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Gemachte Welten

Form und Sinn im höfischen Roman

0115
2018
978-3-7720-5559-1
978-3-7720-8559-8
A. Francke Verlag 
Cordula Kropik

Die Studie untersucht die besondere Ästhetik mittelalterlicher Literatur am Beispiel verschiedener höfischer Romane des 12. und 13. Jahrhunderts. In einer theoretischen Vorüberlegung wird zuerst die Annahme der Nähe vormoderner Literatur zum Mythos zurückgewiesen. An ihre Stelle tritt die Einsicht in eine Form literarischer Sinnbildung, die sich über die Kategorien der Künstlichkeit und des Themas definiert. Exemplarische Analysen des ,Erec' Hartmanns von Aue, der Tristanromane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg sowie des ,Willehalm von Orlens' Rudolfs von Ems weisen das Verfahren dieser Sinnbildung detailliert auf und machen seine Bedeutung für die Poetik der Gattung deutlich. In Seitenblicken auf die selbstreflexiven Passagen der Romane wird zudem ein Bezug zum poetologischen Diskurs der Zeit hergestellt, der zeigt, wie sich das Kunstprinzip des romanhaften Erzählens schon beim mittelalterlichen Leser mit dem Eindruck des Künstlichen verband.

3 Cordula Kropik Gemachte Welten Form und Sinn im höfischen Roman Kropik Gemachte Welten ISBN 978-3-7720-8559-8 Die Studie untersucht die besondere Ästhetik mittelalterlicher Literatur am Beispiel verschiedener höfischer Romane des 12. und 13. Jahrhunderts. In einer theoretischen Vorüberlegung wird zuerst die Annahme der Nähe vormoderner Literatur zum Mythos zurückgewiesen. An ihre Stelle tritt die Einsicht in eine Form literarischer Sinnbildung, die sich über die Kategorien der Künstlichkeit und des Themas definiert. Exemplarische Analysen des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, der Tristanromane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg sowie des ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von Ems weisen das Verfahren dieser Sinnbildung detailliert auf und machen seine Bedeutung für die Poetik der Gattung deutlich. In Seitenblicken auf die selbstreflexiven Passagen der Romane wird zudem ein Bezug zum poetologischen Diskurs der Zeit hergestellt, der zeigt, wie sich das Kunstprinzip des romanhaften Erzählens schon beim mittelalterlichen Leser mit dem Eindruck des Künstlichen verband. BIBL. GERM. 65 Cordula Kropik Gemachte Welten Form und Sinn im höfischen Roman Kropik Gemachte Welten ISBN 978-3-7720-8559-8 Die Studie untersucht die besondere Ästhetik mittelalterlicher Literatur am Beispiel verschiedener höfischer Romane des 12. und 13. Jahrhunderts. In einer theoretischen Vorüberlegung wird zuerst die Annahme der Nähe vormoderner Literatur zum Mythos zurückgewiesen. An ihre Stelle tritt die Einsicht in eine Form literarischer Sinnbildung, die sich über die Kategorien der Künstlichkeit und des Themas definiert. Exemplarische Analysen des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, der Tristanromane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg sowie des ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von Ems weisen das Verfahren dieser Sinnbildung detailliert auf und machen seine Bedeutung für die Poetik der Gattung deutlich. In Seitenblicken auf die selbstreflexiven Passagen der Romane wird zudem ein Bezug zum poetologischen Diskurs der Zeit hergestellt, der zeigt, wie sich das Kunstprinzip des romanhaften Erzählens schon beim mittelalterlichen Leser mit dem Eindruck des Künstlichen verband. BIBL. GERM. 65 Cordula Kropik Gemachte Welten Form und Sinn im höfischen Roman Kropik Gemachte Welten ISBN 978-3-7720-8559-8 Die Studie untersucht die besondere Ästhetik mittelalterlicher Literatur am Beispiel verschiedener höfischer Romane des 12. und 13. Jahrhunderts. In einer theoretischen Vorüberlegung wird zuerst die Annahme der Nähe vormoderner Literatur zum Mythos zurückgewiesen. An ihre Stelle tritt die Einsicht in eine Form literarischer Sinnbildung, die sich über die Kategorien der Künstlichkeit und des Themas definiert. Exemplarische Analysen des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, der Tristanromane Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg sowie des ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von Ems weisen das Verfahren dieser Sinnbildung detailliert auf und machen seine Bedeutung für die Poetik der Gattung deutlich. In Seitenblicken auf die selbstreflexiven Passagen der Romane wird zudem ein Bezug zum poetologischen Diskurs der Zeit hergestellt, der zeigt, wie sich das Kunstprinzip des romanhaften Erzählens schon beim mittelalterlichen Leser mit dem Eindruck des Künstlichen verband. BIBL. GERM. 65 Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, BURKHARD HASEBRINK UND SUSANNE KÖBELE 65 Cordula Kropik Gemachte Welten Form und Sinn im höfischen Roman Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG-Projekt KR 3916/ 1-1). © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8559-8 Das Ganze, die Form und der Sinn 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Das Ganze, die Form und der Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Methode und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3 An den Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I Formaler Mythos. Ansätze zur Klärung eines Modells. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1 Zwischen Mythos und Wirklichkeit: Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.1 ‚Die Form der Individualität im Roman‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2 Fragen und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.2.1 Ein Mythos der Form? Zum Verhältnis von Mythos und Dichtung. . . . . . . 36 1.2.2 Ein Abbild der Wirklichkeit? Formaler Mythos und mythische Weltsicht . 42 1.2.3 Die Form der Wirklichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1.2.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.3 Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit. Eine wissenschaftsgeschichtliche Mauerschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1.3.1 Krise und Erneuerung. Die Wirklichkeit im Zeitalter der Moderne . . . . . . 52 1.3.2 Geschichtsphilosophie im Zeichen der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.3.3 Welche Wirklichkeit ist ‚wahr‘? Lugowski und Cassirer im virtuellen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 1.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2 Vom Mythos zur Kunst: Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.1 Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie . . . . . . . 85 2.1.1 Mythos und Kunst im System der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.1.2 Mythischer und ästhetischer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.1.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.2 Künstlichkeit. Einem historischen Sinnbildungstyp auf der Spur. . . . . . . . . . . . . 108 II Thematische Entfaltung. Annäherungen an eine Form literarischer Sinnbildung . . 115 1 Form, Sinn, Thema. Eine erste Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2 Aufbau vs. Entfaltung. Versuch einer analytischen Modellierung . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2.1 Formen der thematischen Entfaltung (‚Modi der Regierung‘). . . . . . . . . . . . . . . . 129 2.2 Formen des thematischen Aufbaus (‚Modi der Ausrichtung‘) . . . . . . . . . . . . . . . . 134 2.2.1 Thematische Effekte in der erzählten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.2.2 Der thematische Zusammenhang des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6 Inhaltsverzeichnis III Form und Sinn im höfischen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1 Vorüberlegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1.1 Chrétiens conjointure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1.2 Vorgehen und Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2 Kristallene Worte - schlüssige Welt. Zum ‚Erec‘ Hartmanns von Aue . . . . . . . . . . . . 160 2.1 Cristallîniu wortelîn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2.2 Der Weg als Problemverhandlung. Zur thematischen Entfaltung des Erzählens 165 2.2.1 Das Thema in seinem Verhältnis zur Handlung und die Frage nach dem ‚Modus der Regierung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.2.2 Erecs ‚Gedankengang‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2.3 Formen der Evidenzerzeugung. Zur narrativen Vermittlung des argumentativen Gehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2.3.1 Affektive Evidenz: Die Ausfahrt aus Karnant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2.3.2 Intuitive Evidenz: Brautwerbung, arthurisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2.3.3 Imaginative Evidenz: Spiegelungen, Verdichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2.4 Kristallenes Leben? Hartmanns Selbstbild und Gottfrieds Reaktion . . . . . . . . . . 212 3 Komposition als Arbeit am Mythos. Zu den Tristanromanen Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3.1 Tristanwelt und Artuswelt. Komposition und Sinnbildung im Vergleich . . . . . . 218 3.2 Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ . . . . . . 226 3.2.1 Der Minnetrank. Umrisse einer (nicht-mehr-)mythischen Handlungskonstellation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.2.2 Die zwei Ganzheiten des Tristanromans und ihr sinnbildendes Prinzip. . 232 3.3 Liebe als Problem. Eilhart von Oberg, ‚Tristrant‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3.3.1 Schematische Gesetzmäßigkeit und erzählweltliche Motivation der Handlung bis zum Minnetrank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3.3.2 Wiederholung und Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3.3.3 Spiegelungen, Verdichtungen. Zur motivierenden Wirkung realisierter Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3.3.4 Tristrants Reh und Enites Pferd. Zwei Künstlichkeiten im Vergleich . . . . 278 3.4 Im Gedankenkreis der Liebe. Gottfried von Straßburg, ‚Tristan‘ . . . . . . . . . . . . . 280 3.4.1 Den edelen herzen z’einer hage . Meditative Versenkung als ‚regierender Modus‘ und sinnbildendes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3.4.2 Künstliche Realität. Gottfrieds Restrukturierung der Tristanwelt . . . . . . . 286 3.4.3 Nur ein bunter Hund. Petitcreiu als poetologische mise en abyme . . . . . . 315 Inhaltsverzeichnis 7 4 Figuren der Vermittlung. Zum ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von Ems (anstelle eines Ausblicks) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 4.1 Tendenzen des höfischen Romans auf dem Weg zum Spätmittelalter . . . . . . . . . 323 4.2 Beobachtungen zum Auseinandertreten von ‚Kunst‘ und ‚Welt‘ . . . . . . . . . . . . . 327 4.3 ‚Kunstlose‘ Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 4.3.1 Handlungsweltliche Vermittlung als ‚regierender Modus‘ und sinnbildendes Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 4.3.2 Schluss: Perspektiven auf einen neuen Sinnbildungstyp. . . . . . . . . . . . . . . 354 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Philosophie, Literatur- und Kulturtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Tendenzen des höfischen Romans auf dem Weg zum Spätmittelalter 9 Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck habe ich sie in weiten Teilen überarbeitet, umgestellt, präzisiert und ergänzt. Vieles ist mir erst in diesem Prozess des Nach-Denkens klarer geworden, und nicht alles davon konnte ich noch in das Buch einarbeiten. Hinter dem, was auf den nächsten Seiten Andeutung bleibt, zeichnen sich deshalb weitere Studien ab; Studien, von denen man fragen mag, ob sie voranzutreiben nicht wichtiger und interessanter gewesen wäre. So hätte ich insbesondere die Konsequenzen gern weiter verfolgt, die sich aus meinen Beobachtungen für das Konzept einer allgemeinen Narratologie ergeben und die mir durchaus geeignet scheinen, dieses um einige Aspekte zu erweitern. Zudem hätte ich mich eingehender mit der Frage auseinandersetzen wollen, wie die selbstreflexiven Passagen der Romane, um die es hier geht, in ihrer poetologischen Valenz präziser erfasst und stärker in unsere Überlegungen zum Phänomen literarischen Erzählens - auch, aber nicht nur im Mittelalter - einbezogen werden könnten. Da eine Qualifikationsschrift allerdings einmal ein Ende haben muss, schließe ich mit dem Gedanken, dass in der Forschung jedes Ergebnis ein vorläufiges ist: ein Ziel, an dem man innehält, um den Weg, der noch zu gehen ist, neu abzustecken. - - Und um zu danken: Jens Haustein danke ich für sein Interesse und seine Unterstützung; ihm, Stefan Matuschek und Jan-Dirk Müller für die Übernahme der Habilitationsgutachten und konstruktive Kritik. Bei Burkhard Hasebrink, Susanne Köbele und Ursula Peters bedanke ich mich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Bibliotheca Germanica, ermutigende Gespräche sowie wertvolle Hinweise für die Überarbeitung. Dank gebührt weiter Anja Becker und Markus Greulich für hilfreiche Vorablektüren und Tillmann Bub für die ebenso freundliche wie geduldige Betreuung der Publikation. Mein ganz besonderer Dank gilt den Gutachterinnen und Gutachtern der DFG, deren Vertrauen mir die Möglichkeit gab, mich über einen längeren Zeitraum hinweg auf das Habilitationsprojekt zu konzentrieren, sowie natürlich der DFG selbst, die mir in den letzten Jahren nicht nur zu einer wichtigen Ansprechpartnerin, sondern mehr und mehr auch zur wissenschaftlichen Heimat geworden ist. Gedankt sei schließlich Gert Hübner, der im Anschluss an die Habilitation meinen Antrag auf ein Heisenbergstipendium unterstützt und mich nach Basel eingeladen hat, wo dieses Buch im letzten Jahr endgültig Gestalt annahm. Leider konnte er nicht mehr dazu beitragen; ich hätte mit ihm gern noch das eine oder andere besprochen. Jena, im November 2017 C. K. Das Ganze, die Form und der Sinn 11 Einleitung 1 Das Ganze, die Form und der Sinn Literarische Texte stiften Sinn. Dafür werden sie verfasst und darum werden sie gelesen. Es mag Ausnahmen geben, aber um sie soll es hier nicht gehen. Am Anfang dieser Untersuchung steht vielmehr die Frage, was den Sinn literarischer Texte ausmacht und wie er insbesondere in der Dichtung vergangener Epochen begriffen und beschrieben werden kann. Versucht man von dieser Frage ausgehend, das Phänomen ‚Sinn‘ zunächst einmal genauer zu umreißen, so kommen umgehend zwei weitere Kategorien ins Spiel: erstens die der Form, oder, in einer allgemeineren Bezeichnung, der relationierenden bzw. kohärenzbildenden Ordnung, und zweitens die jener Ganzheit, in der sich diese Ordnung zum übergreifenden Gefüge des Textes schließt. Die Ordnung erscheint hier als ein Moment, das die Ganzheit sowohl garantiert als auch übersteigt. Wenn literarische Texte Sinn stiften, dann tun sie das nämlich dadurch, dass sie sich selbst eine (innere) Ordnung geben, die auf andere (äußere) Ordnungen rekurriert. Indem sie ihre Elemente - Laute, Worte und Sätze, Gegenstände, Sachverhalte, performative Signale etc. - zu einer geordneten Darstellung verknüpfen; und indem sie diese Darstellung außerdem in den Rahmen weiterer Ordnungen, kultureller wie literarischer, einbinden, formen sie sich zu Gebilden, die in ihrem umfassenden Zusammenhang (eben: als sinnvoll) verständlich werden. Dass in dieser Bestimmung auch der Sinn in eine doppelte Perspektive rückt, ist unschwer zu sehen. Er erscheint als etwas, das zugleich innerhalb der Texte existiert und aus ihnen heraus deutet, das ebenso Teil ihrer Faktur ist, wie es nur vor dem Hintergrund des Wissens, der Erfahrungen und Erwartungen ihrer Produzenten und Rezipienten nachvollzogen werden kann. Literarische Texte dürfen darum als sinnvoll gelten, wenn sie zum einen kohärent gefügt und ganzheitlich geschlossen sind und wenn sie sich zum anderen in einer Weise auf ihre Kontexte beziehen, die ihnen einen über das explizit von ihnen Gesagte hinausgehenden ‚Witz‘ verleiht. 1 Diese Auffassung vom Sinn literarischer Texte auf ältere Literatur zu übertragen, stellt ohne jeden Zweifel eine Herausforderung dar. Das gilt nicht nur deshalb, weil sich ein Text im Laufe der Zeit immer weiter von der Lebenswelt, den Verstehens- und Rezeptionsgewohnheiten seiner Leser entfernt und es ihnen so immer schwerer werden lässt, seine inneren und äußeren Ordnungen adäquat zu erfassen. Hinzu kommt, was noch gra- 1 Zur Definition von ‚Sinn‘ aus literaturwissenschaftlicher Sicht sowie zur Unterscheidung von Sinn 1 (inhaltliche Kohärenz und Verständlichkeit) und Sinn 2 (Kontextbezug und ‚Witz‘ / narrative point ) pointiert zusammenfassend Köppe / Kindt 2014, S. 43-73, Abel / Blödorn / Scheffel 2009. Von der literaturwissenschaftlichen Bestimmung abzugrenzen ist der soziologisch-handlungsorientierte Gebrauch des Begriffs, dem zufolge ‚Sinn‘ in Bezug auf jene Ordnungen zu beschreiben ist, die dem menschlichen Tun als Wissen von der Organisation der Wirklichkeit zugrunde liegen und es so ermöglichen, Handeln mit Bedeutung zu versehen. In Bourdieus Habitus-Konzept geschieht dies etwa in Gestalt von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die im Sozialisationsprozess körperlich-mental internalisiert wurden. Überblickend dazu Reckwitz 2000 / 2006, bes. S. 15-38, 129-147, 308-346. Eine instruktive Zusammenführung beider Perspektiven unternimmt Fulda 2004. 12 Einleitung vierender ist, dass der Leser sich irgendwann nicht einmal mehr sicher sein kann, ob ein älterer Text überhaupt in der von ihm angenommenen Weise geordnet ist. Denn mit den Voraussetzungen und Bedingungen literarischer Sinnbildung unterliegt auch diese selbst einem stetigen Wandel, was bedeutet, dass nicht zuletzt danach gefragt werden muss, ob die Vorstellung, die sich der Leser von einem sinnvollen Text macht, seinem historischen Gegenstand auch tatsächlich gerecht wird. 2 In der Altgermanistik hat man diese Frage in den letzten Jahrzehnten wiederholt verneint und dafür in kulturwissenschaftlicher Perspektive auf das Kriterium der Kohärenz verwiesen. Diese, so das gängige Argument, sei in den von Wiederholung, Vokalität und Unfestigkeit geprägten Texten des Mittelalters von vornherein schwächer als in der Literatur der Neuzeit. Aus diesem Grund sei der Nexus, der den Sinn der Darstellung verbürgt, bei ihnen weniger dort zu greifen, wo ihn die klassische Hermeneutik suchte, also in den Texten selbst, als vielmehr in jenen diskursiven Formationen, kulturellen und narrativen Mustern, die in sie eingehen, ohne gegeneinander vermittelt zu werden. Weil sich die Texte dergestalt gerade nicht zur Einheit fügten, seien ihnen Kohärenz und Geschlossenheit ebenso wenig zuzugestehen, wie die Vorstellung eines Sinns, der sie insgesamt durchzieht. Im Mittelalter, so formuliert etwa Jan-Dirk Müller, folgen literarische Texte „vielfach nur ein Stück weit […] konzeptionellen Vorgaben und Sinnbildungsmustern […] und [bemühen] sich nicht um vollständige Integration aller einzelnen Elemente“. 3 Christian Kiening definiert sie darum programmatisch als „Texte vor dem Zeitalter der Literatur“, als „heterogene[] Gebilde, zusammengesetzt aus Stücken der Tradition, die in [ihnen] [] eine neue Dynamik gewinnen kann, teilhabend an Diskursen, die durch [sie] [] eine neue Richtung erhalten können, bezogen auf ‚Wirklichkeiten‘, die [sie] nicht einfach abbilde[n] oder spiegel[n], in die [sie] aber auf spezifische Weise eingelassen [sind] - als Produkt[e] situativ unterschiedlicher Praktiken, in denen gesellschaftliche Gruppen Bedeutung herstellen im Medium geformter Rede.“ 4 Die Auswirkungen dieser Positionierung auf den literaturwissenschaftlichen Umgang mit mittelalterlichen Texten sind augenscheinlich beträchtlich. Folgte man ihr, so käme man kaum umhin zu schließen, dass jede Lektüre, die nach wie vor d e n Sinn eines mittelalterlichen Textes erfragt, von der falschen Prämisse seiner Ganzheit ausgeht und daher grundsätzlich hinfällig ist. Interpretatorisch relevant wären dann nur noch Fragen, die sich auf partikulare Sinnperspektiven und die Deutung des Textes in Hinblick auf bestimmte kulturelle Praktiken richten. 5 Der Text in seiner Gesamtheit hingegen, zumal in seiner Ei- 2 Ich lege dieser Formulierung den Unterschied zwischen dem Alteritätsverständnis der Hermeneutik und dem einer stärker semiotisch operierenden Kulturwissenschaft zugrunde. Vgl. dazu bes. Jauss 1977, Kiening 2005, Peters 2007. 3 Müller 2007, S. 39. 4 Kiening 2003, S. 37. 5 De facto würde das die Ersetzung des literaturwissenschaftlichen Sinnbegriffs durch einen soziologischen (zur Bestimmung vgl. Anm. 1) zumindest nahelegen. Je mehr ein Text sich auf seine Kontexte hin öffnet und je mehr er damit den Anspruch verliert, als ein spezifisch literarischer eigenen Regeln zu folgen, desto plausibler scheint es, ihn selbst, oder genauer, das in ihm dargestellte oder durch ihn vollzogene Handeln mit denselben Maßstäben zu messen wie alle anderen sozialen Handlungen auch. Der Sinn historischer (Erzähl-)Texte könnte damit letztlich nur noch im Rahmen einer praxeologischen Narratologie etwa von der Art beschrieben werden, wie sie zuletzt Hübner (2010a, 2014 und 2015) entwickelt hat. Die Radikalität des Ansatzes ginge indes noch weiter: Hübner beschränkt sich darauf, die Frage nach dem „Gesamtbedeutungsangebot“ mittelalterlicher Erzählungen hintanzustellen, ohne dieses zu negieren (2010a, hier S. 236). Das Ganze, die Form und der Sinn 13 genschaft als Produkt eines ihn formenden Gestaltungswillens, wäre aus der Betrachtung auszuschließen. Inwiefern er unter diesen Umständen weiterhin als Hauptgegenstand einer durch ihn legitimierten Literaturwissenschaft fungieren könnte, wäre zu bezweifeln. 6 Müssen wir uns also damit abfinden, ‚Sinn‘ in Bezug auf mittelalterliche Literatur nicht als eine Kategorie der inneren Ordnung, sondern vornehmlich als einen Effekt der Wechselwirkung zwischen Schriftzeugnis und Kultur zu behandeln? Wenn mir dieser Schluss um einiges zu weit zu gehen scheint, so liegt das nicht zuletzt daran, dass keineswegs nur der von der jüngeren Forschung verworfene hermeneutische Ansatz auf irrigen Prämissen ruht. Auch ihr eigenes, die Texte mehr und mehr in Bündel heterogener Sinnbildungsmuster auflösendes Vorgehen 7 steht vielmehr mit einem Paradigma in Verbindung, das in seiner Perspektive auf die Literatur des Mittelalters problematisch ist. Dieses Paradigma ist das des Strukturalismus, oder genauer, jenes Strukturalismus, mit dem Walter Haug das Bild vom literarischen Wirken vor- und außerliterarischer Erzählmuster, das den Fachdiskurs bis heute dominiert, bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts prägte. 8 Seine anhaltende Anschlussfähigkeit an die aktuelle Forschung gründet in einer kulturwissenschaftlichen Lesung, die möglich wird, weil Haug das Phänomen, das später den Namen des ‚kulturellen Narrativs‘ erhalten sollte, 9 in die strukturelle Tiefe literarischer Texte versetzt. Sein Grundgedanke: 10 Die Literatur des Mittelalters basiere in weiten Teilen auf Erzählschemata mythischer, aber auch sozial-normativer, heroischer, heilsgeschichtlicher oder legendarischer Herkunft, und ihr vorzugsweises Verfahren bestehe darin, diese Schemata in sich aufzunehmen, um sich mit ihren Sinnvorgaben auseinanderzusetzen. Der Prozess der literarischen Sinnbildung vollziehe sich daher in einem Zweischritt von Adaption und Transformation. Indem ein Text von einem vorgängigen Schema ausgehe, um es zu variieren und mit anderen Schemata zu kombinieren, überführe er dessen Sinn in eine Reflexion, die sich durch ihre Freiheit gegenüber der festgefügten Struktur des (nun in seiner ‚Tiefe‘ liegenden) Schemas als literarisch auszeichne. Die genuine Leistung des literarischen Textes bestehe demgemäß darin, dass er mit der narrativen Form des Schemas auch die dort 6 Zur Diskussion um die Gefahren und den Nutzen einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft grundlegend Haug 1999 und von Graevenitz 1999, vgl. bes. auch Müller 1999a. 7 Ich verzichte auf eine detaillierte Darstellung des Forschungsgangs und begnüge mich mit dem globalen Hinweis auf die Vielzahl von Publikationen, die seit der Jahrtausendwende Phänomene der Hybridität, der Brüchigkeit und Montagehaftigkeit mittelalterlicher Literatur erörtert haben. Sie alle verbindet, dass sie die Texte sozusagen systemisch von den Mustern her beurteilen, die ihnen voran- und in sie eingehen. Dass dabei schon die Einsicht in das Nebeneinander unterschiedlicher Erzählformen ausreicht, um die Vorstellung des Textes als eines sinnhaften Ganzen zu verabschieden, zeigen exemplarisch Fuchs 1997, hier bes. S. 367-403 und Schulz 2000, bes. S. 230-233. 8 Diese Aussage mag insofern merkwürdig anmuten, als Haug zu denjenigen gehört, die die Einheit des literarischen Gegenstandes am nachdrücklichsten gegen kulturwissenschaftliche Bestrebungen zu seiner Auflösung verteidigt haben (vgl. Haug 1999, bes. S. 77-86). Und in der Tat ist Haugs Zugriff ein anderer, gleichwohl hat er die Art und Weise, in der das kulturwissenschaftliche Paradigma in der Altgermanistik rezipiert wird, maßgeblich beeinflusst. Im Lichte dieser Beobachtung wäre davon auszugehen, dass die kulturwissenschaftlich orientierte Forschung den (in seiner strukturalistischen Prägung ahistorischen) Ansatz Haugs zwar historisiert, die ihm eigene Bindung literarischer Sinnbildung an genuin textexterne (Erzähl-, Denk- und Handlungs-)Schemata aber beibehält. Explizit in diesem Sinne Hübner 2010a, S. 236 f. 9 Zu diesem Begriff grundlegend Fauser 2003 / 2006, S. 87-94. 10 Meine Paraphrase fasst die Position zusammen, die Haugs Arbeiten mehr oder weniger durchgängig prägt. Pointiert ausformuliert findet sie sich bei Haug 1973 / 1989, 1977 / 1989, 1983 / 1989, 1988 / 1995, 1991 / 1995. 14 Einleitung gebundenen Denk- und Erfahrungsmuster aufbreche und seinen Rezipienten dergestalt neue Perspektiven auf den Sinn des Erzählten sowie ihre eigene Erschließung der Wirklichkeit eröffne. Das, so Haugs Einschränkung, gelinge freilich nur, solange die Rückbindung an die vorgängigen Muster gegeben sei. Da im Zuge der zunehmenden Literarisierung auch der spielerische Umgang mit dem schematisch vorgegebenen Sinn immer flagranter werde, sei der Weg in selbstbezüglichen Leerlauf, formalistische Erstarrung und problemvergessene Banalität vorgegeben. Spätestens wenn „die Möglichkeiten [der Strukturen] bis zum Ende durchgespielt sind, [drängt sich] ihre Geschichtlichkeit ins Bewußtsein […] und [löst] damit einen Prozess aus[], der zum kritischen Umschlag weiterführt“. 11 Weil das auf Schemata basierende Erzählen in seiner augenscheinlichen Beliebigkeit die Einsicht in die eigene Kontingenz herausfordert, driftet es früher oder später in die Sinnlosigkeit ab. Dass Haugs Darstellung die aktuelle kulturwissenschaftliche Sicht auf den Form-Sinn- Zusammenhang mittelalterlicher Literatur in mehr als nur einem Punkt vorwegnimmt, ist offensichtlich. Indem er diese Literatur aus vor- und außerliterarischen Erzählmustern ableitet, lässt er vor allem bereits den Eindruck entstehen, dass sinnhaft-formale Ganzheit, wenn überhaupt, nur in diesen zu finden wäre. Seine Position ließe sich sogar dahingehend zuspitzen, dass die ‚Oberfläche‘ eines mittelalterlichen Textes mit dem Grad seiner literarischen Gestaltung mehr und mehr zur Negation sinnhafter Form werde. Denn wo allein das (zunächst außerhalb und dann in seiner Tiefe liegende) Schema den Sinn garantiert, da gibt jede narrative Anordnung, die dieses aufnimmt und variiert, mit seinem Sinn zugleich auch seine Form der Auflösung anheim. 12 Die Schlussfolgerung, dass literarischen Texten des Mittelalters die Fähigkeit zur Sinnbildung nicht nur sehr viel weniger eigne als denen der Neuzeit, sondern dass ihr Prinzip im Gegenteil geradezu deren Vernichtung sei, ist beinahe zwingend: Wenn mittelalterliche Texte sich dadurch als literarisch definieren, dass sie die ihnen voraufgehenden Schemata in freier Variation ‚zerspielen‘, dann geht der Keim der Zerstörung nicht erst in „nachklassischer Zeit“ auf, sondern bereits am Anfang, da, wo die Texte schon mit dem ersten Überschreiten der Schwelle zur Literatur die objektive Geltung des ihnen schematisch vorgegebenen Sinns fundamental in Frage stellen. 13 Inwiefern auch diese letzte Idee in die jüngere Forschung weiterwirkt, ist im Einzelnen zwar kaum auszumachen; dass sie deren pessimistische Haltung gegenüber der Möglichkeit einer übergreifenden Kohärenz- und Sinnbildung in mittelalterlichen Texten eher befördert als gehemmt haben dürfte, darf man aber wohl zumindest vermuten. Hinzuzufügen ist, dass die Einsicht in die enorme Anzahl von narrativen Mustern, die die Literatur des Mittelalters noch über die von Haug bezeichneten Schemata hinaus prägen, wenig dazu geeignet 11 Haug 1973 / 1989, S. 237. 12 Die einzige Ausnahme von dieser Regel stellt für Haug bekanntlich der chrétien-hartmannsche Artusroman dar. Dieser konstituiert ein eigenes, nun genuin literarisches Schema, das, so Haug, in seiner grundsätzlichen Reflexion auf die Sinnhaftigkeit der eigenen Struktur ganz anders funktioniert. Seine Ausnahmestellung ändert freilich nichts daran, dass es das Schicksal aller anderen Schemata teilt: Es wird in der unmittelbaren Nachfolge Chrétiens wieder zersetzt. Vgl. dazu bes. Haug 1971. 13 Haug lässt von diesem Typus eines ‚sinnzersetzenden‘ Sinnstiftens Ansätze zu einem neuen ausgehen, der „nicht mehr von strukturellen Mustern, sondern von personalen Konstellationen bestimmt wird. An die Stelle von Figuren, die in Funktionen und Rollen aufgehen, treten dann Individualitäten, die ihren je einmaligen Lebensweg aus ihren subjektiven Bedingtheiten heraus entwerfen.“ Aber: „Dieser neuzeitliche Romantyp wird im Spätmittelalter noch nicht erreicht“ (1991 / 1995, S. 283). Dass Haug gerade an dieser Stelle auf Lugowski verweist (ebd., S. 360, Anm. 31), ist bezeichnend: Die Parallelen zu dessen These von der Auflösung des ‚formalen Mythos‘ auf dem Weg zur Entstehung neuzeitlicher Individualität sind evident - was Haugs Modell in den Sog derselben Probleme geraten lässt. Das Ganze, die Form und der Sinn 15 ist, diese Haltung zu revidieren. Denn je breiter das Spektrum der Narrative, die aus dem Bereich des gesellschaftlich Imaginären, der Alltagserfahrung und des rhetorischen bzw. mehr oder weniger gelehrten Wissens in die Texte eindringen, desto weniger sind sie als Realisationen nur eines einzigen Musters und damit als ganzheitlich von diesem bestimmt zu beschreiben. Der kulturwissenschaftliche Ansatz scheint so gesehen gar nicht anders zu können, als bestätigend an Haugs Auffassung anzuknüpfen. Er konvergiert mit ihr in der Feststellung, dass sich in einem (vor-)literarischen System, das so stark von seinen Kontexten geprägt ist wie das des Mittelalters, der einzelne Text nicht in dem Maße zum Ganzen schließen kann wie in der neueren Literatur. Da dieser Text deshalb eher einen Schnittpunkt von Strukturen denn ein eigenständig geformtes Gebilde konstituiert, scheint er mit sehr viel größerer Berechtigung von seinen Brüchen, von seiner Inkohärenz und Hybridität her zu begreifen zu sein, als umgekehrt vom Prinzip seiner ganzheitlichen Gestaltung. Dass man gerade aus kulturwissenschaftlicher Sicht auch anders argumentieren kann, wird in diesem Zusammenhang nur in Ansätzen deutlich. Um den Blick für die ganzheitliche Geformtheit literarischer Texte zurückzugewinnen, ist freilich gar nicht so sehr viel mehr nötig, als ihnen den konstruktiven Umgang mit ihren Mustern zuzugestehen, und sei es zunächst auch nur im Mikrobereich. Wie anders die Sinnbildung sich im Lichte dieser Prämisse gestaltet, geht interessanterweise gerade aus der Studie besonders klar hervor, die die kulturwissenschaftliche Partikularisierung mittelalterlicher Literatur zuletzt am weitesten vorangetrieben hat. Jan-Dirk Müller versteht seinen Vorschlag, mittelalterliche Texte als „Elemente der Episteme [jener] historischen Kultur“ zu untersuchen, „an deren Themen und Strukturen sie teilhaben“, zwar explizit als Herausforderung eines Literaturbegriffs, der den Kunstcharakter und den inneren Zusammenhang literarischer Texte als Operationsbasis betrachtet. 14 Indem er jedoch zeigt, wie sich die von ihm herauspräparierten „Erzählkerne“ narrativ entfalten, schafft er zugleich die Voraussetzung für eine Beschreibung, die über die literarische Modellierung einzelner Sinnmomente hinaus 15 wieder auf den Gesamttext ausgreift. Sein Vorgehen ist dem Haugs soweit vergleichbar, als er die Texte ebenfalls von den in sie eingehenden Mustern her in den Blick nimmt. 16 Da er ihr ästhetisches Prinzip darin sieht, diese Muster - anstatt sie auf dem Weg aus der Tiefe des Textes an seine Oberfläche bloß zu transformieren - eigenständig aus- und weiterzuarbeiten, haben sie bei ihm allerdings ganz selbstverständlich die Kraft, aus dem „narrativen Potential“ des Erzählkerns „verschiedene narrative Konfigurationen [zu] generier[en]“. 17 Wenn die den Texten zugrundeliegenden Muster so „eine zeitlang literarisch produktiv sind, weil sie historisch relevante Probleme konfigurieren […]“, dann werden sie darum zwar in „ihre[n] Möglichkeiten durch[ge-]spiel[t]“, keinesfalls aber - wie bei Haug - z e r spielt. 18 14 Zum Konzept des Projekts: Müller 2007, S. 6-41, hier S. 6 f. 15 „‚Erzählkern‘ nenne ich die regelhafte Verknüpfung eines Themas bzw. einer bestimmten thematischen Konstellation […] mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können“ (ebd., S. 22). Hier verbindet sich also ein Thema mit bestimmten narrativen Strukturen, die dann jeweils in einem gewissen Umfang sinnstiftend wirksam werden. 16 Müller verweist hier im weitesten Sinne auf „kollektive Vorgaben“ je „historisch spezifische[r] […] Diskurs- und Gattungstraditionen, Erfahrungs-, Handlungs-, Verhaltens-, Affektmuster“ (ebd., S. 30). Er fasst den Musterbegriff also im Sinne seines kulturwissenschaftlichen Programms deutlich weiter als den des Schemas. 17 So die bereits zitierte Definition des Erzählkerns ebd., S. 22. 18 Ebd., S. 22 f. 16 Einleitung Obwohl Müller programmatisch hervorhebt, dass die Sinnbildungsleistungen der Erzählkerne immer „nur ‚regional‘“ beschrieben werden können, 19 kommt an dieser Stelle unweigerlich die Frage auf, ob das Verfahren, in dem diese Kerne jeweils miteinander kombiniert und - wie Müllers Analysen eindrücklich aufscheinen lassen - großräumig zu immer wieder neuen Varianten höfischer Kompromissbildungen (re-)konfiguiert werden, am Ende nicht doch wieder als sinnbildend auf der Ebene des Textes begriffen werden muss. Wenn nämlich, so die Überlegung, ein literarischer Text dergestalt „auf imaginären Ordnungen ersten Grades auf[sitzt]“, dass er diese - und zwar offenbar durchaus gezielt - „zitier[t], […] [in] ihre[m] Spielraum [erprobt] […] und auf sie zurück[wirkt]“, 20 dann erschiene es zumindest merkwürdig, wenn er nicht auch als Ganzer auf irgendetwas hinauswollte, wenn er also bloß ein Repertorium von auskristallisierten Erzählkernen ohne übergreifende Ausrichtung und ohne einen - in irgendeiner Weise als intentional deutbaren 21 - ganzheitlichen Sinn wäre. Wo die Schwierigkeit eines kontextorientierten kulturwissenschaftlichen Ansatzes liegt, ist hier mit Händen zu greifen. Da er die Literatur des Mittelalters vor allem unter dem Aspekt der Muster und Problemkonstellationen betrachtet, die von außen in sie einfließen, kann er ihre spezifische Leistung auch nur von diesen her verstehen. Damit aber fehlt ihm schlicht die Perspektive, die es ihm ermöglichte, in ihr noch etwas anderes als die Spiegelung der sie umgebenden (Schrift-)Kultur zu sehen. Wenn ihm die Texte in der Folge inkohärent und brüchig erscheinen, so muss das darum noch nicht heißen, dass sie es auch tatsächlich sind. Es bedeutet vielmehr zunächst einmal nur, dass das sie betrachtende Auge für das Prinzip, das die partikularen Bindungen in ein größeres Ganzes integrieren könnte, blind bleibt. Das tut dem Herangehen zwar zugegebenermaßen so lange keinen Eintrag, wie es vornehmlich die Austauschprozesse zwischen den Texten und der sie hervorbringenden Kultur fokussiert. Spätestens in dem Moment, da die (Außen-)Perspektive nicht mehr als Perspektive, sondern als Zustandsbeschreibung begriffen wird und man den Texten die Fähigkeit zur sinnhaften Schließung darum generell abspricht, 22 wird der blinde Fleck jedoch zur methodischen Lakune. Insgesamt ist somit festzuhalten, dass das Vorhaben, den Sinn eines Textes allein aus seinen historischen Kon- und Subtexten zu rekonstruieren, immer Gefahr läuft, den Fehlschluss auf die genuine Hybridität mittelalterlicher Literatur und ihre konstitutive Tendenz ins Sinnlose zu wiederholen. Anders als der Strukturalismus Haugs muss die Kulturwissenschaft dieser Gefahr aber nicht erliegen. 19 Ebd., S. 28. 20 Ebd., S. 12. 21 Wer als das Subjekt dieser Intention angesprochen werden darf, ist zunächst gleichgültig. Es kann der Autor sein, denkbar wäre aber ebenso ein Bearbeiter oder auch die Option, dass der Rezipient, indem er den Text als sinnhaft begreift, diese Intention nur unterstellt. Voraussetzung ist so oder so, dass der Text über bestimmte Strukturen verfügt, die ihn als sinnvoll verstehbar machen. Allein sie sind es, die für den Rezipienten greifbar sind, und allein bei ihnen kann entsprechend auch die literaturwissenschaftliche Analyse ansetzen. 22 Müller formuliert explizit, dass „‚Ganzheit‘ keine Kategorie der mittelalterlichen Literatur“ und die „Orientierung an von Erzählkernen generierten Textstrukturen der mittelalterlichen Ästhetik“ darum eher „angemessen“ sei (2007, S. 39). Diese Position ist als Abgrenzungsbewegung gegen alle Arten von harmonisierenden Gesamtinterpretationen verständlich, sie geht aber insofern zu weit, als die Deutung eines Textganzen den Umstand der Inkohärenz - oder das, was dem neuzeitlichen Interpreten so scheint - keinesfalls überspielen muss. Die Herausforderung besteht vielmehr gerade darin, ihn zu reflektieren und ins Verständnis der narrativen Sinnbildung zu integrieren. So auch Abel / Blödorn / Scheffel 2009, S. 7-10. Das Ganze, die Form und der Sinn 17 Meine Kritik an der kulturwissenschaftlichen Methode ist darum keine grundsätzliche. Wenn ich mich mittelalterlichen Texten wieder in ihrer sinnhaft geformten Ganzheit zuwende, so verstehe ich das weniger als Absage denn als Ergänzung - als eine Ergänzung, die, wie an dieser Stelle betont sei, den Anforderungen einer historisch angemessenen Lektüre nicht minder entspricht. 23 Denn nicht nur die klassische Hermeneutik tendiert, wenn sie sich mittelalterliche Texte als (in modernem Sinn) ästhetisch durchstrukturierte Sinneinheiten vorstellt, zum Anachronismus. Auch das kulturwissenschaftliche Bestreben zur Auflösung der Text-Kontext-Grenze verzerrt die Sachlage insofern, als es eine Differenz zur Textualität der Moderne immer schon mitdenkt. Wo die Forschung die Offenheit und Unfestigkeit des vormodernen Textes herausstreicht, da sieht ein mittelalterlicher Rezipient jedoch ein sprachliches Gebilde, das ihm im Moment des Vortrags (oder in seiner handschriftlichen Präsenz) ganz selbstverständlich als eine geschlossene Ganzheit erscheint. 24 Dass er es stärker als ein neuzeitlicher Leser als Wiederholung vorangehender Texte bzw. als Vollzug einer kulturellen Praxis wahrgenommen hat, mag zwar sein. 25 Doch dürfte ihm mit einiger Sicherheit nichts ferner gelegen haben, als es - anstatt als geschlossenes Ganzes - als einen Schnittpunkt von Wissensordnungen, als immer nur regional sinnvolles Konglomerat von Erzählkernen o. ä. anzusprechen. 26 Wiewohl es in gewisser Hinsicht banal anmuten mag, ist es an dieser Stelle vielleicht nicht überflüssig, das textlinguistische Axiom in Erinnerung zu rufen, das besagt, dass ein Text seinen Rezipienten, um von ihnen akzeptiert zu werden, in irgendeiner Weise verständlich sein muss. 27 Dass die literarischen Texte des Mittelalters von ihren Rezipienten akzeptiert wurden - und andernfalls wären sie kaum überliefert worden - deutet folglich darauf hin, dass sie diesen durchaus hinreichend kohärent und sinnvoll erschienen sein müssen. Einer sich als historisch verstehenden Literaturwissenschaft sollte schon allein das Grund genug sein, die Kohärenz und den Sinn ihrer Gegenstände auch und gerade dort zu erfragen, wo sie sich dem modernen Leser nicht unmittelbar erschließen. Das ist der Punkt, an dem meine Untersuchung ansetzt. Ihr Anliegen besteht darin, ein Analyseverfahren zu entwickeln, mit dessen Hilfe das Verhältnis von Form und Sinn in einer mittelalterlichen Gattung, die mit einigem Recht in besonderer Weise als literarisch gilt - dem höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts -, so beschrieben werden kann, dass der Sinn des einzelnen Textes in erster Linie als Effekt eines inneren Ordnungsprinzips aufscheint, das ihn jeweils als Ganzen erfasst. Mein Interesse gilt also der sinngebenden Komposition dieser Texte, und besonders der Frage, was sie in ihrer Komponiertheit zum einen als ganzheitlich geformte Einzelne und zum andern als Typus - und zwar allgemein 23 In diesem Sinne weist auch Kiening darauf hin, dass Texte nicht nur als „Variationen eines Typus beschrieben“, sondern „gleichzeitig als Singularitäten ernstgenommen“ werden müssen (2009, S. 33). 24 Oder anders ausgedrückt: Da ihm der identisch reproduzierbare, durch Paratexte begleitete und durch das Urheberrecht in seinem Bestand gesicherte Text der Neuzeit unbekannt war, dürfte die Möglichkeit eines größeren Maßes an Geschlossenheit kaum in sein Blickfeld gerückt sein. 25 Als gesichert anzunehmen ist es freilich nicht. Dass ein mittelalterlicher Rezipient all dies ausblendet, ist vielmehr genauso denkbar wie der Fall, dass ein neuzeitlicher Leser einen literarischen Text etwa nur in Bezug auf seine theatrale Aufführung oder als Remake einer Vorgängerversion wahrnimmt. Die genaue Art der Rezeption hängt auch im Mittelalter von einer Vielzahl von Faktoren (der Einstellung des Rezipienten, der Rezeptionssituation etc.) ab, die im Einzelnen nicht immer rekonstruierbar sind. 26 Die Tendenz, einem Text eher „einen Sinn unter[zu]schieben, als zu akzeptieren, daß [er] ‚sinnlos‘ ist“ darf auch beim mittelalterlichen Rezipienten vorausgesetzt werden. Zu den Grundlagen des Textverstehens aus textlinguistischer Sicht Busse 1992, hier S. 170. 27 Andernfalls erscheint er ihnen gar nicht als Text: Vgl. Brinker 1985 / 2010, S. 11 f., 16-19. 18 Einleitung als Typus einer bestimmten Art von Literatur sowie speziell als Typus ‚höfischer Roman des 12. und 13. Jahrhunderts‘ - ausmacht. Die Ansätze, die mittelalterliche Texte vornehmlich als Teil verschiedener durch sie hindurchgehender Narrative und kultureller Praktiken begreifen, kehre in diesem Zusammenhang programmatisch um. Ich frage also nicht, was die Texte mit den Mustern, sondern was sozusagen die Muster mit den Texten machen bzw. allgemeiner, wie sich die Texte in der (An-)Ordnung verschiedener Arten von vorgeprägten und eigenen Formzügen zu sinnhaften Ganzheiten fügen. Dass auch mein Zugriff den Beschränkungen seiner Perspektive unterliegt, versteht sich von selbst: Je mehr ich die Texte in ihrer Ganzheit und dem darin zum Ausdruck kommenden literarischen Formprinzip betrachte, desto mehr verliere ich notwendigerweise all jene Bezüge und Korrespondenzen aus dem Auge, die sie im Einzelnen mit der sie umgebenden Kultur verflechten. Für den kulturwissenschaftlichen Anspruch meiner Untersuchung bedeutet das insofern keine Einschränkung, als die ganzheitlich verfassten (Sprach-)Kunstwerke, 28 als die die Texte nun erscheinen, nicht minder Teil der kulturellen Praxis ihrer Zeit sind und als solche ebenfalls zugleich aus ihr hervorgehen und in sie zurückwirken. Mein Blick auf die Texte in ihrer sinnhaft geformten Ganzheit eröffnet darum nicht zuletzt die Möglichkeit, sie in ihrer Literarizität neu zu ihrem kulturellen Umfeld ins Verhältnis zu setzen. 2 Methode und Vorgehen Die umrissene Aufgabe ist gewiss keine leichte. Und sie wird dadurch nicht einfacher, dass Andere sie mit zum Teil beträchtlicher forschungsgeschichtlicher Wirkung bereits vor mir angegangen sind. Zuerst ist hier auf Hugo Kuhns Darstellung des ‚doppelten Kursus‘ zu verweisen sowie daran anschließend auf Walter Haugs Versuch, die ‚Symbolstruktur‘ des chrétien-hartmannschen Artusromans mit dem Aufkommen einer neuen, genuin schriftliterarischen Sinnbildungsform in Verbindung zu bringen. 29 Hinzu kommt Markus Stocks Modell der ‚korrelativen Sinnstiftung‘, das mittelalterliche Texte programmatisch als „komplexe[] Gewebe von verknüpften Einzelelementen“ in den Blick nimmt, wobei es mit meinem Zugriff zudem im Bekenntnis zu einer Betrachtung früher Texte in ihrer ganzheitlichen Geformtheit übereinkommt. 30 Nicht zuletzt sind schließlich einige narratologische Ansätze anzuführen, die in jüngerer Zeit entwickelt wurden, um die Kohärenz vormoderner literarischer Texte besser erfassen zu können. So ermöglicht es Rainer Warnings Entwurf zum ‚Erzählen im Paradigma‘, serielle Wiederholungsstrukturen innerhalb eines Textes als (mehr oder weniger) sinnbildenden Ausdruck einer thematischen Verhandlung zu begreifen, 31 und die mit den Namen Harald Haferlands und Armin Schulz’ verbundene Theorie des ‚metonymischen Erzählens‘ hebt auf eine Form der Kohärenzbildung ab, die 28 Ich verwende den Begriff der Kunst hier heuristisch im Sinne jener ‚Richtung des Weltverstehens‘, die Cassirer als ästhetisch beschreibt. Vgl. dazu bes. Kap. I.2.1.1. 29 Kuhn 1948 / 1969, Haug 1971. 30 Stock 2002, hier S. 10. 31 Warning 2001 und 2003. Nur mehr oder weniger sinnbildend erscheint dieses Verfahren bei Warning deshalb, weil es v. a. auf Kontingenzexposition zielt. Methode und Vorgehen 19 sich insbesondere über die Verknüpfung dargestellter Konkreta mit einem das Erzählen leitenden gedanklichen Konzept realisiert. 32 Ihnen allen ist meine Untersuchung verpflichtet, und von ihnen allen soll später noch ausführlicher die Rede sein. 33 Wenn ich meine Gedanken gleichwohl nicht von Anfang an in Bezug auf sie entwickle, so liegt das darin begründet, dass mein Ausgangspunkt ein anderer ist. Die vorliegende Studie wurde von einem literaturtheoretischen Entwurf angeregt, der mir für mein Anliegen besonders einschlägig erschien und der mich darüber hinaus gerade in seiner Ambivalenz besonders faszinierte. Clemens Lugowskis 1932 publizierte Dissertation zur ‚Form der Individualität im Roman‘ hat sich seit ihrem Neuerscheinen im Jahre 1976 als eine der anregendsten wie umstrittensten Arbeiten im Feld der historischen Narratologie erwiesen und bis in die jüngste Zeit hinein nichts an Einfluss verloren. 34 In Hinblick auf meine Fragestellung erscheint Lugowskis Vorhaben überaus vielversprechend. Er untersucht den frühneuzeitlichen Prosaroman als ein Phänomen des epochalen Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit und arbeitet das Profil eines literarischen Typus heraus, den er als spezifisch vormodern versteht. Das herausragende Charakteristikum dieses Typs ist eine „Künstlichkeit“, die Lugowski als Synonym zum Umstand seines „Gemachtseins“ verwendet. 35 Dabei erscheint die Welt der Dichtung insofern als eine ‚gemachte‘, als sie sich in einer bestimmten Weise zum Ganzen formt und darin etwas zur Erscheinung bringt, das Lugowski als „mythische[s] Analogon“ oder „formale[n] Mythos“ bezeichnet. 36 Ein Analogon des Mythos oder ein Mythos der Form (über die in dieser Doppelbenennung implizierten konzeptuellen Friktionen wird noch zu handeln sein) ist die - in einer Lesart: vormoderne - Dichtung (die epochale Geltung des Phänomens steht ebenfalls in Frage) demnach deshalb, weil in ihr „alles ‚Einzelne‘ […] sich in einer eigentümlichen Gebundenheit an einen übergreifenden Zusammenhang […] findet.“ 37 In dieser Gebundenheit erhält es seinen Sinn, und mit ihr verliert es ihn auch: Die „Auflösung“ oder „Zersetzung“ des mythischen Analogons 38 (eine weitere Doppelbezeichnung mit konzeptuellen Konsequenzen) ist zugleich Ausdruck und Folge eines Schritts in die Neuzeit, der die Dichtung gemeinsam mit ihrer - in einer Lesart: künstlichen - Form (vielleicht aber ihrer Form überhaupt) mehr und mehr auch ihres Sinns beraubt. 39 Mit dieser Entwicklung geht ein zunehmender Realismus einher, der die spezifischen Formzüge des (wenn man diese Variante bevorzugt) vormodernen Dichtungstyps in ihrer Eigenschaft als (je nachdem) mythische oder mythosanaloge Sinnbildungsmuster im Vergleich herauszupräparieren erlaubt. Das Form-Sinn-Verhältnis (vormoderner) Dichtung wird so greifbar in einer Reihe von kompositorischen Besonderheiten, die sich in ihrer Eigenschaft als Ordnung der dargestellten 32 Vgl. bes. Haferland 2009 und Haferland / Schulz 2010. Zu den drei zuletzt genannten Modellen und ihren konzeptuellen Parallelen auch Schulz 2012 / 2015, S. 323-325, 333-348. 33 Bes. in Kap. II.1 und III.2.2.1. 34 Lugowski 1932 / 1994. Hinzuzufügen ist, dass sie allen Versuchen einer kritischen Bereinigung beharrlich widerstanden hat. Ausführlich dazu Kap. I.1.2. 35 Lugowski 1932 / 1994, S. 10. 36 Der Begriff des „mythischen Analogon[s]“ fällt zuerst ebd., S. 13. Der „formale[] Mythos“ kommt erst sehr viel später (ebd., S. 83). 37 Ebd., S. 13. 38 Ebd., S. 52, 118 u. ö. 39 Dass Lugowski relativ wenig vom Sinn redet, liegt zum Teil in seinem Fokus auf die Form begründet, ist aber zugleich Symptom seines Problems. Explizit vom Sinn redet er vor allem am Ende seiner Arbeit (ebd., S. 183-185). 20 Einleitung Welt zugleich als Ordnung des Textes lesen lassen und die damit die Hoffnung wecken, das gesuchte Kohärenzprinzip mittelalterlicher Literatur zumindest in Ansätzen beschreibbar zu machen. Dass Lugowskis Entwurf über die von ihm geweckte Hoffnung hinaus nicht viel zu bieten hat, dass er stattdessen ebenso viel Grund gibt, die Hoffnung gleich wieder fahren zu lassen, dürfte bereits aus dieser kurzen Skizze deutlich genug hervorgehen. Dass meine erste Aufgabe darin bestehen würde, ihn einer gründlichen Revision zu unterziehen, war deshalb klar. Dafür auf Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ (1923, 1925, 1929) 40 zurückzugreifen, bot sich insofern gleich doppelt an, als diese nicht allein zu Lugowskis erklärten Quellen gehört, 41 sondern zudem dazu geeignet schien, mein kulturwissenschaftliches Vorhaben auf eine festere Basis zu stellen. Der Gedanke erwies sich umso interessanter, als die Engführung mit Cassirers Kulturphilosophie Lugowskis zentralen Begriffen der Ganzheit und der (sinnbildenden) Form schon beim ersten Hinsehen ganz neue Perspektiven eröffnet. Zuallererst stellt sie Lugowskis Rede von der Dichtung als einer ‚gemachten Welt‘ in einen vollkommen anderen Kontext. Für Cassirer ist nicht nur die Welt der Dichtung, sondern die Welt insgesamt, sofern sie als eine von Menschen wahrgenommene und erfahrene begriffen wird, ‚gemacht‘. 42 Ausgehend vom Leitsatz Kants, dass nicht „unsere Erkenntnis […] sich nach den Gegenständen“, sondern vielmehr „die Gegenstände […] sich nach unsere[r] Erkenntnis richten“, 43 entwirft er ein System von symbolischen Formen, die er als geistige „Gestaltungsweisen“ versteht; als Formgebungen also, mit deren Hilfe sich die menschliche Wahrnehmung, der menschliche Verstand und die menschliche Einbildungskraft ‚Welt‘ aneignen. 44 In diesen Rahmen ordnet sich die von Lugowski fokussierte (Dicht-)Kunst als eine „Richtung[] des Weltverstehens“ 45 ein, die sich von anderen symbolischen Formen - namentlich der Sprache, dem Mythos, der Kunst und der Religion, aber auch der Technik, dem Recht, der Geschichte sowie dem breiten Feld der Wissenschaften 46 - nicht, wie Lugowski meint, schon durch ihre ‚Gemachtheit‘ 40 Ich zitiere die Hamburger Ausgabe: Cassirer 1923 / 2001, 1925 / 2002 und 1929 / 2002. Für die Darstellung der Konzeption der symbolischen Form berufe ich mich außerdem auf einige frühe Arbeiten, die zuerst als Studien bzw. Vorträge der Bibliothek Warburg erschienen sind: ‚Die Begriffsform im mythischen Denken‘ (1922 / 2003), ‚Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften‘ (1923 / 2003) sowie ‚Sprache und Mythos‘ (1925 / 2003). In meinen einleitenden Schlagworten zu Cassirer verzichte ich weitgehend auf den Nachweis von Forschungsliteratur: Er sei der ausführlicheren Darlegung in Kap. I.2.1 vorbehalten. 41 Lugowski 1932 / 1994, S. 9. 42 Das Wortfeld des ‚Machens‘ von Welt findet sich bei Cassirer so freilich nicht. Er bezeichnet das poietische Prinzip der menschlichen Welterfahrung eher mit Wendungen des Bildens und des Tuns (vgl. etwa 1923 / 2001, S. 7, 9 u. ö., dazu grundsätzlich Schwemmer 1997, bes. S. 24-31). Dass sich die Vorstellung des Machens bzw. der Gemachtheit von Welten gleichwohl mit Cassirers Namen verbindet, ist vornehmlich seiner Rezeption durch Nelson Goodman geschuldet (1984 / 1993). 43 Kant 1787 / 1968, S. 11 f. Zur Einordnung Cassirers in die Nachfolge Kants und die Strömung des Neukantianismus Paetzold 1993 / 2002, S. 13-20, 123-125, Schwemmer 1997, S. 22-24. 44 Cassirer 1923 / 2001, S. 6 f. 45 Cassirer 1929 / 2002, S. 14. 46 Cassirer hat nie einen festen Kanon symbolischer Formen erstellt. Ihm kommt es weniger auf die Zahl der symbolischen Formen an als auf deren innere Einheit und äußere Verschiedenheit. Maßgeblich ist der Umstand, dass sie „je einen besonderen Gesichtspunkt der Fr a ge s t e l lu n g in sich schließen und die Erscheinungen gemäß diesem Gesichtspunkt einer spezifischen Deutung und Formung unterwerfen“ (1923 / 2001, S. 5). Meine Aufzählung gibt die symbolischen Formen wieder, die Cassirer - neben den zuerst genannten Hauptformen - immer wieder erwähnt. Methode und Vorgehen 21 selbst, sondern erst durch die Art dieser Gemachtheit unterscheidet. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen „Grundformen des Geistes“, die sich nach einem je eigenen „Prinzip“ eine „innere Form“ geben und sich in ihr zu einem jeweils anderen „Ganze[n]“ gestalten. 47 Als Aufgabe seiner sich ausdrücklich als „Kritik der Kultur“ verstehenden Philosophie bezeichnet er es, all diese Ganzheiten in ihrem Prinzip zu erfassen und zu beschreiben: Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl d e r Welt als vielmehr eine Gestaltung z u r Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht. 48 Die Möglichkeit, Lugowski und Cassirer so aufeinander zu beziehen, dass sie sich wechselseitig erhellen und ergänzen, zeichnet sich hier zumindest andeutungsweise ab. Wenn, wie man naheliegenderweise vermuten könnte, Lugowski so zu verstehen wäre, dass die geistige ‚Gestaltung zur Welt‘, die er im ganzheitlichen Sinnzusammenhang des formalen Mythos erfasst, das Prinzip der Dichtung, oder besser gesagt, das Prinzip eines bestimmten vormodernen Typs von Dichtung beschreibt, dann wäre dem Verständnis seines Entwurfs damit ebenso geholfen wie dem Cassirers. Letzterer würde deshalb profitieren, weil die symbolische Geformtheit der Kunst bei ihm relativ vage, in ihrem Bezug zum Mythos widersprüchlich und überdies in ihrer historischen Entwicklung unterbelichtet bleibt. 49 Und für ersteren (und damit für mein Vorhaben maßgeblich) wäre der Bezug auf Cassirer deshalb erkenntnisträchtig, weil durch ihn erst deutlich würde, was er tatsächlich beschreibt. Lugowskis zentraler Gegenstand, der formale Mythos, wäre demnach als eine spezifisch ästhetische ‚Richtung des Weltverstehens‘ anzusprechen, die sich entweder (noch) nicht vollständig vom Mythos gelöst hat oder eine bestimmte (weiter zu definierende) epochale Signatur trägt. Die von Lugowski illustrierten Formgebärden des mythischen Analogons: lineare Anschauung, thematische Überfremdung, Motivation von hinten, Gehabtheit etc., wären dann als Merkmale eines narrativen Modells darzustellen, das je nachdem - diese Arbeitshypothese folgte einem Vorschlag Jan-Dirk Müllers - als von einer vormodernen Weltsicht und / oder einer vormodernen Kunstauffassung geprägt zu begreifen wäre. 50 In beiden Fällen wären die von ihm beschriebenen Phänomene nun als Ausdruck eines literarischen Kompositions- und Sinnbildungstyps begründet, der dann in einem weiteren Schritt für die Beschreibung des höfischen Romans fruchtbar gemacht werden könnte. Soweit der Plan. Seine Umsetzung gestaltete sich aus verschiedenen Gründen schwierig. So stellte sich bei der Arbeit an Lugowskis Buch vor allem rasch heraus, dass das Konzept des mythischen Analogons methodisch noch problematischer, gedanklich noch verworrener und noch sehr viel tiefer von Widersprüchen geprägt ist, als es in Hinblick auf die Forschungsdiskussion zunächst abzusehen gewesen war. Deshalb musste die Kritik nicht nur weiter durchgreifen, sondern ließ am Ende auch relativ wenig Substanzielles, mit dem weitergearbeitet werden konnte. Hinzu kam, dass dieses Wenige in Rekurs auf Cassirers 47 Cassirer 1923 / 2001, S. 8, 10 f. 48 Ebd., S. 9. Zur Vorstellung des Systems der Philosophischen Formen grundlegend auch Cassirer 1923 / 2001, bes. S. 5 f., 25-30. 49 Vgl. dazu die einleitenden Bemerkungen zu Kap. I.2. 50 Müller 1999, bes. S. 149, 154 f. 22 Einleitung Philosophie zwar allgemein einzuordnen war, im Zuge dessen aber nicht so konkret wurde, dass sich mehr als ein vages Bild des von Lugowski fokussierten literarischen Typus ergeben hätte. Sichtbar wurde eigentlich nur, was dieser Typ keinesfalls ist, nämlich mythisch und, zumindest an und für sich, vormodern. Was er ist, wurde demgegenüber nur soweit greifbar, als er sich als eine spezifisch ästhetische Form der Weltgestaltung jetzt klarer vom Mythos abgrenzen ließ. Damit war natürlich einiges gewonnen - das Ergebnis ist meines Erachtens in Bezug auf die literaturwissenschaftliche Beurteilung von Lugowskis Ansatz ebenso weiterführend wie für das Verständnis des Verhältnisses von Dichtung und Mythos. Für mein Projekt jedoch war es zu wenig. Denn nun war zwar klar, dass das innere Ordnungsprinzip des höfischen Romans, das zu beschreiben ich mir vorgenommen hatte, konzeptuell nicht mit dem des Mythos in Verbindung gebracht werden konnte. Wie es in seiner ästhetischen Faktur zu spezifizieren und so als ein typisch mittelalterliches zu begründen sein sollte, blieb aber weiterhin offen. Die Frage, die sich nach der Revision der Konzeption des formalen Mythos stellte, lautete damit nicht sehr viel anders als zuvor: Was bekommt Lugowski zu fassen, das seinen Ansatz für die Beschreibung mittelalterlicher Literatur besonders geeignet erscheinen lässt? In meinem zweiten Versuch, diese Frage zu beantworten, ging ich vom negativen Ergebnis der bis dahin verfolgten Überlegungen aus und blickte in die Gegenrichtung: Was für einen Dichtungstyp beschreibt Lugowski, wenn es kein in irgendeiner Weise mythischer ist? Die vielleicht naheliegende, aber vor dem Hintergrund des Voranstehenden gleichwohl signifikante Antwort lautete, dass es sich bei diesem Dichtungstyp eigentlich nur um einen handeln könne, der, wie Lugowski sagt, insofern besonders ‚künstlich‘ ist, als er sich der Realismuskonvention, die die Literatur der Neuzeit zumindest an ihrem Höhenkamm in weiten Teilen prägt, im Wesentlichen (noch) entzieht. 51 Und: Dieser Dichtungstyp zeichnet sich in seiner ‚unrealistischen‘ Beschaffenheit insbesondere dadurch aus, dass er die von ihm dargestellten Welten „thematisch [ü]berfremd[et]“. 52 Diese Einsicht führte mich weiter zu der Frage, inwiefern Lugowskis Darstellung eines von seinem Thema bestimmten - und darin vorderhand thematisch kohärenz- und sinnbildenden - Erzählens zur Grundlage eines narratologischen Modells werden könnte, das genau diesen Typ von Dichtung besser erfasst, das heißt konkret: besser als die gegenwärtig in der Literaturwissenschaft gebräuchlichen (und vornehmlich strukturalistisch fundierten) Modelle, die bekanntlich für die (auf dem Prinzip der Mimesis beruhende) Literatur der späteren Neuzeit konzipiert worden sind. 53 Die Alternative, die ich in diesem Zusammenhang entwickle, hat mit Lugowskis Darstellung dann zwar (oberflächlich betrachtet) nicht mehr allzu viel zu tun, sie ist aber nichtsdestotrotz ohne sie nicht denkbar. Nicht zuletzt deshalb bin ich davon überzeugt, dass es nicht nur richtig und sinnvoll, sondern für das Verständnis des Folgenden auch unumgänglich ist, meinen Lesern den langen und in Bezug auf mein Vorhaben zweifellos umwegigen theoretischen Vorlauf über Lugowski und Cassirer zuzumuten. 51 Auch darauf weist nachdrücklich bereits Müller hin (1999, bes. S. 151-155). 52 Lugowski 1932 / 1994, S. 24. 53 Dazu etwa die grundlegenden Bemerkungen von Bleumer 2015, bes. S. 213-215, 228-230. An den Leser 23 3 An den Leser Meine Einleitung mündet damit in eine Warnung: Dem vorliegenden Buch sind einige der Merkmale, die es an seinem Gegenstand zu fassen sucht, nur bedingt eigen. So ist es nicht völlig kohärent und es fügt sich auch nicht restlos zum Ganzen. Der Leser möge daraus den Schluss ziehen, dass er das erste theoretische Kapitel (I) mit einem anderen Interesse rezipieren sollte als das zweite ( II ), das zugleich dasjenige ist, auf dem die Textanalysen ( III ) hauptsächlich basieren. Wenn er die auf das Verhältnis von Dichtung und Mythos fokussierten Ausführungen des ersten Theorieteils überspringen und (am besten mit einem Seitenblick auf das resümierende Kapitel I.2.2) gleich bei meinem Entwurf zur Erfassung literarischer Form-Sinn-Beziehungen (Kap. II ) einsteigen will, so möge er das tun, sollte sich dann allerdings nicht wundern: Mein narratologisches Modell steht quer zu einigen Prämissen, auf denen das Analyseinstrumentarium der (strukturalistischen) Erzähltheorie fußt und die dem Literaturwissenschaftler geradezu in Fleisch und Blut übergegangen sind; - ein Umstand, der sich aus der Lücke begründet, die entsteht, wenn man die von Lugowski beschriebenen Phänomene nicht mehr als mythisch zu begreifen bereit ist. Mein Vorschlag, diese Lücke zu schließen, versteht sich davon ausgehend als ein Experiment, dessen Rechtfertigung der Ertrag ist, den es an den Texten erzielt. Dass auch dieser Ertrag in Vielem unkonventionell und diskussionswürdig ist, kann man sich hier schon denken; es sei aber gleichwohl noch einmal programmatisch betont. Denn in diesem Sinne möchte dieses Buch gelesen werden: als Versuch, mit Hilfe einer konsequenten Erweiterung der bislang gepflegten (historischen) Narratologie eine neue Perspektive auf eine Gruppe von Texten zu eröffnen, über die in gewisser Weise schon alles gesagt zu sein schien. Und natürlich als Anregung zum Um- und Weiterdenken. Zum Schluss noch einige Worte zur Konzeption der folgenden Kapitel. Dass ich in ihnen zunächst noch einmal hinter die voranstehenden Überlegungen zurücktrete und die Auseinandersetzung mit Lugowski scheinbar aperspektivisch - also ohne explizite Rückbindung an mein eigentliches Untersuchungsprojekt - angehe, erklärt sich zum Teil aus der Entstehungsgeschichte dieses Buches, es verfolgt aber auch ein weiterführendes wissenschaftliches Ziel. Je mehr mir nämlich im Verlauf der Vorarbeiten klar wurde, wie unhaltbar Lugowskis Entwurf tatsächlich ist, desto notwendiger schien es mir, ihn nicht nur in den Punkten zu kritisieren, die mein Projekt direkt betreffen, sondern in dem gedanklichen Nexus, der ihn insgesamt prägt. Denn hier, so meine Beobachtung, bedingt ein Missverständnis derartig das andere, dass nur eines von ihnen zu korrigieren nicht genügt, um das Ganze methodisch zu retten. Konkret heißt das in diesem Fall, dass es zwar unumgänglich ist, Lugowskis Ansatz von seiner obsoleten geschichtsphilosophischen Zersetzungsthese zu befreien, 54 dass ihn das aber noch nicht narratologisch brauchbar macht - zumindest so lange nicht, bis geklärt ist, wie diese These überdies mit seinem Verständnis des Mythos und, davon ausgehend, der Wirklichkeit zusammenhängt. 55 Aus diesem Grund habe ich beschlossen, meiner Diskussion von Lugowskis Buch die Form einer eigenständigen Ab- 54 So mit besonderem Nachdruck Müller 1999, S. 151-155, 161-163 und 2006, S. 35. 55 Die Betonung liegt hier durchaus auf der Frage nach dem Wie. Dass diese beiden Probleme bei Lugowski zentral sind, betonen etwa Martínez 1996a, S. 10, Jesinghausen 1996, und Müller 2006, S. 36 f. Wie sie ihn in die Aporie führen, bleibt dort freilich unklar: Ich versuche die Frage in Kap. I.1.3 zu beantworten. 24 Einleitung handlung zu geben. Nur so schien es mir möglich, die komplexen Verwerfungen seiner Argumentation so umfassend nachzuvollziehen, dass damit nicht nur meinem Vorhaben geholfen wäre, sondern auch einer (nicht nur, aber vor allem alt-)germanistischen Forschung, die sich in etwas unglücklicher Weise daran gewöhnt hat, Lugowskis Begründung zwar zu verwerfen, seine These über die mythische Verfasstheit mittelalterlicher Literatur aber gleichwohl als im Wesentlichen zutreffend zu akzeptieren. 56 Die Frage nach der Sinnbildung in der Literatur des Mittelalters gerät darüber nicht in Vergessenheit, sie tritt lediglich in den Hintergrund, um im Ergebnis umso nachdrücklicher wieder zur Sprache zu kommen. Dieses Ergebnis legt das Fundament für alles Weitere, das an Ort und Stelle begründet werden soll. 56 Das geschieht meistens unauffällig und ist angesichts des ungeklärten Status der von Lugowski beschriebenen Phänomene wohl auch kaum zu vermeiden. Weil man letztlich nicht weiß, was man in ihnen greift, reicht die Feststellung, dass sie in der Literatur des Mittelalters de facto besonders markant hervortreten, oft bereits aus, um die These ihres vermeintlich mythischen Charakters (implizit) in die Argumentation zurückkehren zu lassen. Explizit greifbar wird dieser Vorgang nur, wenn der Bezug auf Lugowski programmatisch begründet ist. Dann sind meist typische konzeptuelle Verwerfungen zu beobachten. Symptomatisch ist etwa die inhaltlich ungenügend begründete Verknüpfung von sinnstiftendem Erzählen und mythischer Weltsicht bei Schulz 2000, S. 30-34, ähnlich Martínez 1996a und 1996b. Kritisch dazu bes. Haustein 1999; vgl. auch Müller 1999 und 2006. In einer weiteren Spielart tritt das Problem z. B. in der Arbeit Ulrich Hoffmanns zur Mythizität der Artusromane Hartmanns von Aue auf. Auch er vermerkt die Widersprüche in Lugowskis Konzept, betont, dass Literatur nicht von vornherein als mythosanalog oder formalmythisch bezeichnet werden dürfe, und zieht daraus mit Hinweis auf Lugowskis Rede von den verschiedenen Formschichten der Dichtung den Schluss, dass mythische Momente in den Texten des Mittelalters immer nur partiell wirksam würden (Hoffmann 2012, S. 90-94). Bemerkenswert ist dieser Schluss, weil er Lugowskis zentrale These vom Ganzheitscharakter des formalen Mythos überspringt, um dessen Formzüge wieder als echt-mythisch zu beschreiben. Dass Hoffmanns Anliegen, ästhetische und mythische Phänomene voneinander abzugrenzen, dadurch nicht leichter realisierbar wird, liegt auf der Hand. I Formaler Mythos. Ansätze zur Klärung eines Modells ‚Die Form der Individualität im Roman‘ 27 1 Zwischen Mythos und Wirklichkeit: Kritik 1.1 ‚Die Form der Individualität im Roman‘ Clemens Lugowski wurde mit seiner Arbeit über ‚Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung‘ 1932 in Göttingen promoviert. 1 Sein Weg in die germanistische Literaturwissenschaft war nicht geradlinig verlaufen. Lugowski hatte nach dem Abitur zuerst zwei Jahre Maschinenbau studiert und das anschließende Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie mehrmals unterbrechen müssen, um durch verschiedene Hilfstätigkeiten seinen Lebensunterhalt zu sichern. Auf die Promotion folgte dann jedoch eine rasche akademische Karriere. 1935 wurde Lugowski, ebenfalls in Göttingen, mit der Arbeit ‚Mensch und Wirklichkeit. Betrachtungen über das Wirklichkeitsgefühl in französischer und germanischer Dichtung‘ habilitiert. 2 Nach zwei Lehrstuhlvertretungen in Heidelberg (1936) und Königsberg (1937 / 38) folgte zunächst die Berufung zum außerplanmäßigen Professor für Ältere deutsche Literatur (1939) und dann die zum Ordinarius für Neuere deutsche Literatur (1942) in Kiel. Die positive Wendung seiner Karriere fiel nicht von ungefähr mit dem Aufstieg des Faschismus zusammen. Lugowskis Teilnahme an nationalsozialistischen Ausbildungslagern (seit 1933) und sein Eintritt in die NSDAP (1937) belegen eine Gesinnung, die seinen akademischen Erfolg zweifellos beförderte. Die völkische Tendenz seiner späteren Schriften sowie die Tätigkeit als Mitherausgeber der ‚Zeitschrift für deutsche Bildung‘ und der Anthologie ‚Von deutscher Sprache und Dichtung‘ ließen ihn sehr bald sogar zu „eine[m] der prominentesten Vertreter einer nationalsozialistischen Germanistik“ werden. 3 Wie ernst es ihm mit seiner ideologischen Überzeugung war, bewies er durch seine freiwillige Meldung zum Kriegsdienst. Er marschierte 1940 gegen Frankreich, 1942 gegen Russland und fiel im Oktober desselben Jahres vor Leningrad. 4 ‚Die Form der Individualität im Roman‘ lässt diese Entwicklung bestenfalls erahnen. Ihr Grundtenor ist noch von der akademischen Außenseiterstellung des Doktoranden und seiner Reserve gegen eine vornehmlich geistesgeschichtlich ausgerichtete Literaturwissenschaft geprägt. 5 Lugowskis innovative Tendenz äußert sich freilich weniger in einer radikalen Abkehr vom akademischen Diskurs als im Versuch, dessen Positionen neu zu 1 Der Titel der als Dissertation eingereichten Fassung lautete: ‚Dichterische Ganzheit und Einzelmensch. Studien zum Problem der Individualität in der deutschen Erzählung des 16. Jahrhunderts‘ (vgl. Martínez 1996a, S. 7). Die Studie erschien 1932 im Druck und wurde 1976 (²1994) auf Initiative Heinz Schlaffers als Suhrkamp-Taschenbuch erneut herausgegeben. 2 Sie wurde 1936 unter dem - irreführenden (vgl. Müller 2006, S. 28 f.) - Titel „Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists“ veröffentlicht. 3 Müller 2006, S. 28. 4 Zu den Daten und biographischen Details: Schlaffer 1987, Martínez 1996a, S. 7-11, Müller 2006, S. 28-30. 5 Zu den Positionen und Tendenzen der zeitgenössischen Literaturwissenschaft Dainat 2007. Lugowskis Rolle in diesem Umfeld beleuchten Schlaffer 1976 / 1994, S. IXf., Martínez 1996a, S. 7 f. und Müller 2006, S. 31 f. 28 Formaler Mythos - Kritik interpretieren. In diesem Sinne lässt er seine Überlegungen beim problemgeschichtlichen Ansatz seines Lehrers Rudolf Unger beginnen, um ihn dann in neue Bahnen zu lenken. 6 Problemgeschichtlich ist seine Bestimmung der Dichtung als einer Umsetzung „abstrakte[r]“ philosophischer Probleme in eine Darstellung von „konkrete[m]“ Leben. Lugowski zitiert Unger mit der Aussage daß die Probleme, welche die Dichtung gestaltet, zwar ihrer Substanz nach dieselben sind wie die der Philosophie (und der Religion), daß aber die Daseinsform, in welcher sie hier und dort erscheinen, eine grundsätzlich verschiedene ist. Der Dichter erfaßt diese Probleme am nächsten ihrem unmittelbaren konkreten, allgemeinmenschlichen Erlebtwerden: noch weit jenseits ihrer abstrakten Sublimierung im philosophischen Denken. 7 Er begreift Dichtung also zunächst als den Entwurf einer real anmutenden Welt, die im Licht eines philosophischen Problems steht und die dieses Problem, quasi in lebensweltlicher Umsetzung, diskutiert. 8 Lugowskis titelgebende Frage nach der Darstellung des Einzelmenschen in der Dichtung gilt allerdings schon nicht mehr einem Problem, das der Dichtung als ‚Gehalt‘ zugrunde liegt. Sie scheint sogar im Gegenteil eher dazu geeignet, den problemgeschichtlichen Ansatz selbst zu problematisieren. Lugowski fragt, inwiefern die in der Dichtung als „Problemsubjekt[e]“ 9 eingeführten „Gebilde […] als Menschen ernst genommen werden“ können 10 , wie sich also ihr Dasein als exemplarische Explikation philosophischer Probleme mit ihrem Anspruch vereinbaren lässt, „konkrete[] Einzelne[], von den anderen auftretenden ‚Menschen‘ Unterschiedene[] […] zu sein“. 11 Trotz seines kritischen Untertons ist es durchaus nicht Lugowskis Anliegen, die problemgeschichtliche Methode auf ihre Möglichkeiten und Grenzen zu befragen. Sein Blick wendet sich stattdessen in die umgekehrte Richtung; nicht also auf die Frage, wie sich der Umstand, dass der in der Dichtung dargestellte Mensch mehr denn ein bloßes Problemsubjekt sein kann, auf Ungers Ansatz auswirkt, sondern auf die Frage nach der Herausbildung des modernen Verständnisses vom Individuum als eines autonomen Einzelnen. Lugowski will die „Entwicklung des zuerst schwachen oder gar nicht vorhandenen, dann aber sich 6 Zu Ungers Problemgeschichte Dainat 2007, S. 257-262. Schlaffer sieht sich durch Lugowskis Abweichung vom Ansatz seines Lehrers dazu veranlasst, ihn in Opposition zur geistesgeschichtlichen Schule zu stellen (1976 / 1994, S. IX). Müller (2006, S. 31) und Martínez (1996a, S. 8) begreifen sein Vorgehen dagegen als eine zwar radikale, aber gleichwohl nicht umstürzende Variante. Auch Unger sah Lugowskis Arbeit als „Weiterführung der problemgeschichtlichen Forschungsmethode in ‚transzendentaler‘ Richtung“ (zit. nach Martínez 1996a, S. 8). Dies entspricht zweifellos der Ansicht Lugowskis, der ja selbst eine Forderung Ungers zu realisieren meint (1932 / 1994, S. 9). 7 Lugowski 1932 / 1974, S. 5 f. beruft sich auf Ungers 1924 erschienene Studie ‚Literaturgeschichte als Problemgeschichte. Zur Frage geisteshistorischer Synthese, mit besonderer Beziehung auf Wilhelm Dilthey‘. 8 Dass hier der gedankliche Kern dessen liegt, was am Ende meiner Kritik von Lugowskis Entwurf übrigbleiben und - allerdings nicht in Rückgriff auf Ungers Problemgeschichte, sondern auf Cassirers Idee der ästhetischen Konkretion - zum Ansatz alles Weiteren wird, sei an dieser Stelle immerhin erwähnt. Es zeigt, dass die Abwendung von diesem Gedanken in gewisser Weise schon Lugowskis erster Fehler ist. 9 Lugowski 1932 / 1994, S. 6. „Wenn nun die Problemgeschichte diese Problemdeutungen […] in der historischen Philosophie aufsucht, so wird sie das S u bj e k t jener problematischen Lebensverhältnisse immer in dem allgemeinen Begriff d e s Menschen finden, einer Art ‚Subjekt überhaupt‘“ (ebd.). 10 Ebd., S. 7. 11 Ebd., S. 9. ‚Die Form der Individualität im Roman‘ 29 immer kräftiger ausprägenden Einzelmenschen […] in der Dichtung“ untersuchen. 12 Durch den Perspektivwechsel verwandelt er Ungers problemgeschichtliche Fragestellung (bzw. die Problematisierung derselben) in eine kulturgeschichtliche: Die literarische Figur gilt ihm - statt als dichterische Gestaltung eines ‚Individualitätsproblems‘ - als Zeugnis der Individualitätsauffassung ihrer Zeit. Wenn er sein Vorhaben gleichwohl als problemgeschichtlich bezeichnet, 13 so vor allem deshalb, weil er Ungers methodischen Ansatz insofern teilt, als auch er die dichterische Darstellung als einen unbewussten Ausdruck des ihn interessierenden Gegenstandes begreift. Sein „Subjekt“ erscheint wie Ungers Problem nur […] im künstlerischen Gefühl, nicht in diskursiv-theoretischer Gegenständlichkeit. Man setzt es voraus, und diese Voraussetzung ist so wenig in das kühle und klare Licht theoretischer Reflexion gehoben wie das unbewußte komplexe Gefühl, auf Grund dessen der Sprung zur Formulierung des Gehaltskerns [d. i. des ‚Problems‘, CK ] einer Dichtung geschah. 14 Wie die Problemgeschichte, so kann darum auch Lugowski seinen Gegenstand nicht direkt erfassen, sondern nur vermittelt, als etwas, das in der Dichtung gestaltet und damit an ihre Darstellung gebunden ist. Anders als für die Problemgeschichte ist sein Gegenstand allerdings nicht das, was gebunden ist, sondern manifestiert sich in der Bindung selbst. Der Prozess der Individualisierung ist für ihn nichts anderes als die Ablösung des Einzelnen vom Problemgehalt der Dichtung. 15 Und da dieser Problemgehalt in der Weltdarstellung der Dichtung nur dann ‚rein‘ verwirklicht wird, wenn er sie als Ganze prägt, ist die Ablösung des Einzelnen vom Gehalt zugleich eine Ablösung vom Ganzen der Dichtung. „Wenn nun das Bewußtsein vom Menschendasein als Einzeldasein im Wandel der Dichtungsgeschichte untersucht werden soll“, so erklärt Lugowski das Vorgehen seiner Untersuchung, „wird es sich immer darum handeln, das Verhältnis von Einzelfigur und Dichtungsganzheit in gegenseitiger Abhängigkeit zu durchleuchten“. 16 Durch seine Fokussierung auf den Aspekt der Bindung bekommt Lugowski folglich nicht die Individualität selbst, sondern nur deren Form zu greifen: in Gestalt eines Ganzen, das sich in seine Einzelteile auflöst und dabei den dargestellten Menschen (nebst allen anderen Elementen der Dichtung) seiner Funktion als Problemsubjekt enthebt. Was aber, so muss man hieran anschließend fragen, hat die Auflösung der ganzheitlichen Bindung alles Einzelnen in der Dichtung mit dem historischen Prozess der Individualisierung zu tun? Ganz einfach, so Lugowskis Antwort: Auch dieser historische Prozess vollzieht sich durch die Ablösung des Einzelnen aus einer Ganzheit - nur eben als Ablösung des einzelnen Menschen aus der ganzheitlichen Weltauffassung des Mythos. 17 Sofern die 12 Ebd., S. 18. 13 Ebd., S. 9. 14 Ebd., S. 7. 15 Das Fortschreiten dieses Prozesses macht die Problemgeschichte mehr und mehr unmöglich: Wenn die Figur ganz ‚sie selbst‘ ist (also in der Neuzeit), kann sie nicht mehr Ausdruck eines in der Dichtung ‚enthaltenen‘ Problems sein. Schlaffer begreift Lugowskis Einleitung deshalb als eine „getarnt[e] […] Widerlegung“ Ungers, die „hinter dem äußeren Zugeständnis an die Schulrichtung der Zeit deren innere Unhaltbarkeit […] erweis[t]“ (1976 / 1994, S. IXf.). 16 Lugowski 1932 / 1994, S. 13. 17 Lugowski beruft sich für seine Vorstellung des mythischen Zeitalters als desjenigen „des realen Einsseins von Einzelmensch und übergreifendem Verband, ja von Einzelmensch und der Welt des Lebendigen überhaupt“ auf Cassirer (ebd. S. 9). Richtiger sollte man an dieser Stelle allerdings wohl auf 30 Formaler Mythos - Kritik Bindung der literarischen Figur an die Ganzheit der Dichtung der Bindung des Menschen ans Ganze eines sozialen Verbandes oder eines mythisch-religiösen Weltbildes gleicht, wird die Dichtung zu einer formalen Entsprechung des Mythos; zu einem „mythischen Analogon“. 18 Mit dieser mythosanalogen Ganzheit ist „zunächst nichts anderes gemeint, als daß alles ‚Einzelne‘, das in der Dichtung erscheinen mag, sich in einer eigentümlichen Gebundenheit an einen übergreifenden Zusammenhang, also nicht ohne weiteres als autonomes ‚es selbst‘ findet“. 19 Zusammenfassend kann man Lugowskis innovative Leistung gegenüber dem problemgeschichtlichen Ansatz Ungers damit als einen Doppelschritt von Überwindung und Restitution beschreiben. Im ersten Schritt ersetzt er die problemgeschichtliche Gehaltsdurch eine Formanalyse. Im zweiten füllt er die analysierte Form dadurch wieder mit Inhalt, dass er sie mit einem ähnlich strukturierten kulturhistorischen Vorgang analogisiert. Auf diese Weise versetzt er sich dazu in die Lage, die Entwicklung der Individualität im Wandel der dichterischen Form untersuchen zu können. Problematisch erscheint diese Operation vor allem deshalb, weil der Charakter der ihr zugrundeliegenden Analogiebildung alles andere als klar ist. Handelt es sich bei den Vereinzelungsprozessen in Dichtung und Realität um zwei Aspekte eines einzigen Vorgangs oder teilen sie lediglich denselben formalen Ablauf ? Ist ihre Analogie also wörtlich oder metaphorisch aufzufassen? Lugowski gibt auf diese Frage die (nicht zuletzt ihn selbst) verwirrende Antwort: beides. Er begreift die Auflösung der dichterischen Ganzheit als Abbild und als bloß formale Analogie des historischen Individualisierungsprozesses. Das erste Verständnis scheint immer da auf, wo Lugowski die Ganzheit der Dichtung unmittelbar mit der weltanschaulichen Ganzheit des Mythos identifiziert. Sie entsteht daraus, dass der mythisch denkende Dichter die Welt genauso darstellt, wie er sie erfährt, und wird von diesem deshalb, wie Lugowski hier ausdrücklich hervorhebt, für mehr als bloße Darstellung gehalten. Im Zeitalter des Mythos sind „die künstlichen Formen [der Dichtung] […] lebendige Realität“, denn sie spiegeln den „durch das mythische Vorstellen gestaltet[en] […] reale[n] Zusammenhang der Welt“. 20 Hier erweisen sich „Mensch und künstliches Sein der Dichtung […] als ein ebenso realer, wesentlicher, in der Natur des Menschen gegründete[r] Zusammenhang wie der zwischen Mensch und mythischer Welt.“ 21 Weil die formale Ganzheit der Dichtung und die erfahrene Ganzheit der Welt in dieser Auffassung untrennbar miteinander verbunden sind, werden sie auch gemeinsam, durch dieselbe Ursache, aufgelöst. Der ganzheitliche Zusammenhang der Dichtung wird „[m]it der Reflexion […] zerstört, wie der ‚aufklärende Geist‘ den mythischen Zusammenhang Jacob Burckhardts Studie zur ‚Kultur der Renaissance in Italien‘ verweisen, wo die Entstehung des Individuums in ganz ähnlicher Weise als Befreiung aus den Banden der ganzheitlichen Organisationsformen Religion, Stand, Familie etc. beschrieben wird: Vgl. Burckhardt 1860 / 1930, bes. S. 95. Die Nähe zu Burckhardts Individualitätskonzept vermerkt auch Gerok-Reiter 2006, S. 14 f. 18 Lugowski 1932 / 1994, S. 13. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 11. 21 Ebd., S. 12. Weil Dichtung hier als Realität erscheint, bezeichnet der Zusammenhang zwischen „Mensch und künstliche[m] Sein der Dichtung“ nicht nur die Bindung der Figur ans Dichtungsganze, sondern auch die Einheit von Dichtung und Rezipient (vgl. ebd., bes. S. 9-12). Der mythisch denkende Mensch fühlt sich mit der Figur eins, weil er selbst genauso ans Ganze der Welt gebunden ist wie diese ans Ganze der Dichtung. ‚Die Form der Individualität im Roman‘ 31 der Welt zerstört“. 22 Der ‚aufgeklärte‘ Dichter stellt die Welt also nicht als eine ganzheitlich gebundene dar, weil er sie nicht mehr als solche wahrnimmt. Auf diese Weise konvergiert die Geburt des Individuums aus dem Geiste der Ratio mit der „Zersetzung des mythischen Analogons“. 23 Die Herausbildung einer literarischen ‚Form der Individualität‘ erweist sich als Ausdruck des historischen Übergangs von einer ganzheitlich-mythischen - d. h. vormodernen - in eine vereinzelnd-rationale - d. h. aufgeklärt-moderne - Weltsicht. Lugowski relativiert dieses erste Verständnis, indem er seinen Äußerungen gelegentlich ein „wie“ hinzufügt 24 und schließlich betont, dass die Dichtung „[t]rotz allem […] nun aber doch kein Mythos“ sei. 25 Von diesem unterscheidet sie sich seiner Ansicht nach zuerst und vor allem darin, dass sie nicht die ‚echte‘ Welt gestaltet. „Die Welt, die sich in einer Dichtung auftut, ‚ist‘ nicht im schlichten Sinne, sondern sie ist ge m a c ht“. Sie „stellt […] sich dem schlicht Seienden als etwas Künstliches gegenüber.“ 26 Ihre Ganzheit ist nicht die ‚natürliche‘ Ganzheit einer „gelebten Weltanschauung“, 27 sondern die ‚künstliche‘ Ganzheit der als Ganzes ‚gemachten‘ Dichtung. Dies tut ihrer Abbildhaftigkeit zunächst insofern noch keinen Abbruch, als sie die Welterfahrung des Mythos trotzdem d a r s t e l le n kann. Lugowski schränkt im gleichen Atemzug allerdings auch den Darstellungscharakter der Dichtung ein. Er nimmt nämlich an, dass sich Dichtung nicht (nur) als Darstellung einer mythischen Welterfahrung, sondern (auch) aus sich selbst heraus als ein formales Ganzes konstituiert. 28 Als solches kann sie zwar noch immer Darstellung einer mythischen Welterfahrung sein, doch darf man das nicht mehr ohne weiteres voraussetzen. Denn ihre ganzheitliche Geformtheit weist sie nun vielleicht als Abbild des Mythos, vielleicht aber auch als Ausdruck ihres eigenen, dem Mythos sozusagen nur zufällig ähnlichen Formgesetzes aus - eines Formgesetzes, das Lugowski ohne Abgrenzung zur ersten Stoßrichtung seiner Begriffe ebenfalls als eines des ‚künstlichen Gemachtseins‘ bezeichnet. 29 Aufgrund dieses eigenen Formgesetzes erscheint die dichterische Weltdarstellung jetzt zumindest grundsätzlich unabhängig vom Wandel der realen Welterfahrung. Da Dichtung in ihrer künstlichen Gemachtheit immer ganzheitlich geformt bleibt, kann ihre Ganzheit sich, offenbar anders als die der realen Welterfahrung, 30 nicht auflösen. Freilich kann sie sich unter deren Einfluss ‚umbilden‘. 31 Was Lugowski als die Zersetzung des mythischen Analogons bezeichnet, entspricht dem historischen Vorgang der Individualisierung unter dieser Bedingung jedoch nur noch metaphorisch. Es erscheint nicht mehr als wirkliche Zersetzung, sondern nur noch als etwas einer Zersetzung Ähnliches: als die Umwandlung einer ‚künstlicheren‘ in eine weniger (oder anders) ‚künstliche‘ Form; in eine Form also, 22 Ebd., S. 11. 23 Ebd., S. 52 u. ö. 24 Ebd., S. 9 und 11. 25 Ebd., S. 13. 26 Ebd., S. 10. 27 So formuliert er ebd., S. 115 u. ö. 28 Wie und warum er zu dieser Annahme kommt, wird nicht deutlich. 29 ‚Künstlich gemacht‘ ist die Weltgestaltung also nicht nur, weil sie nicht real, sondern auch, weil sie ganzheitlich geformt ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Begriffe ‚künstlich‘ und ‚gemacht‘ bei Lugowski eine epistemologisch / ontologische Doppelbedeutung haben. Zum Problem werden sie seinem Ansatz nur als epistemologische. Ausführlich dazu Kap. I.1.2.3 und I.1.3.3. 30 Wieder eine unbegründete Annahme. Sie deutet auf dasselbe Problem wie die eben angeführte epistemologische Lesart des künstlichen Gemachtseins. Auch dazu mehr in Kap. I.1.2.3 und I.1.3.3. 31 Dass Lugowski die ‚Umbildung‘ im hinteren Teil seiner Arbeit durchweg neben die ‚Zersetzung‘ stellt (1932 / 1994, S. 118, 140, 182), zeugt von einem langsam heraufdämmernden Problembewusstsein. 32 Formaler Mythos - Kritik die an der Geformtheit der Dichtung selbst prinzipiell nichts ändert. 32 Daraus folgt, wie Lugowski am Ende seines Buches auch einsieht, „daß der d ic ht e r i s c h gestalteten Deutung des Einzelmenschen Grenzen gesetzt sind“, 33 und weiter, wie er dort ebenfalls andeutet, dass Dichtung eine vollkommen rationalisierte bzw. entmythisierte Welt überhaupt nicht mehr darstellen kann. 34 Die Aporie, die sich hier abzeichnet, liegt indes in der Einleitung noch außerhalb seines Blickfelds. Hier begreift er die Künstlichkeit der Dichtung lediglich als ein verzögerndes Moment im allgemeinen historischen Wandel. Sie macht die dichterische Weltdarstellung zum Rückzugsgebiet des Mythos in einer aufgeklärten Zeit. Es ist, „als habe sich das vor dem unaufhaltsamen Vordringen des ‚aufklärenden Geistes‘ zurückweichende Mythische in die künstlichen Formen der Kunst, insbesondere der Dichtung zu flüchten versucht.“ 35 Das Bild der Flucht lässt den metaphorischen Charakter dieses Mythischen besonders deutlich hervortreten. Während sich der ‚wirkliche‘ Mythos (d. h. die mythische Weltsicht) zurückzieht, bleibt die Dichtung als etwas dem Mythos nur Ähnliches, als ein Scheinmythos erhalten. Dessen täuschende Ähnlichkeit mit seinem schwindenden Vorbild zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er seine Rezipienten in die Welt des Mythos zurückversetzt. Indem „der Mensch […] sich unmittelbar der dichterischen Welt hin[gibt]“, übersieht er deren Künstlichkeit und nimmt sie für ‚natürlich‘. Die künstlichen Formen der Dichtung bewirken so die Wiederherstellung eines vergangenen mythischen Weltbildes. „Die Künstlichkeit mit ihren Ausprägungen“, so Lugowski, „gehört zu den Momenten am Dichterischen, die sich am längsten und erfolgreichsten der Bewußtwerdung und theoretischen Vergegenständlichung entziehen.“ 36 Diese Aussage misst der beginnenden ‚Zersetzung‘ des mythischen Analogons insofern eine besondere Bedeutung bei, als sie darauf hinweist, dass der Moment, in dem der ‚aufklärende Geist‘ ins letzte Residuum des Mythos eindringt, den endgültigen Durchbruch der Moderne markiert. Das ist auch der Grund dafür, dass Lugowski den frühneuzeitlichen Prosaroman zum Gegenstand seiner Untersuchung macht. Weil dem Roman als der „Unform par excellence […] [v]erglichen mit den anderen Gattungsformen […] gar kein Künstlichkeitscharakter zu[kommt]“ und sein mythisches Analogon dementsprechend am schwächsten ausgeprägt sei, 37 glaubt er, in ihm den kulturgeschichtlich wichtigen Augenblick zu fassen, in dem der Mensch die Fesseln des Mythos abstreift und endgültig beginnt, sich selbst und die Welt rational zu betrachten. Die Hauptkapitel der Arbeit sollen den in der Einleitung skizzierten Prozess am Beispiel einiger Romane Georg Wickrams belegen. Es fällt allerdings auf, dass sich die Perspektive auf diesen Prozess dabei grundlegend wandelt, ja in gewisser Hinsicht sogar umkehrt. Während Lugowski die Zersetzung des mythischen Analogons zuvor in erster Linie als Ausdruck eines kulturhistorischen Wandels und nur davon abhängig auch als poetisches Phänomen beschrieben hatte, nimmt er sie jetzt vor allem als poetisches Phänomen wahr 32 Von verschiedenen Graden der Künstlichkeit spricht Lugowski schon in der Einleitung: „Jedenfalls aber steht ein dichterisches Einzelwerk stets unter dem Zeichen einer besonderen Künstlichkeit, und weiter innerhalb einer ganzen Hierarchie von Künstlichkeit“ (ebd., S. 11). 33 Ebd., S. 182. 34 Vgl. ebd., S. 183-185. 35 Ebd., S. 12. 36 Beide Zitate ebd. 37 Ebd., S. 13. ‚Die Form der Individualität im Roman‘ 33 und lässt im Gegenzug die Frage nach dessen kulturgeschichtlichen Implikationen weitgehend zurücktreten. 38 Er betrachtet das mythische Analogon fast ausschließlich als Aufbauprinzip des frühneuzeitlichen Prosaromans. Er stellt detailliert dar, wie es den Zusammenhang der erzählten Welt gestaltet und welche Folgen sich daraus für die Motivation der Handlung sowie für die Figurendarstellung ergeben. Die ‚Zerrüttung‘, ‚Zersetzung‘ oder ‚Umbildung‘ des mythischen Analogons äußert sich entsprechend im Auftreten anderer Motivationstypen und anderer Weisen der Figurendarstellung. Dazu passt, dass Lugowski die Überlegungen der Einleitung, insbesondere in Bezug auf die Fragestellung seiner Arbeit und die dafür entwickelte Begrifflichkeit, jetzt insgesamt viel stärker formal akzentuiert. So gerät zum einen die Frage nach der Einzelmenschlichkeit mehr und mehr aus dem Blick. Lugowski schildert die Figuren der Dichtung nur noch als Teile eines Formganzen, in das sie sich als Einzelne ebenso einfügen wie alles andere ‚Einzelne‘ der erzählten Welt auch. Dieselbe Formalisierung spricht aus der Bezeichnung des mythischen Analogons als „formale[r] Mythos“. 39 Erst jetzt, da es zunehmend nur noch die Form der Dichtung meint, legt ihm Lugowski mit dem Begriff der Komposition auch einen eigenen, auf den Kunstcharakter der Dichtung verweisenden Namen bei: „Wenn ein Roman ‚komponiert‘ ist, so heißt dies, daß das Ganze dem Einzelnen vorgegeben ist, daß das Einzelne in Hinsicht auf das Ganze ‚gerichtet‘ ist und daß dieses Ganze des Romans entscheidend durch seinen Ausgang bestimmt ist.“ 40 Auf diese Weise entwirft Lugowski das Bild einer Welt, die zuerst und vor allem eine Welt der Dichtung ist. Es ist eine Welt, in der die Komposition dafür sorgt, dass alles Einzelne durch seine Bindung ans Ganze, durch seine Stellung und seine Funktion im Ganzen definiert und determiniert wird. Aufgrund von Komposition gehorcht das Geschehen innerhalb dieser Welt vornehmlich nicht den Verknüpfungsregeln von Grund und Folge, von Ursache und Wirkung, sondern dem, wie man sagen könnte, ‚Gesetz der Ganzheit‘, das in der erzählten Handlung als eine Art höhere Notwendigkeit wirksam wird. Ein Ereignis geschieht also weniger, weil es aus dem vorhergehenden folgt, als vielmehr, weil es in der Komposition so angelegt bzw. für das Erreichen des Schlusses - das heißt, für die Vollendung des (Dichtungs-)Ganzen - notwendig ist. Nur in diesem Sinne spricht Lugowski hier auch von einer „Motivation von hinten“, die er gegen die „vorbereitende“ oder „Motivation von vorn“ stellt. 41 Als ‚von hinten‘ und nicht, wie man auch vorschlagen könnte ‚vom Ganzen‘ motiviert 42 bezeichnet er diese Art der Weltgestaltung darum, weil sie insgesamt von einem „Ergebnismoment“ geprägt ist. 43 Das heißt, weil die erzählte Welt in ihrem zeitlichen Verlauf als Ganzes komponiert ist, wird das Ergebnis der Erzählung an jedem Punkt ihres Verlaufs sichtbar: Es ist von Anfang an klar, wie alles ausgeht. 44 Die abgeschlossene, 38 Ich betone diesen Umstand nicht zuletzt deshalb, weil in ihm erneut das noch zu besprechende Hauptproblem Lugowskis zum Ausdruck kommt. Dazu bes. Kap. I.1.3.3.2. 39 Lugowski 1932 / 1994, S. 83. 40 Ebd., S. 114. 41 Ebd., bes. S. 66-71. Vgl. auch: „Wo eine Dichtung ‚komponiert‘ ist, da spielt die ‚Motivation von hinten‘ eine Rolle“ (ebd., S. 181). 42 Lugowski weist selbst auf die Missverständlichkeit seiner Bezeichnung hin: „Es wäre nicht gut […], wollte man die ‚Motivation von hinten‘, wie es nahezuliegen scheint, ‚teleologische‘ Motivation oder ähnlich nennen“ (ebd., S. 79 f.). 43 Ebd., S. 66. 44 Daraus ergibt sich sowohl die Dominanz der Spannung des ‚wie‘ über die Spannung des ‚ob überhaupt‘ (vgl. ebd., S. 30, 40-44) als auch die ‚Begrenztheit der Hindernisse‘ (ebd., S. 82). 34 Formaler Mythos - Kritik ‚ganze‘ Erzählung ist in all ihren Teilen gegenwärtig; sie scheint als „zeitlose[s] Sein“ ins erzählte Geschehen durch und hebt so dessen Entwicklungscharakter auf. 45 Das ergebnisgerichtete Wirken der Komposition äußert sich auch an anderen Stellen der erzählten Welt, und überall macht es die formale Bindung des Einzelnen ans Ganze sichtbar: Die Momente der ‚Linearität‘ der Handlung, der ‚Aufzählung‘ von ‚unverbundenen‘, ja sogar voneinander ‚isolierten‘ Ereignissen weisen darauf hin, dass „[d]ie einzelnen Glieder […] mit dem herausspringenden Resultat notwendiger zusammen[hängen] als untereinander“. 46 Die ‚Funktion‘ lässt eine Figur nicht als ‚autonome Einzelne‘, sondern als bloßen Handlungsträger erscheinen, 47 und das ‚Gehabtsein‘ macht deutlich, dass das Ergebnismoment quasipsychologisch auch im Inneren der Figur wirksam wird. 48 Kurzum, der formale Mythos lässt durch Komposition eine ganz bestimmte Art des Zusammenhangs - d. h. der Kohärenz - entstehen; und nur dadurch erweist er sich hier, im Hauptteil von Lugowskis Arbeit, noch als dem Mythos ähnlich. An dieser Stelle kommt nun endlich auch die Kategorie des Sinns ins Spiel. Denn in der vom formalen Mythos konstituierten Welt hat, wie in der Welt des ‚wirklichen‘ Mythos, alles einen Zweck, läuft alles auf ein vorbestimmtes Ziel zu. 49 Dieses Ziel (und das in ihm sich vollendende Strukturganze) repräsentiert bei Lugowski den Sinn der Dichtung. 50 Wie sich die einzelnen Züge der dichterischen Komposition (des ‚formalen Mythos‘) zu den Formprinzipien des mythischen Denkens verhalten (und die Dichtung damit tatsächlich zu einem A n a logon des Mythos machen), bleibt unkommentiert. Dasselbe wiederholt sich in Lugowskis Darstellung von der Zersetzung des mythischen Analogons. ‚Zersetzung‘ bedeutet für ihn nun zunächst einmal nichts anderes, als dass die Bindung alles Einzelnen an die Ordnung des Ganzen - und damit an seinen Sinn 51 - mehr und mehr gelöst wird. Weil das Geschehen jetzt ‚in sich‘ anstatt ‚als Ganzheit‘ zusammenhängt, ersetzt die kausale oder psychologische ‚Motivation von vorn‘ die zweckbestimmte ‚Motivation von hinten‘. Damit entfallen ‚Aufzählung‘, ‚Unverbundenheit‘ und ‚Isolierung‘. Und weil äußere und innere Vorgänge nicht mehr dem Ganzen dienen, verschwinden 45 Lugowski redet in Bezug auf das Verhältnis zwischen ergebnisgerichtetem Geschehen und Zeitlosigkeit von einer „Doppelheit der Realität“. „Von der ‚physischen‘ Seite aus kann das zeitlose Sein nur als Ergebnis begriffen werden, von der ‚metaphysischen‘ aus ist die ‚physische‘ in ihrer Vorläufigkeit die Aktion des Menschen, der auf völlige Realisierung der Teilnahme am zeitlosen Sein […] drängt“ (ebd., S. 80). Zum „zeitlosen Sein“ auch ebd., S. 26-29. 46 Ebd., S. 79. Zu ‚Linearität‘, ‚Aufzählung‘, ‚Unverbundenheit‘ und ‚Isolierung‘ ebd., S. 53-59. 47 Ebd., S. 59-61. 48 Ebd., S. 61-66. 49 Vgl. dazu Cassirers Formulierung: „In der Tat hat man den Satz, daß nichts in der Welt durch Zufall, sondern alles durch bewußte Absicht geschieht, bisweilen geradezu als einen Fundamentalsatz der mythischen Weltansicht bezeichnet“ (1925 / 2002, S. 59 f.). 50 Lugowski verwendet diesen Sinnbegriff (wie so viele seiner Begriffe) nicht nur weitgehend unreflektiert; er führt ihn auch ad hoc erst am Ende seiner Untersuchung ein (vorher geht es ihm programmatisch nur um die Form) - und zwar genau da, wo er ihn als Gegensatz zur Kontingenz (also zur Sinnlosigkeit) einer ungeformten Weltsicht braucht (1932 / 1994, S. 166-173). Dass er den ‚Sinn‘ damit auf die Notwendigkeit eines in seiner Ganzheit (göttlich oder dichterisch) vorherbestimmten Geschehens beschränkt (was ihn wiederum in Konflikt mit dem ‚Gehalt‘ bringt, den er ja als Problemgehalt definiert hatte), sei hier als problematisch vermerkt. Ich komme in Kap. I.1.2.2 noch auf den Punkt zurück. 51 In der Welt des Romanerzählers „hat nur dasjenige einen Platz, was ihrer Struktur gemäß ist, was einen Sinn in ihr hat. Auf diese Struktur deutete das […] mythische Analogon“ (Lugowski 1932 / 1994, S. 166). Dass dieses nun, statt als formaler Mythos, plötzlich als „Sinngefüge“ firmiert (ebd., S. 169), ist bezeichnend. Fragen und Probleme 35 ‚Lineariät‘, ‚Funktion‘ und ‚Gehabtheit‘. Auf diese Weise entsteht eine Welt, die gleichsam zufällig (da der Bezug zur realen Rationalisierung nicht deutlich wird), anstelle einer mythischen eine rationale Welterfahrung wiedergibt: weil ihre Zusammenhänge durch die Regeln alltagsweltlicher Kausalität und Psychologie bestimmt werden und ihre Figuren aus sich selbst heraus in eine offene Zukunft agieren. Die Befreiung vom Zwang einer höheren Notwendigkeit hat indessen auch hier ihren Preis. Im Prosaroman, noch mehr aber in der Autobiographie der frühen Neuzeit, beobachtet Lugowski, dass in zunehmendem Maße „nicht mehr die kristallklare Sinnstruktur einer Welttotalität“, sondern das „noch sinnfreie und chaotische Zickzack einer unbewältigten Wirklichkeit […] den Bericht beherrscht“. 52 Der Verlust ganzheitlicher Strukturiertheit führt also auch im Roman zum Verlust des Sinns. Die Zersetzung des mythischen Analogons entspricht der Einsicht in die (sinnlose) Kontingenz des Weltgeschehens, die Lugowski als Kennzeichen des Realitätsbewusstseins der Neuzeit begreift. 53 1.2 Fragen und Probleme Um bei meiner Kritik nicht die Übersicht zu verlieren, lasse ich das verwirrende gedankliche Geflecht, das sich aus all den fragwürdigen Voraussetzungen, unscharfen Begriffen und kurzschlüssigen Folgerungen Lugowskis ergibt, zunächst beiseite und setze bei dem Punkt an, der das Konstrukt seiner Arbeit im Kern zusammenhält. Dieser Punkt ist die Behauptung jener parallelen Geformtheit von Mythos und Dichtung, die Lugowski in die Formulierung fasst, dass beide, der Mythos und die Dichtung, nicht nur eine Ganzheit bilden, sondern noch spezieller eine Ganzheit, die sich dadurch auszeichnet, dass sich in ihr „alles ‚Einzelne‘ […] in einer eigentümlichen Gebundenheit an einen übergreifenden Zusammenhang […] findet.“ 54 Die Problematik alles Weiteren ergibt sich hieran anschließend hauptsächlich daraus, dass Lugowski offenbar nicht recht weiß, worauf er die so bezeichnete Analogie zurückführen soll. Er sucht sie einerseits mit der mythischen Weltsicht derer zu erklären, die die Dichtung hervorbringen und rezipieren, muss sie aber andererseits zugleich als ein Phänomen anerkennen, das unabhängig von dieser Weltsicht im spezifischen Formprinzip der Dichtung begründet liegt. Um seine Unsicherheit zu überspielen, erfindet er den Begriff des mythischen Analogons, der ihm, indem er beide miteinander verbindet, die Entscheidung zwischen seinen beiden Thesen erspart. Was zuerst als eine elegante Lösung erschienen sein mag, erweist sich freilich spätestens in dem Moment als heikel, da es darum geht, die Auflösung des mythischen Analogons zu beschreiben. Denn um das Verschwinden der mythischen Weltsicht abzubilden und trotzdem Formprinzip der Dichtung zu bleiben, müsste es ja zugleich vergehen und bestehen. Lugowski scheint diesen Widerspruch im weiteren Verlauf seiner Untersuchung auch durchaus zu begreifen. Darauf deutet zumindest der Umstand hin, dass er die ‚Zersetzung‘ des mythischen Analogons im zweiten Teil seines Buches kurzerhand zur ‚Umbildung‘ macht 55 und dadurch wiederum versucht, zwei eigentlich unvereinbare Gegebenheiten in Übereinstimmung zu bringen. 52 Ebd., S. 173. 53 Vgl. etwa ebd., S. 38 f., 169 f., 173 und bes. 183-185. 54 Ebd., S. 13. 55 Ebd., S. 118, 140, 182. Wie er sich in weniger offensichtlicher Weise auch darüber hinaus mit dem Problem auseinandersetzt, werde ich in Kap. I.1.3.3.2 erörtern. 36 Formaler Mythos - Kritik Von hier ausgehend stellen sich vor allem zwei Komplexe von Fragen, die, um Lugowskis Entwurf verständlicher zu machen, beantwortet werden müssen. Der erste gilt der Analogie zwischen Dichtung und Mythos: Was bezeichnet sie genau? Woran ist sie zu erkennen? Und: Wie ist der formalmythische Charakter der Dichtung im Einzelnen (als mythisch oder nichtmythisch) zu konkretisieren? Der zweite richtet sich auf das Phänomen der Zersetzung oder Umbildung des mythischen Analogons: Bezeichnet es einen kultur- oder einen (nur bzw. auch? ) literaturgeschichtlichen Vorgang? Und weiter: Kann eine Form, die der Dichtung bereits aus sich selbst heraus eignet, gleichwohl (zusätzlich? ) auf die Weltsicht bzw. den Weltsichtwandel ihrer Produzenten und Rezipienten schließen lassen? Es verwundert wenig, dass es genau diese Fragestellungen sind, unter denen Lugowskis Buch auch in der Forschung vornehmlich diskutiert worden ist - wenngleich, wie im Folgenden deutlich werden soll, bisher ohne überzeugendes Ergebnis. Mein Überblick über die verschiedenen Ansätze der Lugowski-Rezeption 56 verfolgt in diesem Sinne das Ziel, die genannten Fragen zunächst klärend zu beleuchten, um davon ausgehend zu jenem Problem vorzudringen, das, wenn man sie tatsächlich beantworten will, zuerst behoben werden muss. Um welches Problem es sich dabei handelt, ist der Forschung zwar keineswegs verborgen geblieben. Da man es jedoch bisher versäumt hat, konsequent nach der Rolle zu fragen, die die merkwürdige Vorstellung einer ‚wahren‘ Wirklichkeit in Lugowskis Argumentation spielt, 57 ist die Bedeutung des Wirklichkeitsbegriffs für die Konzeption seines Entwurfs noch immer nicht in ihrem vollen Ausmaß erkannt. 58 Ich werde den Zusammenhang im dritten Abschnitt dieses Kapitels in Grundzügen darlegen und damit die Voraussetzungen für die anschließende methodische Prüfung schaffen. 1.2.1 Ein Mythos der Form? Zum Verhältnis von Mythos und Dichtung Lugowski zufolge ist die Dichtung dem Mythos analog, weil sie sich durch ihre Komposition zu einem Ganzen ordnet, das in seiner Form dem Weltbild des Mythos gleicht. 59 Nicht mythisch, sondern bloß mythosanalog ist dieses kompositorische Ganze insofern, als es mit dem Mythos zunächst einmal nur die Form teilt. Was aber unterscheidet es als einen ‚formalen Mythos‘ von seinem echt-mythischen Äquivalent? Oder anders gefragt: was fehlt ihm, um tatsächlich Mythos zu sein? Lugowski gibt auf diese Frage zwei Antworten. 60 Die erste lautet: Anders als der Mythos gestaltet 56 Ich beschränke mich hier auf den Teil der Forschung, der sich explizit mit Lugowski auseinandersetzt und dabei auf die m. E. wichtigsten Arbeiten: Schlaffer 1976 / 1994, 1990 / 2005 und 1996, Detering 1996, Jesinghausen 1996, Lamping 1996, Martínez 1996, 1996a und 1996b, Haustein 1999, Müller 1999 und 2006. Zusätzlich hingewiesen sei auf einige Studien, die ich im Folgenden ausspare, weil sie die Erkenntnisse der zuerst genannten entweder vor allem wiederholen und anwenden oder als Ansatzpunkt für eigene Überlegungen nehmen: Gabriel 1996, Gerok-Reiter 2007, Gottwald 2007, Martin 2009. 57 Lugowski scheint sich durchaus darüber im Klaren zu sein, dass die Vorstellung einer ‚wahren Wirklichkeit‘ erkenntnistheoretisch unsinnig ist (vgl. bes. 1932 / 1994, S. 84), was ihn freilich nicht daran hindert, sie für richtig zu halten. Vgl. dazu Kap. I.1.2.3 und I.1.3.3. 58 Vgl. dazu bes. Jesinghausen 1996, daran anschließend Martínez 1996a, S. 10 und Müller 2006, S. 36. Die Relevanz des Begriffs der ‚Wirklichkeit‘ betonen auch Schlaffer 1976 / 1994, S. XIVf. und Gabriel 1996, wobei freilich letzterer seine Problematik m. E. nicht erfasst. 59 Vgl. Lugowski 1932 / 1994, S. 9-13. 60 Diese sind nicht identisch mit den Antworten auf die im letzten Abschnitt gestellte Frage danach, ob die Zersetzung des mythischen Analogons und die der mythischen Weltsicht buchstäblich oder metaphorisch ineins fallen, lassen sich aber ohne weiteres auf sie beziehen. Fragen und Probleme 37 Dichtung nicht die echte Welt - ihr fehlt also nur dessen Realität (das entspricht eher der Bezeichnung des mythischen Analogons). Und die zweite: Sie gestaltet aus ihrem eigenen Formprinzip heraus eine dem Mythos ähnliche Welt - sie ist also gar nicht mythisch, sondern hat bloß eine äquivalente, ästhetische Form (das entspricht eher der Bezeichnung des formalen Mythos). 61 Um diese beiden Antworten zum einen zu veranschaulichen und zum anderen miteinander zu vereinbaren, übersetzt Lugowski sie in das Bild eines Vorgangs, den er als den Rückzug bzw. das Absterben des Mythos beschreibt. Die erste Phase dieses Vorgangs stellt er in seiner Einleitung dar. Dort erklärt er, dass es sei, „als habe sich das vor dem unaufhaltsamen Vordringen des ‚aufklärenden Geistes‘ zurückweichende Mythische in die künstlichen Formen der Kunst […] zu flüchten versucht“. 62 Die ‚mythisch besetzte‘ Dichtung als letzte Bastion im schrumpfenden Reich des Mythos, das heißt: Sie ist Mythos, wenn sie auch als solcher im Gebiet der Aufklärung keine Macht mehr hat. Nachdem sich der (bis dahin noch ‚lebendige‘) Mythos in die Form der Dichtung zurückgezogen hat, setzt nun allerdings zweitens eine Phase des Absterbens ein, die Lugowski als eine „Abstraktion […] des mythischen Analogons“ 63 bezeichnet. Dabei verwandelt sich die Bastion unversehens in ein Schneckenhaus, der Mythos in dessen sterbenden Bewohner: „Das Leben schwindet mehr und mehr aus dem knöchernen Haus“ - und lässt die dichterische Form, ihres mythischen Inhalts beraubt, allein zurück. 64 Dass der Zusammenschluss dieser Metaphern unmöglich einen kontinuierlichen Vorgang bezeichnen kann, wird erst bei näherem Hinsehen deutlich. Dann nämlich stellt sich heraus, dass sie die Frage, auf die sie sich beziehen, gegensätzlich beantworten. Die Metapher von der Flucht des Mythos in die künstliche Form der Kunst korrespondiert mit der Vorstellung, dass der Mythos nicht nur in dieser Form, sondern ganz konkret durch sie weiterlebe: Sie bewahrt ihn, indem sie eine Welt erzeugt, die in ihrer ganzheitlichen Geformtheit auch dann noch als eine mythisch-zweckhafte erscheint, wenn man das von der realen Welt nicht mehr sagen kann. Auf diese Weise bewahrt sie mit der Struktur des mythischen Weltbildes auch das, was Lugowski als dessen Sinn bezeichnet. 65 (Mythischer) Inhalt und (mythische) Form stellen also eine Einheit dar, die zwar für irreal bzw. ungültig erklärt, aber nicht aufgelöst werden kann. Im Bild des Absterbens deutet sich demgegenüber an, dass der Mythos nicht durch die Form der Dichtung erzeugt werde, sondern sie nur ‚bewohne‘. Da er offenkundig sterben und sie allein zurücklassen kann, erscheint er jetzt als etwas von ihr Abtrennbares, als eine Art Geist, der für die Erschaffung einer mythischen Welt zu ihrer Form hinzukommen muss. Die Komposition der Dichtung ist damit zuerst und vor allem: Komposition. Und die durch sie hervorgebrachte Welt ist zwar komponiert, aber deswegen noch nicht mythisch. 61 In ähnlicher Weise legt Müller das Phänomen auseinander, wenn er das ‚mythische Analogon‘ als „Rest mythischen Denkens“, den ‚formalen Mythos‘ hingegen als „Umschreibung für die Gebildehaftigkeit und das Gemacht-sein des Kunstwerks“ bezeichnet (1999, S. 151). 62 Lugowski 1932 / 1994, S. 12. 63 Ebd., S. 115. Nebenbei: Wie kann eine Form (denn schon das mythische Analogon ist ja als Ganzheit allein formal definiert) noch weiter abstrahiert, d. h. formalisiert werden? Offensichtlich hat das mythische Analogon hier seinen Charakter gewandelt. Es erscheint nun als ein Konglomerat von dichterischer Form und mythischem Inhalt, das erst ‚entleert‘ und damit (endgültig) formalisiert, zu einem ‚formalen‘ Mythos wird. 64 Ebd. 65 Also eigentlich den Eindruck der Notwendigkeit des Geschehens. Auf die Problematik dieses Sinnbegriffs habe ich eben schon hingewiesen (vgl. oben, Anm. 50). 38 Formaler Mythos - Kritik Während die erste Metapher den Mythos mithin als ein Produkt der gedichteten Form betrachtet, begreift ihn die zweite als deren Komplement. In der ersten ist die Dichtung immer (wenn auch ggf. ungültiger) Mythos, in der zweiten ist sie es nicht. Und während die erste besagt, dass die Dichtung durch ihre Form zu einem (ggf. irrealen) Abbild des Mythos werde, meint die zweite, dass Dichtung du rc h i h re For m zunächst einmal nur sie selbst, also Dichtung, sei (und zum Mythos erst du rc h i h re n I n h a lt werde). Der von Lugowski imaginierte Vorgang erweist sich so als ein weiterer Ausdruck des Versuchs, die Brüchigkeit seines Entwurfs zumindest oberflächlich zu kaschieren. Und er ist darin durchaus erfolgreich: Es fällt auf, dass ein Großteil seiner Rezipienten das mythische Formprinzip der Dichtung ganz ähnlich beschreibt. Nur weil sie die Darstellung im Bestreben nach größerer Klarheit in die eine oder andere Richtung konkretisieren, stoßen sie immer wieder auf den grundlegenden Bruch, den zu überbrücken ihnen freilich letztlich ebenso wenig gelingt. Was ihre Auseinandersetzung mit der Frage nach dem mythischen Charakter der dichterischen Form deutlich machen kann, ist somit vor allem die Leerstelle, die sie umkreisen. Angeregt wurde die Forschungsdiskussion durch einige Arbeiten Heinz Schlaffers, deren Verdienst nicht zuletzt darin besteht, Lugowskis Überlegungen so weit zu vereindeutigen, dass ihre Problematik überhaupt erst zutage tritt. 66 Schlaffer versteht Lugowski ganz klar im Sinne seiner Einleitung. Anschließend an den dort noch vorsichtig im Modus des ‚als ob‘ formulierten Gedanken von der Flucht des „Mythische[n] in die künstlichen Formen der Kunst“ 67 vertritt er die These, dass die Dichtung durch ihre Komponiertheit tatsächlich schon (fast) zum Mythos werde. Als Analogon erscheint sie bei ihm nur, weil sie als Mythos nicht mehr geglaubt wird, also ungültig ist. Im Zeitalter der Rationalität, so Schlaffer, werde die mythische Weltauffassung nicht mehr als Wirklichkeit akzeptiert. Da die Neigung zur Erfahrung der Welt als zweckhaft und damit sinnerfüllt 68 aber nach wie vor bestünde, werde sie in die Dichtung verschoben. Im Zentrum von Schlaffers Ansatz steht dementsprechend der Gedanke vom „Nachleben des mythischen Sinns in der ästhetischen Form“. 69 Er begreift die dichterische Darstellungsform als „mythische[] Erbschaft“. 70 Die Komposition bewahre „die mythische Sinnstruktur vor dem Einspruch des kritischen Bewußtseins“, 71 indem sie diese fiktionalisiere. Sie erschaffe eine Welt, in der alle Begebenheiten und Charaktere sich einer höheren Notwendigkeit fügen, erfülle so ein „Bedürfnis nach dargestelltem Sinn, das die kontingente wirkliche Welt nicht befriedigen kann“ 72 und übernehme dergestalt die Funktion, die vormals der Mythos innehatte: „die Feier herausgehobener Lebensmomente, für deren Bedeutsamkeit eine höhere Macht die Gewähr übernimmt.“ 73 Auf diese Weise konserviere sie im Medium des Fiktiven und Ästhetischen eine mythische Deutung der 66 Schlaffer kommt für die Lugowski-Forschung insofern Gründerstatus zu, als er die ‚Form der Individualität im Roman‘ mit seiner 1976 erschienenen Neuausgabe ins Bewusstsein einer breiteren Fachöffentlichkeit gehoben und durch die Integration in seine eigene Literaturtheorie - bes. Schlaffer 1990 / 2005 und 1996 - wissenschaftlich anschlussfähig gemacht hat. 67 Lugowski 1932 / 1994, S. 12. 68 Schlaffer übernimmt hier auch Lugowskis problematischen Sinnbegriff. 69 So der Titel des Aufsatzes 1996 und eines Kapitels im breiter angelegten Buch ‚Poesie und Wissen‘ (1990 / 2005), S. 102-114. Vgl. zum Folgenden insbesondere auch ebd., S. 91-101. 70 Schlaffer 1996, S. 34. 71 Ebd., S. 32. 72 Ebd., S. 35. 73 Ebd., S. 29. Fragen und Probleme 39 Welt, die von der Aufklärung dementiert wurde: „Poetisch ist die exzeptionelle Geltung des Ungültigen.“ 74 Dieter Lamping formuliert seine Bedenken gegen Schlaffers Darstellung bündig in zwei Einwänden. Erstens betont er, dass „[d]ie He rk u n f t der Dichtung aus dem Mythos […] nicht für alle Zeit eine A bh ä n g ig k e it begründen“ müsse. Und zweitens sei „[d]ie - dem Mythischen verpflichtete - poetische Sinngebung […] nicht unbedingt unverbindlich […], weil das Mythische nicht einfach mit dem Ungültigen oder Falschen zu identifizieren“ sei. Dichtung könne vielmehr, so fügt er hinzu, durchaus g ü lt ige n Sinn erzeugen. 75 Aus diesem Grund bezeichnet er es als „problematisch […], den ‚semantischen Gehalt ästhetischer Formen‘ ein für alle Mal festschreiben zu wollen“, 76 und leitet daraus die Forderung ab, den Sinn, den die Dichtung durch ihre Form erzeugt, auch noch anders als nur durch seinen Bezug zum Mythos zu beschreiben. Denn, so Lamping weiter, „[e]in Kunstmittel wie der Reim, das seiner Herkunft nach mythisch ist, muß deshalb nicht mythisch bleiben. Ja, als Kunstform muß es sich vielleicht sogar (vom Mythischen weg) entwickeln, weil es sonst den Bedürfnissen der Leser oder Hörer nicht mehr entsprechen kann.“ 77 Das heißt mit anderen Worten: Wiewohl die Dichtung durch ihre Formgebung stets Sinn vermittelt, muss dieser Sinn doch nicht immer ein mythischer sein. 78 Dass Lugowski und Schlaffer dies glauben, hält Lamping, wie er in einigen Bemerkungen andeutet, für die Folge ihres unbzw. unterbestimmten (weil zu weiten) Mythosbegriffs. Denn warum sollte Dichtung allein durch ihr „Komponiertsein“ schon zu einem Analogon des Mythos werden? „In diesem Sinn“, so Lamping, „würde der Begriff [des mythischen Analogons, CK ] nur ein technisches oder formales Merkmal literarischer Werke […] bezeichnen, das seinen letzten (eher trivialen) Grund darin hätte, daß sie von einem Autor planend ge s c h a f fe n sind.“ Eine solche Komponiertheit, so fügt er hinzu, könne man zwar „wegen der Entsprechungen zu allen metaphysischen Schöpfer- oder Urheber-Vorstellungen durchaus ein mythisches Analogon nennen“, doch müsse sie darum „keine mythische Weltsicht oder Welthaltung implizieren“. 79 Muss also, so wäre im Anschluss daran zu fragen, doch noch etwas zur Komposition einer Dichtung hinzukommen, damit diese eine mythische Welt erzeugen bzw. eine mythische Welthaltung vermitteln kann? Und worin könnte dieses ‚Etwas‘ bestehen? Heinrich Detering findet auf diese Frage eine nur scheinbar elegante Antwort. Sie lautet: Was hinzukommt, ist Mythos. Ganz ähnlich wie Lamping erklärt er Lugowskis Fehler damit, dass dieser - irregeleitet durch die Schöpferanalogie - den Unterschied zwischen dem von einem Autor geschaffenen Text und einer von Gott gelenkten Welt verwische. „Gemeinsam ist beiden Sphären die Annahme einer ‚Absicht‘ als Minimalbedingung des Mythischen […]. Dennoch besteht zwischen beiden Sphären eine entscheidende Differenz: eben die Differenz von mythischen Modellen und mythosanalogen Textstrukturen“. Um Lugowskis Fehler zu beheben, sei es daher notwendig, die „ A b s ic ht e i n e r n a r r at ive n 74 Ebd., S. 30. 75 Lamping 1996, S. 42. 76 Lamping ebd., S. 44, zitiert hier Schlaffer 1990 / 2005 nach der ersten Auflage (1990), S. 108. 77 Lamping 1996, S. 44. Vgl. Detering 1996, S. 68 f. 78 Wie er sich von seinem mythischen Äquivalent unterscheidet, lässt Lamping freilich offen. Dabei bleibt auch er in der Betonung des ‚Archaischen‘ und ‚Elementaren‘ (1996, S. 44-47), letztlich im gedanklichen Bann von Schlaffers mythischem Ursprungsdenken. Dass er mit der Andeutung einer andersartigen Sinngebung gleichwohl den entscheidenden Punkt trifft, werden meine Überlegungen in Kap. I.2 deutlich machen. 79 Lamping 1996, S. 41. 40 Formaler Mythos - Kritik I n s t a n z“ von der „ A b s ic ht e i n e r we lt tot a l it ät s s t i f t e nd e n I n s t a n z“ abzuheben, das heißt konkret: die rein ‚technischen‘ Mittel der Komposition sind von den höheren Mächten innerhalb der erzählten Welt zu differenzieren. „Das Unterscheidungskriterium scheint sehr einfach: Was könnte unabhängig von der Erzählung auch von der realen Welt ausgesagt werden, was ist nur als Konstituens der Erzählung beschreibbar? “ 80 Deterings Differenzierung setzt also augenscheinlich ein Verständnis des Zusammenhangs von Sinn und Form voraus, das im wesentlichen Lugowskis zweitem Bild entspricht. Der Mythos wird nicht durch die Form der Dichtung erzeugt, sondern er ‚bewohnt‘ sie lediglich. Die in der erzählten Welt wirkende höhere Macht, so Detering, „ist nicht Bestandteil des mythischen Analogon, sondern genuin mythisch“. 81 Ihr Wirken geht nicht aus der Komposition hervor, sondern existiert von dieser unabhängig, als Teil der dargestellten Realität. Deterings Explikation lässt ein Problem sichtbar werden, das Lugowskis Schilderung ebenfalls verdeckt hatte: Wie kann eine dargestellte Realität als ein zur Form der Dichtung ‚hinzukommendes‘ Mythisches jemals von der dichterischen Darstellung (und das heißt: ihrer Form) unabhängig sein? Detering sucht das Problem zu lösen, indem er annimmt, dass die mythische Realität der mythosanalogen Darstellungsform vorgeordnet sei. Der Text „stell[t] den metaphysischen Sachverhalt lediglich dar, und die narrativen Mittel […] [mit denen dies geschieht, CK ], machen seine Struktur als eine dem Mythos analoge aus.“ 82 Anders als es zunächst schien, glaubt Detering demnach doch an einen Zusammenhang zwischen dichterischer Form und mythischer Welt; allerdings an einen ganz anderen als Lugowski und Schlaffer. Seiner Ansicht nach ist die mythische Beschaffenheit der dargestellten Welt nicht das Resultat ihrer Komposition, sondern die Komposition ergibt sich umgekehrt aus der mythischen Beschaffenheit der Welt. Oder anders gesagt, die mythische Welt wird nicht durch das Mittel der Darstellung geformt, sondern die Darstellung ist durch die mythische Welt determiniert. Denkt man von diesem Punkt aus weiter, so wird schnell deutlich, dass Deterings inhaltliche Spezifikation das Konzept des mythischen Analogons eher noch weiter verwirrt, als es zu klären. Denn erstens bewirkt sie eine Verdoppelung des mythischen Analogons. Mythisch analog ist die Komposition eines Textes nun, weil sie einerseits durch dessen mythischen Inhalt und andererseits durch dessen Autor geformt wird - wie die beiden Arten der Formung zueinander im Verhältnis stehen, bleibt offen. Und zweitens ist der durch sie implizierte Mythosbegriff noch unbestimmter als der Lugowskis und Schlaffers. Mythisch ist die dargestellte Welt nun nämlich nicht mehr, weil sie komponiert ist, sondern weil sie von der Absicht einer welttotalitätsstiftenden Instanz gesteuert wird - weil sie also durch höhere Mächte bestimmt und das heißt eben: mythisch ist. Dass sie außerdem auch geformt ist, wird stillschweigend vorausgesetzt, aber nicht explizit mit ihrem mythischen Charakter in Verbindung gebracht. 83 Deterings Klärungsversuch fällt somit letztlich erneut auf die Frage nach den mythischen Implikationen der dichterischen Form zurück. Denn welche Art von Mythizität diese begründet und unter welchen Voraussetzungen die literarisch gestaltete Welt tatsächlich zu einer mythischen wird, bleibt diffus. Sehr viel mehr Licht bringt demgegenüber Matías Martínez in die Sache, indem er das Verhältnis von mythischer Form und mythischem 80 Alle Zitate Detering 1996, S. 65 f. Zur Kritik an dieser Unterscheidung auch Gottwald 2007, S. 127 f. 81 Detering 1996, S. 67. 82 Ebd. 83 Detering deutet die Form der mythischen Welt durch den Verweis auf den zweiten Teil von Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ an (ebd., S. 65, vgl. auch S. 76-79). Fragen und Probleme 41 Inhalt der Dichtung neu akzentuiert. Auch er setzt dafür bei der formalen Ähnlichkeit zwischen der von einem Autor komponierten und der von einem Gott gelenkten Welt an. Anders als Schlaffer und Detering sucht er die darüber hinausgehende Gleichheit des Inhalts jedoch weder als direkte Konsequenz der gemeinsamen Geformtheit noch durch ein hinzukommendes inhaltliches Moment zu erklären. Dass eine literarisch geformte Welt als eine mythische erscheinen kann, aber nicht muss, begründet sich aus seiner Sicht vielmehr darin, dass die (universale) Komponiertheit der Dichtung in der Darstellung ihrer Welt sozusagen unterschiedlich i nt e r pret ie r t werden kann. Eine dichterisch gestaltete werde demnach immer dann zu einer göttlich gelenkten Welt, wenn „die komponierende Kraft […] des Autors in der erzählten Welt selbst repräsentiert […] wird“. 84 In diesem Fall wirkt die - der Ebene der Darstellung zugehörige - Komposition in die dargestellte Welt hinein und lässt ihr ‚verursachendes Prinzip‘ in Gestalt numinoser Mächte sichtbar werden. Um die so umrissene Möglichkeit einer mythischen Interpretation der dargestellten Welt begrifflich und analytisch von ihrem nicht-mythischen Gegenstück unterscheiden zu können, legt Martínez Lugowskis ‚Motivation von hinten‘ in zwei verschiedene Motivationen auseinander: eine ‚kompositorische‘ und eine ‚finale‘. Die kompositorische Motivation bezeichnet dabei ausschließlich die Verknüpfung des Textes, also den Umstand seines Komponiertseins. Diese Motivation ist, so Martínez, „ k at e gor i a l anderer Art“ als die kausale ‚Motivation von vorn‘, denn diese verknüpfe lediglich das „Geschehen i n n e rh a lb der erzählten Welt“. „Kompositorische und kausale Motivation sind“ demnach „ i n kom m e ns u r a ble Arten der Erklärung von Geschehen; sie betreffen verschiedene A s p e k t e des Textes und können deshalb nebeneinander bestehen.“ 85 Die finale Motivation zeichne sich demgegenüber dadurch aus, dass sie die beiden Aspekte trotzdem miteinander verbindet. Sie überwindet die Grenze zwischen Darstellung und dargestellter Welt und lässt die Komposition ins erzählte Geschehen durchscheinen. Durch sie wirft „die kompositorische Motivation auf das kausale Gefüge des Geschehens […] einen ‚finalisierenden‘ Schatten“. 86 Die finale Motivation nutzt also die Formgleichheit von Dichtung und Mythos, um den Willen des weltgestaltenden Autors als den Willen eines weltgestaltenden Gottes darzustellen. Wie sehr eine solche Darstellung tatsächlich eine Frage der Interpretation ist, lässt Martínez zwar nur beiläufig, aber doch deutlich genug aufscheinen: Die Komposition des Geschehens macht dieses zu einem intendierten Ganzen und inszeniert damit die erzählte Welt als Schöpfung, deren Existenz man sich schlechterdings nicht ohne übergeordnete Intention vorstellen kann, selbst wenn in der erzählten Welt keine übernatürlichen, realitätsinkompatiblen Elemente enthalten sind. 87 Das heißt mit anderen Worten, die Komposition kann auch dann als eine höhere Macht ins Geschehen durchscheinen, wenn sie dort nicht ‚persönlich‘ greifbar wird. 88 Voraussetzung 84 Martínez 1996, S. 28. 85 Ebd., S. 27 f. 86 Ebd., S. 29. 87 Ebd. 88 Wie man sich das konkret vorzustellen hat, führt Martínez in seiner Analyse der ‚Kaiserchronik‘ aus. Wenn der Erzähler dem (christlichen) Hörer in den rein kompositorisch motivierten Teilen des Textes suggeriert „daß das Geschehen nur scheinbar sinnlos, in Wahrheit aber von Gott gelenkt ist“ (1996b, S. 88), dann heißt das: auch hier herrscht Finalität - die Figuren wissen nur nichts davon. 42 Formaler Mythos - Kritik dafür ist nur, dass man die Kraft des Autors auf die von ihm geschaffene Welt bezieht und sie - sozusagen aus deren Perspektive - als höhere Macht interpretiert. Dass auch Martínez die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Mythos nicht vollständig beantworten kann, ist hieraus unschwer zu erschließen. Denn zwar lässt er verständlicher werden, wie der mythische Charakter einer dichterisch gestalteten Welt aus ihrer kompositorischen Form emergiert. Die Abgrenzung einer nur-ästhetischen von einer auch-mythischen Welt ist aber nach wie vor schwierig. So muss man sich insbesondere fragen, ob eine Welt, die durch ihre (universale) Komponiertheit immer im Schatten der Finalität liegt, nicht immer - zumal wenn das Urteil letztlich im Ermessen des Rezipienten liegt - auch eine zumindest latent mythische ist. 89 Im Anschluss daran scheint unweigerlich der Einwand Lampings wieder auf, dass es doch möglich sein müsse, die Formen der Dichtung, wenn sie auch als For m e n mit denen des Mythos übereinkommen mögen, in ihrem I n h a lt - oder, wie man auch sagen könnte, in ihrer Wirkung - als nicht-mythisch zu fassen. Sprich: Wenn die Theorie des formalen Mythos tatsächlich, wie von Martínez apostrophiert, „ein Versuch [ist], das spezifisch Literarische an literarischen Texten zu erklären“, 90 dann müsste sie auch zu begründen in der Lage sein, wie im Medium ästhetischer Komposition Welten entstehen können, die nicht als göttlich gelenkte deutbar sind, sowie weiter, wie die diesen Welten eigene Intentionalität des Aufbaus einen Zweck implizieren kann, der nicht in der Vorstellung providenzieller Fügung aufgeht. Sie sollte also kurz gesagt plausibel machen, warum aus der mythischen Form der Dichtung nicht immer mythische Welten und mythischer Sinn, sehr wohl aber immer literarische Welten und literarischer Sinn entstehen. - Wie kommt es, dass die Dichtung durch ihre Form Welten erschafft, die als literarische mythisch sein können, aber nicht müssen, und Sinn, der als literarischer mythisch sein kann, aber nicht muss? 1.2.2 Ein Abbild der Wirklichkeit? Formaler Mythos und mythische Weltsicht Die Leerstelle, von der ich eben gesprochen habe, zeichnet sich hier bereits recht deutlich ab, und in ihr wird auch das Grundproblem der Konzeption des formalen Mythos erstmals greifbar. Dieses besteht offenbar darin, dass Lugowski die Weltgestaltung der Dichtung nicht einmal ansatzweise in ihrer ästhetischen Eigenart zur Kenntnis nimmt. Er begreift sie stets nur als einen irgendwie abgewandelten oder unvollständigen Mythos, niemals aber als eine Gestaltungsform, der sich aus ihrem ganzheitlichen Ordnungsprinzip heraus unterschiedliche, mythische wie nicht-mythische Möglichkeiten eröffnen. Dass ihm die Fixierung auf die mythischen Implikationen der Dichtung auch den Blick auf ihren (tatsächlichen) Wirklichkeitsbezug versperrt, ist daran anschließend unvermeidlich. Für Lugowskis These von der Abbildhaftigkeit der Dichtung gilt darum grundsätzlich das gleiche wie für die von der Mythizität der dichterischen Form. Nur die Frage, die sie aufwirft, ist eine etwas andere. Diese lautet nämlich jetzt nicht mehr, was der Weltgestaltung der Dichtung im Vergleich zu der des Mythos fehlt, sondern, wie sie sich zur (realen) Weltsicht ihrer Produzenten und Rezipienten ins Verhältnis setzt, und zwar auch und gerade unter den Bedingungen des historischen Wandels. Die Forschung hat auch in diesem zweiten 89 Dazu bes. die Kritik von Meincke 2007, bes. S. 116-138, vgl. auch die weiterführenden Überlegungen bei Haferland 2010. 90 Martínez 1996a, S. 11. Fragen und Probleme 43 Punkt versucht, Lugowski helfend beizuspringen, konnte indessen auch hier zu keinem befriedigen Ergebnis gelangen. Lugowski stellt sich den Zusammenhang zunächst noch recht einfach vor. Er betrachtet die Weltgestaltung der Dichtung als unbewussten Ausdruck der Realitätsauffassung ihrer Zeit und meint deshalb, dass dem Wandel dieser Auffassung notwendig ein Wandel der dichterischen Form entspreche. Aus diesem Grund hält er die Ersetzung der ‚Motivation von hinten‘ durch die ‚Motivation von vorn‘ für die unmittelbare Folge der kulturhistorischen Entwicklung vom Mythos zur Ratio. Denn wie in dieser, so meint er, falle auch dort die übergreifende Bindung, die die Welt als Ganze zusammenhält und sie zwingend ihrem vorherbestimmten Ziel entgegenführt, mehr und mehr weg. An die Stelle dieser Bindung trete in beiden Fällen das Bewusstsein eines Gefüges von kausalen und empirischen Verknüpfungen, das die einzelnen Teile der Welt zwar untereinander verkettet, ihr aber nicht mehr das Ansehen göttlicher Gelenktheit verleiht. In dieser Weise öffne sich der zuvor geschlossene Horizont der (mittelalterlich-)mythischen Weltsicht in Dichtung und Wirklichkeit gleichermaßen in die metaphysisch ‚blinde‘ und darum sinnlose Welt der Neuzeit. Dass er sich in dieser Darstellung des Epochenumbruchs schon allein deshalb selbst widerspricht, weil er die Dichtung aufgrund ihrer Komponiertheit immer als ‚von hinten‘ motiviert begreift, bleibt Lugowski hierbei zwar durchaus nicht verborgen. 