel/ Säugetiere (4) <?page no="248"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 248 Maria Biedermann schlägt ein Absenken der maximalen Punktzahl für die Kategorie A und somit auch der maximalen Gesamtpunktzahl vor. Sie begründet dies mit folgendem Beispiel: „Nach derzeitiger Bewertungsgrundlage wäre beispielsweise ein Versuch an Mäusen mit 2-stündigen schmerzhaften Behandlungen alle 6 Stunden und mittelmäßigen anderen Kriterien selbst dann zulässig, wenn die Übertragbarkeit auf den Menschen unklar ist.“ (Biedermann 2008a, S. 69). Ein Beispiel soll dies erläutern (in Klammern die jeweilige Punkzahl): Beurteilungskategorie A: Versuch I. Bedeutung des Versuchs: Guter Nutzen zur Bekämpfung von Krankheiten bzw. zur Erhaltung der Gesundheit/ Grundlagenforschung mit definiertem Ziel (3) II. Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen: Unklar (4) III. Schmerzen/ Leiden/ Schäden: Mäßig/ lang andauernd; Tod des Tieres (4) IV. Dauer des Versuchs bezogen auf die Summe = 23 Punkte, natürliche Lebenslänge: Mittel (2 x 10 -3 Lebenslänge) (3) noch zulässiger Wert, V. Dauer und Häufigkeit der schmerzhaften/ unangenehmen dabei nicht mehr als Handlung: Kurz/ häufig; mittel/ selten: selten >= alle 6 h (2) drei Mal 4 Punkte VI. Anzahl der Tiere: 11-20 (3) VII. Tierklasse: Vögel/ Säugetiere (4) Beurteilungskategorie B: Haltungsbedingungen I. Pflege: Gut (2) II. Unterbringung: Gut (2) Summe = 6 Punkte, III. Fütterung: Gut (2) maximal zulässiger Wert Beurteilungskategorie C: Personal I. Qualifikation: Sehr gute zusätzliche Ausbildung, keine Erfahrung (3) Summe = 6 Punkte II. Anzahl: Relativ hohe Belastung der Experimentatoren (3) max. zulässiger Wert Keine Definition der Häufigkeit einer Erkrankung Bei der „Bedeutung des Versuchs“ (Kategorie A, Abschnitt I) unterscheidet Mand die „Bedeutung für die Bekämpfung einer häufigeren Krankheit bei Mensch oder Tier“ von der Bekämpfung einer „selteneren Krankheit“. <?page no="249"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 249 Biedermann (2008a, S. 68) bemängelt, dass eine Abgrenzung zwischen beiden Häufigkeiten nötig wäre. In der Tat hat Mand keine Definition mitgeliefert, ab welcher Größenordnung eine Krankheit als „häufig“ bzw. „selten“ anzusehen ist. Wichtige Frage der Übertragbarkeit auf den Menschen bzw. das Tier Die Frage der Übertragbarkeit auf den Menschen bzw. das Tier der Ziel- Tierart ist neu im Vergleich zu Porter und von großer Bedeutung. Mand erklärt im erläuternden Text, dass diese Kategorie, die sie „Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen“ benennt, im veterinärmedizinischen Bereich entsprechend auf die Ziel-Tiergruppe bezogen sei. Biedermann schlägt vor, die Überschrift dieser Kategorie besser umzubenennen in „Übertragbarkeit ‘auf die Zielgruppe’ statt ‘auf den Menschen’“ (Biedermann 2008a, S. 68). Stärkere Betonung der Angst notwendig Biedermann (2008a, S. 68) schlägt vor, bei Mands Kategorie A Abschnitt III „Schmerzen/ Leiden/ Schäden“ eine „stärkere Betonung der Angst“ vorzunehmen. So sind denn auch psychische Belastungen wie z.B. „Angst vor Ungewohntem“, ein Kriterium, das Scharmann und Teutsch explizit separat in ihrer Checkliste benannt hatten (vgl. Scharmann und Teutsch 1994, S. 195). Die Einteilung in „Tierklassen“ ist zu hinterfragen Mands Einteilung in „Tierklassen“ und ihre Idee, weniger ‘intelligenten’ Tieren einen geringeren Status zuzuerkennen als sehr hoch entwickelten, also den Status an der Intelligenz festzumachen, erscheint mir fragwürdig. Ich sehe keinen überzeugenden Grund, Mands Aussage zuzustimmen: „So scheint es angemessen, weniger ‘intelligenten’ Tieren einen geringeren Status zuzuerkennen als sehr hoch entwickelten“ (Mand 1995, S. 233). Mands Verweis darauf, man finde eine entsprechende Abstufung auch schon in § 9 Abs. 2 Satz 1 (sic! , an dieser Stelle meint Mand § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 des TierSchG alte Fassung), ist nicht zutreffend, da dort von sinnesphysiologisch höher bzw. niedriger entwickelten Tieren die Rede ist. 204 Dies 204 § 9 Abs. 2 Satz 1 TierSchG alte Fassung lautet: „Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an sinnesphysiologisch niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen. Versuche an Tieren, die aus der Natur entnommen worden sind, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an anderen Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.“ Anm.: § 7a Abs. 2 Nr. 5 TierSchG neue Fassung lautet dahingegen nun: „Versuche an Tieren, deren <?page no="250"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 250 ist nicht gleichzusetzen mit Intelligenz. Es liegt die Vermutung nahe, mit „weniger ‘intelligenten’ Tieren“ hat Mand sinnesphysiologisch niedriger entwickelte Tiere gemeint, daher möglicherweise auch die Einrahmung des Begriffs „‘intelligente’“ in ihrem Text in Anführungszeichen. Wie auch bei Porter bleibt jedoch die Kritik, dass beispielsweise damit nun als „weniger hoch entwickelte Tiere“ eingestufte Mollusken als weniger leidensfähig angesehen werden und bedingt durch diesen „geringeren Status“ entsprechend höheren Belastungen ausgesetzt werden dürfen. Dies unter der Voraussetzung dass in der Kategorie A „Versuch“ die Punktzahl insgesamt gleich bleibt. Beispielsweise die Gruppe der Tintenfische - die ja zu den Mollusken (Weichtiere) zählen - sind nämlich hoch sensible, empfindsame, lernfähige und soziale Tiere und damit sicherlich auch mit dem Attribut „intelligent“ zu versehen. Diese werden aber nach Mands Einteilung als weniger leidensfähig eingestuft, was stark zu kritisieren ist. 205 Zu strenger Schutz für bedrohte Tierarten bei Mand? Es sollte erwähnt werden, dass sich Mand entschließt im Abschnitt VII. „Tierklassen“, bedrohte und geschützte Tierarten nicht zu Tierexperimenten zuzulassen. Biedermann weist darauf hin, dass hierbei eine Ausnahme nötig sei, „wenn Forschung diesen Arten selbst nutzen soll“ (Biedermann 2008a, S. 68). artspezifische Fähigkeit, unter den Versuchseinwirkungen zu leiden, stärker entwickelt ist, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Tiere, deren derartige Fähigkeit weniger stark entwickelt ist, für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.“ 205 Anm.: Im deutschen Tierschutzgesetz alter Fassung wurden diese Tiere, die zu den „Cephalopoden“ (Kopffüßer: Perlboote und Tintenfische) gehören, explizit erwähnt in § 8a Abs. 1 (alte Fassung): „Wer Tierversuche an Wirbeltieren, die nicht der Genehmigung bedürfen, oder an Cephalopoden oder Dekapoden durchführen will, hat das Versuchsvorhaben spätestens zwei Wochen vor Beginn der zuständigen Behörde anzuzeigen. [...].“ Dies weist bereits darauf hin, dass sie - wie auch die „Dekapoden“ (Zehnfußkrebse: Krebse, Hummer, Krabben, Langusten und die meisten Garnelen) - unter den wirbellosen Tierarten besonders hervorgehoben werden (lediglich diese finden - neben den Wirbeltieren - nämlich besondere Erwähnung und Versuche mit Cephalopoden oder Dekapoden sind damit nach TierSchG alter Fassung zwar nicht genehmigungspflichtig, jedoch zumindest anzeigepflichtig). In § 8 Abs. 1 TierSchG der neuen Fassung werden Kopffüßer (Cephalopoden) den Wirbeltieren gleichgestellt, womit Versuche an Cephalopoden nun genehmigungspflichtig sind. In § 8a Abs. 1 TierSchG neue Fassung ist das Anzeigeverfahren für genehmigungsfreie Tierversuche an Wirbeltieren und Cephalopoden weiterhin vorgesehen, in § 8a Abs. 3 TierSchG neue Fassung für Tierversuche an Zehnfußkrebsen (Dekapoden). <?page no="251"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 251 Strengere Maßstäbe bei den Haltungsbedingungen Bei den Kategorien B („Haltungsbedingungen“) und C („Personal“) gilt die Einschränkung, dass in keiner der Kategorien insgesamt mehr als 6 Punkte erreicht werden dürfen. Auf jeden der beiden Abschnitte von Kategorie C „Personal“ entfallen somit durchschnittlich 3 Punkte, also ein „befriedigendes“ Ergebnis (6 Punkte / 2 Abschnitte = 3 Punkte pro Abschnitt). Mit den maximal 6 erlaubten Punkten in Kategorie B entfallen durchschnittlich 2 Punkte auf jeden Abschnitt (6 Punkte / 3 Abschnitte = 2 Punkte pro Abschnitt), womit Pflege, Unterbringung und Fütterung der Tiere im Durchschnitt „gut“ sein müssen. Bedenkt man, dass das Experiment im Durchschnitt ein „befriedigend“ erzielen muss (s.o.), dann fallen nun die hohen Anforderungen an die Tierhaltung auf, zumal Mand diese Entscheidung nicht näher begründet, warum sie nämlich in Hinsicht auf die Haltungsbedingungen strengere Maßstäbe anlegt, als bei den anderen Kategorien. Die stärkere Gewichtung von Pflege und Haltung bei Mand im Vergleich zu Porter - dadurch, dass diese Kategorien differenzierter abgefragt werden - ist sicherlich zu begrüßen. Biedermann (2008a, S. 68) schlägt ferner vor, in die Überschrift zur Unterkategorie „Pflege“ die Begriffe „inkl. Haltungsform, Handling und persönliche Ansprache“ mit einzubauen. Niedrige Anforderungen in der Kategorie „Personal“ In Kategorie C wirken die Anforderungen im Vergleich zur Kategorie B ziemlich niedrig, da z.B. das Personal bei insgesamt in dieser Kategorie 6 genutzten Punkten „stark belastet“ sein darf wodurch eine „individuelle Betreuung der Tiere nicht mehr möglich“ ist (4 Punkte), solange es nur über eine „gute Ausbildung“ verfügt (2 Punkte). Mit 2 + 4 = 6 Punkten wären die Anforderungen erfüllt, dies erscheint im benannten Beispiel aber doch bedenklich. Genauere Klassifizierung der personellen Voraussetzungen notwendig Nach § 8 Abs. 3 Nr. 3 TierSchG alte Fassung (jetzt: § 8 Abs. 1 Nr. 4 TierSchG neue Fassung) sind für die Genehmigung von Tierversuchen bestimmte personelle Voraussetzungen für die Durchführung der Expermente erforderlich. Mand hält an dieser Stelle eine „genauere Klassifizierung“ für notwendig. „Es ist zu fragen, was als erforderliche Fachkenntnis gilt“ (Mand 1995, S. 233). Es gebe keine konkrete im Gesetz verankerte Vorschrift über die Art der verlangten Kenntnisse. Probleme könnten vermieden werden, „wenn man zusätzliche Lehrgänge fordern würde“. Zudem sei die unterschiedliche Qualifikation des weiteren Personals, wie etwa der Tierpfleger, zu berücksichtigen. <?page no="252"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 252 Abgrenzung der Ausbildungsqualitäten erforderlich Eine Abgrenzung der einzelnen Ausbildungsqualitäten hält Biedermann in der Unter-Kategorie „Personal“ für nötig, außerdem vermisst sie die Einordnung „(sehr) gute Ausbildung mit geringer Erfahrung“ (Biedermann 2008a, S. 69). Kategorie C (Personal), II. Anzahl Biedermann gibt zu bedenken, ob eine Einordnung von Mands Punkt 4. („Starke Belastung der Experimentatoren, so daß eine individuelle Betreuung der Tiere nicht mehr möglich ist“) nicht besser unter Punkt 5. zu erfolgen hätte (Biedermann 2008a, S. 69). 4.5.8 Zusammenfassung Ethische Aspekte Mands Ausgangsbasis ist der „ethische Tierschutz“ als Leitgedanke des derzeitigen Tierschutzgesetzes (Mand 1995, S. 229). Sie bemängelt, dass der Gesetzgeber keinerlei Hinweise gebe, welche ‘Ethik’ angewendet werden solle und dass er keine genau definierten ethischen Normen vorgebe. Sie fordert daher konkretere Rahmenbedingungen, die etwa durch Richtlinien zu regeln wären. Eine gewissenhafte Beurteilung auf ethische Vertretbarkeit erfordere viel Zeit, aber auch Hintergrundwissen, wobei die Abwägung immer subjektiv und infolgedessen je nach dem persönlichen Standpunkt der abwägenden Person auch unterschiedlich ausfallen werde (ebd., S. 230). Man brauche großes philosophisches Fachwissen und viel Zeit, ohne Subjektivität zu vermeiden und Justitiabilität zu erreichen. Die Verwendung eines verbindlichen Wägeschemas wäre hilfreich. Dabei sieht Mand durchaus das Problem, dass ethische Vorstellungen zeitlichen Schwankungen unterworfen wären und damit die Anforderungen der augenblicklich herrschenden Ethik durch die Vorschrift einer permanent verbindlichen Ethik unterdrückt würden (ebd., S. 234). Zudem hätten einheitliche Schemata immer nur einen beschränkten Geltungsbereich, die Einordnung eines konkreten Falles sei oft problematisch (ebd.). Methodische Aspekte Mand verwendet einen Katalog, in welchem über ein Punktesystem Mindestanforderungen definiert werden. Hierbei definiert sie keinen strengen Mindestnutzen für ein Tierexperiment. Die einzelnen Abschnitte in den drei Kategorien sind alle gleich gewichtet. Eine tatsächliche Güterabwägung erfolgt auch bei Mands Katalog nicht. Zudem gibt Mand keine separaten Höchstpunktzahlen für den Nutzen und keine für das Leid der Versuchstiere an. <?page no="253"?> 4.5 Das „erweiterte Punkteschema“ von Uta Mand 253 Menschlicher Nutzen und tierisches Leiden werden in der Kategorie „Versuch“ zusammen und ohne weitere Unterscheidung behandelt. Es entspräche eher der Intuition, den Nutzen des Menschen und das Leid der Tiere in getrennten Kategorien zu behandeln und anschließend gegeneinander abzuwägen, anstelle sie gleichsinnig zusammen zu addieren. Die Frage der Übertragbarkeit auf den Menschen bzw. das Tier der Ziel-Tierart ist neu im Vergleich zu Porter und von großer Bedeutung. Eine stärkere Betonung der Angst sei nötig. So sind denn auch psychische Belastungen wie z.B. „Angst vor Ungewohntem“, ein Kriterium, das Scharmann und Teutsch explizit separat in ihrer Checkliste benannt hatten. (vgl. Scharmann und Teutsch 1994, S. 195). Mands Einteilung in „Tierklassen“ und ihre Idee, weniger ‘intelligenten’ Tieren einen geringeren Status zuzuerkennen als sehr hoch entwickelten, also den Status an der Intelligenz festzumachen, erscheint mir fragwürdig. Es liegt die Vermutung nahe, mit „weniger ‘intelligenten’ Tieren“ hat Mand sinnesphysiologisch niedriger entwickelte Tiere gemeint. Es bleibt die die Kritik, dass damit nun als „weniger hoch entwickelte Tiere“ eingestufte Versuchstiere auch als weniger leidensfähig angesehen werden und bedingt durch diesen „geringeren Status“ entsprechend höheren Belastungen ausgesetzt werden dürfen. Es fallen die hohen Anforderungen an die Tierhaltung auf. Die stärkere Gewichtung von Pflege und Haltung bei Mand im Vergleich zu Porter - dadurch, dass diese Kategorien differenzierter abgefragt werden - ist zu begrüßen. Die Anforderungen an das Personal wirken im Vergleich zu denen der Haltungsbedingungen ziemlich niedrig. Mand hält eine genauere Klassifizierung der Qualifikationen des Personals für notwendig. 4.5.9 Fazit Wesentliche Neuerungen in methodischer Hinsicht bringt Mand im Vergleich zu Porter, auf dessen System sie sich bezieht, nicht. Jedoch werden bei ihr die Haltungsbedingungen und das Personal stärker betont und besser differenziert. Die Frage der Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse ist ein neuer und wichtiger Aspekt. <?page no="254"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 254 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu, Tramper, Vorstenbosch und Joles („Utrecht-Schema“) 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 4.6.0 Einleitung Frans R. Stafleu 206 , R. Tramper 207 , Jan M. G. Vorstenbosch 208 und Jaap A. Joles 209 ziehen in ihrem im Jahre 1999 veröffentlichten Aufsatz „The ethical acceptability of animal experiments: a proposal for a system to support decision-making“ folgendes Resümee: „People do not seem to like the combination of ethics and scores“ (Stafleu et al. 1999, S. 302). Denn tote Materie - wie Gegenstände der Physik - lasse sich ausreichend mit Zahlen und Gleichungen beschreiben, dagegen sei es problematisch, ein denkendes, fühlendes Lebewesen auf eine bloße Nummer zu reduzieren. Die Autoren rechtfertigen ihren Katalog - der in der Literatur bisweilen als „Utrecht-Schema“ bezeichnet wird - damit, dass sie demonstrieren wollten, wo Unterschiede in der Bewertung durch unterschiedliche Personen oder Kommissionen liegen und welche Faktoren bei einer solchen Güterabwägung relevant sind und das Endergebnis bestimmen. Zwei Gesichtspunkte sind Stafleu et al. wichtig bei der Einführung in ihr System: Bereits publizierte Abwägungssysteme leiden nach Ansicht der Autoren unter dem Mangel, dass sie die menschlichen Interessen am Tierexperiment nicht adäquat evaluieren. Ausserdem verwenden Stafleu et al. „a specific moral theory and methodology“. Die Autoren erklären, dass es in der Literatur zur Tierethik eine große Bandbreite von Theorien und Prinzipien gebe, um die Akzeptabilität von Tierexperimenten zu bewerten. Sie sind jedoch der Ansicht, dass diese Theorien der Komplexität und Schwierigkeit der ethischen Entscheidungsfindung in praktischen Kontexten nicht gerecht werden (ebd., S. 296). Diese Positionen würden die Kom- 206 Universitätsdozent für Ethik an der Fakultät für Geisteswissenschaften, Departement Wijsbegeerte, Utrecht University/ NL. Weitere Details zu den Autoren siehe Anhang IV). 207 Juniordozent für Ethik im selben Department. 208 Universitätsdozent für Ethik und praktische Philosophie im selben Department. 209 Leiter der Experimentellen Nephrologie des Department für Nephrologie und Hypertonie der Medizinischen Fakultät der Utrecht University. „This was not done to suggest that value-judgements in themselves could be objective, or lend themselves to mathematical computation, but to try to make the subjective assessment of the user more objective and make this more amenable to discussion.“ (Stafleu et al. 1999, S. 296) <?page no="255"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 255 plexität dadurch ignorieren oder reduzieren, dass sie dem Abwägungsprozess zu breit gefasste und vereinfachte Prinzipien (Singer 1990), „preemptive norms“ (Taylor 1986), oder fundamentale Tierrechte (Regan 1985) auferlegen. Insofern sind Stafleu und seine Kollegen davon überzeugt, dass ihre Methoden und Theorien sachgerechter wären. Das Modell von Stafleu et al. ist in drei Teile gegliedert: Zunächst wird eine Checkliste aller moralisch relevanter Faktoren, die berücksichtigt werden müssen, bereitgestellt. Zum Zweiten gibt das System eine Hilfestellung dabei, grundsätzliche Erwägungen, von denen eine präzise Beurteilung abhängt, durchzuführen und es zeigt die Auswirkungen alternativer Entscheidungsmöglichkeiten. Drittens stellt es spezifische moralische Auswahlmöglichkeiten und Prämissen vor. Als wichtigen Punkt aus meiner Sicht heben die Autoren hervor, dass dabei der Nutzer des Systems durch das Gutheißen der moralischen Wahlmöglichkeiten, die dem System hinterlegt sind, nicht von moralischer Verantwortlichkeit entlastet ist. Dem System werden Zahlen und Skalen für verschiedene Parameter hinterlegt, damit der Nutzer sich im Klaren über die Bedeutung der einzelnen Faktoren ist. Damit soll nicht behauptet werden, dass Werturteile an sich objektivierbar wären, oder sich für mathematische Berechnungen eignen würden. Es soll aber versucht werden, die subjektive Einschätzung für den Nutzer zu objektivieren, und diese Gesichtspunkte der Debatte zugänglicher zu machen. Das Kernstück ihres Systems ist die Einführung von Gewichtungsfaktoren und dem Feedback, das diese dem Nutzer bezüglich dessen anfänglicher Intuitionen geben. Eine weitere Komponente des Systems ist, dass beim Durchlaufen des Bewertungsprozesses unter Umständen ein Ergebnis erzielt wird, das von den eigenen anfänglichen Intuitionen abweicht, was dazu führen könnte, die ethische Bewertung des Versuchsvorhabens noch einmal zu überdenken. Nachfolgend stelle ich das Modell von Stafleu et al. dar (Tab. 8). Es wurde bereits mit einem Beispiel ausgefüllt. In dieser Darstellung habe ich die Bewertung des menschlichen Nutzens auf der linken und die Bewertung des Schadens an den Versuchstieren auf der rechten Seite angeordnet. Im Original sind diese beiden Kategorien untereinander angeordnet. Ich finde die Anordnung nebeneinander geeigneter, da sie im Prinzip das Sinnbild der Waage erfüllt: Auf der linken Waagschale der „Nutzen“ und auf der rechten Waagschale der „Schaden an den Versuchstieren“: <?page no="256"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 256 <?page no="257"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 257 <?page no="258"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 258 4.6.1 Die Beschreibung des letztendlichen Ziels Das zentrale Kriterium, von dem die moralische Gewichtung des Experiments abhängt, sei das letztliche Ziel des Experiments („the ultimate aim“), die Motivation, das Forschungsvorhaben durchzuführen. Diese Zielsetzung wird im Schritt 1, „description of the ultimate aim oft the experiment“ Gegenstand der Befragung (Stafleu et al. 1999, S. 296). Ein Problem sehen die Autoren darin, dass sich die Beschreibung des „letztlichen Ziels“ als extrem abstrakt oder vage darstellen kann. Die Autoren fordern: „…the end-in-view must be described in a relatively concrete way, and […] it must represent in a realistic manner the aim that motivates the research project.” (ebd., S. 298). Es sei nicht ausreichend, nur „das letztliche Ziel“ - also das Ziel des Forschungsprojekts - an sich auszuweisen. Der veranschlagte Weg, dieses Ziel zu erreichen, die Stufe auf welcher das veranschlagte Experiment auf diesem Weg stattfindet und was für Hoffnungen damit verknüpft sind, müsse ebenfalls ausgewiesen werden. Das System der Autoren zielt darauf ab, die moralische Akzeptanz eines Experiments in einer „‘ganzheitlichen’ Weise“ („‘holistic’ way“) durch eine Abschätzung der Signifikanz in einem größeren Umfang zu bestimmen. Das „letztliche Ziel“ - also das Ziel des Forschungsprojekts - bestimmt den anfänglichen Wert und die Signifikanz; eine kritische Bewertung der Position des individuellen Versuchsvorhabens in dieser weiter gefassten Gesamtheit kann jedoch diesen Wert verringern. Ich werde im Folgenden nicht vom „letztlichen Ziel“ sprechen, sondern vom „Ziel des Forschungsprojekts“, diese Formulierung scheint mir treffender. 210 4.6.2 Gewicht menschlicher Interessen an der Realisierung des Forschungsziels Die Autoren vergeben in Schritt 2) „Determination of the weight of the human interests involved in realizing the purpose of research“ für drei zu unterscheidende Kategorien der Forschungszielsetzung eine unterschiedliche Höchstpunktzahl: Health interest (Gesundheitsinteressen): 0-10 Punkte; Knowledge interests (Wissenserwerb): 0-5 Punkte; Economic interest (Ökonomische Interessen): 0-5 Punkte. Die höchste Punktzahl von 10 Punkten wird für Forschung im Bereich der menschlichen Gesundheit vergeben. Die Autoren sind der Ansicht, diese Priorisierung sei „relativ unbestritten.“ (ebd., S. 298). Die Autoren sprechen sich für diese Entscheidung aus auf der „basis of a principle of respect for 210 Entsprechend werde ich später bei „Schritt 3“ die „Computation of the total interest score for the ultimate aim“ (Stafleu et al. 1999, S. 297) als die „Berechnung des Gesamtwertes des Forschungsprojekts“ benennen. <?page no="259"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 259 persons“, für deren vollständige und autonome Entwicklung als Person die Gesundheit und das Überleben notwendig sind. 4.6.2.1 Gesundheitsinteressen Relevante Gesichtspunkte zur Bewertung der Kategorie Gesundheitsinteressen (GI 211 , „Health interest“) sind: Leiden 212 , Mortalität 213 und Morbidität 214 . Diese Gesichtspunkte sollen helfen, die Bedeutung der Gesundheitsinteressen - und damit den hier zu erzielenden Punktewert - festlegen zu können. Wie jedoch diese drei Gesichtspunkte bewertet und untereinander gewichtet werden sollen, darüber lassen sich die Autoren nicht aus. Die Gesundheitsinteressen beziehen sich nur auf diejenigen des Menschen; von veterinärmedizinischen Interessen ist nirgends die Rede. Stafleu et al. wollen die zu Grunde liegende Theorie aus Gründen des Umfanges nicht detailliert darlegen. Die Autoren bemerken lediglich, diese Theorie würde erklären, warum Parameter wie der Grad des menschlichen Leidens (in Bezug auf Dauer und Schwere des Schmerzes und/ oder der Behinderungen), der Mortalität und Morbidität in die Überlegungen und den Prozess der Bestimmung der moralischen Signifikanz des einzelnen Ziels einbezogen werden sollten (ebd., S. 298). Retrospektiver Vergleich der Situation nach Zielerreichung mit der gegenwärtigen Situation Von besonderer Bedeutung halten die Autoren das Erfordernis, die gegenwärtige Situation von Gesundheit und Verfügbarkeit von Therapien oder des vorhandenen Kenntnisstandes etc. zu vergleichen mit der Situati- 211 Ich verwende - des besseren Verständnisses wegen - eigene, der deutschen Bedeutung entsprechende Kürzel, die somit nicht den englischen Original-Kürzeln gleichen. 212 Die Autoren beziehen Leiden auf die Dauer und Schwere von Schmerz und/ oder Behinderungen. 213 Die Mortalität (lat. mortalitas das Sterben), Sterblichkeit oder Sterberate ist ein Begriff aus der Demografie. Sie bezeichnet die Anzahl der Todesfälle, bezogen auf die Gesamtanzahl der Individuen. Bei der spezifischen Sterberate bezeichnet sie die Anzahl der Todesfälle, bezogen auf die Anzahl der betreffenden Population, meist in einem bestimmten Zeitraum. 214 Die Morbidität (lat. morbidus „krank“) ist eine statistische Größe in der Medizin. Sie bezeichnet die Krankheitshäufigkeit bezogen auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Die Morbidität wird bestimmt durch die Prävalenz - das ist die Rate der bereits Erkrankten - und die Inzidenz - dies ist die Rate der Neuerkrankungen - innerhalb einer vorgegebenen Zeitperiode. Eine Erkrankungswahrscheinlichkeit kann aus der Morbiditätsrate lediglich abgeschätzt werden. <?page no="260"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 260 on nachdem das Ziel des Experiments erfolgreich erreicht wurde. 215 Nur geringfügige Verbesserungen sollten hierbei niedriger bewertet werden. 216 Kritische Einschätzung des Eigenanspruchs des Forschers Stafleu et al. weisen extra darauf hin, dass man gegenüber den Ansprüchen, mit denen die Forscher ihre Forschungsvorhaben selbst einschätzen, kritisch sein sollte: „One should however be critical about these claims, for they are often made but rarely grounded.“ (ebd.). 4.6.2.2 Interessen des Erkenntnisgewinns Relevante Gesichtspunkte zur Bewertung der Kategorie Wissenserwerb (WE, „Knowledge interest“) sind: Hypothese, Originalität und problemorientierte Lösung. Wissenserwerb sei oft wertvoll aufgrund seiner unterstützenden Wichtigkeit, relativ zu den beiden anderen Interessenkategorien - den Gesundheitsinteressen und den ökonomischen Interessen -, erklären die Autoren. Erkenntnisgewinn kann zu einer Verbesserung der menschlichen oder tierlichen Gesundheit führen, wie auch zu einer gesunden Volkswirtschaft beitragen. Aber Wissenserwerb sei auch wertvoll nur um seiner selbst willen, unterstreichen die Autoren. Der Erkenntnisgewinn-Score ist bestimmt für Grundlagenwissen, welches keine direkte Anwendung zur Gesunderhaltung oder zum Wohlbefinden zur Folge hat (ebd.). Das bedeutet für die Autoren, dass alle anderen Fälle, zum Beispiel die Erforschung von Zellrezeptoren oder Genen die eine künftige medizinische Anwendung zur Folge haben können und die unter diesem Gesichtspunkt motiviert sind, unter der Kategorie Gesundheitsinteressen bewertet werden sollten (ebd., S. 299). Parameter, die beim Bewerten hilfreich sein können, wären die Qualität der Hypothese in Relation zum theoretischen Hintergrund, unterstützende Indizien, der potentielle Anstieg des Wissens sowie die Originalität der Herangehensweise (ebd.). Maximaler Wert für die Kategorie Wissenserwerb sind fünf Punkte. 215 Die Autoren führen beispielhaft die Entwicklung eines Medikaments gegen eine schwerwiegende Erkrankung an. Sofern es bereits eine Bandbreite von verfügbaren therapeutischen Mitteln gebe, um die Erkrankung zu bekämpfen, dann wäre es die Verbesserung, die diese spezielle Arznei in Relation zur bereits verfügbaren Angebotspalette erwirken kann, die gewertet werden sollte. 216 Beispielsweise wird das erste Arzneimittel gegen ein schwerwiegendes Krebsleiden mit 9 oder 10 Punkten bewertet, während ein Arzneimittel, das sich von dem ersten lediglich durch eine verbesserte Aufnahme unterscheidet, der Ansicht von Stafleu und seinen Kollegen nach nur 5 Punkte erhalten sollte (Stafleu et al. 1999, S. 298). <?page no="261"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 261 Die Autoren sind der Ansicht, dass es keine Rechtfertigung gibt, Tieren schwerwiegende Leiden, Risiken oder Schmerzen auszusetzen, um mehr über sie oder die Natur herauszufinden, ohne eine Aussicht darauf, diesen Erkenntnisgewinn zum Vorteil von Menschen oder Tieren nutzen zu können. 4.6.2.3 Ökonomische Interessen Die Kategorie Ökonomische Interessen (ÖI, „Economical interest“) wird untergliedert in: Industriebezogene Interessen, Interessen der nationalen Ökonomie und Interessen des menschlichen Wohlergehens. Ökonomische Interessen werden im niederländischen Gesetz nicht explizit als Rechtfertigung für Tierexperimente erwähnt, erklären Stafleu et al. Allerdings, wenn man das letztliche Ziel vieler Experimente betrachte, so sei klar ersichtlich, dass diese Interessen oft eine wichtige, wenn nicht sogar vorrangige Rolle spielen - besonders im Kontext industrieller Forschung. Um ihr System für die Praxis handhabbar zu machen und auch um die moralische Signifikanz solcher Forschungsinteressen für die Diskussion und die Abschätzung zugänglicher zu machen, haben die Autoren explizit diese Kategorie mit aufgenommen und weisen auf diese Motivation auch ausdrücklich hin (ebd.). Der maximale Wert dieser Kategorie wurde auf 5 Punkte gesetzt und es wurden folgende drei Gesichtspunkte als Richtschnur zur Bestimmung des Wertes näher benannt: Industriebezogene Interessen (Kerninteressen einer Firma oder nur marginal mit dem Geschäft dieser Firma in Zusammenhang stehende Interessen; Konsequenzen in Bezug auf Beschäftigung, Profit und Effizienz); nationale Volkswirtschaft (Zentrale Bedeutung für die Wirtschaft einer Nation); menschliches Wohlergehen (relative Verbesserung des menschlichen Wohlergehens). 4.6.3 Berechnung des Gesamtwertes des Forschungsprojekts Für die Berechnung des Gesamtwertes des Forschungsprojekts (GWF, „Computation of the total interest score for the ultimate aim“) im Schritt 3 wurden vier verschiedene Formeln entwickelt, die für verschiedene Kombinationen von Bewertungen der Kategorien Gesundheit, Wissenserwerb und Wohlergehen anwendbar sind, wobei aber eine Doppelbewertung vermieden werden soll. Die Formeln wurden in der Absicht entwickelt, die Möglichkeit zu verhindern, dass ein dürftiger Wert für Gesundheitsinteressen <?page no="262"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 262 durch das Addieren ebenfalls geringer Werte anderer Interessen zu einem höheren Wert „upgraded“ werden kann. Daher wird der Nutzer aufgefordert, zu Beginn diejenige der drei Interessenkategorien auszuwählen, die das hauptsächliche Interesse der Zielsetzung des Experiments am besten kennzeichnet (ebd.). Die Berechnung des Gesamtwertes des Forschungsprojekts (GWF) ermittelt sich somit aus den Einzelpunkten des vorangehenden Schrittes 2) (Gewichtung der menschlichen Interessen). Da hierbei alle möglichen Konstellationen berücksichtigt werden 217 , setzt sich der GWF aus bis zu drei Faktoren - nämlich Gesundheitsinteressen (GI), Wissenserwerb (WE) und ökonomischen Interessen (ÖI) - zusammen. Abhängig davon, aus welchen Faktoren sich der GWF zusammensetzt, erfolgt dessen Berechnung durch eine der folgenden vier Formeln (Stafleu et al. 1999, S. 297): Formel I) GI = GWF 218 Formel IIa) [GI + (WE x 2)] / 2 = GWF Formel IIb) [GI + (ÖI x 2)] / 2 = GWF Formel III) (ÖI + WE) = GWF 219 Formel IV) (GI + WE + ÖI) / 2 = GWF Der Gesamtwert des GWF liegt immer zwischen 1 und 10, je höher die Punktzahl, desto gewichtiger sind die dahinter stehenden Interessen. 4.6.4 Abschätzung der Relevanz des Experiments Im vierten Schritt „Abschätzung der Gesamt-Relevanz des Experiments“ (GR, „Assessment of the relevance of the animal experiment“) wird die Verbindung hergestellt zwischen dem Experiment und dem letztendlichen Ziel. Es geht nun um die Forschungsmethodik und die Herangehensweise. Ein Experiment könne zwar ein klares und wichtiges Ziel haben, aber dabei schlecht konzipiert oder nicht zweifelsfrei notwendig sein, um dieses Ziel zu erreichen. „So a good aim does not imply a good experiment“ (ebd., S. 299). Es werden im Folgenden sechs wichtige Aspekte abgefragt, wobei 217 denn Forschungsvorhaben können durchaus menschliche Gesundheit zum Ziel haben, gleichzeitig aber der Grundlagenforschung dienlich sein und ökonomische Gesichtspunkte beinhalten. 218 für den Fall, dass sich die menschlichen Interessen nur aus Gesundheitsinteressen zusammensetzt. 219 Fehler im Original: In der Tabelle auf S. 297 ist an dieser Stelle fälschlicherweise eine Formel angegeben mit den Variablen für GI+WE= GWF. Die Formel müsste jedoch heißen: ÖI+WE = GWF, denn Projekte, die sich den Gesundheitsinteressen und gleichzeitig dem Wissenserwerb zuordnen lassen, sind mit der Formel IIa) zu berechnen. <?page no="263"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 263 jeder einzelne zu einem Gesamtwert für die Relevanz (GR) des Tierexperiments aufaddiert wird. Hierbei hat jeder Aspekt einen bestimmten Mindestwert. Wird dieser unterschritten, erhält dieser Aspekt den Wert Null, womit die Beantragung des Experiments augenblicklich gescheitert ist: Gesamtwert Null (ebd., S. 300). Diese Mindestpunktzahlen reflektieren, dass bei einer so diffizilen Aufgabe wie dem Tierversuch gewisse Mindestanforderungen einzuhalten sind, die nicht unterschritten werden sollten. Als Ergebnis für die einzelnen Aspekte sind hohe Zahlen wünschenswert und sofern die Antworten der sechs Aspekte befriedigend oder besser sind, kann GR zwischen 0,65 und 1 variieren. Das Erzielen des Maximalwertes eines Aspekts von 10 Punkten bedeute, dass dieser Aspekt in völligem Einklang mit dem postulierten Ideal stehe. Die Relevanz des Experiments wird in folgende Aspekte untergliedert: 4.6.4.1 Ersatz möglich? Es werden 0 Punkte vergeben, falls eine Alternative („Replacement“) zum Tierexperiment vorhanden ist, das Experiment erhält damit eine Unakzeptabilität in der Gesamtbewertung. 10 Punkte werden pauschal vergeben, falls keine Alternative verfügbar ist. Zum Hintergrund erklären die Autoren: „If there is a replacement alternative, then performing the experiment is ethically unacceptable and against the (European) law.“ (ebd., S. 299). Dies entspricht auch der Situation im deutschen TierSchG: Zulassungsvoraussetzung ist die Alternativlosigkeit. Ist diese nicht gegeben, darf ein Experiment nicht durchgeführt werden. 4.6.4.2 Generelle Qualität der Methodik Im Abschnitt „General methodological quality“ sollten Faktoren wie Reliabilität, Validität und statistische Aspekte betrachtet werden. Darunter verstehen die Autoren generelle Regeln wissenschaftlichen Arbeitens, die von grundlegender Wichtigkeit sind, um verlässliche Daten zu generieren und gut begründete Schlüsse zu ziehen. „If the general methodology is unsatisfactory, the experiment is unacceptable” (ebd.). In solch einem Fall werden pauschal 0 Punkte vergeben und selbst wenn die Methodik gerade noch befriedigend sein sollte, halten die Autoren das Experiment dennoch für unakzeptabel. Aufgrund dessen werden lediglich Wertungen ab 7 Punkten und mehr als akzeptabel erachtet: Die möglichen Punktzahlen sind demzufolge 7- 10, alles unterhalb von 7 Punkten wird mit Null berechnet. Dies betont, dass ein Tierexperiment hohe wissenschaftliche Sorgfalt voraussetzt. <?page no="264"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 264 4.6.4.3 Qualität des Experiments aus der Perspektive der Versuchstierkunde Im Abschnitt „Quality of the experiment from the perspective of laboratory animal science“ betrachten die Autoren Faktoren, welche die für Tierexperimente spezielle Methodologie behandeln. Die Autoren führen folgende relevante Punkte an ebd., S. 300): Wahl der Tierspezies, Anzahl der benötigten Tiere um signifikante Ergebnisse zu erzielen, mikrobiologische und genetische Qualität der Versuchstiere, mögliche Verfeinerung des Experiments („refinement“). Wie auch im vorangegangenen Abschnitt können hier die Werte zwischen 7 und 10 liegen oder aber mit Null (nicht akzeptabel) bewertet werden. 4.6.4.4 Notwendigkeit der Durchführung des Experiments um das Ziel des Forschungsprojekts zu erreichen Zur Abschätzung der Notwendigkeit eines Experiments muss eine Einschätzung des Weges vom individuellen Experiment zum letztendlichen Ziel vorgenommen werden. Hierbei seien Fragen zu beantworten wie (ebd.): Ist es deutlich, wie dieses Experiment innerhalb des gesamten Forschungsweges hineinpasst? Sind die einzelnen Schritte des Forschungsweges klar und logisch? Sind die Ergebnisse des spezifischen Experiments wirklich notwendig um das letztendliche Ziel zu erreichen? Falls nicht, ist die Zielvorgabe richtig formuliert? Ist die Erkenntnis bereits in der Literatur verfügbar? Können die Probleme, die mit dem letztendlichen Ziel verbunden sind, nicht auf andere Art und Weise gelöst werden? Die letzte Frage halten die Autoren für offenkundig schwer zu beantworten aber es schade nicht, diese grundsätzlichen Fragen fallweise tabellarisch zu behandeln. Zur Berechnung inwieweit das Experiment zur Erreichung des „Ultimate Aim” notwendig ist, würden sich zwei Methoden anbieten: „All or nothing“: Entweder ist das Experiment notwendig, oder nicht. Die Punktzahl ist entweder 10 oder Null. „Necessity is conceived as on a gradient“: Alle Zahlen von 0 bis 10 sind möglich. Geringe Punktzahlen von 0-5 Punkten würden ein Experiment ethisch unvertretbar machen, daher wird alles unter 5 Punkten mit Null gleichgesetzt. Zufriedenstellend bis optimale Werte liegen zwischen 6-10 Punkten. <?page no="265"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 265 4.6.4.5 Wahrscheinlichkeit das Ziel des Forschungsprojekts zu erreichen Die zentrale Fragestellung dieses Abschnittes ist, ob die Wahrscheinlichkeit, das letztendliche Ziel zu erreichen („probability of achieving the ultimate aim“), gering, durchschnittlich oder hoch ist. Es könnte sein, dass das Experiment auf Annahmen und Hypothesen beruht, für die die Evidenz eher gering ist (ebd.). Die Autoren betonen, es liege in der Natur naturwissenschaftlicher Experimente, dass es nie eine Garantie für Erfolg gebe. Daher sollten lediglich geringe Wahrscheinlichkeiten zu einer negativen Bewertung führen. Die Vorgeschichte des Projekts oder der Forschergruppe könnte Anhaltspunkte geben, ob eine Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung besteht. Sollte das Projekt eine sehr lange Entwicklungsgeschichte ohne irgendwelche signifikanten Ergebnisse haben, kann die Wahrscheinlichkeit, dass das beantragte Experiment irgendeinen Ertrag liefert - abgesehen von außergewöhnlichen Umständen - niedrig bewertet werden. Aufgrund des unbestimmten Charakters dieses Gesichtspunktes sollte nur mit 0, 5 oder 10 Punkten bewertet werden. 4.6.4.6 Beurteilung der Forschergruppe Im Abschnitt „Credit rating of the research group“ werden Erfahrung und Ausbildung der beteiligten Wissenschaftler bewertet: Hier sind 0-10 Punkte möglich, alles unterhalb von 5 Punkten wird mit Null gleichgesetzt (ebd.). Stafleu et al. beziehen sich auf Theune und de Cock Buning (1993 [sic! Korrekt ist 1994]), die Fragen zur Bewertung eines Tierexperiments vorschlagen (ich zitiere aus Stafleu et al. 1999, S. 300): Ist diese Art des Tierexperiments neu für die Forschergruppe und gibt es ausreichend Erfahrung in der Gruppe als Gesamtheit? Wie erfahren sind diejenigen Forscher, die das aktuelle Forschungsvorhaben durchführen? Ist die Gruppe in Forschung zu Alternativen von Tierexperimenten involviert, oder hat sie Interesse über diese Möglichkeit gezeigt? Ist eine Pilotstudie notwendig? Sollte es eine Überwachungs-Kommission geben? Folgten auf frühere Pilotstudien vollständige Studien (falls nicht, könnte das Vermögen der Gruppe „to design good research“ möglicherweise zu gering sein)? Generelles zu den sechs Aspekten der Kategorie „Relevanz des Experiments“ Unbefriedigende Antworten zu diesen 6 Aspekten sollten zum Urteil führen, dass das Experiment unakzeptabel ist („overall score 0“) (Stafleu et al. <?page no="266"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 266 1999, S. 300). Sofern die Antworten aller Aspekte, die die Relevanz des Forschungsvorhabens betreffen, befriedigend oder besser sind, kann der Wert für die Gesamt-Relevanz insgesamt zwischen 0,65 und 1 variieren 220 . 4.6.5 Berechnung des Belanges des Experiments für den Menschen Im fünften Schritt wird die „Calculation of the interest of the experiment for human beings“ angestellt (ebd., S. 300, 301). Die Kombination des Wertes des Belanges für den Menschen in Bezug auf das letztliche Ziel (GWF aus Schritt 3), und dem Wert für die Relevanz des Experiments (GR, Schritt 4) in Form einer Multiplikation des GWF mit dem Faktor der Gesamtrelevanz (zwischen 0,65 und 1,0) resultiert in einem Gesamtwert des Belanges des Versuchsvorhabens für den Menschen („Menschliches Interesse“ MI): Menschliches Interesse MI = Gesamtwert des Forschungsprojekts GWF x Gesamtrelevanz GR 221 Das Ergebnis für MI besteht also aus dem Wert für GWF, der um den Faktor für die Relevanz GR (welcher Werte zwischen 0,65 und 1 annehmen kann) reduziert wird: Ist der Faktor für die Relevanz des Experiments im besten denkbaren Falle gleich 1,0, so entspricht MI dem Wert GWF, folglich MI = (GWF x 1). Im geringsten möglichen Falle, der noch zulässig wäre, entspricht MI dem Produkt (GWF x GR mit GR = 0,65), folglich wäre MI = (GWF x 0,65). Da der Wert für GWF zwischen 1 und 10 liegen kann, kann der abschließende Wert für MI demnach 0,65 bis 10 Punkte betragen. 4.6.6 Einschätzung und Bewertung des Schadens an den Interessen der Tiere Der Schritt 6) befasst sich mit der Bewertung der „Tier-Kategorien“. Es gibt für Stafleu et al. drei Elemente welche die Interessen der verwendeten Tiere und den Schaden, der diesen Interessen zugefügt wird, umfassen: Die Er- 220 Dies wird dadurch erreicht, dass die Gesamtsumme der 6 Aspekte gebildet wird und dieser Wert anschließend durch 60 dividiert wird. Im bestmöglichen Falle, wenn also bei jedem der 6 Aspekte die Höchstpunktzahl (10 Punkte) vergeben wird, werden in der Summe 6 x 10 Punkte = 60 Punkte erreicht. Diese Summe wird durch 60 geteilt, das Ergebnis ist folglich 1,0. Im schlechtesten gerade noch akzeptablen Falle (also wenn bei keiner Frage 0 Punkte vergeben worden sind) beträgt die Gesamtsumme der 6 Aspekte lediglich 39 Punkte. Dieses dividiert durch 60 ergibt den Wert 0,65. 221 Im Original: Human interest HI = interest of the ultimate aim IUA x Relvance R <?page no="267"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 267 fahrungswerte mit Tieren (im Sinne von Leiden), die psychologische Komplexität und den intrinsischen Wert der einzelnen verwendeten Tiere (ebd., S. 301). Für das Erfahrungselement ihres Systems haben die Autoren eine Formel entwickelt, die auf einer Leitlinie basiert, welche von dem Animal Review Committee der Niederländischen Niederlassung der Solvay Pharmaceuticals Inc. verwendet wird. Diese Formel berücksichtigt drei Parameter: Den voraussichtlichen Schmerz und das Unbehagen (Leiden) die im Experiment und den vorbereitenden Prozeduren auftreten (z.B. Isolation der Tiere), die voraussichtliche Dauer des Leidens, und die Anzahl der Tiere die dem Leiden ausgesetzt sind. 4.6.6.1 Die voraussichtlichen Schmerzen und das Unbehagen Im Abschnitt „Aktuelle Belastung“ (AB, „Actual discomfort“), werden die voraussichtlichen Schmerzen anhand einer Liste mit einer grundsätzlichen Beschreibung bewertet, die durch Beispiele ergänzt wird. Die Autoren verstehen diese Liste als eine grundsätzliche Leitlinie, die aufgrund der Diskussionen zwischen den Sachverständigen zunehmend objektiver und besser werde. Es erfolgt eine Einteilung in fünf Stufen, beginnend bei keinen Beeinträchtigungen (0 Punkte) über geringe (1 Punkt), mittlere (2 Punkte), schwere (3 Punkte) bis hin zu sehr schweren oder extremen Beeinträchtigungen (4 Punkte) (ebd., S. 301; Liste siehe auch Anhang I). 4.6.6.2 Die Dauer der Belastung Die Dauer der Belastung (DB, „Duration of discomfort“) wird in drei Kategorien untergliedert: Null Punkte für eine einmaliges Ereignis oder eine kurze Dauer. 1 Punkt für mittlere Zeitspanne (eine bis wenige Stunden) oder häufige Maßnahmen (etwa wiederholte Blutentnahmen). 2 Punkte für lang andauernde Zeitspannen (mehr als drei Stunden) oder sehr häufige Maßnahmen. 4.6.6.3 Die Anzahl der Tiere Die Anzahl der verwendeten Tiere (AT, „Numbers of animals involved“) wird ebenfalls in drei Kategorien untergliedert: Null Punkte für weniger als 10 Tiere, 1 Punkt für 10-100 Tiere, 2 Punkte für mehr als 100 Tiere. <?page no="268"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 268 4.6.6.4 Berechnung der Gesamtbelastung der Tiere Die drei vorstehend benannten 3 Elemente werden nach folgender Formel verrechnet und bilden die Gesamtbelastung der Tiere (GB, „Total Discomfort“) (ebd., S. 301). Die höchstmögliche Punktzahl ist 6. Gesamtbelastung GB = Aktuelle Belastung AB + [(Anzahl Versuchstiere AT + Dauer der Belastung DB) / 2] 222 4.6.6.5 Der Intrinsische Wert Der intrinsische Wert (IW, „Intrinsic Value“) beträgt immer 2 Punkte. Diese Konstante reflektiere, dass Tiere nicht nur zum Nutzen des Menschen existieren, sondern unabhängig vom Menschen einen Eigenwert besitzen, der bei jedem Experiment verletzt wird. Die Autoren führen diese Ansicht als relevanten Faktor ein, um damit ihre Überzeugung auszudrücken, dass die Instrumentalisierung von Tieren an sich moralisch problematisch ist und gerechtfertigt werden muss (ebd.). Stafleu et al. erwähnen, das Element des „intrinsic value“ sei in der Literatur auch als ‘inherent worth’ 223 oder ‘inherent value’ 224 zu finden (ebd.). Sie sehen das Konzept des intrinsischen Wertes „as a reminder that we have to respect animals for their own sake, because they have a ‘good of their own’, and are not purely instrumental to the interests of human beings.“ (ebd.). Aus diesem Grunde haben die Autoren einen „fixed score“ von 2 Punkten zum „animal harm score“ hinzugefügt. 4.6.6.6 Psychologische Komplexität Zur Psychologischen Komplexität (PK, „psychological complexity“) verweisen Stafleu et al. auf den Philosophen Van De Veer 225 , der dieses Merkmal der Tiere (und Menschen) für relevant hielt. Aufgrund dieser Relevanz sei dieses Kriterium zu berücksichtigen. Dieser Faktor sollte eine Rolle spielen, wenn verschiedene Tierspezies gegeneinander abgewogen werden sollen. Hierbei sollten psychologisch komplexe Tiere wie beispielsweise Delfine und höhere Primaten eine stärkere moralische Berücksichtigung erfahren 222 Im Original: Total Discomfort T = Actual discomfort A + [(Number of animals N + Duration of discomfort D) / 2] (vgl. Stafleu et al. 1999, S. 297, 301). 223 Stafleu et al. verweisen auf Taylor, P. A. (1986): Respect for Nature. A theory for Environmental Ethics. Princeton: Princeton University Press. 224 Stafleu et al. verweisen auf Regan, T. (1983): The Case for Animal Rights. Berkeley: University of California Press. 225 van De Veer, D. (1979): Interspecivic justice. In: Inquiry 22, S. 55-79. <?page no="269"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 269 als weniger komplexe Tiere wie Nager oder Kaltblüter. Stafleu et al. verweisen an dieser Stelle auf frühere Forschungsvorhaben 226 , in denen festgestellt wurde, dass Menschen eine vorgefasste Meinung über die psychologische Komplexität von Tieren hätten, wodurch deren Bevorzugung für eine Tierspezies geleitet wird. Innerhalb der eher grobmaschigen Struktur ihres Systems - wie die Autoren ihr System selbst beschreiben - können sie sich jedoch keine anderen guten Gründe für eine Differenzierung zwischen den Tierspezies denken, als eine Unterteilung in drei Kategorien: Höhere Primaten (die einen „Bonus“ von 2 Punkten erhalten), andere warmblütige Wirbeltiere (deren Punktestand sich auf 0 Punkte reduziert) und kaltblütige Wirbeltiere („who have the bad luck of getting a 2-point reduction“, Stafleu et al. 1999, S. 302, Hervorhebung von N. A.). Dies seien aber nur Vorschläge und die Autoren räumen ein, dass sie weit davon entfernt seien, sich damit sicher zu sein. 4.6.7 Berechnung des tierischen Leids Der Schaden, der den tierlichen Interessen aufgebürdet wird, soll anhand von folgender Formel berechnet werden (vgl. Stafleu et al. 1999, S. 302): Die Summe aus der Gesamtbelastung der Tiere GB („animal suffering score“) und dem Intrinsischen Wert (IW, immer mit 2 Punkten als Fixwert bewertet) sowie dem Wert für die psychologische Komplexität (PK) ergibt den Wert für das Tierliche Interesse TI („animal interest score“). Als maximale Werte können für höhere Primaten 10 Punkte, für andere warmblütige Wirbeltiere 8 Punkte und für kaltblütige Wirbeltiere 6 Punkte erreicht werden. Tierliche Interessen TI = Gesamtbelastung GB + 2 (=festgelegter Intrinsischer Wert IW) + psychologische Komplexität PK 227 4.6.8 Abschätzung der ethischen Vertretbarkeit des Tierexperiments Die Abschätzung der ethischen Vertretbarkeit des Tierexperiments (Schritt 8) wird von den Autoren folgendermaßen vorgenommen (ebd.): Wenn der Endwert für die menschlichen Interessen (s. Schritt 3, MI) größer oder gleich 226 Stafleu, F. R. (1994): The Ethical Acceptability of Animal Experiments as Judged by Researchers (PhD Thesis). Utrecht University. Sowie: Tramper, R. (1997): Weighing animal against human interest: ethics in the balance. 