Rudolf Steiners Geisteswissenschaft
Mythisches Denken oder Wissenschaft?
1007
2015
978-3-7720-5563-8
978-3-7720-8563-5
A. Francke Verlag
Marek B. Majorek
Rudolf Steiners Geisteswissenschaft wird oft als unwissenschaftlich und nebulös, als esoterischer Humbug abqualifiziert. Marek B. Majorek zeigt, dass dieser Beurteilung einerseits ein enges und eingeschränktes Bild des Wissenschaftlichen, andererseits ein mangelhaftes Verständnis der Kerneigenschaften von Steiners Geisteswissenschaft, insbesondere ihrer Forschungsmethoden zugrunde liegt. Darüber hinaus wird gezeigt, welche Bedeutung die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse Rudolf Steiners mit Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart haben.
<?page no="0"?> Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Mythisches Denken oder Wissenschaft? Band 1 Marek B. Majorek <?page no="1"?> Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Band 1 <?page no="3"?> Marek B. Majorek Rudolf Steiners Geisteswissenschaft Mythisches Denken oder Wissenschaft? Band 1 <?page no="4"?> © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8563-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Hintergrund: Goetheanum, Dornach (Schweiz), kurz vor Sonnenuntergang von Nordwesten (© Wladyslaw Sojka, www.sojka.photo). Vordergrund: Goetheanum, Dornach (Schweiz), Außenfassade (Details) (© Marek B. Majorek). <?page no="5"?> Vorwort Das vorliegende Buch ist eine Antwort auf Helmut Zanders monumentales Werk Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884 - 1945 (Zander 2007 a und b) und auf die Biographien von Rudolf Steiner, die 2011 anlässlich des 150. Jahrestages seiner Geburt am 25. Februar 1861 erschienen (Gebhardt 2011, Ullrich 2011, Zander 2011). Ich halte es für dringlich, diesen äußerst kritischen, manchmal sogar diffamierenden Stimmen ein anderes - und ich hoffe, ein angemesseneres - Bild der Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft Rudolf Steiners entgegenzusetzen. In den Augen der „ unbeteiligten Beobachter “ an den Universitäten avancierte sie nämlich zum Inbegriff des Obskurantismus, der Pseudowissenschaftlichkeit und des voraufklärerischen mythischen Denkens, kurz: zum Gegenteil von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit. So stellte z. B. Zander Anthroposophie in die Reihe der Pseudowissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Zander 2008, S. 82 - 85; 94 - 99), und Ullrich sieht in ihr eine Rückkehr zum mythischen Denken (Ullrich 2011, S. 180 - 191). Mahner schließlich relegiert sie kommentar- und diskussionslos in die Kategorie der Parawissenschaften und zählt sie damit zu jenen Bestrebungen, die wie Esoterik, Okkultismus, New Age a. u. nicht einmal als Pseudowissenschaften klassifiziert werden können, denn sie „ [are] outright antiscientific: they reject the scientific approach to knowledge in favor of various ‚ alternative ways of knowing ‘“ (Mahner 2007, 547f.). Diese Urteile sind nicht ohne praktische Folgen geblieben. So schrieb der deutsche Wissenschaftsrat in seiner negativen Entscheidung bezüglich der Anerkennung der anthroposophischen pädagogischen Ausbildungsstätte in Mannheim (damals Fachhochschule Mannheim, FHM, jetzt Akademie für Waldorfpädagogik) als Hochschule: Die FHM erreicht [aber] auf einer grundsätzlichen Ebene nicht die für eine Hochschule erforderliche Wissenschaftlichkeit: Nach Auffassung des Wissenschaftsrates ist im Leitbild und wissenschaftlichen Konzept der FHM das Verhältnis sowohl zu einer anthroposophisch orientierten Waldorfpädagogik als auch zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft nicht ausreichend geklärt. Dies betrifft die Vielfalt methodischer Ansätze und den Anspruch, den in den Erziehungswissenschaften üblichen Standards gerecht zu werden. Ohne eine solche Klärung besteht jedoch die Gefahr, eine spezifische, weltanschaulich geprägte Pädagogik im Sinne einer außerwissenschaftlichen Erziehungslehre zur Grundlage einer Hochschuleinrichtung zu machen. (Wissenschaftsrat 2011, S. 9) Die Mitglieder des deutschen Wissenschaftsrats erachten die anthroposophische Pädagogik also als eine „ außerwissenschaftliche Lehre “ und verweigern ihr deshalb die Anerkennung der Fachhochschule Mannheim. <?page no="6"?> Daneben gibt es andere, vielleicht weniger prominente und weniger explizite Beispiele der Distanzierung des akademischen Establishments von der Anthroposophie und ihren Institutionen, mit der im Übrigen häufig finanzielle Nachteile verbunden sind. Die scharfe Kritik an der Anthroposophie kommt für mich zwar nicht überraschend, ich halte sie jedoch für unbegründet. Die Gewissenhaftigkeit der wissenschaftlichen Urteilsbildung hätte zumindest verlangt, meine bereits 2002 im Francke Verlag veröffentlichten Dissertation Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand. Rudolf Steiners Geisteswissenschaft als ein Ausweg aus der Sackgasse (Majorek 2002) in die Überlegungen einzubeziehen, die die Wissenschaftlichkeit von Steiners Ansatz nachzuweisen versuchte und damit die spätere Kritik vorwegnahm. Lediglich Helmut Zander erwähnt diese Arbeit mit ein paar Zeilen (Zander 2007 a, S. 538f.), setzt sich aber mit meinen Sachargumenten nicht auseinander. Was die anderen genannten Autoren betrifft, so erwähnen sie diese m. E. bedeutsame Verteidigung der Anthroposophie mit keinem Wort. Vielleicht war sie einfach in der Flut der wissenschaftlichen Literatur untergegangen. Jedenfalls habe ich diesem Umstand den Hinweis entnommen, dass ein neuer, verbesserter Anlauf notwendig ist. Seit dem Erscheinen von Zanders Werk sind mehrere Bücher anthroposophischer Autoren veröffentlicht worden, die Rudolf Steiner und seine Lehre in Schutz nehmen und ihre Bedeutung für die heutige Zivilisation darlegen. Ich möchte hier insbesondere (in chronologischer Reihenfolge) die folgenden Titel erwähnen: Lorenzo Ravaglis Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes „ Anthroposophie in Deutschland “ (Ravagli 2009), Peter Heussers Habilitationsschrift Anthroposophische Medizin und Wissenschaft. Beiträge zu einer integrativen medizinischen Anthropologie (Heusser 2011), Peter Selgs dreibändige Biographie Rudolf Steiner, 1861 - 1925. Lebens und Werkgeschichte (Selg 2012) und den Sammelband Rudolf Steiner. Seine Bedeutung für Wissenschaft und Leben heute (Heusser und Weinzirl, 2014). Auch jene Autoren, die es sich wie Heusser zur Aufgabe machen, Rudolf Steiners Ansichten in ein Verhältnis zur Wissenschaft zu stellen, tragen aber m. E. zu wenig den Entwicklungen der Wissenschaftstheorie in den letzten 80 Jahren (seit dem Aufkommen des logischen Positivismus) Rechnung. Mir scheint es indes unmöglich, von der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie zu sprechen, ohne den Begriff der Wissenschaft geklärt und die Kriterien der Abgrenzung von der Pseudowissenschaft herausgearbeitet zu haben. Aus diesen Überlegungen ergibt sich der Plan des vorliegenden Werkes. Der Diskussion des Wissenschaftsbegriffs habe ich einen Abriss der Geschichte der Wissenschaft vorangestellt, um die heute diskutierten Probleme aus einer größeren Perspektive zu betrachten. Diese Darstellung ergibt, dass der Begriff der Wissenschaft ganz unterschiedlich gefasst wurde und bereits für die Erkundungsweisen der alten Griechen und selbst der Babylonier ver- VI Vorwort <?page no="7"?> wendet werden kann, was unsere gegenwärtigen Vorstellung von Wissenschaftlichkeit erweitert und zugleich relativiert. Einen Überblick über die überraschend komplexe Entstehungsgeschichte der Wissenschaft zu geben, ist die Aufgabe des ersten Kapitels des vorliegenden Buches. Des Weiteren schien es mir angebracht, die Entwicklung des logischen Positivismus darzustellen und einen Einblick in einige seiner grundlegenden Werke zu geben. Der logische Positivismus hat fast vierzig Jahre lang einen so starken Einfluss auf das Selbstverständnis der Wissenschaft ausgeübt, dass es immer noch unmöglich ist, ihn zu vernachlässigen, obwohl er bereits seit den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts als überholt gilt. Aus heutiger Sicht scheint mir besonders lehrreich an ihm, dass diese einmal so einflussreiche philosophische Richtung später nicht nur von ihren Gegnern, sondern auch von ihren früheren Verfechtern als völlig verfehlt eingeschätzt wurde. Wie ist es möglich, dass sich die besten Köpfe ihrer Zeit so irren können? Das zweite Kapitel will eine vorläufige Antwort auf diese Frage liefern. Der Zerfall des logischen Positivismus in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte weitestgehende Folgen für die Auffassung der Natur der Wissenschaft. Nicht nur öffnete er die Tür für eine kritische Hinterfragung ihres Charakters seitens der sog. Soziologie der Wissenschaft und der feministischen Erkenntnistheorie; er trug auch zur Entstehung einer neuen Ausrichtung der wissenschaftlichen Forschung bei: des Paradigmas der qualitativen Forschung, das dezidiert mit der von den logischen Positivisten herausgestellten Rolle der quantitativen Daten, der Messung, der strengen, abstrakten Theorien brach. Im dritten Kapitel schildere ich diese wichtigen Entwicklungen. Wie es wichtig ist, die Geschichte der Wissenschaft zu kennen, um sich über den aktuellen Zustand dieses Unternehmens ein gebührendes Bild verschaffen zu können, so ist es ebenfalls nützlich, die offenen Fragen und Schwachstellen der heutigen Wissenschaft darzustellen. In der öffentlichen Wahrnehmung ist sie eine Art Monolith, in dem alles fest zusammengefügt ist. Der Laie hält sie für ein Wissenssystem, das auf alle Fragen zuverlässig Antworten liefert und seine Behauptungen abschließend beweist. Dieses Bild hat mit der Wirklichkeit der modernen Wissenschaft herzlich wenig gemein, und die Aufgabe des vierten Kapitels ist es, diese Ansicht zu korrigieren. Im fünften Kapitel wende ich mich der heutigen Diskussion um die Begriffe der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit sowie um das Abgrenzungskriterium Wissenschaft/ Pseudowissenschaft zu. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang scheint mir die Berücksichtigung jener Stimmen, welche für die grundsätzliche Offenheit des Wissenschaftsbegriffes für künftige Entwicklungen plädieren. Am Ende dieses Kapitels formuliere ich einen „ kleinsten gemeinsamer Nenner “ der heutigen (Natur-)Wissenschaft. Vorwort VII <?page no="8"?> Als eines der wichtigsten Elemente dieses kleinsten gemeinsamen Nenners erweist sich die Forderung, dass naturwissenschaftliche Erklärungen ausschließlich auf sog. natürliche Entitäten und Kräfte zurückgreifen dürfen, dass sie also materialistisch sein müssen. Die heutige Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft, ist durch und durch materialistisch, bezeichnet diesen Materialismus aber gewöhnlich als Naturalismus oder Physikalismus. Dabei handelt es sich um eine Metaphysik, insofern die damit verbundenen Annahmen den selbstgesteckten Rahmen der streng empirischen Untersuchung sprengen: Eine Metaphysik trifft Aussagen darüber, wie die Wirklichkeit insgesamt und jederzeit beschaffen ist, während empirische Forschung lediglich feststellt, wie sich die bislang erforschte Wirklichkeit aufbaut. Die materialistische Metaphysik war allerdings keineswegs immer ein Bestandteil der Wissenschaft. Im sechsten Kapitel schildere ich, wie und wann sie Einzug in die Wissenschaft gehalten hat. Es wird sich ergeben, dass der endgültige Sieg des Materialismus in der Wissenschaft erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte, und zugleich, dass der Materialismus heute keineswegs die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung darstellt. Die allermeisten Menschen dieser Welt (ca. 84 % 1 ) sind, zumindest nominell, gläubig. Es ist deshalb nicht überraschend, dass sich die „ logischen “ Folgen dieser Metaphysik im praktischen und sozialen Leben der Menschen nicht offenbaren: Wir alle, ob Materialisten oder Nichtmaterialisten, haben noch immer Haltungen und Verhaltensweisen, die sich den althergebrachten religiösen Überzeugungen verdanken. Wie würde aber eine Welt aussehen, die sich dieser Traditionen vollständig entledigte? In einem „ Intermezzo “ gebe ich eine persönliche Einschätzung. Wie die moderne Wissenschaft irrtümlicherweise als ein fester Monolith ohne Kratzer und Unebenheiten vorgestellt wird, so ist in der Öffentlichkeit auch die Meinung vorherrschend, dass mehr oder weniger alle Wissenschaftler die Grundprämissen der heutigen Wissenschaft und insbesondere ihre materialistische Ideologie unterstützen. Auch diese Wahrnehmung hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Schon immer gab es bedeutende Wissenschaftler, die gläubige Menschen waren oder von der Existenz einer geistigen Wirklichkeit überzeugt waren und diese Überzeugung öffentlich kundtaten. Die Zahl solcher Bekenntnisse ist in den letzten Jahren sogar angestiegen, ohne dass diese Entwicklung von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und gewürdigt wurde. Das achte Kapitel ist einigen von ihnen gewidmet. Es hat zum Ergebnis, dass in Anbetracht der Anzahl und der prominenten Stellung der Wissenschaftler, die sich zur Existenz einer geistigen Welt 1 http: / / www.washingtontimes.com/ blog/ watercooler/ 2012/ dec/ 23/ 84-percent-worldpopulation-has-faith-third-are-ch/ (heruntergeladen am 29. 1. 2015). VIII Vorwort <?page no="9"?> bekennen, die Forderung, sich in der Wissenschaft auf „ natürliche “ Erklärungen der Naturphänomene zu beschränken, heute hinfällig ist. Die Annahme einer geistigen Welt hat selbstverständlich weitgehende Folgen für unser Verständnis des Charakters und der Aufgabe der Wissenschaft. Ich befasse mich mit diesen Folgen nicht direkt, sondern wende meinen Blick zunächst wiederum der Vergangenheit zu. Bis heute hallen in unserer Kultur Echos alter „ Mysterien “ nach, von Orten, an denen Menschen aus zeitlich weit entfernten Kulturen Antworten auf die für sie wichtigen Fragen, aber auch Trost und Heilung suchten. Heute können wir nicht mehr viel mit solchen Überlieferungen anfangen, sie erscheinen uns als bloße Legenden, als Erfindungen oder vielleicht sogar schlicht als Schwindel. Im neunten Kapitel werde ich zeigen, dass die Mysterien in der griechischen, ägyptischen und in noch früheren Kulturen sehr wohl eine Wirklichkeit darstellten. In den Mysterienstätten wurde versucht, mit der geistigen Welt und ihren wichtigsten „ Bewohnern “ , den Göttern, Kontakt zu knüpfen, um das tägliche Leben derMenschengemeinschaft zu befruchten, zu welchem Zweck es raffinierte Methoden und Einrichtungen gab. Ist es denkbar, dass man einen solchen Kontakt wiederherstellen und aus dieser neu erschlossenen Quelle das Leben der heutigen Menschengemeinschaft befruchten kann? Ein weiteres Element des im fünften Kapitel ermittelten kleinsten gemeinsamen Nenners der Wissenschaft ist die Ausrichtung der Forschung auf die Objektivität ihrer Resultate. Objektivität bildet zweifelsohne einen ihrer wesentlichen kognitiven Werte. Dieses Ideal wird jedoch gewöhnlich völlig falsch verstanden. Objektivität wird oft mit Messung und ihren Resultaten, folglich mit der Verwendung von Mess- und sonstigen Forschungsinstrumenten und mit der Verarbeitung der mit ihrer Hilfe gewonnenen Daten durch mathematische und statistische Methoden identifiziert. Im zehnten Kapitel versuche ich zu zeigen, dass derartige Assoziationen verfehlt sind. Die Objektivität der Forschungsergebnisse gründet in erster Linie nicht auf der Verwendung von Forschungsinstrumenten und Messung, sondern auf der Breite der Urteilsgrundlage und dem Ausschluss von Subjektivität. Das elfte und wichtigste Kapitel des vorliegenden Werkes ist der Darstellung der übersinnlichen Forschungsmethoden der Imagination, Inspiration und Intuition der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners gewidmet. Darin will ich zeigen, dass diese Methoden nicht nur die empirische Erforschung der übersinnlichen Wirklichkeit ermöglichen, sondern auch, dass ihre Ergebnisse, insbesondere jene der Inspiration und Intuition, in puncto Zuverlässigkeit den Methoden der Naturwissenschaft in nichts nachstehen und sie hinsichtlich der Objektivität deutlich übertreffen. Der einzige Vorteil, den die konventionelle Naturwissenschaft (noch) gegenüber der Geisteswissenschaft beanspruchen kann, ist, dass ihre Ergebnisse reproduziert wurden, während Rudolf Steiner bislang (mit nur einer mir bekannten Ausnahme) der einzige Geistesforscher geblieben ist, die Ergebnisse seiner Forschung (zu- Vorwort IX <?page no="10"?> mindest soweit es aus der öffentlich zugänglichen Literatur ersichtlich ist) also noch nicht wiederholt wurden. Im zwölften Kapitel schildere ich die bedeutendsten Ergebnisse der übersinnliche Forschung Rudolf Steiners. Im dreizehnten Kapitel stelle ich die m. E. wichtigsten Folgen dieser Forschungsergebnisse für die gegenwärtige Kultur dar und gebe aus Sicht der Geisteswissenschaft Antworten auf einige der im vierten Kapitel gestellten Fragen. Die Folgen der wissenschaftlichen Erforschung der übersinnlichen Welt für das Selbstverständnis des Menschen und für das künftige Handeln der Menschengemeinschaft scheinen mir ausreichend wichtig und radikal zu sein, um von einer bevorstehenden „ Steiner ’ schen Revolution “ zu sprechen. Ich habe an dem vorliegenden Buch 2011 angefangen zu arbeiten 2 und dachte, dass es eine verhältnismäßig schnelle Antwort auf die oben erwähnten Werke sein wird. Indessen hat sich die Aufgabe als viel komplexer und langwieriger erwiesen, als ich es mir vorgestellt habe, so dass das Buch erst jetzt fertig und viel umfangreicher geworden ist als geplant. Die Verzögerung hat aber den Vorteil, dass das Werk im 90. Jahr nach Steiners Tod 1925 erscheint, wenngleich es mir nicht gelungen ist, die Arbeit so früh abzuschließen, dass sie bereits an seinem Todestag am 30. März zugänglich ist. Ich bin mir schmerzhaft bewusst, dass das Buch trotz dieser langen Entstehungszeit und seines Umfangs sehr viel zu wünschen übrig lässt. Die komplexen Themen, mit welchen ich mich in den einzelnen Kapiteln befasse, bedürften für eine angemessene Behandlung viel mehr Raum und selbstverständlich auch viel mehr Zeit. In der Tat könnte fast jedes Kapitel des Buches mit Leichtigkeit zu einer eigenständigen Dissertation erweitert werden. Wäre ich diesen Weg gegangen, hätte ich das Werk aber wahrscheinlich nicht abschließen können. Ich musste also Abkürzungen einschlagen und mich mit einer gewissen Oberflächlichkeit zufrieden geben. Eine weitere Schwierigkeit, die den Leser des Buches erwartet, ist seine Sprache. Deutsch ist (nach Polnisch und Englisch) nur meine dritte Sprache, und ich habe es erst verhältnismäßig spät, mit 33 Jahren, erlernt. Folglich wird der Leser/ die Leserin manche Formulierung recht unbeholfen und verfeinerungsbedürftig finden, und dies trotz der Bemühungen meiner beiden Lektoren, Herrn Axel Walter und Dr. Frank Giesenberg, die den Text sehr gründlich umgearbeitet haben. Ich bin ihnen und vor allem Herrn Dr. Giesenberg, der etwa vier Fünftel des Buches akribisch korrigierte, sehr verpflichtet und möchte ihnen an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Die verbleibenden Schwierigkeiten und Schwächen des Textes 2 Man muss dabei betonen, dass das vorliegende Werk nicht nur die Frucht der letzten vier Jahre ist, sondern das Ergebnis der Arbeit, der Veröffentlichungen und von Reflexionen der letzten bald zwanzig Jahre, das heißt seitdem ich mit meiner Dissertation begonnen habe. In einem erweiterten Sinne kann und soll dieses Werk sogar als Resultat der letzten vier Jahrzehnte (seit meiner ersten Begegnung mit der Anthroposophie) betrachtet werden. X Vorwort <?page no="11"?> müssen mir angelastet werden. Für eine sprachlich perfekte Fassung reichten die Zeit und die finanziellen Mittel nicht aus. Mein Dank gebührt darüber hinaus zahlreichen anderen Personen. An erster Stelle möchte ich in diesem Zusammenhang Dr. Benediktus Hardorp erwähnen, der leider 2014 verstorben ist. Er war maßgeblich dafür verantwortlich, dass ich vom DAMUS-DONATA e. V. in Mannheim ein großzügiges Stipendium bekommen habe, das es mir ermöglichte, zwei Jahre lang bei stark reduziertem Lehrpensum am Buch zu arbeiten. Ich möchte mich auch bei Herrn Christian Boettger, dem Geschäftsführer der Pädagogischen Forschungsstelle im Bund der Waldorfschulen in Stuttgart, für die Unterstützung des Vorhabens und bei Herrn Sebastian Jüngel, dem Chefredakteur der Wochenschrift Das Goetheanum, für seine äußerst fruchtbaren Vorschläge zur Finanzierung der Veröffentlichung des Buches bedanken. Mein Dank geht auch an Herrn Prof. Harm Paschen, auf dessen freundliche Empfehlung hin DAMUS-DONATA e. V. mir ein Stipendium gewährte. Ferner gebührt mein Dank den zahlreichen institutionellen und privaten Spendern, die durch ihre Großzügigkeit die Veröffentlichung des Werkes ermöglichten. Diese sind in der Reihenfolge der Höhe der Spende: die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland (hier möchte ich mich an erster Stelle bei Herrn Hartwig Schiller für seine tatkräftige Unterstützung herzlich bedanken), die Hausserstiftung e. V. in Stuttgart (hier bin ich vor allem Frau Dr. Iris Paxino verpflichtet), Frau Dr. Maja Oeri, Herr und Frau Schöne, Frau Barbara Biermann, Herr Thomas Schott, Herr Jürgen Bartels und Herr Alfred Heinrich. Mein besonderer Dank geht an die geistigen Väter dieses Buches: an Herrn Jerzy Prokopiuk, der meine Augen für die übersinnliche Wirklichkeit geöffnet und mich mit der Anthroposophie bekannt gemacht hat, und an den 1981 verstorbenen Robert Walter, der mir zeigte, dass die wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt nicht nur Rudolf Steiner möglich war. Ich möchte mich auch bei Frau Roswitha Schumm für ihre unermüdliche persönliche Unterstützung während der ganzen langen Arbeit und bei Herrn Dr. Krzysztof Dorosz für seine zahlreichen Lektüreanregungen und sonstige wertvollen Hinweise herzlich bedanken. Schließlich möchte ich mich auch bei allen jenen guten Geistern bedanken, die mir unsichtbar, aber spürbar bei der Arbeit an dem Buch mit ihren zahlreichen guten Anregungen, die wie aus dem Nichts kurz nach dem Erwachen oder während eines Spaziergangs in meinem Bewusstsein auftauchten, maßgeblich geholfen haben. Ich habe sie nicht gesehen, aber sie waren da. Zum Schluss möchte ich eine kleine sprachliche Bemerkung anfügen. Rudolf Steiner benutzte die Begriffe „ Anthroposophie “ und „ Geisteswissenschaft “ mehr oder weniger synonym. Ich hingegen unterscheide im Text zwischen der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners und der Anthroposophie, und zwar deshalb, weil man heute unter „ Anthroposophie “ auch allerlei Vorwort XI <?page no="12"?> praktische Anwendungen von Steiners geistiger Forschung versteht, die keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Manchmal spreche ich aber auch von der „ Geisteswissenschaft oder Anthroposophie “ , weil diese zwei Begriffe doch immer noch als fast gleichbedeutend verwendet werden. Latterbach, Schweiz, August 2015 XII Vorwort <?page no="13"?> Inhalt B AND 1 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus . . . 45 2 a Das Aufkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus . . . . . . . . . . 251 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus . . . . . . . . . . . . . . . 299 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus . . . . . . . . . . . . . 313 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 3 b Feministische Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 3 c Das Paradigma der qualitativen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 3 d Ein neues Verständnis der Natur der Wissenschaft: Philip Kitcher: The Advancement of Science . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 4 Offene Fragen, Rätsel und Probleme der Mainstream- Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4 a Empirische Rätsel der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 4 b Die Rätsel der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 4 c Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 4 d Tiefere Rätsel des wissenschaftlichen Paradigmas . . . . . . . . . . . 465 4 e Image-Probleme der Naturwissenschaft: Betrug, Mangel an Reproduzierbarkeit, unterdrückte Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 4 f Exkurs: Einige empirische Probleme des wissenschaftlichen Paradigmas im Detail . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 4 f i Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? . . . . . . . . . . 504 4 f ii Können Gene Morphogenese erklären? . . . . . . . . . . . . . . 545 4 f iii Können Proteine die Leistungen erbringen, die ihnen zugeschrieben werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 5 Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung Wissenschaft/ Pseudowissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 <?page no="14"?> 6 Einzug des Materialismus in die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 7 Intermezzo: Einige sozialen Folgen der Verbreitung der materialistischen Ideologie in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 727 B AND 2 8 Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft . . . . 749 9 Neue Sicht der alten Geschichte: die alten Mysterien als ein Suchen nach dem Verkehr mit der geistigen Welt . . . . . . . . . . . . . . 1012 10 Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals . . . 1084 11 Übersinnliche Forschungsmethoden: Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Wissenschaftlichkeit ihrer Forschungsresultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162 12 Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . 1324 13 Folgen der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse für das soziale Leben und die Wissenschaft: die Steiner ’ sche Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1396 14 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1470 15 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1481 16 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1556 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1585 XIV Inhalt <?page no="15"?> 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft Will man sich mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit einer Gedankensbzw. Forschungsrichtung, wie z. B. der der Wissenschaft befassen, so scheint es zwingend erforderlich, sich zunächst mit der grundlegenderen Frage danach auseinanderzusetzen, was die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin überhaupt ausmacht, oder anders gefragt, welche die definierenden Merkmale dessen sind, was man bereit ist, als Wissenschaft zu bezeichnen, um dann im zweiten Schritt entscheiden zu können, ob das untersuchte Phänomen (in unserem Fall die Anthroposophie oder Geisteswissenschaft Rudolf Steiners) diese Merkmale aufweist oder nicht, ob es den so ermittelten Kriterien entspricht oder nicht. Mit dieser zentralen Frage werde ich mich an einer späteren Stelle dieser Schrift ausführlich auseinandersetzen; ich möchte dieser Betrachtung jedoch eine andere vorausgehen lassen, die mir in Hinblick auf sie zentral wichtig scheint, und zwar eine Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft wie auch der Reflexion über die Natur bzw. den Charakter der Wissenschaft, welche erst zu gewissen Fragestellungen und Kontroversen geführt hat - zunächst am Anfang des 20. Jahrhunderts, dann an seinem Ende und dann wieder zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Mir scheint, dass die Kontroversen, die zunächst um das Programm des logischen Empirismus und das Popper ’ sche Abgrenzungskriterium geführt wurden, dann um den wissenschaftlichen Status des sog. Kreationismus und in der jüngsten Vergangenheit um den wissenschaftlichen Status der sog. Intelligent-Design-Bewegung, ohne eine solche geschichtliche Betrachtung nicht richtig eingeordnet, nicht richtig verstanden werden können. Eine solche geschichtliche Perspektive wird sich letztlich auch als unerlässlich erweisen, wenn es darum geht, die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie bzw. Geisteswissenschaft Rudolf Steiners gebührend zu behandeln. Wann ist die Wissenschaft eigentlich entstanden? Diese Frage mag zunächst trivial erscheinen: schließlich wisse man doch, dass sie auf Entwicklungen irgendwann zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 17. Jahrhunderts zurückgehe. Hinsichtlich der genaueren Festlegung des „ Geburtsdatums “ der Wissenschaft mag es unterschiedliche Meinungen geben: so werden die einen auf das Jahr 1543 verweisen, das Jahr, in dem einmal Nicholaus Kopernikus ’ bahnbrechendendes Werk De Revolutionibus Orbium Coelestium erschienen ist, zum anderen mit De Humani Corporis Fabrica eine biologische Untersuchung des menschlichen Körpers von Andreas Vesalius (Gribbin 2002, S. xvii); andere werden eher geneigt sein, in diesem Zusammenhang das Jahr 1609 anzuführen, in dem Galileo Galilei den Mond durch sein Teleskop betrachtete und dabei feststellte, dass dessen Oberfläche im <?page no="16"?