91 Er glaubt jedoch, das Problem bewältigen zu können, indem er seine Untersuchung mit dem Prosaroman auf die ‚unkünstlichste‘ aller literarischen Gattungen beschränkt, auf eine Gattung also, die, da sie keinem besonderen dichterischen Formwillen unterliege, die Weltsicht ihrer Zeit unverfälscht wiedergeben könne. 92 Jan-Dirk Müller setzt in seiner umfassenden Kritik von Lugowskis Epochenmodell bei diesem letzten Punkt an. „Es ist leicht zu sehen“, so sein Einwand, „daß []hinter [der vermeintlichen Formlosigkeit des Romans, CK ] ein Selbstbeschreibungsmodell der klassischromantischen Kunstperiode steht“. Wenn Lugowski den Roman in deren Sinne kaum noch zur Kunst zähle und deshalb meine, die ‚Künstlichkeit‘, auf die er stößt, umstandslos für eine dem Mythos analoge Weltsicht verbuchen zu können, dann übersehe er deshalb, „daß jene Romane [d. h. die des 16. Jahrhunderts, CK ] ihr Kunstprinzip und ihr Gemachtsein nur unter ihrer affektierten ‚Natürlichkeit‘ verbergen“. Dass „Lugowskis Befund also anders zu interpretieren [wäre]“, 93 ist offensichtlich und in der Forschung unbestritten. Und auch, wo die Korrektur konkret einzuspringen hat, unterliegt keinem Zweifel: Sie muss einsichtig machen, was aus Lugowskis Entwurf wird, wenn man davon ausgeht, dass erzählende Dichtung generell - also im Mittelalter ebenso wie in der Neuzeit - ‚formalmythisch‘ komponiert, und das heißt vor allem: sowohl „lebensweltlich-praktisch[]“ von vorn als auch „analytisch-retrospektiv[]“ von hinten motiviert ist. 94 Auf die Präsenz der ‚Motivation von vorn‘ schon im Mittelalter hinzuweisen, ist dabei wohlgemerkt ebenso wichtig, wie das Fortbestehen der ‚Motivation von hinten‘ in der Dichtung der Neuzeit aufzuzeigen: Die Einsicht, dass jedes Erzählen epochenunabhängig 91 Es ist bezeichnend, dass er wieder einmal beides unvermittelt nebeneinander stehen lässt. Er geht davon aus, dass die vorbereitende Motivation ein neuzeitliches Phänomen sei (bes. Lugowski 1932 / 1994, S. 66-81, 110-112), um im selben Atemzug ein generelles „Ineinander beider Motivationsarten“ zu konstatieren (ebd., S. 68). 92 Ebd., S. 13. 93 Alle Zitate Müller 1999, S. 152. 94 Martínez 1996, S. 26. 44 Formaler Mythos - Kritik nur als „Ineinander beider Motivationsarten“ verstanden werden kann, 95 ist unabdingbare Voraussetzung für jedes Weiterdenken am Konzept des ‚formalen Mythos‘. 96 Vor diesem Hintergrund ist Lugowskis Epochenthese sowohl in Hinblick auf ihren weltanschaulichen als auch auf ihren ästhetischen Anteil neu zu perspektivieren: „Zur Frage nach der Transformation der in Erzählungen sich abbildenden Weltsicht“, so noch einmal Jan-Dirk Müller, „tritt die nach der Transformation der ‚kulturellen Poetik‘ von Erzählungen überhaupt.“ 97 Sichtet man die Forschung unter diesem Aspekt, so ist es freilich zumindest bemerkenswert, wie wenig sie Lugowskis Beschreibung des Epochenschnitts trotz allem in der Sache widerspricht. Seine Beobachtungen, so kann man ihren unausgesprochenen Konsens explizieren, mögen zwar im Einzelnen falsch und seine Deutungen methodisch verfehlt sein, in Bezug auf die von ihm diagnostizierte Entwicklung trifft er aber nichtsdestotrotz das Richtige. Die Frage, die sich der Forschung stellt, 98 lautet dementsprechend weniger, ob, sondern eher, warum Lugowskis Modell für die Analyse gerade mittelalterlicher Erzähltexte besonders gut geeignet ist - weshalb sich also die von ihm aufgezeigten Formmerkmale in älterer Literatur gehäuft finden. Matías Martínez’ Stellungnahme zu diesem Thema ist im Grunde nicht viel mehr als ein Versuch, Lugowskis Epochenvorstellung in eine korrigierte Version seines Modells zu reintegrieren. Was sich zum Ende des Mittelalters - Martínez rechnet mit einem Übergang bis zum Ende des 18. Jahrhunderts - wandelt, ist demnach nicht die weltanschaulich-ästhetische Doppelwertigkeit des mythischen Analogons als solche, sondern nur die Weise, in der sie gefasst und ausgestaltet wird. Als entscheidendes Indiz für das Überschreiten der Schwelle zur Moderne hat dabei das Auftreten eines Kompositionstyps zu gelten, dem Martínez den Namen der ‚doppelten Welt‘ gibt. 99 Dieser zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er einen kausalen Motivationszusammenhang paradox gegen einen mythisch-finalen montiert, und die Frage danach, ob die so entstehende Welt vom Gesetz der Kausalität oder von einer höheren Macht regiert werde, offenlässt. Den spezifisch modernen Charakter dieses Kompositionstyps erklärt Martínez so: Erst nach der Etablierung des empirischen, von der modernen Naturwissenschaft geprägten Weltbildes kann die Gültigkeit einer kausalen Motivierung des Geschehens als selbstverständlicher Hintergrund der Darstellung poetologisch vorausgesetzt werden, und erst ab diesem Stand erscheint es denkbar, in einem zweiten Schritt der empirischen Vorderwelt paradox eine mythischfinale Hinterwelt hinzufügen, ohne die zweideutige Motivierung aufzulösen. Paradox verdoppelte Welten sind ein literarisches Phänomen der im 18. Jahrhundert einsetzenden Moderne: sie kombinieren zwei gegensätzliche Weltsichten, deren Konkurrenz bis dahin nur hierarchisch formuliert werden konnte. Wenn sie vorher […] in einer erzählten Welt zusammenkamen, mußte die kausale Determination als eine nur scheinbare enthüllt und in die providentielle Ordnung der Dinge überführt werden. 100 95 So, wie schon gesagt (Anm. 91), Lugowski selbst (1932 / 1994, S. 68). 96 Dazu bes. Haustein 1999, Martínez 1996a. 97 Müller 1999, S. 155. 98 Das heißt, sofern sie sich ihr überhaupt stellt. Denn explizit diskutiert wird sie eher selten. Kritisch dazu äußert sich v. a. Haustein 1999. 99 Im Titel der Studie 1996. 100 Ebd., S. 207. Fragen und Probleme 45 Dass das Mittelalter jedwede Finalität „in die providentielle Ordnung der Dinge überführen […] mu ß[]“, 101 kann hier kaum anders gedeutet werden, als dass sein Erzählen tatsächlich als direkter Ausdruck einer mythischen Weltsicht anzusprechen ist. Der mittelalterliche Erzähler, so offenbar die Idee, vermag die Welt nicht anders als providentiell geordnet darzustellen, weil er sie schlicht nicht anders denken kann. Inwiefern der für das Mittelalter so typische Verzicht auf eine „stringente kausale Motivation“ vielleicht noch andere - näherhin in der spezifischen Ästhetik seines Erzählens liegende - Gründe haben könnte, gerät in diesem Zusammenhang nicht einmal ansatzweise in den Blick. 102 Die Argumentation als Ergebnis jener „Selbstüberschätzung[] der Moderne“ zu betrachten, die, wie Jens Haustein pointiert formuliert, meint, „Kausalität und handlungslogische Rationalität […] erfunden zu haben,“ liegt an dieser Stelle zumindest nahe. 103 Dass Jan-Dirk Müller sich von vornherein dezidiert gegen eine Konstruktion von Epochenzäsuren richtet, die auf einfachen binären Oppositionen und „unausgesprochenen […] Hypothesen über den Verlauf historischer Prozesse“ beruht, scheint von hier aus gesehen nur konsequent. 104 Und auch sein Hinweis darauf, dass die Komposition einer Dichtung immer Ausdruck eines historischen Konzepts von Kunst u n d Korrelat einer historischen Weltsicht sei, ist absolut einleuchtend. 105 Denn was Lugowski am frühneuzeitlichen Roman beobachtet, das ist literaturgeschichtlich betrachtet in der Tat zunächst nichts weiter als „die Transformation des einen Kompositionstypus in einen anderen“. 106 Dass dieser Transformation in gewissem Umfang trotzdem weltanschauliche Bedeutung beizumessen ist, begründet Müller im Anschluss daran damit, dass literarisches immer mit alltagsweltlichem Erzählen und dieses wiederum mit der jeweils zeittypischen Weltauffassung in Wechselwirkung stehe. Wenn sich poetische Darstellungsweisen (etwa biographischer Art) großflächig umformen, so weise das deshalb darauf hin, dass „sich unterhalb bewußter und kalkulierter Formung neue Apperzeptionsformen biographischer Verläufe ausbilden.“ 107 Bei der Deutung des von Lugowski als Zersetzung oder Umbildung des mythischen Analogons bezeichneten Prozesses sei demzufolge zu unterscheiden zwischen literatur- und kulturbzw. mentalitätsgeschichtlich signifikanten Vorgängen und weiter zwischen den konkreten Weisen, in denen diese jeweils literarisch wirksam werden. „Literaturgeschichtlicher Epochenwandel hieße demnach Ablösung einer ‚Künstlichkeit‘ oder - in Lugowskis Sprache - eines formalen Mythos durch einen anderen, wobei darunter ‚stärkere‘, nämlich literarische (gattungsspezifische) und ‚schwächere‘, nämlich alltagsweltliche Weisen der sprachlichen Aneignung von Welt zusammengefasst wären.“ 108 Unter dieser Prämisse beschreibt Müller den „Ertrag von Lugowskis Textanalysen für die Frage literaturgeschichtlicher Epochenkonstruktion“ als Hinweis auf eine ganze Reihe von ‚Umbesetzungen‘, die sich „in der Erzählliteratur um 1500“ in besonderer Weise „massieren“ und die daher tatsächlich „als Sig- 101 Ebd., Hervorhebung von mir. 102 Dass Martínez die sich „erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ durchsetzende „stringente kausale Motivation“ auf eine „poetologische Forderung“ zurückführt, deren Fehlen zuvor hingegen nicht, sei hier nur nebenbei bemerkt. Alle Zitate ebd., S. 206. 103 Haustein 1999, S. 559. 104 Müller 1999, S. 143-146, hier S. 145. 105 Ebd., S. 149. 106 Ebd., S. 152. 107 Ebd., S. 153. 108 Ebd. 46 Formaler Mythos - Kritik naturen einer bestimmten literaturgeschichtlichen Epoche zusammen zu sehen“ wären. 109 Dass ihre spezielle Tendenz - Müller verweist v. a. auf solche Darstellungsverfahren wie die Ausblendung sinnstiftender Erzählrahmen, die Reduktion auf das Faktische und die Hybridisierung von narrativen Mustern 110 - der von Lugowski beschriebenen Auflösung in weiten Teilen entspreche, sei dabei zwar unbestreitbar. Doch erschienen sie in ihrer neuen Begründung in einem gänzlich anderen Licht: statt als „Verabschiedung jedweder ‚Künstlichkeit‘“ nur als Beginn einer neuen. Diese neue Künstlichkeit aber, so Müller weiter, stehe nicht allein „in untergründiger Verbindung mit anthropologischen Neuorientierungen, die im 18. Jahrhundert zum Durchbruch kommen“, sondern schließe sich auch mit diesen zu jenem Bündel von Prozessen zusammen, die „das diskursive Feld, auf dem Geschichten von Menschen narrativ entfaltet werden können, zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert von Grund auf verändern.“ 111 Dieser grundlegenden Bereinigung von Lugowskis Darstellung ist nichts Wesentliches hinzuzufügen, abgesehen von der Bemerkung, dass man, wenn das denn alles wäre, gut auf Lugowski verzichten könnte. Denn was sie von seinem Entwurf übriglässt, das ist, neben einigen analytischen Kategorien, nur der Begriff eines formalen Mythos, der sich bei näherem Hinsehen als merkwürdig leer erweist. Müller verbindet ihn zwar eingangs im Sinne Lugowskis mit der mythischen Weltsicht seiner Zeit. 112 Nachdem er die Vorstellung seiner Auflösung verabschiedet hat, bezieht er ihn jedoch ausschließlich noch auf das Phänomen einer literarischen ‚Künstlichkeit‘, die er ganz dezidiert nicht mehr mythisch, sondern nur noch ästhetisch und - in geringerem Maße - weltanschaulich definiert: Der formale Mythos erscheint als Ausdruck von Weltaneignungen, die in ihrer ‚starken‘ Variante eher „literarisch“ und in ihrer ‚schwachen‘ eher „alltagsweltlich“ geprägt sind (das ‚mythische‘ Moment liegt also offenbar beim Pol des Literarischen). 113 Was ihn in diesem Zusammenhang eigentlich noch als My t ho s qualifiziert, ist umso fraglicher, als Müller insgesamt nicht recht deutlich werden lässt, wodurch sich das Phänomen, das Lugowski mit ihm benennt, - außer durch seine ‚Künstlichkeit‘ - genau auszeichnet und wie es dementsprechend über das Epochale hinaus „gattungsspezifisch zu differenzieren wäre“. 114 Deshalb ist es zwar nachvollziehbar, wenn Müller fordert, die von Lugowski apostrophierte Künstlichkeit, anstatt sie gegen die ‚Natur‘ zu setzen, als Kompositionstyp von anderen Kompositionstypen abzugrenzen. Was in diesem Vorhaben der Rückgriff auf den Mythos leistet, und warum Literatur sich durch ihren for m a l my t h i s c h e n Charakter 109 Ebd., S. 155 f. und 158 f. 110 Ebd., S. 156-158. 111 Ebd., S. 161. 112 Ebd., S. 149. 113 Ebd., S. 153. Die Behauptung einer untergründigen Beeinflussung der literarischen Künstlichkeit durch anthropologische Neuorientierungen (ebd., bes. S. 161) steht zu dieser Darstellung insofern in zumindest latenter Spannung, als das ‚mythische‘ (bzw. nicht mehr mythische) Moment dann eben doch auf der Seite der Weltsicht zu verorten wäre. Inwiefern Literatur aus sich selbst heraus oder doch eher durch den Rekurs auf die Weltsicht ihrer Zeit mythisch (bzw. nicht mehr mythisch) ist, verschwimmt. 114 Müller 2006, S. 36. Dass Müller ausgerechnet das Moment der Gattung so sehr in den Vordergrund stellt, ist nicht zwingend. Denn die Art der Komposition hängt zwar zweifellos auch, aber nicht nur von Gattungsvorgaben ab. Wenn man wüsste, wie der formale Mythos überhaupt zu differenzieren wäre, dann wäre folglich auch über die Kriterien der Differenzierung noch einmal nachzudenken. Auch dazu später mehr. Fragen und Probleme 47 „von anderen Weisen der Welterfahrung und -aneignung unterscheide[n]“ soll, will sich jedoch nicht recht erschließen. 115 Die hier sich andeutende Verwirrung wird komplett, wenn man bemerkt, wie der bis zu diesem Punkt so sorgfältig aus Lugowskis Modell hinauskomplimentierte Mythos sich sozusagen durch die Hintertür doch wieder in die Darstellung hineinschleicht. Das geschieht in dem Moment, da Müller die ‚Umbesetzung‘ des formalen Mythos mit Lugowski als einen Prozess beschreibt, in dessen Verlauf narrative Mittel ganzheitlich-sinnhafter Strukturierung „ausgeblendet“, „konterkariert“ oder durch Hybridisierung gestört werden. 116 Indem er Lugowski in seiner Schilderung eines vornehmlich durch den Verlust sinnhafter Ganzheit bestimmten literaturgeschichtlichen Wandels folgt, kehrt er nämlich in einer Weise zu dessen Mythoskonzept zurück, die seine eigenen Überlegungen wieder in Frage stellt. 117 Denn wenn sich der Umbruch ins literarische System der Neuzeit tatsächlich dadurch vollzöge, dass „überkommene Sinnvorgaben (‚Ganzheiten‘, Analoga des Mythos)“ systematisch „beiseite [geschoben]“ (und nicht durch andere ausgetauscht? ) würden, 118 dann würde sich die ‚Umbesetzung‘ des (als Ganzheit definierten) formalen Mythos erstens eben irgendwie doch als ‚Zersetzung‘ manifestieren (denn die Ganzheit würde zerstört). Und zweitens wäre nun wieder unklar, weshalb die folgenden ‚Künstlichkeiten‘ in ihrer (nun nicht mehr ganzheitlichen? ) Struktur eigentlich noch als formalmythisch und damit als literarisch anzusprechen wären (denn der formale Mythos zeichnet auch Müller zufolge die Literatur als Literatur aus). 119 Auch ohne die Kritik der Kritik bis zum Ende durchgeführt zu haben, dürfte das Wesentliche bis hierher deutlich geworden sein. Die Brüche, die selbst in dem methodisch so durchdachten Korrekturversuch Müllers - man ist versucht zu sagen: unvermeidlich - aufscheinen, sind vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie zeigen, dass der Problematik von Lugowskis Entwurf durch eine Modifikation seiner Epochenthese offenbar ebenso wenig beizukommen ist wie durch die Konkretisierung seiner Behauptung vom mythischen Charakter der Literatur. Im Ergebnis kommt man immer wieder auf dieselbe Feststellung zurück: So lange nicht geklärt ist, was die Dichtung mit dem Mythos verbindet und sie zugleich in ihrer Eigenart als Dichtung ausmacht, ist weder zu bestimmen, was das Phänomen des formalen Mythos konkret bezeichnet, noch ist es möglich, die Prozesse und Bedingungen seines historischen Wandels genauer zu beschreiben. Der folgende Abschnitt versucht, die wesentliche Voraussetzung für diese Klärung zu schaffen, indem er herausarbeitet, warum Lugowski der Aufgabe, die er sich selbst gestellt hat, nicht gewachsen ist, ja nicht gewachsen sein kann: Es ist sein Wirklichkeitsbegriff, der ihn dazu zwingt, Dichtung 115 Ebd., S. 34. 116 Müller 1999, S. 155-158. 117 Zugleich wiederholt er den Lapsus Martínez’ aus disziplinär umgekehrter Perspektive: Während der Neugermanist die Literatur des Mittelalters mit Lugowski für mythisch hält, hält der Altgermanist die Literatur der Neuzeit mit Lugowski für sinnlos. Dass Müller darin nicht nur Lugowski folgt, sondern auch (oder hauptsächlich? ) den strukturalistischen Irrtum Haugs reproduziert, der, wie in der Einleitung erläutert, darin besteht, literarischen Sinn allein aus der (ganzheitlichen) Realisierung vorgegebener Muster abzuleiten, sei an dieser Stelle nur erwähnt. 118 Müller 1999, S. 158. 119 Meine Formulierung versucht anzudeuten, dass Müllers Argumentation überzeugender wäre, wenn er plausibel machen könnte, wie aus den alten ‚Ganzheiten‘ neue entstehen. Dafür müsste er allerdings ein anderes Modell der Sinnbildung (als das durch vorgegebene Muster) ansetzen - womit wir wieder bei den Überlegungen der Einleitung wären. 48 Formaler Mythos - Kritik und Mythos als ‚künstlich‘ geformte undifferenziert gegen eine ungeformte Wirklichkeit zu setzen. 1.2.3 Die Form der Wirklichkeit 120 Sich einen Überblick über die Verwendung des Wirklichkeitsbegriffs in der ‚Form der Individualität im Roman‘ zu verschaffen, ist alles andere als schwierig. Es sind im Wesentlichen nur zwei Stellen, die unter diesem Aspekt genauere Beachtung verdienen. 121 Da ist erstens jene Passage der Einleitung, in der Lugowski die „Künstlichkeit“ der Dichtung dem „schlicht Seienden“ gegenüberstellt und sie im gleichen Atemzug als die „lebendige Realität“ des Mythos bezeichnet. 122 Dem entspricht zweitens eine Passage im Schlussteil, die den anfänglich markierten Gegensatz noch einmal aufnimmt und unterstreicht. „Das mythische Analogon“, so formuliert Lugowski hier, „empfing seinen Sinn aus der Gegenüberstellung zweier prinzipiell verschiedener ‚Welten‘, einer Welt des Fürsichseienden und einer ‚gemachten‘ Welt.“ 123 Welcher Vorstellung er damit Ausdruck verleiht, ist hinreichend klar: Dichtung und Mythos kommen darin überein, dass sie die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten und sie daher nicht so erfassen, wie sie wirklich ist. Die ‚künstliche Wirklichkeit‘ der Dichtung kann bzw. muss deshalb derjenige für real halten, dessen Weltbild ebenfalls ‚künstlich‘ ist: weil er sie, in den Denkweisen des Mythos befangen, ‚künstlich‘ wahrnimmt. 124 Aus diesem Grund stehen die ‚künstlich gemachte‘ Welt der Dichtung und des Mythos der wirklichen Welt als etwas grundsätzlich Anderes gegenüber. Während sich Lugowski in der Einleitung mit dieser Charakterisierung zufriedengibt, denkt er im Schlusskapitel weiter - und deckt damit das Problem des von ihm vorausgesetzten „prinzipiell[en]“ Unterschieds auf. Denn „[w]as“, so seine berechtigte Frage, „ist nun aber ein Fürsichseiendes? “ Mit dieser Bezeichnung meint er, wie er weiter ausführt, „[u]nbewältigte Wirklichkeit“: Es ist die Welt, die der Mensch nicht mehr als Ganzes sinngebend formt, indem er sie als S i n ntot a l it ä t auffaßt, sondern die stumm durchlebt, schweigend ertragen wird. In dieser Weise wird das Wirkliche nicht mehr durch eine prinzipielle und umfassende Deutung ü b e r w u n d e n ; der Mensch bleibt der Wirklichkeit gegenüber sieglos, indem er sie auf keine andere Weise ‚bearbeitet‘, als daß er sie konstatiert, ihr Dasein als Wirklichkeit anerkennt. Und wenn es für diese Haltung keinen totalen ‚Weltsinn‘ gibt, so doch auch keine Sinnlosigkeit. Denn sie ist überhaupt nicht an dem Gegensatz sinnvoll-sinnlos orientiert. 125 Wiewohl Lugowski die ‚Welt des Fürsichseienden‘ hier nur als eine nicht mehr g a n z h e itl ic h geformte bezeichnet, kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass er sie eigentlich als eine gar nicht mehr geformte denkt (oder: dass für ihn letztlich jede Formung eine ganz- 120 In diesem Abschnitt einige der erst später zu erörternden epistemologischen bzw. wissenschaftsgeschichtlichen Grundlagen von Lugowskis Wirklichkeitsverständnis vorauszusetzen, ist unvermeidlich. Wenn die Formulierung deshalb u. U. nicht überall ganz verständlich wird, sei dies mit Verweis auf Kap. I.1.3.3 entschuldigt. Dieses wird mehr Licht ins Dunkel bringen. 121 Hinzu kommt noch eine dritte (nämlich Lugowski 1932 / 1994, S. 83 f.), die ich allerdings erst in Kap. I.1.3.3.2 besprechen will. 122 Lugowski 1932 / 1994, S. 10 f. 123 Ebd., S. 183. 124 Vgl. ebd., S. 11. 125 Ebd., S. 183. Fragen und Probleme 49 heitliche ist). Denn was tut der Mensch, der seine Welt auch nur ansatzweise deutet? Er formt sie, indem er bestimmte Gegenstände und Sachverhalte miteinander verknüpft und in einen größeren Zusammenhang einordnet (ein ganzheitlicher ist hierfür gar nicht nötig). Erst wenn er damit aufhört und es unterlässt, seine Welt überhaupt zu ‚bearbeiten‘, kann er sie demnach in ihrem ‚Fürsichsein‘ anerkennen. Damit aber verliert er, wie Lugowski hier ebenfalls andeutet, zwangsläufig die Fähigkeit, sie (und sei es nur als sinnlose) zu erkennen und zu beschreiben. Deshalb ist der „Sphäre des Fürsichseienden […] das Dichterische im eigentlichen Sinne fremd“. 126 Und deshalb sieht sich der Mensch in der ‚Welt des Fürsichseienden‘, im wahrsten Sinne des Wortes sprach- und deutungslos, in eine Wirklichkeit geworfen, die nur noch „stumm durchlebt, schweigend ertragen“ werden kann. Dies ist dann, so Lugowski, die Wirklichkeit, „die er nicht d e n k t oder e rke n nt , sondern in der er le bt“; 127 eine dem geistigen Zugriff des Subjekts entzogene, objektive Wirklichkeit. Als Gegenpol zu den ganzheitlich-sinngebend geformten Welten der Dichtung und des Mythos ist also eine Wirklichkeit zu denken, die in ihrer Ungeformtheit nicht nur unbewältigt und sinnlos, sondern schlicht überhaupt nicht mehr erkennbar ist. Dass Lugowski es unterlässt, dies unmissverständlich zu formulieren, ist keineswegs der mangelnden Einsicht in die Konsequenzen der eigenen Argumentation geschuldet. Seine Apostrophierung des ‚Fürsichseienden‘ als „kein[es] durch Erkenntnis zugängliche[n] Gegenstand[es]“ sowie die rasch nachgeschobene Versicherung, sich ja immerhin „weder mit Erkenntnistheorie noch mit Metaphysik“ zu beschäftigen, deuten vielmehr darauf hin, dass ihm durchaus bewusst ist, was er da sagt. Er weiß, dass der Mensch, der das ‚Fürsichseiende‘ in seinem „Dasein als Wirklichkeit anerkennt“, Kants epistemologischen Grundsatz von der Nichterkennbarkeit des ‚Dings an sich‘ nicht nur bricht, sondern ad absurdum führt: indem er es ausgerechnet dadurch erkennt, dass er alle Erkenntnis aufgibt. 128 Lugowskis undeutliche Formulierung ist dementsprechend eher als Versuch zu werten, der offensichtlichen Widersinnigkeit seiner Behauptung die Spitze zu nehmen. Doch wenn er das sieht, warum stellt er eine solche Behauptung überhaupt auf ? Die naheliegendste Antwort auf diese Frage lautet wohl: weil es aus seinen Prämissen folgt. Die Einleitung seiner Arbeit zeigt, dass er die Opposition von ‚künstlich gemachter‘ und ‚wahrer‘ Wirklichkeit von vornherein als gegeben setzt. Gemeinsam mit der Annahme eines ‚aufklärenden Geistes‘, der „den mythischen Zusammenhang der Welt zerstört“, 129 führt sie ihn dann, so könnte man zumindest vermuten, zu folgender Vorstellung: ‚Die unaufhaltsam fortschreitende Kraft der Ratio zersetzt den ganzheitlich-mythischen Zusammenhang der Welt; zuerst nur im Großen und Ganzen, dann aber weiter und weiter, so lange, bis sie auch noch die letzte Bindung aufgelöst hat und die Welt endlich im Zustand des Fürsichseins zurücklässt.‘ Gegen diese Vermutung spricht freilich, dass die Vorstellung einer vollständigen Zersetzung dem Rationalisierungsprinzip augenscheinlich zuwiderläuft. Am Ende des kulturgeschichtlichen Prozesses steht bei Lugowski gerade keine rationale Betrachtung der Welt. Anstatt die mythische durch eine rationale Weltsicht abzulösen, bringt die Zersetzung bei ihm das Phänomen ‚Weltsicht‘ an und für sich zum Verschwinden. Was sie übrig lässt, ist 126 Ebd., S. 184. 127 Ebd., S. 183. 128 Alle Zitate: Ebd. 129 Ebd., S. 11. 50 Formaler Mythos - Kritik nur mehr ‚Welt‘ - und einen Menschen, der bar jeder Erkenntnis in ihr dahinvegetiert. 130 Lugowskis Schlusskapitel ist mithin nur dann als die Konsequenz seiner Prämissen aufzufassen, wenn man davon ausgeht, dass er zumindest die zweite dieser Prämissen grundlegend falsch verstanden habe. Man müsste dann wohl weiter argumentieren, dass er dies erst am Ende seiner Arbeit bemerkt 131 und es dort nicht mehr habe korrigieren können. Auch dies erscheint indessen insofern wenig plausibel, als Lugowski die Korrektur ja im Grunde selbst schon vornimmt. Indem er neben der ‚Zersetzung‘ auch von der ‚Umbildung‘ des mythischen Analogons spricht, evoziert er die Möglichkeit einer Literaturgeschichte, die dem Geist der Entwicklung vom Mythos zur Ratio deutlich besser entspräche. In ihr würde (wenn er sie ausformuliert hätte) der ganzheitlich-mythische Nexus der Welt durch eine andere Art von Zusammenhang ersetzt: die textübergreifend-sinnverbürgende Motivation von hinten durch die innerweltlich wirkende Motivation von vorn. Lugowski hätte diesen literaturgeschichtlichen Vorgang dann in einem nächsten Schritt nur auf die Entwicklung der realen Welterfahrung übertragen müssen, um der Vorstellung einer Zersetzung zu Nichts generell zu entgehen und sein abwegiges Schlusskapitel überflüssig zu machen. Er hätte die erste seiner Prämissen dafür nicht einmal umwerfen müssen; eine leichte Modifikation hätte schon genügt. Der mythische Zusammenhang der Welt, so wäre in diesem Sinne zu sagen gewesen, werde vom ‚aufklärenden Geist‘ nur zerstört, um, in der Dichtung ebenso wie in der Realitätserfahrung, einem rationalen Zusammenhang Platz zu machen. Aus der Sicht des rational denkenden Menschen erschiene darum jede Art der ganzheitlichen Verknüpfung als unnatürlich oder ‚künstlich‘ 132 - dies beträfe die Dichtung jedoch nur insofern, als sie den Prozess der Rationalisierung nicht mitvollziehe. Die ‚Natürlichkeit‘ der dichterischen Weltdarstellung stoße demnach, so hätte Lugowski anschließend einschränken können, zwar notwendig dort an ihre Grenzen, wo sie - anders als die reale Welt - der planenden Absicht ihres Autors unterworfen bleibe. 133 Da sie diese Absicht unter dem Anschein lebensweltlicher Authentizität verbergen könne, sei sie aber immerhin dazu in der Lage, ihre Weltdarstellung der Wirklichkeitserfahrung eines rationalisierten Zeitalters anzupassen. 134 Und mehr, so hätte er abschließend festhalten können, sei auch gar nicht nötig, um die Entstehung der modernen Individualitätsauffassung in der Form des Romans nachzuverfolgen. Wenn Lugowski diese so naheliegende Möglichkeit nicht ergreift, dann nur, weil er das offenbar nicht will. Seine Aussicht auf die objektive Erkenntnis der Wirklichkeit erweist sich damit weniger als das Resultat seiner Prämissen als vielmehr umgekehrt: Er inter- 130 Lugowski dementiert das zwar: „Nichts wäre indessen verfehlter, als sie [d. i. die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, CK] […] jenem […] Zustande von Dumpfheit gleichzusetzen“ (ebd., S. 184). Damit zeigt er aber nur umso deutlicher, wie genau er um die Implikationen seiner Behauptung weiß. 131 Ich werde in Kap. I.1.3.3.2 zeigen, dass Lugowski den grundlegenden methodischen Widerspruch seiner Arbeit tatsächlich erst in deren Verlauf bemerkt - es ist jedoch nicht dieser. 132 Wenn Lugowski in der Einleitung sagt, dass die Künstlichkeit der Dichtung dem mythisch denkenden Menschen nicht künstlich erscheint (1932 / 1994, S. 11), deutet er schon an, dass der Eindruck von Künstlichkeit und Natürlichkeit generell vom Standpunkt des Betrachters abhängt. Er müsste diese Einsicht in seiner Argumentation bloß konsequent umsetzen. 133 Dies entspricht der Formulierung, „daß der d ic ht e r i s c h gestaltenden Deutung des Einzelmenschen Grenzen gesetzt sind[, weil] das mythische Analogon ein konstitutives Moment aller Dichtung ist“ (ebd., S. 182). 134 Etwa in dem Sinne, in dem Müller zwischen „‚stärkere[n]‘, nämlich literarische[n] […] und ‚schwächere[n]‘, nämlich alltagsweltliche[n] Weisen der sprachlichen Aneignung von Welt“ unterscheidet (1999, S. 153). Fragen und Probleme 51 pretiert diese Prämissen vorsätzlich so, dass sie ihn am Ende an sein Ziel führen. Warum er dieses Ziel für so erstrebenswert hält, erklärt er zwar nicht, es ist aber nicht schwer zu erraten. Lugowski ist davon überzeugt, dass nun einmal nicht die Wirklichkeit ‚wahr‘ sein kann, die er von seinem kulturgeschichtlichen Standpunkt aus als wahr ‚empfindet‘, sondern einzig und allein diejenige, die unabhängig von jedem Standpunkt objektiv ‚ist‘. Und anscheinend will er außerdem glauben, dass diese per definitionem nicht-erkennbare Wirklichkeit gegen alle Gesetze der Logik doch irgendwie erkennbar ist. Sein abschließendes Umschwenken von der Erkenntnis zum ‚Leben‘ erscheint so zwar vorderhand als ein recht hilfloser Versuch, die Einsicht in die Unmöglichkeit der eigenen Überzeugung abzuwenden. Daneben ist es aber auch ein Bekenntnis, das besagt: ‚Mein Glaube an die Möglichkeit eines unmittelbaren Erkennens der wahren Wirklichkeit ist stärker als das Gebot der Vernunft - und er ist nicht zuletzt auch stärker als das Interesse, meine Untersuchung zu einem plausiblen Abschluss zu bringen.‘ Noch deutlicher als in der bereits zitierten Passage wird das in der folgenden: Nichts wäre indessen verfehlter, als sie [d. i. die Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, CK ] […] jenem […] Zustande von Dumpfheit gleichzusetzen, […] in dem das Wirkliche traumhaft verworren, als gänzlich formloser Eindruck erscheint. Die Einstellung des Menschen in der Welt des Fürsichseienden ist anderer Art. Sie ist selbständig, entwickelt und von großer Nüchternheit. […] Es ist eine Haltung, sie sich allem ‚sursum corda‘ entgegensetzt, die das allerkonkreteste Leben bedeutet, dasjenige, das die Dinge nicht souverän überschaut, sondern ihnen am nächsten ist. Der Mensch weicht schweigend dem Schlage aus, der ihn treffen will, und er läßt sich schweigend treffen, wenn es nicht anders geht. Aber er ist dennoch vielleicht von großer aktiver Spannkraft. In dieser Weise ziehen die Gestalten der altisländischen Saga an uns vorüber. Einer solchen Einstellung nähern sich wohl Menschen - Soldaten im besonderen - in kriegerischen Zeiten. 135 Lugowskis Sicht auf die mythosanaloge Beschaffenheit der Dichtung ist, so darf man daraus schließen, in derselben Weise ideologisch geprägt wie seine Auffassung von der Zersetzung des mythischen Analogons im Übergang zur Neuzeit. In beidem kommt eine Tendenz zum Ausdruck, die Martin Jesinghausen als das „Propagieren einer existenzialistischen Daseinsmystik“ bezeichnet hat. 136 1.2.4 Fazit Wie sich die Schwierigkeiten von Lugowskis Darstellung des formalen Mythos und des mit ihm verbundenen Epochenwandels aus seinem Wirklichkeitsbegriff ergeben, ist hieran anschließend wie folgt zu fassen: Das Grundproblem ist die schlichte Identifikation von Dichtung und Mythos, die Lugowski nur deshalb vornehmen kann, weil er jede formende Auffassung der Welt für (irreal) ‚künstlich‘ und damit (mythisch) ‚erdichtet‘ hält. Dass sich die Dichtung in der ganzheitlichen Geformtheit ihres mythischen Analogons in irgendeiner Weise von der ganzheitlichen Geformtheit des Mythos unterscheiden, dass sie andere Welten gestalten und andere Wirkungen erzielen könnte, kommt ihm dabei nicht in den Sinn; oder es scheint ihm doch zumindest nicht wichtig. Denn ihm geht es allein darum, die Idee der Zweckhaftigkeit und des ‚höheren Sinns‘, die sich mit jeder Art der (ganzheitlichen) 135 Lugowski 1932 / 1994, S. 184. 136 Jesinghausen 1996, S. 185. 52 Formaler Mythos - Kritik Weltgestaltung verbindet, zu überwinden und zur Einsicht in eine ungeformt-sinnlose und darin vermeintlich objektive Wirklichkeit zu gelangen. Diesem Erkenntnisprozess ist seine Arbeit gewidmet, und ihn will er in ihr zu Ende bringen, wobei er die Idee der Rationalisierung ebenso zweckentfremdet und instrumentalisiert wie die der Umbildung des mythischen Analogons. Im Zuge dessen gibt er gleich doppelt der Zersetzung anheim, was - wie er selbst nur zu gut weiß - nur um den Preis der Selbstaufgabe ‚zersetzt‘ werden kann, nämlich das denkende Erkennen und das dichtende Gestalten der Wirklichkeit. Aus diesem Ergebnis leiten sich eine Konsequenz und eine Frage ab. Die Konsequenz lautet, dass eine grundlegende Revision von Lugowskis Entwurf nur hier ansetzen kann. Diese Revision muss berücksichtigen, wie sich die Formung von Dichtung, Mythos und anderen Aneignungen von Welt genau gestaltet, sie hat zu präzisieren, in welchem Sinne die Form der Dichtung der des Mythos gleicht (oder auch nicht), und sie sollte schließlich darstellen, wie die Dichtung in dieser Geformtheit zu beschreiben und in verschiedene Typen zu differenzieren ist. Nur so wird eine qualifizierte Aussage darüber, ob, bzw. inwiefern, Dichtung in ihrer Geformtheit tatsächlich als mythisch gelten darf, - und wie sie sich darin zu einer wie auch immer geformten Wirklichkeit verhält - überhaupt erst möglich. Allein, so die unweigerlich folgende Frage, auf welcher Grundlage hat all dies zu erfolgen? Von hier aus noch einmal zu Lugowski zurückzukehren, ist insofern naheliegend, als das Problem seines Ansatzes unverkennbar aus einer Verweigerung resultiert. Nach den von ihm ungenutzten Möglichkeiten zu fragen, scheint deshalb das einfachste Vorgehen: Was ihm aufhelfen kann, so die Idee, ergibt sich aus dem, was er zurückweist. Aus diesem Grund stelle ich das nächste Kapitel ins Zeichen von Lugowskis Wirklichkeitsauffassung. Indem ich verständlich zu machen suche, wie seine Begeisterung für das Erkennen der ‚wahren‘ Wirklichkeit im intellektuellen Diskurs seiner Zeit zu verorten ist und wie sie sich konkret auf sein methodisches Vorgehen auswirkt, will ich zu jenem Kern seiner Überlegungen vordringen, bei dem eine Neubegründung seines Modells ansetzen kann. Dass ich dabei nicht nur auf die in diesem Kontext weiterführende Kulturphilosophie Ernst Cassirers, sondern auch auf Lugowskis geschichtsphilosophisches Epochenmodell eingehe, begründet sich daraus, dass die eine mit dem andern untrennbar verbunden ist und dass das gesamte Ausmaß der konzeptuellen Verwirrung erst aus der Kombination beider erhellt. 1.3 Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit. Eine wissenschaftsgeschichtliche Mauerschau 1.3.1 Krise und Erneuerung. Die Wirklichkeit im Zeitalter der Moderne Lugowskis Glaube an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis ist alles andere als eine persönliche Marotte. Er erklärt sich vielmehr aus einem historischen Kontext, in dem der ‚Verlust der Wirklichkeit‘ als Inbegriff des Gebrechens der modernen Welt galt. Um die Problematik in ihrer Dimension zu ermessen, genügt der Blick in einen Aufsatz des Historikers Otto Gerhard Oexle, für den die ‚Krise der Wirklichkeit‘ nichts weniger als den roten Faden einer ‚Problemgeschichte der Moderne‘ markiert. 137 137 Im Titel des Aufsatzes Oexle 2007. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 53 Die ‚Krise der Wirklichkeit‘ ist demnach ein Anschlussphänomen jener ‚Krise des Historismus‘, die untrennbar zum historischen Bewusstsein der Neuzeit gehört. Beide gehen auf den Moment zurück, an dem man mit dem Entwicklungscharakter allen Seins nicht nur die Relativität jedes historischen Standpunkts, sondern auch die gesellschaftliche Bedingtheit aller Normen und Werte erkannte. 138 Die daraus resultierende Verunsicherung verstärkte sich durch verschiedene Strömungen in Philosophie, Kunst und Wissenschaft, die die Geltung menschlichen Wahrnehmens und Verstehens im Anschluss an Kant allenthalben relativierten. Sie machten deutlich, dass die Dinge der Wirklichkeit als solche grundsätzlich erst im Geist ihres Betrachters entstehen, wobei es im Prinzip gleichgültig ist, ob dieser Betrachter Historiker, Philosoph, Künstler oder Naturwissenschaftler ist. 139 In diesem Zusammenhang hat man das geistige Schaffen des Naturwissenschaftlers freilich als besonders beunruhigend empfunden. Es war die Entwicklung der modernen Physik, insbesondere im Bereich der Relativitäts- und Quantentheorie, die die vorläufige Kulmination der ‚Krise der Wirklichkeit‘ in den 1920er Jahren bedingte. 140 Die schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig zunehmende Klage über den Verlust aller Gewissheiten spitzte sich nun zum Bewusstsein eines gänzlichen Entschwindens der Wirklichkeit zu. Gottfried Benn sprach im Rückblick auf diese Zeit gar von einer „Auflösung der Natur“ und einer „Auflösung der Geschichte“. 141 Dass sich in dieser Situation die Kritiker der Moderne immer lauter zu Wort meldeten, ist nicht verwunderlich. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verzeichneten namentlich all jene Bewegungen wachsenden Zulauf, die dem ‚Historismus‘, dem ‚Relativismus‘ und mit ihnen den ‚zersetzenden‘ und ‚sophistischen‘ Tendenzen der Moderne energisch entgegentraten. 142 Ihr Streben nach einer Restitution der verlorenen Wirklichkeit äußerte sich zum einen im Ruf nach Ganzheit und Daseinsunmittelbarkeit, zum anderen in der Polemik gegen den Fortschrittsglauben der Aufklärung und den Intellektualismus des wissenschaftlich-philosophischen Betriebs. Diesem Tenor entsprechend klingen fast all ihre Äußerungen gleichermaßen antirationalistisch und regessiv. Die Parallelen zu Lugowskis Schlusskapitel sind unschwer auszumachen. 143 Man setzte den gesunden Menschenverstand gegen das Grübeln des Philosophen, das (Er-)Leben gegen das Erkennen und den Glauben gegen das Wissen. 144 Man erhoffte das Heraufdämmern eines ‚neuen Mittelalters‘ als einer Epoche, die die fragmentierte Gegenwart in die Einheit der Vormoderne zurückführen würde, 145 und versuchte, die erkenntnistheoretisch ‚zerrüttete‘ Wirklichkeit 138 Ebd., bes. S. 12 f., 26-52. Vgl. dazu auch Oexle 1997. 139 Oexle 2007, bes. S. 52-73. Wie weit der kantsche Grundsatz selbst in die elementarsten natürlichen Prozesse hineinreicht, führt vielleicht am eindringlichsten Werner Heisenberg vor Augen, dem zufolge „[d]ie Bahn“ eines Elektrons „erst dadurch [entsteht], daß wir sie beobachten“ (zit. nach ebd., S. 82). 140 Oexle entnimmt die Wendung von der „Krise der ‚Wirklichkeit‘“ einem Aufsatz des Mikrobiologen und Mediziners Ludwig Fleck aus dem Jahre 1929, in dem sich dieser „auf den fundamentalen Wandel der Physik […] seit 1900 [bezog]“ (ebd., S. 14). 141 Ebd., S. 20. Oexle zitiert Gottfried Benn, Einleitung zur Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955). 142 Dazu Oexle 2007, bes. S. 73-101. 143 Wie weit diese Parallelen tatsächlich gehen, wird in den folgenden Abschnitten noch deutlicher werden. 144 Die wichtigsten Stichworte gegen die ‚Wissenschaft‘ und für das ‚Leben‘ finden sich schon in Nietzsches Schrift ‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘ von 1874, die Oexle deshalb zum Manifest all seiner modernekritischen Nachfolger ernennt (ebd., S. 13 f., vgl. auch S. 85-101). 145 Dazu bes. Oexle 1997. 54 Formaler Mythos - Kritik metaphysisch neu zu begründen. 146 Im Zuge dessen wurden mehr und mehr auch antisemitische Parolen laut, die ‚moderne‘ Seite wurde zunehmend mit dem Begriff der ‚jüdischen Überfremdung‘, die modernekritische mit dem des ‚deutschen Volksgeistes‘ verbunden. 147 Es ist bekannt, dass die Sehnsucht nach einer ‚neuen Wirklichkeit‘ im Zeichen von ‚Ganzheit‘ und ‚Gemeinschaft‘ den Intellektuellen der Weimarer Republik den Weg in den Nationalsozialismus ebnen sollte. 148 Das ist der Weg, den auch Lugowski geht; allerdings noch nicht in der Dissertation. Sie auf eine vermeintlich präfaschistische Tendenz zu reduzieren, 149 wäre in diesem Zusammenhang nicht zuletzt deshalb falsch, weil sie keineswegs so eindeutig auf Seiten der Modernekritik steht, wie es ihr Eintreten für die ‚wahre‘ Wirklichkeit auf den ersten Blick vermuten lassen könnte. Die durchaus originelle Position, die sie irgendwo zwischen den Kritikern und den Verfechtern der Moderne einnimmt, ist Lugowski, wie man gleich hinzufügen muss, zwar nur bedingt als Verdienst anzurechnen. Denn er entwickelt sie nicht in bewusster Auseinandersetzung mit beiden Seiten, sondern rutscht in einer Mischung aus unreflektierter Überzeugung und ideologischer Naivität wohl mehr oder weniger irrtümlich in sie hinein. Dies tut aber ihrer Originalität keinen Abbruch. Lugowskis Dissertation, so könnte man hieran anschließend formulieren, ist in gewisser Weise genau da am interessantesten, wo sie scheitert. Indem sie nämlich zusammenführt, was eigentlich gegeneinandersteht, wird sie zu einer Art Versuchsanordnung, die danach fragt, ob das modernekritische Streben nach einer unmittelbaren Erfahrung der Wirklichkeit nicht doch irgendwie mit dem Vernunftoptimismus der Aufklärung und dem kantschen Gedanken von der geistigen Geformtheit aller Erkenntnis vereinbart werden kann. Um das ebenso komplexe wie widersprüchliche Konstrukt von Lugowskis Dissertation vor dem Hintergrund dieses Gedankens verständlich werden zu lassen, möchte ich, was er unternimmt, im Folgenden in eine metaphorische Szenerie einkleiden: Der im Umgang mit dem erlernten philosophischen Wissen wenig erfahrene Absolvent eines geisteswissenschaftlichen Studiums und zunächst noch naive Modernekritiker Lugowski lädt die Gegner seiner Partei ins eigene Lager, um herauszufinden, inwiefern sie sich von seiner Position überzeugen bzw. für sie vereinnahmen lassen. Im Falle des ersten Gegners kann er dabei einen überraschenden Erfolg verzeichnen; einen Erfolg freilich, der insofern vor allem wissenschaftsgeschichtlich interessant ist, als er nur den geschichtsphilosophischen Ansatz betrifft, den die Forschung völlig zu Recht als obsolet aus einer revidierten Fassung von Lugowskis Modell ausschließt. 150 Hier gelingt es Lugowski, die Idee des notwendigen Fortschritts vom Mythos zur Ratio so einzusetzen, dass sie am Ende in einen Zustand re- 146 Oexle 2007, S. 89-92. 147 Ebd., S. 101-109. 148 Dazu bes. auch Oexle 1997, S. 348-358. 149 Dies suggeriert Jesinghausen, wenn er sagt, dass „die Habilitation im schlechten Sinne klärend zu Ende [bringt], was in der Dissertation begonnen wurde“ (1996, S. 207, vgl. auch S. 183-186, 203-207). Jesinghausen wendet sich gewiss zu Recht gegen Schlaffer, der den ‚Geist‘ der Habilitation deutlich von dem der Dissertation distanziert (1976 / 1994, S. XIX), geht aber in seiner Ideologiekritik zu weit. Denn zwar beschäftigt sich die 1935 abgeschlossene zweite Arbeit ebenfalls zentral mit dem Problem der Wirklichkeit. Die völkische Tendenz, mit der sie die tatkräftig sich durchsetzende Welthaltung der Deutschen gegen den intellektualistischen Eskapismus der Franzosen absetzt (Lugowski 1936, passim), ist der Dissertation jedoch noch völlig fremd. Vgl. dazu auch Martínez 1996a, S. 10, Müller 2006, S. 28. 150 So bes. Müller 1999, S. 161 und 2006, S. 35, vgl. Martínez 1996a, S. 10 und Jesinghausen 1996, S. 214-218. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 55 flexionsloser Daseinsunmittelbarkeit mündet. Wie Lugowski dergestalt das Zugpferd der Aufklärung zum Vorreiter einer modernekritischen Rückkehr ins Mittelalter macht, soll in den beiden Abschnitten des nächsten Kapitels näher erläutert werden. Erst danach wende ich mich jenem Teil von Lugowskis Arbeit zu, den nachzuvollziehen für meine Untersuchung mehr als bloß wissenschaftshistorischen Wert hat. Nur er lässt nämlich darauf schließen, wo der brauchbare Kern von Lugowskis Entwurf genau verborgen liegt und warum er in seinen Ausführungen nicht zur Entfaltung kommt. Um dies nachvollziehbar zu machen, werde ich in Kapitel I.1.3.3 mit Ernst Cassirers neukantianischer Kulturphilosophie den zweiten Gegner Lugowskis zunächst einmal genauer vorstellen und im Zuge dessen begründen, warum es diesem unmöglich gelingen kann, ihn ebenfalls für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Die Darstellung des (virtuellen) Streits zwischen Cassirer und Lugowski konstatiert Lugowskis Niederlage sowie den nachfolgenden Versuch, den nunmehr als solchen erkannten Gegner wieder abzudrängen. Dass Lugowski mit diesem Versuch nicht weit kommt, darf man sich hier bereits denken. Denn nachdem er Cassirers Ansatz einmal in seine Argumentation integriert hat, kann er nicht mehr von ihm abrücken, ohne sich selbst zu widersprechen. Indem ich dies zuletzt plausibel zu machen suche, stelle ich Lugowskis Arbeit zwar noch nicht vom Kopf auf die Füße; ich zeige aber immerhin den Punkt auf, bei dem ein solches Vorhaben ansetzen muss. 1.3.2 Geschichtsphilosophie im Zeichen der Wirklichkeit „[D]er Ausdruck ‚Philosophie der Geschichte‘“, so hat der Philosoph Karl Löwith prägnant formuliert, „[bezeichnet] die systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips, durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden.“ 151 Geschichtsphilosophisch ist Lugowskis Dissertation demnach deshalb, weil sie alles historische Geschehen dem Gesetz einer fortschreitenden Vernunft unterstellt. Deren Erwachen und vollständige Realisierung markieren den Anfang und das Ende der Geschichte. Diese beginnt in dem Moment, da der ‚aufklärende Geist‘ anhebt, die Ganzheit des Mythos reflektierend aufzulösen und schließt mit der vollständigen ‚Zersetzung‘ des (mythischen) Zusammenhangs der Welt. Das ‚Prinzip‘ der Weltgeschichte wäre mithin die rationale Analyse, ihr ‚letzter Sinn‘ die Erkenntnis der ‚wahren‘ Wirklichkeit. 152 Lugowskis Rede vom ‚aufklärenden Geist‘ deutet schon darauf hin, dass die Wurzeln seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion in der Philosophie der Aufklärung liegen. Diese ersetzt das christliche Modell vom heilsgeschichtlichen Wirken Gottes in der Welt erstmals durch die Vorstellung einer Geschichte, die von der Kraft der Vernunft geleitet wird. Eine Geschichtsphilosophie im Sinne Löwiths entsteht daraus freilich erst im deutschen Idealismus. Hier wird die menschliche Vernunft zu einer das Ganze der Welt umfassenden, universalen Macht und Herrin der Geschichte erhoben und erscheint so erneut als gottgleiche Instanz. 153 Die Geschichte im Großen wird damit zu einem Prozess, der analog zur Selbsterkenntnis des einzelnen Menschen abläuft. Der wirkmächtigste Vertreter des deutschen Idealismus, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, entwickelte aus diesem 151 Löwith 1953 / 1990, S. 11. Instruktiv für das Verständnis der materialen Geschichtsphilosophie: Zwenger 2008, bes. S. 18-24 und 53-91. Vgl. zum historischen Überblick auch Rendtorff 1974. 152 Lugowski 1932 / 1994, bes. S. 11 f. und 183 f. 153 Vgl. Rendtorff 1974, bes. Sp. 416-429, Zwenger 2008, bes. S. 21 f. 56 Formaler Mythos - Kritik Gedanken sein Theorem vom Zu-sich-selbst-Kommen des Weltgeistes, das er als das notwendige Fortschreiten einer zum ‚absoluten Geist‘ hypostasierten Ratio zum Bewusstsein ihrer selbst begreift. 154 Die Vorstellung, dass das Heraustreten der denkenden Vernunft aus dem „Versenktsein […] in die Natürlichkeit […] in das Bewußtsein [der] Freiheit“ 155 nichts weniger als den Gang der Weltgeschichte beschreibe, findet sich ganz ähnlich auch bei Lugowski. Anders als sein idealistischer Vorgänger spricht er die Vernunft allerdings nicht als absoluten Weltgeist, sondern als ein rein immanent wirkendes menschliches Vermögen an. Lugowski lässt das mythische Zeitalter des „realen Einsseins […] von Einzelmensch und der Welt des Lebendigen überhaupt“ 156 mit dem Heraustreten der m e n s c h l ic h e n Vernunft in das Bewusstsein ihrer Freiheit, oder präziser: mit ihrem Heraustreten in das Bewusstsein ihrer Ungebundenheit enden. Indem der Mensch lernt, sich reflektierend selbst zu betrachten, erkennt er den Unterschied zwischen sich und der Welt. Auf diese Weise löst er das Band, das ihn vorher mit dieser vereint hatte, und bleibt als Individueller ‚fürsichseiend‘ zurück. 157 In Lugowskis Perspektive wird die Weltgeschichte so von der Geschichte des Weltgeistes zu einer Geschichte der menschlichen Erkenntnis der (wirklichen) Welt. Lugowskis säkularisierte Variante ist gewiss keine bewusste Korrektur der idealistischen Geschichtsphilosophie. Sie deutet im Gegenteil darauf hin, dass sein Entwurf im Grunde in einen anderen Diskurs gehört bzw. auf einen anderen Diskurs zielt. Sein programmatisches Interesse für das Moment der Individualisierung und dessen Datierung auf den Beginn der Neuzeit rücken ihn ins Zentrum einer Debatte, die das intellektuelle Leben Deutschlands seit den 1870er Jahren als eine zeittypische Form der Querelle des anciens et des modernes fachübergreifend prägte. An die Philosophie des Idealismus rührt diese Debatte insofern, als sie ebenfalls im Rationalisierungsgedanken der Aufklärung gründet und eine Neigung zu geschichtsphilosophischen Welterklärungsmodellen hat. Ihr Interesse gilt indes weniger dem herrschenden Prinzip als dem epochalen Verlauf der Weltgeschichte. 1.3.2.1 Epochenbildung zwischen Aufklärung und Modernekritik Den Kristallisationspunkt der Debatte um den epochalen Verlauf der Weltgeschichte bildete Jacob Burckhardts 1860 erschienene Studie zur ‚Kultur der Renaissance in Italien‘. 158 In ihr beschreibt Burckhardt die Entfaltung des Renaissancemenschen zum modernen Individuum als das Ergebnis seiner Befreiung aus den ‚weltumfassenden‘ Banden von Gesellschaft und Religion: Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins - nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst - wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst 154 Vgl. Zwenger 2008, S. 86-91. 155 Hegel 1837 / 1995, S. 77. 156 Lugowski 1932 / 1994, S. 9. 157 Vgl. ebd., bes. S. 13 f. 158 Burckhardt 1860 / 1930. Dass Lugowski seine Vorstellung von der epochalen Bedeutung der Individualisierung direkt von Burckhardt bezieht, ist wahrscheinlich (vgl. Gerok-Reiter 2006, S. 14 f. und 2007, S. 133), aber nicht zwingend. Der von Burckhardt beschriebene Umbruch ist ein Gemeinplatz der zeitgenössischen Diskussion um Glanz und Elend der Moderne (vgl. Oexle 1997). Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 57 verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine o bj e k t ive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das S u bj e k t ive ; der Mensch wird geistiges I nd iv iduu m und erkennt sich als solches. 159 Burckhardt selbst begreift diesen Vorgang nicht geschichtsphilosophisch als Weiterentwicklung oder gar das Erreichen einer höheren Stufe in einem universell fortschreitenden Rationalisierungsprozess. 160 Seine Renaissance erscheint als eine zutiefst ambivalente Epoche; als eine Epoche, in der die Blüte der Kultur mit einem Verfall von Werten und Sitten einherging und in der die neu gewonnene Individualität ebenso zu künstlerisch-intellektueller Meisterschaft ausgebildet wie zu rücksichtsloser Tyrannei missbraucht werden konnte. Burckhardts Rezipienten lasen ihn freilich anders. Sie übersahen die kulturkritischen Töne ebenso wie die Reserve gegenüber jedem „frechen Anticipiren eines Weltplans“ 161 und machten seine Darstellung zur Projektionsfläche ihres ‚aufgeklärten‘ Selbstbildes. In ihrer Imagination wurde die Renaissance zu der Kulturepoche des Fortschritts. Hier, so ihre Überzeugung, sei der Augenblick zu fassen, in dem das finstere, in Unwissen und Aberglauben befangene Denken des Mittelalters zu Wissenschaft und Vernunft befreit wird und in eine lichtvolle Moderne aufbricht. 162 Die fortschrittsoptimistische Interpretation von Burckhardts Individualisierungsthese forderte zur Behauptung des Gegenteils geradezu heraus, und der in der Krisenzeit nach 1871 erstarkende Mediävalismus nahm die Herausforderung dankbar an. 163 In seiner Sicht erschien der Individualismus der Renaissance (neben dem Rationalismus der Aufklärung) als das größte Übel der Moderne: Er zerstöre die Einheit von Mensch und Gemeinschaft und führe zum Verlust personaler Bindungen und religiösen Sinns. Das Mittelalter wurde entsprechend als das Zeitalter verstanden, in dem der Mensch in Staat, Familie und Religion noch eine Heimat hatte, in dem er als Einzelner in einem größeren Ganzen aufgehen und seine Bestimmung finden konnte. Der Mediävalismus schloss damit an das anti-aufklärerische Mittelalterbild der deutschen Romantik an. Deren Einfluss ist auch in seiner Epochenvorstellung unverkennbar. Das von ihm verbreitete Modell epochalen Wandels entspricht exakt dem, das etwa schon Novalis dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung entgegengestellt hatte. 164 Wie für Novalis, so wird also auch für ihn „[d]as im Zeichen der Fortschrittsidee konstituierte Dreier-Schema von Antike, Mittelalter und Neuzeit […] ersetzt durch die notwendige Aufeinanderfolge eines gewesenen, exemplarischen Mittelalters, der 159 Burckhardt 1860 / 1930, S. 95. 160 Zu Burckhardts programmatischem Verzicht auf die Geschichtsphilosophie Löwith 1953 / 1990, S. 27-33. 161 Burckhardt 1982, S. 170, Anm. 18. Zur Rezeption Burckhardts im Sinne von Hegels Geschichtsphilosophie Schulin 1994, S. 89-92. 162 Vgl. Heinßen 2003, S. 395. 163 Dazu die umfassenden Darstellungen von Oexle 1990 / 1996 und 1997, hier bes. S. 329-358. 164 Ich beziehe mich hier auf die Schrift ‚Die Christenheit oder Europa‘ (Novalis 1799 / 1978), in der Novalis erstmals das Heraufdämmern eines kommenden, wieder im Zeichen von ‚Ganzheit‘ und ‚Gemeinschaft‘ stehenden Zeitalters prophezeit hatte. Die Individualität spielt bei Novalis noch keine zentrale Rolle, sie ist erst im späten 19. Jahrhundert zum Leitbegriff der Modernedebatte geworden. Novalis akzentuiert stattdessen den Gegensatz zwischen Wissen und Glauben, zwischen Verstand und (religiösem) Gefühl: Ersterer habe in Gestalt von Protestantismus und Philologie die (freilich durch menschlichen Eigennutz bereits geschwächte) mittelalterliche Einheit Europas unter der Regierung der katholischen Kirche zerstört. Seine Hoffnung richtet sich daher auf die Errichtung einer neuen Kirche, deren Spiritualität die Menschheit wieder vereint (ebd., bes. S. 745, 750). Zur Wirkung Novalis’ auf die Epochenvorstellung seit den 1870er Jahren Oexle 1997, S. 326-329. 58 Formaler Mythos - Kritik Neuzeit und Moderne als einer Epoche des Verfalls und der ‚Anarchie‘, die schließlich durch die neue Zeit des Neuen Mittelalters beendet werden wird.“ 165 Er vertritt damit ein Epochenbild, in dem die Moderne nicht länger als Telos, sondern als Intermezzo erscheint und in dem die Vernunft nicht mehr regierendes, sondern widerstrebendes Prinzip ist. Sie ist der böse Geist, der das „herrliche Reich“ der Einheit, für das die Menschheit des Mittelalters „[n]och […] nicht reif, nicht gebildet genug“ gewesen ist, zerstört 166 und der von den Gebildeten einer reiferen Zeit ausgetrieben werden muss: So jedenfalls die Deutung all jener Prediger, die um 1900 eine „Umwendung des Weltgeistes“ beschworen; eine „Gegenrenaissance“, die dem Zeitalter von Individualismus und Rationalismus ein Ende setzen würde. 167 Auf welcher Seite dieses Kampfes um die Auslegung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Lugowski Stellung bezieht, ist nicht ganz leicht auszumachen. Denn obwohl er eindeutig die Vernunft als das leitende Prinzip der Weltgeschichte begreift, verweigert er sich der freudigen Bejahung ihrer Errungenschaften. Die Entstehung der Individualität gilt ihm nicht als Ursprung von Freiheit und umfassender Persönlichkeitsbildung, sondern bloß als Konsequenz jenes Prozesses rationaler ‚Zersetzung‘, der den mythischen Zusammenhang der Welt zerstört. Umgekehrt findet er sich aber auch nicht dazu bereit, das vergangene Stadium der mythischen Einheit von Mensch und Welt zu einem Idealzustand zu verklären. Indem er auf die ‚Künstlichkeit‘ aller mythischen und mythosanalogen Weltbilder verweist, 168 macht er vielmehr unmissverständlich deutlich, dass er sie für bloße Illusion hält. Lugowski vermischt demnach offenbar die Epochenbilder der Aufklärung und der nachromantischen Modernekritik, oder genauer gesagt, er verbindet die aufklärerische Vorstellung vom steten Fortschreiten der Vernunft mit der modernekritischen Ablehnung desselben: Der Umbruch in die Moderne erscheint ihm zwar als die Befreiung zu einer individuellen Erfahrung der Welt, 169 doch gewinnt der Mensch durch diese Erfahrung lediglich die Einsicht ins „ungedeutete, […] sinnfreie und chaotische Zickzack einer unbewältigten Wirklichkeit“. 170 Der Aufklärung kommt demgemäß das eher zweifelhafte Verdienst zu, den Menschen seines bunten Schleiers mythischer Sinnillusion beraubt und ihn orientierungslos einer heillosen Wirklichkeit übereignet zu haben. Die Forschung hat dieses Geschichtsbild mit einigem Recht als widersprüchlich empfunden und es entweder für einen konzeptuellen Lapsus erklärt oder auf den punktuellen Einfluss einer späteren Position zurückgeführt. Dass Lugowski die „melancholische[]“ Tendenz seiner scheinbar so fortschrittsoptimistischen Darstellung tatsächlich nicht von vornherein gesehen und in Kauf genommen hat, 171 halte ich freilich für unwahrscheinlich. Zu deutlich ist die Verbindung zwischen der Ausformung der Individualität im Roman und der Zersetzung des mythischen Analogons in seiner Arbeit angelegt, zu deutlich werden beide schon 165 Oexle 1997, S. 328. 166 Novalis 1799 / 1978, S. 734. 167 Oexle 1997, S. 340. Er zitiert mit diesen Formulierungen ein 1921 erschienenes Buch des Philosophen (und späteren Wegbereiters des österreichischen Faschismus) Othmar Spann. 168 Vgl. Lugowski 1932 / 1994, S. 10-12 u. ö. 169 Schlaffer 1976 / 1994, S. XVII. 170 Lugowski 1932 / 1994, S. 173. 171 Haustein glaubt, dass man Lugowskis Buch wohl nur „gegen [ihn] selbst […] als ein melancholisches lesen“ kann (1999, S. 557 f.). Und Müller bezeichnet die ‚melancholische‘ Deutung als eine, die „von der späteren, ideologischen Position aus“ entsteht (2006, S. 32). Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 59 in der Einleitung zueinander in Bezug gesetzt, 172 als dass man ernsthaft annehmen könnte, Lugowski komme „nur gleichsam wider Willen“ zum „Ergebnis […] [ihres] wechselseitigen Bedingungsverhältnis[ses]“. 173 Dieses Ergebnis ist demnach wohl eher die Konsequenz einer Haltung, die seinem Buch bereits zugrunde liegt. In ihm manifestiert sich der Zwiespalt des modernekritischen Aufklärers, der die Notwendigkeit eines Prozesses einsieht und befördert, der die Zerstörung seines Wunschbilds von einer sinnerfüllten Welt bedeutet. 174 Die Frage, vor die man sich durch Lugowskis Buch gestellt sieht, lautet mithin gar nicht so sehr, wie sein aufklärerischer Impetus mit seiner modernekritischen Haltung zu vereinbaren ist. Bedenkenswert erscheint stattdessen, warum Lugowski sich überhaupt in die unbequeme Position eines Zerstörers der eigenen Werte begibt. Warum also kann er die Rationalisierung nicht entweder als Aufklärer bejahen oder als Modernekritiker versuchen, sie aufzuhalten oder umzukehren? Die Antwort geht aus der Logik seiner geschichtsphilosophischen Argumentation zwar nicht direkt hervor, doch kommt sie in ihr recht deutlich zum Ausdruck: Lugowski kann das Fortschreiten der Vernunft nicht umkehren wollen, weil er es nun einmal als das Prinzip der Weltgeschichte begreift. Er kann er es aber auch nicht positiv bewerten, weil es unweigerlich jeden sinnstiftenden Zusammenhang zersetzt. Warum jedoch, so muss man von hier aus weiter fragen, hält Lugowski dieses Fortschreiten eigentlich überhaupt für notwendig? Anders als die Väter des von ihm reproduzierten idealistischen Theorems glaubt er ja offensichtlich nicht an das reale Wirken einer höheren Vernunftmacht, 175 gegen deren List 176 das menschliche Sinnen und Trachten etwa zu schwach wäre. Seine Ausführungen lassen stattdessen ein anderes Motiv erkennen: Die Notwendigkeit der ‚zersetzenden‘ Aufklärung begründet sich darin, dass diese mit dem Mythos eine Illusion zerstört. Und diese Illusion muss zerstört werden, weil sie - ich bin mir der Zirkularität der Aussage bewusst - nicht der Wahrheit entspricht. Das heißt mit anderen Worten: Lugowskis Ansicht zufolge ist der Mythos nicht als ein geistiger Zustand zu überwinden, in dem der Mensch nicht autonom und selbstbewusst wäre, sondern als eine Weltsicht, die schlicht unfähig ist, die Realität so zu erkennen, wie sie ‚wirklich ist‘. Die Erkenntnis der ‚wahren‘ Wirklichkeit aber ist unumgänglich, weil man sich der Wahrheit nun einmal nicht verschließen darf. Hinter der Notwendigkeit, die das konstitutive Moment aller Geschichtsphilosophie ist, wird somit Lugowskis eigentümliche Auffassung der Wirklichkeit sichtbar; und mit ihr die mindestens ebenso eigentümliche Ansicht, dass diese Wirklichkeit zu begreifen und 172 Vgl. etwa: „In dem Maße, in dem die Künstlichkeit des Romans schwindet, verliert sich auch sein Ganzheitscharakter: alles, was vorher Te i l gewesen ist im Ganzen […], wird mehr und mehr zum ungebundenen und so autonomen E i n z e l n e n“ (Lugowski 1932 / 1994, S. 14). 173 So Jesinghausen 1996, S. 198. 174 Schlaffer versucht dieses selbstzerstörende Tun positiv zu fassen. Lugowski versage sich der „melancholische[n] Sehnsucht nach dem Verlorenen […], um im Schwinden der dem Mythos analogen Künstlichkeit […] die Chance einer freieren, individuelleren Erfahrung von Welt und die Möglichkeit des wissenschaftlichen Erkennens historischer Denkformen wahrzunehmen“ (1976 / 1994, S. XVII). Dass diese Errungenschaften für Lugowski bestenfalls zweifelhaften Wert haben, scheint Schlaffer zu übersehen. Was er ausblendet, betont Jesinghausen, wenn er bemerkt, dass sich Lugowski durch seine aufklärerische Arbeit „als Vollstrecker einer ihm im Grunde ganz und gar verachtungswürdigen Position [findet]: Als philosophischer Analytiker des Mythischen in der Literatur ist er, am eigenen Theorem gemessen, ein Zersetzer des mythischen Analogons“ (1996, S. 197). Was Jesinghausen wiederum nicht in Betracht zieht, ist, dass Lugowski genau dies als unumgänglich ansehen könnte. 175 Darin unterscheidet er sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, von Lukács’ ‚Theorie des Romans‘. 176 Zur „List der Vernunft“: Hegel 1837 / 1995, S. 49. 60 Formaler Mythos - Kritik zu akzeptieren so etwas wie einen ethischen Imperativ darstellen würde. Lugowski glaubt demnach nicht nur daran, dass die Wirklichkeit ungeformt und sinnfrei 177 ist, er betrachtet es vielmehr auch als ein Gebot der Ehrlichkeit - oder besser: der Haltung -, dies zu ertragen und anzuerkennen. 178 Als einziger Grund für die von ihm postulierte Notwendigkeit der Zersetzung aller ‚mythischen‘ Zusammenhänge scheint dergestalt seine eigene Gewissheit auf. Lugowski erklärt die Einsicht in die Sinnfreiheit allen Daseins zum Telos der Weltgeschichte, weil er diese Sinnfreiheit für faktisch gegeben hält und deshalb meint, sie als solche annehmen zu müssen. Einzig und allein deshalb ist sie als Ultima Ratio des Vernunftprinzips für ihn unhintergehbar, und nur deshalb bleibt ihm auch nichts anderes übrig, als auf die modernekritische Forderung nach einer Abkehr von Individualismus und Rationalität zu verzichten. Dass diese seltsame Vorstellung im engeren Sinn weder modernekritisch 179 noch aufklärerisch ist, muss kaum eigens gesagt werden. Sie entsteht vielmehr aus der Konfrontation von Lugowskis eigenem (und als solchem absolut gesetzten) Wirklichkeitsempfinden mit den Konsequenzen seines erkenntnistheoretischen Ansatzes. Ich komme in Kapitel I.1.3.3 darauf zurück. Zu konstatieren ist damit vorerst nur: Es ist die Auffassung, dass die Erkenntnis der ‚wahren‘ Wirklichkeit aus faktischen und ethischen Gründen unausweichlich ist, die den Modernekritiker Lugowski auf das Prinzip der Aufklärung verpflichtet. Im Zuge dessen schließt er ein Bündnis zwischen zwei gleichsam natürlichen Feinden, das umso merkwürdiger wirkt, als es ernsthaft verspricht, die diametralen Interessen beider Parteien zu einem gemeinsamen Ziel führen zu können. Um die Absicht dieses Vorhabens verständlich zu machen, greife ich noch einmal auf die beiden Epochenmodelle der Aufklärung und der nachromantischen Modernekritik zurück. Erstere formuliert wie gesagt ein Schema von Antike, Mittelalter und Neuzeit, das auf der Idee einer zwischenzeitlich zwar ‚verdunkelten‘, seit der Renaissance aber wieder fortschreitenden Rationalisierung beruht. Letztere stellt diesem Schema die Abfolge Mittelalter - Moderne - neues Mittelalter entgegen. Hier übernimmt die Moderne die Rolle des mittleren, ‚dunklen‘ Zeitalters; ihre Herrscherin, die alleszersetzende Vernunft, wird in der künftigen Epoche eines neuen Mittelalters überwunden. In Lugowskis Vorstellung finden sich die beiden konträr gerichteten Modelle nun in wundersamer Weise vereinigt. Er hebt ihren Gegensatz dadurch auf, dass er die Vernunft einfach immer weiter fortschreiten lässt. Auf ihrem Weg „zerstört“ sie „den mythischen Zusammenhang der Welt“ bis zur totalen Zusammenhanglosigkeit, das heißt, bis sich der Mensch gänzlich vereinzelt in einer „unbewältigten Wirklichkeit“ wiederfindet. 180 Am Ende der Geschichte wird so ein Zustand erreicht, in dem die Ratio, statt zum Bewusstsein ihrer selbst zu gelangen, sich selbst aufgehoben hat, und in dem der Mensch in absoluter Individuierung aufhört, Individuum zu sein: weil er bar jeder Möglichkeit einer differenzieren- 177 Von Sinnlosigkeit (statt von Sinnfreiheit), so erklärt Lugowski, könne man deshalb nicht reden, weil die vollkommen realistische Betrachtung der Wirklichkeit „überhaupt nicht am Gegensatz sinnvollsinnlos orientiert“ ist (ebd., S. 183). 178 Es ist die Haltung, die Lugowski dem Sagamenschen bescheinigt (1932 / 1994, S. 184 f.). 179 Genauer: Modernekritisch ist zwar das irrationale Beharren auf der objektiven Realität der eigenen (intuitiv-unmittelbaren) Erfahrung, nicht aber die Ansicht, dass die von Wissenschaft und Erkenntnistheorie in ihrer Einheit bedrohte Wirklichkeit ‚wahrhaftig‘ eine sinnlose und als solche letztlich das Produkt der ‚zersetzenden‘ Ratio ist. 180 Lugowski 1932 / 1994, S. 11, 183. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 61 den Bezugnahme unmittelbar in der Welt steht und wieder mit ihr eins wird. 181 Lugowski lässt das Fortschrittsprinzip der Aufklärung also in einer bizarren Dialektik nicht in sein Gegenteil umschlagen, sondern durch seine Vollendung sich selbst überwinden. Seiner Auffassung nach führt die gänzliche Rationalisierung des Denkens und Erkennens zwangsläufig ein neues Mittelalter herbei. Wenn nämlich die Vernunft durch ihre Selbstauflösung zu sich selbst kommt, dann mündet der Prozess der Aufklärung in die modernekritische Wunschvorstellung eines Zustandes neuer Ganzheit: in einen neuen Mythos im Zeichen der Wirklichkeit. Begreift man Lugowskis Buch von diesem Gedanken her, so wird verständlich, warum es seinem Gegenstand so wenig emphatisch, ja feindlich gegenübersteht. Lugowski schreibt Dichtungsgeschichte als die Geschichte des Unmöglichwerdens von Dichtung. In seiner Eigenschaft als Literaturwissenschaftler mag er die Zersetzung des mythischen Analogons zwar bedauern, als Philosoph und modernekritischer Aufklärer ist er aber von der Unabdingbarkeit dieses Vorgangs überzeugt. Für letzteren ist und bleibt die konstitutiv mythosanaloge Dichtung ein Relikt des ‚alten‘, illusorischen Mythos, und nur diesen alten Mythos kann sie auch (wieder-)herstellen. Dem neuen Mythos der Wirklichkeit hingegen „ist das Dichterische im eigentlichen Sinne fremd“; es kann zu seiner Aufrichtung nichts weiter beitragen, als zu verstummen. 182 Wie prägend diese Auffassung für Lugowskis Entwurf ist, wird vielleicht am eindrücklichsten deutlich, wenn man ihn mit Georg Lukács’ ‚Theorie des Romans‘ (1916 / 1920) 183 vergleicht. 1.3.2.2 Varianten geschichtsphilosophischer Literaturtheorie: Lukács und Lugowski Dass Lugowski das Werk des ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers kannte, belegt allein dessen Nennung in seinem Literaturverzeichnis. 184 Die enge Verwandtschaft zwischen der ‚Form der Individualität im Roman‘ und der ‚Theorie des Romans‘ ist dennoch unverkennbar. Beide entfalten in ähnlicher Weise denselben geschichtsphilosophischen Gedanken: 185 Beide schreiben Literaturgeschichte im Modus einer ‚melancholischen‘ Teleologie der Ratio, wobei sie die Genese des Romans als den ureigensten 181 Oder, in Lugowskis Worten: der Mensch muss gegenüber der ‚Welt des Fürsichseienden‘ passiv werden, um in ihr aktiv sein zu können (ebd., S. 184). Vgl. dazu auch Jesinghausen 1996, S. 214 f. 182 Lugowski 1932 / 1994, S. 184. 183 Lukács veröffentlichte seinen 1914 / 15 verfassten Entwurf erstmals 1916 in der Zeitschrift für allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft. Maßgeblich für die späteren Abdrucke wurde jedoch die selbständige Ausgabe, die 1920 in Berlin erschien und auf deren Text ich mich hier beziehe. 184 Auch Lugowski zitiert die Ausgabe von 1920 (1932 / 1994, S. 208). Er verweist ein weiteres Mal in einer Anmerkung auf die ‚Theorie des Romans‘ (Anm. 48 zur Voruntersuchung: ebd. S. 193), bezieht sich dabei allerdings nicht auf ihren literaturtheoretisch wichtigeren ersten Teil, sondern auf ein Detail der Analyse des ‚Don Quijote‘. 185 Zu Lukács’ Literaturtheorie hier und im Folgenden Schubert 1983, Dannemann 1997, S. 21-30, Dembski 2000. Der Bezug Lugowskis auf Lukács ist bekannt, wurde aber von der Forschung bisher nicht in seiner Grundsätzlichkeit erkannt und gewürdigt. Am deutlichsten ist noch Schlaffers kurze Bemerkung, dass „[w]ie für Lukács […] auch für Lugowski der Roman die geschichtsphilosophisch ausgezeichnete Leitform des modernen Bewußtseins [ist]“ (1976 / 1994, S. XVII). Jesinghausen vermerkt „gelegentliche Echos der 1920 erschienenen ‚Theorie des Romans‘“ und ebenfalls Parallelen im geschichtsphilosophischen Anliegen, betont aber vor allem die (qualitativen) Unterschiede (1996, S. 209, vgl. ebd., S. 209 f., 216 sowie Jesinghausen-Lauster 1985, S. 241 f.). 62 Formaler Mythos - Kritik Ausdruck eines weltgeschichtlich notwendigen Umbruchs verstehen, in dessen Folge die Einheit von Mensch und Welt zerstört und der Einzelne als Individueller in eine sinnentleerte Welt geworfen wird. 186 Diesen Gemeinsamkeiten steht als grundlegender Unterschied die Auffassung der Wirklichkeit gegenüber. Für den Hegelianer Lukács ist die Wirklichkeit eine Objektivation des Weltgeistes. 187 Was als wirklich wahrgenommen und dargestellt wird, fällt mit dem jeweils gegenwärtigen Weltzustand zusammen. Das dichterische Schauen und Schaffen „vollendet […] sich in den Kategorien, die der geschichtsphilosophische Stand der Weltuhr vorschreibt“. 188 Die hieraus sich ergebende Vorstellung einer Wirklichkeit, die sich mit der Entwicklung des Weltgeistes objektiv wandelt, ist Lugowski fremd. Er begreift sie als ein in seiner Objektivität unabänderliches Dasein; was sich wandelt, ist nur ihre Wahrnehmung. Das Zu-sich-selbst-Kommen der - nunmehr rein menschlichen - Vernunft erscheint in diesem Zusammenhang als ein Zur-Wirklichkeit-Kommen: Die Wirklichkeit wandelt sich nicht mit dem Geist, sondern der Geist erhebt sich zur (richtigen Wahrnehmung der) Wirklichkeit. Daraus ergibt sich eine Haltung zur dichterischen Wirklichkeitsdarstellung, die bedingt, dass Lugowskis Romantheorie eine ganz andere Richtung zielt als Lukács’ ‚Theorie des Romans‘, ja, dass sie gar in vielem als deren Gegenentwurf erscheint. 189 Dies lässt sich bereits am Ausgangspunkt der von Lugowski imaginierten Entwicklung, bei seiner Vorstellung der klassischen griechischen Tragödie beobachten. Grundsätzlich entspricht dieser Ausgangspunkt dem von Lukács. Dessen Schilderung ist für das Verständnis Lugowskis sogar insofern erhellend, als sie seine Kurzformel vom „mythischen Zeitalter“ als dem „des realen Einsseins […] von Einzelmensch und der Welt des Lebendigen“ 190 expliziert. Lukács beschreibt dieses Zeitalter so: Es ist eine homogene Welt, und auch die Trennung von Mensch und Welt, von Ich und Du vermag ihre Einstoffigkeit nicht zu stören. Wie jedes andere Glied dieser Rhythmik, steht die Seele inmitten der Welt; die Grenze, die ihre Umrisse erschafft, ist im Wesen von den Konturen der Dinge nicht unterschieden: sie zieht scharfe und sichere Linien, trennt aber doch nur relativ; trennt nur in bezug auf und für ein in sich homogenes System des adäquaten Gleichgewichts. Denn nicht einsam steht der Mensch, als alleiniger Träger der Substantialität inmitten reflexiver Formungen: seine Beziehungen zu den anderen und die Gebilde, die daraus entstehen, sind geradezu substanzvoll, wie er selbst, ja wahrhafter von Substanz erfüllt, weil allgemeiner, ‚philosophischer‘, der urbildlichen Heimat näher und verwandter: Liebe, Familie, Staat. 191 Hier hat alles Einzelne teil am Ganzen. Es geht organisch aus dem Ganzen hervor und findet in ihm seine Notwendigkeit und seinen Sinn. Die mythische Welt erscheint dadurch 186 Ich beschränke mich in meiner Darstellung auf die großen Linien beider Entwürfe; auf weitere auffällige Parallelen sei hier nur hingewiesen: die Verbindung von Form und Sinn (Lukács 1920 / 1989, S. 61 ff.), die Fokussierung auf das Individuum (ebd., S. 67 ff.) sowie eine ganze Reihe von formbedingten Phänomenen der Narration (Komposition: ebd., S. 65 f., die Bedeutung von Anfang und Ende: S. 71 f., Finalität und Kausalität: S. 75, ‚Begrenztheit der Hindernisse‘: S. 67 f.). 187 Lukács erörtert den Einfluss Hegels auf die ‚Theorie des Romans‘ in seinem 1962 hinzugefügten Vorwort (Lukács 1920 / 1989, S. 9-13). Vgl. dazu auch Schubert 1983, Dembski 2000, S. 249-254. 188 Lukács 1920 / 1989, S. 80. Zur besonderen Bedeutung der epischen Gattungen als Darstellungsformen der Wirklichkeit bes. auch ebd., S. 37-41, 47. 189 Vgl. Jesinghausen-Lauster 1985, S. 241. 190 Lugowski 1932 / 1994, S. 9. 191 Lukács 1920 / 1989, S. 24 f. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 63 als Totalität. Sie ist ein Ganzes, das als „Geschlossenes vollendet sein kann; vollendet, weil alles in ihm vorkommt, nichts ausgeschlossen wird und nichts auf ein höheres Außen hinweist; vollendet, weil alles in ihm zur eigenen Vollkommenheit reift und erreichend sich der Bindung fügt.“ 192 Dieses Ganze ist nicht nur das „formende[] Prius jeder Einzelerscheinung“, sondern auch das formende Prius des Weltgestaltens: Totalität des Seins ist nur möglich, wo alles schon homogen ist, bevor es von den Formen umfaßt wird; wo die Formen kein Zwang sind, sondern nur das Bewußtwerden, nur das Auf-die-Oberfläche-Treten von allem, was im Inneren des zu Formenden als unklare Sehnsucht geschlummert hat […]. 193 Die Dichtung des mythischen Zeitalters ist also Abbild und Vollzug seiner Ganzheit. In ihr spiegelt sich, wie Lugowski sagt, „die Art, wie den Menschen jener Tage die Wirklichkeit gegeben ist“; sie ist Ausdruck der Unmittelbarkeit des mythisch denkenden Menschen zur Welt, Ausdruck für sein „Existieren […] in und mit der Wirklichkeit“. 194 Diese Ganzheit, so nimmt Lugowski mit Lukács weiter an, bleibt dem modernen Menschen insofern fremd, als er sich in sie nicht mehr „lebendig hineinversetzen“ kann. 195 Während Lukács diese Unfähigkeit jedoch geschichtsphilosophisch damit erklärt, dass „[d]er Kreis, in dem die Griechen metaphysisch leben […] für uns gesprengt [ist]“, 196 bezeichnet Lugowski sie als den Ausdruck geistiger Überlegenheit. Er charakterisiert die Totalität der mythischen Welt - wie bereits gesagt - als illusorisch. Zwar ist sie „den Menschen jener Tage“ als „Wirklichkeit gegeben“, doch ist sie als solche durch „das mythische Vorstellen ge s t a lt et“. 197 Anders als für Lukács gibt es für ihn nicht zwei gleichermaßen reale Wirklichkeiten, die jeweils dem „wahren Zustand des gegenwärtigen Geistes“ entsprechen, 198 sondern eine wahre und eine falsche, oder wie er es ausdrückt, eine ‚schlicht seiende‘ und eine ‚künstliche‘. 199 Dass der mythisch denkende Mensch die ‚Künstlichkeit‘ seiner Wirklichkeit nicht erkennt, lässt seine Weltwahrnehmung und -darstellung als defizitär erscheinen. Sie ist ein Noch-nicht-erkennen-, Noch-nicht-begreifen-Können. Die Ganzheit der Dichtung wird auf diese Weise vom Spiegelbild eines heilen Weltzustandes zum Symptom eines epistemischen Mangels: „Das griechische Volk […] im Angesichte des tragischen Spiels“ 200 sinkt auf das Niveau eines „Dienstmädchen[s]“ herab, das sich „unbefangen“ in die Welt des „Hintertreppenroman[s]“ hineinbegibt, ohne dessen Künstlichkeit zu bemerken. 201 Parallel dazu wird der moderne Mensch in die Position eines „künstlerisch Urteilsfähige[n]“ 192 Ebd., S. 26. Lukács’ Bestimmung der Totalität trifft sich gewiss nicht zufällig mit Lugowskis Vorstellung dichterischer (1932 / 1994, S. 13 u. ö.) und Cassirers Beschreibung mythischer Ganzheit (1925 / 2002, S. 61-64 u. ö.). Zur Idee der Totalität und ihrer philosophiegeschichtlichen Verortung: Zwenger 2008, S. 69-71. 193 Lukács 1920 / 1989, S. 26. 194 Lugowski 1932 / 1994, S. 11. 195 Lukács 1920 / 1989, S. 25, vgl. Lugowski 1932 / 1994, S. 9-14. 196 Lukács 1920 / 1989, S. 25. 197 Lugowski 1932 / 1994, S. 11; Hervorhebung von mir, CK. 198 Lukács 1920 / 1989, S. 63. 199 Lugowski 1932 / 1994, S. 10 f. 200 Ebd., S. 9. 201 Lugowski zitiert das Dienstmädchen und seinen Hintertreppenroman tatsächlich als erläuternde Anmerkung zum besseren Verständnis des griechischen Tragödienpublikums herbei: ebd., S. 189 als Anm. 14 zur Einleitung, S. 11. 64 Formaler Mythos - Kritik versetzt, der sich ganz bewusst von der sinnträchtigen Welt des Mythos distanziert, weil er ihre Scheinhaftigkeit erkennt. 202 Wenn die Weltsicht und die Dichtung des mythischen Zeitalters für Lugowski demnach die Weltsicht und die Dichtung der Naiven sind, so sind die für Lukács die Weltsicht und die Dichtung der Weisen. Es ist bezeichnend, dass Lugowski ein anonymes griechisches Volk, Lukács hingegen Platon und Homer zu den Kronzeugen der mythischen Welthaltung beruft. Zwar geht die mythische Wahrnehmung der Welt auch bei Lukács mit einer gewissen Passivität des Geistes einher, doch ist diese Passivität keine schlichte Reflexionslosigkeit. Sie besagt nur, dass im Zustand mythischer Ganzheit der bereits „fertig daseiende[] Sinn[]“ nicht mehr geschaffen werden muss. Gesucht und gefunden werden aber muss er auch hier: Die Welt des Sinnes ist greifbar und übersichtlich, es kommt nur darauf an, in ihr den Einem zubestimmten Ort zu finden. Das Irren kann hier nur ein Zuviel oder ein Zuwenig sein, nur ein Mangel an Maß und Einsicht. Denn Wissen ist nur ein Aufheben trübender Schleier, Schaffen ein Abzeichen sichtbar-ewiger Wesenheiten, Tugend eine vollendete Kenntnis der Wege; und das Sinnesfremde stammt nur aus der allzu großen Ferne von Sinn. 203 Das Erfassen der Welt in ihrer Totalität, in der Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen ‚Wesen‘ und ‚Leben‘, ist für Lukács die ureigenste Aufgabe der Dichtung und der Philosophie. Dabei versteht es sich beinahe von selbst, dass es verschiedene Weisen der Weltdarstellung geben muss. 204 Anders als Lugowski, der ohne weiteres davon ausgeht, dass der naiv illusionsbefangene Mensch des Mythos seine Wirklichkeit nur naiv illusionsbefangen abbilden kann, begreift Lukács die Dichtung des mythischen Zeitalters als ein bewusstes Gestalten der gegenwärtigen Totalität. Es dürfte bis zu dieser Stelle deutlich geworden sein, wie die beiden Theorien durch ihre divergierenden Auffassungen des Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Ratio unterschiedlich geprägt werden. Lukács’ Entwurf bezieht seine Dynamik aus dem Abstand zwischen dem Weltgeist und dem menschlichen Geist; daraus, dass dieser sich aktiv zu den Wirklichkeiten verhalten muss, die jener schafft. Lugowskis Buch hingegen lebt von der Auseinandersetzung der menschlichen Vernunft mit der ‚Wirklichkeit selbst‘. Obwohl beide den Umbruch in die Moderne als Zerstörung sinnverbürgender Totalität beschreiben, schildern sie deshalb ganz verschiedene Vorgänge. Für Lukács entspringt die Moderne dem Rückzug des Geistes aus der Welt. Dieser setzt der „Lebensimmanenz des Sinnes“ ein Ende und lässt den Menschen in einem manifesten Zustand „transzendentale[r] Obdachlosigkeit“ zurück. 205 Lugowski erzählt diese metaphysische Geschichte im Sinne der Aufklärung um. Er beschreibt das Ende des mythischen Zeitalters als den Ausgang des Menschen aus seiner geistigen Unselbstständigkeit. Das Erwachen der Ratio zerstört die reflexionslose Weltwahrnehmung und damit das ganzheitliche Weltbild des Mythos. Dass sie zugleich auch 202 Ebd. 203 Lukács 1920 / 1989, S. 24. 204 Lukács nennt drei „paradigmatische[] Formen des Weltgestaltens: Epos, Tragödie und Philosophie“ (ebd., S. 27), die sich durch eine jeweils eigene Haltung zur Totalität des Seins auszeichnen. „Die Welt des Epos beantwortet die Frage: wie kann das Leben wesenhaft werden? “ - das heißt, es stellt das ‚Leben‘ (die Wirklichkeit des konkreten Einzelnen) in einen sinnvollen Bezug zum ‚Wesen‘ (dem Abstrakten und Normativen). Die Tragödie widmet sich umgekehrt der Frage: „wie kann das Wesen lebendig werden? “; sie zeigt also die Wirkung des Allgemeinen (Normativen) in einer konkreten Handlung (ebd.). 205 Ebd., S. 32. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 65 dessen Sinn zerstört, vermerkt Lugowski durchaus als Verlust, aber nur als Verlust einer Illusion. Für Lukács hingegen markiert der Beginn der Moderne einen ganz realen Bruch, der die menschliche Seele ihrer Heimat beraubt. 206 Von hier aus begründen sich die unterschiedlichen Ansichten über die Aufgabe und den Wert des Romans. Auch dabei erzählen Lukács und Lugowski insofern dieselbe Geschichte, als sie die Kunst gleichermaßen als ein Analogon des Mythos und den Roman als die künstlerische Leitform der Moderne darstellen. Ganz ähnlich wie Lugowski geht Lukács davon aus, dass der nunmehr vereinzelte Mensch ein Bedürfnis nach Wiederherstellung des defekten Weltzustandes empfindet und zu diesem Zweck die Kunst einsetzt. Sie ist, so Lukács, mit dem Ende des mythischen Zeitalters „selbständig geworden: sie ist kein Abbild mehr, denn alle Vorbilder sind versunken; sie ist eine erschaffene Totalität, denn die naturhafte Einheit der metaphysischen Sphären ist für immer zerrissen.“ 207 Indem die Kunst die einstmals naturhafte Totalität künstlich erneuert, übernimmt sie gewissermaßen die Funktion des entschwundenen Weltgeistes, dessen Gegenwart sie zuvor nur abgebildet hatte. Auf diese Weise wird das Epos zum Roman: „Die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität, der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen.“ 208 Lukács versteht die ‚Gesinnung zur Totalität‘ damit als Errungenschaft und Herausforderung, nicht wie Lugowski als Erblast des Mythos. Lukács widmet den Roman so einem Zweck, der Lugowski schlicht reaktionär erscheinen muss. Die verlorene Totalität wiederherzustellen, bedeutet für ihn ja nichts anderes, als die mühsam errungene Erkenntnis der ‚wahren‘ Wirklichkeit freiwillig wieder aufzugeben. Der Wert des Romans kann darum von vornherein nur ein relativer sein. Wenngleich er, wie alle Kunst, die Illusion einer sinnerfüllt-ganzheitlichen Welt erzeugt, so ist er doch zumindest insofern weniger wirklichkeitsverfälschend, als er von allen Künsten die unkünstlichste und damit der Wirklichkeit am nächsten ist. 209 Daraus ergibt sich, dass Lugowski dieselbe Tendenz, die Lukács als Verdienst des Romans bezeichnet, als die Grenze seiner Möglichkeiten begreift. Für Lukács bedeutet das Streben des Romans nach einer Gestaltung, die „[a]lle Risse und Abgründe, die die geschichtliche Situation in sich trägt“, einbezieht 210 und überwindet, die Verheißung einer herannahenden, neuen Totalität. 211 Er hält den Roman für die repräsentative Gattung der Moderne, weil er in seiner permanenten Suche nach dem verlorenen Sinn die Problematik des gegenwärtigen Weltzustandes zum Ausdruck bringt. Lugowski dagegen kann zwar die Gestaltung der Sinnleere als realistisch würdigen. Dass der Roman immer zugleich auch versucht, sie zu überwinden, zeigt aber für ihn bloß dessen Scheitern an. Wahrhaft modern wäre in seinen Augen der Roman, der kompromisslos jede Illusion vom Sinn des Daseins zerstört und die Wirklichkeit so darstellt, wie sie ist. Da der Roman durch seine Komponiertheit aber immer zumindest einen Anflug von Sinn bewahrt, wird er dieses Ziel niemals erreichen. 206 Vgl. Ebd., S. 52 u. ö. 207 Ebd., S. 29, vgl. Lugowski 1932 / 1994, bes. S. 10-13. Zu Lukács’ Bestimmung der Kunst Schubert 1983, bes. S. 413-423, Dembski 2000, S. 88-93. 208 Lukács 1920 / 1989, S. 51. 209 Lugowski 1932 / 1994, S. 13. 210 Lukács 1920 / 1989, S. 51. 211 Er sieht eine „neue und abgerundete Totalität“, eine „erneuerte Form der Epopöe“ bei Dostojewski angedeutet, vermag indessen noch nicht zu sagen, „[o]b er bereits der Homer oder der Dante dieser [neuen] Welt ist“ (ebd., S. 136 f.). 66 Formaler Mythos - Kritik Der Vergleich mit Lukács belegt somit vor allem, dass nicht jede Literaturgeschichte, die im Modus einer melancholischen Teleologie der Ratio geschrieben ist, zwangsläufig das Verschwinden der Dichtung proklamieren muss. Die destruktive Tendenz von Lugowskis Buch ist also weder auf sein geschichtsphilosophisches Vorgehen als solches noch auf dessen modernekritische Akzentuierung zurückzuführen. Sie erklärt sich, wie vor dem Hintergrund von Lukács’ Argumentation ebenfalls ersichtlich wird, vielmehr allein aus der konsequenten Ausrichtung auf die objektiv-‚wahre‘ Wirklichkeit. Lugowskis Forderung nach einer kompromisslosen Anerkennung der realen Sinnlosigkeit allen Daseins lässt ihn das von Lukács uneingeschränkt als positiv gezeichnete Sinnstreben der Dichtung als ein bloßes Vortäuschen von Sinn ablehnen. In Hinblick auf ihr geschichtsphilosophisches Modell unterscheiden sich die Entwürfe von Lukács und Lugowski damit kurz gesagt darin, dass sie dem notwendigen Fortschreiten der Vernunft in der Literatur ein jeweils anderes Telos unterlegen. Lugowski hält das Erkennen ‚der‘ Wirklichkeit, Lukács hingegen die Wiedergewinnung sinnstiftender Ganzheit für den letzten Sinn der Literaturgeschichte. An diesem Ergebnis ist zu ersehen, dass Lugowskis Romantheorie nicht an ihrem geschichtsphilosophischen Ansatz scheitert - zumindest nicht in der inneren Logik ihrer Herangehensweise. 212 Auch, dass sie ihren Gegenstand einem Prozess der vollständigen Zersetzung anheimgibt, dürfte ihren Autor kaum gestört haben. Denn er will den Roman ja gar nicht positiv bestimmen, indem er ihm etwa wie Lukács eine welterklärende, -verbessernde oder sonst irgendwie sinnstiftende Funktion zuschriebe. Er legt nicht einmal besonderen Wert darauf, ihn als einen Lehrmeister der Desillusion auf die Einübung einer realistischen Welthaltung zu verpflichten. Lugowski interessiert der Roman nur als Zeugnis vergangener und gegenwärtiger Wirklichkeitsauffassungen; als eine historische Quelle, aus der die geschichtsphilosophisch notwendige Entwicklung des menschlichen Geistes hin zur Erkenntnis der ‚wahren‘ Wirklichkeit erschlossen werden kann. Man mag deshalb mit gutem Recht beanstanden, dass Lugowski die Literaturtheorie zur historischen Hilfswissenschaft degradiere. Ja man wird sogar fragen dürfen, inwiefern eine Literaturtheorie, deren Betrachtungen über das Wesen ihres Gegenstandes letztlich auf dessen Diffamierung und Abschaffung zielen, überhaupt noch als solche anzusprechen sei. Derlei Bedenken sind jedoch unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt nicht entscheidend. Hier zählt allein der Befund, dass es Lugowski vorrangig nicht um die historische Beschreibung dichterischer Wirklichkeitsdarstellung, sondern um die Herleitung einer Ära zu tun ist, in der der Mensch dadurch, dass er die Wirklichkeit in ihrer Sinnlosigkeit endlich so anerkennt, ‚wie sie ist‘, wieder mit der Welt eins wird. Unter dieser Prämisse erscheint sein geschichtsphilosophischer Einsatz des Aufklärungsgedankens plötzlich als durchaus zielführend, ja in gewisser Weise sogar raffiniert. Indem er ihn dazu verwendet, das stete Fortschreiten der Vernunft quasi gesetzmäßig in einen Zustand reflexionsloser Daseinsunmittelbarkeit münden zu lassen, macht er die zentrale Idee eines positiven Modernebegriffs einem Anliegen dienstbar, das - wenn auch nicht in seinem Sinnlosigkeitspostulat, so doch in seinem Ziel, die Wirklichkeit unverfälscht und direkt wahrzunehmen - ein modernekritisches ist. In diesem Sinne kann man sicher sagen, dass Lugowski einen der wichtigsten Gegner der Modernekritik gewissermaßen durch Vereinnahmung neutralisiert; 212 Aus methodologischer Sicht bleibt eine Argumentation, die den Lauf der Geschichte als Realisation eines einzigen, universal gültigen Rationalisierungsgesetzes erklärt, natürlich verfehlt. Zur Kritik der materialen Geschichtsphilosophie Zwenger 2008, S. 91-103. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 67 dadurch, dass er das ‚zersetzende‘ Wirken der Ratio nicht mehr als widerstrebende Macht, sondern geradezu als das Instrument zur Errichtung einer antirationalistischen Ära neuer Ganzheit begreift. Seine Modulation des aufklärerischen Vernunftprinzips darf in diesem Sinne wohl als ein gelungenes Manöver in seinem Kampf um die Wirklichkeit gelten. Der Sieg ist freilich insofern als ein zu leicht errungener einzustufen, als der Gegner Lugowskis Position nichts entgegenzusetzen hat. Der Streit um die Frage, welche Wirklichkeit als die ‚wahre‘ zu gelten habe, ist nun einmal vornehmlich keiner der Aufklärung, sondern einer der Erkenntnistheorie. Auf welchem Terrain Lugowskis Hauptgefecht stattzufinden hat, ist von daher klar; - und umso seltsamer ist es, dass Lugowski die Gefahr, die seinem taktischen Ziel von dort aus droht, offenbar nicht von Anfang an erfasst, im Gegenteil: Sein Rekurs auf Cassirers Mythoskonzept deutet darauf hin, dass er dieses geradezu als Grundlage und Gewähr seines Vorhabens begreift. Wenn er meint, Cassirers Darstellung der mythisch geformten Wirklichkeit mit seinem eigenen Begriff einer ungeformten Wirklichkeit zusammenschließen zu können, hat er die Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht. Oder, um es noch einmal in die Kriegsmetapher zu fassen: Als Lugowski bemerkt, dass die Position, die er zunächst für die selbstverständliche Ergänzung seiner eigenen hielt, tatsächlich die seines ärgsten Feindes ist, ist es für ihn zu spät. Denn da hat er sich schon so weit auf sie eingelassen, dass sie von seiner eigenen nicht mehr zu trennen ist. Deshalb wird sein Kampf gegen den Zerstörer dessen, was er für die wahre Wirklichkeit hält, mehr und mehr zum Kampf gegen sich selbst. 1.3.3 Welche Wirklichkeit ist ‚wahr‘? Lugowski und Cassirer im virtuellen Dialog 1.3.3.1 Wider den Objektivismus. Cassirers Offensive Worin das Problem von Lugowskis Wirklichkeitsauffassung genau besteht und wie es sein Vorhaben zum Scheitern bringt, wird wohl am besten verständlich, wenn man es zunächst mit Cassirer in den Blick nimmt. Dieser hat es nämlich charakterisiert, diskutiert und argumentativ erledigt, schon längst bevor Lugowski die Arbeit an seiner Dissertation überhaupt begonnen hatte. Zwar beschreibt er es nicht exakt in der Form, in der es sich bei diesem stellt, seine Formulierung ist aber allgemein genug, um auch für ihn zu gelten. Lugowskis Darstellung der Wirklichkeit erscheint in diesem Licht als Variante eines Objektivismus, den man als vorkantianisch bezeichnen könnte, obgleich er durch Kants kritische Philosophie zwar an Geltung, aber keineswegs an Wirkmacht verloren hat. 213 Ihm zugrunde liegt die für gewöhnlich aus einer alltagsweltlichen Erfahrung resultierende Ansicht, dass die Wirklichkeit an sich da sei und dass man, um sie richtig zu erfassen, nur genau hinsehen müsse. Die Erkenntnis der Dinge vollzieht sich so als die ‚innere‘ Repräsentation der ‚äußeren‘ Realität, und die Herausforderung besteht (vermeintlich) lediglich darin, sich in diesem Prozess nicht von ‚inneren‘ Vorgängen und Vorannahmen jedweder Art täuschen zu lassen. Gelingt das, dann darf das entstehende Bild der Wirklichkeit - ich springe hier 213 Es ist hier nicht der Ort, die philosophische und philosophiegeschichtliche Dimension dieses Phänomens auch nur anzudeuten. Ich stelle im Folgenden lediglich die Verbindung zu jenen beiden Diskursen her, denen Lugowskis Arbeit am nächsten liegt: der neukantianischen Philosophie Cassirers (der das Problem auch historisch auslotet, bes. in der Einleitung zum ersten Teil der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘: 1923 / 2001, S. 1-49) und der zeitgenössischen Diskussion um das ‚Wesen der Wirklichkeit‘ (dazu Oexle 2007). 68 Formaler Mythos - Kritik in Lugowskis Terminologie - in seiner zwar geistig aufgenommenen, nicht aber geistig geformten Beschaffenheit als ‚natürlich‘ gelten. Gelingt es hingegen nicht, dann produziert der Geist - ich bediene mich nochmals bei Lugowski - ‚künstliche‘ Bilder der Wirklichkeit, Bilder also, die das ‚wahre Sein‘ der Dinge geistig verformen und verzerren. Dabei handelt es sich wohlgemerkt vorerst nur um eine Ansicht. Zu einer Überzeugung sowie, damit einhergehend, zu einer eifrig verteidigten Ideologie verwandelt sie sich erst bei der Begegnung mit den Argumenten, die - unter Anderen - Ernst Cassirer vertritt. Wie das genau geschieht, ist in dessen Auseinandersetzung mit einer objektivistischen Auffassung der Wirklichkeit exemplarisch zu verfolgen. 214 Sofern diese in ihrer allgemeinen Stoßrichtung auch auf Lugowski zielt, gestaltet sie sich deshalb als ein virtueller Dialog, oder besser, wird sie als der virtuelle Dialog lesbar, als den ich sie im Folgenden darstellen möchte: als ein Dialog, der das Abgleiten des Literaturtheoretikers Lugowski in die Ideologie des ‚Fürsichseienden‘ nachvollziehbar macht. 215 Die Relevanz der Debatte erschließt sich aus dem Hinweis, dass die Widerlegung des Objektivismus eines der grundsätzlichsten Anliegen Cassirers darstellt. Er geht dabei von Kants Einsicht aus, dass die Wirklichkeit keineswegs etwas von der Erkenntnis Unterschiedenes und von ihr nur mehr oder weniger richtig Erschlossenes sei, sondern dass sie durch sie erst erschaffen werde. 216 Und er geht weiter über Kant hinaus, indem er diese Einsicht nicht mehr nur auf die Wirklichkeit der rationalen Erkenntnis, sondern auf alle durch den menschlichen Geist erschaffenen Wirklichkeiten bezieht. Was jeweils als Wirklichkeit aufgefasst und dargestellt werde, so Cassirer, sei niemals einfach das Abbild eines gegebenen Seins. Es sei vielmehr ein geistiges - das heißt sprachliches, mythisches, künstlerisches oder logisch-begriffliches - Sy m b ol: ein Symbol, das die Wirklichkeit nicht geistig spiegele, sondern sie dem Geist vermittle; ein Symbol, das die Wirklichkeit geistig forme und sie so erst erfahrbar mache. 217 Da ein Erkenntnisgrund in Gestalt eines ‚Dings an sich‘ demnach zwar als existent gedacht werden müsse, sein Wesen aber gerade darin bestehe, dass er nicht erkennbar sei, verliere die Welt des Seins ihren Charakter als rückversichernder Bezugspunkt des Erkennens. Eine Symbolisierung der Welt sei darum nicht dadurch als ‚richtiger‘ oder ‚falscher‘ zu qualifizieren, dass sie ein Objekt besser oder schlechter erfasse. Es könne nur noch festgestellt werden, dass sie ein bestimmtes Objekt ‚anders‘ erfasse, und sie könne in der Andersartigkeit ihrer Auffassung, in ihrer Eigenart als symbolische Form, beschrieben und mit anderen symbolischen Formen verglichen werden. 218 214 Ich berufe mich dafür im Folgenden v. a. auf die Einleitung zum ersten Teil der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘: Cassirer 1923 / 2001, S. 1-49. 215 Tatsächlich richtet sich Cassirer gegen ein breites Spektrum von Positionen, die den epistemologischen Ansatz Kants entweder nicht zur Kenntnis nehmen oder explizit ablehnen. Er verweist in diesem Zusammenhang beispielhaft auf Ansätze der Sprach- oder Mythosforschung (vgl. etwa 1925 / 2003, S. 229 ff.) und global auf bestimmte Richtungen der Philosophie (etwa 1923 / 2001, S. 46-49). Er hat also weniger bestimmte Gegner als vielmehr verbreitete Anschauungsweisen im Auge, weshalb er problemlos auch auf Lugowski zu beziehen ist. 216 Cassirer 1923 / 2001, S. 7-9, dazu auch Cassirer 1929 / 2002, S. 4-18. Vgl. Kant 1787 / 1968, bes. S. 11-18. 217 Cassirer 1923 / 2001, bes. S. 3 f., 15-17. Zum Symbolbegriff Cassirers und seiner Ablehnung der Abbildtheorie Paetzold 1993 / 2002, S. 39-43, Graeser 1994, S. 33-40, Schwemmer 1997, S. 12 f., 46-49, Müller 2010, S. 16-19. 218 Cassirer 1923 / 2001, bes. S. 5-12. Zum System der symbolischen Formen bes. Schwemmer 1997, S. 57-62, vgl. Graeser 1994, S. 51-54. Zu Cassirers Auffassung von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wahrheit‘ v. a. auch Graeser 1994, S. 159-174. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 69 In dieser globalen Ausrichtung seines Ansatzes positioniert sich Cassirer mithin vornehmlich gegen eine Form des Objektivismus, die aus einer gewissen Naivität der Anschauung entsteht. Diese vermeint, in dem, was sie selbst als Wirklichkeit wahrnimmt, die ‚reine‘, objektive Wirklichkeit zu fassen und hält darum jede andere Wirklichkeitsauffassung für defizitär. Sie dürfte damit im Wesentlichen dem Objektivismus entsprechen, den ich eben als alltagsweltlich bezeichnet habe; mit Cassirer wäre sie darüber hinaus aus dem Entwicklungszusammenhang der symbolischen Formen zu erklären. Weil jede von ihnen sich aus anderen herausbildet, zugleich aber den Anspruch erhebt, das Ganze des Seins objektiv zu erfassen, 219 komme sie nämlich nur durch die Auseinandersetzung mit den anderen zu sich selbst. Cassirer erläutert: Die Wi s s e n s c h a f t entsteht in einer Form der Betrachtung, die, bevor sie einsetzen und sich durchsetzen kann, überall gezwungen ist, an jene ersten Verbindungen und Trennungen des Denkens anzuknüpfen, die in der S pr a c h e und in den sprachlichen Allgemeinbegriffen ihren ersten Ausdruck und Niederschlag gefunden haben. Aber indem sie die Sprache als Material und Grundlage benutzt, schreitet sie zugleich notwendig über sie hinaus. Ein neuer ‚Logos‘, der von einem anderen Prinzip als dem des sprachlichen Denkens geleitet und beherrscht wird, tritt nun hervor und bildet sich immer schärfer, immer selbständiger aus. Und an ihm gemessen erscheinen nun die Bildungen der Sprache nur noch wie Hemmungen und Schranken, die durch die Kraft und Eigenart des neuen Prinzips fortschreitend überwunden werden müssen. Die Kritik der Sprache und der sprachlichen Denkform wird zu einem integrierenden Bestand des vordringenden wissenschaftlichen und philosophischen Denkens. Und auch in den übrigen Gebieten wiederholt sich dieser typische Gang der Entwicklung. Die einzelnen Richtungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander, sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, daß sie gegen die anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft erweist. 220 Obwohl die Kritik anderer Denkformen mithin an sich nützlich und notwendig ist, sollte sie, wie Cassirer nachdrücklich hervorhebt, nicht zu der Ansicht verleiten, dass die Wirklichkeit von diesen Denkformen falsch und von der jeweils eigenen dementsprechend richtig erfasst werde. In seiner Abhandlung ‚Sprache und Mythos‘ kritisiert er den Sprachwissenschaftler Max Müller für die „Anschauung, daß der Mythos nicht sowohl auf einer positiven K r a f t des Gestaltens und Bildens als vielmehr auf einer Art G e bre c h e n des Geistes beruhe“. Denn diese Anschauung sei, wenn man sie auf ihre philosophischen Wurzeln zurückführe, „[i]n Wahrheit […] nichts anderes als eine notwendige Folge jenes naiven Realismus, für den die Wirklichkeit der Dinge etwas schlechthin und eindeutig Gegebenes ist“ und der, wenn man ihn weiterdenkt, „notwendig alles, was nicht […] handfeste Realität besitzt, in Trug und Schein“ verwandle. 221 Indem dieser ‚Realismus‘ 222 davon ausgehe, dass der Mythos (die Sprache, die Kunst) die Welt nicht ‚richtig‘ zu fassen bekäme, nicht so, ‚wie sie wirklich ist‘, diskreditiere er zwangsläufig jede geistige Erfassung der Wirklichkeit. Keine von ihnen greife nämlich das Wirkliche selbst, keine bilde ihr reales ‚Modell‘ einfach getreu nach. Vielmehr müssten sie alle, „um [das Wirkliche] darzustellen, um es in irgendeiner Weise festhalten zu können, zum Zeichen, zum Symbol ihre Zuflucht nehmen“, 219 Vgl. Cassirer 1923 / 2001, S. 19 f. 220 Ebd., S. 11. 221 Cassirer 1925 / 2003, S. 231 f. 222 Cassirer verwendet den Begriff ‚Realismus‘ hier offenkundig im Sinne von Objektivismus, als den ich ihn im Folgenden auch bezeichne. 70 Formaler Mythos - Kritik zu einem Hilfsmittel also, das „die individuelle Fülle des Daseins selbst“ immer nur als Abstraktion und „tote Abbreviatur“ wiedergeben könne. 223 Von hier aus sei es jedoch nur noch ein Schritt bis zu der (vermeintlichen) Einsicht, dass jede geistige Symbolisierung - „nicht nur der Mythos, die Kunst, die Sprache, sondern zuletzt auch die theoretische Erkenntnis selbst“ - nichts als eine „Phantasmagorie des Geistes“ darstelle. 224 Was die Modernekritik dem ‚zersetzenden‘ Wirken von Aufklärung, Wissenschaften und Philosophie unterstellt, das ist also Cassirer zufolge realiter dem Vorgehen des Objektivismus anzulasten. Weil dieser bei seiner Suche nach der ‚wahren‘ Wirklichkeit von einer Auffassung derselben zur nächsten voranschreite, nur um immer wieder feststellen zu müssen, dass auch diese die Wirklichkeit wieder (symbolisch) formt, führe er am Ende notwendig zum Eindruck eines Verlusts der Wirklichkeit. Ihm müsse der menschliche Geist zwangsläufig irgendwann wie ein Kaleidoskop vorkommen, das die Gegenstände der Welt, statt sie in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, in eine Ansammlung bunter Muster zerflattern lässt und sie selbst auf diese Weise verbirgt. Cassirer kennt gegen die so verstandene Auflösung der Wirklichkeit nur ein Mittel. Man muss die Suche nach dem realen Vorbild aller geistigen Bildungen aufgeben und diese stattdessen als selbständige ‚Wahrheiten‘ anerkennen; nicht mehr als Abbilder von Wirklichkeit, sondern als deren Erzeuger. „Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet“, so Cassirer, wird der Mythos, wird die Kunst, werden die Sprache und die Erkenntnis zu Symbolen: nicht in dem Sinne, daß sie ein vorhandenes Wirkliches in der Form eines Bildes, der hindeutenden und ausdeutenden Allegorie bezeichnen, sondern in dem Sinne, daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft und aus sich hervorgehen läßt. In ihnen stellt sich die Selbstentfaltung des Geistes dar, kraft deren es für ihn allein eine ‚Wirklichkeit‘, ein bestimmtes und gegliedertes Sein gibt. Nicht Nachahmungen dieser Wirklichkeit, sondern O r g a n e derselben sind jetzt die einzelnen symbolischen Formen, sofern nur durch sie Wirklichkeit zum Gegenstand der geistigen Schau gemacht und damit als solches s ic ht b a r werden kann. Die Frage, was das Seiende an sich, außerhalb dieser Formen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung sein und wie es beschaffen sein möge: diese Frage muß jetzt verstummen. Denn sichtbar ist für den Geist nur, was sich ihm in einer bestimmten Gestaltung darbietet; jede bestimmte Seinsgestalt aber entspringt erst in einer bestimmten Art und Weise des Sehens, in einer ideellen Form- und Sinn ge b u n g. Sind einmal die Sprache, der Mythos, die Kunst, die Erkenntnis als solche ideale Sinngebungen erkannt, so kann das eigentlich philosophische Grundproblem nicht mehr lauten, wie sie sich alle zu einem absoluten Sein verhalten, das gleichsam als ein undurchsichtiger substantieller Kern hinter ihnen steht, sondern wie sie sich wechselseitig ergänzen und bedingen. 225 Das heißt mit anderen Worten: Das Anliegen des Objektivismus ist zwar in seinem Streben nach Erkenntnis d e r Wirklichkeit ebenso verständlich wie nachvollziehbar. Da es sich aber bei näherem Hinsehen nicht nur als unerfüllbar, sondern als schon im Grundsatz irrig herausstellt, ist es komplett aufzugeben und durch die vergleichende Betrachtung mehrerer ineinandergreifender Wirklichkeiten zu ersetzen. Damit ist der Objektivismus zwar argumentativ entkräftet. Dass er auch überwältigt oder gar aus dem Feld geschlagen wäre, kann man aber nicht behaupten. Zutreffender 223 Cassirer 1925 / 2003, S. 232, vgl. 1923 / 2001, S. 41 f. 224 Cassirer 1925 / 2003, S. 233. 225 Ebd., S. 233 f. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 71 wäre wohl eher, im Gegenteil zu sagen, dass er jetzt erst zur Hochform aufläuft. Dies geschieht, indem er den Schritt von der ‚Ansicht‘ zur ‚Überzeugung‘ vollzieht, oder, wie man auch formulieren könnte, indem er seinen Fehler zwar einsieht, in einer Art Trotzreaktion aber auf ihm beharrt. Als Grund dafür genügt ihm wohl das Gefühl der Frustration, die das erkenntnistheoretische Argument (bei ihm) hinterlässt. Was dieses zeigt, das ist demnach seiner Ansicht nach nur, dass das Ziel, die ‚wahre‘ Wirklichkeit zu greifen, mit seiner Hilfe nicht zu erreichen sei. Denn anstatt dem Verlust der Wirklichkeit abzuhelfen, verschärfe es ihn nur, indem es dieser auch noch die letzte Substanz entziehe und an deren Stelle ein ungreifbares geistiges Konstrukt stelle. Die Wirklichkeit aber, statt in einer irgendwie ‚hinter‘ den Bildern des Geistes liegenden Substanz, nun im Bilden des Geistes selbst zu suchen, ist für ihn nicht akzeptabel. Denn wie kann er eine Wirklichkeit als ‚wahr‘ anerkennen, der gerade die grundlegendste Eigenschaft des Wirklichen - das heißt, eben das zu bezeichnen, was greifbar und zweifelsfrei vor aller Augen liegt - gänzlich fehlt? Die Konsequenz: Da der - nunmehr seiner Naivität beraubte - Objektivismus mit der Betrachtung des Geistes nicht weiterkommt, wendet er sich von ihm ab und sucht sein Heil jenseits seines Wirkens, da, wo die Realität vermeintlich ohne sein Dazwischentreten erfahrbar ist. Was mit einer Ablehnung der ‚falschen‘ Wirklichkeiten von Mythos, Kunst und Sprache begann, das wird im Zuge dessen auch noch auf die Ratio übertragen - der Duktus von Lugowskis Schlussbemerkungen ist hier unüberhörbar. Da als wirklich nur gelten könne, w a s u n m it t e lb a r e rle bt werde, sei im Besitz der Wirklichkeit nur, wer die Welt ‚schaut‘, ohne sie sie verstandesmäßig zu analysieren. 226 Auf diese Weise entzieht der Objektivismus nicht nur sich selbst der Forderung nach einer Begründung seines Wirklichkeitsbegriffs. Indem er dessen Wesen gerade darin sieht, nicht rational begründet werden zu können, delegitimiert er vielmehr auch alle Versuche, dies zu tun. Weil nämlich, so seine Ausflucht, die Unmittelbarkeit zur Welt mit jedem reflektierenden Zurücktreten zwangsläufig zerstört werde, könne das philosophische Befragen oder wissenschaftliche Untersuchen prinzipiell nicht zur ‚wahren‘ Erkenntnis der Wirklichkeit vordringen. Nicht man selbst sei deshalb auf dem Holzweg, sondern die Erkenntnistheorie, die dies nicht einsehen wolle: Während man selbst im Vertrauen auf die eigene Intuition der Wirklichkeit als solcher in ihrer Erscheinung objektiv teilhaftig werde, verharre diese im intellektualistischen Käfig ihrer geistigen Einbildung. Cassirer wäre wohl nicht der Erkenntnistheoretiker, der er ist, wenn er sich von dieser Invektive beirren ließe. Er vermerkt die Modifikation im Vorgehen des Objektivismus, betont jedoch, dass sie an seiner Kritik grundsätzlich nichts ändere. Am Schluss der Einleitung zum ersten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ erklärt er: „Die ‚subjektive Wendung‘, die sich in […] [der modernen Philosophie] vollzog, führte sie mehr und mehr dazu, die Gesamtheit ihrer Probleme statt in der Einheit des Seinsbegriffs im B e g r i f f d e s L e b e n s zu zentrieren.“ 227 Damit, so Cassirer weiter, zeige sie freilich keinen 226 Cassirer diskutiert diese Position 1923 / 2001, S. 46-49. Mit der Unmittelbarkeit und dem Leben nennt er dabei die zentralen Schlagworte der zeitgenössischen Lebensphilosophie: einer antirationalistischen Bewegung, die die Intuition als eine eigene, ganzheitliche Erkenntnismöglichkeit gegen die diskursiv ‚zergliedernde‘ Erkenntnis stellt (vgl. dazu Brachfeld 1980, Sp. 139 f.). Ihre beiden wichtigsten Vertreter, Bergson und Dilthey, finden sich in Lugowskis Literaturverzeichnis. Seine Nähe zum zeitgenössischen Vitalismus belegt auch Jesinghausen 1996, bes. S. 207-210. Den Kampf mehrerer lebensphilosophisch beeinflusster Strömungen gegen den „Relativismus“ der neukantianischen Erkenntnistheorie skizziert Oexle 2007, bes. S. 85-101. 227 Cassirer 1923 / 2001, S. 46. 72 Formaler Mythos - Kritik gangbaren Ausweg aus der erkenntnistheoretisch notwendigen Vervielfältigung der Wirklichkeit. Denn im Verzicht auf den geistig vermittelten Zugriff auf die Welt werde man keineswegs das reine, unmittelbare Leben, sondern nur die Dumpfheit des unverstandenen sinnlichen Eindrucks finden. Das Leben gewinne folglich erst dann seinen Gehalt, wenn es „aus der Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins heraus[tritt]“: Es bleibt ebensowenig ein Stück dieses Daseins, wie ein bloß biologischer Prozeß, sondern es wandelt und vollendet sich zur Form des ‚Geistes‘. Die Negation der symbolischen Formen würde daher in der Tat, statt den Gehalt des Lebens zu erfassen, vielmehr die geistige Form zerstören, an welche dieser Gehalt sich für uns notwendig gebunden erweist. 228 Weil also auch die Erfahrung des Lebens erst durch die Vermittlung des Geistes entsteht, gebe es schlechterdings keine unmittelbare Wirklichkeit. Es bleibe darum gar nichts anderes übrig, als einzusehen, dass nicht die symbolische Formung, sondern die Idee eines außergeistigen Erlebens der Wirklichkeit das eigentliche Trugbild des Denkens darstelle. 229 Cassirer formuliert daran anschließend ein weiteres Mal den Appell, die Fixierung auf dieses Trugbild zu lösen, indem man den Blick vom Wesen des Seins abkehrt und dafür das Wesen der Erkenntnis ins Auge fasst. Nur in dieser Weise sei das, was der Objektivismus als den Verlust der Wirklichkeit wahrnimmt, in den Gewinn derselben zu verwandeln und so die Chance zu ergreifen, den „Fluch der Mittelbarkeit“, der vermeintlich „[a]n allem Zeichen […] haftet, 230 als Segen zu verstehen; als Gabe, die die Dinge der Welt, anstatt sie zu verhüllen, überhaupt erst sichtbar werden lässt. Am Objektivismus geht dieser Aufruf naturgemäß vorbei. Er hatte ja schon zuvor den Boden der Vernunft verlassen und sich in die Sphären des Glaubens an die Unhinterfragbarkeit der eigenen Erfahrung erhoben. Dort findet er in der Modernekritik eine Gleichgesinnte, mit der er sich in der Zurückweisung von Cassirers Ansinnen verbünden kann. Spätestens jetzt werden seine Antworten ideologisch - und polemisch. 231 Ein epistemologischer Wirklichkeitsbegriff wie der Cassirers, so sein Vorwurf, sei nichts als eine vernünftlerische Zergliederung der Wirklichkeit und das Ergebnis eines realitätsfernen Glasperlenspiels. An ihm zeige sich, wo das ungebremste Fortschreiten der Vernunft enden müsse: in einem Relativismus, der alles in alles verwandeln könne und damit jede Gewissheit, jeden Glauben und jeden Wert unwiderruflich zerstöre. Die einzige Möglichkeit, seinem destruktiven Wirken zu entfliehen, sei die Rückkehr zu einer ganzheitlichen Auffassung der Welt und damit zu einer Wirklichkeit, deren Objektivität man nicht epistemologisch ergründen, sondern nur erleben könne - und die man gegen ihre Skeptiker dadurch zu verteidigen müssen glaubt, dass man diese pauschal als Positivisten, Atheisten oder Intellektuelle diffamiert bzw. gar zum Werkzeug einer feindlichen Weltmacht erklärt, die nichts weniger als die Zerstörung von Religion und Gesellschaft im Schilde führt. 232 228 Ebd., S. 49. Vgl. dazu auch Lugowskis Abwehr (1932 / 1994, S. 184). 229 Vgl. Cassirer 1923 / 2001, S. 46. 230 Cassirer 1925 / 2003, S. 232. 231 Ich greife hier einige Stichworte jener allgemeinen Kritik auf, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen verschiedene Vertreter der historischen Kulturwissenschaft richtete. Cassirer ist als einer von deren prominentesten Vertretern ganz besonders betroffen. Vgl. Oexle 2007, bes. S. 85-92. Zum engen Konnex zwischen Objektivismus und Modernekritik ebd., bes., S. 13-21 und 73-76. 232 Vgl. dazu auch den Überblick bei Oexle: ebd., S. 52-85. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 73 Dass der Dialog spätestens hier zum Schlagabtausch unversöhnlicher Feindschaft geworden ist, ist unschwer zu sehen. Wenn Lugowski den Schritt zur Polemik in der Dissertation nicht ebenfalls geht, so erscheint das deshalb zumindest bemerkenswert, wenn auch nicht unbedingt erstaunlich. Denn es ist ja nicht nur so, dass er sich als bekennender Anhänger des Vernunftprinzips den Argumenten der Erkenntnistheorie schlecht völlig entziehen kann, auch sein eigener Ansatz ist vielmehr zum guten Teil ein erkenntnistheoretischer. Betrachtet man ihn im Lichte dieser Einsicht, so werden viele seiner Merkwürdigkeiten um einiges verständlicher. 1.3.3.2 Lugowskis Rückzug Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund zweifellos zuerst stellt, lautet: Wenn Lugowski, was ja mehr als deutlich ist, an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis glaubt, warum lässt er sich dann überhaupt auf Cassirer ein? Warum übernimmt er dessen erkenntnistheoretischen Grundsatz, der ja mit der Darstellung der geistigen Geformtheit des mythischen Denkens untrennbar verbunden ist, anstatt ihn von vornherein zurückzuweisen? Der Grund dafür ist, wie schon angedeutet, in der Unbedarftheit des Doktoranden zu suchen -, und diese ist gleich in doppelter Hinsicht eklatant. Zum einen scheint Lugowski die Problematik der eigenen Wirklichkeitsauffassung zu Beginn seiner Arbeit ebenso wenig zu bemerken, wie er sie mit der zeitgenössischen Diskussion des Themas in Verbindung bringt. Er geht seinen Gegenstand also als ein naiver Objektivist an, der nicht auf die Idee kommt, dass die Wirklichkeit so, wie er sie in seiner Eigenschaft als aufgeklärter Mensch erfährt, vielleicht nicht die ‚wahre‘ sein könnte. Hinzu kommt zweitens, dass Lugowski die Argumentation eines der wichtigsten Gegner dieser Auffassung, nämlich Ernst Cassirers, gar nicht zur Kenntnis nimmt, weil er ihn, so zumindest der Eindruck, entweder nicht gelesen oder nicht verstanden hat. Dass sein ganzer Entwurf damit im Grunde auf einem Missverständnis beruht, ist gewiss ebenso kurios wie der Umstand, dass dies in der Forschung bisher nicht bemerkt wurde. Beides erklärt sich aber ohne weiteres daraus, dass Lugowski mit seinen philosophischen und literaturtheoretischen Ideenspendern generell sehr frei umgeht, was die Gedanken, denen er folgt, im Einzelnen (und zwar schon für ihn selbst) schwer nachvollziehbar macht. 233 Zu seiner Entschuldigung darf man vielleicht anführen, dass sich Cassirers Position für den punktuellen und flüchtigen Leser (als den man sich Lugowski sicher ebenfalls vorstellen muss) nicht besonders leicht erschließt. Sie tarnt sich, wie man aus seiner Sicht vielleicht sagen könnte, in einer Weise hinter vieldeutigen Formulierungen und einem überaus konzilianten Zitierstil, die geradezu dazu einlädt, sie falsch einzuordnen. 234 Und wenn man sie erst einmal falsch eingeordnet hat, so wäre zu ergänzen, breitet sie sich in einer Weise aus, die nicht mehr schadlos rückgängig gemacht werden kann. 233 Die Forschung hat sich bisher damit begnügt, die Parallelen zwischen seiner Arbeit und Cassirers Darstellung des mythischen Denkens allgemein zu vermerken. So bes. Schlaffer 1976 / 1994, S. XI- XIII, Martínez 1996a, S. 18 f. und 1996, S. 30-32, vgl. auch Detering 1996, S. 65, Haustein 1999, S. 555, Müller 1999, S. 149 und 2006, S. 33. Wie diese Parallelen zustande kommen und wo sie auf eine direkte Abhängigkeit hinweisen, hat bisher niemand erörtert - weshalb auch der Widerspruch zu Cassirers Philosophie noch nie aufgefallen ist. Nur Schlaffer bekundet in einer Fußnote, „nicht bestreiten“ zu wollen, „daß sich bestimmte Folgerungen für Lugowski aus dem einmal gefassten Ansatz [welchem? CK] ähnlich wie bei Cassirer, aber doch selbständig [inwiefern? CK] ergeben haben“ (1976 / 1994, S. XXII, in Anm. 13 zu S. XII). 234 Zu diesem Problem etwa Recki 2004, S. 41 f. 74 Formaler Mythos - Kritik Wie das genau vor sich geht, ist wohl am besten abzuschätzen, indem man zunächst einmal Lugowskis Bezug auf Cassirer genauer in den Blick nimmt. Seine Kenntnis der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ ist offenkundig eine sehr beschränkte. Mit einiger Sicherheit hat er wohl nur den zweiten, dem mythischen Denken gewidmeten Band gelesen. 235 Das entspricht auch dem Bild, das er in seiner Einleitung von Cassirers Philosophie entwirft - es handelt sich wohlgemerkt um das einzige Mal, dass er sich im Haupttext explizit auf diese bezieht. „Wenn man“, so bemerkt Lugowski hier, „mit Ernst Cassirer unter dem mythischen Zeitalter dasjenige des realen Einsseins von Einzelmensch und übergreifendem Verband, ja von Einzelmensch und der Welt des Lebendigen überhaupt versteht, so ist das Zeitalter der klassischen griechischen Tragödie wie ein Abglanz des mythischen“. 236 Von Cassirers Verständnis des Mythos aus gesehen wirkt es durchaus merkwürdig, dass sich Lugowski hier gerade auf ihn beruft. Denn dieser versteht das Zeitalter des Mythos ja in geschichtsphilosophischem Sinne als ein ursprüngliches und definitiv vergangenes, als ein Zeitalter, dessen Ganzheit durch das zersetzende Wirken der Ratio (weitgehend) zerstört und damit unwiderruflich verloren ist. 237 Cassirer dagegen betrachtet den Mythos vor allem als Denkform; die Frage nach dessen historisch-epochaler Verortung tritt demgegenüber zurück. 238 Zwar handelt er auf den von Lugowski zitierten Seiten tatsächlich von der mythischen Ungeschiedenheit zwischen dem „Menschen [und] der Gesamtheit des Lebendigen“; 239 und zwar bezeichnet auch er den Mythos immer wieder als ursprünglich: als die symbolische Form, die allen anderen, da sie ihnen zugrunde liegt, zwangsläufig auch zeitlich vorangeht. 240 Gleichwohl hat diese ursprüngliche Ganzheit bei ihm einen anderen Stellenwert, weil sie vornehmlich als systematische erscheint. 241 Der Mythos ist für ihn nur soweit das Fundament aller anderen Richtungen des Weltverstehens, als diese sich in verschiedenen Akten der Differenzierung aus ihm heraus entwickeln. 242 Weil sie so gleichsam bereits in ihm angelegt sind, spricht Cassirer zwar gelegentlich ebenfalls von der „Möglichkeit eines geistigen Befreiungsprozesses“. 243 Im Gegensatz zu Lugowski begreift er diesen 235 Als Indizien dafür nehme ich erstens, dass er ausschließlich auf diesen Band verweist: 1932 / 1994, S. 9, 197 (als Anm. 29 zu Kap. 2, S. 83) und S. 202 (als Anm. 24 zu Kap. 3, S. 157); und zweitens, dass er Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ im Literaturverzeichnis zwar insgesamt zitiert (ohne Spezifikation auf einen Band: ebd., S. 207), aber allein das Erscheinungsjahr des zweiten Bandes angibt. 236 Ebd., S. 9. 237 Vgl. ebd., bes. S. 9-13. 238 So kann man ihn zumindest deuten. De facto stellt die unklare Positionierung Cassirers in diesem Punkt eines der zentralen und in der Forschung immer wieder diskutierten Probleme seiner Philosophie dar. Da in diesem Zusammenhang betont wird, dass der Mythos bei Cassirer nicht verschwindet, sondern Teil und Option des Denkens bis in die jüngste Zeit hinein bleibt, denke ich gleichwohl, dies so formulieren zu können. Vgl. dazu bes. Recki 2004, S. 90-108. Im Zusammenhang von Lugowskis Cassirer-Rekurs kann es um solche Fragen aber ohnehin nicht gehen: Er ‚interpretiert‘ Cassirer gar nicht, sondern versteht ihn einfach falsch. 239 Cassirer 1925 / 2002, S. 209. Lugowski bezieht sich an dieser Stelle speziell auf die Seiten 220 und 240 (= 1925 / 2002 S. 208 f. und 228 f.). Dort werden die Spezifika des mythischen Bewusstseins in Bezug auf das ‚Selbst‘, die Gemeinschaft und die Klasse dargestellt, insbesondere das Phänomen, dass die mythische Weltauffassung nicht zwischen Menschen-, Tier- und Pflanzenwelt zu differenzieren weiß. 240 So etwa in der von Lugowski angeführten Passage: Cassirer 1925 / 2002, S. 209 f., 215 f. u. ö. Vgl. dazu v. a. auch Vorwort und Einleitung: ebd., S. XI-XIII, 1-4, 28 f. Besonders eingängig ist Cassirers Rede vom Mythos als dem „Mutterboden“ der symbolischen Formen (1925 / 2003, S. 266). 241 Pointiert in diesem Sinne: Schwemmer 1997, S. 40 f. 242 Vgl. etwa Cassirer 1925 / 2002, S. XI-XIV, 26-33, dazu Paetzold 1993 / 2003, S. 42-45. 243 Cassirer 1925 / 2002, S. 31. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 75 Prozess jedoch weder als notwendig noch als unumkehrbar. 244 Er nimmt nicht einmal an, dass der Mythos im Fortschritt der symbolischen Formen verschwindet. Dessen Eigenart besteht für ihn vielmehr gerade darin, dass er als Grundlage der ‚höheren‘ Formen bestehen bleibt und wieder aus ihnen hervorbrechen kann. 245 Wenn Lugowski seine geschichtsphilosophische Denkfigur mit dem Verweis auf Cassirer zu begründen sucht, dann versteht er dessen eigentliche Intention also ganz grundlegend falsch. Seine Fehldeutung ist jedoch insofern nachvollziehbar, als sie im zweiten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ zumindest nicht verhindert wird. Besonders in der Einleitung 246 zeichnet Cassirer den Mythos in der Tat als eine schlichte und einem überlegenen Geist als bloße Illusion erscheinende Denkform 247 - als eine Denkform, die historisch überholt und durch höher entwickelte Nachfolger abgelöst wird. 248 Hinzu kommt, dass er die im ersten Band noch dominierenden programmatischen Ausführungen zur symbolischen Geformtheit jeder Weltsicht hier in den Hintergrund treten lässt und stattdessen sehr dezidiert die Geformtheit des Mythos hervorhebt. 249 Zwar weist er dabei durchaus darauf hin, dass auch andere Erkenntnisweisen die Wirklichkeit formen und keineswegs die Dinge an sich erfassen. 250 Nichtsdestotrotz eröffnet er einem unbefangenen und etwas nachlässigen Leser durchaus die Möglichkeit, ihn etwa so zu verstehen: Die „philosophische[] Reflexion“ sieht sich im Mythos „nicht […] der unmittelbaren Erscheinungswirklichkeit selbst als vielmehr [einer] […] Umprägung dieser Wirklichkeit gegenübergestellt“. 251 Zu dieser Umprägung, die „als eine einheitliche Bewußtseinsform mit bestimmt ausgeprägten charakteristischen Zügen zu beschreiben“ ist, 252 setzt sie sich im Laufe ihrer Geschichte dadurch „in ein neues, freies Verhältnis […,] daß [sie diese], indem [sie] noch unmittelbar 244 Zu Cassirers ablehnender Haltung gegenüber allen teleologischen und deterministischen Modellen kultureller Entwicklung Müller 2010, S. 116-127. 245 Cassirer betont etwa, dass zwischen Mythos und theoretischer Erkenntnis weder ein „scharfer zeitlicher Einschnitt“ noch eine „wahrhaft scharfe Abgrenzung“ der Form besteht, und schließt: „nur durch die Analyse seiner geistigen Struktur läßt sich nach der einen Seite sein eigentümlicher Sinn, nach der anderen seine Grenze bestimmen“ (Cassirer 1925 / 2002, S. XIV, vgl. S 4, 17 u. ö., dazu Graeser 1994, S. 52 f.). Von der Umkehrung der symbolischen Ausdifferenzierung handelt Cassirers späteres Werk ‚The Myth of the State‘, das den Totalitarismus des dritten Reichs als eine Rückkehr zum Mythos deutet. Dazu Paetzold 1993 / 2003, S. 99-116, Recki 2004, S. 102-108. 246 Die Einleitung muss für Lugowskis allgemeines Verständnis von Cassirers Anliegen maßgeblich gewesen sein, weil nur sie den Mythos umfassender zu anderen Denkformen ins Verhältnis setzt (die folgenden Kapitel stellen v. a. seine innere Form dar) und dabei insbesondere auf seinen Realitätsbezug und -gehalt eingeht (bes. 1925 / 2002, S. 1-20). 247 Er bezeichnet ihn etwa als „eine Welt ‚bloßer Vorstellungen‘“, als „Traum- und Zauberwelt“ (ebd., S. 17), als „mythische[] […] Umprägung“ der „unmittelbaren Erscheinungswirklichkeit“ (ebd., S. 1) und als ein der „Dingwelt“ gegenüberstehendes Produkt des Geistes (ebd., S. 30 f.). 248 Cassirer verweist sogar darauf, dass „der Mythos zu der universellen Aufgabe der Phänomenologie des Geistes in einem innerlichen und notwendigen Verhältnis steht“ (ebd., S. XII, vgl. S. 33 f.). Um zu verstehen, auf welchen Aspekt der Phänomenologie er sich damit bezieht, muss man nicht nur das darauffolgende lange Hegel-Zitat erfassen, sondern auch zumindest ahnen, worum es ihm damit zu tun ist (nämlich nicht um geschichtsphilosophische Notwendigkeit, sondern das Prinzip intellektuellen Überwindung). Auch Schlaffer interpretiert Cassirer hier im Sinne Lugowskis so, dass er „den Geltungsbereich mythischer Strukturen auf eine archaische Vergangenheit ein[schränkt], deren tendenzielle Aufhebung trotz zähen Nachlebens den historischen Prozeß der intellektuellen Emanzipation bedeutet“ (1976 / 1994, S. XII). 249 Vgl. bes. Cassirer 1925 / 2002, S. 13 f., 16 f., 23-26, 30. 250 Vgl. etwa ebd., S. 1, 17 f., 30 f., 33. 251 Ebd., S. 1. 252 Ebd., S. 20. 76 Formaler Mythos - Kritik in [ihr] lebt und sie gebraucht, doch zugleich in einer anderen Weise als zuvor durchschaut und sich damit über sie erhebt.“ 253 Kurzum: wer nicht genau hinsieht, kann Cassirer hier durchaus so lesen, als müsse der Mensch die illusionäre, weil geformte Weltsicht des Mythos durch den Gebrauch seiner analytischen - und das heißt: formzersetzenden - Verstandeskraft erst nach und nach überwinden. Aus dieser Beobachtung resultiert die Vermutung, Lugowski habe sich durch Cassirers Darstellung des mythischen Denkens nicht nur irrtümlich in seiner geschichtsphilosophischen These bestätigt gesehen, sondern sei durch sie zudem erkenntnistheoretisch geradezu auf die falsche Spur gelockt worden. Sie malt dem philosophischen Dilettanten in den leuchtendsten Farben aus, wie die - ihm phantastisch-‚verkehrt‘ vorkommende - Welt des Mythos durch geistige Formung entsteht. 254 Sie scheint ihm dergestalt nahezulegen, die Wirklichkeit besitze nur rein und echt, wer darauf verzichte, sie formend zu gestalten, was natürlich ganz hervorragend zu seinem naiven Glauben an die Unmittelbarkeit und ‚Echtheit‘ der eigenen Alltagswahrnehmung passt. 255 Zudem dürfte Cassirers Gedanke, dass alle anderen symbolischen Formen aus dem Mythos entstehen, Lugowskis Vorstellung von der Geburt der Dichtung aus dem Mythos befördert haben; und dieser Gedanke könnte ihn durchaus auch auf die Idee gebracht haben, dass die Dichtung den Mythos speziell in ihrer Form bewahre. Denn immerhin wiederholt sie ja, wie Cassirer am Ende seiner Einleitung vermerkt, den „schöpferischen Prozess[] des Bildens“, der dem Mythos noch für die schlichte Wirklichkeit gilt, „als reine Schöpfung der ‚produktiven Einbildungskraft‘“ und unterscheidet sich dabei nur insofern von diesem, als sie sich ihres Schöpfens bewusst ist. 256 Man darf Lugowski demnach wohl mit einiger Sicherheit unterstellen, dass er seinen ‚formalen Mythos‘ aus Cassirers Begriff der symbolischen Form ableitet, ohne dessen Konzeption erfasst oder gar absichtlich modifiziert zu haben. Vermutlich hält er seinen Entwurf ganz einfach für eine literaturwissenschaftliche Anwendung von Cassirers Beschreibung des mythischen Denkens und des ästhetischen Schaffens. Wenn diese Annahme stimmt, dann stellt er die geformte Wirklichkeit des Mythos dem „schlicht Seienden“ nur darum gegenüber, weil er gar nicht auf die Idee kommt, dass Cassirer etwas anderes als eine ‚natürlich‘-ungeformte für das Gegenstück einer geformten, „künstlichen Wirklichkeit“ halten könnte. 