227 Im Original: Animal Interest Score AI = Total discomfort T + 2 (=fixed intrinsic value) + psychological complexity P (vgl. Stafleu et al. 1999, S. 297, 302). <?page no="270"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 270 dem Endwert für dem Schaden an den tierlichen Interessen ist (s. Schritt 7, TI), dann wird das Versuchsvorhaben als akzeptabel erachtet. Andererseits sei ein Vorhaben wohl inakzeptabel, wenn der Wert für die menschlichen Interessen MI kleiner ist als TI. 4.6.9 Diskussion 4.6.9.1 Die ethische Position von Stafleu, Tramper, Vorstenbosch und Joles Enorme anfängliche Probleme, Skepsis und Protest an der mathematischen Annäherung Während der Entwicklung ihres Systems und bei der Vorstellung ihrer Ideen waren die philosophischen und praktischen Probleme enorm. Beispielhaft führen Stafleu et al. an, dass es viel Missverständnis, Skepsis und Protest am ‘Messen’ und an der ‘mathematischen’ Annäherung gab. Die Leute scheinen die Kombination von Ethik und Punktesystemen nicht zu mögen, stellen die Autoren resigniert fest (ebd.). Verwendung einer eigenen moralischen Theorie und Methodologie, die dem praktischen Kontext gerecht werden soll Stafleu et al. rechtfertigen ihren Katalog damit, dass sie demonstrieren wollten, wo Unterschiede in der Bewertung durch unterschiedliche Personen oder Kommissionen liegen, aber auch welche Faktoren bei einer Güterabwägung relevant sind. Die Autoren betonen, dass bereits publizierte Abwägungssysteme den Mangel leiden, dass sie die menschlichen Interessen nicht adäquat evaluieren. Stafleu et al. verwenden „a specific moral theory and methodology“. Große Bandbreite an Positionen, die aber den Anforderungen der Praxis nicht gerecht werden Zur Bewertung der Akzeptabilität von Tierexperimenten gebe es in der Literatur zur Tierethik eine große Bandbreite von Theorien und Prinzipien, die jedoch der Komplexität und Schwierigkeit der ethischen Entscheidungsfindung in praktischen Kontexten nicht gerecht würden (ebd., S. 296). Diese Positionen ignorieren oder reduzieren die Komplexität des Abwägungsprozesses durch zu breit gefasste und vereinfachte Prinzipien, „pre-emptive norms“ oder die Zuschreibung fundamentaler Tierrechte. Das Modell von Stafleu et al. gibt eine Hilfestellung dabei, grundsätzliche Erwägungen, von denen eine präzise Beurteilung abhängt, durchzuführen und sie zeigt die Auswirkungen alternativer Entscheidungsmöglichkeiten. Dabei werden spezifische moralische Auswahlmöglichkeiten und Prämissen verwendet. Stafleu et al. heben hervor, dass der Nutzer des <?page no="271"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 271 Systems durch das Gutheißen der moralischen Wahlmöglichkeiten, die dem System hinterlegt sind, nicht von moralischer Verantwortlichkeit entlastet wäre. Die subjektive Einschätzung des Nutzers soll objektiviert werden Den unterschiedlichen zu evaluierenden Parametern werden Zahlen und Skalen hinterlegt, um Klarheit über die Bedeutung der einzelnen Faktoren herzustellen. Die Autoren wollen damit nicht behaupten, dass Werturteile an sich objektivierbar wären, oder sich für mathematische Berechnungen eignen würden. Es soll die subjektive Einschätzung des Nutzers objektiviert werden und diese Gesichtspunkte sollen zusätzlich der Debatte zugänglicher gemacht werden. Die Einführung von Gewichtungsfaktoren und das Feedback, das der Nutzer am Ende bezüglich seiner anfänglichen Intuitionen erhält, werten die Autoren als Kernstücke ihres Systems. Es werde beim Durchlaufen des Bewertungsprozesses unter Umständen ein Ergebnis erzielt, das von den eigenen anfänglichen Intuitionen abweicht. Dies könnte dazu führen, dass die ethische Bewertung des Versuchsvorhabens noch einmal überdacht wird. Ziel: Zu einem begründeten Urteil über moralische Akzeptabilität zu gelangen „However, our only aim was to demonstrate where the differences in judgment between individuals or committees might be, and which areas of concern determine the end result.“ (ebd., S. 302). Die Autoren weisen die Andeutung, dass das System ein bloßes utilitaristisches System wäre, zurück. Es wäre ein Gewichtungssystem und dieses setzt voraus, dass es möglich ist, vielfältige Aspekte zu vergleichen und zu gewichten und zwar „in a way that leads to a justified judgment on moral acceptability.“ (ebd.). „A principle respect of persons“ und Zuschreibung eines Eigenwerts der Tiere Die grundlegende ethische Position beruhe „on a principle respect of persons“, eine Position, die bis zu Aristoteles, Kant, John Rawls 228 und Amartya Sen 229 zurückverfolgt werden könne. Der Eigenwert eines Tieres wird hier erstmals ebenfalls berücksichtigt als „Intrinsischer Wert“ Hervorzuheben ist ausdrücklich, dass hier erstmals der Eigenwert eines Tieres ebenfalls berücksichtigt wird und zwar nicht lediglich durch den 228 Rawls, J. (1972): A Theory of Justice. Oxford: Oxford University Press. 229 Sen, A. (1985): Well-Being, Agency and Freedom: The Dewey Lectures. New York: Journal of Philosophy. <?page no="272"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 272 Bezug auf ein Ideal das anzustreben wäre, von dem aber in der Forschungspraxis immer mehr oder weniger stark abgewichen wird, wie es bei Porter der Fall ist. Hier wird der Eigenwert der Tiere tatsächlich real gewichtet und zwar unabhängig von Merkmalen wie Empfindungs- oder Leidensfähigkeit oder auch Merkmalen wie dem Personencharakter, d.h. hier sehen die Autoren keine Graduierung der Gewichtung vor. Eine Graduierung geht allerdings in den Aspekt der psychologischen Komplexität ein (s. unten). Über die ethische Position des „principle respect of persons” hinaus erklären Stafleu et al: „Moreover, we ascribe intrinsic value to individual animals.” (Stafleu et al. 1999, S. 302). Der Wert reflektiere, dass Tiere unabhängig vom Nutzen für den Menschen einen Eigenwert besitzen, der bei jedem Experiment verletzt wird. Damit wollen die Autoren die Überzeugung auszudrücken, dass die Instrumentalisierung von Tieren an sich moralisch problematisch ist und gerechtfertigt werden muss (ebd., S. 301). Interessanter Weise erklären Stafleu et al. eingangs, dass die Theorien von Taylor 1986 und Regan 1983 der Komplexität und Schwierigkeit der ethischen Entscheidungsfindung in praktischen Kontexten nicht gerecht werden (Stafleu et al. 1999, S. 296). Bei der Verwendung des intrinsischen Wertes in ihrem System verweisen Stafleu und Kollegen jedoch wieder auf Taylor und Regan, indem sie benennen, dass das Konzept des „intrinsic value“ bei diesen Autoren als „inherent worth“ (Taylor) bzw. „inherent value“ (Regan) zu finden sei. Stafleu et al. wollen allen Tieren den gleichen Wert an sich zuschreiben, „because they have a ‘good of their own’, and are not purely instrumental to the interests of human beings. We introduce this idea [...] to express our conviction that instrumental use of animals […] is in itself morally problematic […]. For these reasons a fixed score of 2 points is added to the animal harm score.” (Stafleu et al. 1999, S. 301f.). Auf der anderen Seite werden bestimmten Tierarten jedoch aufgrund der von Stafleu et al. zugeschriebenen Einkategorisierung in unterschiedliche Stufen der „psychologischen Komplexität“ (s. nachfolgend) wieder Punkte abgezogen. Man könnte kritisch anmerken, dass damit - zumindest was die kaltblütigen Tiere betrifft, die dort einen 2-Punkte-Abzug erhalten - die Zuschreibung des Intrinsischen Wertes - zumindest arithmetisch - wieder zu Nichte gemacht wird. Darin mag ein gewisser Widerspruch liegen. Unterschiedliche Behandlung aufgrund unterschiedlicher psychologischer Komplexität Die psychologische Komplexität von Tieren sei ein vielschichtiges Konzept. Die Autoren betonen, es wäre nicht mit ‘attractive to humans’ gleichzuset- <?page no="273"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 273 zen. Ihr Ansatz basiere auf der Vorstellung, dass ‘psychologische Komplexität’ ein komplexer, aber moralisch relevanter Faktor wäre, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertige (ebd., S. 302). Ihre Vorstellung von ‘psychologischer Komplexität’ wäre zwar anthropozentrisch dergestalt, dass sie typisch menschliche Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein („selfconsciousness“) bewertet. Es wäre allerdings kein dogmatischer Speziesismus, denn andere Entitäten, die eine vergleichbare Komplexität aufweisen, würden dementsprechend bewertet werden. Aus diesem Grunde würden auch nichtmenschliche höhere Primaten stärker geschützt werden als andere Säugetiere. „Psychological complexity is the key to our system, as it does not only justify different treatment of certain species, it also acts as a measure of human interest. Human interests that justify animal experiments are those interests that are needed for, or contribute to, essential elements of human psychological complexity (e.g. as expressed in being ‘a person’).” (ebd., S. 303). Leider führen die Autoren nicht näher aus, was sie unter „psychologischer Komplexität“ genau verstehen und welche Kriterien sie hierfür annehmen. Sie benennen lediglich beispielhaft „self-consciousness“, weitere Anhaltspunkte für ihr Verständnis von psychologischer Komplexität liefern sie nicht mit. Die Einteilung der psychologischen Komplexität ist fragwürdig Am stärksten zu hinterfragen erscheint mir die Einteilung der psychologischen Komplexität. Das Kriterium der psychologischen Komplexität („psychological complexity“) solle eine Rolle spielen, wenn verschiedene Tierspezies gegeneinander abgewogen werden müssen. Hierbei sollen psychologisch komplexe Tiere (z.B. Delfine und höhere Primaten) eine stärkere moralische Berücksichtigung erfahren als weniger komplexe Tiere (z.B. Nager oder Kaltblüter). Dass kaltblütige Wirbeltiere (also Amphibien, Reptilien, Fische) aber gar mit einem Punkte-Abzug benachteiligt werden, das scheint mir überhaupt nicht begründet und die lapidare Bemerkung der Autoren: „who have the bad luck of getting a 2-point reduction“ (Stafleu et al. 1999, S. 302) wird nur dadurch aufgewertet, dass die Autoren darauf hinweisen, dass es sich bei der Punktevergabe nur um Vorschläge handelt, bei denen sie sich weit davon entfernt sehen, sicher zu sein. Dass die psychologische Komplexität eine Bedeutung hat wird zwar erklärt - mit Verweis auf weitere Autoren -, weshalb jedoch eine Differenzierung getätigt wird, und mit welcher Begründung die Wirbeltierkategorien in der vorgenommenen Art und Weise eingeteilt werden, wird nicht erklärt. <?page no="274"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 274 4.6.9.2 Methodische Aspekte Die Qualität der Tierpflege und -haltung wird nicht betrachtet Es fällt auf, dass die Qualität der Tierpflege sowie die Tierhaltung bei Stafleu et al. nicht abgefragt wird. Medizinische Forschung als Schwerpunkt Die Autoren betonen: „[…] the system has been developed largely with the paradigm of medical research in mind“ (ebd., S. 303) - diesen Schwerpunkt legen die anderen hier besprochenen Kriterienkataloge ebenso. Stafleu et al. bemerken letztlich, es gebe durchaus noch andere Tierexperimente: Beispielsweise Experimente zu Ausbildungszwecken oder die für die Weiterentwicklung der veterinärmedizinischen Forschung und deren Anwendungen durchgeführt werden. Eine wirkliche Güterabwägung wurde realisiert; Mindeststandards müssen eingehalten werden Der Kriterienkatalog von Stafleu et al. stellt m.E. eine gelungene Weiterentwicklung des Porterschen Modells dar. Die wesentlichen Kritikpunkte und konstruktiven Anregungen, die in der Diskussion um das Portersche Modell geäußert wurden, scheinen hier realisiert worden zu sein. Die von Porter postulierten Mindeststandards für Tierexperimente tauchen hier ebenfalls in modifizierter Form auf. Darüber hinaus sind Stafleu und seine Mitautoren die Ersten, die sich der Herausforderung einer wirklichen Güterabwägung gestellt haben. Tatsächlich resultiert ihr Kriterienkatalog in einer Güterabwägung, in welcher menschliche und tierliche Interessen gegeneinander abgewogen werden. Zu diesem Zweck wird für beide Interessen ein Wert zwischen Null und Zehn berechnet, was einen einfachen Vergleich ermöglicht. Mit dieser einfachen, numerischen Güterabwägung, wird die Entscheidung für oder gegen einen geplanten Tierversuch denkbar anschaulich. 230 Die Mindestpunktzahlen in Schritt 4 reflektieren, dass bei einer so diffizilen Aufgabe wie dem Tierversuch gewisse Mindestanforderungen einzuhalten sind, die nicht unterschritten werden sollten. 230 Andererseits ist natürlich zu bedenken, dass das „Herunterrechnen“ von menschlichen und tierlichen Interessen auf bloße Ziffern immer auch eine grobe Simplifizierung darstellt und lediglich durch das Fehlen von praktikablen Alternativen legitimiert wird. In der Einleitung ihres Aufsatzes weisen Stafleu et al. jedoch sinnvoller Weise auf diese Gesichtspunkte hin. <?page no="275"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 275 Ein gerechtfertigtes Urteil, das letztlich jedoch dem Menschen den Vorzug gibt Stafleu et al. weisen den Vorwurf eines bloßen utilitaristischen Systems zurück. Ein Gewichtungssystem setzte voraus, dass es möglich ist, vielfältige Aspekte zu vergleichen und zu gewichten, damit es am Ende zu einem „justified judgment on moral acceptability“ führe (ebd., S. 302). Bei Gleichstand der Waage Entscheidung zu Ungunsten der Versuchstiere Die Autoren definieren die Endabwägung folgendermaßen: Sofern MI >= TI ist das Experiment akzeptabel, sofern MI < TI ist das Experiment nicht annehmbar. Wenn menschlicher Nutzen und tierliches Leid sich die Waage halten, wird also zugunsten des Menschen entschieden. Alternativ könnte man auch fordern, dass der Nutzen das Leid der Tiere immer überwiegen sollte, damit ein Vorhaben als ethisch vertretbar definiert wäre (so beispielsweise Herrmann 2008, S. 77). Weshalb bei Gleichgewichtung der Waagschale den menschlichen Interessen der Vorzug zu geben ist, wird von Stafleu et al. nicht begründet. Begriff „Relevanz“ geeignet bei der Betitelung von Schritt 4? Die Kriterien, die unter Schritt 4 mit der Überschrift „Abschätzung der Relevanz des Experiments“ betitelt sind, wären meines Erachtens besser umschrieben mit dem Begriff „Gesamt-Qualität und Notwendigkeit des Experiments“ als mit dem Begriff „Relevanz“ („relevance“) bzw. „Total relevance“ (Gesamt-Relevanz GR, nach der von mir verwendeten Nomenklatur), da mit dem Begriff Relevanz zugleich die Wichtigkeit der Ziele des Projekts gemeint sein könnte, diese aber in Schritt 2 abgefragt werden. Ein Beispiel soll dies erläutern: Ein Projekt zur Bekämpfung von Krebs könnte in Schritt 2 unter „Gesundheitsinteressen“ (GI) eine sehr hohe Punktzahl erzielen. Damit wäre auch die Relevanz des Versuchs - so wie man „Relevanz“ auch verstehen könnte - sehr hoch. Geschmälert werden könnte diese Relevanz jedoch durch eine geringe „Qualität und Notwendigkeit“ des Experiments, welche ja in der Summe unter Schritt 4 abgefragt wird: Dort geht es um die Alternativlosigkeit, die Qualität der Methodik, die Qualität der Experimente aus Sicht der Versuchstierkunde, die Notwendigkeit der Durchführung um damit einen Schritt näher am Endziel des Forschungsprojektes zu sein, sowie der Qualifikation der Forschergruppe. Berechnung der Gesamtbelastung der Tiere: Multiplikation oder Addition der Anzahl der Tiere mit der Dauer der Belastung bzw. mit der Intensität der Belastung? Die Gesamtbelastung GB der Tiere errechnet sich nach der Formel: <?page no="276"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 276 GB = Aktuelle Belastung AB + [(Anzahl Versuchstiere AT + Dauer der Belastung DB) / 2]. Dabei wird die Anzahl der Tiere zur Dauer der Belastung hinzu addiert. Diese Summe wird durch 2 dividiert und anschliessend mit der „aktuellen Belastung“ (also der Intensität der Belastung) zusammengezählt. Man könnte hier durchaus die Frage stellen, weshalb die Intensität der Belastung oder auch die Dauer der Belastung mit der Anzahl der Versuchstiere nicht multipliziert wird. In der Abschlussdiskussion werde ich diese Thematik noch einmal aufgreifen. 4.6.9.3 Welche Gewichtungen sind dem System hinterlegt? Im Folgenden soll dargelegt werden, welchen Anteil die einzelnen Kriterien an der Güterabwägung zwischen „menschlichem Interesse“ (MI) und „tierlichem Interesse“ (TI) haben. 1) Gewichtung der Faktoren bei den menschlichen Interessen (MI) Berechnung: GWF x GR = MI Gesamtwert des Forschungsprojekts GWF: 65 %. Gesamtrelevanz GR: 35 % Bsp.: Bei einer Konstellation von der maximalen Punktzahl für GWF (10 Punkte) und einer minimal möglichen Punktzahl für GR von 0,65, ergibt sich für MI ein Ergebnis von 6,5 Punkten (10 x 0,65 = 6,5). Tab. 9: Die Bewertungen auf der „Nutzenseite“ A) Kriterium B) Bereich der erreichbaren Punktzahlen Gesamtwert des Forschungsprojekts GWF Gesundheitsinteressen GI („Health interest“) Leiden Mortalität Morbidität Wissenserwerb WE („Knowledge interest“) Hypothese Originalität problemorientierte Lösung 0 - 10 0 - 10 0 - 5 <?page no="277"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 277 Ökonomische Interessen ÖI („Economical Interest”) industriebezogene Interessen Interessen d. nationalen Ökonomie Interessen des menschl. Wohlergehens 0 - 5 Gesamtrelevanz GR 1) Ersatz möglich? („Replacement possible? “) 2) Generelle Qualität der Methodik („General methodological quality“) 3) Qualität des Experiments aus der Perspektive der Versuchstierkunde („Quality of the experiment from the perspective of laboratory animal science”) 4) Notwendigkeit der Durchführung des Experiments um das Ziel des Forschungsprojekts zu erreichen („Necessity of the performance of the experiment to achieve the ultimate aim“) 5) Wahrscheinlichkeit das Ziel des Forschungsprojekts zu erreichen („Probability of achieving the ultimate aim“) 6) Beurteilung der Forschergruppe („Credit rating of the research group”): 0,65 - 1 0 od. 10 7 - 10 od. 0 7 - 10 od. 0 a) 0 od. 10 b) 6 - 10 od. 0 231 0, 5 od. 10 5 - 10 od. 0 0 Punkte in einer Kategorie bedeutet sofortige Ablehnung Menschliches Interesse MI = GWF x Gesamtrelvanz GR 0 - 10 Die unterschiedliche Zusammensetzung des Gesamtwerts des Forschungsprojekts und die jeweiligen Gewichtungen Der Gesamtwert des Forschungsprojekts GWF zeigt an, wie wichtig das Forschungsziel in Hinsicht auf die gesundheitlichen, wissenschaftlichen und/ oder ökonomischen Interessen des Menschen ist. Für die Ermittlung 231 Siehe Stafleu et al. 1999, S. 300. In ihrer Tabelle auf Seite 297 ist im Gegensatz dazu jedoch die Punktzahl 5-10 angegeben und Werte <5 = 0. <?page no="278"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 278 des GWF stellen Stafleu et al. vier Formeln zur Verfügung. Diese wurden bereits zuvor vorgestellt. Der GWF rekrutieren sich entweder nur aus Gesundheitsinteressen (Fall I, hier ist der GWF = GI), oder im Fall IIa) aus GI und WE bzw. im Fall IIb) aus GI und ÖI. Im Fall III) liegen keine Gesundheitsinteressen vor. Der GWF setzt sich dann nur zusammen aus ÖI und WE. Fall IV) ist eine Konstellation, in der sich alle drei Kategorien zum GWF zusammensetzen: GI, WE und ÖI. Der menschliche Nutzen wird vermindert um einen Faktor, der umso mehr ins Gewicht fällt, je mehr das Experiment von einem Ideal abweicht GR definiert die Sorgfältigkeit der theoretischen und praktischen Durchführung des Tierexperiments. Der Faktor GR kann, im Fall eines optimal geplanten und unumstößlich notwendigen Tierversuchs, als Maximum den Wert 1 annehmen. I.d.R. liegt er darunter. Wenn also GR optimal ist, dann entspricht der Wert für das menschliche Interesse dem GWF. In allen anderen Fällen wird der GWF um den Wert vermindert, den GR vom Optimum abweicht. Somit ergibt sich der endgültige Wert des menschlichen Interesses aus dem Gewicht des eigentlichen Forschungsinteresses, welches um die Abweichung vom Ideal eines Tierversuchs vermindert wird. Erinnern wir uns an das Schweitzer-Ideal bei Porter und die Abweichung von diesem Ideal, sobald wir ein Experiment durchführen, bei dem Tiere geschädigt werden. So fällt nun auf, dass der ideale Wert von 1,0 bei Stafleu et al. - also das Ideal eines Forschungsprojekts - ebenfalls fast nie erreicht werden kann. Damit realisieren auch Stafleu et al. in gewisser Weise den Gedanken, dass jede Verwendung von Tieren eine Abweichung von einem Ideal darstellt - dieses Ideal wäre m.E. eine Forschung mit „Alternativen“, also ohne die Verwendung von Tieren. Die Relevanz eines Forschungsziels hat Priorität vor der wissenschaftlichen Sorgfalt eines Versuchs Die Gewichtung beider Faktoren lässt folgenden Schluss zu: Die Relevanz eines Forschungszieles hat klare Priorität vor der wissenschaftlichen Sorgfalt. Dies liegt meines Erachtens darin begründet, dass auch ein sorgfältig durchgeführtes Experiment seine Legitimation ausschließlich aus dem angestrebten Erkenntnisgewinn bezieht. Auf der anderen Seite lässt sich die Kritik anbringen, dass ein hoch stehendes und damit hoch bewertetes Forschungsziel kein schlecht geplantes und/ oder durchgeführtes Experiment legitimieren darf! Dieser Umstand lässt sich jedoch durch die hier realisierte Verwendung von Mindestanforderungen an das Experiment verhindern: Die einzelnen Faktoren von GR haben alle eine Mindestpunktzahl zugewiesen bekommen. Wird diese unter- <?page no="279"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 279 schritten, dann erhält dieser Faktor den Wert Null, was - unabhängig von der letztendlichen Güterabwägung und unabhängig vom Gewicht des Forschungsziels - zu einer sofortigen Ablehnung des Experiments führt. Damit wird, wie schon bei Porter, dem Umstand Rechnung getragen, dass gerade bei Experimenten an und mit Lebewesen gewisse Standards nicht unterschritten werden dürfen. Erst nachdem alle Bedenken hinsichtlich Notwendigkeit und Sorgfältigkeit des Experiments ausgeräumt sind, ist eine ethische Beurteilung überhaupt sinnvoll. Auch im später noch vorzustellenden Schweizer Internetprogramm wie auch im bereits besprochenen Modell von de Cock Buning und Theune 1994 sind solche „knock-out-Kriterien“ eingebaut, die im Falle des Unterschreitens gewisser Mindestanforderungen zur Ablehnung des Gesamtantrages führen. Eine solche Hürde ist beispielsweise im deutschen TierSchG für eine fehlende Unerlässlichkeit oder eine nicht nachweisbare Alternativlosigkeit hinterlegt: Ein Experiment ist in einem solchen Fall nicht genehmigungsfähig. Weitere Präzisierungen gibt es im TierSchG bedauerlicherweise nicht. 2) Tierliche Interessen (TI) Berechnung: a) Gesamtbelastung GB = AB+((DB+AT)/ 2) b) Tierliches Interesse TI = GB + (2 IW ) + PK Tab. 10: Die Bewertungen der „Schadenseite“ A) Kriterium B) Bereich der erreichbaren Punktzahlen C) Gewichtung in Bezug auf das Gesamtergebn. für TI*) Aktuelle Belastung AB Nein oder ja („no or positive“) Geringfügig („slight“) Mittelmäßig („medium“) Schwer („severe“) Sehr schwerwiegend („very severe“) 0 - 4 0 1 2 3 4 = 40% <?page no="280"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 280 Dauer der Belastung DB Kurz und/ od. einmalig („short and/ or once“) Mittelmäßig und/ od. häufig („medium and/ or frequently“) Lang anhaltend und/ od. sehr häufig („long lasting and/ or very frequently“) Anzahl der Tiere AT < 10 10 - 100 > 100 0, 1, 2 0 1 2 0, 1, 2 0 1 2 = 10% = 10% Formel a) AB+((DB+AT)/ 2) = GB 0 - 6 Intrinsischer Wert des Tieres (2 IW ) 2 (Fixwert) = 20% Psychologische Komplexität des Tieres PK Nichtmenschliche Primaten Andere (warmblütige) Wirbeltiere Kaltblütige Wirbeltiere -2; 0; 2 2 0 -2 = 20% Formel b) GB + (2 IW ) + PK = TI: maximale Punkte-Werte: höhere Primaten: andere warmblütige Wirbeltiere: kaltblütige Wirbeltiere: 10 8 6 = 100% *) Berechnung der Gewichtung der abgefragten Faktoren Das Gesamtergebnis für TI sei 100%. Aufgrund der Formel GB+IW+PK = TI folgt: GB+IW+PK = 100%. Die erreichbaren Punktzahlen für die Faktoren GB, IW, PK sind folgende: (0-6, 2, -2; 0; 2) (GB + IW + PK) = 100% wird wie folgt verteilt: (0-6 2 -2; 0; 2) = 100% <?page no="281"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 281 Damit resultiert folgende Prozentverteilung der einzelnen Faktoren am TI (siehe Tabelle in nachf. Abb. 5): Abb. 5: Anteile der Kriterien am Gesamtwert für das „tierliche Interesse“ TI Man erkennt aus Formel a) und der maximal erreichbaren Punktzahl (s. Tab. 10, Spalte B, sowie dem Kuchendiagramm in Abb. 5), dass die Dauer des zugefügten Leidenszustandes wie auch die Anzahl der Tiere weniger stark gewichtet werden, als die Intensität des Leidens (=„Aktuelle Belastung“, orange) selber. Dem intrinsischen Wert ( ) kommt mit den fest zugewiesenen 2 Punkten nach Aufschlüsselung der Formeln sogar mehr Gewicht zu, als der Dauer des Leidens bzw. der Anzahl der Tiere. Dies ist schon bemerkenswert. rosa <?page no="282"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 282 4.6.10 Zusammenfassung Stafleu et al. wollten demonstrieren, wo Unterschiede in der Bewertung durch unterschiedliche Personen oder Kommissionen liegen, aber auch welche Faktoren bei einer Güterabwägung relevant wären. An bereits publizierten Abwägungssystemen bemängeln sie, dass diese die menschlichen Interessen nicht adäquat evaluieren. In der Literatur zur Tierethik gebe es eine große Bandbreite von Theorien und Prinzipien, die jedoch der Komplexität und Schwierigkeit der ethischen Entscheidungsfindung in praktischen Kontexten nicht gerecht würden (Stafleu et al. 1999, S. 296). Ihr Modell gebe eine Hilfestellung dabei, grundsätzliche Erwägungen durchzuführen und es zeige die Auswirkungen alternativer Entscheidungsmöglichkeiten. Dabei würden spezifische moralische Auswahlmöglichkeiten und Prämissen verwendet. Der Nutzer des Systems solle jedoch durch das Gutheißen der moralischen Wahlmöglichkeiten, die dem System hinterlegt sind, nicht von moralischer Verantwortlichkeit entlastet werden. Es soll die subjektive Einschätzung des Nutzers objektiviert werden. Beim Durchlaufen des Bewertungsprozesses werde unter Umständen ein Ergebnis erzielt, das von den eigenen anfänglichen Intuitionen abweicht, was zum Überdenken der ethischen Bewertung des Versuchsvorhabens führe. Dies halte ich für einen wertvollen Aspekt. Die grundlegende ethische Position beruhe auf dem Personenkonzept. Dennoch wird hier erstmals der Eigenwert eines Tieres ebenfalls berücksichtigt und real gewichtet, und zwar unabhängig von Merkmalen wie Empfindungs- oder Leidensfähigkeit oder auch Merkmalen wie dem Personencharakter; d.h. es findet keine Graduierung der Gewichtung statt. Der Wert reflektiere, dass Tiere unabhängig vom Nutzen für den Menschen einen Eigenwert besitzen, der bei jedem Experiment verletzt werde. Dies drücke die Überzeugung der Autoren aus, dass die Instrumentalisierung von Tieren an sich moralisch problematisch und rechtfertigungsbedürftig sei (ebd., S. 301). Das Kriterium der psychologischen Komplexität von Tieren sei ein komplexer, aber moralisch relevanter Faktor, der eine unterschiedliche Behandlung rechtfertige (ebd., S. 302). Es würden typisch menschliche Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein bewertet, weitere Anhaltspunkte für ihr Verständnis von psychologischer Komplexität liefern die Autoren nicht mit. Psychologisch komplexe Tiere sollen eine stärkere moralische Berücksichtigung erfahren als weniger komplexe Tiere. Dass kaltblütige Wirbeltiere gar mit einem Punkte-Abzug benachteiligt werden, das scheint mir überhaupt nicht adäquat begründet (ebd.). <?page no="283"?> 4.6 Das „system to support decision-making“ von Stafleu et al. 283 Methodische Aspekte Die Qualität der Tierpflege sowie die Tierhaltung werden bei Stafleu et al. nicht abgefragt. Ansonsten stellt der Kriterienkatalog von Stafleu et al. m.E. eine gelungene Weiterentwicklung des Porterschen Modells in methodischer Hinsicht dar. Die wesentlichen Kritikpunkte und konstruktiven Anregungen, die in der Diskussion um das Portersche Modell geäußert wurden, sind hier realisiert. Die von Porter postulierten Mindeststandards für Tierexperimente bzgl. der Qualität der Forschung tauchen hier ebenfalls in modifizierter Form auf. Stafleu und seine Mitautoren sind zudem die Ersten, die sich der Herausforderung einer wirklichen Güterabwägung gestellt haben: Menschliche und tierliche Interessen werden gegeneinander abgewogen. Zu diesem Zweck wird für beide Interessen ein Wert berechnet, was einen einfachen Vergleich ermöglicht. Bei Gleichstand der Waage fällt die Entscheidung zu Ungunsten der Versuchstiere aus, was nicht weiter begründet wird. 4.6.11 Fazit Wie ich gezeigt habe, war es bei den Katalogen von Porter und Mand relativ einfach, auch innerhalb der vom Katalog erlaubten Grenzen zu ethisch fragwürdigen Ergebnissen zu kommen. Die Ursachen hierfür liegen meines Erachtens zu einem Teil in der Tendenz zur Nivellierung heterogener Faktoren und zum anderen in dem Umstand, dass die bloße Definition von Mindeststandards über die ethische Vertretbarkeit eines Tierversuchs weit weniger aussagen kann, als eine wirkliche Güterabwägung es leisten könnte. Darauf aufbauend präsentiert sich der Katalog von Stafleu et al. als eine Synthese aus Mindeststandards - siehe Faktor GR, also die Bewertung der Qualität der Forschung - und Güterabwägung. Damit stehen die „erlaubten“ Punkte auf Seiten des Tierleids endlich in Abhängigkeit zu dem vermuteten Nutzen, wodurch ein „Durchlavieren“ fragwürdiger Experimente, wie es bei Porter und Mand noch möglich war - siehe meine Beispiele, die ich in den jeweiligen Kapiteln exemplarisch durchgespielt habe - im Katalog von Stafleu et al. schwieriger wird. Der Vollständigkeit halber sei jedoch ein Fall erwähnt, in welchem die Bewertung von Stafleu et al. als zu streng erscheint: Man denke sich ein vollkommen schmerzbzw. leidfreies Experiment, in welchem 9 oder weniger Affen auf ihre kognitiven Fähigkeiten hin geprüft werden. Obwohl die Tiere nicht belastet würden - beispielsweise wird ein Experiment vor einem Spiegel durchgeführt, bei dem die Tiere einen roten Punkt auf die Stirn geklebt bekommen, um dann das Selbstbewusstsein der Tiere zu untersuchen, es wird also nicht-invasiv gearbeitet - ergäbe sich aus der Wahl der Spezies und dem intrinsischen Wert ein TI von bereits 4 Punkten. Bedenkt man, dass ein Experiment mit maximalem Tierleid die Höchst- <?page no="284"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 284 punktzahl von 10 Punkten brächte, erscheinen bereits vier Punkte für einen solchen vergleichsweise harmlosen Versuch als relativ viel. Abseits von diesem Sonderfall scheint der Katalog von Stafleu et al. jedoch umsichtig konzipiert worden zu sein. Zur Berechnung der Gesamtbelastung der Tiere werden die Anzahl der Tiere mit der Dauer und der Intensität der Belastung verrechnet. Dadurch werden zwar alle Aspekte einbezogen, zur Berechnung der Gesamtbelastung der Tiere werden aber die Anzahl der Tiere zur Dauer der Belastung hinzuaddiert. Diese Summe wird durch 2 dividiert und anschließend mit der „aktuellen Belastung“ (also der Intensität der Belastung) zusammengezählt. Man könnte hier durchaus die Frage stellen, weshalb die Intensität der Belastung oder auch die Dauer der Belastung mit der Anzahl der Versuchstiere nicht multipliziert wird. Im Falle von kaltblütigen Wirbeltieren, die einen 2-Punkte-Abzug bei der psychologischen Komplexität erfahren, amortisiert sich die mit 2 Punkten generell zugewiesene Gewichtung des Intrinsischen Wertes. Zudem überwiegt die für die menschlichen Interessen maximal erreichbare Punktzahl stets diejenige für die Interessen der Tiere, von der Ausnahme der nicht-menschlichen Primaten abgesehen. Nur diese Tiergruppe kann es vom Punktewert aus betrachtet auf einen Gleichstand der Waagschalen bringen (wenn wir von den erreichbaren Maximalwerten ausgehen). Und genau in diesem Falle - bei gleichem Punktestand, also einem metaphorischen Gleichstand der Waagschalen - wird den menschlichen Interessen der Vorzug gegeben. Somit sind in diesem System die tierlichen Interessen im Prinzip doch den menschlichen Interessen nachgeordnet. <?page no="285"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 285 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 4.7.1 Aufgaben der Genehmigungs- und Überwachungsbehörde Im Bereich der Durchführung der Nutzen-Schaden-Abwägung sieht Christoph Maisack 232 als Aufgaben der Genehmigungs- und Überwachungsbehörde die Erhebung nachfolgender Fakten (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 292, § 7 Rn. 52): 1) Die Ermittlung des Nutzens für den Menschen (bzw. für die Tiere) nach Art, Ausmaß, Wahrscheinlichkeit und zeitlicher Erwartung 2) Die Ermittlung der Belastung der Versuchstiere nach Art, Ausmaß, Zahl und Entwicklungshöhe der betroffenen Tiere, sowie der Zeitdauer 4.7.2 Die Ermittlung des Nutzens 4.7.2.1 Medizinisch begründete Experimente Für die Ermittlung des Nutzens bei medizinisch begründeten Experimenten schlägt Maisack folgende Fragestellungen vor (ebd., S. 294, § 7 Rn. 55): 232 Richter am Landgericht „Logisch vorrangig vor der Abwägung ist die vollständige Ermittlung und Zusammenstellung des Abwägungsmaterials, d. h. aller Tatsachen, die für die Einschätzung und Gewichtung der Belastungen auf Seiten der Versuchstiere und für die Bewertung des Nutzens auf Seiten des Menschen wesentlich sein können.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 292) <?page no="286"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 286 1. „Geht es um die Entwicklung, Herstellung und/ oder Zulassung eines Produkts oder Verfahrens zur Diagnose oder Therapie einer bestimmten Krankheit? “ 2. Schwere der Erkrankung: „Ist diese Krankheit leicht, mittelschwer oder schwer? “ 3. Bereits bestehende Therapierbarkeit: „Handelt es sich um eine Krankheit, die bereits ausreichend beeinflussbar ist, oder ist sie kaum oder noch gar nicht beeinflussbar? “ 4. Anzahl der Betroffenen: „Welche Bedeutung hat die Krankheit nach der Zahl der zu erwartenden Krankheitsfälle? “ 5. Wahrscheinlichkeitsgrad des erwarteten Heilerfolges: „Mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit werden die angestrebten Erkenntnisse bzw. das Produkt/ Verfahren zu ihrer Diagnose oder Therapie beitragen können? “ Maisack erläutert, an diese Stelle gehöre auch die Frage, „ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, dass sich die Versuchsergebnisse ohne wesentliche Extrapolationsunsicherheiten vom Tier auf die Krankheitssituation beim Menschen übertragen lassen.“ (ebd., S. 294, § 7 Rn. 55, Hervorhebung von N. A.). 6. „Sind bereits Produkte/ Verfahren mit vergleichbaren Wirkungsmöglichkeiten vorhanden? “ Falls ja: Welcher darüber hinausgehende, zusätzliche medizinische Nutzen kann nach Art, Ausmaß und Grad der Wahrscheinlichkeit von dem neuen Produkt/ Verfahren erwartet werden (Differenz- Nutzen zu bereits verfügbaren Produkten/ Verfahren)? 7. Zeitschiene: „Für wie bald kann mit einer Nutzbarmachung gerechnet werden“: Sind der Erfolg und die benötigte Zeit nicht abzusehen oder besteht die Chance zur Nutzbarmachung innerhalb eines Jahrzehnts oder innerhalb von fünf Jahren? 233 233 Maisack verweist auf das TVT-Merkblatt Nr. 50 S. 4, sowie auf Scharmann und Teutsch 1994, S. 195. Anm.: eder bei Scharmann und Teutsch noch im TVT- Merkblatt ist vermerkt, was als akzeptable Zeitspanne erachtet wird. Dies ist vom Betrachter und von den anderen Gütern und Werten abhängig, die in der Güterabwägung im jeweiligen Einzelfall ‘auf die Waagschalen’ gelegt werden. W <?page no="287"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 287 4.7.2.2 Unbedenklichkeitsprüfung von anderen Stoffen und Produkten Maisack schlägt vor, zur Ermittlung des Nutzens bei der Unbedenklichkeitsprüfung von anderen Stoffen und Produkten folgende Gesichtspunkte abzufragen (ebd., S. 294, § 7 Rn. 56, Hervorhebungen von N. A.): 1. Wichtigkeit: „Art und Ausmaß der von dem Stoff/ Produkt ausgehenden Gesundheits-gefahren? Wahrscheinlichkeit, mithilfe des Tierversuchs diese Gefahren zu erkennen und auszuschalten (d. h. auch: Wahrscheinlichkeit, mit der sich die am Versuchstier gewonnenen Ergebnisse ohne wesentliche Extrapolationsunsicherheiten auf die Situation bei Menschen übertragen lassen)? “ 2. Lebensnotwendigkeit des Produktes: „Dient das Produkt einem vitalen, d. h. einem Erhaltungsinteresse des Menschen? Oder geht es lediglich um ökonomische oder kulturell entstandene Bedürfnisse, deren Befriedigung strenggenommen auch ausbleiben könnte, ohne dass es dadurch zu einer Gefährdung oder Minderung lebenswichtiger Errungenschaften käme [...]? “ 234 3. Differenz-Nutzen: „Sind, soweit es um vitale Interessen geht, Produkte mit vergleichbarer Wirkung bereits vorhandenen und ausreichend geprüft [...]? “ 4. Schicksalhaft od. Menschen-verursacht bzw. verzichtbar: „Geht es bei dem Tierversuch um die Abwehr von Gefahren und Nachteilen, die dem Menschen schicksalhaft drohen, oder um Gefahren, für die der Mensch selbst vermeidbare Ursachen gesetzt hat und setzt (zB bei Tierversuchen zum Erkennen von menschenverursachten Umweltgefährdungen oder zum Erkennen von Gesundheitsgefahren, die von Produkten ausgehen, auf die verzichtet werden könnte)? “ 4.7.2.3 Die Einordnung des Nutzens Zur Einordnung des Nutzens werden von Maisack die Grade „gering“, „mittelmäßig“ und „groß“ vorgeschlagen. 235 Hierbei gibt Maisack jeweils eine entsprechende Definition zur Einordnung an (ebd., S. 295, § 7 Rn. 57): 234 Maisack verweist an dieser Stelle auf Caspar in Caspar und Koch 1998, S. 70. 235 Maisack verweist auf de Cock Buning und Theune, zitiert nach Scharmann und Teutsch 1994, S. 194; ähnlich TVT-Merkblatt Nr. 50, S. 4: Dort ist der Wortlaut für die zusammenfassende Bewertung des erhofften Ergebnisses: „gering“, „erheblich“, „bedeutend“. <?page no="288"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 288 Medizinische Versuche Bei medizinischen Versuchen, kann man nach Maisack dann von einem großen Nutzen sprechen, wenn die Erkenntnis (bzw. das Produkt oder Verfahren, das mit ihr hergestellt oder zugelassen werden soll) „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zu einem bedeutenden Fortschritt bei der Diagnose oder Therapie einer schweren Erkrankung, die bisher nicht oder kaum beeinflussbar ist, führen wird.“ (ebd.). Maisack erläutert, ein mittelmäßiger Nutzen wird bejaht werden können, „wenn es sich bei sonst gleicher Konstellation um eine mittelschwere Krankheit handelt oder der Nutzen lediglich innerhalb eines Jahrzehnts zu erwarten ist.“ Als geringen Nutzen wird man einen Nutzen insbesondere dann zu beurteilen haben, „wenn für ihn keine hohe Wahrscheinlichkeit besteht oder wenn die für seinen Eintritt benötigte Zeit nicht abzusehen ist.“ (ebd.). Experimente bei denen keine lebenswichtigen Interessen wahrgenommen werden Maisack betont, dass sich mittelgradige oder gar schwere/ erhebliche Belastungen für die Tiere nicht legitimieren lassen, wenn die Versuchstiere „statt zur Bekämpfung schicksalhafter Gefahren (wie Krankheit und Tod) zur Abwendung von Risiken eingesetzt [werden], die der Mensch in zurechenbarer Weise selbst herbeiführt, ohne damit lebenswichtige Interessen wahrzunehmen [...] (Gedanke der Ingerenz 236 [...]).“ Beispielhaft hierfür wären Unbedenklichkeitsprüfungen für Produkte, welche zwar ökonomischen und kulturellen, nicht aber Erhaltungsinteressen dienen würden. Im Falle der Unbedenklichkeitsprüfungen für nicht-medizinische Produkte sei es deshalb nicht nur wesentlich, „wie groß die Gefahren sind, die von dem Produkt in ungeprüften Zustand ausgehen können, sondern auch, ob es sich um ein notwendiges oder aber um ein verzichtbares Produkt handelt [...].“ (ebd., S. 295, § 7 Rn. 57). 237 Vorhandensein ähnlicher Produkte Der Ansicht von Maisack nach rechtfertigen auch lebens- und gesundheitswichtige (z.B. medizinische) Produkte keine mittelgradigen oder gar schwere/ erhebliche Belastungen, sofern bereits Produkte mit entsprechenden Wirkungsmöglichkeiten entwickelt worden sind: Es stellt einen „ganz erheblichen Unterschied“ dar, „ob pharmazeutische Produkte gegen 236 Maisack verweist auf Lorz und Metzger 1999, S. 244f., § 7 Rn. 58. 237 Maisack präzisiert, was er unter einem verzichtbaren Produkt versteht: Ein Produkt, das von vornherein keinen menschlichen Erhaltungsinteressen dienen würde, oder ein Produkt, von dem es bereits vergleichbar wirksame, sowie ausreichend geprüfte Produkte dieser Art gebe. <?page no="289"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 289 Krankheitsbilder entwickelt werden, für die es bislang keine wirksame medikamentöse Behandlung gibt, oder ob ein neues Produkt auf den Markt gebracht werden soll, das lediglich der bereits vorhandenen Palette wirkungsgleicher Arzneimittel ein neues hinzufügt“. (ebd.). 238 Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf den Menschen Maisack betont: „Je größer die Zweifel an der Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus dem Tierversuch auf den Menschen sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit seines medizinischen oder sonstigen sozialen Nutzens und desto weniger lassen sich mittelgradige oder gar schwere/ erhebliche Belastungen rechtfertigen.“ (ebd.). 239 4.7.3 Ermittlung der Belastung der Versuchstiere 4.7.3.1 Fragen zur Ermittlung der Belastungen Maisack führt detaillierte Fragen an, die zur Ermittlung der Belastungen der Versuchstiere gestellt werden können (ebd., S. 292, § 7 Rn. 53). Hierbei fällt auf, dass die Fragen angelehnt sind an diejenigen, die Scharmann und Teutsch 1994 aufgestellt haben. Interessanterweise untergliedert Maisack jedoch die Belastungen der Tiere in Schmerzen, Leiden und Schäden und bleibt somit dicht am Gesetzestext, der genau diese Begriffe verwendet. Scharmann und Teutsch untergliederten die Belastung der Tiere in körperlichen Schmerz, psychische Belastung und Störung des Sozialverhaltens (vgl. Scharmann und Teutsch 1994, S. 195). Die Einteilung bei Maisack scheint mir geeigneter zu sein, zumal er sinnvoller Weise zum einen Schmerzen von Leiden und Schäden differenziert und zum anderen diese Kategorien ebenfalls noch weiter untergliedert. So sind für Ihn bei allen drei Kategorien das Ausmaß - also der Grad der jeweiligen Beeinträchtigung -, die Zeitdauer der Beeinträchtigung wie auch die Anzahl der davon betroffenen Tiere relevante Kriterien. 1) Schmerzen Punkt 1) betrifft die „Schmerzen“: 238 Maisack verweist hier auf Caspar in Caspar und Koch 1998, S. 72. 239 Maisack hält die Übertragbarkeit von Ergebnissen von Giftigkeitsprüfungen für „besonders fragwürdig“ aufgrund der Artenspezifität und der Ungenauigkeit tiertoxikologischer Daten. <?page no="290"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 290 Entstehen den Tieren durch den Versuch Schmerzen? in welchem Ausmaß? für welche Zeitdauer? wie viele Tiere sind davon betroffen? 2) Leiden Beim Punkt 2) „Leiden“ untergliedert Maisack folgendermassen: Kommt es zu Leiden z.B. durch Angst vor Ungewohntem, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Beschränkung oder Unterbindung physiologischer Bedürfnisse, Beschränkung oder Unterbindung artgemäßer Verhaltensweisen, Einzelhaltung sozial lebender Tiere? 240 Und zwar jeweils wiederum nach folgenden Kriterien: in welchem Ausmaß? für welche Zeitdauer? Zahl der betroffenen Tiere 3) Schäden Unter Punkt 3) „Schäden“ fragt Maisack nach folgenden Punkten: Kommt es zu Schäden? in welchem Ausmaß? Sind die Schäden reversibel oder nicht? Zahl der davon betroffenen Tiere? 4) Nachwirkungen Unter Punkt 4) fragt Maisack, ob es bei den betroffenen Tieren belastende Nachwirkungen, z.B. Wundschmerzen oder fortdauernde Schäden gibt. 5) Tod Unter Punkt 5) wird gefragt: Werden die Tiere im Laufe des Versuchs oder nach dessen Beendigung getötet (Tod als schwerster Schaden, 241 )? 240 Diese von Maisack verwendete Untergliederung des Punktes „Leiden“ hatten Scharmann und Teutsch unter dem Punkt 1.2 „psychische Belastung“ angeführt (vgl. Scharmann und Teutsch 1994, S. 195). Scharmann und Teutsch hatten einen eigenen Punkt 1.3 „Störung des Sozialverhaltens“ angeführt, unter dem sie beispielsweise die Einzelhaltung sozial lebender Tiere einordnen. Dieses Kriterium gliedert Maisack jetzt in seinen Punkt 2 „Leiden“ ein. <?page no="291"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 291 6) Haltung Unter Punkt 6) fragt Maisack ab, ob bei der versuchsvorbereitenden Haltung Grundbedürfnisse zurückgedrängt oder die Bewegung erheblich eingeschränkt wird. Er fragt nach Ausmaß, Zeitdauer und insbesondere: Kommt es zu länger andauernder Einzelhaltung sozial lebender Tiere? 4.7.3.2 Einordnung der Belastung in Schweregrade Bei der Einordnung der Belastung in Schweregrade sei es naheliegend, sich auf allgemein anerkannte, objektivierbare Kriterien zur Einteilung und zum Erkennen der Schwere der Belastung anhand von sog. Belastungskatalogen zu beziehen, erklärt Maisack. Er schlägt vor, dass es sich zur Ermittlung der Belastungen der Versuchstiere anbieten würde, Schmerzen, Leiden, Schäden, Nachwirkungen, Tod sowie versuchsvorbereitende Haltungsbedingungen „jeweils gesondert zu untersuchen und anschließend als Summe dem Nutzen gegenüberzustellen“ 242 (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 292, § 7 Rn. 53). Einteilung in Schweregrade in der AVV Maisack erklärt, die Allgemeine Verwaltungsvorschrift (AVV) sehe im Anhang zu Anlage 1 (Nr. 1.6.7) insgesamt vier Schwere-Grade vor: „keine“, „geringe“, „mäßige“ und „erhebliche“ (ebd.). (Vgl. auch Anhang III). ‘Schweizer Belastungskatalog’ 243 ist empfehlenswert aufgrund seiner Nähe zur AVV Diese Einteilung in der AVV würde dem Belastungskatalog des Schweizer Bundesamtes für Veterinärwesen (BVET) und seinen vier Schweregraden ähneln (vgl. auch die Auswahlmöglichkeit im später vorgestellten Schweizer Kriterienkatalog, Frage 16): 0 (= keine Belastung) I (=leichte Belastung) II (= mittlere Belastung) 241 Maisack verweist auf BVerwGE 105, 73, 82. „Der mit dem schwersten Schaden verbundene Eingriff ist die Tötung eines Tieres.“ (BVerwG vom 18. Juni 1997, Az: 6 C 5/ 96). 242 Maisack verweist hier auf das TVT-Merkblatt Nr. 50, S. 4. 243 Der sog. „Schweizer Belastungskatalog“ (exakt: BVET Information Tierschutz 1.04: „Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden vor Versuchsbeginn (Belastungskategorien)“) ist nicht zu verwechseln mit dem Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ für die Güterabwägung (der sog. „Schweizer (Kriterien)katalog“). Letzteres stelle ich später in einem eigenen Kapitel noch detailliert vor (s. Kap. 4.8). <?page no="292"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 292 III (= schwere Belastung) Maisack hält die Anwendung dieses Belastungskataloges für empfehlenswert aufgrund seiner Nähe zur AVV, und „weil er am besten mit der üblichen Einteilung des Nutzens in die Grade ‘gering’, ‘mittelmäßig’, ‘groß’ harmoniert“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 293, § 7 Rn. 54). Zudem würde es sich um den im deutschsprachigen Raum am meisten benutzten Belastungskatalog handeln. 244 Kritikpunkte am ‘Schweizer Belastungskatalog’: Zu wenig Augenmerk auf das Leiden sowie Tod als Schaden nicht berücksichtigt Maisack bemängelt am ‘Schweizer Belastungskatalog’, dass das Schweizer BVET bei der Einstufung der Belastung in die Schweregrade das „Hauptaugenmerk auf den Schmerz und zu wenig auf das Leiden legt“. Außerdem würde nach schweizerischem Recht der Tod als Schaden unberücksichtigt blieben, „weil es einen dem deutschen Recht entsprechenden Lebensschutz für Tiere in der Schweiz noch nicht gibt [...].“ (ebd.). Der Schweregrad, nach dem ein Versuch in die Tabelle einzugruppieren sei, werde nach derjenigen Tiergruppe bestimmt, die die größte Belastung erfährt. 245 Charakteristik der einzelnen Schweregrade; Berücksichtigung von Intensität u n d Dauer der Belastung BVET-Schweregrad I (= leichte Belastung) bezeichnet Eingriffe und Behandlungen die nur eine leichte und kurzfristige Belastung auslösen. BVET-Schweregrad II (= mittlere Belastung) umfasst Eingriffe und Behandlungen mit zwar mittelgradigen, dafür aber kurzfristigen Belastungen, wie auch Belastungen, die zwar nur leicht, dafür aber mittelbis langfristig sind. BVET-Schweregrad III (=schwere/ erhebliche Belastung) erfasst entweder schwere bis sehr schwere, dafür aber nur kurzfristige, oder eine mittelgradige, dafür aber mittelbis langfristige Belastung. Der Belastungskatalog der Deutschen Forschungsgemeinschaft Auch für „den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) herausgegebenen Belastungskatalog“ gibt Maisack die jeweils entsprechende Schweregradeinstufung des BVET an: 244 Maisack verweist auf Gruber und Hartung ALTEX 21, Supplement 1/ 2004, 3, 7. 245 Maisack verweist auf BVET, Information Tierschutz 1.04, Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden, A 4.1. <?page no="293"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 293 Dem von der DFG herausgegebene Belastungskatalog 246 mit den dortigen Unterstufen I und II („kurze, nicht erhebliche Schmerzen und Leiden“) entsprechen dem BV -Schweregrad I (leichte Belastung). Die DFG-Unterstufe III entspreche dem BV -Schweregrad II (mittlere Belastung). Die DFG-Unterstufen IV und V („erhebliche, andauernde Schmerzen und Leiden“) entsprechen dem BVET-Schweregrad III (schwere/ erhebliche Belastung). Schmerz, psychische Belastung, Störung des Sozialverhaltens, Dauer und Zahl der Tiere Maisack betont, die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (TVT) empfehle „zu Recht“, den körperlichen Schmerz, die psychische Belastung (z.B. Angst vor Ungewohntem, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Beschränkung oder Unterbindung physiologischer Bedürfnisse oder Reaktionen) sowie die Störung des Sozialverhaltens (z.B. Einzelhaltung sozial lebender Tiere) jeweils in der Summe mit „gering“, „mittelschwer“ bzw. „schwer/ erheblich“ zu bewerten, und dabei zusätzlich auch auf die Zeitdauer der jeweiligen Belastung und die Zahl der betroffenen Tiere abzustellen“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 293, 294, § 7 Rn. 54) 247 . Maisack erläutert, der Antragsteller sei im Genehmigungsverfahren verpflichtet, die beabsichtigten Eingriffe und Behandlungen so detailliert zu schildern, dass die Genehmigungsbehörde und die Kommission nach § 15 die oben beschriebenen Fragestellungen (ebd., S. 292, § 7 Rn. 53) „vollständig beantworten und die Einordnung in den Belastungskatalog selbst vornehmen können.“ (ebd., S. 294, § 7 Rn. 54). Darüber hinaus müsse der Antragsteller aber auch eine eigene Einschätzung zum Grad der Belastung abgeben 248 . Bei der eigenen Einschätzung der Belastungsstufe würden jedoch viele Antragsteller dazu neigen, „die Belastungen der Versuchstiere 246 Zitiert bei Maisack (S. 293, § 7 Rn. 54) nach Rusche und Apel 2001, S. 141. 247 Maisack verweist auf das TVT-Merkblatt Nr. 50, S. 4, sowie auf Scharmann und Teutsch 1994, S. 195. In beiden Quellen lautet die Formulierung für die zusammenfassende Bewertung der zu erwartenden Belastung: „gering“, „mittelschwer“, „schwer“. 248 Siehe AVV, Anhang zur Anlage 1. <?page no="294"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 294 zu niedrig, und den medizinischen Nutzen der erwarteten Ergebnisse zu optimistisch einzuschätzen [...].“ 249 (ebd., S. 294, § 7 Rn. 54). 4.7.4 Die Güterabwägung Bei der eigentlichen Güterabwägung hält Maisack eine Entscheidung für „relativ einfach“, sofern die beiden Waagschalen, die auf der einen Seite die Summe der Belastungen, auf der anderen Seite den Nutzen symbolhaft darstellen, eine unterschiedliche Gewichtung aufweisen. Damit deckt sich seine Auffassung mit der von Scharmann (vgl. Scharmann und Teutsch 1994). Ein nur mittelmäßiger Nutzen rechtfertigt keine schwer belastenden Experimente Schwer belastende Experimente 250 denen nur ein mittelmäßiger Nutzen zugesprochen werden kann (vgl. Matrix, [f]), „müssen eindeutig unterbleiben“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 295, § 7 Rn. 58). Umgekehrt könne man „die ethische Vertretbarkeit eines Versuchsvorhabens bejahen, wenn sein Nutzen groß ist und die Belastungen nur gering bis mittelgradig sind [...(vgl. Matrix, g, h)].“ 251 Versuche mit geringem Nutzen sollten unterbleiben, wenn sie mit Belastungen verbunden sind Für Versuche mit geringem Nutzen hält Maisack die Entscheidung ebenfalls für „relativ eindeutig“: Diese Versuche „sollten stets unterbleiben, wenn sie für die Tiere mit Belastungen verbunden sind, selbst wenn diese ebenfalls nur gering sind [...(vgl. Matrix, a) 252 ]. Sie dürfen also den CH-Schweregrad 0 (= keine Belastung) nicht überschreiten [...].“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 295, § 7 Rn. 58). 249 Maisack verweist auf Lindl et al. (2001, S. 171-178), die retrospektiv 51 Forschungsvorhaben, welche zwischen 1991 und 1993 genehmigt worden waren, untersuchten. Es zeigte sich, dass die Antragsteller die Belastungen der Versuchstiere in zwei Dritteln der Anträge als zu niedrig eingestuft hatten, und sogar Ärzte teilweise nicht in der Lage waren, die Belastungen, die sie den Tieren zufügten, richtig zu klassifizieren. Maisack: „Das unterstreicht die Bedeutung, die der vollständigen Sammlung des Abwägungsmaterials durch die Behörde als neutraler Genehmigungsinstanz zukommt [...].