> krassen Widerspruch zu der von Aristoteles ererbten Anschauung (Fara 2009, S. 26) nicht aus himmlischer Materie besteht, sondern mit ganz „ irdischen “ Bergen bedeckt ist (Appleyard 2004, S. 24, 37). Steven Shapin findet in diesem Zusammenhang wichtiger, dass Galileo sein Teleskop „ sometime between the end of 1610 and the middle of 1611 “ auf die Sonne richtete und auf ihrer Oberfläche dunkle Flecken beobachtete, die noch weniger mit der aristotelischen Anschauung vom göttlichen Charakter der Sonne zu vereinbaren waren(Shapin 1996, S. 15). Wieder andere werden in der Frage der Entstehung der Wissenschaft den 1620 bzw. 1624 erschienenen Novum Organon und Nova Atlantis des englischen Philosophen Sir Francis Bacon eine besondere Rolle zuschreiben - den Werken, in denen er einerseits die neue, empirischexperimentelle wissenschaftliche Methode skizzierte, andererseits die Vision der Wissenschaft als einer kollektiven, vom Staat unterstützten Unternehmung entwickelte (Grant 2007, S. 278 ff). Von diesen kleinen Abweichungen abgesehen, herrscht jedoch - zumindest scheinbar - weitgehend Einigkeit, dass die „ scientific revolution “ , die Geburt der Wissenschaft, eben irgendwann zwischen der Mitte des 16. und der Mitte des 17. Jahrhunderts stattgefunden habe. Für einen wissenschaftshistorisch wenig bewanderten Laien vielleicht überraschend, sind die wirklichen Verhältnisse jedoch keineswegs so einfach. So leitet z. B. Shapin sein Buch The Scientific Revolution mit der eher paradox anmutenden Feststellung ein: „ There was no such a thing as the Scientific Revolution, and this is a book about it “ (Shapin, ebd., S. 1); Lucio Russo verfasste 1996 ein umfangreiches Werk über die vergessene wissenschaftliche Revolution der hellenischen Zeit (zweite Hälfte des vierten bis zum ersten Jahrhundert v. Chr.) und Patricia Fara stellt in ihrem 2009 erschienenen Werk Science. A Four Thousand Year History provokativ fest, dass „ science has no definite beginning “ (Fara ebd., S. 8). Wie ist es möglich, dass Autoren zu so unterschiedlichen Ansichten gelangten und der wissenschaftlichen Revolution entweder gleichsam die Existenz absprechen oder sie zeitlich bereits im dritten oder zweiten Jahrhundert vor Christus verorten bzw. wie Fara behaupten, dass sie nicht vierhundert, sondern viertausend Jahre alt sei? Nun, die Antwort auf diese Frage ist verhältnismäßig einfach: ob man die Wissenschaft an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entstehen sieht oder bereits um das dritte Jahrhundert oder gar irgendwann im zweiten Jahrtausend vor Christus, hängt davon ab, ob man eher die Ähnlichkeiten oder eher die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der Welterkundung betonen will. Es muss in jedem Fall als unbestritten gelten, dass die Menschen die sie umgebende Welt bereits viel früher als im 16. oder 17. Jahrhundert erforscht haben. So weist die Wissenschaftshistorikerin Patricia Fara, die an der Cambridge University lehrt und zuvor schon zahlreiche Bücher über die Geschichte der Wissenschaft veröffentlicht hat, in ihrem oben erwähnten Werk darauf hin, dass bereits die Erbauer von Stonehenge (um 2500 v. Chr.) offenbar ein 2 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="17"?> komplexes Wissen vom Geschehen am Himmel gehabt haben, da Stonehenge als „ mammoth astronomical observatory “ verstanden werden könne (Fara ebd., S. 6). Sie erinnert auch daran, dass bereits die ägyptischen Priester im Alten Reich (von ca. 2700 bis 2200 v. Chr.) imstande waren, die Nilfluten adäquat vorherzusagen (ebd., S. 7), und dass bereits die babylonischen Astronomen (also ca. 1500 v. Chr.) nicht nur das Himmelsgeschehen registrierten und beobachteten, sondern allmählich dazu übergegangen sind, dieses auch zu prognostizieren (ebd., S. 14). In der Tat, wenn man der heutigen Astronomie bzw. Astrophysik den Status der Wissenschaft nicht absprechen will, so muss man zugeben, dass diese beiden Disziplinen, da sie kaum auf Experimente zurückgreifen können und sich eigentlich auf die Beobachtungen und die daraus gezogenen Schlüsse über die Natur der von ihnen beobachteten Objekte und die auf ihnen und zwischen ihnen herrschenden Gesetze beschränken müssen, sich in ihrer Vorgehensweise nicht wesentlich von der babylonischen oder sogar der prähistorischen Himmelskunde unterscheiden. Zweifelsohne sind die Instrumente, welche den heutigen Astronomen zur Verfügung stehen, völlig andere und wesentlich feiner als jene ihrer babylonischen Vorläufer, und zweifellos ist auch das Weltbild der modernen Astronomie bzw. sind die metaphysischen Annahmen die der heutigen astronomischen Forschung zugrunde liegen, völlig andere als die der Erbauer von Stonehenge oder der Astronomen Babyloniens, fraglich ist allerdings, ob die Qualität der Instrumente oder die Art der jeweiligen Metaphysik über den wissenschaftlichen Status einer Disziplin entscheiden können. Fara bemängelt übrigens auch den grundsätzlichen Eurozentrismus der herkömmlichen Vorstellung von der Entstehung der Wissenschaft und weist darauf hin, dass wir vor allem dank der um 1950 begonnenen Erforschung der Geschichte von Wissenschaft und Technologie in China durch Joseph Needham (1900 - 1995; seines Zeichens Companion of Honour, Fellow of the Royal Society, Fellow of the British Academy), den herausragenden britischen Wissenschaftler, Historiker und vielleicht vor allem Sinologen, heute wissen, dass die so paradigmatischen europäischen Erfindungen der Renaissance wie Druckkunst, Schießpulver und magnetischer Kompass (Fara ebd., S. 53), schon viel früher in China vorweggenommen wurden (ebd., S. 58). Needham konnte tatsächlich zeigen, dass die alten Chinesen mindestens 250 wesentliche Erfindungen vor ihren europäischen „ Raubkopierern “ gemacht haben (ebd.) Fara gibt jedoch auch zu, dass Needhams Schlussfolgerungen bis heute umstritten sind (ebd., S. 62). Was Needham in seine Forschungen kaum einbeziehen konnte, war die erst 1974 gemachte Entdeckung des Mausoleums Qín Shihuangdìs, einer Grabanlage aus dem Jahre 210 v. Chr., welche für den ersten chinesischen Kaiser Qin Shihuangdì erbaut worden war und in dem man 7278 lebensgroße Terrakotta-Figuren von Soldaten sowie von deren Pferden und Kriegswagen entdeckte (wobei man berücksichtigen muss, dass bis heute erst etwa ein Viertel der gesamten Anlage komplett freigelegt 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 3 <?page no="18"?> wurde). 3 Die ungewöhnlich hohe künstlerische wie technische Qualität dieser Figuren ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die enormen technischen und - vielleicht darf man auch sagen - wissenschaftlichen Fähigkeiten, über die die Chinesen bereits zu jener Zeit verfügten. Fara behandelt auch ein anderes Thema, das in den Standardwerken zur Entstehung der Wissenschaft gewöhnlich unterrepräsentiert ist bzw. gar nicht vorkommt; die Rede ist von dem Beitrag, den die arabische Kultur zu dieser Entwicklung leistete. Es ist allgemein bekannt, dass die wissenschaftlichen Werke von Aristoteles auf dem Umweg über die arabische Kultur und Übersetzungen aus dem Arabischen erst im späten Mittelalter (im 12. oder sogar erst im 13. Jahrhundert) in Europa wieder zugänglich wurden. Fara erinnert jedoch daran, dass die Bedeutung der arabischen Kultur für die Entstehung der Wissenschaft weit darüber hinausreicht. Die Wissenschaft etablierte sich in dieser Kultur bereits in der Mitte des achten Jahrhunderts, wie sie schreibt (ebd., S. 67), als die in Bagdad herrschenden Kalifen begannen, Forschung und Gelehrsamkeit finanziell großzügig zu fördern. Infolgedessen „ research flourished and theoretical knowledge reached an unprecedented level “ , und das Arabische wurde zur internationalen Wissenschaftssprache, die ein riesiges Territorium von Spanien im Westen bis China im Osten umspannte (ebd.). Fara hebt besonders die medizinischen Kenntnisse der arabischen Wissenschaftler hervor - zumal die von Avicenna, dessen Kanon der Medizin griechische, römische und persische medizinische Traditionen vereint und der zum Standardlehrbuch an den Renaissance-Universitäten in ganz Europa avancierte (ebd., S. 68) - und auch ihre präzisen astronomischen Beobachtungen (ebd., S. 70). Darüber hinaus behauptet sie, dass sich China, Europa und die islamische Welt in puncto wissenschaftlicher und technologischer Entwicklung vor 1400 sehr viel ähnlicher waren, als dies heute zugegeben wird (ebd., S. 59). Lucio Russo, ein italienischer Physiker, Mathematiker und Wissenschaftshistoriker, der am Dipartimento di Matematica der „ Tor Vergata “ -Universität in Rom lehrt, erinnert in seinem umfangreichen Werk daran, dass bereits in der hellenischen Zeit in Griechenland zahlreiche Denker und Forscher tätig waren, die sich aus heutiger Perspektive durchaus als Wissenschaftler bezeichnen ließen (Russo 2004, S. 13 f). Euklid beispielsweise, der am Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. in Alexandria arbeitete und lehrte; in Alexandrien lebte in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts auch Ktesibios, der Erfinder der Pneumatik und Gründer der Alexandrinischen Schule der Mechanik (ihm wurde etwa die Entdeckung der Materialität und „ Arbeitsfähigkeit “ der Luft zugeschrieben, die ihm die Erfindung des Federkatapults ermöglichte, der durch Luftkompression Gegenstände zu schleudern vermochte, ferner der Feuerspritze, einer Saug- und Druck- 3 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Mausoleum_Qin_Shihuangdis (heruntergeladen am 1. 1. 2014). 4 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="19"?> pumpe, die zum Feuerlöschen Verwendung fand, der Wasseruhr mit Zahnradgetriebe und der Wasserorgel, die mittels Wasser Luft komprimieren und auf diese Weise Töne hervorbringen konnte), wie auch Herophilos von Chalkedon (um 330 - um 255 v. Chr.), der Begründer der wissenschaftlichen Anatomie und Physiologie, ferner Aristarchos von Samos (um 310 - um 230 v. Chr.), der Astronom und Mathematiker, der vor allem durch die Einführung des heliozentrischen Weltbildes bekannt ist. Archimedes (287 - 212 v. Chr.) studierte wahrscheinlich in Alexandria und auch während seines Aufenthalts in Syrakus blieb er im ständigen Kontakt mit den dortigen Wissenschaftlern. In der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts war in Alexandria u. a. Eratosthenes (um 276 - um 194 v. Chr.) tätig. Dieser Universalgelehrte (Mathematiker, Geograph, Astronom, Historiker, Philologe, Philosoph und Dichter) und Leiter der Bibliothek von Alexandria ist vielleicht in erster Linie durch die erste stimmige Messung des Erdumfangs bekannt. Es gab selbstverständlich auch Gelehrte und Forscher, die nicht in Alexandria lebten, der Athener Chrysippos (um 281 - um 208 v. Chr.) etwa, um nur einen zu nennen, der vor allem durch seine Beiträge zur Logik in Erinnerung geblieben ist. Russos Verständnis der Wissenschaft ist noch stark den bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskreditierten Vorstellungen des logischen Empirismus verpflichtet. Als wissenschaftlich betrachtet er jede Theorie, welche die folgenden drei Merkmale aufweist: 1) ihre Aussagen beziehen sich nicht auf konkrete Objekte, sondern auf bestimmte theoretische Begriffe; 2) sie hat eine streng deduktive Struktur; 3) Anwendungen der Theorie auf die wirkliche Welt basieren auf Korrespondenzregeln zwischen theoretischen Annahmen und konkreten Objekten (Russo ebd., S. 20f.). Es ist fast erstaunlich, dass er trotz dieses recht engen, restriktiven Verständnisses der Wissenschaft von wissenschaftlichen Theorien der hellenistischen Zeit spricht. Ich kann hier aus Platzgründen natürlich nicht detailliert auf seine - durchaus überzeugenden - Begründungen dieser Behauptung in konkreten Einzelfällen eingehen. Es muss uns genügen, zur Kenntnis zu nehmen, dass er von hellenistischen wissenschaftlichen Theorien u. a. in folgenden Disziplinen spricht: Optik (ebd., S. 65ff.), Geodäsie (ebd., S. 74ff.), Mechanik (ebd., S. 80ff.), Hydrostatik (ebd., S. 83ff.), Pneumatik (ebd., S. 86ff.), Anatomie und Physiologie (ebd., S. 163ff.), Botanik und Zoologie (ebd., S. 181ff.), Chemie (ebd., S. 180ff.). Darüber hinaus beschreibt Russo detailliert den Beitrag dieser Epoche zur Entwicklung der Technologie im Bereich des Maschinenbaus (ebd., S. 110f.), der Messinstrumente (ebd., S. 114ff.), der Militärtechnik (ebd., S. 120ff.), aber auch der Stadtplanung, die er vor allem am beeindruckenden Beispiel von Alexandria selbst illustriert (ebd., S. 233ff.). Russos Ausführungen dienen dem Ziel, drei verbreitete, aber falsche Klischees in Bezug auf die griechische Wissenschaft zu widerlegen, nämlich dass 1) die Antike keine experimentelle Methode kannte; 2) die antiken Wissenschaften eine bloß spekulative Form der Erkenntnis darstellten, die 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 5 <?page no="20"?> sich nicht mit Anwendungen beschäftigte; 3) die Griechen zwar die Mathematik, nicht jedoch die Physik erfanden (ebd., S. 226). Was in unserem Zusammenhang besonders relevant erscheint, ist seine Polemik gegen die erste der obigen Annahmen, nach der die hellenistischen Wissenschaftler die experimentelle Methode nicht kannten. Russo zufolge lässt sich nachweisen, dass, wenn man unter der „ experimentellen Methode “ die systematische Sammlung von empirischen, durch das unmittelbare Eingreifen des Forschers ermittelten Daten verstehe, die hellenischen Wissenschaftlern nicht nur Experimente im Bereich der Physik, sondern auch in der Anatomie, Physiologie, Zoologie und Botanik durchführten (ebd., S. 222). Betrachtet man die Durchführung quantitativer Messungen als eines der wichtigsten Merkmale der experimentellen Methode, komme man nicht umhin festzustellen, dass ihre systematische Anwendung - wie wir bereits oben konstatiert haben - schon lange vor dem Anbruch der hellenistischen Zeit gang und gäbe war. Im frühen Hellenismus weitete man die quantitativen Messungen in erster Linie auf Mechanik und Optik, aber auch über diese Disziplinen hinaus auf die medizinischen und biologischen Wissenschaften aus (ebd., S. 223). Versteht man schließlich unter der experimentellen Methode die Beobachtung unter künstlich geschaffenen Bedingungen, so finden sich beeindruckende Beispiele derartiger Experimente z. B. im Bereich der Pneumatik (ebd.). Russo erinnert auch daran, dass es bereits Eratosthenes gelang, den Erdumfang ziemlich genau zu bestimmen (ebd., S. 77ff., 311), und dass Ptolemäus (um 100 - um 160 n. Chr.) den Brechungsbzw. Einfallswinkel des Lichtes beim seinem Übergang von der Luft ins Wasser genau bestimmte (ebd., S. 73 f). Er weist jedoch ebenfalls darauf hin, dass die experimentelle Methode im Hellenismus des dritten nachchristlichen Jahrhunderts zwar einen raschen Aufstieg erlebte, ein Jahrhundert später aber ebenso rasch wieder verschwand. Aus Russos Perspektive könnte man behaupten, dass es sich bei der Geburt der Wissenschaft an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert eigentlich um eine Wiedergeburt handelte, eine Renaissance der hellenistischen Wissenschaft, nachdem sie lange Zeit in Vergessenheit versunken war. Aber auch die Ansicht, Wissenschaft sei etwa nach dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert zumindest in Europa mehr oder weniger verschwunden, erweist sich als zu einfach und so nicht haltbar. Edward Grant, Distinguished Professor Emeritus am Departement für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie der Indiana Universität von Bloomington, zeichnet in seinem 2007 erschienenen Werk A History of Natural Philosophy. From the Ancient World to the Nineteenth Century den Beitrag der Naturphilosophie zur Entwicklung der Wissenschaft nach. Oberflächlich betrachtet mag es zunächst scheinen, dass Naturphilosophie und Wissenschaft nichts miteinander zu tun haben oder sich gar gegenseitig ausschließen: Wissenschaft fange da an, wo die Naturphilosophie aufhört, oder zumindest erst dann, wenn sie sich von der „ bloßen “ Naturphilosophie emanzipiere (Grant 6 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="21"?> 2007, S. 303, Fussnoten 80, 81). Grant konstatiert dagegen, dass ein für die Entwicklung der Wissenschaft so richtungsweisendes Werk wie Newtons Principia Mathematica im vollen Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, zu Deutsch also Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie heißt (ebd., S. 307, 313f.) und dass das grundlegende zweibändige Werk über die Physik, das 1867 von William Thomson (später Lord Kelvin; 1824 - 1907) und Peter Guthrie Tait (1831 - 1901) veröffentlicht wurde und das verschiedene Bereiche der Physik unter dem Energieprinzip vereinheitlichte und dadurch wesentlich dazu beitrug, diese Wissenschaft zu definieren, als Treatise on Natural Philosophy firmierte (ebd., S. 318). Um die Rolle der Naturphilosophie bei der Entwicklung der Wissenschaft angemessen beurteilen zu können, muss man sich zunächst klarmachen, was mit diesem Begriff geschichtlich überhaupt gemeint war. Es hat sich nämlich eingebürgert, unpräzise von der „ griechischen Naturphilosophie “ zu sprechen, womit üblicherweise die Gesamtheit des präsokratischen Denkens über die Natur der Welt gemeint ist und das heißt, bloße „ philosophische Spekulation “ und keine Wissenschaft. In diesem Zusammenhang werden für gewöhnlich unterschiedliche Denker genannt: Thales, für den das Wasser den Ursprung der Welt bildete, während Anaximenes sie ursprünglich auf die Luft zurückführte, Empedokles auf die vier Elemente, Heraklit auf das Feuer, Anaximander auf das Apeiron und Leukippos und Demokrit auf die Atome. Erst Aristoteles aber definierte das Gebiet der Naturphilosophie und grenzte es klar von den anderen Forschungsbzw. Wissensrichtungen ab. Er unterschied drei Bereiche des Wissens, die er als wissenschaftliche betrachtete (episteme im Gegensatz zur doxa): die produktiven Wissenschaften, die praktischen Wissenschaften und die theoretischen Wissenschaften (Grant ebd., S. 38). Die produktiven Wissenschaften umfassen ihm zufolge das gesamte Wissen über die Herstellung nützlicher Gegenstände, die praktischen Wissenschaften hingegen befassen sich mit der menschlichen Lebensführung (allen voran die Ethik). Alles andere Wissen subsumiert er unter dem allgemeinen Begriff der theoretischen Wissenschaften. Diese wiederum werden von ihm in drei Kategorien unterteilt: Metaphysik oder Theologie, die Gegenstände behandelt, die ewig, unbeweglich und (von den Körpern) getrennt sind, die Mathematik und eben die Naturphilosophie (ebd., S. 39). 4 Wesentlich an dieser Unterscheidung ist der Umstand, dass die Mathematik von Aristoteles deutlich von der Naturphilosophie unterschieden wurde. Auch die Disziplinen (sollen wir sie als „ Wissenschaften “ bezeichnen? ), die Mathematik verwenden, wie z. B. die mathematische Optik, Astronomie, Astrologie 4 Vgl. Aristoteles: Metaphysik VI. Buch, Abschnitt 1., (1025 b - 1026 a) (Aristoteles 1984, S. 155ff.). Einige Übersetzer geben den hier von Aristoteles verwendeten Begriff sogar mit „ Naturwissenschaft “ wieder, denn Aristoteles gebraucht auch noch einen anderen Begriff: physiologon, den man mit „ Naturphilosoph “ übersetzt, und zwar für eine Person, die sich mit Gegenständen befasst, die veränderbar sind, unabhängig existieren und in sich die innere Quelle der Bewegung und der Ruhe tragen. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 7 <?page no="22"?> oder auch die Musik sind aus der Naturphilosophie ausgesondert und im Anschluss an Aristoteles oft unter dem Begriff der „ exakten “ oder später im Mittelalter dem der „ mittleren Wissenschaften “ (Mitte zwischen Mathematik und der Naturphilosophie) subsumiert worden (ebd., S. 43, 158). Diese Unterscheidung prägte immer noch den Fächerkanon der mittelalterlichen Universitäten, auf denen das Studium der Naturphilosophie in allen vier Fakultäten (Artistenfakultät, an der die „ sieben freien Künste “ in Vorbereitung für die höheren und stärker auf die Ausübung eines bestimmten Berufen ausgerichteten Fakultäten: Theologie, Medizin und Jura, gelehrt wurden) zu den zentralen Fächern gehörte. 5 Ein wenig vereinfacht lässt sich also behaupten, dass man noch im Mittelalter unter der Naturphilosophie die Untersuchung der Gesamtheit der Natur verstand, welche nicht den mathematischen Gesetzen unterliegt. Auf der anderen Seite ist zu betonen, dass diese Untersuchung durch die allgemeine Auffassung motiviert war, die in der Naturwelt die Schöpfung Gottes erblickte, welche eine innere Ordnung besitzt, die dem menschlichen Verstand zugänglich ist: Medieval academic life was driven by, among other things, a „ belief in a world order, created by God, rational, accessible to human reason, to be explained by human reason and to be mastered by it; this belief underlies scientific and scholarly research as the attempt to understand this rational order of God ’ s creation “ . (Rüegg 1992, S. 32, zitiert nach Grant ebd., S. 324) Es wäre allerdings vorschnell zu meinen, dass die an den mittelalterlichen Universitäten und anderen damaligen Bildungseinrichtungen betriebene Forschung einen bloß spekulativen Charakter hatte. Es wurde nicht nur beobachtet, sondern auch experimentiert. Das bekannteste Beispiel eines mittelalterlichen europäischen Experimentators ist wohl Roger Bacon (1214 - 1292 oder 1294), der von vielen als der erste wahre Wissenschaftler Englands erachtet wird (Fara ebd., S. 91). Sein Opus maius (1267) enthält Kapitel über Mathematik, Optik, die Position und Größe von Himmelskörpern, die Herstellung von Schwarzpulver, aber auch über Alchemie. Er entdeckte die Gesetze der Spiegelung und der Lichtbrechung, untersuchte das Zustandekommen des Regenbogens und auch den Zusammenhang zwischen den Gezeiten und der Mondposition. 6 Über die Bedeutung der Erfahrung und des Experiments schrieb Bacon: 5 Es ist vielleicht interessant, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass sich in den deutschsprachigen Ländern die „ Artistenfakultät “ zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert allmählich zur Philosophischen Fakultät wandelten, aus der später die heutigen geisteswissenschaftlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten hervorgingen (http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Artistenfakultät [heruntergeladen am 2. 1. 2014]). 6 Vgl. die deutsche Wikipedia: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Roger_Bacon (heruntergeladen am 2. 1. 2014). 8 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="23"?> In den Naturwissenschaften kann man ohne Erfahrung und Experiment nichts Zureichendes wissen. Das Argument aus der Autorität bringt weder Sicherheit, noch beseitigt es Zweifel. [. . .] Mittels dreier Methoden können wir etwas wissen: durch Autorität, Begründung und Erfahrung. Die Autorität nützt nichts, wenn sie nicht auf Begründung beruht: Wir glauben einer Autorität, sehen aber nichts ihretwegen ein. Doch auch die Begründung führt nicht zu Wissen, wenn wir nicht ihre Schlüsse durch die Praxis (des Experiments) überprüfen. [. . .] Über allen Wissenschaften steht die vollkommenste von ihnen, die alle anderen verifiziert: Es ist das die Erfahrungswissenschaft, die die Begründung vernachlässigt, weil sie nichts verifiziert, wenn nicht das Experiment ihr zu Seite steht. Denn nur das Experiment verifiziert, nicht aber das Argument. (Zitiert nach Lay 1981, S. 34f.) Seine Experimente mit Licht und dessen Interaktion mit Spiegeln und Prismen waren für Bacon jedoch nicht das Ziel an sich, sondern ein Schritt zum Verständnis Gottes (Fara ebd., S. 90). Er war überzeugt, dass das Licht göttliche Aspekte der heiligen Schöpfung Gottes offenbart (ebd., S. 91). Was Roger Bacon seinem Selbstverständnis nach betrieb, war Naturphilosophie. Sie wurde aber auch lange über das Mittelalter hinaus als der Mutterboden der Wissenschaft betrachtet. Im 79. Aphorismus des ersten Buches seines bahnbrechenden Werks Novum Organum, das allgemein als die erste theoretische Darstellung der modernen wissenschaftlichen Methode gilt, bezeichnete Francis Bacon die Naturphilosophie als „ die große Mutter der Wissenschaften “ . 7 Analog dazu entwickelt Grant ein plausibles Argument für die These, dass entgegen der weit verbreiteten Meinung, die Wissenschaft im modernen Sinne habe dadurch zustande kommen können, dass sie sich von der Naturphilosophie gleichsam befreite, die Entwicklung in Wirklichkeit umgekehrt verlief: die Entstehung der modernen Wissenschaft sei dadurch ermöglicht worden, dass die „ exakten “ oder „ mittleren Wissenschaften “ (im oben erläuterten Sinne) in die Naturphilosophie integriert wurden, was die Perspektive darauf eröffnete, nach einheitlichen Ursachen aller Phänomene zu forschen: The Scientific Revolution occurred because, after coexisting independently for many centuries, the exact sciences of optics, mechanics, and especially astronomy merged with natural philosophy in the seventeenth century. This momentous occurrence broadened the previously all-too narrow scope of the ancient and medieval exact sciences [. . .], which now, by virtue of natural philosophy, would seek physical causes for all sorts of natural phenomena, rather than being confined 7 „ An zweiter Stelle bietet sich jene Ursache [der Irrtümer der Vergangenheit] dar, die gewiss von überragender Bedeutung ist, dass nämlich selbst in jenen Zeiten, wo Geisteskraft und Wissenschaften stark oder wenigstens mittelmäßig geblüht haben, auf die Naturphilosophie der geringste Anteil der menschlichen Mühen verwendet worden ist. Dabei muss sie doch für die große Mutter der Wissenschaften gehalten werden. Denn alle Künste und Wissenschaften, die von diesem Stamm getrennt sind, werden vielleicht aufgeputzt und für den Gebrauch zurechtgemacht, aber sie sind ohne Wachstumskraft “ (Bacon 1990, S. 169. Vgl. Grant ebd., S. 305). 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 9 <?page no="24"?> to mere calculation and quantification. Thus were the seeds planted for the flowering of the modern version of the exact physical sciences, and the many other sciences that emerged during the eighteenth and nineteenth centuries. (Grant ebd., S. 303). Grant beschreibt dann im Detail die Stufen der Integration der exakten oder mathematischen Wissenschaften in die Naturphilosophie (ebd. S. 303 - 319), wobei die Subsumierung der mathematischen Astronomie unter die Naturphilosophie durch Kepler (ebd. S. 312) und dann die der Physik unter die Naturphilosophie durch Newton (ebd. S. 313 f) in unserem Zusammenhang als besonders folgenschwere Schritte erachtet werden müssen. Bis in das 19. Jahrhundert hinein fungierte die Bezeichnung Naturphilosophie als Synonym für Physik und die Naturwissenschaften (ebd. S. 317). An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass der Begriff „ scientist “ im heutigen Sinne erst 1833 gefasst und verwendet wurde, und zwar von William Whewell (1794 - 1866), dem berühmten englischen Universalgelehrten, (Fara ebd., S. 226f., 245), wobei dieser Gebrauch zunächst auf erbitterten Widerstand stieß (ein hervorragender Geologe etwa verkündete, dass es besser sei zu sterben, als „ bestialise our tongue by such barbarisms “ ; Fara ebd., S. 227, Fußnote 24). Noch 1813 war es durchaus angebracht, den Begriff „ science “ z. B. auf die Tanzkunst anzuwenden ( „ science of dancing “ ; ebd., S. 226), was der ursprünglichen aristotelischen Aufteilung der Wissenschaften in theoretische, produktive und praktische Wissenschaften zumindest in etwa entspricht (s. oben). Es sei hier auch daran erinnert, dass der Beruf des Wissenschaftlers im heutigen Sinne einer professionellen, bezahlten Karriere, die allen entsprechend begabten bzw. veranlagten Menschen offensteht, erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist (Fara ebd., S. 228, 243), während Wissenschaft früher eigentlich ein Privatvergnügen war und von einigen wenigen, meist vermögenden Individuen betrieben wurde (ebd., S. 228); dass dieser neue Beruf erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großen Laboratorien, die an Universitäten oder Fabriken angeschlossen waren, ausgeübt wurde, davor hingegen zumeist zu Hause und auch später zumindest ab und zu wieder dort (ebd., S. 128). 