257 Dementsprechend würde er anschließend die genuin mythische Wirklichkeit und ihr dichterisches Analogon als gleichermaßen ‚künstlich‘ miteinander identifizieren und so die Voraussetzung dafür schaffen, beide gemeinsam durch die Auflösung ihrer ‚Künstlichkeit‘ zu einer realistischen Sicht auf die Welt vordringen zu lassen. Lugowski hätte den zentralen Widerspruch seiner Arbeit also dadurch heraufbeschworen, dass er die erkenntnistheoretischen Implikationen von Cassirers Symboltheorie schlicht ignoriert. Das ganze Ausmaß seiner Blindheit zeigt sich vielleicht gerade daran, dass ihn zu Beginn seiner Überlegungen nicht einmal der eigene Hinweis auf die „lebendige Realität“ 253 Ebd., S. 31. 254 Und gerade dadurch zur (geglaubten) Realität wird. Ebd., bes. S. 5 f. 255 Deshalb muss Cassirers wiederholter Hinweis darauf, dass auch Philosophie, Kunst und Wissenschaft ihre Wirklichkeit formen (vgl. ebd., S. 17, 30 f.), Lugowski nicht weiter irritiert haben. Nicht dort sucht er ja die ‚wahre‘ Wirklichkeit, sondern in der Unmittelbarkeit der Erscheinungen, die der Mensch, wie er glaubt, nur dann sehen kann, wenn er auf die Instrumente von Philosophie, Mythos, Kunst und Wissenschaft verzichtet. 256 Ebd., S. 32. Dies trifft sich wiederum mit Schlaffers These von der Kunst als eines ungültigen, fiktionalisierten Mythos (1990 / 2005, 1996). 257 Lugowski 1932 / 1994, S. 10 f. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 77 der „künstlichen Formen“ in seiner Wirklichkeitsgewissheit beeinträchtigt. 258 Lebendig, so meint er wohl hier, erscheine diese Realität eben nur dem, der ihre Scheinhaftigkeit nicht erkennt. 259 Dass es so einfach nicht ist, bemerkt er erst später - und zeigt sich verwirrt. Aufschlussreich ist diesbezüglich vor allem eine Passage des zweiten Kapitels, in der ihm plötzlich die Problematik seines Begriffs der ‚Künstlichkeit‘ aufgeht: 260 Man kann es nun sonderbar finden, wenn das mythische Analogon, das im ‚Galmy‘ festgestellt wurde, als Künstlichkeit bezeichnet wird. Dem, was hier Künstlichkeit genannt ist, müßte, so meint man mit Recht, doch etwas Nichtkünstliches, etwa ‚Natürlichkeit‘ gegenüberzustellen sein, gleichsam eine ‚wahre Wirklichkeit‘. Wo ist das aber zu finden? 261 Und was, so ist man als Leser geneigt, die Fragen fortzusetzen, kann jemand, der noch wenige Seiten zuvor einer scheinhaften, ‚künstlichen Wirklichkeit‘ das ‚schlicht Seiende‘ gegenübergestellt hatte, 262 plötzlich gegen eine natürliche, ‚wahre Wirklichkeit‘ einzuwenden haben? Die Antwort folgt auf dem Fuß: Man könnte nun zunächst meinen, die Welt, wie sie im mythischen Analogon des ‚Galmy‘ aufgefasst wird, sei nicht künstlich, sondern durchaus wahre Wirklichkeit, sie dürfe sich mit demselben Rechte so nennen wie die einer moderneren Auffassung, die in stärkerem Maße vom Einzelnen als vom Ganzen ausgeht. 263 Das Problem ist offenbar die Relativierung der Wahrheit, die Cassirer, wie im letzten Abschnitt dargelegt, bereits als notwendige Folge des naiven Objektivismus aufgezeigt hatte. Für Lugowski ergibt es sich aus dem Wechsel von seiner eigenen Sicht auf die Wirklichkeit hin zu der von Georg Wickrams Roman ‚Galmy‘. Wenn sich nämlich diese aus ihrer eigenen Auffassung heraus mit demselben Recht als ‚wahr‘ bezeichnen darf, ist dann seine eigene überhaupt noch wahr? Ist sie vielleicht wahrer, oder ist sie aus der Sicht der ‚Galmy‘-Wirklichkeit nicht vielmehr ebenso ‚künstlich‘ wie diese für sie? Es scheint, als habe Lugowski das Kaleidoskop der Wahrnehmungsmöglichkeiten ein wenig gewendet und sehe die (das heißt seine) Wirklichkeit nun in einem bunten Gewirr möglicher und aus ihrem jeweiligen Anspruch heraus gleichermaßen ‚wahrer‘ Wirklichkeiten zerflattern. Ob dieses Eindrucks erschreckt, zieht er den schnellen Schluss: bloß nicht bewegen! Wenn diese Koordinierung [der verschiedenen Wahrheiten, CK ] hier abgelehnt wird, so steht dahinter der Zweifel daran, daß sie sich in der Praxis des Historikers wirklich durchführen läßt, daß sie mehr ist als ein frommer Selbstbetrug dieses Historikers, d e r s ic h n i e m a l s ü b e r ‚ s e i n e‘ Wi rk l ic h k e it e rh e b e n k a n n , s on d e r n i m m e r von i h r a u s ge h e n mu ß , d e r e r a l s M a ßs t a b f ü r a l l e s a n d e r e n i e m a l s e nt r a t e n k a n n , ob er sich dessen bewußt ist oder nicht. Wenn wir nun, indem wir nach dem Werden des Einzelmenschen fragen, von jener moderneren 258 Ebd., S. 11. 259 Weil ihm der reflexive Abstand fehlt: „Sie sind für den Menschen, dem sie sprechend sind, gar keine Künstlichkeiten: er begibt sich im Anschauen einer Dichtung ohne Besinnen und ohne Reflexion in deren Welt“ (ebd.). 260 Ebd., S. 83 f. Dass er unmittelbar zuvor zum zweiten Mal auf Cassirer verweist (ebd., S. 197, in Anm. 29 zu S. 83), ist interessant - aber, da er ihn wieder nur für den Aufbau der mythischen Welt in Anspruch nimmt, wohl wenig aussagekräftig. Wahrscheinlich entstehen seine Zweifel unabhängig von Cassirers Philosophie. Zu dieser Stelle auch Müller 1999, S. 159 f. 261 Lugowski 1932 / 1994, S. 84. 262 Ebd., S. 10 f. 263 Ebd., S. 84. 78 Formaler Mythos - Kritik Auffassung ausgehen, für die das Einzelne vor dem Ganzen weithin den Vorrang hat, so ist von dem Problem des Einzelmenschen aus die Welt, die sich im mythischen Analogon des ‚Galmy‘ zeigte, durchaus künstlich. 264 Lugowski begegnet dem Verlust der Wirklichkeit mithin in bewährter Weise: dadurch, dass er sich auf seine eigene, subjektive Wirklichkeitserfahrung besinnt und diese für nicht hintergehbar (zum „Maßstab für alles andere“) erklärt - sie also, wie eben dargestellt, von der ‚Ansicht‘ zur ‚Überzeugung‘ erhebt. Wie weit er davon entfernt ist, auf diese Weise die ‚schlicht seiende‘ Wirklichkeit zu retten, scheint ihm durchaus bewusst zu sein. Denn er versucht gar nicht erst, seine Wirklichkeit als ‚schlicht seiend‘ zu begründen, sondern begnügt sich mit dem Argument des methodischen Zwangs. Die Hilflosigkeit der Operation ist offensichtlich. Lugowski verteidigt den naiven Glauben an die Wahrheit seiner eigenen Wirklichkeitsauffassung, indem er sich der Einsicht in deren Relativität verweigert. Und er legitimiert diese Verweigerung, indem er ihr die Würde historischer Heuristik verleiht. Dies alles tut er, wie er am Ende konzediert, einzig und allein, um seinen Zweck, das „Werden des Einzelmenschen“ darzustellen, nicht in Gefahr zu bringen. So schlingt er das Bedingungsverhältnis zwischen Methode und Ergebnis zu einem kreisschlüssigen Knoten: Die Künstlichkeit der mythischen Weltsicht wird durch ein Argument begründet, das diese Künstlichkeit bereits voraussetzt. Den unvermeidlichen Einspruch gegen diese augenfällig schwache Konstruktion weiß er nur durch eine vorgeschobene Bescheidenheitsgeste beiseite zu wischen: Es wird hier weder Erkenntnistheorie noch Metaphysik getrieben. Jene Frage interessiert uns in einem ganz anderen Sinn: es handelt sich um dichterisches und nicht um erkennendes Verhältnis zur Welt, das darf nicht vergessen werden. 265 Weil er sich, so will er hier wohl sagen, ‚nur‘ mit Dichtung befasst, hat er es nicht nötig, sich mit den Anfechtungen einer Erkenntnistheorie auseinanderzusetzen, die seinen Begriff der Künstlichkeit (und damit den der Wirklichkeit) in Zweifel zieht. Und aus demselben Grund muss er, so scheint er anzudeuten, diesen Begriff auch nicht mit irgendeiner höheren, die Einsichten der Erkenntnistheorie außer Kraft setzenden - und in diesem Sinne metaphysischen - Notwendigkeit rechtfertigen. Das heißt mit anderen Worten: Er versucht, die Diskussion um die ‚Wahrheit‘ der Wirklichkeit abzuwehren, indem er behauptet, dass sie mit dem gänzlich ‚unwirklichen‘ Gegenstand seiner Arbeit nichts zu tun hätte. Diese Behauptung widerspricht seinem erkenntnistheoretischen Vorhaben in so eklatanter Weise, dass es kaum der Erläuterung bedarf. Wenn nämlich, so möchte man fragen, das dichterische Verhältnis zur Welt nicht auch ein irgendwie erkennendes ist, wie kann es dann einer Weltauffassung entsprechen? 266 Ja, wie kann Dichtung eigentlich überhaupt in ein Verhältnis zur Welt treten, das nicht in irgendeiner Weise auch ein erkennendes wäre? Definiert sich ihr Verhältnis zur Welt nicht gerade dadurch, dass sie diese in spezifischer Weise darstellt, sie also durch ihre Formung als eine bestimmte erkennt bzw. zu erkennen gibt? Welchen Sinn könnte es unter dieser Voraussetzung haben, die ‚künstliche Wirklichkeit‘ der Dichtung, wie es Lugowski tut, nur als ‚künstliche Form‘, nicht 264 Ebd., Hervorhebung von mir, CK. 265 Ebd. 266 So etwa ebd., S. 27, 36 f., 101 f., 114 f., 126 f. Lugowskis Kampf um die Wirklichkeit 79 jedoch als ‚geformte Wirklichkeit‘ zu beschreiben? 267 Oder, etwas zugespitzter gefragt, mit welchem Recht kann Lugowski die Form der Dichtung als ein mythisches Analogon bezeichnen, wenn er sie allein als die Form der Dic ht u n g und ausdrücklich nicht als die Form eines (mythisch) erkennenden Verhältnisses zur Welt versteht? Spätestens hier sollte deutlich werden, dass es nicht mehr nur darum geht, ob die Dichtung „Folgerungen für irgendeine […] re a l ge le bt e ‚Weltanschauung‘“ zulasse. 268 Es geht vielmehr darum, dass es schlicht unmöglich ist, die Frage nach dem erkennenden Verhältnis der Dichtung zur Welt aus einer Untersuchung auszuschließen, deren erste und wichtigste Prämisse der Wirklichkeitscharakter von Dichtung ist und deren Anliegen darin besteht, diesen Wirklichkeitscharakter zu beschreiben. Dies muss auch Lugowski aufgefallen sein; zumindest immer da, wo er dichterisch-kompositorische Phänomene auf eine „wirklich gelebte[] Weltanschauung“ bezieht. 269 Er wird daher wohl im weiteren Verlauf seiner Arbeit eingesehen haben, dass ihm nichts anderes übrigbleibt, als seine Wirklichkeitsauffassung nicht nur als schwankendes methodisches Hilfskonstrukt, sondern ‚ordentlich‘ - das heißt in seinen Worten: erkenntnistheoretisch oder metaphysisch - zu begründen. Beides ist ihm jedoch aus der Konzeption seiner Arbeit heraus unmöglich. Denn ihr zufolge müsste er entweder vom Standpunkt der Erkenntnistheorie aus seine Vorstellung einer ‚wahren‘ Wirklichkeit aufgeben oder im Versuch einer ‚metaphysischen‘ Verteidigung derselben seine erkenntnistheoretische Methode entwerten. Beide Optionen kämen einem offenen Eingeständnis des eigenen Scheiterns gleich. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung erscheint der letzte Abschnitt von Lugowskis Schlusskapitel geradezu ein Meisterstück argumentativer Camouflage. Seinen Weg ins erkenntnistheoretische Paradox habe ich bereits in Kapitel I.1.2.3 dargestellt - ich begnüge mich darum hier damit, die Grundlinien nochmals zu umreißen. Der Abschnitt beginnt mit der captatio benevolentiae des philosophischen Laien. Lugowski betont, die Problematik seines Ansatzes „nur andeutend“ auflösen zu können und insistiert ein zweites Mal darauf, sich „weder mit Erkenntnistheorie noch mit Metaphysik“ beschäftigen zu wollen. 270 Was er im Folgenden unternimmt, ist gleichwohl nichts weniger als ein Versuch, die Erkenntnistheorie ins Metaphysische zu transzendieren. Denn zwar ist, so behauptet er, das ‚Fürsichseiende‘ - also das objektive Sein - „kein durch Erkenntnis zugänglicher Gegenstand“, doch könne der Mensch es gleichwohl in seinem „Dasein […] anerkenn[en]“: indem er nämlich darauf verzichte, es denkend zu bewältigen und es stattdessen als eine Wirklichkeit akzeptiere (d. h. erkenne), „die er nicht d e n k t oder e r k e n n t , sondern in der er l e b t . “ 271 Der Mensch gelangt also nicht nur dadurch zur Erkenntnis des nicht Erkennbaren, dass er alle Erkenntnis aufgibt; er ‚besitzt‘ die Wirklichkeit auch erst, wenn er darauf verzichtet, sie sich anzueignen. Und er gewinnt schließlich allein dadurch, dass er zum absolut Ver- 267 Ebd., S. 11. Die ‚künstlichen Formen‘ seien, so sagt Lugowski im selben Atemzug, ‚gelebte Realität‘. Es fällt auf, dass er später nur noch von ‚gelebter Weltanschauung‘ spricht (ebd., S. 65, 115 u. ö.): Offenbar sucht er dort der Assoziation von Form und Wirklichkeit zu entgehen. 268 Ebd., S. 65, Hervorhebung von mir, CK. 269 Diese Formulierung ebd., S. 115. Besonders dringlich stellt sich die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug der (dichterischen) Darstellungsform natürlich in Lugowskis Kapitel zur Autobiographie (ebd., S. 142), wo er Text und Weltsicht unmittelbar ineins setzt (vgl. bes. ebd., S. 145, 149, 159, 170 ff.) Geht es hier etwa auch noch um die Darstellung eines dichterischen - und nicht erkennenden - Verhältnisses zur Welt? 270 Ebd., S. 183. 271 Ebd. 80 Formaler Mythos - Kritik einzelten - zum ‚Fürsichseienden‘ in einer Welt des ‚Fürsichseins‘ - wird, die Möglichkeit, unmittelbar zur Welt zu sein und darin mit ihr eins zu werden. Diese Ansammlung von Paradoxa erinnert vielleicht nicht zufällig an bestimmte Argumentationsweisen der Mystik. 272 Die Überzeugung, die Wirklichkeit rein und unmittelbar erleben zu können, so scheint Lugowski hier anzudeuten, steht nicht einfach im Widerspruch zu seinem erkenntnistheoretischen Ansatz. Vielmehr, so seine Suggestion, ergibt sie sich geradezu aus ihm: Man muss nur bereit sein, ihn „weitherzig genug“ aufzufassen 273 und das Erkennen des objektiven Seins als eine Art Mysterium zu akzeptieren. Weil dieses Mysterium dem Verstand wie alle Mysterien unzugänglich ist, kann der (Literatur-)Wissenschaftler es freilich nur bedingt erklären. Daher bleibt ihm nichts anderes, als im credo quia absurdum des (quasi-)religiösen Bekenntnisses zu verstummen. Das tut Lugowski am Ende seines Buches, und er eröffnet der Gemeinde der Objektivisten damit die Möglichkeit, an die metaphysische Wahrheit ihrer Wirklichkeit zu glauben, ohne darum die Erkenntnistheorie schon generell für ungültig erklären zu müssen. Es mag sein, dass diese Deutung dem Autor des Schlusskapitels insofern zu viel Ehre erweist, als sie annimmt, er habe das Problem seiner Untersuchung endlich eingesehen und rede nun trickreich dagegen an. Gerade dadurch, dass sie wohl etwas zu hoch greift, streicht sie jedoch die Tendenz seiner Ausführungen umso plastischer heraus. Denn indem sie expliziert, wie Lugowski seinen Widerstand gegen den Verlust der ‚wahren‘ Wirklichkeit hätte begründen müssen, macht sie deutlich, dass er den Boden der rationalen Argumentation spätestens an dieser Stelle verlässt und sich in die Reihen derjenigen zurückzieht, die sich der irrationalen Anbetung der Unmittelbarkeit und des reinen Erlebens verschrieben haben. Das ist folgerichtig der Endpunkt einer Entwicklung, in der Lugowski sich immer stärker gegen seinen gedanklichen Ausgangspunkt richtet. Diese Entwicklung lässt auch verständlich werden, warum er die anfänglich umrissene Konzeption einer erkenntnistheoretischen Dichtungstheorie im Hauptteil seiner Arbeit eher versteckt als ausarbeitet. Weil sie die Wahrheit seiner Wirklichkeit in Frage stellt, verzichtet er nicht nur darauf, sie als Grundlage seiner Textanalysen auszuweisen, sondern auch darauf, sie explizit in seine Argumentation einzubeziehen. Dass Lugowskis Untersuchung ausschließlich der Dichtung gilt, dass er die Formgleichheit von Dichtung und Mythos stets nur behauptet, dass er nirgends erörtert, worin sie besteht, wie sie zustande kommt oder wie sie im Vergleich zu anderen Formen der Erkenntnis beschrieben werden kann - all das erweist sich damit als Folge seines Kampfes um die Wirklichkeit. Für ihn ist er bereit, das eigene Vorhaben so weit zurückzunehmen, dass es keine stichhaltigen Ergebnisse mehr hervorbringen kann. Darum setzt er die Dichtung in einer Weise zur Wirklichkeit ins Verhältnis, die er nicht adäquat begründen kann. Denn woher sollte eine Untersuchung des formalen Mythos Sinn und Gehalt beziehen, wenn nicht durch den Rekurs auf die Form des realen Mythos? 272 Das mystische Moment von Lugowskis Anliegen betont auch Jesinghausen - er bezieht sich darin allerdings nur auf die Idee eines unmittelbaren Erlebens der Wirklichkeit (1996, bes. S. 185-189). 273 „Faßt man das Wort Weltanschauung weitherzig genug, so kann man sagen, daß sie [die nicht-bewältigende Welthaltung, CK] eine der vielen Weltanschauungen ist, die jeder Mensch lebt“ (ebd., S. 184). Fazit 81 1.4 Fazit Dass meine Kritik von Lugowskis Entwurf nicht viel übriglassen würde, hatte ich in meiner Einleitung bereits angekündigt. Jetzt ist deutlich geworden, was in der Tat alles n ic ht übrig bleibt und warum es so wenig ist. Alles hängt demnach mit dem Wirklichkeitsverständnis zusammen, das Lugowski aus einer falschen Auslegung von Cassirers Darstellung der geformten - und das heißt für Lugowski: sinnvoll geformten - Weltsicht des Mythos entwickelt und das besagt, dass ‚wahr‘ nur die Wirklichkeit sein könne, die nicht geformt - also für ihn: sinnfrei - ist. Auf dieser Prämisse ruhend gestaltet sich Lugowskis Modell in beiden der für ihn maßgeblichen Thesen gleichermaßen verquer. Seine Annahme der historischen Entwicklung einer geformten zu einer ungeformten Weltanschauung erweist sich von hier aus gesehen weniger wegen ihres geschichtsphilosophischen Notwendigkeitspostulats oder ihrer modernekritischen Ganzheitsemphase als abwegig - beide sind zwar aus heutiger Sicht obsolet, begründen sich aber aus dem Kontext der Zeit -; sondern vielmehr wegen des rational-irrationalen und subjektiv-objektiven Wirklichkeitsbegriffs, der sich damit verbindet. Dass der Sinn der Weltgeschichte darin bestehen sollte, den Menschen zum anerkennenden Erleben einer sinnentleerten Wirklichkeit zu führen, dürfte auch für Lugowskis Zeitgenossen (und zwar für die aufklärerisch gesinnten genauso wie für die modernekritischen) eine zumindest gewöhnungsbedürftige Vorstellung gewesen sein. Ähnliches gilt für Lugowskis Behauptung der analogen Geformtheit von Dichtung und Mythos, mit dem Unterschied, dass die Absage hier fast noch grundsätzlicher zu formulieren ist. Weil die Prämisse des Gegensatzes von geformter und ungeformter Wirklichkeit zu konzeptuellen Problemen führt, die im Verlauf seiner Arbeit immer manifester werden, gerät seine Darstellung in diesem Punkt so vage, dass man am Ende überhaupt nicht mehr weiß, worin die Analogie zwischen Mythos und Dichtung eigentlich bestehen soll. Das gilt erst recht, wenn man hinzunimmt, dass der Mensch, wie Cassirer betont, seine Welt überhaupt nur dadurch erfahren kann, dass er sie geistig formt. Denn nun begründet der Umstand, d a s s Dichtung und Mythos geformt sind, schlicht gar keine weitergehende Gemeinsamkeit mehr. Was sie im weiten Feld der symbolischen Formen in besonderer Weise miteinander verbinden soll, ist völlig unklar. Als Ergebnis ist folglich zu formulieren, dass mit Lugowskis Modell, so wie es von ihm selbst ausgeführt worden ist, im Zusammenhang einer modernen Literaturwissenschaft so gut wie gar nichts anzufangen ist. Es kann weder irgendeine Art von literaturgeschichtlicher Entwicklung begründen - von einer ‚Zersetzung‘ ganz zu schweigen -, noch ist es dazu geeignet, das Verhältnis der Dichtung zum Mythos zu beschreiben. Daraus folgt zwar nicht, dass Lugowski nicht doch irgendetwas Zutreffendes darstellt. Wenn dem so ist, dann gilt das allerdings zunächst einmal nur aufgrund der simplen Beobachtung, dass die Weltdarstellung der Dichtung zum einen immer in irgendeiner Weise mit der Weltsicht ihrer Produzenten und Rezipienten zusammenhängt und dass sie zum anderen - wie die Welt des Mythos - immer in irgendeiner Weise von einer (sinnhaft) formenden Instanz bestimmt ist. Ob Lugowski in seinen Textanalysen nicht vielleicht noch etwas gezeigt hat, das darüber hinausgeht, ob er das Phänomen dichterischer Sinngebung nicht allgemein oder für einen bestimmten Typ von Dichtung doch genauer zu beschreiben erlaubt, als das mit anderen Modellen möglich ist, und ob der Blick auf den Mythos nicht tatsächlich zu einem besseren Verständnis der sinnhaften Geformtheit von Dichtung beitragen könnte, - all dies darf man 82 Formaler Mythos - Kritik sich hieran anschließend natürlich fragen. Beantworten kann man diese Fragen aber nicht, zumindest nicht auf der Grundlage Lugowskis. Mein Vorhaben, die Form-Sinn-Beziehungen mittelalterlicher Erzähltexte ganzheitlich zu erfassen, setzt hier an. Dabei übernehme ich von Lugowski zunächst einmal nur die Anregung, das Problem von einem Vergleich mit dem Mythos her in den Blick zu nehmen, sowie natürlich die Idee, das im Rückgriff auf Cassirer zu tun. Die Fragen, die ich diesem Zusammenhang zunächst beantworten möchte, lauten entsprechend, wie Dichtung und Mythos im System der symbolischen Formen zueinander stehen, ob sich aus der Art und Weise, in der sie ihre Welten aufbauen, irgendwelche besonderen Parallelen ergeben und wenn ja, welche Schlussfolgerungen daraus für die Erfassung dessen zu ziehen sind, was man gemeinhin den Sinn einer Dichtung nennt. Erst danach kehre ich noch einmal zu Lugowski zurück, um eine Aussage darüber zu treffen, worauf das Phänomen, das er als den formalen Mythos vormoderner Dichtung anspricht, in seiner historischen und systematischen Valenz vermutlich tatsächlich zu beziehen ist. Und erst im Anschluss daran möchte ich endlich versuchen, ein Verfahren zu entwickeln, das es erlaubt, dieses Phänomen systematisch zu beschreiben. Fazit 83 2 Vom Mythos zur Kunst: Revision Das Verhältnis von Mythos und Dichtung - bzw. allgemeiner: von Mythos und Kunst - ist, das sei gleich vorab gesagt, auch vor dem Hintergrund von Ernst Cassirers Symbolphilosophie nicht ganz leicht zu bestimmen. Denn zwar ist die Entwicklung „eine[r] Art Grammatik der symbolischen Funktion“ Cassirers erklärtes Ziel. Erreicht hat er dieses Ziel, das er im ersten Band seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ konjunktivisch so formuliert - Gelänge es, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Richtungen [des Weltgestaltens, CK] zu gewinnen - gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal einer ‚allgemeinen Charakteristik‘ […] für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt. 1 - jedoch nur bedingt. Gründe dafür sind eine ganze Reihe anzuführen. So kann man etwa darauf hinweisen, dass eine detaillierte, vergleichende Beschreibung aller symbolischen Formen schon aufgrund von deren - von Cassirer nicht abschließend benannter - Vielzahl ein schier unübersehbares Unterfangen gewesen wäre. 2 Zu ergänzen ist, dass sich eine solche Beschreibung wegen der Übergänge und Überschneidungsphänomene zwischen einzelnen symbolischen Formen schwierig gestaltet hätte. 3 Und man mag hinzufügen, dass diese Beschreibung in Form einer regelrechten ‚Grammatik‘ im Grunde auch gar nicht Cassirers zentrales Anliegen war. Ihm geht es eher darum, das Prinzip der symbolischen Formung als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erfahrung zu begründen, als darum, die einzelnen Optionen dieser Formung in ihren Regularien durchzudeklinieren. Für die symbolische Form der Kunst kommen zumindest zwei Faktoren erschwerend hinzu. Dass sie gemessen an ihrer Bedeutung für das System der symbolischen Formen - sie zählt gemeinsam mit dem Mythos, der Sprache und der Wissenschaft zu den vier Grundformen der Symbolisierung - in Cassirers Darstellung unterbelichtet bleibt, hängt zum einen ganz wesentlich damit zusammen, dass der ihr gewidmete Band im Rahmen des Hauptwerks nicht mehr zustande gekommen ist. 4 Wer sich mit Cassirers Kunsttheorie befasst, ist darum 1 Cassirer 1923 / 2001, S. 16 f. In demselben Sinn spricht er auch von der Notwendigkeit, „die verschiedenen methodischen Richtungen des Wissens bei all ihrer anerkannten Eigenart und Selbständigkeit in einem Sy s t e m zu begreifen, dessen einzelne Glieder, gerade in ihrer notwendigen Verschiedenheit, sich gegenseitig bedingen und fordern“ (1923 / 2001, S. 5). Zur Notwendigkeit des Vergleichs der symbolischen Formen auch Cassirer 1923 / 2003, S. 91 ff. und 1925 / 2002, S. 26-33. 2 Zur Frage der (möglichen) Anzahl der symbolischen Formen etwa Graeser 1994, S. 40, 51 f. und Recki 2004, S. 37 f. 3 Zur Problematik der Abgrenzung Recki 2004, S. 96 f., 110 f. u. ö., vgl. auch Graeser 1994, S. 42-54 und Müller 2010, S. 112-115. Dass ein direkter Vergleich im komplexen System der symbolischen Formen letztlich gar nicht möglich ist, betont Schwemmer 1997, S. 59 f. 4 Dass dieser Band geplant war, belegt ein Brief Cassirers vom 13. Mai 1945 an Paul Arthur Schilp. Dort schreibt er (ich zitiere nach Lauschke 2007, S. 4): „Schon im ersten Entwurf der Phil. d. s. F. war ein besonderer Band über Kunst vorgesehen - die Ungunst der Zeiten hat aber seine Ausarbeitung immer wieder hinausgeschoben.“ Vgl. dazu auch Graeser 1994, S. 86 und Paetzold 1993 / 2002, S. 89. 84 Formaler Mythos - Revision neben einigen verstreuten Bemerkungen in den früheren Schriften zur Symbolphilosophie 5 auf das IX . Kapitel des 1944 entstandenen ‚Essay on Man‘ (‚Versuch über den Menschen‘) angewiesen. 6 Dieses vermag die Lücke jedoch schon allein deshalb, weil es nicht mehr in den systematischen Zusammenhang der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ gehört, nicht gänzlich zu schließen. 7 Der Eindruck der Brüchigkeit und Unabgeschlossenheit tritt dabei nur umso stärker hervor, als die Darstellung des ‚Versuchs über den Menschen‘ ein Missverständnis, das bei der Lektüre von Cassirers früheren Äußerungen zumindest naheliegt, stillschweigend übergeht, ohne es zu dementieren. Dieses Missverständnis, das das zweite und vielleicht schwerwiegendere Problem von Cassirers Kunsttheorie darstellt, besteht in der Idee, dass Cassirer die Kunst letztlich in ähnlicher Weise wie Lugowski - und im Anschluss daran Schlaffer - als eine Art unwirklichen Mythos begreifen würde. Unverkennbar darauf hin deuten einige Äußerungen, in denen er diese als „mit der mythischen Weltansicht noch aufs engste verwachsen“ 8 bezeichnet, als eine symbolische Form, die den Mythos, indem sie seine „ursprüngliche Bildkraft bewahrt […] [und] erneuert“, 9 als eine „Welt des ‚Scheins‘“ wiedererstehen lasse. 10 Zwar fügt Cassirer an diesen Stellen stets hinzu, dass sie „bei aller wechselseitigen Durchdringung der I n h a lt e“ in der „ For m“ gleichwohl vom Mythos „klar geschieden“ bleibe. 11 Worin diese vom Mythos unterschiedene Form genau bestehen soll, macht er allerdings bestenfalls ansatzweise deutlich, was unweigerlich den Verdacht nährt, dass er die Kunst eben doch nicht als eine e ige n s t ä nd ige symbolische Form begreifen würde. 12 Eine solche Deutung ist zwar insofern auszuschließen, als sie dem Ansatz und der Intention von Cassirers Kulturphilosophie diametral entgegensteht. Sie in plausibler Weise zu ersetzen, wird aber dadurch nicht einfacher. Ich begegne dieser Herausforderung, indem ich mich Cassirers Verständnis der Beziehung zwischen Mythos und Kunst schrittweise annähre. Zu diesem Zweck sei das System der symbolischen Formen zunächst allgemein ins Auge gefasst und in der Vorstellung seiner Entfaltung geschildert. Die daraus resultierende Einsicht in die Prinzipien, die Kunst und Mythos gemeinsam auszeichnen, mündet in die Frage, wie sich die Idee ihrer ‚Verwandtschaft‘ mit der Eigenständigkeit ihrer symbolischen Formung vereinbaren lässt und welche Rolle in diesem Zusammenhang ganz speziell die Verknüpfung von Form und Sinn spielt. 5 Ich verweise hier nur auf die einschlägigsten Arbeiten: Cassirer 1922 / 2003, 1923 / 2003, 1924 / 2003, 1925 / 2003 und 1931 / 2004. Überblicke über weitere Schriften zu verschiedenen Aspekten der Ästhetik finden sich bei Paetzold 1993 / 2002, S. 89 f. und Lauschke 2007, S. 5-10. 6 Hier zitiert in der (von Reinhard Kaiser übersetzten) Ausgabe Cassirer 1990 / 1992. 7 Die Forschung benennt das Fehlen einer systematischen Abhandlung über die symbolische Form der Kunst und die Verstreutheit der sonstigen Bemerkungen einhellig als das grundlegende Problem von Cassirers Kunsttheorie. Meine Überlegungen zu diesem Thema beziehen sich insbesondere auf folgende Arbeiten und Überblicke: Gilbert 1949, Paetzold 1993 / 2002, S. 89-97, Graeser 1994, S. 86-99, Küker 2002, Rudolph 2003, S. 214-218, Recki 2004, S. 109-125, Lauschke 2007, Müller 2010. Vgl. dazu auch Horn 1995 und Naumann 1998. 8 Cassirer 1923 / 2003, S. 93. 9 Cassirer 1925 / 2003, S. 311. 10 Cassirer 1923 / 2003, S. 94. 11 Ebd., Ähnlich Cassirer 1925 / 2003, S. 311. 12 Die Frage nach der Kunst als symbolischer Form wird dementsprechend auch in der Forschung immer wieder geäußert. Vgl. bes. Graeser 1994, S. 86-89, Küker 2002, S. 75-85, Lauschke 2007, bes. S. 131-133, S. 182-191, 201-207. Das Verhältnis der Kunst zum Mythos wird diesem Kontext von Küker 2002, S. 86 problematisiert. Einige Anmerkungen zum Thema finden sich auch bei Gilbert 1949 und Lauschke 2007, bes. S. 291-306. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 85 2.1 Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 2.1.1 Mythos und Kunst im System der symbolischen Formen 13 Die Konzeption von Cassirers Symbolphilosophie ruht im Wesentlichen auf zwei Grundgedanken. Der erste richtet sich auf das poietische Prinzip der menschlichen Welterfahrung; den Umstand also, dass wir die Welt, wenn wir sie wahrnehmen, immer schon geistig organisieren und damit aktiv gestalten. In der Einleitung zum ersten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ äußert Cassirer in diesem Sinne: Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte ‚Bedeutung‘, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Der zweite Grundgedanke ist in dieser Formulierung insofern schon enthalten, als Cassirer von vornherein mit einer ganzen Reihe von ‚geistigen Grundfunktionen‘ rechnet. Diese verbindet, dass sie die Welt gestalten; und sie trennt, dass sie dies in je verschiedener und eigenständiger Weise tun: Dies [d. i. das poietische Prinzip, CK ] gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des ‚Wirklichen‘. 14 Unter dieser Prämisse ist mithin anzunehmen, dass auch Mythos und (Dicht-)Kunst 15 nicht ineinander aufgehen; dass sie vielmehr eine je eigene ‚Modalität‘ 16 aufweisen, durch die sie 13 Die Ausführungen dieses Kapitels berufen sich außer auf Cassirers Äußerungen zum systematischen Zusammenhang der symbolischen Formen bes. auf deren Darstellung durch Paetzold 1993 / 2002, S. 39-49, Graeser 1994, S. 51-54, Schwemmer 1997, S. 21-68 und Müller 2010, S. 112-115. 14 Beide Zitate Cassirer 1923 / 2001, S. 7. 15 Zu den Eigenheiten von Cassirers Darstellung gehört, dass er nicht klar zwischen der Kunst im Allgemeinen und den Künsten im Besonderen unterscheidet. Er macht darin offenbar den Anspruch geltend, mit jeder Äußerung über ‚eine‘ zugleich ‚die‘ Kunst zu beschreiben (und umgekehrt). Dies ist im Einzelnen gewiss nicht unproblematisch (Lauschke bemerkt richtig, dass „die Mannigfaltigkeit der Aspekte, die [Cassirer] in die ästhetische Diskussion einbringt, das gesuchte Integral der symbolischen Form der Kunst zu sprengen [droht]“, 2007, S. 223-228, hier S. 227). Es rechtfertigt aber meinen Versuch, Cassirers Kunsttheorie in großen Teilen (auch) als Dichtungstheorie zu lesen. 16 Zum Begriff der Modalität bes. Cassirer 1923 / 2001, S. 27-30. Er bezeichnet damit speziell den Umstand, dass die verschiedenen symbolischen Formen bestimmte „Qualität[en]“ (ebd., S. 27) der Weltgestaltung - Raum, Zeit, Zahl, Kausalität - unterschiedlich „auffassen“ und ihnen so „einen ganz verschiedenen Sinn verleihen“ (ebd., S. 28). Vgl. Paetzold 1993 / 2002, S. 39 f., Schwemmer 1997, S. 59 f. Auf den Sinn-Aspekt komme ich gleich noch im Detail zurück. 86 Formaler Mythos - Revision zu unterschiedlichen und voneinander unabhängigen „Richtungen des Weltverstehens“ 17 werden. In welcher Weise aber gestalten sie sich jeweils ‚zur‘ Welt, 18 wodurch zeichnen sie sich in ihrer Formung aus? Die Antwort erschließt sich am besten aus Cassirers Vorstellung von der Entstehung der symbolischen Formen durch ihre Ablösung vom „gemeinsamen Mutterboden des Mythos.“ 19 Die Metapher des Mutterbodens kann dabei, sie muss aber nicht geschichtsphilosophisch in dem Sinne gelesen werden, dass der Mythos tatsächlich eine historisch frühe und archaische Weltanschauung darstellen würde. Wichtiger für Cassirers Philosophie ist sicher die Lesart, die sie als Veranschaulichung des systematischen Zusammenhangs der symbolischen Formen anspricht. 20 In diesem Verständnis ist die Rede von der Ursprünglichkeit des Mythos vornehmlich auf einen Zustand zu beziehen, in dem all jene Inhalte des Geistes, denen im System der symbolischen Formen ein je autonomes Prinzip eignet, (noch) aufs engste miteinander verflochten sind: Das theoretische, das praktische und das ästhetische Bewußtsein, die Welt der Sprache und der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Sittlichkeit, die Grundformen der Gemeinschaft und die des Staates: sie alle sind ursprünglich noch wie gebunden im mythisch-religiösen Bewußtsein. 21 Das heißt mit anderen Worten: alle symbolischen Formen sind in gewisser Weise bereits im Mythos enthalten, zu eigenständigen ‚Richtungen des Weltverstehens‘ werden sie jedoch erst dadurch, dass sie sich aus dessen Einheit ‚befreien‘. 22 Als die treibende Kraft dieses Befreiungsprozesses bezeichnet Cassirer die Kritik; eine Kritik, die sowohl den Aspekt der Sonderung als auch den des beanstandenden Entgegentretens in sich birgt. Sie ergreift ein Moment des vorerst noch mythischen Weltverstehens und „[]reißt“ es „in bewußter Energie von [seinem] Boden los[]“, wobei sie sich gezielt gegen den Mythos wendet. 23 Damit macht sie das betreffende Moment zur selbständigen symbolischen Form und verleiht dieser zugleich ein eigenes, von dem des Mythos klar unterschiedenes Prinzip. Gegen den Mythos richtet sie sich dabei insbesondere deshalb, weil ihre sondernde Wirkung gerade jene Eigenheit angreift, die den Kern seines Wesens ausmacht: die Eigenheit, zwei Elemente nur identifizierend, durch ‚Konkreszenz‘ - die Verschmelzung in eine unterschiedslose Einheit - miteinander verknüpfen zu können. 24 In seiner dergestalt ‚konkreten‘ Welt führt das Wirken der Kritik zwangsläufig zur ‚Krisis‘. Es bewirkt jene Sonderungen oder, wie Cassirer auch sagt: „Ur-Teilung[en]“, 25 mit denen das mythische Denken endet und das empirische und begriffliche Wissen, aber auch das religiöse, das ästhetische und das wissenschaftliche Betrachten der Welt beginnt. 26 Cassirers System der symbolischen Formen ist somit, wie Oswald Schwemmer vorgeschlagen hat, anschaulich ins „Bild einer Rosette“ zu fassen, „aus deren Mythos-Mitte die Blätter der anderen symbolischen Formen herauswachsen: durch den Mythos bleibend mit- 17 Cassirer 1929 / 2002, S. 14. 18 So die bereits in der Einleitung zitierte Formulierung: Cassirer 1923 / 2001, S. 9. 19 Cassirer 1925 / 2003, S. 266. 20 So auch Recki 2004, S. 84-86. 21 Cassirer 1925 / 2003, S. 266. 22 Von einem „geistigen Befreiungsproze[ß]“ spricht Cassirer etwa 1925 / 2002, S. 31. 23 Cassirer 1923 / 2003, S. 92, vgl. Cassirer 1925 / 2002, S. 30 f. 24 Vgl. dazu Cassirer 1925 / 2002, S. 29-32, 35-86, bes. S. 43, 77. 25 Ebd., S. 86. 26 Ebd., S. 43, vgl. Cassirer 1923 / 2003, S. 91 ff. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 87 einander verbunden und doch in eigenen Richtungen und eigenständigen Gestaltungen.“ 27 Dass die (Dicht-)Kunst in diesem System grundlegend andere Beziehungen zum Mythos und zur Ratio unterhalten muss als bei Lugowski, ist leicht zu erschließen. Hier erscheint sie weder als eine Version des Mythos, noch unterliegt sie dem Einfluss der rationalen, das heißt: wissenschaftlich-empirischen Erkenntnis. Anstatt wie bei Lugowski vom Mythos zur (‚wahren‘) Erkenntnis, entwickelt sie sich gemeinsam mit dieser aus jenem heraus, wobei sie explizit eine andere Richtung einschlägt, die Welt also gar nicht in derselben Weise ‚verstehen‘ w i l l . Nicht als ein schwindendes Residuum des Mythos 28 wäre sie in diesem Sinne zu bezeichnen, sondern als ein gleichrangiger, aber ungleich gerichteter ‚Ableger‘ desselben; nicht als eine Gestaltungsform, die ‚konservativ‘ im Mythos verharrt, während die wissenschaftlich-empirische Erkenntnis ihn ‚innovativ‘ überwindet, sondern als eine Form, die wie diese ‚konservativ‘ und ‚innovativ‘ zugleich ist. Beide wurzeln im Mythos, sofern sie ein bestimmtes Moment mit ihm teilen, spalten sich aber durch verschiedene „kritische[] Grundakt[e]“ 29 in unterschiedlicher Weise von ihm ab. Wie man sich das ‚Herauswachsen‘ aus dem Mythos für die Kunst einer- und die wissenschaftlich-empirische Erkenntnis andererseits genau vorzustellen hat, wird bei Cassirer nicht ganz deutlich. Gleichwohl vermittelt er ein durchaus anschauliches Bild vom Zusammenhang der drei Formen. Aufschlussreich ist etwa eine Formulierung des ‚Versuchs über den Menschen‘, in der es heißt: „Der Mythos verbindet ein theoretisches mit einem künstlerisch-schöpferischen Moment.“ Sein theoretischer Charakter liegt, wie Cassirer weiter erläutert, darin begründet, dass er wie die Wissenschaft „nach Wirklichkeit […] such[t]“. 30 Als künstlerisch-schöpferisch hingegen bezeichnet er ihn deshalb, weil er, so die etwas vage Aussage an anderer Stelle, „das vielleicht früheste und allgemeinste Erzeugnis der ästhetischen Phantasie darstellt.“ 31 Wissenschaft und Kunst entstehen demnach dann, wenn das theoretische und das künstlerisch-schöpferische Moment sich vom Mythos emanzipieren, das heißt, wenn der menschliche Geist seine ‚Suche nach der Wirklichkeit‘ bzw. sein sinnlich-anschauliches Gestalten aus der ‚konkreten‘ Einheit des mythischen Denkens heraushebt und isoliert. Sein Aufbruch in eine bestimmte ‚Richtung‘ des Weltverstehens wirkt also sozusagen wie der Sonnenstrahl, der die Entfaltung der Rosettenblätter anstößt und ihre wechselseitige Verflechtung löst. Ihr Hervortreten aus der Einheit des Mythos bedeutet darum zugleich die Trennung voneinander. Die Suche nach der Wirklichkeit und das ästhetische Gestalten werden nicht nur vom Mythos, sondern auch voneinander unabhängig. Weil sie dem Mythos in ihrem Ansatzpunkt verwachsen bleiben, fallen sie nicht gänzlich auseinander; weil sie aber an verschiedenen Punkten ansetzen, berühren sie sich auch nicht direkt. Und sofern sie sich, wie es bei Kunst und Wissenschaft der Fall ist, ausgerechnet an der Stelle vom Mythos lösen, wo die jeweils andere an ihm festhält, treten sie einander sogar entgegen. Sie wachsen sozusagen aus gegenüberliegenden Punkten in entgegengesetzter Richtung aus dem Mythos heraus. Oder, um es nicht-bildhaft auszudrücken: jede von ihnen konvergiert jeweils in dem Merkmal mit dem Mythos, in dem sich die andere von ihm unterscheidet. 27 Schwemmer 1997, S. 41. 28 Vgl. Lugowski 1932 / 1994, S. 12. 29 Cassirer 1925 / 2002, S. 77. Er bezieht sich an dieser Stelle nur auf die Wissenschaft; derselbe Vorgang konstituiert jedoch auch alle anderen symbolischen Formen. 30 Beide Zitate Cassirer 1990 / 1992, S. 120 f. 31 Cassirer 1925 / 2002, S. 28 f. 88 Formaler Mythos - Revision Das Verhältnis zwischen Mythos, Kunst und Wissenschaft kann so mithilfe jener zwei Momente, die sich nach Cassirers Aussage im Mythos verbinden, als ein Komplex von Gemeinsamkeiten und Unterschieden systematisch beschrieben werden. Das mythische Denken selbst ist, wie schon erwähnt, ‚wirklichkeitssuchend‘ und ‚sinnlich-anschaulich gestaltend‘. Es lebt, wie Cassirer sagt, „in einer Welt reiner Gestalten, die ihm […] als das Objektive schlechthin gegenüberstehen“ 32 , und es versucht, sie in dem Zusammenhang zu begreifen, in dem sie ihm unmittelbar erscheinen. Es nimmt seinen Ausgang bei der Anschauung des einzelnen, konkreten Gegenstandes und bleibt ihr verhaftet. Dabei ist es vom „Inhalt der Anschauung […], so wie er unmittelbar vor ihm steht, gleichsam gebannt und gefangengenommen.“ 33 Die Intensität des Eindrucks macht es ihm unmöglich, „den Augenblick über sich selbst zu erweitern, über ihn voraus- und hinter ihn zurückzuschauen, ihn als einen besonderen auf das Ganze der Wirklichkeitselemente zu beziehen.“ 34 Weil sich so „alles überhaupt Erscheinende in eine einzige Ebene zusammen[drängt]“, 35 erfasst es den Zusammenhang der Dinge allein als einen Zusammenhang der sinnlichen Wahrnehmung, was weiter dazu führt, dass es die Welt nur als ein Geflecht konkret-dinglicher Berührungen begreifen kann. 36 Auch das wissenschaftliche Denken sucht den Zusammenhang der Wirklichkeit zu ergründen, doch geht es dabei ganz anders vor. Anstatt nur zusammenzuschließen, was in der sinnlichen Wahrnehmung nebeneinandersteht, unterbricht es diese, legt sie nach bestimmten Kriterien auseinander und schafft so abstrakte Bezüge, auf deren Grundlage es die Wirklichkeit neu konstituiert. 37 Anders als für den Mythos, so Cassirer, hat für die Wissenschaft die Synthesis, die ihr Weltbild zu einem Ganzen werden lässt, „eine entsprechende A n a ly s i s zur Voraussetzung und kann sich nur auf dem Grunde einer solchen Analysis aufbauen.“ 38 Ihre fundamentale Neuerung, der ‚kritische Grundakt‘, durch den sie sich vom Mythos scheidet, besteht darin, jene „dialektische[] Bewegung des Denkens“ in Gang zu setzen, „für die jedes gegebene Besondere nur der Anlaß wird, es an ein anderes anzuknüpfen, es mit anderen zu Reihen zusammenzuschließen und es auf diese Weise zuletzt einer allgemeinen G e s et z l ic h k e it des Geschehens einzuordnen“. 39 Wo mithin das mythische Denken nur räumliche Nähe und Ferne bzw. substantielle Gleichheit und Unterschiedenheit wahrzunehmen vermag, da fragt die Wissenschaft nach Ursache und Wirkung. Auf diese Weise erzeugt sie anstelle der zentriert-konkreten Wirklichkeit des Mythos eine systematisch, oder, wie Cassirer auch sagt, diskursiv gegliederte Wirklichkeit, deren Zusammenhang durch ein unsichtbares Netz abstrakter Kausalbeziehungen konstituiert wird. 40 Die künstlerische Auffassung der Welt schlägt nun vom Mythos ausgehend insofern die entgegengesetzte Richtung ein, als sie sich nicht gegen die Suggestion der mythischen Einbildungskraft eine neue, abstrakte Deutung der Wirklichkeit vornimmt. Stattdessen lässt sie die Wirklichkeit hinter sich, um die sinnliche Anschauung zum ästhetischen Bild 32 Ebd., S. 43. 33 Cassirer 1925 / 2003, S. 257. 34 Cassirer 1925 / 2002, S. 43. 35 Ebd., S. 44. 36 Zur mythischen Kausalität ebd., bes. S. 54-61. 37 Vgl. ebd., bes. S. 55. 38 Ebd., S. 40. 39 Ebd., S. 43. 40 Cassirer 1925 / 2003, S. 256. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 89 zu machen. Während wissenschaftliches und mythisches Denken „nach Wirklichkeit […] suchen“, ist die ästhetische Betrachtung „völlig gleichgültig gegenüber dem Dasein und Nichtsein ihres Gegenstandes“. 41 Und während die Wissenschaft sich dem mythischen Weltgestalten durch Abstraktion entgegenstellt, strebt die Kunst wie dieses nach sinnlicher Konkretion. 42 Die Kunst gleicht der Wissenschaft folglich darin, dass auch sie den Zusammenhang der Wirklichkeit von der Welt der sinnlichen Erscheinungen abscheidet - ihre ‚Kritik‘ gilt jedoch nicht der mythischen Auffassung vom konkreten Zusammenhang der Erscheinungen selbst, sondern der mythisch-konkreten Einheit von Bild und Sache. Sie entsteht, wenn sich der menschliche Geist seines eigenen Schöpfens bewusst wird und den Charakter des Bildes als Bild erkennt. Anders als der Mythos, der seine geistige Schöpfung schlicht für die Wirklichkeit nimmt, ihr dasselbe Sein und dieselbe Kraft beilegt, stellt die künstlerische Gestaltung also „die Bildwelt […] der bloßen Sach- und Dingwelt gegenüber[]“: Sie zielt nicht auf ein anderes und verweist nicht auf ein anderes, sondern sie ‚ist‘ schlechthin und besteht in sich selbst. Aus der Sphäre der Wirksamkeit, in der das mythische Bewußtsein […] verharrt, sind wir nun in ein Gebiet versetzt, in dem gleichsam nur das reine ‚Sein‘, nur die ihm eigene innewohnende Wesenheit des Bildes als solche ergriffen wird. 43 Diese Formulierung ist, wie schon gesagt, insofern missverständlich, als sie zu der Deutung einlädt, dass sich die Kunst tatsächlich nur durch den fehlenden Wirklichkeitsbezug vom Mythos unterscheide und darum schlicht als dessen ungültiges Ab- oder fiktionales Nachbild zu begreifen sei. Cassirer widerspricht dem zwar nicht explizit, er geht aber offenbar davon aus, dass die Sonderung von Bild und Sache sehr viel weitreichendere Konsequenzen nach sich ziehe: weil sie der produktiven Einbildungskraft, indem sie ihr einen neuen Rahmen setzt, zugleich eine neue Richtung und ein neues Ziel gibt. Wie man sich das genau vorzustellen hat, scheint in seinen früheren Schriften wenigstens punktuell auf. Indem sich, so kann man seinen Worten entnehmen, „die Welt des Bildes […] zu einem in sich geschlossenen Kosmos [formt], der in seinem eigenen Schwerpunkt ruht“, 44 tritt sie „aus dem Kreis der Existenz, der […] durch [das] Ineinandergreifen von Wirkungen bestimmt wird, heraus“ 45 und kann auf diese Weise das, was zuvor reale Wirksamkeit zu sein vorgab, in ästhetische Wirkung verwandeln. Da die Kunst nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes blickt, sondern im Bild beharrt, ist dieses trotz seiner Konkretheit nicht mythisch und trotz seines ‚wirklichkeitsenthobenen‘ Charakters nicht falsch. Seine Wahrheit ist nicht wie die des Mythos in einer ‚hinter‘ oder ‚im‘ Bild liegenden Wirklichkeit, sondern in ihm selbst, genauer, in der „reine[n] Form des Bildes“ 46 zu suchen. „Es ist“, wie Cassirer sagt, zwar eine „Welt des ‚Scheins‘ […], aber eines Scheines, der seine eigene Notwendigkeit und somit seine eigene Wahrheit in sich trägt“. 47 41 Cassirer 1990 / 1992, S. 121 zitiert hier Kant (ohne Quellenangabe). 42 Vgl. dazu ebd., S. 221. Zur Konkretion der Kunst im Gegensatz zur Abstraktion der Wissenschaft etwa auch 1923 / 2003, S. 91-102, vgl. 1925 / 2002, S. 35 ff. 43 Cassirer 1925 / 2002, S. 32. 44 Ebd. 45 Cassirer 1923 / 2003, S. 94. 46 Ebd. 47 Ebd. 90 Formaler Mythos - Revision All dies bleibt freilich äußerst vage und evoziert den dringenden Wunsch nach Konkretisierung. Das gilt umso mehr, als in diesem Zusammenhang auch der Nexus von Form und Sinn eine entscheidende Rolle spielt. Wenn nämlich, so ist man geneigt zu fragen, der „Verschiedenheit dieser Medien [d. i. der symbolischen Formen, C. K.] auch eine verschiedene Fügung des Objekts, ein verschiedener Sinn ‚gegenständlicher‘ Zusammenhänge entsprechen muß“, 48 ist dann nicht davon auszugehen, dass die ästhetische Unterscheidung von Bild und Sache auch eine neue Fügung des Objekts und eine neue Art der Sinngebung mit sich bringt? 49 Worin aber besteht diese Fügung, inwiefern unterscheidet sie sich vom Mythos, und wie ist der Sinn des Mythos demzufolge von dem der Kunst abzugrenzen? Spätestens an dieser Stelle kommt man nur weiter, wenn man Cassirer nicht mehr bloß paraphrasiert, sondern interpretiert und bis zu einem gewissen Grad auch ergänzt. Weil die Altgermanistin dazu nur bedingt kompetent ist, gestaltet sich der nächste Abschnitt als Versuch: als ein Versuch, der nicht den Anspruch erhebt, Cassirers fehlende Theorie der Kunst zu rekonstruieren, 50 sondern sich allein als ein heuristischer Ansatz verstanden wissen will, etwas mehr Licht in die Frage nach dem Verhältnis zwischen mythischem und dichterischem Weltverstehen zu bringen. Zu diesem Zweck berufe ich mich zum einen auf das der Kunst gewidmete IX . Kapitel des ‚Versuchs über den Menschen‘, 51 zum anderen auf Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz. 2.1.2 Mythischer und ästhetischer Sinn 2.1.2.1 Symbolische Prägnanz als sinngebende Gestaltung ‚zur‘ Welt Weshalb der Begriff der symbolischen Prägnanz für die Fragestellung meiner Arbeit so relevant ist, 52 kann angesichts der ihm von Cassirer beigelegten Definition keinem Zweifel unterliegen. Er formuliert: Unter ‚symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis als ‚sinnliches‘ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. 53 Symbolische Prägnanz entsteht mithin, wenn Erfahrung, indem sie im Medium des Symbolischen organisiert wird, in irgendeiner Weise Sinn ergibt - was, da Erfahrung nicht 48 Cassirer 1923 / 2001, S. 5. 49 In seinem Aufsatz ‚Sprache und Mythos‘ formuliert Cassirer ähnlich pointiert, dass der Mythos, die Sprache, die Kunst und die Erkenntnis „Symbole […] in dem Sinne“ seien, „daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft und aus sich hervorgehen lässt“ (1925 / 2003, S. 233). 50 Dies ist der Ansatz von Lauschke, deren Arbeit (2007) ich im Folgenden einige Anregungen entnehme. Programmatisch dazu ebd., S. 4 f. und 131 f. 51 Rudolph bezeichnet dieses geradezu „als Konzentrat des nichtexistierenden Bandes über die Kunst im Rahmen [der] ‚Philosophie der symbolischen Formen‘“ (2003, S. 214). Zur besonderen Rolle des ‚Versuchs über den Menschen‘ für Cassirers Kunsttheorie auch Lauschke 2007, S. 182-184. 52 Und nicht nur für sie: Schwemmer bezeichnet ihn als „ein[en] Grundbegriff und zugleich eines der besonderen Rätsel in der Philosophie Ernst Cassirers“ (1997, S. 69). Ähnlich formuliert Graeser, der ihn zudem zum Anlass nimmt, Cassirers Philosophie über ihre Frage nach der „Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung“ zu charakterisieren (1994, S. 28). Vgl. dazu auch Paetzold 1993 / 2002, S. 39-43 und Recki 2004, S. 30-38, 59-66. 53 Cassirer 1929 / 2002, S. 231. Mit seiner Formulierung der symbolischen Gestaltung ‚zur‘ Welt hängt das insofern zusammen, als auch diese einen „objektiven Sinnzusammenhang“ herstellt (Cassirer 1923 / 2001, S. 9). Das bezeichnete Phänomen ist offenbar an beiden Stellen das gleiche. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 91 anders als im Medium des Symbolischen möglich ist, zugleich heißt, dass jede Erfahrung in irgendeiner Weise sinnvoll ist, oder auch: Der Mensch ist gar nicht dazu in der Lage, die Welt anders als sinnvoll zu erfahren. In diesem Sinne ist auch Cassirers Erläuterung zu lesen: Hier handelt es sich nicht um bloß ‚perzeptive‘ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ‚apperzeptive‘ Akte aufgepfropft wären, durch sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von ‚geistiger Artikulation‘ gewinnt - die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit ist sie zugleich ein Leben ‚im‘ Sinn. […] Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen. 54 Weil ‚Wahrnehmung‘ bedeutet, das Wahrgenommene in die immanente Gliederung eines ganzheitlichen Wahrnehmungszusammenhangs einzuordnen, gestaltet sie sich also immer als ein Akt der sinngebenden Formung. Durch ihn lässt sie einen Sinn entstehen, der sich durch die Stellung und die Verknüpfung des jeweils Wahrgenommenen in einem formendgeformten Ganzen definiert. Wie man sich diesen Vorgang vorzustellen hat, und vor allem, welche Funktion dabei den verschiedenen ‚Richtungen des Weltverstehens‘ zukommt, illustriert Cassirer am Beispiel des Linienzugs: 55 Ein optisches Gebilde (das hier für das sinnliche Erlebnis steht) könne je nach Sichtweise verschieden aufgefasst werden. So erscheine es etwa in mathematischem Kontext als Darstellungsmittel einer allgemeinen geometrischen Gesetzlichkeit: als „Kurve […], deren gesamter Gehalt für uns zuletzt in ihrer analytischen For m e l aufgeht.“ Durch diese Formel wird sie zugleich zu einem Teil der Mathematik als jener „universelle[n] Sinnform“, „durch die jede besondere geometrische Gestalt erst möglich, erst konstituiert und erst ‚verständlich‘ wird.“ Analog dazu könne man genau denselben Linienzug auch „als mythisches Wa h r z e ic h e n […] oder als ästhetisches O r n a m e nt nehmen“: Das mythische Wahrzeichen faßt als solches den mythischen Grundgegensatz, den Gegensatz des ‚Heiligen‘ und ‚Profanen‘ in sich. Es ist aufgerichtet, um diese beiden Gebiete voneinander zu trennen, um zu warnen und zu schrecken, um dem Ungeweihten die Annäherung an das Heilige oder seine Berührung zu wehren. Und es wirkt hierbei nicht nur als bloßes Zeichen, als Merkmal, an dem das Heilige e rk a n nt wird; sondern es besitzt auch eine ihm sachlich innewohnende, eine magisch zwingende und magisch abstoßende Macht. Von einem solchen Zwange weiß die ästhetische Welt nichts. Als Ornament betrachtet, erscheint die Zeichnung ebensowohl der Sphäre des ‚Bedeutens‘ im logisch-begrifflichen Sinne, wie der des magisch-mythischen Deutens und Warnens entrückt. Sie besitzt in sich selbst ihren Sinn, der sich nur der reinen künstlerischen Betrachtung, der ästhetischen ‚Schau‘ als solcher, erschließt. Wieder vollendet sich hier das Erlebnis der räumlichen Form erst darin, daß es einem Gesamthorizont angehört und diesen für uns aufschließt - daß es in einer bestimmten Atmosphäre steht, in der es nicht einfach nur ‚ist‘, sondern in welcher es gleichsam lebt und atmet. 56 54 Cassirer 1929 / 2002, S. 231. 55 Vgl. dazu auch Graeser 1994, S. 30-33, 144-153 und Recki 2004, S. 35 f. 56 Alle Zitate Cassirer 1929 / 2002, S. 229 f. 92 Formaler Mythos - Revision Indem die Linie einmal mythisch und einmal ästhetisch wahrgenommen, einmal in die innere Ordnung des Mythos und einmal in die der Kunst eingegliedert wird, gewinnt sie demnach in ihrem Bezug aufs Ganze des Mythos bzw. der Kunst, als dessen Teil sie nunmehr erscheint, einen je unterschiedlichen Sinn. Worin dieser Sinn besteht, ist recht leicht zu benennen: Es ist, wie schon gesagt, die mythische Wirksamkeit auf der einen und die ästhetische Wirkung auf der anderen Seite. Wie er sich genau aus der Ordnung des Mythos und der Kunst ergibt bzw. welche Anteile in diesem Zusammenhang der Form der Wahrnehmung selbst und der ‚Sicht‘ auf diese Form zukommen, ist indessen alles andere als deutlich. Cassirer scheint diese Frage weniger beschäftigt zu haben. Er hat den „symbolischen Prozeß“ als einen alle symbolischen Formen durchdringenden „Lebens- und Gedankenstrom“ zwar in seinen allgemeinen Prinzipien beschrieben, 57 ihn jedoch nicht konsequent für einzelne symbolische Formen spezifiziert. Meine folgende Darstellung versucht dem abzuhelfen, indem sie Cassirers Äußerungen zur Kunst und zum Mythos auf die zur symbolisch prägnanten Selbstgliederung der Wahrnehmung bezieht. 58 Dabei beschränke ich mich auf die Momente, die mir für mein Thema als wichtig und weiterführend erscheinen. 2.1.2.2 Grundregeln der Weltgestaltung: Konkretheit und Intensität Wie also, um die Frage dieses Kapitels noch einmal etwas anders zu formulieren, sorgt der „Aufbau der Wahrnehmungswelt“, 59 wie er für den Mythos und die Kunst typisch ist, dafür, dass ein und dasselbe ‚sinnliche‘ Erlebnis einmal diesen und einmal jenen nichtanschaulichen ‚Sinn‘ erhält? Um diese Frage zu beantworten, ist sinnvollerweise bei dem Moment anzusetzen, das Mythos und Kunst gegen die Wissenschaft miteinander verbindet, denn dieses Moment bezeichnet die Grundregel, der ihr beider Weltgestalten gehorcht. Der Mythos und die Kunst gleichen sich demnach darin, dass sie ihren jeweiligen Sinn nicht verallgemeinernd und abstrahierend, sondern sinnlich-konkret herstellen. 60 „[D]ie Welt der Kunst und die des Mythos“, so formuliert Cassirer schon in der Einleitung zum ersten Band der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘, „scheint sich in der Welt der besonderen, sinnlich faßbaren Gestalten zu erschöpfen“. 61 Dies ist in einem vergleichenden Blick um einen zweiten Punkt zu ergänzen. Ich beginne mit einer zentralen Passage aus dem Kunstkapitel des ‚Versuchs über den Menschen‘: Sprache und Wissenschaft sind Abkürzungen der Wirklichkeit; Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit. Sprache und Wissenschaft beruhen auf ein und demselben Abstraktionsvorgang; die Kunst hingegen könnte man als kontinuierlichen Konkretionsprozeß beschreiben. 62 Nicht nur durch die sinnliche Konkretheit ihres Gestaltens unterscheidet sich die Kunst also von Sprache und Wissenschaft, sondern auch durch die Befähigung, ‚Wirklichkeit‘ 57 Ebd., S. 231. 58 Besonders im letzten Punkt beziehen sich meine Überlegungen außer auf Cassirer selbst auf die (dessen oft schwer verständlichen Ausführungen erläuternde und erhellende) Darstellung Schwemmers 1997, S. 21-125. 59 Cassirer 1929 / 2002, S. 235. 60 Ich knüpfe hier an die Darstellung des letzten Abschnitts an und berufe mich auf dieselben Passagen: Cassirer 1923 / 2003, S. 93-96, 1925 / 2002, S. 31-33 und 1925 / 2003, S. 310 f. 61 Cassirer 1923 / 2001, S. 16. 62 Cassirer 1990 / 1992, S. 221. Später bezeichnet er den „Grad der Intensivierung“ sogar noch einmal als „Maßstab für die Vortrefflichkeit von Kunst“ (ebd., S. 228). Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 93 zu intensivieren. Dabei hängt das eine insofern mit dem anderen zusammen, als sinnliche Konkretheit hier nichts anderes heißt, als ‚etwas‘ - eine Linie, einen Gegenstand, einen Ton o. ä. - (produzierend oder reproduzierend) zu zeigen und damit die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Dieser Akt der Aufmerksamkeitslenkung wiederum bewirkt, dass der von ihm fokussierte Gegenstand (die Linie, der Ton o. ä.) - in seiner Eigenschaft als ein vorgezeigter - in einem ganz „besonderen Licht“ erscheint. 63 Cassirer erläutert: „Die Phantasie des Künstlers erfindet die Formen der Dinge nicht willkürlich; sie zeigt uns diese Formen in ihrer wahren Gestalt und macht sie dabei sichtbar und erkennbar“. 64 In diesem Gestus ist die Kunst „nicht Nachahmung, sondern Entdeckung von Wirklichkeit: “ 65 Sie lässt uns die die Dinge der Welt dadurch ‚entdecken‘, dass sie uns diese „nicht in [ihren] physikalischen Eigenschaften oder Wirkungen, sondern in [ihrer] [sinnlichen, C. K.] Gestalt und [ihrer] Struktur“ sehen lehrt. 66 Indem sie ihre - und damit unsere - Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand lenkt, lässt sie diesen, so könnte man weiter explizieren, ins Zentrum unserer Wahrnehmung rücken und ihn damit sowohl als besonders intensiv ‚daseiend‘ als auch in irgendeiner Weise bedeutsam erscheinen. 67 Was Cassirer an dieser Stelle nicht erwähnt, was im Rückblick auf einige seiner früheren Ausführungen aber sofort ins Auge fällt, ist, dass genau dasselbe Moment der intensivierenden Aufmerksamkeitslenkung auch den Mythos kennzeichnet. Ein bestimmter Gegenstand wird immer dann als mythisch bedeutsam wahrgenommen, wenn er ins Zentrum des Bewusstseins rückt und dort durch seine „unmittelbare sinnliche Gegenwart“ eine solche Intensität entwickelt, dass er es schließlich ganz ausfüllt. Im Mythos ist, um hier exemplarisch nur eine von Cassirers Explikationen des Vorgangs herauszugreifen, „das Ich […] [i]n höchster Energie […] diesem Einen [d. i. einen Gegenstand, CK] zugewandt, lebt in ihm und vergißt sich in ihm.“ 68 Wenn man das Gestalten von Mythos und (Dicht-)Kunst aus der immanenten Gliederung ihrer Wahrnehmung heraus verstehen will, so darf man folglich davon ausgehen, dass der Sinn, den sie jeweils hervorbringen, bei ihnen aus einem vergleichbaren Akt der ‚Kon-Zentration‘ resultiert. Sie erzeugen ihn nicht wie die Wissenschaft dadurch, dass sie mehrere Gegenstände „diskursiv“ abschreiten, verallgemeinernd benennen und wechselseitig miteinander in Beziehung setzen, 69 sondern dadurch, dass sie einen Gegenstand (bzw. eine 63 Ebd., S. 225. Wie wichtig das Aufmerksam-Machen für die Bestimmung der Kunst ist, hat Goodman herausgestellt. Vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit Cassirers Philosophie schlägt er vor, anstatt ‚Was […]? ‘ besser ‚Wann ist Kunst? ‘ zu fragen. Kunst ist ein bestimmtes Objekt demnach immer dann, wenn es „als exemplifizierendes Symbol unsere Aufmerksamkeit erregt“ (Goodman 1984 / 1993, S. 87). 64 Cassirer 1990 / 1992, S. 224. 65 Ebd., S. 220. 66 Ebd., S. 221 f. 67 Ich deute in dieser Formulierung bereits die Parallelen zu den Phänomenen der mythischen Präsenz und der mythischen Bedeutsamkeit an, die im nächsten Abschnitt noch weiter herausgearbeitet werden sollen. 68 Vgl. Cassirer 1925 / 2003, S. 256 f., zit. S. 257. Auch zu diesem Komplex Genaueres im nächsten Abschnitt. 69 „Das theoretische Denken zielt, wie wir gesehen haben, vor allem darauf ab, die sinnlich oder anschaulich gegebenen Inhalte von der Vereinzelung, in der sie sich uns unmittelbar darstellen, zu befreien. Es hebt diese Inhalte über ihren eng begrenzten Kreis hinaus, es stellt sie mit anderen zusammen, vergleicht sie mit ihnen und reiht sie mit ihnen in eine bestimmte Ordnung, in einen umfassenden Zusammenhang ein. Es verfährt ‚diskursiv‘, indem es den besonderen, den hier und jetzt vorhandenen Inhalt nur als Ausgangspunkt nimmt, von dem aus in mannigfachen Richtungen das Ganze der An- 94 Formaler Mythos - Revision Linie, einen Ton o. ä.) fokussieren und alles andere dahinter zurücktreten lassen. 70 Dass diese Art der Wahrnehmung auch die Gestalt ihrer Welt bestimmen muss, ist evident: Diese erscheint in Mythos und Kunst gleichermaßen als eine ungemein zentrierte, auf einen einzigen (Mittel-)Punkt hin gerichtete und in ihm gleichsam zusammengedrängte Welt. 71 Auf der Grundlage dieser Beobachtung ist es möglich, im nächsten Schritt den Zusammenhang zwischen sinnlichem und sinnhaftem Erleben in Mythos und Kunst vergleichend darzustellen. Mit Blick auf die Welt, die sich dabei jeweils um den als sinnvoll wahrgenommenen sinnlichen Eindruck herum konstituiert, wird nun auch endlich nachvollziehbar, wie und warum in der Tat von einer formalen Analogie der beiden symbolischen Formen die Rede sein kann - von einer Analogie, die, wie hinzuzufügen ist, jedoch keine Abhängigkeit begründet. Denn obwohl der Sinn, den Mythos und Kunst hervorbringen, (nach Cassirer) in der Tat auf einer Art des Weltgestaltens basiert, bei der ähnliche Regularien auch insgesamt in ähnlichen Ordnungen resultieren, ist er doch schon allein darum ein zu unterscheidender, weil die Formen, die ihn erzeugen, nicht identisch, sondern nur gleichartig konstituiert sind. Um den Nexus verständlich zu machen, setze ich noch einmal beim „Trieb zur Konzentration“ 72 an und erläutere davon ausgehend, wie er die Welten des Mythos und der Kunst umfassend bestimmt. 2.1.2.3 Formale Analogie. Zum Aufbau der Welt in Mythos und Kunst Wie die Konzentration auf ein sinnliches Erlebnis eine ganze Welt strukturieren kann, führt man sich vielleicht am besten zuerst an einem Bild vor Augen. Am Bild eines Steins etwa, der ins Wasser fällt und dabei ein sich immer weiter ausbreitendes Muster konzentrischer Kreise erzeugt. Oder am Bild eines Kristalls, der aus einer amorphen Ansammlung von Molekülen herauswächst, wobei diese an einem festen Kern anlagern und sich von dort aus fortschreitend zu einem ebenmäßigen Ganzen ordnen. Mithilfe dieser Vorstellung wird verständlich, warum Cassirer den ‚Trieb zur Konzentration‘ als eine Art Keimzelle und architektonisches Grundgesetz der mythischen Welt beschreibt. Im mythischen Denken, so formuliert er in seinem Aufsatz zu ‚Sprache und Mythos‘, herrscht statt der [für das theoretische Denken kennzeichnenden, CK ] Erweiterung der Anschauung vielmehr deren äußerste Verengung; statt der Ausdehnung, die sie allmählich durch immer neue Kreise des Seins hindurchführt, der Trieb zur Konzentration; statt ihrer extensiven Verbreitung ihre intensive Zusammendrängung. In dieser Sammlung aller Kräfte auf e i n e n Punkt liegt die Vorbedingung für alles mythische Denken und alles mythische Gestalten. 73 schauung durchlaufen wird, bis es sich zuletzt zu einem in sich geschlossenen Inbegriff, zu einem System zusammenfügt. In diesem System gibt es keinen isolierten Punkt mehr: Alle Glieder beziehen sich aufeinander, weisen aufeinander hin und erhellen und erklären sich wechselseitig. […] Die theoretische Bedeutung, die [das Einzelne] erhält, besteht darin, daß ihm das Gepräge des Ganzen aufgedrückt wird“ (Cassirer 1925 / 2003, S. 256). 70 Im mythischen Denken dagegen „steht der Gedanke dem Inhalt der Anschauung nicht frei gegenüber, um ihn in bewußter Reflexion auf andere beziehen und mit anderen zu vergleichen, sondern hier ist er von diesem Inhalt, so wie er unmittelbar vor ihm steht, gleichsam gebannt und gefangengenommen. Er ruht in ihm; er fühlt und weiß nur seine unmittelbare sinnliche Gegenwart, die so übermächtig ist, daß vor ihr alles andere verschwindet“ (ebd., S. 257). 71 Vgl. ebd. 72 Ebd. 73 Ebd. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 95 Der mythische ‚Trieb zur Konzentration‘ gründet, wie Cassirer weiter erklärt, in der Eigenart des mythischen Denkens, sich in einem momentanen Affekt der Furcht, des Schreckens oder der Hoffnung von einem einzelnen sinnlichen Eindruck ergreifen und überwältigen zu lassen. Der Eindruck rückt in den Mittelpunkt des Bewusstseins und füllt es vollständig aus: „Es ist, als ob dort, wo der Mensch im Banne [der] mythisch[en] Anschauung steht, die ganze Welt für ihn versunken wäre.“ 74 Im ‚Besessensein‘ von diesem Eindruck manifestiert sich zugleich eine Spannung zwischen dem Ich und der Außenwelt, die dadurch gelöst wird, dass „die subjektive Erregung sich objektiviert, indem sie als Gott oder Dämon vor den Menschen hintritt“. 75 So kann man sich etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die ‚Geburt‘ eines Sonnengottes aus der freudigen Faszination des Tagesanbruches denken. Der Affekt wird gewissermaßen nach außen projiziert und lässt eine vom Gott bewohnte Außenwelt entstehen. 76 Es ist, als ob sich durch die Isolierung des Eindrucks, durch seine Herausgehobenheit aus dem Ganzen der gewöhnlichen, der alltäglichen Erfahrung an ihm neben seiner gewaltigen intensiven Steigerung zugleich eine äußerste Ve rd ic ht u n g geltend machte und als ob kraft dieser Verdichtung nun die objektive Gestalt des Gottes resultierte, als ob sie aus ihr geradezu herausspränge. 77 Intensivierung und Konzentration äußern sich also zunächst darin, dass das mythisch denkende Subjekt im Affekt seine ganze Aufmerksamkeit auf einen einzigen Gegenstand richtet und diesen dadurch - allgemein gesprochen - aus dem Umfeld des Gewohnten und Alltäglichen heraushebt: „[D]ie unmittelbare Gewalt, mit der das mythische Objekt für das Bewußtsein da ist, hebt es […] aus der bloßen Reihe dessen, was immer gleichförmig da ist […], heraus.“ 78 Der dergestalt im mythischen Bewusstsein ‚präsente‘ 79 Gegenstand erscheint irgendwie besonders und wird mit einem spezifischen „Akzent“ versehen, der das ihm (ganz real) inne-‚wohnende‘ ‚Ungemeine‘ bezeichnet. 80 „Die Erregung als bloß subjektiver Zustand ist [damit] erloschen“ und tritt dem Ich „als ein an sich Seiendes und an sich Bedeutsames, als ein objektiv Reales gegenüber.“ 81 Dieses objektiv Reale kann, wie hier angedeutet, ein Gott sein, es kann sich aber auch in der Vorstellung von (religiöser) 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Zum Gegensatz von Tag und Nacht als Ursprung mythischen Raum- und Zeitgefühls und dem „Urphänomen“ des „Hervorbrechen[s] des Lichts aus der Nacht“ bes. Cassirer 1925 / 2002, S. 110-123, hier S. 114. 77 Cassirer 1925 / 2003, S. 258. 78 Cassirer 1925 / 2002, S. 88. 79 Das Phänomen der Präsenz im mythischen Denken wird von Cassirer folgendermaßen beschrieben: „Statt der dialektischen Bewegung des Denkens, für die jedes gegebene Besondere nur der Anlaß wird, es an ein anderes anzuknüpfen, es mit anderen zu Reihen zusammenzuschließen und es auf diese Weise zuletzt einer allgemeinen G e s e t z l ic h k e it des Geschehens einzuordnen, steht hier die bloße Hingabe an den Eindruck selbst und an seine jeweilige ‚Präsenz‘. Das Bewußtsein ist in ihm als einem einfach Daseienden befangen - es besitzt weder den Antrieb noch die Möglichkeit, das hier und jetzt Gegebene zu berichtigen, zu kritisieren, es in seiner Objektivität dadurch einzuschränken, daß es an einem Nichtgegebenen, an einem Vergangenen oder Zukünftigen gemessen wird“ (1925 / 2002, S. 43 f.). 80 Ebd., S. 92. 81 Cassirer 1925 / 2003, S. 259. 96 Formaler Mythos - Revision ‚Heiligkeit‘ 82 oder (sprachlich-magischer) ‚Bedeutung‘ manifestieren. 83 Unabhängig von der Form, die es jeweils konkret annimmt, kommt in ihm jedenfalls zum Ausdruck, was mit Cassirer als der Sinn des Mythos gelten darf. 84 Der dergestalt mit mythischem Sinn versehene und darin mythisch bedeutsame 85 Gegenstand wird nun zuletzt zum Kristallisationspunkt der mythischen Welt. Obwohl nämlich zunächst immer nur einzelne Gegenstände und Eindrücke als mythisch bedeutsam erscheinen, bleiben sie dennoch nicht als „lauter unverbundene Einzelheiten“ nebeneinander stehen, sondern schließen sich „durch ihren Sondercharakter […] wieder zu einem Ganzen zusammen“. 86 Auf diese Weise wird „die Gesamtheit des Seins und Geschehens in eine mythisch bedeutsame und eine mythisch irrelevante Sphäre, in das, was das mythische Interesse erregt und fesselt, und das, was dieses Interesse relativ gleichgültig läßt, zerlegt.“ 87 Dabei schreitet der Prozess der Unterscheidung zwischen mythisch bedeutsamen und mythisch irrelevanten Gegenständen, von Gegenständen, die entsprechend den Vorder- oder Hintergrund der mythischen Wahrnehmung bilden, immer weiter fort. „Es ist, als würde alles, was der Mythos ergreift, in diese Scheidung einbezogen - als durchdringe und imprägniere sie gleichsam das Ganze der Welt“. 88 So wird etwa dem als heilig empfundenen Tagesanbruch der Osten, das Leben, die Geburt, das Paradies und der Glaube an die göttliche Erlösung zugeordnet; sie alle verbindet ein gemeinsamer Akzent, der sie vom ‚unheiligen‘ Westen und dem ihm zugehörigen Dunkel, dem Tod etc. unterscheidet. 89 Die Differenzierung in das ‚Bedeutsame‘ und das ‚Nicht-Bedeutsame‘, das ‚Heilige‘ und das ‚Profane‘ wird so zur „Ur-Teilung“, die den Mythos zuerst konstituiert und die zugleich die Gestalt der mythischen Welt bedingt. Denn „[a]lle abgeleiteten und mittelbaren Formen der mythischen Weltauffassung bleiben, so vielfältig sie sich gestalten und zu welcher geistigen Höhe sie auch erwachsen mögen, durch diese primäre Teilung irgendwie mitbedingt.“ 90 Die Wiederholung der immer gleichen Teilungsoperation bewirkt die typisch mythische „Struktur des Weltganzen“: „Die Welt gleicht einem Kristall, der, wie sehr man ihn auch in kleine und immer kleinere Teile zerschlagen mag, doch in allem immer noch die gleiche charakteristische Organisationsform erkennen läßt.“ 91 Insgesamt ist somit festzuhalten, dass der mythische ‚Trieb zur Konzentration‘ von innen nach außen fortschreitend eine Welt erzeugt, die sich in drei Stufen zu einem zentripetal strukturierten Ganzen formt. Erstens durch die Fokussierung der Wahrnehmung auf einen affektiv besetzten und darum zugleich besonders eindrücklich und sinnhaft erscheinenden 82 Vgl. dazu Cassirer 1925 / 2002, S. 87-89. 83 „Was für das Wünschen und Wollen, für das Hoffen und Sorgen, für das Tun und Treiben in irgendeinem Sinne bedeutsam erscheint: dem allein wird der Stempel der sprachlichen ‚Bedeutung‘ aufgedrückt“ (Cassirer 1925 / 2003, S. 261). 84 Vgl. dazu auch nochmals die Erläuterung zum Linienbeispiel bei Cassirer 1929 / 2002, S. 229 f. 85 ‚Bedeutung‘ oder ‚Bedeutsamkeit‘ stehen hier nicht - wie etwa in der Verwendung der Begriffe durch Gumbrecht 2004 - im Gegensatz zur Präsenz, sondern sie gehen im Gegenteil aus ihr hervor. ‚Präsent‘ ist der Eindruck, durch den das mythische Bewusstsein überwältigt wird; seine Präsenz hebt ihn aus der Reihe des Alltäglichen heraus und lässt ihn deshalb als sinnhaft-bedeutsam - und damit bedeutungstragend - erscheinen. Vgl. Cassirer 1925 / 2002, S. 87 f. 86 Ebd., S. 88. 87 Ebd., S. 92. 88 Ebd., S. 94. 89 Vgl. ebd., S. 115-120. 90 Ebd., S. 94. 91 Cassirer 1922 / 2003, S. 40. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 97 Gegenstand, zweitens durch die Übertragung des in diesem Eindruck enthaltenen Affekts bzw. Sinns in den Gegenstand hinein und drittens durch die Anordnung aller weiteren Elemente der Welt um den als sinnhaft-bedeutsam empfundenen Gegenstand herum. 92 Wendet man den Blick von hier aus zum IX . Kapitel des ‚Versuchs über den Menschen‘, so springen die Parallelen zwischen Kunst und Mythos geradezu ins Auge. Hier charakterisiert Cassirer die künstlerische Weltgestaltung nämlich durch drei Tendenzen - oder, wie er selbst sagt, durch „drei Arten von Phantasie oder Einbildungskraft“ -, die ganz offensichtlich mit den drei Stufen der mythischen Weltgestaltung korrespondieren. Er bezeichnet sie als „die Kraft der Erfindung, die Kraft der Personifikation und die Kraft, reine, sinnlich wahrnehmbare Formen hervorzubringen“. 93 Diese drei Kräfte erzeugen zum einen eine Welt, die der des Mythos in ihrem Aufbau gleicht, und zum andern einen Sinn, der dem Sinn des Mythos in seiner Anlage entspricht. Dabei übernimmt die ‚Kraft der Erfindung‘ nicht nur die Aufgabe der Konzentration und Hervorhebung, sondern sie ist auch dafür zuständig, das hier fokussierte sinnliche Erlebnis überhaupt erst zu ermöglichen. Indem sie „einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit [wählt]“ und ihn zum Gegenstand der künstlerischen Darstellung macht, rückt sie ihn als einen sinnlich konkreten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 94 Cassirer apostrophiert das künstlerische ‚Erfinden‘ in diesem Sinne als einen Akt, der uns die Dinge erst eigentlich sehen lehrt: Wir können einem Gegenstand in unserer Alltagswahrnehmung tausendmal begegnen, ohne jemals seine Form ‚gesehen‘ zu haben, und geraten in Verlegenheit, wenn wir nicht seine physikalischen Eigenschaften oder Wirkungen, sondern seine visuelle Gestalt und seine Struktur beschreiben sollen. Die Kunst überbrückt diese Kluft. 95 Das ‚Erfinden‘ der Kunst ist demnach weniger ein fingierendes Erdenken als vielmehr ein auffindendes Vorzeigen. Der Künstler, so formuliert Cassirer, „erfindet die Formen der Dinge nicht willkürlich; [er] zeigt uns diese Formen in ihrer wahren Gestalt und macht sie dabei sichtbar und erkennbar.“ 96 So ‚erfindet‘ er z. B. den Sonnenaufgang schon allein dadurch, dass er ihn so zeigt, wie er ihn vorgefunden hat. Indem er uns auf diese Weise 92 Die drei Schritte dieses Vorgangs entsprechen offensichtlich den drei geistigen Grundfunktionen, die Cassirer im Symbolprozess realisiert sieht: „Die Ausdrucksfunktion erfüllt sich in der Gestaltung einer ‚Zuständlichkeit‘ - eines Gefühls, einer Stimmung, eines Wollens usw. - zu einem Symbol. In der Darstellungsfunktion bezieht sich ein Symbol auf einen ‚Gegenstand‘ - ein Ding oder ein Ereignis -, der anschaulich in Raum und Zeit, in Zahlverhältnissen und als Person oder Sache identifiziert werden kann. Mit der Bedeutungsfunktion wird durch das Symbol nurmehr ein Relationengefüge - das ‚abstrakt‘, d. h. unabhängig von der Identität der Relata ist - repräsentiert, z. B. ein mathematischer Formalismus“ (Schwemmer 1997, S. 40, zit. Anm. 83). Irritierend ist freilich, dass Cassirer diese Grundfunktionen auf einzelne symbolische Formen bezieht. So ordnet er den Mythos der Ausdrucks-, die Sprache der Darstellungs- und die Wissenschaft der Bedeutungsfunktion zu. Man muss ihn hier wohl so deuten, dass sich alle drei Funktionen in allen symbolischen Formen finden, diese jedoch jeweils unterschiedlich stark prägen. Vgl. dazu auch Paetzold 1993 / 2002, S. 45-49 und Graeser 1994, S. 40-47, 51-54. 93 Cassirer 1990 / 1992, S. 252. Der Bezug zu den drei Symbolfunktionen Darstellung, Ausdruck, und Deutung ist auch hier unschwer zu erkennen. Vgl. dazu Graeser 1994, S. 90-99, Lauschke 2007, S. 164-174, 291-299. 94 Cassirer 1990 / 1992, S. 224 f., hier S. 224. 95 Ebd., S. 222. 96 Ebd., S. 224, Hervorhebung von mir. Ich betone den (vor-)zeigenden Charakter der Kunst, weil sich in ihm die Funktion der Aufmerksamkeitslenkung ausdrückt. 98 Formaler Mythos - Revision dazu bringt, ihn „mit seinen Augen zu betrachten“, scheint es uns, „als hätten wir [ihn] nie zuvor in diesem besonderen Licht wahrgenommen“. 97 Die künstlerische Perspektive auf die Linien, die Farben, die Schönheit des Sonnenaufgangs regt uns also dazu an, diesen neu und vielleicht ganz anders, jedenfalls aber bewusster, ‚intensiver‘ zu sehen als zuvor. 98 Der Akt des Hervorhebens hat somit einen Effekt, der den Phänomenen der mythischen Präsenz und des mythischen Bedeutsam-Werdens entspricht: Indem uns das Kunstwerk die Schönheit oder auch nur Existenz und Gestalt eines Gegenstandes vor Augen (und Ohren) führt, lässt es diesen zum einen unmittelbar ‚da sein‘ 99 und ihn zum anderen als irgendwie ‚besonders‘ erscheinen. 100 Im hinzeigenden Akt der Darstellung verleiht es ihm folglich eine „unmittelbare sinnliche Gegenwart“, 101 eine Intensität des Daseins, die ihn gleich dem mythischen Objekt „aus der bloßen Reihe dessen, was immer gleichförmig da ist […] heraus[hebt]“ und ihn mit dem „eigentümlichen Akzent“ des „Außerordentlichen, des Ungewöhnlichen“ und Bedeutsamen versieht. 102 Die Objektivierung des für die Hervorhebung verantwortlichen subjektiven Moments, der im Mythos das ‚Hervorspringen‘ des Gottes entspricht, schließt auch in der Kunst unmittelbar an. Cassirer hebt die Parallele in diesem Punkt besonders hervor, indem er seine zweite ästhetische Einbildungskraft als ‚Kraft der Personifikation‘ bezeichnet und explizit mit dem Mythos in Verbindung bringt. Er rechtfertigt die Analogisierung mit dem Argument, dass „der Dichter und der Mythenbildner“ insofern „die gleiche Welt […] bewohnen, als sie „jedem Ding, das sie betrachten, […] Innerlichkeit und persönliche Gestalt [verleihen]“. 103 Damit meint er, wie er sogleich verdeutlicht, wohlgemerkt nicht, dass die Welt der Kunst unbedingt von manifesten göttlichen Instanzen erfüllt sein müsse, sondern vielmehr, dass der Dichter (dessen Kunst er hier fokussiert) „kein Ding anrühren [kann], ohne es m it [s e i n e r] e ige n e n Innerlichkeit zu besetzen“. 104 Das heißt mit anderen Worten, dass die Vergöttlichung oder Heiligung, die sich im Mythos durch die Projektion des ‚ur-teilenden‘ Affekts in die äußere Welt vollzieht, ihre ästhetische Entsprechung darin findet, dass der geschilderte Gegenstand als ein in irgendeiner Weise subjektiv Wahrgenommener, Empfundener oder Gedeuteter - und als ein in diesem Sinne ‚belebter‘ 105 - erkennbar gemacht wird. 106 Das im Kunstwerk dargestellte Ding ist vom Geist des Künstlers in derselben Weise ‚bewohnt‘ wie die heilige Sphäre des Mythos von ihrem Gott. Es ist kein Zufall, wenn Cassirer genau an dieser Stelle auch die Kategorie des Sinns wieder ins Spiel bringt und durchblicken lässt, dass der Geist des Künstlers spätestens da, wo er sich im Kunstwerk manifestiert, nicht (mehr) mit einem subjektivem Gefühl gleichzusetzen ist. Indem der Künstler seiner Empfindung - oder seiner Wahrnehmung, Deutung, 97 Ebd., S. 225. 98 Dazu bes. ebd., S. 222-228. 99 Zur Vergegenwärtigungsfunktion der Kunst bes. ebd., S. 226-228. 100 Auf das „besondere Licht“ (ebd., S. 225), durch das die Kunst die Gegenstände der Welt aus „unserer Alltagswahrnehmung“ herausreißt (ebd., S. 222), habe ich bereits verwiesen. 101 Cassirer 1925 / 2003, S. 257. 102 Cassirer 1925 / 2002, S. 88, 92. 103 Cassirer 1990 / 1992, S. 236. 104 Ebd., S. 237, Hervorhebung von mir. 105 Cassirer spricht ebd. auch von einer „universalen Belebung der Welt“. 106 Ich nenne hier jene drei Aspekte des Subjektiven, die Cassirer im Verlauf der Darstellung immer wieder erwähnt. Vgl. ebd., bes. S. 226, 249, 257-261. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 99 Intention etc. - Ausdruck verleiht, werden diese zum „innern Sinn“ seiner Darstellung, 107 und damit zu etwas von ihm Abgelösten, das man wohl am einfachsten als die ‚Aussage‘, die ‚Botschaft‘ oder auch die ‚tiefere Bedeutung‘ seines Werks bezeichnen kann. Die ‚Belebung‘ der äußeren (d. i. hier: der dargestellten) Welt lässt demnach auch hier ‚Sinn‘ entstehen - nur eben keinen mythischen, sondern ästhetischen Sinn. So kann etwa der Sonnenaufgang in seiner künstlerischen Gestaltung als ein freudiges, hoffnungsvolles oder auch nur als ein schönes Ereignis erscheinen und je nachdem etwa die Schönheit der Natur, die Wiederkehr der Hoffnung o. ä. ‚bedeuten‘. Indem der Künstler den Sonnenaufgang als ein freudiges Ereignis darstellt, lässt er das Gefühl der Freude, der Hoffnung etc. in ganz ähnlicher Weise aus seinem Werk ‚sprechen‘, wie der Sonnengott aus der mythischen Welt spricht. 108 Der Umstand, dass das subjektiv ‚Sprechende‘ im Kunstwerk weder wie im Mythos ein Gefühl sein muss, noch (für gewöhnlich) tatsächlich in quasi-mythischer Weise zum Gott personifiziert 109 wird, deutet dabei schon auf den fundamentalen Unterschied zwischen Mythos und Kunst hin, dessen Konsequenzen gleich noch zu besprechen sein werden. Festzuhalten ist an dieser Stelle nur, dass jenes Phänomen, das im Kunstwerk als ästhetischer Sinn erscheint, in Hinblick auf seine Konstitution exakt dem mythischen Gott (bzw. dem ‚Heiligen‘) entspricht: Es entsteht dadurch, dass ein bestimmter Punkt oder Aspekt der wahrgenommenen bzw. dargestellten Welt hervorgehoben und mit einem Moment des Subjektiven (oder allgemeiner: mit einem Moment des Geistig-Mentalen) besetzt wird. Um der Welt der Kunst vollends eine der mythischen Welt analoge Form zu verleihen, müssen somit im dritten Schritt nur noch all ihre anderen Bestandteile um das Sinn-Zentrum herum angeordnet werden, oder genauer gesagt, sie müssen so angeordnet werden, dass sie insgesamt, als Ganzes der künstlerischen Darstellung, auf dieses Zentrum hindeuten. Genau diese Aufgabe ist es, die Cassirer der letzten seiner ästhetischen Einbildungskräfte zuschreibt. Dabei erklärt er die ‚Kraft, reine, sinnlich wahrnehmbare Formen hervorzubringen‘ geradezu zur „größte[n] und bezeichnendste[n] Kraft der künstlerischen Phantasie“, weil sie das Kunstwerk im eigentlichen Sinne erst entstehen lasse. Erst durch sie, so sagt er, gewinnen Erfindung und Ausdruck eine „greifbare Verkörperung […] in sinnlichen Formen, in Rhythmen, in Farbstrukturen, in Linien und Zeichnung, in plastischen Formen“. Sie errichtet also gewissermaßen Tempel und Altar für den ‚Gott‘ des künstlerisch erzeugten Sinns und sorgt so dafür, dass dieser überhaupt als solcher erkennbar wird. Denn, wie Cassirer formuliert, „[d]urch die Struktur, das Gleichgewicht, die Ordnung d[]er Formen wirkt das Kunstwerk auf uns“ 110 - genauso wie, so kann man hinzufügen, der Gott des Mythos erst im durchstrukturierten Ganzen der mythischen Welt seine Wirkung entfaltet. Wie sich die ‚Ordnung der Formen‘ im Fall der Kunst genau gestaltet, expliziert Cassirer an einer anderen Stelle seiner Überlegungen. „In jedem schöpferischen Werk“, so formuliert er dort, „erkennen wir eine deutlich teleologische Struktur.“ Diese äußere sich beispielsweise darin, dass der „Akteur in einem Drama […] [j]ede einzelne Äußerung […], Betonung und Rhythmus seiner Worte, die Modulation seiner Stimme, Gesichtsausdruck und Körperhaltung […] auf dasselbe Ziel“ ausrichte - „die Verkörperung eines menschlichen Cha- 107 Ebd., S. 237. 108 Vgl. dazu Cassirer ebd., bes. S. 236 f. 109 Dass Cassirer der zweiten Einbildungskraft trotzdem den Namen der ‚Personifizierung‘ beilegt, ist also unpräzise, wenn nicht gar irreführend. Er gehört ins Umfeld jener missverständlichen Darstellung der Kunst als eines ‚unwirklichen‘ Mythos, auf die ich zu Beginn des Kapitels (I.2) verwiesen habe. 110 Alle Zitate Cassirer 1990 / 1992, S. 237. 100 Formaler Mythos - Revision rakters.“ 111 Der gleiche Vorgang bringt, wie man hinzufügen kann, auch den Ausdruck der Freude in der künstlerischen Darstellung des Sonnenaufgangs hervor. Dieser entsteht nur dann, wenn der Dichter alle Worte seines Werks so wählt, rhythmisiert und zu Versen formt, dass die Freude in ihnen unmittelbar erfahrbar wird. Die Ähnlichkeit zum Mythos ist in diesem Punkt vor allem dadurch gegeben, dass die Welt auch hier in Vordergrund und Hintergrund, stärker und schwächer Bedeutsames unterteilt wird, wobei allerdings der schwächer bedeutsame Hintergrund offenbar noch mehr als im Mythos die Funktion hat, das sinntragende Moment als solches hervortreten zu lassen. Der Sonnenaufgang, so könnte man in diesem Sinne sagen, kommt als solcher nur dann zur Wirkung, wenn er vor dem Dunkel des weichenden Nachthimmels in Szene gesetzt wird. Erst die gemeinsame Ausrichtung a l l e s sinnlich Erlebbaren auf den nicht-anschaulichen Sinn ist es, die das Werk zu einem „kohärenten Strukturganzen“ 112 werden lässt. „Jeder einzelne Bestandteil“, so die Formulierung Cassirers, „muß als Teil eines umfassenden Ganzen wahrnehmbar werden. Verändern wir in einem Gedicht ein Wort, eine Betonung, einen Rhythmus, so laufen wir Gefahr, den spezifischen Ton und den Reiz dieses Gedichtes zu zerstören.“ 113 Die ‚Kraft, reine, sinnlich wahrnehmbare Formen hervorzubringen‘, rundet das Kunstwerk also zuletzt zu einem Ganzen, in dem jeder einzelne Bestandteil ebenso auf den durch Darstellung und Ausdruck hervorgebrachten ästhetischen Sinn ausgerichtet ist wie jeder einzelne Bestandteil der mythischen Welt auf das zentral in ihr positionierte ‚Ungemeine‘. 114 Auf diese Weise entsteht das Kunstwerk vor unseren Augen als eine Welt, die der Welt des Mythos gleicht, weil sie nach ähnlichen Regeln geformt ist. Auch sie nimmt ihren Ausgang bei einem subjektiv ‚bedeutsamen‘ Kern und wächst in einem Dreischritt von Hervorhebung, Objektivierung und zentraler Orientierung sozusagen aus ihm heraus. Dabei konstituiert auch sie sich als ein kristallartig strukturiertes Ganzes, dessen Elemente insgesamt auf den Kern hin ausgerichtet sind und durch ihr gemeinsames Hinweisen auf ihn aufmerksam machen. Auch in ihr wird der Kern in einem Akt der ‚Belebung‘ (das heißt der Projektion eines Subjektiven in die ‚äußere‘, dargestellte Welt) zur unsichtbar regierenden Macht, zum ‚Sinn des Ganzen‘, erhoben. Und auch für sie gilt, dass sich der Zusammenhang von ‚Gott‘ und (gestaltender) Weltwahrnehmung in diesem Akt gewissermaßen umkehrt. Wie der (Sonnen-)Gott die mythische Welt, so scheint auch der Sinn das Kunstwerk als Ganzes zu beherrschen - er scheint dessen Welt zu gestalten, obwohl er ja ‚eigentlich‘ durch die Gestaltung erst hervorgebracht wird. 115 Bezeichnet man hieran anschließend den ästhetischen Sinn als den ‚Gott‘ der Kunst und umgekehrt den mythischen Gott als den ‚Sinn‘ des Mythos, so ist die Analogie von Kunst und Mythos als eine Parallele des sinnbildenden Verfahrens zu charakterisieren. So gesehen ist die Kunst ein ‚formaler Mythos‘, weil sie Sinn auf dieselbe, ‚architektonische‘ Art erzeugt: durch die Art und Weise, wie sie ihn in Form übergehen und aus Form hervorgehen lässt. Es ist leicht zu sehen, dass diese Beschreibung mit der wichtigsten Gemeinsamkeit zugleich den entscheidenden Unterschied zwischen Kunst und Mythos erfasst. Denn dass 111 Beide Zitate ebd., S. 219. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 257. 114 Vgl. dazu Cassirer 1925 / 2002, bes. S. 92. 115 Vgl. dazu Lugowskis Formulierung, dass in der Dichtung „das Einzelne vom Ganzen aus ‚regiert‘ wird“ (1932 / 1994, S. 53). Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 101 der ästhetische Sinn der Kunst ebenso wenig ein Gott wie der mythische Gott bloß (ästhetischer) Sinn ist, bedarf ja keiner weiteren Erklärung. Warum diese beiden so unterschiedlichen Phänomene trotzdem allein als das Resultat unterschiedlicher ‚Sichtweisen‘ aus ein- und demselben ‚sinnlichen‘ Erlebnis entstehen, warum sie also keinen Unterschied in der (formalen) G e s t a lt u n g der Welt, sondern nur ein anderes Ve r s t ä nd n i s derselben implizieren, soll im nächsten Abschnitt erläutert werden. Der Deutlichkeit halber greife ich dafür noch einmal auf Cassirers Gedanken vom Herauswachsen der Kunst aus dem „Mutterboden des Mythos“ 116 zurück. Ich will damit nicht den Eindruck erwecken, die Kunst sei durch eine Art von Interpretation doch irgendwie aus dem Mythos entstanden, sondern lediglich den Zusammenhang im Prozess der Symbolisierung illustrieren. Auf diese Weise sollen nicht nur die Parallelen und Referenzen zwischen Kunst und Mythos besser verständlich werden; ich will vielmehr auch zeigen, was die Kunst selbst bei größter Annäherung an den Mythos noch als Kunst ausmacht. Was ich im Folgenden als Metamorphose des mythischen Gottes in ästhetischen Sinn schildere, meint mithin eigentlich einen systematischen Vorgang, der die Kunst in drei Schritten vom Mythos abhebt. Diese drei Schritte sind: die Individualisierung, die reflexive Befreiung und die Erweiterung von Sinn. 2.1.2.4 Sinn-Differenz. Zur Eigenständigkeit der ästhetischen Weltsicht Ausgehend von Cassirers Darstellung der ‚kritischen‘ Bewegung, durch die sich die Kunst vom Mythos ablöst, hat man sich die Verwandlung des mythischen Gottes in ästhetischen Sinn etwa folgendermaßen vorzustellen: Sie beginnt damit, dass der „Geist zu der ganzen Sphäre des Bildes in ein neues Verhältnis tritt“. 117 Der Mensch lernt, zwischen Bild und Sache zu unterscheiden, erkennt das Bild, das er sich von der Welt macht, als Bi ld und lässt es so als eine ‚wirklichkeitsenthobene‘ Gestaltung der Welt neu erstehen. 118 Im Ergebnis dieser ‚Sonderung‘ erscheint das subjektiv bedeutsame Zentrum der - nunmehr als Darstellung gewussten - Bildwelt demnach zwar noch als Gott, doch wirkt es als solcher nur noch innerhalb derselben. Es hat sich von der magisch-mythischen Vorstellung realen Wirkens gelöst. Zu Kunst im engeren Sinne wird dieses Bild einer mythischen Welt dadurch freilich noch nicht. Das geschieht erst dann, wenn zur Sonderung von Bild und Sache noch eine zweite hinzukommt: die von (subjektiver) Darstellung und (objektiv) Dargestelltem. Man kann diese zweite Sonderung insofern als eine notwendige Konsequenz der ersten begreifen, als in dem Moment, da die Darstellung der Welt als D a r s t e l lu n g begriffen wird, notwendig auch ein Bewusstsein dafür entsteht, dass der Mensch diese Welt selbst erschafft. Dieses Bewusstsein bewirkt weiter, dass der Erschaffende seine Subjektivität, um sich ihrer zu entäußern, nicht mehr nur in die dargestellte Welt selbst, sondern auch in deren Darstellung hineinprojizieren kann. Um aus dem Bild zu ‚sprechen‘, muss also etwa die Freude, die der Künstler beim Anblick des Sonnenaufgangs empfindet, nicht objektiv zum Gott werden. Es genügt, wenn sie durch besondere Darstellungsmittel (der Farbe, der Komposition etc.) im Bi ld des Sonnenaufgangs als s u bje k t ive r Au s d r u c k von Freude erkennbar wird. Die Freude ‚spricht‘ dann zwar ebenso aus dem Bild, wie das Göttliche aus 116 Cassirer 1925 / 2003, S. 266. 117 Cassirer 1923 / 2003, S. 93. 118 Vgl. bes. ebd., S. 93 f. und Cassirer 1925 / 2003, S. 32 f. 102 Formaler Mythos - Revision der mythischen Welt spricht, doch tut sie dies nun als künstlerisch erzeugter Sinn. 119 Daran ändert sich im Prinzip auch dann nichts, wenn der Künstler seiner Freude tatsächlich die Gestalt eines Gottes verleiht. Denn auch dann bleibt sie subjektiver Ausdruck - vorausgesetzt natürlich, dass man sie als solchen auffasst. Ob das Bild des Sonnenaufgangs Kunst oder ob es das Abbild einer mythischen Welt ist, hängt also ggf. nicht nur von seinem Maler, sondern auch von seinem Betrachter ab. 120 Mindestens ebenso wichtig wie diese Einsicht ist aber die Erkenntnis, dass Kunst in jedem Fall erst durch eine bestimmte Einstellung zum Bild entsteht, durch die Art und Weise, wie sie (produktiv oder rezeptiv) als Bild verstanden wird. Kunst verstehen heißt demnach, ihre (objektive) Darstellung einer Welt in irgendeiner Weise als subjektiven (oder geistig-ideellen) Ausdruck des Darstellenden aufzufassen. In diesem Sinne identifiziert etwa auch Marion Lauschke die ‚individualisierende‘ Bindung des ästhetischen Erlebens an „den personalen Gegenstandsaufbau des einzelnen Künstlers“ als die Ur-Teilung der Kunst. 121 Von diesem Punkt aus ist der dreigliedrige Ablösungsvorgang, den zu schildern ich eben angekündigt habe, leicht nachzuvollziehen. Der erste Schritt dieses Vorgangs ist durch die Verknüpfung der ästhetischen Weltgestaltung mit der Individualität des Künstlers bereits getan. Da das subjektive Zentrum des Kunstwerks in dem ihm eigenen ästhetischen Gegenstandsaufbau deutlich als ein Subjektives aufscheint, wird es zugleich als ein Individuelles, genauer, als eine individuelle Pe r s p e k t ive auf die jeweils dargestellte Welt erkennbar. 122 Die individuelle Dimension der Kunst, ihre Eigenart, alle Dinge als konkret erlebte oder erlebbare darzustellen, hebt Cassirer im ‚Versuch über den Menschen‘ besonders heraus. Dort erläutert er am Beispiel der Landschaftsmalerei: [D]er Künstler porträtiert oder kopiert nicht einen bestimmten empirischen Gegenstand - eine Landschaft mit ihren Hügeln und Bergen, ihren Bächen und Flüssen. Was er uns zeigt, ist die individuelle, augenblickliche Physiognomie dieser Landschaft. […] In der Sinneswahrnehmung begnügen wir uns damit, die vertrauten, konstanten Merkmale der Gegenstände in unserer Umgebung zu erfassen. Die ästhetische Erfahrung hingegen ist unvergleichlich viel reicher. Sie schließt unendliche Möglichkeiten in sich, die in der gewöhnlichen Sinneserfahrung unverwirklicht bleiben. In der Arbeit des Künstlers werden diese Möglichkeiten aktualisiert; sie werden freigesetzt und nehmen Gestalt an. 123 Dass die hier angesprochene „individuelle Physiognomie“ nicht nur auf der Einzigartigkeit des augenblicklich Sichtbaren, sondern auch auf der Individualität des Sehens beruht, 119 Cassirer formuliert diesen Gedanken so: „Was in der Dichtung zum Ausdruck gelangt, das ist nicht mehr die mythische Welt der Dämonen und Götter […]. Von [ihr] trennt sich die Welt der Poesie als eine Welt des Scheines und des Spiels ab - aber in diesem Schein gelangt erst die Welt des reinen Gefühls zur Aussprache“ (ebd., S. 311). 120 Es erscheint insofern nur konsequent, dass Cassirer in seiner Darstellung der Kunst nicht zwischen Produktion und Rezeption trennt. 121 Lauschke 2007, bes. S. 223-239, hier S. 234. 122 Vgl. dazu noch einmal Lauschke: „Cassirer stellt die Kunst denjenigen symbolischen Formen gegenüber, die ein theoretisches Weltbild aufbauen, welches durch wachsende Distanz zur unmittelbaren Lebenswirklichkeit gekennzeichnet ist. Die Kunst hingegen helfe, die konkrete, individuelle Erfahrung des Lebens wiederzugewinnen, indem sie die erstarrte, intersubjektiv akkreditierte symbolische Ordnung verflüssige. […] Die Funktion der Kunst besteht in der Zersetzung der Gegenstände des theoretischen Weltbilds durch den Aufbau von personaler, durch ihren Zeugnischarakter geprägter Gegenständlichkeit“ (ebd., S. 188). 123 Cassirer 1990 / 1992, S. 223. Vgl. dazu auch die Formulierungen in Cassirer 1931 / 2004, S. 418 f. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 103 macht gleich darauf ein Bericht aus den Erinnerungen des Malers Ludwig Richter deutlich. Dieser, so Cassirer, beschloss als junger Mensch zusammen mit zwei Freunden […], jeder von ihnen solle dieselbe Landschaft malen. Alle waren fest entschlossen, nicht von der Natur abzuweichen […]. Und doch kamen drei ganz verschiedene Bilder zustande, so verschieden voneinander wie die Persönlichkeiten der Künstler. Aus dieser Erfahrung zog der Erzähler den Schluß, daß es objektives Sehen nicht gebe und daß Form und Farbe je nach dem unterschiedlichen Temperament verschieden aufgefaßt werden. 124 Wer das Bild ‚Freude im Sonnenaufgang‘ mithin als Kunst zu verstehen weiß, der muss erkennen, dass es den Sonnenaufgang nicht einfach so darstellt, wie er sich in einer bestimmten raumzeitlichen Konstellation objektiv gestaltet, sondern so, wie der Künstler ihn entweder erlebt hat oder als zu erlebenden vermitteln will, und dass die Freude, die aus ihm ‚spricht‘, demgemäß (und unabhängig von der Gestalt, die sie in ihm annimmt) kein realer ‚Bewohner‘ des Sonnenaufgangs, sondern eine Zuschreibung des Künstlers ist. Was im Mythos objektiv als der ‚Sinn der Welt‘ erschien, das wird also hier als eine individuelle Sinnerfahrung bzw. Sinndeutung fassbar. Mit dem Verweis auf die ‚Sinn e r f a h r u n g bzw. Sinnd e ut u n g‘ schließt der zweite Schritt, durch den sich das künstlerische Weltverstehen vom Mythos entfernt, direkt an. 125 Sobald nämlich der Sinn des Kunstwerks als individuelle Zuschreibung des Künstlers erkennbar wird, kann er in seiner Eigenschaft als Perspektive auf die Welt, als Mög l ic h k e it des Weltverstehens, erfasst werden. Der Betrachter des Kunstwerks ‚Freude im Sonnenaufgang‘ nimmt die Freude zwar noch immer unmittelbar wahr, doch wird er nicht mehr wie im Mythos (oder doch zumindest nicht im gleichen Maß) von ihr „gebannt und gefangengenommen“. 126 Weil er die Freude als eine individuelle Erfahrungsperspektive, als ein individuelles Deutungsangebot erkennt, steht er ihr jetzt frei gegenüber. 127 Er kann sie übernehmen oder ablehnen - vor allem aber kann er sie als Erfahrung und Deutung der Welt reflektieren. 128 Cassirer beleuchtet diese Freiheit zur Reflexion, das gedankliche Abstandnehmen von der künstlerisch dargestellten Welt, 129 besonders eingängig in einer Passage des ‚Versuchs über den Menschen‘, die von der kathartischen Kraft dichterischer Emotionsdarstellung handelt. Katharsis entsteht ihm zufolge dadurch, dass die Kunst die Präsenzerfahrung des Mythos zwar ebenfalls erzeugt, sie aber in einen reflexiven Abstand setzt: den Abstand der „Gelassenheit“. 124 Ebd., S. 223 f. Hier schließt sich die Problematik des Stils an. Zum Verhältnis von Stil und Individualität bei Cassirer bes. Küker 2002, S. 141-151, vgl. Naumann 1998, bes. S. 35-47. 125 Das Moment der Deutung begreift Küker als zentrales Spezifikum der Kunst. Er akzentuiert die Deutung als ihren Beitrag zum Verstehen der Welt (2002, bes. S. 14 f., 86-96). Ähnlich Recki 2004, S. 112 f. 126 Cassirer 1925 / 2003, S. 257. 127 Vgl. dazu auch Cassirers Formulierung: „Hier [im Kunstwerk, CK] wird ihm [dem Wort, CK] wieder die Fülle des Lebens zuteil: Aber dieses Leben ist nicht mehr das mythisch gebundene, sondern das ästhetisch befreite Leben“ (ebd., S. 311). Die Freiheit der Kunst als Gegensatz zum Bann des Mythos betont auch Lauschke 2007, S. 293, vgl. Rudolph 2003, S. 216. 128 „Freiheitsgewinn bedeutet bei Cassirer stets eine Erhöhung des Grades an Reflexion“ (Lauschke 2007, S. 174). Vgl. Küker 2002, S. 86-96 und Recki 2004, S. 109-116. 129 Dazu etwa die prägnante Formulierung in Cassirers Aufsatz ‚Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum‘: „Denn als Inhalt der künstlerischen Darstellung ist das Objekt in eine neue Distanz, in eine Ferne vom Ich gerückt“ (1931 / 2004, S. 423). 104 Formaler Mythos - Revision Die Gelassenheit […], die wir angesichts großer Dichtung verspüren, ist nicht die der Erinnerung. Die Emotionen, die der Dichter weckt, gehören nicht einer fernen Vergangenheit an, Sie sind ‚hier‘ - lebendig und unmittelbar. Wir sind uns ihrer in ihrer vollen Kraft bewußt, und diese Kraft strebt in eine neue Richtung. Sie wird gesehen und nicht unmittelbar gespürt. Die Leidenschaften sind jetzt keine dunklen, undurchsichtigen Mächte mehr; sie werden gleichsam durchsichtig. 130 Bezeichnend ist, dass Cassirer gerade in diesem Kontext die Rolle der künstlerischen Aufmerksamkeitslenkung betont. Er zitiert Shakespeare mit einem Ausspruch Hamlets, dem zufolge es Vorhaben und Zweck des Schauspielens sei, „der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eignes Bild und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.“ 131 Die Kunst, so kann man ihn paraphrasieren, nimmt nicht einfach nur eine individuelle Perspektive auf ihre Gegenstände ein, sondern sie zeigt diese Perspektive ganz bewusst vor, um ihre Betrachter zur Reflexion anzuregen. Shakespeare, so fügt Cassirer seinem Hamlet-Zitat hinzu, hätte den Worten Leonardos zugestimmt, daß ‚saper vedere‘ die höchste Gabe des Künstlers sei. Die großen Maler zeigen uns die Formen der äußeren Dinge; die großen Dramatiker zeigen uns die Formen unserer inneren Realitäten. Die dramatische Kunst erschließt eine neue Dimension des Lebens. Sie vermittelt ein Bewußtsein von menschlichen Belangen und Geschicken, von menschlicher Größe und menschlichem Elend, dem gegenüber unser Alltagsdasein arm und belanglos erscheint. Wir alle fühlen unbestimmt und schattenhaft die unendlichen Potentialitäten des Lebendigen, die in der Stille auf den Augenblick warten, da sie aus dem Schlummer in das helle, intensive Licht des Bewußtseins gerufen werden. 132 Diese intensiv bewusst-machende Wirkung ist es auch, die für Cassirer das Wesen der künstlerischen „Entdeckung von Wirklichkeit“ 133 bestimmt: Indem uns die Kunst einen Gegenstand aus ihrer individuellen Perspektive zeigt, reißt sie ihn aus unserer alltäglichen Wahrnehmung heraus und lässt uns ‚entdecken‘, dass wir ihn auch anders sehen oder anders über ihn denken können, als wir es zuvor gewohnt waren - oder dass wir ihn, anders als wir es zuvor gewohnt waren, überhaupt als einen sehens- und nachdenkenswerten wahrnehmen können. Die Neuerung der Kunst, die Eigenart, die ihrem Weltverstehen eine autonome Richtung gibt, besteht mithin nicht einfach darin, den realen ‚Sinn‘ des Mythos in den Bereich des Nur-Möglichen zu transponieren. Die Kunst zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie Sinnperspektiven nicht festlegt und einschränkt, sondern aufzeigt und vermehrt. Sie zentriert eine bestimmte Deutung der Welt - wie etwa die ‚Freude im Sonnenaufgang‘ - nicht, um sie wie der Mythos als objektiv weltbeherrschend zu präsentieren, sondern um durch sie unsere Wahrnehmungsgewohnheiten aufzubrechen, uns die Welt (den Sonnenaufgang) in neuer Bewusstheit betrachten und als möglicherweise sinnbesetzt reflektieren zu lassen. 130 Cassirer 1990 / 1992, S. 226 f. Es finden sich im Folgenden noch weitere Formulierungen, die die befreiende Wirkung des ästhetischen Sichtbar-Machens in einen Gegensatz zur mythischen Präsenz und zum mythischen Bann setzen. Besonders prägnant: „Wir leben in dieser beschränkten Welt, aber wir sind nicht mehr an sie gefesselt. Darin besteht das Eigentümliche der komischen Katharsis. Dinge und Ereignisse verlieren ihr materielles Gewicht; Hohn und Spott lösen sich in Lachen auf, und Lachen ist Befreiung“ (ebd., S. 232). 131 Cassirer zitiert ebd., S. 227 den 2. Aufzug des dritten Akts. 132 Ebd., S. 227 f. 133 Ebd., S. 220. Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 105 Von der Öffnung des Blicks für verschiedene Sinnperspektiven ist es zum letzten Schritt der Ablösung vom Mythos insofern nicht weit, als eine Öffnung meist auch eine Erweiterung bedeutet. Diese Erweiterung besteht im Falle der Kunst in einer enormen Vervielfältigung dessen, was als Sinn erscheinen kann. Ich hatte im letzten Abschnitt bereits darauf hingewiesen, dass Dichtkunst keineswegs, wie Cassirer in seinen früheren Schriften zur Symbolphilosophie meint, stets „Ausdruck […] der reinen Dynamik des Gefühls“ ist, 134 sondern dass sie auch Wahrnehmungen, Meinungen oder Weltanschauungen zu vermitteln vermag. So ist etwa mein Beispiel von der Darstellung des Sonnenaufgangs natürlich nicht auf den Ausdruck der Freude festgelegt: Diese Darstellung könnte ebenso eine bloße Impression oder eine beliebige individuelle Sinndeutung (wie z. B. das Aufdämmern einer neuen Epoche) illustrieren. In diesem Sinne betont Cassirer auch selbst im ‚Versuch über den Menschen‘, dass die Kunst eine ‚Entdeckung von Wirklichkeit‘ schlechthin, in all ihren Aspekten, sei; dass sie uns lehre, die Welt in ihrer ganzen Fülle wahrzunehmen, zu fühlen und zu deuten. 135 Der Gefühlsausdruck, der in den frühen Schriften noch das Prinzip der Kunst als symbolische Form zu sein schien, tritt entsprechend jetzt in seiner Bedeutung zurück und repräsentiert nur noch einen ihrer „Pol[e]“ - denjenigen nämlich, an dem die expressiven Gattungen ihren darstellenden Äquivalenten gegenübertreten. 136 In dem Moment aber, da die Kunst nicht nur Affekte, sondern jede Art von geistigem Gehalt zentrieren kann, ist der Punkt erreicht, an dem sie den Dunstkreis des Mythos endgültig verlässt. Denn von nun an erschöpft sie sich nicht mehr in der künstlerisch-ästhetischen Darstellung von Welten, die, da sie von Emotionen wie von Göttern erfüllt sind, auch als mythische verstanden werden könnten. Die nun erschaffenen, nur-künstlerischen Welten sind zwar noch immer so aufgebaut wie die Welt des Mythos. Da sie sich aber um eine andere Art von Zentrum gruppieren, ist ihr Sinn alles andere als ein subjektivierter und reflektierter Gott. Für sie bezeichnet ‚Sinn‘ alles, was einen konkret-anschaulichen Gegenstand der äußeren Welt zum Ausdruck eines Nicht-anschaulich-Geistigen werden lässt. Anders als der Mythos kann die Kunst damit grundsätzlich auf alles aufmerksam machen, das irgendwie im Bereich der menschlichen Erfahrung liegt. Und anders als der Mythos tut sie dies mit der Absicht, die Welt nicht gültig zu erklären, sondern immer wieder neu zu ‚entdecken‘. Kunst ist sinnvoll, wenn sie eine individuelle ‚Ansicht‘ von den Gegenständen der Welt gibt, sie uns auf diese Weise neu sehen lehrt und uns so den Weg aus unserer Alltagsblindheit zu einer bewussten und (selbst-)reflexiven Weltwahrnehmung zeigt. 2.1.3 Fazit Die Antwort auf die Frage, was die Dichtung in ihrer sinnbildenden Geformtheit soweit mit dem Mythos verbindet, dass sie selbst als in irgendeiner Weise mythisch qualifiziert werden müsste, kann somit eigentlich nur lauten: Nichts! - Zumindest dann, wenn man die Dichtung in ihrer Eigenschaft als Dic ht u n g betrachtet. Denn obwohl sie mit dem Mythos 134 Cassirer 1923 / 2003, S. 95. 135 Vgl. bes. Cassirer 1990 / 1992, S. 216-220. 136 Cassirer spricht an dieser Stelle von einem objektiven und einen subjektiven Pol der Kunst: Ebd., S. 213, 225 f. u. ö. Dass er den zweiten dieser Pole als den des „Ausdrucks“ bezeichnet, deutet freilich darauf hin, dass er auch hier nicht ganz klar zwischen ‚Innerlichkeit‘ (Subjektivität allgemein) und ‚Gefühl‘ (Emotionalität bzw. Affektivität) unterscheidet. Vgl. dazu etwa auch die Formulierungen ebd., S. 236 f., auch 1931 / 2004, S. 422. 106 Formaler Mythos - Revision die (formalen) Verfahren sowohl des Gegenstandsaufbaus als auch der Sinnbildung teilt, und obwohl es ihr deshalb durchaus möglich ist, ihre eigene, ästhetische Form auf einen mythischen Sinn hin durchsichtig zu machen, ist es all dies doch eben nicht, was sie ausmacht. Zu (Dicht-)Kunst im engeren Sinne des Wortes wird sie nämlich gerade nicht durch das, was sie mit dem Mythos teilt, sondern vielmehr durch das, was sie - und zwar auch und gerade dann, wenn sie eine mythische Welt darstellt - vom Mythos unterscheidet. (Dicht-) Kunst ist sie demnach deshalb, weil sie ihre Welten - auch wenn es dieselben sind - grundsätzlich anders auffasst als der Mythos; weil sie selbst den mythischen Gott, indem sie ihn in ihre Darstellung bannt und an den Geist des Künstlers bindet, von der Realität abscheidet und ihn als einen ästhetisch zu deutenden auf einen Sinn verpflichtet, der nicht mehr mit ihm selbst identisch, sondern der Sinn des Kunstwerks ist. Um den mythischen Anteil, den die (Dicht-)Kunst in ihrem Weltgestalten generell bewahrt, schlagworthaft zu klassifizieren, könnte man Schlaffers Diktum mithin geradezu umkehren. Nicht das Nachleben des mythischen Sinns in der ästhetischen Form ist es, das die Dichtung ausmacht, sondern vielmehr das ‚Aufleben‘ des ästhetischen Sinns aus der mythischen Form, oder genauer: sein Entstehen aus einer Form, die mythisch sein könnte, wenn sie nicht durch einen Wandel in der ‚Richtung des Weltverstehens‘ ebenfalls zu einer ästhetischen geworden wäre. Inwiefern es nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll ist, die Form der Dichtung weiterhin mit Lugowski als mythisch zu bezeichnen, muss vor dem Hintergrund dieser Einsicht bezweifelt werden. Denn der Verweis auf ihre mythische Geformtheit hat ja für das Verständnis der Dichtung als Dichtung nur einen eingeschränkten Mehrwert: Dass ihre ‚mythische‘ Form auch mythisch wirksam sein könnte, wenn sie in die Ordnung einer mythischen Welt eingebunden würde, mag zwar im Einzelfall sein, ist aber für die Erfassung ihrer ästhetischen Wirkung nur bedingt hilfreich. Selbst wenn also z. B. ein Reimklang seine Hörer so ergreift, dass sie sich von ihm wie durch einen Hauch von Heiligkeit angeweht fühlen, können sie seinen Sinn dennoch nur im Zusammenhang der ästhetischen Ordnung des Textes erschließen (oder diesen andernfalls missverstehen). Man mag dem zwar entgegenhalten, dass die Wirkung des Reimklangs doch immerhin wenigstens subjektiv noch so etwas wie eine magische sei. Gerade wenn dem so ist, gilt jedoch, dass sie sich als solche nur in einem Darstellungsganzen entfaltet, das als G a n z e s eben kein mythisches, sondern ein ästhetisches ist, und das damit auch in seinen (quasi-) mythischen Anteilen nur als ein ästhetisches angemessen erfasst werden kann. Es scheint mir deshalb angebracht, das Prädikat der formalmythischen Beschaffenheit im Bereich der Dichtung künftig sowohl konsequent zu beschränken als auch stärker auf ihre ästhetischen Funktionen zu beziehen. Es ist also zum einen solchen Gestaltungsmitteln vorzubehalten, die durch ihre ‚mythische‘ Form auch einen (annähernd) mythischen Sinn (etwa magisch-bezaubernde Wirkungen oder schicksalhaft vorherbestimmte Welten) hervorbringen, und zum anderen sollte in diesem Kontext immer danach gefragt werden, welche Wirkung, oder genauer: welche sinnbildenden Effekte sich daraus für das Verständnis der Dic ht u n g ergeben. 137 Überall da, wo es um die Dichtung als Dichtung geht, und 137 Genau dies tut Martínez, wenn er den Erzähltyp der ‚doppelten Welt‘ auf den jeweils realisierten ästhetischen Effekt befragt. Inwiefern dieser Erzähltyp gleichwohl „auf einen Bedarf an Kontingenzbewältigung antworte[t]“ und inwiefern dies mit dem Weltbild der Moderne zusammenhängt, müsste daran anschließend freilich noch weiter erörtert werden (1996, bes. S. 203-214, hier S. 210). Ähnliches gilt in verstärktem Maße für Hoffmanns These zur Mythizität der Artusromane Hartmanns von Aue, die das mythische Moment der mittelalterlichen Texte zwar zunächst nur punktuell verortet (2012, Zum Verhältnis von Mythos und Kunst in Cassirers Symbolphilosophie 107 insbesondere dann, wenn man wie Lugowski bloß darauf abheben will, dass diese durch das simple Faktum ihrer Komponiertheit einen ästhetischen Sinn erzeugt, würde ich hingegen dafür plädieren, den ‚formalen Mythos‘ aus dem Repertoire der literaturwissenschaftlichen Beschreibung zu streichen. Dieser Schluss beraubt Lugowskis Konzept insofern noch des letzten Rests seines Geltungsanspruchs, als er bestätigt, dass die pauschale Parallelisierung mit dem Mythos tatsächlich nicht dazu beitragen kann, den Prozess der dichterischen Sinnbildung besser zu verstehen. Dass er gerade dadurch die Möglichkeit eröffnet, Lugowski richtig aufzufassen und damit literaturwissenschaftlich verwertbar zu machen, mag hieran anschließend zunächst überraschen, wird bei näherem Hinsehen aber ohne weiteres einsichtig. Denn jetzt, wo klar ist, dass der von Lugowski beschriebene Zusammenhang kein mythischer ist, stellt sich notwendig die Frage, was er stattdessen bezeichnet. Die Relevanz dieser Frage ergibt sich dabei schon allein daraus, dass Lugowskis Kategorien sich unabhängig von ihrer Begründung in der literaturwissenschaftlichen Praxis bewährt haben. Ja mehr noch: Dass in dieser Praxis immer wieder auf sie zurückgegriffen wird, obwohl man sich ihrer unzureichenden Begründung (mehr oder weniger) bewusst ist, weist darauf hin, dass die Phänomene, die nur mit ihnen benannt werden können, offenbar aus anderen narratologischen Modellen herausfallen; - was wiederum bedeutet, dass Lugowskis Begriffe nicht nur einen praktischen Mehrwert haben, sondern auch eine erzähltheoretische Leerstelle markieren. Sie bezeichnen ein Phänomen, das die Narratologie offenbar bisher nicht hinreichend deutlich erfasst hat. Wenn ich im Folgenden versuche darzulegen, wie Lugowski sein Vorhaben hätte formulieren müssen, wenn er die ‚Künstlichkeit‘ der Dichtung nicht als eine Form des Mythos missverstanden hätte, dann gehe ich deshalb nicht allein endgültig von der Dezur Re- (bzw. Neu-)Konstruktion seines Modells über. Vielmehr leite ich darüber hinaus auch einen Perspektivwechsel ein, der von der Frage nach dem Kerngehalt von Lugowskis Entwurf (wieder) zurück zu den Sinnbildungsformen des höfischen Romans führen soll. Die genauere Bezeichnung der Leerstelle, auf die Lugowskis Ausführungen hindeuten, ist in diesem Zusammenhang deshalb wichtig, weil sie, so zumindest meine These, den literarischen Typus dieser mittelalterlichen Gattung in besonderer Weise betrifft. Der nächste Abschnitt nähert sich einer Begründung dieser These an, indem er die Frage nach dem Mythos endgültig fallen lässt und sich stattdessen konsequent dem von Lugowski fokussierten Typ dichterischer Sinnbildung widmet. S. 94), diese dann aber in einer Weise insgesamt als entbzw. remythisierend anspricht, dass am Ende schwer unterscheidbar ist, welche Effekte als mythisch und welche als literarisch-ästhetisch anzusprechen sind, bzw. worin der spezifisch ästhetische Sinn des mythischen Erzählens besteht. Dass Hoffmann für Hartmanns Texte mit einer weitgehenden Durchmischung bzw. einem fließenden Übergang von Mythos in Literatur rechnet, ist nur konsequent (zusammenfassend ebd., S. 344-357); es bedeutet jedoch zwangsläufig den Rückfall in die Annahme des mythischen Mittelalters („[…] mag letztlich Ausdruck einer spezifischen Alterität mittelalterlicher Literatur sein, die in den Artusromanen Hartmanns von Aue noch eng an mythische Traditionen und Vorstellungen gebunden ist.“, ebd., S. 357). Wie quasi-mythische Effekte differenzierter auf ästhetische Wirkungen hin gelesen werden können, werde ich in meiner Lektüre des ‚Tristan‘ erproben (Kap. III.3.4.2.2). 108 Formaler Mythos - Revision 2.2 Künstlichkeit. Einem historischen Sinnbildungstyp auf der Spur Was also bezeichnet die von Lugowski beschriebene ‚Künstlichkeit‘, wenn sie nicht mythisch ist? Diese Frage zu beantworten, ist leicht und schwierig zugleich. Leicht ist es insofern, als auf der Hand liegt, dass Lugowskis Darstellung auf eine Form der (sinnbildend-) literarischen Gestaltung abzielt, deren spezifische ‚Künstlichkeit‘ darin besteht, dass sie nicht (oder doch nur marginal) darauf angelegt ist, ihren Konstruktionscharakter hinter dem Anschein einer realistischen Wirklichkeitsdarstellung zu verbergen. 138 Bei den von Lugowski fokussierten Erzähltexten macht sich das vor allem im Bereich der Motivation bemerkbar. Weil sie darauf verzichten, das erzählte Geschehen (vollständig) empirisch - d. h. nach dem Modell alltagsweltlich plausibler Begründungen - ‚von vorn‘ zu motivieren, lassen sie einen ästhetisch-konzeptuellen Nexus sichtbar werden, den Lugowski wegen seiner offenkundigen Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel - bei ihm: das Ende der Erzählung - als einen ‚von hinten motivierten‘ bezeichnet. Dass dieser ästhetisch-konzeptuelle Nexus innerhalb der erzählten Welt die Gestalt einer transzendenten Macht annehmen kann, deutet sich dabei zwar bisweilen an, es scheint Lugowski aber nicht weiter zu interessieren: (formal) ‚mythisch‘ ist der Nexus seiner Ansicht nach ja so oder so. Ihm genügt daher die Feststellung, dass das „Ergebnismoment“ sich als ein „reine[s]“ oder „zeitlose[s] Sein“ beschreiben lässt, das die Erzählung (wirklich oder metaphorisch) „regiert“ und das, indem es all deren Elemente an sich bindet, einen g a n z h e it l ic h e n Zu s a m m e n h a lt garantiert. 139 Lugowskis ‚Künstlichkeit‘ betrifft demzufolge zunächst einmal jenen Aspekt von ‚Sinn‘, den ich ganz zu Beginn meiner Arbeit der inneren Ordnung des Textes zugewiesen habe. In ihrer Eigenschaft als eine bestimmte Art der intratextuellen Verknüpfung bezeichnet sie ein Phänomen der narrativen Kohärenz. Dass sie darüber hinaus zudem etwas mit dem zweiten, kontextbezogenen Aspekt der literarischen Sinnbildung zu tun hat, ist demgegenüber weitaus weniger deutlich, und genau hier wird es denn auch schwierig. Dass das Problem abermals aus Lugowskis mythischem Missverständnis resultiert, kann kaum überraschen: Weil er die Künstlichkeit der Dichtung umstandslos auf ein mythisches Weltbild zurückführt, kommt er gar nicht auf die Idee, in ihrer Ganzheit etwas anderes als die Ganzheit der mythischen Welt und in ihrer finalen Ausrichtung etwas anderes als einen Drang zur ergebnishaften Geschlossenheit zu sehen. Wie gründlich er damit an der Sache vorbeigeht, scheint unweigerlich auf, sobald man die Künstlichkeit der Dichtung als eine ästhetisch-konzeptuelle anspricht. Denn dass eine Dichtung ästhetisch konzipiert ist, heißt ja nichts anderes, als dass sie sich (insgesamt) auf ein Ziel richtet, das nicht nur ihren Schluss, sondern sehr viel mehr ihren Sinn bezeichnet. 140 In diesem Punkt ist der Blick auf Cassirer aufschlussreich, der darauf hinweist, dass die „teleologische Struktur“, die jedem Kunstwerk eignet und jedes einzelne seiner Elemente zum „Teil eines kohärenten Strukturganzen“ macht, ganz wesentlich zu seiner ‚wirklichkeitsentdeckenden‘ Wirkung beiträgt. 141 Indem es, so kann man ihn weiter paraphrasieren, ein bestimmtes Moment seiner Darstellung fokussiert, lenkt es die Aufmerksamkeit des Rezipienten zugleich in 138 Vgl. Müller 1999, S. 153 f. 139 Lugowski 1932 / 1994, bes. S. 66-81; zit. S. 80, 53. 140 Darauf verweist im Anschluss an Schmid 2005, S. 241-272 auch Meincke 2007, S. 261 f. 141 Cassirer 1990 / 1992, S. 219. Künstlichkeit 109 sich hinein und aus sich heraus: hin auf das dargestellte Moment und von dort aus weiter auf dessen Entsprechung in der Wirklichkeit, die es auf diese Weise neu sehen lehrt. Die Kunst, so formuliert Cassirer in diesem Sinne, „ist Deutung von Wirklichkeit - nicht durch Begriffe, sondern durch Anschauungen; nicht im Medium des Gedankens, sondern in dem der sinnlichen Formen.“ 142 Diese Beschreibung des zugleich ‚konkreten‘ (da sinnlich erlebbaren) und impliziten (da nicht ausformulierten) 143 Sinns der Kunst ist im vorliegenden Kontext nicht zuletzt deshalb weiterführend, weil sie sich zumindest in Ansätzen auch bei Lugowski findet. Besonders instruktiv ist diesbezüglich eine Passage seiner Einleitung, wo er sich mit dem problemgeschichtlichen Zugang seines Lehrers Rudolf Unger befasst; wenn auch nur, um ihn sogleich zurückzuweisen. Denn zwar, so sagt er hier, könne man wie Unger durchaus mit einem gewissen Recht behaupten, dass die Dichtung dieselben Probleme gestalte wie die Philosophie. Der Umstand, dass sie diese, statt „in diskursiv-theoretischer Gegenständlichkeit“, in „ihrem unmittelbaren konkreten, allgemeinmenschlichen Erlebtwerden“ gestalte, stehe aber bereits dafür ein, dass man sie richtig nicht dann deute, wenn man „die Meinung des Dichters [interpretierend] bloßlegt“, sondern besser daran tue, nach ihren „unbewussten Voraussetzung[en]“ zu fragen. 144 In diesem Sinne, so sagt er, sei es „hier so, dass die Formen selbst etwas meinen“, wobei ihnen ihr Gehalt, wie er wenig später expliziert, „allererst t h e m at i s c h “ mitgegeben sei. 145 Es ist unschwer zu sehen, dass Lugowski, wenn er die Rede von der a-theoretischen Konkretheit der Dichtung nicht bereits an dieser Stelle dahingehend falsch aufgefasst hätte, dass ihr Gehalt letztlich mit einem ‚unbewussten Lebensgefühl‘ ihres Dichters 146 identisch sei, anders hätte formulieren müssen. Die Beschäftigung der Dichtung mit den (von außerhalb ihrer selbst herstammenden und auf sie zurückdeutenden) Problemen des Lebens, so hätte er etwa sagen können, gestaltet sich in dem Sinne ‚konkret‘, dass sie diese, anstatt sie zu verallgemeinern und explizit zu diskutieren, in einem bestimmten Lebenszusammenhang (also z. B. in einer narrativen Handlung) veranschaulicht. 147 Diese Veranschaulichung wäre dann zwar in der Tat nicht mit einer philosophischen Abhandlung über das in ihr enthaltene Problem zu vergleichen gewesen; Lugowski hätte sie aber gleichwohl als eine andere (nämlich dichterisch-ästhetische) Form der Auseinandersetzung werten müssen, um daran anschließend festzustellen, dass diese Auseinandersetzung sich in den von ihm untersuchten Texten offenbar vor allem t h e m at i s c h äußert. Wie eng die Kategorie des Themas mit der Künstlichkeit in Verbindung steht, deutet sich vor allem in den Textanalysen von Lugowskis Voruntersuchung an. Gleich an deren Beginn weist er auf ein Phänomen hin, das er in etwas unklarer Weise so neben das Ergeb- 142 Ebd., S. 226. 143 Der Sinn ist mithin auch in der Kunst nicht-anschaulich im Sinne der symbolischen Prägnanz (wie Kap. I.2.1.2.1), das heißt: Das ästhetische Symbol (das Kunstwerk) verweist zwar auf ihn, benennt ihn aber nicht. 144 Lugowski 1932 / 1994, S. 6 f., 4 f. 145 Ebd., S. 5, 9. 146 Konkret spricht er vom „künstlerischen Gefühl“ (ebd., S. 7). 147 Das impliziert wohlgemerkt weder ein exemplarisches noch ein allegorisches Konzept von Literatur, sondern eher jenes literarische Zu-verstehen-Geben, das sich dadurch auszeichnet, dass es zwar (im Rahmen einer Interpretation) sprachlich ausformuliert, dabei aber nicht auf eine bloße Benennung seines Inhalts zurückgeführt werden kann. Zu dieser Beschreibung von literarischem Sinn etwa Urbich 2011, S. 98-102. 110 Formaler Mythos - Revision nismoment treten lässt, dass es dieses zugleich ergänzt und konterkariert. Da es sich gleichfalls „als nackter Seinsverhalt“ behauptet, der „alle anderen Beziehungen […] unterdrückt“, erfüllt es eine Funktion, die in seiner Vorstellung einer mythisch geschlossenen Welt eigentlich allein dem Ergebnis zukommen sollte. 148 Vielleicht deshalb findet die „thematische Überfremdung“ 149 in der darauffolgenden systematischen Darstellung der Stilzüge des mythischen Analogons keine gesonderte Erwähnung mehr. Weil Lugowski mit ihrer über das rein Faktische der Erzählung hinausgehenden, ‚problemorientierten‘ Bestimmung nichts anfangen kann, lässt er sie im Ergebnismoment aufgehen, um sie dann fallenzulassen. 150 In einer weniger mythisch-weltanschaulich und stärker auf die ästhetische Konzeption des Erzählens ausgerichteten Darstellung wäre er zweifellos anders vorgegangen. Hier hätte er die Einsicht in einen thematischen Zusammenhang, der die auftretenden Figuren „in ihrem Wesen als Menschen überfremdet“ und von sich selbst ‚gehabt‘ erscheinen lässt, notwendig in irgendeiner Weise auf die in ihm sich realisierende Sinnbildung beziehen müssen. 151 Der von Lugowski fokussierte Sinnbildungstyp, so darf man daraus schließen, erscheint nicht nur deshalb besonders ‚künstlich‘, weil er den inneren Nexus der narrativen Darstellung eher ästhetisch-zweckgerichtet (d. h. final) als lebensweltlich-mimetisch ausbildet. Er zeichnet sich vielmehr auch dadurch aus, dass er den außertextlichen bzw. kontextuellen Aspekt, auf den er sich sinnhaft bezieht - also sein Problem bzw. Thema -, dergestalt in die erzählte Welt hindurchwirken lässt, dass er als deren ‚reines Sein‘ erkennbar wird: als das Moment, das diese Welt eigentlich bestimmt. Die Macht, die die erzählte Welt zum Ganzen formt, indem sie jedes Einzelne thematisch überfremdend an sich bindet, ist demzufolge nicht in erster Linie das Ergebnis der Erzählung; es ist vielmehr jener t hem ati s c h-kon z e pt u el le Zus a m men h a ng , der für ihren - über das direkt von ihr Gesagte hinausdeutenden und damit im Sinne Cassirers nicht-anschaulichen - Sinn steht. 152 ‚Künstlich‘ im Sinne Lugowskis ist eine Erzählung damit kurz gesagt immer dann, wenn sie den Sinn, den sie durch ihre innere Fügung hervorbringt, in irgendeiner Weise (ob real oder metaphorisch, spielt hier, wie gesagt, keine wesentliche Rolle) zum ‚regierenden Prinzip‘ ihrer Darstellung erhebt und diese damit als dichterisch ‚gemacht‘ wahrnehmbar werden lässt. Wiewohl diese Definition zweifellos noch ebenso schärfungswie detaillierungsbedürftig ist, deutet sich in ihr doch zumindest an, worin das Alleinstellungsmerkmal besteht, das die von Lugowski entwickelten analytischen Kategorien narratologisch so unentbehrlich erscheinen lässt. Denn die Idee, dass ein (narrativer) Text thematisch besetzt sein und 148 Lugowski 1932 / 1994, S. 24. Zur Erinnerung: Das „reine“ oder „zeitlose Sein“ ist das definierende Merkmal des Ergebnismoments (vgl. ebd., S. 26 u. ö.). 149 Ebd., S. 24. 150 Das geschieht bereits kurz nach ihrer Einführung, wenn er behauptet, dass „das Thema“ der Überfremdung in den ‚Heimonskindern‘ „im […] Ergebnis liegt“ (ebd., S. 26). Was er damit eigentlich meint, übergeht er geflissentlich: dass nämlich das Thema im Ergebnis besonders stark zum Ausdruck kommt, weil sich die Geschichte hier zu jenem Ganzen rundet, das ihre Gesamtbedeutung erst erkennen lässt. 151 Ebd., S. 24. Zum „Gehabtsein“ ebd., S. 35. 152 In unverkennbarer Klarheit tritt dies in dem Phänomen hervor, das Lugowski den „hinterweltliche[n] Charakter“ des Erzählens nennt. Dieser begründet sich darin, dass „[der] eigentlichen Handlung […] eine vorgezeichnete Seinsstruktur zugrunde [liegt], die im Laufe der Handlung in ihren einzelnen Zügen ans Licht gebracht wird“ (ebd., S. 28) und die wohlgemerkt weniger im glücklichen oder unglücklichen Ausgang der Handlung als vielmehr in der sie ‚regierenden‘ thematischen Macht (etwa der Liebe) zu fassen ist. Vgl. dazu auch die Schilderung von Boccaccios ‚hinterweltlicher‘ Liebesauffassung (ebd., S. 33-46). Desgleichen ist das ‚Gehabtsein‘ der Figuren im ‚Dekameron‘ keines durch den Schluss der jeweiligen Novelle, sondern eines durch die Liebe (bes. ebd., S. 35). Künstlichkeit 111 im T h e m a seinen eigentlichen - und ganz dezidiert erzählweltlich realisierten - Sinnzusammenhang finden kann, erscheint zwar aus textlinguistischer Sicht wenig originell, 153 sie ist aber erzähltheoretisch bislang nur in Ansätzen beschrieben worden. 154 Der Grund dafür ist unschwer in einem narratologischen Diskurs zu finden, der nicht allein die in einer Dichtung dargestellten Gegenstände vornehmlich in ihrer Eigenschaft als Nachbildungen von Wirklichkeit fokussiert, sondern der auch den Aufbau der Dichtung selbst in erster Linie mimetisch: als Ergebnis einer narrativen Umsetzung wirklich geschehener Vorgänge beschreibt. 155 In diesem Zusammenhang rückt das Thema einer Erzählung schon allein deshalb nicht oder nur am Rande in den Blick, weil es keiner narrativen Ebene klar zugeordnet werden kann, ja im Fall jenes realistischen Erzähltyps, der hier als Paradigma fungiert, im Text selbst überhaupt nicht greifbar wird. Dass eine ganze Reihe von Erzähltheorien und erzähltheoretischen Einführungen nicht nur das Thema, sondern auch den Sinn des Erzählens mit keinem Wort erwähnt, 156 scheint insofern ebenso nachvollziehbar wie bezeichnend: Da diese etwas repräsentieren, das dem Erzählen implizit bleibt, werden sie aus der narratologischen Betrachtung ausgeblendet und dem Bereich der Hermeneutik zugeschlagen. Wo man sich den Kategorien von Thema und Sinn gleichwohl widmet, erscheinen sie dann konsequenterweise entweder als über mehrere Ebenen verteilte und insgesamt schwer überschaubare Ansammlungen von narrativen Funktionen oder als Äußerungsformen einer an der Erzähloberfläche nur schattenhaft aufscheinenden semantischen Tiefenstruktur. 157 So beschreibt etwa Wolf Schmid die narrative Sinnbildung als einen komplexen Transformationsprozess, in dessen Verlauf (vereinfacht gesagt) ein als historisch imaginiertes Geschehen zunächst unter bestimmten (thematischen) Gesichtspunkten selegiert, dann zu einer (der Ebene der Geschichte angehörenden) „Sinnlinie“ geordnet und schließlich von einem Erzähler wertend präsentiert wird. 158 Partiell greift er dabei auf formalistische bzw. strukturalistische Modelle wie auf Jurij M. Lotmans Raumsemantik oder Algirdas Julien Greimas’ Aktantenmodell zurück, die beide davon ausgehen, dass die meisten Erzählungen als narrativ vermittelte Varianten des immer gleichen (und äußerst beschränkten) Sets von schematisch bestimmten Wert-Transfers bzw. semantischen Wechselwirkungen anzusprechen seien. 