“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 294, § 7 Rn. 54). 250 BVET Schwreregrad III bzw. DFG-Unterstufe IV od. V. 251 BVET Scheregrad I und II, bzw. DFG-Unterstufen I, II und III; vgl. Scharmann und Teutsch 1994, S. 195. 252 BVET Scheregrad I, bzw. DFG-Unterstufe I und II. <?page no="295"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 295 Schwierige Entscheidung bei Gleichstand der Waagschalen Fraglich wird die Entscheidung für Maisack dann, wenn sich die Waagschalen im Gleichstand befinden, wenn ein mittelmäßiger Nutzen einer mittelgradigen Belastung (vgl. Matrix, [e]) oder einem großen Nutzen eine schwere (bzw. im Sinne der AVV erhebliche) Belastung gegenüber stehen (vgl. Matrix, [i]). Hier teilen sich die Ansichten. Wir konnten sehen: Beispielsweise G. M. Teutsch nimmt eine Rechtfertigung nur dann an, sofern sich ein Übergewicht des Nutzens gegenüber dem Schaden feststellen lässt, während Scharmann auch in Fällen, in denen Nutzen und Schaden einander die Waage halten, „dem Menschen den Vorzug“ gibt, allerdings durchaus in der Erkenntnis, dass es für diesen Schritt keine tragfähige philosophisch-ethische Begründung gebe. Scharmann argumentiert mit dem Gedanken der Nähe: „Nicht, weil ich den Menschen als ‘höherwertig’ ansehe, entscheide ich zu seinen Gunsten, sondern weil mir der leidende Mensch näher steht als das leidende Tier - so, wie mir meine Familie und meine Freunde näher stehen als fremde Personen.“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Maisack betont, Teutsch sehe in diesem Argument „nicht zu Unrecht eine Überdehnung des Prinzips der Nähe“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 296, § 7 Rn. 58), denn Zitat Teutsch: „[…] es ist ein ethisch relevanter Unterschied, ob ich mich, wenn Menschen und Tiere in gleicher Weise gefährdet sind, zuerst um die Menschen kümmere und dann um die Tiere, oder ob ich mir fernstehende Tiere allen möglichen Belastungen aussetze und ihnen schließlich das Leben nehme, nur weil ich hoffe, damit irgendwann einmal den mir näher stehenden Menschen helfen zu können.“ (Teutsch in Scharmann und Teutsch 1994, S. 197). Maisack ergänzt, je entfernter die Wahrscheinlichkeit des Nutzens sei, desto weniger könne er als mittelmäßig oder gar groß eingestuft werden, so dass der Dissenz jedenfalls in diesen Fällen an Schärfe verliere. Nur ein Nutzen, der die Belastungen überwiegt, kann den Tierversuch rechtfertigen Maisack erläutert: Die ethische Vertretbarkeit nach § 7 Abs. 3 TierSchG (alte Fassung, jetzt § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung) bilde zusammen mit der Unerlässlichkeit nach § 7 Abs. 2 (alte Fassung, jetzt § 7a Abs. 1 TierSchG neue Fassung) einen „spezialgesetzlichen Rechtfertigungsgrund, der [...] auf dem Prinzip des überwiegenden Gegeninteresses beruht.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 296, § 7 Rn. 59). Er erläutert, was dieses Prinzip beinhaltet: Eine Rechtsgutbeeinträchtigung könne nur gerechtfertigt sein, wenn im konkreten Fall das Interesse an der Erhaltung des beeinträchtigten Rechtsgutes weniger schwer wiegt, als ein anderes Interesse, welches sich nur durch die Rechtsgutbeeinträchtigung befriedigen ließe. <?page no="296"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 296 Maisack betont diesen Umstand, indem er den Sachverhalt noch einmal mit anderen Worten beschreibt: „Ein Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn das damit wahrgenommene Interesse erheblich schwerer wiegt als das beeinträchtigte [...].“ 253 „Zur Rechtfertigung eines belastenden Tierversuches ist es also notwendig, dass das (menschliche) Interesse an dem angestrebten Erkenntnisgewinn und dem daraus resultierenden medizinischen oder sonstigen sozialen Nutzen deutlich schwerer wiegt als das (tierliche) Interesse an der Vermeidung der mit den Versuchen verbundenen Schmerzen, Leiden/ oder Schäden.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 296, § 7 Rn. 59). Maisack erläutert, dies könne nicht schon dann angenommen werden, wenn Nutzen und Belastungen einander die Waage halten würden, sondern erst dann, wenn der Nutzen die Belastung überwiegt. Im Bereich der Tierversuche könne eine Rechtfertigung nur angenommen werden, „wenn die mit Hilfe des Erkenntnisgewinns abgewendeten Gefahren eindeutig schwerer wiegen als die mit dem Versuch den Tieren zugefügten Belastungen.“ Maisack meint zudem, dass der in vielen Ethik-Konzepten geforderte gedankliche Rollentausch ebenfalls bestätige, „dass ein bloßes Gleichgewicht des Nutzens gegenüber dem Schaden für eine Rechtfertigung nicht ausreichend sein kann.“ Nach diesem Prinzip solle sich der für den Versuch Verantwortliche fragen, ob er in Anbetracht des erwarteten Nutzens bereit wäre, die den Versuchstieren zugefügten Belastungen auch sich selbst oder einem Nahestehenden, z.B. einem geliebten Haustier zuzufügen. Maisack erklärt, dies könne man nur in Situationen annehmen, „in denen der Nutzen (nach Art, Ausmaß, Wahrscheinlichkeit und ‘Zeitschiene’) die Belastungen deutlich überwiegt, nicht aber schon bei einem Nutzen-Schaden-Gleichstand.“ (ebd., S. 297, § 7 Rn. 59). Maisack folgert, dass somit „geringe Belastungen nur bei mittelmäßigem Nutzen [d] und mittelgradige Belastungen nur bei großem Nutzen als ethisch vertretbar angesehen werden [können (vgl. Matrix, h; somit e nicht zulässig)]. Zu schweren/ erheblichen Belastungen darf es grundsätzlich nicht kommen, auch nicht bei großem Nutzen [...(vgl. Matrix, i)].“ Dies werde auch bei Goetschel in Kluge (2002, S. 211f., § 7 Rn. 56) so gesehen (siehe meine Diskussion bei Stafleu et al.). 253 Maisack verweist an dieser Stelle auf Baumann, Weber und Mitsch 2003, § 18 Rn. 52. <?page no="297"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 297 4.7.5 Diskussion Schwere der Erkrankung, Wahrscheinlichkeit des Nutzens und Zeitschiene des Eintretens Bei medizinischen Versuchen kann man nach Maisack dann von einem großen Nutzen sprechen, wenn die Erkenntnis „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zu einem bedeutenden Fortschritt bei der Diagnose oder Therapie einer schweren Erkrankung, die bisher nicht oder kaum beeinflussbar ist, führen wird.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 295, § 7 Rn. 57). Für Maisack ist von Bedeutung, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Nutzen eintreten kann, wie groß der Zeitraum bis zum Eintreten des Nutzens ist, die Dimension des Fortschritts und die Schwere der Erkrankung. Abwendung schicksalhafter Gefahren, oder selbstverschuldete Situation bzw. verzichtbare Produkte Eine relevanter Gesichtspunkt ist für Maisack auch, ob es bei der Beantwortung der mit einem Tierexperiment zu untersuchenden Fragestellung „zur Bekämpfung schicksalhafter Gefahren (wie Krankheit und Tod)“ geht, oder ob es um die „Abwendung von Risiken […geht], die der Mensch in zurechenbarer Weise selbst herbeiführt, ohne damit lebenswichtige Interessen wahrzunehmen“. Maisack verweist damit auf den Gedanken der Ingerenz. (ebd.). Im Falle von Produktprüfungen geht es ihm um die Frage der Verzichtbarkeit des zu prüfenden Produkts, im Falle von medizinischen Produkten um die Frage des Vorhandenseins von Produkten mit bereits bestehenden Wirkungsmöglichkeiten. Die Frage der Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse auf den Menschen Zudem hängt für Maisack von der Frage der Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus dem Tierversuch auf den Menschen auch die Wahrscheinlichkeit des medizinischen oder sonstigen sozialen Nutzens ab. „Je größer die Zweifel an der Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus dem Tierversuch auf den Menschen sind, […] desto weniger lassen sich mittelgradige oder gar schwere/ erhebliche Belastungen rechtfertigen.“ (ebd.). Die Güterabwägung: schwer belastenden Experimente bei lediglich mittelmäßigem Nutzen sollten unterbleiben. Divergierende Ansichten bei Gleichstand der Waagschalen Bei der Güterabwägung sieht Maisack keine Rechtfertigung für schwer belastende Experimente bei lediglich mittelmäßigem Nutzen (ebd., S. 295, § 7 Rn. 58). Versuche mit geringem Nutzen „sollten stets unterbleiben, wenn sie <?page no="298"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 298 für die Tiere mit Belastungen verbunden sind, selbst wenn diese ebenfalls nur gering sind“ (ebd.). Im Falle des Gleichstands der Waagschalen verweist Maisack auf die hierzu divergierenden Meinungen. Teutsch nehme eine Rechtfertigung nur dann an, sofern sich ein Übergewicht des Nutzens gegenüber dem Schaden feststellen lasse, während Scharmann auch in Fällen, in denen Nutzen und Schaden einander die Waage halten, dem Menschen den Vorzug gebe. Für diese Bevorzugung des Menschen räume Scharmann jedoch ein, dass es dafür keine tragfähige philosophischethische Begründung gebe. Scharmann verweise aber auf den „Gedanken der Nähe“. Bzgl. dieser Rechtfertigung schließt sich Maisack jedoch der Ansicht von Teutsch an, der in diesem Argument „nicht zu Unrecht eine Überdehnung des Prinzips der Nähe“ sieht (ebd., S. 296, § 7 Rn. 58). Maisack rekurriert an dieser Stelle auf das Argument von Teutsch, wonach es ein ethisch relevanter Unterschied sei, ob man sich, wenn Menschen und Tiere in gleicher Weise gefährdet wären, zuerst um die Menschen kümmere, oder ob man sich fernstehenden Tiere Belastungen aussetzen und ihnen das Leben nehmen dürfe, weil man hoffe, damit irgendwann einmal den näher stehenden Menschen helfen zu können. Maisack ergänzt, je entfernter die Wahrscheinlichkeit des Nutzens sei, desto weniger könne er als mittelmäßig oder gar groß eingestuft werden. Der Nutzen muss den Schaden an den Tieren stets überwiegen Für Maisack kann nur ein Nutzen, der die Belastungen überwiegt, den Tierversuch rechtfertigen (ebd., S. 296, § 7 Rn. 59). Er verweist darauf, dass der in vielen Ethik-Konzepten geforderte gedankliche Rollentausch ebenfalls bestätige, dass ein bloßes Gleichgewicht des Nutzens gegenüber dem Schaden für eine Rechtfertigung nicht ausreichend sein könne. Maisack folgert, dass somit geringe Belastungen nur bei mittelmäßigem Nutzen und mittelgradige Belastungen nur bei großem Nutzen als ethisch vertretbar angesehen werden könnten. Zu schweren/ erheblichen Belastungen dürfe es grundsätzlich nicht kommen, auch nicht bei großem Nutzen (ebd.). 4.7.6 Zusammenfassung Für Maisack ist von Bedeutung, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Nutzen eintreten könne, wie groß der Zeitraum bis zum Eintreten des Nutzens sei, die Dimension des Fortschritts und die Schwere der Erkrankung. Außerdem sei relevant, ob es bei der Beantwortung der mit einem Tierexperiment zu untersuchenden Fragestellung um die Bekämpfung schicksalhafter Gefahren (wie Krankheit und Tod), oder um die Abwendung von Risiken gehe, die der Mensch selbst herbeiführe, ohne damit lebenswichtige Interessen wahrzunehmen. Im Falle von Produktprüfungen gehe es ihm <?page no="299"?> 4.7 Die Auflistung relevanter Kriterien von Christoph Maisack 299 um die Frage der Verzichtbarkeit des zu prüfenden Produkts, sowie um die Frage des Vorhandenseins von Produkten mit bereits bestehenden Wirkungsmöglichkeiten. Von der Frage der Übertragbarkeit der Erkenntnisse hängte für Maisack die Wahrscheinlichkeit des Nutzens ab. Maisack sieht keine Rechtfertigung für schwer belastende Experimente bei lediglich mittelmäßigem Nutzen (ebd., S. 295, § 7 Rn. 58). Versuche mit geringem Nutzen sollten stets unterbleiben, wenn sie für die Tiere mit Belastungen verbunden wären. Im Falle des Gleichstands der Waagschalen schließt sich Maisack der Ansicht von Teutsch (in Scharmann und Teutsch 1994) an, wonach Scharmanns Verweis auf den „Gedanken der Nähe“ (ebd.) eine Überdehnung des Prinzips der Nähe sei (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 296, § 7 Rn. 58). Für Maisack könne nur ein Nutzen, der die Belastungen überwiege, einen Tierversuch rechtfertigen (ebd., S. 296, § 7 Rn. 59). Ein bloßes Gleichgewicht des Nutzens gegenüber dem Schaden könne für eine Rechtfertigung nicht ausreichend sein, womit geringe Belastungen nur bei mittelmäßigem Nutzen und mittelgradige Belastungen nur bei großem Nutzen ethisch vertretbar wären. Grundsätzlich dürfe es nicht zu schweren/ erheblichen Belastungen kommen, auch nicht bei einem großen Nutzen (ebd.). In der Grundlagenforschung sei eine Vorabschätzung des praktischen Nutzens für Maisack nur in Ausnahmefällen möglich (ebd., S. 297, § 7 Rn. 61). Ein solch vager Nutzen, dessen Eintreffen weder sicher noch wahrscheinlich vorhergesagt werden und der evtl. auch ganz ausbleiben kann, könne allenfalls Tierversuche mit keinem oder geringem Belastungsgrad rechtfertigen (ebd., S. 300f., § 7 Rn. 68). 4.7.7 Fazit Maisack sieht nüchtern den prospektiv veranschlagten Nutzen umso mehr als unsichere Größe, je schlechter die Übertragbarkeit des Experiments auf den Menschen ist und je geringer die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens veranschlagt werden kann - auch in Bezug auf die zeitliche Entfernung bis zum Erreichen des Zieles. Er differenziert die ethischen Anforderungen in Abhängigkeit des Versuchszwecks dergestalt, dass für vom Menschen in zurechenbarer Weise selbst herbeigeführte Probleme, für deren Lösung man ein Tierexperiment durchführen möchte, die ethischen Anforderungen höher zu stellen sind, als für schicksalhafte Gefahren wie Krankheit oder Tod. Selbiges gilt im Falle von Experimenten für Produkte, die in vergleichbarer Weise bereits verfügbar wären und lediglich zu einer Sortimenterweiterung führen könnten. <?page no="300"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 300 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ für die Güterabwägung 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 4.8.1 Einleitung Der erstmals im November 2007 in Zürich einer Öffentlichkeit vorgestellte Fragenkatalog der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT, dessen Bezeichnung „Ethische Güterabwägung bei Tierversuchen - eine Vorlage für die Selbstprüfung“ 254 lautet, ist über das Internet zu erreichen. 255 Außerdem kann das Programm von der Internetseite heruntergeladen, auf dem eigenen Rechner installiert und unabhängig von einer Internet-Anbindung betrieben werden. Dem Vorwort zu dem Programm ist zu entnehmen, dass es sich zunächst um einen „Arbeitsentwurf“ handelt, der sich auf die von der Ethikkommission für Tierversuche erarbeiteten Ethikrichtlinien 256 und das Prozessfluss-Diagramm für die Planung und Durchführung von Tier- 254 Version 1.2 von 15.12.2007, auf diese Version beziehen sich meine Untersuchungen und Ausführungen. Die derzeit aktuelle Version im Internet ist die Version 1.2.1 vom 25.08.2009 (abgerufen am 27.10.2009, letzter Zugriff am 16.12.2015). 255 <http: / / tki.samw.ch/ > letzter Zugriff am 16.12.2015). 256 Das aktuelle Dokument der Ethikkommission für Tierversuche der Akademien der Wissenschaften Schweiz: „Ethische Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche” (3. Auflage 2005) befindet sich mittlerweile auf der Website der Akademien der Wissenschaften Schweiz, Seite „Kommission für Tierversuchsethik”: <http: / / www.akademien-schweiz.ch/ dms/ D/ Publikationen/ Richtlinien_Empfehlungen/ Tierversuche/ Richtlinien_2010.pdf> (letzter Zugriff am 22.12.2015). „Tierversuche müssen durch überwiegende Werte und Interessen begründet sein. Die Forschenden haben die Pflicht, die Notwendigkeit und Angemessenheit jedes Tierversuches aufzuzeigen und ihre ethische Vertretbarkeit durch Güterabwägung sorgfältig zu prüfen.“ (Ethikkommission für Tierversuche der SAMW und SCNAT 2005, Ziffer 2.3) „Bedenken Sie, dass Selbstwahrnehmung nicht stets identisch ist mit echter, kritischer Güterabwägung.“ (Ethikkommission für Tierversuche der SAMW und SCNAT 2007, http: / / tki.samw.ch) <?page no="301"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 301 versuchen 257 bezieht und der aufgrund von Erfahrungen Änderungen erfahren könne (http: / / tki.samw.ch/ dort: Karteikarte 258 (Seite) „Vorwort“). 4.8.2. Die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Schweiz 4.8.2.1 Der Weg eines Tierversuches von der Planung bis zur Auswertung Der Weg eines Tierversuches von der Planung über Durchführung bis zur Auswertung eines Tierversuchs im Prozessfluss-Diagramm Das Prozessflussdiagramm weist sehr detailliert und anschaulich den Weg eines Tierversuchs-Gesuches nach (Ethik-Kommission für Tierversuche SAMW/ SCNAT 2002, 3. Prozessfluss-Diagramm, S. 3-9): Beginnend mit der Planungsphase (einschl. Literaturrecherche), über die Begutachtung des Forschungsvorhabens im Kontext des übergeordneten Forschungsprojektes und Anwendungsgebietes, das Formulieren des Versuchsziels, sowie das Prüfen der wissenschaftlichen Hypothese und das Festlegen des methodischen Vorgehens, über die Prüfung der Alternnativlosigkeit, der Wahl der Methode, der Spezies, der Anzahl der benötigten Tiere unter Berücksichtigung der 3 R - Prinzipien, der vorgesehenen Eingriffe, sowie der Abbruchkriterien und Tötungsmethoden, bis hin zur Ermittlung der Güter / Interessen des Menschen (erwarteter Nutzen bzw. Erkenntnisgewinn des geplanten Tierversuchs), sowie der Ermittlung der Güter / Interessen des Tieres (welche Güter / Interessen des Tieres durch den Versuch voraussichtlich beeinträchtigt werden), was letztlich in die Güterabwägung mündet: Es ist die Bedeutung des erwarteten Erkenntnisgewinns / Ergebnisses im Vergleich zu jenen den Tieren entstehenden Schmerzen, Leiden, Schäden und Ängsten zu beurteilen. Erscheint der Versuch nun dem Versuchsleiter, dem Durchführenden und der Forschergruppe als „wissenschaftlich und ethisch gerechtfertigt“, so wird im Folgenden 257 Die SAMW ist ein Mitglied der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Auf der Website der Akademien der Wissenschaften Schweiz, Seite „Kommission für Tierversuchsethik”, befindet sich unter dem Punkt „Richtlinien” nunmehr das aktuelle „Prozessfluss-Diagramm für die Planung und Durchführung von Tierversuchen“(von Feb. 2002, revidiert 2012): <http: / / www.akademien-schweiz.ch/ dms/ D/ Portrait/ Kommissionen/ Tierversuche/ d_Prozessflussdiagramm_2012.pdf> (letzter Zugriff am 22.12.2015). 258 Die Internetseite ist so konzipiert, dass die einzelnen Seiten wie „Karteikarten“ hintereinander liegen. Klickt man auf die Reiter der jeweiligen „Karteikarte“, so wird diese „Karteikarte“ (Seite) im Vordergrund angezeigt und die übrigen „Karteikarten“ sind im Hindergrund. <?page no="302"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 302 ein detaillierter Versuchsplan verfasst, inkl. wissenschaftlicher Begründung, Anwendungsgebiet, Spezieswahl und Anzahl der Tiere, anschließend erfolgt die prospektive Beschreibung, welche Schweregrade der Versuch erwarten lässt (gem. Formular 1.04 Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden vor Versuchsbeginn (Belastungskategorien)), danach wird das Gesuch in der Gesuchs-Vorlage (Formular A) formuliert. Dieses Gesuch wird dann dem Tierschutzbeauftragten übermittelt, der es prüft und anschließend an das kantonale Veterinäramt (KVET) weiterleitet. Letzteres leitet das Gesuch an die Tierversuchskommission (TVK) weiter. 259 Entscheidungsbefugnis liegt beim Veterinäramt, die Tierversuchskommission berät lediglich Das kantonale Veterinäramt hat die Entscheidungsbefugnis 260 : Es „bewilligt Gesuche, lehnt sie ab, oder weist sie zurück. Eine Rückweisung bezweckt, die Wahl der Methode, die 3R Aspekte oder den geplanten Versuchsablauf nochmals zu überprüfen.“ (SAMW und SCNAT 2002, S. 10, Bemerkung 4). Die kantonale Tierversuchskommission fungiert - ebenso wie die in Deutschland eingesetzten beratenden Kommissionen nach § 15 TierSchG - „stets nur beratend“. Wenn spezifische Tierversuche von Seiten der Gesundheitsbehörden gefordert wären, beispielsweise für Unbedenklichkeitsprüfungen von Stoffen und Erzeugnissen gemäß nationalen und internationalen behördlichen Richtlinien, „entscheidet in einigen Kantonen das KVET ohne Beizug der TVK (eingeschränkte Güterabwägung).“ (ebd.). Das kantonale Veterinäramt und die beratend fungierende Tierversuchskommission beurteilen nun das Gesuch aus wissenschaftlicher und ethischer Sicht. Sollte das Gesuch genehmigt worden sein, wird der Versuch - gemäß eventuellen Auflagen - entsprechend dem Versuchsplan durchgeführt. 259 Gemeint ist hier die kantonale Tierversuchskommission. Davon zu unterscheiden ist die Eidgenössische Kommission für Tierversuche. Letztere berät das Bundesamt für Veterinärwesen (BVET) „in allen mit Versuchstierhaltung und Tierversuchen zusammenhängenden Fragen“ und sie steht den kantonalen Tierversuchskommissionen „in Grundsatzfragen und für umstrittene Fälle“ zur Verfügung (Ethik- Kommission für Tierversuche SAMW/ SCNAT 2002, 5. Abkürzungen, S. 11). 260 Vgl. Schweizerische Tierschutzverordnung (TSchV), 6. Kapitel: Tierversuche, gentechnisch veränderte Tiere und belastete Mutanten / 5. Abschnitt: Bewilligung von Tierversuchen , Art. 139 Bewilligungsverfahren, Satz 3: „Die kantonale Behörde prüft das Gesuch und entscheidet vorweg, ob es sich um einen belastenden Tierversuch handelt.“, sowie Satz 4: „Die kantonale Behörde überweist Gesuche für belastende Tierversuche an die kantonale Tierversuchskommission und entscheidet auf Grund des Antrags der Kommission. Entscheidet die kantonale Behörde gegen den Antrag, so begründet sie dies gegenüber der Kommission.“ <?page no="303"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 303 Augenmerk während der Versuchsdurchführung auf Überwachung der Tiere und ggf. Änderung der Versuchsanordnung Während der Versuchsdurchführung gilt es regelmäßig den Versuch und die Tiere zu überwachen 261 , sowie die Abbruchkriterien zu befolgen 262 . Im Falle von unerwarteten Zwischenergebnissen erfolgt eine Wiederholung der Güterabwägung durch Versuchleiter, Durchführenden, Forschergruppe und den Tierschutz-beauftragten. Ist die Weiterführung des Versuchs nicht gerechtfertigt, so erfolgt ein Abbruch des Versuchs. Ist die Weiterführung fraglich, so erfolgt die Planung einer Änderung der Versuchsanordnung und das Schreiben eines Änderungsgesuches. Dieses muss zur Fortführung des Experiments von dem kantonalen Veterinäramt bewilligt werden. Hierbei wird das Veterinäramt wieder von der Tierversuchskommission beraten (SAMW und SCNAT 2002, S. 7). Feststellung des tatsächlichen Schweregrades, Tierverbrauches sowie Evaluation des Outputs des Experiments Im Falle einer Versuchsdurchführung gemäß der ursprünglichen Bewilligung oder gemäß eines bewilligten Änderungsgesuches müssen nun Befunde dokumentiert werden, 261 Vgl. Schweizerische Tierschutzverordnung (TSchV), 6. Kapitel: Tierversuche, gentechnisch veränderte Tiere und belastete Mutanten / 4. Abschnitt: Durchführung von Tierversuchen, Art. 135 Versuchsdurchführung, Satz 4: „Das Befinden der Tiere ist während der Versuchsdauer regelmässig und so oft zu überprüfen, dass Schmerzen, Leiden, Schäden und Angst sowie Störungen des Allgemeinbefindens rechtzeitig erfasst und geeignet beurteilt werden können. Treten solche auf, so sind die Tiere nach dem Stand der Kenntnisse zu pflegen und zu behandeln; sobald es das Versuchsziel zulässt oder die Abbruchkriterien erfüllt sind, sind sie aus dem Versuch zu nehmen und allenfalls zu töten.“ Vgl. auch TSchV 6. Kapitel / 6. Abschnitt: Dokumentation und Statistik, Art. 144 Aufzeichnungen zum Tierversuch, Satz 1: „Bei der Durchführung eines Tierversuchs ist pro Tier oder Tiergruppe schriftlich aufzuzeichnen: […] b. versuchsbedingte Aspekte wie Eingriffe und Massnahmen an den Tieren (Daten, Art); c. tierschutzorientierte Aspekte wie Frequenz der Überwachung der Tiere und systematische Erfassung der klinischen Symptomatik, Anästhesie, Analgesie und vorzeitiger Versuchsabbruch (Daten, Art); d. Kategorie der Belastung, der jedes Tier ausgesetzt war; e. unerwünschte Ereignisse; […].“ 262 Vgl. TSchV, Art. 135 Versuchsdurchführung, Satz 1: „Vor Versuchsbeginn sind die Ereignisse oder Symptome festzulegen, bei deren Auftreten ein Tier aus dem Versuch genommen und allenfalls getötet werden muss (Abbruchkriterien).“ Satz 4 (siehe vorherige Fußnote), sowie Satz 7: „Dauern bei einem Tier nach einem Eingriff oder einer Massnahme die Schmerzen, Leiden, Schäden oder die Angst an, so muss es getötet werden, spätestens wenn die Abbruchkriterien erfüllt sind.“ <?page no="304"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 304 sowie die tatsächlichen Schweregrade und der Tierverbrauch festgestellt werden, zudem erfolgt eine Evaluierung der Ergebnisse und des Kenntnisgewinns. 263 Anschließend wird der Versuchsbericht vom Versuchsleiter verfasst. Versuchsplan, Rohdaten sowie Versuchsbericht sind sämtlich zu archivieren. Dann wird der Zwischen- / Abschlussbericht (Formular C) über den Tierverbrauch, die geprüften Substanzen, die Schweregrade und eventuelle besondere Ereignisse verfasst (ebd., S. 8). Nach Prüfung des Berichts durch den Tierschutzbeauftragten bzw. den Leiter der Forschungseinrichtung werden alle Zwischenberichte und Abschlussberichte an das zuständige kantonale Veterinäramt übersandt. Retrospektive Qualitätskontrolle: Überprüfung der Plausibilität durch Vergleich des Eingangsgesuches mit dem Zwischenbzw. Endbericht durch das Veterinäramt Das Veterinäramt führt nun eine „Überprüfung der Plausibilität (Formular C versus Formular A)“ durch. Letztlich werden die Berichte an das Bundesamt für Veterinärwesen weitergeleitet, das anhand der Berichte seinen Jahresbericht erstellt, zu Zwecken der Statistik über Tierversuche in der Schweiz (ebd., S. 9). 4.8.2.2 Versuchszwecke gem. Schweizerischem Tierschutzgesetz Im Schweizerischen Tierschutzgesetz (TSchG) vom 16. Dezember 2005 werden im 1. Kapitel „Allgemeines“ im Art. 3 „Begriffe“ im Unterpunkt c. die Zwecke benannt, zu denen Tierversuche durchgeführt werden (Hervorhebung von N. A.): 263 Vgl. dazu TSchV, Art. 144 Aufzeichnungen zum Tierversuch, Satz 1 (Hervorhebungen von N. A.): „Bei der Durchführung eines Tierversuchs ist pro Tier oder Tiergruppe schriftlich aufzuzeichnen: a. Versuchsbeginn (Datum), Art, Zahl, Geschlecht, Herkunft und Identifikation der Tiere sowie Bezeichnung der Versuchsgruppe; b. versuchsbedingte Aspekte wie Eingriffe und Massnahmen an den Tieren (Daten, Art); c. tierschutzorientierte Aspekte wie Frequenz der Überwachung der Tiere und systematische Erfassung der klinischen Symptomatik, Anästhesie, Analgesie und vorzeitiger Versuchsabbruch (Daten, Art); d. Kategorie der Belastung, der jedes Tier ausgesetzt war; e. unerwünschte Ereignisse; f. Auswertung der Versuche und Verwertbarkeit der Resultate; g. Versuchsende (Datum).“ <?page no="305"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 305 „In diesem Gesetz bedeuten: […] c. Tierversuch: jede Massnahme, bei der lebende Tiere verwendet werden mit dem Ziel: 1. eine wissenschaftliche Annahme zu prüfen, 2. die Wirkung einer bestimmten Massnahme am Tier festzustellen, 3. einen Stoff zu prüfen, 4. Zellen, Organe oder Körperflüssigkeiten zu gewinnen oder zu prüfen, ausser wenn dies im Rahmen der landwirtschaftlichen Produktion, der diagnostischen oder kurativen Tätigkeit am Tier oder für den Nachweis des Gesundheitsstatus von Tierpopulationen erfolgt, 5. artfremde Organismen zu erhalten oder zu vermehren, 6. der Lehre sowie der Aus- und Weiterbildung zu dienen.“ Unzulässige Versuchszwecke gem. Schweizerischer Tierschutzverordnung Die Schweizerische Tierschutzverordnung (TSchV) vom 23. April 2008 benennt im 4. Abschnitt „Durchführung von Tierversuchen“ in Art. 138 „Unzulässige Versuchszwecke für belastende Tierversuche“ im ersten Satz, für welche Zwecke belastende Tierversuche nicht zulässig sind (Hervorhebungen von N. A.): 1 Unzulässig sind belastende Tierversuche: a. für die Zulassung von Stoffen und Erzeugnissen in einem anderen Staat, wenn die Zulassungsanforderungen nicht internationalen Regelungen entsprechen oder, gemessen an jenen der Schweiz, wesentlich mehr Tierversuche oder Tiere für einen Versuch bedingen oder wenn sie Tierversuche bedingen, welche die Versuchstiere wesentlich mehr belasten; b. für das Prüfen von Erzeugnissen, wenn die angestrebte Kenntnis durch Auswertung der Daten über deren Bestandteile gewonnen werden kann oder das Gefährdungspotenzial ausreichend bekannt ist; c. für die Lehre an der Hochschule und die Ausbildung von Fachkräften, wenn eine andere Möglichkeit besteht, Lebensphänomene in verständlicher Weise zu erklären oder Fertigkeiten zu vermitteln, die für die Berufsausübung oder die Durchführung von Tierversuchen notwendig sind; d. zu militärischen Zwecken. Bezüglich des Maßes der Belastungen bestimmt das Schweizerische Tierschutzgesetz (TSchG) im 2. Kapitel: Umgang mit Tieren / 6. Abschnitt: Tierversuche in Art. 19 „Anforderungen“, Satz 4: „Ein Tierversuch ist insbesondere unzulässig, wenn er gemessen am erwarteten Kenntnisgewinn dem Tier unverhältnismässige Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügt oder es in unverhältnismässige Angst versetzt.“ <?page no="306"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 306 Zur Beurteilung der Verhältnismässigkeit eines Versuchs wurden für belastende Tierversuche „Belastungskategorien“ festgelegt Die Schweizerische Tierschutzverordnung (TSchV) legt im 6. Kapitel („Tierversuche, gentechnisch veränderte Tiere und belastete Mutanten“) / 4. Abschnitt („Durchführung von Tierversuchen“) in Art. 136 „Belastende Tierversuche“ in Form einer Aufzählung fest, welche Massnahmen als „belastende Tierversuche nach Artikel 17 TSchG 264 “ gelten (Satz 1). In Satz 2 wird erklärt: „Das BVET legt für die Beurteilung der Verhältnismässigkeit eines Versuchs Belastungskategorien nach der Schwere der Belastung fest.“ Dies verweist auf die BVET-Richtlinie Information Tierschutz 1.04 „Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden vor Versuchsbeginn (Belastungskategorien)“ (Bundesamt für Veterinärwesen 1995). 4.8.3 Zweckbestimmung des Internet-Programms Die Zweckbestimmung des Programms wird folgendermassen umrissen: „Das Programm […] enthält Beurteilungskriterien für den internen Gebrauch von Tierversuchsleitenden, Tierversuchsdurchführenden und Tierschutzbeauftragten, um damit die ethische Vertretbarkeit eines Tierversuchs abzuschätzen. Es bildet gleichzeitig ein Hilfsmittel für die gesetzlich erforderliche Güterabwägung. Grundlage bilden die ‘Ethischen Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche’ der SAMW/ SCNAT. [...] Die Gewichte […] sollen […] helfen, eine kritische Selbstprüfung vorzunehmen. Die Scores geben den derzeitigen Diskussionsstand der Ethik-Kommission für Tierversuche dar [sic! ].“ (ebd., Karteikarte (Seite) „Grundlagen“). Im Vorwort heißt es: „Zweck einer Güterabwägung ist es, bei erkennbaren Konflikten zwischen Interessen / Gütern des Menschen und Interessen / Gütern des Tieres normative Kriterien zur Hand zu haben, anhand derer eine Entscheidung getroffen und gerechtfertigt werden kann“. Der moralisch handelnde Mensch sei in einem unausweichlichen Dilemma, zu gleicher Zeit zwei Interessen verwirklichen zu sollen, die sich gleichzeitig nicht verwirklichen ließen. Er sei verpflichtet, sich für das höhere Interesse zu entscheiden, analog der Notwendigkeit, zwischen zwei Übeln wählen zu müssen (ebd., Karteikarte „Vorwort“). Das Ziel des Programms wird klar umrissen: „In einer Güterabwägung werden die verschiedenen Interessen / Güter ermittelt, beurteilt, gewichtet 264 Schweizerisches TSchG, Art. 17 „Beschränkung auf das unerlässliche Mass“: „Tierversuche, die dem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in Angst versetzen, sein Allgemeinbefinden erheblich beeinträchtigen oder seine Würde in anderer Weise missachten können, sind auf das unerlässliche Mass zu beschränken.“ <?page no="307"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 307 (bewertet) und gegeneinander abgewogen. Eine mit rationalen Methoden durchgeführte Güterabwägung soll als Ergebnis einen Rechtfertigungsgrund für oder gegen einen Tierversuch liefern.“ (ebd., Karteikarte (Seite) „Vorwort“). Der Nutzer wird aufgefordert, die angegebenen Fragen in einer Weise, die er „gegenüber Dritten“ vertreten kann, zu beantworten. Er wird darauf hingewiesen, „dass Selbstwahrnehmung nicht stets identisch ist mit echter, kritischer Güterabwägung.“ (ebd., Karteikarte (Seite) „Grundlagen“). Ein Antragsteller kann zunächst auswählen, in welchem Bereich er sein Versuchsvorhaben einordnet (ebd., Karteikarte (Seite) „geförderte Güter“), z.B.: Grundlagenforschung, medizinische Anwendungen, nichtmedizinische Anwendungen etc. Dann wird unter der Rubrik „Geförderte Güter und Interessen“ nach der Bedeutung des zu erwartenden Erkenntnisgewinns, der Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung etc. gefragt, um anschließend unter der Rubrik „Geschädigte Güter und Interessen“ (ebd., Karteikarte (Seite) „beeinträchtigte Güter“) nach Gesundheit und Wohlergehen der Versuchstiere befragt zu werden, unter Einbezug der Belastung, der Tierart, der Qualifikation des Personals, der Haltungsbedingungen sowie der Anzahl der Tiere. Es wird damit auch das „Verantwortungsbewusstsein“ des Forschers einer kritischen Überprüfung unterzogen, um dann letztlich eine Gesamtbewertung des Versuches zu erhalten (ebd., Karteikarte (Seite) „Auswertung“), als auch Einzelbewertungen der einzelnen abgefragten Kategorien. Die Vorlage umfasst auch Versuche mit aktuell von der Tierschutzgesetzgebung nicht erfassten Wirbellosen, „um die Güterabwägung auch darüber anzuregen.“ (ebd., Karteikarte (Seite) „Grundlagen“). Zum Verständnis der Funktionsweise des Programms verweise ich auf einen separaten technischen Teil (siehe Anhang IIa). Dort erläutere ich, wie es funktioniert und wie die Ermittlung des Ergebnisses sowie dessen Darstellung funktioniert. 4.8.4 Zu untersuchende Forschungsbereiche Es werden folgende fünf Bereiche zur Auswertung angeboten (ebd., Karteikarte (Seite) „geförderte Güter“): I Grundlagenforschung II Medizinische Anwendungen III Nicht-medizinische Anwendungen IV Förderung der Lebensqualität von Tieren V Förderung der 3R Bevor der Nutzer einen der fünf Bereiche auswählt, wird er im vorherigen Schritt (auf der Karteikarte (Seite) „Grundlagen“) übersichtlich in tabellari- ‘ ’ <?page no="308"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 308 scher Form und durch Hinterlegung mit verschiedenen Farben auch visuell auf die zu bearbeitenden Kategorien (A bis E, siehe nachfolgende Tabelle) vorbereitet. Der Fragenkatalog sei untergliedert in „Geförderte Güter und Interessen“ sowie „Beeinträchtigte Güter und Interessen“. Es wird wie folgt differenziert: Tab. 11: Übersicht über die Bereiche des Schweizer Programms Geförderte Güter Beeinträchtigte Güter Auf Seiten des Menschen Erkenntnisgewinn (A) Verantwortungsbewusstsein und moralische Integrität (F) Gesundheit, Lebensqualität, Umwelt, Artenschutz (medizinisch B1, nicht medizinisch B2) Auf Seiten des Tieres Tiergesundheit und Tierwohl (C1) Wohlergehen der Tiere (d.h. Erleiden von Schäden, Schmerz, Leid und Stress) (D) 3R (Refinement, Reduction, Replacement) (C2) Verwendung von Tieren (Tierverbrauch) (E) Die verschiedenen Kategorien A bis F werden nicht in gleicher Weise bei allen fünf Auswertungs-Bereichen verwendet: Je nachdem, welcher Bereich zur Auswertung ausgewählt wird (I, II, III, IV oder V), werden bei der Auswahl der zu bearbeitenden Kategorien wie auch bei der Anzeige der Ergebnisse nur diejenigen Kategorien angezeigt, die für den jeweiligen Bereich von Relevanz sind. Die übrigen Kategorien werden ausgeblendet und gehen auch nicht in die Berechnung mit ein. Die Zuordnung der Kategorien ist wie folgt festgelegt 265 : 265 Beispielsweise bei Wahl des Bereichs „Förderung der Lebensqualität von Tieren“ (IV) werden die Kategorien A, C1, C2, D, E, und F bewertet. Die Kategorien B1 sowie B2 bleiben unberücksichtigt und sind daher auch ausgeblendet, also unsichtbar für den Nutzer. <?page no="309"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 309 Tab. 12: Zuordnung der Kategorien zu den einzelnen Bereichen Bereich: Abgefragte Kategorien: I Grundlagenforschung: A, C2, D, E, F II Medizinische Anwendungen: A, B1, C2, D, E, F III Nicht-medizinische Anwendungen: A, B2, C2, D, E, F IV Förderung der Lebensqualität von Tieren: A, C1, C2, D, E, F V Förderung der 3R: A, C2, D, E, F Die einzelnen Kategorien und deren jeweilige Fragen werde ich nachfolgend zur besseren Übersichtlichkeit zunächst ohne die im Programm zur Auswahl angebotenen Antworten vorstellen. Dabei stelle ich alle Kategorien vor, unabhängig davon, ob sie im Programm in Abhängigkeit des vom Nutzer ausgewählten Bereiches sichtbar oder ausgeblendet sind. Tab. 13: Übersicht über die Fragen des Schweizer Katalogs (ohne Antwortmöglichkeiten, diese sind im Anhang IIb aufgelistet) Geförderte Güter und Interessen Kategorie A: Erkenntnisgewinn 1: Wie hoch ist die Bedeutung des zu erwartenden Erkenntnisgewinns? 2: Von welcher Bedeutung ist die angestrebte Fachzeitschrift für die Veröffentlichung der endgültigen Forschungsergebnisse? 3: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mit der Versuchsanordnung die gestellte Frage beantworten können? Kategorie B: Gesundheit und Lebensqualität des Menschen B1: Versuche für medizinische Anwendungen 266 4: Wie hoch ist die Bedeutung für den Patienten/ die Patientin? 5: Wie stark verbessern die Ergebnisse die psychische, physische und soziale Lebensqualität von Menschen? 6: Wie bedeutsam ist der Versuch für die öffentliche Gesundheit (bezogen auf die Zahl der Patientinnen/ Patienten)? 7: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Versuch zu einer sinnvollen Anwendung führt? 266 Kategorie B1 wird nur in Bereich II Medizinische Anwendungen verwendet. <?page no="310"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 310 B2: Versuche für nicht-medizinische Anwendungen 267 8: Wie stark wirken sich die Resultate positiv auf die Umwelt und/ oder die Lebensqualität des Menschen aus (aus psychischer, physischer und sozialer Sicht)? 9: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Versuch zu einer sinnvollen Anwendung führt? C: Gesundheit und Wohlergehen von Tieren C1: Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlergehen von Tieren 268 10: Wie hoch ist die Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlergehen von Tieren? 11: Wie vielen Tieren kommt - bezogen auf die behandelte Tierart - der angestrebte Zweck (Prävention, Diagnostik bzw. Therapie) oder die Verbesserung der Tierhaltung, Tierernährung und Tierzucht zugute? 12: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Versuch zu einer sinnvollen Anwendung führt? C2: Möglicher Beitrag zu 3R (Refinement, Reduction, Replacement) 269 13: Wie stark trägt der Versuch zu den 3R bei? (Mehrfachnennungen möglich) 14: Wirkt sich der 3R Beitrag des Versuchs auf weitere Tierversuche aus? 15: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Versuch zu einer sinnvollen Anwendung für die 3R führt? Geschädigte Güter und Interessen D: Wohlergehen der Tiere (bzw. Erleiden von Schäden, Schmerz, Leiden, Stress) 270 Der Schweregrad beinhaltet neben dem eigentlichen Versuch auch Belastungen beim Transport und bei der Haltung der 267 Kategorie B2 wird nur in Bereich III nicht-medizinische Anwendungen verwendet. 268 Kategorie C1 wird nur in Bereich nur IV Förderung der Lebensqualität von Tieren verwendet. 269 Kategorie C2 wird in allen Bereichen verwendet: I, II, III, IV und V. 270 Kategorie D wird in allen Bereichen verwendet: I, II, III, IV und V. <?page no="311"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 311 Tiere. Auch mehrfache Belastungen sollten berücksichtigt werden. 16: Mit welchem Schweregrad muss gerechnet werden? 17: Werden Tierarten eingesetzt, die - soweit beurteilbar - als eher wenig oder besonders leidensfähig bezeichnet werden können? Nennen Sie die höchste Tierart. E: Verwendung von Tieren 271 18: Handelt es sich - relativ zum gewählten Versuchstier - um eine hohe Tierzahl? 19: Hat der Versuchsansatz voraussichtlich direkt weitere Tierversuche zur Folge? 20: Ließen sich die Forschungsergebnisse auch ohne Verwendung von Tieren erzielen? 21: Ließen sich die Forschungsergebnisse auch mit einer geringeren Anzahl Tiere oder einer niedrigeren Tierart erzielen? 22: Ließen sich die Forschungsergebnisse auch mit einer tierschonenderen Methode erzielen? F: Verantwortungsbewusstsein 272 Diese Fragen dienen der Selbstprüfung durch Tierversuchsleitende und deren Personal. Andere Personen, wie z.B. Tierschutzbeauftragte, Mitglieder einer Tierversuchskommission und weitere, können eine Einschätzung der Haltung des für den Versuch verantwortlichen Tierversuchsleitenden abgeben. 23: Haben Sie sich schon näher mit den 3R Grundsätzen befasst? 24: Wie gut kennen Sie bei der von Ihnen verwendeten Tierart Stress- und Leidenssymptome? 25: Wie oft überwachen Sie persönlich die Tiere des angegebenen höchsten Schweregrades? 26: Wie oft werden die Tiere des angegebenen höchsten Schweregrades durch andere Personen überwacht? 27: Wie stellen Sie die Überwachung der Tiere durch andere Personen sicher? 28 a: Wie sind die Haltungsbedingungen der Tiere? 28 b: Haben Sie etwas für die die Verbesserung der Haltungs- 271 Kategorie E wird in allen Bereichen verwendet: I, II, III, IV und V. 272 Kategorie F wird in allen Bereichen verwendet: I, II, III, IV und V. <?page no="312"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 312 bedingungen der Tiere getan? 29: Sprechen Sie mit Ihren Mitarbeitenden darüber, wie Ihre Tierversuche im Sinne des Tierschutzes verbessert werden können? 4.8.5 Diskussion 4.8.5.1 Die ethische Position von SAMW und SCNAT Wie ich bereits einführend zur Besprechung des Schweizer Programms erwähnt habe, ist dem Vorwort zu dem Programm zu entnehmen, dass es sich um einen „Arbeitsentwurf“ handle, der sich auf die von der Ethikkommission für Tierversuche erarbeiteten Ethikrichtlinien („Ethische Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“) und dem „Prozessfluss- Diagramm für die Planung und Durchführung von Tierversuchen“ beziehe. Bei der wissenschaftlichen Forschung unter Verwendung von Tieren steuern - wie in Deutschland ebenso - „umfangreiche Regelwerke (Gesetze und Verordnungen; wissen-schaftliche, gesundheitsbehördliche und ethische Anforderungen und Richtlinien) […] die Planung, Bewilligung und Durchführung eines Tierversuchs“ (Ethik-Kommission für Tierversuche SAMW und SCNAT 2002, 1. Vorwort, S. 1). Der Forscher hat die Aufgabe die Regelwerke zu berücksichtigen, verschiedene Instanzen überprüfen die Tierversuchsgesuche Es sei „primär Aufgabe der Forschenden, diese Regelwerke zu berücksichtigen“, und es sei die Aufgabe der in Bewilligungsverfahren involvierten Gremien - wie z.B. Tierschutzbeauftragte, kantonale Veterinärämter, Tierversuchs-Kommissionen sowie das Schweizer Bundesamt für Veterinärwesen - entsprechende Gesuche zu überprüfen. Hierbei folgen die einzelnen Schritte, ausgehend von der Planung bis zum Abschluss eines Tierversuchs „einem geregelten Ablaufschema“. Dem Vorwort des Prozessflussdiagramms (Version von Februar 2002 273 ) ist zu entnehmen, es sei mit der Intention erstellt worden: „[…] diesen Ablauf aus wissenschaftlicher, rechtlicher und ethischer Sicht zu beleuchten und in Form eines übersichtlichen Prozessfluss-Diagramms 273 Die Zitate im Text sind der damaligen aktuellen Version von 2002 entnommen. Mittlerweile ist die akuelle Version im Internet: Ethikkommission für Tierversuche der Akademien der Wissenschaften Schweiz, „Prozessfluss-Diagramm für die Planung und Durchführung von Tierversuchen” (Februar 2002, revidiert 2012) abrufbar unter der URL <http: / / www.akademien-schweiz.ch/ dms/ D/ Portrait/ Kommissionen/ Tierversuche/ d_Prozessflussdiagramm_2012.pdf> (letzer Zugriff am 22.12.2015). <?page no="313"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 313 darzustellen mit dem Ziel, (a) die einzelnen Prozess-Schritte und Verantwortlichkeiten für alle am Tierversuch beteiligten und interessierten Personen transparent zu machen, und (b) einen Beitrag zu leisten zur Aus- und Weiterbildung von Personen, welche Tierversuche leiten, durchführen und beurteilen.“ (ebd.). Die Forschenden wären „in der Regel gut gerüstet, die wissenschaftliche Vorgehensweise zu begründen und die rechtlichen Anforderungen zu erfüllen“. Schwieriger sei es jedoch, „eine ethische Güterabwägung zwischen den Interessen des Menschen und den Interessen des Tieres durchzuführen“. Fehlen von Kriterien und Normen zur Durchführung der ethischen Verantwortbarkeit Im Folgenden wird eine Situationsbeschreibung gegeben, die derjenigen der Bundesrepublik gleicht: „Weder die einschlägige Literatur zu Ethikfragen, noch die Ethischen Grundsätze und Richtlinien (SCNAT / SAMW 2005) definieren das Vorgehen, wie sich die Forschenden für einen Tierversuch vor einer Bewilligungsinstanz nach bestimmten Kriterien oder Normen verantworten können.“ (ebd.). Um diese Lücke zu schließen, möchte die Ethikkommission für Tierversuche „diesem Teil des Prozessfluss-Diagramms besondere Beachtung schenken und im Jahre 2002 einen Leitfaden für die ethische Güterabwägung im Sinne einer Selbstprüfung für Forschende entwickeln und publizieren.“ (ebd.). Da ein weiteres Dokument zur ethischen Güterabwägung im Sinne einer Selbstprüfung momentan weder auf den Internetseiten der SAMW, noch derjenigen der SCNAT zu identifizieren ist, gehe ich davon aus, dass das in der vorliegenden Arbeit von mir diskutierte Schweizer Internet- Programm „Ethische Güterabwägung bei Tierversuchen - eine Vorlage für die Selbstprüfung“ jenen für das Jahr 2002 angekündigten Leitfaden darstellt, auf den im Vorwort des Prozessflussdiagramms hingewiesen wird. Hierbei ist zu beachten, dass das Internetprogramm jedoch erst im November 2007 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. 274 274 Die von mir besprochene Version ist die Online-Version vom 15.12.2007 (Version 1.2). <?page no="314"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 314 4.8.5.1.1 Die Schweizerischen „Ethische(n) Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“ Auf der Internetseite „Ethikkommission für Tierversuche“ 275 der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW findet sich unter dem Punkt „Richtlinien“ der „Epilog zur überarbeiteten Fassung der Richtlinien“ 276 (SAMW und SCNAT 2006). In diesem Epilog wird vom seinerzeitigen Präsident der Ethik-Kommission für Tierversuche der SAMW/ SCNAT, Prof. Andreas Steiger, benannt, welche Änderungen sich in der aktuellen revidierten 3. Auflage von 2005 (SAMW und SCNAT 2006b) gegenüber der vorherigen 2. Fassung von 1995 277 ergeben haben. Dies wären unter anderem folgende Punkte (SAMW und SCNAT 2006. Hervorhebung von N. A.): Anpassungen bei der Nennung gesetzlicher Grundlagen an den aktuellen Stand Verstärkte Bedeutung der Güterabwägung bei Tierversuchen Nennung der Grundsätze der 3 R bei Tierversuchen Ausführlichere Umschreibung der Aspekte der Würde des Tieres Präzisierung der Anforderungen an die Versuchstierhaltung Nennung von Abbruchkriterien bei Tierversuchen Präzisierung der Verantwortung der Versuchsleitenden während des gesamten Versuchsablaufs Präzisierungen bei der Zucht von Tieren mit genetisch bedingten Anomalien Vermehrte Bedeutung von offener Information und Öffentlichkeitsarbeit Hervorhebung der Forschung zugunsten der Tiere im Rahmen der organismischen Biologie Vertretung der Güterabwägung auch vor Kommissionen und Behörden Einbezug des Umweltschutzes als Ziel von Tierversuchen 275 <http: / / www.samw.ch/ de/ Ethik/ Tierethik.html> (abgerufen am 27.10.2009, Internetseite mittlerweile nicht mehr verfügbar). Die Seite der inzwischen als „Kommission für Tierversuchsethik” (KTVE) bezeichneten gemeinsamen Kommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) befindet sich mittlerweile auf der Website der Akademien der Wissenschaften Schweiz unter der Adresse: <http: / / www.akademien-schweiz.ch/ index/ Portrait/ Kommissionen-AG/ Kommission-fuer-Tierversuchsethik.html> (letzter Zugriff am 22.12.2015). 276 <http: / / www.samw.ch/ dms/ de/ Ethik/ Tierethik/ Vorspann_d_2005.pdf> (abgerufen am 27.10.2009). Das Dokument ist mittlerweile unter dem Punkt „Richtlinien” der „Kommission für Tierversuchsethik” nicht mehr verfügbar (Stand 22.12.2015). 277 Siehe SAMW und SCNAT 1995. Anmerkung: Die erste Fassung der „Ethischen Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“ stammt aus dem Jahre 1983. <?page no="315"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 315 Neuformulierung der Regelung über schwer belastende Tierversuche Verbindlichkeit des Kodex für alle Forschenden und ihr mitarbeitendes Personal Die „Ethische(n) Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“ (3. Auflage 2005) der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW und der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT bilden den ethischen Bezugsrahmen, der für die Forschung an und mit Tieren in der Schweiz anzuwenden ist: So wurden die ethischen Grundsätze und Richtlinien im Jahre 1983 aufgestellt und „als Kodex für alle in der Schweiz Forschenden und ihr mitarbeitendes Fachpersonal [für] verbindlich erklärt“ (Präambel). „Aufgrund neuer Erfahrungen und Erkenntnisse“ wurden die Grundsätze und Richtlinien in den Jahren 1993 sowie 2005 überarbeitet. Die ethischen Grundsätze der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ und der Achtung der ‘Würde der Kreatur’ gebieten den Schutz der Tiere In der Präambel wird weiterhin erklärt, die Grundsätze und Richtlinien seien geleitet von der Erkenntnis, dass der Mensch einerseits auf wissenschaftliche Untersuchungen an Tieren nicht verzichten könne, „während ihm andererseits der ethische Grundsatz der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ und der Achtung der ‘Würde der Kreatur’ den Schutz der Tiere gebietet.“ Hierbei wären die Grundsätze und Richtlinien auf der Überzeugung begründet, dass die Wissenschaftler „als verantwortliche Menschen von sich aus die zur bestmöglichen Überwindung dieses Konflikts erforderlichen Massnahmen festlegen, verwirklichen und kontrollieren.