8 Wir haben also gesehen, dass sich die Geschichte der Entstehung der Wissenschaft im heutigen Sinne dieses Wortes bei genauerer Betrachtung als 8 Fara erzählt diesbezüglich Anekdoten aus dem Leben von Lord Rayleigh (1842 - 1919), dem englischen Nobelpreisträger für Physik von 1904, der angeblich jeden Tag seine physikalische Apparatur vom Klavier der Familie räumen musste, um Platz für die Familiengebete zu schaffen, und von Lord Kelvin, der einen ausgedienten Weinkeller in ein Labor umfunktionierte, das stets mit dem Kohlestaub aus dem benachbarten Laden bedeckt war (Fara ebd., S. 243). An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass Ioannidis et al. in einer kürzlich veröffentlichten Studie die Zahl der zwischen 1996 und 2011 publizierenden Wissenschaftler auf 15.153.100 geschätzt haben (Ioannidis et al. 2014, S. 1) und dass 2006 angeblich ca. 1.350.000 Artikel in peer-reviewed Zeitschriften veröffentlicht wurden (Larsen und Ins 2010, S. 585). 10 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="25"?> viel komplexer erweist, als dies in unseren Tagen immer noch allgemein angenommen wird. Will man als Wissenschaft allein das verstehen, was unter genau diesem Namen praktiziert wird, so darf man ihren Ursprung zeitlich nicht hinter den Anfang des 19. Jahrhundert datieren. Betrachtet man als entscheidendes Kriterium für die Entstehung der modernen Wissenschaft die Anwendung der Mathematik zur Beschreibung der Phänomene der natürlichen Welt, so muss man ihren Anfang vielleicht mit dem Erscheinen von Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 identifizieren. Ist man hingegen der Auffassung, dass für die Wissenschaft im modernen Sinne die Durchführung von Experimenten in der Forschung zentral ist, so kann man ruhig nicht nur bis zu Roger Bacon zurückgehen, sondern bis zu den Wissenschaftlern der hellenischen Zeit in Griechenland, um bei ihnen die Geburt der Wissenschaft zu verorten. Wenn man hingegen das genaue Beobachten der Naturphänomene, z. B. des Gangs der Himmelskörper, als hinreichendes Kriterium der Wissenschaftlichkeit zu akzeptieren bereit ist, so muss man (mit Fara) zu dem Schluss gelangen, dass die Wissenschaft spätestens im alten Babylon, wenn nicht bereits früher (Stonehenge, Ägypten) begonnen hat. Vielleicht hat Faras eingangs zitierte provokative Behauptung, dass die Wissenschaft keinen klar zu bestimmenden Anfang habe, doch eine größere Berechtigung, als es noch zu Beginn dieses Kapitels scheinen konnte. Wissenschaft als das Streben nach sicherer Erkenntnis Es gibt jedoch einen wichtigen Grund, weshalb man die Wissenschaft im modernen Sinne des Wortes doch um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert beginnen lassen sollte. Und dieser hat mit einem Aspekt des modernen wissenschaftlichen Strebens zu tun, der meines Erachtens bislang nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat, und zwar mit der Verschiebung des Erkenntnisstrebens: von dem nach einer bloß begründeten, zu jenem nach sicherer Erkenntnis. Mindestens seit der griechischen Antike stand die Erkenntnis bzw. das Wissen (episteme) im Gegensatz zum bloßen Meinen (doxa) unter Begründungsanspruch (Mittelstraß 2004d, S. 719). Eine entsprechende Begründung konnte auf verschiedene Weise erfolgen: sie konnte mittels eines geometrischen oder mathematischen Beweises, mittels einer philosophischen Argumentation, die von allgemein anerkannten Prämissen ausging, oder aber auch z. B. über den Bezug auf eine Autorität erreicht werden. Man kann wohl mit Recht behaupten, dass die „ Gründungsväter “ der neuen Wissenschaft - während selbstverständlich auch ihnen die Möglichkeit eines Rückgriffs auf die mathematische Beweisführung weiterhin als ein Ideal der sicheren Erkenntnis galt - mit den anderen, nichtmathematischen Formen der Begründung kognitiver Behauptungen (gedankliche Argumentation, Rückgriff auf Autorität) nicht mehr zufrieden 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 11 <?page no="26"?> waren und entsprechend nach anderen Möglichkeiten suchten, Erkenntnissicherheit zu erlangen. Das Streben nach Sicherheit der Erkenntnis stand fraglos im Zentrum des Interesses sowohl des „ Vaters der modernen Wissenschaft “ , Francis Bacon (1561 - 1626), wie auch des „ Vaters der neuzeitlichen Philosophie “ , René Descartes (1596 - 1650), der zugleich als einer der ersten und vornehmsten modernen Wissenschaftler gilt: Ich wenigstens habe mich, erfüllt von ewiger Liebe zur Wahrheit, den unsicheren und steilen Wegen und Einöden anvertraut [. . .]. So wollte ich endlich den Zeitgenossen und der Nachwelt zuverlässigere und sichere Beweise verschaffen. (Bacon 1990, Teilband 1, S. 27ff.) Es muss das Ziel der wissenschaftlichen Studien sein, die Erkenntniskraft darauf auszurichten, dass sie über alles, was vorkommt, unerschütterliche und wahre Urteile herausbringt. (Descartes 1997, S. 3) Interessanterweise bringt Thomas Sprat (1635 - 1713), der frühe Chronist der 1660 gegründeten Royal Society of London, der ersten wissenschaftlichen Vereinigungen der Welt, ein sehr ähnliches Ideal zum Ausdruck, wenn er die Hauptanliegen der neuen Gesellschaft formuliert: [N]ow men are generally weary of the relics of antiquity, and satiated with religious disputes: now not only the eyes of men, but their hands are open, and prepared to labour: Now there is a universal desire, and appetite after knowledge, after the peaceable, the fruitful, the nourishing Knowledge: and not after that of ancient sects, which only yielded hard indigestible arguments, or sharp contentions instead of food: which when the minds of men required bread, gave them only a stone, and for fish a serpent. (Sprat 1958, S. 158) 9 Die Sorge um die Sicherheit der Erkenntnis findet sich genauso noch in den Schriften der Vordenker des logischen Empirismus. So schrieb z. B. Moritz Schlick: Der Durst nach reiner theoretischen Erkenntnis aber, nach Einsicht in den Zusammenhang der Welt, nach vollkommen sicheren, dem Streit der Meinungen entrückten Wahrheiten, war allein zu befriedigen durch Gewinnung exakter Wirklichkeitserkenntnis, das heißt durch das Studium der mathematischen Naturwissenschaft. (Schlick AE 10 , S. 58) Ähnlich äußerte sich auch Rudolf Carnap: [E]s wird in langsamem, vorsichtigem Aufbau Erkenntnis nach Erkenntnis gewonnen; jeder trägt nur herbei, was er vor der Gesamtheit der Mitarbeitenden verantworten und rechtfertigen kann. So wird sorgsam Stein zu Stein gefügt und ein sicherer Bau errichtet, an dem jede folgende Generation weiterschaffen kann. Aus dieser Forderung zur Rechtfertigung und zwingenden Begründung einer jeden These 9 Rechtschreibung modernisiert von mir, MBM. 10 S. Kürzelverzeichnis. 12 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="27"?> ergibt sich die Ausschaltung des spekulativen, dichterischen Arbeitens in der Philosophie. (Carnap 1966, S. XIX. Meine Hervorhebung, MBM) Man kann also behaupten, dass sich das Streben nach Sicherheit der Erkenntnis von der Geburtsstunde der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert bis mindestens zum Anfang des 20. Jahrhunderts wie ein roter Faden durchzieht. Daraus ergibt sich unmittelbar die Frage, weshalb die Menschen des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts nicht mehr mit der bloßen (begründeten) Erkenntnis zufrieden waren und nach mehr, genauer gesagt nach anderen Quellen der Erkenntnissicherheit strebten. Das Streben nach Sicherheit und die religiösen Konflikte infolge der Reformation Die Antwort auf diese Frage ist nicht schwer zu finden, wenn man die geschichtliche Situation des damaligen Europas betrachtet. Bereits die Renaissance brachte neben zahlreichen äußerst segensreichen Entwicklungen auch eine bisher praktisch unbekannte skeptische Stimmung mit sich. Denn die Erweiterung des Weltbildes, welche mit den geographischen Entdeckungen einherging, resultierte in einer gewissen Relativierung der Überzeugungen, angesichts ihrer Kontingenz, die Blaise Pascal (1623 - 1663) einige Jahrzehnte später treffend in folgender Feststellung zum Ausdruck brachte: „ Drei Grade der Breite werfen die ganze Jurisprudenz um, und ein Meridian bestimmt, was wahr ist. “ 11 Viel gravierendere Auswirkungen auf die Erkenntnisbedürfnisse der Menschen jener Zeit hatten jedoch die religiösen Entwicklungen in Europa selbst. Mit Martin Luthers Anschlag seiner berühmten fünfundneunzig Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517 nahm bekanntlich jene folgenschwere Umwälzung ihren Anfang, die unter dem Begriff „ Reformation “ subsumiert wird. Sie entzweite die bis dahin einheitliche (westliche) römische Kirche. Natürlich hatte es innerhalb der christlichen Kirche schon in der Vergangenheit bedeutende Schismen und Brüche gegeben, allen voran das sog. morgenländische Schisma von 1054, das die früher einheitliche christliche Kirche in die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche spaltete, und das sog. Abendländische Schisma (1378 - 1416), als der Kirche gleichzeitig mehrere Päpste (in Rom, Avignon und später auch Pisa) vorstanden; während sich aber das erste dieser Schismen an der weiten Peripherie Europas vollzog und das zweite im Kern als ein Konflikt zwischen den französischen und italienischen Kardinälen bzw. dem französischen Königtum und dem (religiösen) Papsttum verstanden werden kann, fand die Reformation im Herzen Europas statt und betraf neben dem für unseren Zusammenhang eher unerheblichen Problem des Ablasswesens, die (mit den Ablass-Praktiken verknüpfte) zentrale Frage 11 Zitiert nach Bordo 1987, S. 42. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 13 <?page no="28"?> der Erlösung durch gute Werke oder durch Glaube und Gnade. Infolge der Reformation entwickelten sich auf verhältnismäßig kleinem Raum sehr schnell gegensätzliche Weltanschauungen, die sich intolerant gegenüberstanden. Es muss hervorgehoben werden, dass diese Situation grundverschieden war von der Herausforderung des europäischen Christentums durch den Islam im 8. Jahrhundert. Wenn damals die Bedrohung von außen kam, was, wie oben angemerkt, die Einigkeit innerhalb der christlichen Gemeinschaft eigentlich konsolidieren half, so kam es im 16. Jahrhundert zur Spaltung dessen, was früher eine Einheit gebildet hatte. Bekanntlich spielte dieser Glaubensgegensatz eine wichtige Rolle im Dreißigjährigen Krieg, der vom Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 - der von Protestanten an Katholiken verübten Gewalthandlung - bis 1648 in Europa tobte und in dessen Verlauf Teile des Heiligen Römischen Reichs stark verwüstet wurden. Die Schätzungen des Rückgangs der Gesamtbevölkerung im Reichsgebiet reichen von 20 bis 45 %. 12 Während jedoch der Krieg auf dem europäischen Kontinent keinen rein religiösen Charakter trug, sondern fraglos auch von unterschiedlichen Machtansprüchen unterschiedlicher Herrscher herrührte, kann man vom Bürgerkrieg in England 1642 - 1646 sagen, dass die Fronten entlang der rein konfessionellen Linien verliefen. Bereits seit der durch Heinrich VIII. im Jahre 1533 eingeleiteten Trennung der englischen Kirche von Rom, in deren Folge seine Nachfolger abwechselnd dem anglikanischen und dem katholischen Glauben anhingen, gab es in England Verfolgungen der jeweiligen religiösen Gegner, die oft einen recht blutigen Verlauf nahmen (die katholische erste Tochter von Heinrich VIII., die als Maria I. zwischen 1553 und 1556 in England regierte, ging nicht von ungefähr als „ bloody Mary “ in die Geschichte Englands ein). Der Konflikt zwischen den Konfessionen eskalierte zu einem Bürgerkrieg, als der katholische Monarch Karl I. verdächtigt wurde, dass er das von Katholiken in Ulster begangene Massaker von 3.000 Protestanten (d. h. etwa 20 %) nicht nur unterstützt, sondern auch befohlen hatte (Morgan 1993, S. 315). Die Motivation der Unterstützer aufseiten des parliaments wie auch der königlichen Seite war ohne Zweifel religiöser Natur: [T]hose who rushed to join the king in 1642 were those clearly motivated by religion. On the other side, those who mobilized for Parliament were those dedicated to the overthrow of the existing Church and to the creation of a new evangelical church which gave greater priority to preaching God ’ s word, greater priority to imposing moral and social discipline. It was a vision reinforced by the return of exiles from New England who told of the achievements of the godly in the Wilderness. Like the Israelites of the Old Testament led out of bondage in Egypt to the Promised Land, so God ’ s new chosen people, the English, were to be led out of bondage into a Promised Land, a Brave New World. While the majority of 12 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Dreißigjähriger_Krieg (heruntergeladen am 5. 1. 2014). 14 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="29"?> Englishmen dithered and compromised, the minority who took up the armed struggle cared passionately about religion. (Morgan ebd., S. 316) Schätzungen besagen, dass zumindest während der besonders heftigen Kämpfe zwischen 1643 und 1645 mehr als 10 % aller volljährigen Männer in der einen oder der anderen Armee dienten (ebd., S. 317). Es wird berichtet, dass viele von ihnen im Kampf die Anwesenheit Gottes fühlten (ebd., S. 322). Die Folgen des Krieges sind allgemein bekannt: Karl I. wurde 1649 enthauptet, die Monarchie abgeschafft und die Republik ausgerufen. Sie wurde von Oliver Cromwell, dem erfolgreichen Befehlshaber der Truppen des Parlaments regiert. Er sah sich in der Rolle Moses ’ , der die Israeliten ins Gelobte Land führte: The English people had been in bondage in the Land of Egypt (Stuart monarchy); they had fled and crossed the Red Sea (Regicide); they were now struggling across the Desert (current misfortunes), guided by the Pillar of Fire (Divine Providence manifested in the army ’ s great victories, renewed from 1656 on in a successful war against Spain). (Ebd., S. 327f.) Cromwells tiefe Überzeugung, dass er den Willen Gottes vollziehe, verleitete ihn jedoch dazu, die zivilen und rechtlichen Freiheiten der Bürger sträflich zu missachten. In seinem Bestreben, England in die (angeblich) von Gott versprochene glorreiche Zukunft zu führen, regierte er willkürlich und tyrannisch, ließ Menschen ohne Prozess inhaftieren, zwang Steuern per Dekret auf. Das führte dazu, dass ihm die englische Krone angeboten wurde, aber nicht in Anerkennung seiner Verdienste, sondern um seine Macht einzugrenzen. Er lehnte sie ab, weil er glaubte, sie anzunehmen würde der Verwirklichung seiner göttlichen Berufung im Wege stehen. Nach seinem Tod erwies sich sein Sohn als völlig ungeeignet, das entstandene Machtvakuum zu füllen. Die Befehlshaber der Armee fingen an, untereinander um die Macht zu kämpfen. Schließlich wurden nur achtzehn Monate nach Cromwells Tod freie Wahlen abgehalten, der Sohn Karl I., wurde zur Rückkehr aus seinem Exil in Frankreich ersucht, um als Karl II. den englischen Thron zu übernehmen. Die Monarchie wurde wiederhergestellt und interessanterweise auf den Todestag seines Vaters zurückdatiert (ebd., S. 330). Die republikanische Episode mit ihrer religiösen Inbrunst geriet bald in Vergessenheit. Dennoch hinterließ sie tiefe Spuren. Die Relativierung der Werte infolge der geographischen Entdeckungen, der Prozess der Kirchenspaltung, der zwangsläufig die Unterminierung des Glaubens an die von der Kirche verkündeten Wahrheiten zur Folge hatte, die langen Jahre des religiösen und machtpolitischen Krieges, in welchem die Armeen verschiedener christlicher Staaten sich gegenseitig äußerst blutig bekämpften, aber auch die Zivilisten nicht verschonten, schließlich die Tatsache, dass sich in einem Land zwei christlichen Armeen bekämpften, deren Soldaten jeweils Gott auf ihrer Seite wähnten, während der oberste Anführer einer dieser Armeen zutiefst davon überzeugt war, dass er unter dem direkten Kommando des Höchsten stand, 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 15 <?page no="30"?> dessen Führerschaft am Ende aber doch nur Tod und Leiden über unzählige Menschen brachte - all das musste das Bedürfnis nach neuer, stabilerer Orientierung als jene des Glaubens aufkommen lassen. Daher ist es wohl kein Zufall, dass die Entstehung der Wissenschaft, die eine solche neue einigende Orientierungskraft zu werden versprach, gerade in diese Zeit fällt und dass die erste wissenschaftliche Vereinigung gerade in England entstanden ist mit „ The Royal Society of London for the Promotion of Natural Knowledge “ . Bereits als Francis Bacon 1620 das Novum Organon veröffentlichte, lag also hinter England und den Engländern eine langjährige kollektive Erfahrung des religiösen Streits. Vor diesem Hintergrund erscheint die im Bacon ’ schen Programm enthaltene Hoffnung, dass die „ neue Wissenschaft “ den Menschen eine Rückkehr zum jungfräulichen Zustand vor dem Sündenfall ermöglichen werde, und besonders vor die babylonische Verwirrung, als die Menschen noch „ eine Sprache sprachen “ (Proctor 1991, S. 93), nicht bloß als theoretisches Postulat, sondern auch als zutiefst empfundenes menschliches Bedürfnis. Und vor dem Hintergrund der Erfahrung des Bürgerkrieges der 40er-Jahre des 17. Jahrhunderts in England wird es nicht überraschen, dass die Suche nach einem Weg zur Überwindung solcher Konflikte auch im Zentrum des Interesses der in der Royal Society versammelten Anhänger Bacons stand und dass das Erlangen zuverlässiger Erkenntnis - wie in dem oben angeführten Zitat von Thomas Sprat vernommen - explizit als das Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels hervorgehoben wurde. Nicht aus irgendwelchen theoretischen Überlegungen heraus, sondern aus einem tiefen existentiellen Bedürfnis, das durch die eigenen schmerzhafte Erfahrungen genährt wurde, äußerte Sprat die oben zitierten Worte: „ Now there is a universal desire, and appetite after knowledge, after the peaceable, the fruitful, the nourishing Knowledge [. . .] “ (Sprat 1958, S. 152). Der Glaube vermochte die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr zu stillen, sie verlangten nach dem Wissen, dem sicheren, wissenschaftlichen Wissen. Fazit Selbst wenn man geneigt ist, den Ursprung der Wissenschaft - im Einklang mit der Mehrheitsmeinung - auf das späte 16. bzw. das frühe 17. Jahrhundert zu datieren, so ist die Schwierigkeit, der Wissenschaft ein präzises Geburtsdatum zuzuordnen, ein Hinweis darauf, dass der Begriff der Wissenschaft nicht klar und eindeutig ist. Ob schließlich bereits die astronomischen Beobachtungen der Babylonier als wissenschaftlich gelten dürfen, oder ob man diese Würde erst den astronomischen Beobachtungen eines Kopernikus oder eines Galileis zuerkennt, hängt in einem nicht unerheblichen Maße davon ab, was genau man unter „ Wissenschaft “ versteht bzw. zu verstehen bereit ist. Die Schwierigkeiten bei der präzisen zeitlichen Verortung des Ursprungs der Wissenschaft verweisen also auf ein tieferes Problem: auf die Frage nach der Wissenschaft selbst, nach ihrer Abgrenzung von den ihr 16 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="31"?> verwandten Disziplinen bzw. Erkenntnisformen. Dieser wichtigen, ja aus der Sicht der vorliegenden Studie zentralen Frage werden wir uns zu einem späteren Zeitpunkt zuwenden müssen (vgl. unten, „ Was ist Wissenschaft? Die Debatte um die Abgrenzung: Wissenschaft/ Pseudowissenschaft “ ). Die Fortschritte der Wissenschaft im 19. Jahrhundert Neben der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Geburtsstunde der Wissenschaft ist es für unsere Zwecke durchaus lohnenswert, zumindest zwei weitere Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Dabei soll es einmal um die Fortschritte der Wissenschaft im 19. Jahrhundert gehen, zum anderen um die Entwicklung, die die Reflexion über Charakter und Methode der Wissenschaft seit der „ wissenschaftlichen Revolution “ der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert bis ins beginnenden 20. Jahrhundert genommen hat, als mit dem logischen Positivismus eine Wissenschaftsauffassung aufkam, die das Denken der Wissenschaftstheoretiker fast vier Jahrzehnte entscheidend prägte. Dass dieser Entwicklungsverlauf für uns von Interesse ist, wird - so hoffe ich - unmittelbar einleuchten, was hingegen die erste Entwicklung anbetrifft, so könnte es durchaus sein, dass sie dem Leser völlig irrelevant scheint. Denn was könnte uns hier der Fortschritt der Wissenschaft im 19. Jahrhundert angehen, wenn doch der Stand des Wissens am Beginn des 20. Jahrhunderts heute in praktisch allen Belangen als überholt gelten muss und insofern nur noch das Interesse der Wissenschaftshistoriker beanspruchen kann, die vorliegende Studie aber gar nicht den Anspruch erhebt, zu dieser Disziplin etwas beizutragen. Dennoch aber wird es sich für den Fortgang unserer Argumentation als nützlich erweisen, wenn wir einen zumindest flüchtigen Blick auf die Entwicklung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert werfen. Denn nur wenn man sich den gewaltigen Fortschritt der Wissenschaft in jenem Jahrhundert vor Augen führt, kann man sich eine Vorstellung machen von der Zuversicht und dem Vertrauen in die Wissenschaft, die unter den gebildeten Menschen am Ende des Jahrhunderts herrschte und die den Nährboden bildete für die Entwicklung der Wissenschaftsauffassung, welche Mitte des 20. Jahrhunderts dominierte - die Rede ist vom sogenannten Neopositivismus oder logischen Empirismus, mit dem wir uns bald ausführlich auseinandersetzen werden. Wie wir gleich schon genauer sehen werden, gipfelte diese Zuversicht bezüglich der Leistungen der Wissenschaft in einem unter den Wissenschaftlern weit verbreiteten Gefühl, dass die Forschung kurz vor ihrem Abschluss stehe, es praktisch nichts mehr, oder zumindest nichts Wesentliches mehr zu entdecken gebe, die grundlegenden Fragen bereits beantwortet seien oder in Bälde beantwortet würden. Eine solche Stimmungslage muss aus heutiger Sicht als völlig überzogen, ja beinahe irrational erscheinen, haben wir doch im Laufe des 20. Jahrhunderts ein fast explosionsartiges Anwachsen des Wissens auf nahezu allen Gebieten der Forschung erlebt, und waren überdies Zeugen 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 17 <?page no="32"?> so mancher Entdeckungen, die unser Weltbild radikal verändert haben. Wir haben auch heute noch keineswegs das Gefühl, dass wir mit der Forschung an das Ende gelangt sind. Um sich also in die Stimmungslage am Ende des 19. Jahrhunderts versetzen, sie zumindest einigermaßen verstehen und nachvollziehen zu können, scheint es mir unerlässlich, den Stand des Wissens am Beginn und am Ende jenes Jahrhunderts rückblickend einem Vergleich zu unterziehen. Zuvor aber ist es noch nötig, an eine weiter zurückliegende Entwicklung innerhalb der Wissenschaft zu erinnern, die ihren ebenso frühen wie wesentlichen Teil zu jener von Vertrauen in die Wissenschaft gekennzeichneten Stimmungslage um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert beigetragen hat. Ich denke dabei an die 1687 erfolgte Veröffentlichung des Hauptwerks von Sir Isaac Newton (1642 - 1727) Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie), das im allgemeinen Verständnis den Beginn der Neuzeit in der Mechanik und Astronomie markiert. Mit der Formulierung der drei Gesetze der Bewegung und dem Gesetz der universellen Gravitation entwickelte Newton ein einheitliches System zur Beschreibung der Funktionsweise des Universums. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gravitationsgesetz nicht nur die Berechnung des Verhaltens fallender Körper erlaubte, sondern auch der Bewegungen der Planeten und anderer Himmelskörper. Newtons Gesetze ermöglichten sogar die Entdeckung neuer Himmelskörper (z. B. die Neptuns im Jahr 1847, s. unten) und dienen bis heute als Grundlage für die Berechnung der Bahnen der Raumfahrzeuge, da diese im Vergleich mit der Lichtgeschwindigkeit nur geringe Geschwindigkeiten erreichen, weshalb die rechnerischen Abweichungen von der Relativitätstheorie vernachlässigt werden können. Erwähnenswert ist, dass Newton im Zuge seiner Forschungen die Infinitesimalrechnung erfand (was unabhängig von ihm auch Gottfried Leibniz tat), die bei vielen späteren Entwicklungen in den meisten Bereichen der Physik zum einem zentral wichtigen Instrument geworden ist. Es soll in diesem Zusammenhang auch daran erinnert werden, dass Immanuel Kant von den Erfolgen der newtonschen Physik und der Genauigkeit der durch sie ermöglichten Voraussagen so beeindruckt war, dass er sich fragte, wie dies überhaupt möglich sei. Seine Lösung dieses Rätsels liegt bekanntlich in der „ kopernikanischen Wende “ der Betrachtungsweise. Kant ist in seiner Kritik der reinen Vernunft zu der Überzeugung gelangt, dass wir die Naturgesetze, die wir durch Beobachtung und Experiment aus der Erfahrung zu gewinnen wähnen, zunächst selbst in die Natur projizieren. Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt. (Kant 1995, A 125) So übertrieben, so widersinnig es [. . .] auch lautet, zu sagen: der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur, so 18 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="33"?> richtig, und dem Gegenstande, nämlich der Erfahrung angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung. (Kant 1995, A 127) Nur weil die Naturgesetze notwendige Projektionen unserer eigenen Natur sind, können sie die Welt so genau voraussagen, wie die von Newton „ entdeckten “ Gesetze es tun, war Kant überzeugt. 13 Nach diesem kleinen Exkurs können wir uns jetzt der Betrachtung der wissenschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert zuwenden. Diese kann man wohl mit dem von John Gribbin in einem anderen Kontext geprägten Motto: „ progress on all fronts “ (Gribbin 2002, S. 285) beschreiben. Der Fortschritt war in der Tat atemberaubend. Ich möchte im Folgenden an die wichtigsten dieser Entwicklungsschritte erinnern. Werfen wir dabei zunächst einen Blick auf die Chemie. Noch am Ende des 18. Jahrhundert wurde zumindest von einigen Chemikern (z. B. dem Engländer Joseph Priestley (1733 - 1804)) noch der Begriff Phlogiston gebraucht, obschon Antoine Lavoisier (1743 - 1794) bereits 1783 zeigen konnte, dass es im Brennprozess zur Verbindung von Sauerstoff mit dem Brennstoff kommt und nicht zur Freisetzung von Phlogiston. Die Widerlegung der Phlogistontheorie kann man als die krönende Errungenschaft auf dem Felde der Chemie des ausgehenden 18. Jahrhundert betrachten. Das 19. Jahrhundert brachte entscheidende Fortschritte in dieser Wissenschaftsdisziplin. Bereits 1803 gelang es John Dalton (1766 - 1844), die relativen Atomgewichte von Partikeln zu ermitteln, und 1808 formulierte er das für Chemie grundlegende Gesetz der multiplen Proportionen für die Verbindungen zwischen zwei Elementen. Ebenfalls 1808 formulierte er die erste wissenschaftlich fundierte Atomtheorie, der zufolge Atome die kleinsten, nicht weiter teilbaren kugelförmigen Teilchen darstellen, aus denen sich jeder Stoff zusammensetzt. Dalton sah richtig voraus, dass alle Atome eines bestimmten Elementes das gleiche Volumen und die gleiche Masse haben, war aber der Ansicht, dass die unzerstörbar sind und durch chemische Reaktionen weder vernichtet noch erzeugt werden können. Ebenfalls noch am Anfang des Jahrhunderts gelang Sir Humphry Davy (1778 - 1829) die Herstellung der Elemente Natrium, Kalium, Barium, Strontium, Calcium und Magnesium mittels der Elektrolyse und 1828 glückte Friedrich Wöhler die Synthese des Harnstoffs, was bewies, dass sich organische Verbindungen aus anorganischen herstellen lassen - dies wurde als endgültige Widerlegung des Vitalismus mit seinen Lebenskräften gefeiert. 