159 Es ist wohl kaum nötig, näher auf diese Ansätze einzugehen, um zu sehen, dass sie ungeachtet aller Unterschiede im Detail darin übereinkommen, dass sie den Sinn bzw. das Thema eines Textes als etwas seinem Erzählgegenstand 153 Der thematische Zusammenhang ist ein wesentliches Kriterium der Kohärenz und führt auf das Thema als „Kern des Textinhalts“ zurück. So Brinker 1985 / 2010, S. 40-56, hier S. 49. 154 Das Thema ist vor allem in der russischen Literaturwissenschaft in die Theoriebildung eingegangen, so beim Formalisten Boris Tomaševskij (1985, S. 209-218) sowie bei Roman Jakobson (1960) und Jurij M. Lotman (1972). Im Anschluss daran wird es bisweilen auch in den aktuellen narratologischen Grundlagendarstellungen (kursorisch) erwähnt, etwa bei Schmid 2005, S. 27-31 und Köppe / Kindt 2014, S. 111 f. 155 Eine ähnliche Kritik formuliert Warning 2003, S. 179. Zum Folgenden bes. Bleumer 2015, S. 223-230, 239-241. 156 Ich verweise hier nur exemplarisch auf Genette 1994 / 2010 und Fludernik 2006; auch im Register erzähltheoretischer Begriffe bei Martínez / Scheffel 1999 fehlen beide Begriffe. 157 Als Ausnahme sei die (programmatisch nicht-strukturalistische) erzähltheoretische Einführung von Köppe / Kindt (2014) genannt, deren Verfasser sich nicht nur explizit zum Sinn äußern, sondern immer wieder auch auf Effekte narrativer Gemachtheit und Bedeutungshaftigkeit verweisen. 158 Schmid 2005, S. 236-272, zit. S. 247. 159 Vgl. Lotman 1972, S. 329-340, Greimas 1971; überblickend und zusammenfassend dazu Schulz 2012 / 2015, S. 171-184. 112 Formaler Mythos - Revision grundsätzlich Unter- oder Nachgeordnetes begreifen, als etwas, das dem erzählweltlichen Zusammenhang zwar irgendwie zugrunde liegt oder aus ihm hervorgeht, ihn aber weder vorderhand konstituiert noch direkt bestimmt. Lugowski fasst in seinen ‚thematisch überfremdeten‘ Erzählungen mithin einen Aspekt von Dichtung ins Auge, den sämtliche nachfolgende Erzähltheoretiker übersehen (oder doch wenigstens für weniger relevant gehalten) zu haben scheinen. Indem er ihre ‚Gemachtheit‘ herausstellt, hebt er darauf ab, dass in komponierten Texten der Sinn (in Gestalt der sie ordnenden Absicht) gewissermaßen zuerst da ist und insofern nicht nur den Primat vor den erzählten Ereignissen hat, sondern auch kategorial keineswegs immer klar von ihnen zu trennen ist. Diese Einsicht ist Lugowski zugegebenermaßen insofern nur bedingt als Verdienst anzurechnen, als er im Grunde selbst nicht sieht, was er beschreibt. Dass er darum sozusagen versehentlich auf etwas hinweist, das er gar nicht gemeint hatte - nämlich auf eine ‚Künstlichkeit‘, die nicht die des Mythos, sondern die der Kunst ist -, ist jedoch an dieser Stelle nebensächlich. Worauf es ankommt, ist der Umstand, dass er die später als selbstverständlich angesehenen Unterscheidungs- und Bedingungsverhältnisse zwischen den literarisch dargestellten Gegenständen und ihrer semantischen Besetzung aufhebt bzw. umkehrt und sie so für eine andere Art der Betrachtung zugänglich macht. Der Begriff der ‚Künstlichkeit‘ rückt in diesem Zusammenhang insofern ebenfalls noch einmal in eine etwas andere Beleuchtung, als er nun auch im Gegensatz zu einer Vorstellung steht, die den quasi historiographischen Prozess der Umsetzung von faktischem Geschehen in erzählte Geschichte für den ‚natürlichen‘ Gang der Dinge hält. Auch diese ist, wie hier hinzuzufügen wäre, missverständlich. Anders als es narratologische Modelle wie das von Schmid suggerieren, ordnet nämlich „die Erzählung […] die Geschichte nicht nur […] artifiziell um; vielmehr ist sie immer artifiziell, gerade auch in ihrer scheinbar natürlich-realistischen chronologischen Ordnung,“ 160 und das heißt weiter: Hier wird nicht nur Sinn in die erzählten Gegenstände ‚hineingelegt‘, sondern ebenso sehr werden diese Gegenstände für den in ihnen zum Ausdruck kommenden Sinn er- (bzw. ge-)funden. Wenn aber dergestalt nicht nur der Sinn dem Erzählen, sondern umgekehrt auch das Erzählen dem Sinn ‚dient‘, dann erscheint diesen Zusammenhang zu exponieren als eine Option, die der Dichtung im Prinzip immer offensteht. Ob sie diese Option realisiert, indem sie ihr Geschehen als sinnhaft-komponiert aufzeigt, oder ob sie sie verwirft, indem sie ihre sinnhafte Komponiertheit unter der Maske einer realistischen Handlung verbirgt, erscheint jetzt nur noch als eine Frage der literarischen Konvention und, damit zusammenhängend, der Entscheidung des Dichters sowie der Erwartungen der Rezipienten. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung sind nun auch die universellen und die historischen Implikationen der von Lugowski beschriebenen Form dichterischer Sinnbildung neu zueinander ins Verhältnis zu setzen. Deren ‚Künstlichkeit‘, so wäre zusammenfassend festzuhalten, betrifft die Dichtung insofern generell, als die in ihr zum Ausdruck kommende sinnhafte Komponiertheit sie zunächst einmal allgemein in ihrer Eigenschaft als Kunst bezeichnet. Da nicht jede Dichtung ihre Komponiertheit offen zur Schau stellt - und vor allem nicht in der Weise, die Lugowski als ‚thematische Überfremdung‘ beschreibt -, ist gleichwohl nur ein bestimmter Dichtungstyp im engeren Sinne seiner Beschreibung ‚künstlich‘; und dieser Typ ist zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich präsent. Die Annahme, dass er im Mittelalter häufiger (bzw. zentraler) vorkommt als in der Neuzeit, scheint 160 Bleumer 2015, S. 228. Künstlichkeit 113 dabei insofern naheliegend, als der mittelalterlichen Kunstauffassung nicht nur das neuzeitliche Realismusideal fremd ist, sondern sie darüber hinaus insgesamt stärker dazu neigt, Dichtung als eine Form des verhüllten Sprechens zu begreifen. 161 Dass die Art, in der sie diese Verhüllung im Einzelnen realisiert, auch in der Tat dem von Lugowski angedeuteten Konzept einer dichterischen Konkretion lebensweltlicher Probleme entspricht, ist damit zwar noch nicht gesagt - zumal es ja dies nun gerade nicht ist, was man im Mittelalter als verhülltes Sprechen bezeichnet -; 162 es tritt aber dennoch als Möglichkeit ins Blickfeld der Betrachtung. Am Ende meiner Auseinandersetzung ist somit festzuhalten, dass mit Lugowskis Entwurf als solchem zwar - wie schon konstatiert - nicht allzu viel anzufangen ist. Ihn kommentarlos zu den Akten zu legen, ist aber gleichwohl schon allein deshalb nicht ratsam, weil er mit den Begriffen der ‚Künstlichkeit‘ und der ‚thematischen Überfremdung‘ auf eine Eigenschaft von Dichtung abhebt, die erzähltheoretisch bisher nur unzureichend beschrieben worden ist. Ihn in diesem Punkt aufzugreifen und weiterzuentwickeln, erscheint daher nicht zuletzt im Projekt einer auf Vollständigkeit bedachten Narratologie eine lohnende Aufgabe. Die Ausführungen der nächsten Kapitel behalten dies im Blick, verfolgen aber, wenn sie sich auf die Literatur des Mittelalters konzentrieren, insgesamt ein etwas anderes Anliegen. Dieses besteht darin, den von Lugowski angedeuteten Sinnbildungstyp am Beispiel des höfischen Romans sowohl näher zu umreißen als auch auf eine Form von Dichtung hin zuzuspitzen, in der das Phänomen der thematischen Überfremdung so stark ausgeprägt ist, dass es das Konzept eines sinnhaften E r z ä h le n s fast zu sprengen droht. In dieser Gattung, so meine These, steht der thematische Zusammenhang so weit im Vordergrund, dass er die erzählten Ereignisse nicht nur determiniert, sondern ihnen geradezu den Charakter einer (konkreten) Problemverhandlung gibt. Die Ereignisse gestalten sich also in einer Weise als Chiffren eines in ihnen diskutierten lebensweltlichen Problems, dass man mit einigem Recht danach fragen kann, ob sie besser mit narrativen oder nicht-narrativen Kategorien beschrieben werden können, oder genauer: inwieweit die Narratologie in die Bereiche von Rhetorik und Textlinguistik ausgreifen muss, um sie zu erfassen. 163 Um zu illustrieren, was ich meine - und natürlich, um den folgenden Textanalysen ein gemeinsames Beschreibungsinventar zu verschaffen -, sei der in Frage stehende Sinnbildungstyp im nächsten Kapitel zunächst einmal allgemein umrissen. Dabei knüpfe ich sowohl in der Darstellung der sinnhaften Ordnung von Dichtung als auch in der Frage nach dem Zusammenhang von Form, Sinn und Thema bei Lugowski an, suche aber von ihm ausgehend eigene Wege; - Wege, die punktuell Neuland betreten, daneben aber auch den Anschluss an einige jüngere Ansätze der historischen Narratologie anstreben. Von nun an geht es nicht mehr um ein besseres Verständnis von Lugowskis Ausführungen, sondern darum, die aus ihrer Kritik resultierenden Beobachtungen für die Beschreibung der Form- Sinn-Verhältnisse im höfischen Roman fruchtbar zu machen. 161 In die Kategorie des verhüllten Sprechens kann man den hier fokussierten Sinnbildungstyp - bzw. das Phänomen der literarischen Sinnbildung überhaupt - deshalb einordnen, weil hier implizit etwas zu verstehen gegeben wird, das explizit ungesagt bleibt. Inwiefern dieses Problem auch die Poetologie des höfischen Romans beschäftigt, soll in meinen textanalytischen Kapiteln noch deutlicher werden. 162 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden literarischer und metaphorisch-uneigentlicher Bedeutungskonstitution grundlegend Zymner 2003. 163 Zu diesem Problem überblickshaft ebenfalls Bleumer 2015, S. 234-239. II Thematische Entfaltung. Annäherungen an eine Form literarischer Sinnbildung Künstlichkeit 117 1 Form, Sinn, Thema. Eine erste Verortung Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht also eine ‚Künstlichkeit‘, die von Lugowski zwar in Termen des Mythischen beschrieben wird, eigentlich aber eine Form ästhetischer, oder genauer: narrativ-dichterischer Sinnbildung bezeichnet. In besonderem Maße ‚künstlich‘ ist diese Sinnbildung deshalb, weil sie den Konstruktionsbzw. Kompositionsakt, der jede erzählende Dichtung formt, so in die von ihr dargestellte Welt hindurchwirken lässt, dass diese dem Rezipienten stärker bzw. in anderer Weise (und darin eben: ästhetisch- ‚künstlich‘) sinnhaft bestimmt erscheint als die von ihm erlebte Wirklichkeit. Wie sich diese sinnhafte Bestimmung in der erzählten Welt äußert, deutet Lugowski besonders in seiner Beschreibung der ‚thematischen Überfremdung‘ an, wobei er die Sachlage allerdings insofern bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, als er die Rolle, die ‚Sinn‘ und ‚Thema‘ in diesem Zusammenhang spielen sollten, nahezu komplett einer anderen Instanz zuweist: dem Ergebnis. Was ihn zu dieser Verschiebung bewegt, soll hier nicht nochmals erläutert werden, 1 stattdessen sei danach gefragt, welches Bild des Verhältnisses von Form, Sinn und Thema sich erschließen lässt, wenn man Lugowskis ‚Ergebnismoment‘ in das ‚Sinnmoment‘ umformuliert, das in ihm eigentlich zum Ausdruck kommt. Lugowskis eigene Ausführungen sind in diesem Kontext insofern wegweisend, als sie eine zirkuläre Wechselwirkung von Form und Sinn aufscheinen lassen, in deren Verlauf der Sinn die Form ebenso hervorbringt wie umgekehrt die Form den Sinn. Da Lugowski die sinnhafte Bestimmtheit der Dichtung als eine Bestimmtheit durch ihr Ergebnis begreift, fasst er den Zirkel freilich nicht als einen bedeutungs- oder aussagehaft-semantischen, sondern als einen temporalen: als ein Verhältnis von erzähltem Geschehen und Ergebnis, bei dem das Ergebnis, wo es ins Geschehen hindurchwirkt, dessen Zeitlichkeit aufhebt, ja mehr noch, es in einer Umkehrung aller erzählweltlich erwartbaren Begründungszusammenhänge geradezu zu bedingen scheint. Lugowski formuliert den Nexus pointiert so: Das will hier sagen: nicht das Ergebnis ist durch die Prämissen der Handlung bestimmt, sondern die Einzelzüge der Handlung durch das nur seine Enthüllung fordernde Ergebnis. […] Die Motivierung von Galmys Täuschungsmanöver liegt nicht in irgendeiner Prämisse, sondern in nichts anderem als der großartig einfachen Selbstgenügsamkeit des ergebnishaft sich manifestierenden reinen Seins, das alles endlich-zeitlich Bewegte auf sich hin, in sich hinein zieht. 2 Entscheidend ist, daß die konkrete Realität (die physisch-vorläufige) und die sich im Ergebnis enthüllende des reinen Seins nicht als bloßes Nacheinander gegeben werden. Die zweite ist vielmehr insofern während des gesamten Romanablaufs i m m e r da, als die Gewißheit über den Ausgang absolut und die Spannung des ‚Ob überhaupt‘ aufgehoben ist. Das geht weit über 1 Unter Verweis auf die Ausführungen der letzten Kapitel sei lediglich gesagt, dass Lugowski die Kategorie eines sinnhaften - und damit intentional-aussagehaft wirkenden - Moments schon allein deshalb nicht gebrauchen kann, weil er die Dichtung als Ausdruck einer unbewussten Welthaltung verstehen will. In einer „Formalisierung der Gehaltsanalyse“ (1932 / 1994, S. 9) verschiebt er den Sinn darum in die Form, genauer: in die formale Ganzheit der Dichtung, die sich im Abschluss des erzählten Geschehens vollendet. Während er glaubt, so die ursprünglich sinnerfüllte Welterfahrung des Mythos zu fassen, greift er freilich nur die ihres Sinns entleerte Form der Kunst. 2 Lugowski 1932 / 1994, S. 75. 118 Thematische Entfaltung - Verortung alles ‚Teleologische‘ hinaus. Dieser Begriff genügt vielleicht der einen (‚physischen‘) Seite dieses Weltaspekts, ignoriert aber die diesem wesentliche Doppelheit der Realität. Von der ‚physischen‘ Seite aus kann das zeitlose Sein nur als Ergebnis begriffen werden, von der ‚metaphysischen‘ aus ist die ‚physische‘ in ihrer Vorläufigkeit die Aktion des Menschen, der auf völlige Realisierung der Teilnahme am zeitlosen Sein […] drängt. Das reine Sein durchdringt aber und beherrscht auch die Sphäre der Vorläufigkeit durch das Medium der ‚Motivation von hinten‘. Es scheint hindurch […] und kann nur in dieser ständigen Anwesenheit die Zeit wahrhaft aufheben. 3 Nimmt man hinzu, dass das Ergebnis bei Lugowski zugleich jene „erzählerische[] Ganzheit“ 4 repräsentiert, zu der alles Einzelne „in der Beziehung eines Teils oder Gliedes steht“ - in der es also „gebunden“ ist und von der aus es „‚regiert‘“ wird -, 5 so lässt sich daraus auf ein ästhetisches Zusammenspiel von Form und Sinn schließen, das die Dichtung in charakteristischer Weise ganzheitlich formt. Dabei wird einerseits der Sinn der Dichtung dadurch konstituiert, dass sich in ihr alles Einzelne (also jedes Detail der Darstellung oder wie Lugowski sagt: die ‚physisch-vorläufigen‘ Einzelzüge der Handlung), in aufmerksamkeitslenkender Formung auf ein bestimmtes inhaltliches Moment (bei Lugowski: das Ergebnis bzw. ‚zeitlose Sein‘) ausrichtet, während andererseits zugleich der Sinn, wenn er in Gestalt des Ergebnismoments in die erzählte Welt hineinregiert, über die konkrete Formung des Einzelnen verfügt. Der Sinn erscheint dergestalt immer als formbedingend u n d formbedingt, 6 als Ursache u n d Folge der dichterischen Weltdarstellung. Dem Thema kommt in diesem Zusammenhang insofern eine Schlüsselrolle zu, als es nicht allein das inhaltliche Moment bezeichnet, auf das sich die dichterische Gestaltung im Einzelnen bezieht, sondern auch das ‚reine Sein‘, das, in seinem „Selbstwert“ durch das „Transparent“ der erzählten Welt hindurchscheinend, den „hinterweltlichen Charakter“ der Erzählung ausmacht. 7 Was sich in der Erzählung als „ein Zeitlos-Endgültiges darstellt“ und ihre „Zeitlichkeit zum Vorläufigen entwertet“, 8 das erweist sich somit als Ausdruck einer dichterischen Ganzheit, die nicht einfach die Ganzheit eines als abgeschlossen vorausgesetzten Geschehens, sondern die eines thematisch strukturierten Sinngefüges ist. Das heißt mit anderen Worten: Die von Lugowski apostrophierte „Auffassung, der die Welt in eminentem Maße Ganzheit ist,“ 9 erklärt sich - statt, wie er meint, aus dem ganzheitlichen Weltbild des Mythos - aus einem Gestaltungswillen, der die Dichtung als Ganze erfasst und das erzählte Geschehen im Zuge dessen so ausformt, dass es (in perspektivierender oder aussagehafter Weise) etwas über ein bestimmtes Thema zu verstehen gibt. Ob dieser Gestaltungswille tatsächlich der Absicht eines empirischen Autors entspricht, ist dabei im Grunde nebensächlich. Es genügt der Eindruck eines die Dichtung ganzheitlich bestimmenden thematischen Zusammenhangs, um diese als sinnhaft geordnet zu begreifen und sie in einem weiteren Schritt als durch diese Ordnung determiniert und darin ‚thema- 3 Ebd., S. 80. 4 Ebd., S. 52. Dass Lugowski nirgends zwischen der Ganzheit der Erzählung und der Ganzheit der erzählten Welt unterscheidet, ist symptomatisch. 5 Ebd., S. 52 f. Lugowski äußert sich zwar nicht explizit zum Verhältnis von Ganzheit und Ergebnismoment; die Art, in der er sie nebeneinanderstehen und füreinander eintreten lässt, macht aber deutlich, dass er sie aufs engste verbunden sieht. Vgl. etwa ebd., S. 53, 83, 159. 6 Lugowski bezeichnet „alles Einzelne[], das in der erzählerischen Ganzheit gebunden ist“, als „[f]ormbedingt“ (ebd., S. 52). 7 Ebd., S. 75, 28. 8 Ebd., S. 27. 9 Ebd., S. 83. Thematische Entfaltung - Verortung 119 tisch überfremdet‘ aufzufassen. 10 Sobald eine Dichtung mithin als (aussagehaft perspektivierte oder pointierte) Veranschaulichung eines ihr (implizit) eingeschriebenen Themas (oder Problems) gelesen werden kann, wird sie fast zwangsläufig als von einem Sinn bestimmt wahrnehmbar, der nicht allein zugleich als formbedingend u n d formbedingt, als Ursache u n d Folge der dichterischen Weltdarstellung, sondern auch als Voraussetzung u n d Resultat des Vorgangs ihrer ästhetischen Gestaltung erscheint: Das sinnhafte Ganze der Dichtung scheint sich im Medium der thematisch geordneten dichterischen Form selbst hervorzubringen. Dass man eine ähnlich komplexe Darstellung des von Lugowski beschriebenen Phänomens in der jüngeren Erzähltheorie vergeblich suchen wird, hatte ich im letzten Kapitel bereits erwähnt (und begründet). Überblickt man die gängigen narratologischen Einführungen, so findet man es lediglich in zwei (ebenfalls bereits gestreiften) Hinweisen angedeutet. Diese werden zwar in gewisser Weise zu den narratologischen Grundeinsichten gezählt, als solche aber für gewöhnlich eher am Rande formuliert. So indiziert das Modell Wolf Schmids zwar die universelle Zirkelbewegung, die die Erzählung immer ebenso vom (erzählten) Ereignis abhängig erscheinen lässt, wie umgekehrt das (erzählte) Ereignis von der Erzählung. 11 Da die hier vorgenommene „idealgenetische“ Präsentation des Erzählwerks jedoch nur den ersten der beiden Halbkreise fokussiert (ohne ihn zudem auf das Verhältnis von Form und Sinn zu spezifizieren), scheint sie in ihr nur vage auf. 12 Dasselbe gilt für die Einsicht in das Neben- und Ineinander von narrativ-zeitlichen und thematischunzeitlichen Verknüpfungen: Schmid bezeichnet es - im Anschluss an die Literaturtheorie Roman Jakobsons (sowie weiter: Jurij M. Lotmans) - zunächst als ein zentrales Merkmal jeden Erzählens, lässt die thematisch-unzeitliche Verknüpfung dann aber - darin der üblichen Praxis folgend - sogleich wieder hinter die im engeren Sinne narrativen Aspekte des Erzählens zurücktreten. 13 Dass das Zusammenwirken der beiden Korrelationen bei alldem ebenso unklar bleiben muss wie die Funktion, die hier ganz speziell der Kategorie des Sinns zukommt, liegt auf der Hand. Den Prozess der narrativen Sinnbildung erzähltheoretisch zu fassen, gestaltet sich deshalb nach wie vor schwierig, zumal da, wo er als ein in besonderem Maße ‚künstlicher‘ erscheint. Wenn in der letzten Zeit gleichwohl einige narratologische Ansätze entstanden sind, mit deren Hilfe sich der Blick auf den von Lugowski fokussierten Sinnbildungstyp in der einen oder anderen Hinsicht schärfen lässt, 14 so liegt das vor allem in den Besonderheiten der mittelalterlichen Erzählliteratur begründet. Denn um sie (und darüber hinaus: vergleichbar ‚künstliche‘ Erzählformen) beschreiben zu können, muss man die konventionellen Pfade der Narratologie fast zwangsläufig verlassen; die Annäherung an Lugowski ergibt sich dabei - im Anschluss an ihn oder auch unabhängig von ihm - aus der Beschäftigung mit ähnlichen Phänomenen mehr oder weniger von selbst. Bei den Ansätzen, die in diesem Zusammenhang relevant sind, handelt es sich um dieselben, die ich schon in der Einleitung 10 Über die Intentionserwartung oder unterstellte Intentionalität als Grundprinzip der Rezeption handelt aus textlinguistischer Sicht etwa Busse 1992, S. 167-178. Die kognitionspsychologische Perspektive erschließt Jannidis 2009. 11 Weit deutlicher wird dies in der geschichtswissenschaftlichen Erzähltheorie herausgearbeitet, auf die in diesem Kontext auch Köppe / Kindt verweisen (2014, S. 49 f.). 12 Schmid 2005, S. 223-272, hier S. 223. 13 Ebd., S. 27-31. Auf das Thema gehen auch Köppe / Kindt nur am Rande ein (2014, S. 111 f.). 14 Ich blende ältere Arbeiten weitgehend aus; verwiesen sei immerhin auf die nicht zuletzt unter dem Aspekt des Themas interessante Strukturanalyse des höfischen Romans durch Simon 1990 und 1990a. genannt bzw. in der Kritik an Lugowskis Modell besprochen habe. Sie seien im Folgenden (nochmals) etwas genauer ins Auge gefasst. Mein Anliegen besteht zum einen darin, sie in den Rahmen meines Zugriffs zu integrieren, zum andern aber auch darin, sie im Anschluss an die Kritik Lugowskis einer zumindest kursorischen Revision zu unterziehen. Letzteres ist, wie sich gleich zeigen wird, nicht allein deshalb angebracht, weil sie das Phänomen einer ‚künstlichen‘ Sinnbildung immer nur in einzelnen Aspekten thematisieren, sondern auch deshalb, weil sie im Zuge dessen zum Teil ähnlichen Verkürzungen und Missverständnissen unterliegen wie Lugowski selbst. In geradezu prototypischer Weise lässt sich dies in der bereits behandelten Darstellung der ‚doppelten Welten‘ von Matías Martínez beobachten. Sie ist im vorliegenden Kontext vor allem aufgrund ihres aus der ‚Motivation von hinten‘ abgeleiteten Konzepts der Finalität von Interesse, in dem sie Lugowskis Entwurf, wie schon gesagt, einerseits differenzierend weiterentwickelt, ihm aber andererseits in der Bindung an die Kategorie des Mythischen und der Orientierung auf das Ende der Erzählung auch im negativen Sinne verhaftet bleibt. 15 Was ich bisher noch nicht ausgeführt habe: Die Fixierung der Finalität auf das Moment der göttlichen Providenz bewirkt nicht zuletzt, dass der Aspekt des Themas weitgehend ausgeblendet wird, was wiederum zur Folge hat, dass die bei Lugowski zumindest angedeutete Frage nach der narrativen Sinnbildung so gut wie keine Rolle spielt. Dass der Gott der erzählten (Doppel-)Welt kein im engeren Sinn thematischer ist, schneidet Lugowski also eine wesentliche Perspektive ab. Gleichwohl wirken Martínez’ Ausführungen insofern erhellend, als sie mit dem Begriff der Finalität auf ein Merkmal von Lugowskis ‚Ergebnismoment‘ abheben, das in dieser Deutlichkeit zuvor nicht benannt worden war. Denn ‚final‘ ist eine Aussage oder Handlung ja immer dann, wenn sie in irgendeiner Weise zweckhaft erscheint, und das heißt in Bezug auf eine ästhetisch gestaltete Weltdarstellung: wenn sie auf ein bestimmtes ‚Ende‘ (also eine sinnhafte Aussage, Boschaft o. ä.) mindestens ebenso ausgerichtet ist wie auf ein bestimmtes Ende (d. h. einen Schluss). 16 Hinter dem Handlungsausgang scheint somit - von Martínez weitgehend unbemerkt - noch ein weiteres Telos auf, und ihm gehören alle nicht-temporalen, näherhin zeitlos-thematischen Aspekte des Ergebnismoments an. Was die Erzählung ‚von hinten her‘ - und zugleich ‚hinterweltlich‘ 17 - bestimmt, das wird deshalb nun klarer als der durch den Ausgang der Handlung hindurchwirkende Sinn des Textes erkennbar: Er ist es, der das Erzählen ‚thematisch überfremdet‘, und er ist es auch, der die erzählte Welt (im wortwie im übertragenen Sinn) determiniert. 18 Um Martínez’ Variante auf Lugowskis Sinnbildungsmodell für ein besseres Verständnis seines thematisch-temporalen Doppelcharakters nutzbar zu machen, genügt 15 Vgl. Kap. I.1.2.1 und I.1.2.2. 16 Das wurde bisher, soweit ich sehe, so noch nicht formuliert. In der Forschung bezeichnet ‚Finalität‘ durchweg die Schlussausrichtung der Handlung; der Aspekt der Zweckhaftigkeit wird nirgends thematisiert. Nur bei Haferland deutet sich die von mir vertretene Auffassung an, ohne jedoch weiter ausgeführt zu werden (2010a, bes. S. 345 f.). In einem späteren Aufsatz zur Motivation von hinten (2014) geht Haferland nicht mehr darauf ein. 17 In den Termen der ‚Motivation von hinten‘ und der ‚Hinterweltlichkeit‘ deutet sich die temporal-thematische Doppelbestimmung des Ergebnismoments auch bei Lugowski an. Im ersten Fall bezeichnet ‚hinten‘ das Ende der Erzählung; im zweiten eine thematische Ebene, die der Handlung eingeschrieben und während ihres Verlaufs immer präsent ist. 18 Obwohl narrativ-zeitliche und thematisch-unzeitliche Verknüpfungen zweifellos in gewisser Weise (nämlich in Bezug auf ihre - freilich nur vorgestellte - Realität) ontologisch differieren (so Schmid 2005, S. 30), wäre es also ein Missverständnis zu glauben, sie könnten nicht innerhalb der erzählten Welt zusammenwirken. 120 Thematische Entfaltung - Verortung also eine Besinnung auf den Begriff der Finalität - sowie natürlich darauf, was dieser Begriff im Zusammenhang der ‚gemachten Welt‘ der Dichtung bezeichnet. Ähnliches gilt für den zweiten der hier zu besprechenden Ansätze, wobei die begriffliche Besinnung allerdings in seinem Fall noch stärker ins Methodische auszugreifen hat. Das von Harald Haferland initiierte und von ihm zusammen mit Armin Schulz narratologisch ausgearbeitete Modell des metonymischen Erzählens schließt gleichfalls in wesentlichen Punkten an Lugowski an, 19 und es partizipiert auch - wiewohl in etwas anderer Weise als das von Martínez - an seinen Irrtümern. Den gemeinsamen Ansatzpunkt markiert hier die Idee einer Ganzheit, die Haferland und Schulz zunächst durchaus erhellend auf ein „gedankliches Konzept“ beziehen, das einer Erzählung insgesamt zugrunde liegt. 20 Als metonymisch wäre diese Erzählung demnach deshalb zu bezeichnen, weil in ihr alles Einzelne (d. h. einzelne Ereignisse und Episoden) Teil eines (ideellen) Ganzen ist, wobei sich die faktisch-sachliche Berührung, die das rhetorische Konzept der Metonymie eigentlich voraussetzt, jedoch rein kognitiv realisiert. Weil das Einzelne (die Episode / das Ereignis) die dem Erzählganzen zugrundeliegende Idee (gedanklich) genauso ‚berührt‘ wie z. B. das Segel das Schiff - oder in weiterem Sinne eine Datumsangabe das auf diesen Tag fallende Ereignis -, kann es diese in vergleichbarer Weise evozieren. 21 Die ideelle Ganzheit der Erzählung konsequent als ihren Sinn zu bezeichnen, läge hieran anschließend zweifellos nahe, 22 wird von Haferland und Schulz aber so nicht formuliert. Dass ihre Darstellung sich spätestens 23 an diesem Punkt zu verwirren beginnt, ist umso bezeichnender, als sie darin die konzeptuelle Unschärfe von Lugowskis Ansatz reproduzieren. Denn wie Lugowski, so sehen auch Haferland und Schulz das die Erzählung prägende Ganze zunächst in ihrem „thematischen Zusammenhang“ repräsentiert, 24 fügen dann aber hinzu, dass das Ganze auch (oder eher? ) als das einer geschlossen vorgegebenen Handlung - also als Schema oder 19 Daneben berufen sich Haferland und Schulz auf „Jakobsons Unterscheidung einer durch Similarität oder Kontrast strukturierten paradigmatischen Achse und einer durch (syntaktische oder lexematischsemantische? ) Kontiguität strukturierten syntagmatischen Achse der Sprache“. Interessanterweise ziehen sie diese Unterscheidung nur heran, um sie sogleich aufzuheben: vgl. dazu unten, Anm. 25. Ich beziehe mich im Folgenden vornehmlich auf Haferland / Schulz 2010 (hier S. 8); von den voraufgehenden Arbeiten Haferlands sei die begriffsgeschichtlich ausgerichtete zur Kontiguität hervorgehoben (Haferland 2009). 20 Haferland / Schulz 2010, S. 13. 21 Ebd., S. 3-15. Um die Differenz zu überbrücken, unterscheiden Haferland und Schulz zwischen einer „Kontiguität erster Ordnung auf Seiten der Welt (raum-zeitliche Nachbarschaft oder sachliche Nähe)“ und einer „Kontiguität zweiter Ordnung auf Seiten des objektivierten Geistes (durch Darstellung evozierte Nachbarschaft zweier Vorstellungen oder Sachen)“ (ebd., S. 16). Dass sie die zweite, erweiterte Form von Kontiguität für wesentlich erachten, erhellt schon daraus, dass sie die Vielzahl der möglichen metonymischen Relationen (Name für Werk, Raum für Person, Eigenschaft für Gegenstand etc.) auf die von Teil und Ganzem reduzieren. Dass damit letztlich jede Form von Assoziation und Bedeutungsübertragung zur Metonymie wird (was z. B. auch die Unterscheidung von der Metapher unmöglich macht), wurde mehrfach kritisch vermerkt: Vgl. Müller 2013, bes. S. 24-30 und Bleumer 2015, S. 242-244. 22 Das gilt umso mehr, als Haferland und Schulz sie auch als eine implizit aus dem Werkganzen hervorgehende und darum nicht konkret greifbare, sondern nur ungefähr zu benennende Aussage beschreiben (2010, S. 14), worin sie auffällig dem ähnelt, was andernorts die „Gesamtbedeutung“ des literarischen Textes heißt ( Jannidis / Lauer / Martínez / Winko 2003, S. 27, vgl. Urbich 2011, S. 98-102). Zu diesem Aspekt auch Müller 2013, S. 30-32. 23 Also unabhängig von den Problemen, die schon mit dem Begriff der Metonymie und seiner Engführung mit dem Konzept der Kontiguität einhergehen: vgl. Anm. 21. 24 Haferland / Schulz 2010, S. 12. Thematische Entfaltung - Verortung 121 Script - anzusprechen sei. 25 Dass sie den Bezug zwischen metonymischem und sinnhaftem Erzählen dergestalt gleich wieder verwischen, erscheint dabei nicht zuletzt deshalb problematisch, weil sie in einem weiteren Schritt nicht nur Phänomene des schematischen und ‚thematisch überfremdeten‘ Erzählens, sondern generell jedes über gedankliche Ganzheiten und kontiguitäre Verknüpfungen konzeptualisierte Erzählen als typisch mittelalterlich charakterisieren und in seiner Bestimmtheit durch die Assoziationsregeln des menschlichen Geistes implizit mit dem mythischen Denken in Verbindung bringen. Ob das metonymische Erzählen als Effekt vormoderner Welterfahrung oder Ausdruck künstlerischer Gestaltungsabsicht zu verstehen ist, wird damit ähnlich ununterscheidbar wie bei Lugowski. 26 Ich verzichte auf eine eingehendere Kritik dieses Vorgehens 27 und beschränke mich auf die Feststellung, dass das Modell des metonymischen Erzählens in Bezug auf Lugowskis Darstellung vor allem deshalb weiterführend ist, weil es das, was dort in typischer Unbestimmtheit als ein ‚hinterweltlich‘ wirksames ‚reines Sein‘ bezeichnet wird, als einen Grundgedanken konkretisiert, in dem sich eine Erzählung thematisch zum Ganzen schließt. Auf diese Weise werden nicht nur die semantischen Wechselwirkungen zwischen dem, was eine Erzählung konkret darstellt (erzählte Welt), und dem, was sie ideell zum Ausdruck bringt (Sinn), 28 besser greifbar, sondern es rücken auch die literarischen Verfahren verstärkt in den Blick, durch die ein Thema im narrativen Diskurs illustriert werden kann. Der thematische Zusammenhang des metonymisch-mythosanalogen Erzählens kommt nämlich, wie Haferland und Schulz zeigen, nicht allein in den Formgesten des lugowskischen Ergebnismoments zum Ausdruck, sondern darüber hinaus in einer Vielzahl narrativer Mittel, von denen sie, wenn sie auf Formen des seriellen, schematischen und ‚präsentativ symbolifizierenden‘ Erzählens verweisen, zumindest einige nennen. 29 Wie diese im thematischen Ganzen der Erzählung sinnbildend wirksam werden, machen sie zwar nur exemplarisch deutlich, doch eröffnen sie der Beschreibung einer ‚künstlichen‘ Sinnbildung bereits dadurch ein Feld weitaus breiterer Möglichkeiten. Dass sie in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das - vorderhand mit dem Namen Rainer Warnings verbundene - Konzept eines ‚Erzählens im Paradigma‘ verweisen, 30 stellt die Verbindung zu einem dritten narratologischen Ansatz her, der hier besondere 25 Ebd., S. 15-18. Hier macht sich die Auflösung von Jakobsons Unterscheidung (vgl. Anm. 19) verunklärend bemerkbar. Denn kontiguitär ist laut Haferland und Schulz sowohl die gedankliche Berührung von Episode und gedanklichem Konzept auf der paradigmatischen Achse der Erzählung als auch die konkrete Berührung von Episoden oder Ereignissen auf der syntagmatischen Achse der Erzählung. Dabei lässt erstere auf eine semantisch-thematische und zweitere auf eine handlungshafte Ganzheit (die Lugowskis Ergebnismoment entspricht) schließen. Wie sich beide Ganzheiten zueinander verhalten, bleibt offen. 26 Haferland und Schulz formulieren denn auch ähnlich vage: „Metonymisches Erzählen fingiert weder Wirklichkeiten noch Wahrscheinlichkeiten. Vielmehr stellt es den Akt und die Allmacht des Erzählens selbst aus [was auf eine ästhetische Gestaltungsabsicht hindeuten würde, CK]; in unterschiedlichen Graden freilich und ohne dass die moderne Frage nach der Fiktionalität des Textes dabei schon eine Rolle spielen würde [was den Verweis auf die ästhetische Gestaltungsabsicht ins diffuse Feld der unbewussten Darstellungs- und Erfahrungsmuster zurückführt, CK].“ Beide Zitate ebd., S. 22. 27 Ich habe sie bereits an anderer Stelle ausgeführt: Kropik 2012. 28 Also, wie Cassirer sagen würde, zwischen dem von ihr vermittelten ‚sinnlichen‘ Erlebnis und ihrem nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ (1929 / 2002, S. 231). 29 Dazu bes. die exemplarischen Textanalysen und die Schlussbemerkung: Haferland / Schulz 2010, S. 23-43. 30 Ich berufe mich auf Warning 2001 und 2003. Der Begriff des paradigmatischen Erzählens ist in ähnlicher Bedeutung zuvor bereits von Ursula Schulze und Jan-Dirk Müller eingeführt worden. Die ein- 122 Thematische Entfaltung - Verortung Beachtung verdient. Das gilt wohlgemerkt nicht obwohl, sondern weil er Lugowski nicht (direkt) verpflichtet ist: Wenn Warning auf der Basis von Jurij M. Lotmans Literaturtheorie zur Beschreibung eines ganz ähnlichen Phänomens vordringt, so ergänzt er das Bild des hier interessierenden Sinnbildungstyps um einige entscheidende Details. Die Parallelen zu Lugowskis (und Haferland / Schulz’) Darstellung ergeben sich in diesem Zusammenhang vor allem aus der Fokussierung eines Erzählens, dessen motivierender Nexus nicht syntagmatisch-horizontal, durch eine realistische (d. h. empirischer Erfahrung entsprechende) Verknüpfung von Ereignissen und Episoden (also ‚von vorn‘), sondern paradigmatischvertikal, durch die Bindung an ein übergreifendes Thema, (also ‚von hinten‘) hergestellt wird. 31 Das daraus auch hier resultierende Moment ‚thematischer Überfremdung‘ markiert bei Warning 32 das wichtigste Merkmal des paradigmatischen Erzählens. Dieses definiert sich durch eine Form der Wiederholung, die entsteht, wenn die Episoden einer Geschichte mit dem gemeinsamen Thema stärker zusammenhängen als untereinander; 33 wenn also die Koexistenz von ähnlich semantisierten Handlungsblöcken den Eindruck einer Ereignisfolge überwiegt. 34 Durch eine Engführung mit Lotmans Unterscheidung zwischen sujethaftem und sujetlosem Erzählen kommt Warning daran anschließend allerdings zu dem - von Lugowski her gesehen - durchaus überraschenden Schluss, dass das (‚thematisch überfremdete‘) paradigmatische Erzählen keineswegs in besonderer Weise sinnstiftend, sondern im Gegenteil ganz dezidiert sinnverweigernd sei. Er begründet seine Annahme damit, dass ein Erzählen, das sich darin erschöpfe, permanent dasselbe Thema zu umkreisen, die dem Sujet zugrundeliegenden semantischen Oppositionen zwar setzen, ihren Gegensatz aber nicht überwinden und sie darum auch nicht gegeneinander vermitteln könne. Weil es sein Paradigma so immer weiter prozessiere, sei ihm zu „eine[r] abschließende[n] Synthese“ zu gelangen „geradezu []unmöglich[]“: Es gestalte sich zu einem Spiel, das in seinem Immerwieder-von-vorn-Beginnen die Kontingenz der Welt nicht überwindet, sondern exponiert. 35 Warnings Überlegungen weisen nur oberflächlich gesehen darauf hin, dass man aus ein- und demselben Phänomen ganz unterschiedliche Schlüsse ziehen kann. 36 Denn dass seine Folgerung richtiger ist als die Lugowskis, wird man schon aufgrund der Art und Weise bezweifeln dürfen, in der er das ‚Prozessieren im Paradigma‘ in den Mittelpunkt der Theoriebildung stellt. Wie nämlich ein Erzählen, das in seiner repetitiven Fokussierung eines bestimmten Themas zwangsläufig ausgesprochen semantisierend wirkt, zugleich ein grundsätzlich sinnverweigerndes sein kann, will nicht recht einleuchten. Das gilt umso mehr, als Warning die Kontingenz des paradigmatischen Erzählens in durchaus ähnlicher schlägigen Titel sammeln Haferland / Schulz 2010, S. 10, Anm. 22. Vgl. dazu auch Schulz 2012 / 2015, S. 343-348. 31 Warning schließt in seiner Unterscheidung von syntagmatischem und paradigmatischem Erzählen gleichfalls an Jakobson (1960) und Lotman (1972) an: Warning 2001, S. 176-179, 2003, S. 180 f. 32 Ohne dass er es als solches benennen würde. Ich übernehme hier den Begriff Lugowskis. 33 Ich variiere hier Lugowskis Formulierung, die besagt, dass im Ergebnismoment „[d]ie einzelnen Glieder mit dem herausspringenden Resultat notwendiger zusammen[hängen] als untereinander“ (1932 / 1994, S. 79). 34 Warning zufolge zeichnet sich das paradigmatische Erzählen durch „Äquivalentsetzungen […] auf thematisch-semantischer Ebene“ aus, die bewirken, dass „[d]ie Lektüre […] umgepolt [wird] vom ‚Und so weiter‘ syntagmatisch organisierten Erzählens zur kreativen Erstellung eines Textraums mit einer Vielzahl ana- und kataphorischer Relationen“ (2003, S. 182). 35 Ebd. 36 Dass der Erzähltyp, der sich bei Warning durch seine Ergebnislosigkeit auszeichnet, im Kern derselbe ist, der bei Lugowski von seinem Ergebnis ‚regiert‘ wird, entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie. Thematische Entfaltung - Verortung 123 (und ähnlich problematischer) Weise wie Lugowski mit dem Anbrechen der Moderne verbindet. 37 Auch ohne seine Auffassung von ‚Sinn‘ grundsätzlich hinterfragt zu haben, 38 wird man daher wohl konstatieren dürfen, dass sein Konzept des paradigmatischen Erzählens zuerst und vor allem auf einen Sinn hin zu lesen ist, der mit dem Thema ins Erzählen hineingetragen wird. Was Warning illustriert, das ist demnach einfach eine andere Art, in der sich das von Lugowski als ‚künstlich‘ bezeichnete Erzählen thematisch entfalten kann, und genau darin liegt auch der Wert seines Entwurfs für die Beschreibung dieser Form narrativer Sinnbildung. Während Lugowski eher auf das ‚Hineinregieren‘ des Ergebnismoments in die erzählte Welt abhebt, markiert Warning ein zwar weniger spektakuläres, aber darum nicht minder wirksames Verfahren ‚thematischer Überfremdung‘. Der Rückgriff auf Lotman erweist sich in diesem Rahmen insofern als wegweisend, als er verdeutlicht, wie im Medium narrativer Wiederholung, durch inhaltliche Vor- und Rückverweise, ein Netz von Äquivalenzrelationen aufgebaut werden kann, das einen Text semantisch organisiert. 39 Sinnhaft erscheint dieser nun - statt etwa durch das Wirken eines thematischen (Liebeso. ä.) Gottes -, weil seine Darstellung immer wieder auf denselben thematischen Zusammenhang verweist und diesen so (um noch einmal auf die Terminologie von Haferland / Schulz zurückzugreifen) als das ihm zugrundeliegende „gedankliche[] Konzept“ aufscheinen lässt. 40 Was sich an dieser Stelle vorerst nur abzeichnet, lässt sich mit Hilfe des vierten und letzten der hier zu besprechenden narratologischen Ansätze präziser umreißen. Auch Markus Stock rekurriert mit seinem Modell der korrelativen Sinnstiftung auf die Literaturtheorie Lotmans; 41 weil er die Idee der Wiederholung aber (mit Lotman) sowohl weiter als auch variabler fasst, 42 zeichnet er den auf ihr basierenden Sinnbildungsprozess in völlig anderer 37 Warning bindet den Epochenumbruch nicht an die frühe Neuzeit, sondern an die „[s]eit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert […] ständig zunehmende Beschleunigung“, die dazu geführt habe, dass „[n]icht nur einzelne Ordnungssysteme, sondern ein kulturelles Ordnungssystem insgesamt […] temporalisiert und damit kontingenzanfällig [wurden].“ Aus diesem Grund sei es „gewiss kein Zufall, daß Flauberts ‚Education sentimentale‘ aus dem Jahre 1869 einen Fixpunkt darstellt, der vorherige Versuche paradigmatischen Erzählens souverän überbietet und weit ins 20. Jahrhundert hineingewirkt hat“ (ebd., S. 183 f.). Als problematisch begreife ich hier nicht die Behauptung, dass die Kontingenzerfahrung eine typisch moderne sei (auch wenn sie mir in ihrer Pauschalisierung zumindest heikel erscheint), und auch Warnings Flaubert-Interpretation möchte ich nicht hinterfragen. Eine literarische Epochensignatur (die allem vorangehenden paradigmatischen Erzählen den Stempel des ‚noch nicht‘ aufdrückt und implizit alles nicht-paradigmatische Erzählen nach Flaubert unter den Verdacht der Regression stellt) ist daraus aber nur abzuleiten, wenn man wie Lugowski davon ausgeht, dass Dichtung schlicht die Weltsicht ihrer Produzenten und Rezipienten abbilde. 38 Für Warning ist ‚Sinn‘ schlicht das Gegenteil von Kontingenz, weshalb „Sinnbestimmung“ notwendig „Kontingenzbewältigung“ bedeutet (ebd., S. 183). Abgesehen davon, dass das Antonym von ‚Kontingenz‘ nicht ‚Sinn‘, sondern ‚Notwendigkeit‘ lautet (wobei, was notwendig ist, sinnvoll sein kann, aber nicht muss), sei dazu bemerkt, dass eine solche Begriffsbestimmung die Besonderheiten literarischen Sinns überspringt. Sobald man diesen nämlich in seiner kontextbezogenen Verwendung als das begreift, was ein Text über die Welt, die er darstellt, zu verstehen gibt (vgl. dazu den Beginn meiner Einleitung mit Anm. 1), wäre die von Warning apostrophierte Kontingenzexposition nichts anderes als der Sinn der Dichtung. 39 Vgl. Lotman 1972, bes. S. 125-142. 40 Haferland / Schulz 2010, S. 13. 41 Stock 2002, bes. S. 17-33. Auf die Parallelen zum paradigmatischen Erzählen Warnings verweist auch Schulz 2012 / 2015, S. 348. 42 Nach Lotman schließt „Äquivalenz […] Unähnlichkeit mit ein“ und ist deshalb nicht als „tote Einförmigkeit“ zu betrachten (1972, S. 125). Außerdem weist er darauf hin, dass künstlerische Texte immer 124 Thematische Entfaltung - Verortung Weise. Die Stellung seiner Position zu der Warnings ist wohl am einfachsten über die Frage zu greifen, warum das ‚Prozessieren im Paradigma‘ sich eigentlich, wie Warning meint, unbedingt als eine fortschritts- und ergebnislose Wiederholung des Immergleichen realisieren sollte. 43 Denn nur, weil eine Reihe von Episoden um ein und dasselbe Thema kreist, muss das ja nicht heißen, dass auch der Sinn immer derselbe bliebe; - ebenso wenig wie es übrigens heißt, dass ein repetitives Geschehen immer mit einer statischen Semantik einherginge. Das deuten auch Haferland und Schulz an, wenn sie formulieren, dass die Einzelepisode die thematische Ganzheit einer Erzählung „aspekthaft charakterisier[t]“. 44 Diese Ganzheit, so darf man daraus schließen, ist zwar als Idee von Anfang an präsent, sie wird aber gleichwohl im Verlauf der Erzählung aus den einzelnen Aspekten des in ihr dargestellten Themas (noch einmal) zusammengesetzt. Der Gedanke des Zusammensetzens (bzw. Kombinierens) von Sinn findet sich ähnlich bei Stock, wird von ihm allerdings noch deutlicher an den Verlauf der Handlung gebunden. 45 Dabei schließen die Konzepte von ‚Paradigma‘ und ‚Sujet‘ einander nicht wie bei Warning aus, sondern wirken im Gegenteil dergestalt zusammen, dass das Nacheinander der Ereignisse durch Wiederholungen aller Art (inhaltlich, sprachlich, metaphorisch etc.) ein „zusätzliches Sinngefüge“ entstehen lässt, das zwar „die lineare Zeitlichkeit [der Handlung] […] durchbricht“, darum aber durchaus nicht statisch ist. 46 Indem es sich nämlich mit der semantischen Konfiguration des Erzählens verändert, konstituiert es einen Vorgang, der die „Denkbewegung des Textes“ markiert. 47 Die Einsicht in das prozesshafte Voranschreiten der sinnkonstituierenden Verknüpfungen ist hier schon allein deshalb von Interesse, weil sie (nochmals) betont, dass der Sinn einer Dichtung ungeachtet seiner (zeitlos-ideellen) Vorgeordnetheit zumindest für den Rezipienten immer (auch) erst im Zuge der Lektüre entsteht. 48 Mindestens ebenso relevant ist aber die unweigerlich daran anschließende Frage, wie man sich das Verhältnis von Sinn und Thema nicht zuletzt in Hinblick auf ihre Entwicklungshaftigkeit genau zu denken hat. Denn dass der Sinn mit dem Thema nicht schlicht identisch ist, liegt ebenso auf der Hand, wie dass zwei thematisch gleiche Texte sich im Sinn unterscheiden, ja dass sie sogar den gleichen Sinn auf verschiedene Weise hervorbringen können. 49 Wie also entwickelt sich der Sinn im thematischen Prozessieren des Textes? Stock beantwortet diese Frage, im Ansatz absolut überzeugend, mit Verweis auf die unterschiedliche und jeweils ganz individuelle Komposition der Texte: In der Tat ist davon auszugehen, dass sich die Abläufe der Sinnstiftung und des Sinnverstehens in jedem Text neu und anders sowie stets in unmittelbarer Abhängigkeit von dessen formaler Ordnung vollziehen. 50 Wie sich aus dieser Ordnung - bzw. den damit verbundenen semantischen Korrelationen - allerdings mehr als diffuse Wolken von thematisch ähnlichen Evokationen; wie sich aus ihr stattdessen ein als Kombination syntagmatischer und paradigmatischer Bedeutungen anzusprechen sind (ebd., S. 79). 43 Warning 2003, S. 186. 44 Haferland / Schulz 2010, S. 7-14, hier S. 11. 45 Wenn er die Sinnbildung dergestalt als einen Prozess zeichnet, nimmt er den Sinn freilich nicht wie Haferland und Schulz als ein in allen Elementen des Textes kopräsentes (und deshalb zeitloses) Ganzes in den Blick. Auch er berücksichtigt also nicht alle Aspekte des Phänomens der ‚künstlichen‘ Sinnbildung. 46 Stock 2002, S. 32. 47 Ebd., S. 303. 48 Die Formulierung variiert den eingangs vorgestellten semantischen Zirkel. 49 Vgl. dazu etwa die Formulierung von Stock 2002, S. 72. 50 Vgl. ebd., S. 9 f., 29-33, 226, 281-291, 300-303. Thematische Entfaltung - Verortung 125 konkret gerichteter gedanklicher Vorgang, ja gar eine „Denkbewegung“ auf der Ebene des Textes ergeben soll, wird auch bei Stock nicht recht deutlich. 51 Alles in allem ist somit festzuhalten, dass die Problematik des Zusammenhangs von Form, Sinn und Thema in dem von Lugowski als ‚künstlich‘ bezeichneten Erzähltyp in der jüngeren Forschung zwar erkannt und nicht ohne theoretischen Aufwand erörtert worden ist; ein klares Verständnis der in ihm realisierten Sinnbildung kommt dabei allerdings ebenso wenig zustande wie ein Modell, das es zuließe, ihn systematisch zu beschreiben. Was die Zusammenschau der letzten Seiten ermöglicht, ist immerhin eine präzisierende Reformulierung, die in etwa lautet, wie folgt: Lugowskis Darstellung beschreibt eine Form literarischer Sinnbildung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie das Erzählen zum Medium der Reflexion eines Themas macht. Dieses wird - (meist) ohne explizit benannt zu werden - narrativ illustriert oder verhandelt und dabei perspektivierend auf einen bestimmten Punkt (‚Botschaft‘) zugespitzt. Da das Erzählen so in gewisser Weise nur Mittel zum Zweck ist, scheint das (sinnhaft pointierte) Thema als sein eigentlicher Daseinsgrund ‚hinter‘ ihm auf und markiert so jene (finale) Endursache, die das erzählte Geschehen zugleich motiviert und semantisch besetzt. Sofern das Thema dieses Geschehen insgesamt beherrscht, wird es im Zuge dessen überdies paradigmatisch und metonymisch wirksam. Paradigmatisch wirksam ist es, wenn es im Verlauf des Erzählens immer wieder evoziert wird: Die einzelnen Ereignisse und Episoden werden so dargestellt, dass sie beständig auf das Thema verweisen und es durch Wechsel in der Akzentsetzung (zuspitzend) entwickeln. Dass dieses Thema darum allgegenwärtig erscheint, macht alsdann seinen metonymischen Charakter aus: Es markiert das gedankliche Konzept, für das die einzelnen Episoden und Ereignisse als Teile des (inhaltlich-formalen) Textganzen einstehen. Der Sinn erscheint hieran anschließend je nachdem entweder (metonymisch) als die vage umrissene Summe der ihn je sowohl aspekthaft kennzeichnenden als auch perspektivierenden Einzelzüge, (paradigmatisch) als Ergebnis einer prozesshaften Entwicklung semantischer Äquivalenz- und Oppositionsbeziehungen oder (final) als die hinter (oder in) der thematisch dominierten Darstellung unscharf erkennbar werdende Absicht, die das Erzählen insgesamt prägt. 51 Ebd., S. 303. Die Annahme einer solchen Denkbewegung steht übrigens keineswegs im Gegensatz zur „Uneindeutigkeit“ bzw. zum „Interpretationsbedarf “ des durch Kombination konstituierten Sinns (ebd., S. 302, ähnlich auch Haferland / Schulz 2010, S. 14). Denn diese stehen lediglich für die allgemeingültige Beobachtung, dass der Sinn eines literarischen Werks zwar sprachlich, aber nicht aussageförmig verfasst ist, weshalb er in seiner gesamten Dimension nur interpretativ nachvollzogen werden kann (vgl. Urbich 2011, S. 100 f.). 126 Thematische Entfaltung - Verortung 2 Aufbau vs. Entfaltung. Versuch einer analytischen Modellierung Wie ich von diesem Punkt ausgehend ein analytisch brauchbares Modell für die Beschreibung der Sinnbildung des besagten ‚künstlichen‘ Erzählens zu entwickeln gedenke, lässt sich vielleicht am besten an einem (absichtlich simpel gehaltenen) Beispiel illustrieren. Gesetzt sei der Plot einer Erzählung, in der es um einige Episoden aus dem Leben eines hochgeborenen Paars geht. Berichtet wird, wie Mann und Frau sich verlieben und beschließen, ihr Leben miteinander zu verbringen. Dann werden sie jedoch getrennt und verlieren sich aus den Augen. Sie suchen einander, sehen sich nach Jahren wieder und kämpfen um ihre Zweisamkeit - mit dem Ergebnis, dass sie doch noch zusammenfinden und glücklich leben bis an ihr Ende. Das Thema dieser Erzählung ist evident. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte. Über ihren Sinn ist damit noch nichts gesagt: Er ergibt sich nicht aus dem überblickenden Worüber, sondern erst aus dem konkreten Wie der Darstellung, wobei im vorliegenden Zusammenhang nur ein bestimmter Darstellungstyp von Interesse ist. Wenn die Erzählung nämlich z. B. einfach nur faktisch aus dem Leben des Grafen x und der Prinzessin y referiert, so ist sie darum zwar noch nicht sinnlos, sie ist aber auch nicht in der Weise ‚künstlich‘ sinnhaft, um die es hier geht. Als ‚künstlich‘ ist sie demnach erst dann zu bezeichnen, wenn sie - ganz allgemein gesprochen - etwas über die Liebe ‚bedeutet‘ (also aussagt, wertend insinuiert etc.), und: wenn sie so stark auf das von ihr Bedeutete hin gestaltet ist, dass dieses als das von ihr ‚eigentlich Gewollte‘ und sie selbst als genau darauf hin komponiert bzw. stilisiert erscheint. Dass die Übergänge fließend sind; dass die Art und der Grad der Künstlichkeit erheblich von der Wahrnehmung der Rezipienten, ihrem zeit- und literaturgeschichtlichen Horizont sowie der konkreten Rezeptionssituation abhängt; dass die Rezipienten schließlich den Sinn einer Erzählung auch dann erfassen können, wenn sie deren Künstlichkeit nicht als solche erkennen - all dies liegt auf der Hand, sei aber vorerst ausgeblendet: Diese Faktoren können und sollen jeweils erst im Zusammenhang meiner Beschäftigung mit konkreten Texten berücksichtigt werden. 1 Unabhängig davon ist zunächst einmal festzuhalten, dass sich der Sinn einer ‚künstlichen‘ Erzählung hier doppelt definiert: Er bezeichnet zum einen das, was die Erzählung über ihr Thema, die Liebe, zu verstehen gibt, und er bezeichnet zum anderen den thematisch-kompositorischen Zusammenhang, der dieses Verständnis hervorbringt. 2 1 Das heißt nicht, dass sie nicht auch grundsätzlicher diskutiert werden könnten bzw. müssten. So wäre z. B. zu klären, inwiefern sinnhafte Evokationen überhaupt bewusst wahrgenommen werden müssen, um ihre Wirkung zu entfalten, bzw. ob diese Wirkung nicht bisweilen (wie etwa im Fall von Erzählschemata) gerade auf unbewussten Rezeptionsprozessen basiert. Um diese Frage zu beantworten, müsste man freilich sehr viel weiter ausgreifen und einzelne Darstellungsmittel mit rezeptionsästhetischen bzw. kognitionspsychologischen Methoden im Detail untersuchen. Um meine theoretischen Überlegungen nicht noch weiter auszudehnen, verzichte ich hier darauf und begnüge mich im Folgenden mit sporadischen Hinweisen. 2 Wie mit Blick auf die Definition des literarischen Sinns, die ich zu Beginn meiner Einleitung gegeben habe, unschwer deutlich wird, spezifiziere ich den Sinn ‚künstlicher‘ Erzählungen hier allein dadurch, dass ich die Kategorie des Themas in die Formulierung einbeziehe. 128 Thematische Entfaltung - Modellierung Um dem Sinn unserer Erzählung auf die Spur zu kommen, müssen wir also, so zumindest die naheliegende Annahme, bei den Details ihrer kompositorischen Anordnung ansetzen, oder genauer: bei dem, was sie durch bestimmte Formzüge und Darstellungsweisen über die Liebe vermittelt. Von den Verfahren, die in diesem Zusammenhang von Interesse sein könnten, wurden in den letzten Kapiteln schon einige genannt (weitere werden gleich folgen). So könnte man sich etwa vorstellen, dass die Erzählung das Geschehen, das die Liebenden wie zufällig trennt und wieder zusammenführt, in irgendeiner Weise (im Extremfall: durch Personifikation) auf die Macht der Liebe selbst hin transparent macht. Dabei könnte sie die Liebenden in der Ausschließlichkeit und Beharrlichkeit ihres Suchens und Kämpfens wie fremdbestimmt (von der Liebe ‚gehabt‘) erscheinen lassen oder ihnen, weil sie allen Hindernissen zum Trotz nicht voneinander ablassen, bestimmte moralische Qualitäten zuschreiben. Und natürlich könnte sie auch ganz anders vorgehen: Der Phantasie ihres Verfassers (und davon ausgehend: dem Spürsinn des Interpreten) steht eine schier unüberschaubare Reihe von Möglichkeiten offen. Was auf diese Weise entsteht, ist freilich noch keine sinnhafte ‚Aussage‘ im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern eher ein Bündel von Indizien, das sich mehr oder weniger deutlich auf einen bestimmten Punkt hin verdichtet. Dieser Punkt wird von der Erzählung selbst (meist) nicht expliziert: 3 das zu tun, ist Aufgabe des interpretierenden Rezipienten. Wenn dieser nun aus den genannten Hinweisen den Schluss zieht, dass die vorliegende Erzählung etwa darauf abziele, die Liebe als eine Schicksalsmacht darzustellen, an der sich die Vorbildlichkeit des Protagonistenpaars erweise, so vollbringt er damit gleichwohl keineswegs eine willkürliche Abstraktionsleistung. Denn die abstrahierende Interpretation wäre ja nicht möglich, oder doch zumindest nicht plausibel, wenn sie nicht bereits in der Darstellung angelegt wäre. Was aus Sicht der sinnbildenden Formung zunächst als das Resultat der Sinnbildung erscheint, kann mithin als solches nur formuliert werden, wenn man es zugleich an ihren Anfang setzt, und das heißt: indem man es zum (implizit) leitenden Gedanken der narrativen Darstellung erhebt. Wenn die Erzählung nämlich, so könnte man argumentieren, auf etwas anderes hätte abheben wollen als auf die Schicksalhaftigkeit der Liebe, dann hätte sie ihren Gegenstand anders gestaltet. 4 So hätte sie beispielsweise durch die Einführung negativer Kontrastfiguren oder eines wertenden Erzählers die Vorbildlichkeit der Liebenden stärker herausstellen können. Sie hätte diese, um dem exemplarischen noch einen dynastischen Sinn hinzuzufügen, in eine realitätsnahe Geographie versetzen und ihnen die Begründung eines bis heute florierenden Herrschaftshauses andichten können. Oder sie hätte, um dem Ganzen schließlich einen religiösen Akzent zu verleihen, der Herrschaftsgründung eine Moniage folgen lassen können. Was mein Beispiel andeuten soll, dürfte sich damit klar genug abzeichnen, um die These zu formulieren, dass man das sinnbildende Verfahren des Erzähltyps, um den es hier geht, am besten zu fassen bekommt, wenn man es konsequent von zwei Seiten her in den Blick nimmt. Es ist also nicht nur nach den Formzügen zu fragen, mit deren Hilfe eine Erzählung 3 Und wenn doch, dann oft mit dem Effekt, vom Rezipienten in seiner Geltung angezweifelt werden zu können: Der Sinn einer als ästhetisch begriffenen Erzählung bleibt seinem Wesen nach nicht-anschaulich, also ihrer Darstellung implizit (andernfalls ist er kein ä s t h e t i s c h e r Sinn). 4 Ich schreibe die sinngebende Absicht hier metaphorisch dem Text bzw. der Erzählung zu, um eine Zuschreibung an den Autor zu vermeiden. In Hinblick auf die angenommene bzw. unterstellte Intentionalität des Erzählens greife ich auf meine Überlegung vom Beginn des Kapitels zurück (II.1 mit Anm. 10). ‚Modi der Regierung‘ 129 thematisch bedeutsame Episoden und Ereignisse so anordnet und gestaltet, dass sie, sozusagen von ‚unten‘ nach ‚oben‘ (bzw. vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten oder vom Teil zum Ganzen), Sinn aufbauen. Vielmehr ist auch umgekehrt zu eruieren, wie der leitende Gedanke, der die sinngebende Absicht repräsentiert, die Erzählung jeweils insgesamt prägt, indem er sich, sozusagen von ‚oben‘ nach ‚unten‘ (oder analog: vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Abstrakten zum Konkreten oder vom Ganzen zum Teil), in ihrer Darstellung entfaltet. Dass die beiden so bezeichneten Vorgänge de facto eine Einheit bilden; dass sie sich in der Bewegung ‚hinauf ‘ und ‚hinab‘ gegenseitig bedingen und nahtlos ineinandergreifen, ist dabei unbedingt mitzudenken: Thematischer Aufbau und thematische Entfaltung stellen keine Alternativen der Sinnbildung dar, sondern sind Teil jenes semantischen Zirkels, den ich zu Beginn des letzten Abschnitts aus Lugowskis Beobachtungen hergeleitet habe. Dass ich sie im Folgenden zunächst einzeln darstelle, liegt daher ausschließlich in den Erfordernissen der Modellbildung begründet. Um die Neuerung meines Vorschlags hervorzuheben, beginne ich mit dem Teil des Zusammenhangs von Form, Thema und Sinn, der bisher noch am wenigsten Beachtung gefunden hat. Denn was ich hier als thematische Entfaltung bezeichnen möchte, 5 weist zwar einige Parallelen zu den Phänomenen des metonymischen und paradigmatischen Erzählens auf. Es unterscheidet sich von diesen aber dadurch, dass es sich - nicht weniger deutlich als die Gegenbewegung des thematischen Aufbaus, nur eben in die umgekehrte Richtung - ganz dezidiert prozesshaft vollzieht. Da sich aus der Darstellung dieses Prozesses auch die Perspektive auf die kompositorischen Verfahren ändert, die in einer Erzählung jeweils sinnbildend wirksam werden können, seien in einem zweiten Schritt auch sie noch einmal genauer ins Auge gefasst. Dass es bei all dem immer nur darum gehen kann, grundlegende Zusammenhänge zu verdeutlichen, muss kaum eigens gesagt werden: Eine umfassende Darstellung oder gar ein Katalog von sinnbildenden Formen verbietet sich schon angesichts der Fülle ihrer Möglichkeiten von selbst. 2.1 Formen der thematischen Entfaltung (‚Modi der Regierung‘) Einige wesentliche Merkmale des ersten, von ‚oben nach unten‘ verlaufenden Halbzirkels ‚künstlicher‘ Sinnbildung habe ich bereits genannt. Er bezeichnet den Prozess, in dem sich das gedankliche Konzept, das dem Erzählen zugrunde liegt und das (zumindest aus Perspektive des Rezipienten betrachtet) in ihm zum Ausdruck kommen soll, in der Darstellung realisiert. 6 Die prägende Kraft, die diesem Konzept im Ganzen der Erzählung zukommt, hat Lugowski treffend als eine ‚regierende‘ bezeichnet. Indem es bestimmt, was geschieht und wie es geschieht, was die Figuren denken, was sie tun und in welcher Welt sie sich bewegen, konstituiert es einen thematischen Zusammenhang, der sich in dem Maße, in dem er alles Einzelne an sich bindet, mehr und mehr zu jener „übergreifenden Ganzheit“ schließt, in der das Einzelne nur noch „teilhaft[]“ erscheint und „vom Ganzen aus ‚regiert‘ wird“. 7 Den 5 Dass ich den Begriff zugleich für den Sinnbildungstyp insgesamt verwende, erklärt sich einfach daraus, dass das Prinzip der Entfaltung den Text jeweils als Ganzen prägt (in diesem Sinne spreche ich auch vom ‚Modus der Regierung‘), weshalb es sich für eine zusammenfassende Benennung eher anbietet. 6 Vgl. Haferland / Schulz 2010, S. 13. 7 Lugowski 1932 / 1994, S. 53. 130 Thematische Entfaltung - Modellierung Nexus von Konzept, thematischem Zusammenhang und dargestelltem Einzelnen als einen metonymischen zu bezeichnen, bietet sich hier zweifellos an, greift aber, wie bei näherem Hinsehen unschwer erkennbar wird, dennoch zu kurz. Denn das Einzelne (die Episode, das Ereignis etc.) ‚steht‘ ja keineswegs ‚für‘ den Sinn; es ‚bezeichnet‘ ihn nicht und ‚charakterisiert‘ ihn nicht (auch nicht aspekthaft), und schon gar nicht kann es ihn ersetzen. 8 Dass es ihn evoziert, mag zwar sein, doch geht diese Evokation nicht von ihm allein aus (wenn dem so wäre, bräuchte man kein größeres Erzählganzes), sondern entsteht erst im Zusammenspiel mit anderen Bestandteilen der Erzählung: ein Vorgang, der mit dem Begriff der Metonymie nicht zu fassen ist. 9 Wie sich die ‚Regierung‘ des Sinns (oder seiner Idee) über die erzählte Welt vollzieht, wird meines Erachtens sehr viel deutlicher, wenn man dafür bei solchen Umschreibungen ansetzt, wie ich sie eben für meine Beispielerzählung verwendet habe. Wenn man nämlich sagt, diese stelle die Liebe als eine Schicksalsmacht dar, an der sich die Vorbildlichkeit der Liebenden erweise, dann geht man davon aus, dass an diesem Vorgang alles Einzelne der Erzählung zwar beteiligt ist, aber doch auf je unterschiedliche, wiewohl auf das gemeinsame Ziel hin konzertierte Weise. Und man geht weiter davon aus, dass die Konzertierung, wenn es etwa darum gegangen wäre, die Liebe als Begründung legitimer Herrschaft darzustellen, wenigstens zum Teil anders ausgefallen wäre. Um allgemein zu benennen, was hier geschieht, wird man darum eher von einem Gedankengang sprechen als von einem wiederholten Akt der Bezeichnung: von einem Gedankengang, der sich im Erzählen darin manifestiert, dass er alles Einzelne (anstatt schon für das Sinnganze selbst) jeweils nur für den gedanklichen Schritt einsetzt, der im Zuge der thematischen Entfaltung als nächster notwendig ist, damit diese am Ende auf das hinausläuft, was in diesem Fall als der Sinn des Ganzen zu verstehen gegeben werden soll. Von der Vorstellung dieses Gedankengangs - den man sicher auch eine „Denkbewegung“ nennen könnte 10 - ist es nicht weit bis zu einem älteren literaturtheoretischen Konzept, von dem bisher noch nicht die Rede war. André Jolles’ Schilderung der „Geistesbeschäftigung“, die die „Einfachen Formen“ einer alltagsnahen, genuin mündlichen und grundsätzlich nicht-artifiziellen Dichtung hervorbringt und voneinander abgrenzt, trifft das, worauf ich hinauswill, zwar nicht exakt, sie kann aber wesentlich dazu beitragen, es schärfer in den Blick zu bekommen. 11 Ganz dezidiert ausblenden möchte ich dabei insbesondere den bei Jolles vorherrschenden Impetus, die ‚Einfachen Formen‘ und ihre Geistesbeschäftigungen als etwas zu verstehen, das sich „sozusagen ohne Zutun eines Dichters in der Sprache selbst 8 Zu diesen Formulierungen Haferland / Schulz 2010, S. 3-15. In gewisser Weise einzuschränken ist meine Zurückweisung für den Typus der metaleptisch-potenzierenden Sinnbildungsformen (vgl. Kap. II.2.2.2); auch dort ist die Parallele zur Denkfigur der Metonymie aber, wie noch zu zeigen sein wird, nur mit Vorsicht zu ziehen. 9 Der Bezug zur Metonymie bzw. zum metonymischen Denken ist hier gleichwohl wichtig, weil er darauf hinweist, dass das Phänomen auf kognitiven Prozessen basiert, die mit denen von Metonymie und Metapher zwar nicht identisch, aber vergleichbar sind. Man könnte darüber nachdenken, sie kognitionspsychologisch auf frames oder Szenarios zu beziehen, die in einer Form von blending miteinander kombiniert werden. Ob der Vorgang, den ich im Folgenden zu beschreiben versuche, damit deutlicher würde, scheint mir freilich nicht ausgemacht. Zu den Möglichkeiten und Problemen kognitionswissenschaftlicher Methoden in der Literaturwissenschaft überblickend Zymner 2009. Die grundlegenden Ansätze und Methoden stellt Stockwell 2002 dar. 10 Vgl. nochmals Stock 2002, hier S. 303. 11 Ich zitiere die Ausgabe Jolles 1930 / 1999. Zu den Begriffen bes. ebd., S. 8-22, 34-47. Vgl. dazu auch Bausinger 1968 / 1980, S. 55-69, Jauss 1977, S. 37-47 und Eikelmann 1997, S. 422-424. ‚Modi der Regierung‘ 131 ereigne[t], aus der Sprache selbst erarbeite[t]“. 12 Und auch die Linie, die er von diesem Gedanken zu den Gattungen der Legende, der Sage, der Mythe, dem Rätsel etc., sowie weiter zu den von ihnen abgeleiteten Formen der Novelle und des Romans zieht, spielt für mich keine entscheidende Rolle. 13 Was Jolles’ Ausführungen für mich interessant macht, weil es dem Phänomen, dem ich auf der Spur bin, weitgehend entspricht, ist allein die Idee der Geistesbeschäftigung als einer Art Impuls, mit dem der menschliche Geist etwas in der Welt vor sich Gehendes ergreift, um es im Medium der Sprache so zu formen, dass es ihm als ein literarisch Gestalthaftes verständlich wird. So lässt der formende Geist etwa die Legende entstehen, indem er dem Leben eines Menschen in der Darstellung seiner „tätige[n] Tugend“ den Stempel des imitabile aufdrückt und ihn in dieser Weise zugleich zum Heiligen macht und als Heiligen (wieder-)erkennbar werden lässt. 14 Oder er lässt die Mythe entstehen, indem er die Frage nach dem Wesen eines Naturphänomens dadurch zum Schweigen bringt, dass er es durch die Darstellung seiner Erschaffung in seiner Beschaffenheit erklärt. 15 Das Prinzip der Geistesbeschäftigung besteht also kurz gesagt darin, die Wirklichkeit ordnend zu deuten und sie sich deutend anzueignen, wobei der Akt des ordnenden Deutens nach Denk- und Darstellungsmustern vollzogen wird, die in ihrer Verschiedenheit darin übereinkommen, dass sie ‚bündige‘ sprachliche Gebilde hervorbringen: Gebilde, in denen die „Vielheit und Mannigfaltigkeit des Seins und des Geschehens sich [so] verdichtet und gestaltet“, dass sie in ihrem Meinen und Bedeuten ‚rund‘ und unmittelbar einleuchtend erscheinen. 16 Die Darstellung der Dichtung als einer sinnhaften Deutung der Welt ist Jolles offenbar mit Lugowski gemein; und er ist ihm, wie hinzugefügt sei, auch in der Auffassung verbunden, dass sich in diesem Deutungsakt eine Form des mythischen Denkens kundtue. 17 Ich überspringe diesen Punkt - nicht zuletzt deshalb, weil Jolles im Wesentlichen dieselbe Kritik treffen müsste wie Lugowski - und verstehe das, was er über diesen hinaus bietet, stattdessen gleich im Sinne Cassirers als eine Aussage nicht über das mythische, sondern das ästhetische Gestalten der Welt. Was Jolles beschreibt, wenn man ihn unter dieser Prämisse liest, ist augenscheinlich nichts anderes als ein literarisches Verfahren, mit dem die (narrative) Darstellung eines Gegenstandes (bzw. eines stofflich gebundenen Themas) einem bestimmten Denkmuster unterworfen wird, mit dem Ergebnis, dass die Darstellung eine Form erhält, die dem Gegenstand (bzw. Thema) einen besonderen Sinn verleiht. Wa- 12 Jolles 1930 / 1999, S. 10. Jolles greift hier offenkundig auf die romantische Konzeption der Naturpoesie zurück. Vgl. dazu die Kritik von Bausinger 1968 / 1980, S. 55-59. 13 Zur möglichen Anwendung von Jolles’ Konzept auf die Literatur des Mittelalters bes. Jauss 1977, S. 34-47. 14 Zur Legende Jolles 1930 / 1999, S. 23-61, zit. S. 30. 15 Zur Mythe ebd., S. 91-125. Ich beziehe mich hier bes. auf die Formulierung: „Diese Antwort [d. i. der Mythe, C. K.] ist so, daß keine weitere Frage gestellt werden kann, so, daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frage erlischt; diese Antwort ist entscheidend, sie ist bündig“ (ebd., S. 97); und: „in der Mythe wird ein Gegenstand von seiner Beschaffenheit aus Schöpfung“ (ebd., S. 101). 16 Ebd., S. 45. 17 Bezeichnenderweise verwendet Jolles in seiner Explikation der ‚Einfachen Formen‘ (ebd., S. 11-22) den B e g r i f f des Mythos nicht. Stattdessen erzählt er ihre Entstehung als Mythos: als Geschichte einer Sprache, die die Welt ebenso erzeugend, erschaffend und deutend ordnet wie die reale Welt durch die Arbeit von Bauer, Handwerker und Priester geordnet wird. An dieser indirekten Redeweise mag es liegen, dass Jolles’ Konzept der ‚Einfachen Formen‘ nicht insgesamt als ein mythostheoretisches rezipiert worden ist. In der Mythosforschung wurde und wird er vielmehr vornehmlich für seine Darstellung der ‚Einfachen Form‘ der Mythe wahrgenommen: vgl. Friedrich / Quast 2004, S. Xf. 132 Thematische Entfaltung - Modellierung rum ich den Gattungsaspekt in diesem Zusammenhang zurückstellen möchte, sei wieder mit Blick auf mein Beispiel verdeutlicht: Eine Erzählung, in der sich die Liebe als eine Schicksalsmacht präsentiert, an der sich die Vorbildlichkeit der Liebenden erweist, enthält zwar, wie man mit einigem Recht behaupten könnte, gewisse Züge sowohl der Mythe als auch der (weltlichen) Legende, sie geht aber nicht in ihnen auf. 18 Sie jedoch als eine aus beiden abgeleitete Mischform zu erklären, wäre insofern gleich in doppelter Hinsicht missverständlich, als daraus zum einen nichts über ihre Gattungszuordnung folgen würde - die Erzählung könnte je nach ihrer weiteren Ausgestaltung ebenso als Märchen, Novelle oder Roman firmieren -, und zum anderen auf diese Weise Zweifel über ihre sinnhafte Einheit aufkommen könnten, die de facto unbegründet sind. Denn die Absicht, die Liebe als eine tugendfördernde Schicksalsmacht erscheinen zu lassen, ist durchaus dazu geeignet, eine Erzählung als Ganze zu erfassen und sie zu einem Gebilde zu formen, das im Ausdruck genau dieser Idee bündig ist. Aus diesen Gründen scheint es mir sinnvoller, jenes Movens der literarischen Weltgestaltung, das Jolles als ‚Geistesbeschäftigung‘ beschreibt, im Zusammenhang meiner Untersuchung nicht an die Darstellungskonventionen bestimmter Gattungen zu binden, sondern vorderhand auf die sinnhafte Fügung eines einzelnen Textes zu beziehen. Davon abgesehen stellt es sich jedoch bei mir ganz ähnlich dar. Auch ich nehme an, dass die konkrete Anordnung von Elementen, die einen ‚künstlichen‘ (d. h. ‚thematisch überfremdeten‘) Erzähltext als sinnvoll konstituiert, auf einem bestimmten Denkmuster beruht, und dass dieses Denkmuster wiederum auf ein geistiges Antriebsmoment zurückgeht, das die narrative Darstellung - eben: über das Denkmuster - insgesamt beherrscht. Dabei möchte ich freilich insofern etwas anders akzentuieren, als ich das geistige Antriebsmoment selbst und das Muster, in dem es sich vollzieht, voneinander unterscheide. Ersteres identifiziere ich mit dem Sinn der Erzählung, der in meinem Beispiel mit der Intention, die Liebe als tugendförderndes Schicksal darzustellen, leidlich gut umrissen sein mag (wobei ich natürlich immer davon ausgehe, dass derlei Explikationen nur Möglichkeiten der interpretativen Annäherung an den zumindest potentiell reicheren semantischen Entwurf des Textes darstellen). Und zweiteres möchte ich auf das Prinzip beziehen, nach dem das Thema der Liebe im Text so dargestellt und geordnet - oder eben: entfaltet - wird, dass diese am Ende als tugendförderndes Schicksal erscheint. Da dieses Prinzip mithin sozusagen als die exekutive Gewalt fungiert, mit dessen Hilfe der Sinn über die dargestellte Welt und ihren thematischen Zusammenhang herrscht, sei es im Folgenden metaphorisch als ‚Modus der Regierung‘ bezeichnet. Warum diese Differenzierung für das Verständnis der Sinnbildung vor allem ästhetisch anspruchsvollerer Texte unerlässlich ist, und warum in diesem Zusammenhang gerade der ‚Modus der Regierung‘ besondere Beachtung verdient, dürfte unschwer zu sehen sein. Denn wie Jolles bloß davon auszugehen, dass der Sinn (etwa: die Aufforderung zur imitatio ) und die ihn hervorbringende Denkbewegung (die Darstellung des imitabile ) weitgehend zusammenfallen, geht bei allen literarischen Formen, die nicht ganz so einfach wie die von ihm beschriebenen sind, schwerlich an. So wäre schon bei meinem (wahrlich bescheidenen) Beispiel unbedingt genauer nachzufragen, welches gedankliche Prinzip seiner themati- 18 Mythisch ist sie, sofern sie die Frage nach dem Wesen der Liebe mit Hinweis auf deren Schicksalhaftigkeit beantwortet. Legendenhaft hingegen erscheint sie darin, dass sie die Liebenden, indem sie sie als vorbildlich darstellt, zum imitabile macht. ‚Modi der Regierung‘ 133 schen Anordnung (eher) zugrunde liegt, bzw. welche der darin aufscheinenden Tendenzen im Vordergrund steht. Geht es hier also eher darum, das Wesen der Liebe zu definieren oder eher darum, das Verhalten der Liebenden als vorbildlich herauszustellen (das wären die beiden Optionen der ‚Einfachen Form‘)? Oder wird vielmehr beides in eine anders geartete Gesamtidee eingebunden, die etwa darin bestehen könnte, mehrere Aspekte der Liebe abzuschreiten und im Zuge dessen z. B. zentrale Gedanken einer noch näher zu benennenden (philosophischen, medizinischen o. ä.) Liebeskonzeption narrativ zu veranschaulichen? Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, wäre nicht nur die gedanklich-thematische Fügung der Erzählung anders einzuordnen, sondern auch ihr Sinn anders zu perspektivieren (und zwar sogar dann, wenn man ihn identisch formulieren könne). Diese Hinweise mögen genügen, um zum einen zu zeigen, was mit dem ‚Modus der Regierung‘ gemeint ist, und um zum anderen zu begründen, warum ich ihn zu erkennen und zu benennen für eine der wichtigsten Aufgaben bei der Analyse ‚künstlichen‘ Erzählens halte. Verständlich geworden sein sollte bis hierher außerdem, weshalb ich darauf verzichte, Jolles’ Formen auf eine Reihe grundlegender Modi zu beziehen und ggf. zu ergänzen. Damit soll nicht gesagt sein, dass dies - wenn auch weniger gattungsgebunden als von Jolles behauptet - nicht möglich wäre, im Gegenteil: Das Konzept der ‚Einfachen Form‘ ist für meine Überlegungen nicht zuletzt deshalb wichtig, weil es zumindest andeutet, dass bestimmte grundlegende Denkmuster des Alltagslebens die thematische Konfiguration auch narrativ-literarischer Texte prägen. Diese können demnach vom Bestreben, gewisse Phänomene der Welt zu definieren (Mythe) und zu diskutieren (Kasus), Erkenntnisse als gültig zu setzen (Spruch) oder in ihrer Geltung zu hinterfragen (Witz), Handlungsanweisungen zu geben (Legende / Exempel) oder die Essenz wirklich geschehener Ereignisse zu erfassen (Memorabile), genauso bestimmt sein wie die aus dem Alltagsdenken hervorgehenden ‚Einfachen Formen‘. Sie können diese aber - und darauf kommt es hier an - auch kombinieren und konterkarieren; und sie können sie durch andere, komplexere und nicht mehr alltagsweltlich gebundene Denk- und Diskursmuster ersetzen: durch wissenschaftlich-gelehrte wie das der disputatio , der Argumentation oder des Traktats, oder durch ästhetisch-metaphorische, wie sie etwa im handlungshaften Umkreisen und Verbinden von thematischen Positionen zum Ausdruck kommen. Dass die geistige Bewegung spätestens in den zuletzt genannten Fällen nicht mehr schematisch erfasst und kategorisiert werden kann, liegt auf der Hand. Man tut entsprechend gut daran, den Blick auf den einzelnen Text nicht durch die Festlegung eines vorgefertigten Satzes von Denkmustern zu beschränken. Diese Konsequenz, die sich aus der Übertragung des Konzepts der Geistesbeschäftigung auf im engeren Sinn literarische Formen meines Erachtens zwangsläufig ergibt, macht den Umgang mit den Texten natürlich nicht leichter. Das gilt nicht nur deshalb, weil die Benennung des ‚regierenden Modus‘ nun zu einer Aufgabe wird, die genauso wie die Frage nach dem Sinn (und gemeinsam mit ihr) nur auf dem Wege der Interpretation gelöst werden kann; erschwerend hinzu kommt vielmehr, dass die Denkbewegung, die bei den ‚Einfachen Formen‘ sozusagen an der Oberfläche liegt und durch die narrative Einbindung (so es sie gibt) 19 nur vermittelt wird, im Kontext des - thematisch bestimmten - literarischen Erzählens zumindest scheinbar hinter die dargestellten Ereignisse zurücktritt. Während also etwa der Kasus keinen Hehl daraus macht, dass es ihm um die Diskussion einer Norm und 19 Die ‚Einfachen Formen‘ nehmen zwar vielfach narrative Form an, diese ist ihnen aber - wie mit Blick auf das Rätsel, den Witz und den Spruch leicht ersichtlich - nicht konstitutiv. 134 Thematische Entfaltung - Modellierung nicht um die Schicksale seiner Handlungsträger geht, ist es der thematisch bestimmten literarischen Erzählung umgekehrt (vorgeblich) vor allem um die Geschichte ihrer Protagonisten zu tun; und wenn sie Rückschlüsse auf die Beurteilung normativer Werte erlaubt, dann geschieht dies (scheinbar) nur sekundär und wie nebenbei. 20 Das heißt mit anderen Worten: Die Herausforderung an den Rezipienten (und damit: den Interpreten) besteht hier nicht nur darin, dass die nachzuvollziehenden Denkbewegungen insgesamt vielfältiger und komplexer sind als bei den ‚Einfachen Formen‘, sondern auch darin, dass sie sehr viel schwerer überhaupt als solche erkennbar werden. Genau das macht freilich den Reiz und nicht zuletzt auch den Charakter des hier zu untersuchenden Erzähltyps aus. Dieser zeigt sich, wie zum Schluss dieses Abschnitts präzisierend gesagt werden kann, nicht zuletzt darin, dass sein Erzählen den ihm zugrundeliegenden Gedankengang zwar in einem erzählweltlichen Geschehen gewissermaßen verhüllt (wobei die ‚Verhüllung‘ zunächst einmal nichts anderes bezeichnet als das Prinzip der ästhetischen Konkretion), im Zuge dessen aber dafür sorgt, dass er hinter diesem - wie hinter einem halbdurchsichtigen Schleier - zumindest erahnbar bleibt. 21 Was Lugowski als ‚thematische Überfremdung‘ bezeichnet, könnte so ohne weiteres in eine ‚gedankliche Überfremdung‘ umbenannt werden: In ihr scheint die Einsicht auf, dass den Verläufen von Geschehen, Geschichte und narrativer Vermittlung, die man für gewöhnlich als die wesentlichen Bestandteile jeden Erzählens beschreibt, noch ein weiterer Vorgang hinterlegt sein kann; - ein Vorgang, der, obwohl selbst im Wesen nicht-narrativ, die Prozesse des Erzählens dennoch beherrscht, und sie, je mehr er dies tut, umso ‚künstlicher‘ erscheinen lässt. 2.2 Formen des thematischen Aufbaus (‚Modi der Ausrichtung‘) Von hier aus sind nun jene Verfahren in den Blick zu nehmen, die ich metaphorisch ‚Modi der Ausrichtung‘ nennen möchte, weil sie dafür verantwortlich sind, die einzelnen Bestandteile einer Erzählung insgesamt auf ein bestimmtes Thema hin zu ‚richten‘. In Rekurs auf Cassirers Kunsttheorie ist in diesem Zusammenhang an das Moment der ästhetischen Aufmerksamkeitslenkung zu erinnern: Die ‚Modi der Ausrichtung‘ sorgen dafür, dass der Rezipient durch das in einer Erzählung explizit Gesagte immer wieder auf ihr implizites Thema hingewiesen wird, was ihn dazu veranlasst, dieses als deren Zentrum und Gegenstand ihrer ‚weltentdeckenden‘ Reflexion wahrzunehmen. 22 Im Prozess der Sinnbildung erweisen sie sich damit schon allein deshalb als unverzichtbar, weil sie den die Erzählung prägenden Gedankengang narrativ umsetzen und ihn so überhaupt erst konkret zum Teil 20 Es geht mir mit dieser Formulierung wohlgemerkt weder um eine Unterscheidung von Gattungen (etwa hier: Kasus und Novelle) noch um eine Definition von Literarizität, sondern allein um die Frage, wie sich eine Verstärkung des narrativen Moments auf die thematische Darstellung auswirkt. 21 Ich spiele in dieser Formulierung auf Lugowskis ‚Hinterweltlichkeit‘ an (1932 / 1994, S. 28), ausdrücklich nicht hingegen auf das strukturalistische Konzept der Tiefenstruktur. Zu dieser Unterscheidung gleich mehr. 22 Sie erfüllen damit die Funktion, die Cassirer der dritten seiner ästhetischen Einbildungskräfte zuschreibt. Vgl. dazu bes. Cassirer 1990 / 1992, S. 219 f., 257 sowie meine Überlegungen in Kap. I.2.1.2.3. Auch hier wäre eine kognitionspsychologische Beschreibung möglich, wobei wohl v. a. das foregrounding und die kognitive Deixis von Belang wären. Zusammenfassend dazu Zymner 2009, bes. S. 139 f. Eine etwas konkretere Vorstellung des von mir fokussierten Phänomens entwickelt aus rezeptionsästhetischer und kognitionspsychologischer Perspektive Ziem 2009. ‚Modi der Ausrichtung‘ 135 der dichterischen Darstellung werden lassen. Indem sie jeweils realisieren, was dieser ideell vorgibt, werden sie mithin zum Komplement und zugleich zur ausführenden Instanz des ‚regierenden Modus‘; wobei sie ohne ihn wohlgemerkt ebenso wenig auf einen übergreifenden Sinn hin verständlich werden können, wie umgekehrt er ohne sie sinnbildend wirksam zu werden vermag. Um die Liebe als tugendförderndes Schicksal erkennbar zu machen, ist also immer beides nötig: die Darstellung der Liebe als höhere Macht, das Gehabtsein der Liebenden etc. u n d die definierende bzw. exemplifizierende Absicht, die alles zusammenhält. Wenn diese beiden Aspekte der narrativen Sinnbildung nicht ausreichend ineinandergreifen, erscheinen zwangsläufig entweder die sinnanzeigenden Indizien als ziellos oder die sie begründende Absicht als verfehlt. In der Frage nach den ‚Modi der Ausrichtung‘ kehrt sich die Perspektive des letzten Abschnitts mithin um. Im Fokus stehen nicht mehr die Regel oder das Prinzip, in denen sich der thematische Zusammenhalt der Erzählung gedanklich-ideell begründet, sondern die narrativen Mittel, in denen er sich konkret vollzieht. Dass diese Mittel noch vielfältiger sind und darum noch weniger im Einzelnen erfasst werden können, als die ihnen korrespondierenden Regeln und Prinzipien, liegt auf der Hand. Gleichwohl lassen sich aus ihrer allgemeinen Bestimmung einige Besonderheiten ableiten, nach denen sie zumindest ansatzweise zu differenzieren sind. Weshalb dies nur ansatzweise geschehen kann - und dass es nicht unwichtig ist, die Problematik dieser Differenzierung zu bedenken -, sei vorab in einer kurzen Überlegung erläutert, mit der ich nicht zuletzt einer missverständlichen Auffassung meiner Darstellung zuvorkommen möchte. Das Missverständnis besteht sozusagen in einer strukturalistischen Fehlinterpretation von Lugowskis Schilderung der ‚Hinterweltlichkeit‘ künstlichen Erzählens. Wenn ich eben mit Verweis auf sie gesagt habe, 23 dass der dem Erzählen zugrundeliegende Gedankengang im erzählweltlichen Geschehen quasi eingehüllt werde und deshalb hinter ihm wie durch einen halbdurchsichtigen Schleier nur erahnbar sei, dann könnte das nämlich den Eindruck erwecken, als zielte ich auf eine Unterscheidung von narrativer Oberfläche und semantischer Tiefe, die in etwa den Vorstellungen des Strukturalismus entspräche. 24 In diesem Sinne wäre davon auszugehen, dass die Erzählwelt in ihrem zeitlichen Ablauf als eine prinzipiell unabhängige - und aufgrund ihres (gedachten) Realitätsstatus nicht zuletzt ontologisch differierende - Ebene zu denken wäre, die ‚über‘ (oder ‚vor‘) der - offenkundig der ‚gemachten‘ Erzählung angehörenden - Ebene der thematischen Verknüpfung läge und sich nur über den Akt einer semantischen Besetzung auf diese beziehen ließe. 25 Das von Lugowski beschriebene Phänomen der thematischen - oder gedanklichen - ‚Überfremdung‘ wäre dann als eine Durchbrechung der Ebenengrenze anzusprechen; als ein Kategorienfehler, der seine Wirkung konsequenterweise in irrealen Effekten wie dem ‚Gehabtsein‘ zeitigt. Aus dieser Sicht würde das ‚künstliche‘ Erzählen fast zwangsläufig ins Licht der Anomalie rücken. Es erschiene als Spezialfall eines Erzählens, bei dem die Ebenen voneinander abgehoben bleiben, was dann freilich weiter bedeuten würde, dass im Grunde jedes thematisch besetzte Erzählen anormal wäre. Denn der thematische Zusammenhang des Erzählens kann ja wie gesagt nicht sinnbildend wirksam werden, wenn er nicht in 23 Außer an das Ende des letzten Abschnitts schließe ich hier an die Überlegungen aus Kap. I.2.2 an. 24 Zusammenfassend dazu etwa Martínez / Scheffel 1999, S. 134-144. Zu verschiedenen Ebenenmodellen auch Schmid 2005, S. 223-244. 25 Ich formuliere hier in Bemühen um Klarheit pointiert und absichtlich vereinfachend; differenzierter etwa Martínez / Scheffel 1999, S. 20-26, Schmid 2005, S. 245-272. 136 Thematische Entfaltung - Modellierung irgendeiner Weise auf sich aufmerksam macht, und das heißt: wenn er die Darstellung einer Erzählwelt nicht auf die eine oder andere Art in die Sinnhaftigkeit ihrer ästhetischen Faktur überblendet. Dass es wenig maßgeblich ist, wie weit er dabei in die erzählte Welt eingreift, ist an der thematischen Gottheit meiner Beispielgeschichte exemplarisch zu sehen: Ob die Liebenden von einem realen oder einem metaphorischen Liebesgott durchs Geschehen geleitet werden, ist letztlich gleichgültig. Das Auftreten der Liebe in der Funktion einer höheren Macht genügt, um die Handlung als (‚künstlich‘-)sinnhaft arrangiert erscheinen zu lassen. Die Konsequenz lautet offensichtlich: Es nicht nur wenig hilfreich, sondern bis zu einem gewissen Grad sogar kontraproduktiv, eine Untersuchung der thematischen Zusammenhänge einer Erzählung mit allzu großer Bestimmtheit unter der Voraussetzung ihrer Unterscheidung in ‚Oberfläche‘ und ‚Tiefe‘, in narrativ-zeitliche und thematisch-unzeitliche Verknüpfungen, aber auch in die Ebenen von histoire , discours und narration anzugehen. Wenn es darum geht, das Erzählen da zu fassen, wo es die Darstellung eines erzählweltlichen Geschehens mit der Verhandlung eines Themas ve rbi nd et , dann gibt es im Grunde genommen gar keine Ebenen. An deren Stelle tritt eine Verknüpfung von thematisch besetzten Elementen, die im Prinzip alle auf derselben Ebene liegen: auf der Ebene der Erzählung. Unter dem Gesichtspunkt des Gedankengangs, der sie insgesamt ‚regiert‘ - und das heißt: ihr Geschehen ebenso wie ihre Geschichte, ihre Komposition ebenso wie ihre narrative Anordnung und den Akt des Erzählens selbst -, ist die Erzählung folglich ‚flach‘ und die Vorstellung von ‚vorn‘ und ‚hinten‘ bzw. ‚oben‘ und ‚unten‘ nur eine Illusion. Dass der thematische Zusammenhang irgendwo ‚hinter‘ (oder ‚unter‘) der erzählten Welt wäre, mag dem mit den Maßstäben seiner Alltagserfahrung Lesenden vielleicht so scheinen, es ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieser Zusammenhang sich de facto (also in seiner narrativen Realisation) genau da entfaltet, wo auch die erzählte Welt ist - und zwar nicht nur ‚in‘ ihr, sondern auch durch sie. Mit dieser Erwägung sei weder einer erzähltheoretischen Entdifferenzierung noch einem Verzicht auf das bewährte narratologische Inventar das Wort geredet. Ich möchte lediglich (nochmals) darauf hinweisen, dass die einzige Differenz, auf die es im vorliegenden Kontext ankommt, die zwischen dem Gedanken ist, der eine Erzählung bestimmt (als solcher aber abstrakt bleibt, d. h. kein Teil von ihr ist), und der Gestalt, in der er narrativ realisiert wird (und zwar in der Erzählung und keinesfalls auf einer von ihr abgehobenen Ebene). Alle anderen Unterscheidungen haben demgegenüber nur einen beschreibenden bzw. verdeutlichenden Wert und sollten nicht als kategoriale Grenzziehungen missverstanden werden. 26 Das gilt auch und gerade für die Differenzierung zwischen Erzählung und erzählter Welt, von der ich im Folgenden ausgehe, ohne sie an die üblicherweise damit verknüpfte Aufteilung zwischen dem Was und dem Wie des Erzählens zu binden. 27 Dass ich in dieser Weise 26 Wirklich kategorial ist freilich bei Licht betrachtet auch die Unterscheidung zwischen gedanklichem Konzept und narrativer Konkretion nicht. Denn obwohl man gewiss sagen kann, dass nur die Erzählung selbst faktisch ‚da‘ sei, während er ihr zugrundeliegende Gedanke lediglich als Idee aus ihr hervorgehe bzw. aus ihr (re-)konstruiert werden könne, kann er doch zugleich auch als Idee nur aus ihr hervorgehen, i n d e m er sich narrativ konkretisiert - beides gilt natürlich genauso für das Geschehen in seinem Verhältnis zur Geschichte. Welche Ebenen man voneinander abhebt und als jeweils geltend annimmt, hängt mithin von der Perspektive ab; wichtig ist nur, dass man der Versuchung entgeht, sie für mehr als deskriptive Kategorien zu halten; ihnen also einen von der Beschreibung unabhängigen Realitätsstatus zuzuschreiben. 27 Vgl. etwa Martínez / Scheffel 1999, S. 20-25, Köppe / Kindt 2014, Kap. 3 und 4. ‚Modi der Ausrichtung‘ 137 vorgehe, ist keineswegs dem Schematismus der narratologischen Analysepraxis geschuldet, sondern begründet sich aus der Beobachtung, dass sich die Formen des thematischen Aufbaus von Sinn im Erzählen anders äußern als in der erzählten Welt. Der nur graduelle Charakter dieses Unterschieds ist hier indes insofern unverkennbar, als die sinnbildenden Formen beider Art allenthalben aufeinander verweisen und ineinander übergehen. In der Schwierigkeit der analytischen Differenzierung zeigt sich ihre gemeinsame Herkunft aus dem Akt der narrativen Gestaltung ebenso wie ihr gemeinsames Ziel im Vorgang der ästhetischen Sinnbildung. 2.2.1 Thematische Effekte in der erzählten Welt Wie weit ich mich in diesem Punkt von den Vorstellungen Lugowskis und, in anderer Hinsicht, auch von denen der klassischen Erzähltheorie entferne, wird schon im ersten Typus meiner ‚ausrichtenden Modi‘ unmissverständlich deutlich. Dessen erzählweltliche Wirksamkeit lässt sich nämlich zwar durchaus, wie im Anschluss an Lugowski schon zu vermuten war, in seinem Ausschlag auf die erzählte Realität beschreiben. Anders als es die Vorstellung der thematischen ‚Überfremdung‘ (und der mit ihr verbundenen narratologischen Ebenentrennung) impliziert, beschränkt er sich jedoch nicht auf die (‚überfremdenden‘) Effekte einer - aus Sicht der Alltagserfahrung gesprochen - dezidiert un- oder a-realistischen Weltgestaltung, sondern kann ebenso im Medium eines gesteigerten bzw. auf ein bestimmtes Thema hin zugespitzten Realismus oder in einer ästhetisch indizierten Suspension der Realitätswahrnehmung zum Ausdruck kommen. Wie sich seine Wirkung begründet, ist in seiner nicht-realistischen Ausprägung lediglich am einfachsten verständlich zu machen. Das Prinzip sollte auf den letzten Seiten bereits hinlänglich klar geworden sein. Je mehr das erzählte Geschehen seine (thematisch indizierte) Komponiertheit ausstellt, je weniger es folglich versucht, den Anschein lebensweltlicher Normalität zu erwecken oder je öfter es diesen Anschein durchbricht, desto deutlicher lässt es erkennbar werden, dass sein eigentlicher Zusammenhang nicht der ‚von vorn‘ begründende einer empirischen Weltauffassung, sondern der ‚von hinten‘ begründende einer thematisch-zweckhaft ausgerichteten Narration ist. Dass diese zweckhafte Ausrichtung gewisse Züge einer mythischen Kausalitätsauffassung annehmen kann, ist leicht nachzuvollziehen. An dieser Stelle wären all jene Stilzüge noch einmal anzuführen, die Lugowski als die des mythischen Analogons bezeichnet hat. So lässt sich der „Fundamentalsatz der mythischen Weltansicht, […] daß nichts in der Welt durch Zufall, sondern alles durch bewusste Absicht geschieht“, 28 außer auf die Beobachtung quasi-göttlicher Lenkung und quasi-dämonischer Gehabtheit problemlos auch auf alle anderen Äußerungsformen des Ergebnismoments beziehen, - wobei diese bei näherem Hinsehen ebenfalls nichts anderes anzeigen als die ‚Regierung‘ der erzählten Welt durch einen thematisch bestimmten Sinnzusammenhang. Dass die erzählten Ereignisse weniger untereinander als in Bezug auf ihr gemeinsames Thema zusammenhängen und deshalb voneinander isoliert im Grunde nur aufgezählt werden; dass sie linear-geradlinig auf das den Gedankengang des Erzählens abschließende Ziel zusteuern; dass sie überhaupt nur erzählt werden, wenn ihnen eine thematische Funktion zukommt: 29 all dies macht den Rezipienten unweigerlich darauf auf- 28 Cassirer 1925 / 2002, S. 59 f. 29 Lugowski 1932 / 1994, S. 52-83. 138 Thematische Entfaltung - Modellierung merksam, dass hier nicht die Gesetze der empirischen Kausalität und die Regeln psychologischer Wahrscheinlichkeit herrschen, sondern die höhere Absicht einer ästhetisch-sinnstiftenden Instanz. Ähnliche Überlegungen wären zu den Phänomenen einer ‚thematisch überfremdeten‘ Auffassung von Raum und Zeit anzustellen. Ob Räume offensichtlich semantisiert sind und die Überschreitung der sie trennenden Grenze zum sujetkonstituierenden Ereignis wird; 30 ob an unterschiedlichen Orten verschiedene (‚Natur‘-)Gesetze gelten; 31 ob die Zeit bisweilen (etwa für Figuren, die nicht älter werden) stillzustehen scheint, oder ob durch eine Reihe glücklicher Fügungen immer gerade das geschieht, was für den sinnstiftenden Ablauf des Geschehens notwendig ist: 32 stets werden Effekte erzeugt, die der Wahrnehmung der Alltagsrealität mehr oder weniger entgegenstehen und die die erzählte Welt (nicht zuletzt: dadurch) als eine sinnbestimmte markieren. Dabei könnte man in den meisten Fällen einen mehr oder weniger starken Bezug zu mythischen Raum- und Zeitauffassungen herstellen: mythische Räume können heilig oder von Göttern bewohnt sein, sie können ihre Eigenschaften auf ihre Bewohner übertragen; zeitliche Koinzidenzen können kausale Verhältnisse implizieren etc. 33 Immer gilt jedoch, dass der Unterschied zu ästhetischen Räumen und Zeiten durch deren Ausrichtung auf einen Sinn gewahrt bleibt, der letzten Endes der des Textes ist. Dass die erzählte Welt gleichwohl keineswegs nur dann als sinnvoll wahrgenommen werden kann, wenn sie augenscheinlich ästhetisch ‚gemacht‘ und darin unrealistisch ist, sei hieran anschließend kurz an zwei Beispielen erläutert, die nicht zuletzt deshalb interessant sind, weil sie noch einmal zeigen, wie eng die Ebenen der Erzählung und der erzählten Welt im Einzelnen ineinandergreifen. Besonders das erste entspricht dem eben ausgeführten Muster in geradezu exemplarischer Weise: Wenn ein sprechender Name - man denke z. B. an Gottfrieds Tristan - das (traurige) Schicksal einer Figur explizit determiniert, dann kann man das mit namensmagischen Vorstellungen ebenso verknüpfen 34 wie es realistischen Erwartungen an die Auswirkung einer Namensgebung unverkennbar widerspricht. Zumindest im Fall Tristans ist der Effekt der Operation trotzdem weder ein unrealistischer noch ein mythischer, sondern ein ausschließlich ästhetischer: deshalb nämlich, weil ihn der Rezipient direkt auf die ästhetisch-sinnhafte Faktur des Textes bezieht, ohne ihn (im Normalfall) mit den Maßstäben seiner Alltagswahrnehmung in Verbindung zu bringen. 35 Das aber heißt zugleich: Indem der Rezipient die sinngebende Absicht der narrativen Darstellung wahrnimmt, setzt er die Ebenen von Erzählung und erzählter Welt ineins, ohne den Übersprung (wenn es denn einer ist) überhaupt zu bemerken. 36 Die sinnhafte Ausrichtung findet also zwar innerhalb der erzählten Welt statt, stört deren Realitätsdarstellung aber dennoch nicht, weil sie als Teil der Erzählung wahrgenommen wird. Das Beispiel des 30 Vgl. Lotman 1972, S. 329-340. 31 Vgl. Foucault 1990. Zur Verbindung der Heterotopie-Vorstellung mit dem Konzept des mythischen Raums auch Schulz 2012 / 2015, S. 304 f. 32 Vgl. bes. Bachtin 1989, dazu Störmer-Caysa 2007. 33 Cassirer 1925 / 2002, bes. S. 98-139. 34 Vgl. ebd., S. 50 f. 35 Hier läge mithin einer der Fälle vor, in denen die Künstlichkeit wirkt, ohne bewusst wahrgenommen werden zu müssen: Vgl. Anm. 1. 36 Den Umstand, dass der Erzähler ihn explizit auf die Bedeutsamkeit des Namens für die Geschichte aufmerksam macht, blende ich hier aus. Es geht (vorerst noch) nicht um die Deutung des ‚Tristan‘, sondern um die Illustration des Prinzips. ‚Modi der Ausrichtung‘ 139 schicksalhaften Namens unterscheidet sich damit - obwohl es erzählweltlich sehr viel konkreter wirkt - nur graduell von dem des vielzitierten čechovschen Nagels, von dem man Ähnliches sagen könnte. Auch hier wird der Nagel, wenn er „durch seine räumliche und kausale Nähe zum Suizid des Helden metonymisch in die Handlung eingebunden [wird]“, quasi-schicksalhaft wirksam; 37 auch hier könnte man fragen, ob die räumliche und kausale Nähe mythische Vorstellungen von Berührungsmagie und dämonischem Wirken impliziert; auch hier könnte man anmerken, dass ein solcher Wirkungszusammenhang hochgradig unrealistisch wäre; und auch hier wird man konzedieren, dass der Effekt der Darstellung unabhängig davon zuerst und vor allem ein ästhetischer ist. Solange unmissverständlich klar ist, dass er sich (thematisch) auf den Sinn des Erzählens richtet, kommt es auf seinen genauen Status innerhalb der erzählten Welt nicht an. Wieder etwas anders liegen die Verhältnisse in einer weiteren Klasse von Gestaltungsmitteln. Sie umfasst all jene narrativen Phänomene, mittels derer Momente der erzählten Welt nicht durch unrealistische oder realitätsunabhängige, sondern im Gegenteil durch besonders realistische Darstellungsweisen in den thematischen Zusammenhang des Erzählens eingeordnet werden. Dass sie im Spektrum erzählweltlich wirksamer Sinnbildungsverfahren nicht vergessen werden dürfen, drängt sich vielleicht nicht unmittelbar auf, ist aber bei näherem Hinsehen leicht zu begreifen. So liegt es auf der Hand, dass etwa eine detailrealistische Schilderung in einer ansonsten eher schematisch erzählten Dichtung genauso auf ein bestimmtes Thema oder Problem hinweisen und darum genauso sinnstiftend wirken kann wie umgekehrt ein offener Motivationsbruch in einem sonst ausgesprochen realistisch geschilderten Text. Dasselbe gilt für alle Wechsel in der Distanz, der Fokalisierung oder der Stimme des Erzählens, ebenso wie für solche des Erzähltempos, der Erzählordnung oder der Erzählfrequenz - solange sie die erzählte Welt zum Gegenstand haben. Eine verstärkt szenische oder dialogische Darstellung, der Einblick in die Innenwelt einer Figur oder eine Bewertung des Geschehens durch den Erzähler: alles kann die erzählte Welt in einer Weise auf das in ihr verhandelte Thema hin durchsichtig machen, die sie als sinnhaft wahrnehmbar werden lässt. 38 Letzten Endes kommt es bei diesem ersten Typus von sinnbildenden Formen also gar nicht so sehr darauf an, wie er sich auf den Eindruck des Realismus auswirkt, sondern darauf, dass er die Realia der erzählten Welt in irgendeiner Weise auf den Sinn des Erzählens ausrichtet. 2.2.2 Der thematische Zusammenhang des Erzählens Dass sich die sinnhafte Ausrichtung von Realia der erzählten Welt insofern auch als Wiederholungsphänomen beschreiben lässt, als sich in jeder ihrer Gesten wiederholt, was das der Erzählung zugrundeliegende gedankliche Konzept vorgibt, schlägt die Brücke zu 37 Martinez / Scheffel 1999, S. 115 f. 38 Die Aussage erscheint auf den ersten Blick problematisch, weil die genannten Kategorien der Ebene der Darstellung: also dem Wie, nicht dem Was des Erzählens angehören. Wie wenig Geltung diese Unterscheidung im vorliegenden Zusammenhang hat, wird jedoch rasch deutlich, wenn man bedenkt, dass z. B. ein Wechsel der Fokalisierung, der narratologisch zum Wie der Darstellung gehört, zugleich das Was bestimmt, weil er etwa die Gedanken, die er als mentale Prozesse der dargestellten Figuren nur aufzudecken vorgibt, tatsächlich erst erschafft (denn wenn sie nicht erzählt würden, gäbe es sie schlicht nicht). Sie werden also durch das Wie des Erzählens zum erzählweltlichen Faktum, das als solches auf das Thema hinweisen kann. 140 Thematische Entfaltung - Modellierung meinem zweiten Typus sinnbildender Formen, lässt aber zugleich das Abgrenzungsproblem wieder aufscheinen. Auch dieser zweite Typ definiert sich nämlich durch seinen Wiederholungscharakter, wobei der Unterschied zum ersten keineswegs darin besteht, dass er nicht erzählweltlich real wäre. Die Differenz ist eine deutlich subtilere und im Einzelfall durchaus nicht immer klar zu benennende. Sie besteht darin, dass der Effekt, der hier durch die sinnhafte Ausrichtung von narrativen Elementen jeder Art erzielt wird, nicht innerhalb der erzählten Welt, sondern in der Erzählung, also als ein (nur-)ästhetischer wahrnehmbar wird. Narratologisch gesprochen gehen wir damit an dieser Stelle vom finalen und mythosanalogen (oder allgemeiner: ‚weltanschauungsanalogen‘) Erzählen in die Bereiche des paradigmatischen, des korrelativ sinnstiftenden, des schematischen, des anspielenden und des metaphorisch-verdichtenden bzw. metaleptischen Erzählens über, ohne dass damit das Spektrum der Möglichkeiten schon abschließend benannt wäre. Der Zusammenschluss all dieser Formen des Erzählens in eine einzige Klasse mag die Frage evozieren, ob nicht eine weitere Differenzierung möglich wäre. Und in der Tat könnte man darüber nachdenken, mehrere Arten der Wiederholung zu unterscheiden. So könnte man etwa in Rekurs auf Harald Haferland und Armin Schulz vorschlagen, die (auch) horizontal-syntagmatische Wiederholungsstruktur des paradigmatischen Erzählens von der (rein) vertikal-paradigmatischen Wiederholungsstruktur der metaphorischen Verdichtung abzugrenzen. 39 Indes käme man dann zum einen in die Verlegenheit, im Intertext operierende Wiederholungen wie die des schematischen und anspielenden Erzählens in die Systematik zu integrieren. 40 Und zum anderen müsste man bei näherem Hinsehen am Ende doch konzedieren, dass alle Formen der Wiederholung darin übereinkommen, dass sie ein vertikales mit einem horizontalen Moment verbinden. Denn die narrative Sinnstiftung, die sich durch sie vollzieht, basiert ja auf dem Prinzip, dass das gedankliche Konzept des Erzählens, nicht nur einmal (in vertikaler Linie), sondern auf die eine oder andere Art immer wieder in die (horizontale Linie der) Erzählung umgesetzt wird: andernfalls könnte die Erzählung niemals als Ganze sinnhaft geformt sein. Da es für mich im Grunde allein auf diese Einsicht ankommt, stelle ich die Option einer systematischen Differenzierung vorerst zurück - man mag irgendwann einmal darauf zurückkommen - und begnüge mich in meiner Aufzählung von Wiederholungsphänomenen, die in irgendeiner Weise ästhetisch sinnstiftend wirken können, mit einer provisorischen Klassifizierung. Der Einfachheit halber beginne ich mit den Formen der Wiederholung, die sich konkret im Text vollziehen, wobei allerdings die Frage, was sich hier tatsächlich konkret im Text und was nur gedanklich-ideell wiederholt, fast unmöglich zu beantworten ist. 41 Relativ simpel liegen die Verhältnisse noch bei der sinnbildenden Wirkung des Wortes und seines Klangs: Worte können, wenn sie in einer Erzählung mehrfach wiederholt werden, zu Leitmotiven avancieren, sie können sich mit anderen, semantisch und / oder phonetisch äquivalenten Worten zu Wortfeldern und Klangteppichen verbinden, die das Thema des 39 Vgl. Haferland / Schulz 2010, bes. S. 9-11. Dass meine Formulierung das paradigmatische Erzählen Warnings als syntagmatisch (nach Haferland / Schulz, ebd.) und das metaphorisch-verdichtende (etwa nach Martínez / Scheffel 1999, S. 114 f.) als paradigmatisch (sowie, wieder nach Haferland / Schulz: metonymisch) ausweist, deutet schon auf die Probleme der Kategorisierung hin, die ich hier umgehen möchte. 40 Vgl. zu diesem Problem Kap. II.1 mit Anm. 25 f. 41 Schon Lotman überträgt das Phänomen der Wiederholung, das er auf die parole -Ebene beschränkt, in (zumindest mir) nicht ganz klarer Weise in Kategorien des Sinns (1972, bes. S. 158-286). Spätestens Stock 2002 erweitert das von ihm skizzierte Sinnbildungsmodell konsequent ins Thematische. ‚Modi der Ausrichtung‘ 141 Textes anzeigen und zugleich auf seinen Sinn verweisen. 42 Schwieriger wird es schon bei wiederkehrenden Motiven, Orten, Namen, Handlungskonstellationen etc., weil sie, um überhaupt als Wiederholung zu erscheinen, oft schon als semantisiert vorausgesetzt werden müssen. So kann etwa von einem mehrfachen Aufbruch Erecs in die wilde nur dann die Rede sein, wenn man das Geschehen vor dem Hintergrund einer raumsemantischen Unterscheidung (hier: Hof vs. Wildnis) bewertet, die bereits aus der thematischen Struktur der Handlung abstrahiert ist. Ohne diese Unterscheidung wäre die Wiederholung nicht nur nicht semantisiert (als Aufbruch in die wild e) , sondern sie wäre im Grunde auch keine Wiederholung (weil der Aufbruch nicht mehr von jeder beliebigen anderen Bewegung der Figuren abzugrenzen wäre und deshalb in der allgemeinen Rekurrenz der Handlung untergehen würde). 43 Dasselbe gilt noch verstärkt für jene Art der Wiederholung, die Rainer Warning als paradigmatisch klassifiziert. Sie realisiert sich zwar auf der Ebene der Episode, ist aber gleichwohl in erster Instanz keine Wiederholung des Textes, sondern eine des Themas, das die Episoden umkreisen. 44 Als solche kann sie zwar mit der Wiederholung von Worten, Sätzen und ganzen Textblöcken, Motiven, Handlungsbausteinen etc. einhergehen, 45 ist aber keinesfalls an sie gebunden. Vollends unüberschaubar wird die Situation schließlich im Fall der Wiederholung von Handlungssträngen und Textteilen, zumal wenn diese als schon in sich rekurrente Strukturen erneut sowohl texthaft-konkret als auch thematisch miteinander in Beziehung treten: Was hier genau wiederholt wird und mit welchem Effekt, ist nur interpretativ zu beantworten. 46 Festzuhalten ist in jedem Fall, dass all diese Formen der Wiederholung dadurch sinnstiftend wirken, dass sie auf ein bestimmtes (ihnen gemeinsames) thematisches Moment aufmerksam machen und es zugleich durch die Art, in der sie es (analog oder invertiert, in verschiedenen Kontexten etc.) wiederholen, sinnhaft zuspitzen. Es handelt sich also um eine Sinnstiftung durch thematische Variation. Als vorderhand analoger Fall ist an dieser Stelle das schematische Erzählen anzufügen, das sich gegen die zuletzt genannte Wiederholung von Handlungssträngen dadurch abhebt, dass seine Variation im Intertext stattfindet. 47 Eine besondere und darin im Detail wieder ganz andere Situation ergibt sich aus dieser Differenz insofern, als sie die Notwendigkeit begründet, die thematischen Vorgaben des Schemas mit der speziellen Konstellation des einzelnen Textes zu verbinden, wobei das Schema als gedankliche Referenz zumeist mit- 42 Beispielhaft wäre hier erneut Gottfrieds ‚Tristan‘ anzuführen, dessen Wortmagie zugleich die Nähe auch dieser Sinnbildungsform zum Mythos belegt. 43 Ich entnehme das Beispiel Stock (2000, S. 25 f.), ohne mir die ihm implizierte Deutung anzueignen. Dass in meiner Lektüre des ‚Erec‘ andere Wiederholungen im Vordergrund stehen werden, mag als Hinweis darauf gelten, wie stark schon die Wahrnehmung der Wiederholung interpretationsabhängig ist. 44 Warning 2001 und 2003. 45 Hierher gehört die von Lugowski angeführte, ‚thematisch überfremdete‘ (weil das Bewusstsein für die realistische Darstellung der jeweiligen Situation überspringende) Wiederholung ganzer Textteile (1932 / 1994, S. 61-66). 46 Exemplarisch: Stock 2002. 47 Auch hier suspendiere ich das strukturalistische Konzept (zusammenfassend: Martínez / Scheffel 1999, S. 134-144); in diesem Fall zugunsten eines kulturwissenschaftlichen, das Schemata als Gegenstände des kulturell erworbenen bzw. konditionierten Wissens behandelt und sie entsprechend nicht als feststehende Strukturen, sondern als Verfahren der Erwartungslenkung ansieht. Konsequent in diesem Sinne etwa Haferland / Schulz 2010, S. 17 f. Zusammenfassend unter diesem Aspekt Koschorke 2012, S. 29-44; aus kognitionspsychologischer Sicht Stockwell 2002, bes. S. 75-89. 142 Thematische Entfaltung - Modellierung zudenken ist. Dieses wirkt demnach wie eine Schablone, die nicht nur die Produktion, sondern auch die Rezeption des Textes bestimmt und im Zuge dessen Erwartungen weckt, die Thema und Handlungsablauf gleichermaßen betreffen. Der Sinn des Erzählens konstituiert sich in diesem Zusammenhang im Wechselspiel von Erfüllung, Variation und Bruch sowohl des Schemas als auch der mit ihm verbundenen Erwartungen -, was zugleich bedeutet, dass der Sinn zwar durch das Schema vermittelt, niemals aber, wie man in der altgermanistischen Forschung bisweilen noch immer liest, von ihm determiniert wird. 48 Die Schablone evoziert also zwar einen bestimmten Form-Sinn-Zusammenhang; wie er sich genau realisiert und in welchem Maße er moduliert wird, hängt aber von der Einbindung und der Ausgestaltung des jeweiligen Textes ab. In diesem Punkt ist das schematische Erzählen unschwer mit einer ganzen Reihe weiterer narrativer Verfahren in Verbindung zu bringen, die sich alle dadurch auszeichnen, dass sie Elemente in einen Text hineintragen, in denen sich eine bestimmte thematische Konstellation (proto-)narrativ verfestigt hat. Konkret trifft diese Beschreibung auf die schema-ähnlichen Muster alltagsweltlicher Scripts und habitueller Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata ebenso zu wie auf Erzählkerne und rhetorische Topoi, 49 darüber hinaus aber auch auf das breite Feld all jener Anspielungen und intertextuellen Bezüge, die das literarische und im weiteren Sinne kulturelle Wissen des Rezipienten als Referenzpunkt für die Sinnbildung benutzen. 50 Was die so umrissene Form der inter- (oder extra-)textuellen Wiederholung von der allein auf Textebene operierenden unterscheidet, ist damit vor allem der Umstand, dass sie den Text, indem sie Teile seines Umfelds in ihn hineinholt und narrativ spiegelt, zu einer Art Prisma der ihn umgebenden (literarischen und nicht-literarischen) Welt macht. Auf diese Weise lässt sie ihn auf seine Kontexte hin transparent werden, ohne ihn in seinem Charakter als geschlossene Ganzheit zu gefährden: Das gilt zumindest so lange, wie es der komponierenden Instanz gelingt, sie aus ihrer eigenen Tendenz heraus so ins Gefüge des Textes zu integrieren, dass sie zu dessen sinnhafter Ausrichtung passt und beiträgt. 51 Eine Art Spiegelung stellt auch die dritte der hier zu besprechenden Klassen der Wiederholung dar; eine Spiegelung jedoch, die nicht aus dem Text herausgreift, sondern seine ästhetische Ordnung auf sich selbst zurückwirft. Literaturtheoretisch gesprochen haben 48 Diese Vorstellung entspricht dem strukturalistischen Schemabegriff, der in der Altgermanistik v. a. in der Nachfolge Haugs weitergetragen wird. Ich schließe hier aus etwas anderer Perspektive an die Überlegungen meiner Einleitung an. 49 Zu Scripts und Erzählkernen Müller 2007, bes. S. 17-34, zum kulturellen Handlungswissen Hübner 2010a und 2015. Der Topos schließt sich diesen stärker kulturwissenschaftlich definierten narrativen Konstellationen als eine eher literarisch-rhetorische an, wobei das „Handlungswissen“, wenn man es mit Hübner „als Thesaurus topischer Beispiele“ versteht, beide Bereiche miteinander verbindet (2015, S. 21). Dazu bes. auch Friedrich 2015. 50 Diese gleichen den zuvor genannten Formen darin, dass sie - bereits mit einem bestimmten Sinn besetzte - Elemente außertextlichen Wissens in den Text hineintragen. Dabei erfüllt z. B. die Anspielung auf eine historische oder literarische Figur insofern dieselbe Funktion wie ein Schema, als sie ebenfalls Erwartungen wecken, Bewertungsmaßstäbe setzen etc. und so das Textverständnis beeinflussen kann. 51 Dass sich das Sinnproblem des Erzählens in Mustern, von dem ich in der Einleitung ausgegangen war, hier so einfach auflöst, ergibt sich, wie dort schon erläutert, aus dem Perspektivwechsel meiner Untersuchung. Von meinem Standpunkt aus erscheint dieses Erzählen nur noch als eine Form der Sinnbildung neben anderen. Dadurch relativiert sich der Eindruck der Eigengesetzlichkeit narrativer Muster ebenso wie die Bedeutung der kulturellen Kontexte für das Erzählen insgesamt. Dass auch dies in gewisser Weise eine Beschränkung bedeutet (eben: weil die Kontexte in den Hintergrund rücken), hatte ich in der Einleitung bereits konzediert und als notwendige Folge der Methodenwahl gerechtfertigt. ‚Modi der Ausrichtung‘ 143 wir es mit verschiedenen Formen der Potenzierung oder der mise en abyme zu tun, deren Wirkung bekanntlich meistens eine mehr oder weniger stark selbstreflexive ist. 52 In gewisser Weise funktionieren sie immer nach jenem Prinzip der bildhaften Verdichtung, das Jolles als das der „Sprachgebärde“ beschreibt. In ihnen wird „zusammenfassend gekennzeichnet und ausgedrückt“ bzw. „auf einen gemeinsamen Nenner gebracht“, worauf es der Erzählung im Ganzen ankommt. 53 Jolles spricht in diesem Zusammenhang durchaus treffend von einem Begriff: „Es ist, als ob sich die Vielheit und Mannigfaltigkeit des Geschehens verdichte und gestalte, als ob gleichartige Erscheinungen zusammengewirbelt und in dem Wirbel umgriffen würden, so daß sie in einen Begriff eingehen, einen Begriff darstellen.“ 54 Dieser Begriff ist jedoch, wie man hinzufügen muss, da er das von ihm sinnhaft Gemeinte und Hervorgehobene erneut nicht abstrakt, sondern konkret zum Ausdruck bringt, kein wissenschaftlicher, sondern ein ästhetischer. 55 Als solcher wird er zwar noch nicht dadurch zur Metapher, dass er sozusagen für den Sinn des Textes steht - denn auch der Text selbst ‚steht‘ ja insofern ‚für‘ seinen Sinn, als er konkret auf ihn hindeutet. 56 Er schließt aber dennoch ein metaphorisches Moment ein, da er diesen Sinn, wenn er ihn in einer anders konkreten Ausdrucksweise wiederholt (bzw. eine Konkretion durch eine andere ersetzt), gewissermaßen bildhaft bezeichnet. Oder, wie man auch sagen könnte: Er evoziert den Sinn, indem er ihn als tertium comparationis - als das also, was ihn selbst im Modus der (thematischen) Ähnlichkeit mit dem Textganzen verbindet - aufscheinen lässt. Dementsprechend mag man ihn auch als eine implizite Explikation bezeichnen: Er erläutert den Sinn des Textes, ohne ihn direkt zu benennen, im Modus des Metaphorischen. Damit ist es aber noch nicht getan. Denn sofern er bei all dem ein Teil des Textes bleibt, dessen Sinn er implizit expliziert, gestaltet sich sein Verhältnis zu diesem in gewisser Weise auch als ein metonymisches. In seiner Eigenschaft als ‚begriffliche‘ Konkretion desselben gedanklichen Konzepts ‚charakterisiert‘ er die Idee, die den Text als Ganzen bestimmt, 57 oder, wie man vielleicht besser sagen könnte: Er bringt diese Idee durch die Reduplikation im verkleinerten Maßstab verdichtend zur Anschauung und macht so besonders intensiv auf sie aufmerksam. 58 Freilich sollte man die Parallele zur Denkfigur der Metonymie auch an dieser Stelle nicht überstrapazieren. Die Wiederholung in Form der spiegelnden Verdichtung gestaltet sich nämlich (zumindest in ihrer Verwendung durch anspruchsvollere literarische Texte) keineswegs als einsinnige Referenz auf jene bestimmte, zwar implizite, aber dennoch kon- 52 Dazu Fricke 2003, S. 144-147, Scheffel 1997, bes. S. 46-54, 71-90. 53 Jolles 1930 / 1999, S. 43, der Begriff der Sprachgebärde fällt erstmals ebd., S. 45. 54 Ebd., S. 44. 55 Zur Konkretheit als Cassirers Prinzip des ästhetischen Weltgestaltens Kap. I.2.1.2.2. Ästhetische Begriffe kennt Cassirer nicht; sie wären aber aus seiner Darstellung der Begriffsbildung in verschiedenen symbolischen Formen zu erschließen (dazu bes. Cassirer 1922 / 2003). Jolles’ Beschreibung kommt dem, was man sich in diesem Zusammenhang unter einem ästhetischen Begriff vorzustellen hätte, meines Erachtens ziemlich nahe. 56 Zu dieser Unterscheidung Zymner 2003, S. 152 f. 57 Vgl. Haferland / Schulz 2010, S. 11. 58 Hier ist nochmals auf Cassirer zu verweisen; etwa 1990 / 1992, S. 221, 228; sowie unter kognitionspsychologischer Perspektive auf die kognitive Deixis (vgl. Zymner 2009, bes. S. 140). In der Mediävistik haben sich zuletzt v. a. Scheuer (bes. 2003 und 2003a) und Reich (2011, hier bes. S. 15-63) mit vergleichbaren Phänomenen beschäftigt. 144 Thematische Entfaltung - Modellierung zeptuell fest umrissene Entität, als die der Sinn des Textes in ihrem Licht zu denken wäre. 59 Festzuhalten ist vielmehr, dass sie den Sinn des Textes auf verschiedenen Ebenen aufgreifen und dabei ganz Unterschiedliches zum Gegenstand haben kann. So kann sie etwa darin zum Ausdruck kommen, dass sie dem erzählten Geschehen konstant eine zweite, metaphorische Ebene einzieht, die es in seinem gesamten Verlauf begleitet und punktuell inhaltlich-thematisch kommentiert (das wird sowohl am ‚Erec‘ als auch an den beiden Tristanromanen zu beobachten sein). Sie kann dieses Geschehen aber auch in einer Episode spiegeln, die dann die thematische Konstellation der Erzählung als Ganze reproduziert und zur sinnhaften Vignette verdichtet (exemplarisch: Joie de la curt ). Und sie kann sich in poetologischen Passagen äußern, die dann nicht für den Sinn der erzählten Geschichte, sondern für die sinnhafte Faktur der Erzählung stehen (Enites Pferd, Petitcreiu). 60 Die Vorstellung der Metonymie als e i n e s gedanklichen Konzepts, das durch e i n e n seiner mit ihm verbundenen Teilaspekte bezeichnet wird, wird hier mithin schon allein deshalb gesprengt, weil durchaus nicht mehr klar ist, auf welches Ganze sie sich bezieht. Wenn man trotzdem in all den genannten Fällen sagen kann, dass die Verdichtung den Sinn des Textes spiegelt, dann zeugt das deshalb von einem Sinn, dessen Ganzheit im einfachen Verweisungscharakter der Metonymie nicht aufgeht. Es ist ein Sinn, der mit der Zahl der Indizien, die auf ihn hinweisen, nicht klarer, sondern in seiner Unschärfe nur reicher wird, und der gerade da, wo er sich am stärksten verdichtet, oft am wenigsten greifbar scheint. Der hier aufscheinende und als solcher spezifisch ästhetische Effekt des gleichzeitigen Evozierens und Sich-Entziehens ist, wie man überblickend hinzufügen kann, nicht nur für die verdichtenden Widerholungsfiguren kennzeichnend, sondern für das Phänomen der Wiederholung insgesamt, ja für das von ‚unten‘ nach ‚oben‘ (bzw. vom Einzelnen zum Ganzen) voranschreitende Verfahren des thematischen Aufbaus überhaupt. Alle der eben skizzierten ‚ausrichtenden‘ Formen gleichen sich demnach darin, dass sie den Rezipienten in irgendeiner Weise auf einen Zusammenhang aufmerksam machen, der über das, was die Erzählung gegenständlich-narrativ darbietet, hinausgeht. Sie alle bezeichnen diesen Zusammenhang als einen thematischen, sie alle suggerieren, dass sie - bzw. allgemeiner: dass die Texte, in denen sie zum Einsatz kommen - damit etwas über ihr Thema vermitteln wollen, und sie alle verzichten darauf, dieses ‚Etwas‘ explizit zu benennen. Indem sie so insgesamt ins Ungefähre verweisen, bringen sie den Sinn als etwas hervor, das zwar als Idee da ist, als solche aber erst noch gefasst werden muss, und das zu fassen in der Vielfalt seiner Facetten und Erscheinungsformen für gewöhnlich nicht leicht ist. Am Ende meiner Überlegungen ist damit zweierlei festzuhalten. Erstens: Da die ‚Modi der Ausrichtung‘ den Sinn des Erzählens als ein Phänomen konstituieren, das im Prozess seiner thematischen Entfaltung als ein Sich-Verbergendes verstanden werden will, sind sie für dieses Phänomen selbst und den ‚Schleier‘, der es (anscheinend) verbirgt, sozusagen gleichermaßen verantwortlich. Das bedeutet nicht nur, dass Sinn und ‚Schleier‘ im Te x t tatsächlich, wie eingangs schon gesagt, auf derselben Ebene liegen und demnach als Phänomene ein- und derselben Ebene untersucht werden müssen. Es bedeutet vielmehr - zweitens - auch, dass die Idee, die der Sinn auf einer gedanklichen (und als solcher natürlich immer als ideell zu denkenden) Ebene außerhalb des Textes repräsentiert, (idealerweise) 59 Zur Definition der Metonymie gehört, soweit ich sehe, immer, dass das metonymisch Bezeichnete entweder als Gegenstand oder als kognitives Konzept greif- und benennbar ist. Das ist beim Phänomen des literarischen Sinns nicht nur nicht der Fall, sondern widerspricht geradezu seinem Wesen. 60 Ich beziehe mich hier auf Beobachtungen der folgenden Textanalysen. Fazit 145 nur im Rückgriff auf a l le ihn anzeigenden Formgesten begriffen werden kann, und auch dann nur im Modus der Interpretation. In diesem Sinne ist auch das auf den letzten Seiten entwickelte zweigliedrige Modell zu verstehen: nicht als ein Instrument, mit dessen Hilfe der Sinn als das Ergebnis eines dem jeweiligen Text zugrundeliegenden Gedankengangs eindeutig erfasst und benannt werden könnte, sondern als ein Verfahren, das es erlaubt, jene thematischen Zusammenhänge, die literarische Texte im Verlauf ihres Erzählens entstehen lassen, im Wechselspiel zwischen Konkretem und Ideellem, zwischen den Formen, in denen sie Gestalt annehmen und der sie begründenden sinngebenden Absicht, systematisch zu beschreiben. 2.3. Fazit Damit bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich auf meine Einleitung zurückkommen und behaupten kann, das dort gesuchte Verfahren zur ganzheitlichen Analyse des Zusammenhangs von Form und Sinn, wie er sich speziell im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts darbietet, gefunden zu haben. Diese Behauptung setzt natürlich voraus, dass es sich bei den Texten dieser Gattung um Vertreter des Sinnbildungstyps handelt, den ich auf den letzten Seiten beschrieben habe, was - wie hier nochmals betont sei, um alle Missverständnisse zu vermeiden - keine Selbstverständlichkeit ist, im Gegenteil: Meine Kritik an Lugowski hat mit Nachdruck deutlich gemacht, dass die Erzählform, um die es hier geht, an und für sich weder epochal noch gattungshaft bestimmt ist, und mein Versuch, Lugowskis Begriff der ‚thematischen Überfremdung‘ narratologisch fruchtbar zu machen, gilt zeit- und gattungsunabhängig für alle Erzählungen, in denen die Kategorie der ‚Künstlichkeit‘ eine nennenswerte Rolle spielt. Dass dies im höfischen Roman in besonders ausgeprägter Weise der Fall ist, dass hier überdies auch jenes zugleich thematische und gedanklich-prozesshafte Moment eminent stark wirkt, das ich eben als den ‚regierenden Modus‘ des Erzählens beschrieben habe, stellt sich dementsprechend an dieser Stelle als eine These dar, die erst noch bewiesen werden muss. Der nun folgende textanalytische Teil meiner Arbeit nimmt sich dieser Aufgabe an, indem er zeigt, dass der Eindruck der Künstlichkeit in den zu untersuchenden Romanen wesentlich auf ein narratives Verfahren zurückgeführt werden kann, das das Erzählen so weit in den Dienst der Diskussion eines Themas stellt, dass es geradezu als dessen Funktion erscheint. Die Romane wirken also ‚künstlich‘ und artifiziell ‚gemacht‘, weil die Geschichten, die sie erzählen, zugleich die Verhandlung eines Problems darstellen, und weil der Aspekt der Problemverhandlung, sowie das Prinzip, nach dem diese stattfindet, das Erzählen stärker bestimmt als der narrative Zusammenhalt der erzählten Welt. Wenn ich in diesem Sinne zu illustrieren suche, dass sowohl die Kohärenz der Romane als auch die Logik ihrer Anordnung eine in erster Linie thematische ist, und wenn ich weiter behaupte, dass sich die Romane zuerst und vor allem im Thema zu sinnhaft geformten Ganzheiten schließen, dann heißt das gleichwohl nicht - nur um auch dieses Missverständnis gleich vorab auszuräumen -, dass sie nicht auch unter anderen Aspekten als dem der thematisch bestimmten Problemverhandlung gelesen und verstanden werden können. Meine Lektüre erhebt also nicht den Anspruch, den Sinn der Romane richtiger oder besser zu erfassen als andere, weniger thematisch ausgerichtete Deutungen, und sie ist in ihrem Blick auf die thematische Ganzheit ihrer Gegenstände auch alles andere als totalitär: Dass die Romane 146 Thematische Entfaltung - Modellierung auch andere Themen haben und diskutieren können als das von mir in den Mittelpunkt gerückte, will ich also keineswegs bestreiten. Nur dieses eine Thema durchzieht sie allerdings als Ganze, und nur mit Blick darauf lässt sich demzufolge - wohlgemerkt: im Modus der Interpretation 61 - auch die thematische Logik erschließen, die sie insgesamt beherrscht. Vor allem auf diesen Punkt kommt es mir an: Ich will beweisen, dass eine Interpretation unter dem Aspekt des Themas eine mögliche und praktikable ist und dass sie sich darüber hinaus dazu eignet, Zusammenhänge herauszuarbeiten, die die Faktur und den Sinn der Romane sowohl im Detail als auch insgesamt besser verständlich werden lassen. Dieses Anliegen verbindet sich für mich untrennbar mit der Annahme, dass eine Lektüre höfischer Romane unter dem Aspekt des Themas nicht nur literaturwissenschaftlich sinnvoll, sondern auch historisch angemessen ist, ja dass sie einen Zugang zu ihnen ermöglicht, der ihrem Selbstbild (bzw. der Kunstauffassung ihrer Verfasser) in mancher Hinsicht besser entspricht als andere Deutungsansätze. Auch diese Annahme wird im Folgenden weiter zu begründen sein. Als erstes Indiz sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass sich die im höfischen Roman so präsenten poetologischen Selbstbeschreibungen in auffälliger Weise immer wieder auf das Merkmal der Artifizialität beziehen. Dass sie auf dasselbe Phänomen abheben, das ich hier als ‚Künstlichkeit‘ bezeichnet habe, ist damit zwar natürlich nicht gesagt - dass sich die (oftmals impliziten) Poetologien des höfischen Romans auf einer anderen Ebene bewegen als die moderne literaturwissenschaftliche Theoriebildung, soll sich gleich noch zeigen. Ihr Hinweis ist aber dennoch ein aufschlussreicher Referenzpunkt, sofern er die Perspektive der Produzenten und der zeitgenössischen Rezipienten auf die Romananalysen zurückzubeziehen erlaubt. Interessant wird das spätestens da, wo sich die poetologischen Selbstaussagen im wechselseitigen Bezug zu einer Art (implizitem) Diskurs entwickeln, in dem mit dem Kunstverständnis auch die Künstlichkeit der Romane zur Diskussion steht. Dass diese nicht nur wahrgenommen, sondern durchaus auch als Problem gesehen wird, verdient dabei nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil es die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen Erzählen und Verhandeln, zwischen der Darstellung einer Welt und der Entfaltung eines Themas, in den Horizont des mittelalterlichen Nachdenkens über Dichtung stellt und auf diese Weise auch die tatsächlich zu beobachtende Entwicklung des höfischen Romans hin zu einem wirklichkeitsnäheren Erzählen neu beleuchtet. Denn statt auf einen Umbruch der Realitätswahrnehmung lässt diese nun auf nicht mehr - aber auch nicht weniger - als eine Verschiebung der poetischen Normvorstellung schließen, die in einem Wandel der Darstellungskonventionen zum Ausdruck kommt. 61 Es sei also auch nicht behauptet, dass meine Weise, dieses Thema zu formulieren, die einzig mögliche und richtige sei. Fazit 147 III Form und Sinn im höfischen Roman Fazit 149 1 Vorüberlegung 1.1 Chrétiens conjointure Por ce dist Crestiëns de Troies que reisons est que totevoies doit chascuns panser et antandre a bien dire et a bien aprandre; et tret d’un conte d’avanture une molt bele conjointure par qu’an puet prover et savoir que cil ne fet mie savoir qui s’esciënce n’abandone tant con Dex la grasce l’an done: d’Erec, le fil Lac, est li contes, que devant rois et devant contes depecier et corronpre suelent cil qui de conter vivre vuelent. Des or comancerai l’estoire qui toz jorz mes iert an mimoire tant con durra crestїantez; de ce s’est Crestїens vantez. ( CEE 9-26) 1 Die Worte, mit denen Chrétien de Troyes seinen Roman von Erec und Enide einleitet, sind der Beleg dafür, dass man sich über die Verfahren und Möglichkeiten sinnstiftenden Erzählens schon im Mittelalter Gedanken machte. Indem Chrétien die Verwandlung eines offenbar anspruchslosen conte d’avanture (CEE 13) in eine erinnerungswürdige estoire (CEE 23 f.) zum Prinzip seiner Dichtung erhebt, formuliert er nichts weniger als das poetologische Leitkonzept des ersten Artusromans. Dieses realisiert sich demnach darin, Bestandteile eines in seiner mündlichen Überlieferung heillos zerstückelten ( depecier , CEE 21) Stoffes so anzuordnen, dass sie sich in der bele conjointure ( CEE 14) zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschließen. Chrétiens conjointure mit der Bestimmung von literarischem Sinn in Verbindung zu bringen, die ich zu Beginn meiner Einleitung formuliert habe, ist nicht schwer. Auch Chrétien betrachtet eine Erzählung dann als (sinnerfüllt-)‚schön‘, wenn sie so komponiert ist, dass 1 „Darum sagt Chrétien von Troyes, es sei vernünftig, daß jeder immerfort darauf sinne und sich befleißige, Gutes zu reden und Nützliches mitzuteilen; und er bringt seinerseits eine Reihe von Ereignissen, wie sie erzählt werden, in einen wohlgeordneten Zusammenhang, damit man daraus zu erweisen und zu erkennen vermag, daß man nicht klug handelt, wenn man nicht sein Wissen mitteilt, solange Gott einem die Gnade dazu gibt. Von Erec, dem Sohne Lacs, handelt die Erzählung, welche die Leute, die vom Geschichtenerzählen leben wollen, vor ihrem Publikum von Königen und Grafen auseinanderzureißen und zu verderben pflegen. Sogleich will ich die Geschichte beginnen, die alle Tage in der Erinnerung der Leute bleiben soll, solange die Christenheit besteht; dessen hat Chrétien sich gerühmt.