“ Im Abschnitt 1. „Rechtliche Grundlagen“ wird unter anderem erläutert, dass der Bund „der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung [trägt] und [er] schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten“ (Ziffer 1.1 mit Verweis auf schweizerische Bundesverfassung Art. 120). Dies gibt also den übergeordneten verfassungsmäßigen Rahmen wieder. Auf den in den Richtlinien verwendeten Terminus „Würde des Tieres“ in Abgrenzung zum Terminus „Würde der Kreatur“ gehe ich später noch detailliert ein. Das schweizerische Tierschutzgesetz vom 9. März 1978, sowie die Tierschutzverordnung vom 27. Mai 1981 und weitere Verordnungen regeln den Bereich der Tierversuche. Hierbei dienen zahlreiche Richtlinien des Bundesamtes für Veterinärwesen (BVET) als Auslegungshilfe der gesetzlichen Bestimmungen (Ziffer 1.2). <?page no="316"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 316 Keine ungerechtfertigte Zufügung von Belastungen, Beschränkung auf das unerlässliche Maß Für den Umgang mit Tieren legt das Tierschutzgesetz den Grundsatz fest, wonach „niemand ungerechtfertigt einem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen oder es in Angst versetzen darf“ (ebd. mit Verweis auf TSchG Art. 2). „Tierversuche, die dem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, es in schwere Angst versetzen oder sein Allgemeinbefinden erheblich beeinträchtigen können, sind auf das unerlässliche Mass zu beschränken“. Solche Tierversuche „dürfen nur mit einer Bewilligung durchgeführt werden“ (ebd. mit Verweis auf TSchG Art. 13 und 13a). Die Einschränkung auf das „unerlässliche Mass“ sowie die Genehmigungspflicht entsprechen den Forderungen des deutschen TierSchG. Offenbleiben eines „erheblichen Ermessensbereiches“; Betonung der Selbstverantwortung Die Verpflichtung der an Tierversuchen beteiligen Personen, im Rahmen des Tierschutzgesetzes, der Tierschutzverordnung und der Richtlinien des Bundes zu handeln wird betont, wobei aber „ein erheblicher Ermessensbereich offen [bleibe], der einerseits durch die Bewilligungsbehörden und Rechtsprechungsorgane, andererseits durch die Forschenden selbst einzugrenzen ist.“ (Ziffer 1.3) Dabei wird an die Selbstverantwortung der beteiligten Personen appelliert: Diese wären dazu angehalten, in dem verbleibenden Ermessensbereich gestützt auf die ethischen Grundsätze und Richtlinien „im Rahmen ihrer Selbstverantwortung ethisch begründete Entscheide zu treffen.“ (ebd.). Erkenntnisgewinn zum Schutz des menschlichen Lebens, zur Gesunderhaltung und Leidensmilderung Im Abschnitt 2. „Ethische Überlegungen und Güterabwägung“ wird darauf hingewiesen, dass die menschliche Existenz zu Problemen führe, „für deren Lösung es der Ausweitung und Vertiefung des Wissens bedarf.“ (Ziffer 2.1). Für das Verständnis von Lebensphänomenen wären Forschungen an Tieren „oft von entscheidender Bedeutung“. Diese Nutzung von Tieren habe das Ziel die „gewonnenen Erkenntnisse für den Menschen zum Schutz seines Lebens, zur Gesunderhaltung und zur Milderung von Leiden einzusetzen.“ (ebd.). . <?page no="317"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 317 Forschung auch zum Schutz des Tieres und der Erhaltung von Arten und Ökosystemen In der Tiermedizin und der „organismischen Biologie“ - das wären beispielsweise die Ökologie, die Evolutions- und Verhaltensbiologie - diene die Forschung oft „zum Schutz des Tieres und der Erhaltung von Arten und Ökosystemen.“ (ebd.). Schutz des Lebens sowie die Minderung schweren Leidens von Mensch und Tier ist geboten Die ethischen Grundsätze und Richtlinien erkennen durchaus auch ein Gebot zur Forschung an: „Der Schutz des Lebens sowie die Minderung schweren Leidens von Mensch und Tier sind Anforderungen, denen zu entsprechen dem Menschen nicht bloss erlaubt, sondern geboten ist.“ (ebd.). Unvermeidbarer ethischer Konflikt zwischen Erkenntnisgewinn und ‘Ehrfurcht vor dem Leben’, dem durch eine Güterabwägung begegnet werden soll Der Mensch müsse sein Handeln verantworten, er habe die Pflicht, „das Wohl aller Betroffenen zu berücksichtigen.“ (Ziffer 2.2). Der unvermeidbare ethische Konflikt, dem sich der Forscher nicht entziehen könne, entstehe zwischen „dem Streben nach neuen Erkenntnissen und der ethischen Grundhaltung der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’“. Diesem Konflikt könne „nur durch Abwägen der Interessen, Werte und Güter von Mensch und Tier verantwortungsvoll begegnet werden.“ (ebd.). Nur überwiegende Interessen sind rechtfertigend. Notwendigkeit und Angemessenheit sind aufzuzeigen und die ethische Vertretbarkeit durch Güterabwägung zu prüfen Interessanterweise wird erklärt, dass Tierversuche durch überwiegende Werte und Interessen begründet sein müssen (Ziffer 2.3). Forscher hätten die Pflicht, die „Notwendigkeit und Angemessenheit jedes Tierversuches aufzuzeigen und ihre ethische Vertretbarkeit durch Güterabwägung sorgfältig zu prüfen.“ (ebd.). Dabei liege diese Güterabwägung „in der Verantwortung der einzelnen Forschenden“ und müsse gegenüber verschiedenen Instanzen und der Öffentlichkeit vertretbar sein (Ziffer 2.4). Ethische Grundhaltung der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ Besonders wichtig erscheint mir der Bezug auf „die ethische Grundhaltung der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’“, welche den Menschen zum „Schutz der Tiere als empfindungsfähige Mitwesen“ verpflichtet (Ziffer 2.5). <?page no="318"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 318 „Diese Ehrfurcht und die Pflicht, Leiden möglichst zu vermeiden, gebieten es, die Tierversuche so weit möglich einzuschränken.“ Hierzu würden die Prinzipien der 3R die Grundlage bilden: Vermeidung durch Ersatzmethoden, Verminderung der Tierzahl, sowie „Verfeinerung der Methoden zur Entlastung der Tiere und zur Verminderung des Leidens der Tiere im Versuch, bei der Haltung und in der Zucht.“ (ebd.). Interessanterweise wird hier bezüglich des Leidens der Tiere nicht nur der Versuch an sich als Leidensquelle angeführt, sondern darüber hinaus auch die Haltung und die Zucht. Anspruch auf Respektierung tierlicher Würde, damit namentlich Achtung artspezifischer Eigenschaften, Bedürfnisse und Verhaltensweisen Darüber hinaus hätten Tiere „Anspruch auf Respektierung ihrer Würde und damit namentlich auf die Achtung ihrer artspezifischen Eigenschaften, Bedürfnisse und Verhaltensweisen.“ (Ziffer 2.6). Jeder belastende Tierversuch stelle grundsätzlich einen Eingriff in die Würde des Tieres dar und bedürfe auch deshalb einer Rechtfertigung durch eine Güterabwägung. „Der Mensch missbraucht seine Freiheit und wird damit seiner eigenen Würde nicht gerecht, wenn er die dem Tier zuerkannte Würde missachtet.“ (ebd.). Die Dimension der Notwendigkeit und Bedeutsamkeit aus Sicht des Menschen bestimmt das Maß der Zumutbarkeit und Verantwortbarkeit eines Versuches Im Abschnitt 3. „Ethische Anforderungen an die Zulässigkeit von Tierversuchen“ wird eingangs erklärt, je notwendiger und bedeutsamer aus der Sicht des Menschen eine durch Tierversuche zu gewinnende Erkenntnis sei, desto eher lasse sich der Versuch verantworten. Dabei stelle sich die Frage nach der Zumutbarkeit und Verantwortbarkeit eines Versuches umso dringlicher, je schwerer oder längerdauernd das voraussichtliche Leiden des Tieres sei. (Ziffer 3.1 und 3.2, vgl. auch die Fußnoten in meinem Kapitel 4.4.2 bei der Besprechung von Scharmann und Teutsch). Erfolgversprechende Qualität der Forschung gefordert Bezüglich der Qualität der Forschung wird festgelegt, dass Forschungsuntersuchungen an Tieren allen Regeln der Wissenschaftlichkeit genügen müssen. Die angestrebten Ergebnisse müssen „eindeutig über das Bekannte hinausweisen“; hierbei muss „die zu prüfende Annahme […] sinnvoll, das gewählte Verfahren erfolgversprechend und dem jeweiligen Stand der Forschung angepasst sein.“ (Ziffer 3.3). <?page no="319"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 319 Eine ethische Güterabwägung für jeden einzelnen Versuch muss dessen ethische Vertretbarkeit erweisen; Benennung von einzelnen Zwecken Eine grundsätzliche ethische Vertretbarkeit von Tierversuchen wird genau dann angenommen, wenn „eine ethische Güterabwägung für jeden einzelnen Versuch“ dies erwiesen habe (Ziffer 3.4; vgl. auch die Fußnoten in meinem Kapitel 4.4.2). Insbesondere folgende Tierversuche werden hier benannt (ebd., tabellarische Anordnung und Hervorhebungen von N. A.): „Tierversuche, die dem Leben und der Gesundheit von Mensch und Tier oder dem Schutz der Umwelt in einsehbarer Weise dienen; dazu gehören Versuche mit prophylaktischen, diagnostischen und therapeutischen Zielsetzungen in der Medizin und Veterinärmedizin, Tierversuche, welche - auch ohne unmittelbar erkennbaren Nutzen für Leben und Gesundheit - dem Streben nach neuer Erkenntnis dienen, wenn sie mit grosser Wahrscheinlichkeit einen bedeutenden Gewinn an Kenntnis über Bau, Funktion und Verhalten von Lebewesen erwarten lassen, Tierversuche in der Aus- und Weiterbildung, bei denen keine anderen Möglichkeiten bestehen, die notwendigen Lernziele zu erreichen; als solche Ziele gelten die Vertiefung des Verständnisses für Lebensphänomene und die Vermittlung der notwendigen Fertigkeiten für die Durchführung von Tierversuchen oder von Eingriffen am Menschen.“ Abzulehnen sind Tierversuche, „die ausschliesslich zur Erforschung und Entwicklung von Gütern des Luxuskonsums durchgeführt werden“ (Ziffer 3.6). Verzicht auf Erkenntnisgewinn bei voraussichtlich mit schwerem Leiden verbundenen Versuchsanordnungen Von hervorragender Bedeutung ist der Passus des Erkenntnisverzichtes der Schweizer Grundsätze und Richtlinien, der dann gefordert wird, wenn bestimmte Versuchsanordnungen für Tiere voraussichtlich mit derart schwerem Leiden verbunden sind, so „dass eine Güterabwägung immer zugunsten der Tiere ausfallen wird“ (Ziffer 3.5). „Wenn es nicht gelingt, durch Änderung der zu prüfenden Aussage andere, weniger belastende und ethisch vertretbare Versuchsanordnungen zu finden, muss auf den Versuch und damit auf den erhofften Erkenntnisgewinn verzichtet werden.“ (ebd.). <?page no="320"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 320 Permanente Verantwortung während aller Versuchsphasen auch für die Überwachung der Tiere Im Abschnitt 4. „Ethische Anforderungen an die Durchführung von Tierversuchen“ wird explizit darauf hingewiesen, dass „die Verantwortung bei der Durchführung eines Tierversuchs […] während der gesamten Versuchsdauer wahrzunehmen“ ist. Diese Verantwortung erstreckt sich über alle Phasen des Versuchs, von der Vorbereitung über die Versuchsdurchführung bis hin zur Nachsorge, Auswertung und Berichterstattung. Hierbei ist die Verantwortung bei der Versuchsdurchführung und den Eingriffen und Behandlungen auch für die Überwachung der Tiere zu tragen (Ziffer 4.1). Die „Grundhaltung der Ehrfurcht vor dem Leben“ fordert geringst mögliches Leiden und geringst mögliche Anzahl an Tieren „Die ethische Grundhaltung der Ehrfurcht vor dem Leben“ fordere, „dass mit einer möglichst geringen Zahl von Versuchstieren und möglichst geringem Leiden der grösstmögliche Erkenntnisgewinn erzielt wird.“ Hierbei ist der Reduktion individuellen Leidens Priorität gegenüber der Reduktion der Tierzahl einzuräumen auch wenn dies den Einsatz einer größeren Anzahl von Tieren erfordert, sofern dadurch aber das Leiden der einzelnen Tiere wesentlich reduziert wird (Ziffer 4.2). Alle Beteiligten haben die Pflicht, sich für das Wohlergehen einzusetzen Allen an den Tierversuchen beteiligten Personen obliegt die Pflicht, sich für Wohlergehen bzw. kleinstmögliches Leiden des Versuchstieres einzusetzen. (Ziffer 4.3). Dauer und Intensität von Schmerz, Leiden oder Angst sind auf das unerlässliche Maß zu beschränken. Überwachung durch fachlich geschultes Personal und im Voraus festgelegte Kriterien und Zeitpunkte Dazu sind die Tiere durch fachlich geschultes Personal und im Voraus festgelegte Kriterien und Zeitpunkte zu überwachen. „Die erforderlichen Massnahmen zur Linderung des Leidens sind zu ergreifen, soweit dies mit dem Versuchsziel vereinbar ist.“ Dabei muss das Tier muss seinen Empfindungen Ausdruck geben können und, wenn immer möglich, schmerzhafte Reize durch Ausweichen vermeiden können; weshalb die Verwendung von lähmenden Substanzen ohne Bewusstlosigkeit und Analgesie des Tieres nicht zulässig ist (Ziffer 4.5). <?page no="321"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 321 Pflicht zur Linderung des Leidens und zur Dämpfung von Angst und fachgerechte Betreuung während und nach dem Versuch „Bei Versuchen, die längerdauerndes oder chronisches Leiden zur Folge haben oder wiederholte Eingriffe nötig machen, sind alle möglichen Massnahmen zur Linderung des Leidens und zur Dämpfung der Angst zu ergreifen.“ Auf die besonderer Bedeutung einer fachgerechten Betreuung der Tiere vor, während und nach dem Versuch wird explizit hingewiesen (Ziffer 4.6). Klar definierte Abbruchkriterien Weitere Erwähnung finden die Vermeidung von körperlicher Einengung, Linderung des Angstzustandes, sorgfältige und schonende Gewöhnung an die Versuchsbedingungen (Ziffer 4.7). Durch die Erhebung von relevanten Daten sind die Auswirkungen von Maßnahmen auf das Tier zu kontrollieren, „um damit zu gewährleisten, dass die Belastung ein vertretbares Mass nicht übersteigt“ (Ziffer 4.8). Zur Vermeidung unnötigen Leidens sind bei allen Versuchen vor Versuchsbeginn klar definierte Abbruchkriterien festzulegen. „Tiere mit schweren Leiden sind so rasch wie möglich und schmerzfrei zu töten.“ (Ziffer 4.9). Tiergerechte Haltungsbedingungen, die bei neuen Erkenntnissen über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehen sollen Zu den Haltungsbedingungen wird darauf Wert gelegt, dass die Versuchstiere „nach den Grundsätzen einer tiergerechten Haltung untergebracht und betreut“ werden sollen. Dabei sollen die Möglichkeiten für Strukturierung und großzügige Abmessungen der Gehege, für Sozialkontakte und für ausreichende Beschäftigung ausgeschöpft werden. Besonders wird darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Haltungsvorschriften „nur Mindestanforderungen“ sind. Wären sie auf Grund neuer Erkenntnisse überholt, so „sollen Haltungsformen gewählt werden, die über die gesetzlichen Vorschriften hinausgehen.“ (Ziffer 4.11). Besonderes Augenmerk auf gentechnisch veränderte Versuchstiere Tiere mit genetisch bedingten Krankheiten, Schäden oder Verhaltensstörungen dürfen nur nach einer sorgfältigen Güterabwägung erzeugt werden, dabei „muss das Risiko für das Auftreten von Schäden, Leiden oder Schmerzen besonders sorgfältig abgeschätzt werden.“ Um unnötiges Leiden zu vermeiden, sind klar definierte Kriterien festzulegen, nach denen Tiere vorzeitig zu töten und Zuchtlinien nicht weiter zu verfolgen sind (Ziffer 4.12). <?page no="322"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 322 Besondere Betonung der Verantwortung und Mitverantwortung aller Beteiligter Im Abschnitt 5. „Verantwortlichkeiten“ wird nochmals auf die „moralische, wissenschaftliche und rechtliche Verantwortung“ der Leitenden und die Mitverantwortung des übrigen Personals eingegangen (Ziffer 5.1). Zu dieser Verantwortung zählt auch, dass es abgelehnt wird, Produkte oder Tiere aus dem Ausland zu beziehen, die mit den Schweizerischen Gesetzen und ethischen Grundsätzen unvereinbar sind (Ziffer 5.2). Neben der Pflicht zur Weiterbildung (Ziffer 5.3), auch in Fragen des Tierschutzes, wird die Unterstützung der Entwicklung von Alternativmethoden gefordert (Ziffer 5.4). Schließlich wird das Bemühen um „grösstmögliche Transparenz“ unterstrichen (Ziffer 5.5). Schulung aller Beteiligten auch im Hinblick auf ein moralisches Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit dem Tier In den „Empfehlungen für Institutionen“ (Abschnitt 6.) wird empfohlen, „unabhängige Ansprechstellen für ethische Fragen“ einzurichten (Ziffer 6.1). Die Schulung aller Beteiligten ist ständig zu Förderern. Hierbei muss es „ein besonderes Anliegen“ sein, „den zu Tierversuchen künftig berechtigten Personen im Rahmen der Hochschulausbildung die Grundlagen für ein moralisches Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit dem Tier zu vermitteln.“ (Ziffer 6.2) Sanktionierung von Verstößen gegen die ethischen Grundsätzen und Richtlinien Um das Einhalten der vorliegenden ethischen Grundsätze und Richtlinien sicherzustellen, sind Verstöße zu sanktionieren, indem Institutionen der Wissenschaftsförderung die Unterstützung versagen und Akademische Gremien von wissenschaftlichen Zeitschriften und Rezensierende von Publikationsentwürfen Arbeiten nicht akzeptieren, die den Grundsätzen und Richtlinien widersprechen (Ziffer 6.3). Stetige Überprüfung der Gültigkeit und unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse ggf. Änderung der Regelwerke und Richtlinien Schließlich sieht es die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften und die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz „als ihre dauernde Aufgabe“, „Texte, Verordnungen und ihre eigenen Ethischen Grundsätze und Richtlinien unter Berücksichtigung des jeweiligen Standes der Wissenschaft auf Angemessenheit und Gültigkeit zu überprüfen und sich gegebenenfalls für deren Aenderung einzusetzen.“ (Ziffer 6.4) . . <?page no="323"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 323 4.8.5.1.2 Der Status des Begriffes „Würde des Tieres“ In einer Stellungnahme zum Begriff „Würde des Tieres“ im Jahre 1997 in der Schweizerischen Ärztezeitung wird auf dessen Bedeutung besonders eingegangen. Die Ethik-Kommission habe in den ethische Grundsätze und Richtlinien vom 2.6.1994 „ihren Standpunkt neu formuliert und den geänderten Bedürfnissen und Herausforderungen zu entsprechen versucht.“ (Ethik-Kommission der SANW und SAMW 1997, S. 1299). In dem Text würde der Begriff „Würde des Tieres“ zwar verwendet, aber nicht näher erläutert. Da der Begriff „aufgrund seiner Offenheit und Unbestimmtheit für die gegenwärtige Diskussion erklärungsbedürftig“ wäre, habe die Kommission in der ergänzenden Stellungnahme den Terminus präzisiert. Dabei „bewegte sich die Kommission in einem besonders schwierigen Feld“, da mit dem Schlüsselbegriff „Würde“ unterschiedliche Ethikansätze zur Diskussion stünden. Begriff der „Würde der Kreatur“ in der Schweizerischen Bundesverfassung Zunächst wird kurz auf den Begriff der „Würde der Kreatur“ eingegangen der in der Bundesverfassung Art. 24 novies Absatz 3 ausdrücklich Erwähnung finde. Man habe sich auf diesem Begriff geeinigt, „ohne dessen Sinn genauer definiert zu haben.“ Die Bundesverfassung sei „grundsätzlich anthropozentrisch ausgelegt“. Der dort erscheinende Begriff der „Menschenwürde“ werde vielfach „zur Überdachung aller menschlichen Grundrechte“ verwendet. Im Art. 24 novies musste für schützenswerte Lebewesen neben dem Menschen ein entsprechender Begriff gefunden werden. Der Begriff „Würde des Tieres“ im anthropozentrischen Denkansatz Zur Bestimmung und Umschreibung des Begriffes „Würde des Tieres“ den die Ethik-Kommission verwende, wird der Terminus im Lichte zweier unterschiedlicher ethischer Denkansätze beschrieben: Im anthropozentrischen Denkansatz werde dem Tier das Attribut der „Würde“ durch den Menschen zugeschrieben in Anerkennung der Tatsache, dass sich bestimmte subjektive Erfahrungen beim Tier und beim Menschen weitgehend entsprechen würden: „Der Gefahr der Übertragung menschlicher Erfahrungen und Vorstellungen auf das Tier durchaus bewusst, ist es dennoch legitim, den Tieren die Empfindungsfähigkeit zuzuerkennen.“ Empfindungsfähigkeit als moralisch bedeutsames Kriterium Tiere hätten die Fähigkeit, physische und psychische Belastungen wie beispielsweise Schmerz, Angst und Frustration zu empfinden. „Dasselbe gilt <?page no="324"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 324 für positive Gemütszustände, wie beispielsweise die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse“. Diese Aspekte seien für den Menschen nachvollziehbar und da sie für ihn „auch moralisch höchst bedeutsam“ wären, müsse dem Tier aufgrund dieses Sachverhalts „prinzipiell eine hohe Achtung entgegengebracht werden.“ Fähigkeit des Menschen zu freier Entscheidung und Verantwortung In der anthropozentrischen Ethik spiele die „Fähigkeit des Menschen zur freien Entscheidung und die Verantwortung des Stärkeren für die schwächere Kreatur“ eine entscheidende Rolle. Nach Möglichkeit wären Tieren „dieselben Betätigungen und Lebensweisen zu gestatten, die sie in ihrer natürlichen Umgebung ausüben könnten.“ Prinzipielle Unterschiede der Würde des Menschen und der Würde des Tieres Da jedoch beispielsweise die Festlegung eines Kaufs- und Verkaufswertes menschlichen Lebens „radikal“ der menschlichen Würde widerspräche, nicht jedoch derjenigen des Tieres, sei „die Würde des Tieres und jene des Menschen [...] prinzipiell verschieden“ (ebd.). Zudem wäre sich der Mensch seiner Würde bewusst, er könne demnach seine Würde durch eigene Handlungen selbst gefährden. Das Tier wäre in diesem Sinne nicht Träger von Würde, da sich das Tier seiner Würde nicht bewusst sei. „Wesentliches Element der Würde des Tieres ist dessen Empfindungsfähigkeit“ (ebd., S. 1300). Die Würde werde dem Tier durch den Menschen zuerkannt, weshalb der Mensch seine eigene Würde verletze, „wenn er die dem Tier zuerkannte Würde missachtet.“ Die Würde des Tieres ist nachrangig gegenüber dem Recht des Menschen auf Gesundheit Die Würde des Tieres dürfe nicht geltend gemacht werden, um Beeinträchtigungen menschlicher Würde zu rechtfertigen „die Würde des Tieres kann nicht dem Recht auf Gesundheit des Menschen entgegengesetzt werden.“ Biozentrischer Ansatz: „Würde“ als allem Lebenden von vornherein innewohnende Eigenschaft In einem nichtanthropozentrisch orientierten Ansatz (biozentrischer Ansatz) sei „Würde“ eine allem Lebenden von vornherein innewohnende Eigenschaft. „Der Mensch stehe nicht über der Kreatur, sondern sei „ein gleichwertiges Element einer umfassend verstandenen Lebensgemeinschaft.“ <?page no="325"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 325 „Die grundsätzliche Achtung vor dem Tier liegt begründet in dessen Vorgegebenheit gegenüber allem verfügenwollenden Handeln des Menschen. In dieser Vorgegebenheit der Existenz des Tieres ist auch der Grund für dessen Würde zu sehen.“ In dieser Denkweise besitze „jedes Tier - in abgestufter Form - ein von menschlichen Zwecken primär unabhängiges Dasein als strebendes Wesen mit einem ihm eigenen Guten, in dem es in seiner Entwicklung einen eigenen Zustand der Erfüllung anstrebt.“ Das Tier kenne „eine dem Menschen verwandte, aber doch eigene Selbstentstehung, körperliche Selbstentfaltung und organische Selbsterhaltung.“ Dies rechtfertige es, eine von menschlicher Wertschätzung unabhängige Würde zuzusprechen. Dem Tier kommt grundsätzliche Selbstzwecklichkeit zu „Dem Tier als Träger eigenen Lebens und eigener Ziele kommt grundsätzliche Selbstzwecklichkeit zu.“ Es könne dem Herrschafts- und Verfügungsanspruch des Menschen „letztlich nicht vollständig“ unterworfen werden. „Diese eigenen Bedürfnisse des Tieres, auch als Selbstentfaltung und Selbsterhaltung bezeichnet, dürfen nicht ohne triftige Gründe anderen Interessen untergeordnet werden.“ Beeinträchtigungen der Integrität des Tieres legitimieren sich durch die Triftigkeit von Gründen Je differenzierter das System der Selbstentfaltung und Selbsterhaltung des Tieres sei, desto triftiger müssten die Gründe für eine Beeinträchtigung von Lebenserhaltung und körperlicher Integrität sein. Mit diesem Argument ließe sich m.E. eine Graduierung des Schutzanspruches tierlicher Lebewesen begründen, die deren Ungleichbehandlung entsprechend der Höhe ihrer Differenzierung erlaubt. Schlussfolgernd erklärt die Ethik-Kommission, wenn dem Tier Würde zuerkannt werde, so leite sich diese von grundsätzlich verschiedenen ethischen Grundhaltungen her ab. „Jedoch ergänzen sich anthropozentrische und nichtanthropozentrische Ethik auch und stehen nicht starr gegeneinander.“ (Ethik-Kommission der SANW und SAMW 1997, S. 1299). „Berechtigte Ansprüche“ in der Lebenspraxis zwingen zur Beeinträchtigung and eren Lebens. Die moralische Pflicht zwingt jedoch zu angemessener Güterabwägung. Die Ethik-Kommission erklärt einschränkend, dem Begriff „Würde des Tieres“ könne „weder in der Natur noch vom Menschen allein“ in vollkommener Weise nachgelebt werden: <?page no="326"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 326 „Berechtigte Ansprüche der Arten zwingen zu Kompromissen. Der nach seiner eigenen Entfaltung strebende Mensch wird - bewusst oder unbewusst - nicht darum herumkommen, auch berechtigte Ansprüche anderer Lebewesen zu beeinträchtigen.“ Der Mensch sei jedoch „als einzige Art in der Natur moralisch verpflichtet“, in dieser Konfliktsituation die wichtigsten der in Konkurrenz stehenden Interessen in angemessener Weise zu beachten und Entscheide im Rahmen von Güterabwägungen herbeizuführen. Dabei sei ethischen Idealen am besten durch eine ausgewogene Berücksichtigung aller Aspekte gedient. Eine Jedermann in die Pflicht nehmende Verantwortungsethik gilt unabhängig von einer Zuschreibung eines inneren Wertes So wie die „Würde des Tieres“ in dieser Stellungnahme verstanden werde, betreffe sie unmittelbar die Verantwortungsethik, „die in einer pluralistischen Gesellschaft jeden in die Pflicht nimmt.“ Dies gelte unabhängig davon, ob dem Tier von Seiten des Menschen ein vorgegebener innerer Wert zuerkannt wird oder nicht. Mit diseser Aussage gelingt es der Ethikkommission m.E., jeden an einem Tierversuch Beteiligten in die Pflicht zu nehmen - und zwar unabhängig davon, welche ethische Sichtweise derjenige präferiert. Folglich kann die Pflicht zur schonenden Behandlung der Versuchstiere, sowie zur verpflichtend im Vorfeld eines Experiments durchzuführenden angemessenen Güterabwägung, unabhängig von einer bestimmten ethischen Position gefordert und gerechtfertigt werden. 4.8.5.2 Die Gewichtung der einzelnen Kategorien Nachfolgende Diagramme zeigen die Anteile der jeweiligen Kategorien an der Gesamtpunktzahl (100%). Zugrunde liegend sind die in der jeweiligen Kategorie maximal zu erzielenden Punktewerte und diese werden betrachtet im jeweiligen Verhältnis zu der im ausgewählten Bereich (z.B. Grundlagenforschung) erzielbaren Gesamtpunktzahl (die erzielbaren Gesamtpunktzahlen differieren in den einzelnen Bereichen geringfügig, relevant für unsere Betrachtung hier ist jedoch nicht die zu erzielende Gesamtpunktzahl, sondern der jeweilige Anteil der einzelnen betrachteten Kategorien an der Gesamtpunktzahl). Beispielsweise setzen sich im Bereich I (Grundlagenforschung) die geförderten Güter (in Tabelle und Diagramm mit grüner Farbe gekennzeichnet) aus den Kategorien A (17,2%) und C2 (16,7%) zusammen. Die Summe aus A und C2 ergibt 33,9%. Die beeinträchtigten Güter (rot eingefärbt) setzen sich aus den Kategorien D, E und F zusammen und ergeben in ihrer Summe 66,1%. <?page no="327"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 327 Die für die einzelnen Bereiche maßgeblichen Kategorien und deren jeweiliger prozentualer Anteil am Gesamtergebnis sind den nachfolgenden Tabellen und Diagrammen zu entnehmen 278 , wobei die Prozentwerte in den Kuchendiagrammen auf ganze Werte gerundet sind. 278 Die Bereiche I (Grundlagenforschung) und V (Förderung der 3R) sind jeweils im Ergebnis und der Zusammensetzung identisch, daher sind beide Bereiche in nur einer Tabelle bzw. nur einem dazu gehörigen Diagramm abgebildet. <?page no="328"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 328 <?page no="329"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 329 Abb. 6: Tabellen und zugehörige Kuchendiagramme zur Darstellung der Anteile der einzelnen Kategorien an den verschiedenen Zweck-Bereichen <?page no="330"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 330 Die Diagramme zeigen deutlich, dass in allen untersuchten Bereichen (Grundlagenforschung, medizinische Anwendungen, etc.) die größte Gewichtung auf Kategorie D („Wohlergehen der Tiere“) liegt. Über alle Bereiche hinweg beträgt der Anteil dieser Kategorie etwa 1/ 3 der Gesamtpunktzahl. Die Kategorien „Verwendung von Tieren“ (Tierverbrauch, E) mit etwa 13%, sowie „Verantwortungsbewusstsein“ (F) mit etwa 11% sind in allen Bereichen etwa gleich gewichtig. Beim Bereich „Medizinische Anwendungen“ (Bereich II) fällt auf, dass das Wohlergehen der Tiere (Kategorie D) dort nur 31% beträgt (im Gegensatz zu 35% bzw. 39% in den anderen Bereichen). Auch sind in diesem Bereich die Anteile der Kategorien Verantwortungsbewusstsein (F) und des Tierverbrauchs (E) etwas niedriger als bei den anderen Bereichen. Somit macht bei den medizinischen Anwendungen der Bereich der geförderten Güter mit einer Summe von 47,8% einen größeren Anteil aus - nämlich fast die Hälfte der Gesamtpunktzahl -, als bei den anderen Bereichen. Es ist schnell zu erkennen, dass die Kategorie B1 mit 21% die Kategorie mit dem größten Punkte-Anteil auf Seiten der geförderten Güter einnimmt. Da dies die Kategorie „Gesundheit, Lebensqualität, Umwelt, Artenschutz“ im medizinischen Bereich ist (B1, im Gegensatz zum nicht-medizinischen Bereich B2), ist unschwer zu erkennen, dass die Entwickler des Schweizer Programms genau dieser Kategorie mehr Gewicht beimessen, als es beim nicht-medizinische Bereich, der Tiergesundheit (C1) oder der Kategorie „3R“ (C2) der Fall ist. 4.8.6 Zusammenfassung Das Schweizer Programm der Ethikkommission der SAMW und SCNAT bezieht sich auf die „Ethische(n) Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“ und das „Prozessfluss-Diagramm für die Planung und Durchführung von Tierversuchen“. Die Verantwortung aller Beteiligten wird wiederholt betont. Auch in der Schweiz wird das Fehlen von Kriterien und Normen zur Durchführung der ethischen Verantwortbarkeit festgestellt. Um diese Lücke zu schließen, hat die Ethikkommission für Tierversuche entsprechende Publikationen veröffentlicht, die sich besonders der Verantwortung des Forschers und der ethischen Güterabwägung widmen. Die „Ethische(n) Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“ hätten als Kodex für alle Forschenden und ihr mitarbeitendes Fachpersonal Verbindlichkeit. Der Mensch könne einerseits auf wissenschaftliche Untersuchungen an Tieren nicht verzichten, während ihm andererseits der ethische Grundsatz der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ und der Achtung der ‘Würde der Kreatur’ den Schutz der Tiere gebiete. Wissenschaftler sollen als verantwortliche Menschen von sich aus zur bestmöglichen Überwindung dieses Konflikts beitragen. Die <?page no="331"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 331 Verpflichtung der an Tierversuchen beteiligen Personen wird permanent betont, aber auch festgestellt, dass hierbei ein erheblicher Ermessensbereich offen bleibe, weshalb an die Selbstverantwortung der Forscher appelliert werde. Die ethischen Grundsätze und Richtlinien erkennen durchaus ein Gebot zur Forschung zum Schutz des Lebens sowie zur Minderung schweren Leidens von Mensch und Tier an. Dem dadurch entstehenden unvermeidbaren ethischen Konflikt zwischen Erkenntnisgewinn und ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ müsse durch eine Güterabwägung begegnet werden. Hierbei wären nur überwiegende Interessen rechtfertigend. Die Notwendigkeit und Angemessenheit wären aufzuzeigen und die ethische Vertretbarkeit durch Güterabwägung wäre zu prüfen und sie müsse gegenüber verschiedenen Instanzen und auch der Öffentlichkeit vertretbar sein. Die ethische Grundhaltung der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ gebiete es, Tierversuche so weit möglich einzuschränken. Die Prinzipien der 3R bilden dazu die Grundlage (Vermeidung durch Ersatzmethoden, Verminderung der Tierzahl, Verfeinerung der Methoden zur Entlastung der Tiere). Interessanterweise wird bezüglich des Leidens der Tiere nicht nur der Versuch an sich als Leidensquelle angeführt, sondern darüber hinaus auch die Haltung und die Zucht. Der Anspruch auf Respektierung tierlicher Würde wird betont, damit namentlich die Achtung artspezifischer Eigenschaften, Bedürfnisse und Verhaltensweisen. Es ist für tiergerechte Haltungsbedingungen zu sorgen, die bei neuen Erkenntnissen über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehen sollten. Die Dimension der Notwendigkeit und Bedeutsamkeit aus Sicht des Menschen bestimmt jedoch das Maß der Zumutbarkeit und Verantwortbarkeit eines Versuches. Bei allen Experimenten wird eine erfolgversprechende Qualität der Forschung gefordert. Von hervorragender Bedeutung ist m.E. der Passus des Erkenntnisverzichtes, wenn bestimmte Versuchsanordnungen für Tiere voraussichtlich mit derart schwerem Leiden verbunden wären, so dass eine Güterabwägung immer zugunsten der Tiere ausfallen werde: „[...] Wenn es nicht gelingt, durch Änderung der zu prüfenden Aussage andere, weniger belastende und ethisch vertretbare Versuchsanordnungen zu finden, muss auf den Versuch und damit auf den erhofften Erkenntnisgewinn verzichtet werden.“ (Ziffer 3.5; vgl. Fußnote 190 in Kapitel 4.4.2) Die permanente Verantwortung während aller Versuchsphasen und auch für die Überwachung der Tiere wird ebenso betont, wie die Pflicht, sich für das Wohlergehen der Tiere einzusetzen sowie der Pflicht zur Linderung des Leidens und zur Dämpfung von Angst, ebenso wie der fachgerechten Betreuung vor, während und nach dem Versuch nachzugehen. Klar definierte Abbruchkriterien sind festzulegen. Ein besonderes Augenmerk wird auf <?page no="332"?> 4 Kriterienkataloge zur Bewertung der ethischen Vertretbarkeit 332 gentechnisch veränderte Versuchstiere geworfen: Um unnötiges Leiden zu vermeiden, wären klar definierte Kriterien festzulegen, nach denen Tiere vorzeitig zu töten und Zuchtlinien nicht weiter zu verfolgen sind. Der Schulung aller Beteiligten ist auch im Hinblick auf ein moralisches Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit dem Tier „ein besonderes Anliegen“ (Ziffer 6.2). Verstöße gegen die ethischen Grundsätzen und Richtlinien sollen sanktioniert werden. Zudem soll eine stetige Überprüfung der Gültigkeit unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse ggf. zu Änderungen der Regelwerke und Richtlinien führen. Der Begriff „Würde des Tieres“ im anthropozentrischen Denkansatz beruhe auf dem moralisch bedeutsamen Kriterium der Empfindungsfähigkeit. In der anthropozentrischen Ethik spiele die Fähigkeit des Menschen zur freien Entscheidung und zur Verantwortung des Stärkeren für die schwächere Kreatur eine entscheidende Rolle. Daraus ergeben sich aber prinzipielle Unterschiede zwischen der Würde des Menschen und der Würde des Tieres, weshalb letztere nachrangig gegenüber dem Recht des Menschen auf Gesundheit wäre. In einem biozentrischen Ansatz sei „Würde“ eine allem Lebenden von vornherein innewohnende Eigenschaft. Dem Tier komme damit grundsätzliche Selbstzwecklichkeit zu. In der Praxis würden sich jedoch Beeinträchtigungen der Integrität der Tiere durch die Triftigkeit von Gründen legitimieren lassen: „Berechtigte Ansprüche“ in der Lebenspraxis würden zur Beeinträchtigung anderen Lebens zwingen. Die moralische Pflicht zwinge dann jedoch zu angemessener Güterabwägung: Der Mensch sei moralisch verpflichtet, in dieser Konfliktsituation die wichtigsten der in Konkurrenz stehenden Interessen in angemessener Weise zu beachten und Entscheide im Rahmen von Güterabwägungen herbeizuführen. Dabei sei ethischen Idealen am besten durch eine ausgewogene Berücksichtigung aller Aspekte gedient. 4.8.7 Fazit Eine Ethik der Verantwortung nehme jedermann in die Pflicht und dies gilt unabhängig von einer Zuschreibung eines inneren Wertes der Tiere. Damit kann die Pflicht zur schonenden Behandlung der Versuchstiere, sowie zur verpflichtend im Vorfeld eines Experiments durchzuführenden angemessenen Güterabwägung, unabhängig von einer bestimmten ethischen Position gefordert und gerechtfertigt werden. Die Begründung der durchzuführenden ethischen Güterabwägung ist die moralische Pflicht des Forschers zum angemessenen Interessensausgleich. Nach anthropozentrischer Auslegung der Würde der Tiere ist diese jedoch der Würde des Menschen nachgeordnet aufgrund von Eigenschaften, über die nur der (‘normale’) Mensch verfügt. Nach nicht-anthropozentrischer Sichtweise hat das Tier zwar einen <?page no="333"?> 4.8 Das Schweizer Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ 333 Würde und Selbstzwecklichkeit als innewohnende Eigenschaft, in der „Lebenspraxis“ sehen die Autoren jedoch „berechtigte Ansprüche“ des Menschen, die eine Verletzung der Integrität der Tiere legitimieren können. Dies aber nur unter der Voraussetzung einer ausgewogenen Berücksichtigung aller Aspekte im Rahmen einer angemessenen Güterabwägung. Zu dieser bestehe die moralische Verpflichtung, um eine Lösung in Konfliktsituationen zwischen dem Anspruch der ‘Ehrfurcht vor dem Leben’ und der ‘Achtung der Würde des Tieres’ einerseits und dem Streben nach Erkenntnissen andererseits herbeizuführen. Der den Tieren zugesprochene Anspruch auf eine Würde wird im Schweizer Internet-Programm zur Güterabwägung nicht in Form eines mit Punkten versehenen Kriteriums berücksichtigt, so wie es etwa bei Stafleu et al. mit dem dort verwendeten „intrinsischen Wert“ (auch rein rechnerisch) Berücksichtigung findet. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Würde des Tieres und die ethische Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben der kompletten Haltung den Tieren gegenüber unterlegt ist. Wie in den ethischen Grundsätzen und Richtlinien auch benannt wird, erfolge die Güterabwägung ja genau mit der Begründung, dass sie als angemessene Berücksichtigung von Interessen (den menschlichen und jenen der Versuchstiere) im Falle einer Konfliktsituation zwischen dem Schutzanspruch der Tiere (aus der Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben begründet) und der Achtung der Würde des Tieres auf der einen Seite und den „berechtigten Interessen“ des Menschen auf der anderen Seite durchzuführen sei. Dazu bestehe eine moralische Pflicht, die sich aus der Verantwortung des Forschers für die „schwächere Kreatur“ ergebe. Wie groß jedoch die „berechtigten Interessen“ sein müssen, und welche Beeinträchtigungen damit legitimiert werden können, darüber herrscht ein gewisser Ermessensspielraum. Jedenfalls müssen die ein Tierexperiment legitimierenden Interessen „überwiegend“ sein und in einer Güterabwägung gerechtfertigt werden. Hierzu bietet die Ethikkommission das Internet-Programm „zur Selbstprüfung“ für die Güterabwägung an. <?page no="335"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 5.1 Zusammenfassende Gegenüberstellung der einzelnen Kategorien Zunächst gehe ich auf die einzelnen von den verschiedenen Autoren verwendeten Kriterien ein, anschließend auf die jeweilige Methodik der Autoren. Im Kapitel 6 werde ich dann die Kriterien dikutieren. Mit der zusammenfassenden Gegenüberstellung möchte ich übersichtlich zeigen, welche wesentlichen Kriterien jeweils Verwendung finden. Dabei möchte ich zeigen, dass es Kriterien gibt, die in allen untersuchten Kriterienkatalogen vorkommen, dass es Kriterien gibt, die nur bei einigen verwendet werden und es gibt auch Kriterien, die nur von einzelnen Autoren benutzt werden. Zur übersichtlichen Darstellung der von den einzelnen Autoren verwendeten Kriterien zeigt die nachfolgende Abbildung die verschiedenen Kategorien bzw. deren Kriterien. Verwendete Kriterien sind mit einem „v.“ gekennzeichnet, nicht verwendete mit „n.v.“. In der linken Spalte sind die jeweiligen Kriterien aufgeführt, wobei diese in Clustern zusammengestellt sind, wie z.B. das Cluster „Nutzen“, in welches die Kriterien „Gesundheit“, „Grundlagenforschung“, „Ökonomisch motiviert“ eingruppiert werden können. So sind auch eine Reihe von Kriterien dem Cluster „Schaden“ zuzuordnen. In der obersten Zeile sind die jeweiligen Autoren der einzelnen Kataloge mit der Jahreszahl des Erscheinungsdatums der Publikation aufgeführt. Wir sehen beispielsweise, dass das erste Kriterium im Cluster „Nutzen“, „Gesundheit“ [1a] 279 lautet. Dies bezeichnet das Kriterium Versuchszweck in Hinblick auf Gesundheitsinteressen. Wir sehen, dass dieses Kriterium bei allen Autoren - also in allen sieben Katalogen verwendet wird. Im Gegensatz dazu wird der Versuchszweck „Grundlagenforschung“ [1b] nur von 6 Autoren verwendet. Das Kriterium „ökonomisch motivierte Forschung“ [1c] wird nur von Stafleu et al. verwendet. 279 Die Zahlenangabe in eckigen Klammern soll helfen, die später detailliert im Text beschriebenen Kriterien schneller der Tabelle zuordnen zu können. <?page no="336"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 336 Tab. 14: Übersicht über die Verwendung verschiedener Kategorien in den untersuchten Kriterienkatalogen <?page no="337"?> 5.1 Zusammenfassende Gegenüberstellung der einzelnen Kategorien 337 Zahlenangaben in eckigen Klammern betreffen Kriterien, die später detail iert besprochen werden. <?page no="338"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 338 Die von den einzelnen Autoren vorgeschlagenen Kriterien lassen sich in drei Meta-Kategorien einteilen: Es gibt Kriterien, die von allen Autoren verwendet werden (5.1.1), Kriterien über deren Verwendung ein weitgehender Konsens besteht (5.1.2) oder auch verschiedene Meinungen nebeneinander bestehen und die jeweiligen Kriterien nur von einzelnen Autoren verwendet werden (5.1.3). 5.1.1 Kriterien, die von allen Autoren verwendet werden [1a] 280 Kriterium Nutzen (Gesundheit; Bedeutung des Erkenntnisgewinns) (Kriterium von alle Autoren verwendet) Die Beförderung der menschlichen Gesundheit wird allgemein als das hochrangigste Ziel eines Tierversuchs anerkannt. Porter stellt Schmerz über „Health / Welfare“, wofür er von Mand auch kritisiert wird. Der Kritiker könnte beispielsweise argumentieren, ein Patient werde doch lieber von Krebs geheilt, als dass ihm der Krebs nicht mehr weh tut. [2] Schmerzen/ Leiden/ Schäden/ bzw. discomfort (alle Autoren) Alle Autoren stimmen darin überein, dass Tiere umso stärker unter einem Tierversuch leiden, je größer die Belastungen sind, denen sie ausgesetzt werden. Es sollte erwähnt werden, dass Porter nur Schmerzen als Kriterium nennt (vgl. Kategorie D „Pain likely to be involved“ in Porters Katalog). Nimmt man ihn beim Wort und bewertet nur den verursachten Schmerz, dann sind Tierversuche denkbar, die beim Versuchstier mit massiven Leiden und Schäden verbunden sind, jedoch z.B. wegen einer chemischen Suppression der Schmerzempfindungen ohne Schmerz abliefen und demnach bei Porter eine Bestnote erhalten würden. Im Gegensatz dazu betitelt Porter Kategorie E seines Katalogs mit „Duration of discomfort or distress“. De Cock Buning und Theune untergliedern bei der Bewertung der Belastung verschiedene Tiergruppen: Die Experimentalgruppen und die Kontrollgruppe werden sinnvoller Weise getrennt erfasst. [3] Dauer der Belastung (alle Autoren) Alle Autoren stimmen darin überein, dass Experimente für die Versuchstiere umso belastender empfunden werden, je länger sie andauern. Der Schweizer Katalog weist darauf hin, dass mehrfache Belastungen - wie auch Belastungen durch Transport und Haltung der Tiere bei der Zuweisung des Schweregrades der Belastung mit berücksichtigt werden sollten. 280 Die Nummerierung in den eckigen Klammern bezieht sich auf die Nummerierung der jeweiligen Kriterien in der vorangestellten Übersichtstabelle. <?page no="339"?> 5.1 Zusammenfassende Gegenüberstellung der einzelnen Kategorien 339 Bei der Angabe des Schweregrades ist davon auszugehen, dass sich diese nach der Bewertung durch den Schweizer Belastungskatalog richtet. 281 Somit ist die Dauer der Belastung hier indirekt bei der Einteilung in Schweregrade (siehe [2]) mit enthalten. Auf einen möglichen Einfluss der Frequenz der Maßnahmen auf die Gesamtbelastung weisen de Cock Buning und Theune ebenfalls hin. [4] Tierzahl (alle Autoren) Ein Versuch mit einem bestimmten Maß an Leiden ist mit steigender Zahl der Versuchstiere immer weniger vertretbar. So kann ein bestimmter Versuch für fünf Tiere noch vertretbar sein während er für 30 Tiere nicht mehr vertretbar wäre. Wenn mehrere Tiere für den Versuch benötigt werden, summieren sich die „Gesamt-Kosten“ auf Seiten der Tiere. Der Schweizer Katalog relativiert die Tierzahl in Bezug auf die Leidensfähigkeit der verwendeten Tierart. 282 Lediglich de Cock Buning und Theune fragen nicht nach der Tierzahl. Jedoch findet die Tierzahl dort indirekt Erwähnung in der Kategorie A „Qualität der Tierexperimente“ mit der Frage danach, ob das Experiment mit einer geringeren Anzahl von Tieren durchgeführt werden kann. [5] Komplexität der Versuchstiere (Porter, de Cock Buning und Theune, Mand, Stafleu et al., Maisack, SAMW/ SCNAT) Allgemein ist man sich einig, dass Tiere umso leidensfähiger sind, je größer ihre neurologische Komplexität ist. Hier wartet nun jeder Katalog mit einer anderen Rangliste auf. Porter differenziert in Kategorie C „species of animal“ nach der Empfindungsfähigkeit und kognitiven Leistungsfähigkeit, so dass Versuche an Tieren mit niedriger Sensibilität oder niedrigem Bewusstseinsgrad die vertretbarsten und solche an fühlenden und hochintelligenten Tieren die bedenklichsten seien. Mand teilt die Tiere in Klassen ein (Kategorie A VII „Tierklasse“). Den Anfang machen Weichtiere und Insekten, am Ende stehen Vögel, Säugetiere und geschützte Arten. Diese Einteilung ist aus Sicht der Zoologie freilich nicht ohne weiteres akzeptabel, da beispielsweise Cephalopoden 281 Bei der Einteilung der Schweregrade der Belastung anhand des Schweizer Belastungskataloges (Bundesamt für Veterinärwesen 1995) wird die Dauer zur Einstufung des jeweiligen Belastungsgrades mit einbezogen (Anm.: Leider ist dort jedoch keine Definition der Zeitdauern „kurzfristig“ und „mittelbis langfristig“ angegeben). 282 Die Angaben weisen aber nur grobe Aussagen auf: „Handelt es sich - relativ zum gewählten Versuchstier - um eine hohe Tierzahl? “ „Nein; eher nein; eher ja; ja“ stehen als Antworten zu Auswahl. <?page no="340"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 340 (die im deutschen TierSchG explizit auch Erwähnung finden 283 ) zwar zu den „niederen“ Weichtieren gehören, aber mit ihren Vertretern der Tintenfische hoch sensitive, intelligente, soziale und lernfähige Tiere sind. Stafleu et al. unterscheiden in der Kategorie „psychological complexity“ zwischen Kaltblütern, anderen Wirbeltieren und nichtmenschlichen Primaten. Maisack spricht von der „Entwicklungshöhe der betroffenen Tiere“. Der Schweizer Katalog unterteilt in Frage 17 der Kategorie D „Wohlergehen der Tiere“ in 7 Gruppen, wobei niedrige und höhere Primaten getrennt erfasst werden. Es wird auf die Leidensfähigkeit abgestellt. Bei de Cock Buning und Theune wird in den Anmerkungen zur Kategorie B „Discomfort for the animal“ erklärt, dass es sich bei der Beantwortung der Fragen empfiehlt, eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen mehr oder weniger empfindsamen („sensitive“) Tierarten sowie zwischen mehr oder weniger sozialen Tierarten. Es wird darauf hingewiesen, dass die Belastung bei verschiedenen Tierarten unter derselben experimentellen Maßnahme stark differieren kann. Die verschiedenen Experimentalgruppen werden - wie bereits erwähnt - bei de Cock Buning und Theune sinnvoller Weise getrennt abgefragt (z.B. mehrere Experimentalgruppen und die Kontrollgruppe). Das deutsche Tierschutzgesetz (alte Fassung) ging von der sinnesphysiologischen Entwicklungshöhe aus. 284 [6] Wahrscheinlichkeit das Ziel zu erreichen (Porter, de Cock Buning und Theune, Mand, Stafleu et al., Maisack, SAMW/ SCNAT) Neben der Frage, wie wichtig der erhoffte Nutzen des Tierversuchs für uns Menschen - bzw. für andere Tiere - ist, so ist auch die Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel durch das Experiment zu erreichen, von entscheidender Bedeutung. Mand formuliert in ihrem Kriterienkatalog zwar lediglich die „Übertragbarkeit auf den Menschen“ (Kategorie A II), führt allerdings in der Beschreibung ihres Schemas aus, dass die Übertragbarkeit im Falle eines veterinärmedizinischen Experiments entsprechend für die Übertragbarkeit vom Versuchstier auf das kranke zu heilende Tier zu verstehen ist. De Cock Buning und Theune fragen in dem Zweckbereich Cp „problemorientierte Forschung“ nach einer Einschätzung der Erfolgsaussichten. Dort wird auch abge- 283 Vgl. § 8a Abs. 1 TierSchG. 284 § 9 Abs 2 Satz 1 TierSchG alte Fassung: „Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an sinnesphysiologisch niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen. […].“Anm.: Die neue Formulierung in § 7a Abs. 2 Nr. 5 TierSchG neue Fassung ist m.E. sachlich geeigneter, als das Abstellen auf die sinnesphysiologische Entwicklungshöhe: „Versuche an Tieren, deren artspezifische Fähigkeit, unter den Versuchseinwirkungen zu leiden, stärker entwickelt ist, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Tiere, deren derartige Fähigkeit weniger stark entwickelt ist, für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.”(vgl. Kap. 6.2.5). <?page no="341"?> 5.1 Zusammenfassende Gegenüberstellung der einzelnen Kategorien 341 fragt, ob das Tiermodell übertragbar ist (beides gilt jeweils für die „medizinische und tiermedizinische Bedeutung“ sowie für die alternativ zu verwendende Sparte „weiter gefasste gesellschaftliche Bedeutung“). In dem Zweckbereich Cf „Grundlagenforschung“ wird ebenfalls nach der Einschätzung der Erfolgsaussichten gefragt. Ansonsten stellen de Cock Buning und Theune bei den anderen Zwecken nicht auf die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung ab, sondern auf die Bedeutung des Experiments. Maisack betont, je größer die Zweifel an der Übertragbarkeit sind, desto geringer sei die Wahrscheinlichkeit des Nutzens. 