1859 entdeckten Gustav Robert Kirchhoff (1824 - 1887) und Robert Wilhelm Bunsen (1811 - 1899), dass verschiedene chemische Elemente die Flamme eines Gasbrenners auf charakteristische Weise färben: die Methode der Spektroskopie war geboren, die bei der Erforschung selbst der entferntesten Sternen bis heute gute Dienste leistet. Schließlich (um mich auf die wichtigsten Leistungen zu beschränken) publizierte 1869 Dimitri Mendelejew (1834 - 1907) das Periodensystem der Elemente, in dem er alle damals 13 Vgl. auch Gloy 2007, S. 41f. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 19 <?page no="34"?> bekannten 63 Elemente ansteigend nach der Atommasse in sieben Gruppen mit ähnlichen Eigenschaften anordnete. Es gelang ihm auch, die Eigenschaften der damals noch nicht bekannten Elemente Gallium, Scandium und Germanium vorauszusagen. Nur wenige Jahre später wurden diese dann tatsächlich entdeckt. In der Astronomie gelang Pierre-Simon Laplace (1749 - 1827) in seinem von 1799 bis 1823 verfassten Hauptwerk Abhandlung über die Himmelsmechanik der rechnerische Beweis der Stabilität der Planetenbahnen. Bis dahin war man nämlich aufgrund der Unregelmäßigkeiten bei den Planetenbewegungen davon überzeugt, dass das Sonnensystem kollabieren könnte. Laplace postulierte auch die Existenz von Schwarzen Löchern und formulierte (eigentlich bereits vor seiner Himmelsmechanik) die sog. Nebularhypothese der Entstehung des Sonnensystems (die bereits 1755 von Immanuel Kant aufgestellte entsprechende Theorie war Laplace unbekannt.) Als die vielleicht größte Errungenschaft des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Astronomie kann jedoch die Entdeckung des Neptuns im Jahr 1846 gelten. Aufgrund der bekannten Unregelmäßigkeiten in der Planetenbahn von Uranus um die Sonne, die den keplerschen Gesetzen nicht entsprach, vermutete man die Existenz eines weiteren Planeten, der die Bahn des Uranus stört. 1846 errechnete der französische Mathematiker Urbain Le Verrier (1811 - 1877) die Position, an der sich der unbekannte Planet befinden soll, und dieser wurde von Johann Gottfried Galle (1812 - 1910), dem Observator der Berliner Sternwarte, im September 1846 tatsächlich am vorhergesagten Ort gesichtet. Um die Fortschritte im 19. Jahrhundert auf den Gebieten der Medizin und Physiologie gebührend würdigen zu können, muss man wissen, dass in der Medizin zu Beginn des Jahrhunderts die antike Theorie der Lebenssäfte nach wie vor weit verbreitet war und die Überzeugung vorherrschte, dass letztendlich Gott über die Genesung oder den Tod des Patienten entscheidet und der Arzt lediglich eine helfende, begleitende Rolle im Heilungsprozess innehat. Die Heilungsmethoden von Franz Anton Mesmer (1734 - 1815) waren zur damaligen Zeit (besonders unter den gut betuchten Parisern) ein wahrer Renner. Dieser behauptete, dass er das magnetische Fluidum (der „ tierische Magnetismus “ ), das durch die Atmosphäre und durch den Körper des Menschen zirkuliere und dessen Blockade Krankheiten verursache, durch geeignete Behandlung wieder zum harmonischen Zirkulieren bringen und so den Betroffenen Heilung bringen könne (Fara 2009, S. 230ff.). Erst im 19. Jahrhundert wurden die grundlegenden Entdeckungen gemacht, die die moderne Medizin ermöglichten: 1838 formulierte der deutsche Botaniker Mathias Schleiden (1804 - 1881) die Zelltheorie des Aufbaus der Pflanzen, die noch im gleichen Jahr durch den deutschen Physiologen Theodor Schwann (1810 - 1882) auf tierische Organismen erweitert wurde. 1839 dann formulierte Schwann auf der Grundlage seiner Beobachtung, dass ein Ei eine Einzelzelle ist, die sich über mehrere Schritte zu einem vollständigen Organismus entwickelt, die Grundprinzipien der Embryologie. Basierend 20 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="35"?> auf diesen Entdeckungen entwarf der Berliner Arzt Rudolf Virchow (1821 - 1902) 1858 die Theorie der Zellularpathologie, nach der Krankheiten auf Störungen der Körperzellfunktionen beruhen. Diese Erkenntnis bildet bekanntlich eine der Säulen der heutigen Pathologie. Der Einfluss der Mikroorganismen auf die Entstehung von Krankheiten war Virchow noch unbekannt. Diese Entdeckung geht auf den französischen Chemiker und Mikrobiologe Louis Pasteur (1822 - 1895) und den deutschen Mediziner und Mikrobiologen Robert Koch (1843 - 1910) zurück, die um 1870 die Theorie der Verursachung der ansteckenden Erkrankungen durch Mikroorganismen formulierten, wobei der in Budapest geborene und in Wien praktizierende Arzt Ignaz Semmelweis (1818 - 1865) bereits 1847 festgestellt hatte, dass sich die Übertragung von Infektionen durch hygienische Maßnahmen unterbinden lässt. 1880 ist es Pasteur dann gelungen, den ersten Impfstoff (gegen Geflügelcholera) herzustellen. Erwähnenswert ist, dass Pasteur um 1860 eine Reihe von Experimenten durchführte, in der er den Beweis sah, dass Abiogenese bzw. Urzeugung (also die spontane Entstehung des Lebens aus toter organischer Materie) unmöglich ist. Die Diskussion um dieses Problem dauerte aber zumindest bis in die späte 70er-Jahre des 19. Jahrhunderts an. 14 1897 wurde in Deutschland Aspirin erfunden, und 1903 entwickelte der niederländische Arzt Willem Einthoven (1860 - 1927) die Elektrokardiographie in ihrer modernen Form. Was die Geologie betrifft, so ist zu sagen, dass der britische Geologe Charles Lyell (1797 - 1875) sein bahnbrechendes Werk Principles of Geology 1830 veröffentlichte (die drei Bände, die es umfasst, erschienen zwischen 1830 und 1833), in dem er sich gegen die damals verbreitete Theorie der kataklysmischen Umbrüche der Erdkruste wendete. Bereits der Untertitel seines Werkes macht deutlich, worum es Lyell ging, nämlich um „ An attempt to explain the former changes of the Earth's surface by reference to causes now in operation “ . Der Autor zeigte, dass sich die Veränderungen der Gebirgsformationen und die allgemeine Ausgestaltung der Erdoberfläche bereits anhand der damals bekannten geologischen Vorgänge erklären ließen, wenn man davon ausging, dass diesen hinreichend lange Zeiträume zur Verfügung standen, in denen sie ihre Wirkung entfalten konnten. Da Lyell seine Theorie durch zahlreiche unwiderlegbare Beobachtungen untermauerte, avancierte sie bald zur vorherrschenden Lehrmeinung. Auch Charles Darwin beeinflusste sie entscheidend. Mit Blick auf die Biologie und ihre Fortschritte im 19. Jahrhundert scheint es fast unnötig daran zu erinnern, dass 1859 Charles Darwins (1809 - 1882) epochales Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection erschienen ist, das nicht nur als die Errungenschaft der Biologie des 19. Jahrhunderts 14 In einer unveröffentlichten Notiz von 1878 spekulierte Pasteur darüber, dass die spontane Entstehung von Leben doch möglich sein müsse, weil sie mit Sicherheit am Anfang des Lebens gestanden habe. (vgl. Pinet 2004, S. 63f.). 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 21 <?page no="36"?> gelten darf, sondern einen über die Grenzen dieser Wissenschaft weit hinausgehenden prägenden Einfluss hatte. Erlaubte dieses Werk doch zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Erklärung der Vielfalt der Lebewesen ohne Rückgriff auf die Idee eines göttlichen Schöpfers. Darwins Leistungen sind so gut bekannt, dass ich hier nicht weiter auf sie eingehen möchte. Zumal wir auf sie und ihre Auswirkungen an späterer Stelle nochmals zu sprechen kommen werden. Ich will hier nur daran erinnern, dass parallel zu Darwin ein anderer britischer Forscher, Alfred Russell Wallace (1823 - 1913), praktisch identische Ideen entwickelte (auch auf ihn werden wir ausführlich zurückkommen) und dass der französische Botaniker und Zoologe Jean-Baptiste de Lamarck (1744 - 1829) um bzw. nach 1800 eine Theorie der Veränderlichkeit der Arten entwickelte, wobei seiner Theorie die Idee der gemeinsamen Abstammung aller Arten fehlte, weshalb sie gemeinhin als eine Transformationstheorie und nicht als Evolutionstheorie bezeichnet wird; Lamarck nahm an, dass die einfachen Organismen durch Urzeugung entstehen. Den größten Wissenszuwachs im 19. Jahrhundert erlebte jedoch sicherlich die Physik. Auch in ihrem Zusammenhang sollte man sich klarmachen, wo diese Wissenschaft am Anfang des Jahrhunderts stand. Als ein passendes Symbol für den damaligen Entwicklungsstand der Physik mag gelten, dass Alessandro Volta (1745 - 1827) dem Ersten Konsul der französischen Republik, Napoleon, im Jahre 1801 eine Batterie vorführte, die er neu entwickelt hatte, die aber nach heutigen Maßstäben äußerst primitiv war. In den Folgejahren und -jahrzehnten aber folgte eine wahre Lawine an Entdeckungen. Um etwa 1804 führte der englische Physiker Thomas Young (1773 - 1829) 15 die bahnbrechenden Doppeltschlitz -Experimente aus, deren Resultate er dahingehend interpretierte, dass das Licht entgegen Newtons Annahme ein wellenartiges und kein korpuskuläres Phänomen ist. Diese revolutionäre Sicht fand bald eine unabhängige Bestätigung durch die experimentellen Arbeiten des französischen Ingenieurs und Physikers Augustin-Jean Fresnel (1788 - 1827). 1820 entdeckte der dänische Physiker und Chemiker Hans Christian Ørsted (1777 - 1851), dass elektrische Ströme magnetische Felder erzeugen. Ende 1824 stellte der englische Physiker Michael Faraday (1791 - 1867) erste Versuche zur Erzeugung von Elektrizität mit Hilfe von Magnetfeldern an, was ihm allerdings erst 1831 gelang. Ebenfalls 1831 entdeckte Faraday den Gegeneffekt, dass nämlich durch das sich bewegende magnetische Feld elektrischer Strom erzeugt werden kann (entspricht der sog. elektromagnetischen Induktion). Ende dieses Jahres trug er vor der Royal Society of London dann seinen Bericht 15 Eigentlich war Young viel mehr als ein „ bloßer “ Physiker. Er war ein Wunderkind, das bereits im Alter von zwei Jahren englische Texte lesen konnte, lateinische als er sechs war, und noch vor seinem 17. Lebensjahr lernte und beherrschte er auch Griechisch, Französisch, Italienisch, Hebräisch, Chaldäisch, Syrisch, Samarisch, Arabisch, Persisch, Türkisch und Äthiopisch. Dank dieser erstaunlich breiten sprachlichen Kompetenz war er später in der Lage, die führende Rolle bei der Entschlüsselung des Steins von Rosetta zu spielen. (Grant 2007, S. 402f.) 22 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="37"?> über diese Entdeckung vor. 1832 gelangte Faraday zu der Überzeugung, dass allen damals bekannten Formen der Elektrizität (der sog. voltaischen Elektrizität, der Reibungselektrizität, Thermoelektrizität, tierischen Elektrizität und magnetischen Elektrizität) ein und dasselbe Phänomen zugrunde liegt. 1826 formulierte der deutsche Physiker und Mathematiker Georg Ohm (1789 - 1854) das Gesetz des elektrischen Widerstandes (das ohmsche Gesetz). 1827 entdeckte der schottische Botaniker Robert Brown (1773 - 1858) die nach ihm benannte Brownsche Bewegung: er beobachtete, wie Pollenkörner sich bewegen infolge der Stöße durch die sich schnell bewegenden Atome oder Moleküle der Flüssigkeit, in der sie sich befinden. 1835 veröffentlichte der irischer Mathematiker und Physiker William Hamilton (1805 - 1865) die nach ihm benannte Neuformulierung der klassischen Mechanik (die sog. hamiltonische Mechanik), die später zur Formulierung der Quantenmechanik beigetragen hat. 1841 publiziert der deutsche Arzt und Physiker Robert Mayer (Julius Robert von Mayer 1814 - 1878) einen Artikel, in dem er den Satz von der Erhaltung der Energie formulierte. Seine Überlegungen stießen jedoch zunächst auf wenig Verständnis; allgemeine Anerkennung fand dieser Satz erst, als der deutsche Universalgelehrte Hermann von Helmholtz (1821 - 1894) ihn in seinem 1847 veröffentlichten Buch Über die Erhaltung der Kraft (neu) formulierte. Das Gesetz der Energieerhaltung wurde dann um 1850 von William Thomson (später Lord Kelvin) und dem deutschen Physiker Rudolf Clausius (1822 - 1888) als der erste Hauptsatz der Thermodynamik reformuliert (die Energie eines abgeschlossenen Systems bleibt unverändert). Dieselben zwei Physiker formulierten einige Jahre später den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (einfach ausgedrückt: Wärme kann nicht von selbst von einem Körper niedriger Temperatur auf einen Körper höherer Temperatur übergehen). Ebenfalls 1850 führten die französischen Physiker Hippolyte Fizeau (1819 - 1896) und Léon Foucault (1819 - 1868) Messungen der Lichtgeschwindigkeit im Wasser durch und stellten dabei fest, dass sie kleiner ist als in der Luft ist, was die Wellentheorie des Lichts bestätigte. 1854 formulierte Hermann von Helmholtz die Idee des Wärmetodes des Universums. 1864 veröffentlichte der schottische Physiker James Maxwell (1831 - 1879) verschiedene Artikel über die dynamische Theorie der elektromagnetischen Felder und in seinem 1873 veröffentlichten Treatise on Electricity and Magnetism formulierte er die Hypothese, wonach das Licht ein elektromagnetisches Phänomen sei, eine Form der Energie, die sich in Wellenform durch den (angenommenen) Lichtäther verbreitet. Diese Theorie schien 1888 durch die Entdeckung der elektromagnetischen Strahlung durch den deutschen Physiker Heinrich Hertz (1857 - 1894), der ein Schüler Hermann von Helmholtz ’ war, bestätigt. Hertzens Entdeckung (der übrigens bereits 1887 den photoelektrischen Effekt entdeckte), die von vielen Wissenschaftlern aufgenommen und weiterverfolgt wurde, trug wesentlich zur Entwicklung der sog. drahtlosen Telegraphie und später des Radios (und Fernsehens) bei. Schließlich wurde 1897 die Existenz des Elektrons als 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 23 <?page no="38"?> Elementarteilchen durch den britischen Physiker Joseph John Thomson (1856 - 1940) nachgewiesen. Abschließend sei noch in einem Satz erwähnt, dass neben der Wissenschaft und teilweise infolge der wissenschaftlichen Entdeckungen auch die Technologie im 19. Jahrhundert eine rasante Entwicklung nahm. Diese verlief, wenn man so will, von der Dampflok über die elektrische Glühbirne und das Benzinauto bis hin zum Flugzeug (das allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, nämlich 1903). Abschluss der Forschung Wenn man die gewaltigen Fortschritte, die Wissenschaft und Technologie im Laufe des 19. Jahrhunderts gemacht haben, Revue passieren lässt, wird man vielleicht nicht sonderlich überrascht zur Kenntnis zu nehmen, dass am Ende des Jahrhunderts die weit verbreitete Erwartung die war, dass sich die Forschung ihrem Abschluss nähert, dass alle zentral wichtigen Fragen in Bezug auf die Naturphänomene bereits gelöst sind oder demnächst gelöst werden. So schrieb beispielsweise der berühmte schottische Physiker und Schöpfer der elektromagnetischen Theorie, James Clerk Maxwell (1831 - 1879), im Jahr 1888 Folgendes: [T]he opinion seems to have got abroad that in a few years all the great physical constants will have been approximately estimated, and that the only occupation which will then be left to the men of science will be to carry on these measurements to another place of decimals. (Zitiert nach Kelly und Kelly 2010, S. xxiv) 1880 bemühte sich John Trowbridge, Leiter des Physik-Departements an der Harvard Universität darum, seine Studenten von der Spezialisierung in Physik abzuhalten, da alle wichtigen Entdeckungen auf diesem Feld bereits gemacht worden seien. Es bliebe lediglich das „ tidying up of loose ends “ , und diese Aufgaben sei eigentlich unter der Würde eines Harvard-Studenten (Appleyard 2004, S. 118 f). Und 1888 äußerte der kanadisch-amerikanische Astronom Simon Newcomb: „ We are probably nearing the limit of all we can know about astonomy. “ Nur einige Jahre später, 1894, schrieb der berühmte amerikanische Physiker und erste amerikanische Nobelpreisträger in den Wissenschaften, Albert Abraham Michelson (1852 - 1931): [I]t seems probable that most of the grand underlying principles have been firmly established and that further advances are to be sought chiefly in the rigorous application of these principles to all the phenomena which come under our notice. (Zitiert nach Kelly und Kelly 2010, S. xxiv) und 1902 stellte er zuversichtlich fest: [T]he more important fundamental laws and facts of physical science have all been discovered, and these are now so firmly established that the possibility of their ever being supplanted in consequence of new discoveries is exceedingly remote [. . .]. 24 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="39"?> Our future discoveries must be looked for in the sixth place of decimals. (Zitert nach Appleyard 2004, S. 142) 1900 behauptete William Thomson, 1. Baron Kelvin, der englische Physiker und Erfinder der interkontinentalen Telegrafie, zuversichtlich: „ There is nothing new to be discovered in physics now. All that remains is more and more precise measurement “ (zitiert nach Sheldrake 2012, S. 19). 16 Bis hierher haben wir vor allem die Physiker und Astronomen zu Wort kommen lassen. Es scheint freilich, dass sich damals der Eindruck allgemein verfestigte, die Wissenschaft würde sich als solche und nicht bloß in einzelnen ihrer Zweige der Lösung aller wichtigen Rätsel nähern. Ein deutliches Zeugnis dieser Haltung bildet das 1899 erschienene Buch einer der führenden deutschen, aber auch weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Wissenschaftler, des Zoologen Ernst Haeckel (1834 - 1919), das bei einem sehr breiten Publikum für ungewöhnlich viel Aufsehen sorgte: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Bereits in seinem Erscheinungsjahr des Buches erreichte es drei Auflagen, von 1900 bis 1905 kamen sechs weitere hinzu; ab 1903 erschienen einige Volksausgaben und ab 1908 die Taschenbuchausgaben. Insgesamt rund eine halbe Million Exemplare wurde an den Leser gebracht (Klohr 1960, S. VII). Die „ Welträtsel “ eroberten sich innerhalb kurzer Zeit nicht nur in Deutschland ein breites Publikum. Sie wurden in 25 Sprachen übersetzt. Besonders die englische Übersetzung von McCabe, dem „ Apostel von Haeckel “ , verkaufte sich ausgesprochen gut. Haeckel war fest davon überzeugt, dass die Wissenschaft seiner Zeit die naive Phase der wissenschaftlichen Entwicklung hinter sich hätte und man nun endlich auf einem soliden Tatsachengrund stehe. Er gab dieser Überzeugung bereits gleich zu Beginn seines Buches Ausdruck: Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Naturerkenntnis im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muss jedem Sachkundigen der Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, dass er innerhalb dieses Jahrhunderts - und besonders in dessen zweiter Hälfte - extensive und intensive Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. (Haeckel 1960, S. 13f.) Der gewaltige Fortschritt der Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts ist, wie wir eben gesehen haben, unbestritten. Haeckel konstatiert das nicht einfach nur, sein Buch kündet darüber hinaus von der Überzeugung, dass man endlich auch die Wahrheit beim Schopfe gepackt habe und dass es jetzt nur noch darum gehe brauche, das Bild zu glätten und die letzten Falten auszustreichen. So heißt es am Ende: 16 Wie Sheldrake schreibt, wird diese Aussage sehr oft zitiert, obschon sie eigentlich nicht restlos belegt ist und vielleicht eigentlich als apokryph gelten muss. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 25 <?page no="40"?> Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder, welches der realistische Naturforscher als Natur oder Universum verherrlicht, der idealistische Philosoph als Substanz oder Kosmos, der fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute behaupten, dass die wunderbaren Fortschritte unserer modernen Kosmologie dieses „ Substanzrätsel “ gelöst oder auch nur, dass sie uns dessen Lösung sehr viel näher gebracht haben? (ebd., S. 390) 17 Wie Haeckel empfanden jedoch viele, und keineswegs nur Wissenschaftler. Bryan Appleyard schrieb über diese Zeit: There was a material confidence in the air that contradicted and yet was the necessary correlative of the mechanistic despair of the nineteenth century. [. . .] [A]cross the Western world, the forty years up to 1914 were a period of extraordinary growth and prosperity. Europe and America were rapidly becoming urban continents with a sophisticated urban conception of what was possible. (Appleyard ebd., S. 115f.) 18 Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass zur damaligen Zeit der Eindruck herrschte, Wissenschaft und Technik befänden sich im Zustand schöpferischer Reife oder seien im Begriff, ihn zu erreichen. Als Symbol für die Technologiegläubigkeit jener Zeit steht zweifelsohne die RMS Titanic, die bekanntlich als unsinkbar galt, die aber am 15. April 1912, nur zwei Stunden und vierzig Minuten nach dem Zusammenstoß mit einem Eisberg, unterging. Es ist übrigens interessant festzustellen, dass der Erkenntnisoptimismus, der sich am Ende des Jahrhunderts so offenkundig manifestierte, genau besehen bereits an seinem Beginn spürbar war, also lange bevor dieser Optimismus durch die tatsächlichen Fortschritte der Wissenschaft begründet war. Bereits 1822 veröffentlichte der damals gerade einmal 24 Jahre alte französische Mathematiker und Philosoph Auguste Comte (Isidore Auguste Marie François Comte (1798 - 1857)) 19 seinen Plan de traveaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société dem zwischen 1826 und 1842 die sechs 17 Wir werden Haeckels „ Welträtsel “ ausführlicher im Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ behandeln. 18 Appleyard schreibt offensichtlich über die Zeit bis 1914, seine Aussage gilt aber vor allem für das 19. Jahrhundert. 19 Comte war als arrogante, energische und mitreißende Persönlichkeit bekannt. Nach der Veröffentlichung seines Plan de traveaux bemühte er sich um eine akademische Anstellung. Ein Lehrstuhl blieb ihm jedoch „ wegen der unmoralischen Falschheit seines mathematisierenden Materialismus “ versagt. 1826 erkrankte er und wurde in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen, die er jedoch bald wieder verließ, ohne wirklich kuriert worden zu sein. Im April 1827 misslang ihm ein Selbstmordversuch. (http: / / de. wikipedia.org/ wiki/ Auguste_Comte [heruntergeladen am 5. 1. 2014].) 26 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="41"?> Bände seines Hauptwerkes Cours de philosophie positive folgten, in denen er sein berühmtes Entwicklungsgesetz ausarbeitete. Es besagt, dass die Menschheit in ihrer Entwicklung drei aufeinanderfolgende geistige Phasen durchlaufe: die theologische, die metaphysische und die „ positive “ . Die erste bilde ihren unerlässlichen Ausgangspunkt, die letzte den Normalzustand, während die zweite eine Art Übergangsstadium darstelle. Im theologischen Stadium suche der menschliche Geist die Erklärung der primären und letzten Ursachen der Phänomene in Interventionen übernatürlicher Mächte. Die zweite Stufe sei nur eine einfache Modifikation der ersten: Die Fragen bleiben die gleichen, in den Antworten aber verschwinde das Übernatürliche und werde ersetzt durch abstrakte Entitäten. Im positiven Zustand höre der Geist auf, nach den letzten Ursachen der Phänomene zu suchen, und beschränke sich strikt auf das Entdecken der sie beherrschenden Gesetze. In dieser Phase werden auch die absoluten Begriffe durch relative ersetzt. Für Comte war die Wissenschaft eine „ connaissance approchée “ : sie nähere sich der Wahrheit an, ohne sie je vollständig zu erreichen. Es gibt in seinem System keinen Platz für die absolute Wahrheit. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass das 19. Jahrhundert neben den Erkenntnisfortschritten auch mit einer Professionalisierung der Wissenschaft einherging. Was früher ein Privatvergnügen Begüterter war, erhielt allmählich einen institutionellen Rahmen und entwickelte sich zu einem bezahlten Beruf. Gegen Ende des Jahrhunderts gingen die vom Staat finanzierten deutschen Universitäten dann dazu über, eigene Forschungslabors einzurichten (Fara ebd., S. 289). Die Rätsel der Physik am Ende des 19. Jahrhunderts Interessant und aufschlussreich ist es, den gewaltigen Fortschritt der Wissenschaft und der Technologie im 19. Jahrhundert von heute aus ins Auge zu fassen. Da erscheint er nämlich verhältnismäßig klein. Bildlich gesprochen verhält sich der Stand der Wissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem von heute wie das Flugzeug der Gebrüder Wright zum Airbus oder gar zum Spaceshuttle. Die Zahl der neuen wissenschaftlichen Publikationen (wie auch die Zahl der Wissenschaftler) ist seit jener Zeit im Wortsinn exponentiell gewachsen (Rescher 1999, S. 54f.), doch auch die Tiefe der Einsicht in die Natur, die seither hauptsächlich durch die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Forschungsinstrumente erreicht worden ist, lässt sich mit der vom Anfang des 20. Jahrhunderts kaum vergleichen. Trotz des weit verbreiteten Optimismus in Bezug auf den Stand des Wissens am Ende des 19. Jahrhunderts gab es gerade zu dieser Zeit vermehrt Anzeichen dafür, dass sich hinter der nach außen hin glatten Fassade des vermeintlich vollkommenen Wissens tiefe Risse verbargen. Schauen wir uns diese beunruhigenden Symptome wieder chronologisch an. 1881 führte der deutsch-amerikanischer Physiker Albert Abraham Michelson (1852 - 1931) in 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 27 <?page no="42"?> Hermann Helmholtz ’ Labor in Berlin ein Experiment durch, dessen Resultate, wie sich später herausgestellte, die Fundamente der (klassischen) Physik erschütterten und ein Problem aufwarfen, das erst Einstein mit seiner Speziellen Relativitätstheorie zu lösen vermochte. Mindestens seit dem 18. Jahrhundert war man davon ausgegangen, dass sich das Licht sich in einem Medium ausbreitet, das als „ Lichtäther “ bezeichnet wurde: eine äußerst feine und durchsichtige, aber dennoch materielle Substanz. Die Existenz einer solchen Substanz schien schon deshalb notwendig, weil man damals fest davon überzeugt war, dass die Natur „ abhors vacuum “ und also der Raum zwischen den Himmelskörpern mit etwas ausgefühlt sein müsse, und weil dieses Etwas dem Licht scheinbar kein Hindernis bot, musste es eben äußerst fein und durchsichtig sein. Die Existenz eines solchen Mediums wurde als umso notwendiger erachtet, als Young und im Anschluss Fresnel Experimente durchgeführt hatten, die eindeutig zu beweisen schienen, dass das Licht ein wellenartiges, nichtkorpuskulares Phänomen sei. Eine Welle aber muss sich in einem Medium ausbreiten, so die Annahme. Als Maxwell dann tatsächlich zeigte, dass das Licht eine elektromagnetische Welle ist, ging man entsprechend davon aus, dass sie sich im Vakuum nicht ausbreiten könne, da es keine elektrischen Felder ohne elektrische Ladung und diese nicht ohne Materie geben könne. Darum entwickelte Maxwell komplexe Theorien der Zusammensetzung und Struktur des Lichtäthers (Fara ebd., S. 285 f) und noch 1878 schrieb er in der Encyclopaedia Britannica: Welche Schwierigkeiten wir auch haben, um eine konsistente Vorstellung der Beschaffenheit des Äthers zu entwickeln: Es kann keinen Zweifel geben, dass der interplanetarische und interstellare Raum nicht leer ist, sondern dass beide von einer materiellen Substanz erfüllt sind, die gewiss die umfangreichste und vermutlich einheitlichste Materie ist, von der wir wissen. 20 In dem Beitrag zur Encylopaedia Britannica, aus dem das obige Zitat stammt, schlug Maxwell auch ein Experiment vor, das die Existenz des Lichtäthers beweisen sollte: wenn man einen Lichtstrahl in zwei teilt und die entstehenden Strahlen sich eine Zeit lang senkrecht zueinander bewegen lässt, und zwar einen Strahl in Richtung der Erdbewegung durch den Raum und somit auch durch den Lichtäther, den anderen aber senkrecht dazu, so müsste der erste Strahl durch den Widerstand des Äthers stärker abgebremst werden als der zweite. Führt man die beiden am Ende wieder zusammen, sollte sich ein zwar sehr geringfügiger, dennoch aber messbarer Zeitunterschied zwischen den beiden Lichtstrahlen ergeben, was wiederum auch bedeutet, dass ein Interferenzmuster zwischen den beiden zu sehen sein müsste. Es leuchtet sofort ein, dass sich ein solches Experiment in Anbetracht der Schnelligkeit 20 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ James Clerk_Maxwell (heruntergeladen am 5. 