“ Ich zitiere Chrétiens Text nach der Ausgabe und in der Übersetzung von Albert Gier 1987. 150 Form und Sinn im höfischen Roman - Vorüberlegung sie zum einen als kohärent gefügt 2 und ganzheitlich geschlossen gelten darf (im Gegensatz zur Darbietung der jongleurs ) und zum anderen einen über sich selbst hinausweisenden ‚Nutzen‘ 3 hervorbringt. 4 Dass gleichwohl keineswegs klar ist, was Chrétien mit der bele conjointure meint und was die von ihm apostrophierte Sinnbildung demnach ausmacht, mag hieran anschließend auf den ersten Blick überraschen, lässt sich aus der Eigenart des mittelalterlich-vernakulären Sprechens über Dichtung aber leicht begründen. Weil dieses über keine eigene Tradition verfügt und sich ein diskursives Feld erst erschließen muss, realisiert es sich als ein ständiges Abtasten und tentatives Umkreisen seines literarischen Gegenstandes, 5 wobei es in Auseinandersetzung mit der lateinischen Schulpoetik ein Idiom herausbildet, das in seiner anspielungsreichen Vagheit schwer zu greifen ist. 6 Das Phänomen ist bei Chrétien exemplarisch zu beobachten, und es ist in seiner spezifisch irisierenden Wirkung bei ihm nicht zuletzt deshalb besonders aufschlussreich, weil es durch jeden Bezug, den es zu einer Position der mittelalterlichen Poetologie herstellt, auch die in Frage stehende Sinnbildungsform in ein jeweils anderes Licht rückt. Fasst man Chrétiens Aussage unter diesem Aspekt genauer ins Auge, so kann man sie auf nicht weniger als drei Arten konkretisierend verorten. Die erste und in der altgermanistischen Forschung einflussreichste dieser Verortungen ist untrennbar mit Walter Haugs These von Chrétiens „Entdeckung der Fiktionalität“ verbunden. 7 Ihr Bezugspunkt ist ein historiographisches (bzw. am Paradigma der Historiographie orientiertes) Schrifttum, das die matière de Bretagne aufgrund des ihr fehlenden Wahrheitsgehalts als fabula zu bezeichnen und als minderwertig abzuqualifizieren pflegte. 8 Gegen dessen Position, so Haug, beziehe Chrétien Stellung, indem er sich zum Anwalt eines schriftliterarischen Erzählens in der Volkssprache mache, das sich nicht mehr wie zuvor aus seinem Stoff heraus als wahr verstehe, sondern die eigene Wahrheit in einer völlig neuen Wendung aus einem frei über sein Material verfügenden - und damit fiktionalen - Struk- 2 Das Merkmal der Kohärenz ist aus dem Zusammenhang zwischen afzr. conjointure und lat. iunctura abzuleiten: Dazu bes. Kelly 1970. Ähnliches folgt aus dem Rekurs der conjointure auf den Topos des Text-Gewebes ( contextio ), den von Graevenitz ins Zentrum seiner Deutung des ‚Erec‘-Prologs stellt (1992, bes. S. 229 f.). 3 Ich begreife Chrétiens Verweis auf die Lehrhaftigkeit seiner Erzählung ( bien aprandre , CEE 12) als mittelaltertypische Variante dessen, was man in der modernen Erzähltheorie als den über das von einem literarischen Text explizit Gesagte hinausgehenden ‚Witz‘ bezeichnet: also als Ausdruck ihres Kontextbezugs. 4 In der Forschung zieht sich diese Definition für gewöhnlich in der Feststellung des „Sinnganzen“ (so Köhler 1955 / 1978, S. 28) bzw. der „sinnvermittelnde[n] Struktur“ (Haug 1985 / 1992, S. 102), der „sinnvollen Form“ (Burrichter 1996, S. 137) o. ä. zusammen. Analog formulieren Hilty 1975, S. 251, Greiner 1992, S. 302, Mertens 1998, S. 27, Burrichter 2010, S. 274 f., Masse 2012, S. 98. Worstbrock plädiert demgegenüber für die zurückhaltendere Paraphrase der „ästhetisch befriedigende[n] Komposition“ (1999, S. 140), kritisch auch Chinca / Young 2001, S. 617 f. 5 Grundsätzlich dazu bes. Haug 1985 / 1992, S. 7-24, Chinca / Young 2001. 6 Ähnlich schon Monecke 1968, S. 21. Zum Verhältnis von lateinischer Poetik und volkssprachlicher Poetologie in diesem Sinne zuletzt etwa Philipowski 2007, Huber 2015. 7 Haug 1985 / 1992, S. 91-107, hier S. 105. Zusammenfassend und z.T. revidierend dazu Haug 1999 / 2003 und 2002. In seiner Argumentation kann sich Haug bes. auf Köhler 1955 / 1978, S. 24-34, Knapp 1980, S. 624-628 und Hilty 1975 berufen, die die fiktionale Verfassung des ‚Erec‘ freilich sehr viel weniger emphatisch hervorheben. Exemplarisch für die an Haug anschließende Forschung: Greiner 1992, Grünkorn 1994, S. 88-93, Burrichter 1996, S. 133-140 und 2010, Masse 2012. 8 Vgl. bes. Knapp 1980 und 1997, Grünkorn 1994, Burrichter 1996. Chrétiens conjointure 151 turentwurf generiere. 9 Der innovative Charakter des so bezeichneten Verfahrens gewinne dadurch noch einmal an Stärke, dass es sich auch der Option einer integumentalen Wahrheitsfindung verweigere. Denn zwar bediene sich Chrétien, wenn er „davon spricht, daß es im mündlich tradierten Stoff einen Sinn zu erkennen gelte, der bislang verborgen gewesen sei, […] einer Metapher, die sich an die Integumentum-Lehre anlehnt.“ Da das Ergebnis einer integumentalen Exegese des ‚Erec‘ „nur abwegig sein“ könne, sei jedoch davon auszugehen, dass seine Anspielung letztlich bloß von der „Schwierigkeit“ zeuge, „die neue Position theoretisch zu fassen“. Der Begriff der conjointure sei deshalb, so Haugs Schluss, auf die bewusste Etablierung eines sinnbildenden Verfahrens hin zu lesen, das sich gegen alle Vorgaben der Schulpoetik „im Akt der poetischen Gestaltung“ bzw. „im fiktionalen Konzept selbst“ realisiere. 10 In dessen Rahmen werde dem Hörer oder Leser, wie Haug an anderer Stelle betont, „keine vorgefertigte Wahrheit geboten, sondern [dieser] muß sich die Wahrheit der Fiktion dadurch erschließen, daß er, der Handlung folgend, ihre Struktur durchschaut und damit ihren Sinn erfährt.“ 11 Dass der von Haug apostrophierte „Prozeß der Sinnsuche“ 12 jenem Vorgang literarischer Sinnbildung verwandt ist, den ich im letzten Kapitel als die narrative Entfaltung eines (thematisch bestimmten) Gedankengangs beschrieben habe, ist evident. So ist es für sein Verständnis nicht nur unabdingbar, dass er sich schon im Text prozesshaft vollzieht und entsprechend auch in der Rezeption nur prozesshaft erschlossen werden kann. Vielmehr spielt bei diesem Vorgang auch die Kategorie des Themas eine entscheidende Rolle. Wesentlich für das Verständnis der strukturellen Konzeption des ‚Erec‘, so Haug, „ist die Einsicht in die wechselseitige Bedingtheit zwischen [dem chrétienschen] Handlungsmodell und der über dessen Struktur vermittelten Thematik“. 13 Anders als in meinem Modell, wo die gedankliche Entfaltung eines Themas unabhängig von der Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Erzählung untersucht wird, geht Haug allerdings davon aus, dass im literaturgeschichtlichen Kontext von Chrétiens Schaffen das eine notwendig mit dem anderen einhergehe. Vor dem Hintergrund einer literarischen Tradition, die die Wahrheit einer Dichtung entweder historisch-faktisch, als inhaltsgetreue Wiedergabe einer verbürgten Quelle, oder moralisch-didaktisch, als Veranschaulichung einer vorgegebenen Wahrheit, definierte, könne man die chrétiensche conjointure nur dann begreifen, wenn man sich von beiden Ideen radikal verabschiede und sich auf eine Form der literarischen Sinnstiftung einlasse, die „im freie[n] Spiel mit dem Unwahrscheinlichen zu sich selbst […] kommt“. 14 Die Wahrnehmung der Prozesshaftigkeit setzt damit Haug zufolge ein völlig neues Verständnis des Verfügens über den Stoff voraus. Erst durch dieses werde „das literarische Medium […] zu einem Bereich genuiner Erfahrung“. 15 9 Haug 1985 / 1992, bes. S. 92 f., 103-107. Die Bedeutung der Schriftlichkeit für die Aufwertung des zuvor mündlich tradierten Stoffes wird zweifellos zu Recht immer wieder ins Zentrum von Chrétiens Dichtungskonzept gestellt. Vgl. dazu außer Haug ebd., S. 103 auch Glauch 2005, S. 34, Burrichter 1996, S. 136 f. und 2010, S. 271-279. 10 Alle Zitate Haug 1985 / 1992, S. 103 f. 11 Haug 1999 / 2003, S. 173. 12 Ebd., S. 172. 13 Haug 1985 / 1992, S. 98. 14 Ebd., S. 106. Die Ortlosigkeit „des mittelalterlichen Romans chrétienscher Prägung […] in der zeitgenössischen gelehrten Gattungspoetik“ betont etwa auch Knapp, ebenso die Unvereinbarkeit mit dem integumentum - Konzept (1980, hier S. 627, vgl. 1997, S. 11 f.). 15 Haug 1999 / 2003, S. 172. 152 Form und Sinn im höfischen Roman - Vorüberlegung Es ist kein Zufall, dass Haugs Argumentation vor allem in diesem letzten Punkt Kritik erfahren hat. Um ihr zu folgen, ist es nicht einmal notwendig, die Problematik seines Fiktionalitätsbegriffs im Detail zu erfassen. 16 Es genügt der Hinweis, dass Chrétiens Rede von der ‚schönen Zusammenfügung‘ durchaus auf traditionelle Dichtungsmodelle bezogen werden kann - und dass sie sich ganz anders darstellt, sobald man ihren Referenzpunkt auf diese verlagert. Begreift man sie in diesem Sinne etwa mit Franz-Josef Worstbrock als Anspielung auf das rhetorische Konzept der dilatatio (bzw. tractatio ) materiae , dann meint der conte d’avanture zwar noch immer einen bereits bekannten Stoff und die conjointure „die Organisation der Einzelelemente […] zu einem sinnvollen Ganzen“. 17 Doch ist das nicht mehr als Abwehr gegen den Vorwurf der Verbreitung von Lügengeschichten zu verstehen, sondern als selbstbewusster Verweis auf die eigene Fähigkeit, eine gegebene materia kunstgerecht zu bearbeiten. Ob diese materia als faktisch wahr oder nur erfunden zu gelten hat, ist dabei vorderhand wenig relevant. In rhetorisch geprägten Poetiken wie denen Geoffreys von Vinsauf geht es nicht um die Historizität des Stoffes, sondern allein um die Vermittlung einer Dichtkunst, die sich als artificium geriert - „als das Verfahren eines Artifex, der eine alte Materia neu formt“. 18 Die Kategorie der Wahrheit kommt in diesem Zusammenhang nur mehr insofern ins Spiel, als die Aufgabe des Dichters nicht zuletzt darin besteht, seinen Stoff einer Wahrheit entsprechend zu gestalten, die in erster Linie eine Eigenschaft des Stoffes selbst bezeichnet. In dieser zweiten Vorstellung erscheint der Sinn demzufolge nicht als etwas, das völlig neu aus der conjointure des Stoffes ‚herausgezogen‘ werden müsste; er ist dem Stoff vielmehr von Anfang an inhärent und wird durch die conjointure lediglich aktualisiert. 19 In welcher Weise das genau geschieht, wird freilich nur ansatzweise deutlich. Zwar ist klar, dass die Techniken der Raffung und Dehnung sowie insgesamt der rhetorischen amplificatio bzw. der elokutionären Ausgestaltung eine wichtige Rolle spielen. Worin die von ihnen ergriffene und ausgebaute Sinn-Potenz besteht und wie sie diese wiederholend zur Wirkung bringen, ist aber schwer zu sagen. 20 In Rekurs auf eine moderne Beschreibung der narrativen Sinnstiftung liegt es vielleicht nahe, den potenzhaft im Stoff beschlossenen Sinn mit einem durch seine histoire vermittelten Gedanken zu identifizieren und die amplifizierende Retextualisierung daran anschließend mit den Gestaltungsweisen in Verbindung zu setzen, die diesen Gedanken im discours realisieren. 21 Wenn diese Explikation etwas Richtiges trifft, dann würde der Sinn der conjointure in dieser zweiten Lesart weitgehend der Perspektive entsprechen, die in einigen narratologischen Modellen im Übergang zur Erzählung aus der 16 Haug versammelt die wichtigsten Repliken in seinem Klärungsversuch von 2002, S. 115-119. In anderer Perspektive steht die Übersicht bei Glauch 2009, S. 169-172. Vgl. dazu auch die ältere Forschungsschau bei Grünkorn 1994, S. 187-197. 17 Worstbrock 1999, S. 140 zitiert hier Haug 1985 / 1992, S. 102. Zum Prinzip der dilatatio materiae mit Bezug auf den ‚Erec‘ bes. auch Worstbrock 1985. Die damit verbundene Vorstellung eines spezifisch mittelalterlichen Wiedererzählens ist im Anschluss vielfach kritisiert und modifiziert worden. Zum Folgenden bes. Lieb 2005, zum weiteren Umfeld des Antikenromans Schmitz 2007, S. 219-327, sowie zuletzt mit Blick auf die vorangehende Forschung Hamm 2016. 18 Worstbrock 1999, S. 137. 19 So zuerst Köhler 1955 / 1978, S. 31; Lieb 1999 stellt den Gedanken ins Zentrum seiner modifizierten Darstellung des Modells von materia und artificium . 20 Das gilt umso mehr, als im Einzelnen nicht einmal klar ist, wie materia und artificium im Wortlaut des Textes voneinander zu unterscheiden sind. In diesem Punkt bleibt auch Lieb unklar (1999, bes. S. 358-360). 21 Sie stünden damit weitgehend analog zu meinen ‚Modi der Ausrichtung‘: vgl. Kap. II.2.2. Geschichte bzw. dem ihr zugrundeliegenden Geschehen herausgearbeitet wird. 22 In dieser Spezifikation könnte er sich dann zwar ebenfalls prozesshaft entfalten und wäre darin genauso wenig mit den traditionellen historisch-faktischen und moralisch-didaktischen Erzählmodellen zu begründen wie die von Haug apostrophierte Wahrheit, doch wäre er nichtsdestoweniger weder ‚neu‘ noch ‚fiktional‘. In ihm würde vielmehr das, was Haug als die Besonderheit des chrétienschen Erzähltyps hervorhebt, auf ein traditionelles poetisches Konzept bezogen und von ihm aus näher bestimmt. Die „Schwierigkeit[], die neue Position theoretisch zu fassen“ wäre damit auch hier gegeben, würde aber nicht zur revolutionären Behauptung von etwas „überraschend Neue[m]“ führen, 23 sondern durch die Integration ins Altbekannte überwunden. Conjointurehaft erzählen, das hieße nun vor allem, die Idee des kunstgerechten Wiedererzählens vom Gebiet des rhetorischen Ornats auf das der stofflichen Disposition auszuweiten. Aus ähnlichen Gründen ist auch die integumentale Lesart des chrétienschen conjointure - Begriffs noch einmal zu überdenken. Folgt man nämlich der Idee, dass Chrétien bekannte poetologische Konzepte nicht nur zitiert, um sich von ihnen abzusetzen, sondern vielmehr auch - oder stattdessen -, um sein Erzählen an sie anzubinden, so stellt sich unweigerlich die Frage, worauf er mit dem Verweis auf die integumentale Metaphorik des Verhüllens und Verwebens abhebt. Was könnte die conjointure also ‚einkleiden‘ - oder, wie man mit Blick auf die iunctura -Metapher wohl besser fragen sollte: was könnte sie im ‚Erec‘ ‚verflechten‘ -, wenn man zwar konzediert, dass der Text in der Tat gegen die Annahme einer allegorischen Zweitbedeutung spricht, daraus aber noch nicht auf eine fiktionale Wahrheit im Sinne Haugs schließen will? 24 Eine Antwort auf diese Frage scheint, wie die Forschung ebenfalls bemerkt hat, im Roman selbst auf, und zwar in einem Hinweis, den Chrétien in seine Beschreibung von Erecs Krönungsmantel eingearbeitet hat ( CEE 6674-6747). 25 Die Passage ist zum einen deshalb aufschlussreich, weil sie die im Prolog nur angedeutete Vorstellung vom Zusammenfügen des Stoffes wiederaufnimmt und unverkennbar auf die Metaphern des Webens und Einkleidens bezieht. Noch wichtiger ist aber zum andern, dass Chrétien hier explizit auf Macrobius verweist und sich damit in ungewöhnlicher Deutlichkeit in den Rahmen spätantiker Dichtungstheorie stellt. Dass er der Autorität auch in diesem Fall weniger folgt, als er sie zum Ausgangspunkt für sein eigenes, „experimentelle[s] Theoretisieren[]“ macht, hat Gerhart von Graevenitz herausgearbeitet. 26 Seine Zusammenschau der chrétienschen Reflexion mit der Macrobischen Dichtungstheorie führt zu dem Schluss, dass der französische Dichter auf eine neuplatonische Erweiterung des involucrum -Konzepts ziele, oder genauer: auf eine Rückkehr 22 Vgl. Schmid 2005, S. 245-267. Auf die Parallele von Chrétiens Darstellung zum Verhältnis von histoire und discours verweist auch Greiner 1992, S. 306 f. 23 Haug 1985 / 1992, S. 103 f. 24 Zu dieser Problematik grundsätzlich Huber 1986. Zu bedenken ist auch, dass das integumentum - Konzept schon im Mittelalter theoretisch ganz unterschiedlich gefasst wurde und zudem mit der integumentalen Praxis alles andere als deckungsgleich ist. Dazu die instruktive Darstellung von Meier 1976, bes. S. 9-24. Da deshalb der Bezug auf das integumentum ohnehin schwierig ist, scheint es mir sinnvoll, Chrétiens Äußerung (und die anderer Dichter) eher als Reflexion über das Konzept des dichterischen Verhüllens zu begreifen denn als Verortung in einer Lehre. Dabei bleibt die Nähe der dichterischen Versinnfälligung zur allegorischen Sinnerschließung selbstverständlich virulent. 25 Vgl. dazu bes. von Graevenitz 1992, S. 232-234, Mertens 1998, S. 41 f. und 2010, S. 21-23, Haupt 1999, S. 565-570, Masse 2012, S. 102-104. 26 Von Graevenitz 1992, S. 232. Chrétiens conjointure 153 154 Form und Sinn im höfischen Roman - Vorüberlegung zu jener Komplexität, in der es der Neuplatoniker Macrobius formulierte. In Bezug auf dessen Begrifflichkeit, so von Graevenitz, verstehe Chrétien den ‚Schleier‘ der Dichtung nicht einfach als „die Grenze zweier Bedeutungssphären […], die durch Allegorese überwunden werden kann“, sondern als eine Funktion des Erzählens selbst, das „die contextio der narrativen Inhaltsstruktur […] und die Ordnung des Sinns, die ontologische contextio , verknüpft.“ 27 Als Konsequenz müsse man die conjointure auf ein narratives Verfahren beziehen, das dem integumentum zwar insofern gleicht, als es die Wahrheit, die es bezeichnet, ebenfalls verhüllt. Wo diese Verhüllung aber dort eine Transformation in die Bildrede der Allegorie meine, da verweise sie hier auf ein Konzept, das von Graevenitz prägnant mit dem neuzeitlich-ästhetischen Begriff der „‚literarische[n]‘ Konkretisation“ belegt. 28 Ihm zufolge hebt Chrétien auf eine Form der Sinnbildung ab, die dem Prinzip der Konkretion folgend bestimmte thematische Zusammenhänge handlungshaft darstellt: „Gemeint sind Texte, die in Begriffen, Metaphern oder Allegorien das theoretische Thema anschneiden, um es im Vollzug ihrer Textstruktur erst eigentlich auszudifferenzieren und auszuagieren.“ 29 Von Graevenitz’ Hinweis auf das Konzept der literarischen Konkretion ist im Zusammenhang meiner Überlegungen natürlich schon allein deshalb von Interesse, weil er Chrétiens conjointure -Begriff nun auch noch unter einem dritten Aspekt auf das von mir fokussierte Phänomen der ästhetischen Sinnbildung bezieht. Darüber hinaus ist er jedoch insofern zentral, als er ein erhellendes Licht auf einige Darstellungstechniken wirft, die sich im Folgenden als für die Sinnbildung der Gattung maßgeblich herausstellen werden. Eine von ihnen ist der descriptio von Erecs Krönungsmantel abzulesen. Indem Chrétien dem Gewand eine Darstellung der personifizierten artes des Quadriviums einschreibt - und damit die „durch das Quadrivium erschlossenen Wege, die Welt zu begreifen“, evoziert -, kennzeichnet er es als den modellhaften Entwurf einer künstlichen Welt, der „es erlaubt, Probleme der eigenen Welt auf der Ebene ‚bildhafter Abstraktion‘ durchzuspielen.“ 30 Man muss den Mantel jetzt in nur noch als selbstreflexive Beschreibung des ‚Erec‘ verstehen, um dessen conjointure in die Nähe eines kosmologisch bestimmten Sinn-Bilds rücken zu lassen. 31 Was er verhüllt, ließe sich dementsprechend kurz als das lebensweltliche Thema beschreiben, das er im geordneten Welt-Bild seiner Narration verhandelt. An diesem Punkt ist der Gedanke anzuschließen, dass Dichtungen von der Art des ‚Erec‘, so noch einmal von Graevenitz, einem „anschaulichen Argumentationsstil[]“ verpflichtet seien. 32 Auch dieser Gedanke wurzelt in der Beobachtung, dass sich Chrétiens Erzählung in besonders ausgeprägter Weise als ein narratives Durchspielen, Diskutieren und Lösen lebensweltlicher Probleme gestaltet. Anstatt dies auf zeitgenössische Vorstellungen einer sinnhaften Welt- 27 Ebd., S. 237. 28 Ebd., S. 229. 29 Ebd., S. 230, Vgl. dazu meine Überlegungen in Kap. II.2. Man könnte, wie hier ergänzt sei, auch auf einem einfacheren Weg zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, indem man das Konzept der Konkretion mit der illustrativen Funktion der mittelalterlichen Allegorie zusammenschließt. In dem Fall wäre davon auszugehen, dass Chrétien den dichterischen Sinn als einen quasi-allegorisch in den Worten der proprie -Ebene verhüllten begreift. Da die Konzepte der Rhetorik und der Schriftauslegung damit ineinander übergehen, wäre an dieser Stelle erneut ein Bezug zur elocutio sowie zu den Funktionen der rhetorischen Evidenz herzustellen. Vgl. Meier 1976, bes. S. 40-64. 30 Lutz 1996, S. 36 und 43. Zu Erecs Krönungsmantel als Schemabild der Welt bzw. des Kosmos auch Wandhoff 2003, S. 119-156. 31 Vgl. bes. von Graevenitz 1992, S. 234. 32 Ebd., S. 229. ordnung zurückzuführen, beruft er sich jedoch ein weiteres Mal auf die Nähe mittelalterlicher Literatur zur Rhetorik. In einem Umfeld, so wäre in diesem Sinne zu sagen, das die Poetik als Teilgebiet der Rhetorik begreift und Literatur mithin konsequent den kommunikativen Wirkungskalkülen einer auf Überzeugung ausgerichteten Rede unterwirft, 33 kann es im Grunde wenig verwundern, wenn die erzählweltlich konkretisierte Diskussion eines abstrakten Problems eine mehr oder weniger argumentative Form annimmt. 34 Dass genau das in dem von Chrétien bezeichneten Erzähltyp geschieht, werden erst die Textanalysen der nächsten Kapitel plausibel machen können; hier sei vorläufig nur angemerkt, dass der Begriff der conjointure damit nicht zuletzt die Bedeutung einer ‚Verhüllung‘ annimmt, die sich als erzählweltliche Konkretion eines argumentativen Gedankengangs realisiert. Wiewohl sich an dieser Stelle schon abzeichnet, wo ich im Folgenden den Schwerpunkt setzen werde, liegt es mir fern, Chrétiens Darstellung auf einen der genannten Sinn-Aspekte festzulegen. Mir scheint vielmehr im Gegenteil, dass man sein Konzept eines ‚schön‘ zusammengefügten Erzählens nur dann richtig versteht, wenn man alle der von ihm eröffneten Perspektiven in die Deutung einbezieht. Tatsächlich ist kein Grund erkennbar, der zu der Annahme berechtigt, dass der ‚Erec‘-Prolog ausschließlich auf die zweifelhafte historische Wahrheit seines Stoffes zielen, nur dessen kunstfertige Verarbeitung hervorheben oder bloß auf den in ihm verborgenen tieferen Sinn verweisen würde. Da er auch von den zeitgenössischen Rezipienten ohne weiteres in alle drei Richtungen gelesen werden konnte, wird man sinnvollerweise davon ausgehen, dass die Vieldeutigkeit seiner Rede System hat; 35 was bedeutet, dass die in der Forschung diskutierten Deutungsansätze alle in dem Maß richtig sind, da sie einander nicht ausschließen, und zugleich in dem Maß zu kurz greifen, wie sie das tun. Vor allem aber heißt es, dass Chrétiens Anliegen gerade darin bestanden haben dürfte, die eigene Position im assoziativen Feld zwischen den poetologischen Bezugsgrößen zu verorten. In diesem Sinne wäre anzunehmen, dass seine literaturtheoretische Reflexion weder auf die Konstruktion einer unerhört neuen, fiktionalen Sinnbildung ausgeht noch bloß den unproblematischen Anschluss an die Tradition artifiziellen Wiedererzählens oder allegorischen Bedeutens formuliert, sondern vielmehr verschiedene Kategorien nutzt, um die Vorstellung eines Erzählens zu entwickeln, das in charakteristischer Weise zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘, zwischen faktischer und ‚höherer‘ Wahrheit, zwischen kunstvollem Wiedererzählen und sinnhaftem Ein- und Enthüllen oszilliert. Folgt man dieser Bestimmung, dann zeichnet sich der ‚Erec‘ kurz gesagt dadurch aus, dass er sich der Tradition gleich dreifach: durch die Wiedergabe einer alten Überlieferung, durch deren Gestaltung nach den Regeln der Erzählkunst und durch die Aktualisierung der in ihr enthaltenen Wahrheit (also stofflich, ästhetisch und moralisch) verpflichtet; - und sich ihr dennoch zugleich in all diesen Punkten widersetzt. Denn indem er den mündlich überlieferten conte d’avanture vom Artusritter Erec einer ‚schönen Zusammenfügung‘ unterzieht, erzählt er ihn nicht nur völlig anders als zuvor. Wenn er es unterlässt, ihn als faktisch wahr auszugeben, ja ihn nicht einmal als wahrscheinlich markiert, negiert er vielmehr auch seinen historischen 33 Vgl. Hübner 2010, hier bes. S. 133. Zum Nexus von Poetik und Rhetorik im höfischen Roman auch Hübner 2014. 34 Zur Präsenz dieses Gedankens in der mittelalterlichen Poetologie Wels 2011. 35 Anders als es Haug nahelegt, verstehe ich den Modus von Chrétiens Reflexion damit nicht als Ausdruck einer fehlenden Theoriesprache, sondern als Anpassung ans Medium der Dichtung. Ihm entsprechend formuliert Chrétien nicht begrifflich-abstrakt, sondern anspielend-konkret. Chrétiens conjointure 155 156 Form und Sinn im höfischen Roman - Vorüberlegung Anspruch. 36 Und indem er ihm stattdessen eine Wahrheit zuschreibt, die nach der Art des integumentum in ihn ‚eingehüllt‘ ist, ohne mit den Mitteln der Allegorese aus ihm ‚herausgeschält‘ werden zu können, nimmt er dem Leser auch noch den gewohnten Schlüssel aus der Hand. All dies rechtfertigt er, wie zuletzt hinzugefügt sei, mit den Lizenzen (wie wir sagen würden) der Kunst: Mit der sinnstiftenden Kraft der dichterischen Schöpfung, mit dem Wert ihrer Schönheit und der Kunstfertigkeit ihrer Faktur. 37 Ich verzichte auf eine ausführlichere Begründung dieser Einschätzung - gewiss wäre auch sie weiter zu diskutieren - und formuliere stattdessen, was für meine Überlegungen aus ihr folgt. Meines Erachtens sind drei Einsichten von besonderer Relevanz. Die erste bezieht sich auf die Beobachtung, dass Chrétiens Prolog eine Vorstellung von der Sinnbildung des ‚Erec‘ entwickelt, die sich bei genauerem Hinsehen nicht nur als erstaunlich komplex erweist, sondern die darüber hinaus zumindest in einigen signifikanten Punkten mit jenem narrativen Verfahren übereinkommt, das ich im letzten Kapitel als die thematische Entfaltung eines spezifisch ‚künstlichen‘ Erzählens beschrieben habe. Wichtige Hinweise geben hier die prozesshaft voranschreitende Wechselwirkung von Handlungsstruktur und Thema (Haug), die sich im Wiedererzählen vollziehende narrative Perspektivierung (Worstbrock, Lieb) sowie nicht zuletzt der Umstand, dass das Verhältnis zwischen Thema und erzählter Welt als eines der literarischen Konkretion zu beschreiben ist (von Graevenitz). Inwiefern Chrétiens Formulierung tatsächlich genau das trifft, was die Explikationen der Forschung aus ihr herauslesen, muss dabei selbstverständlich offen bleiben. Gleichwohl markieren sie den Rahmen, innerhalb dessen es möglich ist, das Beschreibungsinventar der literaturwissenschaftlichen Analyse adäquat auf den Horizont des Mittelalters zu beziehen. Während diese erste Einsicht vor allem die Vereinbarkeit von mittelalterlicher Poetologie und neuzeitlicher Literaturtheorie betrifft, formuliert die zweite eine Konsequenz, die so nur aus der historischen Perspektive abgeleitet werden kann. Anders als die narratologische Beschreibung erlaubt Chrétiens Reflexion nämlich Rückschlüsse auf Herkunft und Verteilung des von ihm bezeichneten Typus. Die Art und Weise, in der er seinem Erzählen einen poetologischen Ort zu geben versucht, ist hier vornehmlich als die Formulierung eines neuen Anspruchs zu verstehen. Indem Chrétien seine poetologisch bis dahin unerschlossene Erzählpraxis auf bewährte Konzepte der Sinnbildung zurückführt, behauptet er ihre prinzipielle Gleichrangigkeit und verleiht ihr so literarische Dignität. Dass er unter dieser Prämisse zwar zweifellos als Fürsprecher sowie (im rechtfertigenden Sinn) Begründer, gerade darum aber eher nicht als der Erfinder des ‚chrétienschen‘ Erzähltyps zu gelten hat, führt weiter zu dem Schluss, dass die literaturwissenschaftliche Beschreibung dieses Typs von der Darstellung seiner poetologischen Reflexion unabhängig zu verfolgen ist. 38 Die Untersuchung muss also trennen zwischen der Entwicklung der von Chrétien realisierten Kompositionstechnik und dem Fortgang der von ihm angestoßenen Reflexion. Dass sie unter beiden Aspekten über den Artusroman hinauszugreifen hat, ist von vornherein 36 Dass dieser auch in der mündlichen Überlieferung mit dem Artusstoff verbunden war, ist zumindest anzunehmen. Schon deshalb ist Worstbrocks Perspektive auf Chrétiens artificium verkürzend: Die Frage nach der Historizität der Erzählung kam mit dem Stoff zwangsläufig ins Spiel. 37 Chrétiens Prolog ordnet sich damit in die lange Reihe poetologischer Äußerungen ein, deren thematischer Schwerpunkt bei der Schönheit der Darstellung liegt. Vgl. bes. Chinca / Young 2001, S. 626-644, Huber 2007. 38 Anders gesagt: Der Neuansatz der poetologischen Reflexion ist nicht mit einer Neuheit des reflektierten Erzähltyps gleichzusetzen. Vorgehen und Textauswahl 157 abzusehen. Da die für ihn typischen Prinzipien der Wiederholung und der korrelativen Sinnstiftung das großepische Erzählen des 12. und 13. Jahrhunderts insgesamt prägen 39 und das Nachdenken über die Besonderheiten des eigenen Dichtens spätestens nach Chrétien Usus wird, ist die Gattung des höfischen Romans als Ganze in den Blick zu nehmen. Obwohl sie bereits in die ersten beiden Schlüsse eingegangen sind, seien die literaturtheoretischen Implikationen von Chrétiens Äußerung an dieser Stelle noch einmal gesondert hervorgehoben. Eine dritte Einsicht ergibt sich aus ihnen insofern, als sie die Aufmerksamkeit auf ein sinnhaftes Ordnungsprinzip lenken, das sich selbst zuerst und vor allem über die Attribute des Schönen und Artifiziellen definiert. Für meine Überlegungen ist das zunächst einmal deshalb wichtig, weil es den Fokus auf die ästhetische ‚Gemachtheit‘ des mittelalterlich-romanhaften Erzählens erneut in die historische Perspektive spiegelt. Die poetologische Ebene auch weiterhin in die Untersuchung der Form-Sinn-Verhältnisse des höfischen Romans einzubeziehen, erscheint angesichts dieses Befunds nicht nur naheliegend, sondern sogar notwendig. Das gilt umso mehr, als der Blick auf die Pro- und Epiloge, die poetologischen Exkurse und impliziten Selbstbeschreibungen der Romane immer wieder deutlich werden lässt, dass die Hervorhebung der eigenen kunstvollen Beschaffenheit, die hier für gewöhnlich das erste Anliegen markiert, in irgendeiner Weise stets auch die Sinn- und bisweilen die Welthaftigkeit - nicht jedoch, wie gleich angemerkt sei, die Fiktionalität - der eigenen Fügung thematisiert. An dieser Stelle wird auch erkennbar, warum die poetologische Reflexion der höfischen Romane für die literaturwissenschaftliche Erfassung ihrer sinnbildenden Verfahren einen mehr als nur rahmenden und bestätigenden Wert hat. Sobald die Dichter damit beginnen, sich in ihren poetologischen Versuchen aufeinander zu beziehen und die Besonderheiten ihres sinnhaft-‚schönen‘ Schaffens immer präziser herauszuarbeiten, initiieren sie ein Gespräch, das in seinen eigenen Gesetzen und in seiner eigenen Aussage gehört zu werden verdient. 1.2 Vorgehen und Textauswahl Dass die folgenden Textanalysen n ic ht Chrétiens ‚Erec‘ in den Mittelpunkt rücken, ist vor dem Hintergrund der eben formulierten Schlussfolgerungen leicht zu begründen: Geht man davon aus, dass Chrétien einen in der zeitgenössischen Dichtung bereits bekannten Typus beschreibt, dann ist zwar diese Beschreibung, nicht aber sein Text als Gegenstand für meine Untersuchung unverzichtbar. Hinzu kommt, dass methodische Erwägungen den Blick in eine andere Richtung lenken: Um sowohl den literaturgeschichtlichen Kontext als auch repräsentative Vertreter des Typus erfassen zu können, scheint es sinnvoll, sich auf einen einzigen Sprachraum zu konzentrieren. Natürlich könnte man sich auch gewinnbringend mit Vorlagen- und Adaptionsverhältnissen beschäftigen und etwa danach fragen, wie sich Form-Sinn-Verhältnisse bei der Übertragung französischer in deutsche Texte verschieben und mit welchen thematischen Akzentuierungen das unter Umständen verbunden ist. Da man auf diese Weise jedoch eher Bezüge zwischen einzelnen Texten als den Typus zu fassen 39 Das hat in der Nachfolge von Fromm 1969 v. a. Stock 2002 herausgearbeitet, der in diesem Zusammenhang auch bereits darauf hinweist, dass sich der von Haug apostrophierte literarische Typus völlig anders darstellt, wenn man ihn unabhängig vom Fiktionalitätsstatus der Texte am Kriterium ihres kompositorischen Aufbaus bemisst (ebd., bes. S. 1-17). 158 Form und Sinn im höfischen Roman - Vorüberlegung bekäme, blende ich diesen Aspekt mit Ausnahme gelegentlicher Seitenblicke aus und beschränke mich auf höfische Romane in deutscher Sprache. Unter ihnen ist dann freilich der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue die naheliegendste Wahl, nicht nur in seiner Eigenschaft als Adaption der chrétienschen conjointure , sondern mehr noch deshalb, weil die Merkmale des literarischen Typus - unter ihnen sind die Dominanz des Themas und die auffällige Komponiertheit hervorzuheben - bei ihm sehr ausgeprägt sind. Da dies zudem bekannt und von der Forschung eingehend besprochen worden ist, scheint er besonders dazu geeignet, mein Analysemodell zu erproben und im Zuge dessen aufzuzeigen, inwiefern der scheinbar ausinterpretierte Text mit seiner Hilfe neu gedeutet werden kann. Von diesem Gedanken ausgehend soll das nächste Kapitel danach fragen, wie die Wiederholungsstrukturen des ‚Erec‘ als eine Form der thematischen Entfaltung zu verstehen sind, welchem Prinzip sie unterliegen und wie sie in ihrer sinnstiftenden Funktion und Wirkung genauer beschrieben werden können. Der Auswahl der Texte, denen die weiteren Kapitel gewidmet sein sollen, lege ich zwei Kriterien zugrunde. Das erste ist ein literaturgeschichtliches - es soll gezeigt werden, wie der Typus in der zeitgenössischen Literatur zu verorten ist, welche Optionen er zulässt und wie er sich entwickelt -; und das zweite ist ein systematisches - denn um die Texte in eine literarische Reihe stellen zu können, bedarf es wenigstens eines Merkmals, das ihnen allen gemeinsam ist. Dieses Merkmal in dem Thema zu suchen, um das viele höfische Romane des 12. und 13. Jahrhunderts in auffälliger Weise kreisen, liegt an dieser Stelle zumindest nahe: Die Art und Weise, in der sie ein und dieselbe Frage - die ich hier allgemein als die nach der Vereinbarkeit von Individualitäts- und Gemeinschaftsprinzip bezeichnen möchte 40 - immer wieder anders stellen und der gedanklichen Beschäftigung mit ihr sowohl neue Akzente als auch unterschiedliche Perspektiven abgewinnen, lenkt den Blick wie von selbst auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Sinnbildung. Dass deren Untersuchung an den Romanen von Tristan und Isolde nicht vorbeikommt, bedarf hieran anschließend wohl keiner weiteren Rechtfertigung: In ihnen wird das infrage stehende Thema nicht zur zuerst und besonders intensiv verhandelt; sie zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie den ‚Erec‘ in ihren unterschiedlichen Versionen sozusagen rahmen, wobei sie sich zudem in einer recht deutlichen (wenn auch im Einzelnen nicht ganz klar greifbaren) stofflich-poetischen Wechselwirkung mit ihm befinden. Dies ist eine der Stellen, an denen Chrétiens ‚Erec‘ zumindest am Rande doch wieder ins Spiel kommt: Indem er den Tristan (-stoff) zitiert, stellt er einen Bezug her, der die kompositorische und thematische Verflechtung der Texte in plausibler Weise begründen kann. Wie weit sich die deutschen Bearbeiter dieses Bezugs bewusst waren, ist für meine Überlegungen ebenso wenig maßgeblich wie die Frage nach den tatsächlichen Abhängigkeiten. Worauf es mir ankommt, ist die Einsicht in einen Zusammenhang der gedanklichen Beschäftigung mit demselben Thema, die zuerst und vor allem im Medium der kompositorischen Fügung zum Ausdruck kommt. Um zu zeigen, was das genau bedeutet, setzt mein zweites Analysekapitel mit dem Versuch ein, die Entwicklung des Erzählens von Tristan auf einen Wandel in dem der thematischen Entfaltung zugrundeliegenden Denkmuster hin durchsichtig zu machen. Dass dies nicht im engeren Sinn stoffgeschichtlich gemeint ist, sondern allein dazu dient, die 40 Dazu grundlegend und in der Substanz noch immer gültig: Köhler 1965 / 1979, S. 139-180. Meine Überlegungen basieren auf derselben Beobachtung, formulieren sie aber anders und kommen insgesamt zu anderen Schlüssen. Vorgehen und Textauswahl 159 Möglichkeiten des narrativen Typus aufzuzeigen, versteht sich angesichts der fragmentarischen und im Einzelnen nicht rekonstruierbaren Überlieferungslage von selbst. Umso aufschlussreicher ist, dass die Version, in der die Tristangeschichte bei Eilhart von Oberg Gestalt annimmt, ihr Thema in einer Weise verhandelt, die der des ‚Erec‘ im gedanklichen Ansatz erstaunlich ähnlich ist - dieser greift also offenbar tatsächlich auf ein poetisches Verfahren zurück, das schon vor ihm praktiziert worden ist. Wenn Gottfried von Straßburg sein Thema in ganz neuer Weise betrachtet, so ist das daher insofern gleich doppelt bemerkenswert, als es zum einen eine veränderte Haltung zu diesem Thema selbst belegt und zum andern auf eine Transformation des literarischen Typus vorausweist. Auf der Basis dieses Befunds kommt meinem letzten Analysekapitel die Aufgabe zu, die erzielten Erkenntnisse zu sichern und zugleich die in ihnen sich abzeichnende literaturhistorische Linie fortsowie ein Stück weit ihrem Ende entgegenzuführen. Um sie zu erfüllen, bietet sich der ‚Willehalm von Orlens‘ des Rudolf von Ems meines Erachtens besonders an. Er diskutiert nicht nur dasselbe Thema wie die drei anderen Texte, sondern legt darüber hinaus ein literaturgeschichtliches Bewusstsein an den Tag, das sowohl explizit-poetologisch als auch implizit: in einem bis zum Zitat ausgeschriebenen Rückgriff auf die Vorgängertexte (und unter ihnen ganz besonders auf Gottfrieds ‚Tristan‘) zum Ausdruck kommt. Dass er auf diese Weise zu einer Art Echoraum der dort ausgeführten Problemverhandlung wird, bedeutet gleichwohl keineswegs den Verzicht auf eine eigene Positionierung: Meine Untersuchung wird zeigen, dass Rudolfs Gottfried-Referenz erneut mit einer Transformation des narrativ-gedanklichen Zugriffs auf das gemeinsame Problem einhergeht. Damit verbunden ist eine Tendenz, die man in Anlehnung an Lugowski - und ohne damit dessen Epochenthese zu repristinieren - als den (weiterführenden) Ansatz zu einer Auflösung oder Umwandlung des narrativen Typs bezeichnen kann. Wenn Rudolf den thematischen Fokus seiner Darstellung durch einen (pseudo-)historischen ergänzt, dann folgt er zwar ebenfalls einer Tendenz, die bei Gottfried bereits angelegt ist. Indem er diese allerdings verstärkt und zusehends zum dominanten Prinzip erhebt, lässt er das Aufkommen eines Erzählens erkennbar werden, das das Verhältnis von Narration und thematischer Verhandlung sowie, daran anschließend, von ‚Kunst‘ und ‚Welt‘ in anderer Weise konfiguriert. 2 Kristallene Worte - schlüssige Welt. Zum ‚Erec‘ Hartmanns von Aue 2.1 Cristallîniu wortelîn Hartmann der Ouwære, ahî, wie der diu mære beide ûzen unde innen mit worten und mit sinnen durchverwet und durchzieret! wie er mit rede figieret der âventiure meine! wie lûter und wie reine sîniu cristallînen wortelîn beidiu sint und iemer müezen sîn! si koment den man mit siten an si tuont sich nâhen zuo dem man und liebent rehtem muote. swer guote rede ze guote und ouch ze rehte kan verstân, der muoz dem Ouwære lân sîn schapel und sîn lôrzwî. ( GT r 4621-4637) 1 Legt man die Lobrede Gottfrieds von Straßburg auf seinen Dichterkollegen Hartmann von Aue neben die selbstreflexiven Passagen von Chrétiens ‚Erec‘, so fallen die Parallelen sofort ins Auge. Hier wie da ist von einem Schaffensprozess die Rede, in dessen Verlauf ein (literarisch-)‚schönes‘ Objekt dadurch entsteht, dass eine vorgefundene Materie ( conte d’avanture , CEE 13 / mære , GT r 4622) kenntnisreich in eine klar umrissene Form gebracht wird ( conjointure , CEE 14 / cristallîniu wortellîn , GT r 4629). Beide Dichter definieren die Schönheit des narrativen Gegenstandes also durch die kunstvolle Verfertigung und sinnstiftende Anordnung eines Stoffes; und beide kommen zudem darin überein, dass sie das dabei hergestellte Verhältnis von Form und Sinn als eines von Innen und Außen beschreiben. Der Dichter bringt ein Werk hervor, das entweder als prächtiges ‚Gewand‘ (Erecs Krönungsmantel, CEE 6674-6747) oder als eine Art kristallener ‚Behälter‘ des in ihm aufscheinenden Sinns ( meine , GT r 4627) figuriert. 2 Ob Gottfrieds Literaturexkurs an dieser Stelle wirklich, wie Walter Haug einmal in kühner Spekulation behauptet hat, indirekt auf Chrétiens ‚Erec‘-Prolog zurückgeht, wird wohl nie geprüft werden können. Der Beginn von Hartmanns Nachdichtung, in dem der 1 Ich zitiere Gottfrieds Text nach der Ausgabe von Haug / Scholz 2011. 2 Den Umstand, dass die Verhältnisse nicht ganz dieselben und z.T. auch in sich unstimmig sind (so umschließt das Gewand der Krönungszeremonie des ‚Erec‘ v. a. nicht den Sinn des Textes, sondern fungiert als sinnhafte Bedeckung seiner materia ), nehme ich zum Ansatzpunkt der folgenden Überlegungen. conjointure -Begriff demnach in die Wendung von der aventiure meine übertragen worden sein soll, ist bekanntlich nicht überliefert. 3 Angesichts der Analogie der beiden Äußerungen nehme ich den Gedanken gleichwohl zum Anlass für die Frage, wie es zu deuten sein könnte, dass Gottfried die sinnhafte Fügung von Hartmanns Dichtung zwar sowohl inhaltlich als auch in der (metaphorischen) Art des Sprechens auffallend ähnlich beschreibt wie Chrétien - so auffallend ähnlich, dass ein bewusst auf das gemeinsame poetische Verfahren zielender Bezug zumindest denkbar scheint -, dabei jedoch in einem entscheidenden Punkt von diesem abweicht. Dass auch er das poetische Prinzip des Artusromans mit einem handwerklichen Vorgang assoziiert, ist hier wohlgemerkt noch nicht an und für sich signifikant: Wie man weiß, wird der Akt des Dichtens in der lateinischen Poetik topisch mit Handwerksmetaphern belegt. 4 Was aber bewegt Gottfried dazu, das weitgehend identische kompositorische Verfahren Hartmanns - und zudem ausgehend von derselben Vorstellung von Innen und Außen - auf ein anderes Handwerk zu beziehen? Oder, um es zugespitzt zu formulieren: Warum ersetzt er die Web- (oder Flecht-)kunst Chrétiens 5 ausgerechnet in Bezug auf Hartmann - der sie ja mit der conjointure von Chrétien geerbt haben müsste - durch das Handwerk des Juweliers? 6 Die meines Erachtens naheliegendste Antwort auf diese Frage lautet, dass Gottfried Hartmanns Dichtung auf diese Weise in ein anderes Verhältnis zum Konzept des integumentum setzen will. 7 An Chrétien schließt er darin insofern an, als er dessen Überlegun- 3 Haug bezeichnet Gottfrieds Formulierung figieret der âventiure meine geradezu als Übersetzung von Chrétiens treire une conjointure d’un conte d’avanture . Gottfried habe sie aus Hartmanns ‚Erec‘-Prolog übernommen, um „das, was Hartmann - seiner Vorlage folgend - vom Dichter fordert, ihm selbst mit seinen eigenen Worten zu[zusprechen]“ (1975 / 1989, hier S. 456). 4 So wird der Dichter etwa bei Geoffrey von Vinsauf nacheinander (und bisweilen in harter Fügung) zum Architekten (GPN 43 ff.), zum Schneider (GPN 61, 220 ff.) bzw. zur Zofe (GPN 62 ff.), zum Gärtner (GPN 256 ff.), Schmied (GPN 724 ff.) und Schiffmann (GPN 1065 ff.). Gottfrieds Eigenleistung besteht mithin nicht in der poetologischen Verwendung von Handwerksmetaphern - hier bewegt er sich vielmehr fast schon auffällig im Rahmen der üblichen Bildfelder -, als in deren Spezifikation auf bestimmte Dichter. Ob man im Anschluss daran sagen kann, dass er sie zur Bezeichnung von Individualstilen verwende, wäre zu erwägen. 5 Sie schreibt er stattdessen Bligger von Steinach zu, oder besser: den vrouwen und feinen , die er als Inspirationsquellen Bliggers apostrophiert (GTr 4691-4722). Angemerkt sei, dass auch Gottfrieds Literaturexkurs die Beschreibung von Tristans Einkleidung zur Schwertleite e r s e t z t : Will Gottfried also ebenfalls kein Weber (oder Schneider) mehr sein? 6 Wenn Hartmann ‚Kristallworte‘ erschafft, indem er diu mære […] durchverwet und durchzieret , dann ist er konsequenterweise als Juwelier anzusprechen. Mit dem Handwerk des Juweliers ist auch die Vorstellung des ‚Polierens‘ von Worten verbunden (etwa bei Geoffrey von Vinsauf: verba polire , GPN 1950): denn Edelsteine wurden im Mittelalter nicht geschliffen, sondern poliert. In dieser Tätigkeit rückt Hartmann auch in die Nähe des Goldschmieds, den Gottfried in Bezug auf seine eigene Dichtung evoziert (GTr 4889-4895). 7 Ähnlich Haug 1985 / 1992, S. 221. Man mag hier einwenden, dass die Kleidermetapher in den Poetiken des Mittelalters keineswegs nur dem integumentum zugeordnet ist, sondern auch der elocutio : also der Idee nicht des Verbergens von Wahrheit durch indirekten Ausdruck, sondern des rhetorischen Einkleidens von Gedanken in Worte (so z. B. in Geoffreys von Vinsauf oft zitierter Wendung materiam verbis veniat vestire poesis , GPN 61). Wenn meine Überlegung etwas Richtiges trifft, dann könnte freilich genau dies der Anlass von Gottfrieds Differenzierung sein. Denn die Metapher des Kristalls illustriert die elocutio , (weitgehend) ohne die Assoziation integumentalen Verhüllens zu evozieren. Man könnte also auch annehmen, dass Gottfrieds Hartmann-Apostrophe nicht auf Chrétiens Darstellung der conjointure , sondern auf die Ambiguität der poetologischen Metapher zielt. Das Ergebnis wäre allerdings dasselbe: eine präzisere Beschreibung von Hartmanns sinnstiftender Fügung, die letztlich darauf hinausliefe, diese sehr viel stärker in den Bereich der Rhetorik denn in den der integumentalen Sinn- Cristallîniu wortelîn 161 162 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ gen - ob bewusst oder nicht, sei dahingestellt - an einem Punkt aufgreift, an dem dieser nicht weitergekommen war. Denn Chrétien hatte das integumentum , wie eben erläutert, zwar im Begriff der conjointure nur angedeutet, um es in die Vorstellung der (welthaften) Konkretion hinüberzuspielen. In der Beschreibung von Erecs Krönungsmantel war er ihm auf der Bildebene aber dennoch weit genug verhaftet geblieben, damit die Idee der allegorischen Sinnhaftigkeit, zumal für einen Rezipienten, der nicht über genauere Kenntnis der macrobischen Dichtungstheorie verfügte, zumindest präsent gehalten wurde. 8 Wenn man in diesem Sinne sagen kann, dass Chrétien bei der diskursiven Abgrenzung des von ihm praktizierten Sinnbildungsverfahrens auf halbem Wege stehengeblieben sei, so darf man wohl ergänzen, dass Gottfried diesen Weg zu Ende geht. Indem er Hartmann zum Juwelier erklärt, lässt er unmissverständlich deutlich werden, dass dessen Dichtung mit dem Vorgang des Einkleidens und Verhüllens nichts zu tun hat: In ihr wird der aventiure meine von der rede des Dichters weder bedeckt noch verborgen, sondern vielmehr figieret , ‚(fest-)gemacht‘, 9 und dadurch sowohl hervorals auch sichtbar zum Leuchten gebracht. 10 Dass Gottfried im Verweis auf die Brillanz von Hartmanns Werk noch ein zweites Konzept der lateinischen Poetik herbeizitiert, ist vor dem Hintergrund dieser Beobachtung neu zu bewerten. Dabei ist davon auszugehen, dass er auch dieses Konzept in der für die literarische Poetologie seiner Zeit so charakteristisch ‚umakzentuierenden‘ Weise an seinen Gegenstand anpasst. Sprich: Bei seiner lobenden Hervorhebung der cristallînen wortelîn greift er zwar auf den (poeto-rhetorischen) Terminus der perspicuitas zurück (der wiederum in enger Beziehung zu dem der evidentia steht), meint damit aber gleichwohl nicht ganz dasselbe. 11 Wie überall, wo er sich der Metaphorik des sinnhaften Durchscheinens bedient, bezeichnet er damit auch hier keineswegs die ‚Klarheit‘ und Eindeutigkeit, die das rhetorische Stilprinzip der perspicuitas im Kern ausmachen. 12 Stattdessen evoziert er, wie Christoph Huber jüngst prägnant formuliert hat, die Vorstellung einer „‚Transparenz‘ im Sinne von trans-parere , ‚durch etwas hindurch erscheinen‘“: „Während mit perspicuitas / ‚Klarheit‘ der traditionelle Sachbezug mit einer durchschlagenden Wirkung angezielt ist, tritt hier fügung einzuordnen. An der Interferenz von Rhetorik und integumentum -Theorie würde das nichts ändern; nur würden sich die Schwerpunkte verschieben. Gottfrieds Bezug zu den lateinischen Poetiken ist bereits früh (durch Sawicki 1932) dargestellt und seitdem in der Forschung vielfach und äußerst kontrovers diskutiert worden. Ich beziehe mich im Folgenden besonders auf die grundlegende Arbeit Hubers 1979, sowie daran anschließend auf Huber 2015. 8 Dies wäre mit einigem Recht von Graevenitz entgegenzuhalten: Wenn Chrétien das integumentum - Konzept tatsächlich in Rückgriff auf Macrobius in eine Vorstellung ästhetischer Konkretion überblenden wollte (so von Graevenitz 1999, bes. S. 229-237), so ist doch gleichwohl nicht anzunehmen, dass er darin von all seinen Rezipienten verstanden wurde. Hieran anschließend wäre zu erwägen, ob Gottfried Chrétiens Gedanken aufgreift, um ihn durch die Wahl der neuen Metapher einem breiteren Verständnis zugänglich zu machen. 9 „Das Verb, ein Neologismus nach lateinischem Vorbild, läßt sich zu figere ‚festmachen, treffen‘, oder zu fingere ‚bilden‘ ziehen“ (Huber 1979, S. 295). 10 Vom Glanz der Kristallworte ist zwar bei Gottfried nicht explizit die Rede; die Vorstellung lichthaften Strahlens ist aber in der Beschreibung sowohl ihrer Durchsichtigkeit und Farbigkeit (GTr 4625, 4628 f.) als auch ihrer wohlgefälligen Wirkung (GTr 4631-4633) impliziert. 11 Gottfrieds Bezug zum Begriff der perspicuitas sowie seine Verpflichtung auf deren Stilideal (bzw. der ihr zugeordneten claritas ) ist im Anschluss an die Einschätzung von Scholz 2009 zuletzt wieder verstärkt diskutiert worden: Dazu bes. Huber 2015 und Grubmüller 2015. Die ältere Forschung referiert im Kommentar zur Stelle Haug 2011, S. 364 f. 12 Grundlegend dazu Asmuth 2003, hier bes. Sp. 814 f. und 835-844. Cristallîniu wortelîn 163 die Funktion des Mediums stärker in den Vordergrund, das den Blick hindurch auf etwas anderes öffnet“. 13 Daraus darf man gewiss schließen, dass „der kristalline Stil nicht in die Alternative von rhetorischer perspicuitas oder obscuritas zu fassen ist“. 14 Man kann indessen in etwas anderer Akzentuierung auch sagen, dass Gottfried diesen Stil in seiner spezifisch sinnhaften Wirkung auf das Prinzip der perspicuitas bezieht, um ihn so von dem der obscuritas abzusetzen. 15 Gegen Chrétien richtet er sich darin (direkt oder indirekt) insofern, als dieser sich im Rekurs auf die integumentale Vorstellung des Einkleidens nirgendwo anders verortet als auf der Seite der literarischen Verdunkler. Wenn Gottfried den Effekt von Hartmanns Dichtung nun im Gegenteil als ein Transparent-Werden von Sinn darstellt, so ist das darum kaum anders zu verstehen, als dass er sich, wenn nicht von Chrétiens Poetologie selbst, so doch allgemein von der Idee distanziert, dass man das sinnstiftende Dichten in der Art Hartmanns (das ja zugleich das Dichten in der Art Chrétiens ist) als eine Form der (verdunkelnden) Verhüllung beschreiben könnte. 16 Anstatt im Bereich der allegorischen Sinnerschließung verortet er es - in Rekurs auf das rhetorische Konzept des erhellenden Durchsichtigbzw. Evident-Machens - im Bereich der dichterischen Versinnfälligung. Das heißt mit anderen Worten: Indem Gottfried Hartmanns Dichtung als ‚kristallen‘ bezeichnet, verschiebt er ihre Position im Horizont der zeitgenössischen Poetologie so, dass ihr sinnstiftendes Verfahren anders zur Anschauung kommt als bei Chrétien. Zu diesem Zweck wählt er seine Metapher offenbar mit Bedacht dahingehend aus, dass sie Hartmanns Dichtung in Bezug auf die christliche Hermeneutik und die lateinische Poeto-Rhetorik gleichermaßen konsequent vom Konzept des integumentum abrückt. Unter diesem Aspekt betrachtet ist dem bereits Gesagten sogar noch ein Drittes hinzuzufügen. Fasst man die Kristallmetapher im Vergleich zur Alternative des ‚Einkleidens‘ nämlich noch einmal genauer ins Auge, so fällt auf, dass ihre präzisierende Wirkung - außer im Zurückweisen der ‚Verhüllung‘ und im Wechsel vom Bildfeld des Dunklen in das des Hellen - auch in einer Umbesetzung von (sinnhaftem) Innen und (dichterisch gestaltetem) Außen begründet liegt: 17 Während der Mantel der conjointure in Erecs Krönungszeremonie nichts anderes umhüllt als den Protagonisten selbst - was man dahingehend deuten mag, dass Chrétiens Dichtkunst den anspruchslosen conte d’avanture literarisch-sinnstiftend aufwertet -, suggeriert die Beschaffenheit von Hartmanns Dichtung bei Gottfried ein Inneres von katego- 13 Huber 2015, S. 200. 14 Ebd., S. 204. 15 Das heißt, er zitiert das rhetorische Prinzip der perspicuitas nur, um eine Art des Dichtens zu profilieren, die nicht dunkel im Sinne des obscuritas -Konzepts ist (oder auch allgemeiner im Sinne einer Dichtung, deren Sinn sich nicht so klar erschließt), sondern im Vergleich zu dieser ‚hell‘ (weil sie nicht darauf aus ist, Sinn zu verbergen, sondern zu erzeugen). Diese Deutung hat den Vorteil, dass sie Gottfrieds Darstellung weder als ironisch noch als ungenau oder gar falsch bewerten müsste (vgl. dazu die berechtigte Kritik Grubmüllers 2015, S. 184-187). Denn dass Hartmanns Dichtung nicht dunkel sei, bedeutet jetzt nicht mehr, dass sie eindeutig sein muss. 16 Denn umgekehrt gilt auch: Dass Hartmanns Dichtung (ebenso wie die Gottfrieds) de facto nicht eindeutig ist, heißt noch nicht, dass sie dunkel sei. Damit ist auch der in der Forschung kurrente Schluss, dass Gottfried eigentlich das Prinzip der obscuritas propagiere (und sich selbst damit auf der Seite Wolframs verorte) hinfällig: so Liebertz-Grün 2001, bes. S. 2-9, Scholz 2009, bes. S. 269. 17 Dass Gottfried überhaupt beim gedanklichen Konzept von Innen und Außen bleibt, heißt freilich auch, dass er die Assoziation des integumentum nicht ganz verabschiedet, sondern als Grundlage seiner Illustration beibehält. Was sie aussagt, ist damit in etwa dies: Wie beim integumentum , so ist auch bei Hartmann der Sinn ‚in‘ der Dichtung - nur eben auf eine andere Weise. Vgl. dazu auch Krass 2006, bes. S. 214 f. (der freilich nicht auf die Besonderheiten der Kristallmetapher eingeht). 164 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ rial anderer Art. Denn das aus ihrer schön geformten Wortmaterie emanierende Leuchten ist augenscheinlich etwas dezidiert Geistiges. Es ist die Idee, die ihr zugleich zugrunde liegt und implizit aus ihr hervorgeht. 18 Hartmanns Dichtung, so könnte man Gottfried mithin zusammenfassend paraphrasieren, ist deshalb ‚kristallen‘, weil Wort und Sinn sich in ihr nicht zueinander verhalten wie ein Stofflich-Materielles zu einem anderen Stofflich-Materiellen, sondern wie ein Materielles zu einem Ideellen, ein Stoffliches zu einem Geistigen oder ein Konkretes zu einem Abstrakten - und damit genauso, wie sich die Substanz eines schön gefärbten und polierten Kristalls zu seinem strahlenden Glanz verhält. Auch dieser befindet sich zwar in gewisser Weise ‚im‘ Kristall; nicht jedoch so, dass er in ihm ‚eingehüllt‘ oder gar in ihm ‚verdunkelt‘ oder ‚verborgen‘ wäre, und auch nicht so, dass er beliebig in ihn ‚hineingetan‘, aus ihm ‚herausgeholt‘ oder überhaupt in irgendeiner Weise von ihm abgelöst werden könnte. ‚In‘ ihm ist er vielmehr nur, weil er als etwas unstofflich in ihn Hineingeflossenes von der Form seiner transparenten Materie so gebrochen und verdichtet wird, dass er nun schöner und heller als zuvor wieder aus ihm herausfließt. 19 Kurzum: Hartmanns Dichtung zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine von außen herkommende Idee so gestaltet, dass diese ungreifbar-unbegrifflich und zugleich in faszinierender Schönheit i n ihr zum A u s druck kommt. Dass diese Beschreibung nicht nur dieselben Verfahren der narrativen Perspektivierung und der ästhetischen Konkretion fokussiert, sondern sie zum Teil auch präziser ins Bild fasst als Chrétien, liegt auf der Hand. Wie man sich das Verhältnis zwischen Gottfrieds Charakterisierung der hartmannschen Dichtung und Chrétiens Selbstreflexion auf der Ebene der Texte genau vorzustellen hat, ist damit spätestens an dieser Stelle nachrangig. Selbst wenn die Gemeinsamkeit nur darin bestehen sollte, dass der eine Dichter die Vorlage der Erzählungen liefert, auf die sich der andere beschreibend bezieht, wird aus dem Vergleich ihrer Aussagen dennoch einiges deutlich, das für meine Untersuchung aufschlussreich ist. Besonders hervorzuheben ist hier zunächst, dass Chrétien und Gottfried insofern in einem Diskurszusammenhang stehen, als sie sich (ob nun über Hartmanns verlorenen ‚Erec‘-Prolog vermittelt oder nicht) in derselben, die Begriffe der lateinischen Poeto-Rhetorik metaphorisch-reflektierend abwandelnden Redeweise um die legitimierende Darstellung einer Form von Dichtung bemühen, für die es bis dahin keine Beschreibungssprache gab. Dabei richtet sich ihr Fokus vor allem auf eine möglichst genaue Erfassung der Kunst- und Sinnhaftigkeit dieser Dichtung, die sie zudem im Wesentlichen in denselben Merkmalen zu profilieren versuchen. Daraus ist nicht nur zu schließen, dass die sinnhafte Fügung der von beiden fokussierten Texte im Kern die gleiche zu sein scheint. Da Gottfried diese Art der Fügung vornehmlich in seiner Würdigung Hartmanns von Aue hervorhebt, ist vielmehr auch davon auszugehen, dass dieser seiner Ansicht nach wie kein anderer für die Art des Dichtens steht, die Chrétien im ‚Erec‘-Prolog beschrieben hatte. Gottfried stellt Hartmann also hinsichtlich der ‚schönen Zusammengefügtheit‘ seiner Dichtung (ob er sich dessen nun bewusst ist oder nicht) in die direkte Nachfolge Chrétiens. 18 So auch Huber 1979, bes. S. 302. 19 Huber folgt den Implikationen der Metapher, indem er den von Gottfried dargestellten Sinngehalt des Werks auf fünf Seinsebenen verortet: „1. Aus einer Objektivität garantierenden sin -Instanz speist sich 2. Der sin des Autors […]. Der Dichter konzipiert 3. Die sententia des Werkes, die sich 4. in Mikrostrukturen und umfassenderen Einheiten in der Sprachgestalt sinnlich-materiell bezeugt. Diese Gestalt, das Wortkleidintegumentum , muß so beschaffen sein, daß der darin gebundene sin 5. vom sin des Aufnehmenden erfaßt werden kann“ (ebd., S. 298). Der Weg als Problemverhandlung 165 Dass Gottfrieds Darstellung von Hartmanns Erzählkunst über die bereits genannten Begriffe und Konzepte hinaus noch auf andere poetologische Kategorien bezogen und entsprechend um weitere, unter Umständen auch weniger positive Aspekte ergänzt werden kann, sei hier nur noch angedeutet. Eine kritischere Perspektive auf Hartmann erschließt sich etwa durch die Beobachtung, dass das kristallene Objekt, zu dem sich sein Werk bei Gottfried zusammenzieht, zwei der Eigenschaften, die einerseits bei Chrétien, andererseits bei einigen anderen der von Gottfried porträtierten Dichter besonders hervorstechen, augenscheinlich n ic ht aufweist. Die Frage danach, warum den hartmannschen Kristallworten die Welthaftigkeit von Erecs Krönungsmantel gänzlich abgeht, kann dabei, zumindest solange es nur um Chrétien geht (in Bezug auf Hartmann wäre anderes zu sagen), mit Verweis auf die unsichere Textkenntnis Gottfrieds zurückgestellt werden. Dass Hartmanns Dichtung im Vergleich zu den prächtig blühenden, adlergleich fliegenden und wild umherspringenden Wortgewächsen und Buchstabentieren Heinrichs von Veldeke, Bliggers von Steinach und (vermutlich) Wolframs von Eschenbach ( GT r 4638-4750) merkwürdig starr, um nicht zu sagen, leblos anmutet, scheint aber doch erklärungsbedürftig. Da der poetologische Diskurs hier in eine andere Richtung abbiegt, breche ich meine Explikation von Gottfrieds poetologischer Positionierung gleichwohl vorerst ab: Es wird an späterer Stelle noch einmal darauf zurückzukommen sein. 20 Zunächst einmal gilt es das, was Gottfried zu greifen sucht, wenn er die Dichtung Hartmanns als ‚kristallen‘ bezeichnet, in Bezug auf den hier interessierenden Typ ‚künstlichen‘ Erzählens literaturwissenschaftlich auszuführen und zu konkretisieren. 2.2 Der Weg als Problemverhandlung. Zur thematischen Entfaltung des Erzählens 2.2.1 Das Thema in seinem Verhältnis zur Handlung und die Frage nach dem ‚Modus der Regierung‘ Wie also ist das von Gottfried illustrierte Sinnbildungsverfahren mit den Mitteln der modernen Literaturwissenschaft zu beschreiben? Mir scheint, dass die altgermanistische Forschung die spezifisch ‚kristallene‘ Qualität von Hartmanns Œuvre in Bezug auf den ‚Erec‘ schon längst in ein nicht minder pointiertes Wort gefasst hat: Bei dieser Dichtung aus dem Frühwerk Hartmanns von Aue handle es sich um einen „Thesenroman“. 21 Die Engführung mag auf den ersten Blick kühn, ja kurzschlüssig anmuten, ist jedoch bei näherem Hinsehen kaum von der Hand zu weisen. 22 Denn das den beiden Bezeichnungen zugrundeliegende Phänomen ist im Prinzip dasselbe: Der ‚Erec‘ ist kristallen-sinnklar und thesenhaft zugleich, weil er sich insgesamt darauf ‚richtet‘ (also mit dem Ziel komponiert ist), im dargestellten Geschehen implizit etwas zu verstehen zu geben, das allgemeinere Geltung beansprucht. Dabei erzählt er seine Geschichte so offensichtlich nicht (nur) um ihrer selbst, sondern (auch) um einer in ihr aufscheinenden Idee (bzw. These) willen, dass 20 In Kap. III.2.4. 21 Kuhn 1948 / 1969, S. 149. 22 In ähnlicher Tendenz formuliert auch Ruh: „der Sinn liegt kristallklar in der […] Komposition eingeschlossen“, um im Anschluss die Verbindung zwischen dem Wiederholungsprinzip und der thematischen Aussage hervorzuheben (1967 / 1977, S. 115). 166 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ die dargestellte Welt in all ihren Bestandteilen nurmehr als Transparent dessen anmutet, was ‚durch sie hindurch‘ gesagt werden soll. Worin dieses ‚Durch-sie-hindurch-Gesagte‘ - das man außer die Idee oder die These gewiss auch das „gedankliche[] Konzept“ des Textes nennen könnte 23 - genau besteht, ist zwar durchaus nicht ohne weiteres zu benennen, 24 doch kann man mit einigem Recht behaupten, dass gerade das den eigentlichen Effekt ausmacht. Was nämlich andernfalls bloß eine einfache Botschaft in Gestalt einer moralischen Wertung oder exemplarischen Lehre wäre, 25 erscheint so als jene Form von Sinn, die sich durch ihre spezifische Unfassbarkeit als literarisch-ästhetisch definiert. Der ‚Erec‘ ist mithin ‚thesenhaft‘ aus demselben Grund und auf dieselbe Weise, wie er ‚kristallen‘ ist: Deshalb, weil, bzw. dadurch, dass, er ‚konkret‘ Sinn stiftet. Sofern die moderne Beschreibung seiner (thesenhaften) Konkretheit begrifflich und diskursiv sehr viel weiter ausformuliert ist, sind wir - so zumindest der erste und gewiss nicht ganz falsche Eindruck - einem literaturwissenschaftlichen Verständnis der spezifisch ‚künstlichen‘ Sinnbildung des ‚Erec‘ damit bereits ein ganzes Stück nähergekommen. Das gilt umso mehr, als die Forschung da, wo Gottfried sich darauf beschränkt, seinen Rezipienten einen (freilich äußerst komplexen) Eindruck vor Augen zu halten, die Art des Zusammenhangs zwischen Gesagtem und Gemeintem, zwischen der konkreten Handlung und dem ‚thesenhaft‘ in ihr aufscheinenden Gedanken sehr viel deutlicher hervortreten lässt. Im Zuge dessen konstatiert sie nicht allein den Umstand der ‚thematischen Überfremdung‘ - der hier ganz allgemein daraus erhellt, dass das Geschehen der Exemplifikation einer allgemein zu formulierenden These dient -, sondern sie hält auch fest, welches Thema es ist, das über die Welt des ‚Erec‘ herrscht; und sie arbeitet nicht zuletzt eine ganze Reihe von literarischen Verfahren heraus, mit denen dieses Thema im Text ‚überfremdend‘ wirksam wird. Im Zentrum des ‚Erec‘ steht demnach, wie schon erwähnt, die Frage danach, wie der Einzelne seine Bedürfnisse mit den Anforderungen der Gemeinschaft vereinbaren kann, und er entwickelt diese Frage dadurch, dass er sie im mehrfachen Durchlaufen einer Reihe von Handlungsstationen (hier wird die thematisch-sinnhaft ‚ausrichtende‘ Wirkung der Wiederholung deutlich) narrativ diskutiert und schließlich einer Lösung zuführt. Seine ‚Künstlichkeit‘ springt in diesem Zusammenhang insbesondere mit Blick auf die handelnden Figuren ins Auge. Diese erscheinen, so hat man immer wieder betont, insofern nicht ‚echt‘ - also nicht lebensnah bzw. individuell -, als alles, was sie tun und was ihnen widerfährt, vor allem als Funktion der narrativ elaborierten Problemverhandlung verstanden werden muss. Aus diesem Grund dürfe man etwa Erecs und Enites verligen nicht als schuldhaftes Versäumnis ihrer gesellschaftlichen Pflichten und ihren Aventiureweg nicht als psychologischen Lern- und Entwicklungsprozess begreifen, sondern müsse beides als Ausdruck eines Arrangements ansehen, mit dessen Hilfe verschiedene allgemein-thematisch zu fassende Momente - Erecs Rittertüchtigkeit, Enites Schönheit, ihre Gemeinschaft als Paar, ihr höfischer Rang etc. - einem geregelten Verlauf zugeordnet und am Ende in 23 In Rückgriff auf mein Theoriekapitel (II.1) zitiere ich nochmals Haferland / Schulz (2010, S. 13). 24 Entsprechend variieren die Aussagen der Forschung in diesem Punkt - bei gleicher Grundtendenz - z.T. erheblich. Kuhn selbst verzichtet wohlweislich darauf, die These des ‚Erec‘ explizit zu benennen. Er sieht sie wohl in der Erprobung von Rittertüchtigkeit und (tugendhafter) Schönheit (vgl. 1948 / 1969, S. 149). Ruh formuliert pointierter (und nur auf die männliche Handlungsrolle bezogen), es gehe um „die Selbstverwirklichung des höfischen Ritters auf bestimmter Bahn“ (1967 / 1977, S. 117), und Mertens expliziert (für den Roman Chrétiens) so: „Erec muß […] zeigen, daß Liebe und dauernde ritterliche Bewährung miteinander vereinbar sind“ (1998, S. 31). 25 Zu dieser Deutungsoption etwa Mertens, ebd., S. 38 f. Der Weg als Problemverhandlung 167 einer Weise miteinander verknüpft werden, die zugleich für den Status höfischer Vollkommenheit und den Sinn des Textes steht. 26 Die Frage, die im Zusammenhang meiner Überlegungen hieran anschließt, lautet weniger, warum, und wohl auch gar nicht so sehr, inwiefern der ‚Erec‘ als paradigmatischer Vertreter eines spezifisch ‚künstlichen‘ Sinnbildungstyps zu gelten hat: Dass dessen Beschreibung nicht nur vollkommen auf ihn zutrifft, sondern in Ansätzen schon von zeitgenössischen Dichtern formuliert wurde, dürfte bis hierher deutlich genug geworden sein. Was man sich gerade deshalb an dieser Stelle sehr viel eher fragen wird, ist vielmehr, was der von mir formulierte Ansatz dem Verständnis von Hartmanns Roman - abgesehen von einer Reihe neuer Termini und narratologischer Wendungen - eigentlich noch hinzuzufügen vermag. Dass die in den nächsten Abschnitten folgende Textanalyse de facto alles andere unternimmt, als alten Wein in neue Schläuche zu gießen, sprich: die hinlänglich bekannte Lesung in der Beschreibungssprache meines Modells ‚künstlicher‘ Sinnbildung zu wiederholen, bedarf insofern der Begründung. Um sie zu geben, hole ich noch einmal etwas weiter aus, wobei ich insofern auf die Prämissen meiner theoretischen Überlegungen zurückgreife, 27 als ich darauf aufmerksam machen möchte, dass man den entscheidenden Punkt nicht zu fassen bekommt, wenn man die ‚künstliche‘ Faktur des Textes als eine in erzählweltliche ‚Oberfläche‘ und semantische ‚Tiefe‘ separierte in den Blick nimmt. Das Problem ist in der ‚Erec‘-Forschung exemplarisch zu beobachten: Obwohl die in älteren Studien erarbeitete strukturalistische Darstellung des Zusammenhangs von Form und Sinn schon seit Jahren in der Kritik steht und zuletzt immer wieder als obsolet bezeichnet wurde, ist es bisher nicht gelungen, sie überzeugend zu ersetzen. Dass man der Textanalyse bis auf den heutigen Tag wie selbstverständlich die (strukturalistische) Unterscheidung zwischen Erzählung und erzählter Welt, sowie, damit einhergehend, von thematisch-semantischer Struktur und dargestelltem Geschehen zugrundelegt, ist gewiss nicht der einzige, aber doch zumindest ein maßgeblicher Grund für diesen Befund. Denn es bewirkt, dass man sich den Blick auf das gedankliche Prinzip der im erzählten Geschehen vollzogenen Problemverhandlung geradezu verbaut. Die folgenden Ausführungen verstehen sich in diesem Sinne als Versuch, ausgehend von einer kritischen Rekapitulation zweier zentraler Forschungsbeiträge noch einmal in Erinnerung zu rufen, wo die Schwierigkeit ihres Zugriffs liegt, um auf dieser Basis verständlich zu machen, worin sowohl die Neuerung als auch die Leistung des von mir vorgeschlagenen Analyseverfahrens besteht, ja mehr noch: warum der Perspektivwechsel, den es impliziert, nicht nur sinnvoll, sondern im Bemühen um ein historisch angemessenes Verständnis des ‚Erec‘ auch notwendig ist. In Bezug auf meine Modellierung ‚künstlicher‘ Sinnbildung geht es dabei um die Frage nach dem Verhältnis von Thema und Handlung, oder genauer: um die Frage danach, wie es Hartmann gelingt, sein (zugleich gedanklichabstraktes und allgemeines) Thema: das schwierige Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, so in konkrete Handlung zu überführen, dass sein Text (kristall-)klar als ‚Thesenroman‘ erscheint. Im Zentrum meiner Überlegung steht mithin der der ‚Modus der Regierung‘, und die Aufgabe besteht darin, sowohl ihn selbst als auch die Weise, in der er das erzählte Geschehen beherrscht, präziser zu fassen. 26 Ich greife in diesem Absatz zentrale Positionen der Forschung auf und beziehe sie auf meine Beschreibung ‚künstlicher‘ Sinnbildung. Vgl. bes. Kuhn 1948 / 1969, S. 149 f., Haug 1971, S. 669 f., Ruh 1967 / 1977, S. 113 f. 27 Vgl. bes. Kap. II.2.2. 168 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Zunächst also zu den Arbeiten von Walter Haug und Hugo Kuhn, auf deren für die gegenwärtige Auffassung der Sinnstruktur des höfischen Romans maßgebliche Rolle ich bereits in meiner Einleitung hingewiesen habe. 28 Das Bild, das sie von dem im ‚Erec‘ vorliegenden Verhältnis von Thema und Handlung zeichnen, gestaltet sich kurz gesagt wie folgt: Dem Text liegt ein thematisches Substrat zugrunde, das mit Hilfe eines musterhaft vorgeprägten Handlungsablaufs - in Haugs Worten: dem „Wegschema“ 29 - in die erzählte Welt hineinprojiziert wird. Die Verbindung zwischen handlungshafter ‚Oberfläche‘ und semantischer bzw. axiologischer ‚Tiefe‘ wird dabei Haug zufolge durch einen Akt der Transformation gewährleistet, der die thematischen Positionen des Schemas Punkt für Punkt in die erzählte Welt abbildet. Haug spricht diesbezüglich davon, dass „das Problem symbolisch-programmatisch über das Wegschema ausgetragen“ werde. 30 Hugo Kuhn geht in seiner Modellierung des „Doppelwegs“ bzw. „doppelten Kursus“ 31 zwar noch nicht ganz so weit, doch bereitet er die strukturalistische Interpretation, die Haug der Komposition ‚Erec‘ unterlegt, bereits in wesentlichen Punkten vor. 32 Er beschreibt das Erzählen des ‚Erec‘ pointiert als einen Prozess, der darauf zielt, Rekurrenzen der Handlung (doppeltes Räuberabenteuer, mehrmalige Einkehr am Artushof etc.) zunächst auf ein bestimmtes Thema zu beziehen (Minne, Rittertum, Ehre etc.) und dessen Modulationen (‚freudig‘ vs. ‚freudlos‘ etc.) dann zu einer axiologischen Linie zu verbinden, die zugleich von der erzählten Handlung abgehoben und (symbolisch) an diese zurückgebunden ist. 33 Die Bewegung, die Erec und Enite vollführen, wird also in Kuhns Darstellung durch einen Akt der Abstraktion (zu dem der Rezipient durch die auffällige Wiederholungsstruktur angeregt wird) auf eine allgemeine Wertentwicklung hin lesbar: Obwohl die Protagonisten tatsächlich nur in der Raumzeit der erzählten Welt hin und her laufen, scheint es doch, als würden sie von einem neutralen Ausgangszustand aus zweimal zunächst in den Abgrund sozialer Rang- und Wertlosigkeit stürzen und dann wieder zur „Höhe eines idealen, vom Artushof in breiter höfischer Repräsentation bestätigten Musterpaars“ emporsteigen. 34 Haug greift diesen Gedanken auf und transponiert ihn dadurch, dass er das ihm implizierte Kausalverhältnis von Handlung und thematischem Verlauf umkehrt, in jene ‚Symbolstruktur‘, die ihm zufolge den Handlungsverläufen des chrétien-hartmannschen Artusromans generell voraufgeht. In Haugs Darstellung ist es also nicht mehr die konkrete Handlung, die im Modus der Abstraktion auf einen doppelt ablaufenden, werthaft-moralischen Ab- und Wiederaufstieg des Protagonisten bezogen wird, sondern dieser werthaft-moralische Ab- und Wiederaufstieg ist der Handlung dergestalt vorgelagert, dass sie 28 Kuhn 1948 / 1969, Haug 1971. 29 Haug 1971, S. 670. 30 Ebd. 31 Kuhn bezeichnet beide Phänomene als „doppelten Kursus“ (1948 / 1969, S. 147). In der Nachfolge Fromms, der den (in der Literatur des Mittelalters weit verbreiteten) zweigliedrigen Handlungsgang „Doppelweg“ nennt (1969), hat man zuletzt vorgeschlagen, für den ‚Erec‘ zwischen der Zweiteilung des Gesamttextes (‚Doppelweg‘) und der nochmaligen Untergliederung des zweiten Handlungsteils (‚doppelter Kursus‘) zu unterscheiden (so Lieb 2009, S. 193 f.). Nicht unerwähnt gelassen sei, dass Kuhn seinerseits auf ältere Beobachtungen zur Zweiteiligkeit des Erzählens bei Chrétien zurückblickt: Vgl. Kellermann 1936, S. 7-19, Bezzola 1961. 32 Ähnlich Simon 1990, S. 1 f. 33 Kuhn selbst bezeichnet diesen Zusammenhang nicht als symbolisch; das Prinzip der Zuordnung von erzählweltlicher Handlung und axiologischer Bewertung entspricht jedoch im Wesentlichen dem haugschen Konzept. 34 Kuhn 1948 / 1969, S. 147. Der Weg als Problemverhandlung 169 im Grunde nur noch als seine narrative Ausformulierung erscheint. Als das „ästhetische Prinzip“ des chrétien-hartmannschen Artusromans hat demnach ein poetisches Verfahren zu gelten, bei dem das erzählte Geschehen „thematisch prägnant eingesetzt“, das heißt: auf eine abstrakt vorgelagerte Motiv- und Wertungsverknüpfung appliziert wird. 35 Die Handlung des ‚Erec‘ - und aller anderen Romane seines Typs - erhält ihren „Sinn“ darum jetzt, anstatt vom Geschehen selbst, allein vom „Stellenwert“ des jeweils erzählten Ereignisses in einem „Schema, [auf dessen] strukturelle Position [es sich] symbolisch […] be[zieht].“ 36 Die Handlung ist sinnvoll nur noch in ihrer Eigenschaft als Realisation eines gattungsübergreifend wirksamen thematischen Verlaufs. Die Problematik einer konsequenten Trennung von erzählweltlicher ‚Oberfläche‘ und thematisch-semantischer ‚Tiefe‘ ist hier mit Händen zu greifen: Je mehr man unter ihrer Voraussetzung das thematische Moment betont und es in Gestalt der ‚These‘ oder des ‚sinntragenden Schemas‘ als die das Erzählen wesentlich bestimmende Kraft bezeichnet, desto unwichtiger erscheinen zwangsläufig sowohl die Details des individuellen Textes als auch die konkret-erzählweltliche Verknüpfung der dargestellten Handlung, was, wie Elisabeth Schmid völlig zurecht beklagt hat, fast unweigerlich im Eindruck resultiert, dass der „Interpret[] den Roman als eine - von jeder narrativen Vermittlung unbehelligte - Anordnung von Themen präsentiert, statt [seinen] Lesern eine intelligente Textlektüre zu unterbreiten“. 37 Der Blick auf den der Narration zugrundeliegenden Gedankengang lässt also mit der ‚Textoberfläche‘ nicht zuletzt deren ästhetische Faktur verschwinden und damit das in den Hintergrund treten, was die Dichtung als Kunstform ausmacht: die Eigenschaft, ihren Sinn als einen, wenn auch deutlich erkennbaren, so doch immer sich entziehenden und zur Interpretation herausfordernden zu präsentieren. Allein: Was ist die Alternative? Soweit ich sehe, hat die Forschung auf diese Frage bisher zwei Antworten gegeben. Unbefriedigend sind sie meines Erachtens beide: die erste, die Schmid pointiert in die Forderung „weg mit dem Doppelweg“ fasst, 38 weil sie zwar den Blick wieder für die Details der Handlung öffnet, dabei aber zumindest Gefahr läuft, mit der Komponiertheit der Texte auch deren flagrante Sinnausrichtung auszublenden; und die zweite, die sich mit einer Modifikation oder Teilrevision des Doppelwegmodells begnügt, 39 weil sie notwendigerweise Schwierigkeiten hat, sich von dessen Implikationen zu lösen. 40 Wie schwierig der Neuansatz tatsächlich ist, wird vielleicht gerade da am deutlichsten, wo man versucht, die thematische Bestimmtheit des ‚Erec‘ zwar zu konzedieren und interpretativ auszuwerten, sie aber zugleich in ein anderes Verhältnis zur Handlung zu setzen 35 Haug 1971, S. 668-675, hier S. 668 und 673. Simon formuliert diese Position (im Anschluss an Kellermann 1936) pointiert so, dass hier „die Handlung vor dem Handlungsträger da ist“ (1990, S. 18). 36 Haug 1971, S. 668. 37 Schmid 1999, hier S. 81. 38 So der programmatische Titel der Studie 1999. 39 So hat man etwa die gattungsbestimmende Rolle der Doppelwegstruktur hinterfragt oder die ideologische Besetzung des Schemas variiert: Wolfzettel weist darauf hin, dass der Doppelweg kein festes Schema sei, sondern nur als eine Variante allgemeiner Formen der Handlungsdoppelung zu gelten habe (1999, bes. S. 141); Wild lotet die Möglichkeiten der Handlungsdoppelung im frühneuzeitlichen Roman aus (1999) und Bauschke definiert die symbolstrukturell (vermeintlich) vorgegebene Idealität des Artushofs in Bezug auf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft um (2014, bes. S. 237). 40 Wie sehr Kuhn und Haug die Forschung noch immer prägen, belegt der Überblick bei Bauschke 2014, S. 225-227. Die romanistische Forschung, die für Chrétien von vornherein andere Wege gegangen ist (überblickend dazu Burrichter 1999), bleibt weitgehend ohne Echo: Der Vorstoß, den Bumke in diese Richtung unternommen hat (2006, S. 73-77), steht vereinzelt. 170 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ als in das von Haug postulierte symbolstrukturelle. Den bisher einzigen mir bekannten Vorstoß in diese Richtung hat Ludger Lieb in seiner unveröffentlichten Habilitationsschrift unternommen: 41 Sie ist im Zusammenhang meiner Überlegungen nicht zuletzt deshalb interessant, weil es ihr auf der Basis einer von der Handlungsebene ausgehenden, induktiven Analyse der Handlungswiederholungen gelingt, eine Gliederung des ‚Erec‘ zu erstellen, die im Einzelnen weitaus überzeugender ist als die Kuhns. 42 Nicht minder aufschlussreich ist freilich, dass ihr induktives Verfahren gleichwohl wenig geeignet scheint, die thematische Valenz der Wiederholung in eine plausible Deutung zu überführen. 43 Spätestens, wenn Lieb das Phänomen der Wiederholung, um seine strukturbestimmende Funktion zu deuten, in den Rahmen eines institutionalisierungstheoretischen Modells stellt, zeigt sich: Auch er vermag die repetitive Anlage des ‚Erec‘ letztlich nur zu interpretieren, indem er sie auf eine außerhalb ihrer selbst liegende Idee projiziert. Dass er diese Idee in der Darstellung eines Institutionalisierungsprozesses erblickt, der die Wiederholung zum eigentlichen Thema des Textes werden lässt, 44 mag dabei zwar ein reizvoller Gedanke sein; ein grundlegend anderer als der von Kuhn und Haug verfolgte ist es jedoch nicht: Er beschränkt sich darauf, das interpretative Verfahren von ‚Doppelweg‘ und ‚Symbolstruktur‘ auf eine selbstreflexive Metaebene zu heben. Was der Blick auf die an Haug und Kuhn anschließende Forschung lehrt, ist damit vor allem dies: Die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Thema und Handlung ist nach wie vor offen. Denn dass in Hartmanns Text ein Thema diskutiert wird, das mit der schwierigen Vereinbarkeit von Einzelnem und Gemeinschaft hinlänglich genau umrissen ist, wird man ebenso wenig bestreiten wollen wie den Umstand, dass der Weg der Protagonisten und das Moment der Wiederholung für diese Diskussion eine (sinn-)tragende Rolle spielen; - den ‚Doppelweg‘ gänzlich zu beseitigen, ist also keine ernstzunehmende Option. Ihn beizubehalten scheint aber ebenso wenig akzeptabel, da ihn auf die thematische Diskussion zu beziehen, ohne diese als ein dem Text nur aufgesetztes und seine ästhetische Faktur bis zu einem gewissen Grad vergewaltigendes Moment zu verstehen, unmöglich erscheint. In die hier sich abzeichnende Aporie springt mein Modell ein, indem es behauptet, dass diese sich ganz einfach auflösen lasse, wenn man nur von der Annahme abrückt, dass die thematische Diskussion des ‚Erec‘ auf einer von seiner Handlung abgehobenen Ebene stattfinden würde. Was sich unter dieser Voraussetzung ändert, wird wohl am leichtesten ersichtlich, wenn man die zentralen Aussagen Kuhns und Haugs einfach wörtlich nimmt. Der ‚Erec‘ wäre demzufolge ein Thesenroman, weil er den Weg seines Protagonisten (und nicht etwa ein Weg s c h e m a) - ganz konkret - als narrative Problemverhandlung konfiguriert. Das heißt: Dieser Weg symbolisiert weder eine außerhalb seiner selbst liegende Idee höfischer Vervollkommnung, noch transponiert er sie von der Ebene einer ihm vorangehenden Bedeutung an die ‚Oberfläche‘ des Erzählens, und schon gar nicht nimmt er ihre 41 Lieb 2002. Ich danke Ludger Lieb für die Möglichkeit der Einsicht in das Manuskript. 42 Ich formuliere das auch vor dem Hintergrund meiner eigenen Überlegungen, die Liebs Gliederung im Ergebnis bestätigen. Zusammenfassend ebd., S. 19 f., vgl. auch Lieb 2009, S. 194-197. 43 Lieb grenzt seine Untersuchung programmatisch auf Wiederholungsphänomene der Handlungsebene ein (Lieb 2002, S. 9). Wie sich seine Darstellung der strukturbestimmenden Funktion des Themas (das ja eine von der Handlungsebene abstrahierte Kategorie ist) dazu verhält (vgl. ebd., bes. S. 123-126), wird nicht ganz deutlich. 44 Weil er nach dem Prinzip der bestätigenden und negierenden Wiederholung Geltendes setzt und durchsetzt (bzw. aufhebt). Grundsätzlich dazu ebd., S. 4-9. Der Weg als Problemverhandlung 171 Herleitung in Form einer schematischen Anordnung von Themen vorweg. Wenn Erec zum Status höfischer Vollkommenheit voranschreitet, so geschieht das vielmehr ganz dezidiert in einer Handlung, in der jede Episode und jede Aktion eine aktive Auseinandersetzung mit dem Antagonismus zwischen dem Einzelnem und der Gemeinschaft nicht b e d e ut et , sondern i s t . Dass diese Lesung den Eindruck der ‚Künstlichkeit‘ noch stärker hervortreten lässt, als es bei Kuhn und Haug der Fall war, ist zwar ebenso unverkennbar wie der Umstand, dass sie eine ganze Reihe weiterführender Fragen etwa hinsichtlich der (nicht zuletzt psychischen) Beteiligung der Figuren an der thematischen Entfaltung evoziert. 45 Daneben ist jedoch auch deutlich, dass sie das zentrale Problem von ‚Doppelweg‘ und ‚Symbolstruktur‘ zum Verschwinden bringt: Wenn der Text nicht Projektion, sondern materiale Konkretion der in ihm gestalteten Problemverhandlung ist, dann ist ihm diese nicht aufgesetzt, sondern wird in ihm vollzogen. Das bedeutet zugleich, dass die thematische Verhandlung in ihrem gedanklichen Verlauf nicht mehr ‚hinter‘ oder ‚unter‘, sondern ‚im‘ Text zu greifen ist: an der ‚Oberfläche‘ seines narrativ ausformulierten Geschehens. Und es bedeutet weiter: Der Text muss, um den in ihm konfigurierten Gedanken greifbar zu machen, vom Interpreten in allen Details seiner ästhetischen Gestaltung betrachtet und gedeutet werden. Hinzuzufügen ist, dass die Idee eines Zusammenfalls von erzählweltlicher Handlung und thematischer Problemverhandlung in einen einzigen, einheitlichen Vorgang, so merkwürdig sie aus modern-narratologischer Sicht auch anmuten mag, 46 geradewegs in den Horizont der mittelalterlichen Poetik zurückführt. Wenn der Weg des Protagonisten hier buchstäblich zum ‚Gedanken-Gang‘ wird, so deutet das insbesondere auf das in Rhetorik und Dichtung gleichermaßen zu beobachtende Verfahren hin, zentrale Termini und textkonstitutive Operationen in ihrem metaphorischen Gehalt aufzufassen und metaphorisch realisierend in Handlungen zu übersetzen. 47 Auf diese Weise werden z. B., wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, Dichter zu Handwerkern, die ihre Materie bearbeiten, indem sie Worte zu Texten verweben und sie im Zuge dessen polieren, färben und schmücken. 48 In genau derselben Manier wird der Topos zum ‚Ort‘, den man kennen muss, wenn man die passenden Argumente auffinden will ( invenire ); und genau so wird schließlich die inventio eines argumentativen Gedankengangs 49 zu einem ‚Weg‘, 50 den derjenige, der ihn hin- und 45 Man könnte wohl mit einigem Recht sogar sagen, dass die Figuren ihren Protagonistenstatus ans Thema abgeben - dies freilich nur, um die Aufmerksamkeit der Lektüre heuristisch auf die thematische Ebene des Erzählens zu lenken. Dass die Figurenanalyse ein wichtiges textanalytisches Instrument bleibt, soll damit nicht bestritten werden, was umso mehr gilt, als die Figuren keineswegs völlig in ihrer Funktion aufgehen. Vgl. dazu die folgende Textanalyse. 46 Merkwürdig ist sie nicht zuletzt, weil sie die Unterscheidung von konkretem Darstellen und begrifflich-abstraktem Denken überspringt, die in der Epistemologie der Neuzeit (so etwa auch bei Cassirer) die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft markiert. Vgl. dazu Kap. I.2.1.1. 47 Die Umsetzung metaphorischer Rede in dargestellte Wirklichkeit, insbesondere in Handlungen, unterscheidet die metaphorische Realisierung von dem (in Redekontexten zu verortenden) Wörtlichnehmen von Metaphern. Im Fall der hier beispielhaft genannten (poeto-)rhetorischen Metaphern ist insofern mit einem Übergangsphänomen zu rechnen: Im Sinne des Begriffs ‚realisiert‘ - also als Handlungen ausgeführt - werden können Metaphern erst in größeren narrativen Zusammenhängen. Zum Konzept der realisierten Metapher grundlegend Ruberg 1976; eine fundierte methodische Reflexion mit weiterführenden Hinweisen findet sich bei Wessel 1984, S. 195-214. 48 Vgl. Kap. III.2.1. 49 Allgemein nachzuvollziehen ist der Zusammenhang bei Lausberg 1960 / 2008, § 260. 50 Die Wegmetapher steht z. B. bei Geoffrey von Vinsauf geradezu leitmotivisch für die Anordnung des Materials. vgl. etwa GPN 87 ff., 206 ff. u. ö. 172 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ herlaufend ( discurrere ) absolviert, zu einem - er ö r t ernden 51 - Diskurs gestaltet. Die poetische Relevanz, die dieser Gedanke für die Dichtung der Zeit und ganz besonders für den Artusroman gehabt haben könnte, deutet sich prägnant in einer älteren Studie Friedrich Ohlys an, in der er auf die Parallelen zwischen dem Motiv der Suche ( queste ) und dem wahrheitssuchenden Verfahren der Scholastik ( quaestio ) hinweist. Denn, so Ohly: „Der Mensch, sein Weg durch Raum und Zeit und der gesuchte Sinn sind in der Suche eine Einheit.“ 52 Frage und Suche fallen zusammen im Worte quaestio , afrz. queste . […] Die quaestio als Methode der Hochscholastik hat ihr Analogon in der Dichtung […], wo die dialektische Methode systematisch einkreisender Frage vor das Ziel führt. Des Jahrhunderts Kennzeichen, daß nicht allein die Sucher auf dem Weg durch Raum und Zeit sind, daß auch die Wahrheit nicht mehr feststeht, sondern sich verbirgt und sich entzieht […], macht unermüdliche Frage […] zum Gebot, um dialektisch an das Ziel der Suche, die conclusio, zu gelangen. 53 Man muss Ohly nicht einmal ins intellektuelle Umfeld der Hochscholastik folgen: Der Schritt hin zur ‚trivialen‘ Schulrhetorik reicht völlig aus. In diesem Sinne wäre davon auszugehen, dass die Thesenhaftigkeit des ‚Erec‘ - und nur um ihn soll es vorerst gehen 54 - dem Umstand geschuldet ist, dass Hartmann das dem Text zugrundeliegende Problem (vielleicht angeregt durch Darstellungen der inventio in rhetorischen Lehrbüchern) sozusagen argumentativ denkt und die daraus sich ergebende gedankliche Bewegung im Weg seines Protagonisten narrativ umsetzt. Aus dem so bezeichneten Verfahren einer argumentativen Narration würde sich dann weiter eine einleuchtende Begründung sowohl für die Einheit von Thema und Handlung als auch für die dienende Rolle des Protagonisten ergeben: Wenn man annimmt, dass Erec zu Beginn der Erzählung vor ein Problem gestellt wird, das er dann von Station zu Station - bzw. ‚Ort‘ zu ‚Ort‘ - voranschreitend (argumentativ) ‚erörtert‘, dann erscheinen in diesem ‚Diskurs‘ nicht allein erzählweltliche Bewegung und thematische Entfaltung als miteinander identisch. Vielmehr wird der Protagonist als derjenige, der das Problem ‚traktiert‘ (oder mit sich herumschleppt: tractare ) 55 auch im wahrsten Sinne des Wortes zum Problemträger, - wobei er, wie hinzugefügt werden kann, dem Text gleichsam die Form eines Traktats verleiht. Dass in dieser Konstellation kaum noch sinnvoll zwischen erzählter Welt ( histoire ), Erzählung ( discours ) und Erzählerrede ( narration ) unterschieden werden kann, ist evident. Ihre Verbindung manifestiert sich in der vielbesprochenen Macht der Aventiure, 56 die Erec von einer Station seines Weges zur nächsten 51 Das Wort ‚erörtern‘ entstammt als neuzeitliche Ableitung demselben gedanklichen Zusammenhang. 52 Ohly 1965, S. 172. Ohly verweist an dieser Stelle zwar nicht explizit auf die realisierte Metapher; was er beschreibt, entspricht aber exakt dem in der Forschung so benannten Phänomen. 53 Ebd., S. 180. In vergleichbarer Tendenz formuliert zuletzt Hübner: „Das demonstrative Durchspielen der Folgen konfligierender Handlungsvoraussetzungen und -ziele in Handlungssituationen, deren Künstlichkeit eine fast schon analytische Funktion signalisiert, begründet die Neigung höfischer Romane zum kasuistischen Erzählen und evoziert nicht selten den Eindruck eines narrativen Pendants zur dialektischen quaestio “ (2014, S. 449). Ähnlich Scheuer 2003, S. 125 f. 54 Ähnliche Phänomene in anderen Texten Hartmans wären zu ergänzen. Besonders auffällig ist diesbezüglich gewiss die ‚Klage‘ (dazu bes. Köbele 2006); der Übergang von Erzählen in Argumentation scheint aber auch in den Streitgesprächen des ‚Iwein‘ auf (man denke an den Disput des Erzählers mit Frau Minne, HI 2971-3028 und seinen Exkurs über Liebe und Feindschaft, HI 7015-7054). Das Phänomen des narrativierten Disputs ist, soweit ich sehe, bisher nur für den ‚Gregorius‘ interpretativ ausgewertet worden, dazu Becker 2010. 55 Zum rhetorischen Begriff bes. Lausberg 1960 / 2008, § 1104-1106. 56 Dazu grundlegend Köhler 1965 / 1970, S. 66-88; einschlägig für die jüngere Forschung Schnyder 2002. Der Weg als Problemverhandlung 173 geleitet und die sich darin als der erzählweltliche Arm einer Instanz geriert, die die Elemente der dargestellten Welt mit dialektischem Kalkül so anordnet, dass sie als Schritte in einer Beweisführung fungieren. Insgesamt entsteht so eine Erzählung, in der die narrative Abfolge von Anfang, Mitte und Schluss - ebenso wie der erzählweltliche Nexus von Raum, Zeit und Kausalität - durchweg von den Regeln des Thesen- und Prämissensetzens, des Definierens, Differenzierens und Konkludierens überformt ist. Spätestens an dieser Stelle sollte verständlich geworden sein, warum ich meinen Zugriff in Bezug auf Hartmanns Text für historisch angemessener halte als alle Ansätze einer strukturalistisch inspirierten bzw. ‚symbolstrukturellen‘ Deutung. Wie wenig eine solche tatsächlich dazu in der Lage ist, den entscheidenden Punkt zu fassen, zeigt sich vielleicht nicht zuletzt darin, dass keine der auf den Prämissen des Strukturalismus beruhenden Forschungsarbeiten je auch nur andeutungsweise versucht hat, die Wiederholungsstrukturen des ‚Erec‘ argumentativ auszulegen: und zwar wohlgemerkt, obwohl sie ihm implizit immer wieder argumentative Valenz zuschreiben. Wenn sie ihn einen Thesenroman nennen und sein Anliegen als Problemverhandlung o. ä. bezeichnen, ohne sein narratives Verfahren auf die Methode zurückzuführen, die man im Mittelalter nun einmal für das thesenhafte Aushandeln schwieriger Probleme verwendete, dann scheinen sie deshalb in gewisser Weise mit sehenden Augen blind. Sie bemerken das dem Text zugrundeliegende Denkmuster, können es aber nicht interpretativ verwerten, weil sie nicht dazu in der Lage sind, es in seiner Bedeutung für den Aufbau und die Beschaffenheit nicht nur der Erzählung, sondern auch der erzählten Welt zu verstehen. Kurzum: Weil sie die Argumentation nicht als ‚regierenden Modus‘ begreifen, bleibt ihnen ein wesentlicher Aspekt von Hartmanns Sinnbildungsverfahren verborgen. Ich fasse zusammen. Was mein Modell neu in die Deutung des ‚Erec‘ einführt, ist die Idee, seine ‚thesenhafte‘ Anlage n ic ht als eine Anordnung von Themen zu begreifen, die zwar in seinem Geschehen konfiguriert ist, sich aber erst auf einer von diesem abgehobenen Ebene zu dem gedanklichen Verlauf verbinden lässt, der den Sinn des Textes generiert. Stattdessen gehe ich davon aus, dass diese Verbindung ebenfalls im Geschehen stattfindet, was impliziert, dass dieses sich schon in seiner erzählweltlichen Verknüpfung als (thesenhafte) Diskussion des ihm ideell zugrundeliegenden Problems gestaltet: dass es also, wie in meiner Terminologie zu sagen ist, von jenem Denkmuster des Aufstellens und Abwägens von Thesen ‚regiert‘ und ‚überfremdet‘ wird, das mit dem der Argumentation zu bezeichnen im (literatur-)geschichtlichen Kontext des ‚Erec‘ zumindest naheliegt. Die Richtung meines Zugriffs ist dem der älteren Forschung - insbesondere dem Walter Haugs - damit zwar darin vergleichbar, dass auch ich den ‚Erec‘ unter dem Aspekt des in ihm realisierten Gedankens in den Blick nehme. Meine Perspektive ist aber gleichwohl insofern eine andere, als ich diesen Gedanken nicht als einen unabhängig vom Text und gar in irgendeinem schematischen Verlauf objektiv daseienden betrachte, sondern ihn einzig und allein als einen im Text gebundenen, in ihm (genauer: in seinem konkret erzählten Geschehen) entwickelten und aus ihm hervorgehenden anspreche. Wie sehr mein Blick auf den ‚Erec‘ damit im Zeichen der ‚Künstlichkeit‘ steht, deutet sich in dieser Formulierung bereits an, wird meinen Lesern aber dennoch wohl erst im Zuge der folgenden Textanalyse völlig bewusst werden. Denn die Idee, die queste des Protagonisten als eine quaestio zu verstehen und seinen Stationenweg infolgedessen als einen inventiven ‚Diskurs‘, in dessen Verlauf er sich von ‚Ort‘ zu ‚Ort‘ bzw. Argument zu Argument voranschreitend (‚erörternd‘) mit einem ihm narrativ aufgegebenen Problem auseinandersetzt, 174 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ mag zwar, wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat, durchaus einleuchtend erscheinen. Sie als die den Verlauf des handlungsweltlichen Geschehens tatsächlich bestimmende zu erkennen und zu beschreiben, bleibt aber gleichwohl eine Herausforderung. Das gilt nicht nur, weil eine solche Lektüre modernen Lesegewohnheiten widerspricht, sondern ganz allgemein auch deshalb, weil ‚Handlung‘ und ‚Verhandlung‘: die Darstellung eines erzählweltlichen Geschehens und das Verfolgen eines argumentativen Gedankengangs, nun einmal zwei gänzlich verschiedene Prozesse sind, 57 die insgesamt aufeinander abzubilden - und in der Rezeption: gedanklich aufeinander zu beziehen - alles andere als einfach ist. Die vielleicht wichtigste Aufgabe der nächsten Abschnitte besteht demzufolge darin, in einer möglichst nah am Text bleibenden Darstellung (denn alles andere würde zwangsläufig wieder den Verdacht des deduktiven Hineininterpretierens hervorrufen) aufzuzeigen, wie Hartmann die ‚Erec‘-Handlung argumentativ lesbar macht; durch welche Signale und Darstellungsweisen er also darauf hindeutet, dass das, was man zunächst - um es vereinfacht auszudrücken - für einen bloßen Bericht aus dem Leben des Artusritters Erec halten könnte, ‚eigentlich‘ eine Diskussion der Frage nach der Vereinbarkeit der Ansprüche des Einzelnen mit denen der Gemeinschaft ist. Die weltbestimmende Macht der Aventiure spielt in diesem Zusammenhang zweifellos eine tragende Rolle, noch wichtiger scheint es mir indes, in einem möglichst kleinteiligen Vorgehen die Fülle von narrativen Techniken und Formzügen aufzuweisen, deren Hartmann sich systematisch bedient, um das erzählte Geschehen argumentativ geradezu aufzuladen. An dieser Stelle kommen meine ‚Modi der Ausrichtung‘ als jene Verfahren ins Spiel, die dafür verantwortlich sind, die einzelnen Bestandteile der Erzählung so zu gestalten, dass sie insgesamt auf den in ihr sinnhaft zum Ausdruck kommenden Gedanken verweisen. Da sie in ihrer Gesamtheit zu betrachten praktisch unmöglich sein dürfte, beschränke ich mich auf die mir besonders wichtig erscheinenden Formzüge, welche zugleich diejenigen sind, in denen die ‚Künstlichkeit‘ des Erzählens am stärksten zum Vorschein kommt. So wird zu zeigen sein, dass Brüche in der kausalen und psychologischen Motivation mehrfach gezielt gesetzt sind, um die ‚dahinterliegende‘ Argumentationslogik aufzuweisen. Vor allem aber möchte ich herausarbeiten, in wie vielfältiger Weise das Moment der Wiederholung argumentativ wirksam wird: in Form von thematischen Repetitionen, die im Medium der Variation gedankliche Entwicklungen anzeigen; darüber hinaus ganz massiv aber auch in Form von Spiegelungen und Verdichtungen, deren Funktion nicht zuletzt darin besteht, auf das Moment der Bedeutungsübertragung selbst hinzuweisen und mit ihm auf den Umstand aufmerksam zu machen, dass die Handlung des ‚Erec‘ insgesamt etwas ‚be-deutet‘, das zwar in ihr zum Ausdruck kommt, ihr selbst aber implizit bleibt. Abschließend ergänzt sei, dass in diesem Zusammenhang auch jener Wiederholungsstruktur, die Hugo Kuhn als ‚Doppelweg‘ bzw. ‚doppelten Kursus‘ beschreibt, eine neue Bedeutung zukommt. Fasst man das erzählte Geschehen des ‚Erec‘ nämlich in seiner argumentativen Valenz in den Blick, so springt die Übereinstimmung der einzelnen Abschnitte des Doppelwegs sowohl mit den Teilen einer klassisch-rhetorisch disponierten Rede als auch mit ihrer Funktion direkt ins Auge. 58 Ich nehme diese Beobachtung zum Anlass für 57 Deshalb werden sie in der Textlinguistik unter Rekurs auf die von van Dijk beschriebenen Superstrukturen in zwei unterschiedliche Formen der thematischen Entfaltung gefasst: Vgl. van Dijk 1980, S. 128-159, Brinker 1985 / 2010, S. 44-77. 58 Dass die von Kuhn apostrophierte (mehrfache) Zweiteiligkeit des ‚Erec‘ im Zuge dessen in eine Dreiteiligkeit übergeht, wie sie zuletzt v. a. Lieb herausgestellt hat (2002, hier bes. S. 19 f.), sei nur ange- Der Weg als Problemverhandlung 175 die Gliederung meiner nachvollziehenden Analyse von Erecs ‚Gedankengang‘. Ich werde zeigen, dass der erste Handlungsteil (= erster Teil des Doppelwegs) im Anschluss an die prologartig gegebene quaestio zunächst (in Funktion einer narratio ) den gegebenen casus veranschaulicht und erläutert, während die erste Hälfte des zweiten Handlungsteils (= erster Kursus des zweiten Doppelweg-Teils) der argumentatio dient und die zweite Hälfte (= zweiter Kursus) die Aufgabe der peroratio übernimmt. 59 2.2.2 Erecs ‚Gedankengang‘ 2.2.2.1 Quaestio / queste: Die arthurische Hirschjagd, Iders und der Zwerg Die Erfassung jener Problemstellung, die in der Formulierung einer dialektischen quaestio zugleich der Anlass für Erecs queste ist, wird durch zwei Umstände erschwert. Der erste liegt darin, dass der Beginn von Hartmanns Text nicht überliefert ist, und der zweite ist dadurch gegeben, dass man noch bis vor kurzem davon überzeugt war, dass es am Anfang des ‚Erec‘ im Grunde gar kein Problem gäbe. Meine Darstellung des ersten Handlungsteils steht deshalb unter zwei Prämissen. Ich setze zum einen voraus, dass Hartmann die Jagd der Artusritter auf den weißen Hirsch im Großen und Ganzen genauso erzählte wie Chrétien, 60 und ich wende mich zum andern konsequent von der - wiederum besonders mit dem Namen Walter Haugs verbundenen - Ansicht ab, dass der Artushof bei Chrétien und Hartmann generell ein Ort ungetrübter höfischer Idealität sei: ein Ort, an dem „Tat und Liebe, […] Gewalt und Begierde, […] Tod und Eros“ im höfischen Fest in eine „utopische[] […] Balance der Kräfte“ gebracht würden. 61 In diesem zweiten Punkt folge ich einer jüngeren Forschung, die zuletzt mehr und mehr zu der Einsicht gekommen ist, dass geradezu vom Gegenteil ausgegangen werden muss. Denn es ist, wie etwa Friedrich Wolfzettel betont hat, gerade der ‚Erec‘, der darauf hinweist, dass „der Artushof […] von Anfang an problematisch […] ist.“ Auch ich setze also voraus, „dass es den sog. klassischen Artusroman und das damit verbundene, intakte Idealbild des Hofes vielleicht gar nicht gibt und dass die Krise so integraler Bestandteil eines immer nur postulierten, nie verwirklichten Ideals ist.“ 62 Auf der Basis dieser Annahme wende ich mich Chrétiens Text mit der Frage zu, worin sich das Problem, das Artus in die Krise führt, an seinem Beginn genau äußert, und stelle merkt: Mir geht es nicht um die Diskussion verschiedener Gliederungsmöglichkeiten, sondern um das der Gliederung zugrundeliegende argumentative Prinzip. 59 Ich gehe hier und im Folgenden davon aus, dass Hartmanns rhetorisches Wissen dem der im Mittelalter verbreiteten antiken Schriften entsprach, also in etwa dem, was in Ciceros ‚de Inventione‘ bzw. der ‚Rhetorica ad Herennium‘ vermittelt wird. Der Einfachheit halber erschließe ich den Zusammenhang mit Lausberg 1960 / 2008. 60 In dieser Annahme folge ich der communis opinio der Hartmann-Forschung, in der, soweit ich sehe, bisher noch kein einziges Argument aufgebracht wurde, das dagegen spräche. So auch die Position der letzten Einführungen: Bumke 2006, S. 19-21, Wolf 2007, S. 48 f. Ich zitiere Hartmanns Text im Folgenden nach der Ausgabe von Scholz 2004. 61 So die maßstabsetzende Formulierung von Haug 1985 / 1992, S. 99. Grundlegend zu dieser Position Köhler 1965 / 1970, S. 5-26. 62 Beide Zitate Wolfzettel 2010, S. 8. Er beruft sich auf die romanistische Forschung, für die die Idee der höfischen Idealität schon allein deshalb von vornherein einen viel geringeren Stellenwert hatte, weil sie die Struktur der Texte anders deutet. Vgl. dazu Burrichter 1999 sowie unter Aufarbeitung der Forschung Wolfzettel 2010, bes. S. 6-14. Kritisch zum Idealitätspostulat der älteren Forschung bes. auch Schulz 2009, Bauschke 2014; distanziert äußern sich zudem Bumke 2006, S. 20 f. und Wolf 2007, S. 49. 176 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ fest: Der ‚Erec‘ führt den Rezipienten direkt in eine Situation hinein, die Artus in einem ausweglosen Dilemma zeigt. Wenn dieser am Ende eines Osterfestes auf Caradigan den Entschluss fasst, den Brauch der mit einem Schönheitspreis verbundenen Jagd auf den weißen Hirsch zu erneuern, so tut er das nämlich keineswegs, wie man gelegentlich gemeint hat, zu seinem eigenen Vergnügen. 63 In ihrer Eigenschaft als costume und verpflichtendes väterliches Erbe ( CEE 1745-1770) ist die Jagd vielmehr konstitutiv für seine Herrschaft, denn nur durch sie kann er seinen Hof als jene Gemeinschaft der Schönsten und Besten erhalten, die sie als (arthurisch-)ideal definiert. 64 Was dergestalt eine machtbewahrende Maßnahme zu sein scheint, bringt Artus’ Macht freilich zugleich in höchste Gefahr. Darauf weist Gawein hin, wenn er seinen Onkel mit den Worten von seinem Vorhaben abzubringen versucht, dass jede der 500 anwesenden Damen einen Ritter zum Freund habe, der sie für die Schönste halte und für die er zum Kampf anzutreten bereit sei ( CEE 39-58). Wie Artus sich in dieser Sache auch entscheidet, immer wird er also verlieren: Er hat die Wahl, entweder die costume aufzugeben und seinen Hof in einem Mittelmaß versinken zu lassen, in dem er nicht mehr als der Hof Artus’ erkennbar wäre, oder die costume fortzusetzen und seinen Hof dem Streit der Ritter preiszugeben. Den „systemischen Charakter“ der arthurischen Krise 65 eindrücklicher zu inszenieren, dürfte schwerhalten. Was diese Beobachtung für das Verständnis des Problems bedeutet, das dem ‚Erec‘ zugrunde liegt, ist besonders prägnant von Armin Schulz formuliert worden. Ausgangspunkt des Erzählens ist demnach eine „Versuchsanordnung[]“, die zeigt, „was passiert, wenn die Prinzipien höfischer Interaktion miteinander kollidieren. Die Tafelrunde sorgt für einen Raum virtueller Gleichheit […], weil es hier keine hierarchisch sinnfällige Sitzordnung gibt. Gleichzeitig trachtet jeder der Anwesenden danach, vor allen anderen maximale Ehre zu gewinnen […].“ 66 Angewandt auf Artus’ Dilemma wäre in diesem Sinne zu sagen, 67 dass es zwar offenkundig wenig zielführend ist, eine Gemeinschaft von gleichermaßen Besten dadurch zu konsolidieren, dass man d e n Besten bestimmt; dass der König aber zugleich nicht umhin kann, genauso vorzugehen, weil das Regelwerk seiner Herrschaft die Exzellenz Aller nun einmal über die Exzellenz des Einzelnen definiert: Da nur Schönste und Beste in die Tafelrunde aufgenommen werden, kann diese ihren Wert nur dadurch erhalten, dass jede(r) sich als ebenso schön und gut u nd z u g leic h als noch schöner und besser als alle anderen erweist. Das heißt mit anderen Worten: Die Kollision von Hierarchie und Gleichheit, die in der Jagd auf den weißen Hirsch erzählweltlich konkretisiert wird - und die, wie hinzugefügt sei, nur eine leichte Umformulierung des Antagonismus zwischen dem Anspruch des Einzelnen (jeder will als Bester seine Schönste küren) und der Gemeinschaft ist (die sich als Gemeinschaft der Besten und Schönsten auf ein gemeinsames Ideal verständigen muss) -, stellt nichts weniger als die logische Möglichkeit der arthurischen Idee in Frage. In dieser Konstellation die thematisch-strukturelle Anlage einer quaestio zu erkennen, ist nicht schwer. Sie konfiguriert ein Problem, das offensichtlich ebenso dringlich - denn 63 So Wolf 2007, S. 49. Bumke bezeichnet Artus’ Verhalten gar als „starrsinnig“ (2006, S. 21). 64 Zu diesem Aspekt der costume grundlegend Ruh 1967 / 1977, S. 20. 65 Wolfzettel 2010, S. 10, Schulz spricht in gleicher Tendenz von der „Ambivalenz[]“ als eines „konstitutiven Merkmal[s] arthurischen Erzählens“ (2009, S. 6). 66 Ebd., S. 10. Scheuer spricht noch klarer von einem „dialektische[n] Problem“, das er dann freilich anders akzentuiert (2003, S. 125). 67 Schulz formuliert etwas anders, weil er den Rechtscharakter der costume nicht in seine Überlegungen einbezieht (2009, S. 12 f.); ich pointiere im Sinne des von ihm herausgearbeiteten Konflikts der Prinzipien. Der Weg als Problemverhandlung 177 von ihm hängt die Existenz des Artushofs ab - wie schwer zu lösen ist. 68 Wenn sich nun herausstellt, dass dieses Problem wenig später zum Anlass von Erecs Ausfahrt wird, so kann man deshalb mit einigem Recht sagen, dass die arthurische Hirschjagd in ihrer Eigenschaft als „Eröffnung des Paradigmas“ („erste Thematisierung“) 69 zugleich die Aufgabe eines Proömiums erfüllt, die darin besteht, die Strittigkeit des zu verhandelnden Problems zu konstatieren und das mit ihm verbundene dubium so darzustellen, dass es sowohl die Aufmerksamkeit des Publikums bindet als auch dessen Interesse auf sich zieht. 70 Die Relevanz der aufgeworfenen Frage wird in diesem Zusammenhang nicht zuletzt dadurch angezeigt, dass sie am Ende der Szene offenbleibt. Sowohl bei Hartmann als auch bei Chrétien verlässt Erec den Artushof vor dem Abschluss der Jagd, und bei beiden wird der Schönheitspreis bis zu seiner Rückkehr aufgeschoben. Wenn also, so die hier aufgebrachte Suggestion, die Frage nach dem Vorrang des Einzelnen oder der Gemeinschaft - bzw. allgemeiner: nach dem Vorrang des auf der Idee von Hierarchie basierenden Individualitäts- oder des auf der Idee von Gleichheit basierenden Kollektivprinzips - nicht wie durch ein Wunder (unter Vermittlung Erecs) gelöst wird, dann wird die Gemeinschaft der Artusritter an ihrem Konflikt zugrunde gehen. Die Konsequenz dieser Perspektive auf den ‚Erec‘-Eingang ist auf den ersten Blick keine andere, als die schon aus der allgemeinen Problematisierung des Artushofs folgende. Da die Herausforderung, die in der nächsten Szene in Gestalt des Ritters Iders, seiner Dame und des Zwergs auftritt, in erster Linie die Krise des Artushofs zum Ausdruck bringt, wird Erec mit seiner Ausfahrt zu dessen Retter delegiert: „[Die] Defizienz [des Artushofs] s pie ge lt sich in Erec, der nun stellvertretend für die arthurische Gesellschaft auf Aventüre-Fahrt geht.“ 71 Dass meine Lesart dem Verständnis des Textes auch hier neue Wege zu zeigen vermag, wird erst deutlich, wenn man in einem weiteren Schritt danach fragt, warum Erecs ‚Ernennung‘ zum Agenten des arthurischen Problems eigentlich in genau dieser - von der älteren Forschung nicht ganz zu Unrecht als unmotiviert inkriminierten - Weise inszeniert wird. 72 Weshalb wird Erec also nicht explizit ausgesandt, um das Problem des Artushofs zu lösen, ja was hat das Ereignis, das ihn als völlig Unbeteiligten am Rande des Geschehens trifft, überhaupt mit Artus’ Dilemma zu tun? Um den Nexus, der an dieser Stelle zwischen Hirschjagd und Ausfahrt, zwischen quaestio und queste geknüpft wird, als einen argumentativ geregelten erkennbar zu machen, sei die Passage, mit der nun auch Hartmanns Text einsetzt, zunächst etwas eingehender rekapituliert und analysiert. 68 In rhetorischer Klassifikation handelt es sich um eine quaestio comparativa , die „in einer zweigliedrigen […] oder mehrgliedrigen Alternativfrage besteht“ (Lausberg 1960 / 2008, § 67). In ihrer Zuspitzung auf einen (logischen) Widerspruch bewegt sie sich zudem ganz konkret in der Nähe jener quaestiones , die im geregelten Streitgespräch der mittelalterlichen disputatio gefordert werden: Deren „technische Funktion“ besteht darin, dass „durch Fragestellung und Fragelösung die Entscheidung über die Wahrheitsgründe eines Widerspruchs gefunden wird“ (Rädle 1997, S. 377). 69 Warning 2003, S. 188. Dass gegen Warnings Aussage „auch arthurisches Erzählen paradigmatisch“ ist, bemerkt auch Schulz 2009, S. 17, Anm. 44. 70 Vgl. Lausberg 1960 / 2008, § 263-279. 71 Bauschke 2014, S. 232. Wolfzettel formuliert analog: „eine zentrale Aufgabe des jeweiligen Artusritters bestünde auch darin, den immer schon latent in der Krise befindlichen Artushof selbst zu retten“ (2010, S. 10). 72 Zum fehlenden erzählweltlichen Zusammenhang von Hirschjagd und Sperberpreis pointiert Bezzola 1961, S. 94 f., Ruh 1967 / 1977, S. 20. 178 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Wie schon bei Chrétien, so nimmt der junge Artusritter Erec auch hier nicht an der Jagd teil. Stattdessen bietet er der Königin seine Gesellschaft an, mit der er nun, in Begleitung eines einzigen Fräuleins und nur mit einem Schwert bewaffnet, im Wald spazieren reitet. In dieser Situation „kommt [es] zur Begegnung mit dem Zwerge, der seinem Herrn, einem schwerbewaffneten Ritter und dessen Dame […] vorangeht. Die Königin schickt, nach höfischer Sitte, ihr Hoffräulein zum Zwerge, um sich nach dessen Herrschaft zu erkundigen. Die Botin erhält jedoch keine Antwort, und wie sie sich dem Ritter selbst zuwenden will, versetzt ihr der Zwerg einen Peitschenhieb über Gesicht und Hände. Erec, der den mißgeborenen wenigen zur Rede stellt, ergeht es nicht anders. Und das Schlimmste ist, er kann sich nicht rächen: der ritter hete im genomen den lîp, / wan Erec was blôz als ein wîp (102 f.). Damit ist seine Ehre vernichtet. Er verlässt die Königin und folgt heimlich dem düster wirkenden Trio […], entschlossen, seine Schmach durch Herausforderung des Ritters als des Verantwortlichen zu rächen.“ 73 Nimmt man die Szene unter dem Aspekt ihres thematischen Zusammenhangs mit dem Vorangehenden in den Blick, so fallen unweigerlich die spiegelbildlichen Reflexe und variierten Wiederholungen ins Auge, die das Ganze in mehrfacher Hinsicht prägen. Das beginnt schon mit der Figurenkonstellation der Episode selbst, in der die arthurische Dreiergruppe Ginover - Erec - Hofdame der scheinbar anti-arthurischen, in Wirklichkeit aber nur anders-arthurischen Dreiergruppe Iders - Freundin - Zwerg gegenübertritt. Nur anders-arthurisch ist diese Gruppe, weil sie sozusagen die dunkle Seite des Artusideals verkörpert und damit genau die Gefahr ins Bild setzt, die dem Artushof droht, wenn das Problem der Hirschjagd eskaliert. 74 Dabei steht Iders für den Ritter, der nur an sein eigenes Ansehen denkt und stets dazu bereit ist, seinen Anspruch auf den Status des Besten - der den Besitz der Schönsten voraussetzt - mit Gewalt zu verteidigen. Dass er sich auf dem Weg zu einer Aventiure befindet, die genau dies zum Austrag bringen wird, 75 kann der Leser zwar an dieser Stelle noch nicht wissen; das ist aber auch gar nicht notwendig. Denn Iders bringt seine Einstellung - in der sich die Haltung wiederholt, mit der die Artusritter zur Jagd aufgebrochen sind 76 - höchst eindrücklich in dem Gestus zur Anschauung, mit dem er das Artusreich durchquert: Er präsentiert sich als Einzelner, der mit seiner Dame und dem Zwerg allein unterwegs ist und sich nicht nur unwillig zeigt, auf das Anliegen der arthurischen Gemeinschaft (Ginovers Frage) einzugehen, sondern auch bereit ist, sie (in Stellvertretung durch den Zwerg) in entehrender Weise zu schlagen. Der Peitschenhieb, den der Zwerg dem Fräulein Ginovers versetzt, ist deshalb nur oberflächlich betrachtet jene 73 Ebd., S. 19. 74 Vgl. hierzu die Beobachtungen von Schulz, die nicht zuletzt darauf zielen, die übliche Dichotomisierung von höfischer und nichthöfischer Welt aufzulösen (2009, S. 8 f.). Im Zusammenhang der spiegelnden Dreiergruppen ist auch der Hinweis Wandhoffs interessant, dass sich gegen Ende des Textes, vor der Joie de la curt -Episode „wieder eine Dreiergruppe auf den Weg zum Artushof [macht], nun aber in erneuerter […] Gestalt: Es sind Erec, Enite und Guivreiz, der beste Ritter, die schönste Dame und der wunderbar-zwergenhafte Irenkönig […]“ (2011, S. 146). Das am Anfang negativ gezeichnete Bild des Zwergentrios wird also am Ende - signalhaft ins Positive gespiegelt - wiederholt. 75 Zur Sperberpreis-Aventiure gleich mehr; zum „gegenbildlichen“ Verhältnis der Episoden Schulz 2009, S. 12-14. 76 So Gauvains Aussage: ‚n’i a nule qui n’ait ami, chevalier vaillant et hardi, don chascuns desresnier voldroit, ou fust a tort ou fust a droit, que cele qui li atalante, est la plus bele et la plus gente.‘ - „jede von ihnen hat einen Freund, lauter tapfere und kühne Ritter, und jeder von denen würde behaupten wollen - sei es nun zu Recht oder zu Unrecht -, diejenige, welche ihm gefalle, sei die schönste und liebenswerteste“ (CEE 53-58). Der Weg als Problemverhandlung 179 ‚Provokation von außen‘, die die ältere Forschung in ihm gesehen hat. Tatsächlich ist er, wie eben bereits angedeutet, der nach außen gespiegelte und von dort auf den Artushof zurückgeworfene Ausdruck der arthurischen Krise selbst. 77 Dass der Peitschenhieb demnach als eine Form der Übertragung (von ‚innen‘ nach ‚außen‘) und Rückübertragung (von ‚außen‘ nach ‚innen‘) des in ihm konfigurierten Problems erscheint, 78 lenkt den Blick weiter auf das Verfahren, mit dem das Moment der (thematischen) Wiederholung hier zum einen realisiert und zum anderen in Handlung überführt wird. Es als ein zeichenhaftes oder - wenn auch in einem ganz anderen Sinne als der von Haug postulierten Symbolstruktur - symbolisches zu bezeichnen, liegt sicherlich nahe, wobei die Symbolik wiederum in unterschiedlicher Weise funktioniert. Das Prinzip wird am Peitschenhieb selbst zunächst insofern exemplarisch deutlich, als er, und zwar in genau der Weise, die ich eben als die Grundidee des argumentativen Gedankengangs skizziert habe, zugleich wörtlich und metaphorisch zu verstehen ist, oder genauer: In seiner Eigenschaft als ein Handlungsweltlich-Reales metaphorisch bedeutsam. Denn dass der Zwerg das Fräulein schlägt, bedeutet ja nichts anderes, als dass er die Artusgesellschaft, die durch das Fräulein repräsentiert wird, ‚schlägt‘ - und zwar mit dem Problem, für das er in seiner Person, bzw. in der Figurenkonstellation, in der er auftritt, (stellvertretend-symbolisch) steht. Hinzu kommt, dass der Peitschenhieb des Zwergs nicht nur auf der Ebene der Erzählung - also narrativ-ästhetisch -, sondern auch innerhalb der erzählten Welt - und damit sozusagen politisch - als ein symbolischer zu qualifizieren ist. Als ein Gestus, mit dem er Iders’ Abwehr (in Stellvertretung durch den Zwerg) zum Ausdruck bringt, lässt er die Artusgesellschaft (vertreten durch das Fräulein) in einem Akt der symbolischen Kommunikation (wiederum: zugleich buchstäblich und im übertragenen Sinn) spüren, was er von ihr hält. 79 Dass das Netz von - allgemein gesprochen - bedeutungsübertragenden Verweisen, das Hartmann knüpft, spätestens an dieser Stelle nur noch schwer auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann, ist unübersehbar. Deutlich wird nur, dass eigentlich alles und jedes außer für sich selbst noch für etwas anderes steht (Stellvertreterprinzip: das Fräulein für den Artushof, der Zwerg für Iders), es aspekthaft-spiegelnd wiederholt (das Zwergentrio spiegelt die gefährliche Einstellung der Artusritter) oder es in einen anderen Zustand, oder, wie man auch sagen könnte, in eine andere Seinsweise bzw. eine andere Form des Sichtbarwerdens (von ‚innen‘ nach ‚außen‘, von einer Figurenkonstellation in eine andere) übersetzt. Und deutlich wird auch, dass sich das Problem, das die arthurische Hirschjagd aufgeworfen hatte, dadurch in einer Weise verändert, die man als eine Art Entwicklung beschreiben kann. Das Auftreten von Iders, seiner Dame und dem Zwerg bewirkt, dass das Problem des Artushofs veräußerlicht und nach außen hin sichtbar wird, was zugleich heißt, dass es sich von einem in der Konstellation der Hirschjagd zunächst nur 77 So auch Schulz 2009, S. 14, ähnlich Bauschke 2014, S. 232. 78 Da „die systemkonstitutive Unterscheidung der Weltausschnitte“ in ein höfisches ‚Innen‘ und ein unhöfisches ‚Außen‘ sich damit von vornherein als eine dekonstruierte darstellt, rückt das Erzählen zudem wiederum in die Nähe des Paradigmatischen (vgl. Warning 2003, S. 186). 79 Wandhoff vermerkt, wenn er auf die poetologische Lesbarkeit der Szene abhebt, noch eine dritte Form der Bedeutungsübertragung. Auch sie „bewirkt die Überkreuzung von Erzählakt und Erzählhandlung“ (2011, S. 146). 180 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ latent angelegten zu einem manifesten (Ehr-)Problem wandelt. Es wird mithin aus einem narrativ-thematischen in ein erzählweltlich-konkretes transponiert. 80 Warum diese Transponierung zugleich als thematische Entfaltung und dabei als eine im engeren Sinn argumentative Entwicklung anzusprechen ist, wird verständlich, wenn man bedenkt, welche Auswirkung die ‚zwergische‘ Umformulierung des Hirschjagd-Problems auf dessen Frage hat. Im Grunde genommen genügt es sogar, die Veränderung als eine des Konkretheitsgrades zu benennen und rhetorisch-dialektisch zu kontextualisieren. Dass nämlich die erzählweltliche Konkretion der asozialen Seite des arthurischen Ideals auch die von ihm gestellte Frage konkretisiert, ist insofern fast unvermeidlich, als der Fragegegenstand hier notgedrungen aus einem allgemeinen in einen speziellen verwandelt wird. Das Auftreten von Iders, seiner Freundin und dem Zwerg bewirkt, dass die zunächst allen Artusrittern geltende Frage sozusagen ein Gesicht bekommt. Anstatt wie zuvor allgemein auf die Vereinbarkeit von individuellem und gemeinschaftlichem Exzellenzstreben richtet sie sich jetzt speziell auf die Möglichkeit der Integration dieses einen nach Exzellenz strebenden Ritters in die Gemeinschaft der Besten. Die abstrakt-generell-theoretisch formulierte quaestio infinita wird also so eingeschränkt, dass sie nun im konkret-individuellpraktischen Modus einer quaestio finita steht. Dass sie erst dadurch zur causa wird - zu einer Frage also, die mit den Mitteln der Rhetorik sinnvoll verhandelt werden kann - gehört ebenfalls zu den Gemeinplätzen der klassischen Redekunst: Da „[d]ie quaestiones infinitae […] eigentlich Sache der Philosophie [sind]“, stellen sie den Hintergrund dar, aus dem heraus finite quaestiones - auch dies bevorzugt im Proömium - abgeleitet und begründet werden. 81 In diesem Sinne ist die Transformation des Hirschjagdin das Zwergenschlag-Problem geradezu die Voraussetzung für die Diskussion der Ausgangsfrage. Deren Spezifikation markiert den Umschlagpunkt, an dem die quaestio in eine queste übergeht. Auf der Basis dieser Überlegung stellt sich nun auch Erecs Rolle in einem etwas anderen Licht dar, wobei der Umstand, dass er ebenfalls zum Opfer des Zwergs wird, die argumentative Valenz des Geschehens um eine nicht unwesentliche Facette erweitert. Auszugehen ist hier von der Beobachtung, dass der Zwergenhieb für Erec nicht dasselbe bedeutet wie für das Fräulein. Zwar wird das Problem, für das er steht, auch in diesem Fall auf dem Geschlagenen sichtbar; im Gegensatz zu Ginovers Dame ist Erec aber in thematischer Hinsicht nicht direkt von ihm betroffen. Denn für den Jungritter, der noch keine Freundin hat, (deshalb) nicht an der Kompetition um den Status des Besten teilnimmt 82 - und der von daher keine Gefahr für das Gleichheitsprinzip der Artusrunde darstellt -, kann der Schlag nichts Latentes manifest machen. Anders als für das Fräulein ist er darum für Erec keine (symbolische) Veräußerlichung eines ‚inneren‘ Problems (im Sinne der Einstellung, die in Iders’ Haltung zur Anschauung kommt), sondern Ausdruck einer Frage, die von außen an ihn heranbzw. im Wortsinn auf ihn aufgetragen wird. Für ihn ist der Schlag demnach zuerst und vor allem als realisierte Metapher für den Auftrag (bzw. ‚Auftrag‘) des Artushofs 80 Die Veräußerlichung wirkt also sowohl auf der Ebene des Erzählten (der innere Konflikt des Artushofs wird auf dem Gesicht von Ginovers Dame sichtbar) wie des Erzählens (das in Artus’ Dilemma implizitthematisch angelegte Problem wird erzählweltlich expliziert). 81 Vgl. Lausberg 1960 / 2008, § 66-78, hier § 70. 82 Hartmann unterstreicht diesen Umstand, indem er Erecs Jugendlichkeit gegenüber Chrétien hervorhebt. Der Weg als Problemverhandlung 181 zu lesen, der ihm auf diese Weise erteilt wird, 83 und für den er sich, wie hinzuzufügen ist, bei näherem Hinsehen wie kein anderer als geeignet erweist. Gerade weil er keinen eigenen Superioritätsanspruch hat, ist er der angemessene Vertreter der Gemeinschaft, für die er von nun an agiert, ohne (vorerst) durch seine individuelle Ambition beeinträchtigt zu werden. Insgesamt betrachtet wird also in der vorliegenden Szene nicht nur der Fragegegenstand, sondern gleichsam auch der Fragende selbst spezifizierend aus einem infiniten Hintergrund abgeleitet. So wie Iders das problematische Hierarchie-, so individualisiert Erec das davon gefährdete Gemeinschaftsprinzip der Artusgesellschaft. Das Mal, das die Peitsche des Zwergs auf ihm hinterlässt, ist Ausdruck der quaestio , die er als Einzelner ‚auf sich nimmt‘, um sie ‚im Auftrag‘ der Gemeinschaft - wiederum im Sinne einer realisierten Metapher - (in Gestalt Iders) zu verfolgen bzw. (argumentativ) zu ‚verfolgen‘. 2.2.2.2 Narratio: Erecs erste Ausfahrt Wie maßgeblich das Prinzip der symbolisch-spiegelnden bzw. bedeutungsübertragenden Wiederholung für das poetische Verfahren des ‚Erec‘ ist, wird spätestens in der nun folgenden Sperberpreis-Aventiure erkennbar. Sie stellt in geradezu exemplarischer Weise das dar, was ich in meinem Theoriekapitel als eine implizite Explikation bezeichnet habe, das heißt: Indem sie das Problem, das in der arthurischen Hirschjagd und der Zwergenbeleidigung zum Ausdruck kam, noch ein weiteres Mal auf andere Weise konkretisiert, lässt sie es als das die Episoden gedanklich verbindende Moment hervortreten, ohne es explizit zu benennen. 84 Und indem sie es im Zuge dessen erneut variiert, entwickelt sie es, wie hinzuzufügen ist, argumentativ erörternd weiter. Der Umstand der thematisch bzw. problematisch bestimmten Wiederholung ist rasch erfasst: Die Konstellation der Sperberpreis-Aventiure wiederholt die der costume Pandragon , wobei sie durch die Verlagerung in einen Bereich außerhalb des Artushofs wiederum einen eher andersdenn anti-arthurischen Charakter gewinnt. 85 Auch hier geht es um einen (Rechts-)Brauch, dessen Ziel darin besteht, eine höfische Gemeinschaftlichkeit herzustellen, die die Vorbildlichkeit eines Landesherrn (hier: des Herzogs Imain, HE 183) bestätigt. Auch hier soll dieses Ziel durch den Austrag eines Schönheitswettbewerbs erreicht werden, an dem offenbar nur Paare teilnehmen dürfen und dessen Preis im Erwerb eines als höfisch konnotierten Tiers besteht (der Hirsch wird lediglich durch den Sperber ersetzt). 86 Auch hier wird das Anliegen durch das Eingreifen eines Einzelnen gestört, der das Votum der Gemeinschaft - nû sagete man daz mære daz dâ manec wîp schœner wære dan des ritters vriundîn ( HE 210-212) - unterläuft und den Preis mit Waffengewalt für die reklamiert, die 83 Spätestens hier erhält das Veräußerlichen des Problems eine mythische Nuance, denn dieses Problem wird nicht einfach sichtbar, sondern geht wie ein Materielles auf Erec über: Die Idee, dass Eigenschaften wie Substanzen weitergegeben werden können, ist eine mythische. Vgl. Cassirer 1925 / 2002, S. 56-59. 84 Vgl. Kap. II.2.2.2. 85 Vgl. Schulz, der freilich stärker als ich auf die „ ge ge n bildliche Situation“ abhebt (2009, S. 13, Hervorhebung von mir). 86 [S]wes vriundinne den strît behielte ze sîner hôchzît daz si diu schœniste wære, diu næme den sparwære (HE 200-203). Die Formulierung ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie die Rolle des Mannes zugleich ausblendet und exponiert. Nicht die Schönste gewinnt den Preis, sondern die, die a l s Fr e u nd i n den Status der Schönsten für sich reklamieren darf. Auf diese Weise wird die Schönheit der Frau zur Funktion einer Eigenschaft des Mannes, die (natürlich) darin besteht, der Beste zu sein. Damit sind wir wieder bei der Konstellation der Hirschjagd. 182 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ er selbst für die Schönste hält (weil ihre Schönheit Ausdruck seiner eigenen Exzellenz ist). Und auch hier droht die höfische Freude deshalb zum Erliegen zu kommen, denn, wie der Erzähler konstatiert: Wenn sich Iders den (zuvor schon zweimal usurpierten) Sperber zum dritten Mal gewaltsam aneignet, sô hete er in immer mêre âne strît mit voller êre ( HE 208 f.). Für das Fest, in dessen Rahmen der Sperber vergeben wird, bestünde dann also kein Anlass mehr. Der Unterschied zur Hirschjagd liegt mithin tatsächlich im Wesentlichen darin, dass das Problem, das am Artushof alle Ritter betraf, hier an einem einzigen exemplifiziert wird. Warum Erec, wenn er Iders herausfordert, mit der höfischen Freude von Tulmein auch die der Artusgesellschaft rettet, leuchtet unter dieser Prämisse unmittelbar ein. Indem er den asozialen Ritter schlägt, den Zwerg bestraft und der wirklich Schönsten zu ihrem Recht verhilft, bannt er zugleich die Gefahr der Hirschjagd. Auf der Handlungsebene manifestiert sich der Zusammenhang darin, dass Erec den besiegten Gegner dazu zwingt, sich Ginover zu unterwerfen. Iders’ Fußfall sühnt die Beleidigung des Hoffräuleins und räumt dem Gemeinschaftsprinzip des Artushofs den Vorrang ein. Erst nachdem das geschehen ist, kann auch die costume Pandragon zum Abschluss gebracht werden - oder doch zumindest fast. 87 Denn was noch fehlt, ist natürlich die Frau, die Artus mit der Zustimmung der gesamten Hofgesellschaft zur Schönsten küren kann. Dass Erec sie aus Tulmein mitbringt, scheint da nur die einfachste Lösung und überdies den Nexus der Episoden noch zusätzlich zu unterstreichen. Wenn, so kann man in diesem Sinne sagen, die Niederlage Iders’ auch am Artushof gelten soll, dann muss die Schönste von Tulmein durch Artus bestätigt werden. Hirschjagd und Sperberpreis erweisen sich darin als eins. Dass ihr gemeinsames Problem damit erledigt wäre, kann man freilich nicht behaupten - und in diesem Punkt ist auch die Variation zu greifen, in der es sich noch ein Stück weiter entfaltet. Denn zwar hat Erec den Auftrag der Artusgesellschaft zur allgemeinen Zufriedenheit erfüllt und wird dafür mit einem aufwändigen Fest entsprechend geehrt. Dass dieses Fest sein Hochzeitsfest ist, und er damit nicht nur zum Freund der aktuell Schönsten wird, sondern sich im Zuge des dazugehörigen Turniers auch erneut als der Beste hervortut, deutet indessen schon darauf hin, dass sich die Ausgangsfrage in etwas anderer Weise erneut stellt. In diesem Zusammenhang ist unbedingt ein genauerer Blick auf Enite zu werfen, deren Rolle keineswegs nur darin besteht, jene Schönste abzugeben, ohne die weder die eine noch die andere Aventiure zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann. Darüber hinaus fungiert sie vielmehr als Teil einer narrativen Intrige, mit deren Hilfe Erec erst eigentlich in das Problem verwickelt wird, das zu verhandeln er zunächst nur stellvertretend ausgezogen war. Vielleicht kann man die Komplikation, die hier inszeniert wird, mit einem gewissen Recht spiegelbildlich auf Artus’ Dilemma zurückbeziehen. Ganz ähnlich wie dieser seine Herrschaft über die Gemeinschaft der Schönsten und Besten zu Beginn des Textes nur dadurch bewahren konnte, dass er sie im Wettbewerb um die Schönste und den Besten akut in Gefahr brachte, so kann auch Erec das Problem der Artusgesellschaft nämlich nur dadurch bewältigen, dass er sich ihm persönlich aussetzt. Das Netz wird durch die Konstruktion der Sperbercostume gesponnen, die besagt, dass nur die schönste Frau, oder genauer: die schönste vriundinne ( HE 200) den Preis gewinnen kann. Das heißt, dass Erec die Usurpation des Sperbers durch die nicht-schönste Freundin Iders’ nur zu verhindern vermag, indem er sich selbst eine Freundin zulegt - welche als 87 Auf den Zusammenhang verweist in anderer Perspektive auch Gerok-Reiter 2007, S. 140-143. Der Weg als Problemverhandlung 183 solche wiederum nur gelten darf, wenn sie nicht nur für alle anderen, sondern zuerst und vor allem für ihn selbst die Schönste ist, sprich: wenn er sich in sie verliebt. Was auf den ersten Blick wie eine Lösung aussieht, erweist sich damit - zumindest in Bezug auf das narrativ gestaltete Problem - bestenfalls als eine Ab-Lösung: Der in der Hirschjagd konfigurierte Konflikt zwischen dem Anspruch des Einzelnen und dem der Gemeinschaft wurde durch den Zwergenschlag zunächst vom Artushof an Erec delegiert, und dieser ‚erörtert‘ ihn nun mit dem Ergebnis, dass er ihn sich in der Liebe zu Enite persönlich zu eigen macht. Am Ende ist er deshalb zwar für den Artushof bereinigt, nicht aber für Erec, der sich als frischverliebter Ehemann unversehens in der Rolle des Einzelnen wiederfindet, der sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass jemand eine andere als seine Dame für die Schönste halten könnte. Die Sperberpreissetzt die Zwergenaventiure folglich nicht zuletzt dadurch fort, dass sie das Problem des Textes noch weiter vom Artushof ablöst und dessen ‚Auftrag‘ an Erec dergestalt vollends zu einem ‚Übertrag‘ macht. 