5.1.2 Kriterien, die nur von einigen Autoren verwendet werden [1b, c] Nutzen (menschl. Gesundheit kommt vor Grundlagenforschung/ Ökonomie) (Porter, de Cock Buning, Mand, Stafleu et al., Maisack, SAMW/ SCNAT) Die Autoren stimmen darin überein, dass die Beförderung der menschlichen Gesundheit das höchste Ziel eines Tierversuchs ist und dass ökonomische und wissenschaftliche Interessen diesem untergeordnet sind. Auf reinen Erkenntnisgewinn [1b] abzielende Experimente werden von Porter, de Cock Buning und Theune, Mand, Stafleu et al., Maisack und den Schweizern berücksichtigt. Auf ökonomische Verbesserungen [1c] gehen nur Stafleu et al. explizit ein. Porter stellt die Grundlagenforschung auf die unterste Sprosse seiner Hierarchie der Forschungsinteressen (A „aim of experiment“), bei Mand steht sie in der Mitte (Kategorie A1 „Bedeutung des Versuchs“). Stafleu et al. billigen ökonomisch motivierter Forschung und Grundlagenforschung maximal den halben Wert gegenüber der Beförderung menschlicher Gesundheit zu. Bei Scharmann und Teutsch sind lediglich Versuche aus dem medizinischen Bereich Gegenstand ihrer Betrachtungen. Die Schweizer sowie de Cock Buning und Theune differenzieren die Zweckbereiche am stärksten. De Cock Buning und Theune unterteilen ihre Kategorie C „Significance of the animal experiment“ nach folgenden Zwecken: Cr Routineforschung, Cd Diagnostik, Ce Ausbildung, Cp problemorientierte Forschung (mit Schwerpunkt 1. „medizinische/ tiermedizinische Bedeutung“ oder 2. „weiter gefasste gesellschaftliche Bedeutung“) sowie Cf Grundlagenforschung. De Cock Buning und Theune verwenden keine Gewichtung und somit keine Priorisierung bei den unterschiedlichen Zwecken. Die Schweizer unterteilen in die Zweckbereiche: Grundlagenforschung, medizinische Anwendungen, nicht-medizinische Anwendungen, Förderung der Lebensqualität von Tieren sowie Förderung der 3R. <?page no="342"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 342 [7] Haltungsbedingungen (Porter, de Cock Buning und Theune, Mand, Maisack, SAMW/ SCNAT) Die Qualität der Haltungsbedingungen ist - unabhängig von den durch den „eigentlichen“ Versuch zugefügten Leiden - ein wichtiger Faktor bei der Frage nach dem Leidensgrad des Versuchstiers. Porter führt die Haltungsbedingungen als einen Aspekt der Kategorie H „Quality of animal care“ - zu dem auch die Fähigkeiten des Personals und die Nachsorge zählen - deshalb auf Seiten des tierischen Leidens ein und Mand war dieser Aspekt sogar so wichtig, dass sie ihm eine eigene Kategorie widmete (Beurteilungskategorie B: Haltungsbedingungen) und diesen in drei Unterpunkte - Pflege, Unterbringung und Fütterung - differenzierte. Bei Scharmann und Teutsch finden die Haltungsbedingungen nur insofern Erwähnung, als die Haltung in Bezug auf psychischen Stress bzw. Störung der normalen sozialen Verhaltensweisen subsummiert in der Kategorie „Belastung der Versuchstiere“ in die Betrachtung einfließt. Bei Stafleu et al. fließt die Belastung durch Haltungsbedingungen in die Frage des „Actual discomfort“ mit ein. So auch bei de Cock Buning und Theune: Hier ist die Kategorie B „Discomfort for the animal“ untergliedert in die Belastung, die durch das Experiment verursacht wird (B 1) und die Belastung, die durch die Haltungsbedingungen verursacht werden (B 2). In den Bemerkungen wird darauf verwiesen, dass das AEC 285 bestimmen muss, zu welchem Ausmaß die Haltungsbedingungen zur Gesamtbelastung des Tieres beitragen. Maisack geht auf die versuchsvorbereitenden Haltungsbedingungen ein und fragt danach, ob dadurch Grundbedürfnisse des Tieres zurückgedrängt oder die Bewegung eingeschränkt wird. Die Schweizer fragen in Kategorie F „Verantwortungsbewusstsein“ neben der Qualität der Tierhaltung auch explizit ab, ob etwas für die Verbesserung der Haltungsbedingungen unternommen wurde. [8] Qualifikation (Porter, de Cock Buning und Theune, Mand, Stafleu et al., SAMW/ SCNAT) Unter der Kategorie D „Pain likely to be involved“ stellt Porter u.a. die Frage, ob der Experimentator in der geplanten Prozedur geübt ist, aber eine eigene Kategorie gibt es bei ihm nicht. Insofern ist fraglich, wie dieser Faktor in die Kategorie D eingerechnet werden soll. Nach der Qualifikation fragen auch de Cock Buning und Theune in ihrer Kategorie D „Credibility of the group/ researchers“. Hier wird primär nach der Erfahrung in der Thematik und in der experimentellen Technik gefragt. Für Mand ist es von Relevanz, wie gut das Personal ausgebildet wurde, wie erfahren es ist (Beurteilungskategorie C: Personal, I. „Qualifikation“) und wie stark es mit dem Versuch ausgelastet oder gar überlastet ist (II. „Anzahl“). Bei Stafleu et al. sind 285 Animal Experimentation Committee <?page no="343"?> 5.1 Zusammenfassende Gegenüberstellung der einzelnen Kategorien 343 vor allem die Erfahrung und die Gewissenhaftigkeit der Forscher ausschlaggebend (Schritt 4 „Assessment of the relevance of the animal experiment“). Besonders gut ist diejenige Frage der Schweizer in Kategorie F „Verantwortungsbewusstsein“ zu werten, die abprüft, wie gut der Experimentator sich mit den Leidens- und Stresssymptomen der Versuchstiere auskennt. Dies ist präziser formuliert, als lediglich pauschal nach der Erfahrung zu fragen. 5.1.3 Kriterien, die nur vereinzelt verwendet werden [9] Intrinsischer Wert (Stafleu) Stafleu et al. sind die einzigen, die den Eigenwert eines Tieres explizit in ihre ethischen Überlegungen einbeziehen und werten (Schritt 6, „Intrinsic Value“). Allerdings ist hier anzumerken, dass Porter sich zumindest auf das Schweitzersche Ideal beruft. Porter stellt zwar die Überlegung eines „ethicons“ in den Raum, kann sich aber noch nicht entschließen, dieses Kriterium in seinem System mit zu bewerten. Er stellt dabei auch auf die Entwicklungshöhe der Tiere ab. [10] Zeit bis zur Nutzbarmachung (Scharmann und Teutsch, Maisack) Während in allen anderen Katalogen die Frage gestellt wird, wie wahrscheinlich der durch den Tierversuch angestrebte Nutzen auch erreicht wird, stellen Scharmann und Teutsch die interessante Frage, wie lange es bis zur Realisierung dieses Nutzens wohl dauern wird. Das bedeutet, im ersten Falle steht im Focus, wie wahrscheinlich es ist, mit der jeweiligen Versuchsanordnung das gesteckte Versuchziel zu erreichen, beispielsweise ein Medikament gegen Alzheimer zu entwickeln. Die zweite Denkart meint wohl, wie lange es dann letztlich dauert, bis dieses Therapeutikum einen konkreten Patienten heilen kann bzw. bis das fertige Medikament dem Patienten zumindest verabreicht werden kann. Maisack verwendet das Kriterium der „zeitlichen Erwartung“ des Nutzens 286 , was sich mit der Ansicht von Scharmann und Teutsch deckt. [11] Schmerz: Intensität in Verbindung mit der Dauer (de Cock Buning und Theune, Mand, Maisack) Ein Tierversuch ist desto weniger vertretbar, je größer das Leid und je kürzer die Intervalle zwischen den leidvollen Situationen sind, bzw. je länger diese leidvollen Situationen andauern, bis das Tier wieder Entlastung (z.B. durch Analgesie) erfährt. Mand weist darauf hin, dass die Gesamtbelastung oftmals eine Summe aus der Intensität des leidvollen Zustandes und seiner Länge (in 286 Maisack verwendet dazu auch den Begriff „Zeitschiene“. <?page no="344"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 344 Bezug auf die zeitliche Dauer) ist. D.h. ein lang andauernder mittelmäßiger Schmerz kann u.U. genauso belastend sein, wie ein kurz andauernder starker Schmerz. Auch Maisack berücksichtigt die Intensität und Dauer der Belastung: Er zitiert den ‘Schweizer Belastungskatalog’, der beide Kriterien bei der Eingruppierung in die jeweiligen Belastungs-Schweregrade berücksichtigt. 287 Auch de Cock Buning und Theune fragen nach dem Ausmaß der Belastung sowie der Dauer der Belastung in Tagen. In den Bemerkungen wird dort darauf hingewiesen, dass das Ausmaß der Belastung auch von der Frequenz der Maßnahmen, sowie von der Dauer der Belastung abhängen kann. [12] Dauer des Experiments in Relation zur Lebensspanne (Porter, Mand) Umstritten ist Porters Argumentation in Bezug auf die Frage, ob die Dauer eines Experiments in ein Verhältnis zu der durchschnittlichen Lebensspanne des Versuchstiers gesetzt werden soll, wie er es für Kategorie F seines Katalogs vorsah. Laut Porter sei es möglich, dass Tiere aufgrund ihrer meist geringeren Lebensspanne auch eine andere Zeitwahrnehmung hätten. Für diese Annahme gebe es keine Belege, man solle ihr allerdings wegen dem „‘benefit of doubt’ principle“ vorsichtshalber Rechnung tragen. Mand ist der gleichen Meinung wie Porter, auch sie nimmt die Dauer des Experiments im Verhältnis zur Lebensspanne des Versuchstieres als Kategorie auf. Mand erklärt die Relevanz dieses Gedankens jedoch ganz pragmatisch: „So sind z.B. mehrere Monate dauernde Versuche für eine Ratte wesentlich erheblicher als für einen Hund mit einer mittleren Lebensdauer von über zehn Jahren.“ (Mand 1995, S. 232). Besagtes „‘benefit of doubt’ principle“ auf eine solche Vermutung anzuwenden, erscheint angreifbar, wie folgendes Gedankenexperiment illustrieren soll: Es wäre theoretisch möglich, dass eine wichtige Funktion des Bewusstseins bisher verkannt worden ist. Wir schreiben dem Bewusstsein Fähigkeiten wie Abstraktion, Reflexion oder vorausschauende Planung zu. Jeder Mensch weiß, dass man sich von seinen Schmerzen ablenken kann. Was wäre nun, wenn die Fähigkeit zur Ablenkung von dem Gefühl des Schmerzes an die Höhe der kognitiven Leistungsfähigkeit gebunden wäre? Dann nämlich wären die Tiere mit den komplexesten Nervensystemen gleichzeitig die Tiere mit dem niedrigsten Schmerzempfinden und der niedrigsten Leidensfähigkeit, weil ihre kognitiven Fähigkeiten ihnen stärker als den „niederen“ Tieren erlauben würden, sich von den gefühlten 287 Allerdings werden im ‘Schweizer Belastungskatalog’ keine Definitionen der tatsächlichen Zeitspannen in Minuten, Stunden, Tagen oder Wochen angegeben; es ist dort lediglich die Rede von „kurzfristige Belastung“ und „mittelbis langfristige Belastung“ (vgl. BVET 1991, Information Tierschutz 1.04, S. 5). Auf diesen Umstand gehe ich später in der Diskussion noch ein. <?page no="345"?> 5.1 Zusammenfassende Gegenüberstellung der einzelnen Kategorien 345 Leiden abzulenken, das kann auch bedeuten, sich bewusst zu sein, dass der Schmerz enden wird; hingegen ein Lebewesen mit geringer kognitiver Leistungsfähigkeit könnte sich einer nicht enden wollenden Agonie des Schmerzes ausgesetzt sehen, da es nicht in der Lage ist, abzusehen, dass das Experiment auch wieder enden wird. So führt beispielsweise Silke Schicktanz an, dass Tiere aufgrund fehlender Zukunftsvorstellungen umso stärker leiden würden (als der Mensch), da sie dem Schmerz unmittelbar ausgeliefert seien. Wesen mit Zukunftsvorstellungen könnten hingegen Schmerzen besser ertragen, wenn sie die Ursachen kennen, oder wüssten, dass der Schmerz bald vorüber sein wird (Schicktanz 2002, S. 225). Eine solche Annahme würde die ganze „Hierarchie der Leidensfähigkeit“ auf den Kopf stellen, und niemand könnte sie widerlegen. Dazu auch Robert Spaemann: „Nicht das eigene Interesse, sondern die Selbstachtung ist es, die uns gebietet, das Leben dieser Tiere, wie kurz oder lang es sein mag, artgemäß und ohne die Zufügung schweren Leidens geschehen zu lassen. Gerade, weil Tiere ihr Leiden nicht in die höhere Identität eines bewußten Lebenszusammenhangs integrieren und so ‘bewältigen’ können, sind sie dem Leiden ausgeliefert. Sie sind sozusagen im Schmerz nur Schmerz, vor allem, wenn sie nicht durch Flucht oder Aggression auf diesen reagieren können. Solche Schmerzzufügung bzw. artwidrige Tierhaltung kann nicht gegenüber irgend einem anderen Nutzen des Menschen als dem der Vermeidung vergleichbarer Schmerzen oder der Lebensrettung aufgerechnet werden. Wirtschaftliche Vor- und Nachteile dürfen hier gar nicht in Anschlag gebracht werden, und wissenschaftliche Forschungsinteressen nur insoweit, als sie unmittelbar auf Lebensrettung oder auf Vermeidung vergleichbarer Schmerzen gerichtet sind. Denn auch wissenschaftliche Interessen finden ihre Grenzen an den allgemeinen Normen der Sittlichkeit und Menschenwürde.“ (Spaemann 1984, S. 78). Die Dauer des Schmerzes ist auch dann von Bedeutung, wenn das Tier kein subjektives Zeitempfinden hat. Denn dem Tier wird objektiv bei einem Tierversuch Lebenszeit vorenthalten, die es Schmerz-, Angst-, Stress- und Leidensfrei verbingen könnte. Das Tier empfindet Schmerzen, Leiden, Schäden Angst und Stress ebenso wie es sein Wohlbefinden empfinden kann. Dazu muss es kein Zeitbewusstsein haben. Allein deshalb schon macht es einen Unterschied aus, ob ein Tier eine bestimmte Zeit lang einem positiven Gefühl des Wolbefindens oder einem negativen Gefühl des Schmerzens etc. ausgesetzt ist. <?page no="346"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 346 [13] Schaden weiter untergliedert in: Physisch/ psychisch/ Sozialverhalten (Scharmann und Teutsch, Maisack) Scharmann und Teutsch haben die bei weitem differenzierteste Analyse der tierlichen Belastungen geliefert. Dass weder Porter, de Cock Buning und Theune, Mand noch Stafleu et al. ihre Schadenskategorien weiter unterteilt haben verwundert und ist u.U. als Zeichen für eine noch immer vorherrschende Unkenntnis gegenüber der Vielschichtigkeit der tierischen Leidensfähigkeit zu werten. 288 Als Indiz dafür lässt sich vielleicht anführen, dass das deutsche TierSchG nur von Schmerzen, Leiden und Schäden spricht, jedoch nicht die Kategorie Angst (also psychisches Leiden) explizit erwähnt, wie dies beispielsweise in der Schweizer Gesetzgebung der Fall ist. Maisack verwendet die selben Kriterien, die auch Scharmann und Teutsch verwendet haben, untergliedert diese aber sinnvoller Weise in die Kategorien Schmerzen, Leiden und Schäden 289 , wobei er nach Ausmaß und Zeitdauer der Schmerzen fragt, sowie nach der Anzahl der davon betroffenen Tiere. Bei den Leiden subsummiert Maisack die Angst vor Ungewohntem, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die Einschränkung physiologischer Bedürfnisse sowie die Unterbindung artgemäßer Verhaltensweisen, und zwar wieder nach Ausmaß, Zeitdauer und Anzahl der betroffenen Tiere. Unter Schäden fragt Maisack erstmals - neben den anderen relevanten Fragen wie Ausmaß und Anzahl der Tiere - danach, ob diese reversibel sind oder nicht. Maisack fragt auch nach den belastenden Nachwirkungen. Neben Mand ist Maisack der einzige Autor, der sich dazu äußert, ob und wie der Tod als Schaden gewertet werden soll. Mand ordnet dem Tod als Schaden den nach ihrem Schema höchsten Wert zu, der noch nicht zu einer kompletten Ablehnung des Versuchsvorhabens führt. Auch Maisack wertet den Tod maximal: „Tod als schwerster Schaden“. 290 [14] Alternativen / Folgeexperimente (de Cock Buning und Theune, Stafleu et al., SAMW/ SCNAT) De Cock Buning und Theune fragen in der Kategorie A „Qualität des Experiments“ differenziert nach den „3R“. So fragen sie als einzige Autoren danach, ob woanders ein ähnliches Vorhaben stattfindet, oder ob Kollaborationen existieren und Organe/ Tiere mit anderen geteilt werden. Unter dem Punkt „Refinement“ wird auch gefragt, ob die Tiere zu einem wohlbedachten Zeitpunkt in wohlbedachter Weise getötet werden (Festlegung Humane 288 Dort wo die Einstufung der Belastung sich auf einen externen „Belastungskatalog“ stützt, ist jedoch eine weitere Differenzierung u.U. nicht notwendig. 289 Das sind dann auch die Begrifflichkeiten die im deutschen TierSchG verwendet werden. 290 Maisack verweist auf BVerwGE 105, 73, 82. <?page no="347"?> 5.2 Die Methodik der Autoren 347 Endpoints). Danach, ob ein Refinement möglich ist, fragen auch Stafleu et al. und der Schweizer Katalog. Ob das Experiment weitere Experimente zur Folge haben wird, fragen nur die Schweizer ab. [15] Nachsorge, Überwachung, Betreuung (Porter, de Cock Buning und Theune, Mand, Maisack, SAMW/ SCNAT) Die Frage der Nachsorge wird bei Porter in der Kategorie H „Quality of animal care“ subsummiert. Ob die Tiere, die aus einem Experiment kommen, adäquat untergebracht werden, fragen de Cock Buning und Theune in der Kategorie A „Quality of animal experiment“ ab. Die Betreuung ist Mand derart wichtig, dass sie ihr die Kategorie „Anzahl des Personals“ widmet. Maisack fragt danach, ob es bei den betroffenen Tieren belastende Nachwirkungen gibt. Die Überwachung der Versuchstiere wird bei den Schweizern in der Kategorie F „Verantwortungsbewusstsein“ mit mehreren Fragen beleuchtet. [16] Veröffentlichung Lediglich der Schweizer Katalog geht in der Kategorie A „Erkenntnisgewinn“ auf die Frage der Veröffentlichung der Versuchsergebnisse ein. 5.2 Die Methodik der Autoren Im Folgenden möchte ich betrachten, mit welcher Methodik die Autoren jeweils versuchen, zu einer praktikablen Abwägung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchsvorhaben zu gelangen. Die „Checkliste“ Scharmann und Teutsch stellen lediglich eine „Checkliste“ zur Verfügung. Eine Bewertung mit Punkten und ein mathematisches „Punktezählen“ lehnen sie strikt ab, mit den Gründen: Manipulierbarkeit, Versuchung auf- oder abzurunden. Ein weiterer Kritiker argumentiert, ein Punktezählen könnte eine Scheinwissenschaftlichkeit vortäuschen und den Forscher in einem Gefühl der moralischen Sicherheit wiegen, ihm aber die eigentliche ethische Reflexion abnehmen. Maisack stellt im Kommentar zum Tierschutzgesetz ebenfalls nur eine Liste relevanter Kriterien zur Verfügung, ohne dass er dabei den einzelnen Kriterien Gewichtungs-Punkte zuordnet. Allerdings gibt er wertvolle Hinweise wie in den von ihm getrennt betrachteten Versuchszwecken eine Priorisierung der Nutzen unterschiedlicher Experimente nach vernünftigen Gründen durchgeführt werden kann. Eine Erweiterung einer bloßen „Checkliste“ stellt das System von de Cock Bu- <?page no="348"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 348 ning und Theune dar. Hier werden die Antworten auf dem Papier in jeder Kategorie mit einem Schreibstift umkringelt, dadurch erhält man einen visuellen Eindruck über den Gesamtwert. So soll ein „qualitatives“ Gesamturteil der einzelnen Kategorien erreicht werden. Ein interessanter Aspekt ist die Verwendung eines „Decision trees“, sowie einer Matrix Bedeutsamkeit des Experiments versus Belastung. Letztere erlaubt eine Festlegung zu treffen, ob die Verhältnismäßigkeit zwischen dem Schaden am Tier und der Bedeutsamkeit des Experiments gewahrt ist. Diese Matrize wurde vielfach zitiert und weiterverwendet, wobei das Kriterium „Bedeutsamkeit des Experiments“ jedoch später ausgetauscht bzw. gleichgesetzt wurde mit der Bezeichnung „Nutzen“ (s. die Darstellung bei Scharmann und Teusch 1994, S. 194, Tab. 2, hier: „Nutzen für Mensch/ Tier“; sowie bei Goetschel 2002, S. 211, § 7 Rn. 56 hier: „Nutzen für den Menschen“) und je nach Autor in einigen Punkten Unterschiede herrschen bzgl. der (noch)Zulässigkeit und der Unvertretbarkeit. Dies gilt in besonderem Maße für die Frage der Zulässigkeit bei schwerem Schaden (vgl. meine Besprechung bei de Cock Buning und Theune sowie bei Maisack). Meiner Ansicht nach sind die „Checklisten“ besonders dahingehend hilfreich, dass kein ethisch Relevanter Aspekt vergessen werden kann und dass die Kriterien der Reihenfolge nach abgearbeitet werden können. Die Checklisten erlauben jedoch keine Gewichtungen und damit keine Priorisierungen (die ja eine ethische Wertung enthalten: Das eine Kriterium ist für den Autor gewichtiger als das andere). Das Bepunktungssystem („Score-system“) Porter und Mand versehen ihre Kriterienkataloge mit Punkten („scores“). Sie geben an, in welchen übergeordneten Kategorien eine gewisse maximale Punktzahl nicht überbzw. unterschritten werden darf. In diesen übergeordneten Kategorien sind nun Kategorien, die den Nutzen am Experiment betreffen, wie auch Kategorien, die den Schaden am Tier betreffen, subsummiert. Mit dem Festlegen von Maximalwerten setzen die Autoren ethisch relevante Eckwerte, deren Überschreitung zu einer Ablehnung des Versuchsvorhabens führen würde. Eine eigentliche Verrechnung dergestalt, dass etwa Pluspunkte für den Nutzen und Minuspunkte für die Belastungen der Versuchstiere vergeben und miteinander verrechnet werden, gibt es hier jedoch nicht, sondern die Punkte werden in einer Richtung aufsummiert. Es sollten niedrige Punkte erreicht werden. Je höher die Punktesumme, desto größer ist für Porter die „Abweichung vom Ideal“. Diese Modelle sind einer Güterabwägung, die man sich gerne als Waage mit zwei konkurrierenden Waagschalen vorstellen mag, noch entfernt. Dies liegt daran, dass die Werte für die Nutzenseite nicht gegen die Werte der <?page no="349"?> 5.2 Die Methodik der Autoren 349 Schadensseite gestellt (also subtrahiert) werden, sondern sie werden gleichsinnig (also auf einer Werteskala in einer Richtung) aufaddiert. Die „mathematische“ Güterabwägung Nutzen versus Schaden Eine eigentliche Abwägung von Nutzen des Menschen versus Schaden für die Versuchstiere führen erst Stafleu et al. ein. Die Autoren verwenden ebenfalls einen Punkte-Katalog und hinterlegen diesen mit mathematischen Formeln, die eine Ermittlung eines Wertes für die (durch das Experiment beförderten) menschlichen Interessen sowie eines Wertes der (durch das Experiment geschädigten) tierlichen Interessen ermöglicht. Die Verwendung verschiedener Formeln erlaubt dann auch eine anteilige Verrechnung verschiedenartiger Zweckbereiche, denen ein Versuchsziel zugeordnet werden kann. Dies ist sehr sinnvoll, denn oftmals überschneiden sich die Bereiche dergestalt, dass die Zuordnung zu nur einem Bereich schwierig ist und der Sache nicht ausreichend gerecht wird. Das ist dann auch ein Problem, wo die Systeme von Porter und Mand an ihre Grenzen stoßen. Letztlich werden die beiden Werte für den Nutzen und den Schaden gegenübergestellt und wenn der Nutzen größer oder gleich dem Schaden ist, so ist das Versuchsvorhaben von den Autoren als ethisch vertretbar und gerechtfertigt definiert. 291 Problematisch erweist sich an diesem Modell die Verwendung von Formeln, die der zunächst dem System hinterlegten unterschiedlichen Gewichtung von verschieden bedeutsamen Versuchszwecken widerum den Sinn entzieht, da die Einführung von Multiplikationsrespektive Divisionsfaktoren die zunächst verschieden gewichteten Zwecke wieder angleicht. Das Internet-Programm Einen neuen Weg beschreitet das Schweizer Internet-Programm: Hier werden in jeder Kategorie minimal- und maximal-Werte berechnet und dann jedes einzelne Teilergebnis jeder Kategorie - nach der Bildung eines Durchschnittswertes über jede Kategorie - aufsummiert und letztlich die 291 Wie wir gesehen haben, widerspricht beispielsweise Maisack dieser Sichtweise dezidiert: Er belegt aus juristischer Sicht, dass der Nutzen den Schaden an den Versuchstieren überwiegen muss. Maisack: „Rechtfertigung nur, wenn der Nutzen die Belastung überwiegt.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 296, § 7 Rn. 59). Dieser Meinung ist beispielsweise auch Herrmann, wobei sie aus ethischer Sicht argumentiert: „Allerdings ist ein Versuch, der mit großer Belastung, also deutlichen bis schweren Leiden oder Schmerzen für das Tier verbunden ist, aus ethischer Sicht nicht zu rechtfertigen auch wenn der Nutzen für den Menschen groß wäre. Der Nutzen für Mensch und/ oder Tier muss immer größer sein, als die Belastungen, mit denen der Versuch für die Tiere verbunden ist.“ (Herrmann 2008, S. 77). <?page no="350"?> 5 Vergleich der vorgestellten Kriterienkataloge 350 Gesamtsumme aus den einzelnen Kategorie-Querschnittssummen gebildet. Diese Gesamtsumme wird in Relation gesetzt zu den möglichen Extremata: Dem „worst“-Wert und dem „best“-Wert. Auf einer waagerechten Skala wird dann letztlich der erzielte Wert farbig und auf einem imaginären Zahlenstrahl an bestimmter Stelle positioniert für den Nutzer visualisiert. Hierbei ist festzuhalten, dass die Auswertung der einzelnen Kategorien, wie auch die Ermittlung des Gesamtergebnisses verborgen bleiben. Nur mit einem gewissen Aufwand und gewissen programmiertechnischen Kenntnissen kann man die Bewertung offenlegen. Dies lässt sich kritisieren: Der kritische und dem Anliegen des Tierschutzes möglicherweise skeptisch gegenüberstehende Experimentator wird in der verborgenen Bepunktung und Berechnung eine Intransparenz sehen. Möglicherweise empfindet er das Programm als Bevormundung, da er den hinter dem Programm liegenden mathematischen Algorithmus nicht einsehen und damit nachvollziehen kann. Er könnte beispielsweise vermuten, dass die Bepunktung eher zu Gunsten der Versuchstiere ausgelegt sein könnte. Meiner Ansicht nach könnte dies dazu führen, dass das Programm nicht die gewünschte Akzeptanz bei der Zielgruppe findet. Damit würde die Verbreitung des ansprechend gestalteten Programms u.U. stagnieren, was außerordentlich zu bedauern wäre. Ein Kriterienkatalog soll m.E. zum einen operationalisieren und die Möglichkeit schaffen, reproduktiv und intersubjektiv eine Bewertung der ethischen Vertretbarkeit eines Versuchsvorhabens zu liefern. Dies soll nach allgemein einsehbaren und nachvollziehbaren Kriterien von statten gehen. Wie diese Kriterien zu einander und untereinander gewichtet werden, ist von fundamentaler Wichtigkeit. Diese Gewichtung, die letztlich eine - momentane - gesellschaftliche Meinung widerspiegelt, zu verbergen, läuft dem Anliegen entgegen, einen offenen und sich im Laufe der Zeit weiter entwickelnden Diskurs über tierethische Abwägungs-Fragen zu etablieren. Transparenz ist meines Erachtens die Grundlage für jeden offenen, vernünftigen und zielführenden Dialog und somit auch bezüglich der Frage der Verwendung eines Kriterienkatalogs eine der Grundbedingungen für das Vertrauen des Anwenders in den Katalog. Ohne dieses Vertrauen wird ein Katalog nicht freiwillig und gerne verwendet werden. Selbstverständlich wurde die hinter dem Schweizer Katalog liegende Gewichtung in einem langen und verantwortungsbewusst geführten Prozess von der Ethikkommission erarbeitet. Der Wissenschaftler kann sich sicherlich vertrauensvoll darauf verlassen, dass die zu Grunde liegende Wertung dem gegenwärtigen Stand der Diskussion in der Ethikkommission entspricht. Nach der persönlichen Mitteilung des damaligen Präsidenten der Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Naturforschenden Wissenschaften, Prof. Andreas Steiger, wurde das Programm zunächst gezielt in dieser Weise publiziert. Man wollte zunächst eine even- <?page no="351"?> 5.2 Die Methodik der Autoren 351 tuell entstehende Diskussion um einzelne Bepunktungs-Werte umgehen, die man vermutet hatte, sofern die Bepunktung offen dargelegt worden wäre. Als einen weiteren Grund gegen eine offensichtliche Punkte-Bewertung könnte auch sprechen, dass der Anwender dadurch ggf. in seiner Antwort- Wahl beeinflusst würde. Dieses wäre in einem Test zu überprüfen. Sicherlich ist die Aufmerksamkeit des Anwenders uneingeschränkter bei den jeweiligen Antworten, wenn er nicht gleichzeitig bereits im Geiste mit Punkteständen kalkuliert. Ein Kritikpunkt auf den ja auch Scharmann und Teutsch ein kritisches Augenmerk gerichtet hatten (Scharmann und Teutsch 1994, S. 194). Möglicherweise wäre ein Kompromiss zweckmäßig: Das Programm mit den durchzuarbeitenden Frage-Kategorien könnte weiterhin ohne sichtliche Bepunktung angeboten werden, aber es könnte für den interessierten Benutzer eine anklickbare Zusatzseite angeboten werden, welche die Fragen und Antworten mit den jeweiligen Punkte-Bewertungen übersichtlich ausweist. Damit könnte der Interessierte ohne großen Aufwand oder Programmierkenntnisse Einblick in die Bepunktung wie auch die Berechnungsregeln nehmen. 292 292 Dieser Einblick ist - wie schon erwähnt - bereits jetzt möglich, aber etwas umständlich: Man muss die entsprechenden, dem Programm hinterlegten Dateien öffnen und lesen können, wozu bzgl. der Berechnungsregeln gewisse Programmierkenntnisse nötig sind. <?page no="353"?> 6 Diskussion 6.1 Abschätzung der „Nutzen“-Seite 6.1.1 Herangehensweisen an die Güterabwägung Bei der Güterabwägung fällt auf, dass immer wieder zwei Herangehensweisen benannt werden. Die eine Herangehensweise scheint wohl allem Anschein nach auf den Versuchstierkundler Klaus Gärtner (1987) zurückzugehen, welcher dieses Argument von den „sachkundigen Philosophen“ „übernommen“ habe - er verweist im Rahmen seiner Argumentation mehrfach auf Hans Jonas (1984) - und zwar die Gegenüberstellung auf der einen Seite von dem Schaden, der den Versuchstieren zugefügt wird, und auf der anderen Seite dem Schaden der entstehen würde, wenn man das Experiment nicht durchführen würde - ein ‘Unterlassungsschaden’, so will ich das zunächst benennen. Hierbei ist zu bemerken, dass der erweiterte Kantsche Imperativ nach Jonas von diesem in anderer Absicht formuliert wurde, als die Absichten Klaus Gärtners liegen, wobei dieser sich aber auf Jonas und dessen erweiterten Kantschen Imperativ beruft, so dass beim Leser der Eindruck erweckt wird, die Folgerung Gärtners sei von Jonas abgeleitet. Möglicherweise ist dies ein unglücklicher Umstand, der in der Knappheit des nur 3-seitigen Aufsatzes Gärtners begründet liegen könnte. Die zweite Herangehensweise ist diejenige, die auf der einen Waagschale - um beim von Gärtner eingeführten Sinnbild zu bleiben - ebenfalls die den Versuchstieren aufgebürdeten Belastungen abwägt gegenüber der anderen Waagschale, und hier ist der Nutzen anzugeben, (wörtlich verlangt das TierSchG in § 7 Abs. 3 der alten Fassung - jetzt § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung -, dass die Schmerzen, Leiden und Schäden im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind) der - prospektiv veranschlagt - aus der Versuchsdurchführung erwachsen soll. Wie die im Vorangegangenen detailliert dargelegten Kriterienkataloge und Abwägungssysteme der verschiedenen hier vorgestellten Autoren zeigen, wurde von diesen versucht, sodann auch Kriterien zu finden für diese „Nutzeneinschätzung“. Klaus Gärtner legt bei der von ihm vorgestellten Güterabwägung seinen Schwerpunkt jedoch einseitig auf Kriterien für einen ‘Unterlassungsschaden’. 293 Nach deutschem TierSchG zählt das 293 Die Kriterien, die Klaus Gärtner in seiner graphischen Darstellung einer Waage in der betreffenden Waagschale als Kriterien für die „Schadensfolgen für Wissenschaft und Gesellschaft“ anführte (Gärtner 1987, S. 101) habe ich bereits bei der Besprechung von Gärtner zitiert. <?page no="354"?> 6 Diskussion 354 „Vorbeugen, Erkennen oder Behandeln von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden [...]“ gem. § 7 Abs. 2 Nr. 1 TierSchG alte Fassung (jetzt § 7a Abs. 1 Nr. 2 TierSchG neue Fassung) zwar auch zu den dort angeführten erlaubten Zwecken. Die Prophylaxe ist also durchaus ein gewünschtes Ziel, bei Gärtner (1987) fällt jedoch auf, dass er darauf fast den gesamten Fokus setzt. Diese einseitige Hervorhebung scheint mir jedoch sehr wirkmächtig zu sein: In öffentlichen Diskussionen und einschlägigen Aufsätzen wird gerade das Argument mit dem ‘Unterlassungsschaden’, also dem Schaden, der entstünde wenn die Tierversuche nicht durchgeführt würden, immer wieder herangezogen um Tierexperimente zu rechtfertigen - ja geradezu zu begründen und zu fordern. 6.1.2 Betrachtung der Zwecke 6.1.2.1 Vorrangig medizinische Aspekte, nachgeordnet reiner Wissenserwerb Die hier vorgestellten Autoren haben versucht, den „Nutzen“ anhand verschiedener Vorschläge für Kriterien abschätzbar zu machen. Porter hat im Jahre 1992 hierbei vor allem medizinische Aspekte benannt, und zwar geht es ihm primär um die Linderung von Schmerzen bei Mensch und Tier. Erst nachrangig führt er den allgemeiner gefassten Nutzen für die Gesundheit oder das Wohlergehen von Mensch oder Tier an. Der reine Wissenserwerb - die Grundlagenforschung - steht für Porter an letzter Stelle. De Cock Buning und Theune (1994) differenzieren die Zweckbereiche in Routineforschung, Diagnostik, Ausbildung, problemorientierte Forschung und Grundlagenforschung. Sie sind somit die einzigen, die Tierversuche zu Aus- und Weiterbildungszwecken mit berücksichtigen. Scharmann und Teutsch stellen ebenfalls im Jahre 1994 bei den Überlegungen in ihrer „Checkliste“ nur auf medizinische Aspekte ab - gerade mit dem zusätzlichen Hinweis darauf, dass „der Schweregrad einer Krankheit immer von vielen Umständen abhängen wird und seriös niemals prognostiziert werden kann.“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 195). Der „Nutzen“ bei Scharmann und Teutsch zielt ab auf eine „Verbesserung der Diagnose oder Therapie von Erkrankungen“, wie auch der „Entwicklung diagnostischer oder therapeutischer Möglichkeiten, um bisher nicht oder kaum beeinflussbare […] Erkrankungen behandeln zu können.“ Uta Mand lehnt sich in ihren Ausführungen im Jahre 1995 stark an das „Scoring-System“ von Porter an, wobei sie jedoch bei ihren Nutzen- Kriterien nicht den Schmerz, der bei einem individuellen Patienten gelindert werden soll, als oberste Priorität sieht, sondern ihr geht es um die Bedeutung zur Bekämpfung einer Erkrankung bei Mensch oder Tier, wobei das Kriterium der Abstufung in der Priorisierung die Frage nach der Häufigkeit der Erkrankung ist. Guter Nutzen zur Bekämpfung von Krankheiten bzw. zur <?page no="355"?> 6.1 Abschätzung der „Nutzen“-Seite 355 Erhaltung der Gesundheit/ Grundlagenforschung stehen bei Mand erst an mittlerer Stelle. Neu eingeführt wird bei Mand allerdings der Aspekt der Verbesserung der Lebensqualität. Unklaren Nutzen schließt sie von der Genehmigungsfähigkeit aus. Ein weit differenziertes Spektrum an Kriterien findet sich in dem Schweizer Internet-Programm von 2007. Hier wird auch nach der Gesundheit und Lebensqualität von Menschen und Tieren, für die der Tierversuch relevant ist, gefragt - bezüglich des Menschen untergliedert in einen medizinischen und einen nicht-medizinischen Bereich. 6.1.2.1.1 Häufigkeit und Größe des Patientenkollektivs Die Fragen im Bereich der medizinischen Anwendungen zielen beim Schweizer Katalog ab auf die Größe des Patientenkollektivs, für die der Nutzen von Bedeutung sein wird. Dies finden wir auch bei Mand, die diesen Gesichtspunkt über die Frage nach der Häufigkeit der Erkrankung abdeckt. Porter könnte man zugute halten, dass seine Frage nach „eindeutigem“ oder lediglich „gewissem“ Nutzen für die Gesundheit oder das Wohlergehen von Mensch und Tier auch auf die Größe des Patientenkollektivs bezogen sein könnte. De Cock Buning und Theune fragen in der Sparte der problemorientierten Forschung, wie schwerwiegend die Erkrankung ist und wie oft sie auftritt. Zudem wird hier zusätzlich danach gefragt, ob eine Hochrisikogruppe identifiziert werden kann, wie groß diese Gruppe ist und ob das Risiko vermeidbar ist. Der Schweizer Katalog benennt auch die Lebensqualität des Menschen, sowie die Bedeutung für die öffentliche Gesundheit. Letzteres bezieht sich auf die Zahl der Patienten. Scharmann führt das Kriterium des Nutzens für die Größe des Patientenkollektivs (in Prozent der Gesamtbevölkerung) im Falle einer „Patt-Situation“ ins Felde: Sofern die beiden Waagschalen gleich gewichtet wären, also „ein mittelmäßiger Nutzen einer mittelgradigen Belastung oder ein großer Nutzen einer schweren Belastung gegenüberstehen … könnte die Anzahl der nutznießenden Menschen bzw. die Anzahl der belasteten Tiere in die Entscheidung einbezogen werden.“ (Scharmann in Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Bei der stärkeren Bewertung der Forschung an Krankheiten, die eine große Anzahl an Patienten betrifft, wird jedoch außer Acht gelassen, dass es auch Erkrankungen gibt, die zwar selten sind - also wenige Patienten in Relation zur Gesamtbevölkerung betrifft - die jedoch durchaus außerordentlich schwerwiegend und sogar lebensbedrohlich für den einzelnen <?page no="356"?> 6 Diskussion 356 Patienten sein können. 294 Es geht um die sog. Orphan Diseases, seltene aber schwerwiegende Erkrankungen. Wird nun an solchen Erkrankungen weniger Forschung betrieben, da es nicht um ein ausreichend großes - und damit für die Pharmaindustrie auch finanziell lohnenswertes - Patientenkollektiv geht, so werden die wenigen von einer solchen Erkrankung betroffenen Patienten jedoch benachteiligt gegenüber Patienten, die an einer häufigeren Erkrankung leiden, bei der die Aussichten auf Therapie, Medikamente und schließlich Heilung durch ein mehr an Forschung schlichtweg größer sein können. Unter einer ethischen Betrachtung nach dem Gesichtspunkt des Gerechtigkeitsaspektes zwischen Patienten ist dieser Umstand der Benachteiligung nicht zu vertreten. 6.1.2.1.2 Auch veterinärmedizinische Ziele werden berücksichtigt Porter wie auch Mand betrachten die Nutzen-Aspekte gleichermaßen für Mensch und Tier, d.h. für Versuche aus dem veterinärmedizinischen Bereich können dieselben Fragen gestellt werden, wie für den Bereich in dem der Mensch Nutznießer ist. Auch de Cock Buning und Theune stellen ihre Fragen stets für Mensch oder Tier. Der Schweizer Katalog führt den Nutzen für Tiere in einem separaten Teil an. Die Fragestellungen sind jedoch in etwa mit denen des den Menschen betreffenden Bereichs identisch. 6.1.2.2 Wohlergehen, Lebensqualität Aspekte des Wohlergehens des Menschen werden bei Stafleu et al. in die Kategorie der ökonomischen Interessen mit eingeschlossen. Die Schweizer fragen im Abschnitt zu den nicht-medizinischen Anwendungen, wie stark sich die Resultate positiv auf die Umwelt und / oder die Lebensqualität des Menschen auswirken werden. Das Wohlergehen steht bei Porter auf den Plätzen 3 und 4, die allgemeine Lebensqualitätsverbesserung findet sich bei Mand auf dem letzten noch genehmigungsfähigen Rang. In der Sparte der „problemorientierten Forschung“ fragen de Cock Buning und Theune nach dem Beitrag zur Verbesserung von Gesundheit oder Ernährung von Mensch oder Tier. In der Sparte „Education“ wird nach der Wichtigkeit in Bezug auf die künftige Zukunft von Mensch oder Tier gefragt. 294 Beispielsweise die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), eine progressiv verlaufende degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems, die zur vollständigen Lähmung führen kann, was für den Patienten im fortgeschrittenen Stadium sogar eine künstliche Ernährung und Beatmung notwendig macht. <?page no="357"?> 6.1 Abschätzung der „Nutzen“-Seite 357 6.1.2.3 Die „3R“ Stafleu et al. fragen in der Kategorie „Relevanz“ danach, ob ein Replacement, ein Ersatz des Experiments, möglich ist - hier in Deutschland letztlich eine Frage der Genehmigungsvoraussetzung, denn wenn ein Ersatz möglich wäre, wäre kein Experiment genehmigungsfähig. 295 Bemerkenswert ist bei den Schweizern die Kategorie, die sich ausführlich mit den „3R“ beschäftigt, und abfragt, ob das Experiment zu einem der 3 R beitragen kann, oder ob es dagegen eher zu einer Erhöhung des Tierverbrauchs führen wird, da es weitere Tierexperimente nach sich ziehen wird. Interessant ist hier auch, dass der Antragsteller befragt wird, inwieweit er sich denn bereits mit der Thematik der „3R“ auseinander gesetzt hat. Dieser Punkt wird in der Kategorie „Verantwortungsbewusstsein“ abgefragt. Stafleu et al. stellen in der Kategorie „Credit rating of the research group“ die Frage, ob die Forschergruppe in der Forschung zu Alternativen zum Tierexperiment involviert ist, oder sich zumindest dafür interessiert. De Cock Buning und Theune fragen im Abschnitt C) Signifikanz des Tierexperiments im Bereich 1) Cp („problemorientierte Forschung“) im Unterpunkt „weiter gefasste soziale Bedeutung“ danach, ob das Vorhaben auf den Ersatz, die Reduktion oder Verfeinerung von Tierexperimenten gerichtet ist. In der Kategorie „Quality of animal experiments“ werden die Elemente der drei „R“ sodann noch ausführlich bearbeitet. 6.1.2.4 Auch ökonomisch motivierte Interessen müssen beurteilt werden Stafleu und seine Co-Autoren stellen 1999 ein System zur Diskussion, in dem nun neben Gesundheits- (medizinischen) Aspekten und Interessen des Wissenserwerbs (Grundlagenforschung) auch explizit ökonomisch motivierte Interessen in den Katalog der Kriterien mit aufgenommen werden. Damit stellen sich die Autoren freilich dem Bedarf, auch ökonomisch motivierte Forschungsvorhaben der kritischen Güterabwägung zuzuführen, denn diese Experimente gibt es ja zweifelsohne, sie werden beantragt und sie werden auch von den jeweiligen Genehmigungsinstanzen genehmigt. 295 § 7 Abs. 2 TierSchG alte Fassung: „Tierversuche dürfen nur durchgeführt werden, soweit sie zu einem der folgenden Zwecke unerlässlich sind: [...] Bei der Entscheidung, ob Tierversuche unerlässlich sind, ist insbesondere der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde zu legen und zu prüfen, ob der verfolgte Zweck nicht durch andere Methoden oder Verfahren erreicht werden kann.“ [Hervorhebung von N. A.]. Der § 7a Abs. 2 TierSchG neue Fassung lautet nun: „Bei der Entscheidung, ob ein Tierversuch unerlässlich ist, sowie bei der Durchführung von Tierversuchen sind folgende Grundsätze zu beachten: 1. Der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist zugrunde zu legen. 2. Es ist zu prüfen, ob der verfolgte Zweck nicht durch andere Methoden oder Verfahren erreicht werden kann. [...].”[Hervorhebung von N. A.]. <?page no="358"?> 6 Diskussion 358 Daher ist es nur naheliegend, auch für diesen nicht-medizinischen und nicht die Grundlagenforschung betreffenden Bereich Kriterien bereitzustellen, anhand derer sich der Antragsteller wie auch die beratende und die genehmigende Instanz so objektiv wie möglich der Güterabwägung stellen können. 6.1.2.5 Der Status der Grundlagenforschung bei den einzelnen Autoren Wie stehen nun die Autoren der hier untersuchten Kriterienkataloge zur Grundlagenforschung? Bezüglich der Frage des Stellenwertes der Grundlagenforschung sehe ich die Position von Porter kontrastierend zur Position von Gärtner: Porter stellt die Grundlagenforschung auf die unterste Sprosse seiner Hierarchie der Forschungsinteressen. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass bei ihm die Bekämpfung von Schmerz in der Rangfolge die oberste Priorität einnimmt. Der „Fundamental research for the advancement of knowledge” schreibt Porter daher auch präzisierend und in Klammern gesetzt „(no allevation of pain or benefit to human or animal health)“ zu. Hintergrund davon ist, dass Porter die moralische Vertretbarkeit des Zufügens von Schaden infrage stellt, es sei denn, das Ziel eines Experiments wäre ausdrücklich eine Reduktion von Schmerzen oder Leiden. Eine „‘curiosity-driven’ or fundamental research“ habe oft zu unerwarteten Entdeckungen geführt. „But given the fairly high probability that it will not do so, it is difficult to quantify the inflicting of suffering in such inquiry.” (Porter 1992, S. 102). De Cock Buning und Theune fragen in der Kategorie Grundlagenforschung nach der wissenschaftlichen Bedeutung, dem wissenschaftlichen Kontext, der Einschätzung der Erfolgsaussichten und der Einbettung des Experiments in das Forschungsprojekt. Dies sind aber Fragen der Qualität der Forschung. Scharmann und Teutsch erklären explizit, dess in ihrem Schema „Versuche aus dem Bereich der Grundlagenforschung nicht berücksichtigt worden [sind], da eine Vorabschätzung ihres praktischen Nutzens zumeist nicht möglich ist.“ (Scharmann und Teutsch 1994, S. 196). Mand rangiert die Grundlagenforschung auf Position 3 ihrer Hierarchie der Versuchszwecke. Stafleu et al. bewerten beim Wissenserwerb die Faktoren Hypothese, Originalität und problemorientierte Lösung. Eine „problemorientierte“ Lösung lässt sich jedoch nicht exakt in reine Grundlagenforschung einordnen, denn der problemorientierte Ansatz weist ja gerade in Richtung auf einen Anwendungsbezug. Der Schweizer Katalog fragt nach der Bedeutung des Erkenntnisgewinns, der etwaigen Publikation und der Wahrscheinlichkeit, mit der Versuchsanordnung die gestellte Frage beantworten zu können - letzeres wieder eine Frage nach der Qualität der Forschung. <?page no="359"?> 6.1 Abschätzung der „Nutzen“-Seite 359 6.1.2.5.1 Beschränkung der Leidenszufügung im Falle der Grundlagenforschung Porter identifiziert als höchstes Ziel die Linderung von Schmerzen und Leiden. Dann zieht er eine gewisse Grenze, die eine Forschung, die nicht gezielt dem von ihm als höchstem Ziel identifizierten Zweck dient, einschränkt. Porter bemerkt zwar, dass unerwartete wichtige Entdeckungen der Grundlagenforschung ihren Stellenwert hätten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass so eine unerwartete wichtige Erkenntnis generiert werde, sei derart ungewiss, dass er dafür keine gewichtigen Kosten auf Seiten der Versuchstiere für vertretbar hält: Die Gewichtung der Grundlagenforschung „therefore requires experiments to have low costs in the remaining categories, in keeping with the ideal“ (ebd.). Diese Ansicht wird auch von einer Reihe namhafter weiterer Autoren vertreten. So fordert z.B. Dieter Birnbacher: „Wie könnten vertretbare Praxisnormen für Tierversuche konkret aussehen? Ich würde für eine Abstufung der für diesen Bereich geltenden Praxisnormen plädieren: Für Tierversuche zum Zweck der Grundlagenforschung sollten strengere Praxisnormen gelten als für Tierversuche zu medizinischen Zwecken und zu Zwecken des Umweltschutzes und der Sicherheitsprüfung von Stoffen und Produkten. Denn in den letzteren Bereichen geht es in der Regel unmittelbarer und eindeutiger um menschliche Interessen (was nicht heißen soll, dass angewandte Forschung in jedem einzelnen Fall von größerer Bedeutung ist).“ (Birnbacher 2009, S. 121. Identisch im Wortlaut: 2000, S. 95). Nachdem Birnbacher die vierstufige Skala der Belastungseinstufung des US-amerikanischen Landwirtschaftsministeriums vorgestellt hat, erklärt er: „Mit Bezug auf diese Kategorien lautet mein Vorschlag: Bei Tierversuchen zur Grundlagenforschung sollten Versuche der Belastungskategorien 3 und 4 [Anm.: Das sind die höchsten Belastungsstufen], bei Tierversuchen für die Medizin, den Umweltschutz und die Stoffe- und Produkt-Püfung Versuche der Belastungskategorie 4 als unzulässig gelten.“ (Birnbacher 2009, S. 122, bzw. 2000, S. 95). 6.1.2.5.2 Unsicherheitsfaktoren des Nutzens: Zweifel an der Übertragbarkeit der Ergebnisse sowie entfernte Wahrscheinlichkleit des Nutzens. Besonders Problematisch bei Grundlagenforschung Dazu auch Christoph Maisack: „Je größer die Zweifel an der Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus dem Tierversuch auf den Menschen sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines medizinischen oder sonstigen sozialen Nutzens und desto weniger lassen sich mittelgradige oder gar schwere/ erhebliche Belastungen rechtfertigen.“ (Hirt/ Maisack/ Moritz 2007, S. 295, § 7 Rn. 57). Sowie: „Je entfernter die Wahrscheinlichkeit des <?page no="360"?> 6 Diskussion 360 Nutzens ist, desto weniger kann er als mittelmäßig oder gar groß eingestuft werden“ (ebd., S. 296, § 7 Rn. 58). Dies führt Maisack auf „besondere Probleme bei der Einordnung des Nutzens bzw. Schadens“ zurück: Der „Unsicherheitsfaktor beim Nutzen“. „Erschwert wird die Abwägung durch den Umstand, dass der tatsächlichen (sicheren) Belastung auf Seiten der Tiere ein nur möglicher Erkenntnisgewinn und ein nur möglicherweise daraus resultierender medizinischer oder sozialer Nutzen für den Menschen gegenübersteht. Dies muss man bei der Einordnung des Nutzens […] mitbedenken: Nicht nur Art und Ausmaß des Nutzens, der für menschliche Gesundheits- oder andere Interessen erwartet wird, sind hier wesentlich, sondern auch der Grad an Wahrscheinlichkeit, dass dieser Nutzen tatsächlich eintreten wird, und die Zeitspanne, innerhalb der damit gerechnet werden kann […].“ (ebd., S. 297, § 7 Rn. 60). In der Grundlagenforschung sei eine Vorabschätzung des praktischen Nutzens für Maisack „nur in Ausnahmefällen möglich“. Wenn die ethische Vertretbarkeit hier dennoch damit begründet werde, dass es darum gehe, die Heilungschancen für „schwere, bisher kaum therapierbare Krankheiten des Menschen“ zu verbessern, würden sich für die Einordnung des Nutzens folgende Fragen anbieten: 1. „Wie konkret lässt sich der Nutzen nach Art und Ausmaß bestimmen, der sich aus dem angestrebten Erkenntnisgewinn für die Therapierung der jeweiligen Krankheit ergeben soll? 2. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt dazu kommt? 3. Wie lange wird es bis zu dieser Nutzbarmachung dauern (fünf Jahre; zehn Jahre; nicht absehbar)? “ (ebd., S. 297, § 7 Rn. 61, tabellarische Anordnung von N. A.). Maisack betont, im Normalfall könne die Grundlagenforschung „nur in der Tendenz“ dazu beitragen, das Wissen über biologische und physiologische Vorgänge einschließlich Krankheiten zu vermehren und damit letztlich menschliches Leid zu lindern. Er folgert: „Ein solch vager Nutzen, dessen Eintreffen weder sicher noch wahrscheinlich vorhergesagt werden und der evtl. auch ganz ausbleiben kann, kann allenfalls Tierversuche mit keinem oder geringem Belastungsgrad rechtfertigen (also CH-Schweregrad 0 und 1), nicht dagegen auch Versuche, die mittelgradig oder gar schwer/ erheblich belastend sind […].“ (ebd.) <?page no="361"?> 6.1 Abschätzung der „Nutzen“-Seite 361 6.1.2.5.3 Ohnehin zweifelhafter Nutzen bei schweren Belastungen Bezüglich der qualifizierten Abwägung nach § 7 Abs. 3 Satz 2 TierSchG (alte Fassung, bzw. jetzt § 25 Abs. 1 TierSchVersV) 296 im Falle von „länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden“ erklärt Maisack: „In der biomedizinischen Grundlagenforschung besteht an der Beantwortung einer Fragestellung ein wesentliches Bedürfnis, wenn diese sich als Vorfrage zur ‘Beantwortung lebenswichtiger Fragen’ (so BT-Drucks. 10/ 3158 S. 23) darstellt. Auch hier muss es also um einen Weg zur Diagnose oder Therapie einer bislang nicht oder nur kaum beeinflussbaren, schweren Krankheit gehen. Von einer hervorragenden Bedeutung kann auch hier nur gesprochen werden, wenn sich von der erhofften Antwort mit hoher Wahrscheinlichkeit und in naher Zukunft ein bedeutender Fortschritt auf diesem Gebiet erwarten lässt. - IdR lassen sich bei der Grundlagenforschung solche Wahrscheinlichkeit nicht feststellen […]. Tierversuche, die mit erheblichen, anhaltenden Belastungen verbunden sind, sind deshalb auf diesem Gebiet grds. weder mit Abs. 3 S. 2 noch mit den mehrheitlichen Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen und mit Art. 20a GG vereinbar. Ein Nachteil für den wissenschaftlichen Fortschritt ist davon kaum zu befürchten, denn physiologische Zusammenhänge können ohnehin nur am möglichst unbelasteten Tier erfolgreich untersucht werden. Grundlagenforschung, die stattdessen mit schweren Belastungen einhergeht, ist deshalb von vornherein von zweifelhaftem Nutzen und erbringt keinen ‘großen Gewinn’ […].“ (Hirt/ Maisack/ Moritz, S. 300f., § 7 Rn. 68). Maisck folgert: „Für die nicht-medizinische, biologische Grundlagenforschung gilt damit erst recht, dass sie weder schwere noch mittelgradige Belastungen zu rechtfertigen vermag; allenfalls geringe, kurzfristige Belastungen können hier ethisch vertretbar sein.“ (ebd.). So erkläre auch Heldmaier: „Es besteht ein Konsens, dass für den reinen Erkenntnisgewinn nur Tierversuche durchgeführt werden, bei denen Tiere nicht leiden oder nach Möglichkeit nur kurzfristig belastet werden“ (Heldmaier in Evangel. Aka- 296 § 7 Abs. 3 Satz 2 TierSchG alte Fassung: „Versuche an Wirbeltieren, die zu länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“ (Anm.: Dieser Passus wurde um Kopffüßer erweitert und befindet sich jetzt ansonsten nahezu wortgleich in § 25 Abs. 1 TierSchVersV: „Tierversuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern, die bei den verwendeten Tieren zu voraussichtlich länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“) <?page no="362"?> 6 Diskussion 362 demie Bad Boll 2001, S. 218, zit. nach Hirt/ Maisack/ Moritz, S. 301, § 7 Rn. 68). 6.1.3 Qualität der Versuchsdurchführung und Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung In der Kategorie „Relevanz“ wird bei Stafleu et al. nach der Qualität der Versuchsdurchführung und der Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung gefragt. Letzteres, also die Frage danach, inwieweit mit der Versuchsanordnung die zu beantwortende Fragestellung überhaupt erreicht werden kann, wird auch bei den Schweizern wie auch bei Porter abgefragt. Indirekt prüft auch Mand diese Fragestellung ab, mit ihrer Frage nach der Übertragbarkeit des Versuchs auf den Menschen - bzw. der Übertragbarkeit auf kranke Tiere im Bereich der Veterinärmedizin. Wie schnell mit einer Nutzbarmachung des Versuchsergebnisses gerechnet werden kann wird nur von Scharmann und Teutsch abgefragt. Lediglich der Schweizer Katalog fragt ab, wie wahrscheinlich es ist, dass der Versuch zu einer sinnvollen Anwendung führt (dies wird im Bereich der medizinischen und nicht-medizinischen Anwendungen für den Menschen, wie auch für den Bereich des Wohlergehens der Tiere - und den Bereich der „3R“ - in gleicher Weise abgefragt). Wie die Chance des Erfolges eingeschätzt wird und ob das Tiermodell übertragbar ist, wird bei de Cock Buning und Theune lediglich in dem Abschnitt „problemorientierte Forschung“ abgefragt. Beides wird zum einen für „medizinische oder tiermedizinische Bedeutung“ oder in der alternativen Kategorie „weiter gefasste gesellschaftliche Bedeutung“ abgefragt. Ersteres (die Chance des Erfolges) wird auch im Bereich der Grundlagenforschung abgefragt. Für die Sparte „Routineforschung“ fragen de Cock Buning und Theune nach der Bedeutung des Produkts (in Bezug auf die Gesundheit oder die Ernährung von Mensch oder Tier). 