1. 2014). Da ich leider keinen Zugang zu der 1878-Ausgabe der Encylopaedia Britannica habe, muss ich mich hier auf die deutsche Übersetzung der Stelle, die in der deutschsprachigen Wikiepedia zugänglich gemacht wurde, verlassen. 28 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="43"?> des Lichtes und der Geringfügigkeit des erwarteten Abbremseffekts durch den Lichtäther nicht so ohne Weiteres durchführen ließ. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass es Michelson eben erst 1881 gelang, mittels einer ziemlich komplizierten Apparatur zu einigermaßen verlässlichen Ergebnissen zu gelangen. Diese fielen aber negativ aus: es zeigte sich kein Unterschied, was die „ Ankunftszeit “ der beiden Lichtstrahlen anging. 1887 wiederholte Michelson sein Experiment zusammen mit Edward Morley (1838 - 1923) an der Case Western Reserve University, wie die Einrichtung in Cleveland, Ohio, heute heißt. Und obwohl sie mit einer verfeinerten Apparatur arbeiteten, 21 kamen zum gleichen Ergebnis: es ließ sich keine Bremswirkung des Lichts durch den Lichtäther nachweisen. 22 Damit stand die Richtigkeit der Theorie, die eine solche Substanz postulierte und verlangte, in Frage. Wenn es aber keinen Lichtäther gibt, wie kann sich das Licht (wenn es eine Welle ist) dann ausbreiten, wie es dies offensichtlich tut? Ein weiteres Problem, das sich mit der Zeit als äußerst hartnäckige Schwierigkeit für die klassische Physik herausstellte, offenbarte sich am 8. November 1895. An diesem Tag entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen (1845 - 1923) nämlich eine neuartige Strahlung, die später bekanntlich nach ihm benannt wurde (er selber bezeichnete sie einfach als X-Strahlung, und so heißt sie im englischen Sprachraum noch heute). Röntgen erhielt übrigens für seine Entdeckung 1901 den ersten je vergebenen Nobelpreis für Physik. Bereits 1894 hatte Philipp Lenard gezeigt, dass die sog. Kathodenstrahlen eine dünne Metallfolie durchdringen könne, ohne sie zu beschädigen. Dies Phänomen wurde als Beweis gewertet, dass die Kathodenstrahlen wellenartiger Natur seien, da Teilchen (man dachte natürlich damals noch, dass selbst die kleinsten Teilchen die Größe eines Atoms haben müssen) sichtbare Spuren ihres Durchgangs durch die Folie hinterlassen müssten. Röntgen experimentierte gerade mit einer Vakuumröhre, die zur Erzeugung der sog. Kathodenstrahlen verwendet wurde. 23 Eine der damaligen Standardmethoden zum Nachweis der Kathodenstrahlen bestand darin, einen mit Bariumplatincyanid beschichteten Papierschirm vor der Vakuumröhre zu platzieren, da diese Verbindung fluoresziert, wenn sie von den Kathodenstrahlen aktiviert wird. Röntgen bedeckte seine Vakuumröhre vollständig mit schwarzen Karton um jegliche Lichtstrahlen abzuschirmen. An jenem 8. November 1895 hatte er einen mit Bariumplatincyanid beschichteten Schirm neben seiner Apparatur liegen gelassen, fern der Bahn der Kathodenstrahlen, die in der Vakuumröhre erzeugt werden konnten. Zu seinem Erstaunen sah er 21 Ich verzichte hier auf die Beschreibung seiner Einzelheiten, vgl. aber http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Michelson-Morley_experiment (heruntergeladen am 5. 1. 2014). 22 Die Resultate des Michelson-Morley-Experiments wurden noch im gleichen Jahr im American Journal of Science veröffentlicht (Michelson, Albert Abraham & Morley, Edward Williams (1887): „ On the Relative Motion of the Earth and the Luminiferous Ether “ , American Journal of Science 34, S. 333 - 345). 23 Heute wissen wir, dass diese Strahlung eigentlich aus Elektronen besteht. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 29 <?page no="44"?> jedoch, dass der Schirm in seinem verdunkelten Labor hell fluoreszierte. Ihm ging auf, dass er eine neuartige Strahlung entdeckt hatte, die zwar genau wie die Kathodenstrahlung Bariumplatincyanid fluoreszieren lässt, mit dieser aber unmöglich identisch sein konnte (Gribbin ebd., S. 493). Bereits ein Jahr später stellte der französische Physiker Antoine Henri Becquerel (1852 - 1908) fest, dass Uranium ebenfalls fotografische Platten schwärzen kann. Nachdem er auf einige in seinem verdunkelten Labor deponierte Präparate aus Uransalzen eine Fotoplatte gelegt hatte, bemerkte er am 1. März 1896, dass diese geschwärzt wurde, obwohl kein Licht auf sie fallen konnte (ebd., S. 497). Zunächst meinten er und andere Forscher, dass es sich dabei um eine der von Röntgen entdeckten ähnlichen Strahlung handle. Dennoch schien Becquerels Entdeckung schon damals viel weitreichendere Konsequenzen zu haben als jene von Röntgen. Da den Uransalzen nämlich keine Energie zugeführt wurde, sie aber Energie abstrahlten, schien dieses Phänomen dem damals bereits gut etablierten Energieerhaltungsgesetz zu widersprechen. 1898 dann entdeckten Marie Sklodowska-Curie (1867 - 1934) und Pierre Curie (1859 - 1906) mit Polonium und Radium weitere (nach der heute gebräuchlichen Terminologie) radioaktive Elemente. 24 Sie brauchten weitere fast fünf Jahre, um aus mehreren Tonnen Pechblende (UO 2 ) gerade ein Zehntelgramm Radium zu isolieren. Die genaue Untersuchung der Eigenschaften des neuen Elements durch Pierre Curie förderte erstaunliche Resultate zutage. Es stellte sich heraus, dass ein Gramm Radium genug Energie abstrahlte, um 1,3 Gramm Wasser in nur einer Stunde von 0°C zum 100°C zu erhitzen, und das immer wieder. Wie es schien, konnte Radium seine Energie endlos lang abstrahlen (Grant 2007, S. 498). Indessen hatte der in Neuseeland geborene britische Physiker Ernest Rutherford (1871 - 1937) bereits 1899 festgestellt, dass die neu entdeckten „ radioaktiven “ Elemente ihre Masse verlieren, und 1902 entwickelte er gemeinsam mit dem jungen englischen Chemiker Frederick Soddy (1877 - 1956) die „ Theorie des atomaren Zerfalls “ , der zufolge die Atome radioaktiver Elemente mit der Zeit zerfallen. Die Entdeckung des Ehepaars Curie - für die es 1903 gemeinsam mit Becquerel den Nobelpreis für Physik erhielt (er „ für die Entdeckung der spontanen Radioaktivität “ , sie „ für ihre gemeinsame Forschung an dem von Professor Henri Becquerel entdeckten Phänomen der Radioaktivität “ ) - stellte zusammen mit den Entdeckungen Rutherfords - für die er 1908 den Nobelpreis für Chemie erhielt - nicht nur (zumindest scheinbar) das Energieerhaltungsgesetz infrage, sondern auch das Dogma von der Unvergänglichkeit der Materie und der Unteilbarkeit der Atome, 25 etablierte das neue Forschungs- 24 Es war übrigens Marie Curie-Sklodowska, die den Begriff „ radioaktiv “ prägte (Gribbin, ebd., S. 497). 25 Man kann sich nur schwer den Schock vorstellen, den diese Entdeckung auslöste. Der griechische Name, den die kleinsten Elemente der Materie bereits von Demokrit erhalten hatten, heißt auf Deutsch „ unteilbar “ . Die Atome sind seit der Antike als die letzten, kleinsten, nicht weiter teilbaren Elemente der Materie verstanden worden. 30 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="45"?> feld der atomaren Physik und führte schließlich zur Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn (1879 - 1968) und Fritz Strassmann (1902 - 1980) im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin (am 17. Dezember 1938) und schlussendlich zur Herstellung von Kernwaffen und der Entwicklung der Kernenergietechnik. Ein anderes Rätsel für die Physik am Ende des 19. Jahrhunderts reicht bis in die Mitte des Jahrhunderts zurück. Bereits in den späten 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts (Gribbin ebd., S. 509) experimentierte Gustav Kirchhoff mit der Wärmestrahlung von Objekten, die von ihm 1860 als „ Schwarze Körper “ bezeichnet wurden, das sind idealisierte Körper, die die auftreffende elektromagnetische Strahlung jeglicher Wellenlänge vollständig absorbieren und die aufgenommene Energie als elektromagnetische Strahlung in einem charakteristischen, nur von ihrer Temperatur abhängigen Spektrum wieder aussenden. Die Menge der durch einen solchen Körper ausgestrahlten Energie wurde anhand der empirisch ermittelten Messergebnisse durch das sog. Rayleigh-Jeans-Gesetz beschrieben. Diesem zufolge verhält sich diese Menge umgekehrt proportional zur vierten Potenz der Wellenlänge der ausgestrahlten Strahlung, was zu der unsinnigen Konsequenz führte, dass der Schwarze Körper unendlich viel Energie im Ultrakurzwellenbereich ausstrahlen müsste (Camejo 2010, S. 34ff.), was man später als die „ Ultraviolett-Katastrophe “ bezeichnete). 26 Erst im Oktober 1900 ist es dem deutschen Physiker Max Planck gelungen, eine Formel zu entwickeln, die die empirischen Daten zur Schwarzkörperstrahlung außerordentlich gut wiedergab. Plancks Problem war aber, dass die theoretische Kurve, welche sich anhand seiner Formel ergab, keine theoretische Grundlage hatte, es war - so schien es zunächst - eine reine „ Kurvenanpassung “ . Er machte sich ans Werk und nach ein paar Wochen Arbeit - die die schwerste seines Lebens gewesen sei - zerstreute sich die Dunkelheit und es eröffneten sich ihm unvorstellbare Perspektiven (Ford 2004, S. 94) Planck bemerkte, dass sich die empirischen Ergebnisse erklären ließen, wenn man annahm, dass die Energie des Schwarzen Körpers nicht kontinuierlich, wie Wasser aus dem Hahn, sondern in kleinen Lumpen abgegeben wird, wie Pingpongbälle, die aus einer Maschine herauskatapultiert werden. Er nannte diese Lumpen „ Quanta “ (Ford ebd., S. 94). Seine Ergebnisse teilte er während der Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften 14. Dezember 1900 mit (Gribbin ebd., S. 509f.), und dieses Datum wird oft als die Geburtsstunde der Quantenphysik betrachtet (Ford ebd., S. 94; Camejo ebd., S. 36) Festzuhalten ist indes, dass Planck zu jener Zeit noch über keine Erklärung im Sinne eines realen physikalischen Mechanismus für seine geniale Vermutung verfügte, und viele, einschließlich Planck selbst, hielten sie auch weiter für eine Art mathematischen Trick, der zu den 26 Der Begriff „ Ultraviolett-Katastrophe “ wurde erstmals 1911 von Paul Ehrenfest verwendet (Ehrenfest 1911. Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Rayleigh-Jeans-Gesetz#cite_note-Ehrenfest1911-3 (heruntergeladen am 6. 1. 2014). 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 31 <?page no="46"?> empirischen Daten sehr gut passte. Erst fünf Jahre später postulierte Albert Einstein (1879 - 1955), dass die elektromagnetische Strahlung tatsächlich in kleinen „ Paketen “ , die er Photonen nannte, emittiert wird, 27 und wiederum erst 1913 lieferte der dänische Physiker Niels Bohr (1885 - 1962) eine realistische Erklärung dieses Phänomens in Form seines Atommodels, das für die um den Atomkern kreisenden Elektronen nur bestimmte zulässige Bahnen vorsah, was implizierte, dass bei einem „ Sprung “ eines Elektrons von einer Bahn auf die andere Energie in einem kleinen Paket abgeben bzw. absorbiert werden musste (Ford ebd., S. 105ff.). Heute wissen wir, dass diese Entdeckungen schließlich eine Revolution des Weltbildes bewirkt haben, die sich in der Entstehung der Quantenphysik manifestierte. Mit Tragweite und Bedeutung dieser Revolution werden wir uns später ausführlich auseinandersetzen müssen (vgl. unten „ Das Rätsel der Quantenmechanik “ ), an diesem Punkt möchte ich lediglich auf einen Aspekt des bisher Gesagten aufmerksam machen. Bedenkt man die bekannten Folgen jener physikalischen Entdeckungen und die die oben beschriebene zuversichtliche Erwartung am Ende des 19. Jahrhunderts, die Forschung strebe ihrem Ende entgegen, oder anders gesagt, die Wissenschaft ihrer Vollendung, so sieht man sich, und wie sich im weiteren Verlauf dieser Untersuchung zeigen wird, nicht zum letzten Mal, vor eine echte Rätselfrage gestellt: Wie ist es möglich, dass sich damals so viele führende Persönlichkeiten, so viele bedeutende aufgeklärte Wissenschaftler so grundlegend über den wahren Stand der Dinge täuschten? Mini-Abriss der Geschichte der modernen Wissenschaftstheorie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Im Gegensatz zur Geschichte der Wissenschaft ist die Geschichte der Reflexion über die richtige oder ideale Vorgehensweise der Wissenschaft, über ihre Methode bzw. ihre Methoden weniger bekannt. Darum scheint es mir angebracht, sie zumindest kurz zu beleuchten. Dabei werde ich jedoch die 27 In dem Artikel „ Über die Erzeugung und Verwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Gesichtspunkt zum photoelektrischen Effekt “ , den er am 18. März bei den „ Annalen der Physik “ einreichte und der nur ein paar Monate später (Heft 6) in dieser Zeitschrift abgedruckt wurde (Band 322 (6), S. 132 - 148). Einstein schrieb dort: „ Es scheint mir nun in der Tat, dass die Beobachtungen über die „ schwarze Strahlung “ , Photolumineszenz, die Erzeugung von Kathodenstrahlen durch ultraviolettes Licht und andere die Erzeugung bez. Verwandlung des Lichtes betreffende Erscheinungsgruppen besser verständlich erscheinen unter der Annahme, dass die Energie des Lichtes diskontinuierlich im Raume verteilt sei. Nach der hier ins Auge zu fassenden Annahme ist bei Ausbreitung eines von einem Punkte ausgehenden Lichtstrahles die Energie nicht kontinuierlich auf große und größer werdende Raume verteilt, sondern es besteht dieselbe aus einer endlichen Zahl von in Raumpunkten lokalisierten Energiequanten, welche sich bewegen, ohne sich zu teilen und nur als Ganze absorbiert und erzeugt werden können “ (Einstein 1905, S. 133). 32 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="47"?> griechischen Wurzeln des wissenschaftstheoretischen Denkens (allen voran den Beitrag von Aristoteles) unberücksichtigt lassen, da die Philosophen der modernen Zeit (d. h. seit Francis Bacon), die über wissenschaftstheoretische Fragen nachgedacht haben, sich kaum auf sie bezogen. Francis Bacon Der erste moderne Denker, der sich verhältnismäßig ausführlich zur Methode der Wissenschaft äußerte, war bekanntlich Francis Bacon (1561 - 1626). Bereits der Titel seines wichtigsten theoretischen Werkes, Novum Organum, ist ein deutlicher Fingerzeig, dass die Modernen nicht gewillt waren, an Aristoteles anzuschließen und seine Verfahren fortzuführen. Organon ist nämlich der Titel der Standardsammlung von Aristoteles ’ sechs Schriften zur Logik und Forschungsmethode, von denen die vierte, die Analytika Posteriora, speziell mit Beweis, Definition und wissenschaftlichem Wissen befasst ist. Bacon äußert sich in seinem Novum Organum explizit kritisch über die aristotelische Forschungsmethode. Er bemängelt an ihr vor allem drei Punkte: 1) dass Aristoteles und seine Nachfolger die empirischen Daten (wie wir heute sagen würden) nur unsystematisch und unkritisch gesammelt haben; 2) dass sie vorschnell dazu neigten, ihre Befunde zu verallgemeinern; 3) dass sie zu sehr auf die Induktion durch Aufzählung vertrauten, d. h., zu bereitwillig davon ausgegangen sind, dass die Eigenschaften, die einigen Exemplaren einer Gattung zukommen, auch allen Exemplaren dieser Gattung (dieses Typus) zukommen werden (Losee 1993, S. 66). Anstelle der unsystematischen Sammlung empirischer Daten schlug Bacon ein systematisches Vorgehen vor; für jedes untersuchte Phänomen sollte man zuallererst drei „ Tafeln “ erstellen: die Tafel der bejahenden Fälle (Bacon selbst nennt sie „ die Tafel des Wesens und des Vorhandenseins “ (Aphorismus 11, Bacon 1990, Teilband 2, S. 301 - 307), die Tafel der verneinenden Fälle (bei Bacon: „ die Tafel der Abweichung oder des Fehlens im Nächsten “ (Aphorismus 12, ebd. S. 307 - 329) sowie die „ Tafel der Grade oder der Vergleichung “ (ebd., S. 331 - 349). Am Beispiel der Wärme veranschaulicht er das Gemeinte: zunächst solle man möglichst viele Fälle finden, in denen das untersuchte Phänomen vorkommt (z. B. die Sonnenstrahlen), dann solche, in denen es nicht anzutreffen ist (z. B. Mondstrahlen), und drittens solle man sich die Rechenschaft über die Fälle geben, in denen es in verschiedenen Graden auftritt. So haben etwa weder Metall noch Holz an sich Wärme, sie können jedoch erwärmt werden. Wenn man dies tut, zeigt sich, dass sich Metall schneller erwärmt als Holz. Diese Beobachtung gehört in die Tafel der Grade und Vergleiche. Erst wenn man möglichst umfangreiche Tafeln dieser Art erstellt hat, kann man Bacon zufolge zur Induktion übergehen (ebd., S. 349). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Methode der Verneinung und Ausschließung. Dabei geht es um die Ausschließung der - in moderner Begrifflichkeit - bloß zufälligen Korrelationen: von solchen Fällen also, in denen irgendwelche Begleiterschei- 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 33 <?page no="48"?> nungen vorhanden sind, die untersuchte Eigenschaft aber fehlt und der Effekt doch stattfindet (ebd., S. 351). Erst nachdem man alle solche Fälle (der zufälligen Korrelation) ausgeschlossen hat, kann man sich auf den Weg der „ echten Induktion “ begeben (ebd., S. 359). Diese dient letztendlich dazu, und das ist laut Bacon das eigentliche Ziel der Wissenschaft, die Gesetze (in Bacon ’ scher Begrifflichkeit „ die Form “ ) der Phänomene zu erkennen: Werk und Ziel der menschlichen Wissenschaft ist es aber, die Form einer gegebenen Eigenschaft, ihr wahres Wesen oder ihre wirkende Natur oder ihren Entstehungsgrund [. . .] zu entdecken. (Aphorismus 1, ebd., S. 279) Wobei man sich hüten sollte, die Bacon ’ sche Form mit den platonischen Formen oder den aristotelischen formalen Ursachen zu verwechseln. Unter der Form versteht Bacon eigentlich nichts anderes als das Gesetz, dem das Phänomen unterliegt: In der Natur nämlich existiert nichts wahrhaft außer den einzelnen Körpern mit ihrer besonderen reinen, gesetzmäßig hervorgebrachten Wirksamkeit; in den Wissenschaften ist eben dieses Gesetz, seine Erforschung, Auffindung und Erklärung die Grundlage des Wissens wie des Wirkens. Dieses Gesetz nun und seine Bestimmungen verstehe ich unter dem Namen Form, zumal diese Bezeichnung Geltung erlangt hat und gebräuchlich ist. (Aphorismus 2, ebd., S. 281) Obschon Bacons Beharren auf dem Sammeln aller möglichen Informationen in Bezug auf das untersuchte Phänomen unnötig pedantisch und letztendlich auch recht willkürlich erscheinen mag - die Idee der systematischen und breiten Erforschung der Phänomene entspricht dennoch durchaus unserem modernen Verständnis der Natur des wissenschaftlichen Unternehmens. Das von Bacon gesetzte oberste Ziel der Wissenschaft: die Entdeckung der Naturgesetze muss ebenfalls als durchaus modern eingestuft werden. Im Zusammenhang mit Bacon ist noch erwähnenswert, dass er im letzten, dem dritten Teil seines erst 1627, also bereits nach seinem Tode veröffentlichten Werks Nova Atlantis mit fast prophetischem Scharfsinn eine künftige kollektive Form der Wissenschaft, die in einer richtigen Forschungsinstitution (Salomon House) betrieben wird, beschreibt. René Descartes Es ist allgemein bekannt, dass René Descartes (1596 - 1650) den Versuch unternommen hat, von den allgemeinen, für ihn unerschütterlichen Wahrheiten spezielle Gesetze abzuleiten. So leitet er beispielsweise von den Propositionen, dass Gott die letzte Ursache der Bewegung im Kosmos sei und dass ein perfektes Wesen (wie Gott) das Universum auf einen Schlag schaffen würde, die Proposition ab, dass jede Bewegung ewig erhalten bleibe, dazu ferner seine Gesetze der Bewegung, dessen erstes besagt, dass ruhende Körper in Ruhe bleiben und Körper, die sich bewegen, in Bewegung, es sei denn, sie werden durch andere Körper beeinflusst; während das zweite 34 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="49"?> statuiert, dass die Trägheitsbewegung eine gradlinige Bewegung ist (Losee ebd., S. 78). Diese Deduktionen dürfen insofern als ungemein scharfsinnig gelten, als sie die Newton ’ schen Gesetze der Bewegung vorwegnahmen. Descartes Methode allerdings, Gesetze aus allgemeinen Prinzipien abzuleiten, wird heute allgemein als völlig ungeeignet für die Naturwissenschaft (im Gegensatz zur Geometrie etwa) angesehen werden. In Anbetracht von Descartes ’ entschiedener Neigung, deduktiv vorzugehen, ist nicht überraschend, dass die empirische Bestätigung der theoretischen Ableitungen für ihn eigentlich zweitrangig war. Er betrachtete das Experiment(ieren) tendenziell eher als eine Hilfe bei der Formulierung der Erklärungen, denn als einen Prüfstein für die Adäquatheit solcher Erklärungen (ebd., S. 81f.). Was Descartes hier anzubieten hatte, war nicht sehr ergiebig und sicher nicht genug, um ihn als einen wichtigen Wissenschaftstheoretiker auszuweisen. (Er war jedoch zweifelsohne ein viel erfolgreicher Wissenschaftler als Bacon, der selber so gut wie keine Forschungen unternahm. Descartes hingegen leistete auf verschiedenen Wissenschaftsfeldern Beträchtliches.) Von größerer Bedeutung mit Blick auf die Entwicklung der Methodologie der Wissenschaft sind indessen die vier praktischen Ratschläge bzw. Vorschriften in Bezug auf die effiziente Vorgehensweise beim Problemlösung, die Descartes in seiner 1637 veröffentlichten Schrift Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung formulierte: Die erste [Vorschrift] besagte, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, dass sie wahr ist: d. h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, dass ich keinen Anlass hätte, daran zu zweifeln. Die zweite, jedes Problem, das ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen. Die dritte, in der gehörigen Ordnung zu denken, d. h. mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung zu bringen, die natürlicherweise nicht aufeinander folgen. Die letzte, überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, dass ich versichert wäre, nichts zu vergessen. (Descartes 1997 a, S. 31ff.). Es ist unmittelbar evident, dass sich jeder moderne Wissenschaftler an diese bzw. entsprechende Regeln hält (zumindest im Großen und Ganzen). Insbesondere die zweite Regel hat sich als ungemein produktiv erwiesen: schließlich sind wir dank der Befolgung dieses Prinzips heute imstande nicht nur Computer, sondern auch Raumschiffe und sogar so monströs komplexe Forschungsinstrumente wie etwa den Teilchenbeschleuniger LHC in Genf zu bauen. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 35 <?page no="50"?> Isaac Newton Auch Isaac Newton (1642 - 1727) formulierte bestimmte Regeln das wissenschaftliche Vorgehen betreffend, die er in der ersten Ausgabe seiner Principia Mathematica als „ Hypothesen “ und in der zweiten dann als „ rules of reasoning in philosophy “ bezeichnete (Losee ebd., S. 96f.). Sie lauteten: I. We are to admit no more causes of natural things than such as are both true and sufficient to explain their appearances. II. Therefore to the same natural effects we must, as far as possible, assign the same causes. III. The qualities of bodies, which admit neither intensification nor remission of degrees, and which are found to belong to all bodies within the reach of our experiments, are to be esteemed the universal qualities of all bodies whatsoever. IV. In experimental philosophy we are to look upon propositions inferred by general induction from phenomena as accurately or very nearly true, notwithstanding any contrary hypotheses that may be imagined, till such time as other phenomena occur, by which they may either be made more accurate, or liable to exceptions. (Ebd., S. 97) Wie Descartes „ Vorschriften “ werden auch Newtons „ Regeln “ in der heutigen wissenschaftlichen Praxis weitgehend befolgt. Die erste entspricht dem, was heute für gewöhnlich als „ Ockhams Rasiermesser “ bezeichnet wird, bei dem es sich um ein Prinzip handelt, dessen Formulierung dem mittelalterlichen englischen Franziskaner und Philosoph William von Ockham (um 1287 - 1347) zugeschrieben wird; 28 die zweite Regel geht mit der ersten Hand in Hand, die vierte wird gemeinhin heute in etwa so formuliert: „ Gib keine Theorie auf, bis es eine bessere gibt “ , und lediglich die dritte scheint eher eine metaphysische Annahme, als eine wissenschaftliche Vorgehensregel zu sein. Hinter der von Newton angewendeten Verfahrensweise lassen sich jedoch zwei unterschiedliche methodische Ansätze ausmachen. Einmal ein Verfahren, das er als „ Method of Analysis and Synthesis “ bezeichnete (Losee ebd., S. 85). Seine berühmten Prisma-Experimente sind dafür ein anschauliches Beispiel. Newton stellte bekanntlich fest, dass Licht, das durch ein Prisma geleitet wird, auf einem Hintergrund ein langgezogenes verschiedenfarbiges Spektrum erzeugt. Daraus schloss er per „ Analyse “ , wie es bei ihm selbst heißt - während wir heute sagen würden, per induktivem Sprung - , 28 Obschon das Prinzip, das er formulierte, eigentlich anders lautete, als das ihm zugeschriebene. Sein „ eigentliches “ Prinzip lautete: : „ For nothing ought to be posited without a reason given, unless it is self-evident (literally, known through itself) or known by experience or proved by the authority of Sacred Scripture “ (Spade 1999, S. 104). 36 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="51"?> dass alles Licht aus Strahlen von verschiedenen Farben und unterschiedlichen Brechungseigenschaften besteht. In einem zweiten Schritt (der „ Synthesis “ ) leitete er von diesen Befunden gewisse Schlüsse ab, z. B., dass ein Lichtstrahl einer bestimmten Farbe, leitet man ihn durch ein Prisma, um einen bestimmten Winkel gebeugt sein, allerdings nicht in ein weiteres Spektrum aufgespaltet wird, wobei Newton diese Deduktion dann experimentell bestätigten konnte (ebd., S. 85f.). In bestimmten Fällen lässt sich bei ihm jedoch eine andere, zweite Vorgehensweise ausmachen, die man als „ axiomatische Methode “ bezeichnen kann (ebd., S. 90) und die drei methodische Schritte umfasst; diese fanden, wie wir später sehen werden, noch in der Ideologie des logischen Empirismus ihr Echo. Der erste dieser Schritte besteht in der Formulierung eines Axiomensystems. Ein solches System wird Newton zufolge aus einer Gruppe von geordneten Axiomen, Definitionen und Theoremen gebildet. Unter Axiomen sind Aussagen (Propositionen) zu verstehen, die sich aus anderen Aussagen des Systems nicht ableiten lassen. Theoreme hingegen sind die deduktiven Ableitungen aus den Axiomen. Der zweite Schritt der „ axiomatischen Methode “ (ebd.) besteht in der Festlegung eines Verfahrens zur Korrelation des Axiomensystems mit der Beobachtung. Newton nämlich ging davon aus, dass (physikalische) Axiomensysteme mit der realen Welt verknüpft sind. Schließlich besteht der dritte Schritt seiner Methode in der empirischen Bestätigung der aus dem empirisch interpretierten Axiomensystem durch Deduktion abgeleiteten Folgen (ebd., S. 90 - 95). An dieser Stelle möchte ich noch ein mögliches Missverständnis beseitigen, was Newtons wissenschaftliche Methode angeht. Newton betonte bekanntlich, dass er keine Hypothesen erdichte ( „ I feign no hypotheses “ , ebd., S. 96). John Losee macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass Newton von den Begriffen „ Hypothese “ und „ Theorie “ einen anderen Gebrauch machte als wir heute. Unter einer „ Theorie “ verstand er Aussagen über invariante Beziehungen zwischen Termen, die sich auf manifeste Qualitäten beziehen. Eine „ Hypothese “ hingegen ist seinem Verständnis nach eine Aussage über Terme, die von „ okkulten Qualitäten “ handeln, von „ Dingen “ mithin, die sich nicht messen lassen (ebd., S. 95f.). Bereits am Beispiel seiner Experimente mit Lichtstrahlen haben wir gesehen, dass Newton durchaus Gebrauch von Hypothesen im modernen Sinne machte. Was er mit dem oben angeführten Satz meinte, war, dass er seine „ experimentelle Philosophie “ auf Aussagen über manifeste Qualitäten, auf „ Theorien “ , die sich von diesen Aussagen ableiten lassen, und auf Fragestellungen, die die künftige Forschung leiten können, beschränken, jegliche Bezugname auf „ okkulte “ Qualitäten aber ausschließen wollte. Ob ihm das im Falle seiner vielleicht wichtigsten Entdeckung, der der Gravitation, gelungen ist, sei dahingestellt. 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 37 <?page no="52"?