88 Dass der damit einhergehende Akt der persönlichen Aneignung zugleich ganz dezidiert einen der Verinnerlichung darstellt - denn die Liebe, die Erec zu Enite ergreift, ist ja ein Vorgang in seinem Innern -, ist hierbei nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil er den spiegelndveräußerlichenden Zwergenschlag wiederum spiegelt - vom ‚Außen‘ der nicht-arthurischen Welt zurück in ein Inneres, das diesmal kein höfisch-gesellschaftliches, sondern ein individuell-psychisches ist -, und auf diese Weise abermals die (symbolische) Bedeutungsübertragung zum Vehikel der narrativen Problementfaltung werden lässt. Wenn Erec den Artushof verlässt, dann lautet die Frage daher nicht mehr allgemein-arthurisch nach der Vereinbarkeit der Prinzipien von Hierarchie und Gleichheit, und auch nicht mehr speziellarthurisch nach der Integration (irgend-)eines nach Exzellenz strebenden Einzelnen in die Gemeinschaft der Schönsten und Besten, sondern noch sehr viel spezifischer (und vollends individuell) danach, wie der Held der Erzählung dem Anspruch der Gemeinschaft, den er bis dahin im ‚Auftrag‘ des Artushofs vertreten hatte, weiterhin gerecht werden kann, wenn er doch viel lieber mit seiner Schönsten im Bett bleiben würde. Bezogen auf ihre argumentative Funktion ist damit festzuhalten, dass die Sperberaventiure die gegebene quaestio zum einen endgültig in die (individuell-finite) Form bringt, in der sie im zweiten Teil des Textes diskutiert wird, und dass sie diese quaestio zum anderen, indem sie sie in wieder etwas anderer Weise ein drittes Mal gestaltet, so eindringlich illustriert, dass nun wirklich jeder verstanden haben sollte, um welches Problem es hier geht. Das heißt: In ihrer Eigenschaft als „vereindringlichende Detaillierung des nüchtern-knapp in der propositio Ausdrückbaren“ erfüllt Erecs erste Ausfahrt die Aufgabe einer narratio . 89 88 In diesen Zusammenhang ist die vielfach formulierte Beobachtung einzuordnen, dass sich Erec für Enites Reize zunächst auffällig wenig interessiert (vgl. etwa Ruh 1967 / 1977, S. 119, Schulze 1983, S. 19 f., Klein 2002, S. 447, Bumke 2006, S. 27). Sie wird erst ‚seine‘ Schönste, nachdem er sich als Bester erwiesen hat; und sie wird es umso mehr, je mehr er sich als Bester erweist, also nach dem Turnier bei Artus. Der Befund passt übrigens auch zu Erecs Rolle als ‚Brautwerbungshelfer‘, der zunächst ausgesandt wird, um die Braut für seinen König einzuholen, sich dann aber (kurzschlüssig) selbst in sie verliebt. Vgl. dazu Kap. III.2.3.2. 89 Lausberg 1960 / 2008, § 289. 184 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ 2.2.2.3 Argumentatio I: Zweite Ausfahrt, erster Kursus Wie gründlich sich Erec das Problem des Artushofs zu eigen gemacht hat, wird bei seiner Rückkehr nach Karnant deutlich, wo es (wieder eine bedeutungsübertragende Spiegelung! ) in einer räumlich-konkreten Verinnerlichung zum Ausdruck kommt: Erec zieht sich mit Enite ins Schlafzimmer zurück 90 und verweigert sich dem - außen stattfindenden - gesellschaftlichen Leben, das in der Folge weitgehend zum Erliegen kommt. 91 Deshalb beginnt der zweite Handlungsteil nicht nur genauso wie der erste, nämlich mit einer Krise, sondern diese Krise wiederholt die des ersten Teils auch in charakteristischer Variation. Sie resultiert hier wie da daraus, dass der Einzelne sein individuelles Bedürfnis über das der Gemeinschaft stellt, und der Unterschied besteht nur darin, dass das Problem, das zu Beginn in gesellschaftspolitischer Verallgemeinerung (infinit) formuliert worden war, nun als ein individuelles (finit) wiederkehrt. Dass Erecs erste Ausfahrt lediglich dem Zweck diente, die Frage des Textes auf ihn zu spezifizieren, zeigt sich hierbei nicht zuletzt darin, dass sie sich jetzt für ihn nicht minder dringlich und nicht minder ungelöst stellt als eingangs für Artus. 92 Und auch, dass sie anders als dort jetzt nicht mehr in Gestalt eines Dilemmas auftritt, ist in der Logik der narrativen Problemverhandlung nur konsequent. Da das Problem erst in seiner konkret-finiten Formulierung argumentativ verhandelt werden kann, 93 musste es sich bei Artus geradezu in einer Weise konkretisieren, die jedes (eigene) Handeln unmöglich machte, während es nun bei Erec eine Form annimmt, die sein Handeln explizit herausfordert. Als Enite ihrem Mann die Vorwürfe seiner Hofleute zur Kenntnis gibt und den Konflikt so wieder aufbrechen lässt, ist klar: Erec muss erneut ausziehen, um die Frage, die er zunächst nur spezifizierend umformuliert hatte, nun endlich zu lösen. Das heißt mit anderen Worten: Ab jetzt sind Argumente gefragt. Inwiefern das argumentative Vorgehen, mit dem Erec die Fragestellung des Textes nun verfolgt, ‚ihm selbst‘ 94 zuzurechnen ist, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Festgehalten sei nur, dass es zwar einerseits Ausdruck der narrativen Problemverhandlung und als solches in keiner Weise auf eine wie auch immer geartete Einsicht der (erzählten) Figur in deren Zusammenhänge zu deuten ist. Andererseits ist aber auch zuzugestehen, dass Erecs Verhalten schon allein deshalb, weil es eine Reaktion auf die zuvor inszenierte - und als solche durchaus psychologisch gemeinte - Verinnerlichung des Problems darstellt, eine gewisse kognitive Beteiligung von seiner Seite zumindest impliziert. Vielleicht kann man die umstrittene Frage nach seinem oder Enites Fehler - bzw. danach, welche persönliche Verfehlung in ihrem verligen zum Ausdruck kommt - in diesem Sinne als eine Interferenzerscheinung verstehen, in deren Folge die Denkbewegung des Textes erzählweltlich dergestalt wirksam wird, dass die thematische Beteiligung Enites am aktuellen Ausbruch des Konflikts - denn sie ist ja sein faktischer Anlass - konkret als Schuld erscheint. 95 Un- 90 Also in den Raum, der im ‚Innen‘ des Hofes der gesellschaftsfernste ist und (in diesem Sinne) die größtmögliche Vereinzelung garantiert. Zum Zusammenspiel von Öffentlichkeit und Heimlichkeit, ‚innen‘ und ‚außen‘ in dieser Szene instruktiv Müller 2007, S. 292-296. 91 Das Ruhen im Schlafgemach spiegelt sich also in äußerem Stillstand. 92 Auf das ‚Gefühl‘ der Dringlichkeit und seine Bedeutung für das Textverständnis komme ich in Kap. III.2.3.1 noch eingehender zurück. 93 Vgl. nochmals Lausberg 1960 / 2008, § 70. 94 Das heißt: ihm als Modell einer Figur mit einer gewissen ihr vom Text zugeschriebenen kognitiven Eigenständigkeit. 95 Man könnte auch hier eine Parallele zum mythischen Denken (mythische Kausalität) in Anschlag bringen, die deutlich aus Bumkes Formulierung spricht: „Danach liegt Enites Schuld nicht in ihrem Der Weg als Problemverhandlung 185 abhängig davon, wie man in dieser Sache entscheidet, gilt jedoch, dass die Verfehlung in thematischer Hinsicht zuerst und vor allem ein Fehlen anzeigt: ein Fehlen der Berücksichtigung des Gemeinschaftsprinzips, das sich hier als der Anspruch von Erecs Hof auf die Beteiligung des Landesherrn am gesellschaftlichen Leben äußert. Unter dieser Voraussetzung ist Erecs Verhalten relativ problemlos als Konkretion eines induktiv-beispielhaften Beweisverfahrens zu lesen, oder, wie man auch sagen könnte, als eine performative Argumentation, in deren Verlauf der Protagonist handlungshaft Belege für eine Hypothese aufstellt (bzw. inventiv ‚aufsucht‘), die in der Konstellation der zweiten Ausfahrt zum Ausdruck kommt. 96 Vor dem Hintergrund des Voranstehenden wenig überraschend, ist dieser Ausdruck wiederum ein symbolisch spiegelnder. Während das Paar zuvor im Schlafgemach nach außen abgeschlossen die eheliche Gemeinschaft genossen hatte, verlässt es nun unter Verzicht auf diese Gemeinschaft - es reitet getrennt: Enite voraus, Erec in einigem Abstand hinterher - nicht nur das Gemach selbst und den Hof, der es umgibt, sondern die höfische Welt insgesamt. Mit Blick auf die folgenden Episoden, die genau dies immer wieder zur Anschauung bringen, kann man in diesem Sinne für den zweiten Teil des Textes sagen: Erec verlässt die höfische Gemeinschaft, deren Raum er in Karnant - quasi von innen - zu seinem eigenen Vorteil missbrauchte, um sich nun, im gemeinschaftsfreien ‚Außen‘ der Aventiurewelt, in einer ganz anderen, nämlich radikal selbstlosen Weise zu ihr zu verhalten. 97 Auf den argumentativen Gedankengang bezogen könnte man das so formulieren: Durch die Inszenierung seines Auszugs behauptet Erec (bzw. die Instanz, die ihn auf diese Idee bringt) 98 nach dem Modell des Umkehrschlusses (auch auf dieser Ebene die invertierte Wiederholung! ), dass er die mangelnde Beachtung des Gemeinschaftsprinzips, die den ‚Fehler‘ des verligens ausmacht, dadurch ausgleichen könne, dass er dieses Prinzip nun absolut ins Recht setzt. 99 Wie er dies bewerkstelligt, ist am „Pressionsarrangement“, 100 das die zweite Ausfahrt für Enite darstellt, exemplarisch abzulesen. Auch dieses basiert (natürlich) auf einer spiegelnden Wiederholung, die darin besteht, dass das Schweigegebot, das Erec über seine Verhalten, sondern darin, daß sie nach Karnant gekommen ist“ (2006, S. 37) - es gilt also post hoc, ergo propter hoc . Der Effekt bleibt aber im thematisch-erzählweltlichen Übersprung selbstredend ein ästhetischer. Die umfänglichen Diskussionen der Forschung zur Frage nach Erecs (nicht jedoch Enites) Schuld sammelt Toepfer 2013, S. 104-113. 96 Zur Beispielargumentation als Möglichkeit der argumentatio Lausberg 1960 / 2008, § 410-426. Grundsätzlich zu Form und Funktion der Hypothese Veit 2009. 97 Die erst im Folgenden sichtbar werdende (argumentative) Problematik dieser Reaktion deutet sich in der Raumanordnung insofern schon an, als Erec sich - als Korrektur seines Rückzugs - nicht in die Gemeinschaft des Hofes, sondern aus der Gemeinschaft hinaus, ins radikale Außen der Aventiurewelt, begibt; also nicht von ‚außen‘ nach ‚innen‘, sondern (das ‚Innere‘ überspringend) wieder nach ‚außen‘. 98 Welche der beiden Optionen zutrifft, ist in diesem Kontext nicht entscheidbar. 99 Zu den räumlich-symbolischen und argumentativen Momenten kommt, wie hinzuzufügen ist, das der Einstellung Erecs, also, wenn man so will, ein psychologisches. Dieses wurde zuletzt besonders deutlich von Toepfer herausgearbeitet, die betont, dass „Erecs Verhalten“ an dieser Stelle „ins andere Extrem um[schlägt]: Die ausschließliche Ausrichtung auf Enite und sein Hang zur Bequemlichkeit verkehren sich zu einer völligen Distanzierung und einer völligen Rastlosigkeit“ (2013, S. 117). Die Beobachtung verdeutlicht, dass meine thematische Analyse keineswegs im Gegensatz zu psychologischen Methoden steht. Hartmanns erzählerisches Geschick besteht, wie im Folgenden noch deutlicher werden soll, gerade darin, beide zusammenwirken zu lassen, das heißt in diesem Fall: Die gedankliche Operation des Umkehrschlusses erschließt sich (implizit) auch demjenigen, der den Text unter dem Aspekt der Figurenmotivation liest. Zu diesem Aspekt bes. Kap. III.2.3.1. 100 So Gerok-Reiter 2010, S. 219. 186 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Frau verhängt, in Kombination mit der Sichtbehinderung, die er sich durch die Rüstung selbst auferlegt, die Situation von Karnant (er ‚blind‘, 101 sie stumm) künstlich perpetuiert. Die Gefahrensituation, der sich das Paar in der außerhöfischen Welt aussetzt, zwingt Enite jedoch nun ein Verhalten ab, das dem des verligens diametral entgegensteht. Während sie in Karnant geschwiegen hatte, weil sie Erec dadurch zu verlieren befürchtete ( si vorhte in dâ verliesen mite , HE 3012), redet sie nun, damit er nicht für die Anderen verlorengeht ( ‚bezzer ist verlorn mîn lîp […] dan ein alsô vorder man, wand dâ verlür maneger an.‘ , HE 3168-3171). 102 Inwiefern dies auf eine Einsicht oder gar auf einen Lernprozess hin zu lesen ist, mag wiederum diskutiert werden; unabhängig davon ist festzuhalten, dass Enite die selbstsüchtige Haltung des verligens durch eine Selbstlosigkeit vertauscht, die radikaler kaum sein könnte. Sie setzt ihr Leben aufs Spiel, um ihren Mann für die Gemeinschaft zu erhalten. Dass sie auf diese Weise nur einen - und vielleicht nicht unbedingt den zentralsten - Teil des eingangs formulierten Problems thematisiert, deutet dabei auf einen Wechsel im argumentativen Modus hin, der sich im Folgenden bestätigen wird: War das Problem im ersten Teil des Textes noch zwischen mehreren Parteien hin- und her gespiegelt und in verschiedene Grade der Konkretion gebracht worden, so wird es nun in mehrere Aspekte unterschieden 103 und von Aspekt zu Aspekt voranschreitend systematisch geprüft. Dabei setzt die Erörterung - die damit spätestens an dieser Stelle zu einer im engeren Sinne argumentativen wird 104 - da an, wo das Problem zuerst aufgetreten war: bei der Paarbeziehung zwischen Erec und Enite in ihrem Verhältnis zur Gemeinschaft. Enite, so wäre mithin zu sagen, bringt das erste Argument vor, indem sie behauptet, dass der Gemeinschaft, der sie Erec in Karnant aus Eigennutz ‚geraubt‘ hatte, am besten dadurch gedient sei, dass sie ihn in völliger Selbstaufgabe gleich zweimal vor den Räubern rettet. 105 Dass damit freilich das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, scheint in der nächsten Aventiure auf, in der zwar nicht Enites Argument selbst, wohl aber die Hypothese, auf die es sich bezieht, entkräftet wird. Diese Deutung liegt jedenfalls nahe, wenn man den ‚Räuber‘, vor dem Enite ihren Mann dieses Mal rettet, näher ins Auge fasst. Der Burggraf, der Enite heiraten und Erec selbst töten (ihm also die Frau und das Leben rauben) will, ist nämlich, wie der Erzähler versichert, an sich biderbe unde guot ( HE 3688), und wenn er Enite aus der Knechtschaft ihres - wie sie selbst sagt - Entführers zu befreien und sie in die ehrenvolle Stellung einer Landesherrin zu erheben sucht, handelt er zudem im guten Glauben. 106 Die Schuld liegt folglich nicht (ausschließlich) bei ihm; 107 und sie liegt wohl auch nicht bei Enite (deren Geschichte von Entführung und Zwangsheirat ja nur den manifest sichtbaren Zu- 101 Die selbstauferlegte Blindheit ist also eine realisierte Metapher der vorherigen Verblendung. Ähnlich Feistner 1999, S. 245. 102 Das geteilte spil , das Enite sich hier selbst vorlegt (HE 3153-3155), spiegelt das arthurische Dilemma nur formal; denn es ist ja rasch aufgelöst. 103 Es liegt also eine distinctio vor. Vgl. dazu Zappen 1994. 104 Das Vorbringen und Abschreiten der Beweise ist Gegenstand der argumentatio . Vgl. Lausberg 1960 / 2008, § 348 f. 105 Dass die Räuber zugleich in gewisser Weise als Spiegelungen Erecs figurieren (vgl. Kap. III.2.3.3) steht dieser Deutung nicht entgegen: in diesem Fall würde Enite ihn (was sie in Karnant unterließ) vor sich selbst retten. 106 Spätestens nach der Rücksprache mit Enite muss er sich für ihren Retter halten. Wenn er als „Negativfigur“ erscheint (so Mertens 2008, S. 660), so liegt das demnach nur an der - eindeutig gegen ihn gerichteten - Erzählerstimme. 107 Das Begehren, das ihm die Macht der Minne eingibt (HE 3691-3693) spricht sicher gegen ihn; er ist darin aber nicht mehr zu verurteilen als Erec, dessen verligen denselben Grund hatte. Der Weg als Problemverhandlung 187 stand ihrer Beziehung plausibilisiert), sondern bei Erec, oder besser: bei der hypothetischen Konstellation, mit der er die Voraussetzung für Enites Beweisführung legt. Dass der Verzicht auf die eheliche Gemeinschaft der richtige Weg ist, um das Problem des verligens zu lösen, darf demnach insofern bezweifelt werden, als er, wie der Burggraf durchaus richtig beobachtet, der gemeinschaftlichen Natur der Ehe zutiefst widerspricht. 108 Wer seine Frau so behandelt wie Erec Enite, ist ihrer entweder nicht würdig oder nicht ebenbürtig 109 und damit weder ein anerkennenswertes Mitglied der (Adels-)Gemeinschaft noch ihr von Nutzen, im Gegenteil: Die Trennung von Tisch und Bett führt einen im Grunde ehrenwerten und wohlwollenden Mann zuerst in die Irre und dann - da Erec ihn schließlich auch noch schwer verwundet - fast ins Verderben. Das so gegebene Muster wiederholt sich in den folgenden Aventiuren noch zweimal, wobei jeweils ein anderer Aspekt des Konflikts zwischen dem Anspruch des Einzelnen und dem der Gemeinschaft fokussiert wird. Dass Erec nicht nur Enite, sondern auch sich selbst alle Vorteile der Gemeinschaft verweigert, erhellt hier vor allem aus der mehrfach bekundeten Ablehnung jeder Art von Bequemlichkeit ( gemach ); 110 es geht aber auch aus dem Gestus hervor, mit dem Erec die Aussicht von sich weist, im Kampf gegen Guivreiz []lob[] und prîs zu erwerben ( HE 4345 f.). Die Gemeinschaft, von der er sich unter Verzicht auf sein individuelles (Geltungs-)Bedürfnis abwendet, ist offenkundig die seiner ritterlichen Standesgenossen; und dass er ihr dergestalt in keiner Weise nützt, tritt nicht zuletzt in dem mehr oder weniger verstimmten Unverständnis zutage, das sein Verhalten auslöst. Guivreiz hält ihn für verzaget , ist beleidigt und zwingt ihn nun erst recht zum Kampf ( HE 4366 ff.); Erecs fortgesetzte Weigerung, bei Artus einzukehren, führt fast zum Streit mit Gawein; und die verfrühte Abreise aus Artus’ Lager muote […] den künec […] sêre, so daz er niht mêre in dem walde wolde bestân ( HE 5284 f.). 111 Zur höfischen Freude beigetragen hat Erec also jedenfalls nicht. Der daraus entstehende Schaden trifft freilich vor allem ihn selbst. Im Kampf gegen Guivreiz schlägt er so lange nicht zurück, bis er gefährlich verwundet wird ( HE 4407-4420). Dies, sowie der Umstand, dass er der Heilung sowohl bei Guivreiz als auch am Artushof entflieht, wird ihm schließlich zum Verhängnis: Die Wunde bricht im Kampf für Cadoc wieder auf und verursacht den Scheintod. Man darf das vielleicht so explizieren, dass Erec, indem er den ritterlichen Ruhmerwerb ebenso ablehnt wie die Bequemlichkeit des Hoflebens, sich letztlich (zeichenhaft! ) nur selbst wehtut. 112 Durch seinen 108 Es ist explizit die Trennung von Tisch und Bett, die den Grafen zu seiner Intrige ermutigt (HE 3661-3667). Das ist insofern nachvollziehbar, als er aus ihr auf einen Defekt der Ehe schließen darf. 109 Die für Enite entehrende Situation ( ‚er hât iuch ze einem knehte‘ , HE 3773) veranlasst den Grafen zu der Ansicht, er sei dem umherziehenden Fremden ständisch überlegen - zu Recht, denn Frauen, zumal die eigene, anständig zu behandeln, ist erste Ritterpflicht. Enite bekräftigt diese Auffassung mit der Aussage über ihre hochadlige Herkunft (HE 3869-3871) und ihren höheren Stand (‚ichn bin im niht genôzsam‘ , HE 3868). 110 Zur leitmotivischen Rolle des Verzichts auf gemach Kuhn 1948 / 1969, S. 142, vgl. Bumke 2006, S. 98-100. 111 Die sogenannte ‚Zwischeneinkehr‘ hat also in meiner Lektüre nicht die Sonderstellung, die sie in der symbolstrukturellen Deutung Haugs einnimmt. Anstatt den Schlusspunkt des Abschnitts zu markieren, indem sie Erecs erneute Artuswürdigkeit bestätigt (so Ruh 1967 / 1977, S. 133), reiht sie sich thematisch in einen episodischen Gang durch die Aspekte von Erecs Problem ein, der erst mit dem Scheintod endet. Zum gleichen Schluss kommt (aus anderen Gründen) Lieb 2002, hier bes. S. 214-216. 112 Da die Wunde Folge der Kampfverweigerung und des überstürzten Verlassens des Artushofs ist, symbolisiert sie den Makel von Erecs unritterlichem Verhalten. Weiteres dazu in Kap. III.2.3.3. Die alternative Option, sie als Symbol des „Paradox[es] von Überlegenheit und Gleichrangigkeit“ zu deuten, das sich hier in der Ambivalenz zwischen ritterlicher Freundschaft und Rivalität äußert (Hasebrink 188 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ unnötigen Verzicht wird er so weit geschwächt, dass er am Ende jener Pflicht, die wohl seine wichtigste als Ritter und Herrscher ist, nämlich dem Schutz der Gemeinschaft, kaum noch nachkommen kann. Dass dieser letzte Aspekt 113 in nur noch einer Episode (statt wie die beiden vorangehenden in jeweils zwei) abgehandelt wird, kann hieran anschließend vielleicht so gedeutet werden, dass es, um die Unhaltbarkeit von Erecs Hypothese endgültig zu belegen, keines größeren Aufwands mehr bedarf. Entsprechend ist die Szenerie des selbstlosen Einsatzes für Cadoc und seine Freundin in auffälliger Weise als Nullsummenspiel arrangiert. Erec und Enite begegnen der klagenden Dame Cadocs im Wald, und Erec lässt, um ihr zu helfen, nicht nur seine Frau allein zurück, sondern er setzt, um das Leben ihres Mannes zu retten, auch sein eigenes Leben aufs Spiel ( ‚wan ich benamen sol bî im belîben tôt, oder ich hilfe im ûz nôt‘ , HE 5369-5371). Wenn er Cadoc - der als ein von den Riesen Geschlagener als Alter Ego des vom Zwerg geschlagenen Erec figuriert 114 - befreit und ihn seine Reise zu Artus fortsetzen heißt ( HE 5676 ff.), dann gibt er der höfischen Gemeinschaft des Artushofs zudem nur das zurück, was er ihr in Gestalt seiner selbst und Enites zuvor entzogen hatte. Dass sein radikaler Verzicht auf den eigenen Vorteil dieser Gemeinschaft unter dem Strich nichts und ihm selbst nur Schaden gebracht hat, wird dem Leser spätestens durch den Ausgang der Episode vor Augen geführt. Nachdem Erec Cadoc verabschiedet hat und zu Enite zurückgekehrt ist, bricht er wie tot zusammen und restituiert so den Ausgangszustand: ein todwunder Ritter und eine weinende Frau allein im Wald. Erecs Argumentation verläuft also augenscheinlich im Sande, oder, wie man mit Blick auf eine weitere bezeichnende Wiederholung wohl besser sagen sollte, im Kreis. Denn das Bild der über ihrem - dort schlafenden, hier scheintoten - Gemahl klagenden Enite spiegelt auch das Tableau von Karnant aus dem ‚Innen‘ des Hofes ins ‚Außen‘ der Aventiurewelt zurück 115 und lässt so unmissverständlich deutlich werden, dass Erecs Hypothese buchstäblich nur bewirkt, die Krise in verschärfter Form wiederkehren zu lassen. 116 Argumentationslogisch wäre in diesem Sinne wohl zu formulieren, dass Erec in diesem ersten Durchgang seiner Erörterung nicht ans Ziel gelangt, weil sein Verfahren zur Auflösung des Konflikts zwischen Einzelnem und Gemeinschaft nicht das richtige ist. Anstatt die Gemeinschaft ins Recht zu setzen, 2009, S. 9), passt freilich ebenfalls ins Bild: In diesem Sinne wäre zu sagen, dass sie das Problem der arthurischen Hirschjagd - spezifiziert auf den Aspekt der ritterlichen Zweierbeziehung - repristiniert. 113 Inwiefern dieser Aspekt einen distinkt vom vorangehenden unterschiedenen markiert, könnte sicher diskutiert werden. Dass mit der „Hilfeleistung für andere“ ein neues Thema aufgebracht wird, notiert jedoch schon Ruh (1967 / 1977, S. 134). Lieb nimmt diesen thematischen Wechsel (mit) zum Anlass, um die Cadoc-Episode der Institution der Herrschaft zuzuordnen, nicht ohne allerdings zu konzedieren, dass die Hilfe für Andere auch Ritterpflicht ist (2002, bes. S. 239-252). Aus der Perspektive meiner Deutung ist es sicher sinnvoll, die Aspekte der Diskussion des Verhältnisses zwischen Einzelnem und Gemeinschaft unter die Themen ‚der / die Einzelne in der Ehegemeinschaft‘, ‚der Einzelne in der Gemeinschaft Gleichrangiger‘ und ‚der Einzelne in der höfischen Gemeinschaft‘ zu fassen. 114 Erec bezieht Cadocs Missgeschick sogar explizit auf sich: ‚swer sô manheit üeben will, in enbringe geschiht ûf daz zil, dâ er sich schamen lîhte muoz: dar nâch wirt im es buoz. wie dicke ich wirs gehandelt bin! ‘ (HE 5670-5674). 115 Gebhart bezeichnet die Szenen im gleichen Sinne als „Gegenpole“: „gesellschaftlicher Tod“ in Karnant vs. körperlicher Scheintod (2003, S. 188) - freilich ohne die Beobachtung strukturell zu bewerten. 116 In der Perspektive meiner Deutung wird damit (anstelle des Artushofs in der klassischen Interpretation) die Krise zum zentralen Orientierungspunkt der ‚Erec‘-Struktur: Jeder der drei Durchgänge beginnt mit einer Krise, in der das Problem, das zugleich Thema der folgenden Erörterung ist, jeweils (re-)konfiguriert und spezifiziert wird. Meine Gliederung trifft sich auch in diesem Punkt mit der von Lieb 2002. Der Weg als Problemverhandlung 189 wendet sein Umkehrschluss das Ungleichgewicht nur um. Während im ‚Fall Karnant‘ der Eigennutz des Einzelnen der Gemeinschaft schadete, schadet im ‚Fall Cadoc‘ der Dienst an der Gemeinschaft ihm selbst - und das, ohne dass der Gemeinschaft (unterm Strich) damit gedient wäre. 2.2.2.4 Argumentatio II , peroratio: Zweite Ausfahrt, zweiter Kursus Erecs Scheitern ist natürlich kein persönliches Versagen. Denn der Denkfehler, der in ihm zum Ausdruck kommt, ist ja nicht sein eigener. Wer hier denkt und argumentiert, das ist, wie schon gesagt, vorderhand nicht Erec selbst, sondern der Text, in dessen narrativer Erörterung er als Spielstein eingesetzt wird. Wenn nun ausgerechnet das Moment, das den Misserfolg des ersten Kursus begründet hatte, zur Bedingung für den Erfolg des zweiten wird, dann deutet das gleichwohl darauf hin, dass der Eigenbeitrag der Figuren auch hier eine gewisse - wiewohl leicht windschief dazu stehende - Rolle für den Fortgang der Argumentation spielt. Wie bereits zuvor in Karnant, so ist man nämlich auch an dieser Stelle dazu geneigt, Erec und Enite eine Einsicht zuzuschreiben, die sich in diesem Fall in ihrem mehrfach demonstrierten Willen zur Selbstaufgabe äußert. Und wie schon zuvor in Karnant geht diese Einsicht auch hier in die Argumentation ein, 117 oder genauer: Sie führt dazu, dass die argumentierende Instanz das Arrangement ihrer Denkbewegung modifiziert und dieses im zweiten Kursus unter verändertem Vorzeichen noch einmal durchspielt. Dass nun glücklich endet, was zuvor so gründlich fehlschlug, ist deshalb wiederum nicht so zu verstehen, dass Erec und Enite etwa ihre Haltung geändert, ja dass sie gar etwas gelernt hätten. Es bedeutet vielmehr bloß, dass das Interesse des Einzelnen nur dann mit dem der Gemeinschaft vereinbart werden kann, wenn der Einzelne dazu bereit ist, das Wohl der Anderen im Streben nach dem eigenen Wohlergehen bevorzugt zu berücksichtigen. Auch die psychischen Regungen der Figuren haben also letztlich argumentative Valenz. Die Interferenz, die damit zwischen der erörternden Entfaltung des Themas und der erzählweltlichen Handlung erneut erkennbar wird, erklärt, warum Erec und Enite die Lösung, die ihnen zunächst verwehrt blieb, nun finden, ohne etwas maßgeblich anders zu machen als zuvor: Sie wird ihnen von der über ihre Welt regierenden Macht quasi zum Lohn für ihre Mühe geschenkt. 118 In argumentativer Hinsicht markiert dieses Geschenk nichts anderes, als dass auf die These des verligens (Vorrang des Individualprinzips) und die Gegenthese des ersten Teils der zweiten Ausfahrt (Vorrang des Gemeinschaftsprinzips) nun die Synthese (Ausgleich der Prinzipien) folgt. Im erzählten Geschehen gestaltet sich diese Synthese so, dass Erec und Enite die bereits absolvierten Stationen noch einmal abschreiten, wobei es ihnen nun gelingt, in den dort thematisierten Aspekten eine Form von Gemeinschaftlichkeit zu begründen, die für alle von Vorteil ist. Den Anfang macht die zweite Burggrafenepisode, in der Erec als ein Anderer aus der Starre des Scheintods erwacht, Enite vor der Zwangsheirat mit Oringles rettet 119 und, indem er sie um Vergebung bittet, 117 Dies geschieht hier insofern sogar noch deutlicher, als die Einsicht Voraussetzung für die Lösung ist. Eine Vermittlung der Interessen von Einzelnem und Gemeinschaft ist nur möglich, wenn der Einzelne seinen Anspruch freiwillig zurücknimmt: Sein Einsehen ist also tatsächlich im engeren Sinne ein Argument. 118 Dass diese Macht nicht, wie Kuhn meint (1948 / 1969, S. 149 f.), der christliche Gott ist (wenngleich sie eine analoge Funktion erfüllt), sollte spätestens hier deutlich geworden sein. Zur Problematik der Gott-Funktion im ‚Erec‘ auch Hausmann 2014. 119 Dass sein Verhalten hier - anders als in der ersten Burggrafenepisode - nicht mehr als problematisch erscheint, resultiert zum einen im anderen Arrangement (Scheintod statt willkürliche Trennung von 190 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ die Ehegemeinschaft wiederherstellt. Es folgt die zweite Begegnung mit Giuvreiz, auf den ersten Blick unter misslichen Umständen, da Erec den kleinen König, der inzwischen sein Freund geworden ist, im nächtlichen Dunkel nicht erkennt und im Kampf gegen ihn beinahe den Tod findet. Weil das Schlimmste jedoch durch Enites Eingreifen verhindert wird, erweist sich das Unglück am Ende insofern als Glück, als es gleich in mehrfacher Hinsicht Erecs Reintegration in die Gemeinschaft seiner Standesgenossen ermöglicht. Diese wird zum einen durch die Niederlage gegen Guivreiz selbst bewirkt, die sich in dieser Funktion neben Erecs Siege über Iders und Mabonagrin stellt. 120 Und sie zeigt sich zum anderen darin, dass Erec nun endlich die Gelegenheit wahrnimmt, die Wunde, die er sich im ersten Kampf mit dem Zwergenkönig als Symbol seiner verfehlten Selbstverleugnung zugezogen hatte, in höfischer Umgebung auszukurieren. 121 In dieser Weise wiederhergestellt, kann er deshalb jetzt drittens für die höfische Gemeinschaft eintreten, ohne sich wie zuvor im Kampf für Cadoc selbst zu verlieren. Sein Sieg gegen Mabonagrin erlöst diesen aus der selbstgewählten Isolation, stellt die Freude des Hofes von Brandigan wieder her, erlöst die 80 Witwen der von Mabonagrin getöteten Gegner aus ihrer Trauer und gereicht nicht zuletzt Erec selbst zu höchster Ehre. 122 Auf der Basis dieses Erfolgs kann er seine Stellung in der Gesellschaft (nunmehr ungefährdet durch seine vormalige Verfehlung) wieder einnehmen: erst die Stellung in der Gemeinschaft der Artusritter, deren König ihm erneut einen prächtigen Empfang bereitet, und dann die Stellung in der Gemeinschaft seines eigenen Landes, dessen Herrschaft er nun gemeinsam mit Enite ausüben kann, ohne sich wie zuvor zu verligen . Ob dieser zweite Durchgang der (Ver-)Handlung noch als ein im eigentlichen Sinne argumentativer anzusprechen ist, ist nicht ganz leicht auszumachen. Einerseits ist man versucht zu sagen, ja: Denn die Argumente des ersten Kursus werden nochmals erörtert und können ohne weiteres als Belege der These gelesen werden, dass es für denjenigen, der tut, was die Gesellschaft von ihm verlangt und dafür nimmt, was sie zu bieten hat, durchaus möglich ist, sein eigenes Wohl mit ihrem zu verbinden. Andererseits erweckt die offensichtliche Geschenktheit dieses Vorgehens deutlich den Eindruck, als müsste hier nichts mehr bewiesen werden, als genüge es, das bereits Feststehende vorzuzeigen. 123 Es scheint mir deshalb angebracht, den Episoden dieses Handlungsteils eine Doppelrolle zuzuschreiben. Sie führen den Beweisgang der argumentatio zu Ende, erfüllen aber auch schon die konstatierend-resümierende Aufgabe der peroratio : Sie zählen die beweisenden Argumente (noch einmal) auf und verleihen ihnen durch die schiere Selbstverständlichkeit ihres erfolgreichen Wirkens das Ansehen fragloser Geltung. 124 Tisch und Bett) und zum andern in der symbolischen Valenz der Szene, die den Scheintod als Verwandlung Erecs und die Tötung Oringles’ als Sieg über sich selbst markiert. Dazu ausführlicher noch einmal Kap. III.2.3.3. 120 Dass eine Niederlage im Artusroman gleichbedeutend mit einer (Re-)Integration in die Rittergemeinschaft ist (oder sein kann), konstatiert bereits Köhler 1965 / 1970, S. 66-88. 121 Die Symbolik der Wunde korrespondiert der Symbolik der Heilung. Der Aufenthalt in Guivreiz’ Jagdschloss Penefrec, bei dem Erecs Wunde geheilt wird, kann auf Karnant, aber auch auf die Hirschjagd zurückbezogen werden. 122 Die Korrespondenz der beiden Episoden (Cadoc - Mabonagrin) ist bekannt, wurde bisher aber, soweit ich sehe, nur von Lieb strukturell gedeutet (2002, S. 247 f.). 123 In diesen Zusammenhang gehört auch die zeichenhafte Überhöhung, die den Episoden, wie noch gezeigt werden soll (Kap. III.2.3.3), das Ansehen höherer Gültigkeit verleiht. 124 Vgl. Lausberg 1960 / 2008, § 431-442 Der Weg als Problemverhandlung 191 2.2.2.5 Fazit, anschließende Fragen Die interpretierende Paraphrase der letzten Seiten zeigt: Den ‚Erec‘ als eine narrativierte Erörterung zur Frage des richtigen Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der höfischen Gemeinschaft zu lesen, ist nicht allein möglich, sondern für seine Deutung auch überaus erhellend, vermag es doch gerade diejenigen seiner Besonderheiten, die sonst entweder gar nicht oder nur mit Mühe zu deuten sind, in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen. Die arthurische Hirschjagd und das Auftreten Iders’, die Ausfahrt aus Karnant und die Rolle der Aventiure - all das gewinnt in diesem Rahmen das Ansehen luzider Folgerichtigkeit. Die Strukturen des ‚Doppelwegs‘ und des ‚doppelten Kursus‘ werden dabei formal bestätigt, erscheinen aber, ebenso wie das Phänomen der Wiederholung als solches, in neuem Licht. Denn die Wiederholung und bedeutungsübertragende Spiegelung bestimmter handlungsweltlicher Momente, von Motiven, Ereignissen und Situationen, steht jetzt nicht mehr für das mechanische Ablaufen eines bestimmten Strukturplans; in ihr kommt vielmehr die Logik einer gedanklichen Auseinandersetzung zum Ausdruck, die sich der rhetorischen Dispositions- und Argumentationslehre als eines Mediums der thematischen Entwicklung bedient. Wenn man dazu bereit ist, meiner Deutung bis hierher zu folgen, so wird die Verschmelzung von Problemverhandlung und erzählweltlichem Geschehen zu einem (ebenenübergreifenden) argumentativen ‚Gedankengang‘ als das wohl wichtigste Merkmal der Sinnbildung des ‚Erec‘ erkennbar. Im Zuge dessen tritt (erneut) zutage, warum eine strukturalistische (respektive ‚symbolstrukturelle‘) Lektüre mit ihrer Trennung von thematischer und handlungsweltlicher Ebene der spezifischen ‚Künstlichkeit‘ von Hartmanns Text nicht gerecht zu werden vermag; vor allem aber erweist sich der Mehrwert eines narratologischen Ansatzes, der diese Trennung aufhebt. Denn erst er ist dazu in der Lage, das ‚künstlich‘-sinnbildende Prinzip, das den Text insgesamt beherrscht, sowohl präzise zu umreißen als auch einem Verständnis zuzuführen, in dem sich gedanklich abstrakte und konkret erzählweltliche Elemente in wechselseitiger Durchdringung zum übergreifenden Ganzen einer argumentativen Handlungslogik fügen. Dass dieses Ganze zumindest hier, in der hochgradig ‚künstlichen‘ Gemachtheit des ‚Erec‘, nur um den Preis einer massiven ‚thematischen Überfremdung‘ der Handlungsebene durch das Prinzip der Argumentation zu haben ist, bedeutet wie gezeigt keineswegs, dass den Figuren grundsätzlich keine psychische Dimension zukäme oder dass sie nicht in irgendeiner Weise als Modelle von ‚echten‘ Menschen anzusprechen wären. Es heißt nur, dass sie genauso wie alle anderen Elemente des Erzählens letztlich im Dienst der narrativierten Erörterung stehen und in ihren realistischen Aspekten gleichermaßen auf diese angeordnet sind wie in ihren unrealistisch-‚künstlichen‘. Die Brüche und Irritationen, die im Erzählen immer wieder aufscheinen, können in diesem Zusammenhang zumindest partiell als „epische Doppelpunkte“ im Sinne Kuhns begriffen werden. 125 Sie scheinen also gezielt gesetzt, um den Rezipienten darauf aufmerksam zu machen, dass er es mit einer Geschichte zu tun hat, die nicht im Modus einer Alltagserzählung als (u. U. lehrhafte) Anordnung faktischer Ereignisse verstanden werden will, sondern eine Problemdiskussion von allgemeinerer Gültigkeit darstellt. Von den zuletzt besprochenen Passagen ist der Peitschenhieb des Zwergs dafür das vielleicht eindrücklichste Beispiel: Die arthurische Hirschjagd sehr viel stärker erzählweltlich mit der Sperberaventiure zu verknüpfen - z. B. durch den 125 Kuhn 1948 / 1969, S. 143. 192 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ expliziten Auftrag an Erec, die zum Abschluss der Hirschjagd erforderliche Schönste von außen herbeizuschaffen, um den inneren Konflikt der Artusgemeinschaft zu beenden -, wäre Hartmann ebenso wie Chrétien zweifellos ein Leichtes gewesen. Indem beide Dichter genau dies unterlassen und so den Eindruck eines unmotivierten Nebeneinanderstehens von Episoden provozieren, 126 setzen sie jedoch ein (Irritations-)Signal, das den Rezipienten dazu anregt, den Nexus woanders zu suchen; - was ihm zumal mit Blick auf die sinnträchtigen Wiederholungen Gelegenheit gibt, zunächst die metaphorische Dimension der Szene zu bemerken und diese dann als eine Art thematischer Brücke zwischen zwei ähnlichen Realisationen ein und desselben Problems zu identifizieren. Der offenkundige Bruch in der Handlungsmotivation kann demnach als Hinweis darauf gelesen werden, dass das erzählte Geschehen vornehmlich thematisch gebunden ist und dass es darum als eines verstanden werden muss, das nicht nur gegenständlich-narrativ, sondern auch (oder vor allem) gedanklich-ideell verknüpft wird. 127 Je weniger alltagsverständlich und je ‚künstlicher‘ dem Rezipienten das Geschehen vorkommt, desto mehr, so könnte man in diesem Sinne sagen, tritt der bildhaft spiegelnde und narrativ gliedernde Aspekt der Darstellung hervor. Die Frage stellt sich aber natürlich gleichwohl: Inwiefern darf man annehmen, dass das von mir beschriebene Verfahren einer erzählweltlich-‚konkreten‘ Argumentation von einem mittelalterlichen Publikum erfasst werden konnte? Denn, so der naheliegende Einwand: Selbst wenn man davon ausgeht, dass ein mittelalterlicher Rezipient sehr viel mehr als ein neuzeitlicher Leser dazu neigte, den Text nicht als einen wirklichkeitsabbildenden, sondern als einen sinnhaft bedeutenden wahrzunehmen, so heißt das doch noch nicht, dass er die Wiederholungen des ‚Erec‘ deshalb schon auf einen ihnen impliziten gedanklichen Vorgang bezog. Und es heißt, wie hinzuzufügen ist, auch nicht, dass er die narrativthematische Entfaltung dieses Vorgangs als eine im engeren Sinn argumentative verstand. Auch wenn man konzediert, dass sich die Denkbewegung des Erzählens tatsächlich, wie von mir dargelegt, im Geschehen selbst vollzieht, könnte man also behaupten, sie läge aus Sicht des Rezipienten dennoch ‚unter‘ ihm verborgen: Verständlich werden scheint sie nur demjenigen zu können, der dazu bereit und in der Lage ist, das Erzählte analytisch zu durchdringen und es in Hinblick auf einen thematischen Gehalt zu abstrahieren. Andernfalls - so wenigstens die naheliegende Vermutung - muss sich der ‚tiefere Sinn‘ der Erzählung dem Zugriff des Rezipienten entziehen. 128 Das so formulierte Argument ist ohne jeden Zweifel ein ernstzunehmendes. Als solches begründet es die Notwendigkeit, noch etwas ausführlicher bei der Frage zu verweilen, wie es Hartmann gelingt, den argumentativen Gehalt von Erecs ‚Gedankengang‘ auch denjenigen seiner Rezipienten verständlich zu machen, die nicht unbedingt dazu neigten, seinen Text in der Weise analytisch zu erschließen, wie ich es in den letzten Abschnitten getan habe. Dass der Versuch, diese Frage zu beantworten, erneut ins Gebiet der Rhetorik führt, ist an dieser Stelle vielleicht wenig überraschend, darum aber nicht minder aufschlussreich. Die folgenden Überlegungen werden zeigen, dass Hartmann gleich eine ganze Reihe literarischer Darstellungstechniken gezielt so einsetzt, dass sie den Leser auf eine Einsicht 126 „Die costume der Jagd auf den weißen Hirsch ist stimulans actionis, aber nicht für Erec“ (Ruh 1967 / 1977, S. 117). 127 Der epische Doppelpunkt würde also besagen: Merkt auf thematische Zusammenhänge! 128 Dieser Einwand gilt freilich nicht allein für meine Deutung: Er ist jeder Interpretation entgegenzuhalten, die das im Text Dargestellte in irgendeiner Weise verallgemeinert - und damit in gewisser Weise dem Akt der (ganzheitlich-textübergreifenden) Interpretation selbst. Der Weg als Problemverhandlung 193 des argumentativen Sinns seiner Erzählung hinleiten, die keine in erster Linie rationale, sondern eine vornehmlich sinnliche, assoziativ-intuitive, oder affektive ist. Dass sie damit die sinnfällig-veranschaulichende Funktion jener Verfahren erfüllen, die in der Rhetorik in den Aufgabenbereich der evidentia fallen, 129 ist umso interessanter, als sie dergestalt erneut sowohl auf den Eindruck kristallhafter Durchsichtigkeit verweisen als auch den Bezug zu den Kategorien meines Modells herstellen, und zwar konkret: zu jenen narrativen Formen, die bei mir als ‚Modi der Ausrichtung‘ firmieren. Das verbindende Moment von evidentia und ‚ausrichtenden‘ Modi besteht in diesem Fall darin, dass sie gleichermaßen auf der Idee beruhen, einen bestimmten gedanklichen (d. h. hier genauer: argumentativen) Gehalt illustrativ zu evozieren, ohne ihn explizit zu begründen. 130 Indem sie im Medium des erzählten Geschehens implizit etwas Gedankliches zu verstehen geben, treffen sie sich also im Prinzip der Konkretion. In diesem Zusammenhang kann die Rhetorik meinem Modell insofern sogar noch etwas Neues hinzufügen, als sie das rezeptionsästhetische Moment weitaus stärker fokussiert, als ich es bisher getan habe. Während ich mich in meiner theoretischen Vorüberlegung mehr auf den gegenstandsbezogenen Aspekt der Aufmerksamkeitslenkung konzentriert habe - auf die Frage also, w a s der ‚ausrichtende Modus‘ jeweils ins Zentrum des Interesses rücken lässt -, widmet sich die Rhetorik eher dem Wie, oder genauer: der Frage nach dem Effekt, mit dessen Hilfe eine Darstellung die Aufmerksamkeit des Lesers oder Hörers in eine bestimmte Richtung lenkt. 131 Die Engführung meines Modells mit dem Konzept der evidentia ist folglich nicht zuletzt deshalb weiterführend, weil sie (noch etwas deutlicher) hervortreten lässt, dass der Vorgang der ästhetischen Sinnbildung, um dessen Beschreibung es mir hier zu tun ist, nicht allein einer der inhaltlich-aussagehaften Darstellung ist. Wenn es darum geht, literaturwissenschaftlich nachzuvollziehen, wie ein bestimmtes (thematisches) Moment nicht nur narrativ-konkret illustriert, sondern auch intensiv erlebbar gemacht wird, ist die Art des literarisch evozierten Erlebens konsequenterweise immer mit in die Betrachtung einzubeziehen. 132 Von dieser Überlegung ausgehend möchte ich im Folgenden darlegen, wie Hartmann den ‚konkreten‘ Verlauf von Erecs ‚Gedankengang‘ in seinem argumentativen Gehalt auch ‚konkret‘ vermittelt: genauso mithin, wie dieser selbst gegeben ist, als eine Implikation der erzählten Handlung. Die Verfahren, die zu diesem Zweck eingesetzt werden, sind, rhetorisch gesprochen, die der evidentia , oder in meiner Terminologie: ‚ausrichtende Modi‘, die speziell darauf zielen, die Aufmerksamkeit des Rezipienten affektiv, assoziativ-intuitiv und imaginativ so zu steuern, dass ihm die implizite Denkbewegung des Erzählens buchstäblich sicht- und fühlbar wird. Hartmann bedient sich also veranschaulichender Gestaltungsweisen in der Art der evidentia , um seinem Publikum den Sinn des Erzählten auf einer Ebene jenseits der Ratio einsichtig zu machen. Er vermittelt den sachlogischen Gehalt seiner 129 Also des sinnfälligen Veranschaulichens des Redegegenstandes, welches in den Bereich der perspicuitas gehört. Vgl. Lausberg 1960 / 2008, § 810-819. Zum Verhältnis zwischen Rhetorik und mittelalterlich-literarischem Erzählen unter diesem Aspekt umfassend Hübner 2010; in dem Zusammenhang ist auch auf den Nexus zum enargeia -Konzept zu verweisen. Dazu etwa Scheuer 2005, Reich 2011. 130 Für die Rhetorik ist diese Aussage insofern einzuschränken, als die affektischen Figuren die sachlogischen Argumente für gewöhnlich eher unterstützen als ersetzen. Das ihnen darin ein implizites Moment zukommt, das durchaus in den Vordergrund rücken kann, wird man jedoch konzedieren dürfen. Dazu grundsätzlich Lausberg 1960 / 2008, § 808-851. 131 Vgl. Hübner 2010, bes. S. 132-141. 132 Im Hinweis auf den Aspekt der intensivierenden und erlebend-‚entdeckenden‘ Wirkung der Kunst greife ich nochmals auf Cassirer zurück (1990 / 1992, hier bes. S. 220-222). 194 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Argumentation mit Mitteln der Affektenlehre - mit genau der Wirkung, die Gottfried als kristallen bezeichnet: Der Rezipient weiß, was der Text ‚ihm sagen‘ will, auch wenn er nicht erklären kann, woher er es weiß, und er sich seines Wissens vielleicht nicht einmal bewusst ist. Es ist, als ob der Sinn des Erzählten ihm direkt ins Gemüt hineinleuchten würde. 133 Um mich möglichst pointiert verständlich zu machen, greife ich aus der Vielzahl der Darstellungsmittel des ‚Erec‘, die man als im weitesten Sinne aufmerksamkeitslenkend oder rezeptionssteuernd bezeichnen kann, drei heraus, die mir besonders deutlich vom ‚konkret-einsichtigmachenden‘ Vorgehen des Textes zu zeugen scheinen. Ich komme dabei am Schluss noch einmal auf jenes spiegelnd-verbildlichende Verfahren zurück, von dem zuletzt so viel die Rede war. Indem es gedankliche Inhalte metaphorisch realisiert und systematisch in einen Prozess der permanenten Um- und Rekonkretion überführt, ist es, wie zu zeigen sein wird, der ebenso eindrückliche wie wirksame Ausdruck des Versuchs, den Inhalt der narrativen Erörterung imaginativ zu vermitteln. Davor gehe ich in zwei kürzeren Abschnitten auf zwei Aspekte der Darstellung ein, die den Rezipienten demgegenüber emotional ansprechen bzw. seine - erzählschematisch begründete - Erwartungshaltung für sich nutzen. Die narrative Inszenierung von Erecs beiden Ausfahrten steht hier exemplarisch für ein Erzählen, das darauf ausgerichtet ist, argumentative Evidenz auch affektiv und intuitiv herzustellen. 2.3 Formen der Evidenzerzeugung. Zur narrativen Vermittlung des argumentativen Gehalts 2.3.1 Affektive Evidenz: Die Ausfahrt aus Karnant Die ‚Ausrichtung‘ des Erzählens auf ein bestimmtes Thema, so hatte ich in meinen theoretischen Überlegungen formuliert, 134 kann durch narrative Verfahren, die alltagsweltliche Plausibilität herstellen, genauso erfolgen wie durch solche, die eine derartige Plausibilisierung verweigern. Was das genau bedeutet, ist am Beispiel der Ausfahrt Erecs und Enites aus Karnant, die im Anschluss an die Krise des ersten Handlungsteils ( verligen ) den Beginn des zweiten markiert, exemplarisch zu zeigen. Die Erzählform, auf die es in diesem Zusammenhang ankommt, ist die der psychologischen Motivation bzw. der Psychonarration, und sie wirkt als solche doppelt: durch ihr Fehlen auf der einen und ihren gezielt-sympathiesteuernden Einsatz auf der anderen Seite. Dabei ist das eine nicht weniger als das andere dazu angetan, die Gemüter der Rezipienten zu erregen. Um die affektive Wirkung des ersten, motivationsverweigernden Anteils der Darstellung zu erkennen, genügt im Grunde der Blick auf eine Forschung, deren Auseinandersetzung mit der Episode nicht zuletzt vom Bestreben zeugt, der eigenen Gemütsbewegung Herr zu werden. 135 Verantwortlich dafür ist eine Schilderung des Vorgangs, die außerordentlich 133 Man darf hier vielleicht nochmals an Gottfrieds Formulierung erinnern: s i koment den man mit siten an, si tuont sich nâhen zuo dem man und liebent rehtem muote (GTr 4631-4633). 134 Kap. II.2.2.1. 135 Die Problematik des verligens ist lange Zeit das wohl wichtigste und umstrittenste Thema der ‚Erec‘- Forschung gewesen. Die affektive Beteiligung wird dabei allenthalten sichtbar. Ich verweise nur auf Kuhns Behauptung, dass sich jeder, der Enite „entgegen Hartmanns ausdrücklicher Versicherung, auch nur einer Mitschuld“ zeihe, „an einer der reinsten Frauengestalten in Mittelalter und Neuzeit […] versündigt“ (1948 / 1969, S. 150). Ähnlich parteilich urteilt Fisher, dass Erec Enite deshalb so schlecht Formen der Evidenzerzeugung 195 intensiv nach Erklärung verlangt. Zur besseren Orientierung beginne ich wieder mit einer Paraphrase: Nachdem die Hochzeitsfeierlichkeiten am Artushof beendet sind, kehrt Erec in seine Heimat zurück, um dort gemeinsam mit Enite die Landesherrschaft zu übernehmen. Kaum hat er sich in Karnant niedergelassen, verfällt er jedoch der Untätigkeit. Von seinem ritterlîche[n] muot ist nichts mehr zu spüren; stattdessen widmet er sich nur mehr vrouwen Ênîten minne und seinem gemache (HE 2925 ff.). Dass sein Hof darüber an Ansehen verliert und von aller Welt gemieden wird, scheint Erec ebenso wenig zu bemerken wie das Murren seiner Leute. Enite nimmt die Vorwürfe zwar mit Sorge zur Kenntnis und sieht sogar ihre eigene schult an Erecs Verhalten ein ( HE 3008). Sie ist aber zu ängstlich, um ihn darauf hinzuweisen. Deshalb erfährt er es durch Zufall. Enite klagt ihr Leid, während sie Erec schlafend wähnt; er hört es und nötigt sie zu einem umfassenden Bericht. Anstatt nun aber, wie er es ihr versprochen hatte, nicht zornig zu werden ( HE 3047-3049) und etwa bloß sein Verhalten gegenüber den Leuten am Hof zu ändern, macht er sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit Enite auf den Weg. Er befiehlt ihr, in ihrem besten Kleid vor ihm her zu reiten, und verbietet ihr unter Androhung der Todesstrafe, auch nur ein Wort zu sagen ( HE 3093 ff.). Der Rezipient kann an dieser Stelle eigentlich nur mit der Frage reagieren: Warum? - Warum gibt sich Erec dem gemache anheim? Warum ist er blind für die Folgen seines Verhaltens? Warum bricht er ohne erkennbaren äußeren Grund erneut auf ? Was hat er eigentlich vor? Warum nimmt er Enite mit, vor allem aber: Warum behandelt er sie in so harter, ja entwürdigender Weise? Das affektive Moment erhellt daran anschließend aus der Dringlichkeit, mit der sich diese Frage stellt. Dass sie für einen mittelalterlichen Rezipienten nicht weniger spürbar gewesen sein dürfte als für die moderne Forschung, darf man wohl zumindest vermuten. 136 Den Effekt der Darstellung auf jene Form der Aufmerksamkeitslenkung zu beziehen, die Hugo Kuhn einen ‚epischen Doppelpunkt‘ genannt hat, liegt zweifellos auch in dieser Passage nahe. In diesem Sinne wäre davon auszugehen, dass die Motivationslücke den Rezipienten irritieren, ihn aus einem naiv-nachvollziehenden Lektüremodus herausreißen und ihn dazu anregen sollte, den Sinn der Erzählung auf einer anderen Ebene zu suchen. Der affektive Anreiz wäre gezielt gesetzt, um kognitive Aktivität zu bewirken, sprich: um den Hörer oder Leser dazu zu bewegen, seine Aufmerksamkeit auf die ‚Gemachtheit‘ des Textes zu lenken und ihn in seiner Eigenschaft als ästhetisches Artefakt zu deuten. Dass dem mittelalterlichen Publikum des ‚Erec‘ ein solches Vorgehen auch aus anderen Texten behandle, „weil er derart desorientiert ist, daß er sich lediglich einem primitiven Drang hingeben kann, seine männliche Autorität geltend zu machen“ (1975, S. 171). - Dass die Passage offenbar das Bedürfnis nach Erklärung ebenso evoziert wie das nach Parteinahme, muss mithin kaum weiter belegt werden; dass man nie danach gefragt hat, warum sie dieses Bedürfnis hervorruft und was das für das Verständnis des Textes zu bedeuten haben könnte, ist vor diesem Hintergrund zumindest verwunderlich. Überblicke über die ältere Forschung finden sich bei Haase 1988, S. 293-330 und Toepfer 2013, S. 104-113. Von den neueren Studien, die sich (auch) mit dem verligen beschäftigen, seien hier exemplarisch genannt: Quast 1993, Willms 1997, Jones 2000, Klein 2002, Bussmann 2005, Gerok-Reiter 2010, Toepfer 2013, bes. S. 114-123. 136 Die Vermutung lässt sich damit plausibilisieren, dass der ‚Erec‘ im literaturgeschichtlichen Bewusstsein des (deutschsprachigen) Mittelalters mit dem verligen geradezu identifiziert wird. Hartmanns Darstellung scheint also jedenfalls eindrücklich gewesen zu sein: Ihre parteiische Rhetorik wirkt epochenübergreifend. 196 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ nicht ganz unbekannt gewesen sein dürfte, soll im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch deutlicher werden. An der vorliegenden Stelle allerdings, und darauf kommt es hier an, markiert diese Wirkung nur eine von zwei Möglichkeiten. 137 Als solche mag sie von den reflektierteren von Hartmanns Rezipienten wahrgenommen und auf die Thematik des Textes bezogen worden sein; für das Verständnis seiner narrativen Erörterung notwendig ist sie jedoch nicht. Die Alternative scheint auf, wenn man die aus der Motivationslücke resultierende Frage nach Erecs Handlungsgründen mit der Darstellung zusammensieht, die speziell Enites Wahrnehmung der Episode betrifft. Sie ist hier nicht allein deshalb von Interesse, weil sie die Opazität von Erecs Psyche als Fokalisierungseffekt verständlich macht, sie ist es vielmehr auch deshalb, weil sie den Rezipienten ganz dezidiert davon abhält, seine Aufmerksamkeit von der erzählten Welt ab- und dem Vorgang des Erzählens zuzuwenden. Da Enite dem ganzen Vorgang nicht weniger ratlos gegenübersteht als er selbst, wird ihm nämlich der Eindruck vermittelt, als sei seine eigene Reaktion mit der ihren identisch. Die gemeinsame Irritation fungiert damit gleichsam als Anker, der die Wahrnehmung des Rezipienten in der erzählten Welt festhält und zu einer weitgehenden Identifikation mit Enite führt. 138 Dabei wird seine Irritation in genau dem Maße stärker und bis hin zur Empörung über Erecs Verhalten zugespitzt, als sie nicht nur mit der Ratlosigkeit, sondern auch mit der Sorge, der Angst und der Verzweiflung Enites übereinkommt. Die affektische Wirkung der Motivationsverweigerung wird also um die der Bewusstseinsdarstellung addiert. Der Wechsel des narrativen Fokus fällt mit dem Beginn der Episode zusammen. Während von den Intentionen und Gefühlen der Protagonisten beim zuvor geschilderten Turnier am Artushof nur sparsam und in annähernd gleicher Verteilung die Rede war (vgl. etwa HE 2621 f., 2788 ff., 2845 ff.), richtet sich die Aufmerksamkeit des Erzählers nun gänzlich und ausgesprochen intensiv auf Enite. Ihr allein kommen die Vorwürfe der Leute zu Ohren ( HE 3000 f.); man erfährt von i h r e r riuw[e] (HE 3002), i h r e n Sorgen und Selbstvorwürfen sowie von i h r e r Angst ( sie vorhte in dâ verliesen mite, HE 3012). Dasselbe bei der anschließenden Kemenatenszene. Erec liegt in Enites Arm (nicht umgekehrt: HE 3015); s i e gedenkt der ihr geltenden Verwünschungen, s i e rückt, da sie Erec schlafend wähnt, ein Stück zurück und s i e klagt. Es denkt, handelt und fühlt also nur Enite. Erec ist demgegenüber allein in seiner Reaktion präsent: Er zwingt seine Frau, sich zu erklären und geht dann mit der lakonischen Bemerkung ‚der rede ist genuoc getan‘ ( HE 3052) in einer Weise zur Tat über, die ebenso nach einer Begründung heischt, wie sie sich ihr entzieht (s. o.). Und es wird nicht besser: Enite ist im Folgenden nicht nur Erec, sondern auch dem Erzähler Auge und Ohr. Detailliert verfolgt dieser, wie sie die Räuber sieht, sich fürchtet, mit sich selbst ringt, Gott um Hilfe anruft und endlich den Entschluss fasst, sich für Erec zu opfern ( HE 3123 ff.). Was Erec von all dem wahrnimmt; ob er wirklich nichts sieht, ob er Mitleid mit Enite hat oder gar tatsächlich plant, die angedrohte Strafe zu vollstrecken, wird nicht berichtet. Den Effekt dieser Darstellung beschreibt Martin H. Jones zusammenfassend so: […] the audience is placed in the position of Enite, is forced in effect to empathize with her. We have as little insight into Erec’s motivation as does Enite herself; we know as little as she does 137 Ich formuliere das im Kontext meines Deutungsansatzes; in einem anderen Bezugsrahmen sind selbstverständlich auch andere Deutungen möglich. 138 Zu diesem Aspekt bes. Jones 2000. Vgl. auch Bumke 2006, S. 124, sowie, in etwas anderer Formulierung Meyer 1999, S. 150. Formen der Evidenzerzeugung 197 about his reasons for instructing her to ride ahead of him, prohibiting her from speaking […]. We experience Erec’s autocratic and authoritarian behavior as she does, with her lack of understanding, and the identification with her facilitates our appreciation of the way in which she copes with the treatment meted out to her. 139 Der Bezug zum rhetorischen Wirkungskalkül der evidentia liegt auf der Hand. Hartmann bedient sich seiner Protagonistin als Identifikationsfigur, um dem Hörer „das Gleichzeitigkeitserlebnis des Augenzeugen“ zu vermitteln und ihm im Zuge dessen ein bestimmtes Urteil über die Handlungsweise der Figuren nahezulegen. 140 Dieses fällt für Enite eindeutig positiv und für Erec eher negativ aus; und während dies geschieht, gewinnt es neben der evaluativen nicht zuletzt argumentative Evidenz: Indem der Erzähler sein Publikum dazu bringt, Enite für ihre beharrliche Selbstlosigkeit zu bewundern und unterdessen mit wachsendem Unmut über Erecs Beweggründe zu rätseln, hält er es unvermeidlich dazu an, die narrative Problemverhandlung gespannt zu verfolgen. Von einem gespannten Verfolgen ist dabei wohlgemerkt nicht in dem Sinne zu reden, dass der Rezipient Enites Situation auf ihr Problem hin reflektieren, es bewusst auf die thematische Konstellation des ersten Teils beziehen und Erecs Reaktion als Versuch verstehen müsste, seiner Frau einen Beleg seiner Hypothese abzuringen. De facto ist es in diesem Zusammenhang sogar relativ gleichgültig, welchen Reim er sich auf Erecs Verhalten macht. Denn ob er nun glaubt, dass dieser seine Frau (für ihr Reden, ihr Schweigen, ihre Untreue) strafe, oder doch eher (auf ihre Liebe, ihre Treue, ihre Standhaftigkeit) prüfe: immer setzt das Bedürfnis, das Geschehen überhaupt zu deuten, ein gewisses Verständnis dafür voraus, dass im verligen ein Problem vorliegt und dass die anschließende Aventiurefahrt dazu dient, es zu lösen. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang sogar besser von einem Eindruck oder einer Empfindung statt von Verständnis zu reden: Der Rezipient scheint das Problem gleichsam zu erspüren, indem er begreift, dass das verligen in irgendeiner Weise aus Erecs Liebe zu Enite und seiner Abwendung von der Gesellschaft resultiert, und er nimmt gerade in dem Befremden, das er dem merkwürdig gesuchten Arrangement der Ausfahrt entgegenbringen muss, das tentative Moment wahr, das das Wesen sowohl der Hypothese als auch der induktiven Argumentation ausmacht. Die Identifikation mit Enite ist dabei insofern essentiell, als sie dafür sorgt, dass der Rezipient die Argumentation, die der Text in seiner Handlung (‚konkret‘) vollzieht, gleichsam am eigenen Leib (also ebenfalls ‚konkret‘) miterlebt; - und das nicht obwohl, sondern gerade weil er Erecs Handlungsgründe nicht kennt. Nur so kann er dessen Entschluss zur Ausfahrt genauso wahrnehmen, wie es Enite tun muss: als eine rätselnd-suchende und in diesem Sinne thesenhafte Reaktion, die darauf zielt, dem Interessenkonflikt des verligens Abhilfe zu schaffen. Und nur so kann er auch ermessen, was Erecs Hypothese, die ja in der Bereitschaft zu altruistischem Verhalten bis zur Selbstaufgabe besteht, genau bedeutet: Wenn er sich mit Enite zwischen Reden und Schweigen - und damit zwischen dem eigenen Leben und dem des Partners - entscheidet, wird er quasi gezwungen, Erecs ‚Beweisführung‘ zugleich erfahrungshaft nachzuvollziehen und in dem Maße, als er Enites Gründen billigend folgt, zu unterstützen. Am Ende versteht er Erecs Verhalten so zwar immer noch nicht besser, aber er hat erfasst, worum es im Text geht. Er hat (mitbzw. nachfühlend) erkannt, welches Problem zu Beginn des zweiten 139 Jones 2000, S. 302. 140 Lausberg 1960 / 2008, § 810, Hübner 2010, bes. S. 132-141. Zur ähnlichen Darstellungstechnik des ‚Iwein‘ Hübner 2003, S. 132-146, 164-201. 198 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Handlungsteils aufgeworfen wird, mit welcher Hypothese es gelöst werden soll, und wie das erste Argument lautet, das dies belegt - und zwar auch und gerade dann, wenn er Problem, Hypothese und Argument nicht bewusst reflektiert und zu einem argumentativen Ganzen zusammengesetzt hat. Insgesamt wird der Sinn der Passage somit eigentlich weniger durch die Frage nach Erecs Motivation als vielmehr durch den Affekt konstituiert, den sein Verhalten (vermittelt durch die Wirkung auf Enite) beim Hörer oder Leser auslöst. Wie sehr das Moment der Affekterregung an den Verlauf der narrativen Problemverhandlung gebunden ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass das fokale Arrangement der Ausfahrt aus Karnant genauso lange vorhält wie der Textabschnitt, dem es thematisch entspricht. Als Erec gemeinsam mit Enite aus dem Herrschaftsbereich des ersten Burggrafen flieht, wird auch wieder von seinem Wissen, Wollen und Fühlen berichtet. Dass im Zuge dessen auch einiges Licht auf sein vorheriges Verhalten scheint, 141 fällt aber jetzt kaum noch ins Gewicht, weil die Frage nach Enite und dem Grund ihrer Strafe, Buße oder Prüfung nicht mehr als vordringlich inszeniert ist. 142 Mit dem narrativen Fokus verschwindet das Mitleid für Enite ebenso wie das Empfinden für die Notwendigkeit ihrer Selbstaufopferung. Stattdessen tritt nun die Verwunderung über Erecs Desinteresse an ritterlichem Ruhmerwerb und höfischem gemach in den Vordergrund: Der Affekt (und mit ihm die Aufmerksamkeit) wird vom Thema der Liebesbeziehung auf das der Ritterschaft umgelenkt. Spätestens in dieser Stelle sollte einsichtig geworden sein, warum ich eingangs formuliert habe, dass Hartmann den sachlogischen Gehalt seiner Argumentation mit den Mitteln der Affektenlehre vermittelt. Leicht variiert könnte man für die Ausfahrt aus Karnant vielleicht auch davon reden, dass der sachlogische Gehalt der Argumentation in die Sprache des Affekts übertragen wird; dass die Erzählung also konkret-affektiv transportiert, was in einer erörternden Abhandlung für gewöhnlich diskursiv-rational vermittelt wird. Dass das eine mit dem anderen nicht einfach gleichzusetzen ist, sei hier nochmals betont. Selbstverständlich fühlt der Rezipient nicht genau das, was ich im letzten Abschnitt als den argumentativen Zusammenhang des ‚Erec‘ ausformuliert habe. Was er fühlt, reicht aber aus, um wesentliche Inhalte und zentrale Wendungen der narrativen Problemverhandlung zu erfassen und, was fast noch wichtiger ist, von ihnen überzeugt zu sein. Er ist überzeugt, ohne sich seines Überzeugt-werdens bewusst sein zu müssen und ohne das erörternde Prinzip des Textes unbedingt verstanden zu haben. Das heißt mit anderen Worten: Der argumentative Sinn liegt nicht unter der Oberfläche des ‚Erec‘, er muss vom Rezipienten nicht 141 So wird etwa berichtet, dass er allein aus Sorge um Enite so eilig vor dem Burggrafen fliehe (HE 4116-4118) und dass er seiner Rüstung wegen tatsächlich schlechter hören und sehen könne als seine Frau (HE 4150-4159). Das könnte heißen, er liebt sie und will ihr durch das Arrangement der Ausfahrt beweisen, dass er von ihrer Fürsorge abhängig ist. 142 Die Dringlichkeit der Frage nimmt in dem Maße ab, als der Hörer nichts mehr von Enites Gedanken und Gefühlen erfährt. Während Enite zuvor jeden Bruch des Schweigegebots ausführlich erwog (vgl. ihre Monologe HE 3149 ff. 3353 ff., 3972 ff.), warnt sie Erec nun ohne Bedenken (direkte Rede HE 4147-4149) - scheinbar, denn eigentlich hat sich der narrative Fokus nur von ihr abgewendet; sie wird von nun an nur noch ‚von außen‘ betrachtet (vgl. etwa ihre Reaktion im Guivreiz-Kampf HE 4426 ff.). Sie kommt später überhaupt nur noch einmal, in ihrer Klagerede nach Erecs Scheintod, ausführlicher zu Wort (HE 5739 ff.): also just an der Stelle, da sich die Handlung wieder dem Thema der Paarbeziehung zuwendet. Interessant ist auch, dass bei der Flucht aus der Burg des ersten Grafen erstmals Erecs Leid erwähnt wird (HE 4268 ff.). Formen der Evidenzerzeugung 199 erfragt und entschlüsselt werden. Er ist in einer für diesen unbestimmbaren Weise einfach da - gedanklich aus dem Text hervorstrahlend wie gebrochenes Licht aus einem Kristall. 2.3.2 Intuitive Evidenz: Brautwerbung, arthurisch Im Gegensatz zur Frage nach der psychologischen Motivation der Ausfahrt aus Karnant ist das Wirken des Brautwerbungsschemas im ‚Erec‘ von der Forschung bislang noch kaum bemerkt, geschweige denn thematisiert worden. 143 Ja mehr noch: Nicht wenige Mediävisten werden wohl rundweg bestreiten, dass dieses Schema in Hartmanns (oder Chrétiens) Text überhaupt eine Rolle spielt. 144 Im Zusammenhang meiner Überlegungen ist dieser Befund insofern leicht zu begründen, als hier eine ganz andere Form der Aufmerksamkeitslenkung vorliegt. Während die Schilderung der Ausfahrt aus Karnant ihre ‚konkret‘ argumentierende Funktion nur dadurch erfüllen kann, dass sie massiv auffällt - das ist eben der Effekt des Affekts -, steuert die Erzählung von Erecs Werbung um Enite die Erwartung des Rezipienten weitgehend unbemerkt in die Richtung eines besseren Verständnisses der narrativen Problemverhandlung. Dabei ist das Nicht-Bemerken ebenso symptomatisch wie der gegenteilige Fall des Hervorstechens, weil die Wirkung eines Schemas generell als eine Art rezeptiver Automatismus beschrieben werden kann. Das Schema setzt den Rezipienten sozusagen auf eine Schiene, deren Existenz er oftmals erst dann gewahr wird, wenn sie abbricht. Oder anders gesagt: In seiner Eigenschaft als ein (durch Konvention konstituiertes) Muster, in dem jedes Element das Ganze assoziiert, 145 rückt der Schematismus eines Handlungsverlaufs zumindest dem nicht-wissenschaftlichen Hörer oder Leser für gewöhnlich erst dann ins Bewusstsein, wenn das erwartete Gesamtbild n ic ht entsteht - wenn das Schema also gebrochen wird. 146 Das gilt auch und gerade dann, wenn es wie im ‚Erec‘ nicht explizit ausformuliert, sondern nur angespielt wird. In diesem Fall wird die von ihm geweckte Erwartungshaltung erst recht in den Bereich des Vorbewussten und Assoziativen - und damit der Intuition - verlagert. 147 143 Die einzige ausführlichere Darstellung findet sich bei Lieb 2002, S. 55-75, 182-208, 271-284. Zumindest in eine ähnliche Richtung weist Feistners Vermerk, dass der erste Handlungsteil des ‚Erec‘ unter dem Motto der „zufälligen Brautwerbung“ stehe (1999, S. 243). 144 So der Tenor verschiedener Reaktionen auf dieses Kapitel meiner Habilitationsschrift. Ohne dem Argument schlagende Beweiskraft zumessen zu wollen, sei ihnen entgegengehalten, dass ich die Idee, den ‚Erec‘ als vom Brautwerbungsschema beeinflusst zu lesen, keinesfalls (nur) Lieb zu verdanken habe, sondern vor allem einem im Sommersemester 2010 abgehaltenen Einführungskurs, dessen TeilnehmerInnen einhellig den Eindruck formulierten, dass Enite ‚irgendwie‘ Artus zugeordnet werde und dass sie die Verbindung mit Erec daher nicht recht zu bewerten wüssten. Ich nehme dies als Indiz dafür, dass die schematische Suggestion (die Brautwerbung ist auch ein verbreitetes Märchenschema) gerade bei literaturwissenschaftlich ungeschulten Lesern bis heute wirkt. Die Zuordnung Enites zu Artus - und damit der in der Verbindung mit Erec latent enthaltene Kurzschluss von Brautwerber und Brautwerbungshelfer (vgl. Kuhn 1973 / 1980) - ist also im Sinne meiner Überlegungen evident: Sie zeigt sich dem Rezipienten, ohne deshalb schon begründbar zu sein. 145 Zur Assoziation als (u. U. unbewusster) Verknüpfung von nebeneinanderstehenden geistigen Inhalten (durch Kontiguität von Ideen und Vorstellungen) grundlegend Spanier / Stäcker 1971, Sp. 548-553. 146 Dazu mit weiterführender Literatur Stockwell 2002, bes. S. 75-89, vgl. auch Haferland / Schulz 2010, S. 17 f. 147 Intuitiv ist eine Einsicht bzw. Vermutung nicht, wenn sie, wie man oft meint, unbegründet ist, sondern dann, wenn sie einen bestimmten Erkenntnisgegenstand aufgrund einer (mental repräsentierten, aber nicht als solcher reflektierten) Gesetzmäßigkeit ohne Einsatz der diskursiven Ratio schlagartig als Ganzen erfasst. Intuitiv gezogene Schlussfolgerungen sind also zwar nicht als solche bewusst, aber 200 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Um zu begründen, worauf die Intuition im vorliegenden Fall ruht, sei die Spur des Brautwerbungsschemas 148 in Hartmanns ‚Erec‘ zunächst etwas genauer herausgearbeitet. Besonders hervorzuheben ist, dass der maßgebliche Trigger hier eher nicht bei einer mehr oder weniger deutlichen Erfüllung der Schemastationen liegt, 149 sondern in einer thematischen Konstellation, die die Handlung erst in einem zweiten Schritt ins Licht des Schemas stellt. Diese Konstellation lässt sich prägnant in der costume Pandragon greifen, die das elementare Gesetz des Brautwerbungschemas sozusagen ins Arthurische transponiert: Auch sie geht davon aus, dass „in einem gegebenen Weltausschnitt stets nur der beste Mann und die schönste Frau zusammengehören“, 150 und auch sie besagt, dass das Zusammenfinden des Besten und der Schönsten Bedingung einer funktionierenden gesellschaftlichen Ordnung ist. 151 Zwar erfolgt die Bestimmung des Besten im ‚klassischen‘ Brautwerbungsschema nicht kompetitiv (zumindest nicht im Land des Besten); allerdings führt der Wettbewerb der Artusritter im ‚Erec‘ denselben handlungsmotivierenden Mangel herbei: Am Ende der Hirschjagd steht der Beste fest (es ist erwartungsgemäß Artus), er hat aber keine Schönste, auf die sich alle einigen können. Dass diese wie im Brautwerbungschema außerhalb seines Herrschaftsbereichs gesucht und errungen werden muss, wird an dieser Stelle zwar nicht gesagt, es versteht sich aber, da es den Regularien des Schemas entspricht, mehr oder weniger von selbst. 152 Die Abwandlung des Schemas ist hieran anschließend ohne weiteres aus der Anpassung an die spezifischen Gegebenheiten der arthurischen Herrschaft zu erklären. So ist es vor allem wenig verwunderlich, dass es für Artus weder um den Gewinn einer Ehefrau noch um die genealogische Sicherung der Herrschaftsnachfolge gehen kann - und das nicht nur aus stoffgeschichtlichen Gründen. Da Artus’ Herrschaft nämlich anders als die eines konventionellen Brautwerbers nicht von der feudalrechtlichen Notwendigkeit einer gesicherten Erbfolge, sondern vom Erhalt ihrer Idealität abhängt, 153 scheint es nur konsequent, wenn die Schönste hier, statt als Gattin für Artus, lediglich zur Ausbalancierung des kritischen Kräfteverhältnisses seiner Hofgesellschaft herbeigeholt wird. 154 Das ganz handfeste Bedürfnis des brautwerbungsepischen Königs nach einer Frau wird also unter darum nicht irrational oder gar falsch: Sie können unter Reflexion auf die ihnen zugrundeliegende ganzheitskonstituierende Regel rational rekonstruiert werden. Überblickshaft dazu Kobusch 1976. 148 Zu den Regularien des Schemas umfassend Schmid-Cadalbert 1985, S. 80-100. 149 Auf diesen Aspekt beschränkt sich Lieb 2002, S. 55-75. 150 Strohschneider 1997, S. 43. 151 Wie oben (Kap. III.2.2.2.1) erläutert, ist Artus’ Macht in akuter Gefahr, wenn er keine Frau findet, die von allen als Schönste anerkannt wird. Machtsicherung und Machterhalt sind laut Schmid-Cadalbert die Leitthemen des Brautwerbungsepos; die des Aventiureromans hingegen Initiation und Bewährung (1985, S. 59-69). 152 Dass Hartmann (anders als Chrétien) erst nach dem Ende der Sperberaventiure sowohl vom Ausgang der Hirschjagd als auch von Artus’ Beschluss berichtet, die Preisverleihung bis zur Rückkehr Erecs aufzuschieben (HE 1104-1149), steht dieser Deutung nicht entgegen, im Gegenteil: Da das Geschehen so vom Ende her ins Licht der Brautwerbung gestellt wird, wirkt die Suggestion vielleicht sogar noch stärker, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Engführung von Problem (es gibt am Artushof keine passende Schönste) und Lösung (Erec bringt Enite mit). 153 Das gilt zumindest für die Gattung des Artusromans. Dass der ‚historische‘ Artus an der Sicherung der genealogischen Herrschaftsnachfolge scheitert, mag man mitdenken; es steht aber hier nicht im Vordergrund. 154 Das heißt, dass Enite, wenn man ‚Rang‘ nicht ständisch, sondern ideell (über die Kriterien von Exzellenz und Schönheit) definiert, wie im Brautwerbungsschema die einzige für Artus’ königlichen Rang passende Frau ist. Der Vorgang ist demnach der gleiche; nur die semantische Codierung variiert. Formen der Evidenzerzeugung 201 den Bedingungen der arthurischen Idealität ebenfalls idealisiert, sprich: in den Bereich der ideellen Herrschaftssicherung verlagert. Diese Variation ist auch die Voraussetzung dafür, dass Enite ihrer Aufgabe am Artushof nachkommen kann und trotzdem für Erec frei ist. Anders als im Brautwerbungsschema ist die Schönste mithin sozusagen doppelt verwendbar - ideell für Artus und reell für Erec -, was letztlich dazu führt, dass der Kurzschluss zwischen der Rolle des Brautwerbers und des Brautwerbungshelfers, der dem Schema als potentielle Störung genuin eigen ist, 155 zwar (in gewisser Weise) stattfindet, aber nicht virulent wird. Dass in dieser Funktionsteilung erneut eine Unterscheidung in verschiedene Konkretionsgrade stattfindet und darin zudem die Dichotomie zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft aufscheint - Enite tritt zum einen abstrakt-allgemein, zum andern konkret-individuell und darin einerseits für die Gemeinschaft des Artushofs, andererseits für Erec persönlich als Schönste auf - sei hier bereits vermerkt: ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Zuvor noch ein Wort zu Erec und, damit zusammenhängend, zum Wirksamwerden des Brautwerbungsschemas im Handlungsgang der Sperberpreisaventiure. Den Ausgangspunkt habe ich mit der Erwähnung der obligatorischen Rolle des Brautwerbungshelfers schon angedeutet. Nimmt man nämlich an, dass die costume Pandragon in eine Situation mündet, die nach einer Brautwerbung unter dem Vorzeichen arthurischer Idealität verlangt, dann wird Erec quasi automatisch in diese Rolle delegiert. Der Logik des Schemas zufolge würde er demnach ausziehen, um Enite für Artus zu werben; und die Ereignisse der Aventiure sind durchaus dazu angetan, diese Auffassung zu bestätigen. Das gilt, wie Ludger Lieb in einem detaillierten Vergleich herausgearbeitet hat, zwar für Chrétiens ‚Erec‘ mehr als für den Hartmanns, 156 die Darstellung ist aber auch hier signifikant genug, um den Erwartungen an eine schematische Brautwerbung gerecht zu werden. So durchquert auch Erec ein transitorisches Gebiet raumsemantischer Leere - das Meer des Brautwerbungsschemas wird hier sozusagen durch den Wald der arthurischen Aventiure ersetzt -, um im Herrschaftsgebiet seines Gegners als erstes auf Enites Vater Koralus - den Brautvater - zu treffen, der ihn über die Bedingungen des Sperberpreises unterrichtet. Da Erec, um diesen gewinnen zu können, um Enites Hand anhält 157 und im Zuge dessen seinen Sieg über Iders zur Bedingung der Hochzeit macht, wird der Kampf um den Sperber unversehens zur Freierprobe und der ganze Vorgang damit zu einer gefährlichen Brautwerbung. 158 Dass die Umstände der Werbung - bei Hartmann stärker als bei Chrétien - z.T. sehr weit von den üblichen Gegebenheiten einer schematisch erzählten Brautwerbung abweichen, ist zwar unverkennbar, es tut der Überzeugungskraft des Schemas aber insofern keinen Abbruch, als jedes Ereignis gleichwohl zuverlässig das nächste nach sich zieht und am Ende nicht nur die wichtigsten Stationen erfüllt sind, sondern auch das Ergebnis stimmt. Man könnte den Ausschlag dieses Darstellungsverfahrens mithin vielleicht so beschreiben, dass die ‚untergründige‘ Realisation des Schemas im Text auf eine ebensolche Wahrnehmung durch den Rezipienten zielt. Das würde bedeuten, dass das Schema gerade dadurch, dass es im 155 Grundlegend dazu Kuhn 1973 / 1980. 156 Lieb 2002, bes. S. 55-62. 157 Dass er hier selbst als Brautwerber auftritt, ist weniger ein Schemabruch, als es an die Brautwerbung Tristans erinnert. Dass der eigentliche Werber nicht genannt wird (bzw. nicht genannt werden darf) und man zunächst den Helfer selbst für den Werber hält, ist für das Schema nicht untypisch. 158 Vgl. Schmid-Cadalbert 1985, S. 91. 202 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Handlungsverlauf nicht (allzu) offen hervortritt, nur umso stärker auf die Intuition des Rezipienten wirkt. Wenn diese Beschreibung etwas Richtiges trifft, dann ist der Effekt erneut ganz klar einer der Evidenz. Der Rezipient hegt keinerlei Zweifel daran, dass Erec und Enite zum einen zusammengehören 159 und dass Enite zum andern zur Schönsten der Hirschjagd gekürt werden muss. Er ist nicht erstaunt, wenn die Ritter des Artushofs beim Anblick von Erecs Begleiterin in Bewunderung erstarren und der Entscheidung des Königs einhellig beipflichten. Er fragt nicht, warum die Ritter ihre eigenen Schönsten, für die sie (vermutlich) 160 eben noch mit Waffengewalt eintreten wollten, plötzlich vergessen (bzw. wo diese überhaupt sind), 161 und er fragt auch nicht, was die Hirschjagd mit dem Sperberpreis zu tun hat. Dass Erecs Rückkehr mit Enite wie nebenbei auch das Problem der Hirschjagd löst; dass Enite nicht nur in Tulmein, sondern auch am Artushof die Schönste ist: all das scheint sich von selbst zu verstehen - auch wenn der Rezipient, falls er diese Frage stellen würde (was er, da der Text es ihm nicht nahelegt, aber wohl eher unterlässt), kaum zu sagen vermöchte, warum. Der Mehrwert dieses Darstellungsverfahrens liegt folglich zunächst einmal darin, dass es da, wo der Erzähler keinen expliziten Nexus herstellt, einen impliziten begründet. Die Bindung an das Brautwerbungsschema spannt sozusagen einen assoziativen Rahmen auf, in dem sich das erzählweltlich unverbundene Nebeneinander von Hirschjagd und Sperberpreis zusammenfügt. Wie dies zur Überzeugungskraft der narrativen Problemverhandlung beiträgt, ist zwar insofern um einiges schwerer zu benennen, als die Wirkung weitaus subtiler ist als die der Ausfahrt aus Karnant. Es scheint mir aber durchaus möglich, einige Punkte auszumachen, in denen sich die brautwerbungsschematische Suggestion auf die Vermittlung der argumentativen Logik richtet: Ganz allgemein ist hier erstens darauf hinzuweisen, dass die Verknüpfung im Zeichen des Brautwerbungsschemas den thematischen Zusammenhalt des Textes in dem Sinne stärkt, dass sie ihm eine erzähltraditionelle Grundlage gibt. Der Hörer ist also nicht darauf angewiesen, das Konzept ‚dem Besten die Schönste‘ reflektierend aus dem Hirschjagd-Szenario herauszulesen, denn es ist ihm aus seinem (impliziten) narrativen Wissen bekannt. Wenn er Hirschjagd und Sperberpreis in einem weiteren Schritt aufgrund eben dieses (impliziten) Wissens (intuitiv) als zusammengehörig wahrnimmt, dann ist diese Wahrnehmung darum (auch wenn ihm das nicht bewusst ist), eine thematisch bestimmte. Der Nexus, der auf diese Weise in weitem Bogen über den gesamten ersten Handlungsteil gespannt wird, wirkt dabei zweitens insofern auch im Detail, als die schematisch evozierte Handlungsbegründung an zumindest einem wichtigen Punkt massiv verdeutlichend in die ‚konkrete‘ Argumentation eingreift. Dieser Punkt ist - wieder einmal - der Peitschenhieb von Iders’ Zwerg, und die Implikation des Schemas lässt hier intuitiv einsichtig werden, was er in argumentativer Hinsicht besagt, weil er an der Stelle erfolgt, wo im Schema 159 Wenn es allein darum ginge, hätte es der ganzen Konstruktion freilich nicht bedurft - die Darstellung einer Liebesentstehung nach ovidischem Schema hätte völlig genügt. 160 Das heißt: wenn man dem fehlenden Text Hartmanns Chrétiens Schilderung zugrunde legt (CEE 53-58, 302-306) - oder alternativ von Iders’ Verhalten auf das der Artusritter schließt. 161 Angesichts des Umstandes, dass die Damen für den Artushof angeblich so wichtig sind, kann man es durchaus als erstaunlich bezeichnen, dass - abgesehen von Ginover - im Umfeld der Kussverleihung keine von ihnen genannt wird -; und das, obwohl Hartmann hier (nach eigener Aussage) nicht weniger als 140 Ritter namentlich anführt (HE 1617-1697). Enites Schönheit lässt die anderen Damen also nicht nur verblassen: Sie bringt sie buchstäblich zum Verschwinden. Formen der Evidenzerzeugung 203 die Beauftragung des Brautwerbungshelfers stehen müsste. 162 Zwar ist die Hirschjagd an diesem Punkt der Handlung noch nicht zu Ende; das Fehlen einer zu Artus passenden Schönsten ist aber deutlich genug, um die Suche nach ihr als vordringliche Aufgabe erscheinen zu lassen. Wenn nun genau in diesem Moment Iders, seine Dame und der Zwerg auftauchen und in zeichenhafter Spiegelung das vollziehen, was das Brautwerbungsschema vorsieht, dann wird man das darum kaum für Zufall halten wollen: Hartmann verbindet offenbar mehrere aufmerksamkeitslenkende Verfahren, um seinen Rezipienten implizit einsichtig werden zu lassen, dass Erecs Ausfahrt de facto nichts anderes bedeutet, als dass er entsendet wird, um im Auftrag Artus’ das Problem der Hirschjagd zu lösen. 163 Während diese beiden Evidenzeffekte allein auf der Logik des Brautwerbungsschemas beruhen, greift ein dritter meines Erachtens über diese hinaus auf einen bestimmten Brautwerbungstext zu. Meine Deutung geht an dieser Stelle zweifellos in den Bereich der Vermutung über, doch scheint sie mir immerhin interessant genug, um sie etwas genauer zu erläutern. Ich setze dafür nochmals bei der Beobachtung an, dass der Kurzschluss zwischen den Rollen des Brautwerbers und des Brautwerbungshelfers im ‚Erec‘ stattfindet, ohne problematisch zu werden. Das als Anspielung auf den ‚Tristan‘ zu verstehen, liegt insofern nahe, als dieser nicht nur von Chrétien an entscheidender Stelle zitiert wird, 164 sondern in gewisser Weise auch den Architext des ‚Erec‘ darstellt, und zwar auch und gerade in thematischer Hinsicht: 165 Ganz abgesehen davon, dass der ‚Tristan‘ zumindest in Frankreich als die prominenteste Realisation des besagten Kurzschlusses zu gelten hat, steht er auch wie kein anderer für den Konflikt des (liebenden) Einzelnen mit der Gesellschaft, und dieses konflikthafte Moment wird eben in Tristans ‚Brautraub‘ konfiguriert. Wenn Erec Enite nun als Braut für sich gewinnen kann, ohne sie Artus wegzunehmen, und mehr noch: wenn diese Entproblematisierung mit einer Differenzierung der Braut-Rolle in verschiedene Konkretheitsgrade verbunden ist, dann könnte das - so zumindest mein Vorschlag - durchaus als Versuch gelesen werden, das ‚Tristan‘-Problem argumentativ aufzulösen. 166 Die erotische Liebe, so könnte man die Aussage dieser Operation in Bezug auf den ‚Tristan‘ explizieren, muss nicht zum Bruch mit der Gesellschaft führen, sondern sie kann, wenn man nur beiden, den Liebenden und der Gesellschaft, ihr Recht lässt, auch in der Gesellschaft stattfinden. Besonderes evident wird das im ‚Erec‘ wiederum durch den Bezug zum Brautwerbungsschema, das an dieser Stelle quasi untergründig zurechtgerückt wird. Dass der Kurzschluss nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, zum Konflikt mit Artus führt, sondern dessen Problem löst, wäre in diesem Sinne als Hinweis darauf zu deuten, 162 Vgl. Kap. III.2.2.2.1. 163 Dass er darauf verzichtet, die Ausfahrt auch explizit als Auftrag zu inszenieren, ist vor diesem Hintergrund nur umso bezeichnender. Hartmanns Verfahren der impliziten Handlungsverknüpfung scheint mir hier so auffällig zu sein, dass ich für diese eine Stelle bei der Deutung des epischen Doppelpunkts bleiben würde. 164 Bei ihrem ersten Auftreten beschreibt der Erzähler Enite als von einer Schönheit, die die Isoldes überstrahlt (CEE 421-426); noch wichtiger ist freilich die Schilderung der Brautnacht, in der er bemerkt, dass Enite, anders als Isolde, nicht geraubt worden sei (CEE 2021-2026) - der besagte Kurzschluss wird also explizit zitiert und im Zitieren durchgestrichen, bzw. ‚markiert ersetzt‘ (vgl. Müller 1998, S. 80-86). 165 Vgl. dazu grundlegend Mertens 1998, S. 44-49. 166 Hartmann würde darin - wissentlich oder unwissentlich - an Eilhart anschließen. Dazu umfassend Kap. III.3.3. 204 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ dass der fatale Ausgang des ‚Tristan‘, wenn man sein Thema anders konfiguriert, durchaus abwendbar ist. Bis zu einem gewissen Grad gegen diese Deutung spricht wohl freilich, dass die distinctio der ‚Schönsten‘ Enite in einen (der arthurischen Herrschaft zugeordneten) allgemeinideellen und einen (Erec und der Liebe zugeordneten) individuell-konkreten Anteil die Kollision der beiden Prinzipien nicht vermeidet, sondern nur aufschiebt: Der Konflikt wird vom Artushof abgewendet, jedoch nur, um beim Antritt der eigenen Herrschaft umso machtvoller auf Erec zurückzufallen. In Bezug auf das Schema könnte man darum vielleicht sagen, dass die Andeutung des Kurzschlusses bereits ausreicht, um die Verbindung von Erec und Enite untergründig zu delegitimieren. 167 Der zweite Handlungsteil wäre dann notwendig, um das ‚ehebrecherische‘ (da auf die erotische Liebe fixierte) Paar in den Bereich der Herrschaft zurückzuführen. 168 Alternativ (oder ergänzend) könnte man freilich auch behaupten, dass die arthurische Lösung am Ende des ersten Handlungsteils vorbildhaft für das (prekäre) Ideal steht, das Erec und Enite erst noch erreichen müssen. 169 An dieser Stelle eine Entscheidung zu treffen, ist sicherlich schwierig, im Zusammenhang meiner Überlegungen aber auch weder nötig noch sinnvoll. Denn spätestens hier zerstreut sich der schematisch indizierte Effekt argumentativer Evidenz ins weite Feld der literarischästhetischen Evokation. 2.3.3 Imaginative Evidenz: Spiegelungen, Verdichtungen Ich komme damit zum Schluss noch einmal auf jenes Verfahren der Spiegelung zurück, das ich vorn 170 als das wohl wichtigste Medium des argumentativen Gedankengangs im ‚Erec‘ herausgestellt habe. Zeichenhaft bzw. symbolisch ist dieses Verfahren, wie dort gezeigt, deshalb zu nennen, weil es darauf zielt, die handlungsweltliche Bewegung der Protagonisten so auf die Denkbewegung des Textes transparent werden zu lassen, dass sie konkret für diese steht bzw. sie (zeichenhaft) repräsentiert; oder, wie man auch sagen könnte: so, dass die Handlung als eine realisierte Metapher der Problemverhandlung erscheint. Dabei wird das Umherlaufen ( discurrere ) Erecs dergestalt mit dem argumentativen Diskurs identifiziert, dass sein Weg von Ort zu Ort als Er ö r t erung erscheint. Im Zuge dessen wird der ‚Auftrag‘ des Zwergenschlags zum Auftrag in einer Mission, in der Erec das Problem des Artushofs (in Gestalt Iders’) zugleich erzählweltlich verfolgt und argumentativ ‚verfolgt‘, weshalb die gesamte Sperberaventiure - womit sich das Spiegelverhältnis auf Episodenebene fortsetzt - als eine Stellvertreterhandlung der arthurischen Hirschjagd erscheint. Ich habe diese Darstellungsform mit Verweis auf mein Theoriekapitel als eine der impliziten Explikation bezeichnet; desgleichen ist sie mit den Begriffen der (bildhaften) Verdichtung und der mise en abyme in Verbindung zu bringen. 171 Das Prinzip besteht überall darin, dass ein Moment der erzählten Welt in einem Akt der Bedeutungsübertragung auf etwas anderes hin durch- 167 Das würde der Deutung Liebs entsprechen, dem ich freilich in diesem Punkt nicht recht zu folgen vermag. So ist es z. B. zwar richtig, dass Erec die Zustimmung Enites zur Eheschließung nicht einholt; jedoch ist diese der Hochzeit offensichtlich nicht abgeneigt - die Zustimmung findet also implizit statt. Von einem Schemabruch (so Lieb 2002, S. 57 f.) kann hier keine Rede sein. 168 Das entspricht der Handlungsdoppelung in vielen Brautwerbungsepen. 169 Sie wäre dann so etwas wie eine epische Vorausdeutung auf den glücklichen Ausgang der Handlung. 170 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf meine Beobachtungen in Kap. III.2.2.2. 171 Vgl. Kap. II.2.2.2. Formen der Evidenzerzeugung 205 sichtig gemacht wird und dergestalt außer seiner eigentlichen Bedeutung als Tatsache oder Sachverhalt innerhalb dieser Welt noch eine zweite, uneigentliche Bedeutung in Hinblick auf die thematische Entfaltung erhält. 172 Indem auf diese Weise sozusagen mehr - und verschiedenartigere - Bedeutung in denselben Textausschnitt hineingelegt wird, als es bei einer einfachen Handlungsdarstellung der Fall wäre, wird der Rezipient mithin auf die thematische Valenz des dargestellten Geschehens ebenso aufmerksam gemacht wie auf seine sinnstiftende Wirkung. Da die Form von Evidenz, die auf diese Weise erzeugt wird, in weit stärkeren Maß auf die mittelalterliche Poetologie verweist, als es bei den beiden zuletzt besprochenen der Fall ist, sei an dieser Stelle wenigstens kursorisch auf zwei ihrer Konzepte eingegangen, wobei es mir wohlgemerkt nur um eine knappe Verortung bzw. Abgrenzung zum Zwecke des besseren Verständnisses meiner Beobachtungen geht. Damit verbundene Probleme mögen (so mein Vorschlag Interesse findet) ein andermal ausführlicher diskutiert werden. Das erste dieser Konzepte ist das einer allegorischen bzw. integumentalen Auslegung, das hier ungeachtet seiner - mittelalterlichen wie neuzeitlichen - Distanzierung von Hartmanns Dichtung 173 schon allein deshalb virulent bleibt, weil die (bedeutungsverdichtende) Konkretion eines argumentativen Gedankengangs die Vermutung eines allegorischen Ineinandergreifens von Erst- und Zweitbedeutung fast zwangsläufig evoziert. Das gilt umso mehr, als sich der ‚Erec‘ zumindest an einer herausgehobenen Stelle in der Tat einem Erzählen zuwendet, das man in der Forschung mehrfach, wenn auch durchaus nicht einhellig, als allegorisch beschrieben hat. 174 So behauptet etwa Hugo Kuhn, dass die Aventiure von Joie de la curt durch ihren Namen und ihre Konstruktion als eine Allegorie der höfischen Freude geradezu markiert sei. Der Garten, in dem sie stattfindet, bedeute demnach, „was er heißt: die höfische Freude, allen offen und doch nur auf besondere Weise zugänglich.“ Weil das Liebespaar in diesem Garten darum „die Freude eines Lebens in Minnegemeinschaft […] verkörpert“, die durch den Abschluss nach außen „unwirksam geworden“ sei, müsse konsequenterweise auch Erecs Kampf mit Mabonagrin allegorisch als einer „um die rechte Minneform“ (also wohl als einer der richtigen gegen die falsche Minne) gedeutet werden. 175 Versteht man die Allegorie dementsprechend als die dichterisch-konkretisierende Darstellung einer philosophischen Aussage von größerer Allgemeinheit - und nichts anderes heißt es, wenn man Erec und Mabonagrin als Personifikationen zweier Liebeskonzepte begreift -, 176 dann wäre freilich weiter anzunehmen, dass Hartmanns Text - gerade in seiner argumentativen Bestimmung - auch insgesamt allegorisch zu verstehen wäre. Denn in diesem Sinne würde er nichts anderes als die dichterische Einkleidung einer dialektischen Auseinandersetzung um das richtige Verhältnis zweier Prinzipien darstellen, 172 Zu diesem Effekt der realisierten Metapher nochmals Ruberg 1976, S. 210-216, Wessel 1984, S. 198-203. 173 Vgl. dazu meine Überlegungen in Kap. III.1.1 und III.2.1. 174 Einschlägig für die Diskussion der Frage sind die Beiträge von Kuhn 1948 / 1969, bes. S. 144 f., Wünsch 1972, Cormeau 1979, Haug 2000. Mertens bemerkt vermittelnd, dass die „allegorische Deutung […] [mit]schwingt […], ohne präzis zu sein“ (2008, S. 691). Hoffmann leitet eine allegorische Bestimmung der Szene aus ihren mythischen Valenzen ab, ohne jedoch das Verhältnis der beiden Kategorien zueinander hinreichend zu klären (2012, S. 212-218). 175 Alle Zitate Kuhn 1948 / 1969, S. 144. 176 Das entspricht der modern-literaturwissenschaftlichen Definition der Allegorie (vgl. dazu Scholz 1997); im Verständnis des Mittelalters läge eher eine (je nach dem zugrunde gelegten Konzept u. U. von der Allegorie abzugrenzende) Form des integumentum vor: Vgl. Meier 1976, bes. S. 10-12 und 23 f. 206 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ die - als Ausdruck der Spannung von Individual- und Gemeinschaftsprinzip - an philosophischer Abstraktion kaum zu überbieten wäre. An dieser Stelle tritt ein methodisches Problem erneut zutage, das ich mit Blick auf die Abgrenzung von dichterischem Sinn und uneigentlicher Bedeutung bereits angesprochen habe. 177 Im vorliegenden Kontext äußert es sich darin, dass in Kuhns Verständnis jede Dichtung, die thematisch als Aussage oder Stellungnahme zu einem allgemeineren Problem gelesen werden kann, als allegorisch bezeichnet werden müsste - eine Ausweitung des Begriffs, die man wird kaum wird akzeptieren können. Ohne der Joie de la curt -Episode ein punktuelles Ausgreifen ins Allegorische abzusprechen, 178 würde ich deshalb dafürhalten, den ‚Erec‘ insgesamt im Bereich eines Illustrativen zu belassen, das zwar auch zu den Funktionen der Allegorie gehört, zuerst und vor allem aber Sache der literarischen Sinnvermittlung ist. 179 Für diese Entscheidung spricht zum einen die Beobachtung, dass Dinge und Bedeutungen im ‚Erec‘ keinesfalls in dem Maße voneinander getrennt sind, wie es für eine Allegorie notwendig wäre, 180 für sie spricht zum anderen aber vor allem die ‚kristallene‘ Beschaffenheit des Textes selbst. Denn diese besagt ja nicht mehr und nicht weniger, als dass der ‚Erec‘ - im Gegensatz zur Allegorie, die als solche nur verständlich wird, wenn sie in ihrer Zweitbedeutung benannt wird - im Grunde keiner Auslegung bedarf. Das gilt nicht zuletzt für die Joie de la curt- Episode, deren Sinn wie überall in Hartmanns Dichtung vornehmlich durch intratextuelle Responsionen konstituiert wird. Indem sie in ihren einzelnen Zügen - Mabonagrin und seine Freundin im abgeschlossenen Baumgarten, die mörderische costume , die die höfische Freude in Brandigan zum Erliegen bringt etc. - die Situation des verligens variiert wiederholt, weist sie bildhaft spiegelnd darauf hin, dass Erec in Mabonagrin letztlich sich selbst besiegt und durch dessen Rückführung in die höfische Gemeinschaft den eigenen Fehler wiedergutmacht. 181 Dass er damit auch seine vormalig falsche Auffassung der Liebe zu Enite überwindet und so die Problematik des gesamten zweiten Handlungsteils bewältigt, kann man im Anschluss daran gewiss sagen; das ist aber keine allegorische Auslegung, sondern eine interpretierende Explikation von Sinn. Das heißt mit anderen Worten: Hier liegt eine literarische Versinnfälligung vor, die in genau dem Maße, da sie evident scheint, nicht allegorisch ist. Mit dem Verweis auf den bildhaften Charakter des Vorgangs ist das zweite der hier zu besprechenden Konzepte bereits angerissen. Dass die Umsetzung eines gedanklichen Inhalts in ein verbal evoziertes, inneres Bild evidenzerzeugend wirkt - und von einem Bild ist hier insofern tatsächlich zu reden, als man sich die Situation Mabonagrins im Baumgarten bildhaft vor Augen führen und mit der Erecs in Karnant vergleichen muss, um den Bezug 177 Mit Bezug auf Zymner 2003, S. 152 f. in Kap. II.2.2.2. 178 Dieses wäre insgesamt von den fließenden Übergängen im weiten Feld des literarischen Bedeutungsaufbaus gedeckt. In diesem Sinne könnte man mit Cormeau eine „allegorisierende[] Rezeption“ annehmen (1979, S. 200), die als solche freilich von Allegoriesignalen des Textes ausgelöst würde. Konzeptuell begäbe man sich damit in den Bereich der impliziten Allegorie. 179 Vgl. dazu auch Meier 1976, bes. S. 41-43. 180 Cormeau wendet zu Recht ein, dass sich in Joie de la curt zwar eine zweite Bedeutungsebene konstituiere, dass diese aber „genauso wie die erste an die Aktion geheftet, von der Handlung nicht abzutrennen“ sei (1979, S. 200). Er bezeichnet damit im Grunde ein Phänomen, das ich eher Rekonkretion nennen und als solche von der Allegorie abgrenzen würde, weil die ‚zweite Bedeutungsebene‘ keinen anderen Sinn konstituiert, sondern denselben Sinn noch einmal. 181 Ähnlich Kuhn 1948 / 1969, S. 144 f., Haug 2000, S. 287-289. Formen der Evidenzerzeugung 207 begreifen zu können 182 -, stellt nämlich den Bezug zur mittelalterlichen Imaginationstheorie her. 183 Diese bezeichnet die Dichtung als eine Form von Rede, deren Wirkung sich nicht zuletzt am Grad bemisst, in dem es ihr gelingt, die Einbildungskraft ( imaginatio ) des Rezipienten zu beeinflussen. Eines der zu diesem Zweck eingesetzten Mittel ist die anschauliche Schilderung, die dem Hörer oder Leser einen Vorgang möglichst eindringlich vor Augen stellt, um bei ihm ohne Zutun der äußeren Sehorgane innere Bilder zu erzeugen. Auf diese Weise wird ihm eine lebhaft-gegenwärtige (und in diesem Sinne intensive) Wahrnehmung der dargebotenen Gegenstände ermöglicht; 184 darüber hinaus kann das Verfahren aber insofern zugleich als anstoßendes Moment eines Erkenntnisvorgangs fungieren, als das innere Sehen Voraussetzung der rationalen Durchdringung und gedächtnishaften Bewahrung des betreffenden Gegenstands ist. 185 Geht man demnach davon aus, dass nur begriffen und erinnert werden kann, was zuvor gesehen wurde, so ist die Verbildlichung des argumentativen Gedankengangs im ‚Erec‘ ohne weiteres als ein Versuch zu verstehen, den gedanklichen Gehalt des Textes mit Hilfe der imaginatio in die ratio des Rezipienten zu implementieren - diesem also ein imaginatives Begreifen der narrativierten Erörterung zu ermöglichen. 186 Nach heutigen Maßstäben würde man den Vorgang wohl in ganz ähnlicher Weise wie bei der zuletzt dargestellten Verwendung des Brautwerbungsschemas eher als das Erzeugen einer Assoziation bezeichnen; 187 das Ergebnis ist aber hier wie da dasselbe. Indem dem Hörer oder Leser vor Augen gestellt wird, was er verstehen soll, wird er zu einer Form der nicht-begrifflichen Einsicht angeregt, die genau den Evidenzeffekt erzeugt, um den es hier geht. Der Hörer oder Leser ‚sieht‘, dass das szenische Arrangement von Joie de la curt das des verligens spiegelt, und ‚weiß‘ deshalb, dass Erec sich im Kampf mit Mabonagrin selbst überwindet, auch wenn er sich weder der szenischen Ähnlichkeit der Episoden noch ihrer Bedeutung bewusst ist. Nimmt man den Handlungsverlauf des ‚Erec‘ vor dem Hintergrund dieser Überlegung noch einmal genauer in den Blick, so kann, was in der Analyse seiner thematischen Entfaltung gesagt wurde, nicht allein bestätigt, sondern um weitere Beobachtungen vermehrt und in seiner argumentativen Valenz bekräftigt werden. Dabei bleibt das Grundprinzip immer das gleiche: Der jeweils vorliegende argumentative Zug wird in seiner Idee aufgegriffen und in Form einer realisierten Metapher erzählweltlich konkretisiert. Was hier im Über- 182 Das heißt wohlgemerkt nicht, dass sich der Bezug direkt erschließt; denn die Szenen sind sich zwar ähnlich, aber nicht deckungsgleich. Die bildhafte Vergegenwärtigung ist somit nur die Vorbedingung für eine Lektüre, die die Analogien entweder analytisch herauspräpariert oder assoziativ erschließt und auf dieser Basis (wiederum: entweder rational oder intuitiv) deutet. 183 Ich formuliere das Folgende auf der Basis der Darstellungen von Meier 2003, Scheuer 2003a und 2005 sowie Reich 2011. 184 Diesen Aspekt fokussiert Reich 2011, S. 38-56, wobei er betont, dass die literarisch-imaginative Vergegenwärtigung darauf zielt, „die alltägliche Wahrnehmungssituation […] nicht nur [nachzuahmen]“, sondern zu „überbiet[en]“ (ebd., S. 52). 185 Zur Rolle der imaginatio im Prozess eines neuplatonisch gedachten - und von der imaginatio systematisch zur ratio und zur memoria voranschreitenden - Erkenntnisaufstiegs grundlegend Meier 2003, S. 175-181; zu den poetologischen Implikationen exemplarisch die Arbeiten Scheuers 2003, 2003a und 2005. 186 Ich spiele hier auf die ursprüngliche Bedeutung der (im Neuhochdeutschen) lexikalisierten Metaphern des Fassens und Greifens an, um die sprachlich-konzeptuelle Nähe zwischen dem inneren Sehen (zum inneren Auge tritt bisweilen die innere Hand) und dem Verstehen auch begrifflich zu bezeichnen. 187 Diese basiert jetzt auf einem visuellen Eindruck statt auf einer literarischen Konvention: das (imaginierte) Bild Mabonagrins und seiner Freundin assoziiert das ähnlich aufgebaute Erecs und Enites in Karnant genauso wie die thematische Konstellation der Hirschjagd die Idee der Brautwerbung. 208 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ blick über den Text am stärksten ins Auge fällt, ist vielleicht der Umstand, dass Form und Fokus der Verbildlichung mit den Textteilen und ihrer jeweiligen argumentativen Funktion wechseln. So ist der erste Handlungsteil, wie bereits ausgeführt, auf der Bildebene von den Ideen der Beauftragung (Zwergenschlag), der Stellvertreterschaft (das Zwergentrio, Ginovers Dame und Erec stehen unter einem jeweils anderen Aspekt für den Artushof) und der spezifizierenden Wiederholung geprägt (das Geltungsbedürfnis des Einzelnen droht die Gemeinschaft zu sprengen; die costume , der Schönheitspreis etc.). Im Zuge dessen werden die beiden maßgeblichen Episoden so ineinander verschachtelt, dass der Sperberpreis als Fortführung, Ersetzung - oder eben: Stellvertreterhandlung - der Hirschjagd angesprochen werden kann. Es wechselt also zwar die dichterische Einkleidung von Konflikt, costume und Schönheitspreis; abgesehen davon, dass Artus durch Imain, die Artusritter durch Iders und der Hirsch durch den Sperber ersetzt werden, bleibt aber im Wesentlichen alles gleich. Beim Rezipienten entsteht so fast notwendig der Eindruck, als habe er es mit einer Welt zu tun, in der es im Grunde nur einen einzigen Konflikt gibt; - einen Konflikt, der zwar in andere Räume übergehen und von unterschiedlichen Figuren ausgefochten werden kann, der aber stets auf seinen Ursprungsort bezogen bleibt und in seiner Lösung auf ihn zurückwirkt. 188 Da sich das Grundproblem des ‚Erec‘ nicht merklich verändert, sondern nur anders gestaltet wird, steht die Um- oder Rekonkretion des Hirschjagdproblems mithin bildhaft für die detaillierend-veranschaulichende Funktion dieses Textteils ( narratio ). Für den übrigen Text ist insofern anderes zu sagen, als zwar auch hier eine grundlegende Konfliktkonstellation in immer wieder anderer Weise bildhaft inszeniert wird. Diese Inszenierung wiederholt den Grundkonflikt jedoch (mit Ausnahme von Joie de la curt ) zum einen nicht insgesamt, sondern jeweils in aspekthafter Spiegelung, und sie wiederholt ihn zum andern so, dass er sich in sehr viel deutlicherer Weise verändert. Exemplarisch zeigen lässt sich das an jenen Szenen, die die Situation des verligens spiegeln und dabei in charakteristischer Weise so akzentuieren, dass eine Entwicklung ihrer Problemstellung erkennbar wird. Den Anfang macht hier die Konstellation der Ausfahrt aus Karnant, die das verligen zugleich veräußerlicht und (bildhaft übertragend) konkretisiert: Indem Erecs Verblendung und Enites Schweigen als realisierte Metaphern (Erec blind, Enite stumm) in den Außenraum der Aventiure transponiert werden, wird mit der Angreifbarkeit der Protagonisten (realisiert durch die Räuber) auch die Problematik ihrer Lage nach außen hin manifest (die latente Bedrohung durch das Fehlverhalten konkretisiert sich in der Gefahr für Leib und Leben). Ganz anderes signalisiert demgegenüber Erecs Scheintod, der eine Situation der Verzweiflung inszeniert (Enite allein im Wald klagt über dem Körper ihres scheintoten Gatten), die die Krise von Karnant radikal verschärft. Die Versöhnungsnacht im Wald vor Penefrec bringt dann bildhaft alles wieder ins Lot. Wenn Erec und Enite hier - anstatt wie in Karnant im mittäglichen Schlafgemach - im nächtlichen Wald ruhen und in der Gesellschaft Guivreiz’ und seiner Ritter (sie lagern unter den benachbarten Bäumen: HE 7080-7105) wieder zusammenfinden, dann ist klar: die Abschottung gegenüber der Gemeinschaft ist aufgehoben. 189 In dieser Weise nebeneinandergelegt ergeben die Spiegelungen des verligens mithin eine Folge, die dem argumentativen Ablauf - verligen : Aufwerfen des Problems, Ausfahrt: Exposition des Problems und Beginn der Diskussion, Scheintod: Scheitern des ersten Versuchs der Auflösung, Penefrec: Vermittlung 188 Deshalb die zentrale Stellung des Artushofs, die sich freilich auf den ersten Teil des Textes beschränkt. 189 Ähnlich Mertens 2008, S. 679. Formen der Evidenzerzeugung 209 der Positionen - nicht nur entspricht, sondern ihn im Wortsinn sichtbar macht. Die letzte Spiegelung, bei der der Fehler des verligens auf das andere Paar übertragen und von Erec im Kampf gegen sein Alter Ego Mabonagrin ein weiteres Mal überwunden wird, reiht sich als bildhaft-bestätigende Wiederholung der im zweiten Textteil erzielten Problemlösung ein. Was sich bis hierher nur punktuell abzeichnet, ist kontinuierlicher und noch detaillierter an einem weiteren Komplex bildhafter Spiegelungen abzulesen, wobei an ihrem Beispiel auch der Funktionsunterschied zwischen den beiden Abschnitten des zweiten Handlungsteils deutlicher hervortritt. Thema ist nicht zufällig das auch im Kampf gegen Mabonagrin zentrale: Dass Erec im zweiten Handlungsteil nicht nur einmal, sondern immer wieder, ja fast permanent sich selbst begegnet bzw. gegen sich selbst kämpft, setzt die für die narrative Problemverhandlung zentrale Prämisse ins Bild, dass, wer sein Bedürfnis mit dem der Gemeinschaft vereinbaren will, zunächst einmal sich selbst - oder modern gesprochen: den eigenen Egoismus - überwinden muss. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Erecs Gegner nahezu alle in irgendeiner Weise als Spiegelungen seiner selbst erscheinen. Die Räuber gleichen ihm in der Begehrlichkeit, mit der sie Enite betrachten und um jeden Preis für sich haben wollen; dasselbe gilt für die beiden Burggrafen, bei denen die gewaltsame Hast, in der sie die Eheschließung mit Enite betreiben, auf Erecs Ungeduld vor seiner eigenen Hochzeit zurückverweist. 190 Während Erec in diesem Fall unter dem Aspekt seiner Beziehung zu Enite gespiegelt wird, fokussiert der erste Kampf mit Guivreiz - dem oben bezeichneten thematischen Verlauf der argumentatio entsprechend - sein Verhältnis zur ritterlichen Gemeinschaft. Im Arrangement der Szene kommt dabei einerseits jener Anspruch auf aktive Teilhabe am höfischen Leben zum Ausdruck, den Erecs Leute zuvor vergeblich reklamiert hatten (Erec hält sich Giuvreiz bezeichnenderweise nur mit dem Schild vom Leib, HE 4404-4411); 191 andererseits wird der Zwergenkönig, wenn er Erec die Wunde schlägt, die er sich letztlich selbst zu verdanken hat, aber auch wieder zum Alter Ego. Ein ähnlicher Rollentausch im Kampf für Cadoc: Dass dieser als ein von Riesen Geschlagener von Erec selbst mit seiner eigenen (Zwergen-)Schande in Verbindung gebracht wird ( HE 5666-5674), hatte ich oben schon erwähnt. Da die Riesen folglich - wie zuvor schon der Zwerg - mit der Gefahr assoziiert sind, die der Gemeinschaft von der Selbstsucht des Einzelnen droht, fällt das Ganze auch hier in gewisser Weise wieder auf Erec zurück. Wenn man so weit nicht gehen will, könnte man alternativ auch so formulieren: Wenn Erec durch die Vermittlung seines Alter Ego Cadoc am Ende des ersten Kursus wieder in die Szenerie der Zwergenschande zurückgeworfen wird, dann besagt das nichts anderes, als dass er das Problem, für das diese steht, bis dahin nicht bewältigt hat. Man könnte die Suggestion der Schilderung gewiss auch noch anders explizieren; grundsätzlich kann aber festgehalten werden, dass die Zuordnung der Figuren (Erec - Zwerg; Cadoc - Riesen) und Erecs expliziter Verweis auf seine eigene Schande eine Verbindung zwischen den Episoden herstellt, die darauf hinweist, dass Erec - metaphorisch gesprochen - im Kreis gelaufen ist. Wenn die Aspekte, unter denen Erec sich selbst begegnet, im letzten Teil des Textes noch einmal abgeschritten werden, so unterscheidet sich der zurückgelegte Wegabschnitt von dem vorangehenden vor allem durch den merklich höheren Grad an symbolischer Verdichtung. Die bildhaft-metaphorischen Bezüge, die zuvor fast gänzlich in der Hand- 190 In diesem Sinne etwa auch Gephart 2003, S. 184. 191 Also mit einer reinen Abwehrhaltung, die zugleich die aktive Teilnahme am ritterlichen Kräftemessen verweigert: auch hier wird der Verweis innerhalb des Textes durch ein Moment der symbolischen Kommunikation auf der Handlungsebene ergänzt. 210 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ lung aufgingen, werden nun verstärkt zu Großformen von metanarrativem Zuschnitt ausgebaut, wobei mehr und mehr der Eindruck entsteht, es sollte eine bestimmte Wendung weniger begründet als ergebnishaft präsentiert werden (Funktion der peroratio ). Zu verweisen ist hier gewiss in besonderem Maße wieder auf Joie de la curt , wo der Protagonist in eine Szenerie eintaucht, die unverkennbar eine zugleich ins Wunderbare überhöhte und verdichtend spiegelnde Version des (vergleichsweise realistischen) Schauplatzes seines eigenen Versagens ist. 192 Das Verfahren der Darstellung kehrt das der Allegorie dabei insofern geradezu um, als es dem Geschehen, statt ihm einen zweiten Sinn beizulegen, den Sinn, den es ohnehin schon hat, in eindrücklich sichtbarer Weise ein zweites Mal einschreibt. 193 Erec fungiert als Erlöser in derselben Problematik, die er zuvor ‚weghaft‘ gelöst hat, das heißt: Hier wird noch einmal konkret anschaulich gemacht, worum es in seiner Geschichte insgesamt ging, nämlich um die Überwindung des eigenen Selbst zum Zweck der (Re-) Integration des Einzelnen in die höfische Gemeinschaft. 194 Ähnliches ließe sich von der unmittelbar vorangehenden Schilderung des Aufenthalts in Penefrec zeigen, wo nicht nur die symbolisch bedeutsame Heilung von Erecs Wunde stattfindet, sondern Enite auch mit jenem wunderbaren Pferd begabt wird, das sie bildhaftbezeichnend zum Leitbild der höfischen Frau erhebt. 195 Und ähnliches lässt sich auch für die erste Episode dieses Textteils zeigen, in der Erec mit dem Sieg über Oringles, den Herrn von Limors, symbolisch wiederum sich selbst; darüber hinaus aber auch den Tod höchstpersönlich überwindet. 196 Diese Episode ist im Zusammenhang meiner Überlegungen nicht zuletzt deshalb interessant, weil der Vergleich mit ihrem Äquivalent im ersten Kursus den Unterschied im Darstellungsverfahren besonders klar hervortreten lässt. Während der erste Burggraf innerhalb der erzählten Welt ohne weiteres als eine Figur angesprochen werden kann, die sich von anderen nur dadurch abhebt, dass sich einige Züge Erecs in ihr wiederholen, gewinnt die Spiegelung bei Oringles durch die symbolische Annäherung an den Tod von vornherein eine sehr viel komplexere Bedeutung. Ausformulieren lässt sie sich vielleicht so, dass Erec hier weder (wie im ersten Fall) einfach nur sich selbst noch allgemein ‚dem Tod‘ begegnet, sondern sehr viel spezieller dem eigenen Tod, oder besser: Er begegnet dem Erec, den er im symbolischen Kampf gegen sich selbst in den vorangehenden Aventiuren mehrfach überwunden (und damit symbolisch getötet) hat. 197 Wenn er nun 192 Das Moment des Wunderbaren, oder, wie man auch gesagt hat: Mythischen (in dieser Akzentuierung Quast 2012, Hoffmann 2012, S. 194-206) - der von einer Wolke abgeschlossene Baumgarten, die paradiesische Anmutung seiner zugleich blühenden und fruchttragenden Bäume, aber auch die grausige Vorstellung des Pfahlkreises mit den abgeschlagenen Köpfen der Gegner Mabonagrins (HE 8698-8792) - kann umso eher als ein Signal für die Übertragung ins Uneigentliche gelesen werden, als es die Abgeschlossenheit Erecs in Karnant, seine sündig-paradiesische Zweisamkeit mit Enite und den daraus folgenden ‚Tod‘ von Erecs Hofhaltung zugleich spiegelt und in eine andere Sphäre versetzt. 193 Deshalb ist der Effekt hier auch einer der Evidenz: Die spiegelnde Verdoppelung ersetzt gleichsam die allegorische Auslegung. 194 Aus diesem Grund ist er auch der Einzige, der diese Aventiure bestehen kann: Es ist ‚seine‘, weil sie seine Geschichte spiegelt. 195 In ähnlicher Formulierung Wandhoff 2003, S. 175-179 und 2003a, S. 56, vgl. bes. auch Worstbrock 1985, S. 20-27. 196 Oringles ist zum einen durch den Namen seiner Burg Limors, zum andern durch Enites Apostrophe an den Tod (die ihn herbeizurufen scheint: HE 5875-5907) mit dem Tod assoziiert. Ähnlich etwa auch Haug 1979 / 1989, S. 475, Mertens 2008, S. 672. 197 Ich akzentuiere die Bedeutung des Scheintods in dieser Formulierung etwas anders als zuletzt, was aber nur jene Verschiebung der Perspektive nachvollzieht, die ich oben in Kap. III.2.2.2.4 erläutert Formen der Evidenzerzeugung 211 aus seinem todähnlichen Zustand erwacht, um den (in Oringles symbolisierten) ‚toten‘ Erec erneut zu töten, dann setzt er deshalb zwar auch ein weiteres Mal die argumentative Operation der vorangehenden Handlung in ein (symbolisch-)bedeutsam verdichtetes Bild. Darüber hinaus gibt er dem Geschehen aber auch eine neue Richtung, da er das, was zuvor nur negativ, als Überwindung und Tötung des eigenen Selbst, inszeniert worden war, nun ins Positive wendet. Von nun an überwindet Erec in seinen Gegnern zwar noch immer sich selbst; dieses ‚Selbst‘ meint aber sein altes, überwundenes Selbst. Im Gegensatz zu den Episoden davor stehen seine Gegner (Oringles, Magonagrin) darum jetzt für jemanden, der er nicht mehr ist: Weil er „durch den Tod hindurchgegangen“ ist 198 und dem früheren, unvollkommenen Erec nun als ein Anderer, Besserer gegenübertreten kann. 199 Warum sein Handeln von diesem Moment an auf einer anderen Prämisse ruht und deshalb trotz seiner unverändert selbstüberwindenden Ausrichtung nicht mehr (auto-)destruktiv auf Erec zurückschlägt, sondern im Gegenteil konstruktiv in die Gemeinschaft hineinwirkt, wird dergestalt zwar nicht rational vermittelt, auf der Ebene der erzählten Bilder aber umso dafür eindrücklicher zur Anschauung gebracht. Auch dies ist, wie an dieser Stelle nochmals hinzugefügt sei, nur ein Versuch, die imaginativen Suggestionen von Hartmanns Erzählen in Worte zu fassen. Unabhängig davon, wie man im Einzelnen formuliert, deutet indessen schon die Möglichkeit, derlei Suggestionen überhaupt zu benennen und im Handlungsverlauf zu verfolgen, auf ihre Relevanz für die Sinnbildung des ‚Erec‘ hin. Was ich als Um- und Rekonkretion einer argumentativen Idee bezeichne, konstituiert demnach eine Form des Erzählens, die die Gegenstände und Sachverhalte der erzählten Welt zu Bildern macht, sie als Bilder auf andere Bilder bezieht und sie auf diese Weise sinnhaft wirksam werden lässt. Der Eindruck, den Sinn des Textes buchstäblich sehen zu können, wird im Zuge dessen umso stärker, je dichter die bedeutungsübertragende ‚Verspiegelung‘ der Handlung ausfällt. Denn je mehr ein Moment der erzählten Welt bildhaft auf ein anderes verweist bzw. sich variierend in ihm wiederholt, und je mehr man deshalb meint, in all den Bildern einen gemeinsamen Gedanken zu fassen, desto intensiver wird man zwangsläufig auf diesen Gedanken aufmerksam - und desto mehr wird man tendenziell auch versuchen, ihn nicht allein sehend zu er-, sondern auch geistig zu begreifen. Dass die so beschriebene Anschaulichkeit mit Realismus nichts zu tun hat, liegt auf der Hand, und man kann wohl mit einigem Recht sogar sagen, dass das Verfahren der mehrfachen und immer wieder vom Bildhaften ins Metaleptische übergehenden Spiegelung das Prinzip der Konkretion früher oder später geradezu in sein Gegenteil umschlagen lässt: Indem es dem Rezipienten vor Augen führt, dass alles, was er (hörend oder lesend) ‚sieht‘, keinesfalls wirklich, sondern nur ein Bild ist - und zwar, um genau zu sein, ein Bild, das ebenso wie all die Bilder, in denen es sich reflektiert, für einen Gedanken steht, der in ihm zum Ausdruck kommt -, wirkt es unverkennbar abstrahierend. Anders, als man es aus der modernen Literatur und ihrer Theorie kennt; anders aber auch, als man es aus dem Zusammenhang des rhetorischen evidentia -Konzepts gewohnt ist, ist das hartmannsche Prinzip der Anschaulichkeit darum nicht (oder doch zumindest nicht nur) mit der Illusion unmittelbarer Teilhabe an einem tatsächlich stattfindenden Geschehen verbunhabe. Der Scheintod ist Scheitern in Bezug auf Erecs Hypothese und zugleich Voraussetzung für eine Fortsetzung der Verhandlung unter anderem Vorzeichen. 198 Haug 1979 / 1989, S. 475. 199 „Daß dieses Leben für ihn ein neues Leben ist, wird in dieser Passage mehr als einmal signalisiert“: Scholz 2004, S. 862; ähnlich Feistner 1999, S. 247. 212 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ den, 200 sondern (zusätzlich) mit dem Bewusstwerden der ‚Künstlichkeit‘ und ‚Gemachtheit‘ des Erzählens. 201 Was es sichtbar werden lässt, ist nicht zuletzt, dass das Erzählte außer um seiner selbst immer auch um des von ihm vermittelten Sinns willen da ist. 2.4 Kristallenes Leben? Hartmanns Selbstbild und Gottfrieds Reaktion Wendet man den Blick von hier aus noch einmal zu Gottfrieds Literaturexkurs, so könnte man glauben, in einem bestimmten Punkt noch etwas besser zu verstehen, was sich in seiner Bezeichnung der ‚kristallenen‘ Qualität von Hartmanns Dichtung andeutet. Wenn nämlich die cristallînen wortelîn im Umfeld der Wortschöpfungen aller anderen von Gottfried besprochenen Dichter durch ihre Bewegungslosigkeit auffallen und im Vergleich zu deren hoch auffliegender, blitzschnell geworfener und hakenschlagend davonlaufender Beschaffenheit geradezu starr anmuten; 202 - ist das dann nicht als versteckter Hinweis darauf zu werten, dass die bedeutungsverdichtende ‚Verspiegelung‘ von Hartmanns Erzählen in ihrem Effekt kunstvoll-‚künstlichen‘ Strahlens bis zu einem gewissen Grad auch negativ markiert wird? Und heißt es nicht weiter, dass darin unweigerlich die Idee (wenn nicht die Forderung) zum Ausdruck kommt, dass ‚Erzählen‘ doch eigentlich mehr sein sollte als die veranschaulichende Konkretion eines abstrakten gedanklichen Verlaufs? Dass seine Aufgabe nicht zuletzt darin besteht, ein Bild wenn nicht ‚echten‘ - denn auch die die bunt gewebten, aufgepfropften und willkürlich zusammengewürfelten Wortgebilde von Hartmanns Kollegen erscheinen bei Gottfried unverkennbar künstlich -, so doch bewegten Lebens zu vermitteln? Von dieser Überlegung ausgehend könnte man in einem weiteren Schritt vermuten, dass hinter der Kritik an Hartmanns Erzählen ein anderer narrativer Typus aufscheint; ein Typus, der sich gegenüber dessen ‚Künstlichkeit‘ durch eine größere ‚Natürlichkeit‘ auszeichnet. Und daraus ließe sich schließlich die Frage ableiten, ob Gottfried diesen Typus nicht zuletzt deshalb aufscheinen lässt, weil er selbst sich stärker als sein Vorgänger um dessen Umsetzung bemüht. Es sei gleich vorab eingeräumt, dass ein derartiger Umschlag von ‚Kunst‘ in ‚Leben‘ bzw. ‚Natur‘ weder an dieser Stelle tatsächlich vonstattengeht, noch überhaupt so einfach greifbar ist. Das gilt schon allein deshalb, weil es das Konzept eines Realismus, der den Gegentyp der hier apostrophierten ‚Künstlichkeit‘ zu markieren hätte, zur Zeit Gottfrieds noch nicht gab. Ganz abgesehen davon, dass der ‚Tristan‘ keineswegs für diesen Typ steht, ist mithin zu konstatieren, dass Gottfried ihn schon allein deshalb nicht gegen Hartmanns Dichtung halten konnte, weil er ihm gar nicht bekannt war. Gleichwohl darf man vielleicht mit eini- 200 Ziel ist bei ersterer eine mimetische Darstellung, bei letzterer die Evokation von Glaubwürdigkeit; beide richten sich also auf die Simulation einer möglichst realistischen Wahrnehmung. Zu dieser Parallelisierung Hübner 2010. Dass Gottfried die Modulation des evidentia -Konzepts bei Hartmann nicht entgangen ist, versuche ich im nächsten Abschnitt plausibel zu machen. 201 Der ästhetische Effekt des literarischen Textes besteht nicht zuletzt darin, dass er eine andere Art der Wahrnehmung hervorbringt und verlangt als die im Alltag gewohnte. Czerwinskis These einer „Allegorealität“ (2003) mittelalterlichen Weltverstehens geht deshalb an den spezifischen Wirkungsintentionen, die man literarischen Texten auch im Mittelalter zuschreiben muss, vorbei. Wenn man die Welt im Mittelalter immer so wahrgenommen hätte, wie es der ‚Erec‘ impliziert, wäre der Text - als literarischer - witzlos. 202 Vgl. GTr 4638-4722. Ich schließe hier und im Folgenden an meine Überlegungen in Kap. III.2.1 an. Kristallenes Leben? 213 gem Recht sagen, dass er ihn am Horizont des literarisch Denkbaren heraufdämmern lässt, wenn auch vorerst nur ganz vage und erneut vornehmlich im Bemühen um eine möglichst genaue Beschreibung von Hartmanns Dichtungsstil. Was ich damit meine, lässt sich vielleicht am einfachsten zeigen, wenn man noch einmal bei der Kristallhaftigkeit von Hartmanns Dichtung ansetzt und danach fragt, wie weit der mit ihr verbundene Eindruck der Starre tatsächlich trägt. In diesem Zusammenhang ist mit Christoph Huber zunächst festzuhalten, dass Deutungsperspektiven ad malam partem in der mittelalterlichen Allegorese des Kristalls durchaus bekannt sind und dass der Eigenschaft der Starre dabei eine besondere Bedeutung zukommt. Dass Gottfrieds Darstellung von vornherein bis zu einem gewissen Grad negativ konnotiert war, ist also keineswegs auszuschließen. 203 Falls man dieser Suggestion folgen will, muss man jedoch sogleich hinzufügen, dass damit über ihren Inhalt noch nicht viel gesagt ist. Denn dass mit einer traditionell-theologischen Auslegung der kristallinen Starre 204 im poetologischen Rahmen wenig anzufangen ist, liegt auf der Hand. Wenn Gottfried diese proprietas des Kristalls tatsächlich mitgedacht haben sollte, dann wäre mithin davon auszugehen, dass dies erneut in der für ihn so typisch umwertenden Weise geschieht, was zugleich hieße, dass man ihre Implikationen allein im weiteren Kontext seiner Literaturreflexion erschließen kann. Dieser Kontext ist aber nun interessanterweise einer, der geradezu vom Gegenteil dessen ausgeht, was Gottfried insinuiert, sprich: Der vergleichende Blick auf das Objekt, in dem Hartmann seine eigene Dichtung Gestalt annehmen lässt, zeigt, dass dieser die Eigenschaft der ‚Lebendigkeit‘ - neben der ‚Kunst‘ - für deren wichtigstes Merkmal erachtet. Was das wundersame Pferd, das Enite bei ihrer Abreise aus Penefrec von Guivreiz’ Schwestern zum Geschenk erhält, 205 gegenüber Gottfrieds Kristallworten auszeichnet, 206 ist nämlich genau dies: Obgleich es zumindest hypothetisch ebenso von Menschenhand gemacht ist, 207 und wiewohl es in seiner auffälligen schwarzgrünweißen Farbigkeit nicht weniger auf die rhetorischen colores verweist ( HE 7290-7335), 208 ist es im Gegensatz zu dem von Gottfried evozierten Wortkristall von bewegtem Leben erfüllt. Weit davon entfernt, ein reines Kunst- und Repräsentationsobjekt zu sein, trägt es seine Besitzerin zuverlässig und im schönsten 203 Vgl. Huber 2015, S. 193. 204 „In dem allegorischen Handbuch des Hieronymus Lauretus findet sich dazu eine kompakte Synopse: Positiv gesehen wird die Verwandlung vom Instabilen zum Festen, vom Weichen zum Harten etwa in Bezug auf die menschliche Natur Christi durch das Leiden; auf die Natur der Engel nach ihrer Versuchung; auf den Glauben. Die im kristallisierten Eis gewonnene Festigkeit kann aber auch als Verhärtung, als sündige Verstocktheit ausgelegt werden, die aufgelöst werden muss“ (ebd., S. 193 f.). 205 Hierzu der Überblick über die (ältere) Forschung bei Scholz 2004, S. 898-929. Ich beziehe mich im Folgenden neben den Studien von Worstbrock 1985 und Lutz 1996 v. a. auf die jüngeren Arbeiten von Wandhoff 2003, S. 157-179 und 2003a, Laude 2004, Bürkle 2007, Huber 2007, S. 120-126, Hamm 2011, Masse 2011. 206 Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht natürlich darin, dass die Kristallworte als Wor t e und damit explizit als dichterische Schöpfung benannt werden, während das Pferd ein Gegenstand der erzählten Welt ist. Wir haben es also im ersten Fall mit einer Form expliziten, wenngleich metaphorischen, und im zweiten mit einer Form impliziten Redens über Dichtung zu tun. Für die hier fokussierte Frage nach den poetologischen Implikationen beider Passagen spielt diese Unterscheidung freilich keine maßgebliche Rolle. 207 Hartmann sagt, es sei so schön, dass ein werltwîser man es sich, auch wenn er acht volle Jahre darüber zugebracht hätte, nicht schöner hätte ausdenken können (HE 7366-7388). „Hartmann referiert hier das Prinzip der mentalen Präkonzeption des erst später material umzusetzenden Artefakts, wie es in der mittellateinischen Poetik vertreten wird“ (Huber 2007, S. 123). 208 Vgl. dazu etwa Huber 2007, S. 114 f. Zusammenfassend zur Farbe Scholz 2004, S. 902-905. 214 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ Tölt durch die Gefilde der erzählten Welt, ohne auch nur im mindesten spüren zu lassen, dass es sich in irgendeiner Weise anders verhielte, als man es von einem normalen Pferd erwartet. 209 Was sich in der Schilderung des Pferdes bereits andeutet, zeigt sich in verstärktem Maße in der Beschreibung seiner Satteldecke. Diese wird dem Rezipienten nicht allein ausführlich als das kostbare Produkt einer in Perfektion beherrschten Handwerkskunst vor Augen geführt; sie verweist auch nochmals deutlicher als das Pferd selbst auf den Anspruch einer lebendigen Weltdarstellung. 210 Dabei bezieht sich Hartmann auf die kosmologischen Implikationen, die Chrétien seiner descriptio von Erecs Krönungsmantel eingeschrieben hatte, wandelt sie aber zugleich in bezeichnend-überbietender Weise ab. 211 So ersetzt er zum einen die von Chrétien bemühten Feen ( CEE 6682 ff.) durch einen - vom Schöpfer des Pferdes zu unterscheidenden - zweiten meister , der das Weltmachen schon im Namen trägt: Umbrîz . 212 Dass der Kreis, den dieser mit der Satteldecke ‚umreißt‘, noch stärker auf den Kosmos verweist, hängt zum anderen aber auch damit zusammen, dass er nicht wie Erecs Krönungsmantel bei Chrétien von den welterschließenden artes des Quadriviums, sondern von den - den vier Elementen zugeordneten - Bewohnern der Welt selbst bevölkert wird. 213 Was hier entsteht, ist deshalb ein veritabler Mikrokosmos, ein Bild der Welt in verkleinertem Format, das - und hierin besteht Hartmanns dritte und entscheidende Änderung gegenüber Chrétien - zugleich mehr ist als ein Bild. Dass die Decke aller werlde wunder und swaz der himel besliuzet ( HE 7589 f.) vollständig versammelt und korrekt darstellt, 214 ist ihm offenbar nicht genug: Ihre Geschöpfe wirken überdies auch fast genauso lebendig wie ihre realen Äquivalente. Der Fisch schwimmt in seinem Bildmeer reht sam er lebete ( HE 7611), und die menschlîch geschaft steht gar auf der ihr zugeordneten Erde sam sie wolde sprechen und bildes reht brehen ( HE 7608 f.). 215 Wenn man davon ausgeht, dass Gottfried die descriptio von Enites Pferd sowohl gekannt als auch in ihrer poetologischen Valenz verstanden hat - und alles andere ist angesichts der bis zum Zitat ausgeschriebenen Wiederaufnahme in der Petitcreiu-Episode des ‚Tristan‘ 209 Dazu umfassend Spicker 2007. 