6.1.4 Die Publikation der Ergebnisse und das „Credit Rating“ der Forschergruppe Es sind die schweizer Autoren, die abfragen, wo das Ergebnis des Versuchs publiziert werden wird. Dieses kann wiederum als Gradmaß für die Relevanz des Experiments gewertet werden. Stafleu et al. benennen das Kriterium des „Credit rating of the research group” in der Kategorie „Relevanz”. Damit ist möglicherweise ebenfalls das „Ranking“ der Veröffentlichung gemeint, ein Punkt freilich, der innerhalb der Wissenschaftscommunity einen nicht zu unterschätzenden Gesichtspunkt darstellt. 297 Das Karrierestreben der Wissen- 297 Ein berufliches Fortkommen, besonders im Bereich der Hochschulforschung, ist eng mit der Anzahl und dem „Ranking“ der Veröffentlichungen korreliert, die ein Wissenschaftler vorweisen kann. Das Ranking umfasst quasi die „Wertigkeit“ einer <?page no="363"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 363 schaftler wird neben dem altruistischen und moralisch hochstehenden Bestreben, der Menschheit mit einem Zugewinn an Wissen dienlich sein zu wollen, immer auch ein Motivations-Faktor sein, ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen. Der „Credibility of the group/ researcher“ widmen de Cock Buning und Theune eine eigene Kategorie. Schwerpunkte liegen bei der Frage, wie erfahren die Gruppe in der Thematik und wie erfahren Sie in der experimentellen Technik ist. Hier wird auch die Frage gestellt, ob die Gruppe selbst Alternativen entwickelt oder an Forschung zur Validierung teilnimmt. Zudem wird gefragt, ob die Gruppe ausreichend Möglichkeiten hat bzw. sich ausreichend Möglichkeiten verschafft, nach Alternativen zu sehen. 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 6.2.1 Die Belastung der Versuchstiere Das Kriterium der Belastung der Tiere ist in der Güterabwägung auf der ‘Waagschalen-Seite’ der Versuchstiere das wichtigste Kriterium. Die Kriterienkataloge zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit verlangen eine prospektive Belastungseinschätzung, denn zum Zeitpunkt der Antragstellung und Prüfung eines Antrags in einer Kommission und Behörde hat das Experiment ja noch nicht begonnen. Die Angabe einer prospektiven Belastungseinschätzung wird auch im Versuchsantrag in Deutschland verlangt: In der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (AVV) sind in Anlage 1 zu Nummer 6.1.1 die erforderlichen Angaben für den Antrag auf Genehmigung eines Versuchsvorhabens nach § 8 Abs. 1 TierSchG benannt (Anm.: Die AVV benennt hier noch unverändert die Paragraphen der alten Fassung des TierSchG). Unter Punkt 1 „Angaben zum Versuchsvorhaben“ wird neben der Angabe des Zwecks des Versuchsvorhabens und der Darlegung der Unerlässlichkeit und Alternativlosigkeit im Unterpunkt 1.6 die „Beschreibung der beabsichtigten Tierversuche einschließlich der Betäubung (§ 8 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit § 8a Abs. 2 Nr. 3)“ verlangt. Hierbei sind unter 1.6.5 die „Belastungen (Intensität und Dauer von Schmerzen oder Leiden) denen die Tiere voraussichtlich ausgesetzt, und Schäden, die ihnen voraussichtlich zugefügt werden“ anzugeben und gem. Punkt 1.6.7 „zusätzlich in einer dem Genehmigungsantrag beizufügenden Tabelle […] zu vermerken“. (vgl. Publikation, die mit einer Zahl, dem sog. „Impact-Faktor“ festgemacht wird. Wissenschaftliche Zeitschriften werden heutzutage in Listen „gerankt“, d.h. die Journals sind dort in der Reihenfolge ihres „Impact-Faktors“ angeordnet und ein Wissenschaftler ist freilich bestrebt, so „hoch wie möglich“ zu publizieren, d.h. seine Veröffentlichung in einer Zeitschrift unterzubringen, die einen möglichst hohen Impact- Faktor aufweist. <?page no="364"?> 6 Diskussion 364 der vorliegenden Arbeit: „Ausschnitt aus der AVV“). 298 In der Tabelle wird die „erwartete Belastung (Nummer 1.6.5.)“ in vier unterschiedliche Grade eingestuft: „keine“, „geringe“, „mäßige“, „erhebliche“. Es findet auch eine Einstufung der Dauer der Belastung statt (vgl. Kapitel 6.2.1.1.3). Die prospektive Belastungseinschätzung ist jedoch mit Unsicherheiten behaftet, die ich im nachfolgenden Kapitel diskutieren möchte. Für besonders wichtig halte ich die zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführte Ermittlung der aktuellen, tatsächlichen Belastung der Versuchstiere, wenn diese im aktuellen Experiment stehen, nachdem der Versuchsantrag bereits genehmigt wurde. Auch hier gibt es spezifische Schwierigkeiten und entsprechende Diskussionspunkte, auf die ich anschließend an die Diskussion der prospektiven Belastungseinschätzung zu sprechen komme. Die tatsächliche, aktuelle Belastung der Tiere muss meines Erachtens Allem voran alleine schon aus folgendem prinzipiellen Grund festgestellt werden: Jeder verantwortungsbewusste Experimentator und Tierpfleger soll und muss über die reale, tatsächliche Belastung ‘seiner’ Versuchstiere unmittelbar, möglichst jederzeit und umfassend bescheid wissen. Dies gewährleistet, dass entsprechende Belastungs-mildernde Maßnahmen unmittelbar eingeleitet werden können (z.B. Schmerzlinderung, Narkose, Nachbehandlung, ggf. Herausnehmen aus dem Experiment, Einhaltung der zuvor festgelegten Humane Endpoints durch Euthanasie der Versuchstiere). Eine Durchführung eines Tierexperiments, ohne dass die zuständigen und verantwortlichen Personen Kenntnis des Zustands der Tiere haben, kann niemals ethisch vertretbar sein und wird sicherlich auch von keiner der beteiligten Personengruppen toleriert werden. So etwas wäre prinzipiell abzulehnen, schon bereits deshalb, weil ein solches Vorgehen in meinen Augen gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis verstoßen würde. Die tatsächliche (aktuelle oder auch „retrospektive“) Belastung der Tiere sollte m.E. aber auch im Genehmigungsprozess miterfasst werden und zwar aus folgenden Gründen: 1) Zum einen ist sie wichtig für die Fortführung des Experiments, welches an die vom Antragsteller im genehmigten Versuchsantrag veranschlagte Belastungseinstufung gebunden ist. Denn die mit der Genehmigung des Versuchsantrags durch die zuständige Behörde 298 Diese Tabelle konnte beispielsweise als „Belastungstabelle“ heruntergeladen werden von der Tierversuche-download-Seite des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGESO), Berlin unter der Adresse: <http: / / www.berlin.de/ imperia/ md/ content/ lageso/ gesundheit/ veterinaerwesen/ belastungstabelle.pdf? start&ts=1248946901& file=belastungstabelle.pdf> (abgerufen am 22.06.2010; Dokument mittlerweile nicht mehr verfügbar, Stand 22.12.2015). <?page no="365"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 365 attestierte ethische Vertretbarkeit gem. § 7 Abs. 3 TierSchG (alte Fassung bzw. § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung), bezieht sich eben genau auf die im Antrag angegebene Schweregradeinstufung der voraussichtlichen Belastungen (Schmerzen, Leiden und Schäden). Die genehmigende Behörde erteilt eine Genehmigung prinzipiell auf Widerruf Die Behörde behält es sich vor, eine Genehmigung jederzeit zu widerrufen, sofern Tatsachen vorliegen, die dazu führen, dass etwa die Prüfung der ethischen Vertretbarkeit erneut durchgeführt werden muss, weil etwa die tatsächliche Belastung der Versuchstiere höher ist, als die der Genehmigung zu Grunde liegende Belastungs-Einstufung. 299 Denn hinsichtlich der zu erwartenden Schmerzen und Leiden kann sich bei der Durchführung des Versuchs eine Diskrepanz herausstellen (Herrmann et al. 2009, S. 151). Mit Bezugnahme auf Leondarakis (2001, S. 55) erklären Herrmann et al., es sei zu bedenken, „dass Schmerzen und Leiden als negativ physisch-psychische Empfindung nur vom betroffenen Subjekt direkt wahrnehmbar sind, weshalb keine Gewissheit sondern immer nur eine Wahrscheinlichkeit hinsichtlich Art und Weise und Intensität der Belastung besteht.“ (Herrmann et al. 2009, S. 151). Sind die Schmerzen oder Leiden für die betroffenen Tiere während der Versuchsdurchführung anders zu bewerten, als es noch im Genehmigungsverfahren der Fall gewesen sei, „verschiebt sich die ethische Vertretbarkeit des Tierversuchs.“ (ebd.): „Ist eine Angemessenheit zwischen Nutzen und Belastung bei der Genehmigung des Versuchs angenommen worden, stellt sich nun aber bei der Versuchsdurchführung heraus, dass z.B. die Belastung unverhältnismäßig schwerer ist, fällt in der Regel die ethische Vertretbarkeit weg. Damit liegt ein sekundär nicht genehmigungsfähiger Versuch vor, so das ein Abbruch erforderlich sein kann.“ (ebd.). Ein Widerruf der Versuchsgenehmigung kann erfolgen, wenn sich die zuständige Behörde bereits in der Genehmigung den Widerruf vorbehalten hat (gem. § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVfG), oder sofern sie aufgrund nachträglich eingetroffener Tatsachen berechtigt wäre, die Genehmigung nicht zu erlassen und ohne Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet wäre (§ 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG) (Herrmann et al. 2009, S. 152). Es hat eine erneute Prüfung zu erfolgen. Neben einem Abbruch des 299 Persönl. Mitteilung Kathrin Herrmann, Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo), Berlin, Juni 2010. . <?page no="366"?> 6 Diskussion 366 Versuchs, um die Belastung des Tieres zu verringern oder zu beenden, kann in gewissen Fällen bei Nichtgefährdung des Versuchszwecks auch die Narkotisierung bis zum Tod oder das Verabreichen wirkungsvoller Schmerzmittel angezeigt sein (ausführlich dazu: Herrmann et al. 2009, S. 152). 2) Zum anderen ist die retrospektive Belastungsermittlung für spätere Versuchsanträge von Relevanz: Das überprüfende Gremium kann anhand des Vergleichs der prospektiven Einschätzung der Belastungen durch den Antragsteller mit der Belastungsermittlung der tatsächlichen, realen Belastung der Versuchstiere die Zuverlässigkeit der Angaben des Antragstellers einschätzen. 3) Und sie ist letztlich von Relevanz zur Überprüfung der Angaben der Kataloge zur prospektiven Schweregradeinstufung, die ja auf Erfahrungswerten basieren und dabei einzelnen Eingriffen und Behandlungen gewisse Schweregrade der Belastung zuordne . Aufgrund stetig neuer Methoden, Anästhetika, Analgetika etc. ist es möglich, dass ein Eingriff, der heute als stark belastend eingestuft wurde, morgen bereits als mittelmäßig belastend eingestuft wird. Auch in umgekehrter Richtung ist es möglich, dass der Schweregrad der Belastung eines Eingriffs oder einer Maßnahme real höher ist, als das bisweilen angenommen wurde, wenn nämlich weitere oder auch neue Messmethoden/ -techniken über die tatsächliche Belastung der Tiere neue Einblicke zulassen und damit neue Aufschlüsse geben. Ein solches Beispiel werde ich in Kapitel 6.2.1.2.1 diskutieren. 6.2.1.1 Die prospektive Belastungseinschätzung 6.2.1.1.1 Umfang der Belastungsbeurteilung Fokussierung der Belastungsbeurteilung ausschließlich auf das Experiment ist nicht ausreichend: Eine Gesamtbelastungsbilanz ist erforderlich Die Belastung von Versuchstieren ist nicht nur abhängig von der Art der Eingriffe bzw. von den betroffenen Körperregionen, sondern sie wird „von einer Vielzahl weiterer Variablen beeinflusst“ (Binder 2009, S. 249 mit Verweis auf Laboratory Animal Science Association 1993, S. 24ff.). Diese sind beispielsweise das allgemeine Lebensumfeld des Tieres, die Vorbereitung auf die Versuchsbedingungen, die Sachkunde des Umgangs des Experimentators und des Pflegepersonals mit den Tieren (ebd., S. 249f.). Versuchstiere werden jedoch nicht nur während des Versuchs, sondern bereits im Vorfeld „verschiedensten Belastungsfaktoren ausgesetzt […], die in kausalem Zusammenhang mit ihrer Versuchstiereigenschaft stehen“, hier- <?page no="367"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 367 zu gehören beispielsweise der Transport, die Haltungsbedingungen, Kennzeichnungen bzw. Genotypisierung etc. Regina Binder erklärt, eine ausschließlich auf die experimentelle Verwendung von Versuchstieren fokussierte Belastungsbeurteilung „wird der tatsächlichen Belastung der Versuchstiere nicht gerecht.“ (Binder 2009, S. 254f.). Binder betont, dass die „in der Versuchstierhaltung üblichen restriktiven Haltungsbedingungen während der Regelunterbringung einen nicht unerheblichen Belastungsfaktor für die Tiere darstellen“. Dies finde jedoch lediglich in zwei der in ihrem Vergleich einbezogenen Schweregradskalen Berücksichtigung (der Katalog der zentralen Tierversuchsanlage Ulm und des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums USDA: Dort werden die mit der Haltung verbundenen Belastungen jeweils dem Schweregrad 1 zugeordnet). Neben der experimentellen Belastung seien Transport und die physikalischen Faktoren der Makro- und Mikroumwelt zusätzliche Belastungsfaktoren (Gesellschaft für Versuchstierkunde GV-SOLAS, 1995, S. 13ff.). Der britische APC-Report benenne darüber hinaus auch die zuchtbedingten Belastungen (Animal Procedure Commettee 2003, S. 40). Die vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Auftrag gegebene Studie von Salomon und Kollegen komme zum Ergebnis, es wäre ein Modell zur Erfassung der Lebensbelastung der Versuchstiere erforderlich (Salomon et al. 2001b). So kommt auch Binder zu dem Fazit, dass die Beurteilung der Belastung nur dann aussagekräftig wäre, „wenn eine die gesamte Lebensspanne des Versuchstieres umfassende ‘Gesamtbelastungsbilanz’ erstellt wird.“ (Binder 2009, S. 250). Den Punkt der Erfassung der Lebensbilanz greife ich später im Kapitel 6. .3 erneut auf. Spezifische Probleme bei transgenen Versuchstieren Auch Binder weist darauf hin, dass das komplexe Unterfangen der prospektiven Belastungseinschätzung ‘konventioneller’ Versuchstiere bei transgenen Tieren noch auf weitere spezifische Probleme stößt, dadurch dass Belastungen durch die Transgenität typischerweise nicht vorhersehbar wären und zudem in jedem Lebensstadium und auch in den Folgegenerationen auftreten könnten. Thomas Pyczak betont bezüglich der Regelungen der neuen EU-Tierversuchsrichtlinie: „Die Verpflichtung, neue Zuchtlinien auf besondere Belastungen zu untersuchen, ist ein zentrales Argument dafür, Eingriffe zur Erzeugung neuer, genetisch veränderter Linien bis einschließlich der Generation F2 der Genehmigungspflicht zu unterstellen. Bei der Erstellung einer neuen Linie durch einen Eingriff in das Genom oder durch (nicht genehmigungspflichtige) Zucht sollte eine Bewertung vorgenommen und in einem Datenblatt dokumentiert werden [...]. Dabei sind auch typische Beeinträchtigungen, <?page no="368"?> 6 Diskussion 368 die sich im Laufe des Lebens erst entwickeln, anzugeben und ggf. Vorschläge für ein Höchstlebensalter, das ohne triftigen Grund nicht überschritten werden sollte, festzulegen. Das Datenblatt ist insbesondere auch bei der Haltung und Pflege der Tiere zu beachten. In der Schweiz existiert ein vergleichbares Verfahren [...].“ (Pyczak 2009, S.352). Pyczak erklärt, „die retrospektive (besser: ‘begleitende’) Erhebung der Tierbelastung kann dem Versuchsdurchführenden und den lokal für die Beratung und Überwachung zuständigen Personen wichtige Informationen liefern“ (ebd.) und verweist auf das „Datenblatt zur Erfassung und Charakterisierung gentechnisch veränderter Tierlinien“ des schweizerischen Bundesamtes für Veterinärwesen (Bundesamt für Veterinärwesen 2004). 300 Pyczak legt als Anlage zu seinem Aufsatz auch selbst ein „Beispiel für ein Datenblatt zur näheren Charakterisierung potenziell belasteter Tierlinien“ vor (Pyczak 2009, S. 353f.). Binder weist zudem darauf hin, dass die Nachkommen transgener Tiere als „forgotten parts of animal experimentation“ (Ferrari 2006, S. 297) nicht in den Tierversuchstatistiken erfasst werden. Auch diese ‘Nachfolgegenerationen’ können belastet sein. Salomon et al. (2001b) fordern sodann, dass bei der Erfassung der Lebensbelastung der Versuchstiere im Hinblick auf transgene Versuchstiere auch die Belastung künftiger Generationen berücksichtigt werden sollte. Da der Großteil der transgenen Tiere nicht dem gewünschten genetischen Anforderungsprofil entspreche, würde bereits im Vorfeld der biomedizinischen Forschung eine „überschaubare Zahl von Individuen als waste animals getötet, was weder als Belastung der Tiere noch als Kostenfaktor von Wissenschaft und Forschung zu Buche schlägt.“ (Binder 2009, S. 251). In einer Gesamtbilanz sollten diese „waste animals“ nicht unberücksichtigt bleiben. 6.2.1.1.2 Methodische Kritik an den „Belastungskatalogen“ zur prospektiven Schweregradeinstufung Unterschiedliche Konzepte von Einteilungen in Schweregrade Mit Verweis auf Béatrice Moyal (1999, S. 236) erklärt Binder: „Schweregradskalen mit nur drei Belastungsstufen haben sich in der Praxis als zu ungenau erwiesen“ (Binder 2009, S. 253). So wurde in Großbritannien fest- 300 Das Datenblatt (BVET-Information ks/ ho-800.116-4.05) war abrufbar auf der Seite „Tierversuchs-Formulare“ des schweizerischen Bundesamtes für Veterinärwesen (BVET): <http: / / www.bvet.admin.ch/ themen/ tierschutz/ 00777/ 00779/ index.html? lang=de> bzw. unter dem Abschnitt „Datenblatt transgene Tiere“ (abgerufen am 23.06.2010) Nun findet sich dort das „Datenblatt für gentechnisch veränderte Linien oder belastete Mutanten“ sowie das „Datenblatt für gentechnisch veränderte Linien GVT“, abgrufen am 16.12.2015). <?page no="369"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 369 gestellt, dass Versuche nur sehr zögerlich dem höchsten Belastungsgrad zugeordnet werden, während die mittlere Belastungsstufe besonders häufig herangezogen werde, sodass diese praktisch zwei Subkategorien und zwar mäßige Belastungen mit niedrigem und hohem Niveau, aufweist. Dem hingegen zeige die nähere Betrachtung der fünf- und sechsstelligen Skalen, dass die Unterscheidungskriterien zwischen vierten und fünften bzw. fünften und sechsten Belastungsgrad in den meisten Fällen nicht hinreichend deutlich wären (Binder 2009, S. 254f.). Binder kommt zu dem Ergebnis: „Ein Belastungskatalog mit vier Schweregraden scheint den Erfordernissen der Plausibilität und den Anforderungen der Praxis daher am besten zu entsprechen.“ (ebd.). Eindimensionale Skalen zur Belastungseinschätzung nicht ausreichend Binder ist der Ansicht, dass eindimensionale Skalen „der tatsächlichen Belastung von Versuchstieren [...] nur dann gerecht werden, wenn durch Zusatzannahmen sichergestellt wird, dass Faktoren, die die Belastung im konkreten Einzelfall erhöhen (oder auch verringern) können, angemessen berücksichtigt werden.“ (Binder 2009, S. 254f.). Rechnerische Verfahren bzw. Punktesysteme (wie das von mir zuvor vorgestellte Belastungsmaß des Battelle-Instituts, s. Kapitel 3.4) zur Beurteilung des Schweregrades „können zwar individuelle Umstände des Einzelfalls relativ genau abbilden, doch erweisen sich solche Bewertungssysteme als zu komplex und konnten sich - soweit ersichtlich - in der Praxis nicht durchsetzen.“ (Binder 2009, S. 255). Somit fordert Binder, ein Verfahren zur Beurteilung des Schweregrades zu etablieren, welches die verschiedenartigen Belastungen der Versuchstiere angemessen erfasse, gleichzeitig aber auch den Anforderungen der Praxis gerecht werde (ebd.). Leider begründet Binder ihre Aussage nicht, dass rechnerische Verfahren bzw. Punktesysteme sich nicht hätten durchsetzen können. Sie weist aber auf eine gewisse Unsicherheit dieser Aussage mit dem Einschub „- soweit ersichtlich -“ hin. Dass ein Verfahren nicht häufig in der Praxis angewendet wird, muss m.E. nicht daran liegen, dass es zu komplex und damit unpraktisch wäre, möglicherweise spielen andere Gründe auch eine Rolle, zum Beispiel der Bekanntheitsgrad. Ich wäre zurückhaltend zu erklären, dass ein Verfahren nicht angewendet wird bzw. sich nicht durchsetzen konnte, da hierüber meiner Kenntnis nach keine aussagekräftige statistische Untersuchung vorliegt. Man muss dazu auch sehen, dass sich in der Bundesrepublik letztlich eigentlich gar kein Verfahren durchsetzen konnte, wenn man bedenkt, dass bislang 2 Jahrzehnte nachdem die ersten Belastungserfassungskataloge <?page no="370"?> 6 Diskussion 370 publiziert wurden 301 - immer noch kein bestimmter Katalog (Bundesweit einheitlich) vorgeschrieben war, weder im TierSchG, noch in der AVV. Es wird dort nicht einmal die Verwendung eines solchen Katalogs empfohlen. Das ist schon ein wirkliches Manko. Dieses Defizit entschärft sich dadurch, dass die in der EU-Richtlinie vorgesehene Schweregradeinstufung in nationales Recht umgesetzt werden musste und nun gem. § 8 Abs. 4 TierSchG neuer Fassung das Bundesministerium ermächtigt wird vorzusehen, dass „Tierversuche einer Einstufung hinsichtlich ihres Schweregrads nach Artikel 15 Absatz 1 der Richtlinie 2010/ 63/ EU [...] unterzogen werden [...]“. Artikel 15 der Richtlinie verlangt, dass alle Verfahren im Einzelfall unter Verwendung der in Anhang VIII der Richtlinie aufgeführten Zuordnungskriterien als „keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“, „gering“, „mittel“ oder „schwer“ eingestuft werden. Kritiker bemängelten bereits, dass die im Anhang VIII Abschnitt III dargebotenen „Beispiele für verschiedene Arten von Verfahren, die auf der Grundlage von mit der Art des Verfahrens zusammenhängenden Faktoren den einzelnen Kategorien der Schweregrade zugeordnet werden“ eher grob ausfallen und nicht in jedem Falle eine Orientierung bieten können. (Vgl. hierzu auch Kapitel 3.4.5). Mir scheint das Vorgehen des Battelle-Instituts zur Belastungsbestimmung jedenfalls plausibel zu sein: Die in der Formel zum Ermitteln des Belastungsmaßes verwendeten Belastungsparameter (Belastungsgrad, Belastungsdauer, Belastungshäufigkeit, Narkose) müssen ohnehin erhoben und auch im Versuchsantrag schriftlich festgehalten werden. Warum also nicht diese Werte kurzerhand in eine Excel-Tabelle eingeben, in der die Formel 302 bereits hinterlegt ist, um in Sekundenbruchteilen das Ergebnis vom Computer ausrechnen zu lassen? Ich sehe kein triftiges Argument, warum ein Versuchsleiter das Belastungsmaß nach dieser Vorgehensweise nicht ermitteln könnte. Probleme mit dem Faktor ‘Zeit’ durch Unterschätzung kurzfristiger Belastungen Das Konzept, auch dem Faktor Zeit eine entscheidende Bedeutung für die Einschätzung der Belastung zuzuordnen, wie z.B. im Schweizer Belas tungskatalog , erscheint Binder „aus menschlicher Perspektive zwar plausibel, doch gilt es zu hinterfragen, ob es dem tierlichen Empfinden Rechnung trägt.“ (Binder 2009, S. 250). Tiere wären nach allgemeinem Verständnis „gänzlich im ‘Hier und Jetzt’ verhaftet und zur Sinnstiftung unfähig“, 301 Beispielsweise der vielzitierte und -beachtete Aufsatz von Morton und Griffiths (1985): „Guidelines on the recognition of pain, distress and discomfort in experimental animals and an hypothesis for assessment“. 302 Belastungsmaß = (2 x Belastungsgrad + 0,5 x Belastungsdauer) x Narkose x (0,5 x Belastungshäufigkeit) ‘ ‘ <?page no="371"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 371 weshalb davon ausgegangen werden müsse, dass sie nicht in der Lage sind, das Ende belastender Situationen abzusehen. Binder schließt daraus, „dass kurzfristige Belastungen im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf (Versuchs)Tiere vielfach unterschätzt werden.“ (ebd.). Die Dauer der Belastung: Kritikpunkte bei der Einteilung in Zeitspannen Abgesehen von dem berechtigten Einwand von Binder bzgl. der etwaigen Unterbewertung lediglich kurzfristiger Belastungen (s. oben), ist es sinnvoll, bei der Einstufung des Schweregrades der Belastung, die beispielsweise im Schweizer Tierschutzgesetz gem. den Vorgaben des Papiers 1.04 (sog. „Schweizer Belastungskatalog“, Bundesamt für Veterinärwesen 1995) durchzuführen ist, zur Eingruppierung in die jeweilige Belastungsstufe sowohl das Kriterium Schmerz-Intensität als auch das Kriterium Zeitdauer des schmerzvollen Zustandes zu Grunde zu legen. Uta Mand kritisiert die Einteilung fester Zeitspannen bei Gärtner (1987), da ihr diese nicht praktikabel erscheint. Gärtner macht folgende Angaben (Gärtner 1987, S. 101, Tab. 2: „Klassifizierung der Dauer und Schwere experimentell erzeugter Krankheitszustände [...]“): 1-7 Tage (kurzfristig) 8-25 Tage (mittelfristig) und > 40 Tage (länger anhaltende Schmerzen, Leiden, Schäden). Gärtner bezieht sich dabei allerdings auf eine von ihm durchgeführte Versuchsserie „zur experimentellen Polyarthritis der Ratte“ und somit beziehen sich die Angaben in seiner Tab. 2 auf die „Schwere von Schmerz und Leiden bei Versuchen an erwachsenen Ratten“ (Erklärung bei Gärtner s. S. 100). Mand erklärt: „Die Einteilung der Zeitspanne ist meiner Meinung nach nicht praktikabel. Man denke z. B. an die Schmerzen schwerster Verbrennungen, die bei siebentägiger Dauer sicherlich nicht mit kurzfristig zu bezeichnen sind. Es ist wohl nicht möglich eine allgemein verbindliche Einteilung in solche Zeitspannen vorzunehmen. Je nach Schweregrad der Schmerzen und Leiden variiert auch die subjektiv unterschiedlich lang empfundene Zeitspanne der Versuche.“ (Mand 1995, S. 230). Ihrer Ansicht nach müssten beide Faktoren immer zusammen betrachtet werden, denn ein geringer oder mittelgradiger Schmerzzustand kann, wenn er über einen längeren Zeitraum anhält, genauso belastend für das Tier sein, als ein kurz andauernder mittelstarker oder starker Schmerz. Insofern ist die Kombination beider Parameter - Intensität und Dauer - wichtig und sinnvoll. Umso erstaunlicher ist es, dass im ‘Schweizer Belastungskatalog‘ jedoch keine Definitionen der jeweiligen Zeitspannen angegeben sind. Auch in den erklärenden Texten zum Tierschutzgesetz bzw. Tierversuchsantrag ermangelt es einer solchen Definition. Nun kann aber doch Versuchsleiter A unter einem Schmerzzustand mittlerer Zeitdauer etwas völlig anderes verste- <?page no="372"?> 6 Diskussion 372 hen als Versuchleiter B, der seine Tiere Schmerzen über Wochen aussetzt und für den daher eine mittlere Zeitdauer u.U. einige Tage anhalten kann. Hier sehe ich also dringend einen Klärung- und Definitionsbedarf. 6.2.1.1.3 Verwendung der Zeitspannen in den untersuchten Kriterienkatalogen zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit Im „holländischen Modell“ von de Cock Buning und Theune wird die „duration of the discomfort in days“ in folgende Kategorien unterteilt: 1-7 Tage; 8-30 Tage, > 30 Tage (de Cock Buning und Theune 1994, S. 123). Porter (1992) macht keine Angabe zu seiner Einteilung in die 5 verschiedenen Zeitspannen. 303 Stafleu et al. (1999, S. 301) machen folgende Angaben: 0 Punkte für ein einmaliges Ereignis od. eine kurze Zeitdauer; 1 Punkt für eine mittelmäßige Zeitspanne: „one to few hours“ od. für wiederholte Maßnahmen; 2 Punkte für langandauernde Zeitspannen: „more than 3 h“ od. sehr häufige Maßnahmen. Mand gibt folgende Zeitspannen an: Kurz*/ selten * kurz <= 5 min. < mittel <= _h < lang Kurz/ häufig; mittel/ selten selten >= alle 6 h Mittel/ häufig häufig < alle 6 h Lang/ selten Lang/ häufig kurz <= 5 min ; mit „ _h“ meint sie wohl eine bis mehrere Stunden. Scharmann und Teutsch (1994, S. 195) untergliedern folgendermaßen: 1. kurzfristig: 1. weniger als 10 Minuten oder 2. weniger als 1 Stunde; 2. mittelfristig: 1. weniger als 1 Tag oder 2. weniger als 1 Woche; 3. langfristig: 1. mehr als 1 Woche, 2. mehr als 1 Monat. 303 Porter unterscheidet: Keine oder sehr kurz („None or very short“); Kurz („Short“); Mäßig („Moderate“); Lange („Long“); Sehr lange („Very long“). . <?page no="373"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 373 Das TVT-Merkblatt Nr. 50 (S. 4) enthält dieselben Angaben für die Dauer der Belastung. Maisack (2007) gibt keine expliziten Zeitspannen an, verweist aber wiederholt auf Scharmann und Teutsch 1994 und auf das benannte TVT-Merkblatt. Vorgabe von Zeitspannen in der AVV Die AVV verlangt in Anlage 1 (zu Nummer 6.1.1) in den „Erforderliche(n) Angaben für den Antrag auf Genehmigung eines Versuchsvorhabens nach § 8 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes“ unter dem Punkt 1.6 „Beschreibung der beabsichtigten Tierversuche einschließlich der Betäubung (§ 8 Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit § 8a Abs. 2 Nr. 3)“ in Ziffer 1.6.5 „Belastungen (Intensität und Dauer von Schmerzen oder Leiden) denen die Tiere voraussichtlich ausgesetzt, und Schäden, die ihnen voraussichtlich zugefügt werden“ eine Angabe der Zeitdauer der Belastung; diese ist „[...] zusätzlich in einer dem Genehmigungsantrag beizufügenden Tabelle nach dem Muster des Anhangs zu dieser Anlage zu vermerken“ (Ziffer1.6.7). In der besagten Tabelle findet sich eine Einteilung der „Dauer“ der „erwartete(n) Belastung (Nummer 1.6.5)“ in folgende Zeitspannen: < 1 Tag; 1-7 Tage; 7-30 Tage, > 30 Tage. (Vgl. Anhang III der vorliegenden Arbeit: „Auschnitt aus der AVV“). 6.2.1.1.4 Die Frage des Blickwinkels bei der Belastungseinschätzung Problem der Objektivierbarkeit und der anthropozentrischen Perspektive Regina Binder erklärt, die Begriffe „Schmerzen“, „Leiden“ und „Angst“ ließen sich aus einer „epistemisch notwendigerweise - anthropozentrischen Perspektive nur unzureichend objektivieren“: Die Art und Ausprägung äußerlich wahrnehmbar Anzeichen wie klinische Symptome sowie Verhaltensindikatoren werden durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst; zudem bestehe ein „weiter subjektiver Ermessensspielraum“ (Binder 2009, S. 241). So betont auch Gerhard Heldmaier 304 , die Beurteilung der Belastung von Tieren sei sehr schwierig, weil sie nicht direkt am Tier gemessen werden könne und man im Grunde immer auf Vermutungen und subjektive Beobachtungen angewiesen sei. Die Einstufung subjektiver Beurteilungen in wenige Rasterpunkte eines Schweregradkataloges wird u.U. mit einer gewissen Willkürlichkeit behaftet sein. Lena Kuhli ist bzgl. der Belastungseinstufung bei Stafleu et al. der Ansicht, „der Blickwinkel, aus dem das Leiden der Tiere beurteilt wird, ist [...] ein menschlicher. Inwiefern unterschiedliche Tierarten unterschiedlich 304 Persönliche Mitteilung April 2010. <?page no="374"?> 6 Diskussion 374 empfinden, v.a. aber, inwiefern Tiere vom Menschen unterschiedlich empfinden können, findet wenig Beachtung“ (Kuhli 2009, S. 8). Kuhli illustriert anhand zweier Beispiele von Helmut F. Kaplan: „Ein Mensch, der im Krankenhaus operiert werden soll, weiß, zumindest grundsätzlich und ungefähr, warum und wie dies geschehen soll. Vor allem weiß er, dass es zu seinem Vorteil geschieht, daß jetzige vorübergehende Unannehmlichkeiten notwendig sind, damit es ihm später wieder besser geht. Einem Tier, das gefangen wird, um einer Heilbehandlung zugeführt zu werden [...], kann man diese Zusammenhänge nicht erklären, es erlebt die gleichen Todesängste wie ein Tier, das gefangen wird, um getötet zu werden.“ (Kaplan 2000, S. 18). Sowie „Ein eingesperrter Mensch kann die Zeit, wo er wieder frei sein wird, vorwegnehmen und daraus Trost schöpfen. Bei einem eingesperrten Tier ist hingegen sein gesamter geistiger Horizont vom gegenwärtigen Gefange nsein ausgefüllt.“ (ebd.). Kuhli fordert, auch die Perspektive des jeweiligen Tieres zu berücksichtigen: „Auch wenn der Forscher von vornherein weiß, wie viel physisches Leid auf Grund einer Injektion auf das Tier zukommt, oder wie lange ein Tier wird hungern müssen, usw. so weiß das Versuchstier dies nicht. Für das psychische Leiden eines Tieres unterscheidet sich ein Experiment, das mit einem Punkt bewertet wird unter Umständen zunächst nicht so sehr von einem Experiment, das mit drei Punkten bewertet wird.“ (Kuhli 2009, S. 9). Es erscheint ihr „problematisch, dass die psychologische Seite so sehr vernachlässigt und mit dieser Selbstverständlichkeit aus dem Blickwinkel des Forschers geurteilt wird.“ (ebd.). Kuhli verweist auf Marian Stamp Dawkins: „[...] analogy with ourselves that relies on seeing animals as just like human beings with fur or feathers is quite different and much more prone to error than analogy which makes full use of our biological knowledge of the animal concerned“ (Dawkins 1985, S. 40). 6.2.1.1.5 Generelle Kritik an der prospektiven Belastungseinstufung „Die Unterschiede des Erlebens, also des Inputs und der Verarbeitung, ist [sic! ] aber nur die eine Seite. Mindestens dieselben Unterschiede finden wir - zumindest zwischen einzelnen Spezies - auf der Seite des Outputs, zu deutsch also der Schmerzbzw. Leidensäußerung“ (Jilge 1997, S. 90) <?page no="375"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 375 In seinem Aufsatz über den „Nutzen der schweizerischen ‘Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden’ für die deutschen Genehmigungsbehörden“ (Jilge 1997) erklärt Burkhard Jilge 305 , das schweizerische Bundesamt für Veterinärwesen habe zwei Schriften herausgegeben, die versuchen, die Belastung von Tieren im Experiment zu klassifizieren: Eine Liste zur prospektiven Abschätzung der Belastung sowie eine retrospektive Einteilung in Belastungskategorien. Jilge betont, diese „allgemeine Leitsätze“ seien „als Informationsschrift - und explizit nicht als Richtlinie mit rechtsverbindlichen Eigenschaften - apostrophiert“. Insbesondere die prospektive Abschätzung solle im Sinne eines Nachschlagewerks als Hilfe dienen. Jilge möchte die Möglichkeiten und Grenzen des prospektiven Kataloges darlegen, wobei er gezielt „nicht akademisch“ vorgehen möchte insofern er nicht die Vorbzw. Nachteile des Kataloges vor dem Hintergrund anderer vergleichbarer Kataloge diskutieren möchte und indem er auch nicht den Inhalt des Belastungskataloges selbst diskutieren werde. Vielmehr möchte er „den Nutzen dieses Katalogs unter pragmatischen Aspekten kritisch betrachten“ (Jilge 1997, S. 88). Der Katalog sei in 12 Fachgebiete bzw. tierexperimentelle Forschungskompartements untergliedert vom ersten Fachgebiet „Einschränkung Haltung/ Fütterung“ über das zweite „Reproduktionsbiologie“ bis hin zum 11. „Neurologie/ Verhaltensbiologie“ und abschließend 12. „Onkologie“. Die einzelnen Fachgebiete sind in vier Abstufungen des Belastungsgrades eingeteilt: 0 (keine beziehungsweise minimale Belastung), 1 (leichte), 2 (mittlere) bis hin zu 3 (schwere beziehungsweise langfristige Belastung). Zu jedem Fachgebiet und jedem Belastungsgrad sei dann eine übergeordnete Beschreibung formuliert und nachfolgend mit einer unterschiedlichen Anzahl von Beispielen versehen. Jilge attestiert eine klare Gestaltung und eine nützliche Übersicht und Sammlung von Beispielen. Formuliere nun ein Antragsteller ein Projekt, das in dieses Raster passe, oder eng verwandt wäre mit den dort aufgelisteten „Modellen“, dann könne die Genehmigungsbehörde im Prinzip die zu erwartende Belastung mithilfe des Kataloges „grob abschätzen“ (Jilge 1997, S. 89). Jilge betont jedoch: „Aber nur, wenn er in dieses Raster passt und auch dann nur im Prinzip und nur grob! “ Jilge begründet diese Einschränkungen wie folgt: Es liege in der Natur einer Beispielsammlung und insbesondere in Anbetracht der Dynamik tierexperimenteller Forschung und Entwicklung, dass so ein Katalog nicht komplett sein könne. „Kein Katalog kann erschöpfend beinhalten, was in der die experimentellen Forschung und Entwicklung täglich in Labor und OP stattfindet bzw. neu entwickelt wird. [...] In vielen, vielen Fällen - und die nehmen beispielswei- 305 Mitarbeiter und späterer Tierschutzbeauftragter und Leiter der Zentralen Tierversuchsanlage der Universität Ulm. <?page no="376"?> 6 Diskussion 376 se mit der nahezu explosionsartig zunehmenden Vielfalt von Transgenlinien, völlig neuer chirurgischer Verfahren usw. usw. 306 sprunghaft zu - kann dieser Katalog weder Rat noch Hilfe bieten oder auch nur einen Anhaltspunkt geben. [...] so ist ein Belastungskatalog, von wem auch immer mit größtem Fleiß und äußerster Sorgfalt erstellt, in der Regel bereits bei E rscheinen nur noch von begrenztem Nutzen.“ (ebd.). Ein weiterer Gesichtspunkt sei folgender: „Die schweizerische Beispielsammlung führt zwar an einigen Stellen durchaus unterschiedliche Tierarten auf. Aber sie differenziert nicht speziesspezifisches Schmerzerleben und auch nicht - und das ist ja auch im Rahmen eines Katalogs gar nicht möglich - stammesspezifisches, geschlechtsspezifisches oder gar individualspezifisches Erleben von Schmerzen bzw. einer Belastung.“ Für die Speziesunterschiede des Belastungserlebens spiele die Phylogenese der Cephalisation eine entscheidende Rolle. Zu den Stammesunterschieden erklärt Jilge, man wisse aus Verhaltensuntersuchung in angereicherter Umwelt, dass „Unterschiede zwischen einzelnen Maus-Inzuchtstämmen enorm sein können.“ Ein und dieselbe Komponente sei für einen Stamm quasi ein kurzweiliges „Disneyland“, beispielsweise ein doppelter Boden im Käfig mit Schlupfloch. Dasselbe System werde dagegen von Individuen eines anderen Stammes als sehr belastend erlebt. Zur Individualspezifität erklärt Jilge, dass beispielsweise die Ontogenese und die natürlichen Erfahrungen bzw. Prägungen „eine oft unterschätzte Rolle“ spielten (Jilge 1997, S. 89). Die Interaktion verschiedener Faktoren verdeutlicht Jilge am Beispiel der Interleukin-2 kock-out-Maus. Dort würden das Genom, Homobzw. Heterozygotie, Alter und Hygienestatus für die Belastung des jeweiligen Individuums eine jeweils unterschiedliche Rolle spielen. Ursächlich dafür wären die Anzahl aktivierter T- und B-Lymphozyten, humorale Faktoren, Amyloidose von Leber, Milz und Nieren und insbesondere die Entwicklung einer ulzerativen Colitis (Jilge 1997, S. 90). Jilge betont, Unterschiede des Erlebens, „also des Inputs und der Verarbeitung“ wären nur eine Seite. „Mindestens dieselben Unterschiede finden wir - zumindest zwischen einzelnen Spezies - auf der Seite des Outputs, zu deutsch also der Schmerzbzw. Leidensäußerung.“ (ebd.). Jilge betont, mit seinen Überlegungen wolle er die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung hervorheben. Einen solchen Differenzierungsgrad könne eine Tabelle oder ein Katalog niemals haben, egal wie sorgfältig sie erstellt wurden und wie umfangreich sie wären. Dies solle nicht als 306 Anm.: Doppelung im Original. <?page no="377"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 377 Kritik an dem schweizerischen Katalog missverstanden werden. „Vielmehr stelle ich den Katalog als Entscheidungswerkzeug für die Genehmigungsbehörde schlechterdings in Frage.“ (ebd.). Der Katalog könne an manchen Stellen „möglicherweise einen gewissen Nutzen“ bieten, indem er einige Anhaltspunkte gebe, übergeordnete Kategorien allgemein formuliere und Beispiele benenne. „Ich kann mir jedoch keinen Katalog vorstellen, der die Komplexität des experimentell belasteten Individuums schablonenhaft darstellen könnte. Nicht im Sinne einer quasi ‘statischen Momentaufnahme’ und schon gar nicht in einem dynamischen System namens Forschung.“ (ebd.). Dies habe der Gesetzgeber dadurch berücksichtigt, dass er nach § 8b TierSchG (alte Fassung, jetzt § 10 Abs. 1 TierSchG neue Fassung in Verbindung mit § 5 TierSchVersV) den Tierschutzbeauftragten (TierSchB) institutionalisiert habe. „Kein Katalog kann das beinhalten, was eine vieljährige Postgraduiertenausbildung und dann die tägliche Erfahrung im Beruf uns lehren“. „Life vor Ort“ könnten die TierSchB das individuelle Tier aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung beurteilen und entsprechend reagieren. Die Erfahrung und differenzierte Sicht bringe der TierSchB auch in die Diskussion mit dem Projektleiter im Stadium der Antragstellung ein. 307 Ein weiterer Aspekt wäre, dass Forschungsprojekte in der Regel in größeren zeitlichen und auch personellen Rahmen stattfinden. Der Tierschutzbeauftragte wisse um die Individualspezifität der Experimentatoren, also derer Stärken und Schwächen: „Nicht jeder ist gleich geschickt, sorgfältig, zuverlässig! Und auch hier kann der Tierschutzbeauftragte entsprechend reagieren. Solche Dinge sind nicht normierbar! Und es ist nicht realistisch, grundsätzlich davon auszugehen, daß ein Eingriff stets, und von jedem gleich, optimal ausgeführt wird.“ (ebd.). Jilges Aufsatz ist ein engagiertes Plädoyer für die Institution des Tierschutzbeauftragten. Er betont, dass Gesetzgeber, Geldgeber und Ausbilder wohl nirgends ein fruchtbares Feld zur Förderung des wissenschaftlichen Tierschutzes hätten als dort. 307 Vgl. § 8b Abs. 3 TierSchG alte Fassung (§ 5 Abs. 4 TierSchVersV enthält inhaltsgleiche Formulierungen): „Der Tierschutzbeauftragte ist verpflichtet, 1. auf die Einhaltung von Vorschriften, Bedingungen und Auflagen im Interesse des Tierschutzes zu achten, 2. die Einrichtung und die mit den Tierversuchen und mit der Haltung der Versuchstiere befassten Personen zu beraten, 3. zu jedem Antrag auf Genehmigung eines Tierversuchs Stellung zu nehmen, 4. innerbetrieblich auf die Entwicklung und Einführung von Verfahren und Mitteln zur Vermeidung oder Beschränkung von Tierversuchen hinzuwirken.“ <?page no="378"?> 6 Diskussion 378 „Nur wenn Fachwissen tief und breit genug an künftige Tierärztinnen und Tierärzte vermittelt wird, nur wenn genügend Stellen geschaffen werden, die mit qualifizierten Experten besetzt werden können [...] nur dann und nur so kann meines Erachtens die Belastung des Versuchstieres erkannt, darauf reagiert und in zukünftige Projekte miteinbezogen werden und kann wissenschaftlicher Tierschutz effektiv praktiziert werden.“ (ebd.). Weiterhin unterstreicht Jilge die Bedeutung eines maximalen Informationsflusses zwischen den Tierschutzbeauftragten sowie die enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Ausschüssen, als auch die Förderung von Kontakten und Informationsfluss von den „fachlich spezialisierten Tierschutzbeauftragten an der Basis im Labor“ zu den Kollegen in der Aufsichtsbehörde wie auch zu den Kollegen in der Genehmigungsbehörde. Jilge plädiert für eine gute Kooperation in allen Richtungen (Jilge 1997, S. 91). „Viel besser wäre der Kollege in der Behörde natürlich dran, wenn er eine fundierte Ausbildung in Versuchstierkunde hätte. Meines Erachtens genügt der viel zitierte ‘tierärztliche Hausverstand’ der Kollegen in der Behörde heute nicht mehr, um die Komplexität versuchstierkundlicher Forschung immer richtig einzuschätzen. Als Tierarzt ist man nicht automatisch Versuchstierspezialist! Fachspezifisches Wissen auch für die Kollegen in der Behörde muß an unseren Universitäten vermittelt werden und dann auch später, im Berufsalltag, in Fortbildungsveranstaltungen regelmäßig ergänzt und weiter ausgebaut werden.“ (ebd.). Jilge meint, es könne kein Zweifel daran bestehen, dass mehr versuchstierkundliches Wissen zu mehr Kompetenz und damit zu einem deutlichen Mehr an wissenschaftlichem Tierschutz führe, auch auf Ebene der Genehmigungsbehörde. „Wer wollte es denn einem jungen Kollegen [...] verübeln, daß er zu einem vorhandenen Hilfsmittel in Form der schweizerischen Leitsätze greift. Und damit einer gewissen Gefahr unterliegt, vor ihm liegende Anträge an dieser Messlatte zwangsläufig undifferenziert zu beurteilen. Und genau dies wollte das schweizerische Bundesamt für Veterinärwesen nicht. Der Nutzen der schweizerischen ‘Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden’ liegt […] darin, daß sie in gut geordneter Struktur wertvolle Beispiele enthält. Sie kann und darf jedoch nicht Schablone für Entscheidungen sein, da sie nicht im Entferntesten die spezifische Fachkompetenz des in Deutschland an jeder tierexperimentellen Forschungsstelle installierten Tierschutzbeauftragten zu ersetzen vermag.“ (Jilge 1997, S. 91). Auch Regina Binder betont hinsichtlich der prospektiven Belastungseinstufung die Bedeutung der Expertise desjenigen, der die Einschätzung vornimmt: <?page no="379"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 379 6.2.1.1.6 Veterinärmedizinische Expertise zur prospektiven Belastungseinschätzung notwendig Binder verweist auf die Studie von Lindl, Völkl und Kolar, die gezeigt hat, dass die tatsächliche Belastung von Versuchstieren häufig höher war, als dies zuvor vom Antragsteller eingeschätzt wurde (vgl. Lindl, Völkl und Kolar 2005, S. 149). Zudem weist Binder darauf hin, dass die prospektive Belastungseinschätzung, also die Einschätzung der hypothetischen Belastungen, in der Praxis der Versuchsgenehmigungen auch „erhebliche Probleme“ aufwerfe, „weil die meisten Tierversuchsanträge von Personen gestellt werden, die über keine veterinärmedizinische Ausbildung verfügen.“ Auch Humanmediziner wären aufgrund mangelnder tierartspezifischer und vor allem ethologischer Kenntnisse „offensichtlich nicht in der Lage [...] selbst erhebliche Belastungen, die sie den Versuchstieren zufügen, richtig einzuschätzen.“ (Lindl et al. 2001, S. 176). Binder fordert, dass die Belastungsbeurteilung daher stets „versuchstierkundlich geschulten veterinärmedizinischen Sachverständigen“ vorbehalten sein sollte (Binder 2009, S. 242). Dies gilt m.E. ebenso für die Einschätzung der aktuellen (tatsächlichen) Belastung. 6.2.1.1.7 Probleme der Eignung der Belastungskataloge für unterschiedliche Versuchstier-Spezies Kataloge mit entsprechenden Belastungskriterien für die „gängigen“ Versuchstierarten mögen zwar vorhanden und anwendbar sein, für „exotischere“ Tierarten fehlen solche Kataloge jedoch noch völlig. Hier ist über die Ansprüche der jeweiligen Tierarten - was deren Wohlbefinden betrifft - sicherlich oftmals wenig bekannt. Die stetige Weiterbildung aller Beteiligten ist also auch hier im Sinne des Tierschutzes und damit auch im Sinne der guten Qualität der Forschung unabdingbar. Aber auch für die „gängigen“ Tierarten - sofern diese transgen verändert sind - wird die Anwendbarkeit der für die „konventionellen“ Versuchstiere konzipierten Belastungskataloge in Frage gestellt: „Das Leben des transgenen Versuchstieres kann bereits von Geburt an mit Leiden verbunden sein, die auf die gentechnische Modifikation zurückzuführen sind. Die Folgen solcher Modifikationen am Tier sind nicht absehbar. [...] Eine Hauptschwierigkeit bei der ethischen Vertretbarkeitsprüfung stellt [...] die Beurteilung der Schmerzen und Leiden der gentechnisch modifizierten Tiere (sog. GM-Tiere) dar. Bei konventionellen Tierversuchen können sich die Behörden an Schmerz-Belastungskatalogen orientieren. [...] Diese Belastungskataloge können aber auf transgene Tiere nicht angewandt werden.“ (Herrmann 2008, S. 77). <?page no="380"?> 6 Diskussion 380 6.2.1.1.8 Forderungen an einen geeigneten „Belastungskatalog“ zur prospektiven Einstufung Regina Binder sieht eine Verpflichtung zur prospektiven und retrospektiven Belastungsbeurteilung. Dem schließe ich mich unbedingt an. In der Schweiz ist die retrospektive Belastungsbeurteilung verpflichtend, sie wird in einem separaten Formblatt erfasst (Abschlussbericht, „Formular C“ mit der tatsächlichen Belastungseinstufung - im Gegensatz zur Gesuchsvorlage, „Formular A“ mit der prospektiven Belastungseinschätzung). Binder sieht zudem einen Modifizierungsbedarf der seit 1994 unveränderten Schweizer Schweregradskala zur prospektiven Einstufung, deren „Anwendung im europäischen Kontext durchaus empfehlenswert“ wäre - „in Anbetracht neuerer labortierkundlicher Erkenntnisse und veränderter Bedingungen in der tierexperimentellen Forschung“ (Binder 2009, S. 255f.): 1. Die Skalierung der Belastung müsse dem Tierversuchsrecht dahingehend Rechnung tragen, dass belastungsfreie Tierversuche nicht als Tierversuche gelten, weshalb eine Umbenennung der Belastungsgerade in die Stufen eins bis vier erforderlich erscheine. Den psychischen Beeinträchtigungen (Leiden und Angst) sollte verstärkt Rechnung getragen werden (ebd.). 2. Zur Erfassung der Gesamtbelastung sollten Zusatzannahmen gewährleisten, dass die Summe der Belastungen der Versuchstiere, die sich nicht auf die Phase der experimentellen Verwendung alleine beschränken, in die Belastungsbeurteilung mit einfließen. Variable Faktoren (beispielsweise kumulative Belastungen, mangelnde Sachkunde) erhöhen die Grundbelastung; allerdings könnten „leidensmindernde Faktoren, wie etwa Haltungsbedingungen, die über die tierversuchsrechtlichen Mindestanforderungen hinausgehen oder die Formulierung und Umsetzung möglichst frühzeitiger Abbruchkriterien, den Belastungsgrad verringern.“ (Binder 2009, S. 256). (Anm.: Den ersten Teil dieser Forderung stelle auch ich, s. später Kapitel 6.2.2.5). 3. Eine versuchsbedingte Tötung sollte, auch wenn sie ‘schmerzfrei’ erfolge, dem Belastungsgrad 1 zugeordnet werden. 4. Für transgene Versuchstiere, deren „vorausschauende Einschätzung der Belastung [...] grundsätzlich nicht möglich ist“ werde es „für dringend erforderlich erachtet, ein spezielles welfare assessment-Programm [...] zu entwickeln und zu implementieren", und dadurch eine standardisierte Erfassung der Tierschutzprobleme transgener Tiere zu ermöglichen und geeignete Strategien zur Verbesserung des Tierschutzes zu entwickeln (Binder 2009, S. 256f.; Binder rekurriert dabei auf Wells et al. 2006, S. 111ff.). <?page no="381"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 381 6.2.1.1.9 Diskussion Neben der Schwere der Belastung (Intensität) und der Häufigkeit (Frequenz) der belastenden Maßnahmen, die Binder mit „kummulative Belastungen“ umschreibt, ist auch die Dauer der Belastung von Relevanz. Hier geben einige Kataloge Zeitspannen vor. Diese können aber nicht einheitlich für alle Maßnahmen in gleichem Maße Gültigkeit haben und variieren sicherlich auch in Abhängigkeit der verwendeten Tierspezies. So wird eine Zeitspanne, die für ein Pferd bei einer gegebenen Maßnahme eine „mittlere Zeitdauer“ darstellt, u.U. bei einer Maus bereits eine „lang andauernde Zeitdauer“ sein. Ein anderes Problem sehe ich darin, die Zeitspannen überhaupt nicht zu definieren. Dies kann zu völlig unterschiedlichen Auslegungen führen. Die Einteilung von Graden der Schmerzempfindung beim Menschen selbst - wobei die Patienten sich ja äußern können - ist außerordentlich schwierig. Wie ist es dann erst ungleich schwieriger eine Beurteilung von Schweregraden bei Tieren vorzunehmen. Es gibt im Bereich der Humanmedizin bzgl. der Schmerzforschung beim Menschen unglaublich viel Forschungspotenzial und -bedarf. Ebenso beschäftigen sich seit vielen Jahren Forscher mit der Beurteilung von Schmerzen bei Versuchstieren. Gut durchdachte Konzepte zur Belastungseinstufung wurden publiziert. Da stimmt es nachdenklich, dass keines dieser Konzepte dergestalt optimiert wurde, dass es den Anspruch erfüllte, als einheitlicher Belastungsbewertungskatalog per Gesetz vorgeschrieben oder zumindest zur Verwendung empfohlen zu werden. In jüngerer Zeit gibt es Genehmigungsbehörden, die von ihren Antragstellern den Nachweis der Verwendung eines solchen Kataloges einfordern. Doch die Verwendung kann dann nicht als bundesweit einheitlich angenommen werden. Prospektive Schweregradeinstufung in der revidierten EU-Richtlinie Im Rahmen der im Jahre 2010 in Kraft getretenden überarbeiteten EU- Tierversuchsrichtlinie wird eine prospektive „Severity classification“ gefordert (vgl. Kapitel 3.4.6). Ob diese die hier benannten Ansprüche an einen „idealen“ Belastungskatalog erfüllen kann, ist durchaus fraglich. Die prinzipiellen Kritikpunkte an Katalogen zur prospektiven Schweregradeinstufung bleiben bestehen, so kritisiert beispielsweise Dr. Pyczak: „Ein Belastungskatalog kann aufgrund der Vielzahl an möglichen Eingriffen und/ oder Behandlungen, einzeln oder in verschiedenen Kombinationen, an verschiedenen Tierlinien und mit unterschiedlicher Dauer, zusätzlich ggf. mit besonderen Einschränkungen (z. B. Raumangebot, Fixierung, Wasser- oder Futterrestriktion) oder Möglichkeiten und Methoden einer Linderung von Schmerzen oder Leiden sowie möglichen Tötungszeitpunk- <?page no="382"?