> Hume und Kant Dass David Hume (1711 - 1776) und Immanuel Kant (1724 - 1804), wie zuvor John Locke (1632 - 1704) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716), die europäische Philosophie maßgeblich vorangebracht haben, bedarf keines Beweises. Die beiden englischen Philosophen gelten als die Vorreiter des Empirismus, der einen zentralen Pfeiler der modernen Wissenschaft bildet, während Leibniz ein praktizierender Wissenschaftler war, der Bedeutendes zu Mathematik (Infinitesimalrechnung) und Physik (kinetische und potenzielle Energie) als auch zu Geologie (er legte nahe, dass die Erde einen flüssigen Kern besitzt) und Paläontologie beigetragen hat. Sie haben jedoch nichts wirklich Neues zur Theorie der wissenschaftlichen Methodologie beigetragen. Der Skeptiker Hume aber hat Kant aus seinem „ dogmatischen Schlummer “ geweckt (Kant 2001, S. 9) mit seinen Behauptungen, dass die Ursachebeziehungen nicht in der Natur, sondern bloß im Geiste des Menschen begründet sind, dass sie in Wahrheit nichts anderes als bloß konstante, gedächtnismäßige Verbindungen zwischen gewissen Wahrnehmungen, letztendlich nichts anderes als eine Gewohnheit ( „ custom “ ) darstellen (Hume 1978, S. 132f., 139, 170). Infolge seines „ Erwachens “ und unter dem Eindruck der Erfolge newtonschen Physik entwickelte Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft eine Auffassung des Erkenntnisprozesses, die einerseits die Möglichkeit sicherer Erkenntnis gewährleisten sollte (synthetische Urteile a priori), andererseits aber den wachsenden Materialismus der Zeit in seine Schranken verweisen sollte ( „ Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen “ Kant 1995, B XXX). Grob gesprochen dachte Kant den Erkenntnisprozess folgendermaßen: Die Dinge, die sich in ihrem An-sich der menschlichen Erkenntnis entziehen, affizieren die Sinne in Form von Vorstellungen bzw. Eindrücken, wobei bereits auf dieser Stufe die zur natürlichen Ausstattung des Menschen gehörenden apriorischen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit wirken. Das sinnlich Gegebene wird durch die dem Menschen „ angeborenen “ apriorischen Kategorien ( „ reine Verstandesbegriffe “ : Einheit, Vielheit, Allheit, Realität, Negation, Limitation, Kausalität, Möglichkeit, Unmöglichkeit usw.) geformt, die gemäß den vier Urteilsfunktionen (Quantität, Qualität, Relation und Modalität) gebildet werden. Selbst diese führen jedoch noch nicht zu den in der Wissenschaft (wie auch im Alltagsleben) verwendeten Begriffe. Diese kommen aus dem Verstand, der sie durch seine produktive Einbildungskraft nach Regeln bildet. Anhand der Kategorien verknüpft der Verstand mit Hilfe der Urteilskraft (dem Vermögen unter Regeln zu subsumieren) die Sinneseindrücke gemäß den Schemata. Diese sind von der Einbildungskraft gelieferte Bilder (Vorstellungen). Erst auf diesem Wege kommen wir zu aposteriorischen Erkenntnisurteilen. Auf diese komplexe Weise gelingt Kant das „ Kunststück “ , die Möglichkeit, zu sicherem Wissen zu gelangen, die seiner Ansicht nach von der Newton ’ schen Mechanik beispielhaft verwirklicht wurde, 38 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="53"?> erklärbar zu machen, andererseits aber Raum zu lassen für die religiösen Überzeugungen, die sich auf die für die Erkenntnis unerreichbare Welt der Dinge an sich, der Noumena, beziehen. Dieses Gelingen geht - wie wir es bereits gesehen haben - ganz wesentlich auf seine „ kopernikanische Wende “ zurück: der Mensch meint die reale Welt zu erkennen, in Wirklichkeit aber erkennt er aber nur das, was er zuvor in diese Welt hineingelegt hat: „ Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt “ (Kant 1995, A 125). Wie wir bald sehen werden, spielten Kants Ansichten am Ende des 19. Jahrhunderts noch eine bedeutende Rolle in der Wissenschaftstheorie und haben zumindest indirekt zur Entstehung des logischen Empirismus beigetragen. John Herschel, William Whewell, John Stuart Mill John Herschel (1792 - 1871), der Sohn des berühmten britischen Astronomen und Entdecker des Uranus William Herschel, veröffentlichte 1830 seinen Preliminary Discourse on Natural Philosophy, der als die zu jener Zeit umfassendste und ausgewogenste wissenschaftstheoretische Arbeit gilt (Losee ebd., S. 121). Eine der wichtigsten seiner theoretischen Leistungen war die klare Differenzierung zwischen, wie wir heute sagen würden, dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang - ein Unterschied, der fast genau einhundert Jahre später von Popper und Reichenbach „ wiederentdeckt “ wurde. Es war aber bereits Herschel, der feststellte, dass es zur Beurteilung der Angemessenheit einer Theorie völlig irrelevant ist, nach welchem Verfahren sie aufgestellt und formuliert wurde. Herschel zufolge besteht der erste Schritt der wissenschaftlichen Methode darin, das komplexe Phänomen zu untergliedern und die Aufmerksamkeit dann auf die zu seiner Erklärung zentral erscheinenden Eigenschaften zu richten. Auf der Grundlage des so erarbeiteten Materials sucht der Wissenschaftler in der Folge die „ Naturgesetze “ zu formulieren, wobei Herschel unter solchen Gesetzen sowohl Korrelationen zwischen Eigenschaften als auch Ereignissequenzen verstand. Herschel unterschied zwei Wege, die von den Phänomenen zu Naturgesetzen führten. Der eine besteht in der Anwendung eines spezifischen induktiven Schemas, wie etwa im Falle von Boyles Gesetz, dessen Formel PV = k das Produkt der Verallgemeinerung der beobachteten Korrelation zwischen dem Volumen und Druck von Gasen ist. Der zweite Weg verläuft über die Formulierung der Hypothesen (Herschel führt in diesem Zusammenhang Huygens Vermutung wonach sich der außergewöhnliche Lichtstrahl im „ Medium “ des doppelt-lichtbrechenden Calcits ( „ Islandspat “ ) elliptisch ausbreite, an, da Huygens diese nicht einfach induktiv aus seinen Beobachtungen habe ableiten können. Die wissenschaftliche Arbeit ende jedoch nicht mit der Entdeckung der Naturgesetze, denn im Anschluss gehe 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 39 <?page no="54"?> es darum, diese Gesetze in einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen. Dazu bedarf es Herschel zufolge entweder weiterer induktiver Verallgemeinerungen oder der Bildung kühner Hypothesen, um zwischen bislang unzusammenhängenden Gesetzen Zusammenhänge begründen zu können. Es lässt sich mithin die These vertreten, dass Herschels Wissenschaftstheorie das Bacon ’ sche Ideal der Hierarchie wissenschaftlicher Verallgemeinerungen mit der Einsicht in die Rolle der kreativen Einbildungskraft bei der Konstruktion dieser Hierarchie verbindet. Mit Blick auf den Begründungszusammenhang betonte Herschel, dass die Übereinstimmung mit der Erfahrung bzw. der Beobachtung das wichtigste Kriterium der Akzeptanz der wissenschaftlichen Gesetze und Theorien darstelle. Er wies aber auch darauf hin, dass bestimmten Beobachtungen, die Gesetze oder Theorien bestätigen, größere Bedeutung beizumessen sei als anderen. Als besonders wertvoll erachtete er erstens die Bestätigung eines Gesetze durch extreme Fälle, wie z. B. die Beobachtung, dass eine Münze und eine Feder im Vakuum tatsächlich gleich schnell zur Erde fallen; zweitens die Beobachtung unerwarteter Resultate (er zitierte in diesem Zusammenhang die Entdeckung der elliptischen Bahnen der Binärsterne als eine unerwartete Bestätigung der newtonschen Mechanik); und drittens das „ experimentum crucis “ , bei dem die Voraussagen zweier verschiedener Theorien unmittelbar miteinander verglichen werden können, wie etwa das von Pascal vorgeschlagene Experiment, das bewies, dass die beobachteten Unterschiede beim Anstieg der Quecksilber-Säule in einer Röhre im Tal und auf der Spitze eines Berges unmöglich das Resultat des „ horror vacui “ der Natur, sondern nur des von Torricelli postulierten Drucks des „ Luftmeeres “ sein konnten. Herschel unterstrich auch die Wichtigkeit der Falsifizierung für den Fortgang der Wissenschaft. Er forderte den selbstlosen Wissenschaftler, der sozusagen die Rolle eines Gegners seiner eigenen Theorie übernimmt und aktiv sowohl nach der direkten Widerlegungen derselben strebt als auch danach, Ausnahmen ausfindig zu machen, die ihren Anwendungsbereich einschränken. Seiner Überzeugung nach hing der Wert einer Theorie an ihrer Fähigkeit, solchen Angriffen zu widerstehen (Losee ebd., S. 121 - 126). In dieser Hinsicht nahm Herschel eine der Hauptthesen von Poppers kritischem Realismus vorweg. William Whewell (1794 - 1866) war bestrebt, seine Wissenschaftstheorie auf das Fundament einer umfangreichen Gesamtschau der Wissenschaftsgeschichte zu stellen. Der Titel seines wissenschaftstheoretischen Hauptwerkes Novum Organon Renovatum (London, 1858) legt nahe, dass Whewell sich als Fortführer und Weiterdenker der von Bacon begründeten Tradition verstand. Im wissenschaftlichen Fortschritt als eine erfolgreiche Ehe der Fakten und Ideen (die zentrale Rolle der Ideen in seinem System kann man als eine wesentliche Ergänzung des Bacon ’ schen Modells der wissenschaftlichen Forschung einstufen). Unter „ Ideen “ verstand er rationale Prinzipien, die Fakten zusammenbinden, wobei er der Ansicht war, dass es nur einen 40 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="55"?> relativen Unterschied zwischen einer Tatsache und einer Theorie gebe. Er befürwortete Kants Ansicht, dass die Ideen (Kant würde sagen die „ reinen Verstandesbegriffe “ ) den Wahrnehmungen auferlegt, nicht von diesen abgeleitet werden. Entsprechend vertrat er die Auffassung, dass es eine „ reine “ , vorstellungsfreie Tatsache nicht gebe. Die Entwicklung einer Theorie vollzieht sich laut Whewell in einer Reihe aufeinanderfolgender Schritte. Im ersten, der „ Zerlegung der Tatsachen “ ( „ decomposition of facts “ ), geht es darum, komplexe Sachverhalte auf „ elementare “ Fakten zu reduzieren, die sich klar und deutlich erfassen lassen. Die Messung von Werten bestimmter veränderlicher Parameter könne dabei hilfreich sein. Im zweiten Schritt, der „ Explikation der Ideen “ ( „ explication of conceptions “ ), geht es um Begriffsklärung, um die Klärung bestimmter zentraler Diskursbegriffe (wie etwa „ Kraft “ , oder „ Gattung “ , oder „ Leben “ ). Den nächsten Schritt bezeichnet Whewell als „ Verbindung der Tatsachen “ ( „ colligation of facts “ ): der Forscher „ auferlegt “ einer Menge von Tatsachen eine übergreifende und verbindende Idee. Whewell spricht von der „ colligation “ als vom Zusammenbinden ( „ binding together “ ) der Tatsachen und bringt dies mit dem gewöhnlich in diesem Kontext gebrauchten Begriff der Induktion in Verbindung: „ Induction is a term applied to describe the process of a true Colligation of Facts by means of an exact and appropriate Conception “ (Whewell 2001, S. 70. Vgl. auch Losee ebd., S. 130). Zu unterstreichen ist, dass Whewell im Zusammenhang mit seiner Untersuchung der Geschichte der Wissenschaft zu dem Schluss kam, dass eine richtige Induktion ( „ colligation of facts “ ) einer Entdeckung entspricht und auf den kreativen Einfall eines Wissenschaftlers zurückgeht, nicht auf die Anwendung spezifischer Induktionsregeln. Den letzten Schritt der Theoriebildung markiert das „ Zusammentreffen der Induktionen “ ( „ consilience of inductions “ ), worunter man sich eine Synthese der Theorien der niederen Stufen vorzustellen hat. Oder um in dem Bild zu bleiben, das Whewell wählte: so, wie viele Nebenflüsse letztendlich in einen großen Fluss münden, so finden die zahlreichen Fakten, Gesetze und auch Theorien in einer übergeordneten Theorie zusammen. Seiner Ansicht nach lässt sich dieses Prinzip am Fortgang der Entwicklung von Kopernikus zu Newton anschaulich machen. Kopernikus ist durch eine Vielzahl an Fakten auf gewisse Gesetzmäßigkeiten aufmerksam geworden; auf deren Grundlage fand und formulierte Kepler seine drei Gesetze der Umlaufbahnen der Planeten; daran schloss wiederum Newton an und entwickelte seine Mechanik, aus der dann wieder die Keplerschen Gesetze abgeleitet bzw. deduziert werden konnten. Whewell Ansicht nach führe das „ Zusammentreffen der Induktionen “ immer zu einer wahren Theorie: „ No example can be pointed out, in the whole history of science, so far as I am aware, in which this Consilience of Inductions has given testimony in favour of an hypothesis afterwards discovered to be false “ (Wheewell ebd., S. 90. Vgl. auch Losee ebd., S. 133). John Stuart Mill (1806 - 1873) formulierte seine Wissenschaftstheorie in dem 1843 erschienenen Werk A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 41 <?page no="56"?> worin er anerkennt, in Herschels und Whewells Dankesschuld zu stehen. Mill vertrat die Auffassung dass ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Ziel der wissenschaftlichen Forschung im Nachweis der ursächlichen Zusammenhänge zwischen den Phänomenen bestehe (Losee ebd., S. 161). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er in erster Linie für seine vier induktiven Methoden der Ursachenforschung bekannt ist: erstens die Methode der Übereinstimmung ( „ the method of agreement “ : wenn die verschiedenen Fälle, in denen das Phänomen auftritt, nur ein einziges Merkmal gemeinsam haben, so ist dieses Merkmal die Ursache des Phänomens bzw. enthält sie); zweitens die des Unterschieds ( „ the method of difference “ : wenn die (vielen) Fälle, in denen das Phänomen auftritt, sich von den anderen Fällen, in denen es nicht vorkommt, nur in einem einzigen Merkmal unterscheiden, ist dieses Merkmal die Ursache des Phänomens bzw. enthält sie); drittens die Restmethode ( „ the method of residues “ : wenn von den Vorbedingungen bekannt ist, dass sie Ursachen bestimmter beobachteter Phänomene sind, sich unter den Vorbedingungen aber noch eine weitere, und unter den beobachteten Phänomenen noch ein weiteres befinden, so ist diese vorausliegende Bedingung die Ursache dieses Phänomens bzw. enthält sie); und schließlich viertens die Methode der gleichzeitigen Abwandlung ( „ the method of concomitant variations “ : ändert sich das eine Phänomen nur dann, wenn sich ein anderes ändert, besteht zwischen den beiden eine Kausalbeziehung bzw. sind beide kausal auf einen dritten Faktor bezogen). 29 Mill räumte jedoch ein, dass seine vier Methoden im Hinblick auf die Multikausalität und insbesondere die Situation, die er als „ Zusammenwirken von Ursachen “ ( „ composition of causes “ ) bezeichnete, wie etwa den Fall einer Bewegung, in der zwei verschiedene Kräfte auf einen Körper einwirken, wobei die beiden in einem bestimmten Winkelverhältnis zueinander stehen (das Ergebnis einer solchen Einwirkung ist bekanntlich, dass sich der Körper entlang der Diagonale des Parallelogramms bewegt, dessen Seiten die Vektoren der beiden wirkenden Kräfte bilden), unzureichend sind, um die Ursache zu bestimmen. Für solche Fälle empfahl er den Rückgriff auf eine dreistufige „ deduktive Methode “ , bestehend aus 1) der Formulierung einer Anzahl der Gesetze; 2) Deduktion der Voraussagen über die Effekte bezüglich der Wirkungen, die sich aus der bestimmten Kombination der Anwendung dieser Gesetzmäßigkeiten ergeben; 3) Verifikation dieser Voraussagen. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass Mill hohe Anforderungen stellte, was die Verifikation von Hypothesen betraf. Er verlangte nicht nur, dass die deduktiven Schlüsse aus der überprüften Hypothese mit den tatsächlichen Beobachtungen übereinstimmen, sondern auch, dass keine andere Hypothese imstande sei, die beobachteten Tatsachen zu implizieren bzw. erklären. Die vollständige Verifikation einer Hypothese verlange Mill zufolge mithin, dass alle alternativen Hypothesen ausgeschlossen werden 29 Formulierung der Methoden in Anlehnung an Wimmer 2004, S. 892. 42 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="57"?> (Losee ebd., S. 160) - eine Bedingung, die, wie wir spätestens bei der Schilderung des Übergangs von der newtonschen Mechanik zu Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie gelernt haben, strenggenommen nie erfüllt werden kann (ebd., S. 154 - 164). Ernst Mach Ernst Mach (1838 - 1916), der von der Ausbildung her Mathematiker und Physiker war, und diese Fächer zunächst an der Universität Graz, später an der (deutschen) Karls-Universität in Prag lehrte, interessierte sich lebhaft für die Wissenschaftstheorie und verfasste auf diesem Gebiet zahlreiche Schriften, die ihm schließlich im Jahre 1895 die Berufung an den neu- und eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für „ Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften “ an der Wiener Universität einbrachte. Mach vertrat ursprünglich eine neukantianische Position, nach der jede wissenschaftliche Theorie in ihren fundamentalen Prinzipien ein apriorisches Element, rein formellen Charakters, enthalte. Später hat er diese Position aufgegeben und behauptete, dass in der Konstitution unseres Wissens jegliche apriorischen Elemente vermieden werden müssen. Machs späteres Denken die wissenschaftliche Methode betreffend muss in eine Linie mit der von Auguste Comte inaugurierten Tradition des Positivismus gestellt werden, also jener Denkströmung, die fordert, dass das Wissen unter völligem Verzicht auf metaphysische, transzendente Hypothesen und Entitäten auf die Interpretation der experimentellen ( „ positiven “ ) Befunde einzuschränken sei. Die Mach ’ sche Variante der positivistischen Doktrin bezeichnet man als „ phänomenalistischen Positivismus “ , da Mach das gesamte Wissen auf das begrenzen wollte, was sich von den Sinneswahrnehmungen unmittelbar ableiten lässt. Er bestand darauf, dass die Quelle aller menschlichen Erkenntnis ausschließlich das „ Gegebene “ sein solle; ihm zufolge liefere die naive Erfahrung der natürlichen Lebenswelt nichts anderes als Komplexe von Sinneseindrücken (in seiner Terminologie: „ Empfindungen “ ). Diese Komplexe sind jedoch auf der „ Körperwelt “ -Seite (Gegenstände), wie auf der „ Ich “ -Seite (Persönlichkeit) der Erfahrung nur bedingt beständig. Die Analyse der Veränderungen der Komplexe führte auf irreduzible, in allen Bereichen gleichartige „ Elemente “ . Innerhalb der Gesamtheit aller Elemente sei eine Abtrennung der Körper und des Ichs voneinander nicht möglich (Mach 2008, S. 21). Eine interessante Folge dieser Auffassung besteht darin, dass für Mach der ins Wasser getauchte Stab zwar geknickt ist, zugleich aber haptisch betrachtet gerade! Ähnlich wie vor ihm George Berkeley lehnte Mach es ab, den als „ Außenwelt “ bezeichneten Empfindungskomplexen eine privilegierte, vom menschlichen Erkenntnisapparat unabhängige Stellung zuzuschreiben. Die Wissenschaft solle sich folglich auf die Untersuchung der Abhängigkeit zwischen Elementen beschränken, sie sei nichts anderes als eine begriffliche Reflexion über die Inhalte unseres Bewusstseins, die in erster 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft 43 <?page no="58"?> Linie den Prinzipien der Denkökonomie verpflichtet sein müsse. Letztlich diene sie dem Menschen als Unterstützung bei der Bewältigung seiner zentralen Aufgabe, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden. In seinem bereits erwähnten, ursprünglich 1886 veröffentlichten Werk Die Analyse der Empfindungen unternahm Mach einen Versuch, die Wissenschaft als eine vereinfachte Beschreibung der Wahrnehmungen aufzufassen. Seine Position war unvereinbar mit der Auffassung, dass Atome, Moleküle usw. real und vom menschlichen Geist unabhängig existierende Entitäten sind. Seinen Prinzipien treu und trotz des wachsenden Drucks vonseiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft stellte er, wie man weiß, 1897 nach dem Vortrag des berühmten Physikers und bekannten Verfechters der atomistischen Vorstellung, Ludwig Boltzmann (1844 - 1906) an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien trotzig fest: „ Ich glaube nicht, dass Atome existieren! “ (Yourgrau 2005, S. 48). 44 1 Eine kurze Geschichte der Wissenschaft <?page no="59"?> 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus 2 a Das Aufkommen Von dem kurzen Überblick über die Hauptlinien der wichtigsten Auffassungen des wissenschaftlichen Unternehmens, der ja mit der Mach ’ schen Position endete, können wir jetzt nahtlos zur Schilderung jener Wissenschaftstheorie übergehen, die in der dritten Dekade des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist und die die Wissenschaftstheorie weltweit mehr als drei Jahrzehnte lang vollkommen dominierte (Suppe 1977, S. 617) - die Rede ist vom logischen Positivismus (auch als Neupositivismus bekannt) bzw. vom logischen Empirismus. 30 Um die Entstehungsdynamik dieser Auffassung - man ist aus heutiger Perspektive sogar geneigt zu sagen: dieser Ideologie der Wissenschaft - verstehen zu können, muss man noch ein paar Schritte zurückgehen und gewisse Entwicklungen innerhalb der deutschsprachigen Wissenschaft und der deutschsprachigen Wissenschaftstheorie genauer unter die Lupe nehmen. Zwischen 1850 und 1880 war die deutsche Wissenschaft vom mechanischen Materialismus dominiert (ebd., S. 7). 31 Das Weltbild dieser Position wurde so von einem ihrer Hauptvertreter, Ludwig Büchner, folgendermaßen charakterisiert: Stück für Stück hat die Aufklärung suchende Wissenschaft dem uralten Kinderglauben der Völker seine Positionen abgewonnen, hat den Donner und Blitz und die Verfinsterung der Gestirne den Händen der Götter entwunden und die gewaltigen Kräfte ehemaliger Titanen unter den befehlenden Finger des Menschen geschmiedet. Was unerklärlich, was wunderbar, was durch eine übernatürliche Macht bedingt schien, wie bald und leicht stellte es die Leuchte der Forschung als den Effect bisher unbekannter oder unvollkommen gewürdigter Naturkräfte dar, wie schnell zerrann unter den Händen der Wissenschaft die Macht der Geister und Götter! Der Aberglaube musste unter den Culturnationen fallen und das Wissen an seine Stelle treten. Mit dem vollkommensten Rechte können wir heute sagen: Es gibt nichts Wunderbares; alles, was geschieht, was geschehen ist und was geschehen wird, geschieht und geschah und wird geschehen auf eine natürliche Weise, d. h. auf eine Weise, die nur bedingt ist durch das zufällige oder nothwendige Zusammenwirken oder Begegnen der von Ewigkeit her vorhandenen Stoffe und der mit ihnen verbundenen Naturkräfte. (Büchner 1888, S. 32) 30 Die nachfolgende Schilderung basiert hauptsächlich auf Suppe 1977, S. 6 - 16. 31 Wir werden diese Entwicklung und ihre Ursprünge später genauer betrachten (vgl. das Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ ). <?page no="60"?> Um 1870 aber geriet diese Sicht aufgrund gewisser Entwicklungen in Physiologie und Psychologie zunehmend infrage. Bereits 1826 hatte Johannes Peter Müller das sog. Gesetz der spezifischen Sinnesenergien formuliert, dem zufolge nicht der äußere Reiz die Qualität der Wahrnehmung bestimmt, sondern nur die Eigenart des gereizten Sinnesorgans. Unabhängig davon, wodurch beispielsweise das Auge stimuliert wird: ob durch normale Sehreize oder durch eine mechanische Einwirkung, die evozierte Reaktion wird einen visuellen Charakter haben. Auf diese Arbeit gründete später Hermann von Helmholtz, der ein Schüler von Müller war, seine Forschungen im Bereich der Physiologie des Hörens und Sehens. Seine auf der Grundlage der zu Beginn des 19. Jahrhunderts unternommenen Vorarbeiten des englischen Universalgelehrten Thomas Young entwickelte Dreifarbentheorie des Farbsehens deutete darauf hin, dass das wahrgenommene Bild eher eine Konstruktion des Gehirns und keine objektive Wahrnehmung sei. Diese Entwicklung öffnete wiederum das Tor für die von Kant lange schon vertretene Einsicht, dass eine adäquate Darstellung der Erkenntnisgewinnung die Aktivität des denkenden Subjektes berücksichtigen müsse, was die mechanistisch materialistische Doktrin, die das wissenschaftliche Wissen als ein unmittelbares Produkt der Welt betrachtete, nicht anerkennen konnte oder wollte. Auf dem Hintergrund dieser Entwicklungen wurde der mechanistische Materialismus allmählich durch eine neukantianische Wissenschaftstheorie ersetzt, die ursprünglich von Helmholtz selbst, Friedrich Albert Lange, Otto Liebmann und Hermann Cohen entwickelt worden war und später von Ernst Cassirer revidiert wurde. So war beispielsweise der berühmt gewordene „ Ignorabimus “ -Vortrag, den einer der führenden deutschen Wissenschaftler, der Physiologe Du Bois-Reymond, am 14. August 1872 im Rahmen der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig hielt (Über die Grenzen des Naturerkennens, Nachdruck in du Bois-Reymond 1974, S. 54 - 77) und in dem er von den sieben für die Wissenschaft unlösbaren Rätseln sprach (auch auf diesen Vortrag werden wir später ausführlicher eingehen), Kant (und seiner Philosophie) verpflichtet. Dieser Vortrag war es übrigens, auf den Haeckel einige Jahrzehnte später mit seinen Welträtseln reagierte. Hermann Cohens Interessen umfassten sowohl die Philosophie Kants wie auch Mathematik und Logik. Aus dieser Kombination entwickelte Cohen eine Auffassung von der Natur des wissenschaftlichen Wissens, nach der dieses Wissen nicht eine Art passiver Spiegelung der Außenwelt im Menschengeist ist, sondern vielmehr eine Wiedergabe der logischen Verhältnisse, die in der sinnlichen Erfahrung nicht direkt gegeben sind. Die Wahrnehmungen haben Formen oder Strukturen, die sie offenbaren, wenn man ihnen unter die Oberfläche dringt. Diese Strukturen aber sind die der Phänomene, nicht die der (im kantischen Sinne) Noumena oder Dinge-an-sich. Sie haben eine Art platonischer Absolutheit, sie bilden eine ideelle Weltstruktur, die sich in den Phänomenen offenbart. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die 46 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="61"?> Struktur dieser ideellen Welt zu entdecken. Wissenschaftliche Gesetze werden diese Struktur beschreiben. Da die ideellen Strukturen absolut sind, ist auch das wissenschaftliche Wissen absolut. Diese Philosophie wurde in Deutschland bis 1900 dominant. Es ist unmittelbar einsichtig, dass eine solche Auffassung der Aufgabe und des Charakters der Wissenschaft mit den neuen Entwicklungen innerhalb der Physik kollidierte. Die oben erwähnten Entdeckungen von Röntgen, Becquerel und des Ehepaars Curie, die auf völlig neue und völlig unerwartete Eigenschaften der Materie hindeuteten, waren mit einer neukantianischen Erkenntnistheorie grundsätzlich ebenso wenig vereinbar wie die bahnbrechenden Arbeiten Einsteins zur Relativitätstheorie: Wenn die „ unerschütterlichen (apriorischen) Wahrheiten “ erschüttert werden können, dann können sie unmöglich ein Produkt der menschlichen Natur oder genauer der dem Menschen angeborenen kognitiven Ausstattung sein. Aber auch die dritte (neben der materialistischen und der neukantianischen) damals im deutschsprachigen Raum vertretene Auffassung der Wissenschaft, nämlich der Positivismus machscher Prägung, war mit der neuen Physik nicht vereinbar. Wir haben gesehen, dass Mach die wissenschaftliche Erkenntnis ausschließlich auf dem Fundament der den Sinnen unmittelbar zugänglichen Daten errichten wollte und sich radikal weigerte, Atomen Existenz zuzubilligen; die neuere Physik jedoch ließ keinen Zweifel daran, dass sich hinter der Oberfläche der Sinneswahrnehmung eine Wirklichkeit verbirgt, die den Sinnen unzugänglich ist und die dennoch für das Verstehen der sinnlich wahrnehmbaren Welt zentrale Bedeutung besitzt. Mit der wachsenden Akzeptanz der neuen Physik entwickelte sich eine philosophische Krise: Wenn diese Physik mit den geltenden Vorstellungen bezüglich der Natur der Wissenschaft nicht vereinbar war, wie müsste man diese Wissenschaft dann verstehen? An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass die neueren physikalischen Entdeckungen für die Wissenschaftstheorie deshalb von zentraler Bedeutung waren, weil die Physik damals noch stärker als heute als die paradigmatische Wissenschaft galt. Obwohl auch andere Wissenschaften, insbesondere die Chemie und nach Darwin auch die Biologie große Fortschritte zu verzeichnen hatten, standen sie noch immer im Schatten der Physik. Ein Weg, die physikalischen Entdeckungen in die Wissenschaftstheorie einzugliedern, bestand darin, die neukantianische Auffassung der Wissenschaft entsprechend zu modifizieren. Ein Versuch in dieser Richtung wurde von Ernst Casirer unternommen. Ein anderer und wie sich später herausstellen sollte philosophisch viel einflussreicherer Weg zu diesem Ziel führte über die Modifikation des Mach ’ schen Neupositivismus. Dieser Weg wurde in Berlin unter dem Einfluss von Hans Reichenbach und insbesondere in Wien unter dem Einfluss von Moritz Schlick (Wiener Kreis, s. unten) beschritten. Bevor wir uns mit den Einzelheiten dieses Weges vertraut machen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich seine Entstehung auf dem Hintergrund wichtiger Entwicklungen in Mathematik, Geometrie und Logik voll- 2 a Das Aufkommen 47 <?page no="62"?