210 Pointiert zu der von Hartmann transportierten Vorstellung dichterischer Weltschöpfung zuletzt Hamm 2011, grundlegend Bürkle 2004, bes. S. 156-169. Vgl. bes. auch Haupt 1989, S. 209-216, Laude 2004, bes. S. 222 mit Anm. 51, Masse 2011, S. 169 f. 211 Den Bezug zu mittelalterlichen Darstellungen des Kosmos erläutern bes. Lutz 1996, S. 4-8, 36-46 und, in detailliertem Vergleich von Chrétien und Hartmann, Wandhoff 2003, S. 122-163. Vgl. dazu auch Haupt 1989, S. 209-216, Mertens 2010, S. 25 f. 212 Durch diesen verweist er zudem auf den in ähnlicher Funktion bei Heinrich von Veldeke auftretenden Geometras. Hartmann akkumuliert Vorstellungen ‚meisterlichen‘ Weltschaffens mithin auch im weiteren Intertext. Dazu umfassend Hamm 2011, bes. S. 214-217. 213 Wenn Chrétien davon spricht, wie die artes die Welt vermessen, dann ist zwar viel von Himmel und Erde, den Stunden der Zeit, den Tropfen des Meers und der Zahl der Sterne die Rede (CEE 6684-6728); daraus entsteht aber bei näherem Hinsehen gerade kein Bild der Welt. Das ist bei Hartmann sichtlich anders. Er ist darum bemüht, eine möglichst plastische Vorstellung verschiedener Tiere des Waldes und Feldes, des Wassers und der Luft zu evozieren, wobei er immer wieder auf den Vorgang der Wahrnehmung rekurriert (HE 7582-7653). 214 In analoger Tendenz spricht Chrétien davon, dass die Geometrie Himmel und Erde fehlerfrei ausmisst, die Arithmetik die Tropfen des Meers akkurat auszählt etc.: L’une i portraist Geometrie si com ele esgarde et mesure con li ciax et la terre dure, si que de rien nule n’i faut […] (CEE 6684-6687). 215 Ich folge hier gegen Scholz (und mit Mertens) der Lesart des Ambraser Heldenbuchs. Die ältere Hs. K liest da stunden tier in islicher schaft . Vgl. dazu die Kommentare von Scholz 2004, S. 924 f. und Mertens 2008, S. 684. Kristallenes Leben? 215 höchst unwahrscheinlich 216 -, dann wird man diesem Befund wohl einige Signifikanz beimessen dürfen. Nimmt man noch hinzu, dass Gottfried sich an anderer Stelle ganz offensichtlich punktgenau auf die poetologischen Selbstaussagen der von ihm besprochenen Dichter bezieht, 217 und bedenkt überdies (nochmals) das nun schon mehrfach konstatierte umakzentuierende Verfahren seiner poetologischen Rede, so wird man deshalb mit einiger Bestimmtheit vermuten, dass er sich durch die Wahl des zwar sinnklar strahlenden, dabei aber vollkommen bewegungslosen Objekts, das er für Hartmanns Dichtung findet, gezielt von dessen Selbstbild absetzt; - was direkt weiter zu der Frage führt, wie dieser ‚Objekttausch‘ genau zu deuten ist. Oder, um es in Rückgriff auf eine ganz zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage noch einmal ähnlich pointiert zu formulieren: Weshalb ersetzt Gottfried das von Hartmann für seine eigene Dichtung gewählte Bild des Pferdes in durchaus vergleichbarer Weise durch das des Kristalls, wie er die von Chrétien apostrophierte Gewebe- Metapher ( conjointure ) durch die des schmückenden Polierens ersetzt? Vor dem Hintergrund sowohl meiner eigenen Überlegungen als auch der Explikationen der Gottfried-Forschung scheinen mir zwei Antworten denkbar. So könnte man mit Blick auf die Evokation der kristallinen Starre zum einen in Erwägung ziehen, Gottfrieds Hartmanndescriptio als eine Art ausstreichender Korrektur und insofern tatsächlich im engeren Sinne als Kritik zu verstehen. Dass er denselben Gegenstand, den Hartmann als so lebendig-bewegt zeichnet, zum Kristall erstarren lässt, könnte man dann etwa dahingehend interpretieren, dass er den von diesem formulierten Anspruch aus irgendeinem Grund für problematisch hielt. Man könnte das mit einem Teil der Forschung so auslegen, dass die Imagination eines Werks, das bildes reht tatsächlich zu brehen und die göttliche Schöpfung darin geradezu zu überbieten beanspruchte, unweigerlich den Vorwurf der Hybris heraufbeschworen haben müsse. 218 Oder man könnte alternativ vorschlagen, dass Gottfried sich schlicht an der Vorstellung störte, eine Dichtung vermöchte, wie von Hartmann suggeriert, schematisches Modell und ‚lebendiges‘ Abbild der Welt zugleich zu sein. 219 Ob eine dieser Annahmen unter Umständen zutrifft und wie sie gegebenenfalls gegeneinander abzuwägen wären, sei dahingestellt. Für meine Untersuchung sind sie nur insofern relevant, als sie belegen, dass sich mit der Vorstellung der Starre eine ganze Reihe (negativer) Assoziationen 216 Vgl. dazu Kap. III.3.4.3. 217 Ich denke hier natürlich vor allem an die Passage zum ‚Hasengesellen‘ Wolfram, in der Gottfried den Parzival-Prolog zitiert. Umfassend dazu mit Forschungsüberblick Haug 2011, S. 361-377. 218 Die Formulierung bildes reht brehen wurde in der Forschung vielfach diskutiert und unterschiedlich gedeutet. So versteht Worstbrock sie als Anspruch auf eine Überbietung der erfahrungsweltlichen Wirklichkeit durch die Kunst (1985, S. 26), während Ridder von einem Verweis auf die Ebene der Transzendentalien ausgeht (2001, S. 548). Die tendenziell problematischen Aspekte hebt Laude hervor, wenn sie von der „unkonventionelle[n] Kunstauffassung“ spricht, die hier in einer „Überschreitung der Bildhaftigkeit in Richtung auf wirkliche, autonome Lebendigkeit des menschlichen Artefakts“ zum Ausdruck komme (2004, hier S. 226 f.). Als solche sei sie zwar im ‚Als-ob‘ gebunden und „erstaunlicherweise“ nicht negativ präsentiert (ebd., S. 227, vgl. Haupt 1999, S. 215 f.), rücke aber gefährlich in die Nähe jenes Hybrisverdachts, dem sich Fasbender (1999) zufolge jede allzu ehrgeizige Nachahmung der Schöpfung im Mittelalter stellen muss. 219 Diese Deutung scheint auf, wenn man Hartmanns Schilderung neben zeitgenössische Weltall-Schemata hält (vgl dazu die Abbildungen bei Lutz 1996 und Wandhoff 2003, S. 125-129). Auch wenn das damit verbundene Problem des Verhältnisses von Abstraktion und Konkretion für Hartmann keine Rolle gespielt haben mag: Dass Lebensechtheit kaum das entscheidende (Qualitäts-)Merkmal eines Kosmosbildes sein kann, dessen Funktion in der vereinfachenden Abstraktion besteht, könnte auch einem mittelalterlichen Rezipienten aufgefallen sein. 216 Form und Sinn im höfischen Roman - Hartmanns ‚Erec‘ verbinden konnte, die von einem zeitgenössischen Publikum mehr oder weniger deutlich auf Hartmanns Dichtung bezogen werden mochten. Eingedenk des von Gottfried auch sonst gepflegten poetologischen Verfahrens scheint mir freilich eine andere Annahme wahrscheinlicher. Diese lautet, dass seine Aussage - wie schon erwähnt - auch hier nicht im eigentlichen Sinne als Korrektur Hartmanns zu verstehen ist, sondern eher als Versuch, den gemeinsam betrachteten Gegenstand noch etwas präziser zu fassen. In diesem Zusammenhang wäre davon auszugehen, dass Gottfrieds Absicht im Grunde genommen dieselbe ist, wie die schon in Bezug auf die perspicuitas beobachtete. Der Unterschied bestünde nur darin, dass er in diesem Fall ein anderes, wenn auch in Bezug auf die kristallene Qualität von Hartmanns Dichtung nicht minder relevantes Konzept fokussiert - dasselbe Konzept nämlich, das auch ich in den letzten Kapiteln ins Zentrum der Deutung von Hartmanns ‚Erec‘ gestellt habe: das der evidentia . Hierzu gehört die Beobachtung, dass Hartmann und Gottfried mit der Lebensechtheit auf der einen und der sinnhaften Transparenz auf der anderen Seite zwar faktisch auf ganz unterschiedliche ästhetische Effekte abheben, dass diese Effekte aber (poeto-)rhetorisch betrachtet gleichermaßen in die Kategorie der Evidenz fallen. 220 Das Verhältnis der descriptiones von Enites Pferd und Hartmanns Kristallworten wäre unter dieser Prämisse etwa so zu formulieren: Indem Hartmann die kosmologischen Implikationen der chrétienschen Krönungsmantelbeschreibung auf Enites Satteldecke appliziert, wiederholt er den Anspruch seines Gewährsmanns auf universelle Weltdarstellung und versucht zugleich, ihn zu überbieten. Auch seine Dichtung begreift sich also als Abbild der Welt, doch behauptet sie als solches noch kunstvoller verfertigt zu sein, da sie den Rezipienten glauben macht, diese Welt wirklich und wahrhaftig vor sich zu sehen. 221 Dass Gottfried ein Lichtphänomen an die Stelle der von Hartmann apostrophierten Lebendigkeit setzt, ist hieran anschließend nun keineswegs (mehr) als Einrede in dem Sinne zu verstehen, dass er Hartmanns Dichtung die Anschaulichkeit etwa abspräche - denn auch die Kristallworte sind ja zweifellos anschaulich -, sondern vielmehr so, dass er die Art ihrer Anschaulichkeit anders qualifiziert. Die Pointe: Hartmanns Dichtung mag mehr oder weniger lebensecht sein; was sie im Kern ausmacht, ist etwas anderes - die Eigenschaft nämlich, ihrem Hörer oder Leser im Medium der dargestellten Gegenstände einen darin aufscheinenden Sinn greifbar vor Augen zu stellen. Während die eigene Dichtung demnach für Hartmann mit einer Form von Evidenz verbunden ist, die ganz in der rhetorischen Idee der verisimilitas aufgeht, verschiebt Gottfried den Fokus auf die Evidenz ästhetischer Versinnfälligung. 222 220 „Die evidentia […] ist die lebhaft-detaillierte Schilderung eines rahmenmäßigen Gesamtgegenstandes […] durch Aufzählung […] sinnenfälliger Einzelheiten.“ Als solche vermittelt sie das „Gleichzeitigkeitserlebnis des Augenzeugen“ und strebt eine „Steigerung der […] Tugenden der ‚Klarheit‘ und der ‚Wahrscheinlichkeit‘“ an (alle Zitate Lausberg 1960 / 2008, § 810). Über diese ist sie mit der perspicuitas verbunden und trägt zugleich insofern einen anderen Akzent, als es hier nicht vorderhand als Eindeutigkeit der Aussage, sondern um einen Effekt der (mimetischen) Anschaulichkeit geht. 221 Vgl. dazu in Bezug auf die Überbietung als eines typischen Gedankens mittelalterlicher Kunstmeisterschaft Huber 2007, S. 120-126. Dass Hartmann darin einen Anspruch auf Evidenz erhebt, bemerken auch Wandhoff 2003, S. 168-171, Bürkle 2007, S. 169 und Huber 2010, S. 123; vgl. ferner Glauch 2003, S. 154 f., Masse 2011, S. 169 f. 222 Ausblenden möchte ich den vieldiskutierten Gedanken, dass im ‚Als-ob‘ der hartmannschen Schilderung ein Fiktionalitätskontrakt etabliert werde. Obwohl man einen Bezug zum modernen Konzept der Fiktionalität gewiss herstellen kann, scheint mir dieser Aspekt bei Hartmann doch bei weitem nicht so im Vordergrund zu stehen, wie es die Forschung glauben machen will (vgl. etwa Worstbrock 1985, S. 26 f., Strasser 1993, Laude 2004, Masse 2011, S. 170 f.). Der Akzentwechsel ist meines Erachtens Kristallenes Leben? 217 Wenn diese Deutung etwas Richtiges trifft, dann tritt an dieser Stelle zum einen nochmals das Muster zutage, in dem Gottfried Topos gegen Topos und Metapher gegen Metapher setzt, um ein Phänomen literarischer Sinnbildung zu illustrieren, das sich der Selbstdarstellung seiner Vorgänger offenbar (noch) entzieht. Zum andern aber - und das ist der entscheidende Punkt - wird greifbar, warum ich eingangs gesagt habe, dass er im Bemühen um eine möglichst genaue Beschreibung von Hartmanns Dichtungsstil zumindest die erste Ahnung eines Erzählens heraufbeschwört, das dessen ‚Künstlichkeit‘ in irgendeiner Weise konterkariert. Denn schon indem er die verisimilitas in diesem Zusammenhang nicht (mehr) erwähnt, evoziert er in gewisser Weise die Frage, wie die ‚Wahrheitsähnlichkeit‘, die er Hartmanns Dichtung damit implizit abspricht, eigentlich alternativ auszusehen hätte. Dass diese Frage sich nicht nur allein im direkten Vergleich der poetologischen Passagen, sondern darüber hinaus vielleicht auch erst aus der Retrospektive stellt, und dass sie Gottfrieds zeitgenössischem Publikum darum ebenso wenig in den Sinn gekommen sein könnte wie die nach einer ‚natürlichen‘ Weltdarstellung, wird man freilich wohl ebenfalls zumindest in Betracht ziehen müssen. Abschließend festgehalten sei deshalb nur, dass Gottfried die Fäden der poetologischen Reflexionen sowohl Chrétiens als auch Hartmanns ganz offensichtlich aufnimmt und weiterspinnt, wobei es ihm insbesondere in Bezug auf Hartmann vornehmlich um die möglichst treffende Illustration eines ganz bestimmten sinnbildenden Verfahrens zu tun ist. Inwiefern er dieses Verfahren zudem so mit den Kategorien von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ sowie ‚Dichtung‘ und ‚Welt‘ in Verbindung bringt, dass sich daraus außer auf eine gewisse Distanzierung auch auf eine weitergehende Reflexion des Themas schließen lässt, muss hier offen bleiben: Ich markiere damit den Punkt, an dem ich den Faden meiner Beobachtungen zur mittelalterlichen Poetologie vorerst ablege. Ich werde ihn wieder aufnehmen, wenn es darum geht, den sinnbildenden Charakter von Gottfrieds eigenem Weltentwurf genauer zu beschreiben und auf eine beginnende Transformation des literarischen Typs zu beziehen. 223 Bevor ich diesen literaturgeschichtlichen Schritt nach vorn unternehme, wende ich mich jedoch noch einmal zurück, hin zu einem Text, der zwar nicht Gottfrieds direkte Vorlage ist, der aber gleichwohl - oder gerade deshalb - wie kein anderer die Form literarischer Sinnbildung repräsentiert, von der er sich letztlich abwendet. Wenn sich dabei herausstellt, dass diese Sinnbildungsform der des ‚Erec‘ nicht nur ähnlich, sondern im ‚regierenden Modus‘ geradezu mit ihr identisch ist, dann zeigt sich daran erneut die Traditionalität eines narrativen Typs, der in dieser Weise offenbar schon vor Chrétien und Hartmann gepflegt wurde. Deren Texte, so die Schlussfolgerung, leiten in der Tat keineswegs eine neue Ära ein, ja sie markieren überhaupt weniger den Anfang als das Ende einer Entwicklung. Meine Analyse von Eilharts ‚Tristrant‘ erfolgt damit nur insofern schon mit Blick auf Gottfried, als sie den literaturhistorischen Hintergrund, von dem dieser sich absetzt, deutlicher hervortreten lassen will. bezeichnend für die Perspektive der Neuzeit, die Hartmanns Betonung der kunstvoll-plausiblen (und damit trotz ihres imaginären Charakters wahrheitsähnlichen) Qualität seiner Schilderung als Bekenntnis zum fiktionalen Konstrukt auffasst. Dass die rhetorisch erzeugte verisimilitas demgegenüber im Verständnis des Mittelalters keineswegs im Gegensatz zur Wahrheit (und damit für Fiktionalität) steht, ja dass „[d]ie Wahrheit des Erfundenen […] keine andere [ist] als die des faktisch für wahr Gehaltenen“, betont Hübner 2014, hier S. 440. 223 Vgl. Kap. III.3.4.3. 3 Komposition als Arbeit am Mythos. Zu den Tristanromanen Eilharts von Oberg und Gottfrieds von Straßburg 3.1 Tristanwelt und Artuswelt. Komposition und Sinnbildung im Vergleich Es ist ohne Zweifel so, dass Tristan- und Artusroman ganz verschiedene, ja gegensätzliche Welten entwerfen. 1 Entstehungsgeschichtlich betrachtet ist dieser Kontrast alles andere als selbstverständlich. Aus ein- und demselben Repertoire mündlicher Erzählungen hervorgehend und in ihrer Entwicklung eng ineinander verschlungen, 2 schlagen die Stoffe wohl erst im Moment ihrer Romanwerdung dezidiert divergierende Wege ein. 3 Dabei bleiben sie in der Perspektive auf ein gemeinsames Thema verbunden. Wie der Artus-, so kreist auch der Tristanroman um das problematische Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Während der Artusroman jedoch zum optimistischen Bild eines Protagonisten findet, der sein eigenes Streben mit den Ansprüchen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen weiß, stehen sich persönliches Glück und gesellschaftliches Ansehen im Tristanroman unvereinbar gegenüber; resultiert die spannungsreiche Verbindung von Eros und Ehre für ihn nicht in der fragilen Balance des höfischen Festes, sondern in Verbannung und Tod. Die pessimistische Auffassung des Tristanromans ist bekanntlich älter. Und man wird Walter Haug gewiss zustimmen, wenn er sagt, dass das thematische Konzept des Artusromans zumindest insofern als Antwort auf den Tristanroman betrachtet werden könne, als es das Problem, an dem dessen Protagonisten scheitern, konsequent löst. 4 Das gilt umso mehr, als seine Lösung gleichfalls vor dem Hintergrund einer letztlich unabwendbaren Katastrophe steht: Was für den Tristanroman der Tod der Liebenden, das ist für den Artusroman der Untergang des Artusreichs. Das arthurische Erzählen erscheint in diesem Sinne als fortwährender Aufschub, als ein Erzählen, dem es anders als seinem stoffverwandten Pendant immer wieder gelingt, die destruktive Dynamik des gemeinsamen Konflikts im utopischen Raum des literarischen Textes aufzuheben. Haugs Annahme, dass das narrative Modell des Artusromans dem „über mehrere Stufen herangewachsen[en]“ Tristanstoff als ein „frei gesetztes“ gegenübersteht, 5 hat darum einiges für sich - was freilich nicht bedeu- 1 Dazu grundlegend Köhler 1965 / 1970, S. 147-162, Haug 1990 / 1995; prägnant zusammenfassend Huber 2000 / 2001, S. 15 f. Die jüngste Forschung widmet sich im Anschluss an Mertens 1996 vornehmlich der Frage nach der Rolle der Artusfür die Tristanwelt: Dietl 2007, Seeber 2011. 2 Die Grundlinien der Stoffentwicklung (keltische Quellen - mündliche Erzähltradition - frühe Verschriftlichung) skizzieren überblickshaft Mertens 1998, S. 9-24, Tomasek 2007, S. 268-282 und Huber 2000 / 2001, S. 15-24. Meine folgenden Überlegungen zum Tristan-Stoff beziehen sich zusätzlich auf die frühen Arbeiten von Schoepperle 1913 / 1960 und Ranke 1925 sowie auf die jüngeren stoffgeschichtlichen Überblicke von McCann 1990 und Stein 2001. 3 Zu diesem Vorgang Köhler 1965 / 1970, S. 148-180, Haug 1990 / 1995. Die Frage danach, wie sich die Romane in ihrer Entstehung aufeinander beziehen und voneinander absetzen, bedürfte einer grundlegend neuen Untersuchung. Ansätze dazu finden sich bereits, so etwa bei Glauch 2005 unter dem Aspekt der Fiktionalität. Ich deute hier einen anderen Zugang an. 4 Haug 1990 / 1995, S. 185 f. Vgl. bes. auch Haug 1999 / 2003, S. 183. 5 Haug 1990 / 1995, S. 186 f. Tristanwelt und Artuswelt 219 tet, dass dieses Modell auch als ein in höherem Grade sinnhaft strukturiertes anzusehen ist. Man muss nicht einmal allzu tief in die Materie eindringen, um sich darüber zu wundern, warum die Forschung Haugs Diktum von der „entstehungsgeschichtlich bedingte[n] Strukturlosigkeit“ des Tristanromans 6 bislang nicht entschiedener entgegengetreten ist. 7 Denn dass eine (ganzheitliche) narrative Strukturierung mitnichten nur im Akt freier (und gar noch: fiktionaler) Setzung entstehen kann, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass es, anders als von Haug behauptet, durchaus möglich ist, einen „literarisch vorgeprägte[n]“ Stoff „einer neuen, sinngebenden Struktur [zu] unterw[e]rfen“. 8 Hinzu kommt, dass man sich die literarische Vorprägung des Tristanstoffes keinesfalls als allzu stark vorstellen darf. Selbst wenn der um 1150 wirkende Verfasser des höfischen ‚Urtristan‘ (der sogenannten estoire ) 9 bereits auf das von der sagengeschichtlichen Forschung des frühen 20. Jahrhunderts (re-)konstruierte „älteste Tristanepos“ 10 zurückblicken konnte: die Vielzahl der überlieferten Varianten und alternativen Erzählverläufe lässt dennoch keinen Zweifel an der beachtlichen Freiheit, durch die sich das Erzählen von Tristan zu seiner Zeit nicht weniger ausgezeichnet haben muss als zu der seiner Vorgänger und Nachfolger. 11 Was dieses Erzählen von dem des Artusromans unterscheidet, ist demnach zunächst einmal dies: Es kann das tragische Ende seines Helden nicht in den Hintergrund drängen, weil dieses, anders als es bei Artus der Fall ist, nichts weniger als seine Identität ausmacht. 12 Artus bleibt Artus also auch ohne Mordred, bleibt idealer Herrscher und Garant ritterlich-höfischer Kultur, auch wenn er nicht verraten wird. Tristan hingegen ist ohne Isolde und Marke nicht denkbar, ist Tristan nur als illegitim, als zum Tode bestimmt Liebender. Während das Erzählen von Artus es deshalb erlaubt, seinen stofflichen Kernbestand um immer neue Geschichten zu erweitern und die Aufmerksamkeit sogar mehr und mehr auf deren Protagonisten zu verlagern, ist das Erzählen von Tristan auf seine Grundlinie festgelegt, kann es die Geschichte von Liebe und Liebestod zwar anders darbieten, das Schicksal seiner Protagonisten aber niemals ausblenden. Wie wenig die so verstandene Differenz der Weltentwürfe für den strukturellen Aufbau der jeweils erzählten Geschichte besagt, deutet sich in der Forschung immer da an, wo sie 6 Ebd., S. 194. 7 Die Zurückhaltung versteht sich freilich wohl weniger gegenüber Haugs Äußerung selbst als vielmehr vor dem Hintergrund einer älteren Forschung, die fast einhellig davon ausgeht, dass es sich beim Tristanroman um „Szenenepik“ handle, die sich mit einer „anspruchslosen Episodenreihung“ begnüge (Ruh 1980, S. 224). 8 „Da der Tristanstoff, anders als die mündlichen Quellen, aus denen Chrétien geschöpft hat, literarisch vorgeprägt war, konnte er nicht einer neuen, sinngebenden Struktur unterworfen werden“ (Haug 1999 / 2003, S. 183). 9 Dieser in der Forschung seit Schoepperle (1913 / 1960, S. 66 ff.) gebräuchliche Name leitet sich aus der Bezeichnung Bérouls für seine Quelle ab. 10 So die Bezeichnung von Ranke 1925, S. 8. 11 Die Forschung hat sich mehr oder weniger darauf verständigt, dass man sich den ‚Tristan‘ der estoire - Stufe als eine „hinsichtlich ihres Makro-Aufbaus stabile[], bezüglich der Wahl und Gestaltung einzelner Episoden aber variable[]“ Dichtung vorstellen muss (Tomasek 2007, S. 270) und dass es immer auch parallele mündliche Erzählungen gegeben hat. Dezidiert in diesem Sinne schon Mohr, der insbesondere auf die Parallelen zu den Branchen der Chansons de geste verweist (1976, S. 81 f.). 12 Der Gedanke folgt einem Konzept der narrativen Identität, wie es etwa MacIntyre 1987, bes. S. 273-300 und Ricœur 2005 formulieren. 220 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane darauf hinweist, dass auch dem Tristanroman eine Art conjointure zuzuschreiben sei. 13 Die überlieferten Texte sprechen hier in der Tat für sich. In der zwar meist nur fragmentarisch erhaltenen, aber durchweg höchst kunstvollen Anordnung ihres Materials stehen sie für ein Erzählen, das „bereits auf der Stufe der estoire kein buntes Episoden-Konglomerat, sondern ein wohlberechnetes und gegliedertes Ganzes“ gebildet haben muss. 14 Wenn die Untersuchungen, auf die sich diese Feststellung berufen kann, zum großen Teil noch in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts datieren, so ist das freilich bezeichnend: 15 Die Fokussierung auf das von Kuhn und Haug etablierte Modell des Symbolwegs hat eine (alternative) Erfassung des den Texten zugrundeliegenden Kompositionsprinzips offenbar auch hier weitgehend verhindert. 16 Der Blick auf die ältere Forschung ist aber auch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Indem sie eine genauere Vorstellung vom möglichen Ablauf der Stoffentwicklung vermittelt, zeigt sie nämlich nicht nur deutlich an, dass dem von Haug als strukturlos bezeichneten Wachstumsprozess sehr wohl ein strukturbildendes Moment innewohnt. Sie macht, was hier noch wichtiger ist, vielmehr auch darauf aufmerksam, in wie auffälliger Weise das in diesem Prozess entstehende narrative Gebilde in seinem Konstruktionsprinzip ganz speziell der conjointure des ‚Erec‘ gleicht. Ein kurzer Abriss der von ihr erschlossenen Genese soll das veranschaulichen: 17 Am Anfang des Erzählens von Tristan steht demnach eine keltische Erzählung vom Typ der aus späterer Zeit überlieferten irischen Sage um Diarmaid und Grainne. Sie handelt von der illegitimen Liebe einer Königin, die den Gefolgsmann (und Verwandten) ihres Gatten durch Zauber (oder Fluch) 18 an sich bindet, ihn dazu zwingt, mit ihr in den Wald zu fliehen und - hier variiert die Überlieferung - nach längerer Verfolgung wohl gemeinsam mit ihm den Tod findet. 19 An diese Grundfabel lagern sich schon früh Episoden an, die die Liebe der Protagonisten in irgendeiner Weise vorbereiten. Anscheinend noch der ersten 13 So explizit Huber 2000 / 2001, S. 23, vorsichtiger Glauch 2005, S. 40. Tomasek betont zwar die Strukturiertheit, zugleich aber auch die Differenz zum Aufbau des Artusromans. Er zieht stattdessen (wie Mohr 1976) die Parallele zur Helden- und Spielmannsdichtung (2007, S. 270 f.). 14 Huber 2000 / 2001, S. 23. 15 Die Parallelen zum Artusroman sind nach wie vor in den Studien von Witte 1933 und Stolte 1941 am besten zu greifen. Beide richten sich zwar nicht auf einen Vergleich, arbeiten aber ein System von Doppelungen und ‚Motivreimen‘ heraus, das dem Kompositionsprinzip des Artusromans in auffälliger Weise ähnelt. Mohrs Versuch, den Aufbau des Tristanromans ebenfalls als „symbolisch“ zu klassifizieren (1976, S. 78), schließt hier an, blieb aber in der Forschung ohne Nachfolge. 16 Ähnlich Worstbrock 1995, S. 35. Als zweites Kriterium kommt der tendenziell abwertende Blick auf Eilharts Text hinzu: Es ist gewiss kein Zufall, dass es eine ganze Reihe von Arbeiten gibt, die Gottfrieds ‚Tristan‘ vom Verdikt der Strukturlosigkeit zu befreien suchen (neben Worstbrock 1995 sei hier nur auf Lanz-Hubmann 1989, Simon 1990a, Warning 2003 und Lieb 2005 verwiesen; eine Gliederung auf Basis der Kommentarstruktur schlug Bertau 1973, S. 933-936 vor; vgl. dazu zusammenfassend Tomasek 2007, S. 86-94), während die Struktur des ‚Tristrant‘ nur einer einzigen umfassenden Revision unterzogen wurde (Strohschneider 1993; partielle Ansätze bei Bonath 1983 und Müller 1990, zu ergänzen ist der interessante, aber verfehlte Versuch Buschingers 1984). 17 Ich folge hier weitgehend dem von Schoepperle 1913 / 1960 und Ranke 1925 erstellten Bild, an dem sich auch die neueren Überblicksdarstellungen orientieren. 18 Beim ge(i)s handelt es sich weniger um einen Zauber als um ein Tabu, von dem die Ehre des Mannes abhängt. Da es in narrativen Kontexten meist den Untergang des Helden motiviert, kommt ihm freilich stets auch ein Moment des Zauberischen, Numinosen oder Schicksalhaften zu (vgl. Turneysen 1921, S. 80 f., Kühnel 1987, S. 217, 220). Weiteres dazu im nächsten Abschnitt. 19 In der Sage von Diarmaid und Grainne überlebt die Frau meist (vorläufig). Parallele Überlieferungen bezeugen den Tod beider Liebender. Tristanwelt und Artuswelt 221 Stufe zuzuordnen ist Tristans Kampf gegen Morolt und seine Heilfahrt ins Land einer Fee. 20 Diese wird auf der zweiten erschlossenen Stufe 21 mit Isolde identifiziert; Morolt tritt nun als ihr Verwandter, Marke als Tristans Onkel auf, und Tristan rettet, indem er Morolt besiegt, Markes Reich. In dieser Phase der stofflichen Ausweitung kommt auch die Brautwerbung hinzu, die das unheilvolle Dreiecksverhältnis begründet und ambivalent zuspitzt, indem sie die - jetzt durch einen Minnetrank hervorgerufene - ehebrecherische Liebe zwischen Tristan und Isolde als die Liebe des Stärksten zur Schönsten, des Landesretters und designierten Thronerben zu der von ihm erworbenen und an Marke nur ‚verschenkten‘ Braut legitimiert. 22 Nimmt man weiter an, dass auch die Episoden um Tristans und Isoldes gemeinsames Leben an Markes Hof und das ihrer Flucht vorangehende Versteckspiel mit der Hofgesellschaft in diese Phase gehören, dann bietet sich die Fabel mithin bereits hier in vertraut-‚conjointurehaften‘ Umrissen dar: als zweiteiliger Handlungsnexus, in dessen erster Hälfte die Liebesbeziehung des Protagonistenpaars mittels einer Verkettung von Schemata narrativ hergeleitet und begründet wird, und in dessen zweiter Hälfte sich diese Beziehung in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft behaupten muss. Das hier sich abzeichnende Kompositionsprinzip erhält in der folgenden dritten und letzten Aufbauphase - wir stehen jetzt auf der Stufe der durch Eilhart von Oberg bezeugten estoire - gewissermaßen nur noch den letzten Schliff. Die Vorgeschichte von Tristans Liebe wird durch die analoge Liebesgeschichte seiner Eltern erweitert; vor allem aber schiebt sich zwischen Waldleben und Liebestod eine Episodenkette, die mit dem Gesamtumfang der Handlung auch diese selbst verdoppelt und die Protagonisten ihren bereits absolvierten Weg ein zweites Mal beschreiten lässt. Die Liebe zwischen Tristan und Isolde wird in einer (durch das Nachlassen der Trankwirkung bezeichneten) ‚Krise‘ zunächst gelockert, um dann in etwas anderer Konstellation noch einmal begründet und in einer Ereignisfolge, die in ihren vielfältigen episodischen Wiederholungen und thematischen Korrespondenzen durchaus als mehrfacher Kursus bezeichnet werden kann, ein zweites Mal in die Aporie geführt zu werden. 23 Ob die Geschichte tatsächlich in genau diesen Stufen zu ihrer von Eilhart überlieferten Gestalt heranwuchs, ist natürlich fraglich, im Zusammenhang meiner Überlegungen aber auch nicht weiter von Belang. Es mögen mehr, weniger, oder ganz andere gewesen sein; maßgeblich ist allein, dass die dabei entstandene Struktur dem Aufbau des ersten Artusromans in einem Grad gleicht, der durch den bloßen Verweis auf ähnliche Techniken der stofflichen Addition kaum hinreichend erklärt werden kann. Gewiss gehört die variierende Wiederholung von Motiven, Episoden und Handlungssträngen, gehört auch die Kombination von Schemata zu den gängigen Erzählweisen der volkssprachlichen Literatur des 12. Jahrhunderts. Dass aber ein Gebilde, das außer den charakteristischen Strukturen der mehrfach gestuften Doppelung 24 auch den (brautwerbungs-)schematisch bestimmten 20 Vorbereitend ist das insofern, als es Tristan mit einer zauberkundigen Frau in Verbindung bringt und so auf den Liebeszauber hinleitet, dem er erliegen wird. 21 Vgl. Ranke 1925, S. 8-21. 22 Zu dieser Konstellation grundlegend Kuhn 1973 / 1980. 23 Die makrostrukturelle Doppelung arbeitet so auch Strohschneider (1993) heraus, freilich ohne auf die Parallelen zum ‚Erec‘ einzugehen. Diese werden von Lieb (2005) umso dezidierter behauptet - der ‚doppelte Kursus‘, den er in Gottfrieds ‚Tristan‘ erkennt, muss indes schon wegen dessen Fragmentstatus ein ganz anderer sein: dass er den Blick kein einziges Mal auf die Erzähltradition vor Gottfried richtet, überrascht. 24 Dass auch bei Eilhart von einer Art doppeltem (bzw. dreifachem) Kursus gesprochen werden kann, werde ich in Kap. III.3.3.2.1 herausarbeiten. 222 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane ersten und den episodisch(-aventiurehaft) geprägten zweiten Teil aufweist, rein zufällig ein zweites Mal entstanden sein sollte, mutet doch mehr als unwahrscheinlich an; zumal Chrétien ja schon im ‚Erec‘ explizit auf den Tristanstoff rekurriert. 25 Man hat daher einigen Grund zu der Annahme, dass ein älterer, französischer ‚Tristan‘, vielleicht die estoire selbst, Chrétien beim Arrangieren seines conte d’avanture ganz konkret als Vorbild gedient haben muss. Stimmt das, dann wäre Chrétiens conjointure auch in Hinblick auf den bereits erwähnten Antwort-Charakter der neuen Gattung als eine Art Kontrafaktur anzusprechen. Sie entwirft ihre Vision der Harmonisierung von gesellschaftlicher Norm und individuellem Glück in der Form - und damit auf der Folie - jener Geschichte, die wie keine andere von deren unversöhnlichem Gegensatz zeugt. Chrétiens Strukturentwurf kann damit zwar noch immer für die geniale Leistung gelten, den Haug in ihm sieht. 26 Er ist dies jedoch nicht mehr aufgrund eines vermeintlich völlig neuen Verfahrens kompositorischer Sinnstiftung, sondern wegen der Idee, die ‚gewachsene‘ Struktur des Tristanromans analog auf die noch weitgehend unstrukturierte, dem Artusstoff nur lose verbundene Geschichte Erecs zu übertragen. Genial dürfte man dieses Vorgehen nennen, weil der Dichter das Problem der Tristanfabel mit seiner Hilfe aufzunehmen und weiterzudenken vermag, ohne sich deren hergebrachter Aussagetendenz zu verpflichten. Chrétiens conjointure steht damit nun, statt für die ‚Entdeckung‘ der Fiktionalität, für etwas, das man ebenso als das Aufbrechen der Tradition wie deren Fortsetzung mit anderen Mitteln bezeichnen kann. Indem er sein Thema aus der Perspektive des Tristanromans löst, schließt er einerseits an dessen Diskussion an; er eröffnet dieser Diskussion aber andererseits auch erstmals die Möglichkeit, eine optimistische Richtung einzuschlagen. Dass er ihr dadurch einen anderen Charakter verleiht, ist evident, dieser zeichnet sich allerdings weder durch ein Mehr an sinnhafter Formung noch unbedingt, wie man vielleicht meinen könnte, ein Mehr an Literarizität, sondern allein durch einen alternativen Zugriff auf das Thema aus. Chrétiens Leistung, so kann man im Anschluss hieran formulieren, besteht also darin, die literarische Auseinandersetzung um das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft aus den Fesseln des Tristanstoffes befreit und ihr den Weg in die Utopie gewiesen zu haben. Er wendet sich damit zugleich von einem Erzählen ab, das in verschiedenen kultur- und literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen mit einigem Recht als mythisch charakterisiert worden ist. 27 Mythisch ist das Erzählen von Tristan demnach auf seinen jüngeren Stufen nicht (mehr) im Sinne Cassirers, als ein Erzählen, das eine mythische Weltsicht darzustellen, zu vermitteln oder gar in irgendeiner Weise die Wirklichkeit selbst zu gestalten beanspruchte. 28 Es ist vielmehr mythisch nach dem Grundsatz jener spezifisch ästhetischen 25 Und sich, wie ich in Kapitel III.2.3.2 gezeigt habe, in der Darstellung von Erecs Brautwerbung sogar recht deutlich auf die problematische Grundkonstellation der ‚Tristan‘-Handlung bezieht (schematischer Kurzschluss zwischen Brautwerber und Brautwerbungshelfer). 26 Vgl. bes. Haug 1985 / 1992, S. 91-107. 27 Ausgehend von de Rougemont 2007. In diesem Sinne etwa Wolf 1989, S. 1, von Matt 1989, S. 67-78; mit weiteren Belegen: Tomasek 2007, S. 249. 28 Ich distanziere mich hier von einigen Studien, die den ‚Tristan‘ - sie beschränken sich zumeist auf die Version Gottfrieds - aufgrund einiger Aspekte der Raum-, Zeit- und Kausalitätsdarstellung als partiell mythisch qualifizieren: So bes. Hammer 2007 und Müller 2009. Dass ich ihnen gegenüber grundsätzlich Bedenken trage, begründet sich aus meinen Überlegungen zum Verhältnis von Mythos und Dichtung in Kap. I.2. Der direkte Rekurs auf Formen des mythischen Denkens birgt zwangsläufig die Gefahr, Mythos und Dichtung kurzzuschließen und darum mythische und ästhetische Phänomene nicht unterscheiden bzw. letztere gar nicht als solche identifizieren zu können. Dass die genannten Studien dieser Gefahr in der Tat bisweilen erliegen, kann insofern wenig verwundern - was, wie hin- Tristanwelt und Artuswelt 223 Sinnbildung, die Hans Blumenberg als „Arbeit am Mythos“ beschrieben hat; mythisch also als ein immer wieder neu ansetzender Versuch, der beunruhigenden Erfahrung einer plötzlich hereinbrechenden und ebenso unkontrollierbaren wie gesellschaftsfeindlichen Liebe erzählend den Schrecken zu nehmen. 29 Ein solcher Versuch liegt in gewisser Weise natürlich auch in Chrétiens Dichtung vor. Seine Abkehr vom Tristanstoff dispensiert ihn jedoch davon, die Macht der Liebe sozusagen tödlich ernst zu nehmen. Indem er eine Geschichte konstruiert, in der nur eine falsch verstandene bzw. falsch gelebte Liebe die gesellschaftliche Ordnung zu stören vermag, verarbeitet er die von der Liebe ausgehende Beunruhigung weniger, als er sie verdrängt, ja sie in der Behauptung grundsätzlicher Vereinbarkeit mit der sozialen Ordnung letztlich negiert. Wenn ich den Begriff der ‚Arbeit am Mythos‘ im Folgenden verwende, um den ‚gewachsenen‘ Aufbau des Tristanvon der ‚frei gesetzten‘ Struktur des Artusromans abzuheben, so ist die Differenz zwischen dem traditionell-‚mythischen‘ und dem neuartig-‚utopischen‘ Erzählen mithin als keine allzu starke gedacht. Angesichts der engen inhaltlich-strukturellen und konzeptuellen Zusammengehörigkeit der Gattungen erscheint der Gegensatz ihrer Welten eigentlich sogar eher als ein Detail, als ein gradueller Unterschied zwischen zwei Erzählformen, die im Großen und Ganzen eine Linie bilden. Es sollte vor diesem Hintergrund denn auch wenig überraschen, wenn sich in den nächsten Kapiteln herausstellt, dass der chrétien-hartmannsche Artusroman in dem, was man seine narrative Problembewältigungsstrategie nennen könnte, im Grunde nur zu Ende bringt, was im Tristanroman schon abzusehen ist. 30 Denn dieser lässt, wie gleich gezeigt werden soll, bereits in seiner stofflichen Anlage die mythische Geistesbeschäftigung des ‚Unbefragbarmachens‘ 31 in die gedanklichen Zugriffe des Definierens, der Rechtfertigung, der Demonstration und in gewisser Weise auch der Analyse übergehen - in eine Reihe von ‚Modi der Regierung‘ also, die von einer zunehmenden gedanklichen Durchdringung des Themas zeugen und (zumindest gegen Ende hin) deutlich auf das dem ‚Erec‘ zugrundeliegende Denkmuster vorausweisen. Der Tristanroman ist damit trotz seiner primär entängstigenden Tendenz zugefügt sei, ihren Beobachtungen nicht unbedingt Eintrag tut. Für deren korrekte Einordnung wäre es gleichwohl essentiell, die als mythisch bezeichneten Erscheinungen konsequent als ästhetisch zu begreifen und erst davon ausgehend in ihrer Wirkung zu beschreiben (dazu exemplarisch mein Vorgehen in Kap. III.3.4.2.2). 29 Blumenberg 1979 / 1986, bes. S. 9-162. 30 Ich lasse in dieser Formulierung anklingen, was Blumenberg „Den Mythos zu Ende bringen“ (ebd., S. 291) nennt, ohne damit implizieren zu wollen, dass es genau dies sei, was im ‚Erec‘ geschieht. Das geht im Sinne Blumenbergs schon deshalb nicht, weil er den problematischen Kern eines Mythos immer an einen bestimmten Stoff bzw. an bestimmte Figuren gebunden sieht. Den Faust-Mythos (als Auseinandersetzung mit dem menschlichen Erkenntnisstreben) kann also nur eine Faust-Bearbeitung zu Ende bringen. Gleichwohl wäre zu bedenken ob der ‚Erec‘ nicht in Bezug auf den ‚Tristan‘ jener „letzte[] Mythos“ könnte sein wollen, „der die Form ausschöpft und erschöpft“, der „die äußerste Verformung […] wag[t], die die genuine Figur gerade noch oder fast nicht mehr erkennen läßt“ (ebd., S. 295). 31 Blumenberg spricht nicht explizit von einer Geistesbeschäftigung, lehnt sich aber in seiner Bezeichnung der Grundfunktion des Mythos (zuerst ebd., S. 142 f.) so nah an Jolles an, dass man beides ohne Weiteres zusammenführen darf. Überhaupt gleicht seine Definition: „Der Mythos braucht keine Fragen zu beantworten; er erfindet, bevor die Frage akut wird und damit sie nicht akut wird“ (ebd., S. 219) der von Jolles unverkennbar: Die Mythe gibt eine Antwort, die so ist, „daß keine keine weitere Frage gestellt werden kann, so, daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frage erlischt“ (1930 / 1999, S. 97). 224 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane auch in den frühen Phasen der Stoffgeschichte nur als ein „Bezogene[r] Mythus“ 32 zu begreifen und hat insofern als eine Art des Erzählens zu gelten, die grundsätzlich die Freiheit besitzt, im Zuge der Auseinandersetzung unterschiedliche Perspektiven auf ihr Problem einzunehmen sowie verschiedene Ansätze zu seiner Bewältigung zu entwickeln. Die Grenze, an die er dabei früher oder später stoßen muss, ist freilich bei Eilhart mit Händen zu greifen. Dessen Text präsentiert sich in einer Gestalt, die der conjointure des Artusromans nicht nur äußerlich ähnelt, sondern die den Konflikt zwischen dem (liebenden) Einzelnen und der Gesellschaft auch mit einem in vergleichbarer Weise diskursiv voranschreitenden Erzählverfahren zu lösen sucht. Mit diesem Verfahren kann er indes so lange nicht viel erreichen, wie er den Beschränkungen seiner Geschichte unterworfen ist: Er kann die Vorstellung vom bedrohlichen, mit den Regeln der Gesellschaft nicht zu vereinbarenden Wesen der Liebe nicht abschütteln, kann deshalb auch den Zugang zur positiven Liebeskonzeption des Artusromans nicht finden, da sich dies nun einmal nicht mit der narrativen Identität seiner Protagonisten verträgt. Die Unterscheidung zwischen mythischem und utopischem Erzählen führt also letztlich ebenfalls wieder auf die Gegebenheiten des Stoffes zurück. Meine nachstehenden Überlegungen setzen hier an. Ihr Ziel besteht vornehmlich darin, das Aufbauprinzip von Eilharts ‚Tristrant‘ aus der geistigen Anlage seiner stofflichen Anordnung heraus als ein dem chrétien-hartmannschen Artusroman ähnliches herauszuarbeiten und auf diese Weise die Zusammengehörigkeit der Texte in ein und demselben sinnbildenden Verfahren erkennbar zu machen. Meine Analyse des ‚Erec‘ dient dafür als Folie, wobei es der ‚gewachsene‘ Charakter des Tristanstoffes allerdings notwendig macht, das Herangehen im Detail anders zu regeln. Wenngleich dieser Stoff nämlich im ‚Tristrant‘ am Ende weitgehend dieselbe Form annimmt, so bringt es der bloße Umstand seines ‚Gewachsenseins‘ doch mit sich, dass er hinsichtlich seiner konzeptuellen Fügung dort weniger einheitlich ist als der in einem einzigen Zug verfasste ‚Erec‘. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass man sich Eilharts Text schließlich doch nach dem von Haug verwendeten Modell als Ergebnis eines Wucherungsprozesses vorstellen müsste, in dessen Verlauf jeder Bearbeiter das vorgefundene Konzept mehr oder weniger willkürlich - nur jetzt in stärkerem Maße geordnet - um neue Ideen ergänzt hätte. Die von mir angesprochene Uneinheitlichkeit weist im Gegenteil eher auf die mehrfache Neuorientierung eines Erzählens hin, das, gerade weil es seine Geschichte im Akt des Wiedererzählens immer wieder neu konzipieren kann, die Spuren dessen, was es überschreibt, dauerhaft in sich trägt. In Hinblick auf den von mir fokussierten Typus ‚künstlicher‘ Sinnbildung stellt dieser Ansatz insofern gleich eine doppelte Erweiterung dar, als er dem Phänomen eines gedanklich-thematisch ‚regierten‘ und ‚überfremdeten‘ Erzählens zum einen eine historische Perspektive hinzufügt und zum anderen zeigt, dass ein Text sich durchaus auch in einem aus verschiedenen Mustern zusammengesetzten ‚Denkprozess‘ zum Ganzen schließen kann. Der Tristanroman - der hier exemplarisch in Gestalt von Eilharts Text fokussiert wird -, steht in diesem Sinne für ein Erzählen, in dem ein mythischer Impuls des ‚Unbefragbarmachens‘ so aus-, um- und weitergedacht ist, dass er von verschiedenen gedanklichen Zugriffen (‚Modi der Regierung‘) wie umhüllt erscheint und von ihnen in eine immer stärker rationale Reflexion überführt wird. Im Endprodukt bleiben die Zugriffe zwar erkenn- und voneinander abhebbar, seine Ganzheit ist aber in genau dem Maße gegeben, wie sie konsequent aufeinander aufbauen. Der Text gestaltet sich gleichsam als ein in Schichten he- 32 Vgl. Jolles 1930 / 1999 bes. S. 108-112, hier S. 109. Tristanwelt und Artuswelt 225 rangewachsenes gedankliches Ganzes - als ein Ganzes, das dann später in seiner Gestalt wiederaufgenommen und reproduziert, oder, wie hinzuzufügen ist, auch demontiert und wiederum einem anderen gedanklichen Prinzip unterworfen werden kann: Das sind die Wege, die im Anschluss an die durch Eilhart repräsentierte estoire , Chrétien und, auf der anderen Seite, Thomas von England sowie Gottfried von Straßburg gehen. Um den so umrissenen Vorgang nachzuvollziehen, ist es sinnvoll, die Untersuchung nicht wie bei Hartmanns ‚Erec‘ bei den großen Linien der epischen Komposition, sondern beim Kern der Tristanfabel beginnen zu lassen: beim Aufbau der Geschichte, aus der die späteren Epen entstehen. Von diesem Gedanken ausgehend wende ich mich im nächsten Abschnitt ( III .3.2) zunächst dem zu, was man mit Blumenberg den „Grundmythos“ des Tristanstoffes nennen könnte 33 - oder in meiner Terminologie: die dem Stoff zugrundeliegende thematische Konstellation in (unterschiedlichen Stadien) ihrer gedanklichen Entfaltung. Wenn ich in diesem Zusammenhang die Vorstellung einer Entwicklung entwerfe, die die uns bekannte Gestalt des Romans aus der mehrfach interpretierenden Überformung einer tatsächlich mythischen Erzählung heraus entstehen lässt, so ist das (ich sage es erneut) nicht als Versuch einer stoffgeschichtlichen Rekonstruktion zu verstehen. Historisierend ist meine Perspektive also nur konzeptuell: in Hinblick auf die Idee, dass der gedankliche Zugriff einer Erzählung auf Vorgängertexten aufbauen und deren Gedankengang weiterführen kann, nicht jedoch im Sinne des Nachvollzugs einer konkreten stofflichen Entwicklung. Auch dies wäre prinzipiell möglich, verbietet sich aber im Fall des Tristanromans schlicht deshalb, weil sowohl sein mythischer Kern als auch die gedanklichen Schichten, die sich um ihn herum anlagern, rein hypothetischen Charakter haben. 34 Aus diesem Grund beschränke ich mich darauf, herauszuarbeiten, wie sich bereits in jener stofflichen Kontur, die Eilhart mit größter Wahrscheinlichkeit vorausgeht, verschiedene sinnbildende Impulse und (Denk-) Muster überlagern. Ich möchte zeigen, wie diese Impulse und Muster am Problem der Tristanliebe ‚arbeiten‘ und vor allem, wie sie über Brüche und Verwerfungen hinweg am Ende zu einem Ganzen finden, das der kompositorischen Lösung des Artusromans bereits sehr nahekommt. Die in Kap. III .3.3 anschließende Untersuchung von Eilharts Text selbst baut darauf auf und ergänzt die Details, die einen genauen Vergleich mit Hartmanns ‚Erec‘ ermöglichen. Auch hier trägt die Analyse dem ‚Gewachsensein‘ des Stoffes Rechnung, indem sie bei der Realisation der stoffgeschichtlich überkommenen Handlungsschemata beginnt und zunächst erörtert, wie Eilhart deren sinnbildende Wirkung aufnimmt und in spezifisch literarisierender Weise weiterentwickelt ( II .3.3.1). Erst danach richtet sie den Blick auf die Wiederholungsstrukturen des ‚Tristrant‘ und ihren Parallelen zum ‚Erec‘, wobei sie den gedanklichen Gehalt des Erzählens genauso erfragt wie die narrativen Verfahren (‚Modi der Ausrichtung‘), mit deren Hilfe dieser Gehalt den Rezipienten vermittelt wird ( III .3.3.2 und III .3.3.3). Am Ende soll ein kurzer Vergleich der sinnbildenden ‚Künstlichkeit‘ bei Eilhart und Hartmann in die Tendenzen des grundlegenden Wandels über- 33 Anders als der „Urmythos“ ist der „Grundmythos“ nicht historisch erste und ursprünglichste Version, sondern gedankliche Grundform eines Mythos: Er enthält den Kern dessen, was den Mythos ausmacht; sozusagen sein Problem in nuce (Blumenberg 1979 / 1986, hier S. 192). Darin bewegt er sich in der Nähe von Müllers „Erzählkern“, von dem er sich freilich durch die stoffliche Konfiguration unterscheidet: der Erzählkern ist rein thematisch bestimmt, als „thematische[] Konstellation[] […] mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können“ (Müller 2007, S. 22). 34 Ich vermeide dadurch die Problematik, der sich der Ansatz Hammers aussetzt. Vgl. dazu seine eigene Diskussion: 2007, S. 55-72. 226 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane leiten, den das Erzählen von der gesellschaftsfeindlichen Kraft der Liebe bei Gottfried von Straßburg erfährt. 3.2 Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ 3.2.1 Der Minnetrank. Umrisse einer (nicht-mehr-)mythischen Handlungskonstellation Dass jene irischen Erzählungen, die dem Urteil der Sagengeschichte zufolge die älteste Gestalt des Tristanstoffes widerspiegeln, zugleich den am stärksten mythischen Charakter aufweisen, könnte für die Konstanz ihrer Überlieferung sprechen - oder auch nur den Blickwinkel einer Forschung belegen, die den Eindruck des ‚Archaisch‘-Mythischen gern mit Alter gleichsetzt. 35 Doch wie dem auch sein möge: wenn es die Mythe von Tristan und Isolde je gegeben hat, dann könnte sie etwa gelautet haben wie folgt: 36 Eines Tages kam es dazu, dass Isolde, die Gattin des Königs Marke von Cornwall, Tristan beim Baden sah. Als dieser aus dem Wasser stieg, wurde sie eines Liebesmals gewahr, das er am Leib trug und verliebte sich in ihn. Sie lief zu ihm und drängte ihn, mit ihr zu fliehen. Als er sich weigerte - denn Marke war sein Verwandter -, belegte sie ihn mit einem Bann. Da gingen sie in die Wälder, wo sie von nun an gemeinsam lebten. Tristan weigerte sich jedoch noch immer, dem Liebeswunsch Isoldes nachzugeben und trennte sie, wann immer sie sich zur Ruhe begaben, durch sein blankes Schwert von sich. Erst später gelang es ihr, ihn durch ein Schmähwort doch noch dazu zu bringen, sie zu seiner Frau zu machen. Am Ende wurden sie von Marke, der lange nach ihnen gesucht hatte, entdeckt und fanden durch ihn den Tod. Als mythisch kann man diese Erzählung aus zwei Gründen bezeichnen. Zunächst einmal allgemeiner deshalb, weil sie - darin allen Versionen der Tristangeschichte ähnlich - das Phänomen der Liebe in besonderer Weise erklärt. Wie diese, so reagiert auch sie auf eine Erfahrung, die die Liebe als ein in seiner rationalen Unverständlichkeit zutiefst beunruhigendes Geschehen begreift, und beantwortet die Fragen: ‚was ist es, das die Figuren erfasst? ‘ und ‚warum betrifft es gerade sie? ‘, noch bevor sie überhaupt gestellt werden können. 37 Die Auskunft, die sie auf diese (latenten) Fragen gibt, ist indes noch in einem zweiten, spezielleren Sinn mythisch, denn sie trägt - weit mehr als alle anderen Versionen 35 Bezeichnenderweise sind gerade jene beiden Elemente, die der Geschichte von Diarmaid und Grainne ein (magisch-)mythisches Ansehen verleihen - nämlich Liebesmal und Liebeszauber -, in den fragmentarischen Überlieferungen des 9. Jahrhunderts nicht greifbar. Umso stärker ist die Überzeugung der älteren Forschung, dass es sich hierbei um alte Züge handeln müsse. Schoepperle ‚belegt‘ sie mit zwei Argumenten. Erstens: „Diarmaid’s charm for women is always alluded to in Old Irish romance“ (mit einem Beleg aus dem 15. Jahrhundert! ). Zweitens: „The belief in love-charms is universal among primitive peoples“ - was sie mit Beispielen aus der klassischen lateinischen [! ] Literatur und anderen irischen Erzählungen (von denen freilich keine einen zweiseitigen Zauber kennt! ) untermalt (1913 / 1960, S. 397-409, zit. S. 401 und 403). Kritik an Schoepperles Methode äußert auch McCann 1990, S. 22 f. 36 Ich folge den wichtigsten Zügen der Geschichte von Diarmaid und Grainne. Vgl. dazu Müller-Lisowski 1923, S. 38-53, Kühnel 1987, S. 226-231, Ranke 1925, S. 4 f. Um nicht den Eindruck zu erwecken, eine historische Quelle zu paraphrasieren, verzichte ich bewusst darauf, die keltischen Namen einzusetzen. 37 Ich folge in dieser Formulierung eher Jolles als Blumenberg. Vgl. dazu vorn, Anm. 30. Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ 227 der Tristangeschichte - Spuren einer mythischen Weltsicht. Sie besagt: ‚Die Liebe ist ein Zauber, der von einem Menschen ausgeht und durch einen anderen auf ihn zurückgeworfen wird; ein Zauber, den die verwandtschaftliche Treuepflicht eindämmen, aber nicht brechen kann, und der denjenigen, der in seinen Bann gerät, unweigerlich ins Verderben stürzt.‘ Mythisch im Sinne der zweiten Bestimmung ist diese Auskunft vorderhand natürlich in der Charakterisierung der Liebe als Zauber, darin also, dass sie diese als eine Macht darstellt, die nicht aus dem (Verstand des) Menschen selbst kommt, sondern von außen auf ihn einwirkt. 38 Sie ist es aber nicht nur deshalb. Mindestens ebenso wichtig ist der Umstand, dass sie den Liebes-Zauber so begründet, wie es für das mythische Denken typisch ist: durch die Projektion des Affekts nach außen, auf das geliebte Gegenüber. Dahinter steht ein Mechanismus, der mit Cassirer ohne weiteres als die Objektivierung des subjektiv Ergreifenden durch das ergriffene Subjekt beschrieben werden kann. Die affektive Erregung, die durch die Wahrnehmung des bzw. der Geliebten bewirkt wird, erzeugt eine Spannung zwischen dem liebenden Ich und der Außenwelt, die sich im Übersprung auf den Gegenstand des Begehrens löst. 39 Weil das geliebte Gegenüber als Ursache der Liebe empfunden wird, glaubt der Empfindende, dieses müsse etwas ganz Konkretes, substantiell Greifbares an sich haben (Liebesmal) oder von sich geben (Bann), das die Liebe herbeiführt. 40 Dass die Erzählung hier gewissermaßen die Perspektive des Liebenden einnimmt, ist offensichtlich. Genau darin unterscheidet sie sich von jener Version, die Liebesmal und Bannspruch durch den Minnetrank ersetzt, und genau dadurch ist sie auch in höherem Grade mythisch. Denn wiewohl es sich selbstverständlich auch beim Minnetrank um ein (wenngleich medizinisch ausdeutbares) Zaubermittel 41 handelt, spiegelt sich in ihm doch nicht die Erfahrung des betroffenen Subjekts. Zwei Menschen nehmen ihn ein und ändern abrupt ihr Verhalten, sie werden unzugänglich, krank und wollen nur noch einander sehen: So wird die Liebe von denen beobachtet, die selbst nicht lieben, den Zauber der Affektion nicht konkret festmachen können (und ihn daher unbestimmt in den Raum projizieren). 42 Das kann zwar gleichfalls eine beunruhigende Erfahrung sein, ist aber als solche weniger intensiv oder doch zumindest weniger bedrohlich. Denn trotz ihrer gesellschaftsfeindlichen Kraft, die das Thema aller Tristandichtungen ist, wird die Liebe ja zunächst einmal nur den Liebenden selbst zum Verhängnis. So ist auch zu verstehen, warum in der von mir skizzierten mythischen Version (Liebesmal / Bann) der Impuls des Schreckens und, damit 38 Dass Magie hier Chiffre für den Versuch ist, rational nicht Fassbares wenigstens einzukreisen, betont auch Müller: „Wo im höfischen Roman von unentrinnbarer minne die Rede ist, ist Magie im Spiel, als Liebestrank, als Zauber, als Eingreifen übermenschlicher Mächte. Diese Magie sollte weder als bloße Metapher für grundsätzlich rein natürliche Vorgänge weginterpretiert werden, noch ist sie Zeugnis für den Aberglauben einer vormodernen Kultur. Sie ist im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit vielmehr ein Versuch, rational nicht Faßbares methodisch-konzeptionell zu bewältigen. Sie setzt damit an einem Punkt an, an dem die höfische Kultur einen blinden Fleck hat, an dem die ethischen und sozialen Ordnungen nicht mehr greifen. In ihnen kann die radikale Passion nicht positiv gedacht werden, doch verliert sie damit nicht ihren Anspruch auf Verwirklichung und kann nicht erfolgreich ausgegrenzt werden. Im magischen Zwang ist beides gesetzt: die Unversöhnlichkeit der Passion mit geltenden Normen und ihre Behauptung ihnen gegenüber“ (2007, S. 420). 39 Cassirer 1925 / 2003, S. 257 f. Vgl. Kap. I.2.1.3.2. 40 Dazu etwa Cassirer 1925 / 2002, S. 66-73. 41 Mertens 1995, S. 52-56. 42 Sofern die Liebe in diesem Zusammenhang zur höheren Macht wird, bleibt der Gestus natürlich ebenfalls ein mythischer, bzw., wenn diese höhere Macht nicht die reale Welt, sondern die der Erzählung regiert, ein, auf den Mythos bezogener, ästhetischer. 228 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane verbunden, der Abwehr dominiert, während die Minnetrank-Variante deutlich ambivalentere Züge trägt. Zwar müssen die Liebenden überall die Gesellschaft verlassen, werden sie überall verfolgt und getötet. 43 Doch wird ihre Liebe da, wo sie vom Minnetrank ausgelöst wird, nicht einfach nur ausgegrenzt und unschädlich gemacht, sondern zuvor mit enormem narrativem Aufwand gerechtfertigt. Die ganze noch hinzukommende Vorgeschichte 44 dient bekanntlich in erster Linie dazu, die durch den Trank begründete Liebe als in höherem Sinne notwendig, vor allem aber zumindest in gewissem Maße als legitim darzustellen. 45 Der Gestus der Rechtfertigung jedoch ist, anders als der der Erklärung und der Abwehr, nicht der des Mythos. Der neue gedankliche Zugriff zeugt auch noch in anderer Hinsicht von der schwindenden Mythizität der Tristangeschichte, insofern nämlich, als er belegt, dass die Erzählung vom Minnetrank für sich genommen nicht mehr unbefragbar ist. 46 Die Mythe von Tristan und Isolde beantwortet die Frage nach dem Grund der Liebe zirkulär - und damit ‚bündig‘: 47 Tristan liebt Isolde (oder ist ihr zumindest hörig), weil er von ihr gebannt ist, und Isolde liebt Tristan, weil sie unter dem Zwang seines Liebesmals steht. Dass sich keine Auskunft darüber findet, wie Tristan an dieses Mal gekommen ist, hängt wiederum mit der spezifisch einseitigen Perspektive der Mythe zusammen. Die Erzählung erklärt die Wirkung der Geliebten auf den Liebenden; die Liebe der Geliebten muss zwar erklärt werden, sofern sie Voraussetzung für ihr magisches Handeln ist, danach aber erlischt das Interesse: Der Liebende setzt sich nur mit dem auseinander, was ihn selbst erschreckt und bedroht. 48 Blickt man von hier aus auf die Geschichte vom Minnetrank, so fällt der Unterschied unmittelbar ins Auge. Denn anders als zuvor wird die Beunruhigung der Liebeserfahrung hier nicht geistig aufgefangen und gebunden, sondern noch zusätzlich erregt, wird die Frage nach dem Grund der Liebe - und damit die gedankliche Auseinandersetzung mit ihr - nicht verhindert, sondern geradezu provoziert. ‚Tristan und Isolde‘, so die Auskunft, ‚lieben sich, weil sie den Trank genommen haben.‘ - ‚Aber warum‘, so die unweigerlich folgende Nachfrage, ‚haben sie ihn überhaupt genommen? ‘ Die Antwort ‚ein dummer Zufall‘ kann vielleicht die Frage, nicht aber die aus ihr sprechende Beunruhigung still stellen. Dafür bedarf es weiterer Auskunft, und diese Auskunft gibt die Vorgeschichte. Sie tut dies freilich nicht in einem Zug, sondern gleichsam in Einzelschritten, wobei sie in stetem Regress immer weiter hinter 43 Ihre Tötung bannt die Gefahr, die die Liebe für die Gesellschaft darstellt: dieser Gedanke steht in vielfältiger, wenngleich diffuser Beziehung zum Mythos. Insbesondere mag man Parallelen zu mythischen Reinigungs- und Sühneritualen sehen (vgl. Cassirer 1925 / 2002, S. 69 f.). 44 Das ‚Hinzukommen‘ ist wiederum nicht stoffgeschichtlich, sondern gedanklich-systematisch gemeint. Die Formulierung steht vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass die Vorgeschichte (egal in welcher Ausformung) zum festen Bestand der Minnetrank-Fabel gehört (Tristan), während die Geschichte von Liebesmal und -bann (Diarmaid und Grainne) ihrer offenbar nicht bedarf. 45 Vgl. schon Ranke 1925, S. 15-18. Zentral dazu Kuhn 1973 / 1980. 46 Blumenberg bezeichnet das Unbefragbar-Machen explizit als ein Verfahren der „Fernrückung“ (1979 / 1986, S. 142), das mithin, wenn es fehlt, den Verlust des mythischen Gestus signalisiert. 47 Die Zirkularität ist kein notwendiges Merkmal des Bündigen, aber eine Option: wenn sie bewirkt, dass die der mythischen Erzählung zugrundeliegende „Frage erlischt“ ( Jolles 1930 / 1999, S. 96 f.). 48 Vielleicht hängt damit auch zusammen, dass alle Geschichten, die Schoepperle als Parallelen anführt, nur den einseitigen Liebeszauber kennen (1913 / 1960, S. 401-410). Man könnte die (Rück-)Übertragung des Zaubers auf die Partnerin insofern schon für spätere Zutat halten. In eine ähnliche Richtung könnte auch deuten, dass die irischen Referenzerzählungen zwar alle vom Tod des Mannes, nicht aber vom Tod der Frau berichten: Offenbar kommt es hier vor allem auf sein Schicksal an, das der Frau ist für verschiedene Optionen verfügbar. Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ 229 das zu begründende Ereignis zurückgeht. Der erste Schritt - ich blende mögliche Vorstufen aus und folge dem Verlauf der estoire - wird durch die Brautwerbungsgeschichte markiert, die besagt: ‚Tristan und Isolde nehmen den Minnetrank, weil sie durch Tristans Erfolg als Brautwerber das eigentlich zusammengehörige Paar sind.‘ 49 - ‚Und warum wirbt Tristan nicht bloß, wie in Brautwerbungsgeschichten üblich, stellvertretend für Marke? ‘ 50 ‚Weil‘, so die Antwort der in einem zweiten Schritt vorgeschalteten Morolt-Episode, ‚Marke nicht in dem Maße starker König ist, wie er es im Brautwerbungsschema eigentlich sein müsste. Nicht Marke, sondern Tristan ist demzufolge der Stärkste, dem die Schönste gebührt. Er hat im Kampf gegen Morolt Markes Reich gerettet; hat dem Feind danach sogar noch die eigene Rettung abgetrotzt, hat sich, da in Cornwall niemand die im Kampf erlittene Verletzung zu behandeln wusste (ein weiteres Zeichen von Markes Schwäche), ins Land des Feindes begeben und listig Heilung erlangt. Deshalb ist er nun nicht nur legitimer Thronfolger, sondern Idoneus: der zur Herrschaft Geeignetste und als solcher derjenige, der zuerst an Heirat und Nachfolge denken sollte.‘ 51 Dass die Reihe der Nachfragen hier noch nicht endet, belegt die Insuffizienz der Antworten, die bis zu diesem Punkt eigentlich am Kern des Problems vorbeigehen. Denn es wird zwar begründet, warum die im Minnetrank entstehende Paarbeziehung im Grunde legitim ist, ja warum sie, wenn es so zuginge, wie es zugehen müsste, die einzig mögliche wäre, 52 nicht aber, warum sie als L ie b e s beziehung entsteht. Indem so mit quasi staatsrechtlichen Argumenten hergeleitet wird, 53 was dann trotzdem ohne nachvollziehbaren Grund geschieht, wird das Skandalon der Liebe zwischen Tristan und Isolde nicht nur nicht auf-; es wird vielmehr im Gegenteil noch hervorgehoben. 54 Denn ‚was‘, so kommt man an dieser Stelle nicht umhin zu fragen, ‚hat die Legitimität der Beziehung mit jener Liebe zu tun, um die es hier geht - nicht also mit der Liebe des Brautwerbungsschemas, die im Prinzip bloß die Zusammengehörigkeit des Stärksten und der Schönsten signalisiert, sondern mit der plötzlich hereinbrechenden, sich um Recht und soziale Ordnung nicht kümmernden Liebe der Mythe? ‘ Die Antwort, die im dritten Schritt der Regression vermittels des Berichts von Tristans Jugend gegeben wird, ist im vorliegenden Zusammenhang auch deshalb interessant, weil sie sich eines narrativen Vehikels bedient, das nicht von ungefähr zu den (mythischen) Archetypen zählt: Das Schema von der Jugend des Helden begründet, warum ein Held zu dem werden muss, was ihn ausmacht. 55 Es tut dies, indem es seine jeweils kennzeichnenden Eigenschaften in eine Herkunftserzählung projiziert und so den Eindruck erweckt, er werde nur, was bereits in ihm oder in seiner Geschichte angelegt sei. ‚Tristan‘, so wäre also in der kreisschlüssigen Logik des Schemas zu formulieren, ‚ist durch die tragische Liebesgeschichte seiner Eltern, ist durch die ungewöhnlichen Umstände 49 Kuhn 1973 / 1980, vgl. Simon 1990, bes. S. 371 f. 50 Zur Rolle des Brautwerbungshelfers Schmid-Cadalbert 1985, S. 85. 51 In diesem Argument mischt sich die Regel der Brautwerbung (der Stärkste und die Schönste gehören zusammen) mit der des Heilsbringermärchens (der Retter des Reichs heiratet die Königstochter und erbt den Thron). Näheres zum Zusammenwirken der Schemata in Kap. III.3.3.1. 52 Also in der Logik des Märchens: Jolles 1930 / 1999, S. 239. Ich komme auch darauf gleich noch zurück. 53 Den politisch-staatlichen Aspekt des Tristanromans stellt Kuhn ins Zentrum seiner Überlegungen (1973 / 1980, bes. S. 21 f.). 54 Die Aufmerksamkeit wird also im Modus (oder mit Cassirer: der Modalität) des Ästhetischen auf das Problem hinanstatt (wie im Mythos) von ihm weggelenkt. 55 Zum Schema grundlegend Pörksen / Pörksen 1980, hier bes. S. 274-286. Es entspricht dem jungschen Archetyp des Kindes. 230 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane seiner Geburt, durch seine Erziehung, durch schon früh sich zeigende Charaktereigenschaften 56 gewissermaßen zur Liebe prädestiniert: zu einer Liebe, die im rechten Moment nur noch aus der Latenz hervortreten muss.‘ An diesem Punkt trifft meine Darstellung mit einer Überlieferung zusammen, die dazu anhält, den rückläufigen Prozess von Frage und Antwort auch stoffgeschichtlich festzumachen. Indem Gottfried von Straßburg die Geschichte der Eltern stärker auf Tristan hinordnet und zudem dessen (sensitiv-)geistige Eigenschaften stärker herausarbeitet, beantwortet er, so könnte man behaupten, die Frage nach dem Grund der Tristanliebe überzeugender als Eilhart, bei dem diese Züge (noch) fehlen. Ob sein Text allein deshalb schon als die in Bezug auf die literarische Bewältigung des ihr zugrundeliegenden Problems effektivere Variante anzusprechen ist, sei gleichwohl dahingestellt. Wichtiger ist etwas anderes. Unabhängig davon, wie und in welchem Umfang die Erzählung von Tristans Jugend das Wesen des Liebenden vorwegnehmend begründet, gilt nämlich, dass sie die Frage nach dem Warum seiner Liebe vor dem unendlichen Regress bewahrt. Sie suggeriert, dass Tristan in irgendeiner Weise zur Liebe geboren ist. Das genügt, um seine Geschichte (quasi-)mythisch einzufangen, das heißt, sie nach der Art der Mythe ‚bündig‘ zu schließen. Man könnte demnach wohl sagen, dass der Tristanroman den Geist des Mythos (bzw. genauer: der Mythe) bewahrt, insofern zumindest, als er die mit der Einführung des Minnetranks verloren gegangene Unbefragbarkeit der Fabel letztlich 57 wiederherstellt. Man sollte dies indessen nicht tun, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass die Unbefragbarkeit hier eben deshalb, weil sie nicht einfach da ist, sondern erst aufwändig hergestellt werden muss, eine andere Qualität gewinnt. 58 Dass diese Qualität eine spezifisch ästhetische ist, ergibt sich nicht erst aus der sichtlich komplexen Konstruiertheit des Erzählens. Schon die Existenz der Vorgeschichte spricht als solche deutlich genug von einem ästhetischen Zugriff auf die Wirklichkeit. Während die Mythe einfach benennt, was ist, - bzw. das, was ist, so benennt, dass dem nichts weiter hinzuzufügen ist - verlegt sich der Roman darauf, das Erzählte umständlich herzuleiten (und dabei schon allein dadurch, dass er es so ausführlich bespricht, die Aufmerksamkeit auf es zu lenken). Je mehr er es aber herleitet und begründet, desto mehr rückt das Geschehen aus dem Gebiet des real Wirkenden in das der (Dicht-) Kunst. Der Trank, so seine Botschaft, hat nicht mehr die Kraft, allein durch die Evidenz seines Wirkens zu überzeugen, im Wirken als offenkundig wahr aufzutreten, sondern er ist darauf angewiesen, im Vorfeld dieses Wirkens narrativ wahrscheinlich gemacht zu werden. Der Übergang in den Bereich der Dichtung wird in diesem Zusammenhang nicht zuletzt daran deutlich, dass man die Geschichte von Liebesmal und Bann ohne weiteres ins Reich des Aberglaubens verweisen kann, die Erzählung vom Liebestrank hingegen nicht: 56 Zu den Stationen des Schemas ebd., S. 260-269. 57 ‚Letztlich‘ ist natürlich nur unter der (hier eingenommenen) Perspektive des Regresses zu formulieren; auf die Sukzession der Handlung bezogen wäre entsprechend ‚anfänglich‘ zu sagen. 58 Diese Überlegung rückt die narrativen Schemata von vornherein vom Mythos ab. Die Idee, dass ein Schema schon allein wegen seines impliziten Wirkens mythisch sein könnte, ist ihr fremd; ebenso wie eine Unterscheidung in (mythische) Tiefenstruktur und (rationale) Erzähloberfläche. In diesem Sinne verstehe ich den schematischen Zusammenhang der Tristanfabel nicht als Substrat, sondern eher als (unterschiedlich ausgestaltetes, aber grundsätzlich immer sichtbares) ‚Gerüst‘ des Erzählens (wenn es diese Metapher denn besser trifft). Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ 231 Die narrative Herleitung verleiht ihr eine Form der Geltung, die vom Glauben an die reale Existenz von Minnetränken unabhängig ist. 59 Alles in allem stellt sich somit heraus, dass der erste Teil des Tristanromans zwar nicht mehr als Mythe anzusprechen ist, sich aber in der Art seines Erzählens gleich doppelt auf den Mythos bezieht. Er tut dies erstens, indem er den mythischen Gestus der erklärenden Wirklichkeitsbewältigung im Minnetrank zitiert, diesen Gestus jedoch ins Leere laufen lässt. Wenn er ihn anschließend durch ein narratives Vorspiel ersetzt, das das Geschehen - anstatt es zu erklären - legitimiert und plausibilisiert, formt er sich zweitens zu einer Geschichte, die nun auch insgesamt zum Mythos in Beziehung steht. Denn wie dieser, so reagiert auch sie auf ein als beunruhigend erfahrenes Phänomen der Wirklichkeit und setzt sich mit ihm auseinander. Inwiefern der Roman aus diesem Bezug heraus eine andere Sicht auf die erotische Liebe entwickelt, ist aus den voranstehenden Überlegungen leicht zu ersehen. Der Unterschied ist in einem Satz so zu fassen: Die Mythe erzählt das beunruhigende Phänomen weg, der Roman erzählt es herbei. Anders als die Mythe bezeichnet der Roman die Liebe nicht als eine unhinterfragbare Gegebenheit, um sie dann (in Gestalt der Liebenden) unverzüglich aus der Welt zu schaffen. Stattdessen hinterfragt er sie zunächst einmal, verharrt auf dem Vorgang ihrer Entstehung, legt ihre Umstände und Bedingungen auseinander, weckt (dadurch) Sympathie für die von ihr Betroffenen. 60 Und auch nachdem die Liebe hereingebrochen ist, lässt er sich, bevor er sie aussondert, viel Zeit; Zeit, die er damit verbringt, ihre zerstörerischen Folgen breit auszumalen. Im Effekt erreicht er damit etwas ganz anderes, wenn nicht das Gegenteil von dem, was die Mythe will: Die Liebe wird - im Prinzip - nicht ferner, sondern näher gerückt. Im Prinzip, das heißt: Indem der Roman seinen Rezipienten die Geschichte der Tristanliebe dergestalt vor Augen führt, rückt er sie zwar von ihnen ab; der Abstand, den er herstellt, ist aber nicht der der (aufmerksamkeitsreduzierenden) Verdrängung, sondern der der (aufmerksamkeitssteigernden) Reflexion - ein Abstand also, der eine Auseinandersetzung ermöglicht, die nicht von Furcht und Abwehr, sondern von Interesse (und Mitleid? ) geprägt ist. Auf diese Weise regt er die Rezipienten dazu an, sich gedanklich auf die Liebe einzulassen, sie in ihrem ambivalenten Wesen zu erkennen und in ihrer Problematik zu verstehen. Dass er im Zuge dessen letztlich mehr (und andere) Fragen aufwirft, als er zum Schweigen bringt, ist unschwer zu sehen und deutet unmissverständlich darauf hin, dass es ihm, zumindest bis zu diesem Punkt, weniger um die Bewältigung als um die Darstellung und Reflexion seines Problems geht. Er verhindert, dass die mythische Abwehr der gesellschaftsfeindlichen Liebe an ihr Ziel kommt und bereitet zugleich eine Form der gedanklichen Auseinandersetzung im engeren Sinne vor: eine Auseinandersetzung, die sich der Problematik stellt und danach strebt, sie zu lösen. Das heißt mit anderen Worten: Er bricht die Geistesbeschäftigung des Mythos auf, um sie durch gedankliche Zugriffe zu ersetzen, die in ihrem begründenden, legitimierenden und rechtfertigenden Interesse nicht mehr mythisch, sondern dichterisch-ästhetisch sind, und die sein Erzählen, indem sie es gedanklich prägen, zugleich ‚regierend‘ bestimmen. 59 Ich beziehe mich in der Formulierung dieses Absatzes auf Cassirers Konzeption der Kunst (vgl. dazu Kap. I.2.1.1) sowie auf Jolles’ Beschreibung der (bezogenen) Mythe (1930 / 1999, S. 108-112). 60 Diese Formulierung gilt unabhängig von der konkreten narrativen Ausgestaltung, betrifft aber gleichwohl nicht allein das Schema. Der Umstand des Verharrens ergibt sich vielmehr daraus, dass die Vorgeschichte, sozusagen weil sie im Stoff angelegt ist, auch in irgendeiner Weise ausgestaltet werden muss. 232 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane Dass sich die Perspektive dergestalt auf ein größeres Ganzes öffnet, ist nur das letzte und vielleicht sicherste Zeichen für das nicht-mehr-mythische Erzählen des Romans. Er bedient sich einstmals mythischer Erzählweisen zum Zweck der Problemdarstellung und verleiht ihnen damit eine nurmehr herleitende Funktion. Der Übergang ins Reich der Dichtung wird so als ein Prozess fassbar, der den mythischen Blick auf das Phänomen der erotischen Liebe gedanklich einschließt und überwölbt. Was aber macht das von diesem Prozess geprägte Gebilde inhaltlich und formal aus? 3.2.2 Die zwei Ganzheiten des Tristanromans und ihr sinnbildendes Prinzip In der an den Minnetrank anschließenden Handlung fügt sich die Geschichte des Tristanromans in gewisser Weise nicht bloß zu einer, sondern gleich zu zwei Ganzheiten. Die erste dieser Ganzheiten umfasst das Geschehen bis zur Flucht der Liebenden von Markes Hof, entspricht also dem Umfang jenes „älteste[n] Tristan-Epos“, das dem Urteil Friedrich Rankes zufolge den uns bekannten Charakter des Stoffes am maßgeblichsten geprägt hat. 61 Sie zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie das Geschehen mit einem Bericht zu Ende bringt, der zwar strukturell in einem gewissen Kontrast zur langen Herleitung der Liebesgeschichte steht, 62 diese aber dennoch sowohl inhaltlich als auch formal konsequent ergänzt. Die Episodenreihe um das Leben der Liebenden an Markes Hof erscheint dabei nicht nur der narrativen Symmetrie wegen als angemessenes Komplement der schematisch bestimmten Vorgeschichte. 63 Indem sie der umständlich herbeigeführten Liebe, bevor diese wieder ausgestoßen und beseitigt wird, ein Aktionsfeld innerhalb der Gesellschaft einräumt, nimmt sie vielmehr auch eine ähnliche Haltung gegenüber dem gemeinsamen Thema ein: Während das Geschehen bis zum Minnetrank die Liebe zwischen Tristan und Isolde, wie eben gezeigt, herleitet und problematisiert, illustrieren die anschließenden Ereignisse die daraus entstehenden Folgen. In diesem Zusammenhang erscheint die Liebe ebenfalls als eine schicksalhafte Gegebenheit, die das Leben der Protagonisten gänzlich bestimmt. Tristan und Isolde haben keine andere Wahl, als sich zu lieben, und müssen daher zwangsläufig gegen eine gesellschaftliche Ordnung handeln, in der ihre Liebe keinen Platz hat. Im Versteckspiel an Markes Hof geht alles dabei verloren, was sie zuvor erreicht hatten oder zu bewahren suchten, ja im Prinzip sogar alles, was vormals für sie von Wert war. Tristan verliert die Gunst seines Onkels und die Stellung an dessen Hof, Isolde verliert die Ehre, 64 um derentwillen sie ihre Heimat verlassen hatte und die Ehe mit Marke eingegangen war. 65 Und obwohl Tristan und Isolde für ihre Liebe nicht verantwortlich sind, kann an ihrer Mitschuld am eigenen Niedergang kein Zweifel bestehen. Dass sie in Marke und Brangäne 61 Ranke 1925, S. 8-21, hier S. 8. 62 Weil er deren schematischer Schachtelstruktur eine episodische Reihung gegenüberstellt. Die Forschung nimmt diesen Kontrast insofern nur eingeschränkt zur Kenntnis, als sie ihn den beiden Hälften des Tristanromans - also dem Geschehen einerseits vor und andererseits nach dem Waldleben - zuordnet. Dass schon die Partie zwischen Minnetrank und Waldleben episodisch verfasst ist, wird also übersehen. Vgl. zuerst Ranke 1925, bes. S. 31, sowie im Anschluss daran Wagner 1936, S. 173 ff., Schindele 1971, S. 93 f., Strohschneider 1993, S. 59. 63 Also in dem Sinne, dass die Erweiterung nach vorn als Gegengewicht eine Erweiterung nach hinten erfordert: ähnlich Ranke 1925, S. 19-21. 64 Freilich nur bei Eilhart. Die ‚höfischen‘ Dichter Thomas und Gottfried ersparen Isolde den Ehrverlust, indem sie auf die (öffentliche) Aufdeckung des ehebrecherischen Verhältnisses verzichten. 65 So die Motivation bei Eilhart (ETr 1778 f.), angedeutet auch bei Gottfried: (GTr 9284 f.). Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ 233 ihre engsten Vertrauten verraten, macht deutlich, wie sehr die Liebe nicht nur ihre Umgebung, sondern auch sie selbst korrumpiert. Die Liebe, so scheint es, bringt in allen, die mit ihr in Berührung kommen, nur das Schlechteste zum Vorschein. Bis hierher entsteht so das Bild einer Liebe, die sowohl die Liebenden als auch die Gesellschaft, in der sie leben, unweigerlich zerstört: Wenn Tristan und Isolde am Ende fliehen, dann bedeutet das nicht nur ihren eigenen (gesellschaftlichen) Tod. Sie lassen auch einen König zurück, der seine Würde, und einen Hof, der seine Integrität verloren hat. 66 Das Weiterexistieren der Hofgesellschaft in ihrer alten Form ist damit letztlich ebenso undenkbar wie das Weiterleben der Liebenden in ihr. 67 Die Anlage der Erzählung lässt bis hierher nichts Versöhnliches spüren. Ihr Ziel scheint allein darin zu bestehen, das Wirken der Liebe schonungslos aufzudecken: Sie baut ihre Protagonisten offenbar nur zu vorbildlichen höfischen Menschen auf, weckt nur deshalb Sympathie für sie und legitimiert ihre Verbindung bloß, um die destruktive Kraft ihrer Liebe danach umso krasser hervortreten zu lassen. Von ihrer Anlage her gewinnt die Erzählung damit den Charakter einer (epischen) Tragödie; 68 der dazugehörende Gestus, oder, wie ich in meinem theoretischen Kapitel gesagt habe, das (Denk-)Muster, das die Sinnbildung in Gestalt des ‚regierenden Modus‘ vollzieht, ist demonstrativ-erklärend. Die Geschichte bewegt sich bis zu diesem Punkt auf der Grenzlinie zwischen der welterklärenden Geistesbeschäftigung der Mythe und dem allein zeigenden Gestus des Exempels: Sie bezieht sich auf beide Formen, ohne im engeren Sinn mythisch oder exemplarisch zu sein. Ob die Erzählung von Tristan und Isolde jemals in diesen Umrissen bestanden hat, darf indessen vielleicht bezweifelt werden. Denn in dem, was sie vermittelt, ist sie zwar an und für sich ‚bündig‘, aber dennoch in höchstem Grade unbefriedigend. Für sich genommen würde sie nichts anderes belegen, als dass es für das Problem der erotischen Liebe keine Lösung gibt, und zwar weder für die Liebenden noch für die Gesellschaft. Anstatt einen eigenen Ausweg zu präsentieren, demonstriert sie höchstens, dass auch der des Mythos eigentlich keiner ist: weil die Liebenden gar keinen Anlass haben, gleich in die Wildnis zu fliehen, weil sie ihre Liebe inmitten der Gesellschaft leben können und diese erst verlassen müssen, als es für den Erhalt der Ordnung zu spät ist. Anders als die mythische Erzählung suggeriert, ist es mithin, so die anzunehmende Botschaft, gar nicht möglich, die Liebe von der Gesellschaft fernzuhalten, denn diese ist deren ureigener Lebensraum. Die Ganzheit, die Ranke auf ein vormals selbständiges Epos schließen ließ, ist demnach von vornherein eine nur relative. Sie bringt in ihrer zweiten Hälfte lediglich zu Ende, was sie in der ersten begonnen hatte: die eindringliche Darstellung des Problems, das die Liebe für die Gesellschaft ebenso bedeutet wie für die Liebenden selbst. In dieser relativen Abgeschlossenheit verlangt sie nach einer Fortsetzung, die den demonstrativ-erklärenden Anfang erneut über- 66 Das wird so wiederum vor allem bei Eilhart deutlich: Wo der zornrasende und nur noch auf Rache sinnende Marke zur Karikatur eines Richters wird, da ist die (Rechts-)Ordnung offenbar dahin. Bei Thomas und Gottfried wird das Problem durch die Umgestaltung der ganzen Passage ausgeblendet. 67 Der Neuansatz nach dem Waldleben markiert in allen Fassungen einen Bruch, der auf der Handlungsebene nur teilweise geschlossen werden kann. Dass Eilharts Marke die ehebrüchige Isalde wieder aufnimmt, scheint ebenso merkwürdig wie der Umstand, dass die Protagonisten bei Thomas und Gottfried einfach an den Hof zurückkehren. 68 Das episch-tragische Moment der „alten Fabel“ hebt bereits Ranke hervor (1925, S. 1). Die Forschung dazu überblickend zuletzt Toepfer, die das tragische Moment der Tristangeschichte an die innere Widersprüchlichkeit der Minne zwischen Liebe und Leid, Leben und Tod bindet und sie als solche erst bei Gottfried in voller Ausprägung erkennt (2013, S. 361-400). 234 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane formt und so erst jenes (zweite) Ganze entstehen lässt, das das bisher nur präsentierte Problem nun endlich auch zu bewältigen sucht. 69 Das Verhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Romans ist damit in seiner sinnbildenden Fügung im Prinzip - sagengeschichtlich formuliert: schon auf der Stufe der estoire 70 - augenscheinlich dasselbe, das uns auch im ‚Erec‘ begegnet. Der erste Teil wirft eine Frage auf bzw. erläutert ein Problem, von dem zumindest die Erwartung besteht, dass es im zweiten gelöst wird. Ich formuliere das zunächst so vorsichtig, weil der kompositorische Befund durchaus nicht ohne weiteres deutlich werden lässt, ob, und wenn ja, wie der zweite Teil des Romans dieser Erwartung gerecht zu werden vermag. Das gilt umso mehr, als die Positionen der Forschung in diesem Punkt auseinandergehen. Die Forschungslage weist dabei insofern auf die Diskussion zum Aufbau des ‚Erec‘ zurück, als sie ebenfalls daraus resultiert, dass das Prinzip der Wiederholung, das hier in ähnlicher Weise zum wichtigsten strukturierenden Moment avanciert, unterschiedlich aufgefasst und gedeutet wird. 71 Anders als im Fall des ‚Erec‘ ist es zwar nicht die strukturalistische Hypostase eines untergründig wirkenden thematischen Verlaufs, die die Sicht auf die Komposition einseitig bestimmt; die Fokussierung auf einige bestimmte Phänomene des thematischen Aufbaus führt aber gleichfalls zu Verzerrungen, die den Blick auf die Sinnbildung des Romans mehr oder weniger beeinträchtigen. Da die beiden maßgeblichen Perspektiven sich ergänzen, genügt schon eine kurze Zusammenschau, um zu mehr Klarheit zu gelangen. Wie stark die perspektivische Verzerrung im Einzelnen ausfallen kann, belegt insbesondere Rainer Warnings Versuch, das Erzählen von Tristan (im Gegensatz zu dem von Artus) als den Prototyp eines (sujetlos-)paradigmatischen Erzählens zu deuten. 72 Warning schreibt dem Tristanroman in diesem Sinne ein narratives Verfahren zu, das sich darin erschöpft, sein Thema in wechselnden Konstellationen immer wieder nur variierend zu umspielen, und das deshalb grundsätzlich nicht zu einer „abschließende[n] Synthese“: zu keiner „Lösung“ seines Problems kommen kann. 73 Warnings Darstellung beruht im Wesentlichen auf einem Eindruck, den die episodische Reihenstruktur im zweiten Teil des Romans oberflächlich betrachtet in der Tat hinterlassen kann: Die end- und ziellos anmutende Wiederholung des immer gleichen Grundmusters legt den Gedanken an ein „dekonstruktives 69 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die bloße Präsentation eines ausweg- und heillosen Geschehens - vorsichtig formuliert - kein gängiger Darstellungsmodus der mittelalterlichen Dichtung ist. Selbst das ‚Nibelungenlied‘, für das diese Beschreibung wohl zuträfe, ist schon im Verbund mit der ‚Klage‘ konzipiert und wird ausschließlich gemeinsam mit ihr überliefert: die Rückführung in den Sinnhorizont der christlich-laikalen Gesellschaftsordnung ist also auch dort gegeben. 70 Sie repräsentiert hier jenen Dichter, der den Roman als kompositorische Einheit geschaffen hat. 71 Vgl. Kap. III.2.2.1. 72 Warnings Beitrag gilt zwar primär dem ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg; er erhebt aber gleichwohl - und ohne die Differenz zur version commune auch nur zu erwähnen - den Anspruch, „Kuhns Charakterisierung der drei Modelle Artus / Tristan / Nibelungen [zu] reformulieren“ (2003, S. 184). Dabei ordnet er dem ‚Modell Tristan‘ ein dominant sujetlos-paradigmatisches und dem ‚Modell Artus‘ ein dominant sujethaft-syntagmatisches Erzählen zu (ebd., S. 183). Grundsätzliche Zweifel an der Praktikabilität dieser Unterscheidung folgen schon aus meinen narratologischen Vorüberlegungen in Kap. II.1. Sie werden von den folgenden Textanalysen bestätigt, die durchweg belegen, dass Sujethaftigkeit die Option eines ‚paradigmatischen‘ Kreisens um ein und dasselbe Thema ebenso wenig ausschließt, wie dieses Kreisen einer Entwicklung von Handlung und Thema entgegensteht: Beide schließen sich vielmehr in je anderer Weise zu jenem Prozess zusammen, den ich als thematische Entfaltung beschreibe. 73 Warning 2003, S. 182 und S. 179. Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ 235 Prozessieren im Paradigma“ durchaus nahe. 74 Schon die Episoden, die auf den Minnetrank folgen, formen die Handlung zu einem Hin und Her, das dem Anschein nach immer weiter fortgesetzt werden könnte: Es gelingt den Neidern an Markes Hof immer wieder fast, das Liebesverhältnis zwischen Tristan und Isolde aufzudecken, während diese es immer wieder schaffen, das gerade noch zu verhindern. Der zweite Teil scheint dann vollends darauf abgestellt, die Handlung ins Unendliche zu perpetuieren. Immer wieder kehrt Tristan aus dem Exil zu Isolde zurück, immer wieder überlistet er seine Widersacher, immer wieder wird er entdeckt, und immer wieder muss er fliehen. Wie wenig sich daraus ein konsequenter Schluss entwickeln lässt, meint man schließlich auch daran zu sehen, dass der Tod Tristans und Isoldes in keiner der überlieferten Fassungen des Tristanromans aus der Liebeshandlung selbst resultiert. Die verschiedenen Neben- und Stellvertreterhandlungen, die konstruiert werden, um das (stofflich bedingte) Schicksal der Liebenden am Ende doch noch zu erfüllen, 75 mit Warning als Notausgänge aus einem Erzählen beschreiben, das zumindest „potentiell[] [u]nabschließbar“ geworden ist, scheint in diesem Sinne durchaus verlockend. 76 Die unmittelbare Eingängigkeit von Warnings These sollte indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie die Komposition des Romans nur partiell erfasst und darum auch seine iterative Form nicht angemessen beschreibt. In der Fokussierung auf das Phänomen der Episodenreihung schiebt Warning nicht nur die eben skizzierten Verbindungen und Überkreuzungen schematisch-syntagmatischer Strukturen im ersten Handlungsteil beiseite, er übersieht auch die immense Rolle, die großräumiger angelegte Wiederholungen für die Sinnbildung spielen. So beachtet er weder den Umstand, dass der zweite Teil des Romans den ersten insgesamt doppelt, noch notiert er die Bedeutung, die dem Auftreten der zweiten Isolde, ja überhaupt dem Geschehen in Tristans neuer Heimat in diesem Zusammenhang zukommt. 77 Was er negiert, wird somit als Produkt einer Ausblendung erkennbar - einer Ausblendung, die nicht nur den strukturellen Befund, sondern auch die Ergebnisse der Forschung betrifft. Denn dass der Tristanroman weder generell sujetlos ist, noch sich der Lösung seines Problems so prinzipiell verweigert, wie Warning meint, hatte zuvor schon Peter Strohschneider am Beispiel Eilharts überzeugend herausgearbeitet. 78 Strohschneiders Ansatz unterscheidet sich von dem Warnings grundsätzlich darin, dass er anstelle des mikrostrukturellen Bezugssystems „ana- und kataphorischer Relationen“ 79 jene Doppelungen von Handlungssträngen, -räumen und Figurenrollen in den Blick nimmt, die Eilharts Text makrostrukturell gliedern. Seine Deutung basiert auf der Beobachtung, dass durch Tristrants Flucht nach Karkes und die Hochzeit mit der weißhändigen Isalde eine Handlungskonstellation entsteht, die sich von der des ersten Teils dadurch abhebt, dass sie die beiden thematischen Aspekte, deren dilemmatische Verknüpfung dort zur Katastrophe geführt hatte, konsequent voneinander trennt. Während Liebes- und Herrschaftshandeln zuvor durch die Komplikation der Brautwerbung untrennbar ineinander 74 Ebd., S. 179-187, zit. S. 186. 75 Dazu bes. Bonath 1983. 76 Warning 2003, S. 187, dazu bes. auch ebd., S. 206-212. 77 Das hängt wohl mit seiner Konzentration auf die fragmentarische Version Gottfrieds zusammen, was man aber angesichts seines universalen Zugriffs auf das ‚Modell Tristan‘ kaum als Entschuldigung gelten lassen kann. 78 Strohschneider 1993. 79 Warning 2003, S. 182. 236 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane verschlungen worden waren, wird der gesamte Bereich des Herrschaftshandelns nun nach Karkes verlegt; die Liebe bleibt mit der ersten Isalde gewissermaßen in Cornwall zurück. 80 Angezeigt wird die Separation von Liebe und Herrschaft durch eine Reihe (inverser) Doppelungen: Tristrant integriert sich abermals in einen Herrschaftsverband und wirbt abermals um eine Isalde; diese ist allerdings nicht, wie im Brautwerbungsschema gefordert, die Schönste, weshalb Tristrant sie zwar heiratet, aber nicht liebt. Die erste Isalde erscheint im Gegenzug nicht mehr als die ihm zugehörige Braut, sondern nur noch als Geliebte, und Marke ist nicht mehr Verwandter und konkurrierender Bräutigam, sondern nur noch ‚begrenztes Hindernis‘ für die Rückkehr zur Geliebten. 81 Da die Struktur, auf die sich Strohschneider bezieht, in allen Fassungen des Romans mehr oder weniger dieselbe ist, wäre demnach zu sagen, dass der zweite Teil das Problem der Tristanliebe im wahrsten Sinne des Wortes analysiert. Er erfasst es - durchaus treffend - als fatale Verwicklung von Liebe und Herrschaft und versucht es aus der Welt schaffen, indem er die Verwicklung strukturell auflöst. Inwiefern diese Auflösung auch als Lösung gelten darf, scheint jetzt nur mehr fraglich, weil sie den Tod der Liebenden am Ende nicht verhindern kann. Dass Strohschneider den Vorgang nicht genauer zu erklären vermag, ist abermals auf eine Ausblendung zurückzuführen; diesmal nicht der Makro-, sondern der Mikrostruktur des Textes. Was er diesbezüglich andeutet, reicht indessen schon aus, um erkennbar zu machen, wie jene Form der episodischen Wiederholung, die Warning als paradigmatisch beschreibt, in seine Untersuchung einzubeziehen wäre. Der Tod der Liebenden resultiert nämlich, wie Strohschneider zeigt, bei Eilhart aus einem Geschehen, das die Trennung von Liebe und Herrschaft wieder aufhebt und einen Zusammenfall der Bereiche bewirkt. 82 Dass sich die Episodenfolge des ‚Tristrant‘ keineswegs bloß als ein zielloses Prozessieren verschiedener Varianten ein- und desselben Problems darstellt, sondern vielmehr als ein Prozess der thematischen Reintegration, der den Ausgang der Handlung in irgendeiner Weise begründet (also als eine Form der thematischen Motivation), ist hieran anschließend zumindest zu vermuten. Das Ende folgt daraus, dass die projektierte Lösung aus irgendwelchen Gründen nicht trägt - sie wird also von der Handlung widerlegt und ist darum, wie Strohschneider richtig schließt, nur im Konjunktiv zu formulieren: „Die[] paradigmatische Kontrastierung von Strukturen sowie ihre Deutung im Zusammenhang […] der Liebestodhandlung […] scheinen […] verstehbar als eine erzählerische Synthese des Sinnes, daß das vorausgesetzte Spannungsverhältnis von Liebe und Herrschaft […] einfacher zu bewältigen wäre, wenn sie je distinkten Handlungsbereichen zugeordnet würden.“ 83 Ohne schon genaueres sagen zu können, ist damit an dieser Stelle zumindest festzuhalten, dass der Tristanroman sich sowohl in seiner strukturellen Anlage als auch hinsichtlich der thematischen Entfaltung und der gedanklichen Durchdringung seines Problems offen- 80 Das heißt mit anderen Worten: Hier wird jene semantische Grenze in die erzählte Welt eingezogen, deren Überschreitung in der Terminologie Lotmans das Sujet konstituiert (1972, bes. S. 332 f.). Dass sie den Charakter einer Tiefenstruktur hat, könnte man zunächst meinen; diese Beschreibung ist aber, wie meine Analyse noch zeigen soll, dadurch zu relativieren, dass die thematisch-semantische Besetzung bei Eilhart keineswegs in der Tiefe, sondern ganz konkret an der Oberfläche der erzählten Welt wirksam wird (was die Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe de facto aufhebt). 81 Strohschneider 1993, bes. S. 55-57. 82 Ebd., bes. S. 41-47. Ich formuliere zunächst kursorisch; der Zusammenhang soll gleich noch deutlicher werden. 83 Ebd., S. 60. Die andere Herleitung des Liebestods bei Thomas von England legt entsprechend eine andere Deutung nahe. Vgl. dazu Bonath 1983, S. 50-58. Zur Grundstruktur der Tristangeschichte und ihren ‚regierenden Modi‘ 237 bar auf demselben Weg befindet wie der ‚Erec‘. Dieser Weg ist bemerkenswerterweise spätestens von dem Dichter beschritten worden, der die Geschichte Tristans darauf angelegt hat, in einem zweiten Teil unter veränderten Bedingungen noch einmal durchgespielt zu werden. Dabei baute er entweder auf eine ältere Erzählung auf, die die Tristanliebe in ihrer ausweglosen Fatalität nur vorzeigte, oder bearbeitete eine solche in diesem Sinne selbst: welche der beiden Optionen man annimmt, ist im Zusammenhang meiner Überlegungen letztlich gleichgültig. Entscheidend ist, dass im Zuge dessen eine narrative Struktur entstand, die die mythische Perspektive auf das Phänomen der erotischen Liebe doppelt überformt und so ein gedankliches Muster erzeugt, das es erlaubt, das Faszinosum sowohl als Problem zu erfassen als auch rational zu ergründen. Das heißt natürlich nicht unbedingt, dass die Möglichkeiten dieses Musters bereits im ‚Ur-Tristan‘ umfänglich ausgeschöpft worden sind. Es mag also zwar sein, dass dort schon ganz ähnlich wie im ‚Erec‘ Aspekte des Verhältnisses zwischen Liebe und Gesellschaft (bzw. Herrschaft) differenziert und (hier: mit negativem Ergebnis) dialektisch aufeinander bezogen wurden. Möglich ist aber auch, dass zwei (thematisch der Liebe und der Herrschaft zugeordnete? ) Handlungsstränge zunächst gedanklich unverbunden nebeneinanderstanden. Gerade in diesem Fall könnte der Text freilich von nachfolgenden Dichtern und Bearbeitern geradezu als Aufforderung verstanden worden sein, seine stoffliche Anordnung gedanklich-thematisch weiterzuentwickeln und damit auch sein Problem in Richtung einer Lösung voranzutreiben. Dies ist, wie mir scheint, der Punkt, an dem Chrétien und Eilhart gleichermaßen ansetzen. Sie rekurrieren also auf ein thematisch-kompositorisches Gefüge, das bis dahin soweit entfaltet ist, dass es das ihm zugrundeliegende Problem der gesellschaftsfeindlich-erotischen Liebe zunächst definierend und begründend darstellt und dann in Hinblick auf eine Lösung analysiert; und sie führen den darin angelegten (Denk-)Prozess dadurch fort, dass sie dessen analytischen Ansatz in Richtung einer argumentativen Erörterung weiterentwickeln. Dass der Zusammenhang der Romane dergestalt nicht stofflich, sondern gedanklich, in Bezug auf die geistige Durchdringung des gemeinsamen Problems greifbar wird, erscheint literaturgeschichtlich betrachtet vielleicht ungewöhnlich; das damit verbundene Befremden erklärt sich aber aus der Perspektive des modernen Betrachters, ohne dass das Phänomen dadurch an historischer Plausibilität verliert. Dieses markiert jetzt eine Form der Intertextualität, die die literarische Reihe, statt von einer bestimmten Geschichte, von dem durch sie vermittelten Thema sowie, davon ausgehend, der Art und Weise seiner ‚künstlich‘-sinnbildenden Darstellung her konzeptualisiert. In diesem Sinne gehe ich davon aus, dass die Parallelen in der kompositorischen Fügung von Tristan- und Artusroman aus der gemeinsamen Arbeit an ein und demselben Problem resultieren und setze meine Untersuchung unter den bereits genannten Prämissen fort. Ich nehme also eine Art der Bezugnahme bzw. der wechselseitigen Beeinflussung an, die als eine durchaus konkrete zu denken ist, ohne dass es darauf ankäme, welche Seite genau als die nehmende und welche als die gebende zu gelten hat. Meine Untersuchung der deutschen Texte erfolgt damit unabhängig von der Frage, ob der ‚Tristrant‘ vor oder nach dem ‚Erec‘ datiert, bzw. ob Eilhart den ‚Erec‘ (Hartmanns und / oder Chrétiens) oder Hartmann den ‚Tristrant‘ kannte. 84 Was die Texte miteinander verbindet, interessiert mich allein als 84 Ich blende das Datierungsproblem dementsprechend hier aus, weise jedoch darauf hin, dass, wenn - wie Mertens plausibel vertreten hat - Eilharts ‚Tristrant‘ tatsächlich erst um 1190 datiert (1987, mit eingehender Diskussion der älteren Forschung), seine Bezüge zur höfischen Literatur wohl noch komplexer und reflektierter wären, als man bisher vermutet hat, und dass seine Erzählweise deshalb noch 238 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane Ergebnis einer narrativ-gedanklichen (und darin sinnbildenden) Auseinandersetzung mit ein und demselben Thema bzw. Problem, wobei ich mich darauf konzentriere, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im sinnbildenden Verfahren herauszuarbeiten. Der Vergleich sowohl des gedanklichen Zugriffs der Problemverhandlung (‚Modus der Regierung‘) als auch seiner konkreten Vermittlung im Medium der Erzählung (‚Modi der Ausrichtung‘) wird zeigen, dass die wesentliche Differenz zwischen ‚Tristrant‘ und ‚Erec‘ in einer thematischen Entfaltung besteht, die letztlich auf eine andersgeartete Argumentationsstrategie zurückzuführen ist; - der abweichende Eindruck im Stil hingegen muss als Teil einer durchaus analog ausgerichteten Erzählweise angesprochen werden. Denn was zunächst als Äußerungsform eines Archaischen erscheint, das Eilharts Text in größere Nähe zu den mythischen Wurzeln des Tristanstoffs rücken lässt, das erweist sich bei näherem Hinsehen als Ausdruck eines narrativen Vorgehens, das nicht minder im Dienst ‚künstlicher‘ Sinnbildung steht als das Erzählen in Hartmanns ‚Erec‘. Wenn ich im Folgenden immer wieder das ‚altertümlich-archaische‘ Moment des ‚Tristrant‘ fokussiere, so tue ich das mithin, um zu zeigen, dass dieses alles andere als einen unbewältigten Rest darstellt, der es dem Verfasser etwa verböte, sein Problem analytisch zu durchdringen; dass es vielmehr gezielt eingesetzt wird, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten punktgenau auf die narrative Verhandlung des Problems der Tristanliebe zu lenken. 3.3 Liebe als Problem. Eilhart von Oberg, ‚Tristrant‘ 3.3.1 Schematische Gesetzmäßigkeit und erzählweltliche Motivation der Handlung bis zum Minnetrank Die narrative Eigenart des ‚Tristrant‘ 85 tritt wohl nirgends so klar und in ihrer Eigenartigkeit zugleich so komprimiert hervor wie an seinem Beginn, in den gut 2000 Versen, die mit dem fatalen Genuss des Minnetranks enden. Was man als den ‚spielmännischen‘ Stil, die altertümliche Sprödigkeit oder gar die ästhetische Minderwertigkeit von Eilharts Erzählen bezeichnet hat, 86 springt dem Leser hier geradezu ins Gesicht und macht es ihm schwer zu glauben, dass der Dichter die Bedeutung, die die Herleitung der Liebe für seine Geschichte hat, auch nur ansatzweise erfasst und verarbeitet haben könnte. Noch weit mehr als in späteren Partien ist der Handlungsbericht in dieser Passage vom Verzicht auf (fast) jede Form der psychologischen Motivierung gezeichnet und darum von einer Brüchigkeit und Inkohärenz, wie sie selbst in der zeitgenössischen Dichtung kaum Ihresgleichen findet. 87 Gleichwohl ist all dies, wie ich im Folgenden belegen möchte, Teil einer Strategie, die, wenn nicht auf die Bewältigung, so doch auf die Durchdringung und Diskussion einer als einmal gründlicher auf den Effekt ihrer scheinbaren Archaik untersucht werden sollte: auch gründlicher, als ich es hier leisten kann. 85 Ich zitiere den Text nach der Heidelberger Handschrift (cpg 346) in der Transkription von Buschinger 1976. 86 In jüngerer Zeit freilich ausschließlich noch relativierend; als Eindruck, der im (modernen) Vergleich zwischen Eilhart und Gottfried entsteht, dem älteren Werk aber nicht gerecht wird. So etwa Wolf 1989, S. 57 f., Müller 1990, S. 20, Strohschneider 1993, S. 39, Keck 1998, S. 85-87, Schausten 1999, S. 13-95. 87 Vgl. dazu bes. Schultz 1987a und 1987b. Der Befund wird durch die psychologisierende Ausgestaltung der Minnetrankwirkung in Isaldes Liebesmonolog (dazu Bussmann 1969) sogar eher noch unterstrichen. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 239 problematisch begriffenen Liebe zielt. Bemerkenswert ist dabei vor allem, wie Eilhart es bewerkstelligt, die sinnbildenden Formen und Impulse, die die stoffliche Konstellation des ersten Handlungsteils in sich birgt, 88 zum einen deutlich hervortreten zu lassen, ja in ihrer rätselhaften Kantigkeit geradezu herauszuarbeiten, und sie zum anderen gerade darin (‚ausrichtend‘) in den Dienst seiner eigenen Sinnbildung zu nehmen. Es scheint deshalb zwar zunächst so, als würde er den mythischen Allusionen seiner Geschichte ratlos begegnen, als wäre er nicht fähig, das Gesetz der in ihr wirksamen Schemata in eine flüssig motivierte Handlung zu überführen. Ein genauerer Blick auf die Faktur seiner Erzählung lässt jedoch erkennbar werden, dass sie auf einen bestimmten Effekt hin kalkuliert ist: Sie ‚richtet‘ sich darauf, die Liebe zwischen Tristrant und Isalde nicht nur so herzuleiten, dass sie im Moment ihres Ausbruchs legitim und notwendig anmutet, sondern so, dass sie überdies als Problem erscheint; oder genauer: als Problem markiert und definiert wird. Um diese Einschätzung zu begründen, greife ich zunächst noch einmal zurück. Ich beginne mit einer Revision der Schemaverknüpfung am Anfang der Handlung und ihrer Rolle für die Motivation der Liebesgeschichte. Daran anschließend wird nach der handlungsweltlichen Realisation des schematischen Nexus und besonders nach deren Wirkung zu fragen sein. Die Anfangspartie des Tristanromans, so habe ich vorn gesagt, hat die Aufgabe, die Liebe zwischen Tristan und Isolde zu rechtfertigen, zu begründen, ja geradezu herbeizuerzählen. Zu diesem Zweck verknüpft sie drei, eigentlich sogar vier Handlungsschemata: Außer dem Schema der Brautwerbung 89 und dem von der Jugend des Helden, 90 die ich bereits erwähnt habe, das (in gewisser Weise mit der Heldenjugend verbundene) des Heilsbringer- 91 und das des Feenmärchens. 92 Die nahtlos ineinandergreifenden Verläufe dieser Schemata führen Tristan ebenso sicher an das ihm zugedachte Ziel, wie sie die Erwartung des Rezipienten in die vorgegebene Richtung lenken. 93 Der von ihnen konstituierte Zusammenhang ist - kurz gefasst - dieser: 94 88 Ich schließe hier an meine Überlegungen in Kap. III.3.2.1 an. 89 Allgemein dazu Schmid-Cadalbert 1985. Zur Brautwerbung im Tristanroman: Kuhn 1973 / 1980, Simon 1990a, bes. S. 370-373. 90 Allgemein: Pörksen / Pörksen 1980. Zur Heldenjugend im Tristanroman Kuhn 1973 / 1980, bes. S. 18-20 (im Kontext des Heilsbringermärchens) sowie Simon 1990a, S. 366-368 (ohne expliziten Bezug zum Schema). 91 Kuhn legt Heldenjugend und Heilsbringermärchen ein einziges Schema zugrunde (1973 / 1980), S. 18. Dafür spricht, dass die Schemata in der Dichtung des Mittelalters tatsächlich häufig in dieser Weise verbunden auftreten (etwa in ‚Parzival‘ und ‚Gregorius’). Genau genommen gehören Rettungstat und Reichsübernahme aber nicht zur Heldenjugend. Dort ist nur vorgesehen, dass der Held sich irgendwie als solcher hervortut (z. B. durch einen besonders glorreichen Sieg; vgl. dazu die Übersicht bei Pörksen / Pörksen 1980, S. 264-267). Dass das Heilsbringermärchen als ein eigenständiges Schema anzusprechen ist, belegt auch seine von der Heldenjugend unabhängige Inserierung in die Brautwerbung: Hier wird der Drachenkampf zur Rettungstat, die nicht den Helden zum Helden (das wäre der Gestus des Schemas von der Jugend des Helden), sondern den Brautwerbungshelfer zu demjenigen macht, der selbst Anspruch auf die Braut hat. Vgl. dazu auch Hammer, der das Schema des Heilsbringermärchens allerdings auf den Drachenkampf eingrenzt (2007, S. 106-124). 92 Simon 1990a, S. 368-370. 93 Ich schließe hier an meine Überlegungen zum schematischen Erzählen in Kap. II.2.1 und III.2.3.2 an. 94 Ich wechsle hier sozusagen die Wiedergaberichtung: Vorn (Kap. III.3.2.1) habe ich den Zusammenhang der Schemata vom Minnetrank ausgehend in seiner finalen Logik, also ‚rückwärts‘ betrachtet, jetzt beschreibe ich ihn der Handlungschronologie folgend ‚vorwärts‘. 240 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane Das Schema der Heldenjugend markiert Tristan als einen von der Liebe Gezeichneten bzw. zur Liebe (und zum Liebestod) Geborenen und führt ihn an den Ort seiner Bestimmung. Zu ihm gehören: 95 die Liebesgeschichte der hochadeligen Eltern, der Bericht von Tristans ungewöhnlicher (da außerehelicher) Zeugung, die gefahrvolle Geburt, 96 der Tod der Eltern (bzw. bei Eilhart nur der Mutter), die Reise an den Ort der Bestimmung (der hier zugleich Ort der mütterlichen Herkunft ist) 97 sowie das erste Hervortreten im Kampf gegen Morolt (verbunden mit dem Erfahren von Name und Abstammung). 98 An dieser Stelle schließt das Schema des Heilsbringermärchens an, das den Helden im Sieg gegen Morolt zum Retter des cornischen Reiches macht und ihm damit nicht nur das Anrecht auf die Herrschaftsnachfolge, sondern auch das auf die Hand der Tochter (oder Schwester) des Königs verschafft. 99 Dass die Rolle der Tochter (Schwester) hier (noch) nicht besetzt ist, deutet bereits den Auftritt der Frau voraus, die nun ins Spiel kommt. Die Verletzung durch Morolts vergifteten Speer zwingt Tristan zur Reise nach Irland, wo er die Einzige findet, die ihn heilen kann: die zauberkundige ‚Fee‘ Isolde. 100 Die erste Begegnung mit ihr bereitet schon jene Rollendoppelung vor, die im Brautwerbungsschema für den „Kurzschluss zwischen Brautwerber und Königsbraut“ verantwortlich ist. 101 Dass nämlich Isolde zugleich als die heilkräftige Hauptfigur des Feenmärchens und als Nichte Morolts auftritt, lässt Tristan, weil er ihre Hilfe nur durch Täuschung erlangen kann, einerseits zum ‚Erwählten der Fee‘ und andererseits zum listigen Kenner des feindlichen Landes werden, was ihn ebenso zum Protagonisten des Brautwerbungsschemas (also zum ‚Bräutigam‘) prädestiniert, wie es ihn zum idealen Brautwerbungshelfer macht. 102 Da er zugleich der Retter von Markes Reich und designierter Thronerbe bleibt, scheint ihm die Rolle des Bräutigams freilich angemessener, denn eigentlich wäre es nun wohl an ihm, für die Herrschaftsnachfolge zu sorgen. Auch aus diesem Grund ist es nur konsequent, wenn er sich von Markes Baronen nicht ohne weiteres aus der Rolle des rechtmäßigen Erben verdrängen lässt und aus der Position des Brautwerbungshelfers heraus abermals als der Held der Geschichte hervor- 95 Vgl. nochmals Pörksen / Pörksen 1980, S. 260-269. 96 Eilhart gestaltet sie als Schwertgeburt auf hoher See; Gottfried verbindet sie mit dem (Liebes-)Tod der Mutter. In beiden Fällen handelt es sich um eine Geburt im Tod bzw. aus dem Tod heraus; beide sind überdies schemagemäß mit einem Moment der Heimlichkeit verbunden (Eilhart: fern des Hofes auf hoher See, Gottfried: Verheimlichung der Geburt und Adoption). 97 Diese ‚Rückkehr‘ (über See! ) wird von Pörksen / Pörksen nicht besonders hervorgehoben: Sie ist nur in jener - freilich prominent besetzten - Variante des Schemas relevant, wo der Held nach der Geburt ausgesetzt bzw. in Zusammenhang mit ihr in ein anderes Land gebracht wird (Ödipus, Moses, Gregorius). 98 Bei Eilhart ist dieser Schemapunkt invertiert: zwar weiß Tristrant seinen Namen und seine Herkunft, er enthüllt beide aber erst im Zusammenhang des Moroltkampfes. 99 Da Marke keine Tochter hat, gibt es zwei Deutungsoptionen. Erstens: Tristan gilt durch den Kampf seine Mutter, Markes Schwester Blanscheflur, ab (ein zweites Mal, denn sowohl bei Eilhart als auch bei Gottfried hatte sein Vater sie sich ja bereits ‚verdient‘, nur darauf verzichtet, diesen Anspruch bei Marke geltend zu machen). Zweitens: Tristan gewinnt schon hier das Recht auf Isolde, die als Markes sehr viel jüngere Braut die Rolle der Tochter noch am ehesten erfüllen könnte - daraus ergibt sich in der Logik des Schemas dann auch die Notwendigkeit der Reise nach Irland: Die schematisch vorgesehene Frauenrolle muss herbeierzählt werden. 100 Morolt fungiert aus dieser Sicht im Sinne des Feenmärchens als Bote, den „die Fee […] aus[schickt], um [den] Sterblichen, den sie liebt, zu sich zu locken“ (Simon 1990a, S. 368). 101 Kuhn 1973 / 1980, S. 16. 102 Zu den Rollen Schmid-Cadalbert 1985, S. 84 f. tritt. 103 In der Brautwerbungsfahrt nach Irland erweist er sich erneut als der tatsächlich Beste und damit nach dem Gesetz des Schemas als der wahre Bräutigam, was er überdies auch deshalb ist, weil er im Kampf gegen den Drachen ein zweites Mal als Heilsbringer agiert. 104 Sein Recht auf Isolde ist nun nicht weniger als ein vierfaches: Sie gehört (zu) ihm in seinen Eigenschaften als bester Held (Heldenjugend / Brautwerbung) 105 , als künftiger König Cornwalls (Heilsbringermärchen I), als geheilter Geliebter (Feenmärchen) und als Drachentöter (Brautwerbung / Heilsbringermärchen II ). 106 Von den in ihr realisierten Schemata her wäre die Geschichte von Tristan und Isolde demnach wohl als Märchen zu erzählen: als die Geschichte vom verkannten Königssohn Tristan, der das Land seines Onkels rettet, gegen den Widerstand der Höflinge die Liebe und die Hand der (Zauber-)Prinzessin Isolde erringt und schließlich (den Tod bzw. Sinneswandel des Onkels vorausgesetzt) 107 die Herrschaft (über drei Länder) 108 übernimmt. Die Geschichte von Tristan und Isolde ist aber nun einmal kein Märchen. Ihr schematischer Nexus wird dementsprechend in keiner der überlieferten Fassungen erzählweltlich expliziert. Die narrative Konfiguration ist damit eine ganz ähnliche wie bei der Brautwerbungshandlung im ‚Erec‘: Die schematische Begründung für die Verbindung der Protagonisten bleibt als eine nicht ausformulierte zwar implizit sinnbildend wirksam; diese Wirksamkeit ist aber vorderhand die eines rezeptiven Automatismus, der in den Bereich des Assoziativen und der Intuition gehört. Das heißt, sie ruht auf einer un- oder vorbewussten Erwartungshaltung, die den Leser oder Hörer dazu veranlasst, die Liebe zwischen Tristan und Isolde, wenn sie eintritt, für plausibel, ja notwendig zu halten. 109 Anders als im ‚Erec‘ besteht das Ziel hier allerdings nicht darin, dem wie selbstverständlich eintretenden Geschehen das Ansehen fragloser Evidenz zu verleihen, stattdessen soll diese Evidenz in ihrer Rechtfertigung gerade problematisiert werden. Denn nicht, wie es die schematische Konstruktion suggeriert, glückliche Liebe und legitime Herrschaft sind ja das Los, das Tristan und Isolde bestimmt ist, sondern Ehebruch, Verrat und Tod -, und nur letztere sind es auch, die aus einer Handlung hervorgehen, in der nicht der Heilsbringer und die Zauberprinzessin auftreten, sondern die an die Regeln feudaler Herrschaft und verwandtschaftlicher Loyalität gebundenen Protagonisten des Tristanromans. 110 103 Hier verschlingen sich die Logiken von Heilsbringermärchen, Brautwerbung und Heldenjugend offenbar bereits zu einem unlösbaren Knoten. 104 In einer mise-en-abyme-artigen Struktur ist hier in die Brautwerbung ein weiteres Heilsbringermärchen eingebettet. Die Komplexität der Situation wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Brautwerbung ihrerseits schon in das erste Heilsbringermärchen eingebettet ist und das zweite Heilsbringermärchen darum in doppelter Vermittlung das beschafft, was im ersten noch fehlte: Die dem Retter zustehende Frau. 105 Nämlich nach jener Regel der Brautwerbung, der zufolge „stets nur der beste Mann und die schönste Frau zusammengehören“ (Strohschneider 1997, S. 43). 106 Umgekehrt wäre zu formulieren: Isolde ist ihm zugeordnet durch ihre Eigenschaft als Schönste (Brautwerbung), als Retterin (Feenmärchen), als vor dem Drachen Gerettete (Heilsbringermärchen II) - und als Markes ‚Tochter‘ (Heilsbringermärchen I). 107 Beides wären typisch märchenhafte Momente. 108 Nämlich das ererbte Land des Vaters, das im Kampf gegen Morolt verdiente des Onkels und das im Drachenkampf mitsamt der Hand der Prinzessin erworbene des Schwiegervaters. 109 Ihr Effekt ist also ebenfalls der einer narrativen Versinnfälligung in persuasiver Funktion. 110 In ähnlicher Tendenz bezeichnet Huber die Abwendung des märchenhaft-glücklichen Ausgangs als „einen zentralen Bruch in der Tristan-Fabel“ (2000 / 2001, S. 86). Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 241 242 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane Das Verhältnis von schematischer Suggestion und handlungsweltlicher Motivation als eines von narrativer Oberfläche und kompositorischer Tiefe zu beschreiben, liegt in diesem Zusammenhang gewiss nahe. Die narrativen Schemata, so wäre in diesem Sinne zu sagen, stehen mit aller Kraft der von ihnen erzeugten Notwendigkeit gegen eine gesellschaftliche Ordnung, die das Handeln der Figuren ‚oberflächlich‘ bestimmt und damit, wie man hinzufügen könnte, zugleich für die Macht jener Liebe, die dieses Handeln ‚untergründig‘ hintertreibt. Ihr verborgenes Wirken in einer - unterhalb der Wahrnehmungsschwelle verbleibenden - kompositorischen ‚Tiefe‘ des Erzählens tritt so in gewisser Weise für das ein, was es begründet, und vielleicht kann man sogar mit einigem Recht behaupten, dass es die Macht der Liebe im Medium der Dichtkunst imitiert: Es sorgt dafür, dass sich diese im Verlauf des Geschehens sozusagen heimlich heranschleicht, dass sie unbemerkt mehr und mehr von den Protagonisten Besitz ergreift und sie nach ihrem eigenen Recht und Gesetz schließlich zu einem Paar werden lässt. Oder, mit Blick auf das Wirkungskalkül des Erzählens formuliert: Hier werden Komposition und Erzählwelt so gegeneinander montiert, dass sie als Schema und Schemabruch definierend-aufmerksamkeitslenkend zusammenwirken. Der Punkt, auf den sie die Aufmerksamkeit lenken (und damit ‚ausrichten‘), ist eine Liebe, die in ihrer schematischen Verfasstheit unausweichlich und in ihrer Opposition zur Ordnung der erzählten Welt illegitim, wenn nicht verbrecherisch erscheint. Geht man auf der Basis dieser Überlegung noch einen Schritt näher an Eilharts Darstellung heran, so zeigt sich freilich rasch, dass die Identifikation von schematischem Wirken und handlungsweltlicher Motivation mit ‚Tiefe‘ und ‚Oberfläche‘ des Textes (auch) hier insofern nur bedingt zur Beschreibung taugt, als sie den von der Erzählung evozierten Eindruck gerade nicht wiedergibt. Es ist also keineswegs so, dass der schematische Nexus so lange unter einer anders motivierten Erzählhandlung verborgen bliebe, bis die durch ihn begründete Liebe die Grenze zur erzählten Welt durchbricht und dort ebenso plötzlich wie schicksalhaft Realität wird. Zwar werden die Implikationen der Schemata nämlich bis zum Moment des Minnetranks tatsächlich sorgfältig unterdrückt; sie werden aber - und das ist der springende Punkt - durchaus nicht von einer Handlung ersetzt, die das Geschehen als ein konsequent feudalrechtlich geregeltes begründen würde. 111 Eilharts Erzählung fehlt also über weite Strecken schlicht die ‚Oberfläche‘, und da sie deshalb bisweilen gar nicht motiviert zu sein scheint, stößt sie den Hörer, indem sie ihn dazu zwingt, sich selbst einen Reim zu machen, fast unweigerlich auf die unausgesprochenen Zusammenhänge der ‚Tiefe‘. 112 Oder genauer: Sie animiert ihn dazu, deren (nach der Logik der Ebenentrennung eigentlich rein kompositorischen) Suggestionen für erzählweltlich real zu halten. In dieser Eigenschaft treten sie dergestalt neben die punktuelle ‚Gegenmotivation‘ der feudalen Erzählwelt, dass sich insgesamt ein Bezugsfeld ergibt, in dem der Rezipient fast notwendig ins Zweifeln kommt, welche Gesetzmäßigkeit denn nun gilt: die der Komposition oder die eines vergleichsweise realistischen feudalen Gesellschaftssystems? Was auf diese Weise 111 Genau darin unterscheidet sich Eilharts Darstellung von jenem heldenepischen bzw. ‚spielmännischen‘ Erzählen, mit dem sie gern verglichen wird: Da Helden- und Spielmannsepen ganz offen von ihren Handlungsschemata getragen werden, haben sie es weder nötig, die schematische Gesetzmäßigkeit ihres Verlaufs zu verbergen, noch müssen sie sie durch eine andere Ordnung ersetzen. 112 Dies hebt auch Schultz als eines der wichtigsten Spezifika von Eilharts Darstellung hervor (1987a, bes. S. 594-600). entsteht, ist mit dem Begriff der Inkohärenz insofern nur sehr ungenügend erfasst, 113 als es keineswegs die Unfähigkeit des Dichters bezeichnet, einen kohärenten Zusammenhang zu erzeugen. Denn es ist - so zumindest meine These - von diesem planvoll konstruiert, um einen ganz spezifischen Effekt hervorzubringen. Zu beschreiben ist dieser Effekt wohl am besten als ein atmosphärischer. Indem Eilhart eine kompositorisch-schematische und eine erzählweltlich-politische Handlungsbegründung gleichermaßen andeutet, um sie dann gleichermaßen nicht durchzuführen, versetzt er die erzählte Welt nach und nach in einen Zustand, der dem berichteten Geschehen nicht einfach das Ansehen des Unwahrscheinlichen verleiht, sondern es der Regeln des Möglichen und Wahrscheinlichen zunehmend enthebt. Den Grund für diese Entwicklung legt Eilhart ganz am Anfang seiner Erzählung, dadurch, dass er den Status seines Protagonisten zwischen dem Gesetz des Schemas (Heldenjugend) und dem der feudalen Welt in der Schwebe lässt. Während ersteres, wie gesagt, impliziert, dass Tristrant zur Liebe geboren sei, weist Eilharts Darstellung in vielem auf eine Bestimmung zur Herrschaft hin: 114 Hier bleibt der Vater am Leben und sorgt für eine Erziehung, die ganz konventionell auf die Nachfolge in Lohnois gerichtet scheint. 115 Da Eilhart darauf verzichtet, die Beziehung der Eltern zu legitimieren, und die Mutter noch vor der Ankunft in Lohnois auf hoher See sterben lässt, weckt er zugleich jedoch auch Zweifel an Tristrants Herrschaftsfähigkeit: Zweifel, die begründen könnten, warum der Held sein Glück (vorläufig? überhaupt? ) woanders suchen muss, 116 und die, da sie auf der Handlungsebene nie auch nur andeutungsweise zur Sprache kommen, unterschwellig wirksam bleiben. Deshalb ist nun auch unklar, warum Tristrant den Vater verlassen und fremde land […] besehen will ( ET r 207). Will er, wie er Riwalin gegenüber - und hierin im Rahmen einer Vorstellung problemloser Erbfolge argumentierend - selbst anklingen lässt, die (zumindest im Roman) übliche Erziehungsphase des jungen Adligen am Hof eines Verwandten absolvieren? Deutet sich in seiner Bitte an, dass er nach (verwandten) Verbündeten auszieht, die ihn - weil seine Legitimität in Frage steht? - gegebenenfalls gegen innere Feinde unterstützen könnten? 117 Oder zieht es den Helden einfach schemagemäß an den Ort seiner Bestimmung? 118 Die Frage stellt sich umso dringlicher, als Tristrant an dieser Stelle mit keinem Wort verlauten lässt, dass er nach Cor nwa l l reisen will, und zwar inkognito: Ist dem Vater 113 Mit ihm - bzw. plastischer als Sorglosigkeit oder Kurzsichtigkeit der erzählerischen Verknüpfung - wird der Effekt, um den es mir hier geht, für gewöhnlich in der Forschung beschrieben: vgl. etwa Mohr 1976, Wolf 1989, S. 62-69, Keck 1998, S. 89-128, passim. 114 Dieser Umstand wurde in der Forschung häufig vermerkt und gedeutet: als Gattungsansage oder Indiz für Eilharts Stilisierung der Geschichte zum Staatsroman. Vgl. etwa Mertens 1987, S. 276, Müller 1990, S. 21-24, Keck 1998, bes. S. 85 f., S. 89-92. 115 Anders als beim Helden Gottfrieds stehen nicht gelehrte Bildung und Musik im Mittelpunkt des Curriculums, sondern die üblichen Fertigkeiten und Tugenden des adligen Ritters und künftigen Herrschers: reiten, ringen, schießen, fechten, höflich reden, großzügig und ehrlich sein. Das harpffen und singen wird zwar gleich zu Beginn (ETr 132) erwähnt, steht aber am Rande (ETr 126-184). 116 Man denke hierbei an Szenarien, wie sie aus Gottfrieds ‚Tristan‘ oder dem ‚Parzival‘ bekannt sind: Die zwielichtige Abstammung des Helden führt dazu, dass er von seinem Lehnsherren nicht anerkannt wird (Tristan) oder bedingt den Ausschluss von der Thronfolge (aus anderen Gründen: Gahmuret) - so oder so müsste er das Land auf der Suche nach Hilfe oder einer eigenen Herrschaft früher oder später verlassen. Zum Problem auch Schindele 1971, S. 15 f. 117 In diese Richtung könnte man Tristrants Aussage auslegen, er wolle zusätzlich zu den Leuten am Hof des Vaters fremde[] lút[] kennenlernen (ETr 212, vgl. Kurnewals Hinweis ETr 195). Will er sich diesen also verpflichten, damit sie ihm später helfen? 118 So Schindele 1971, S. 17 f. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 243 244 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane gleichgültig, wohin er fährt, oder hat er so viel Schemawissen, dass er sein Ziel ohnehin kennt? 119 Oder, was handlungsweltlich plausibel wäre: Verschweigt Tristrant zuerst das Ziel seiner Reise vor dem Vater und dann seine Identität vor Marke, weil zu befürchten steht, dass Marke sich noch immer für die Entführung Blanscheflurs rächen könnte? 120 Dass Tristrant unbedingt zu Marke will, könnte hier auf sein Vorhaben deuten, sich dem Onkel so weit zu verpflichten, dass er vom Feind zum Freund und Bündnispartner wird. Da von dieser Absicht indes ebenso wenig spürbar wird wie von einer Besorgnis des Vaters oder vom Vorbehalt Markes gegen seinen Neffen, könnte alles auch ganz anders sein. Etwa so: Tristrant verschweigt seine Herkunft, damit er sie später als Argument für seinen Kampf mit Morolt umso schlagender ins Feld führen und, wie es das Schema vorsieht, ihre Enthüllung mit seinem Hervortreten verbinden kann. Dass er das absichtlich tut, ist zwar eigentlich unmöglich, weil er von Morolts Forderung sowie von der Verkettung der Umstände bis zum Kampf an dieser Stelle noch gar nichts zu wissen vermag. Da aber vom tatsächlichen Grund seiner fortgesetzten Verheimlichung nichts verlautet, beginnt das Geschehen, eine eigene (finale) Sprache zu sprechen: Tristrant verbirgt seinen Namen, obwohl Markes Verhalten ihm keinerlei reellen Grund zu irgendwelchen Befürchtungen gibt, er lebt mehrere Jahre inkognito an dessen Hof, (wartet? ) bis Morolt auftaucht, um dann (und zwar noch bevor er weiß, dass es sonst niemand wagen würde, gegen diesen anzutreten! ) um seine Schwertleite zu bitten. - Heißt das nicht, dass er es von Anfang an auf den Kampf abgesehen hatte? 121 Und wenn die lange Geheimhaltung es ihm ermöglicht, die Enthüllung seiner Identität bei dieser Gelegenheit besonders spektakulär aufzuziehen: heißt das dann nicht, dass genau das sein Ziel war? Hat er sich planvoll als Retter des Reichs inszeniert, etwa, um sich auf diese Weise als Thronerbe zu empfehlen (oder gar den späteren ‚Raub‘ Isoldes zu rechtfertigen)? 122 Natürlich ist diese Unterstellung leicht zu entkräften, denn im Erzählbericht wird ja zumindest bei Tristrants letzter Aktion unzweifelhaft deutlich, warum er so handelt, wie er handelt: Er beauftragt die Fürsten des Rats damit, über seine Person zu schweigen, bis Marke ihnen freie Hand gegeben hat, weil er nur so sicher sein kann, dass beide Seiten ihn als Kämpfer akzeptieren ( ET r 594-601). Er kalkuliert dabei doppelt, mit dem Einspruch Morolts und dem Einspruch Markes, und kommt beiden zuvor: wenn er seinen Namen preisgibt, um Morolts Boten seine Ebenbürtigkeit zu beweisen, kann Marke nicht mehr zum Schutz seines Neffen einschreiten. Es ist Tristrant also, so Eilharts punktuell erzählweltliche Motivation, keineswegs (unbedingt) darum zu tun, sich Aufsehen erregend in Szene zu setzen, vielmehr tut er lediglich, was zur Durchsetzung seines Vorhabens notwendig ist. Die ausgeklügelte Strategie, mit der er vorgeht, weckt allerdings fast zwangsläufig den Verdacht, dass er auch schon alles andere listig geplant haben könnte. Eilhart könnte den Verdacht entkräften, indem er Tristrant einen anderen, eindeutig po- 119 Also den Ort der Bestimmung, Cornwall. Auch ersteres würde freilich auf das Schemawissen des Vaters hindeuten. Das Schema verlangt, dass der Held ‚weggeht‘; wohin, kann dem Vater umso gleichgültiger sein, als der Held schemagemäß nicht zurückkommt. 120 Das würde freilich nicht erklären, warum der Vater nicht fragt. Im Gegenteil: Gerade wenn er Grund zur Sorge hätte, müsste ihm sehr daran gelegen sein, das Reiseziel zu erfahren. 121 Das fragt sich umso mehr, als Tristrants Kampfwille im Text keine überzeugende Begründung findet. Zuerst müwet ihn der hochmůt Morolts (ETr 460), dann bringt er die Schande in Anschlag, die - ihn? Marke? ihn durch Markes Schwäche? - treffen würde, wenn sich kein Kämpfer gegen Morolt fände (ETr 474 f.). Marke widerspricht dem wenig später (ETr 646-673) und wundert sich selbst ‚ daß du nun wilt verliesen din leben, du en waist nicht durch waß ‘ (ETr 690 f.). 122 Dies entspräche dem Handlungsmuster, das ihm sein Vater quasi vorgelebt hat. litischen Grund für das Spiel mit dem Inkognito gibt (etwa die Angst vor Markes Rache). Da er dies jedoch unterlässt, gibt er Tristrant das Ansehen einer unwahrscheinlichen und fast schon übermenschlichen Hellsichtigkeit. Man könnte an dieser Stelle freilich auch sagen: Tristrants List ist gratis. Sie deutet auf keine andere Absicht als auf die eines Dichters, der so früh wie möglich die wichtigste Eigenschaft seines Helden herausstellen will. Die von mir markierte Unwahrscheinlichkeit der Handlung, der unbestimmte Eindruck, dass mit dem Geschehen, so wie es von Eilhart berichtet wird, handlungsmotivatorisch etwas nicht stimmt, hat indes gleichfalls charakterisierende Funktion: Sie bezeichnet das zentrale Merkmal des folgenden Handlungsberichts. Dieser unterscheidet sich vom vorangehenden nämlich zwar insofern, als er Tristrant anstatt mehr, nun viel weniger wissen lässt, als wahrscheinlich wäre. Die Unwahrscheinlichkeit als solche aber bleibt, und sie wird bis zum Äußersten ausgereizt. Der Grund ihres Zustandekommens ist derselbe wie zuvor. Die in der schematischen Konstruktion angelegten Zusammenhänge bleiben in der Handlung unrealisiert und werden auch dann nicht durch andere Motivationen ersetzt, wenn es sich angeboten, ja geradezu aufgedrängt hätte. Innerhalb der erzählten Welt scheint so gerade an Schlüsselstellen oft gar nichts mehr den Lauf der Ereignisse voranzutreiben, und der Erzähler vermag die Handlung nur dadurch noch im Geleise zu halten, dass er das, was in der Geschichte nun einmal geschehen muss, zufällig geschehen lässt. Ja mehr noch: Die besagten Zufälle finden nicht bloß handlungsweltlich unbegründet statt, sie werden vielmehr gegen das, was ganz selbstverständlich (also handlungsweltlich u nd schematisch) der erwartbare Gang der Dinge gewesen wäre, höchst umständlich aufgebaut. Das heißt, sie erscheinen nicht allein unwahrscheinlich, sondern zudem hochgradig konstruiert. 123 Als wichtigstes Beispiel ist hier auf die Brautwerbungsepisode zu verweisen, deren Unwahrscheinlichkeit schon Gottfried von Straßburg kritisiert hat. 124 Ihre Gestaltung kann in der Tat kaum anders als mit dem Wort Gottfrieds: alwære ( GT r 8616) bezeichnet werden. Eilhart berichtet, dass Marke verkündet habe, er werde nur die Besitzerin eines Haars zur Frau nehmen, das kurz zuvor zwei Schwalben in seinem Thronsaal zufällig hatten fallen lassen. Daraufhin habe sich Tristrant auf eine ziellose Suche begeben, sei durch einen Sturm zufällig nach Irland verschlagen worden, wo er quasi aus Versehen (weil ohne Kenntnis der Person) die auf die Hand der Königstochter ausgesetzte Freierprobe bestanden und dieselbe erst danach ganz zufällig (durch eine komplexe Verkettung von Umständen) als die Gesuchte identifiziert habe. Es ist unübersehbar, dass diese allein durch Zufälle verbundene Handlung völlig ungezwungen hätte ablaufen können, wenn Tristrant von Anfang an Isalde als die richtige Braut genannt, oder sie doch zumindest an ihrem Haar erkannt hätte. 125 Dass 123 Anders als zuvor gibt es hier also keinen Widerspruch zwischen einer implizit schematischen und einer implizit handlungsweltlichen Motivation; stattdessen wird eine Handlungsbegründung übersprungen, die beiden entsprechen würde, und durch eine Kette scheinbar willkürlicher Zufälle ersetzt. Der Eindruck des Konstruierten wird mithin weniger durch die Zufälligkeit der Ereignisse selbst erzeugt als vielmehr dadurch, dass dasselbe Ziel auch viel einfacher hätte erreicht werden können. 124 Gottfrieds Schelte der Schwalbenhaarepisode hat in der Forschung einige Aufmerksamkeit gefunden, vgl. dazu den Überblick bei Haug 2011, S. 478 f. 125 Für die (freilich spekulative) Annahme, dass Eilhart den Handlungsnexus seiner Vorlage hier absichtlich gestört haben könnte, lassen sich Argumente finden. Auffällig ist etwa, dass die Fahrt ins Ungewisse eigentlich zum Feenmärchen und damit zur ersten Irlandfahrt gehört ( imram ) - hier wirkt sie wie eine willkürliche Doppelung, die nur dazu da ist, den Lapsus des (hier entgegen den Vorgaben des Schemas unkundigen) ‚Kundigen‘ zu reparieren. Merkwürdig auch: als Tristrant in Irland gestrandet Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 245 246 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane er diese wichtigste Aufgabe eines Brautwerbungshelfers nicht erfüllen kann, ist gleichfalls das Ergebnis einer höchst unwahrscheinlichen Ereignisfügung: Obwohl Tristrant nach der Verwundung durch Morolt schon einmal zufällig nach Irland geraten und dort von Isalde geheilt worden war, hat er sie nie zu Gesicht bekommen. Denn, wie Eilhart eigens betont, die Kommunikation zwischen Ärztin und Patient (inklusive mehrerer Diagnose- und Therapieansätze) habe ausschließlich über Boten stattgefunden ( ET r 1192-1220)! Der qua Funktion und Rolle Wissende erscheint also in Markes Brautwerbungsrat nur deshalb als Unwissender, weil seine Bekanntschaft mit der Braut - die herzustellen die erste Irlandfahrt ja eigentlich da ist - zuvor umständlich verhindert wurde. Der Zweck dieser Operation ist leicht zu erraten: Sie soll jeden Kontakt des künftigen Liebespaars, jeden Blick, ja sogar das Wissen um die Existenz des jeweils anderen unterbinden, damit niemand auf die Idee kommen, geschweige denn behaupten kann, die Liebe würde auf der Handlungsebene in irgendeiner Weise vorbereitet. 