> 6 Diskussion 382 ten nicht mehr leisten als eine sehr grobe Vorinformation.“ (Pyczak 2009, S. 351f.). Dennoch halte ich einen solchen Katalog für unabdingbar, um eine möglichst objektive Belastungseinschätzung vornehmen zu können, denn diese ist wiederum Grundlage für die durchzuführende Güterabwägung. Jedenfalls sollte ein prospektiver Belastungskatalog fortlaufend aktualisiert werden, um aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen zu lassen sowie neue Methoden zu berücksichtigen. Mit der „Severity classification“, die von der Expertenguppe zur Schweregradeinstufung von wissenschaftlichen Verfahren unter Verwendung von Tieren erarbeitet wurde, war wohl ein Kompromiß zu finden zwischen einer gewissen Konkretheit auf der einen Seite und einer gewissen Offenheit auf der anderen Seite, die Freiraum für Auslegungen im Vollzug ermöglicht. Da der Schweregradkatalog in einem Anhang („Annex“) der Richtlinie untergebracht ist, kann er nach Inkrafttreten der Richtlinie wohl auch noch gewisse Anpassungen und damit ggf. notwendige Aktualisierungen erfahren. Eine retrospektive Belastungermittlung, also die Feststellung der tatsächlichen Belastung der Versuchstiere halte ich für eine zwingend durchzuführende Maßnahme. Ein entsprechender Katalog als weiterer Anhang der EU- Tierversuchsrichtlinie steht noch aus. Beispielsweise in der Schweiz wird eine retrospektive Belastungsermittlung seit Langem durchgeführt und sie ist dort auch im Verwaltungprozeß integriert. In einem „Formular C: Bericht über durchgeführte Tierversuche“ 308 wird sodann unter Punkt 6. der „Schweregrad der Belastung“ abgefragt, und zwar nach der „Anzahl Tiere ohne Belastung (Schweregrad 0)“, der „Anzahl Tiere mit Schweregrad 1“, der „Anzahl Tiere mit Schweregrad 2“ sowie der „Anzahl Tiere mit Schweregrad 3“. Das schweitzerische Bundesamt für Veterinärwesen hat ergänzend zum Katalog für die prospektive Einstufung, „Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden vor Versuchsbeginn (Belastungskategorien)“ 308 Das „Formular C: Bericht über durchgeführte Tierversuche“ war abrufbar auf der Website des schweizerischen Bundesamtes für Veterinärwesen (BVET) auf der Seite „Tierversuchs-Formulare“ unter dem Abschnitt „Formular C“ (http: / / www. bvet.admin.ch/ themen/ tierschutz/ 00777/ 00779/ index.html? lang=de> abgerufen am 23.06.2010). Anfang 2014 wurde das BVET und die Abteilung Lebensmittelsicherheit des BAG zum Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) vereint; auf der Seite „Formulare für Tierversuche und Versuchstierhaltung“ (<http: / / www.blv.admin.ch/ themen/ tierschutz/ 00777/ 00779/ index.html? lang=de >), kann das aktuelle Formular im Abschnitt „Tierversuche”abgerufen werden: „Form C: Bericht über Tierversuch (V1.3)” Stand 31.08.2011 (letzter Zugriff am 16.12.2015). (Bundesamt für Veterinärwesen 1995, Information Tierschutz 1.04) einen Katalog „Retrospektive Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden <?page no="383"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 383 (Belastungskategorien)“ (Bundesamt für Veterinärwesen 1994, Information Tierschutz 1.05) herausgegeben. Orientierungshilfe des Arbeitskreises Berliner Tierschutzbeauftragter Ein interessanter Ansatz zur prospektiven Belastungseinstufung dürfte jedenfalls die in der Praxis seit einigen Jahren bewährte „Orientierungshilfe des Arbeitskreises Berliner Tierschutzbeauftragter* zur Einstufung in Belastungsgrade (Tab. 1.6.7) für genehmigungspflichtige Tierversuche**“ [* 309 ; ** 310 ] sein, die über die Internetseite der Tierschutzbeauftragten der Chaité, Berlin, öffentlich zugänglich ist (damaliger Stand 02.03.2004; die Orientierungshilfe war seinerzeit in Überarbeitung und sollte bald darauf in überarbeiteter Fassung im Internet veröffentlicht werden). 311 Die Autoren leiten diese Orientierungshilfe folgendermassen ein: „Die anatomischen Strukturen und neurophysiologischen Mechanismen, die der Schmerzperzeption dienen, entsprechen sich bei Mensch und Tier. Es ist daher berechtigt, davon auszugehen, dass ein Stimulus, der beim Menschen Schmerz erzeugt, der Gewebe zerstört oder potentiell zerstören kann, oder der Flucht und emotionale Reaktionen hervorruft, Schmerzempfindungen im Tier erzeugt.“ (Arbeitskreis Berliner Tierschutzbeauftragter 2004, S.1) Ausgehend vom Grundsatz des Tierschutzgesetzes, welches vorschreibt, dass niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf (§ 1 TierSchG), erklären die Autoren, dass der Gesetzgeber im § 7 (jetzt § 7 und § 7a TierSchG neue Fassung) „eine Ausnahme von diesem Grundsatz“ zulasse, indem er erkläre, dass Versuche an Wirbeltieren durchgeführt werden dürfen, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den 309 „Erstellt mithilfe von Kolleg(inn)en aus Bergholz-Rehbrücke und Rostock“ (Arbeitskreis Berliner Tierschutzbeauftragter 2004, S.1) 310 „In Anlehnung an Moyal, Zur Belastung von Tieren im Tierversuch, Diss. Hannover 1999, und Schweizer Bundesamt für Veterinärwesen, Einteilung von Tierversuchen nach Schweregraden vor Versuchsbeginn, 1995“ (ebd.). 311 Internetseite der Tierschutzbeauftragten der Charité, seinerzeit Seite „Einstufung der Belastung der Tiere“: <http: / / www.charite.de/ tierschutz/ belastungseinstufung. html> mit Links zur Orientierungshilfe (deutschbzw. englischsprachige Version, abgerufen am 13.06.2010). Die Orientierungshilfe ist mittlerweile abrufbar unter <http: / / tierschutz.charite.de/ tierversuche/ formularedownloads/ genehmigungen/ > Link „Belastungsbeurteilung (deutsch): Orientierungshilfe des Arbeitskreises Berliner Tierschutzbeauftragte (Stand: 21.09.2010)” bzw. „Belastungsbeurteilung (englisch) / stress assessment: Guidelines by Arbeitskreis Berliner Tierschutzbeauftragte (09/ 21/ 2010)“, letzter Zugriff am 22.12.2015. <?page no="384"?> 6 Diskussion 384 Versuchszweck ethisch vertretbar sind. „[Der Gesetzgeber] verlangt die Auseinandersetzung des Experimentators mit diesem Problem und erwartet von ihm die Einschätzung der möglichen Belastung des Versuchstieres während der Experimente.“ (ebd.). Es wird erklärt, dass die genannten Einstufungsvorschläge eine Orientierungshilfe darstellen, die es dem Experimentator erleichtern sollen, „die von ihm geplanten Untersuchungen in ihren Auswirkungen auf Leiden, Schäden oder Schmerzen beim Tier prospektiv realistisch einzuschätzen.“ Die Vorschläge würden voraussetzen, dass der Eingriff „lege artis“ vorgenommen werde. Die Autoren betonen: „[Die Vorschläge] ersetzen nicht die individuelle verantwortliche Einschätzung der Belastung durch den Versuchsleiter.“ (ebd.). „Diese prospektive Einschätzung muss um eine engmaschige Überwachung des Versuchstieres ergänzt werden, da nicht auszuschließen ist, dass einzelne Tiere auch in Abhängigkeit von der Spezies anders reagieren als vor Versuchsbeginn angenommen. Werden verschiedene Eingriffe kombiniert, ist von einer höheren Belastung auszugehen. Auch die Dauer des Versuches kann die angenommene Belastung des Tieres wesentlich beeinflussen.“ (ebd.). Neben der prospektiven Einschätzung der Belastung soll die tabellarische Aufstellung auch eine Suche nach weniger belastenden Versuchsanordnungen unterstützen (ebd.). Die Tabellen beginnen mit der Vorbemerkung, dass die „Einteilung der Schwere immer unter Berücksichtigung der Zeit“ stattzufinden habe (ebd., S. 2). Die Zeitspannen definieren die Autoren folgendermassen: „Kurzfristig: maximal bis zu 24 h“; „Mittelfristig: maximal bis zu 14 Tagen“. „Langfristige Belastungen“ werden bezügl. der Zeitdauer von einer Erläuterung in Klammern abgesehen, die u. a. „andauerndes Leiden“ benennt, nicht näher definiert. In einer Fußnote wird jedoch benannt: „Die Zeiteinteilung kann in Abhängigkeit von der Tierspezies variieren, dies sind grobe Richtwerte.“ (ebd.). In einer weiteren Tabelle „Indikatoren zur Objektivierung der Schwere experimentell erzeugter Krankheitszustände (Leiden, Schmerzen, Schäden)“, die nach Morton und Griffith (1985) sowie FELASA (1994) modifiziert wurde, listen die Autoren die Belastungskategorien („Geringe Belastung“, „Mäßige Belastung“, sowie „Erhebliche Belastung“) gegenüber bestimmten Parametern auf und benennen für den jeweiligen Schweregrad die typischen Indikatoren. Die Parameter sind folgende: Gewichtsreduktion; Fellzustand, Fell-, Körperpflege, Körperöffnungen, katarrhal. Erscheinungen; Temperaturabweichung von physiol. Temp.; Atmung, Herzfrequenz; Spontanverhalten, Motorik, Körperhaltung, Schlafhaltung, Sozialverhalten; Antwortverhalten auf künstliche Reize, Fangverhalten, Berührungsreaktion (ebd.). <?page no="385"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 385 Im nachfolgenden Katalogteil werden die Punkte 1 bis 9 der Belastungstabelle der AVV dergestalt abgehandelt, dass jedem Punkt eine eigene Tabelle gewidmet wurde. Die einzelnen Tabellen listen dann jeweils die verschiedenen Maßnahmen gegen die Belastungsstufen auf. Dabei werden für jede Maßnahme die jeweiligen Indikatoren in Abhängigkeit von der jeweiligen Belastungsstufe mit Beschreibungen oder mit tabellarisch angeordneten Schlagworten benannt. Die 9 Tabellen, die an die jeweiligen Kategorien der Belastungstabelle der AVV angelehnt sind, lauten folgendermassen (ebd., S. 3-12): 1. Applikation und Punktion ohne Erzielen von Krankheitszuständen Untergliedert in die Maßnahmen: Applikation und Punktion 2. Infektionsversuche Untergliedert in die Maßnahmen: Bakterien, Viren, Parasiten, Pilze 3. Operative Eingriffe unter Narkose ohne Wiedererwachen 4. Andere operative Eingriffe Untergliedert in die Maßnahmen: 4.1 Bauch-/ Brusthöhle, 4.2 Bewegungsapparat, 4.3 ZNS/ Sinnesorgane (Auge, Nase, Ohr), 4.4 Andere z.B. Tumorimplantation; z.B. invasive Blutdruckmessung; z.B. Eingriffe in peripherem Gewebe 5. Physikalische Einwirkungen Untergliedert in die Maßnahmen: 5.1 Strahlen; 5.2. Einwirkung des elektrischen Stroms; 5.3. Traumatisierung; 5.4. Verbrennungen; 5.5. andere (Säure/ Laugen), Druckänderung, Schall, Magnetfelder 6. Schmerzerzeugung 7. Toxizitätsuntersuchungen Untergliedert in die Maßnahmen: 7. Toxizitätsuntersuchungen; 7.1 akut (z.B. OECD 402-406, 420, 423, 425, 429); 7.2 subakut (z.B. OECD 407-413, 424); 7.3 chronisch (z.B. OECD 451-453); 7.4 Reproduktionstoxikologie (z.B. OECD 414-416, 421-422) 8. Verhaltensbeeinträchtigungen Untergliedert in die Maßnahmen: 8.1. aversives Lernen; 8.2. Deprivationen; 8.2.1. sozial; 8.2.2. Schlaf; 8.2.3. Wasser; 8.2.4. Futter; 8.2.5. Bewegung; 8.3. Überreizung; 8.4. andere 9. Andere Eingriffe/ Behandlungen Untergliedert in die Maßnahmen: Erzeugung von Krankheitszuständen: Stoffwechsel, Entzündung, Arthritis; Tumorinduktion; gentechnisch veränderte Tiere <?page no="386"?> 6 Diskussion 386 Renate Thiel, 312 Moderatorin des Arbeitskreises der Berliner Tierschutzbeauftragten, erklärt 313 , die Berliner Orientierungshilfe unterscheide sich vom Schweizer ‘BVET-Katalog’ zur prospektiven Einstufung nach Schweregraden 314 . Man habe sich mit der Orientierungshilfe an der Tabelle 1.6.7 aus der AVV orientiert und die gleichen 9 Punkte angesprochen wie in der Verwaltungsvorschrift. Hierbei habe man versucht, den Schweizer Katalog sowie die Daten aus der Dissertation von Béatrice Moyal (1999) einzuarbeiten. An Stellen, an denen die Mitglieder des Arbeitskreises abweichender Meinung waren, wurde diese abweichende Meinung übernommen. Somit sei die Orientierungshilfe „Antrags-orientiert“. Thiel erklärt, der Schweizer Katalog habe eine Ausführlichkeit, die man in Tabellenform nicht leisten könne. Daher handelt es sich bei dem Berliner Katalog um eine Orientierungshilfe, die eine Vergleichsmöglichkeit bieten soll. Die Orientierungshilfe werde „viel benutzt und angewendet“ und häufig neben dem Schweizer Katalog zu Rate gezogen. Die Orientierungshilfe wurde bis dato (5/ 2010) nie in einer Zeitschrift publiziert, ist jedoch auf der Internetseite der Tierschutzbeauftragten der Charité abrufbar, sie war seinerzeit auf der Internetseite der Gesellschaft für Versuchstierkunde GV-SOLAS verlinkt 315 und es wurde auch in Fachkreisen auf die Orientierungshilfe hingewiesen. 6.2.1.1.10 Die Frage der Obergrenze der Belastung Eines der engagiertesten diskutierten Themen im Bereich der Tierversuche, ist die Frage der maximalen Belastung, die einem Versuchstier ‘aufgebürdet’ werden darf (vgl. Kapitel 3.2). Tierschützer, Ethiker wie auch Juristen fordern seit Jahren eine Begrenzung der dem Tier zugefügten Belastungen, also das Ziehen einer Obergrenze, deren Überschreitung ethisch nicht vertretbar wäre (vgl. Scharmann und Teutsch 1994). Eine solche Obergrenze der Belastungen wurde auch im Entwurf für die überarbeitete EU- Tierversuchsrichtlinie festgelegt, wobei nur in Ausnahmefällen von der Obergrenze abgewichen werden darf (vgl. Kapitel 3.4.6). Gegen eine Obergrenze der Belastungen mag man ins Felde führen, dass damit viele Projekte a priori verboten wären, was letztlich sogar zu einem Handycap der EU-Staaten anderen Ländern gegenüber führen könnte, wenn Forschungsprojekte in Nicht-EU-Länder ausgelagert würden - mit 312 Dr. med. vet Renate Thiel, Fachtierärztin für Tierschutz und Tierschutzethik, Tierschutzbeauftragte an der Berliner Charité. 313 Persönliche Mitteilung Mai 2010. 314 Bundesamt für Veterinärwesen 1995, Information Tierschutz 1.04 315 Und zwar seinerzeit auf der Seite „Publikationen“ (<http: / / www.gv-solas.de/ publ/ pub.html>) unter der Rubrik: „Empfehlungen / Broschüren anderer Gesellschaften/ Vereinigungen“ (abgerufen am 14.06.2010; Seite und Link mittlerweile nicht mehr abrufbar, Stand 22.12.2015). <?page no="387"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 387 letztlich dort u.U. schlechteren Bedingungen für die Tiere, denn hier in Deutschland haben wir sicherlich bessere Tierhaltungen und besseren Tierschutz als in etlichen anderen Ländern. Diesen Standpunkt vertritt der Versuchstierkundler und Tierschutzbeauftragte Burkhard Jilge in einem versuchstierkundlichen Kolloquium 316 . Jilge begründet und illustriert anhand eines Beispiels aus seiner Praxis, dass die Tierschutzbeauftragten gefragt seien - wie auch die Tierpfleger, wenn diese gut ausgebildet und geschult sind und entsprechende Beurteilungskriterien zur Einschätzung der Belastungen der Versuchstiere kennen -, um bei extremen Belastungen ein Experiment vorzeitig durch Euthanasie zu beenden; es geht also um die sog. Humane Endpoints und deren Anwendung. Dies verstehe ich nun so, dass nicht von vorne herein extreme Belastungen ausgeklammert werden durch das Setzen einer Obergrenze, sondern dass hinterher - wenn der Versuch also bereits läuft und es sich zeigt, dass einzelne Tiere extrem leiden - durch das Umsetzen der Humane Endpoints extreme Leidenszustände beendet werden. Ich meine, schwierig wird dies jedoch dort, wo die Tierschutzbeauftragten nicht immerzu zugegen sein können, um sich für die Beendigung eines Versuchs durch das Töten des Tieres u.U. auch gegenüber dem Experimentator - der sein Versuchsziel gerne erreichen möchte - durchzusetzen, besonders an dezentralen Standorten, die über einen ganzen Campus, oder gar über eine ganze Universitätsstadt verstreut sind. 317 Es ist immer eine Frage der Anzahl des Personals und derer Möglichkeiten. Auch ist die Überwachung der Versuchstiere durch die Tierpfleger - selbst wenn diese adäquat ausgebildet und im Erkennen von entsprechenden Belastungsanzeichen geschult sind - m.E. immer eine Frage der Leistbarkeit. Ich plädiere für eine Obergrenze der den Tieren zugefügten Belastung, die nicht überschritten werden darf. Diese Obergrenze soll prospektiv festgelegt sein. Über die angeführten pragmatischen Gründe hinaus wurde in der Literatur vielfach sowohl aus ethischer Perspektive für die Einführung einer Obergrenze plädiert (z.B. Birnbacher 2000) (vgl. dazu auch Kapitel 6.1.2.5.1 „Beschränkung der Leidenszufügung im Falle der Grundlagenforschung“ sowie 6.1.2.5.3 „Ohnehin zweifelhafter Nutzen bei schweren Belastungen“), als auch aus juristischer Perspektive („schwerst belastende 316 Vortrag von Prof. Dr. med. vet. B. Jilge, Tierforschungszentrum, Universität Ulm: „Tierexperimentelle Forschung und Öffentlichkeit“. Im Rahmen des versuchstierkundlichen Kolloquiums der Einrichtung für Tierschutz, Tierärztlichen Dienst und Labortierkunde der Universität Tübingen, 16.07.2009, Tübingen. 317 Im Gegensatz dazu können an Standorten mit einer zentralen Tierversuchseinrichtung ständig Tierschutzbeauftragte und deren Mitarbeiter - i.d.R. Tierärzte - am Ort der Experimente und Tierhaltungen sein, um mit ihrem Fachwissen über Analgesie, Anästhesie und letztlich Euthanasie fachkundig und auch mit ihrer praktischen Expertise unmittelbar zur Stelle zu sein. <?page no="388"?> 6 Diskussion 388 Versuche unzulässig“, vgl. Kapitel 7.5). Zudem gibt es wissenschaftliche Argumente, die sich darauf stützen, dass extreme Belastungen des Versuchstieres zu starken physischen wie auch psychischen Stressbelastungen im Tier führen, die wiederum das Versuchsergebnis beeinflussen können (vgl. auch Goetschel 2002, S. 211, § 7 Rn. 55). Grundsätzliche Obergrenze der Belastung nach neuem EU-Recht Nun sieht die EU-Tierversuchsrichtlinie 2010/ 63/ EU in Artikel 15 - vorbehaltlich der Anwendung einer Schutzklausel in Art. 55 Abs. 3 - vor, „dass ein Verfahren nicht durchgeführt wird, wenn es starke Schmerzen, schwere Leiden oder schwere Ängste verursacht, die voraussichtlich lang anhalten und nicht gelindert werden können.“ Begründet wird dies im Erwägungsgrund 23 der Richtlinie: „Aus ethischer Sicht sollte es eine Obergrenze für Schmerzen, Leiden und Ängste geben, die in wissenschaftlichen Verfahren nicht überschritten werden darf. Hierzu sollte die Durchführung von Verfahren, die voraussichtlich länger andauernde und nicht zu lindernde starke Schmerzen, schwere Leiden oder Ängste auslösen, untersagt werden.“ (Europäisches Parlament 2010). Allerdings lässt die oben erwähnte Schutzklausel zu, sofern es „aus wissenschaftlich berechtigten Gründen“ für erforderlich gehalten wird, die Verwendung eines solchen Verfahrens in Ausnahmefällen im Rahmen einer vorläufigen Maßnahme zu genehmigen. Die Umsetzung in nationales Recht erfolgt mit § 25 („Durchführung besonders belastender Tierversuche“) i.V.m. § 26 („Genehmigung in besonderen Fällen“) TierSchVersV. 6.2.1.2 Die aktuelle („retrospektive“) Belastungsermittlung 6.2.1.2.1 Schwierigkeiten bei Erkennen von Leidenszuständen Ein zusätzlich zur Frage der personellen Leistbarkeit auftretendes - und dabei generelles - Problem ist die Frage der Möglichkeiten des Erkennens der Leidenszustände der Versuchstiere. Bei vielen Tierarten sei es schwierig, selbst für geschultes Personal, Schmerzen oder Leiden durch Augenschein „Pain of mild to moderate grade is difficult to detect in laboratory mice because mice are prey animals that attempt to elude predators or man by hiding signs of weakness, injury or pain.“ (Arras et al. 2007, S. 1I) <?page no="389"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 389 festzustellen, erklärt Franz Iglauer. 318 Auch stimme es, dass wir den Eindruck haben, dass einige Tierarten das Zeigen von Leiden oder Schmerz so lange als möglich zu unterdrücken versuchen. Allerdings sei es „schwierig (wahrscheinlich unmöglich) wissenschaftlich festzustellen, warum sie das tun. Wir vermuten oder spekulieren da also“, erklärt Iglauer. Er bemerkt, ein Beweis, warum die Natur etwas in bestimmter Weise eingerichtet habe, sei in der Regel schwierig oder meist unmöglich. Ich hatte vermutet, dass bei manchen Nagetieren, die in sozialen Gruppen zusammenleben und entsprechend gehalten werden, von einem leidenden Tier instinktiv versucht wird, einen „Krankheitszustand“ so lange als nur irgend möglich zu „unterdrücken“, also zu verbergen, damit die übrigen Tiere der Gruppe nicht merken, dass es krank ist. Meine Vermutung war, dass das „kranke“ Tier sich also instinktiv durch das Unterdrücken von Krankheitszeichen, die für andere sichtbar sind, selber schützt. Iglauer teilt die Interpretation, dass insbesondere Nagtiere dies als Schutz vor den Artgenossen machen würden, jedoch nicht. Eine andere Vermutung werde derzeit zum Teil auch in Publikationen erwähnt: Bei Nagetieren nehme man an, dass sie sich instinktiv unauffällig verhalten, um nicht von potentiellen Beutegreifern als leichte Beute erkannt zu werden. Man sei auch vorsichtig, Tiere, die durch Narkosen oder ähnliches geschwächt sind, so hilflos mit Ihren Artgenossen zu vergesellschaften. Dass kranke Nagetiere von ihren Artgenossen getötet und gefressen werden, „das haben wir noch nie gesehen“. Postmortaler Kanibalismus sei etwas anderes, der komme natürlich inbesondere bei Nagern vor, aber erst nachdem Tiere durch andere Ursachen verstorben seien, erklärt Iglauer. Die unter Versuchstierkundlern eher übliche Interpretation des Verhaltens, Krankheitszeichen zu unterdrücken, werde in einer Publikation 319 der Forschergruppe um Margarete Arras, Universität Zürich, vorgestellt: Die Autoren haben versucht, geeignete Parameter zum Erkennen von mildem bis mittlerem Schmerz bei Mäusen zu ermitteln. Hierbei kamen sie zum Ergebnis, dass man die Herzfrequenz (Anm.: Anzahl Herzschläge pro Minute) und Herzfrequenzvariabilität (Anm.: Auch als Herzratenvariabilität HRV bezeichnet; Veränderungen der Herzfrequenz in Abhängigkeit körperlicher Zustände), die man über Echtzeit-Telemetrie-Aufzeichnungen ermittelt hat, als geeignete Indikatoren für milden bis mittleren postoperativen Schmerz (nach Laparotomie, Anm.: Dies ist eine oparative Baucheröffnung) sowie zur Ermittlung der Zeitdauer dieses Schmerzes bei Mäusen verwenden kann. 318 Vet.Dir. Dr. med. vet. Franz Iglauer, Tierschutzbeauftragter und Direktor der Einrichtung für Tierschutz, Tierärztlichen Dienst u. Labortierkunde der Universität Tübingen, persönliche Mitteilung November 2009. 319 Arras et al. 2007, Herr Dr. Iglauer hat mir diese Publikation freundlicherweise zur Verfügung gestellt. <?page no="390"?> 6 Diskussion 390 Zu Grunde liegend für die Fragestellung dieser Untersuchung war nun folgende Beobachtung: „Pain of mild to moderate grade is difficult to detect in laboratory mice because mice are prey animals that attempt to elude predators or man by hiding signs of weakness, injury or pain.” (Arras et al. 2007, S. 1). In der Publikation wird beschrieben, dass die Versuchstiere dieses Experiments einer Laparotomie unterzogen wurden, entweder kombiniert mit einer schmerzlindernden Behandlung oder ohne Schmerzlinderung. Die Kontrollgruppen erhielten Anästhesie und Analgesie oder „vehicle only“. Die lokomotorische Aktivität der Tiere wurde telemetrisch gemessen. Es zeigte sich bei allen Tieren, dass die Aktivität während des Versuches unbeeinflusst blieb. Dadurch konnte sichergestellt werden, dass jeglicher Schmerz, dem die Tiere ausgesetzt waren, den intendierten geringen Schweregrad nicht überschritt. Interessanterweise wurden in keiner Gruppe Schmerzsymptome über die Bewertung des äußeren Erscheinungsbildes der Tiere oder über spontanes oder provoziertes Verhalten registriert. Hingegen zeigte die Gruppe, die keine schmerzlindernde Behandlung nach dem Eingriff erfuhr, signifikante Veränderungen im telemetrisch aufgezeichneten Elektrokardiogramm: Eine erhöhte Herzfrequenz und eine verminderte Herzvariabilitätsrate wiesen auf Sympathikusaktivierung 320 und Schmerz hin, der über 24 Stunden andauerte. Zusätzlich wurde die Körperkerntemperatur gemessen. Das Körpergewicht und die Nahrungsaufnahme waren jeweils für drei beziehungsweise zwei Tage reduziert. Darüber hinaus traten unstrukturierte Bereiche im Käfig sowie zerstörte Nester über einen Zeitraum von ein bis zwei Tagen auf und zwar bei einer gehäuften Anzahl von Tieren ausschließlich dieser Gruppe. Diese Parameter waren jedoch bei den ‘Kontrolltieren’ nicht beeinflusst. Zum Hintergrund erklären die Autoren, „Laboratory mice are currently the most widely used animal species in biomedical research. […] Therefore, mice provide powerful models with which to explore the regulation of cellular and physiologic processes.” (Arras et al. 2007, S. 1). Die Maus als Modellorganismus erlaube das Studium von in vivo Funktionen einzelner Gene. Darüber hinaus fänden Mäuse zunehmend Verwendung in komplexen Eingriffen, die zusätzliche chirurgische Interventionen erfordern. Die 320 Anmerkung: Ein gesunder Organismus passt die Herzfrequenz über autonome Regulationswege ständig momentanen Belastungen an. Beispielsweise durch ein Schmerzgeschehen wird das sympathische Nervensystem aktiviert. Dies führt zu einem Anstieg der Herzfrequenz und gleichzeitig zu einer Abnahme der Herzfrequenzvariabilität. Insbesondere bei chronischer Stressdisposition nimmt die Anpassungsfähigkeit des Organismus an unterschiedliche Belastungen ab, was einen krankhaften Zustand darstellt (persönl. Mitteilung Roland Alzmann, Facharzt für Anästhesie, April 2010). <?page no="391"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 391 Autoren betonen: Zweifellos sei die post-operative Schmerzlinderung nach chirurgischen Eingriffen wie beispielsweise der Laparotomie notwendig, werde aber häufig nicht durchgeführt, dies habe eine Untersuchung von Richardson und Flecknell aus dem Jahre 2005 ergeben (Arras et al. 2007, S. 2). Arras et al. identifizieren als Grund für diesen Umstand: „A reason given for withholding analgesics from laboratory rodents is that no signs of pain were observed and therefore analgesics were considered to be unnecessary.” Sie erklären, dass tatsächlich nach kleineren chirurgischen Eingriffen Zeichen von Schmerz bei Mäusen kaum erkennbar wären. Die postoperative Überwachung bestehe gewöhnlich aus einer visuellen Inspektion des Erscheinungsbildes, der Körperhaltung sowie des spontanen Verhaltens der Tiere. Mit dieser visuellen Inspektion wären jedoch nur die generalisierten wohlbekannten Symptome von erheblichen oder schweren Schmerzen und Leiden ermittelbar, wie z.B. Piloerektion 321 , zerzaustes Fell/ rauhe Haare, gekrümmte Körperhaltung, Apathie, Aggression und Selbstverstümmelung. Als Erklärung für das Phänomen, dass Schmerz mittelmäßiger Grade bei Mäusen nicht erkennbar sei, meinen Arras et al., dass Beutetiere in konstanter Angst leben würden, ihre Feinden zum Opfer zu fallen. Deshalb würden sie dazu neigen, so wenig als möglich Anzeichen von Erkrankung, Leiden oder Schwäche zu zeigen. Diese instinktive Strategie intendiere, zu vermeiden, die Aufmerksamkeit von Prädatoren - einschließlich des Menschen - auf sich zu ziehen. „Therefore, during animal experiments, or even when a person is simply present in the room, the mouse will hide signs of pain [...], making monitoring of low-to-moderate pain difficult“, erklären Arras et al. mit Verweis auf Sluyters und Obernier (2004), Peterson (2004), sowie Stasiak et al. (2003). Diesem Problem könne man durch die Verwendung telemetrischer Methoden begegnen, die eine Überwachung ohne die Gegenwart der überwachenden Person in der Nähe des Tieres ermöglicht. Rekurrierend auf Tang et al. (2007) betonen Arras und Kollegen, dass mittels radiotelemetrischer Transmitter physiologische und Verhaltens- Parameter in Echtzeit über mehrere Tage aufgezeichnet werden können. Die somit gewonnenen Informationen über den Zeitverlauf von Störungen dieser Parameter könnten mit dieser Genauigkeit durch retrospektive Messungen, wie beispielsweise das Ermitteln des Verlustes von Körpergewicht oder die Abnahme der Nahrungsaufnahme, nicht gewonnen werden. So sei die telemetrische 321 Anm.: ‘Gänsehaut’; z.B. Angst od. Erregung führt zu einer vom vegetativen Nervensystem gesteuerten Kontraktion der Haarbalgmuskeln (Musculi erector pili). Folge ist eine Erhebung der Haarfollikel über die Hautoberfläche und damit ein Aufrichten der Haare. <?page no="392"?> 6 Diskussion 392 Messung der physiologischen Parameter wie der Herzrate, der Körpertemperatur oder des Blutdrucks bei Mäusen ein etabliertes Verfahren. Mehrere Autoren hätten die Ermittlung dieser Parameter als zusätzliche Indikatoren neben der Beobachtung des Erscheinungsbildes und des Verhalten für die Bestimmung von Schmerz-Schweregraden empfohlen. Da diese Messungen jedoch nicht spezifisch für den Schmerz per se wären, müsse ihre Relevanz bei der Abschätzung von Schmerz bei spezifischen Schmerztypen unter Ausschluss externer Einflüsse noch näher bestimmt werden. 6.2.1.2.2 Diskussion Mehrere Methoden der Belastungsermittlung müssen kombiniert werden Wie ich hier anhand des Beispiels zeigen wollte, ist der Umstand, dass leichte bis mittlere Schmerzzustände dort nicht mit den herkömmlichen Methoden zur Belastungsermittlung (visuelle Inspektion des Erscheinungsbildes, der Körperhaltung und des Spontanverhaltens) erkannt werden können, ein eindrückliches Plädoyer dafür, mehrere Methoden zur Belastungsermittlung zu kombinieren. Einflechtung neuer Erkenntnisse in bestehende Kataloge notwendig Solche neuen versuchstierkundlichen Erkenntnisse zum tatsächlichen Belastungsausmaß bestimmter Eingriffe, Behandlungen und Maßnahmen, sollten unmittelbar in die Kataloge zur prospektiven Belastungseinstufung einfließen, denn möglicherweise wird eine Maßnahme - wie hier im von mir angeführten Beispiel der Laparotomie - als geringer belastend eingestuft, als dies tatsächlich der Fall ist, da man bislang aus Unkenntnis davon ausging, die Tiere würden unter dieser Maßnahme nicht leiden. „Retrospektive“ Belastungsermittlung notwendig Dies ist auch ein weiteres plausibles Argument für eine zwingend durchzuführende aktuelle Belastungsermittlung („retrospektive“ Belastungsermittlung, wobei mit retrospektiv freilich nicht gemeint ist, dass diese erst Wochen nach dem Experiment erhoben werden soll, sondern es ist vielmehr unter dem Begriff „retrospektive Ermittlung“ die aktuelle und damit tatsächliche Belastung des Tieres im augenblicklichen Experiment gemeint). Zwingende rückblickende Bewertung (inkl. Prüfung des Schweregrades der Versuche) durch die Behörde leider nur bei bestimmten Versuchen Gemäß § 35 TierSchVersV („Rückblickende Bewertung von Versuchsvorhaben“) kann die Behörde nun bei der Genehmigung zugleich festlegen, dass ein Versuchsvorhaben nach seinem Abschluss durch die zuständige <?page no="393"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 393 Behörde zu bewerten ist und zu welchem Zeitpunkt diese Bewertung vorzunehmen ist. Zwingend ist eine rückblickende Bewertung 1) bei Tierversuchen, in denen Primaten verwendet werden, 2) bei Tierversuchen, die nach Artikel 15 Absatz 1 in Verbindung mit Anhang VIII der Richtlinie 2010/ 63/ EU als „schwer“ einzustufen sind, oder 3) bei Tierversuchen nach § 25 Abs. 2 TierSchVersV, wenn erhebliche Schmerzen oder Leiden länger anhalten und nicht gelindert werden können (vgl. dazu Kap. 3.2, 3.4.6). Spezifisches Verhalten der Tiere als zuverlässige Indikatoren Hanno Würbel erklärt 322 , generell würden endogene Mechanismen im Zusammenhang mit Stress dazu führen, dass Tiere in akuter Gefahr Schmerzen nicht empfinden, was ihrem Erfolg auf z.B. Flucht vor einem Raubtier dienlich sein könne. Ansonsten würden sich aber alle Tiere Leidensbzw. Krankheitszuständen anpassen, indem sie spezifisches Verhalten zeigten, das den Genesungsprozess begünstige. Daraus würden sich in den meisten Fällen zuverlässige Indikatoren herleiten lassen, die auch von Tierpflegern erkannt werden können. Stetige Weiterbildung erforderlich Um verschiedene Tierarten adäquat schützen zu können, muss man über deren Ansprüche bescheid wissen (vgl. auch Würbel 2007, S. 23). Die meisten Wissenschaftler und das mitarbeitende Personal wie zum Beispiel die Tierpfleger sind guten Willens und motiviert zu einem bestmöglichen Umgang mit den Versuchstieren, doch selbst die besten Tierpfleger können m.E. nicht die spezifischen Merkmale zur Schmerz- und Leidens- Einstufung bei sämtlichen Versuchstierspezies kennen. Deshalb ist hier eine stetige Weiterbildung im Sinne des Tierschutzes und damit auch im Sinne der guten Qualität der Forschung unabdingbar. Hinzu kommt jedoch noch die Frage der Möglichkeiten des Personals in Bezug darauf, was es zeitlich überhaupt leisten kann: Die Frage der Leistbarkeit Es macht einen Unterschied aus, ob ein Tierpfleger für 1000 oder für 1500 Versuchstiere zuständig ist. Ich vermute, in der Praxis kann sicherlich nicht jedes einzelne Versuchstier regelmäßig und ausreichend lange von den Tierpflegern beobachtet werden, denn dies ließe sich zeitlich und personell wohl meist gar nicht realisieren. Dies ist aber ein relevantes Problem, denn 322 Prof. Dr. Hanno Würbel, Tierschutzbeauftragter, Professur für Tierschutz und Ethologie, Klinikum Veterinärmedizin der Universität Gießen, persönliche Mitteilung Januar 2010. <?page no="394"?> 6 Diskussion 394 dies kann u.U. für ein einzelnes Versuchstier im schlechtesten Falle bedeuten, dass es leidet, ohne dass dies bemerkt würde und folglich erfährt dieses individuelle Tier auch keine Erleichterung durch das Verabreichen von schmerzlindernden Maßnahmen. Das bedeutet für dieses individuelle Tier, dass es nicht ‘nur’ den Belastungen des Exerimentes ausgesetzt war, sondern dass es u.U. auch darüber hinaus - unnötiger Weise und ‘unverdienter Weise’ leidet, obwohl dies gar nicht mehr Teil des eigentlichen Experimentes ist und vermeidbar wäre, wenn sein Leidenszustand erkannt würde. Hinzu kommt noch, dass die Genehmigung für das an diesem Tier durchgeführte Tierexperiment - das ja die ethische Vertretbarkeit voraussetzt - sich jedoch nicht darauf bezieht, dass das Tier ungewollter und unbeabsichtigter Weise über die ‘genehmigten Belastungen’ hinaus leiden muss. Fazit Diese „ungewollten Leiden“ sind also in keinster Weise ethisch vertretbar und ein jeder verantwortungsbewußte Experimentator, Tierpfleger oder Tierschutzbeauftragte wird auch immer bestrebt sein, dass solch ein Fall nicht eintritt. Wie wir in den vorangehenden Kapiteln gesehen haben, bedarf es für die Vermeidung einer solchen Situation: a) er nötigen Fachkenntnisse um die Bedürfnisse sowie um die Leidensäußerungen des Tieres - und dies mit der Einschränkung, dass manche Tierarten ihre Leidensäußerungen zu verbergen versuchen und dass manche Tiere als nachtaktive Tiere während der Tagsezeit eventuell gar nicht verhaltensauffällig werden; b) der notwendigen Kenntnisse verschiedenartiger Leidensbewertungssysteme, die in Kombination angewendet werden sollten, etwa ethologische in Verbindung mit physiologischen Parametern c) der nötigen personellen Kapazitäten und der nötigen Zeit, damit eine ausreichend intensive Beobachtung der Tiere möglich ist; d) ggf. der notwendigen Apparaturen, wie beispielswise telemetrischen Transpondern, die es erlauben, zusätzlich zur ‘äußeren Inspektion’ (also zur Beobachtung des äußeren Erscheinungsbildes und des Verhaltens des Tieres) physiologische Parameter zu messen und damit zu einer genaueren Zustandsbewertung der Tiere kommen zu können. Diese Forderungen gehen keineswegs über das Gesetz hinaus, denn gemäß Tierschutzgesetz müssen die fachlichen (personellen) und apparativen/ räumlichen Voraussetzungen gegeben sein, damit ein Tierexperiment genehmigt werden darf. Dies bestimmen insbesondere die Paragraphen ; <?page no="395"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 395 8 Abs. 3 (alte Fassung, jetzt: § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierSchG neue Fassung), sowie 9 Abs. 1 (alte Fassung, inhaltsgleich: § 16 Abs. 1 TierSchVersV), 323 sowie § 2 zur Tierhaltung. 324 Bei Eingriffen und Behandlungen zur Aus-, 323 § 8 Abs. 3 TierSchG alte Fassung (jetzt: § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TierSchG neue Fassung): „Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn 1. […] 2. der verantwortliche Leiter des Versuchsvorhabens und sein Stellvertreter die erforderliche fachliche Eignung insbesondere hinsichtlich der Überwachung der Tierversuche haben und keine Tatsachen vorliegen, aus denen sich Bedenken gegen ihre Zuverlässigkeit ergeben; 3. die erforderlichen Anlagen, Geräte und anderen sachlichen Mittel vorhanden sowie die personellen und organisatorischen Voraussetzungen für die Durchführung der Tierversuche einschließlich der Tätigkeit des Tierschutzbeauftragten gegeben sind; 4. eine den Anforderungen des § 2 entsprechende Unterbringung und Pflege einschließlich der Betreuung der Tiere sowie ihre medizinische Versorgung sichergestellt ist und 5. die Einhaltung der Vorschriften des § 9 Abs. 1 und 2 und des § 9a (Anm.: jetzt § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 und Nr. 8 TierSchG neue Fassung: „ […] die Einhaltung von Sachkundeanforderungen […] und das Führen von Aufzeichnungen nach § 9 Absatz 5 Satz 1 in Verbindung mit den in einer auf Grund des § 9 Absatz 5 Satz 2 erlassenen Rechtsverordnung festgelegten Anforderungen […]“) erwartet werden kann.“ § 9 Abs. 1 TierSchG alte Fassung (inhaltsgleich: § 16 Abs. 1 TierSchVersV, allerdings mit Hinweis auf Anlage 1 Abschnitt 3 TierSchVersV, wo die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten näher spezifiziert sind): „Tierversuche dürfen nur von Personen durchgeführt werden, die die dafür erforderlichen Fachkenntnisse haben. Tierversuche an Wirbeltieren, ausgenommen Versuche nach § 8 Abs. 7 Nr. 2, dürfen darüber hinaus nur von Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium der Veterinärmedizin oder der Medizin oder von Personen mit abgeschlossenem naturwissenschaftlichem Hochschulstudium oder von Personen, die auf Grund einer abgeschlossenen Berufsausbildung nachweislich die erforderlichen Fachkenntnisse haben, durchgeführt werden. Tierversuche mit operativen Eingriffen an Wirbeltieren dürfen nur von Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium 1. der Veterinärmedizin oder Medizin oder 2. der Biologie - Fachrichtung Zoologie -, wenn diese Personen an Hochschulen oder andere wissenschaftlichen Einrichtungen tätig sind, durchgeführt werden. Die zuständige Behörde lässt Ausnahmen von den Sätzen 2 und 3 zu, wenn der Nachweis der erforderlichen Fachkenntnisse auf andere Weise erbracht ist.“ 324 § 2 TierSchG (Tierhaltung): „Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, 1. muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen, 2. darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden, 3. muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.“ <?page no="396"?> 6 Diskussion 396 Fort- oder Weiterbildung ist § 10 TierSchG (alte Fassung; jetzt § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 und § 7a TierSchG neue Fassung) anzuwenden, der u.a. ebenfalls auf § 9 Abs. 1 (alte Fassung; jetzt § 7 Abs. 1 Satz 3 TierSchG neue Fassung und § 16 TierSchVersV) verweist. Wie wir nachfolgend sehen werden, wurden die oben diskutierten relevanten Aspekte der Leidensbewertung bereits von Salomon und Kollegen (2001a) benannt. Die Autoren haben sodann die Anforderungen an einen „idealen“ Leidensbewertungskatalog formuliert und die zahlreichen von ihnen untersuchten Bewertungssysteme an diesen Forderungen gemessen. Hierbei sind sie zu einem bemerkenswerten Ergebnis gelangt. 6.2.1.3 Leidensbewertungskataloge 6.2.1.3.1 Anforderungen an einen „idealen“ Leidensbewertungskatalog Nachdem sich Salomon und Kollegen mit den Möglichkeiten der Evaluierung von Leidenszuständen bei Tieren befasst haben (vgl. Vorstellung in Kapitel 3.4.5 der vorliegenden Arbeit) und die bei einer derartigen Untersuchung zwingend zu berücksichtigenden Faktoren benannt haben, fassen sie die gewonnenen Erkenntnisse zusammen und erarbeiten Kriterien bzw. Parameter, die ein Leidensbewertungssystem im Sinne von Russell und Burch (1959) erfüllen müsse. Salomon et al. benennen dabei folgende Grundvoraussetzungen (Salomon et al. 2001a, S. 129): 1) In Übereinstimmung mit dem 3R-Prinzip müsse eine Leidensbewertung darüber hinausgehen, „experimentell-, Zucht- oder Haltungsbedingte tierische Pathologismen“ aufzuzeigen und zu werten. Es reiche nicht aus, gegenwärtig vorhandene Pathologismen zu gewichten, „sondern der gesamte Versuch, von der Planung bis zur Auswertung, bzw. die gesamte Lebenszeit eines Tieres muß hinsichtlich möglicher Leidensursachen überprüft werden. Letztendlich muß ein Leidensbewertungsscore, der dem 3R-Prinzip gerecht werden will, auch dazu beitragen, zukünftiges Tierleid zu vermeiden, bzw. zu re- „Oft äußern sich Pathologismen nur in der Modifikation weniger Parameter. Sind gerade diese nicht Teil der Überprüfung, entsteht der fälschliche Eindruck von Leidensfreiheit.“ (Salomon et al. 2001a, S. 133) <?page no="397"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 397 duzieren, also Leidensursachen zu erkennen und in weiterer Folge zu beseitigen.“ (Salomon et al. 2001a, S. 129). 2) „Es gibt kein starres Leidensbewertungssystem, das jeder Spezies, jedem Experiment und jedem individuellen Tier gerecht wird. Leidensbewertung muß den Gegebenheiten angepaßt sein und kann immer nur am Individuum ansetzen, da Tiere, insbesondere Wirbeltiere je nach Spezies, Rasse, Geschlecht, Alter, sozialer Stellung, Charakter, Vorerfahrungen und augenblicklichem Gemütszustand unterschiedliche Bedürfnisse aufweisen.“ (ebd.). Wertungen dürften immer nur nach genauer Kenntnis der jeweiligen Situation vorgenommen werden (ebd.). 3) Leidensbewertung habe sich stets an neuesten Erkenntnissen zu orientieren. Ein heute noch als harmlos, im Sinne von belastungsarm, eingestuftes Experiment könnte morgen schon anders kategorisiert werden. Auch Standards in der Tierhaltung wären Modifikationen unterworfen, da Refinement ein kontinuierlicher Prozess wäre, der niemals abgeschlossen sei (Salomon et al. 2001a, S. 129, mit Verweis auf Stauffacher 1993). 4) Für die Bewertung gegenwärtiger Leiden müssten mehrere voneinander unabhängige Faktoren herangezogen werden. Hierbei hätten jedenfalls allgemeine sowie ethologische Parameter der Leidensevaluierung Teil der Testreihe zu sein. Referenzwerte müssten der jeweiligen Situation entsprechen, „und streng genommen für jede Population separat festgelegt werden.“ (Salomon et al. 2001a, S. 130). 6.2.1.3.2 Leidensbewertungssysteme im Bereich des konventionellen Tierversuchs Salomon et al. erklären, in einigen europäischen Staaten 325 sei es gesetzlich vorgeschrieben, geplante Tierversuche prospektiv im Hinblick auf zu erwartenden Belastungen für das Versuchstier zu graduieren. Sie erklären, nachdem ein Versuch einem bestimmten Schweregrad zugeteilt wurde, sei es auch möglich, eine gleichfalls mancherorts 326 gesetzlich eingeforderte ethische Abwägung vorzunehmen, bei der der zu erwartenden Nutzen für die Menschheit oder andere Tiere gegen die auftretenden Belastungen aufgewogen werde (Salomon et al. 2001a, S. 134). 325 Salomon et al. benennen Großbritannien, die Niederlande sowie Schweden. Deutschland wäre hier ebenfalls anzuführen, denn gem. AVV wird eine prospektive Einstufung in Schweregrade vo Antragsteller verlangt. 326 Salomon et al. benennen Deutschland, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Schweden, die Schweiz und Spanien. m <?page no="398"?> 6 Diskussion 398 Eine prospektive Bewertung der zu erwartenden Belastungen also eine Einteilung in Schweregrade könne anhand von Belastungskatalogen erfolgen. Zumeist werde aber einem Tierversuch erst nachträglich ein Schweregrad zugewiesen, d.h. Leiden und Schmerzen eines Tieres würden erst im Verlauf bzw. nach Abschluss des Versuchs ermittelt. Eine solche retrospektive Bewertung erfolge ebenfalls anhand von Bewertungsschemata. In der Regel würden an prospektive wie auch an retrospektive Leidensbewertungskonzepte folgende Anforderungen gestellt: Leidensbewertungssysteme sollten möglichst universell anwendbar sein, also für möglichst viele unterschiedliche Experimente und möglichst viele unterschiedliche Tierarten qualifizierte Ergebnisse liefern. Die Leidensbewertung selbst sollte möglichst einfach und schnell vor sich gehen. Leidensbewertungssysteme sollten auch bei unterschiedlichen Prüfern vergleichbare Ergebnisse liefern. In den letzten 20 Jahren wurden einige Leidensbewertungssysteme entwickelt, die für den Versuchstierbereich, in der Landwirtschaft und in der Veterinärmedizin Anwendung finden (sollten), erklären Salomon et al. Die Autoren haben alle seinerzeit verfügbaren derartigen Modelle untersucht. 6.2.1.3.3 Retrospektive Leidensbewertungssysteme Salomon et al. untergliedern die Systeme in Gruppen: Systeme, die äußerlich erkennbare Gesundheitsstörungen untersuchen Salomon und Kollegen erklären, äußerlich erkennbare Pathologismen werden zumeist in Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten untersucht und bewertet, insofern diskutieren sie diese Kataloge im Abschnitt mit den ethologischen Katalogen. Physiologische/ endokrine/ immunologische Leidensbewertungssysteme Salomon et al. erklären, die meisten auf physiologischen/ endokrinen/ immunologischen Untersuchungen basierenden Systeme würden sich damit begnügen, festzustellen, ob sich die gemessenen Parameter infolge belastender Situationen ändern. Die Bewertung beschränke sich dabei zumeist auf simple „ja/ nein“-Aussagen. Die zahllosen in der Literatur publizierten Systeme gehen in der Regel so vor, dass an einem Tier vor, während und nach einer spezifischen Belastung physiologische/ endokrine/ immunologische Messungen vorgenommen würden. Hierbei würden die vor dem Eingriff erhobenen Daten als Referenzwerte festgesetzt, das Ausmaß der Veränderungen werde als Maß für die Belastung interpretiert. Hierbei würden jedoch keine Grenzwerte angegeben, die eine strikte Zuteilung in - - <?page no="399"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 399 Kategorien wie ‘leicht’, ‘mäßig’ oder ‘schwer’ erlauben würden (Salomon et al, 2001a, S. 146). Salomon und Kollegen listen exemplarisch annähernd ein Dutzend solcher Systeme auf, die für unterschiedliche Spezies entwickelt wurden, und einen Hinweis auf Distress geben sollen. 327 Allgemeine und ethologische Leidensbewertungssysteme Es gebe zahlreiche Leidensbewertungssysteme - „besser Leidensfeststellungssysteme“, so Salomon et al. -, deren Intention nicht dahin gehe, Leiden bestimmten Schweregraden zuzuordnen, sondern die ausschließlich darauf abzielen würden, Leiden per se festzustellen (Salomon et al. 2001a, S. 147). Mehr-Faktoren Systeme Hierbei erfolge die Beurteilung von Schmerzempfinden auf Basis ethologischer, klinischer, pathologischer oder morphologischer Parameter. Salomon et al. betonen, dass Messungen „nur dann einigermaßen aussagekräftig [sind], wenn mindestens zwei unterschiedliche Bereiche evaluiert werden, da viele der gemessenen Parameter schmerz-/ leidensunspezifisch sind“ - wie beispielsweise Herzfrequenz, Katecholamine und Blutdruck - und bereits durch eine ungewohnte Umgebung, unbekanntes Pflegepersonal, fremde Gerüche oder auch eine Erwartungshaltung ausgelöst werden könnten (Salomon et al. 2001a, S. 161). Man sei in den letzten Jahren vermehrt dazu übergegangen sog. „Multiple Pain Discomfort Scales“ zu verwenden, welche eine gewisse Objektivierung der Messungen erlauben. Besonders interessant erscheint mir der neben weiteren Systemen vorgestellte Katalog der LASA (1990) zu sein. Bei diesem wird bei der Kategorie Distreß darauf hingewiesen, dass manche Situationen oder Bedingungen sowohl Distreß als auch Schmerz auslösen würden, wie beispielsweise Lärm oder chemische Irritantien. Auch Situationen, die Konflikte, Furcht/ Ängste oder Frustration hervorrufen, können Distreß induzieren. Es sei auch zu beachten, „daß sich bei Eingriffen die des öfteren vorgenommen werden, der Schweregrad des Experiments erhöht, da selbst harmlose Eingriffe, wie Injektionen oder Blutabnahmen, mit Erreichen einer bestimmten Frequenz als Belastung empfunden werden“, so Salomon 327 Die in den Systemen verwendeten Meßparameter sind folgende (Verwendung von nur einem Parameter bis hin zur Verwendung mehrerer Parameter): Veränderung der Leukozytenanzahl bzw. Leukozytenzusammensetzung; Katecholaminausschüttung (Adrenalin und Noradrenalin); Speichel-Kortisol; Herzfrequenz; Blutdruckschwankungen und kardiale Veränderungen; Körpertemperatur; Änderungen des Blutzuckerspiegels; Milchsäure im Blut; Plasma-Prolaktin; Gehalt von Chlorid, Natrium und Kalium im Blut; Plasmakonzentration von Vasopressin, Oxytozin und Kortisol. <?page no="400"?> 6 Diskussion 400 et al. (Salomon et al. 2001a, S. 164). Hervorgehoben wird der Hinweis der LASA, dass es weder möglich noch erwünscht wäre, die Schwere der Belastung ausschließlich durch eine numerische Skala zu ermitteln; eine endgültige Bewertung bedürfe der Zusammenarbeit mit dem Tierversuchsleiter und anderen Personen: “There is no intention to suggest that it is possible, or even desirable, to a ssess the severity of scientific procedures on animals by the use of a numerical index alone. The final assessment of the severity of scientific procedures is complex and must remain with the Animals (Scientific Procedures) Inspectorate and the holder of a project license.” (LASA, zit. nach Salomon et al. 2001a, S. 164). Der Tiergerechtheitsindex Der Tiergerechtheitsindex (TGI) werde für Versuchstiere nicht verwendet, er sei dennoch ein gutes Beispiel dafür, wie haltungsbedingte Belastungen, „die letztendlich auch im Versuchstierbereich auftreten“, aufgezeigt werden könnten. Der Tiergerechtheitsindex zur Beurteilung der Tiergerechtheit von Tierhaltungen in der Landwirtschaft basiere auf dem Potenzial tierischer Organismen, negative Effekte in einem Bereich durch positive in einem anderen zu kompensieren. Das System gehe von der Idee eines ‘Gesamtbudgets’ aus, das die tierische Pufferkapazität berücksichtige. Dabei würden fünf Kriterien beurteilt: Bewegungsmöglichkeit, Sozialkontakt, Bodenbeschaffenheit, Licht, Luft und Lärm (Stallklima), sowie Betreuungsintensität. Tiergesundheit und Hygiene würden als indirektes Maß für Intensität und Qualität der Tierhaltung gehandelt und daher nicht als Evaluierungskriterium herangezogen, erläutern Salomon et al. (2001a, S. 166f.) 6.2.1.3.4 Bewertung aller Leidensbewertungssysteme Nach der Analyse und Diskussion aller untersuchten Leidensbewertungsmodelle stellen Salomon et al. ernüchternd fest, dass keines dieser Systeme die Anforderungen erfülle, die die Autoren als zu berücksichtigende Faktoren für einen Bewertungskatalog vorgestellt hatten. (Salomon et al. 2001Endb., S. 22) (vgl. Kapitel 6.2.1.3.1). Prospektive wie auch retrospektive Bewertungssysteme würden sich auf die Abschätzung der experimentell induzierten Belastungen bzw. etwaiger Folgeeffekte, auf das postexperimentelle und - nach Wiederherstellung der Homöostase - das weitere Leben des Labortieres beschränken. Die Autoren bemängeln, dass das übrige Dasein des Versuchstieres, beginnend mit der Geburt, von der Leidensbewertung ausgeschlossen bliebe. Darüber hinaus würden nur wenige Systeme zu einer Umsetzung des 3R-Prinzips <?page no="401"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 401 beitragen und auf spezies-, rassen-, geschlechts-, alters-, und tierindividuelle Besonderheiten werde nicht eingegangen. Die Autoren schlagen daher vor, für den Bereich der Tierversuche an und mit konventionell gezüchteten Tieren ein Bewertungsmodell auf Basis folgender Überlegung zu entwickeln: „Im Leben des Versuchstieres können neben dem Experiment selbst vor allem Tierhaltung, Pflege und in geringerem Ausmaß auch der Transport von der Zuchteinrichtung in die Versuchstieranlage bzw. von der reinen Haltungseinrichtung zum Ort des Experiments und retour beträchtliche Leiden, Frucht/ Ängste, Schäden und Distreß verursachen.