> zogen hat. Bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die Mathematiker János Bolyai, Nikolai Lobatschewski und Carl Friedrich Gauss festgestellt, dass die vertraute euklidische Geometrie des Raumes nicht zwingend ist, und daraufhin mit der Entwicklung nichteuklidischer Geometrien begonnen. Der Gauss ’ -Schüler Bernhard Riemann stellte 1854 die Differentialgeometrie der gekrümmten Räume vor, die später von Tullio Levi-Civita, Gregorio Riccit- Curbastro und Elwin Bruno Christoffel weiterentwickelt wurde und im 20. Jahrhundert Albert Einstein als Grundlage für die Ausarbeitung der allgemeinen Relativitätstheorie diente. 1879 ist Gottlob Freges revolutionäre Begriffsschrift erschienen (Frege 1977), die eine neue Ära in der Geschichte der Logik einläutete. In ihr entwickelte Frege eine neue Logik in axiomatischer Form, die bereits den Kernbestand der modernen formalen Logik umfasste: eine Prädikatenlogik zweiter Stufe mit Identitätsbegriff. Sein Werk gilt neben den Arbeiten von George Boole, Ernst Schröder, Wilhelm Ackermann und David Hilbert als wichtigster Beitrag zur „ Erfüllung des Bedürfnisses der Mathematik nach exakter Grundlegung und strenger axiomatischer Behandlung “ . 32 Frege gilt auch als der Begründer eines mathematisch-philosophischen Programms, des Logizismus, dem zufolge sich die Sätze der Arithmetik auf logische Wahrheiten zurückführen lassen. Frege skizzierte dieses Programm in seinem Werk Grundlagen der Arithmetik und führte es später in den Grundgesetzen der Arithmetik streng formal durch. Wie er jedoch 1902 aus einem berühmt gewordenen Brief Bertrand Russells an ihn erfahren musste, enthielt sein System einen Widerspruch (die sogenannte Russellsche Antinomie). Auf der anderen Seite legte David Hilbert gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlagen der algebraischen Geometrie fest. Die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrien führte zusammen mit den Arbeiten von Frege (und anderen) und denen von Hilbert an der Axiomatisierung der Mathematik bzw. der Rückführung der Geometrie auf die Algebra zum Kollaps des Glaubens an die kantischen Prinzipien a priori: es stellte sich gegen die Behauptungen von Kant heraus, dass weder unsere Auffassung des Raumes auf die Konstitution des Menschen zurückgehe, noch die mathematischen Wahrheiten synthetische a priori seien, sondern dass diese sich aus logischen Prinzipien ableiten ließen (Niiniluoto 2007, S. 17). Das Programm der Rückführung der Mathematik auf logische Prinzipien, das Frege inauguriert hatte, wurde von Bertrand Russell und Alfred N. Whitehead fortgesetzt und kulminierte in den Principia Mathematica (1910 - 1913), eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts, das die gesamte Mathematik auf einen begrenzten Satz von Axiomen und Schlussregeln zurückführt. Dieses Werk machte überall einen großen Eindruck. Auch die späteren Begründer des logischen Positivismus waren tief von ihm beeindruckt. Es leuchtet ein, dass sie aufgrund dieses Werkes zur Überzeugung gelangten, dass der Kern eines wissenschaftlichen Unternehmens in der Entwicklung eines axiomatischen 32 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gottlob_Frege (heruntergeladen am 1. 2. 2014). 48 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="63"?> Systems liegen sollte, das einerseits die Sicherheit von dessen Fundamenten garantiere, andererseits neue Entdeckungen ermögliche. 1911 traf Russell den aus Wien stammenden, siebzehn Jahre jüngeren Philosophen Ludwig Wittgenstein, der ein Studium in Cambridge aufgenommen hatte. Die beiden wurden Freunde. Mit Russells Unterstützung konnte Wittgensteins erstes Hauptwerk, der Tractatus logico-philosophicus, den dieser bereits 1918 vollendet hatte, in den Annalen der Naturphilosophie, erscheinen. In diesem Werk, das Wittgenstein 1929 am Trinity College der Universität Cambridge als Doktorarbeit einreichte, kann man eine Art Erweiterung des Russell-Whiteheadschen Programms in den Bereich der Sprache sehen. Während diese zeigten, dass sich das Gesamtbau der Mathematik von einigen einfachen Grundprinzipien ableiten lässt, versuchte Wittgenstein festzulegen, was sich überhaupt sagen und wie sich das Sagbare aus einfachen Bausteinen ableiten lasse. Im Vorwort stellt er fest, dass sein Buch dem Ausdruck des Denkens, der Sprache, Grenzen ziehen will: „ Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen “ (Wittgenstein 1984, S. 9, Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 33: „ Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen; wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen “ und S. 85: „ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ ). 33 Der Wiener Kreis 34 Es ist allgemein bekannt, dass der logische Empirismus (auch logischer Positivismus oder Neupositivismus genannt) aus den Debatten des sog. Wiener Kreises hervorging. Einen Vorläufer des eigentlichen Wiener Kreises bildete eine lose Diskussionsgruppe, die sich ab ca. 1907 in einem der zahlreichen Wiener Kaffees traf und die ein breites Spektrum an Denkern aufzuweisen hatte, das von katholischen Philosophen bis zu romantischen Mystikern reichte. Zu ihren prominenten Mitgliedern zählten u. a. der später einflussreiche österreichische Philosoph, Physiker und Mathematiker Philipp Frank (1884 - 1966), der später ebenso einflussreiche österreichische Nationalökonom und Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath (1882 - 1945), der bekannte österreichische Mathematiker und Philosoph Hans Hahn (1879 - 1934) und der österreichischer Mathematiker Richard von Mises (1883 - 1953). Was diese (damals) jungen Menschen genau wie die anderen Mitglieder des Diskussionsklubs vereinte, war ihre Bewunderung für die Philosophie Ernst Machs und damit verbunden ihre Überzeugung von der Unwissenschaftlichkeit und also Wertlosigkeit der klassischen Philosophie 33 Ich werde Wittgensteins Tractatus in dem ihm gewidmeten Unterkapitel ausführlich behandeln. 34 Die nachfolgende Schilderung basiert hauptsächlich auf Stadler 2001. 2 a Das Aufkommen 49 <?page no="64"?> und insbesondere der Metaphysik. Man diskutierte die Ansichten von Mach, aber auch Brentano, Husserl, Schröder, Helmholtz, Hertz und Freud, Einsteins Relativitätstheorie und ebenso Probleme der symbolischen Logik, und man hoffte, diese in irgendeiner Form mit dem Empirismus verbinden zu können. (Stadler 2001, S. 143). Frank schrieb über die intellektuelle Ausrichtung dieses Kreises später Folgendes: Our group fully approved Mach ’ s antimetaphysical tendencies, and we joined gladly in his radical empiricism as a starting point; but we felt very strongly about the primary role of mathematics and logic in the structure of science [. . .]. We admitted that the gap between the description of facts and the general principle of science was not fully bridged by Mach, but we could not agree with Kant. (Philipp Frank zitiert nach Stadler ebd., S. 163) Wie andere Mitglieder des Protokreises war auch Frank (neben Mach) stark vom Konventionalismus Henri Poincarés beeinflusst, nach dem die Gesetze der Naturwissenschaft nichts weiter als arbiträre und konventionelle Modelle sind (ebd., S. 163). Verhältnismäßig bald entwickelte sich innerhalb des Protokreises das Bestreben nach Vereinheitlichung der Wissenschaft durch Eliminierung der überempirischen Elemente. Es schien, im Einklang mit Mach und Poincaré, dass sich die Aufgabe da erschöpfen würde, eine passende Sprache für die vereinheitlichte Wissenschaft zu wählen, welche die traditionelle Spaltung zwischen Materialismus und Idealismus überbrücken würde. Das Ziel dieser Bestrebungen wurde schließlich als „ Vereinheitlichung der Wissenschaft durch die Eliminierung der Metaphysik “ formuliert (ebd., S. 165). Das heißt also, dass die Kernelemente der späteren Doktrin des Wiener Kreises von den Mitgliedern des Protokreises bereits debattiert wurden. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges unterbrach diese Entwicklung. Mit Hans Hahn, der 1921 nach Wien zurückkehrte, um die Professur für Mathematik an der Universität Wien zu übernehmen, kehrte jedoch auch das Bestreben, eine wissenschaftliche Philosophie zu entwickeln, nach Wien zurück. 1922 wurde der bereits damals weithin anerkannte deutsche Philosoph (und Physiker) Moritz Schlick, Autor der 1918 erschienen und vielgepriesen Allgemeinen Erkenntnislehre, 35 als Nachfolger von Ernst Mach auf den Lehrstuhl für Naturphilosophie an die Universität Wien berufen, was wiederum eine weitere wichtige personelle Voraussetzung für die Wiederaufnahme der Arbeit des Kreises bildete. Schlick war es nämlich, der im Wintersemester 1924/ 25 die regelmäßigen Treffen des Kreises (jeweils am Donnerstagabend) initiierte (ebd., S. 178). 1926 schloss sich dem Kreis der später berühmt gewordene deutsche Philosoph und Logiker Rudolf Carnap (1891 - 1970) an, und etwa um die gleiche Zeit entwickelten sich recht intensive Kontakte zwischen dem Wiener Kreis und Ludwig Wittgenstein, der mehrmals an den Debatten des Kreises teilnahm, obschon er ihm nie 35 Ich behandle dieses Werk ausführlich im nächsten Unterkapitel. 50 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="65"?> beitrat. Es vergingen aber noch einige Jahre, bis sich die Mitglieder des zunächst immer noch privaten und informellen Diskussionskreises an die Öffentlichkeit wagten. Ihr erster öffentlicher Auftritt fand während der 1929 in Prag abgehaltenen First Conference on the Epistemology of the Exact Sciences statt. Im Rahmen dieser Tagung wurde auch das Manifest des Kreises „ Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis “ veröffentlicht. (ebd., S. 178). Es sollte Moritz Schlick, dem Vorsitzenden des „ Vereins Ernst Mach “ (wie sich der „ Wiener Kreis “ damals offiziell nannte), bei seiner Rückkehr von seiner Gastprofessur in Stanford nach Wien im Oktober 1929 als eine Art Festschrift überreicht werden. Im Folgenden werde ich die Inhalte dieser wichtigen Schrift kurz zusammenfassen und dabei weitestgehend auf Kommentare verzichten. 36 Das Manifest 37 Die Autoren der Schrift 38 erklären in der Einführung, dass die Berufung von Moritz Schlick 1929 nach Bonn einen gewissen Wendepunkt in der Geschichte des Kreises bildete, insofern als er diesem „ verlockenden Ruf “ , wie es heißt, nicht gefolgt ist. Wurde ihm und „ uns “ doch bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal bewusst, schreiben die Autoren, dass es so etwas wie einen „ Wiener Kreis “ der wissenschaftlichen Weltauffassung gebe. Bereits der Titel der Schrift: „ Der Wiener Kreis der wissenschaftlichen Weltauffassung “ macht deutlich, dass es den Menschen, die in dem Kreis vereint waren, um mehr ging als um eine bloße Erkenntnistheorie: es ging ihnen um eine Einstellung nicht nur zur Wissenschaft bzw. Philosophie, sondern zur Welt, zum Leben überhaupt, eben um eine „ wissenschaftliche Weltauffassung “ . Bereits am Anfang der Schrift kommt diese Ausrichtung deutlich zum Ausdruck. Die Autoren konstatieren eine „ merkwürdige Übereinstimmung “ der Mitglieder des Kreises nicht nur in Bezug auf die Fragen der Philosophie oder Wissenschaft, sondern auch mit Blick auf die Lebensfragen (obwohl diese nicht im Vordergrund standen). Diese Übereinstimmung aber scheine den Autoren auch im Einklang mit den umfassenderen Entwicklungen in der Gesellschaft zu stehen. So zeigten zum Beispiel die Bestrebungen zur Neugestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, zur Vereinigung der Menschheit, zur Erneuerung der Schule und der Erziehung einen inneren 36 Text gemäß der Fassung in Stöltzner und Uebel (Hrsg.), 2006, S. 3 - 29. 37 Da diese Schrift verhältnismäßig kurz ist, werde ich im Folgenden auf die Seitenangaben zu jeder einzelnen Feststellung verzichten und sie lediglich auf die direkten Zitate aus dem „ Manifest “ beschränken. 38 Die Schrift wurde als eine kollektive Leistung des „ Vereins Ernst Mach “ präsentiert: vor dem Titel gibt es keine Angaben bezüglich der Autorschaft, nach dem Titel folgt lediglich der Vermerk: „ Herausgegeben vom Verein Ernst Mach “ und die Widmung: „ Moritz Schlick gewidmet “ . Nach dem „ Geleitwort “ werden jedoch drei Personen als Repräsentanten des Vereins namentlich aufgeführt: Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath. Im Weiteren werde ich diese Publikation als „ Manifest 1929 “ zitieren. 2 a Das Aufkommen 51 <?page no="66"?> Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Weltauffassung. Diese Bestrebungen würden auch von den Mitgliedern des Kreises bejaht, mit Sympathie betrachtet, von einigen sogar auch tatkräftig gefördert. Im Kern jedoch ist die Schrift eindeutig eine Polemik gegen die (in den Augen der Verfasser) zunehmenden metaphysischen Tendenzen im Geistesleben der Gegenwart. Die ersten Sätze des Hauptteils der Schrift lauten: Dass metaphysisches und theologisierendes Denken nicht nur im Leben, sondern auch in der Wissenschaft heute wieder zunehme, wird von vielen behauptet. [. . .] Die Behauptung selbst wird leicht bestätigt durch einen Blick auf die Themen der Vorlesungen an den Universitäten und auf die Titel der philosophischen Veröffentlichungen. (Manifest 1929, S. 5, Hervorhebung im Original) Aber auch der entgegengesetzte Geist der Aufklärung und der antimetaphysischen Tatsachenforschung erstarke gegenwärtig, stellen die Autoren fest, und zwar in verschiedenen Ländern: in England (es wird diesbezüglich auf Russell und Whitehead verwiesen), den USA (James) und auch „ das neue Russland sucht durchaus nach wissenschaftlicher Weltauffassung “ . In Berlin seien manche Persönlichkeiten (Reichenbach, Petzdoldt, Grelling, Dubislav usw.) diesem Ziel zugewandt, und Wien biete ihm einen besonders geeigneten Boden. Denn schon in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts habe hier ein liberaler und antimetaphysischer Geist geherrscht, verkörpert insbesondere durch Ernst Mach, für den 1895 eine eigene Professur für Philosophie der induktiven Wissenschaften eingerichtet wurde. 1922 wurde Moritz Schlick von Kiel nach Wien berufen und um ihn sammelte sich im Laufe der Jahre ein Kreis, der die verschiedenen Bestrebungen in Richtung einer wissenschaftlichen Weltauffassung vereinigte. Der Kreis zeichnete sich durch fruchtbare gegenseitige Anregung aus, wie es heißt. Keiner seiner Mitglieder sei „ reiner “ Philosoph, alle hätten auf einem der wissenschaftlichen Einzelgebiete gearbeitet. Im Laufe der Jahre entwickelte sich unter den Mitgliedern zunehmend Einheitlichkeit. Ihre spezifische wissenschaftliche Einstellung lasse sich mit Wittgensteins Worten charakterisieren: „ Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen “ (Manifest 1929, S. 9 39 ). Es habe sich immer deutlicher gezeigt, dass die nicht nur metaphysikfreie, sondern antimetaphysische Einstellung das gemeinsame Ziel aller war. Dabei handele es sich auch um die Grundrichtung des Kreises: metaphysikfreie Wissenschaft zu fördern bzw. anzustoßen. Die Gründung des Vereins (der offizielle Name des Kreises lautete „ Verein Ernst Mach “ ) habe dann im November 1928 stattgefunden. Moritz Schlick sei zum Vorsitzenden des Vereins gewählt worden, weil sich die gemeinschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Weltauffassung am stärksten in ihm konzentriert habe. 39 Die Autoren berufen sich an dieser Stelle auf kein konkretes Werk Wittgensteins. Die Aussage stammt bekanntlich aus dem Vorwort zu seinem Tractatus logico-philosophicus (Wittgenstein 1984, S. 9) 52 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="67"?> Der 2. Abschnitt der Schrift ist der Charakterisierung der Hauptanliegen des Kreises gewidmet. Im Vordergrund des Interesses stehen nicht eigene Thesen, sondern eine grundsätzliche Einstellung: das Ziel sei die Etablierung der Einheitswissenschaft. Die Betonung liege dabei auf der Kollektivarbeit, dem intersubjektiv Erfassbaren; hieraus entspringe das Suchen nach einem neutralen Formelsystem, einer von den „ Schlacken der historischen Sprachen befreiten Symbolik “ , nach einem Gesamtsystem der Begriffe. Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen als Schimären abgelehnt. In der Wissenschaft gebe es keine „ Tiefen “ , alles liege an der Oberfläche. Alles Erlebte bilde ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen Detail erfassbares Netz. Dennoch seien dem Menschen grundsätzlich alle Dinge zugänglich; er, der Mensch, sei das Maß aller Dinge. Die Verfasser weisen darauf hin, dass sich hier eine Verwandtschaft mit den Sophisten und mit den Epikureern, und keineswegs mit den Platonikern oder den Pythagoreern zeige, letztlich mit allen, die es mit dem irdischen Wesen halten und die Diesseitigkeit vertreten. Die wissenschaftliche Weltauffassung kenne keine unlösbaren Rätsel. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führe dazu, dass sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden. In dieser Klärung von Problemen und Aussagen bestehe die Aufgabe der philosophischen Arbeit, nicht aber darin, eigene „ philosophische “ Aussagen zu treffen. Die Methode dieser Klärung sei die der logischen Analyse. Die Autoren zitieren an dieser Stelle Russell, der über diese Methode schrieb: „ Meines Erachtens liegt hier ein ähnlicher Fortschritt vor, wie er durch Galilei in der Physik hervorgerufen wurde: beweisbare Einzelergebnisse treten an die Stelle unbeweisbarer, auf das Ganze gehender Behauptungen, für die man sich nur auf die Einbildungskraft berufen kann “ (Manifest 1929, S. 12). 40 Diese Methode der logischen Analyse sei es auch, die den neuen Empirismus und Positivismus wesentlich von dem früheren unterscheide, der stärker biologisch-psychologisch ausgerichtet war, betonen die Autoren (deshalb die Bezeichnung „ logischer Positivismus “ ). Wenn jemand behaupte: „ es gibt keinen Gott “ , „ der Urgrund der Welt ist das Unbewusste “ , „ es gibt eine Entelechie als leitendes Prinzip im Lebewesen “ , so erwidere man ihm nicht: „ was du sagst, ist falsch “ ; sondern frage ihn: „ was meinst du mit deinen Aussagen? “ , so die Autoren. Dabei zeige sich, stellen sie weiter fest, dass es eine scharfe Grenze zwischen zwei Arten von Aussagen gebe: die eine umfasst Aussagen, wie sie in der empirischen Wissenschaft gemacht werden. Ihr Sinn lasse sich durch logische Analyse, genauer: durch Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes ermitteln. Die anderen Aussagen, zu denen die vorhin genannten gehören, erweisen sich als völlig 40 Das Russell-Zitat stammt aus seiner Schrift Our Knowledge of the External World (Russell 1972, S. 4). Die Übersetzung ist vermutlich die der Autoren. 2 a Das Aufkommen 53 <?page no="68"?> bedeutungsleer und sinnlos. Man könne sie freilich häufig in empirische Aussagen umdeuten; dann verlieren sie jedoch den Gefühlsgehalt, der dem Metaphysiker meist gerade das Wichtigste ist. Der Metaphysiker und der Theologe glauben, und dabei sitzen sie einem Missverständnis auf - wie es in der Schrift heisst - , mit ihren Sätzen etwas auszusagen, einen Sachverhalt darzustellen. Die Analyse zeige jedoch, dass diese Sätze nichtssagend sind und nur einem Lebensgefühl Ausdruck geben. Dergleichen auszudrücken könne zwar sicherlich eine bedeutsame Aufgabe im Leben sein, heißt es weiter, das adäquate Ausdrucksmittel hierfür sei jedoch die Kunst, zum Beispiel die Lyrik oder die Musik. Werde stattdessen das sprachliche Gewand einer Theorie gewählt, so liege darin eine Gefahr: Es werde ein theoretischer Gehalt vorgetäuscht, wo keiner bestehe. Wolle ein Metaphysiker oder Theologe die übliche sprachliche Einkleidung beibehalten, so müsse er sich im Klaren darüber sein und deutlich erkennen lassen, dass er keiner Erkenntnis im Sinne einer Theorie Ausdruck verleihe, sondern sich im Bereich von Dichtung oder Mythos bewege. Wenn ein Mystiker behaupte, Erlebnisse zu haben, die jenseits aller Begriffe liegen, so könne man nicht bestreiten, dass er sie hatte. Er aber könne darüber nicht sprechen; denn sprechen bedeute Sachverhalte in Begriffen zu erfassen, sie auf wissenschaftlich eingliederbare Tatbestände zurückzuführen, stellen sie - Wittgenstein folgend 41 - fest. In metaphysischen Theorien und Fragestellungen stecken zwei logische Grundfehler, heißt es weiter. Zum einen seien sie durch eine zu enge Bindung an die Form der traditionellen Sprachen, zum anderen durch die Unklarheit in Bezug auf die logische Leistung des Denkens gekennzeichnet. Das Problem der gewöhnlichen Sprache bestehe vor allem darin, dass sie Substantive nicht nur für Dinge, sondern auch für Eigenschaften und sogar Beziehungen und Vorgänge gebrauche. Das sei jedoch eine irreführende Hypostasierung dieser Gegenstände. Der zweite Fehler bestehe in der Annahme, dass das Denken aus sich heraus Erkenntnisse gewinnen könne. Denn eine logische Untersuchung führe zum Ergebnis, dass alles Denken, alles Schließen, nichts anderes sei als ein Übergang von Sätzen zu anderen Sätzen, die nichts enthalten, was nicht schon in den Ausgangssätzen enthalten war (das logische Schließen sei nichts weiter als eine tautologische Umformung). Es sei daher nicht möglich, eine Metaphysik aus „ reinem Denken “ zu entwickeln. In der Ablehnung der offenen Metaphysik und der versteckten des Apriorismus seien sich alle Anhänger einer wissenschaftlichen Weltauffassung einig. Die Aussagen der alten Metaphysik seien sinnlos, weil nicht verifizierbar, nicht sachhaltig. Etwas sei nur und erst dadurch wirklich, dass es dem Gesamtgebäude der Erfahrung eingeordnet werde. Die von den Metaphysikern als Erkenntnisquelle besonders betonte Intuition werde von den Verfechtern der wissenschaftlichen Weltauffassung 41 Wittgenstein ist neben Russell der am meisten zitierte Autor in der Schrift. 54 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="69"?> keineswegs abgelehnt. Sie eigne sich zum Entdecken wahrer Aussagen. Angestrebt und gefordert sei jedoch, jede intuitive Erkenntnis nachträglich einer schrittweisen rationalen Rechtfertigung zu unterziehen. Dem Suchenden seien alle Mittel erlaubt; das Gefundene aber müsse der Nachprüfung standhalten. 42 Die Auffassung, die in der Intuition eine höherwertige bzw. tieferreichende Erkenntnisart sehe, die über die sinnlichen Erfahrungsinhalte hinausführen könne und nicht durch die engen Fesseln begrifflichen Denkens gebunden werden dürfe, werde abgelehnt. Wissenschaftliche Weltauffassung, so wie sie von den Verfassern verstanden wird, gründe in zwei Bestimmungen: Sie sei erstens empirisch und positivistisch. Sie stelle sich auf die Annahme, dass es nur Erfahrungserkenntnis gebe, die auf dem unmittelbar Gegebenen beruhe. Solche Erfahrungserkenntnis bilde die Legitimitätsgrenze der Wissenschaft. Wissenschaftliche Weltauffassung sei zweitens durch die Anwendung einer bestimmten Methode gekennzeichnet: die der logischen Analyse. Ziel sei die Errichtung der Einheitswissenschaft durch Anwendung der logischen Analyse auf das empirische Material. Da sich der Sinn jeder wissenschaftlichen Aussage durch Zurückführung auf eine Aussage über das Gegebene angeben lassen müsse, so müsse sich auch der Sinn eines jeden Begriffs, zu welchem Wissenschaftszweig er auch gehören mag, durch schrittweise Zurückführung auf andere Begriffe, bis hinab zu den Begriffen der untersten Stufe, die sich auf das Gegebene selbst beziehen, angeben lassen. Wäre eine solche Analyse für alle Begriffe durchgeführt, so hätte man sie damit in ein Rückführungssystem bzw. „ Konstitutionssystem “ , eingeordnet. Die auf das Ziel eines solchen Konstitutionssystems gerichteten Untersuchungen, bilden den Rahmen der „ Konstitutionstheorie “ , in dem die logische Analyse der wissenschaftlichen Weltauffassung angewendet werde. Die aristotelische Logik sei dafür ungeeignet, weil unzureichend, das könne allein die moderne symbolische Logik (oder wie Carnap sie nennt: die „ Logistik “ ) leisten. Diese ermögliche einerseits die Schärfe der Begriffsdefinitionen, und andererseits, den intuitiven Schlussprozess des gewöhnlichen Denkens zu formalisieren, ihn in eine strenge, durch einen Zeichenmechanismus automatisch kontrollierte Form zu bringen. Die unterste Schicht des Konstitutionssystems bilden Begriffe eigenpsychischer Erlebnisse und Qualitäten. Darüber seien die physischen Gegenstände angesiedelt, gefolgt vom Fremdpsychischen und darüber den Gegenständen der Sozialwissenschaften. Die Einordnung der Begriffe der verschiedenen Wissenschaften in das Konstitutionssystem sei, wie die Autoren behaupten, in groben Zügen schon erkennbar, nur ihre 42 Diese Forderung kann als ein Vorläufer der für gewöhnlich Popper und Reichenbach zugeschriebenen Einführung der Unterscheidung zwischen dem „ Entdeckungs- “ und „ Begründungszusammenhang “ gewertet werden. Vgl. Popper 1966, S. 31, Reichenbach 1938, S. 6f. 2 a Das Aufkommen 55 <?page no="70"?> genauere Durchführung stehe noch aus. 43 Mit dem Nachweis der Möglichkeit und dem Aufweis der Form des Gesamtsystems der Begriffe werde zugleich der Bezug aller Aussagen auf das Gegebene und damit die Aufbauform der Einheitswissenschaft erkennbar. In die wissenschaftliche Beschreibung könne nur die Struktur (Ordnungsform) der Objekte eingehen, nicht ihr „ Wesen “ . Das die Menschen in der Sprache Verbindende seien die Strukturformeln, in ihnen stelle sich der Inhalt der gemeinsamen Erkenntnis der Menschen dar. Die subjektiv erlebten Qualitäten - die Röte, die Lust - seien als solche eben nur Erlebnisse, keine Erkenntnisse. In die physikalische Optik gehe nur das ein, was auch dem Blinden grundsätzlich verständlich sei. 44 Der dritte Abschnitt der Schrift befasst sich mit, wie es heisst, „ einzelnen Problemgebieten “ . Eigentlich befasst er sich mit den einzelnen Wissenschaften, die Verfasser aber wollen sie im Hinblick auf das Ideal der Einheitswissenschaft offensichtlich nicht so benennen. Nach der kurzen Erörterung der „ Grundlagen der Arithmetik “ , die hier weniger von Belang ist, widmen sie sich den Grundlagen der Physik. Ursprünglich habe das stärkste Interesse des Wiener Kreises den Problemen der Methode der, wie sie schreiben, „ Wirklichkeitswissenschaft “ gegolten (Manifest 1929, S. 19). Diese Bezeichnung steht im Singular, als ob die Physik die einzige Wirklichkeitswissenschaft wäre. Angeregt durch Gedanken von Mach, Poincaré und Duhem seien die Probleme der Bewältigung der Wirklichkeit durch wissenschaftliche Systeme, insbesondere durch Hypothesen- und Axiomensysteme, erörtert worden. Ein Axiomensystem könne zunächst, gänzlich losgelöst von aller empirischen Anwendung, als ein System impliziter Definitionen betrachtet werden. Damit sei gemeint, dass die in den Axiomen enthaltenen Begriffe nicht ihrem Inhalte nach, sondern nur durch die Axiome, d. h. ihre gegenseitigen Beziehungen darin, festgelegt würden. Bedeutung für die Wirklichkeit erlange ein solches Axiomensystem aber erst durch Hinzufügen weiterer Definitionen, nämlich der „ Zuordnungsdefinitionen “ (ebd.), durch die angegeben werde, welche Gegenstände der Wirklichkeit als Glieder des Axiomensystems betrachtet werden sollen. Ziel sei die Entwicklung der empirischen Wissenschaft, die die Wirklichkeit durch ein möglichst einheitliches und einfaches Netz von Begriffen und Urteilen wiedergeben könne. Ferner stellen die Autoren fest, dass das methodologische Problem der Anwendung von Axiomensysteme auf die Wirklichkeit zwar grundsätzlich für jeden Wissenschaftszweig in Betracht komme, aber besonders für die Physik untersucht wurde, weil diese am weitesten von allen Wissenschaften entwickelt sei. Die erkenntnistheoretische Analyse der Hauptbegriffe der 43 Diese Feststellung bezieht sich auf das 1928 veröffentlichte erste Hauptwerk Rudolf Carnaps Der logische Aufbau der Welt, in dem er ein solches Konstitutionssystem - eben „ in groben Zügen “ - beschrieben hat. Für eine detaillierte Analyse dieses Werks s. unten. 44 Diese erstaunliche Behauptung findet man auf S. 16 des Manifests. 56 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="71"?