126 Dies geschieht allerdings nicht, um den schematisch-kompositorisch vorgegebenen Nexus zu verbergen, sondern um ihn im Gegenteil nur umso deutlicher aufscheinen zu lassen. Denn die Umständlichkeit des Vermeidens weist ja unweigerlich auf das hin, was es verbirgt, und stößt so nicht bloß sogar noch den unbedarftesten Rezipienten mit der Nase darauf, dass am Ende eben doch alles auf die Liebe hinausläuft, sondern macht auch darauf aufmerksam, dass dieses Hinauslaufen-auf-die-Liebe narrativ-schematisch konstruiert ist. Gottfrieds Invektive gegen Eilharts Version der Geschichte ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie belegt, wie sehr dessen Strategie des hervorhebenden Vermeidens schon seinen Zeitgenossen ins Auge gefallen sein muss. Dies und der narrative Aufwand, den Eilhart betreibt, um seine Erzählung so unwahrscheinlich wie möglich zu machen, deuten darauf hin, dass es ihm kaum darum gegangen sein kann, die überlieferte Fabel nur irgendwie zum vorgegebenen Schluss zu bringen. Es scheint vielmehr, als zerstöre er ihren vorgegebenen Begründungszusammenhang absichtlich, um auf eine Künstlichkeit hinzuweisen, die sein Publikum sonst übersehen haben dürfte. Sein Ziel ist dabei meines Erachtens auch hier in erster Linie der atmosphärische Effekt. Die offenkundige Konstruiertheit des Erzählten soll die dargestellte Handlung gewissermaßen in ein unwirkliches Licht tauchen und ihr die Anmutung einer Welt geben, die nach eigenen, spezifisch dichterischen Regeln funktioniert. Dass sie darüber hinaus auch als poetologisches Signal wahrgenommen werden konnte (oder sollte), mag zwar sein, ist aber zum Erzeugen der definierenden Wirkung, um die es mir hier geht, nicht notwendig. 127 Wie diese Wirkung sich aus dem Eindruck der Künstlichkeit heraus entwickelt, wird deutlich, wenn man noch eine letzte Beobachtung hinzunimmt. Im Umfeld der Brautwerbungsepisode fällt nämlich auf, dass die unwahrscheinliche Zufallskonstruktion Eilharts zum wichtigsten Kontrahenten der Figuren wird. Nahezu alle Listen und klugen Pläne, die diese entwickeln, sind weniger gegen menschliche Opponenten gerichtet, als sie auf ist und, als Ausländer vom Tode bedroht, den Drachen besiegen will, weil ihm nur so die Huld des Königs gewiss ist, - da nennt der Erzähler plötzlich daß selb schön wib (ETr 1612) als zusätzlichen Kampfgrund: obwohl Tristrant ja gar nicht wissen kann, dass der Lohn des Drachenkampfs mit der Gesuchten der Brautwerbung identisch ist! Was will dieser also mit der ihm unbekannten und völlig gleichgültigen Königstochter? Scheint hier der unterdrückte Zusammenhang der Vorlage durch? 126 Etwas anders deutet Schindele 1971, S. 26-30. 127 Auch dies ist als Parallele zum poetischen Verfahren des ‚Erec‘ zu vermerken. die zufälligen Gegebenheiten reagieren, die ihnen ‚der Text‘ 128 sozusagen vorsetzt. Umgekehrt erscheinen auch die Zufälle der Handlung als Reaktion (‚des Textes‘) auf die Pläne der Figuren. So entsteht der Anschein, als würden die Figuren ihre eigenen Vorhaben verfolgen und ihre Geschichte selbstständig zu gestalten versuchen, dabei jedoch von der Konstruktion ‚des Textes‘ immer wieder ausgebremst, konterkariert, übertrumpft. Die fast schon ironische Dimension dieser Darstellungstechnik zeigt sich wiederum besonders am Beispiel der Schwalbenepisode. Marke ersinnt den Wunsch nach der Frau mit dem schönen Haar, weil er es für unmöglich hält, sie jemals zu bekommen. ‚Der Text‘ stellt sich der Herausforderung, indem er das vermeintlich Unmögliche in einer unwahrscheinlichen Reihung ganz unwahrscheinlicher Zufälle geschehen lässt. Ähnliches geht aus der Passage hervor, in der sich Isalde auf die Suche nach dem wahren Drachentöter begibt, weil sie die unehrenhafte Hochzeit mit dem Truchsess verhindern will. Der fast schon detektivische Spürsinn, den sie dabei an den Tag legt - und der von Eilhart mit einem bemerkenswerten Verständnis für kausale Zusammenhänge dargelegt wird 129 -, steht hier in deutlichem Kontrast zum Resultat ihres Ausflugs. Denn es gelingt ihr zwar, den Betrüger zu entlarven und ihre Ehre (vorerst) zu retten, doch gerät sie so ausgerechnet an den, der ihre Ehre später zerstören wird. 130 Der wichtigste Kontrahent des Zufalls ist aber zweifellos Tristrant selbst, der bei seinen zwei Irlandfahrten all seine Klugheit gegen die Widrigkeiten des Geschehens aufbringt und damit zunächst auch Erfolg zu haben scheint. Zweimal gibt er sich als gestrandeter Kaufmann aus (Pro, Kantris), um den Gefahren des Landes, in das ihn beide Male der Zufall verschlagen hat, zu begegnen; zweimal findet er das, was er gesucht hatte (Heilung, Braut), deshalb da, wo er auf gar keinen Fall hinwollte, und zweimal weiß er im Zuge dessen weitere Zufälle (Hungersnot, Drachenplage) geschickt für seine Zwecke auszunutzen. 131 Auf diese Weise erscheint er so lange als Sieger über den Zufall (und das heißt: ‚den Text‘), bis dieser in Gestalt des Minnetranks gleichsam seine letzte Karte auf den Tisch legt und ihn zu der Einsicht zwingt, dem ‚Gegner‘ die ganze Zeit in die Hände gespielt zu haben. Was Tristrant Schritt für Schritt erdacht hat, um gerettet und geheilt zu werden (Tarnung als ausgeraubter Kaufmann Pro), um wieder nach Cornwall zu kommen (Lebensmittelhilfe für die hungernden Iren), um der Rache des irischen Königs zu entgehen (Tarnung als Kaufmann und abermaliger Lebensmittellieferant Kantris, Drachenkampf), führt ihn schließlich in die verhängnisvolle Liebesbeziehung hinein. Die Zufälle, auf die er souverän zu reagieren 128 Ich sage ‚der Text‘, um weder ‚Eilhart‘ noch ‚die erzählte Welt‘ oder ‚die diese Welt regierende Instanz‘ sagen zu müssen, bzw. um anzudeuten, dass all diese Momente hier zusammenfallen: eben im Text. 129 Natürlich tut er dies nicht bloß der Plausibilisierung wegen, sondern zum einen, um Isalde als Spurenleserin zu profilieren (in Vorbereitung der Szene, wo sie Tristrant an der Schwertscharte als Mörder ihres Onkels erkennt), und zum anderen, um den Bildzusammenhang der Jagd zu entfalten (vgl. dazu Kap. III.3.3.3). Nichtsdestotrotz belegt die Stelle, dass Eilhart zur kausalen Motivation durchaus fähig ist. 130 Die Ironie des Schicksals wird wenig später noch einmal hervorgehoben, wenn Isaldes Vater Tristrants Verzicht auf die Braut mit dem Argument begrüßt, dass das Leid, das er ihr durch die Ermordung Morolts zugefügt habe, eine Liebe zwischen ihnen unmöglich machen würde (ETr 2246-2251). 131 Die Darstellung wirkt umso merkwürdiger, als die beiden Fahrten motivatorisch nicht verbunden werden, obwohl sich das (schon der epischen Ökonomie wegen) geradezu aufgedrängt hätte. Die Hungersnot als Folge der Drachenplage darzustellen, schiene schlicht konsequent, ebenso wie es nur konsequent wäre, wenn Tristrant sich zweimal als derselbe Kaufmann ausgeben würde (der zurückkehrt, weil er von der Hungersnot weiß! ). Dass beide Zusammenhänge nicht realisiert werden, verstärkt den Eindruck der Umwegigkeit ganz erheblich. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 247 248 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane meinte, erweisen sich so als fester Bestandteil eines größeren Plans; eines Plans, der sein listiges Handeln gezielt herausfordert, um das Geschehen auf verschlungenen Pfaden zu einem (von ihm) unvorhersehbaren Ende zu bringen: Der Zufall (‚der Text‘), so scheint es, hat Tristrant beim ersten Mal nach Irland gebracht und unbemerkt eine erste Verbindung zu Isalde hergestellt; der Zufall hat ihn nach Cornwall zurück- und das Haar Isaldes in Markes Thronsaal hineinbefördert; der Zufall hat ihn erneut nach Irland geführt, hat ihn die richtige Frau finden und die Werbung gelingen lassen; und der Zufall hat auch den Minnetrank kredenzt; - und alles nur, um Tristrant und Isalde erst zu Patient und Ärztin, dann zu Brautwerbungshelfer und Braut, weiter zu Retter und Geretteter und schließlich zum ehebrecherischen Liebespaaar zu machen. Es liegt gewiss nahe, den auf diese Weise agierenden Zufall in die Nähe eines Schicksals zu rücken, das ein narratives Substitut des Mythos ist: Der Zufall bewirkt und erklärt die Liebe, der Zufall lässt das Entstehen der Liebe als (mehr oder weniger) sinnfällig erscheinen, und der Zufall repräsentiert auch die Macht, die unter dem Namen ‚Liebe‘ von den Protagonisten Besitz ergreift. Da er allerdings so überdeutlich als ‚künstlich‘ (als ‚List des Textes‘) vorgeführt ist, wird es dem Rezipienten schwergemacht, in ihm ein ‚echtes‘, also auch in der erzählweltlichen Wirklichkeit waltendes (Liebes-)Schicksal zu erkennen. Im Grunde lässt die Darstellung mithin keinerlei Zweifel daran, dass es sich bei der Liebe, die hier zufällig hereinbricht, nicht um einen (vorgeblich) natürlichen Vorgang, sondern um ein narratives Konstrukt handelt. Das sprunghafte, um Begründungen wenig bekümmerte, rein faktische Erzählen Eilharts, das man zunächst für einen Mangel an handwerklichem Geschick halten könnte, erweist sich somit als ein - uns vielleicht wenig elegant scheinendes, aber nichtsdestotrotz höchst wirksames - Instrument, um den Übergang vom Mythos zur Dichtung, der, wie oben erörtert, in der Konstruktion der Vorgeschichte bereits angelegt ist, narrativ zu vermitteln. Indem Eilhart die Liebe als ein Produkt der Dichtung (also als narrativ herbeigeführt) kennzeichnet, distanziert er sie von der Erfahrungsrealität seiner Hörer und legt so den Grund einer Auseinandersetzung, die diese Liebe (statt z. B. als Gefahr) in erster Linie als Problem begreift. Dabei nimmt er nicht nur den erklärenden Gestus des Mythos auf, um ihm innerhalb der eigenen Darstellung eine neue Funktion zu verleihen; er lässt schematisch-kompositorische und erzählweltlich-realistische Motivationen auch so ineinanderfließen, dass sie das Wirken der Liebe, wie eingangs gesagt, narrativ imitieren, es aber zugleich in den Bereich der Dichtung verlegen. Dass die Liebe in quasi-mythischer Weise als numinose Schicksalsmacht wirkt, erscheint nun aufgrund ihres Konstruktionscharakters als eine Nachahmung, die mit den Mitteln der Kunst - und damit ‚künstlich‘ - darauf hinweist (also: die Aufmerksamkeit des Rezipienten darauf ‚richtet‘), was ihre Problematik ausmacht. Die Heimlichkeit, mit der die Liebe herangeschlichen kommt, die Plötzlichkeit, mit der sie hereinbricht, der Zwang, den sie auf die von ihr Betroffenen ausübt, die Unerbittlichkeit, mit der sie deren Lebenspläne vernichtet, all das definiert sie als Problem: Als jenes Problem, das Eilhart seinem Publikum hier deutlich vorführen und in seinen wichtigsten Merkmalen verständlich machen will, um es anschließend nicht nur effektiver verhandeln und auflösen, sondern auch mit einem intuitiven Verstandenwerden rechnen zu können. Wie er dieses Ziel erreichen will, soll auf den nächsten Seiten deutlich werden. Ich setzte dafür ein weiteres Mal bei einem Punkt an, der voranstehend schon mehrfach angerissen wurde: bei den Wiederholungsstrukturen des Tristanromans und der Frage, wie sie von Eilhart gestaltet werden. 3.3.2 Wiederholung und Argumentation 3.3.2.1 Dreiweg Wie weitgehend der Aufbau des Tristanromans dem des ‚Erec‘ ähnelt, deutet sich schon auf den ersten Blick an, und wird, je näher man ihn betrachtet, desto genauer erkennbar. 132 Grundlegend für die Gesamtstruktur ist auch hier jene Zweiteiligkeit der Handlung, die man im ‚Erec‘ den ‚Doppelweg‘ nennt: Der Dichter, der den Tod Tristans und Isoldes nach ihrer Flucht von Markes Hof zunächst verhinderte und ihrer Liebe durch die Ergänzung des zweiten Handlungsteils eine neue Chance gab, 133 hat damit auch den ‚Weg‘, den sie beschreiten, dupliziert. Dieser unterscheidet sich von Erecs Weg im Prinzip zunächst einmal hauptsächlich dadurch, dass er sich nicht zur zweifachen Folge von Ab- und Wiederaufstieg formt, sondern umgekehrt einen Doppelkreis von Auf- und Wiederabstieg bildet. 134 Nachdem Isolde zu Marke zurückgekehrt ist und Tristan sich in Karkes eine zweite Existenz aufgebaut hat, fährt er erneut übers Meer, um Isolde in neuen Listen wieder zu erwerben. Im Zuge dessen müssen sich die Liebenden erneut der Intrigen des cornischen Hofes erwehren, werden abermals entdeckt und müssen wieder (diesmal nacheinander) das Land verlassen, wobei die Fahrt, die Isolde zuletzt mit ihrem Geliebten vereint, anstatt wie zuerst nur in den gesellschaftsfreien Raum des Waldlebens, nun in den „radikal anderen Außenraum der Liebe“, 135 sprich: in den Tod führt. Wie im ‚Erec‘, so lässt dieser zweite Kreis das Thema des Romans in einem anderen Licht erscheinen. Während Erec Liebe und Herrschaft erst vorläufig und dann endgültig, zunächst im Dienst des Artushofs und später für sich selbst, zuerst allein und später gemeinsam mit Enite gewinnt, wird die Liebe im zweiten Teil des Tristanromans dadurch eine andere, dass die Wirkung des Minnetranks abgeschwächt ist und die zwanghafte so einer freiwillig(er)en Bindung Platz macht. 136 Tristan kehrt darum zwar zu Isolde zurück, muss sich aber, da seine Liebe nun unter einem anderen Vorzeichen steht, in ganz neuer Weise um sie bemühen. Den Charakter der daraus entstehenden Beziehung in Termen der höfischen Dienstliebe zu formulieren (deren Konzeption bekanntlich maßgeblich vom Ideal der Freiwilligkeit bestimmt ist), liegt gewiss nahe; ob der Dichter des ‚Ur-Tristan‘ diese Option schon hatte und umsetzte, 137 sei dahingestellt. Sicher ist nur, dass auch er den zweiten Teil des Romans bereits in einer Weise untergliederte, die diesen, 132 Ich schließe an meine Überlegungen in Kap. III.3.1 und III.3.2.2 an. 133 Also - wie schon gesagt - der Dichter der estoire . 134 Dem doppelten Verlust und Wiedergewinn von Ehre und gesellschaftlichem Status im ‚Erec‘ steht also der doppelte Gewinn und Verlust der Ehre / der Liebe / des Lebens im Tristanroman gegenüber. Diese Umkehrung kann natürlich allein formal mit einem simplen ‚nur‘ abgetan werden. Hinsichtlich des mit ihr verbundenen Sinns markiert sie nicht weniger als die Verkehrung des optimistischen „Deszensusmärchen[s]“ (Kuhn 1973 / 1980, S. 20) in ein pessimistisches Verlaufsmodell, das man - darin Worstbrocks Überlegungen zu Gottfrieds ‚Tristan‘ folgend - mit dem Stufengang des Fortunarades assoziieren mag (Worstbrock 1995, bes. S. 38, 50 f.). Die Anlehnung ist freilich bei (Thomas und) Gottfried deutlicher. Vgl. dazu meine Überlegungen in Kap. III.3.4.2.2. 135 Strohschneider 1993, S. 61. 136 Zum Wandel der Liebeskonzeption im zweiten Romanteil zuerst Schoepperle 1913 / 1960, S. 448-460, danach etwa Ranke 1925, S. 29-34, Mohr 1976, S. 74 f., Mikasch-Köthner 1991, S. 27-30, Mertens 1996, S. 370, Keck 1998, S. 37, Schausten 1999, S. 52-62, Küenzlen 2010, S. 46-54. 137 Das behauptet Ranke 1925, S. 30 f. Bei Eilhart spielt der Dienstgedanke eine gewisse Rolle (dazu bes. Mertens 1996, S. 369 f.), die Liebesdarstellung im zweiten Romanteil wird aber meist trotzdem von der höfischen Dienstliebe abgerückt. Vgl. Müller 1990, S. 26-30, Mikasch-Köthner 1991, S. 101-103, Keck 1998, S. 120. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 249 250 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane wie es auch im zweiten Teil des ‚Erec‘ der Fall ist, nochmals in zwei strukturell aufeinander bezogene Hälften teilt. Der Analogie sind hier zwar insofern Grenzen gesetzt, als die Teilung, die der Dichter des Tristanromans vornimmt, nicht den Weg des Protagonisten durch den Raum der erzählten Welt, sondern, wie bereits angedeutet, in erster Instanz den Raum dieser Welt selbst betrifft. 138 Das Prinzip ist jedoch insofern identisch, als auch diese Teilung zugleich eine thematische Analyse und eine Umkehr markiert. Dabei reagiert sie, wenn auch nicht auf dasselbe, so doch auf ein weitgehend gleichartiges Problem, und sie geht es nicht minder grundsätzlich an. In beiden Texten mündet der erste Handlungsteil in eine Situation, in der sich die Protagonisten, weil sie ihr (Liebes-)Bedürfnis in irgendeiner Weise nicht mit den Erwartungen der Gesellschaft vereinbaren können, von dieser separieren; in beiden Texten markiert diese Situation eine fundamentale Krise ( verligen / Waldleben); und beide reagieren darauf - quasi thesenhaft - in einer Weise, die die thematische Komplexion von Liebe und Gesellschaft in eine neue, inverse Konstellation bringt. Während Erec seine vormalige Präferenz für die eigenen Bedürfnisse mit der Ausfahrt aus Karnant in den Impetus völliger Selbstlosigkeit umschlagen lässt, sucht Tristrant die Lösung nach dem Waldleben darin, die Anforderungen von Liebe und Gesellschaft - da sie sich offenbar nicht miteinander vereinbaren lassen - auf zwei voneinander geschiedene Bereiche zu verteilen. 139 Dabei ordnet er die Liebe dem für ihn nunmehr herrschaftsfreien Raum Cornwalls und der ersten Isalde (also seiner Geliebten), die Herrschaft hingegen dem für ihn liebesfreien Raum Karkes und der zweiten Isalde (also seiner Ehefrau) zu. Dass ein erneuter Zusammenfall der beiden Bereiche aus Tristrants Sicht weder notwendig noch wünschenswert ist, verdient in diesem Zusammenhang insofern besondere Beachtung, als es den wichtigsten Unterschied seines Lösungsansatzes bezeichnet. Weil es ihm anders als Erec nicht darum geht, Liebe und Gesellschaft gegeneinander zu vermitteln, ja mehr noch: weil der Erfolg seiner These im Gegenteil sogar davon abhängt, dass es ihm gelingt, diese Vermittlung zu verhindern, 140 steht sein Ansatz dem ausgleichend-erörternden Erecs als ein nur-analytischer gegenüber; - der ‚Tristrant‘ unterscheidet sich also bei identischem Zugriff auf sein Thema (‚regierender Modus‘ der Argumentation) in der Art und Weise, in der er dieses entfaltet (d. h. in der Argumentationsstrategie). Damit einher geht eine Handlung, die sich statt wie im ‚Erec‘ als verdoppelter Kursus, eher als ein verdoppeltes Leben gestaltet, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn nämlich Tristrant - statt wie im ersten Handlungsteil als Gefolgsmann des Königs und illegitim Liebender zugleich - in Cornwall als Geliebter Isaldes und in Karkes als Schwiegersohn des Königs Havelin agiert, dann führt er nichts anderes, als das, was man landläufig als Doppelleben bezeichnet. 141 Dass diese Benennung mehr ist als ein bloßes Wortspiel, dass sie vielmehr zumindest das von Eilhart beim Aufbau des zweiten Handlungsteils sinnbildend angewendete Struk- 138 Strohschneider 1993, bes. S. 58-61, vgl. Kap. III.3.2.2. 139 Der Umkehrschluss geht also auch hier mit einer distinctio einher - die freilich im Fall Tristrants sehr viel weniger subtil erscheint als im ‚Erec‘, wo der Konflikt zwischen Liebe und Gesellschaft, wie vorn gezeigt, nicht schlicht auseinanderdividiert, sondern in thematische Aspekte zerlegt wird (vgl. Kap. III.2.2.2.3). Vielleicht kann man in diesem Sinne sagen, dass Tristrants Scheitern insofern von vornherein programmiert ist, als er es sich zu leicht macht. Dagegen wäre einzuwenden, dass die einfachere Lösung nicht unbedingt die schlechtere sein muss. Am Ende zählt die Probe aufs Exempel. 140 So auch Strohschneider 1993. 141 Ich schließe hier an meine eigenen Überlegungen an (Kropik 2015). turprinzip präzise beschreibt, wird im Folgenden zu zeigen sein. Grundlage meiner Überlegung ist die Beobachtung, dass im zweiten Teil des ‚Tristrant‘ nicht allein die Handlungsräume und -rollen unter verschiedenen thematischen Vorzeichen gedoppelt sind, sondern dass in ihnen jeweils die gesamte Handlungsfolge des ersten Textteils in ihren wesentlichen Stationen wiederholt wird. Ganz ähnlich wie Erec, so durchläuft mithin auch Tristrant ein zunächst scheiterndes Geschehen zwei weitere Male, mit dem wesentlichen Unterschied, dass die damit verbundene Handlungsfolge sozusagen biographisch interpretiert ist. Das heißt mit anderen Worten: Während Erec sein Problem bewältigt, indem er Liebe und Gesellschaft auf einem festgelegten Stationenweg von Ort zu Ort voranschreitend zweimal in ein neues Verhältnis und schließlich (mit Hilfe der ihn leitenden Erzählinstanz) ins Gleichgewicht bringt, resultiert Tristrants Entschluss, die in seinem ersten Leben so unheilvoll verschlungenen Bereiche auseinanderzuhalten, darin, dass er dieses Leben als ein geteilt-verdoppeltes Punkt für Punkt bzw. Station für Station ein zweites Mal führt. Das Prinzip der gedoppelten Wiederholung fügt sich damit hier in einen Handlungsverlauf, den man in Anlehnung an Erecs Doppeleinen ‚Dreiweg‘ nennen könnte, denn es bedingt, dass im Verlauf von Tristrants Leben - unter der Voraussetzung zuerst des Zusammenfalls, dann der Trennung von Liebe und Gesellschaft - (fast) alles dreimal geschieht: 142 Dreimal kommt Tristant in einen Herrschaftsbereich, in dem er sich durch seine Taten als Bester erweist; dreimal wirbt er um eine Frau namens Isalde; dreimal mündet seine Werbung in eine Beziehung, die in einer betrügerischen Liebesnacht zugleich begründet und entwertet wird; dreimal gerät er dadurch in eine Abwärtsspirale aus Verleumdung, Huldverlust und Verbannung; dreimal kann er sich vorerst entlasten und an den Hof zurückkehren, und dreimal fällt er schließlich seinen Feinden zum Opfer und muss die Gesellschaft, innerhalb derer sich seine Beziehung abspielte, am Ende verlassen. Natürlich kommt an dieser Stelle sofort die Frage auf, warum Tristrants Lebensweg, wenn die thematische Separation von Liebe und Herrschaft denn die Lösung seines Problems sein soll, in den Wiederholungen des zweiten Handlungsteils eigentlich keinen positiveren Verlauf nimmt. Sie sei jedoch zurückgestellt, um im nächsten Abschnitt ausführlicher behandelt zu werden. Hier geht es zunächst einmal darum, die Dreiteilung als solche plausibel zu machen. Zu diesem Zweck sei das bei Eilhart vorliegende Muster von Tristrants Leben zuerst in seinen Eckpunkten notiert: 1. Tristrant erweist sich in irgendeiner Hinsicht als Bester (thematische Definition des Helden)  Aufstieg 2. Bindung an einen Herrscher 3. Werbung um Isalde 4. Betrügerische Liebesbzw. Hochzeitsnacht Wende 5. Verleumdung, Huldverlust, Verbannung vom Hof  Abstieg 6. Unschuldsbeweis, Rückkehr, Stabilisierung 7. Erneute Verleumdung, Entdeckung, Flucht Zugegeben: Die Behauptung, dass Tristrants Leben auf der Basis dieses Schemas als ein Stationenweg in der Art des ‚Erec‘ gelesen werden könne, mag beim Leser Zweifel wecken - Zweifel, die erneut auf den zu Beginn des Kapitels ( III .3.1) besprochenen Gegensatz 142 Das hier angedeutete Muster wird gleich noch einmal genauer aufzuschlüsseln sein. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 251 252 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane zwischen der ‚frei komponierten‘ Struktur des ‚Erec‘ und der ‚gewachsenen‘ Form des Tristanromans zurückführen. Ihnen sei entgegengehalten, dass die Dichotomie ‚Wachstum‘ vs. ‚Komposition‘ hier schon allein deshalb nicht trägt, weil Eilhart sie bereits durch geringe Eingriffe in seine Vorlage überspielen konnte. Sprich: Es ist ohne weiteres denkbar, dass er die Doppelungen, die er dort (da sie den Stoff generell prägen) mit Sicherheit vorgefunden haben muss, aufgegriffen und im Sinne des ‚Erec‘-Modells (dieses also vor- oder nachbildend) weiter ausgebaut hat. 143 Zu dieser Annahme passt, dass das Muster des Tristanlebens bei ihm in der Tat sowohl sehr viel allgemeiner formuliert ist als auch im Einzelnen nicht immer ganz scharf hervortritt; und zu ihr passt auch, dass er dessen Stationen nicht nur unterschiedlich und bisweilen nur andeutungsweise realisiert, sondern sie zudem in ein Geschehen integriert, das nicht vollständig im Muster aufgeht und immer wieder Spuren nachträglicher Bearbeitung bzw. gezielter ‚Stilisierung‘ erkennen lässt. All dies kann dabei übrigens, muss sich aber keineswegs auf den sinnbildenden Effekt der Wiederholung auswirken. Denn mehr als auf die systematische Durchführung der Handlungswiederholungen kommt es (auch) in diesem Kontext auf deren Auffälligkeit an. Eilhart konnte also durch den Einsatz entsprechender aufmerksamkeitslenkender Signale ohne weiteres sicherstellen, dass seinem Publikum die Operation der thematischen Teilung und Wiederholung des Tristanlebens nicht weniger deutlich vor Augen stand, als dem Publikum des ‚Erec‘ die Operation des erörternden Abschreitens vom Argumenten. Von dieser Feststellung ausgehend möchte ich die drei Durchgänge des ‚Tristanlebens‘ auf den nächsten Seiten etwas detaillierter nachzeichnen. Um sowohl den Schematismus der Handlung als auch seine sinnbildende Wirkung möglichst deutlich werden zu lassen, gehe ich dabei über eine bloße Bennennung der einzelnen Stationen weit hinaus. So werde ich vor allem mehrfach danach fragen, wie Eilhart die Erzähltradition überhaupt schematisiert - sie also in ein nach Stationen gegliedertes und als solches wiedererkennbares Schema eingehen lässt (bzw. geradezu in dessen Sinne ‚umbaut‘) -; sowie natürlich danach, wie er die einzelnen Durchführungen seines Schemas so auf die Themen von Liebe und Herrschaft bezieht, dass sie als von diesen besetzt erscheinen. Der Übersichtlichkeit halber stelle ich die drei Realisationen des Schemas dafür nacheinander dar; wie seine beiden thematisch separierten und zugleich narrativ ineinander verschränkten Durchführungen im zweiten Handlungsteil mit Blick auf Tristrants These argumentativ koordiniert werden, wird dann, wie schon gesagt, im nächsten Abschnitt eingehender zu erläutern sein. a) Um den ersten Handlungsteil als Realisation eines schematisch angelegten (Lebens-) Wegs zu begreifen, ist es unerlässlich, ihn sozusagen von hinten her, auf der Folie seiner Wiederholungen im zweiten Teil des Textes zu betrachten. Dass die Rückübertragung der dort ausgeführten Handlungsstationen die Komplexität der narrativen Struktur vom Beginn erheblich reduziert, ist dabei nicht zu übersehen. Die Verknappung auf einige wesentliche, wiedererkennbare Punkte dürfte indessen der einzig gangbare Weg gewesen sein, um die schematische Verkettung des ersten und die episodische Reihung des zweiten Handlungsteils unter einem gemeinsamen Formprinzip zu subsumieren. In dieser Perspektive werden Heldenjugend, Reichsrettung und Brautwerbung zu Programmpunkten, die wie alle anderen inhaltlich-funktional bestimmt sind: Sie kehren im Schema des Tristanlebens als thematische Definition des Helden (= Heldenjugend), als dessen Bindung an den Hof eines Königs (= Heilsbringermärchen) sowie als Werbung um Isalde wieder (= Brautwerbung). 143 Vgl. zum Datierungsproblem den Schluss von Kap III.3.2.2 mit Anm. 84. Hinzu kommt der auf den ersten Blick vielleicht überraschende, bei näherem Hinsehen jedoch leicht zu begründende Umstand, dass der Minnetrank aus dem Wiederholungsmuster herausfällt und durch die Ereignisse der Hochzeitsnacht mit dem Betrug an Marke ersetzt wird: Da die Änderung der Liebeskonzeption im zweiten Teil des Romans den Verzicht auf den Minnetrank erfordert, ist es nur konsequent, das dadurch freiwerdende Zentrum der Handlung auf die folgenden Ereignisse zu verlegen. Eilhart betont den verschobenen Fokus, indem er die Szene schon im ersten Handlungsdurchgang hervorhebt und ihre Äquivalente auch in den Wiederholungen besonders markiert -; er versieht die Strukturstelle, an der sich die Lebenskurve seines Protagonisten dreifach zum Schlechten wendet, also mit einer Art epischem Doppelpunkt. Folgt man diesen Überlegungen, so stellt sich das Geschehen des ersten Handlungsteils dar wie folgt: Thematisch steht es im Zeichen eines Liebeszwangs, der zerstörerisch in die Zusammenhänge eines verwandtschaftlich-feudal geprägten Herrschaftssystems eingreift und letztlich allen Beteiligten zum Verhängnis wird. Die unheilvolle Wirkung der Liebe zeigt sich dabei schon an Tristrants Mutter, die die Regeln der feudalen Eheschließung (vgl. ET r 88-90) nicht befolgt und ihren Sohn deshalb in eine höchst schwierige Lage hinein gebiert. Er ist zwar legitimer Erbe seines Vaters, als Spross einer unehelichen Beziehung aber nur beschränkt herrschaftsfähig. 144 Folgerichtig erscheint er schon bei seiner Geburt als eine Figur, deren Existenz von Liebe und Herrschaft in widersprüchlicher Weise bestimmt ist und die in all ihrem weiteren Handeln von diesem Widerspruch geprägt scheint (I.1). Die Reise an Markes Hof steht dann zunächst wieder im Zeichen der Herrschaft: Indem Tristrant das cornische Reich gegen Morolt verteidigt, gelingt es ihm, als nächster Verwandter (und Thronfolger) in den Herrschaftsverband des Onkels integriert zu werden (I.2). In dieser Eigenschaft begibt er sich nach Irland, um Isalde als Braut für Marke zu werben (I.3). Bevor er sie diesem als rechtmäßige Ehefrau übergeben kann, tritt nun freilich - in Gestalt des erzählstrukturell unbezeichneten Minnetranks - erneut die Liebe in den Herrschaftskontext ein. Ihretwegen kommt es zum Verrat an Marke, der in der Hochzeitsnacht (I.4) zum Charakteristikum der Liebesbeziehung wird. Wohl nicht zufällig findet sich an dieser Stelle der einzige Erzählerkommentar, der Tristrants Verhalten explizit verurteilt: Er dient dazu, das Problem des ersten Handlungsstrangs zu markieren. Als Tristrant Brangäne ins Bett des Königs bringt, heißt es: daß waß die maist trúg, die Trÿstrand ÿe getet, wann er recht an der stet lag bÿ siner frowen. untrúw waß dar an nicht schowen, wann er tet eß sunder danck: der gar unselig tranck hett eß dar zů braucht. ( ET r 2838-2845) 145 144 Vgl. Kap. III.3.3.1. 145 Die Widersprüchlichkeit der Formulierung irritiert zweifellos: Was ist ‚Betrug ohne Untreue‘? Und: wäre das Vergehen geringer gewesen, wenn Tristrant zu einen anderen Zeitpunkt mit Isalde geschlafen hätte (so Keck 1998, S. 101)? Offenbar sind solche Fragen der Logik des Textes nicht angemessen: der Erzählerkommentar hat allein bezeichnende Funktion. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 253 254 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane Markante Versatzstücke der Szene werden im zweiten Durchgang des Tristanlebens wieder auftauchen. An dieser Stelle erhält sie zunächst einmal dadurch besonderes Gewicht, dass sie den folgenden Abstieg einleitet. Brangäne ist die erste, die der Liebe Tristrants und Isaldes zum Opfer fällt. Danach macht sich deren Einfluss auf das Ansehen der Liebenden bemerkbar. Als Marke sie in inniger Umarmung vor seinem Bett antrifft, beschuldigt er Tristrant als ungetrúwe[] ( ET r 3272), entzieht ihm die Huld und verbannt ihn vom Hof (I.5). 146 In der anschließenden Baumgartenszene gelingt es Tristrant, seine Unschuld zu beweisen, 147 woraufhin Marke ihn nicht nur zurückholt, sondern auch sein Bett in der königlichen Kemenate aufschlagen lässt: quasi als Zeichen seiner Rückkehr in die Nähe des Königs, 148 zugleich aber auch der integralen Verbindung von Liebe und Herrschaft. Dass Marke die Liebe damit „billigt“ und Tristrant sogar die „Lizenz zum Ehebruch“ gibt, bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem, dass die Beziehung in einen Zustand relativer Stabilität übergeht (I.6): 149 Sie hat sich als eine Liebe ‚im Innern‘ der Herrschaft gefestigt und wird als solche von Eilhart - wenngleich nur in zwei Versen - auf Dauer gestellt: mit der kúngin hett er gemach alß dick, alß er wolt ( ET r 3770 f.). - [B]iß , so schließt er an ( ET r 3772), zu dem Tag, an dem die Verleumdungen wieder einsetzen, Tristrant und Isalde in der Mehlstreuszene erneut ertappt, gefasst und zu jenem Prozess geschleppt werden, der, wenn sie nicht geflohen wären, zweifellos mit ihrem Tod geendet hätte (I.7). Im Verlauf des darauffolgenden Waldlebens wird die Verbindung von Liebes- und Herrschaftshandeln wieder aufgehoben. Dabei wird Tristrant gleich in zweierlei Hinsicht befreit. Die Abmilderung der Trankwirkung dispensiert ihn vom Liebeszwang, und Markes symbolträchtige Zurücknahme des Schwertes, das er ihm verliehen hatte, enthebt ihn der verwandtschaftlichen Treuepflicht. 150 Eine Rückkehr in die alte Stellung an Markes Hof ist damit zwar undenkbar, 151 zugleich aber gewinnt Tristrant die Möglichkeit, sein Leben, das heißt: seine Liebesbeziehung und seine Treuebindungen neu zu ordnen. Er nutzt die Chance und entscheidet sich für eine räumliche Trennung der Bereiche. Anstatt, wie es ja theoretisch immerhin denkbar gewesen wäre, 152 Cornwall endgültig den Rücken zu kehren und in der Ferne danach zu streben, Liebe und gesellschaftliche Verpflichtung in einen anderen Zusammenhang zu bringen (dies entspräche dem Entwurf Chrétiens und Hart- 146 Strohschneider betont, dass Marke von nun an von der Liebe weiß (1993, S. 51). In der Tat ist der Text kaum anders zu deuten (vgl. ETr 3250-3275). 147 Das widerspricht dem Wissen Markes insofern nicht, als ‚Unschuld‘, wie Müller zeigt, nur heißt, dass es Tristrant in der Szene gelingt, „aus dem potentiellen Kläger Marke einen Angeklagten [zu] machen, der die Verdienste seines Gefolgsmannes schlecht lohne“ (1990, S. 24). Tristrant ist vor Marke unschuldig, so lange seine Verfehlung nicht öffentlich sichtbar ist. 148 Ebd., Anm. 8. 149 Strohschneider 1993, S. 51. Strohschneider hebt die Bedeutungshaftigkeit der Szene hervor, indem er sie überdies als „Sinnbild von Markes Interiorisierungsstrategie“ bezeichnet (ebd., S. 52). 150 In der Diskussion um die Bedeutung des Schwerttausches trifft Strohschneider sicher das Richtige: Wenn Marke Tristrant dieses Schwert raubt (das ja auch das des Moroltkampfes und der Brautwerbung ist), dann „[nimmt er] konkret den Werbungsauftrag zurück[] und [usurpiert] jene Rechte […], die der Werbungshelfer als Drachentöter an der irischen Prinzessin erworben hatte“ (1993, S. 55, gegen Haug 1973 / 1989, S. 247-251). Hinzuzufügen ist, dass Marke nicht nur Tristrants Schwert an sich nimmt, sondern auch sein eigenes zwischen die Liebenden legt, was heißt, dass er sein Recht auf Isalde geltend macht (weil nun das Schwert des Königs die Liebenden trennt) und zugleich sein Recht auf Rache aufgibt (weil er als König auch Richter ist). 151 Eilhart betont das, indem er Tristrants Versuch, in Markes huld zurückzukehren, spektakulär scheitern und im endgültigen Bruch enden lässt (ETr 4914-4977), vgl. dazu Müller 1990, S. 26 f. 152 Das heißt: in einer anderen Geschichte - denn in der von Tristan geht das natürlich nicht. manns), sucht er die Liebe nach wie vor bei ‚seiner‘ Isalde und versteht die Ehe mit der ‚anderen‘ Isalde zugleich allein als Zeichen seiner Bindung an den Herrschaftsverband in Karkes. b) Der Beginn des zweiten Handlungsdurchgangs, in dem Tristrant zunächst zu König Artus geht und in dessen Schutz ein erstes Mal nach Cornwall zurückkehrt, gilt mit einigem Recht als der vielleicht erratischste Teil von Eilharts Text. Da er in allen anderen greifbaren Versionen des Romans kein Äquivalent hat und zudem für dessen Verlauf eigentlich funktionslos ist - Tristrant braucht zwar die zweite Isalde, doch könnte er, um sie zu finden, auch ohne Umweg über den Artushof nach Karkes reisen -, darf man ihn wohl als stofflichen Zusatz ansprechen. 153 In dieser Eigenschaft ist er für das Verständnis von Eilharts thematischem Arrangement von höchster Bedeutung, und in der Tat stellt er in gewisser Weise den Schlüssel für dessen Interpretation des Tristanstoffs dar. In diesem Sinne wäre anzunehmen, dass Eilhart die Ereignisse, die seinen Protagonisten zum Schwiegersohn des Herrn von Karkes werden lassen ( III .1-3), in Analogie zu seiner ersten Karriere an Markes Hof gesetzt (I.1-3) und sie durch eine Passage ergänzt hat, die ihn in einer Weise erneut zum Liebenden macht, die die thematische Unterscheidung des zweiten Handlungsteils begründet. Dass diese Operation insofern nicht ganz unproblematisch ist, als Tristrants Aufstieg dem Muster der anderen beiden Handlungsstränge entsprechend die Bindung an einen Herrscher verlangt, während das thematische Programm die Konstituierung einer ‚herrschaftsfreien‘ Liebe vorsieht, liegt auf der Hand. Der Rückgriff auf den programmatisch a-hierarchischen Artushof erscheint in dieser Situation nur als die einfachste Lösung, und von hier aus ist auch der in der Forschung als merkwürdig hervorgehobene Umstand zu erklären, dass Artus in dieser Partie als ein König agiert, der sich in gänzlich unstandesgemäßer Manier zum „Komplizen [von] Tristans Ehebruch“ macht. 154 Artus, so wäre demnach zu sagen, ist an dieser Stelle nicht einfach nur dazu da, den ramponierten Protagonisten des ersten Handlungsteils wieder zum Helden aufzubauen. 155 Er baut ihn vielmehr - wohlgemerkt nach demselben Muster wie dort - zu einer neuen Art von Held auf; zu einem Helden, dessen Liebe nicht mehr im Zeichen von Zwang und Schicksal, sondern von freiwilliger (Dienst-)Verpflichtung steht. Artus erscheint mithin in der Tat als Repräsentant einer Herrschaft, die die Liebe „höfisch vorbildlich zum Leistungsansporn funktionalisiert hat“. 156 Er steht für ein Wertprinzip, das, weil ihm das Gesetz feudaler Rechte und Pflichten fremd ist, den Anspruch der Liebe über den des Ehemanns erheben kann 157 - dann zumindest, wenn die Liebe das hervorbringt, was ihm selbst als das höchste Gut erscheint: ritterlichen Verdienst. Die Artusepisode dient also bei Eilhart kurz gesagt dazu, Tristrants Verbindung mit Isalde im zweiten Durchgang seines Lebens (in Analogie zum ersten und dritten) an ein Herrschaftsprinzip zu binden, aus dem sie ihren Wert und ihre Legitimation ziehen kann. Unter dieser Prämisse stellt sich das Geschehen so dar: Kaum am Artushof angekommen, nimmt Tristrant schon höchst erfolgreich an den Turnierspielen der Artusritter teil ( II .1). Da er seine größte Tat, den Sieg über den bis dahin un- 153 So etwa Witte 1933, S. 186 f. 154 Mertens 1996, S. 369. 155 Ähnlich ebd., S. 370 f., Keck 1998, S. 119, Schausten 1999, S. 73 f., Strohschneider 1993, S. 57. 156 Mertens 1996, S. 370. 157 Zum Unterschied der Herrscherbilder bes. Dietl 2007, S. 36-38. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 255 256 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane geschlagenen schevalier Delekors verschweigt, 158 bittet ihn Walwan durch Ysaldß willen, daß er bekant, ob er eß ton het ( ET r 5121 f.), und gibt ihm so die Gelegenheit, seinen ritterlichen Kampf in den Dienst Isaldes zu stellen. Tristrant sagt: ‚gesell, ich hab eß geton. welch bett man mir legt an durch liebin miner frowen, lieb lauß ich zehand schowen und lauß eß durch kain nǒt, sölt ich dar umb ligen tǒd.‘ ( ET r 5123-5128) Die Liebe erscheint damit nicht mehr als Kraft, die das Ansehen des Helden mindert, sondern im Gegenteil als Quelle seines ruhmreichen Handelns. Das gilt freilich nur am Artushof, weshalb Tristrants Bekenntnis zum Konzept der freiwilligen Dienst-Liebe zugleich als Verpflichtung an dessen Gesetz zu werten ist ( II .2). Weil Dienst auch und gerade nach diesem Gesetz gelohnt werden muss, sieht sich die Artusgesellschaft nun im Gegenzug dazu genötigt, Tristrant zur Gunst seiner Dame zu verhelfen. Die folgende Reise nach Tintajol gerät darum zu einer Brautwerbung ( II .3) ganz spezieller Art. 159 In ihr übernimmt Walwan die Rolle des Brautwerbungshelfers: 160 Er setzt eine Hirschjagd an, in deren Verlauf er Tristrant auf der Spur des arthurischen Wappentiers sicher durch den Aventiurewald (das Äquivalent zum Meer des Brautwerbungsschemas) bis in die Burg des ‚Brautvaters‘ Marke geleitet. Dort verschafft er ihm schemagerecht ein Stelldichein mit der ‚Braut‘, 161 das in bezeichnender Weise Bezüge sowohl zu Markes Hochzeitsnacht als auch zur Mehlstreuszene aufweist (II.4a). Wie in letzterer, so schlafen auch hier alle in einem Saal (I.7), 162 wobei Tristrant und Isalde gleichfalls durch ein Hindernis - dort das Mehl, hier das Wolfseisen - voneinander getrennt sind. Wie in ersterer (I.4), so verfügen die Liebenden aber auch hier über einen höchst selbstlosen Helfer. Wenn Walwan die Artusritter dazu anstiftet, sich kollektiv ins Wolfseisen zu stürzen, dann erinnert deren ‚Blutopfer‘ nicht nur an Brangänes Hingabe ihrer Jungfräulichkeit. Indem es die Mehlstreuquasi im Modus der Hochzeitsnachtszene wiederholt, macht es die Entdeckung der Liebenden am Ende des ersten Handlungsdurchgangs - und damit ihren Ehrverlust, ihre Flucht und ihre Trennung - auch in gewisser Weise rückgängig, oder genauer: es deckt sie wieder zu. Walwans beherztem Eingreifen ist es demnach zu verdanken, dass der Status quo des ersten Handlungsteils, wenngleich unter anderen Bedingungen, restituiert wird. Es konstituiert eine Liebesbeziehung, die nicht mehr auf Zauber und Treubruch, sondern auf dem freiwilligen Gewähren von Dienst und Lohn basiert. Deshalb wird auch Tristrants Versprechen, alles zu tun, worum er im Namen seiner Dame gebeten wird, zum Leitmotiv der Rückkehrabenteuer: Das Ge- 158 Aus „höfischer Zurückhaltung“ (Mertens 1996, S. 369), oder weil es dem im ersten Handlungsteil erlittenen Wertverlust entspricht? 159 Also noch eine arthurische Brautwerbung! Freilich ganz anders im ‚Erec‘: vgl. Kap. III.2.3.2. 160 Schemagemäß beginnt der Abschnitt mit einem Beratungsgespräch, in dem Walwan dem ‚Werber‘ zum Erwerb der ‚Braut‘ rät und ihm Hilfe zusagt (ETr 5129-5150). 161 Es ist das Äquivalent zur Kemenatenszene des Brautwerbungsschemas. 162 Was dort Teil der List war, die die Liebenden überführte (die Häscher versteckten sich in der königlichen Kemenate), muss freilich hier als Normalität erscheinen. Der ‚historische‘ Kommentar des Erzählers, in dem er - vorgeblich selbst verwundert - erklärt, dass die ‚damaligen‘ Könige zwar prächtige Säle, aber noch keine privaten Schlafgemächer besessen hätten (in klarem Widerspruch zum ersten Teil: ETr 5285-5292) könnte in diesem Sinne als aufmerksamkeitslenkender Gestus aufgefasst werden. lübde ist sozusagen die arthurische Variante des Minnetranks; ein Minnetrank unter den Vorzeichen der freiwilligen Verpflichtung und der Bereitschaft, im Namen der Liebe nach Ruhm zu streben. Inwiefern auch dieses neue Prinzip nicht problemlos ist, zeigt sich erst später. Vorerst reist Artus zurück in die Bretagne, von wo aus Tristrant - dessen nunmehr gefestigter Status als Liebes-Held der arthurischen Garantie nicht mehr bedarf - nach Karkes weiterzieht. Als er von dort aus ein zweites Mal zu Isalde zurückkehrt, schließt die Handlung - nach einem Intermezzo, das, wie noch zu zeigen sein wird, thematisch zur Karkes-Partie ( III .5) gehört - unmittelbar da an, wo sie zuvor abgebrochen war. Nachdem Tristrant seinem Freund Kehenis bewiesen hat, dass seine Geliebte einen Hund um seinetwillen besser behandelt als seine Ehefrau ihn selbst ( ET r 6244-6247), kommt es zu einer Zusammenkunft der Liebenden, die abermals auf das Geschehen der Hochzeitsnacht rekurriert ( II .4b). Der Vorgang gestaltet sich nicht weniger merkwürdig als die arthurische Brautwerbung am Beginn des Handlungsstrangs, weshalb man vielleicht vermuten darf, dass Eilhart hier ein weiteres Mal in seinen Stoff eingegriffen haben könnte. Der Bezug, den er dabei sowohl zur ersten als auch zur dritten Realisierung des Tristanlebens herstellt, ist nichts weniger als plakativ: Indem er Kehenis’ Werbung um Isaldes Zofe Gymele damit enden lässt, dass diese von ihrer Herrin ins Bett des Gastes beordert, die Vereinigung aber im letzten Moment mit Hilfe eines schlafbringenden Zauberkissens verhindert wird ( ET r 6735-6774), zitiert er erneut Brangänes Schicksal herbei (I.4) und verweist zudem auf Tristrants keusche Brautnacht mit der zweiten Isalde ( III .4) sowie auf den Minnetrank (Zauberkissen). 163 Wenn er auf diese Weise alle an dieser Position des biographischen Musters stehenden Szenen ineinanderspiegelt, so ist das gewiss als strukturanzeigendes Signal zu werten, es ist aber noch mehr als das. Denn die Episode schließt an die vorangehende Wolfseisen-Szene an, indem sie sie um jenen Aspekt der Entwertung ergänzt, der die Hochzeitsnächte der beiden anderen Handlungsstränge prägt und wie dort die unmittelbar anschließende Abwärtsbewegung einleitet. Die Entwertung ist jetzt durch das Verhalten Kehenis’ bezeichnet, der wähnt, Gymele mit ein paar galanten Worten schnell zu seiner Geliebten machen zu können und dergestalt nicht nur das Prinzip von Dienst und Lohn pervertiert, sondern auch die Frage aufwirft, welcher Dienst einen Lohn rechtfertigen kann, der seiner Spenderin die Ehre kostet. Was er damit aufscheinen lässt, ist die Schwäche einer Liebeskonzeption, die allein auf dem Fundament der Freiwilligkeit - und darum in gewisser Weise einer bloßen Laune - ruht. Die in ihr gegründete Bindung kommt, so darf man wohl aus Gymeles Worten lesen, gegen die Verbindlichkeiten von Herkunft, Stand und Verwandtschaft nicht an. 164 Anders als der Zwang der Trankliebe fehlt ihr die Kraft, den Gesetzen der (feudalen) Gesellschaft ein eigenes (‚magisches‘) Recht entgegenzuhalten. Wie zuvor durch den Verrat an Marke, so wird die Liebesbeziehung mithin auch hier im Sinne dieses Handlungsstrangs 163 Genau genommen stellt das Zauberkissen eine Inversion des Minnetranks dar (als magisches Mittel zur Verhinderung von Liebe). Zu dieser motivischen Paarung auch Buschinger 1984. 164 Gymele weist Kehenis mit den Worten ab, dass selbst fünf Jahre Dienst nicht ausreichen würden, ihm ihre Gunst zu verschaffen (ETr 6679-6693); nach den Bedingungen des feudalen Eherechts aber würde sie ihn wohl nehmen: ‚ und wäret ir min lantman und mir wol genǒsam und geviel minen frunden […] ‘ (ETr 6697-6699). Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 257 258 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane thematisch signiert: nicht mehr mit dem Zeichen des Treuebruchs, sondern mit dem von Laune und Willkür. 165 Und auch hier geht der zunächst implizite Makel unmittelbar mit einem Verlust an Ansehen einher. Kaum haben sich die Liebenden getrennt, da führt eine Verwechslung dazu, 166 dass Isalde annehmen muss, Tristrant habe sein Gelübde gebrochen ( II .5). Sie glaubt der Verleumdung von Markes Hofleuten, entzieht dem Geliebten ihre Huld 167 und lässt ihn, als er in Verkleidung eines Aussätzigen erneut ihre Nähe sucht, gar davonprügeln. Tristrant beantwortet diesen Akt der Willkür, indem er Isalde seinerseits den Dienst aufsagt und nach Karkes zurückkehrt. Der Vertreibung vom Hof der Herrin folgt auch hier deren Reue. Als Isalde die Stichhaltigkeit seines Unschuldsbeweises einsieht, bittet sie Tristrant zurück und arrangiert eine Begegnung, die den Bund der Liebenden erneuert und stabilisiert ( II .6). Dass es ihr dabei gelingt, Marke und die Hofleute (mit Reminiszenzen an die Baumgartenszene in I.6) 168 souverän zu überlisten, und Tristrant (in Pilgerverkleidung) im Anschluss daran sein Gelübde in aufsehenerregender Weise erfüllt, 169 stellt ihre Beziehung erneut auf eine sichere Basis. Von nun an kann Tristrant immer wieder - wenngleich unter zunehmend schwereren Bedingungen: als Spielmann, als Narr - zurückkehren, 170 die Liebe Isaldes genießen und auf dem Rückzug sein Heldentum beweisen, bis ihn die tödliche Verwundung durch Naupatenis an einer erneuten Rückkehr hindert und sein Hilferuf auch Isalde aus Cornwall fliehen lässt ( II .7). c) Als sie in Karkes landet, betritt sie einen Handlungsraum, in dem Tristrant dasselbe Schema, das sie selbst gerade erneut durchlaufen hat, bereits ein drittes Mal vollendet. Hier geschieht freilich alles im Zeichen einer Herrschaft, die Tristrant als einen völlig Fremden aufnimmt und in der er allein als feudaler Bündnispartner agiert. Am Beginn steht seine Ankunft im Land des Königs Havelin und sein Einsatz bei der Verteidigung von Karkes. Im Krieg gegen Havelins Feinde rettet er dessen Reich und erweist sich so ein drittes Mal uneingeschränkt als bester (und klügster) aller Helden ( III .1). 171 Die Kämpfe begründen zudem die Freundschaft mit Havelins Sohn Kehenis, der ihm, um ihn an Karkes zu binden 165 Es fällt auf, dass die Entwertung der Liebesbeziehung - anders als im ersten Handlungsteil - hier durch den Verweis auf ein Prinzip erfolgt, das ihr (als ein herrschaftliches) konzeptuell eigentlich fremd ist. Die Logik, die dem Geschehen zugrundeliegt, soll im nächsten Abschnitt näher beleuchtet werden. 166 Der handlungslogische Zufall erweist sich wiederum als gedanklich stringent. 167 Dass Isalde hier die Rolle der Herrin übernimmt, obwohl sich Tristrant zuvor dem Prinzip des Artushofs verschrieben hatte, ist keineswegs inkonsequent. Denn dieses Prinzip macht Artus weniger zum Herrn als zum Wertgaranten der personalen Bindung zwischen man und vrouwe . 168 Tristrant versteckt sich in einem Busch: wie Marke zuvor im Lindenbaum. Überlistet wird diesmal zwar nicht Marke selbst, aber immerhin der Drahtzieher der Baumgartenszene Antret (ETr 7553-7687). Signifikant ist auch, dass der Dornbusch hier schon zum zweiten Mal auftaucht: Es handelt sich, wie eigens betont wird (ETr 7522-7524), um denselben, den Tristrant vorher schon mit Kehenis aufgesucht hatte - und zwar an derselben Schemaposition (Unschuldsbeweis)! 169 Auf dem Rückweg wird er von einem befreundeten Ritter erkannt und im Namen Isaldes dazu aufgefordert, an den Kampfspielen teilzunehmen. Tristrant erweist sich dabei als der Beste in Speer- und Steinwurf; die Leistung wird von Marke als sicherer Beweis seiner Anwesenheit betrachtet (ETr 7742-7859). 170 Hier überschneiden sich zwei Logiken: Die (erzählstrukturelle) der Stabilisierung, die Tristrant prinzipiell unendlich viele Rückkehrfahrten ermöglichen würde, und die (bildhafte) einer destruktiven Liebe, die seine Fahrten begrenzt. Ich komme in Kap. III.3.3.3 noch einmal darauf zurück. 171 Anders als in I und II, wo es vor allem um Tapferkeit und Kampftechnik ging, beweist Tristrant hier auch sein strategisches Geschick und qualifiziert sich damit selbst zur Herrschaft (ETr 5845-6096). ( III .2), 172 die Ehe mit seiner Schwester Isalde anträgt ( III .3). Die Werbung läuft ab, wie es sich für eine politische Allianz gehört: Kehenis vermittelt zwischen Tristrant und Havelin, es folgt die Eheschließung, von der Zustimmung der Braut ist nicht die Rede. Von der Ehe erfährt man nur, sofern mitgeteilt wird, dass Isalde ein ganzes Jahr lang nie Tristrants wib [] ward ( ET r 6141). Die Hochzeitsnacht ist damit eindeutig als defizitär markiert, auch ohne explizit geschildert worden zu sein ( III .4), denn dass Tristrant die Ehe ebenso wenig rechtskräftig werden lässt wie sein Bündnis mit Havelin, ist evident. Dieses ist daher, wie der König, nachdem Tristrants Unterlassung in der Episode vom kühnen Wasser ans Licht gekommen ist, zu Recht befindet, 173 bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur nichts wert, sondern überdies eine Schande für das ganze Reich ( ET r 6181-6189). Der Verdacht des (geplanten) Treuebruchs kostet Tristrant ein weiteres Mal die Huld seines Herrn (hier: Havelin, III .5) und zwingt ihn deshalb wiederum, seine Unschuld zu beweisen ( III .6). Zu diesem Zweck begibt er sich - warum er das in diesem Zusammenhang als zielführend betrachtet, wird gleich noch zu besprechen sein - mit Kehenis nach Cornwall, 174 legt sich dort mit diesem in einen Dornbusch 175 und überlässt es Isaldes Geschick, der Behauptung, dass ‚seine Geliebte einen Hund um seinetwillen besser behandle als seine Ehefrau ihn selbst‘ (s. o.), in einer prachtvollen Demonstration Gewicht zu verleihen. Der Nachweis gelingt so gut, dass Kehenis gleich auch eine Geliebte haben will (nämlich Gymele, s. o., II .4.b); - der Rückkehr nach Karkes, in die Gunst Havelins und ins Schlafgemach der Gattin, steht damit offenbar nichts mehr im Wege. Warum Tristrant die Ehe jetzt vollzieht (ETr 7076 f.), soll im nächsten Abschnitt noch deutlicher werden; dass die stät [] frǒd , die er von nun mit seiner Frau hat ( ET r 7080), eine Stabilisierung der Beziehung bedeutet, dürfte aber jedenfalls einsichtig sein. Auch dieses Glück endet jedoch mit der Verwundung durch Naupatenis, die die erste Isalde herbeiruft. Ihre Flucht aus Tintajol (II.7) führt direkt weiter zur gemeinsamen ‚Flucht‘ der Liebenden in den Tod ( III .7). Wenn man die so skizzierte Strukturierung von Eilharts Text hieran anschließend überblickshaft darstellt, so ist ihr wenig einheitlicher Charakter gewiss erneut unverkennbar. Insgesamt ist der Gleichlauf der Handlungsstränge aber dennoch deutlich genug, um als kompositorisch signifikant gelten zu dürfen. In diesem Sinne versteht sich meine Gliederung als Vorschlag, der im Detail weiter verhandelt werden möge. Worauf es mir ankommt, ist die Einsicht sowohl in den Wiederholungscharakter als auch in die thematische Besetzung eines Handlungsablaufs, der aufs engste mit dem Lebensweg des Protagonisten assoziiert ist. Diese Einsicht ist die Bedingung für das Verständnis des argumentativ-sinnbildenden Prozesses, der im Folgenden nachzuvollziehen sein wird. 172 [E]r gedaucht, daß er sölt im so haimlich werden, daß er ÿmer gerten mit im bÿ Karckeß belibe. (ETr 6110-6113). 173 Die Anwesenheit der holden (ETr 6183) belegt, dass Tristrants Unterlassung eine Staatsangelegenheit und potentiell als Betrug zu werten ist. 174 Anders als in I und II kann man hier nicht eigentlich von einer Vertreibung sprechen; die Äquivalenz ist aber durch die Notwendigkeit einer Entfernung vom Hof gegeben. 175 Wieder der Rekurs auf Markes Versteck in der Baumgartenszene! Vgl. Anm. 168. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 259 260 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane I (Liebeszwang / Herrschaft) II (freiwillige Liebe) III (Herrschaft) Aufstieg 1. ET r 47-184 Definition des Helden: Tristrant durch Geburt von Liebe und Herrschaft geprägt 1. ET r 4995-5098 Definition des Helden: Tristrant als bester Ritter (Artushof) 1. ET r 5488-5672 Definition des Helden: Tristrant als Kriegsheld (Karkes) 2. ET r 185-1339 Bindung an Markes Herrschaft: Kampf gegen Morolt / Anerkennung als Erbe 2. ET r 5099-5150 Bindung an Artus’ Herrschaft: Bekenntnis zum ritterlichen Leistungsethos 2. ET r 5673-6105 Bindung an Havelins Herrschaft: Sieg für Havelin / Freundschaft mit Kehenis 3. ET r 1340-2724 Brautwerbung: Tristrant als Werbungshelfer für Marke 3. ET r 5151-5279 Brautwerbung (Schemazitate): Artushof als ‚Werbungshelfer‘ für Tristrant 3. ET r 6106-6137 Brautwerbung: Arrangierte Ehe mit Havelins Tochter Wende 4. ET r 2725-3080 Hochzeitsnacht (Marke) Ehropfer Brangänes / Treuebruch Tristrants 4.a ET r 5280-5463a Liebesnacht (Tristrant: Wolfseisen) Blutopfer der Artusritter 4. ET r 6138-6142 Hochzeitsnacht (Tristrant) Treuebruch: Tristrant vollzieht die Ehe nicht 4.b ET r 6611-6804 verhinderte Liebesnacht (Kehenis) verhindertes Ehropfer Gymeles Abstieg 5. ET r 3081-3299 Verleumdung durch die Höflinge Tristrant verliert Markes Huld Verbannung von Markes Hof 5. ET r 6805-7069 Verleumdung durch die Höflinge (angeblicher Eidbruch) Tristrant verliert Isaldes Huld Verbannung von Isaldes Hof (Tristrant als Aussätziger) 5. ET r 6144-6263 (Verleumdung: ‚Kühnes Wasser‘) Tristrant verliert Havelins Huld Verlassen von Havelins Hof 6. ET r 3300-3771 Unschuldsbeweis (Baumgarten) Rückkehr an den Hof und in die königliche Kemenate Stabilisierung der ehebrecherischen Liebesbeziehung 6. ET r 7081-7864 / 8139-9032 Unschuldsbeweis: Rückkehr an den Hof (Pilger) Stabilisierung der (Dienst-) Liebe (Spielmann, Narr) 6. ET r 6264-6610 / 7070-7080 Unschuldsbeweis (Cornwall) 176 Rückkehr an den Hof und Vollzug der Ehe Stabilisierung der Ehe 7. ET r 3772-4490 Erneute Verleumdung / Entdeckung (Mehlstreu) Flucht in die Wildnis 7. ET r 9309-9340 (Botschaft Tristrants) Flucht Isaldes nach Karkes 7. ET r 9033-9308 / 9341-9438 (Verwundung durch Naupatenis) Liebestod 176 Ich ordne die Episode um Isaldes demonstrativen Werterweis ihrer Liebe hier ein, weil sie zwar in Cornwall stattfindet, aber ihre Funktion in Karkes hat. 3.3.2.2 Die Lösung scheitert. Aber weshalb? Zur Handlungskoordination im zweiten Textteil Das argumentative Verfahren, mit dem Eilhart das Problem der Tristanliebe verhandelt, liegt im Prinzip genauso deutlich zutage wie das Ergebnis, zu dem er dabei kommt. Das Wesentliche hierzu hat, wie schon gesagt, vor einiger Zeit Peter Strohschneider herausgearbeitet. 177 Auszugehen ist demnach von der Beobachtung, dass die narrative Operation, die ich eben als eine Separation von Tristrants Leben beschrieben habe, die fatale Verschlingung von Liebe und Herrschaft im ersten Textteil aufhebt. Der thematische Komplex wird also handlungsstrukturell analysiert und durch die Zuweisung von Liebe und Herrschaft an zwei Ereignisstränge aufgelöst. Über die darin zum Ausdruck kommende Denkbewegung - die zugleich den ‚Modus der Regierung‘ anzeigt - wäre in diesem Sinne zu sagen, dass Tristrant, wenn er sein Leben als ein gedoppeltes noch einmal beginnt und alle Stationen, die zunächst im Zeichen der Interferenz von Liebe und Herrschaft standen, nun als reine Liebeshandlung auf der einen und reine Herrschaftshandlung auf der anderen Seite ein zweites Mal absolviert, eine These aufstellt, die der des ‚Erec‘ insofern gleicht, als auch sie den Anspruch erhebt, die voraufgehende Krise zu überwinden. 178 Anders als im ‚Erec‘, wo der ‚Diskurs‘ des Protagonisten in eine Situation mündet, die Liebe und Gesellschaft miteinander harmonisiert, kommt das narrative Problemlösungsverfahren hier allerdings zu keinem positiven Ergebnis. Die beiden Themen fallen am Ende genauso unheilvoll wieder zusammen wie schon im ersten Handlungsteil, wobei thematische und räumliche Struktur erneut konvergieren: Wenn die erste Isalde nach Karkes fährt, um ihren todkranken Geliebten zu heilen, dann schlingt sie Liebe und Herrschaft zwar unter umgekehrtem Vorzeichen - diesmal ist es nicht Isaldes, sondern Tristrants Ehe, die durch die Liebe ge- (bzw. zer-)stört wird -, aber thematisch identisch erneut zum unlösbaren Knoten. Festzuhalten ist somit zunächst, dass sich der narrativ-zeitliche Verlauf der Handlung auch im ‚Tristrant‘ in einer Weise mit der thematischen Bewegung des Erzählens zusammenschließt, die insgesamt prozesshaft, als eine Form der Problemverhandlung, beschrieben werden kann. Diese scheint zumindest im Ansatz (Analyse / Lösungshypothese) gleichfalls argumentativ vorzugehen, ohne dass freilich sofort deutlich würde, wie man sich den Nexus von thematischer Verhandlung und Liebestod genau vorzustellen hat. Denn zwar ist unschwer zu sehen, dass die tödliche Wunde, die die erste Isalde herbeiruft und so Tristrants Liebesin den Zusammenhang seines Herrschaftshandelns reintegriert, aus einem Geschehen resultiert, das eben diese Reintegration thematisch vorwegnimmt und reflektiert. 179 Wie die Ehebruchsgeschichte, die sich am Ende des Textes zwischen Kehenis und Gardiloye entspinnt, narrativ in einer Weise eingesetzt würde, die man im engeren Sinne als argumentativ begründend beschreiben kann, ist aber alles andere als deutlich. Dabei stellt sich nicht allein die Frage nach dem argumentativen Verfahren, sondern sehr viel allgemeiner auch die nach der Vermittlung von Thema und Handlung. - Wie also wird das Thema so in das Geschehen der erzählten Welt überführt, dass dieses überhaupt als eine Diskussion um die problematische Interaktion von Liebe und Herrschaft lesbar wird? Die Frage ist offensichtlich dieselbe wie die, die ich zu Beginn meiner Beobachtungen zum ‚Erec‘ gestellt habe; und auch die Antwort lautet gleich: Was hier vor sich geht, ist am 177 Strohschneider 1993, vgl. dazu mein Kap. III.3.2.2. 178 In meinen Äußerungen zum ‚Erec‘ beziehe ich mich wiederum auf Kap. III.2.2. 179 Das haben vor Strohschneider (1993, S. 41-44) schon Witte (1933, S. 180 f.), Schindele (1971, S. 100) und Bonath (1983, S. 41-48) beobachtet. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 261 262 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane besten zu verstehen, wenn man auf eine Trennung von erzählweltlicher ‚Oberfläche‘ und thematischer ‚Tiefe‘ verzichtet und annimmt, dass sich das Thema auf derselben Ebene entfaltet wie die Handlung, also ‚konkret‘, sowohl ‚in‘ der erzählten Welt als auch durch sie. Inwiefern sich die Perspektive auf den Text durch diese methodische Entscheidung ändert, wird deutlich, wenn man die Erzählstruktur des zweiten Handlungsteils vom raumsemantischen Modell Jurij M. Lotmans her in den Blick nimmt 180 und nach den Konsequenzen fragt, die sich in seinem Rahmen aus der Aufhebung der Ebenentrennung ergeben. Dass ich hier auf dieses Modell zurückgreife, bedarf kaum der näheren Erläuterung: Die Faktur der Passage entspricht so offensichtlich dem Konzept des lotmanschen Sujets, dass es sich förmlich aufdrängt, ihren thematischen Aufbau mit Hilfe des ihm zugeeigneten strukturalistischen Instrumentariums zu beschreiben. 181 Die Parallelen sind rasch abgesteckt: Grundlage des Erzählens im zweiten Teil des ‚Tristrant‘ ist die Unterteilung der erzählten Welt in zwei topographisch festgelegte Handlungsstränge und deren Verbindung mit den Themen von Liebe (Cornwall) und Herrschaft (Karkes). Die zwischen ihnen verlaufende Grenze - die in der erzählten Welt übrigens tatsächlich erst in dem Moment existent zu werden scheint, da deren raumsemantischer Aufbau abgeschlossen ist - ist das Meer, 182 das von den topographisch festgelegten Figuren normalerweise nicht überschritten werden kann. Und das die Handlung tragende Sujet schließlich entsteht, wenn eine oder mehrere Figuren die Grenze zum semantisch entgegengesetzten Raum gleichwohl überwinden. 183 Dass dieser Vorgang grundsätzlich als ein zwar auf zwei Ebenen stattfindender und über sie hinweg bedeutsamer, gleichwohl aber zwischen ihnen zu differenzierender zu begreifen ist, scheint bei Lotman klar. Die Versetzung des Helden über die klassifikatorische Grenze seiner Welt hinweg ist ein ‚Ereignis‘ 184 rein semantischer Art; es gewinnt seine Bedeutung auf der Ebene des Textes. Welchen Stellenwert es als solches in Bezug auf die Vorgänge innerhalb erzählten Welt hat, wird nicht thematisiert, und man darf wohl davon ausgehen, dass es dort einfach ein Geschehen darstellt wie jedes andere auch. Die (vermeintlich) ontologische Grenze zwischen dem, was (indem es erzählt wird) ‚ist‘ und dem, was es auf der Ebene des Erzählens bedeutet, wird als gegeben vorausgesetzt und gewahrt. An diesem Punkt hakt meine Prämisse abermals ein, indem sie darauf hinweist, dass die Abgrenzung von erzählweltlichem Sein und narrativem Bedeuten keineswegs so selbstverständlich ist, wie es dem literaturwissenschaftlich geschulten Betrachter zunächst wohl 180 Lotman 1972; zusammenfassend dazu Martínez / Scheffel 1999, S. 140-144, Schulz 2012 / 2015, S. 176-184. 181 Warning kann den Tristanroman nur als sujetlos bezeichnen, weil er, wie schon gesagt, allein Gottfrieds Text im Blick hat und die Ereignisse um Tristans Rückkehr darum weitgehend ausblendet (2003, S. 184-187, vgl. oben, Anm. 72). Dass auch bei Eilhart offenbar nur der zweite Teil des Romans sujethaft strukturiert ist, darf in diesem Zusammenhang nicht als Argument für Warning gelten, denn Ganzheitlichkeit ist durchaus keine notwendige Bedingung sujethaften Erzählens. Ergänzt sei, dass das Sujet auch im Artusroman keineswegs stabil ist: Die klassifikatorische Grenze zwischen Hof und Wildnis (vgl. Schulz 2012 / 2015, S. 177) schwankt hier mit der Definition dessen, was jeweils als ‚höfisch‘ und ‚wild‘ gelten darf (vgl. dazu etwa Quast 2001). 182 Nachdem Tristrant den (in unmittelbarer Nachbarschaft von Markes Reich liegenden) Artushof verlassen hat, begibt er sich auf dem Landweg nach Karkes (ETr 5488-5490). Alle späteren Reisen hingegen unternimmt er zu Schiff, und zwar erst, als er sich in Karkes etabliert hat (vgl. ETr 6269 f.). Das Meer scheint sich folglich erst im Akt der semantisch-thematischen Zuordnung zwischen den Orten zu materialisieren. 183 Vgl. Lotman 1972, S. 341. 184 Zu diesem Begriff ebd., S. 332-340. scheint; dass das (künstlerisch-artifizielle) Erzählen vielmehr durchaus die Option hat, seinen Bedeutungsaufbau in der erzählten Welt selbst zu vollziehen. Im ‚Erec‘ äußert sich das, wie oben gezeigt, darin, dass er die queste seines Protagonisten - die erzählweltliche Handlung dabei thematisch ‚überfremdend‘ - zur realisierten Metapher einer quaesitiven Erörterung macht. Im ‚Tristrant‘ wäre analog davon auszugehen, dass die Bewegungen der Figuren von Karkes nach Cornwall und zurück, zunächst einmal allgemein gesprochen, nicht nur Effekte auf der Ebene des Themas haben, sondern - mit ähnlich ‚überfremdendem‘ Ausschlag - thematisch in die erzählte Welt zurückwirken. Was dabei genau vor sich geht, kann man sich vielleicht am besten vor Augen führen, indem man das Prinzip der realisierten Metapher auf Lotmans Modell anwendet und sich vorstellt, Cornwall und Karkes wären mit den Themen von Liebe und Herrschaft nicht einfach nur thematisch besetzt, sondern ganz konkret ‚gefüllt‘: in einer Weise, die den Handlungsraum des zweiten Textteils zu einem Gefäß werden lässt, das Liebe und Herrschaft in zwei voneinander abgegrenzten Kammern substanziell enthält. Warum dem handlungsweltlichen Geschehen unter dieser Voraussetzung eine unmittelbare - und darin notwendig ‚fremd‘ anmutende - thematische Valenz zukommt, ist unschwer zu sehen. 185 Denn wenn die Figuren jetzt von Karkes nach Cornwall oder von Cornwall nach Karkes reisen, dann bedeutet das nichts anderes, als dass sie jedes Mal in irgendeiner Weise auch die (konkret) zwischen ihnen liegende semantische (Grenz-)Wand überwinden, was zwangsläufig die Gefahr mit sich bringt, dass sie diese verletzen bzw. (buchstäblich) perforieren und so eine (Rück-)Vermischung der Substanzen von Liebe und Herrschaft anstoßen. Wie sich dieser Vorgang im erzählten Geschehen bemerkbar macht, soll gleich noch deutlicher werden; ergänzt sei vorerst nur, dass er sich dort mit einer Handlungsdarstellung verbindet, die besonders im Zusammenhang jener Spannungen und Konflikte, zu denen es im Umfeld der Grenzübertritte regelmäßig kommt, immer wieder in merkwürdiger Weise unmotiviert, oder genauer: nicht psychologisch motiviert erscheint. Die Darstellung der Ereignisse um Isaldes Reise nach Karkes liefert dafür insofern ein exemplarisches Beispiel, als sie die Lüge der zweiten Isalde, die Tristrant den Tod bringt, geradezu mit einem Fragezeichen versieht. Denn wenn es, wie der Erzähler versichert, keineswegs böse Absicht ( falschait , ET r 9380) ist, die Tristrants Ehefrau zu der Behauptung veranlasst, das Segel des heranfahrenden Schiffes sei schwarz, was ist es dann? 186 Dass die Motivationslücke den Rezipienten unfehlbar auf den thematischen Nexus des Erzählens stößt, hat schon Strohschneider beobachtet: Was Isalde angesichts der unmittelbar bevorstehenden Ankunft von Tristrants Geliebter in Karkes verhindern zu wollen scheint, ist nichts mehr und nichts weniger als „die [erneute] Konfrontation der passionierten […] Liebe […] mit […] der durch und für Herrschaft konstituierten Ehe in einem Sozialzusammenhang“. 187 Die „dümmliche Lüge vom schwarzen Segel“ 188 setzt mithin gerade dadurch, dass sie handlungsweltlich unmotiviert bleibt, (im Medium der ‚thematischen Überfremdung‘) ein aufmerksamkeitslenkendes Signal, das besagt: Tristrants These, dass es möglich wäre, „das Spannungsverhältnis von Liebe und Herrschaft wenn nicht aufzulösen, so doch [dadurch] einfacher 185 Ich wiederhole im Folgenden einige meiner eigenen Überlegungen, akzentuiere sie jedoch stärker mit Blick auf den Aspekt der narrativen Argumentation: Vgl. Kropik 2015, bes. S. 184-194. 186 Die Antwort, die der Erzähler selbst gibt, hebt den Fragegestus nur noch stärker hervor. Denn wie um alles in der Welt kann sich Isaldes Falschaussage aus einem intellektuellen Defizit erklären ( tumlichen , ETr 9381)? Hat sie nicht gut hingesehen? Aus Versehen die Wörter verwechselt? Und das, obwohl sie, wie der Erzähler nebenbei erwähnt, von der Segel-Absprache wusste (ETr 9346-9355)? 187 Strohschneider 1993, S. 47. 188 Ebd. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 263 264 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane zu bewältigen […], [dass man] sie je distinkten Handlungsbereichen zu[]ordnet“, ist gescheitert. 189 Was den ‚Tristrant‘ in Hinblick auf seine argumentative Logik mit dem ‚Erec‘ einerseits verbindet, andererseits von ihm unterscheidet, ist unter dieser Voraussetzung zu formulieren wie folgt: In beiden Texten wird ein gegebenes Problem narrativ-thematisch so entfaltet, dass ihre Handlung zur Problemverhandlung wird. Im Zuge dessen fällt das Agieren der Figuren mit dem gedanklichen Voranschreiten des Problems zusammen, wobei die strukturelle Disposition des Erzählens (‚Doppelweg‘ / ‚Doppelleben‘) mit der Tendenz des argumentativen Verlaufs aufs engste korreliert. Während das doppelte Durchlaufen von Handlungsstationen jedoch im ‚Erec‘ ein stufenweises Sammeln von Argumenten begünstigt, das am Ende zur Vermittlung der gegensätzlichen Positionen von Liebe und Gesellschaft führt, lässt die quasi-biographische Verdoppelung (bzw. Spaltung) des ‚Tristrant‘ den Weg des Helden durch die erzählte Welt zu einem Grenzgang werden, der ihn permanent der Gefahr aussetzt, die einmal gezogene Trennlinie wieder aufzuheben. Das heißt mit anderen Worten: ‚Erec‘ und ‚Tristrant‘ gleichen sich im Verfahren der konkret-handlungsweltlichen Diskussion ihres gemeinsamen Problems (also nochmals: im ‚regierenden Modus‘ der Argumentation), unterscheiden sich aber darin, dass sie strukturell darauf angelegt sind, die jeweils gesetzte These einmal zu be-, das andere Mal hingegen zu widerlegen (und damit wie schon gesagt in der argumentativen Strategie der thematischen Entfaltung). Aus diesem Grund führt der Weg, der Erec zu Liebe und Thron verhilft, für Tristrant in den Tod; ist es dem einen gegeben, seine handlungshaft aufgestellte Behauptung schrittweise zu bekräftigen, während sie für den anderen - so zumindest der naheliegende Schluss - mit jedem Schritt ein Stück weiter in sich zusammenfällt. Wie sich die Handlung des zweiten Textteils unter dieser Voraussetzung im Einzelnen gestaltet, sei hieran anschließend etwas eingehender nachvollzogen. Mein Herangehen an Tristrants Rückkehrabenteuer 190 begründet sich aus der Faktur des Sujets: Die Reisen, die den Protagonisten insgesamt fünf Mal zu seiner Geliebten zurückführen, markieren mit seiner Bewegung vom Raum der Herrschaft in den der Liebe (und zurück) zugleich die Punkte, an denen er die zwischen ihnen liegende Grenze immer wieder durchbricht und ihre Themen damit konflikthaft aufeinandertreffen lässt. Wenn er von Cornwall nach Karkes und von Karkes nach Cornwall reist, dann koordiniert er deshalb - mit den Handlungssträngen des zweiten Textteils - nicht nur die beiden Hälften seines zwischen Liebe und Herrschaft geteilten Lebens, sondern er stellt auch die mit dieser Teilung verbundene These auf den Prüfstand. Dabei ist das Geschehen in derselben merkwürdigen Logik motiviert, die schon beim Eintreffen der ersten Isalde in Karkes zu beobachten war. Um diese Logik verständlich zu machen, sind zunächst zwei weitere - sich gleichermaßen aus dem Sujet ergebende - Beobachtungen nachzutragen. Die erste schließt Tristrants erste, gemeinsam mit Artus unternommene Rückkehr aus der Betrachtung aus. Denn auch hier treffen die Themen von Liebe und Herrschaft zwar konflikthaft aufeinander; 191 da dies jedoch geschieht, bevor sie räumlich separiert werden - der Vorgang kommt erst mit 189 Ebd., S. 60. 190 Vgl. dazu bes. Müller 1990. Zu diesem Teil des Tristanromans auch Schulz 2007, Becker 2009. 191 Der Konflikt äußert sich darin, dass Artus bedenkenlos auf der Seite Tristrants agiert, obwohl er Marke zugesagt hatte, seine Ehre zu wahren (ETr 5275-5277). Vielleicht darf man das so deuten, dass er es nicht als Ehrverlust ansieht, dem Liebenden zu seinem (im ritterlichen Dienst erworbenen) Recht zu verhelfen - weil, wie hinzuzufügen ist, das damit verbundene feudale Wertsystem für ihn schlicht Tristrants Etablierung in Karkes zum Abschluss -, 192 ist die ‚arthurische‘ Rückkehr zwar für die Aufstellung seiner These, nicht aber für deren Prüfung relevant: Die Grenze zwischen den Teilräumen eines semantischen Feldes kann konsequenterweise erst verletzt werden, wenn sie zuvor errichtet worden ist. Die andere Beobachtung richtet den Fokus sozusagen von hinten her auf die darauffolgende, zweite Rückkehr Tristrants nach Cornwall. Indem er sie gemeinsam mit seinem Schwager Kehenis unternimmt, und so eine der Herrschaft zugeordnete Figur in den der Liebe gewidmeten Teil seines Lebens einbrechen lässt, stellt er nämlich eine Situation her, die derjenigen entspricht, die später bei der Reise der ersten Isalde nach Karkes so katastrophale Folgen zeitigen wird. Dass derselbe Vorgang, der am Ende der Handlung zu Tristrants Tod führt, an dieser Stelle zum Anstoß einer Kettenreaktion wird, die einen Konflikt in Cornwall verursacht, um einen in Karkes zu lösen, scheint insofern nur folgerichtig: Hier kommt ein narratives Prinzip zum Ausdruck, das die erzählweltliche Handlung im Medium einer thematischen Kausalität argumentativ wirksam werden lässt. Von dieser Beobachtung ausgehend stellt sich der gedankliche Nexus der handlungsweltlichen Bewegung im zweiten Teil des Textes so dar: Anzusetzen ist bei einem Ereignis, das Tristrants erste Reise dadurch motiviert, dass es den Grenzübertritt, den diese raumsemantisch vollzieht, thematisch vorwegnimmt. Dieses Ereignis findet in Tristrants Hochzeitsnacht statt und besteht darin, dass er die Ehe mit der zweiten Isalde nicht vollzieht. Was ihn zu seiner Unterlassung veranlasst, wird zwar nicht expliziert - inwiefern es mit der ersten Isalde zu tun haben könnte, darf man nur vermuten 193 -, dass er sich damit faktisch weigert, das Bündnis mit dem karkischen Königshaus rechtskräftig werden zu lassen und so die Grenzen dessen überschreitet, was im Rahmen feudaler Politik akzeptiert werden kann, liegt aber auf der Hand. Der Konflikt mit den Repräsentanten der Herrschaft ist daher unvermeidlich, und die Art und Weise, in der er in Episode vom ‚kühnen Wasser‘ ausgetragen wird, für die thematische ‚Überfremdung‘ des Geschehens bezeichnend ( ET r 6144-6254): Die Selbstverständlichkeit, mit der Havelin und Kehenis davon ausgehen, dass Tristrants Verhalten nur einen geplanten Verrat bedeuten könne, weist darauf hin, dass sie mit so etwas wie Liebe nicht rechnen; dass diese also schlicht keine Kategorie ist, die in ihrem Teil der Welt auch nur existiert. 194 Dazu passt, dass Tristrant gar nicht erst versucht, sich mit seinen Gefühlen für die erste Isalde zu rechtfertigen und sein Handeln stattdessen in Termen von Herrschaft erklärt. Er habe, so seine Behauptung, Kehenis’ Schwester nur deshalb unberührt gelassen, weil ‚ ain frow […] durch minen willen ‘ ihren Hund besser behandle als seine Gattin ihn selbst ( ET r 6242-6247). Er scheint sich also nur dadurch verständlich machen zu können, dass er die Liebe gleichsam in die Sprache der Herrschaft ‚übersetzt‘. Indem er sie dergestalt in deren Wertsystem einordnet (bzw. -mischt), beschwört er das eigentliche Problem jedoch erst herauf. Denn Kehenis begreift zwar und nicht existiert? Das Phänomen wäre damit unter umgekehrtem Vorzeichen dasselbe wie das, das gleich in der Episode vom ‚kühnen Wasser‘ zu beobachten sein wird. 192 Was sich erzählweltlich in der Materialisierung des Meers äußert. Vgl. Anm. 182. 193 Eine bezeichnende Leerstelle! Die Liebe schleicht sich scheinbar wort- und gedankenlos - also von Tristrant unreflektiert und vom Erzähler unkommentiert - ins Aktionsfeld der Herrschaft zurück, und zwar just an derselben Strukturstelle (III.4), an der schon im ersten Handlungsteil die konflikthafte Verschlingung von Liebe und Herrschaft stattfand (Markes Vereinigung mit der falschen Braut Brangäne: I.4). 194 Ihre Einstellung entspricht damit unter umgekehrtem Vorzeichen der Artus’ in der ersten Rückkehrepisode. Vgl. Anm. 191. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 265 266 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane stellt seinen Rachegedanken zurück. Da Tristrants Behauptung aber eines Beweises bedarf, führt ein Grenzübertritt zwangsläufig zum nächsten: Ihm bleibt keine andere Wahl, als Kehenis nach Cornwall mitzunehmen. Was dort geschieht, schließt insofern konsequent an, als es Tristrants Rechtfertigung in ihrer Logik aufnimmt und in ihren Folgen verschärft. Der Aufzug, den Isalde auf seine Bitte hin inszeniert, um seine Behauptung in einer wahren Orgie höfischer Pracht zu bestätigen (ETr 6272-6610), geht nämlich zwangsläufig mit einer Herabsetzung von Tristrants Ehefrau einher, oder genauer: mit einer Degradierung der seine Ehe garantierenden Institution der karkischen Herrschaft: Wenn die Geliebte ihm, wie er sagt, tatsächlich mehr Ehre einbringt als die Ehefrau, dann ist die Liebe auch als der höhere Wert zu betrachten. 195 Der Erfolg von Isaldes Demonstration zwingt Kehenis so zu einer Einsicht, aus der heraus sich sein anschließendes Verhalten als ein im Wesen argumentatives versteht: Nachdem Tristrant gezeigt hat, dass er als Liebender ‚mehr wert‘ ist denn als Mitglied der karkischen Herrscherfamilie, bleibt seinem Freund, wenn er sich nicht fernerhin unterlegen fühlen will, gar nichts anderes übrig, als gleichfalls zum Liebenden zu werden. 196 D e s h a lb, so zumindest der naheliegende Schluss, wirbt er nun um Gymele ( ET r 6672-6702); - dass in Eilharts Schilderung nichts davon verlautet, dass Kehenis sich im Verlauf von Isaldes Aufzug etwa in eine ihrer Hofdamen verliebt hätte, verweist erneut auf den thematisch motivierten Nexus des Geschehens. 197 Dass die Auffassung, die Tristrants Freund damit von der Liebe gewinnt, in keiner Weise dem entspricht, was man in Cornwall darunter versteht, ist freilich unübersehbar; und genau aus diesem Grund setzt sich die reaktive Kette der Grenzüberschreitung auch unaufhaltsam fort. Kehenis muss Gymeles Entgegenkommen aus der Logik der Herrschaft heraus für selbstverständlich halten: Es stellt für ihn einen Ehrerweis dar, der ihm als Tristrants geselle schlicht zukommt. 198 Gymele hingegen erwartet als Minnedame - von der Idee höfischer Liebe ausgehend, die in ihrem Teil der Welt gilt - von ihrem Ritter langjährigen Dienst. Bei ihrem Zusammentreffen kommt es daher umgehend zum nächsten Konflikt. Gymele empfindet Kehenis’ ungestümes Vorgehen als (grenzüberschreitende) Beleidigung und weist ihn schroff zurück, was er wiederum als Herabsetzung in seinem feudalen Rang begreifen muss: Die Ehre der Minnedame steht gegen den Status des Herrschers. 199 Isalde will das Dilemma mit einigem Geschick auflösen, indem sie Gymele einerseits ins Bett des Gastes befiehlt, ihr mit dem magischen Kissen aber andererseits das Mittel in die Hand gibt, diesen in Tiefschlaf zu versetzen ( ET r 6703-6780). Indes vergebens: Ihr Versuch, Kehenis 195 Ähnlich Müller, der Hierarchisierung allerdings nicht problematisiert (1990, S. 28). 196 Hier deutet sich zum ersten Mal seine Entwicklung zum Doppelgänger Tristrants an. 197 Berichtet wird nur von Kehenis’ Staunen ob Isaldes Schönheit (ETr 6609 f.) und dann unvermittelt von seiner Werbung um Gymele (ETr 6672 f.): Der fehlende Zusammenhang markiert die psychologische Leerstelle. 198 Weil die geselleschaft (ETr 5673-5677) „hier einen spezifischen, rechtswirksamen, weil eidlich begründeten, also genossenschaftlichen Verpflichtungstyp unter Gleichrangigen […] meint“ (Strohschneider 1993, S. 41 Anm. 19), ist Tristrant geradezu verpflichtet, ihm eine Geliebte zu verschaffen. 199 Gymeles Worte sind bezeichnend: Sie sieht sich von Kehenis zur gebúrin degradiert (ETr 6681) und schließt zugleich auf seinen bäuerlichen Stand zurück (ETr 6684). Dass sie nach kurzem Zögern umschwenkt und hinzufügt, dass sie ihn, wenn er ihr Landmann, von ihrem Stand und ihren Verwandten recht wäre, wohl nehmen würde (ETr 6696-6702) widerspricht meiner Deutung weniger, als es die apsychologisch-thematische Logik des Geschehens bestätigt: Das Denkmuster der Herrschaft springt in dem Moment, da es im Bereich der Liebe einbricht, quasi auf Kehenis’ Gesprächspartnerin über und ist deshalb auch für sie verfügbar. zu seinem ‚königlichen Recht‘ zu verhelfen, ohne die Souveränität der Minnedame zu verletzen, macht alles nur noch schlimmer. Als Tristrants Freund unverrichteter Dinge erwacht und sich von seiner ‚Ehrendame‘ auch noch verspottet sieht, fühlt er sich zutiefst beleidigt 200 - und schlägt in einer Weise zurück, die abermals ebenso psychologisch rätselhaft wie argumentativ folgerichtig ist. Um sich für die ihm zugefügte Schande zu rächen ( ET r 6915-6919), verleumdet er Tristrant bei Isaldes Gefolgsleuten und sorgt so dafür, dass es zum Bruch zwischen den Liebenden kommt. 201 Nachdem sein Versuch, mit Tristrant in den Rang des Liebenden ‚aufzusteigen‘, gescheitert ist, richtet er sein Bestreben also nun darauf, diesen zu sich ‚herabzuziehen‘: Wenn ihm selbst die Ehre der Liebe verweigert wird, dann soll auch sein Freund sie nicht haben. Der den Handlungsverlauf prägende Mechanismus von Grenzüberschreitung und Abstoßung ist spätestens hier ebenso unübersehbar wie die Vermischungsdynamik der Ordnungssysteme von Liebe und Herrschaft. Dass dabei jede Normverletzung in einem der Bereiche eine Transgression in den anderen auslöst, welche wiederum in den Ausgangsbereich zurückschlägt, zeigt sich auch im Folgenden. Denn der Moment, in dem Tristrant als ein am Anspruch der Herrschaft gescheiterter und als solcher aus dem Reich der Liebe verbannter Liebender nach Karkes zurückkehrt, markiert noch längst nicht das Ende der Entwicklung. Dass er selbst an ihr zunächst keinen weiteren Anteil hat, mag überraschen, ist aber in der argumentativen Logik des Geschehens wiederum nur konsequent. Warum es dem Protagonisten nichts nützt, im Folgenden die Turbulenzen zu glätten und in den beiden Hälften seines Lebens eine wenigstens vorläufige Stabilität herzustellen - er vollzieht die Ehe mit der zweiten Isalde, versöhnt sich mit der ersten und kehrt insgesamt noch dreimal nach Cornwall zurück -, 202 versteht sich in diesem Zusammenhang als Ausdruck eines Prozesses, der - wie die Wiedervermischung zweier flüssiger Substanzen durch eine löchrige Wand -, einmal angestoßen, ganz von allein fortschreitet. Dieser Prozess beginnt mit der Rückfahrt nach Karkes, die - gleichsam als Zeugnis der abermaligen Grenzperforation - dazu führt, dass die Liebe nun auch im Bereich der Herrschaft Einzug hält, oder, wie man in der Logik des Bildes wohl besser sagen sollte: in ihn hinein ‚ausläuft‘. Dort macht sie sich breit, indem sie in ihrem zerstörerischen Wirken an genau derselben Stelle ansetzt wie im ersten Teil der Handlung: bei der feudalrechtlichen Beziehung zwischen Herr und Gefolgsmann. Da Tristrant wegen seiner Verpflichtungen in Cornwall dafür sozusagen gerade nicht zur Verfügung steht, heftet sie sich an Kehenis, 203 der durch sein Abenteuer mit Gymele ja in gewisser Weise auch schon für sie vorbereitet ist. Die Geschwindigkeit, in der sie ihn im Zuge dessen in einen zweiten Tristrant verwandelt, ist gleichwohl zumindest bemerkenswert. Sobald Kehenis wieder in Karkes ist, ‚erinnert‘ er 200 Auf die metaphorisch-bildhafte Valenz des Vorgangs wird im nächsten Abschnitt noch näher einzugehen sein. 201 Der Zusammenhang ist nichts weniger als wirr (ETr 6805-6992): Nach dem nächtlichen Beisammensein mit den Damen verirren sich Tristrant und Kehenis, während ihre Begleiter mit ihnen verwechselt und angegriffen werden. Da diese fliehen, glaubt Isalde, Tristrant habe sein Gelübde, sich in ihrem Namen stets zum Kampf zu stellen, gebrochen, was Kehenis später bestätigt und Isalde so in ihrer Meinung bestärkt (obwohl sie gar nicht zugegen ist! ). Wichtig ist hier offenbar nicht, wie und warum etwas geschieht, sondern nur, dass Kehenis beleidigt ist und deshalb Tristrants Verhältnis zu Isalde stört. 202 Die Ereignisse markieren in beiden Hälften seines Lebens die Position der Stabilisierung (II.6 / III.6). 203 Zum Nexus der Handlung um Kehenis und Naupatenis Strohschneider 1993, S. 41-44. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 267 268 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane sich an seine Jugendfreundin Gardiloye, die ihm einstmals ihre Liebe versprach, dann aber (ausgerechnet) einen jener Gefolgsleute geheiratet hat, die zuvor im karkischen Bürgerkrieg am Aufruhr gegen das Königshaus beteiligt waren (ETr 5986-5995). 204 Dieser Gefolgsmann, Naupatenis, entpuppt sich nun überdies als eifersüchtiger Gatte ( ET r 7874-7961), womit das Dreieck der Tristanliebe in seiner obligatorisch unheilvollen Verflechtung von Liebes- und Herrschaftshandeln komplett ist. Entsprechend ist auch das Verhängnis nicht weit: Nach dem ersten Stelldichein mit der Geliebten wird Kehenis von Naupatenis gestellt und getötet. Dass Tristrant in diesem Kampf jene Wunde empfängt, die wenig später die erste Isalde auf den Plan rufen wird, schließt die Handlung zum Kreis. Die Krise im Bereich der Herrschaft schlägt ein letztes Mal in den der Liebe zurück und löst eine Reaktion aus, die bewirkt, dass die zwischen den beiden Hälften von Tristrants Leben errichtete Grenze endgültig kollabiert. An diesem Punkt meiner Überlegungen ist die Frage nach dem Warum von Tristrants Scheitern ebenso klar zu beantworten wie die nach dem Wie; und auch der argumentative Zusammenhang liegt offen zutage. Das die Handlung motivierende Prinzip ist demnach das einer thematischen Entfaltung, die sich hier als ein Zusammenfließen, oder besser: Wiederzusammenfließen der (substanzhaften) Themen von Liebe und Herrschaft realisiert. Dabei verbinden sich Thema und erzählweltliches Geschehen in einer Weise zur Einheit, die eine analytische Unterscheidung zwischen ihnen obsolet erscheinen lässt. Wie schon im ‚Erec‘ ist es also auch hier nicht so, dass die erzählten Ereignisse für einen außerhalb ihrer selbst liegenden gedanklich-thematischen Verlauf stehen oder ihn bedeuten, sondern vielmehr so, dass sie diesen handlungsweltlich konkretisieren und vollziehen; - wobei sie, wie gezeigt, mindestens ebenso sehr von ihm ‚überfremdet‘ werden: Was getan wird und geschieht, was die dargestellte Welt ausmacht und verändert, wie die Figuren agieren, ja sogar was sie denken und fühlen, scheint nicht erzählweltlich (oder gar realistisch), sondern von der gedanklichen Logik des Geschehens her und damit thematisch motiviert. Auch die Protagonisten des ‚Tristrant‘ sind folglich eher als Problemdenn als Handlungsträger anzusprechen. Schon allein deshalb wird man ihnen ihre Fehler nicht persönlich anrechnen dürfen: Noch weniger als im ‚Erec‘ geht es um moralische Bewertungen von Figurenhandlungen. 205 Eine einzige Ausnahme von dieser Regel stellt vielleicht Tristrant selbst dar, und auch das nur insofern, als er mit der Entscheidung, sein Leben als ein zwischen Cornwall und Karkes geteiltes zu führen, für jene thematische Separation der erzählten Welt sorgt, die die These des zweiten Handlungsteils konstituiert. Denn diese These, so kann man die aus der Dynamik der Partie erhellende Aussage zusammenfassen, ist schon deshalb unhaltbar, weil sie keinerlei Interferenz von Liebe und Herrschaft duldet und die leiseste Berührung der beiden Konzepte genügt, um sie kaskadenartig zusammenbrechen zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, warum die Logik des Geschehens, anders als im ‚Erec‘, keine Fehler verzeiht. Dass die Aventiure Erec den richtigen Weg weist, ihm die nötigen Argumente zusteckt und ihm den Schlüssel zur Lösung seines Problems schließ- 204 Da von dieser Jugendliebe vorher mit keinem Wort die Rede war, handelt es sich gewissermaßen um einen rückwirkenden Einbruch der Liebe in den Bereich der Herrschaft. Der Effekt belegt wieder den a-psychologischen Charakter der Handlung: Kehenis folgt nicht etwa Tristrants schlechtem Beispiel (und sucht sich darum eine Geliebte), vielmehr hat er plötzlich schon immer eine gehabt. 205 Was wiederum nicht heißt, dass solche Bewertungen generell nicht angemessen wären und nicht an einigen Stellen geradezu provoziert würden (vgl. Kap.III.3.3.4). Sie sind nur sozusagen nicht die Basis des Erzählens und Verstehens von Eilharts Text. lich gar schenkt, Tristrant hingegen durch ein unbarmherziges Schicksal von einer Krise in die nächste und schließlich in den Tod getrieben wird, liegt an einem argumentativen Ansatz, der schon in seiner Grundidee derart verfehlt ist, dass er gar nicht glücken kann. Obwohl beide Protagonisten am Ende an den Punkt zurückkehren, an dem sie ihren Weg begonnen hatten, ist dieser Weg darum nur für einen von ihnen einer ‚hinauf ‘: Während Erec für eine Verfehlung, die man als den übermäßigen Gebrauch seiner Ehe bezeichnen könnte, auf einen Bewährungsweg geschickt wird, der ihm zu größerem Glück und einem gesteigerten Ansehen als Herrscher verhilft, führt die durchaus analoge Verfehlung einer nicht vollzogenen Ehe für Tristrant erneut zum Ausstoß aus der Gesellschaft. Sein zweites Leben fällt somit direkt auf das Problem zurück, das es eigentlich hatte bewältigen sollen, und sein Tod hinterlässt dieses Problem als ein doppelt ungelöstes. 206 Abschließend kann folglich wohl gesagt werden, dass die Koordination der Handlungsstränge im zweiten Teil des ‚Tristrant‘ die Möglichkeit einer erfolgreichen Bewältigung der Spannung zwischen Liebe und Herrschaft weder andeutet noch auch nur aufscheinen lässt, sondern vielmehr geradezu durchstreicht. 207 Die Passage wiederholt und bestätigt im Ergebnis die Einsicht, die schon am Ende des ersten Handlungsteils stand, und die besagt, dass Tristrant seine Liebe weder mit noch gegen, und schon gar nicht außerhalb der Gesellschaft leben kann. Naupatenis’ Spieß erscheint in diesem Zusammenhang tatsächlich als so etwas wie die Verlängerung von Markes Arm, die vergiftete Wunde als Strafe, die Marke nicht vollstreckt hatte, und die Lüge der zweiten Isalde als das Urteil, zu dem es bei Markes Tribunal nicht gekommen war. 208 Tristrant, so scheint es, hat zwar wie Erec eine zweite Chance erhalten, doch hat er sie nicht, oder zumindest nicht richtig, genutzt. Ob das daran liegt, dass sein Lösungsansatz der falsche ist, oder daran, dass Eilhart das Problem der Tristanliebe generell für nicht lösbar hält, sei dahingestellt. Fest steht nur, dass Tristrant diese Lösung schon allein deshalb nicht finden kann, weil sein Schicksal nun einmal darin besteht, am Konflikt zwischen Liebe und Herrschaft zugrunde zu gehen. Um dieses Schicksal abzuwenden, ist deshalb zwar vielleicht auch eine andere Argumentationsstrategie nötig, vor allem aber bedarf es eines anderen Protagonisten. 3.3.3 Spiegelungen, Verdichtungen. Zur motivierenden Wirkung realisierter Metaphern Wenn man meiner Lektüre folgend an dieser Stelle konzediert, dass der ‚Tristrant‘ dem ‚Erec‘ nicht allein im Aufbau, sondern, damit zusammenhängend, auch in seinem Verfahren gleicht, den Ereignissen der erzählten Welt eine argumentative Denkbewegung zu unterlegen, dann stellt sich daran anschließend unweigerlich auch die Frage nach der Verstehbarkeit. Warum also sollte man annehmen, dass ein Leser oder Hörer, der nicht in der Weise interpretierend vorgeht, wie ich es eben getan habe, die thematische Entfaltung und die Positionierung des Textes zum Problem der Tristanliebe trotzdem erfasst? 206 Hier ist zu bedenken, dass der zweite Handlungsteil die Folgen des Konflikts zwischen Liebe und Herrschaft nicht nur für die Liebenden verschärft, sondern auch für das (karkische) Reich, dessen Bestand mit dem Tod des Thronfolgers ernsthaft in Frage steht. Ich komme im nächsten Abschnitt noch einmal darauf zurück. 207 Ich modifiziere hier die Aussage Strohschneiders 1993, S. 60. 208 Zu diesem Gedanken Bonath 1983, S. 43-45. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 269 270 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane Die Beobachtungen zum schematischen Erzählen im ersten Handlungsteil weisen in die bereits bekannte Richtung. Die Art und Weise, in der die Erwartung des Rezipienten hier auf die Entstehung einer Liebesbeziehung gelenkt wird, die, wenngleich erzählweltlich illegitim, so doch von höherer Notwendigkeit begründet ist, hat, wie vorn gezeigt, einen Effekt, den man in seiner intuitiven Eingängigkeit als einen ‚konkret‘ definierenden bezeichnen kann. 209 Indem die Erzählung dem Hörer oder Leser vor Augen führt, wie die Liebe sich gleichsam untergründig an den Protagonisten heranschleicht, wie sie ihn überallhin begleitet, sein Handeln bestimmt und seine Pläne konterkariert, lässt sie ihm das Wesen der Liebe ebenso verständlich werden, wie sie sie als Problem beschreibt. Dass sie ihre schematische Konstruiertheit weniger verbirgt, als vielmehr geradezu ausstellt, trägt dabei insofern zum definierenden Anliegen bei, als es eine Rezeptionsweise begünstigt, die den Problemcharakter der Liebe, wenn nicht geradezu expliziert, so doch bis zu einem gewissen Grad ins Bewusstsein hebt. Die Liebe wird in genau dem Maß zum Gegenstand der Reflexion, als sie nicht mehr ‚natürlich‘-schicksalhaft, sondern als mit den Mitteln der Dichtung hergestellt erscheint. Die Parallelen zum evidenzerzeugenden Erzählen des ‚Erec‘ sind an dieser Stelle genauso deutlich wie die Unterschiede. Der Dichter des ‚Tristrant‘ baut zwar offenbar ebenfalls auf die intuitive Verständlichkeit seiner narrativ konkretisierten Problemverhandlung, er verlässt sich aber zugleich viel weniger ausschließlich auf sie. Die offensive ‚Künstlichkeit‘ seiner Darstellung deutet in diesem Zusammenhang darauf hin, dass er nicht in demselben Umfang willens oder in der Lage ist, den gedanklichen Prozess, auf den er die Aufmerksamkeit des Rezipienten lenkt, als einen gleichsam innerhalb der erzählten Welt, sprich, als einen beim Hören oder Lesen des Textes unbewusst sich vollziehenden zu gestalten. 210 Indem er so mit viel Aufwand auf die Konstruiertheit der von ihm fokussierten Phänomene hinweist, geht er vielmehr gezielt auf Abstand; und dieser Abstand bedingt, dass auch der Rezipient in seinem Bemühen um ein angemessenes Verstehen (mehr oder weniger reflektierend) vom Geschehen zurücktreten muss. Anhaltspunkt seiner Distanzierung ist im ersten Teil des Textes die archaische Anmutung des Erzählens, die damit als Äquivalent und zugleich als Komplement jenes Effekts erkennbar wird, den Gottfried als die kristallene Qualität von Hartmanns Werk bezeichnet. Denn während sich der Sinn bei Hartmann wie von selbst erschließt, ist Eilharts Vermittlung im Gegenteil darauf abgestellt, dass sein Tun zwar nicht als sinnstiftend - denn das Ziel, den Charakter der Tristanliebe zu definieren, bleibt auch bei ihm implizit - aber doch als (konstruierendes) Tu n wahrgenommen wird; als ein Tun zumal, das das rezeptive Eintauchen in die Erzählung und die von ihr dargebotene Welt immer wieder empfindlich stört. 211 Dass der damit einhergehende ästhetische Effekt (um es neutral zu formulieren) ein anderer ist als bei Hartmann, liegt auf der Hand: Die Modifikation des Verfahrens bewirkt, dass der ‚Tristrant‘ gegenüber dem sinnklaren Strahlen des ‚Erec‘ eher den Eindruck ‚ungeschliffener‘ Opazität erweckt. Dies zu konstatieren, ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil es analog für die realisierten Metaphern gilt, die den zweiten Teil des Textes vergleichbar prägen wie die Erzählschemata den ersten. Auch hier wird also ein Moment der ‚konkreten‘ Aufmerksamkeitslenkung so 209 Vgl. Kap. III.3.3.1 sowie meine Überlegungen in III.2.3. 210 Ich spiele in dieser Formulierung auf das Phänomen der Immersion an, das ein Eintauchen bzw. Sich-Versenken in den Text bezeichnet, welches die Wahrnehmung seiner ästhetischen Konstruiertheit zugunsten sinnlicher Teilhabe ausblendet. Dazu in historischer Perspektive Bleumer 2012. 211 Man könnte in diesem Sinn von einem antiimmersiven Erzählen sprechen. eingesetzt, dass es das Geschehen in einer auf das Wirken der Liebe hindeutenden Weise prägt, und auch hier gewinnt dieses Wirken bisweilen ein Ansehen von erzählweltlichmotivierender Realität, das auffällig ‚künstlich‘ erscheint. Dabei gleicht das Verfahren dem des ‚Erec‘ in seiner bildhaft spiegelnden Veranschaulichung des argumentativen Verlaufs, hebt sich von diesem aber darin ab, dass es sich, statt mit dem Effekt fraglos sichtbarer Evidenz, eher mit einem unwillkürlichen Zurücktreten von der erzählten Welt verbindet. Maßgeblich für den zu betrachtenden Zusammenhang sind zwei metaphorische Konzepte, die im ersten Teil des Textes zunächst noch relativ unauffällig aufgebracht werden. Sie sind topisch mit der Liebe verknüpft, 212 entwickeln eine besondere Virulenz jedoch dadurch, dass sie gemeinsam mit den die Liebe begründenden Schemata auftreten und im Zuge dessen so mit diesen verquickt werden, dass sie deren Funktion später ohne weiteres übernehmen können. Nachdem die Liebe, so könnte man in diesem Sinne sagen, mit dem Minnetrank ihr vorläufiges Ziel erreicht hat, wechselt sie mit der Gestalt auch das Medium, in dem sie sich entfaltet. Anstatt sich ihren Weg wie zuvor mit der schicksalhaften Gesetzmäßigkeit des Schemas zu bahnen, nistet sie sich nun bildhaft in der erzählten Welt ein, wobei sie das Geschehen in einer Weise ‚überfremdet‘, die die eben dargestellten Vorgänge der thematischen Grenzziehung und -aufhebung, indem sie mit ihnen konvergiert, illustrativ veranschaulicht. 213 Die metaphorischen Konzepte, von denen hier die Rede ist, sind das der Krankheit und das der Jagd, und beide kommen kaum zufällig an Schlüsselstellen der schematisch konstruierten Liebesbegründung ins Spiel. Die erste dieser Stellen ist der Zweikampf Tristrants mit Morolt. Dass er in der Geschichte des Stoffes wohl schon länger auf eine Liebe vorausdeutet, die aufs engste mit Vorstellungen der Verletzung, des Gifts und der Krankheit zusammenhängt, ist bekannt. Das Los, das dem Helden des Tristanromans bestimmt ist, begegnet ihm in Form des vergifteten Spießes, 214 der ihn gleich zu Beginn des Kampfes trifft ( ET r 854-864). Die Verknüpfung von Verwundung / Krankheit und Liebe ist dabei von vornherein eine doppelte. In der Motivation der Handlung markiert das Geschehen zum einen - je nach Blickrichtung - den (vorbereitenden) Grund oder die (finale) Ursache für Tristans Reise nach Irland und die Begegnung mit Isolde; 215 hinzu kommt zum andern eine assoziative Dimension, die die Liebe nicht allein vorausdeutet, sondern in gewisser Hinsicht auch (identifizierend) definiert: Indem den Protagonisten trifft, was ihm vorherbestimmt ist, erscheinen Vergiftung und Liebe eins. Eilhart nimmt den Gedanken auf und spinnt ihn in einer Szene aus, die ohne weiteres als realisierte Metapher dessen gelesen werden kann, was Tristrants Schicksal in seiner Bearbeitung des Stoffes ausmacht. 216 Anders als bei Gottfried, wo die schwärende Wunde vor allem den Helden selbst leiden lässt, zeitigt ihr furchtbarer Gestank hier sogleich manifeste soziale Folgen: Er bewirkt, daß im 212 Vgl. dazu etwa Krause 1996, S. 79-89, Wessel 1984, bes. S. 184-194. 213 Ich schließe im Folgenden an meine Überlegungen im letzten Abschnitt sowie - im Vergleich - an die zum ‚Erec‘ in Kap. III.2.3.3 an. 214 Vgl. dazu etwa Bonath 1983, S. 41, Simon 1990a, S. 368. Die mythologische Besetzung Morolts als ‚Bote der Liebe‘ ist in seiner Bewaffnung mit dem Spieß bei Eilhart wohl deutlicher. Gottfried gibt dem Iren ein Schwert in die Hand und verschiebt die Assoziation auf den Helden selbst, indem er ihm einen Helm aufsetzt, der mit dem Pfeil Amors verziert ist (GTr 6594 f.). 215 In diesen Kontext gehört die schematische Lesart, die Tristrants Verletzung als den (narrativ nicht realisierten) Ausdruck jenes Rufs betrachtet, mit dem die ‚Fee‘ den zur Liebe Auserwählten in ihr anderweltliches Reich lockt. Vgl. Simon 1990a, S. 368. 216 Ähnlich schon Schindele 1979, S. 19 f. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 271 272 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane niemen kund wol zů im nauhen ( ET r 1056 f.). 217 Deshalb muss Tristrant, anstatt seine Reise wie Gottfrieds Protagonist direkt von Markes Hof aus antreten zu können, zuerst einmal aus der Stadt fliehen, muss fern von allen Menschen in einem einsamen huß sein Dasein fristen ( ET r 1061-1063) und sieht sich schließlich aus demselben Grund - nicht etwa wie sein Alter Ego in der Hoffnung auf Heilung - dazu gezwungen, in einem kleinen schiffelin allein aufs Meer hinauszufahren. 218 Eilhart betont: er wölt ee verderben uff dem wasser allain, dann er die lút gemain verdörbte mit dem stanck. ( ET r 1100-1103) Es ist nicht schwer, hierin den Verweis auf Flucht und Liebestod sowie einen Reflex auf deren Grund zu erblicken: Das Gift von Morolts Waffe wirkt wie das Gift der Liebe. Es verursacht nicht nur das Leiden, dem Tristrant beinahe erliegt, es macht ihn auch den Menschen unerträglich, bewegt ihn dazu, sich immer weiter aus der Gesellschaft zurückzuziehen 219 und lässt ihm am Ende keine andere Möglichkeit, als allein zu sterben. Im weiteren Sinne in den Zusammenhang der Flucht gehört auch das metaphorische Konzept der Jagd, das Eilhart an einer zweiten Schlüsselstelle dieses Handlungsteils, bei der ersten Begegnung zwischen Tristrant und Isalde, mit ihrer (hier noch nicht entstehenden) Liebe verbindet. Anders als im vorhergehenden Fall bezieht diese Stelle sich nicht auf das Ende, sondern auf den Anfang der Liebe, wobei sie diesen mit der Vorstellung des - ebenfalls ins Bildfeld der Jagd gehörenden - Aufspürens und In-die-Falle-Gehens koppelt. Die Suche nach dem Drachentöter wird im Zuge dessen geradezu als Demonstration von Isaldes wÿsheit ( ET r 1766) inszeniert. Im Gegensatz zu Gottfrieds Protagonistin, die zunächst nur zu klagen weiß und ihrer zauberkundigen Mutter die Initiative überlässt ( GT r 9264-9330), hält die irische Prinzessin bei Eilhart das Heft fest in der Hand. Sie weiß sofort, dass der Truchsess lügt, und bittet ihre Getreuen selbst auf die Pirsch nach der Wahrheit. Sorgfältig liest sie Tristrants Spur, erkennt am Hufabdruck seines Pferdes seine ausländische Herkunft und stößt unweit des verwüsteten Kampforts schließlich auf ihn selbst (ETr 1747-1847). Dass der Fund der Finderin bald zum Verhängnis werden wird, deutet sich hier bereits an. Bezeichnenderweise ist es Brangäne, die später so erfolglose Trankhüterin, die den erschöpften Drachentöter zuerst aufspürt - weil sie, wie Eilhart berichtet, seinen Helm alß ain glas aufleuchten sieht ( ET r 1823). 220 Was sie entdeckt, verweist also auf das Gefäß des Minnetranks - und da, was sie entdeckt, zugleich Tristrant ist, wird dieser assoziativ selbst zu diesem ‚Gefäß‘: Mit ihm kommt zu Isalde, wofür der Minnetrank steht. Die ganze Szenerie gewinnt damit die Anmutung eines Vorgangs, der das Figurenhandeln untergründig konterkariert. Was Isalde als Suche nach dem Drachentöter unternimmt, lässt 217 Das geschieht zwar auch bei Gottfried, wird jedoch intern fokalisiert und so in Tristans Leidwahrnehmung integriert: ouch was sîn meistez ungemach, daz er daz alle zît wol sach, daz er den begunde swâren, die sîne vriunde ê wâren (GTr 7279-7282). 218 Gottfried schickt seinen Helden dagegen in Begleitung Kurvenals und acht weiterer Männer auf die Reise (GTr 7362-7364). 219 Dies ist laut Schulz (2012 / 2015, S. 314 f.) die Bewegung, die auch die Flucht in den Wald (sowie, nach deren Modell, den Roman insgesamt) prägt. 220 Der Zusammenhang ist bei Gottfried in anderer Weise bedeutsam. Dort ist es Isolde, die den (pfeilgeschmückten) Helm Tristans zuerst erblickt - die Szene deutet also, anstatt der Liebesentstehung, die Liebe selbst voraus (GTr 9369-9376). sie die ihr (handlungsschematisch! ) vorherbestimmte Liebe finden. Die Spur, der sie folgt, wird so zum Köder, die klug arrangierte Rettung (vor dem Anschlag des Truchsessen) zur unvorhergesehenen Falle (der Liebe). Auch das ist mehr als eine Vorausdeutung, nämlich eine metaphorisch realisierte Spiegelung bzw. bildhafte Veranschaulichung von Isaldes Schicksal und zugleich Charakterisierung der Liebe. Die Liebe wird, so die hier vermittelte Suggestion, Isalde von einer Suchenden zur Gesuchten, von einer Spurenleserin zur Spurenfälscherin und von einer Jagenden zur Gejagten machen. Was bis hierher noch im Bereich der Assoziation bleibt, wird wenig später Realität. Dabei bestimmt der metaphorische (Zweit-)Sinn das erzählweltliche Geschehen in einer Weise, die wohl nicht nur dem neuzeitlichen Leser gelegentlich merkwürdig phantastisch anmutet. Das Medium, das die Konzepte der Jagd und der Krankheit in der erzählten Welt konkret mit der Liebe verbindet, ist - erwartungsgemäß - der Minnetrank. In ihm verwirklicht sich zunächst die Metaphorik des Giftes und der Krankheit. Anders als Morolts vergifteter Spieß, der ebenso wie das Leiden, das er auslöste, lediglich für die Liebe stand, ist er nun tatsächlich: Gift. Dieses Gift verursacht eine Liebe, die zuerst und vor allem Krankheit ist und die in einem zweiten Schritt bedingt, dass die von ihr Betroffenen ständig verfolgt werden. In diesem Sinne ist auch die Jagd mehr als nur eine Metapher für das Leben der Liebenden an Markes Hof. Die Liebeskrankheit, die Tristrant und Isalde immer wieder zueinander zwingt, lässt die beiden in dem Maße tatsächlich zum verfolgten Wild werden, als die Nachstellungen Antrets und seiner Kumpanen zunehmend ganz konkret als ( Jagd-) Fallen daherkommen. Was mit übler Nachrede und Verleumdung beginnt, wird bald schon zum echten Hinterhalt: Statt wie angekündigt im Wald, lauern der Jäger Marke und sein Helfer, der Zwerg, ihrem Wild im königlichen Baumgarten auf. 221 Spätestens in der Mehlstreuszene wird das Bild der Jagd zu blutigem Ernst. Sobald Tristrant den bemehlten Boden betritt, schnappt die Falle zu, und er wird von den Schergen des Königs ergriffen. Die Flucht in den Wald, die (vermeintliche) Verfolgung durch Tristrants Jagdhund und das Leben von Wasser und Wildkräutern erscheinen von hier aus nur als logische Konsequenz. 222 Ebenso folgerichtig ist die Strafe, die Isalde nach Tristrants Entweichen droht ( ET r 4276-4292). In der Übergabe an den aussätzigen Herzog realisiert sich abermals die Vorstellung von der Liebe als einer Krankheit, die (wie Tristrants Wunde) unerträglich stinkt und die in der sexuellen Begierde der Aussätzigen in krassester Weise ihr wahres Wesen enthüllt. Die Verbindung der Liebe mit dem Aussatz erscheint zwar zunächst erneut als eine rein metaphorische (denn der Minnetrank erzeugt zwar Krankheit, aber keinen Aussatz). Als metaphorische jedoch erklärt sie das, was sie bildhaft zum Ausdruck bringt (das Wesen der Liebe), in grausiger Weise zur ganz realen Ursache dessen, was zunächst nur Metapher zu sein scheint (Aussatz). Isaldes Strafe steht also nicht, wie man vielleicht meinen könnte, nur spiegelnd für ihr Vergehen, 223 sie ist vielmehr als dessen Konsequenz zu denken: In ihr soll sichtbar werden, was die Liebe bewirkt. Ausgrenzung, Krankheit, Tod, so die Botschaft von Markes Urteil, sind die notwendigen Folgen der Liebe und die Aussätzigen nur das Mittel, mit denen die Liebe sich selbst zur Strafe wird. 221 Zur List gehört, dass Marke vorgibt, zur Jagd zu reiten (ETr 3445). 222 ETr 4355-4580. Ins Bild passt, dass die Liebenden schließlich von Markes Jäger entdeckt werden (ETr 4594-4598). 223 Wenngleich dieser Aspekt natürlich auch eine gewisse Rolle spielt: Die ‚Liebe‘ der Aussätzigen spiegelt den illegitimen Liebesakt. Vgl. dazu Schindele 1971, S. 77, Schausten 1999, S. 79 f. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 273 274 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane Wenn der Aussätzige mit Isalde davonreitet, vollendet sich daher, was mit dem Minnetrank begonnen hatte: Ein Moment, von dem man zunächst meinen könnte, dass es den Ereignissen nur einen metaphorischen Zweitsinn verleiht (etwa als kommentierende Erläuterung des Sinns, dass die Liebe in sozialer Hinsicht ähnliche Folgen zeitigt wie der Aussatz), bricht in die erzählte Welt ein und wirkt dort tatsächlich so, wie es eine Metapher lediglich illustriert hätte. In diesem Zusammenhang motiviert es die Ereignisse innerhalb dieser Welt zwar zuerst nicht direkt, 224 es arbeitet aber gleichsam darauf hin, dass es sich in ihr konkretisieren und zur motivierenden Kraft werden wird. Der merkwürdige - und narratologisch erneut schwer zu fassende - Vorgang wird auch hier verständlicher, wenn man ihn in den Termen einer narrativ konkretisierten Denkbewegung beschreibt: Die Liebe wirkt im Sinne der Definition. Sie wurde im Bild des vergifteten Speers als Krankheit definiert und erweist sich im Minnetrank als Krankheit; sie war bei der Suche nach dem Drachentöter bildhaft als Fallenstellerin anwesend und bewirkt ständige Verfolgung. Auf diese Weise macht sie das Leben Tristrants und Isaldes zu einem Sinn-Bild der Liebe; zu einem Sinn-Bild, in dem erzählweltlich-reales Sein und narrativ-metaphorisches Bedeuten zusammenfallen. Der vergleichende Blick auf den ‚Erec‘ zeigt: Anders als dort schließen sich die metaphorischen Suggestionen hier nicht bloß zu einem Netz von Bildern zusammen, mit dem das Handlungsgeschehen imaginativ überzogen und in seinem gedanklichen Inhalt gleichsam sichtbar gemacht wird. Indem sie sehr viel stärker in die erzählte Welt eingreifen und diese mit ihrer bildhaften Logik ‚überfremden‘, erscheinen sie vielmehr in einem Maße (erzählweltlich) real, das sie zu mehr als Illustrationen von gedanklichen Vorgängen werden lässt. Anders als beim ‚Erec‘, dessen spiegelnde Wirkung im Wesentlichen dadurch entsteht, dass die Geschehnisse der erzählten Welt in immer wieder anderer Weise auf einen gemeinsamen Gedanken hin durchsichtig gemacht werden, ist der Eindruck deshalb erneut eher der einer abweisenden Verdunklung. Das heißt: der gedankliche Verlauf des Erzählens ist zwar auch hier buchstäblich zu sehen und insofern (imaginativ) unmittelbar verständlich; der Effekt unmittelbaren Verstehens wird jedoch konterkariert und überlagert von dem einer narrativen Vermittlung, die, sofern sie die Erwartungen an das Wahrscheinliche immer wieder bricht, ‚ungeschliffen-kantig‘ erscheint. An die archaische Anmutung des ersten Handlungsteils ist dabei insofern anzuschließen, als die - dort schematischen, hier metaphorischen - Wirkkräfte der Liebe das einzige Moment bleiben, das die Handlung episodenübergreifend motiviert. Der Liebeszwang treibt Tristrant und Isalde ebenso mechanisch immer wieder zueinander, wie der Verfolgungszwang ihre Gegner zu immer neuen Ränken veranlasst. Über diese Zwänge hinaus gibt es offenbar nichts, das die Figuren zu ihrem Handeln bewegt. 225 Sie erscheinen als Marionetten einer sie sinnträchtig bewegenden Liebe. In gewisser Weise noch mehr als für das dem Minnetrank folgende Geschehen gilt diese Feststellung für die Zeit nach dem Erlöschen seiner (akuten) Wirkung. Denn warum Tristrant und Isalde einander auch jetzt immer wieder sehen und sich anhaltend der Ver- 224 Das heißt, dass etwa Tristrants erste Reise nach Irland ganz klar durch die Verletzung motiviert ist und nicht etwa durch die Liebe, auf die diese verweist. 225 Der Erzähler nennt zwar den Neid der Höflinge als Movens (ETr 3090-3147); da er aber nicht weiter ausführt, was diese sich von ihren Intrigen erhoffen (eine bessere Position bei Hof ? die Gunst des Königs? ), bleibt es höchst schemenhaft. Ob die Liebenden außer ihrer Liebe etwa auch die Sorge um ihre gesellschaftliche Position oder die Zuneigung zu Marke antreibt, bleibt vollends dunkel. folgung ihrer Gegner aussetzen müssen, ist im Rahmen handlungsweltlicher Plausibilität kaum mehr nachvollziehbar. 226 Es mit den Mechanismen der Liebe zu erklären, liegt insofern nahe, und der Gedanke scheint umso einleuchtender, als mit der analytischen Separation des Handlungsraums auch das metaphorische Feld in zwei Hälften zerfällt: Während im Raum der Liebe das Gesetz von Verfolgung, Flucht und Isolation dominiert, breitet sich das feindliche Prinzip im Zusammenhang der Herrschaft wie eine Krankheit aus. Letzteres beginnt wohlgemerkt erst in dem Moment, da Tristant und Kehenis von ihrem cornischen Liebesabenteuer zurückkehren. Karkes scheint also tatsächlich von beiden Konzepten frei zu sein, bis die Liebe in den Handlungszusammenhang der Herrschaft einbricht und in ihn ‚zurückfließt‘. 227 Dabei kann an Herkunft und Natur von Kehenis’ plötzlich aufflammender Leidenschaft für die Gattin seines Gefolgsmanns kein Zweifel bestehen: Er hat sich die Liebe, wie man umgangssprachlich sagen könnte, in Cornwall ‚geholt‘. Die Assoziation von Ansteckung und Krankheit ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt dadurch gegeben, dass Kehenis’ Begegnung mit Isaldes Zofe Gymele - darin wiederum der Darstellung von Tristrants Zweikampf mit Morolt ähnlich - in auffälliger Weise als Verletzung inszeniert ist, und zwar um genau zu sein: als Verletzung seiner herrschaftlichen Integrität. Dass Kehenis die Liebe Gymeles als Mittel zur Steigerung seines feudalen Rangs betrachtet, hatte ich eben schon dargelegt. Wenn das laid , dass ihn überfällt, als ihm diese versagt bleibt ( ET r 6800), nicht bloß das eines frustrierten Liebhabers ist, so erscheint das darum nur konsequent. Dazu passt die Bezeichnung seines Misserfolgs als houptschand ( ET r 6915) ebenso wie der zorn , in dem er sich gegen Tristrant wendet, um sich zu rechen ( ET r 6918 f.). Das Geschehen wird also offenbar weniger als Liebesangelegenheit denn als feudalrechtliches Delikt aufgefasst, und in dessen Kontext stellt das Leid des Betroffenen eine Beleidigung dar, die nur durch Rache aus der Welt geschafft werden kann. 228 Dass das den Minnetrank zitierende Zauberkissen auch hier eine entscheidende Rolle spielt, kann daran anschließend kaum noch verwundern: Wie der Trank Tristrant und Isalde nach ihrer ersten Liebesnacht, so lässt das Kissen Kehenis als einen (im Sinne sozialer Defektheit) Versehrten erwachen; die Zerrüttung des Verhältnisses zu seinem engsten Vertrauten (Tristrant analog zu Brangäne) folgt auf dem Fuß. Wenn er wenig später Tristrants Rolle übernimmt und die Treue zu seinem Gefolgsmann bricht (in umgekehrter Äquivalenz zu Tristrants Treulosigkeit gegenüber Marke), 229 so bedarf es darum gar nicht mehr der Liebe Tristrants selbst. Die Liebeskrankheit seines Doppelgängers reicht völlig aus, um ihn erneut dem Tod zu weihen. Während sich die Liebe so in Karkes (vorläufig) von Tristrant dissoziiert (bis sie in Gestalt von Naupatenis’ vergiftetem Spieß zu ihm zurückkehrt), heftet sie sich in Cornwall an seine Fersen und lässt ihn nicht mehr los. Dominant ist hier das Bild des gejagten Jägers, das bereits die Artusepisode prägt. Nach seiner Vertreibung kehrt Tristrant ausgerechnet im Rahmen einer arthurischen Hirschjagd zum ersten Mal nach Tintajol zurück. Dabei wird ihm das gejagte Wild zum Köder, da es ihn geradewegs in eine Falle (Wolfseisen) lockt, 226 Da der Minnetrank zwar weiterwirkt, aber unmittelbar keine (körperlichen) Auswirkungen mehr hat, könnten sich Tristrant und Isalde im Prinzip ebenso gut mit irgendeiner Form der Fernliebe begnügen. Das Problem notiert auch Müller 1990, S. 26. 227 Ich schließe hier an meine Überlegungen im letzten Abschnitt (Kap. III.3.3.2.2) an. 228 Weil er glaubt, dass die Frauen Tristrants raut folgen, begreift Kehenis das Geschehen als Treuebruch (ETr 6917). 229 Zu diesem Aspekt der Naupatenis-Handlung Strohschneider 1993, S. 42-44. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 275 276 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane aus der er sich nur unter empfindlichen (Blut-)Verlusten (und mit Hilfe der Artusritter) retten kann. Damit ist das Modell begründet, das sich in den Rückkehrabenteuern noch mehrfach wiederholt, wobei die Macht der Liebe als eine Art Abwärtsspirale wirkt. Immer wieder kehrt Tristrant an Markes Hof zurück, immer wieder gelingt es ihm durch List, sich mit Isalde zu vereinigen, immer wieder wird er ertappt bzw. ‚getroffen‘, und immer wieder muss er sich deshalb ‚verletzt‘ zurückziehen. Das Motiv von Getroffenwerden und Flucht, zuerst noch als körperliche Schwächung und Blutverlust ausgeführt, wandelt sich im Zuge dessen mehr und mehr zu einem ideellen Identitäts- und Ehrverlust. Jan-Dirk Müller hat die damit einhergehende „Destruktion des Heros“ zuerst bemerkt und darauf hingewiesen, dass die Metaphorik der Flucht hier zunehmend mit der Vorstellung ständischer Asozialität einhergeht. 230 Je häufiger sich Tristrant dazu herablasse, in „ständisch degradierenden Verkleidungen: [als] Aussätziger, Pilger, Fahrender, Narr“ zur Geliebten zurückzukehren, desto mehr verliere er nicht nur alle Attribute des Helden, sondern werde mehr und mehr tatsächlich ein anderer, werde kahl und hässlich, für seine Umgebung auch ohne Verkleidung nicht mehr ohne weiteres erkennbar. 231 Er scheint sich also mit jeder Liebes-Flucht weiter von der Welt zu entfernen, die vormals seine war, scheint mit jedem In-die-Falle-Gehen mehr von seiner (ständisch-erotischen) Identität zu verlieren und immer weniger ‚er selbst‘ zu werden. Was weder erzählweltlich-realistisch noch handlungsstrukturell begründet werden kann - dass Tristrants Rückkehrabenteuer nämlich einmal ein Ende nehmen müssen -, das findet deshalb im Rahmen der metaphorischen Treibjagd, die die Liebe auf Tristrant veranstaltet, eine plausible Begründung. Tristrants Möglichkeiten sind begrenzt, weil er (buchstäblich) irgendwann ‚verbraucht‘ ist, weil er so viel von seinem Selbst verloren hat, dass er nicht noch einmal zurückkehren kann. Als wüsste er um sein Schwinden, formuliert er den letzten Abschied von der Geliebten bereits als einen endgültigen ( ET r 8982 f.). Anscheinend ‚sieht‘ er die Grenzen, die ihm von der Liebe gesetzt sind, ganz ähnlich, wie sie auch für den Rezipienten bildhaft sichtbar werden. Dass dieser Vorgang auf Cornwall beschränkt bleibt, tut seiner metaphorischen Logik keinen Eintrag, im Gegenteil: Es fügt sich hervorragend in die Vorstellung jenes ‚Auslaufens‘ der Liebe in den Bereich der Herrschaft, das ich im letzten Kapitel als die konkrete Folge von Tristrants wiederholtem Grenzübertritt beschrieben habe. Denn dass Tristrants Liebes-Leben - und damit sein liebendes Selbst - in Cornwall in genau dem Maße immer ‚weniger‘ wird, als es nach Karkes (also in den Bereich der Herrschaft) ‚zurückfließt‘, scheint ja nur folgerichtig. Dem entspricht, dass das Konzept der Jagd hier Einzug hält, sobald die Liebe ihr Gesicht zeigt. Kaum hat sie Kehenis - nach einer Inkubationszeit von gut 800 Versen ( ET r 7081-7864) - dazu gebracht, seine Liebe zu Gardiloye zu erneuern, da stellt sich heraus, dass deren Mann - von dem zuvor nur im Zusammenhang der Kriegshandlungen gegen Havelin die Rede war - in der Zwischenzeit zum passionierten Jäger geworden ist. Um seiner Jagdleidenschaft nachzugehen, hat er sich in den Wald zurückgezogen, wo er in einer dreifach befestigten Burg lebt -, die, als er sie verlässt und seine Frau sorgfältig in sie einschließt, prompt zur Lockfalle wird ( ET r 7911-7920). Der weitere Verlauf ist programmiert. Sobald es Kehenis gelingt, mit Tristrants Hilfe zu Gardiloye vor- 230 Müller 1990, S. 30-35, vgl. Becker 2009, S. 282-288. 231 Müller 1990, S. 30-33, zit. S. 30 f. Die Verkleidungen rekurrieren wohlgemerkt allesamt auf gängige Liebesmetaphorik. zudringen, 232 schlägt die Falle zu, und der Liebende wird vom Jagenden zum Gejagten ( ET r 9034-9107). Der zurückkehrende Ehemannn weiß die Spuren korrekt zu deuten, setzt den Ehebrechern nach und kann sie, obgleich sie schon längst das Weite gesucht hatten, sogar noch stellen: Weil sie sich, anstatt in die Stadt zurückzukehren, in der Zwischenzeit bei der Jagd (! ) auf ein ihnen zufällig (! ) begegnendes Reh versäumt und ihre Pferde erschöpft haben ( ET r 9114-9191). Dass es letztlich keineswegs das Liebesabenteuer selbst, sondern die anschließende, ebenso unvernünftige wie unangebrachte Jagd ist, die Kehenis zum Verhängnis wird, ist höchst bemerkenswert. Das Geschehen liefert hier einen weiteren Beleg für das konkrethandlungsweltliche Wirken der Jagdmetapher. Indem es den Liebenden in einer weiteren Stufe der Realisierung tatsächlich - und damit manifest sichtbar - zum gejagten Jäger werden lässt, macht es zudem in einer Weise auf dieses Wirken aufmerksam, die man mit einigem Recht als selbstreflexiv bezeichnen darf. Das gilt umso mehr, als hier eine Potenzierung vorliegt, die in Vielem der Joie de la curt -Episode des ‚Erec‘ gleicht. 233 Auch die vorliegende Szene gestaltet sich also als verkleinerte Spiegelung des Textes, den sie teils metaphorisch-übertragend, teils verallgemeinernd wiederholt. In diesem Kontext verweist das Reh auf die Liebe selbst; seine Verfolger repräsentieren den Liebenden, der durch seine Pirsch selbst zum Gejagten und unweigerlich früher oder später zur Strecke gebracht wird. Eine Wertung ist dem Geschehen insofern eingeschrieben, als der Liebende durch sein - wie gesagt: unvernünftiges und unangebrachtes - Handeln augenscheinlich weder sich selbst noch seinen Jägern einen Gefallen tut. Das Wild, das er jagt, entzieht sich, und die Jagd auf ihn kostet nicht nur ihn selbst das Leben, sondern zerstört unweigerlich das Gefüge der feudalen Gesellschaft. Naupatenis resümiert das Wesentliche, als er klagend den Platz verlässt: ‚ich hab gerochen min schaden, so daß ich ÿmmer můß clagen, wann ich můß ouch deß todeß wesen: ich mag ouch nit wol genesen vor dieser zwaÿer holden.‘ ( ET r 9227-9231) Dass die Liebe dem Liebenden nichts bringt und davon abgesehen alles kaputt macht, könnte kaum eindrücklicher veranschaulicht werden. Und auch hier bei aller Analogie wieder die entscheidende Differenz zum ‚Erec‘: Während sich die Spiegelung der Joie de la curt -Episode im bedeutungsverdichtenden Hinweisen auf den gedanklichen Gehalt des Textes erschöpft, hat die der Jagdszene neben der veranschaulichenden auch handlungstragende und -motivierende Funktion. Dabei wirkt der Auftritt des Rehs umso signifikanter, je weiter er hergeholt ist. Zweifellos wäre es Eilhart ein Leichtes gewesen, die Handlung an dieser Stelle schlüssiger zu motivieren - so hätte Naupatenis den Ehebrecher etwa in flagranti ertappen oder ihm, wenn das Reh schon sein muss, später bei der Jagd auflauern können. Dass der Erzähler wie schon im ersten Teil des Textes eine plausible Handlungsverknüpfung verweigert, um das, was geschehen muss, in 232 Die Handlung ist hier genauso strukturiert wie Isaldes Suche nach den Drachentöter: Die Figuren wenden all ihre List an, um etwas zu finden, das ihnen zum Verhängnis werden wird. 233 Ich schließe an meine Beobachtungen in Kapitel III.2.3.3 an. Nur nebenbei gesagt sei, dass die Potenzierung hier eine doppelte ist, da sie auf die Spiegelung von Tristrants Geschichte in der seines Doppelgängers Kehenis aufsetzt. Liebe als Problem. Eilharts ‚Tristrant‘ 277 278 Form und Sinn im höfischen Roman - Tristanromane einer Verkettung von Fehlleistungen und Zufällen geschehen zu lassen, mag man darum spätestens hier, im Kontext der mise en abyme , als bewusst gesetztes Signal begreifen. Es weist darauf hin, dass die in den letzten Abschnitten immer wieder beobachtete ‚archaische‘ Künstlichkeit nichts weniger als das poetische Prinzip von Eilharts Text ist. 3.3.4 Tristrants Reh und Enites Pferd. Zwei Künstlichkeiten im Vergleich Um den Vergleich mit der Vermittlungsstrategie des ‚Erec‘ zu vervollständigen, würde es sich gewiss anbieten, an dieser Stelle noch einen umfassenderen Blick auf Verfahren der Affektlenkung im ‚Tristrant‘ zu werfen. 234 Unternähme man das, so könnte man feststellen, dass die Verhältnisse hier durchaus ähnlich liegen. Wiederum wird das Geschehen also so konzipiert, werden Handlungen von Figuren so dargestellt, dass sie den Rezipienten im Affekt intensiv auf solche Passagen blicken lassen, die für die gedankliche Entwicklung des Textes wichtig sind. Und auch in diesem Punkt zeichnet sich Eilharts Text dadurch aus, dass er den Hörer von der erzählten Welt distanziert, statt ihn wie der ‚Erec‘ in sie hineinzuziehen, wobei sich der Eindruck des Künstlichen bei ihm abermals mit dem des Archaisch-Kantigen und Ungeschliffenen, ja Rohen verbindet. Das einschlägigste Beispiel dafür findet sich wohl an der Stelle, wo Marke seine Frau ohne gültiges Gerichtsurteil den Aussätzigen ausliefert ( ET r 4243-4300). Die Art und Weise, in der er den Prozess gegen das ehebrecherische Paar aufzieht ( ET r 3943-4124), dürfte Eilharts Hörer schon zuvor sukzessive immer weiter beunruhigt haben. 235 Nicht genug damit, dass der im Zorn rasende König ein Indiz (Tristrants Fußspur im Mehl) für den Beweis nimmt, als Ankläger und Richter zugleich auftritt, das Urteil schon vor dem Prozess spricht und sich überdies weigert, dem Anwalt der Gegenpartei Gehör zu schenken. Zu allem Überfluss behandelt er seine Gefangenen auch in einer Weise, die ihren Rang grob missachtet. Dass Marke Tristrant wie einen gemeinen Dieb in Fesseln vorführen lässt und Isalde - die Königin! - der allergrößten überhaupt nur denkbaren Schande anheimgibt, muss auf ein mittelalterliches Publikum geradezu als Skandal gewirkt haben. Sofern dieser Skandal sich in den Reaktionen einiger Figuren spiegelt, erinnert die Darstellung zwar wieder an Hartmann - es liegt offenbar ebenfalls ein Fokalisierungseffekt vor -; die Wirkung ist aber trotzdem eine ganz andere, weil sie, statt auf Identifikation mit den Protagonisten, auf die Evokation von Indignation zielt. 236 Markes Verhalten bewegt sich so weit jenseits des für einen König Angemessenen, es missachtet alle Regeln der höfischen Zurückhaltung, ja des basalen Anstands so fundamental, dass es bei Eilharts zeitgenössischen Hörern fast 234 Vgl. Kap. III.2.3.1. 235 Die Szenerie bietet „[e]in äußerstes an situationeller beklemmender Zuspitzung“ (Schindele 1971, S. 76). 236 Die Funktion dessen, was die Figuren zu Markes Verhalten äußern, besteht hier im Wesentlichen darin, dem Hörer die Bewertung des Geschehens vorzugeben. Diese wird also nicht (wie im ‚Erec‘) insinuiert, sondern in die Handlung hineingenommen. Wenn Tinas Marke zur Besonnenheit mahnt und Tristrants Fesseln löst (wobei er betont, dass es dessen Recht sei, ungebunden vor Gericht zu erscheinen, ETr 4080a), und wenn selbst die Wächter angesichts von Tristrants Behandlung trurigen můt [] gew[i]nnen (ETr 4096), dann ist klar, was von den erzählten Vorgängen zu halten ist - und zwar unabhängig von ihrer rechtlichen Bewertung (dazu Combridge 1959 / 1964, S. 85-96). Ähnliches gilt für den Auftritt des Aussätzigen, der die Ungeheuerlichkeit seines Vorschlags selbst betont (ETr 4270-4274b). Dass die Schande, die Marke Isalde zufügt, auf ihn zurückfällt, wird von der Fama bekräftigt (ETr 4296-4300), und zielt, ebenso wie alles andere, allein auf die Verurteilung Markes: Was die Liebenden denken und fühlen, bleibt außen vor. zwangsläufig auf Bestürzung und Befremden stoßen musste. Dieses Befremden warf sie auf den Eindruck des Archaischen zurück - das Geschehen mit den Gepflogenheiten einer längst vergangenen Zeit zu erklären, dürfte zumindest nahegelegen haben 237 - und müsste auf diese Weise für eine Distanz gesorgt haben, die es ermöglichte, die bildhafte Logik zu bemerken, die Markes Urteil in seiner perfiden Folgerichtigkeit auf das Wirken der Liebe bezieht. Auch ohne diesen Punkt weiter vertieft zu haben - weitere Beispiele ließen sich problemlos ergänzen 238 -, wird man demnach im Vergleich zum ‚Erec‘ festhalten dürfen, dass Eilhart dieselben sinngebenden Verfahren mit partiell gegenteiligem Effekt einsetzt. Letzteres ist spätestens jetzt auf eine Inszenierung zurückzuführen, die die ‚Künstlichkeit‘ der Erzählung als eine gleichsam historische markiert: als (vermeintliche) Ansammlung von konstruierenden Dichtungstechniken und lebensweltlichen Realitäten einer vergangenen Zeit. Zumindest im ersten dieser Punkte schließt Eilhart gewiss an die tatsächliche Herkunft des Stoffes aus einer mündlichen Erzähltradition an; 239 die Art und Weise, in der