“ (ebd.) Beurteilung der Haltung und Pflege von Labortieren Für die Beurteilung der Haltung und Pflege von Labortieren sei bisher noch kein Modell entwickelt worden. Salomon et al. sehen jedoch den Tiergerechtigkeitsindex als eine Orientierungshilfe für die Erstellung eines derartigen Systems. Dieser müsse aber an die besondere Situation von Labortieren angepasst werden, „in dem Sinne, daß die Bedürfnisse kranker Tiere, das Experimentdesign und die Anforderungen des individuellen Tieres berücksichtigt werden.“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 22). Die Autoren räumen ein, dass ein derartiges den jeweiligen Umständen angepasstes Bewertungsmodell „eine enorme Flexibilität“ erfordere, die nur über relativ allgemein gehaltene Formulierungen erreicht werden könne. „Dies wiederum erhöht den individuellen Auslegungsradius durch die beurteilenden Personen, birgt also die Gefahr, daß unterschiedliche GutachterInnen bei der Bewertung desselben Tierstalls zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.“ Das würde jedoch der an einen „idealen“ Katalog gestellten Forderung widersprechen, dass er auch bei unterschiedlichen Prüfern vergleichbare Ergebnisse liefern sollte. Salomon et al. rufen dazu auf, dass trotz aller Schwierigkeiten der Versuch unternommen werden sollte, ein derartiges Bewertungssystem zu erstellen, „um diesem so wichtigen Bereich im Leben des Versuchstieres auch hinsichtlich der Leidens Beurteilung nicht länger unberüchtigt zu lassen.“ (ebd.). Prospektive Beurteilung der tierlichen Belastung durch das Experiment Für die Beurteilung der tier Belastung durch das Experiment selbst werde zur prospektiven Abschätzung der Leidensausmaße ein dem Modell des BVET (1994) angelehntes System empfohlen, welches zum einen auch Anmerkungen zum Refinement, z.B. zur Art der Nachbetreuung beinhalte, sowie das Risiko berücksichtige, dass das Tier während oder infolge des Experiments durch „Unzulänglichkeiten der Experiment-durchführenden . <?page no="402"?> 6 Diskussion 402 Personen geschädigt wird (etwa doch Einstufung des Experiments in einem höheren Belastungsgrad)“ 328 und verstärkt speziesspezifische oder tierindividuelle Besonderheiten berücksichtige (Salomon et al. 2001Endb., S. 24). Hierbei sollten die Anmerkungen zum Refinement für jeden Fachbereich und jedes Tiermodell formuliert werden, und „die Umsetzung dieser Maßnahmen sollten zu einer Reduktion des Schweregrades beitragen können.“ Zur retrospektiven Beurteilung der Belastung Zur retrospektiven Beurteilung empfehlen Salomon et al. ein Modell, welches sich an dem System von Morton und Griffith (1985) orientiert, hierbei wären jedoch Modifikationen durchzuführen wie beispielsweise die numerische Gewichtung einzelner Parameter in Abhängigkeit vom Experiment (Salomon et al. 2001Endb., S. 24). Salomon und Kollegen betonen, dass im Sinne der 3R auch jene Phasen des Experimentes beurteilt werden sollten, „die an sich nur die den Versuch durchführenden Wissenschaftlerinnen betreffen [...], deren Konsequenzen aber das Tier zu tragen hat“, sie meinen damit die Planungs- und Ausarbeitungsphase eines Eingriffs (ebd., S. 25). Die Autoren erklären, in der Planungsphase werde „über das Ausmaß potentiellen tierischen Leidens entschieden“, die Nachbereitung habe wiederum „Auswirkungen auf den Grad zukünftiger Leiden von Versuchstieren.“ Frage nach der Gewichtung des Todes ausgeklammert Ergänzend weisen die Autoren darauf hin, dass für die Planung ihres Bewertungskonzeptes bzw. die Diskussion der vorgestellten Modelle die Frage nach der Gewichtung des Todes eines Versuchstieres bewusst nicht behandelt wurde. Sie präzisieren, in der österreichischen wie auch den meisten anderen europäischen Tierschutzbzw. Tierversuchsgesetzgebungen werde der schmerzlose Tod, die Euthanasie, „als systemimmanente Begleiterscheinung in der wissenschaftlichen Forschung betrachtet. Das Töten eines Tieres hat keinerlei tierschützerische oder rechtliche Relevanz, sofern das Tier artgerecht und nicht grundlos getötet wird.“ (ebd.). Salomon et al. weisen jedoch darauf hin, dass manche Wissenschaftler der Ansicht wären, „daß der Tod das schlimmste Übel sei, der Verlust des Lebens der größtmögliche Verlust, der nicht rechtfertigbar ist, auch dann nicht, wenn das weitere Leben mit Schmerzen verbunden wäre.“ Diese Diskussion sei jedoch nicht Inhalt der Studie gewesen, daher müsse darauf verwiesen werden, dass die Bewertung des Todes an sich, „je nach gesell- 328 Anm.: Ich persönlich halte an dieser Stelle eine fehlerhafte Einstufung in einen niedrigeren Schweregrad für schwerwiegender. <?page no="403"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 403 schaftspolitischer, wissenschaftspolitischer und philosophischer Momentanströmung individuell beurteilt werden muß.“ (ebd.). Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass das deutsche Bundesverwaltungsgericht die Tötung eines Tieres als den „mit dem schwersten Schaden verbundene[n] Eingriff“ wertet (BVerwG vom 18. Juni 1997, Az: 6 C 5/ 96). 6.2.1.3.5 Leidensevaluierung bei transgenen Tieren Bezüglich transgener Tiere unterstreichen Salomon et al. die Notwendikeit, sich ausführlich mit transgenen Tieren hinsichtlich ihrer „3R-Relevanz“ auseinander zu setzen. Voraussetzung dafür wäre jedoch „die Evaluierung und Bewertung aller Aspekte, die im Leben sowie bei der Erstellung transgener Tiere, aus der Sicht des Tieres, mit ‘Kosten’ - Leid, Schmerzen, Frucht/ Ängsten, Schäden, Distreß und Tod - verbunden sein können.“ (ebd., S. 26). Zu diesen Kosten zählen: „Wohlfahrt-beeinträchtigende Maßnahmen während der Genese transgener Tiere, einschließlich notwendiger Testverfahren zum Nachweis der Transgenität und zur Charakterisierung des Phänotyps, Leiden induzierende Umstände bei der Tierzucht und Tierhaltung, sowie mit dem Transport dieser Tiere in Zusammenhang stehenden Maßnahmen inklusive ‘Sanierungsmethoden’ und jene Leiden, die infolge der genetischen Manipulation auftreten.“ (ebd.) Dazu würden ‘erwünschte’ Leiden oder Schmerzen gehören, etwa Empfindungen die beispielsweise durch Malignome in Onko-Mäusen verursacht würden, sowie ‘zufällige’ Beeinträchtigungen, die als Nebeneffekt der Transfektion auftreten. 329 „Schließlich sind auch potentielle Leiden zukünftiger Generationen in eine Kostenanalyse miteinzubeziehen.“ Außerdem sei zu evaluieren, inwieweit der Tierversuch selbst ein ‘transgenes’ Tier mehr oder weniger belasten könne als ein ‘konventionelles’ Tier. 6.2.1.3.6 Die in einem Leidensbewertungskatalog zu berücksichtigenden Fragestellungen Auf Basis ihrer Überlegungen müsse ein Bewertungsscore nachfolgende Punkte berücksichtigen, die den einzelnen Abschnitten eines Tierversuches entsprechen, erklären Salomon et al. (2001a, S. 130). Dabei ließen sich viele 329 Beispiele für ‘zufällige’ Leiden wären die bei Riesenmäusen auftretenden „chronischen Nieren- und Leberschäden, die Deformationen weiblicher Genitalorgane, strukturellen Veränderungen des Herzens, der Speicheldrüsen und der Milz, das erhöhte Krebsrisiko, die verkürzte Lebenserwartung und die hohe Mortalitätsrate der Jungtiere“ (Salomon et al. 2001Endb., S. 26). <?page no="404"?> 6 Diskussion 404 der angeführten Punkte nicht auf einen einzelnen Abschnitt beschränken. Die Faktoren beurteilen potentielle Leidensursachen bzw. die Bereitschaft diese zu beseitigen. Nachfolgend zitiere ich die Fragen, die Salomon et al. aufgelistet haben (ebd., S. 130-133), hierbei habe ich gelegentlich weitere Gliederungsüberschriften eingefügt, diese sind jeweils mit einem * gekennzeichnet. 1. Rahmenbedingungen 1.1 Personal Stehen entsprechend qualifizierte MitarbeiterInnen in ausreichender Anzahl zur Verfügung (wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche)? Ermöglicht der Alltagsbetrieb das tägliche Handling der Tiere? Verfügen Pflegepersonal und wissenschaftliche MitarbeiterInnen neben einem biologischen Grundwissen, die verwendete Tierart betreffend, auch über ein Spezialwissen? Besuchen Tierpfleger und/ oder Wissenschaftler Fortbildungsveranstaltungen im Sinne der 3R? 1.2 Haltung Umwelt* Entsprechen die physikalischen Faktoren der Mikro- und Makroumwelt eines Tieres dem Zustand und den Bedürfnissen eines individuellen Tieres? Die Faktoren sind: o Raumtemperatur o Beleuchtung o Luftfeuchtigkeit o Ammoniakgehalt o Lärm (auch im Ultraschallbereich) Ernährung* Ist für die Ernährung der Tiere auch ein begrenzter Anteil von Naturfutter vorgesehenen? Räumlichkeiten* Werden unterschiedliche Arten in separaten Räumen gehalten bzw. wird zumindest darauf Bedacht genommen, natürliche Fressfeinde voneinander zu isolieren? <?page no="405"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 405 Haltungsbedingungen* Entsprechen Haltungsweise und Käfigart, -größe und -ausstattung insofern den Bedürfnissen des individuellen Tieres, als es ihm möglich ist, alle Kategorien speziesüblichen Verhaltens - mit Ausnahmen - auszuleben? Die Faktoren sind: o Unterschlupfmöglichkeiten, o Schlafareal, o Spiel- und Manipulationsmöglichkeit, o freier Zugang zu Nahrung und Wasser, o soziale Interaktionen, o Bewegung etc. Reinigung/ Hygiene* Entspricht die Reinigungsfrequenz den Anforderungen an eine tiergerechte Haltung? Sind Reinigungs- und Desinfektionsmittel tiergerecht? Sind die verwendeten Reinigungsgeräte geeignet, Belastungen für die Tiere möglichst zu vermeiden (z.B. Lärm)? (Salomon et al. 2001a, S. 130) 1.3 Transport Sofern die Tiere zur Versuchsanlage beziehungsweise zum Ort des Experimentgeschehens (mit einem Fahrzeug) transportiert werden müssen: Werden sie während des Transports tiergerecht behandelt? (Entsprechen die Transportbedingungen den Bedürfnissen des individuellen Tieres in Bezug auf: o Temperatur, o Ernährung, o Flüssigkeitszufuhr, o Käfigbeschaffenheit, o Sozialstruktur, o Licht, o Lärm, o Vibrationen etc.) Erfolgt der Transport des Tieres in seinem gewohnten Käfig? <?page no="406"?> 6 Diskussion 406 Wenn der Transport des Tieres in seinem bis dahin gewohnten Käfig erfolgt: Kann das Tier am Bestimmungsort darin verbleiben? Wird dem Tier nach dem Transport eine Akklimatisationszeit von ausreichender Dauer gewährt? (Salomon et al. 2001a, S. 131) 2. Der Tierversuch 2.1 Die Planungsphase Die Autoren merken an, eine verantwortungsbewusste Leitung habe bereits in der Planungsphase zu berücksichtigen und später bei der Umsetzung dafür Sorge zu tragen, dass bei der Auswahl der Versuchstiere nicht nur die genetische Qualität ein Auswahlkriterium darstelle, sondern auch, bei externen Bezugsquellen, dass bei Zucht und Vorratshaltung moderne versuchstierkundliche Erkenntnisse beachtet werden (Salomon et al. 2001a S. 131). Entspricht das Tiermodell dem Versuchsziel? Entspricht die Zahl der eingesetzten Tiere biostatistischen Anforderungen? Wurde jene Tierart ausgewählt, die unter Berücksichtigung der Experimentziele (! ) phylogenetisch am geringsten entwickelt ist? Wurden Kriterien festgesetzt, bei deren Eintritt ein Tier aus den Versuch zu nehmen ist? Entsprechen diese Kriterien dem Humanitätsprinzip? Steht für den Versuch das notwendige entsprechend qualifizierte Personal zur Verfügung? Stehen die für den Versuch und einer ev. Nachbehandlung benötigten und für das Versuchstiere geeigneten modernen technischen Anlagen zur Verfügung (z.B. für Anästhesie, Fixation etc., aber auch für ev. Euthanasierungen)? 2.2 Die Vorbereitungsphase Wird in einer korrekt durchgeführten Voruntersuchung die Experimenttauglichkeit eines Tieres überprüft? Werden die Tiere an die Experimentbedingungen gewöhnt (Raum, Gerätschaften, Personen)? (ebd.) 2.3 Das Experiment Die Autoren betonen, „Es [ist] unmöglich, für jede vorstellbare Experimentsituation Leidensursachen und Möglichkeiten ihrer Vermeidung anzugeben.“ Die Aufzählung sei „keineswegs vollständig“, sondern <?page no="407"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 407 orientiere sich lediglich an einigen häufig auftretenden Ereignissen während eines Tierexperiments. Wird das Experiment in einem akustisch, optisch und olfaktorisch vom Tierhaltungsraum isolierten Areal durchgeführt? Bei der Verabreichung von Injektionen: Entsprechen Applikationstechnik sowie Menge und Beschaffenheit des Inokkulums der Art und dem Zustand des Tieres? Bei der Gewinnung von Antikörpern: Wird, wenn möglich, auf Freund’sches Adjuvans 330 verzichtet? Entsprechen die Injektions- und Abnahme-Intervalle dem Prinzip der Tiergerechtheit? Bei der Blutabnahme: Entspricht die Häufigkeit und Technik der Blutabnahme sowie die entnommene Menge der Art und dem Zustand des Tieres? Bei der Entnahme größerer Volumina: Wird der Blutverlust durch die Applikation geeigneter Lösungen ausgeglichen? Narkose* Wird das Experiment unter Verwendung von Anästhetika durchgeführt? Entspricht das Anästhetikum dem Zustand des Tieres und dem Versuchsziel? Werden vor der Anästhesie Sedativa verabreicht? Werden die Vitalfunktionen während der Narkose überwacht? Für Experimente im Rahmen der Schmerzforschung: Wird das Experiment unter Narkose durchgeführt? Wenn nicht, hat das Tier die Möglichkeit, den Schmerz aktiv zu unterbinden oder dem schmerzhaften Reiz auszuweichen? Werden Tieren nach chirurgischen oder sonstigen Eingriffe ihrem Zustand entsprechend versorgt in Bezug auf: o Ernährung, o Flüssigkeitszufuhr, o Unterbringung (Temperatur, Einstreu, Isolation, Beleuchtung, Ruhe etc.), o veterinärmedizinische Behandlung, 330 Anm.: Das „Freund-Adjuvans“ (auch „Freunds Adjuvans“, früher „Freundsches Adjuvans“) wurde von Jules T. Freund und Katherine McDermot entwickelt. Es handelt sich um eine Wasser-in-Öl-Emulsion, die abgetötete Mikroorganismen (Mycobacterium tuberculosis) enthält. Die Emulsion wurde in der Forschung als Hilfsstoff (Adjuvans) zur Verstärkung von Immunreaktionen eines Versuchstieres eingesetzt. Auch heute wird es noch für Immunisierungen als sog. „komplettes Freundsches Adjuvans“ (KFA) verwendet, steht aber aufgrund der Nebenwirkungen in der Kritik. <?page no="408"?> 6 Diskussion 408 o Analgetikagabe, o Pflege? Euthanasie* Für den Fall einer geplanten oder während des Versuchs notwendig gewordenen Euthanasierung: Entspricht die angewandte Methode der Art und dem Zustand des Tieres? 2.4 Die postexperimentelle Phase Untersuchung, Pflege, Unterbringung* Erfolgt eine korrekt durchgeführte Untersuchung des Tieres zur Feststellung des Gesundheitszustandes? Werden die Tiere nach dem Experiment ihrem Zustand entsprechend versorgt (Ernährung, Flüssigkeitszufuhr, Unterbringung Temperatur, Einstreu, Isolation, Beleuchtung, Ruhe etc. , veterinärmedizinische Behandlung, Analgetikagabe, Pflege)? Erfolgt die postexperimentelle Versorgung bzw. Behandlung in einem akustisch, optisch und olfaktorisch vom Tierhaltungsraum isolierten Areal? Weitere Verwendung* Werden nicht oder nach dem Erreichen des Versuchsziels nicht mehr benötigte Tiere bis an ihr natürliches Lebensende versorgt oder gepflegt? Werden nicht oder nach dem Erreichen des Versuchsziel nicht mehr benötigte Tiere in anderen Versuchen weiterverwendet? Werden nicht oder nach dem Erreichen des Versuchsziels nicht mehr benötigte Tiere tiergerecht euthanasiert? Wird die Euthanasierung in ausreichender Entfernung (kein akustischer, optischer und olfaktorischer Kontakt möglich) von anderen Tieren durchgeführt? (Salomon et al. 2001a, S. 132) 2.5 Die Ausarbeitungsphase Werden gewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen auch dahingehend umgesetzt, bei Folgeexperimenten Tierleid quantitativ zu verringern (Anzahl der Tiere, Leid/ individuellem Tier)? Werden gewonnene Kenntnisse und Erfahrungen auch dahingehend umgesetzt, bei Folgeexperimenten Tierleid qualitativ zu verringern? Wird das gewonnene Wissen publiziert? (ebd.) <?page no="409"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 409 Während alle zuvor erwähnten Faktoren potentielle Leidensursachen bzw. die Bereitschaft, diese zu beseitigen, beurteilen, sei es auch Aufgabe eines Bewertungssystems, tatsächlich manifeste Leiden, Schmerzen, Ängste/ Furcht und Schäden (Distreß) zu bewerten bzw. prospektiv abzuschätzen, welches Ausmaß Leiden und Schmerzen im Zuge des Experiments vermutlich erreichen werden (Salomon et al. 2001a, S. 133). Vorhandenes Unwohlsein ließe sich mit geeigneten Methoden, vorzugsweise ethologischen in Verbindung mit anderen - z.B. physiologischen Methoden - ermitteln, erklären die Autoren. „Die Eignung einer Methode [zur Leidensevaluierung] steht jedoch nicht a priori fest. Oft äußern sich Pathologismen nur in der Modifikation weniger Parameter. Sind gerade diese nicht Teil der Überprüfung, entsteht der fälschliche Eindruck von Leidensfreiheit. Wird ein Experiment also erstmals durchgeführt, hat die Leidensevaluierung möglichst viele unterschiedliche Parameter zu berücksichtigen.“ (ebd.). Eine prospektive Abschätzung experimentell bedingter Leiden, Schmerzen etc. könne am besten über eine genaue Kenntnis der Spezies im allgemeinen sowie der betroffenen Gewebe und Organe im speziellen erreicht werden. Die Kenntnis der Fachliteratur, beispielsweise eine Zusammenstellung der Sensibilität bestimmter Gewebe gegenüber speziellen Reizen, erleichtere diese Aufgabe, erklären Salomon et al. und verweisen diesbezüglich auf LASA 1990. 6.2.2 Haltungsbedingungen, Pflege sowie Qualifikation des Personals In der Kategorie „Verantwortungsbewusstsein“ wird bei den schweizer Autoren sinnvoller Weise die Frage danach gestellt, wie gut sich der Experimentator mit den Stress- und Leidenssymptomen der von ihm eingesetzten Tierart auskennt. Weiterhin wird auch beleuchtet, wie die Haltungsbedingungen eingeschätzt werden, und ob für deren Verbesserung Anstrengungen unternommen wurden. Die Haltungsbedingungen werden bei de Cock Buning und Theune in der Kategorie „Discomfort for the animal“ betrachtet. Auf die Haltungsbedingungen gehen auch Porter - in seiner Kategorie „Qualität der Pflege und Haltung“ - und auch Mand ein, wobei Uta Mand Pflege, Unterbringung und Fütterung differenziert. 331 Mand befasst sich dann auch ausführlich mit der Qualifikation und Anzahl des am Versuch beteiligten Personals. Ein Punkt den auch die Schweizer detailliert beleuchten: Es wird dort abgefragt, wie die Überwachung der Tiere sichergestellt wird. Nach der Qualifikation der Forschergruppe fragen auch Stafleu et al., sie führen diesen Punkt in der Kategorie „Relevanz“ an. Eine Kategorie „Credibility of the 331 Wie Mand betont, um diesen Kriterien explizit mehr Gewicht einzuräumen. <?page no="410"?> 6 Diskussion 410 group/ researcher“ findet sich bereits bei de Cock Buning und Theune. Hier wird sehr differenziert nach der Erfahrung der Gruppe gefragt, wobei auch nach dem Gesichtspunkt der Alternativen gefragt wird. 6.2.2.1 Die Frage der Haltungsbedingungen Die überarbeiteten Leitlinien des Europäischen Übereinkommens zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere für die Unterbringung und Pflege von Versuchstieren vom Juni 2006, seit November 2007 in Deutschland in Kraft gesetzt 332 benennen ein Mindestmaß 333 an Haltungsbedingungen. Im deutschen TierSchG wird die Tierhaltung im § 2 behandelt, wobei § 2 Nr. 1 eine der Art und den Bedürfnissen des Tieres angemessene Ernährung und Pflege sowie verhaltensgerechte Unterbringung fordert. 334 332 In Deutschland rechtsverbindlich seit Nov. 2007 durch Verordnung vom 15.11.07, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt (BGBL) vom 26.11.07 (S. 1713-1898, dt. Übersetzung der Leitlinien ab S. 1836): Die am 15.6.2006 in Straßburg im Rahmen der 4. multinationalen Konsultation von den Vertragsparteien des Europ. Übereinkommens zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere (ETS No. 123) angenommene Änderung des Anhang A des Übereinkommens (ETS No. 123) mit Leitlinien für die Unterbringung und Pflege von Tieren, die zu Versuchszwecken und anderen wissenschaftlichen Zwecken verwendet werden [Cons 123 (2006) 3]. Der Anhang A erläutert und ergänzt die in Artikel 5 des Übereinkommens festgelegten Grundsätze. Anm.: Der Anhang A des EUROPÄISCHEN ÜBEREINKOMMENS zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere (ETS No. 123) wird mit Anhang II der RICHTLINIE DES RATES vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (86/ 609/ EWG) umgesetzt, der Leitlinien für die Unterbringung und Pflege von Versuchstieren enthält. Im Juni 2006 wurde eine Überarbeitung von Anhang A des Übereinkommens angenommen. Die überarbeiteteten Leitlinien wurden von der Kommission der Europ. Gemeinschaften in Form einer Empfehlung an die Mitgliedsstaaten übernommen und in der EMPFEHLUNG DER KOMMISSION vom 18.6.2007 mit Leitlinien für die Unterbringung und Pflege von Tieren, die für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendet werden (2007/ 526/ EG) im Amtsblatt der Europ. Union am 30.7.2007 veröffentlicht. 333 Empfehlung der Kommission vom 18. Juni 2007 (2007/ 526/ EG) (ebenso BGBL 2007 Teil II Nr. 37 S. 1838), Anhang, Einleitung, Abs. 6: „[…] Die empfohlenen Raummaße sind jedoch Mindestwerte, die gegebenenfalls erhöht werden müssen, da die Anforderungen eines jeden Tieres an seine Umgebung je nach Art, Alter, physiologischen Bedürfnissen und Besatzdichte und je nachdem, ob sie auf Vorrat, für die Zucht oder für Lang- oder Kurzzeitversuche gehalten werden, variieren können. Auch die Ausgestaltung des Umfelds ist für das Wohlbefinden der Tiere von großer Bedeutung.“ 334 Anm.: TierSchG § 2 Nr. 2 fordert, dass die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränkt wird, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden <?page no="411"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 411 Die Haltungsbedingungen werden von den TierSchB kontrolliert (innerbetrieblich) 335 und von Veterinären der zuständigen Behörden überwacht (außerbetrieblich). 336 Eine schlechte Haltung darf es daher gar nicht geben. Aufgrund verschiedener Interessen und Belange, die bei der Festlegung von Mindestanforderungen immer eine Rolle spielen - zu denen auch ökonomische Gesichtspunkte zählen, Gesichtspunkte der Praktikabilität beispielsweise bezüglich der Hygiene oder des Reinigungsaufwandes den das Personal betreiben muss, ergonomischer Aspekte wie auch tierexperimenteller Überlegungen - sind es aber eben nur Mindestanforderungen. Das heißt: Es ginge auch besser. 6.2.2.2 Haltungsbedingungen: Teil der ethischen Abwägung oder lediglich vorgelagerte Versuchsvoraussetzung? Ingo Reetz’ Kritik (Reetz 1993, S. 75) an der Verwendung des Kriteriums „Haltungsbedingungen“ in Porters System zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit eines Versuchsvorhabens basiert auf zwei Prämissen: Zum einen haben die Haltungsbedingungen die allgemeinen Normen des TierSchG zu erfüllen, unabhängig davon, ob ein Tier im Versuch steht oder nicht. Zum anderen beleuchtet Reetz den Porterschen Katalog explizit mit der Fragestellung, „inwieweit unter Berücksichtigung der deutschen Tierschutzgesetzgebung dieses System zur ethischen Abwägung [...] herangezogen werden kann.“ Und dabei bezieht sich Reetz auf den § 7 Abs. 3 TierSchG (alte Fassung; jetzt § 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG neue Fassung), wo oder Schäden zugefügt werden. § 8 Abs. 3 Nr. 4 (alte Fassung; jetzt § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 TierSchG neue Fassung) erlaubt eine Versuchs-Genehmigung nur, wenn eine den Anforderungen des § 2 entsprechende Unterbringung und Pflege einschließlich der Betreuung der Tiere sowie ihre medizinische Versorgung sichergestellt ist. Bei Versuchstieren kann § 2 TierSchG jedoch außer Kraft gesetzt werden, wenn der Antragsteller die Notwendigkeit des temporären Außerkraftsetzens der Mindesthaltungsbedingungen wissenschaftlich begründet darlegt. Beispielsweise sei die belastende Haltung in sog. ‘Stoffwechselkäfigen’ während eines Experiments genannt. 335 Vgl. TierSchG § 8b Abs. 3 (alte Fassung; jetzt § 5 Abs. 4 Nr. 1 TierSchVersV): „Der Tierschutzbeauftragte ist verpflichtet, 1. auf die Einhaltung von Vorschriften, Beingungen und Auflagen im Interesse des Tierschutzes zu achten […]“ 336 Vgl. TierSchG § 16 Abs. 1: „Der Aufsicht durch die zuständige Behörde unterliegen […] 3. Einrichtungen, in denen a) Tierversuche durchgeführt werden, […].“ Anm.: In nur vier Bundesländern (Berlin, Hamburg, Saarland und Sachsen; s. Biedermann 2008 ) ist die Genehmigungsbehörde für die Überwachung der Versuchstierhaltungen zuständig. Dort ist die ‘Überwachungsbehörde’ also identisch mit der ‘Genehmigungsbehörde’. In 12 Bundesländern überwachen jedoch die mit der Tierversuchsproblematik im Regelfall vermutlich weniger vertrauten Veterinärämter die Versuchstierhaltungen (mündlich gegebene Information von Luy 2008). <?page no="412"?> 6 Diskussion 412 er bei der Frage nach der ethischen Vertretbarkeit als Gegenstände der durchzuführenden Güterabwägung folgendes Wertepaar identifiziert: „So haben wir zwei konkurrierende Werte gegeneinander abzuwägen: den V e r s u c h s z w e c k gegen das W o h l e r g e h e n d e r T i e r e, wobei die Einschränkung des Wohlergehens, die den Tieren durch den Versuch zugemutet werden soll, ausgedrückt wird durch den Grad der für die Tiere zu erwartenden Belastungen.“ (Reetz 1993, S. 73). Wie Reetz im präzisierenden Satzteil formuliert, sind für ihn nur die „für die Tiere zu erwartenden Belastungen“ maßgeblich für die „Einschränkung des Wohlergehens“. So wird auch verständlich, dass Reetz zwar versuchsbedingte Einschränkungen der Haltungsbedingungen bei der Beurteilung der zur erwartenden Belastung berücksichtigen möchte, nicht jedoch die „normalen Haltungsbedingungen“. 6.2.2.3 Stichhaltige Gründe für eine Verbesserung der üblichen Tierhaltungen Wie nun neueste Untersuchungen aus der Verhaltensforschung gezeigt haben, ist eine gute und besonders gute Tierhaltung kein Hindernisgrund für ein aussagekräftiges Tierexperiment - denn lange Zeit wurde argumentiert, dass beispielsweise ein „Enrichment“ 337 der Käfige der Standardisierung entgegen spräche und Versuchsergebnisse daher durch Verwendung einer erhöhten Anzahl von Versuchstieren statistisch stichhaltig gemacht werden müssten. So konnte der Ethologe Hanno Würbel die noch im Jahre 2003 bestehenden Bedenken (Koch 2003, S. 133) gegen das Enrichment mit seinem mit dem Hessischen Tierschutzpreis 2005 ausgezeichneten Beitrag in NATURE (Würbel et al. 2004) erfolgreich und eindrucksvoll widerlegen (Brückner-Ihl 2008, S. 6). Weiterhin wurde festgestellt, dass insbesondere im Bereich der neurowissenschaftlichen Forschung die Aussagekraft der Tierversuche darunter leide, dass die üblichen Haltungsbedingungen den 337 „Enrichment“ umfasst die Anreicherung des „Lebensraumes“ des Versuchstieres in Hinblick auf strukturelle Bedingungen im Käfig, auf die Möglichkeit artspezifische Verhaltensweisen auszuführen (z.B. durch die Möglichkeit zu graben, zu klettern, sich zu verstecken etc.) es umfasst aber auch visuelle, olfaktorische und akustische Stimuli; beispielsweise auch das regelmäßige Eingeben unterschiedlicher Gegenstände in den Käfig, um alle Sinne des Tieres und seine kognitiven Möglichkeiten - z.B. auch die Neugierde das Neue zu erkunden - anzusprechen. Dazu J. Benz- Schwarzburg (2007, S. 16) im Kontext der Zootierhaltung: Ein Hinzufügen von Stimuli in die Umgebung des Tieres („Environmental bzw. Behavioural Enrichment“) stelle den Versuch dar, „mentale und physiologische Ereignisse hervorzurufen, um die Lebensqualität der Tiere zu verbessern und stereotypes Verhalten zu überwinden.“ Benz-Schwarzburg fordert, Enrichment-Maßnahmen sollten ein „zentraler Punkt innerhalb jeder Managementrichtlinie zur Gesundheit und zum Wohlbefinden von Tieren in Gefangenschaft sein.“ <?page no="413"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 413 Ansprüchen der Tiere an ihre Umwelt wenig Rechnung tragen (Würbel 2001). Dies kann m.E. mit dem schlüssigen Argument erklärt werden, dass ausgeruhte und physisch wie auch psychisch gesunde Tiere logischerweise verlässlichere Versuchsergebnisse liefern, im Gegensatz zu bereits vor dem eigentlichen Experiment gestressten Tieren. 338 So wurde in einer Ausgabe des SPIEGEL plakativ die Frage auf den Punkt gebracht: „Welchen Wert hat Forschung an kranken Tieren? “ 339 Würbel konnte zeigen, dass Labormäuse besonders Nachts - es handelt sich ja auch um nachtaktive Tiere - Verhaltensabnormalitäten wie z.B. Stereotypien zeigen. Solche Abnormalitäten fallen u.U. den Tierpflegern während deren Tätigkeit - nämlich hauptsächlich tagsüber - überhaupt nicht auf. Joseph Garner erforschte solche Stereotypien und hält sie für den Ausdruck einer dauerhaften Hirnschädigung (Koch 2003, S. 133). Eine Verbesserung der Haltungsbedingungen ist auch im Interesse der Wissenschaft. Oben habe ich anhand der Forschungsergebnisse von Hanno Würbel, der Tierschutz auf ethologische (verhaltenskundliche) und biologische Grundlagen stützt, gezeigt, dass es über das Einhalten der Mindestanforderungen hinaus durchaus auch besser geht - und obendrein unter besseren Haltungsbedingungen dazu noch bessere, da verlässlichere Tierversuchsergebnisse erzielt werden können. Selbstverständlich bezogen auf die verwendete Tierart, denn die Frage der Übertragbarkeit der Versuchsergebnisse der verwendeten Versuchstierart auf den Menschen steht nach wie vor immer im Raume. Insofern halte ich es für angebracht, eine die Mindestanforderungen übersteigende Tierhaltung dergestalt zu „belohnen“, dass diese in einer ethischen Güterabwägung mit Pluspunkten für den Forscher verbucht wird. Es darf also eigentlich nach TierSchG keine „schlechte“ Haltung geben, insofern sind im Standardfall für die Tierhaltungsbedingungen bei der ethischen Abwägung auch keine Minuspunkte zu verbuchen. Da es aber durchaus auch besser geht, kann ein Versuchsantrag hier bei entsprechender Tierhaltung quasi „Bonuspunkte“ sammeln. Dies ist ein weiterer Aspekt, der für die Verwendung der Haltungsbedingungen als ethisch relevantes Kriterium bei der Güterabwägung zur Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit eines Tierversuchsvorhabens spricht. 338 So konnte Würbel nachweisen, „dass die Tiere im abwechslungsreich ausgestatteten ‘Komfort-Käfig’ weniger ängstlich und stressempfindlich sind. Die unter besseren Käfigbedingungen normal entwickelten, gesunden Tiere verkraften die Situation des Tierversuchs insgesamt weit besser als ihre verhaltensgestörten Artgenossen. Da Faktoren wie Angst und Stress zusätzliche Störgrößen im Tierversuch sein können, liefert Würbel ein weiteres Argument für das [...] „enrichment“ [...] gleich mit.“ (Brückner-Ihl 2008, S. 6). Vgl. zur Thematik auch: A. Six (2003), R. Khamsi (2004) sowie H. Würbel und J. P. Garner (2007). 339 Siehe J. Koch (2003), S. 132. <?page no="414"?> 6 Diskussion 414 Die vorstehend benannten Gründe gelten freilich ebenso für die Pflege 340 der Tiere. 6.2.2.4 Verwendung der „Haltungsbedingungen“ in den Kriterienkatalogen Die Qualität der Haltungsbedingungen wurde - unabhängig von den durch den „eigentlichen“ Versuch zugefügten Leiden - von den untersuchten Kriterienkatalogen als ein ethisch relevanter Faktor bei der Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit eingestuft. Porter führt die Haltungsbedingungen als einen Aspekt der Kategorie „Quality of animal care“ - zu dem auch die Fähigkeiten des Personals und die Nachsorge zählen - deshalb auf Seiten des tierischen Leidens ein und Mand war dieser Aspekt sogar so wichtig, dass sie ihm eine eigene Kategorie widmete und diesen in drei Unterpunkte - Pflege, Unterbringung und Fütterung - differenzierte. Bei de Cock Buning und Theune werden das Unbehagen, das dem Tier durch die Haltungsbedingungen verursacht wird, in der Kategorie „Unannehmlichkeiten für das Tier“ eingruppiert. Bei Scharmann und Teutsch finden die Haltungsbedingungen insofern Erwähnung, als die Haltung in Bezug auf psychischen Stress bzw. Störung der normalen sozialen Verhaltensweisen subsummiert in der Kategorie „Belastung der Versuchstiere“ in die Betrachtung einfließt. Bei Stafleu et al. fließt die Belastung durch Haltungsbedingungen in die Kategorie „pain and discomfort“ mit ein. Die Schweizer fragen in ihrem Internet-Programm explizit ab, ob etwas für die Verbesserung der Haltungsbedingungen unternommen wurde. Maisack geht auch auf die versuchsvorbereitenden Haltungsbedingungen ein und fragt danach, ob dadurch Grundbedürfnisse des Tieres zurückgedrängt, oder die Bewegung eingeschränkt wird. 340 Definition des Begriffs Pflege: „[…] Pflege […] umfasst […] alle Aspekte der Beziehung zwischen Tieren und Menschen. Es schließt die Gesamtheit aller materiellen und nichtmateriellen Mittel ein, die der Mensch einsetzt, um ein Tier psychisch und physisch in einen Zustand zu bringen bzw. in einem Zustand zu erhalten, in dem es so wenig wie möglich leidet und trotzdem der Wissenschaft dient. Die Pflege beginnt in dem Augenblick, in dem das Tier in Versuchen verwendet werden soll, einschließlich der Zucht oder Haltung zu diesem Zweck, und wird so lange fortgesetzt, bis es von der betreffenden Einrichtung gemäß Artikel 9 der Richtlinie 86/ 609/ EWG nach Abschluss des Versuches schmerzlos getötet oder anderweitig beseitigt wird.“ (Empfehlung der Kommission vom 18. Juni 2007 (2007/ 526/ EG), Einleitung zum Anhang, Abs. 5. Ebenso BGBL 2007 Teil II Nr. 37, S. 1838 . <?page no="415"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 415 6.2.2.5 Zwei verschiedene Positionen über die Inhalte der ethischen Abwägung sind zu differenzieren: Die streng am augenblicklichen Experiment orientierte Position und die Position, die prä- und postexperimentelle Faktoren mit einbezieht Aus den Kommentaren von Reetz und der Absicht Porters - und auch anderer Autoren von Kriterienkatalogen (siehe oben) -, über das Versuchsgeschehen hinaus die Haltungsbedingungen und die Pflege der Versuchstiere zu bewerten, lässt sich deutlich zeigen, dass es zwei Positionen gibt, die zu differenzieren sind: Position a) Die ethische Abwägung umfasst nur Faktoren, die direkt in Zusammenhang mit dem eigentlichen Versuch stehen. Ich nenne diese Position die „reduktionistische pragmatische Position“. Position b) Es werden auch über die aktuelle Phase des - zeitlich begrenzten - Experiments hinausgehende Faktoren betrachtet und in die Abwägung der ethischen Vertretbarkeit einbezogen. Ich nenne diese Position die „All-Inclusive Position“. Reetz vertritt deutlich die „reduktionistische pragmatische Position“ (Position a) und richtet seine Betrachtungen und Kritik an Porters Kategorien entsprechend aus. Es ist jedoch die dezidierte Absicht von Porter, mit der Frage nach den Haltungsbedingungen und der Tierpflege auch Faktoren abzuprüfen, die über den eigentlichen Versuch hinausgehen. Er vertritt somit die „All-Inclusive Position“ (b). Dies wird zweifelsfrei in einer Fußnote von Porter benannt, wo er bemerkt, dass diese Kategorie alle Aspekte der Umgebung des Versuchstiers evaluiert, während dieses nicht im Experiment steht. 341 Somit ist Porter der Ansicht, dass diese Faktoren durchaus auch in die ethische Bewertung mit einfließen sollen, auch wenn diese eben nicht auf den Zeitpunkt des aktuellen Experiments beschränkt sind. Ich teile die Ansicht Porters und bin der Meinung, dass eine Einschränkung der zu beurteilenden Faktoren für die Bestimmung der ethischen Vertretbarkeit auf den Zeitpunkt des Experiments zu eng gegriffen ist. Weiterhin teile ich die Ansicht Porters und der meisten anderen Autoren, dass die Wahl der verwendeten Tierart als auch die Anzahl der im Versuch einzusetzenden Tiere in die ethische Bewertung mit einfließen müssen. Die oben explizierten beiden unterschiedlichen Sichtweisen, die „reduktionistische pragmatische Position“ und die „All-Inclusive Position“, sind es dann meines Erachtens auch, die in Diskussionen zum Thema den Diskurs häufig erschweren. Denn es scheint unausweichlich diese zwei Lager zu geben, die keinen Kompromiss miteinander eingehen können. 341 So beispielsweise die Qualität der Umgebung und deren Geeignetheit für die spezifische Tierart, die Käfighaltung, die Fertigkeiten der Pfleger, die Qualität der post-operativen Pflege, die Beleuchtungsbedingungen sowie die Ventilation. <?page no="416"?> 6 Diskussion 416 Ich halte die „reduktionistische pragmatische Position“ für problematisch. Denn diese Position ist ein Ansatz mit einer falschen Annahme, einem „bias“ 342 . Diese Position wird zwar häufig vertreten, sie ist aber nicht gerechtfertigt: Die gesamte Vorbereitung, bevor das „eigentliche“ Tierexperiment durchgeführt wird, ist ein notwendiger Bestandteil des Experiments. Wenn sich die Betrachtung nur auf das „eigentliche“ Experiment bezieht, wird das gesamte dem Experiment vorausgehende Tier-Leiden in keinem Experiment und nirgends auftauchen und folglich auch nicht gewichtet werden. Dies wäre eine Verfälschung des Gesamtergebnisses der Güterabwägung. Mit dieser Denkart werden alle Versuchs-vorbereitenden Maßnahmen (ggf. Entnahme von Tieren aus der Natur, Transport, Quarantäne, Zucht, „Waste Animals“, Haltungsbedingungen, Versuchs-vorbereitende Prozeduren, etc.) ausgeblendet, als würde es diese überhaupt nicht geben. Diese Denkart ist reduziert auf den Augenblick des „eigentlichen“ Experiments. Aber das Experiment ist ohne oben erwähnte Vorbereitungen nicht möglich, folglich müssen diese Faktoren anteilig am Experiment mit berücksichtigt werden. Anteilig deswegen, da beispielsweise eine transgene Mauslinie, die „erzeugt“ wurde, nicht nur für ein einziges Experiment verwendet werden kann, sondern die Tiere, die aus dieser Linie stammen, werden u.U. in mehreren Experimenten Verwendung finden. Würde man das „Erzeugen“ der gesamten Linie jedem einzelnen Tierexperiment anrechnen, so würde das Erzeugen der Linie fälschlicherweise mehrfach berechnet werden. Jedes Experiment muss also nur einen gewissen Anteil von der Vorbereitung auf sich nehmen. Es wäre somit ebenso ein „bias“, wenn das Gesamtleid bei der Erzeugung der Linie mehrfach berechnet würde. Genauso wie es ein „bias“ ist, das Leid, das die Versuchsvorbereitung generiert, überhaupt nicht in Rechnung zu stellen, als würde es dieses gar nicht geben, wie es die Anhänger der Position a) vertreten. Damit meine ich, gibt es gute Gründe, die Haltungsbedingungen, die Anzahl der Tiere, die Zahl der im Vorfeld der eigentlichen Versuchslinie 342 „Bias“ (engl., „Verzerrung“): Durch das Eingeben bereits falscher Vorannahmen in das Gedankenexperiment - hier dadurch, dass auf Seiten des Versuchstieres zu wenige Kriterien berücksichtigt werden, die jedoch eine Vorbedingung des Experiments sind und ohne jene es das Experiment gar nicht geben könnte - kommt am Ende ein verzerrtes Resultat heraus. Denn der reduzierte Input beeinflusst das letztendliche Ergebnis der Güterabwägung dergestalt, dass die Waagschale auf Seiten des Tieres - um beim Sinnbild der Waage zu bleiben - nicht vollständig und ausreichend befüllt und damit ein Vorteil für die Waagschale des Versuchszwecks erwirkt wird. <?page no="417"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 417 verbrauchten Tiere („Waste Animals“, vgl. Herrmann 2008 343 sowie Ferrari 2008 344 ) und weitere Faktoren mit einzubeziehen. 6.2.3 Das Lebensbilanzmodell Das ganze Leben eines Tieres - und ggf. seiner Vorfahren - sollte bei der Güterabwägung in Betracht gezogen werden (vgl. auch Kapitel 6.2.1.1.1). Die Abwägung soll nicht auf ein einzelnes Tier und eine kurze Zeitspanne reduziert werden. So fordert Birgit Salomon, die Leidensbeurteilung nicht auf experimentelle und/ oder postexperimentelle Zustände zu beschränken 345 : „[Die Leidensbeurteilung] muss so oft als möglich während des gesamten Lebens eines Versuchstieres durchgeführt werden. Zumindest aber müssen alle potenziell leidensinduzierenden Einflüsse hinsichtlich ihrer Konsequenzen auf das tierische Wohlbefinden untersucht werden. Das sind für das konventionell gezüchtete Versuchstier im wesentlichen die Haltungsbedingungen (Käfiggröße, Käfigausstattung, Belegdichte, Sozialkontakte, Ernährung, Pflege, etc.), Transportbedingungen, spontan auftretende Krankheiten, sowie der Tierversuch und seine Folgen.“ (Salomon 2000, S. 6). Nur über ein „Lebensbilanzmodell“ 346 könne vermieden 347 werden, „dass beispielweise eine Ratte, die durch einen Versuch praktisch nicht belastet wird (z.B. das Tier einer Kontrollgruppe, dem an Stelle eines Pharmakons 343 Kathrin Herrmann betont, die sog. „Waste Animals“ „können teilweise hochgradige Schmerzen erleiden, die in der Gesamtbilanz der ‘Kosten’ für das Versuchstier mit berücksichtigt werden müssen.“ (Herrmann 2008, S. 77). 344 Arianna Ferrari erläutert zu den „Kosten für das Tier“, dass bei der Herstellung gentechnisch veränderter Versuchstiere mit einem erhöhten Risiko der negativen Beeinträchtigung des Wohlbefinden des Tieres zu rechnen wäre, sowie mit einem hohen Tierverbrauch: „Zu rechnen sind alle Tiere, die in den Prozess der Etablierung einer transgenen Tierlinie involviert sind [...]: die Spendertiere und Ammentiere, die Zwischengenerationen von Mosaiktieren (die notwendige ‘Schritte’ bei der Herstellung sind), sowie die ‘falsch veränderten’ Tiere, die das Transgen entweder nicht an dem gewünschten Ort oder gar nicht exprimieren.“ (Ferrari 2008, S. 73). 345 Eine Forderung die auch von Teilnehmern des Workshops „Die Rolle der Tierversuchskommissionen…“ geäußert wurde. (Vgl. Alzmann 200 , S. 322). 346 Das „Lebensbilanzmodell“ gehe davon aus, dass der Tierversuch selbst nur eine Leidensquelle im Leben des Versuchstiers darstelle. „Um die Qualen oder auch Nicht-Qualen eines Versuchstiers richtig einschätzen zu können, muss diesem System zur Folge, und letztlich auch in Übereinstimmung mit Russell und Burch, die Lebensbelastung des Tieres bewertet werden. […] Dies ist insbesondere für transgene Tiere, die oft zeitlebens mit Transfrektionsbedingten Defekten behaftet sind, […] von großer Bedeutung.“ (Salomon et al. 2001b, S. 189). 347 Im Original bei Salomon 2000 steht an dieser Stelle „sichergestellt“, die Autorin muss in diesem Gedankengang aber „vermieden“ gemeint haben. <?page no="418"?> 6 Diskussion 418 eine NaCl Injektion 348 verabreicht wird), als leidensfrei eingestuft wird, obgleich sie vielleicht ihr gesamtes Leben isoliert in einem zu kleinen, unstrukturierten Käfig verbringen muss - ein Dasein, das bei diesen sozialen und intelligenten Tieren mit schweren Leiden verbunden ist.“ (Salomon 2000, S. 6). Dies gelte „in noch höherem Ausmaß“ für transgene Tiere, die den gleichen potenziell leidensinduzierenden Faktoren ausgesetzt wären wie ihre konventionellen Artgenossen, darüber hinaus jedoch noch andere Belastungen erfahren würden, „etwa durch Maßnahmen zur Identifizierung individueller Tiere (z. B. Amputation von Zehengliedern oder Ohrstanzen), Gewebe- und Organbiopsien zur Feststellung der Transgenität, Testreihen zur Charakterisierung des Phänotyps sowie fakultativ durch gewollte oder ungewollte phänotypische Veränderungen in Folge der Transfektion.“ (Salomon 2000, S. 6. Vgl. dazu auch Kapitel 6.2.1.1.1). 6.2.4 Die Frage nach dem Wohlergehen 6.2.4.1 Wohlergehen ist mehr als bloße Abwesenheit von Schmerzen und Schäden Ohnehin muss generell hinterfragt werden, ob „die Einschränkung des Wohlergehens, die den Tieren durch den Versuch zugemutet werden soll“ reduziert werden kann auf „den Grad der für die Tiere zu erwartenden Belastungen“ (Reetz 1993, S. 75). Ich meine: „Wohlergehen“ umfasst weit mehr als die bloße Abwesenheit von Schmerzen, Leiden und Schäden 349 , und mehr als den bloßen Zeitraum des „eigentlichen“ Experiments. Die pathozentrische Tierschutzethik stellt das Leiden und die Leidensfähigkeit in den Mittelpunkt tierschutzethischer Betrachtungen (Kuhlmann- Eberhart 2007). Kuhlmann-Eberhart verweist auf den 1981 von Sambraus formulierten Zusammenhang, dass „Leiden mangelndes Wohlbefinden“ darstelle. „[...] Leiden setzt Leidensfähigkeit voraus und diese wiederum Empfindungsfähigkeit. Die angewandte Ethologie und die Tierschutz-Ethik haben für sich den Anspruch das Leben und das Wohlbefinden der Tiere zu schützen. Dies bedeutet aber, dass nicht nur das Frei-Sein von Leiden im Tierschutz- 348 Das ist physiologische Kochsalzlösung, ohne therapeutischen Effekt - quasi ein „Placebo“. 349 So auch H. Würbel (2007, S. 23) mit Verweis auf Hirth et al. (2003): „Gemäß Tierschutzgesetzgebung ist Wohlbefinden mehr als Gesundheit und Freisein von Schmerzen, Leiden und Schäden. Es bedeutet vielmehr körperliche und seelische Harmonie des Tieres in sich und mit der Umwelt, was ungestörte, artgemäße und verhaltensgerechte Abläufe der Lebensvorgänge voraussetzt.“ Vgl. dazu auch Kap. 3.4.2., Abschnitt: „Der Begriff ‘Wohlbefinden’ im Tierschutzrecht”. <?page no="419"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 419 Mittelpunkt stehen soll, sondern vor allem das Vorhandensein von Wohlbefinden.“ (Kuhlmann-Eberhart 2007, S. 3f.). 350 So betont auch Würbel, Tiere zu schützen bedeute, „nicht nur nachzuweisen, dass sie schmerz- und leidensfähig sind und welche Maßnahmen zu Schmerzen und Leiden führen. Es bedeutet vor allem auch herauszufinden, was Tiere benötigen, damit Wohlbefinden gewährleistet ist.“ (Würbel 2007, S. 23). 6.2.4.2 Die Lebensqualität der Versuchstiere Über das Kriterium Schmerzen/ Leiden/ Schäden hinaus ist nach der Lebensqualität der Tiere zu fragen. Die Lebensqualität (LQ) der Tiere bemisst sich wahrscheinlich nach der augenblicklichen Befindlichkeit der Tiere, also dem Grad des Wohlergehens (Skala Wohlergehen von 1-10, von den Ausprägungen völlig unwohl bis hin zu fühlt sich sehr wohl und ist glücklich). Beim Menschen, der über Zukunftsvorstellungen verfügt, kann die LQ, gemessen durch das Wohlbefinden, trotz fehlender Schmerzen und Schäden sehr schlecht sein. Auf der anderen Seite kann ein Mensch enormen Entbehrungen und Unpässlichkeiten ausgesetzt sein, aber dennoch über ein gutes Wohlbefinden und damit akzeptable LQ verfügen, da ihm kognitiv bewusst ist, dass er seine Entbehrungen gerne zu tragen bereit ist, da sie ihm in der Zukunft einen gewissen Ertrag, vielleicht eine erfolgreich abgeschlossene Diplomarbeit verbunden mit guten Berufsaussichten, einem guten Start ins Berufsleben und später Erfolg und Wohlstand, einbringen kann. Leiden über einen längeren Zeitraum hinweg können vermutlich zu Schäden führen. So konnte James Garner, Univ. of California, nachweisen, dass die Stereotypien von Labormäusen Ausdruck einer dauerhaften Hirnschädigung sind. Es ist also neben den Parametern Schmerzen/ Leiden/ Schäden auf die Lebensqualität als zusätzlichem Kriterium zu achten. Um die Lebensqualität eines individuellen Versuchstieres einschätzen zu können, ist eine Kenntnis der artspezifischen Ansprüche an adäquate tierartspezifische Tierhaltungsbedingungen unumgänglich, das umfasst die Unterbringung (Käfiggröße, Beschaffenheit, Einstreu, Zugang zu Tränke und Futtertrog, ggf. „mehrstöckiges Wohnen“ - dies meint, dass es Tierarten gibt, die einen 350 Dies bedeute für die Tierschutz-Ethik, dass nicht „der negative Begriff des Leidens und jener der Leidensfähigkeit im Zentrum tierschutz-ethischer Betrachtungen stehen soll, wie dies in der Ethik des Pathozentrismus geschieht, sondern der positive Begriff des Wohlbefindens und jener der Empfindungsfähigkeit.“ Dies würde man eine Ethik des Sentientismus nennen (Kuhlmann-Eberhart 2007, S. 3). <?page no="420"?> 6 Diskussion 420 Käfig gerne auch in der Höhe nutzen, wozu ggf. Klettermöglichkeiten eingebracht werden sollten - ein Kriterium, das dem Environmental Enrichment zugeordnet werden kann), Umgebungsparameter (Raumluft, Temperatur, Ventilation, Lichtregime/ Tag-Nacht-Rhyt mik etc.), Sozialgefüge (Besatzdichte etc.) und jeweilige Ansprüche an Behavioural Enrichment. 6.2.5 Die sinnesphysiologische Entwicklungshöhe der Versuchstierart Weitere verhaltenskundliche Forschung notwendig Bei der Frage nach der sinnesphysiologischen Entwicklungshöhe der Tiere stellt sich die Schwierigkeit, dass jemand, der mit der Ethik Albert Schweitzers argumentiert, eigentlich keinen Unterschied zwischen verschieden hoch organisierten Tierarten machen kann 351 . Es geht hier also um die Frage des Gradualismus der Schutzwürdigkeit im Tierreich. Hier bedarf es also zusätzlicher Kriterien zur Klärung. Damit sind auch die Ethologen gefragt, die über (nicht-invasive) Verfahren weitere Mosaiksteine im Puzzle um die Frage der Empfindungs- und Leidensfähigkeiten verschiedener Tierarten zusammentragen müssen. Stellte sich heraus, dass Tierarten, die wir - aufgrund der momentan möglicherweise mangelhaften Untersuchungsmethodiken - als weniger leidensfähig eingestuft und damit im Einsatz als Versuchsobjekt im Tierexperiment anderen Tierarten vorgezogen haben, doch so empfindsam sind wie andere Tierarten, oder dass sie sogar noch stärker leiden bei den gleichen Maßnahmen, die die Experimentatoren ihnen auferlegen, so müssten wir einen schrecklichen und bedauernswerten Irrtum einsehen. Bei der Diskussion von Porter hatte ich ein hypothetisches Versuchsvorhaben benannt: Hierbei war die Einstufung in Kategorie C „Species of animal“: „Some sensibility“ (2 Punkte). Die Einstufung des Schmerz- Belastungsgrades in Kategorie D „Pain likely to be involved“ war „severe“ (5 Punkte, damit die maximale Belastung). Man könnte nun kritisch fragen, ob ein Tier, dem man lediglich eine geringe Empfindsamkeit zuschreibt, überhaupt schwerwiegende Schmerzen wahrnehmen kann, oder ob extremste Belastungszustände nicht bereits durch die Wahl der Tierart ausgeschlossen sind (ich glaube das nicht). Das würde bedeuten, man könnte Experimente, die mit extremen Schmerzen einhergehen, ‘guten Gewissens’ an weniger empfindsamen Tieren durchführen, als diese Prozeduren an empfindungsfähigen und mit hoher Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit („sentient, highly intelligent and precognitive“) ‘ausgestatteten’ Tierarten durchzuführen. Ich halte diesen Gedanken für problematisch. 351 Wobei das der Anspruch Schweitzers in der Theorie ist. In der Praxis ist man jedoch gezwungen, doch unterschiedlich zu gewichten. h <?page no="421"?> 6.2 Abschätzung der „Schaden“-Seite 421 In gewisser Weise ist das vielleicht der Gedanke der hinter dem § 9 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 steht (es geht im § 9 Abs. 2 TierSchG alte Fassung um das „unerlässliche Maß“; jetzt § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Buchstabe a-c und § 7a Abs. 2 Nr. 1, 2, 4 und 5 TierSchG neue Fassung). 352 Der Satz 3 Nr. 1 lautete: „Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an si