> Naturwissenschaft habe diese Begriffe immer mehr von den metaphysischen Beimengungen befreit, die ihnen seit Urzeiten anhafteten. Insbesondere seien durch Helmholtz, Mach, Einstein und andere die Begriffe Raum, Zeit, Substanz, Kausalität, Wahrscheinlichkeit gereinigt worden. Die Kausalität würde ihres anthropomorphen Charakters einer „ Einwirkung “ oder „ notwendigen Verknüpfung “ entkleidet und auf die Bedingungsbeziehung bzw. die funktionale Zuordnung, zurückgeführt. Durch die Anwendung der axiomatischen Methode auf die genannten Probleme scheiden sich überall die empirischen Bestandteile der Wissenschaft von den bloß konventionellen, der Aussagegehalt von der Definition, heisst es weiter. Für ein synthetisches Urteil a priori bleibe da keinen Platz mehr. Die Autoren widmen auch einige Zeilen dem Problem der Induktion. Die Methode der Induktion, der Schluss vom Gestern aufs Morgen, vom Hier aufs Dort, sei nur gültig, wenn eine Gesetzmäßigkeit bestehe. Sie mag überall dort angewendet werden, wo sie zu fruchtbaren Ergebnissen führe; Sicherheit gewähre sie nie. Die erkenntnistheoretische Besinnung fordere, dass einem Induktionsschluss nur insoweit Bedeutung beigelegt werde, als er empirisch nachgeprüft werden könne. Es folgt ein Abschnitt zu den Grundlagen der Geometrie, der uns hier auch nicht weiter zu interessieren braucht, und dann einige interessante Bemerkungen zu den Grundlagen der Biologie und Psychologie, die bezeichnenderweise in einem gemeinsamen Abschnitt enthalten sind. Die Biologie werde mit Vorliebe als ein Sondergebiet behandelt, lesen wir. Im Vitalismus würde eine besondere Lebenskraft postuliert, moderne Vertreter dieser Lehre bemühten sich dagegen, in die verschwommenen Begriffe Klarheit zu bringen: sie sprechen nicht von der Lebenskraft, sondern von den „ Dominanten “ (Reinke) oder von „ Entelechien “ (Driesch) (Manifest 1929, S. 23). Diese Begriffe genügten jedoch nicht der Forderung nach Zurückführung auf das Gegebene und werden darum als metaphysisch abgelehnt. Das Gleiche gelte vom sogenannten „ Psychovitalismus “ , der ein Eingreifen der Seele, eine „ Führerrolle des Geistigen im Materiellen “ lehre (ebd.). Im Weiteren räumen die Autoren ein, dass die wissenschaftliche Weltauffassung auf gewissen Gebieten weiter entwickelt sei als auf anderen. In der Physik sei sie bereits weit fortgeschritten, in der Psychologie hingegen noch nicht. Denn dort habe sie mit zahlreichen Problemen kämpfen zu kämpfen: sprachliche Formen seien in alter Zeiten aufgrund gewisser metaphysischer Vorstellungen gebildet worden, weshalb sie metaphysisch belastet und überdies durch logische Unstimmigkeiten gekennzeichnet seien. Dazu kämen noch gewisse sachliche Schwierigkeiten, weshalb die meisten psychologischen Begriffe nur mangelhaft definiert seien. Von vielen könne man nicht einmal sagen, ob sie überhaupt Sinn ergäben. Hier gebe es noch sehr viel zu tun, sei noch fast alles zu leisten. Die Autoren betonen jedoch, dass die behavioristische Psychologie ihrem ganzen Ansatz nach der wissenschaftlichen Weltauffassung nahe stehe. 2 a Das Aufkommen 57 <?page no="72"?> Schließlich wenden sie sich den Grundlagen der Sozialwissenschaften zu. Diese seien noch nicht so weit wie jene der Physik ausgearbeitet, die Reinigungsaufgabe sei aber auf diesem Felde auch nicht so dringend. Denn einerseits sei der Einfluss der Metaphysik dort nicht so stark, andererseits stünden manche Begriffe (Krieg, Frieden, Einfuhr, Ausfuhr) der unmittelbaren Wahrnehmung näher als „ Atom “ und „ Äther “ . 45 Es sei jedoch ohne Weiteres möglich, den Begriff „ Volksgeist “ fallen zu lassen, und stattdessen von Gruppen von Individuen zu sprechen. Gegenstand der Geschichte und Nationalökonomie seien Menschen, Dinge und ihre Anordnung. Im abschließenden, vierten Abschnitt der Schrift ( „ Rückblick und Ausblick “ ) fassen die Autoren das bereits Gesagte in prägnanter Form zusammen. Das Wesen der neuen wissenschaftlichen Weltauffassung bestehe nicht in der Formulierung eigener „ philosophischer Sätze “ , sondern hauptsächlich in der Klärung von Sätzen, und zwar von Sätzen der empirischen Wissenschaft. Manche Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung seien nicht bereit, ihre Arbeit mit dem Wort „ Philosophie “ zu bezeichnen. Wie immer solche Untersuchungen auch benannt werden mögen, eines stehe jedenfalls fest: Es gibt keine Philosophie als Grund- oder Universalwissenschaft neben oder über den verschiedenen Gebieten der einen Erfahrungswissenschaft; es gibt keinen Weg zu inhaltlicher Erkenntnis neben dem der Erfahrung; es gibt kein Reich der Ideen, das über oder jenseits der Erfahrung stände. (Manifest 1929, S. 26. Hervorhebung im Original) Dennoch bleibe die Arbeit der „ philosophischen “ oder „ Grundlagen “ -Untersuchungen im Sinne der wissenschaftlichen Weltauffassung wichtig. Denn die logische Klärung der wissenschaftlichen Begriffe, Sätze und Methoden befreie von hemmenden Vorurteilen. Die logische und erkenntnistheoretische Analyse wolle der wissenschaftlichen Forschung nicht etwa Schranken auferlegen. Im Gegenteil: sie stelle ihr einen möglichst vollständigen Bereich formaler Möglichkeiten zur Verfügung, aus dem die zu der jeweiligen Erfahrung stimmende auszuwählen sei. Die Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung stehen entschlossen auf dem Boden der einfachen menschlichen Erfahrung, heißt es. Sie seien zuversichtlich, den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende durch logische Aufräumarbeiten beseitigen zu können. Die Zunahme metaphysischer und theologisierender Neigungen, die sich in vielen Bünden und Sekten, in Büchern und Zeitschriften, in Vorträgen und Universitätsvorlesungen bemerken lasse, scheine den Autoren zufolge auf den heftigen sozialen und wirtschaftlichen Kämpfen der Gegenwart zu beruhen: Die eine Gruppe der Kämpfenden, die auf sozialem Gebiet am Vergangenen festhalte, pflege die überkommenen, oft inhaltlich längst überwundenen Einstellungen 45 An dieser Stelle wird klar, dass sich die Autoren der Schrift nicht nur des Ätherbegriffs, sondern auch des Begriffs des Atoms entledigen wollen. 58 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="73"?> der Metaphysik und Theologie, während die andere, der neuen Zeit zugewendete Gruppe diese Einstellungen ablehne und sich auf den Boden der Erfahrungswissenschaft stelle. Diese Entwicklung hänge mit der des modernen Produktionsprozesses zusammen, der immer stärker maschinentechnisch ausgestaltet werde und immer weniger Raum für metaphysische Vorstellungen lasse. Sie habe auch mit der Enttäuschung breiter Massen über die Haltung derjenigen zu tun, die die überkommenen metaphysischen und theologischen Lehren verkünden. So komme es, dass die Massen diese Lehren in vielen Ländern jetzt weit bewusster als je zuvor ablehnen und im Zusammenhang mit ihrer sozialistischen Einstellung einer erdverbundenen, empiristischen Auffassung zuneigen würden. In früherer Zeit sei der Materialismus der Ausdruck für diese Auffassung gewesen; inzwischen aber habe sich der moderne Empirismus aus manchen unzulänglichen Formen herausentwickelt und in der wissenschaftlichen Weltauffassung 46 eine haltbare Gestalt gewonnen. Die Schrift schließt, wie sie angefangen hat, mit dem Hinweis darauf, dass die „ wissenschaftliche Weltauffassung “ mehr sei als eine wissenschaftliche oder philosophische Theorie. Sie sei eine Lebenshaltung, ein Lebensstil: So steht die wissenschaftliche Weltauffassung dem Leben der Gegenwart nahe. [. . .] Wir erleben, wie der Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft. Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf. (Manifest 1929, S. 27, Hervorhebung im Original) Dem Text der Schrift folgt die Aufzählung der Mitglieder des Wiener Kreises, der „ dem Wiener Kreise nahestehenden Autoren “ , und schließlich der „ führenden Vertreter der wissenschaftlichen Weltauffassung “ . Diese Kategorie umfasst nur drei Namen. Sie zu erwähnen, scheint mir lohnenswert: Albert Einstein, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein. Fazit Ich werde an dieser Stelle auf eine ausführliche Diskussion des „ Manifests “ verzichten, da fast alle seine Kernaussagen Ableitungen aus den drei zentralen Schriften darstellen, die ich im Folgenden einer genaueren Analyse unterziehen werde: Moritz Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre, Rudolf Carnaps Logischem Aufbau der Welt und Ludwig Wittgensteins Tractatus logicophilosophicus. Worum es den Autoren der Schrift und mithin dem Wiener Kreis ging, dürfte jedoch bereits hinreichend deutlich geworden sein, nämlich den „ metaphysierenden “ Tendenzen in der Philosophie und vor allem in der Wissenschaft entgegenzuwirken, „ den metaphysischen und theologischen 46 Diese Bezeichnung wird im Original kursiv geschrieben (vgl. S. 27). 2 a Das Aufkommen 59 <?page no="74"?> Schutt der Jahrtausende aus dem Wege [. . .] räumen “ (Manifest 1929, S. 26), eine Einheitswissenschaft zu etablieren, die sich ausschließlich auf die Erfahrung stützt, und die wissenschaftliche Weltauffassung zu verbreiten (also den Materialismus unter dem Namen des „ modernen Empirismus “ ), die sich, wie es (in der Schrift) heißt, aus den zivilisatorischen Umwälzungen der jüngsten Zeit, insbesondere den modernen (mechanisierten) Produktionsprozessen quasi natürlich ergibt und die dadurch auch dem sozialen Leben zugute kommen wird. Was jedoch im Abstand der über 80 Jahre seit der Veröffentlichung dieses Dokuments auffällt, ist, dass zahlreiche der von den Autoren als „ unerschütterliche Wahrheiten “ erachtete Behauptungen willkürlich, unbegründet und sogar unverständlich erscheinen, weshalb es nicht überrascht, dass diese hehren Ziele nach ca. dreißig Jahren selbst zu Schutt geworden sind. Darüber hinaus lässt sich eine gewisse Paradoxie des „ Manifests “ nicht übersehen: Was als „ wissenschaftliche Weltauffassung “ gepriesen wird, gilt den Autoren gleichzeitig als „ Lebenshaltung, Lebensstil “ . Die Verknüpfung der beiden Begriffe führt unweigerlich zu der Frage: Was ist hier ursprünglicher, die „ wissenschaftliche “ Weltauffassung oder eine bestimmte Lebenshaltung? Den Autoren scheint es selbstverständlich zu sein, dass der bestimmte Lebensstil in der „ unvoreingenommenen “ Wissenschaft gründet und aus ihr erwächst. Die Frage wird jedoch virulent, wenn man sich näher mit Ludwig Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache befasst, einem nur sechs Jahre nach dem Erscheinen des „ Manifests “ veröffentlichten und damals wenig beachteten Werk, in dem er den Einfluss der Denkgewohnheiten eines Denkkollektivs (man könnte auch sagen der Lebenshaltung und des Lebensstils dieses Denkkollektivs) auf die von ihm entworfenen Theorien beschrieb. 47 Liegt nicht die Vermutung nahe, dass die kühnen Behauptungen des „ Manifests “ nicht das Resultat unvoreingenommener wissenschaftlicher Forschung sind, sondern vielmehr etwas, das die Forschung, indem es ihr die Richtung vorgibt, steuernd beeinflusst und leitet? Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man bedenkt, dass das „ Manifest “ wie die drei ihm vorausgehenden und im Weiteren näher zu analysierenden Schlüsselwerke keineswegs Resultat (natur)wissenschaftlicher Forschung, sondern vielmehr und selbstverständlich der philosophischen Reflexion sind. Ob diese Anspruch auf Unvoreingenommenheit erheben kann, ist aber zumindest zweifelhaft „ The Received View “ Die Auffassung der wissenschaftlichen Methode, die den Kern des logischen Positivismus oder logischen Empirismus bildete, bezeichnet Frederick Suppe (nach Putnam) als „ Received View “ (Suppe 1977, S. 3). Diese Auffassung 47 Für eine ausführlichere Betrachtung dieses Werks s. Unterkapitel „ Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung “ . 60 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="75"?> basierte, wie wir bereits dem „ Manifest “ andeutungsweise entnehmen konnten, auf der Annahme, dass eine wissenschaftliche Theorie in mathematischer Logik axiomatisiert werden müsse, wobei die Begriffe einer solchen logischen Axiomatisierung in drei Klassen aufgeteilt werden sollten: (1) logische und mathematische Termini, (2) theoretische Termini und (3) beobachtbare Termini. Die letzteren sollten gemäß dieser Auffassung von Wissenschaftlichkeit mit den theoretischen Termini mittels Korrespondenzregeln, die die theoretischen Termini durch Kombinationen von beobachtbaren Termini explizit definieren, verknüpft werden (Suppe ebd., S. 12). Die „ Received View “ gründete in der Überzeugung, dass sich der Fortschritt der Wissenschaft sich so vollzieht, wie Bacon nahegelegt hatte: Das Fundament des Gebäudes bilden unmittelbare Beobachtungen, von welchen man aufwärts bis zu immer allgemeineren Gesetzen aufsteigt (ebd., S. 15). Wissenschaftliche Sicherheit, oder einfach Wissenschaftlichkeit als solche, gewährleistet nach diesem Modell der Rückgriff auf die unmittelbar beobachtbaren Daten oder zumindest die Möglichkeit desselben: eine Theorie, die die empirischen Prüfungen (Tests) bestanden hat, kann als hochgradig bestätigt gelten, und es ist unwahrscheinlich, dass sie je widerlegt werden wird (ebd., S. 53f.). Die erste ausgereifte 48 Formulierung dieser Auffassung wurde Suppe zufolge 1928 von Carnap in seinem Logischem Aufbau der Welt vorgelegt; die ursprüngliche Position unterlag im Laufe der Zeit manchen Veränderungen und Modifikationen (ebd., S. 16 - 56), behielt aber bis zum Ende ihrer Geltung die oben charakterisierten grundlegenden Annahmen bei (ebd., S. 15). Die Eckpunkte der endgültigen Form der „ Received View “ lassen sich, ein wenig vereinfacht, 49 folgendermaßen zusammenfassen: 1) Es gibt eine Sprache des ersten Grades L, in der die Theorie formuliert wird, und ein logisches Kalkül, das in der Begrifflichkeit von L definiert wird; 2) Die nichtlogischen oder beschreibenden Terme von L werden in zwei getrennte Klassen unterteilt: V O , die die Beobachtungsterme, und V T , die die theoretischen Terme beinhaltet; 3) Die Sprache L wird weiter in folgende Untersprachen unterteilt: a) die Beobachtungssprache L O , die lediglich die Ausdrücke von V O und keine Ausdrücke von V T beinhalten darf; b) die logisch erweiterte Beobachtungssprache L O' , die weiterhin keine Ausdrücke von V T beinhalten darf und von L O abgeleitet wird dadurch, dass man dieser (logische) Quantoren, Modalitäten usw. hinzufügt; 48 Die erste Formulierung der „ received view “ überhaupt war nach Suppe Carnaps Aufsatz „ Über die Aufgabe der Physik und die Anwendung der Grundsätze der Einfachheit “ , der 1923 veröffentlicht wurde (Suppe ebd., S. 12). 49 Für die präzisere Formulierung vgl. Suppe ebd., S. 50ff. 2 a Das Aufkommen 61 <?page no="76"?> c) die theoretische Sprache L T , d. h. jener Teil von L, der keine V O Ausdrücke enthält; 4) L O erhält die semantische Interpretation, die die folgenden Bedingungen erfüllt: a) Die Domäne der Interpretation besteht in konkreten, beobachtbaren Ereignissen oder Dingen, die Relationen und Eigenschaften der Interpretation müssen direkt beobachtbar sein; b) Jeder Wert jeder Größe in L O muss durch einen Ausdruck aus L O bezeichnet werden; 5) Eine partielle Interpretation der theoretischen Terme und der Sätze von L, die sie enthalten, wird durch zwei Arten von Postulaten gewährleistet: die theoretischen Postulate T (d. h. die Axiome der Theorie), in denen ausschließlich die Begriffe von V T vorkommen, und die Korrespondenzregeln oder Postulate C, die eine Art gemischte Sätze bilden. Diese müssen die folgenden Bedingungen erfüllen: a) Die Menge der Regel C muss endlich sein; b) Die Menge der Regel C muss logisch mit T vereinbar sein; c) C darf keine außerlogischen Terme beinhalten, die weder zu V O noch zu V T gehören; d) Jede Regel in C muss mindestens einen V O - und einen V T -Term beinhalten. In diesem Sinne besteht eine wissenschaftliche Theorie, welche auf L, T, und C basiert, in der Konjunktion von T und C und kann als „ TC “ bezeichnet werden. Zu dieser eher formalen Charakterisierung des Kernes des logischen Empirismus müssen noch drei weitere Elemente hinzugefügt werden. Zum einen wurde die „ Received View “ in den frühen Stadien ihrer Entwicklung unter dem Einfluss von Wittgenstein um eine allgemeine Theorie der Bedeutung erweitert, nach der diese lediglich denjenigen Aussagen zugeschrieben werden kann, die sich empirisch verifizieren lassen (die sog. Verifikationstheorie der Bedeutung), während die anderen Aussagen als metaphysisch und somit kognitiv unbedeutend betrachtet werden (Suppe ebd., S. 13). Dieses Verständnis der Natur der Bedeutung wurde allerdings später aufgegeben. Die zweite zentrale Eigenschaft der neupositivistischen Auffassung des wissenschaftlichen Unternehmens war, wie wir bereits gesehen haben, ihre radikal antimetaphysische Haltung. In dieser lässt sich ein Erbe der Mach ’ schen Philosophie sehen, also der Philosophie, auf die sich die Arbeit des Wiener Kreises hauptsächlich stützte. Die Haltung der Mitglieder des Wiener Kreises der Metaphysik gegenüber kommt sehr treffend in einem 1931 in der Zeitschrift Erkenntnis veröffentlichten Aufsatz Rudolf Carnaps mit dem Titel „ Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache “ zum Ausdruck: 62 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="77"?> [S]ollten wirklich so viele Männer der verschiedensten Zeiten und Völker, darunter hervorragende Köpfe, so viel Mühe, ja wirkliche Inbrunst auf die Metaphysik verwendet haben, wenn diese in nichts bestände als in bloßen, sinnlos aneinandergereihten Wörtern? (Carnap 1931, S. 238) Die „ Received View “ war schließlich drittens eng mit der wichtigen Doktrin der Theoriereduktion verknüpft, obwohl strenggenommen nicht Teil derselben. Diese wiederum nahm zwei Hauptformen an. Zum einen kann man mit Blick auf den logischen Empirismus von der ontologischen Reduktion sprechen, also der Überzeugung, dass sich wissenschaftliche Theorien der höheren Stufen letztlich auf Theorien (und Entitäten) der untersten Seinstufen zurückführen lassen. Konkret: Psychologische Theorien auf die der Biologie, diese auf die der Chemie und diese wiederum auf die der Physik, die allein die „ wahre “ Wirklichkeit beschreibe. Die andere Form der Theoriereduktion kann man als theoretische Reduktion bezeichnen. Diese fußt auf der Überzeugung, dass der Fortschritt der Wissenschaft grundsätzlich dadurch erreicht werde, dass eine bereits akzeptierte und durch zahlreiche empirische Bestätigungen gut abgestützte wissenschaftliche Theorie mit neuen, früher unbekannten Beobachtungen konfrontiert wird, die zunächst innerhalb der bestehenden Theorie nicht erklärt werden können. Dieser Zustand zwinge dazu, die Theorie zu erweitern, um die neuen Fakten zu assimilieren. Die neue Theorie widerlegt in dem Fall die alte nicht, sondern umfasst sie als einen Spezialfall, so wie z. B. die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegungen aus der Newtonschen Mechanik folgen, oder wie die Newtonsche Mechanik sich als ein Sonderfall der Allgemeinen Relativitätstheorie erweist. Der logische Positivismus kann aufgrund seiner Abneigung gegen jegliche Metaphysik als ein Nachfolger des mittelalterlichen Nominalismus betrachtet werden. Gleichzeitig machte er es sich zur Aufgabe, den Weg zur Erlangung empirisch fundierter und sicherer Erkenntnis aufzuzeigen. Die Hoffnung, dass dieses Ziel nicht nur erstrebenswert, sondern auch realistisch ist, kommt deutlich in den bereits zitierten Worten Carnaps 50 aus dem Vorwort zu seinem Logischen Aufbau der Welt zum Ausdruck: „ [E]s wird in langsamem, vorsichtigem Aufbau Erkenntnis nach Erkenntnis gewonnen; jeder trägt nur herbei, was er vor der Gesamtheit der Mitarbeitenden verantworten und rechtfertigen kann. So wird sorgsam Stein zu Stein gefügt und ein sicherer Bau errichtet, an dem jede folgende Generation weiterschaffen kann “ (Carnap LA 1966, S. XIX, meine Hervorhebung, MBM). Heute sind sich die Wissenschaftstheoretiker darin einig, dass jegliche empirische also induktive Erkenntnis prinzipiell unsicher ist. 51 Es war diese Einsicht, die Kant zu seiner Theorie des menschlichen Erkenntnisprozesses veranlasste, mit der er kraft der „ kopernikanischen Wende “ die Sicherheit der 50 Vgl. „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ . 51 Ich werde dieses Problem ausführlicher im Unterkapitel „ Einige theoretische Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ behandeln. 2 a Das Aufkommen 63 <?page no="78"?> Erkenntnis dadurch sichern wollte, dass er nicht die Erkenntnis sich nach den Gegenständen richten ließ, sondern diese sich nach „ unserer Erkenntnis “ (Kant 1995, B XVI). Zwingende Folge einer Weltauffassung, die den ideellen Entitäten die Existenz abspricht und sich in ihren Erklärungen auf das bloß sinnlich Wahrnehmbare bzw. das vom sinnlich Wahrnehmbaren Abgeleitete beschränken will, ist also, dass sich in ihrem Rahmen eigentlich keine Erkenntnisgewissheit erlangen lässt. Aus dieser Sicht kann man den logischen Positivismus gewissermaßen als Bemühung um die Quadratur des Kreises betrachten, nämlich, bloß empirisch zu bleiben und dennoch sichere Erkenntnis erlangen zu wollen. Schon aus diesem Grunde kann es kaum verwundern, dass dieses Programm scheitern musste. Die Hauptwerke des logischen Empirismus Das Programm des logischen Empirismus ist heute, wie gesagt, diskreditiert. John Passmore äußerte sich in seinem einschlägigen Artikel für die Routledge Encyclopedia of Philosophy wie folgt: „ Logical positisivism [. . .] is dead, or as dead as a philosophical movement ever becomes “ (Passmore 1998, S. 529), und ein früher führender britischer Verfechter dieser Doktrin, der herausragende englische Philosoph und Hauptvertreter des logischen Empirismus in England, A. J. Ayer, stellte auf die Frage nach den Hauptmängel dieser Auffassung 1978 fest: „ I suppose the most important [. . .] was that nearly all of it was false “ . 52 Es scheint mir jedoch auch heute noch äußerst wichtig, dass man sich mit der Entstehung dieser Doktrin ausführlicher befasst. Denn der Aufstieg des logischen Empirismus zur Vorherrschaft in der Wissenschaftstheorie und vor allem die Tatsache, dass er diese Stellung mehr als drei Jahrzehnte lang behaupten konnte, bietet ein lehrreiches Beispiel eines wohl viel verbreiteteren Phänomens: dass sich nämlich viele sehr intelligente Menschen, die nahezu dieselben Überzeugungen teilen, zutiefst täuschen können. In der Regel gehen wir leichthin davon aus, dass eine solche Täuschung nur „ die Alten “ befallen konnte, z. B. die Wissenschaftler des 16. Jahrhunderts, die die kopernikanische Theorie vehement ablehnten, oder die Philosophen der Antike, die sogar noch an die Götter glaubten, und dass wir „ Modernen “ vor solchen groben Fehlern gefeit sind. Das Beispiel vom Aufstieg und Fall des logischen Empirismus belehrt uns aber eines Besseren: Auch wir aufgeklärten Modernen können völlig in die Irre gehen. Oswald Hanfling, Autor eines wichtigen Buches zum logischen Empirismus, bringt die Verwunderung über die Tatsache, dass auch wir „ Modernen “ uns in Bezug auf wichtige Hauptfragen der Philosophie immer noch derart täuschen können, sehr deutlich zum Ausdruck: 52 A. J. Ayer in einem Interview mit Brian Magee. (Magee 1978, S. 131), zitiert von Oswald Hanfling in: Hanfling 1981, S. 1. 64 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="79"?> In my Introduction I quoted a typical passage from Carnap in which he expressed astonishment that ‘ so many men [. . .] outstanding minds among them, have devoted so much effort, and indeed fervour, to metaphysics, when this consists in nothing more than words strung together without sense ’ . After reading the critical literature about Logical Positivism, one may be tempted to express a similar astonishment about the men who devoted so much effort and fervour to the construction and exposition of that philosophy. It can hardly be denied, moreover, that these men too had some outstanding minds among them. And the same may be said of the many readers, both inside and outside the ranks of philosophers, who have felt themselves attracted by the new philosophy. (Hanfling 1981, S. 171) 53 Wenn man sich eingestehen muss, dass die Vorstellungen intelligenter Menschen, ja führender Wissenschaftler und Intellektueller ihrer Zeit, die vor nicht einmal hundert Jahren lebten und wirkten, uns heute zutiefst fragwürdig erscheinen und eigentlich unannehmbar sind, so bekommt man - so hoffe ich - ein leises Herzklopfen. Man kann sich über diese Meneschen nicht intellektuell oder kulturell erhaben fühlen, denn schließlich glaubten sie an keine Märchen oder Mythen mehr. Aber dann muss man sich die Frage stellen, wie es möglich ist, dass sie sich so gründlich irren konnten, von der unbedingten Überzeugung getragen, auf dem festen Boden der einen und einzigen Wahrheit zu stehen. Daraus ergibt sich eine weitere Frage - und die ist fast noch wichtiger: Wenn es ihnen so gegangen ist, woher sollen wir die Zuversicht nehmen, dass wir heute nicht ebenso wie sie, wenngleich vielleicht anders, in die Irre gehen, selbst wenn wir unbedingt überzeugt sind, „ auf dem festen Boden der einen und einzigen Wahrheit zu stehen “ ? Und zweitens: Obwohl das Programm des logischen Positivismus Geschichte ist, wirken einige seiner Elemente, wie wir noch sehen werden, als unhinterfragte Annahmen im täglichen Geschäft der heutigen Wissenschaft weiter. Unhinterfragt wohlgemerkt, denn im Unterschied zu damals, 53 An dieser Stelle mag der Hinweis interessant sein, dass Rudolf Steiner bereits 1911 die damalige Zeit als die Zeit charakterisierte, die trotz ihres expliziten Bekenntnisses zur intellektuellen Nüchternheit und zum kritischen Geist äußerst anfällig für Dogmen war: „ [U]nsere Zeit ist eine solche der Dogmatik, der Abstraktion. Merkwürdig ist dabei, dass man diesen ihren Grundcharakter im exoterischen Leben missversteht und allgemein glaubt, dogmenfrei zu denken und zu handeln, obgleich man tief in Dogmen steckt. Man glaubt, auf Realitäten loszugehen, trotzdem man sich tief hinein in die wüstesten Abstraktionen verirrt. [. . .] Wie sehr unsere Zivilisation in Dogmen und Abstraktionen befangen ist, erkennt man erst, wenn man sie [. . .] in wirklich lebensvoller Art betrachtet. Man findet dann eine Denkrichtung, deren Charakter darin besteht, fertige Dogmen aufzustellen und zu verlangen, dass ein aufgeklärter Mensch sich daran halte, dabei aber glaube, sich rein kritisch zu verhalten “ (Steiner GA130, S. 139f. Für die Form des Verweises auf Rudolf Steiners Schriften vgl. das Kürzelverzeichnis). Diese Bemerkungen beziehen sich zwar in erster Linie auf die Ansichten des sog. „ Monisten Bundes “ von Ernst Haeckel (s. unten, Kapitel „ Einzug des Materialismus in die Wissenschaft “ ), doch hätte Steiner das Aufkommen des logischen Positivismus erlebt, hätte er wahrscheinlich das Gleiche über dessen „ Selbstverständlichkeiten “ gesagt. 2 a Das Aufkommen 65 <?page no="80"?> werden sie heute nicht mehr argumentativ begründet. Ihre Betrachtung kann deshalb Licht auf die Frage werfen, inwiefern gewisse heutige Dogmen berechtigt sind. Die Untersuchung der Wurzel hilft also eine gewisse gesunde Distanz zu der heute gängigen wissenschaftlichen Praxis zu gewinnen und mit den Gespenstern der noch gar nicht so alten Vergangenheit fertig zu werden. Im weiteren Gang möchte ich also die drei Werke unter die Lupe nehmen, die die Entwicklung des logischen Empirismus maßgebend geprägt haben: Moritz Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre, die eine der Grundlagen der Arbeiten des Wiener Kreises bildete, das bereits erwähnte Hauptwerk Rudolf Carnaps Der logische Aufbau der Welt, das Frederick Suppe zufolge die erste ausgereifte Fassung des logischen Positivismus beinhaltet, und schließlich mit dem Tractatus logico-philosophicus das frühe Hauptwerk Ludwig Wittgensteins, das genau wie Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre im Zentrum der Diskussionen des Wiener Kreises stand. Ich möchte untersuchen, ob diese Werke heute noch die Strahlkraft haben, die damals von ihnen ausging, und wenn nicht, wieso das nicht mehr der Fall ist. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre Will man die Ansichten einer Persönlichkeit richtig einordnen, so ist es oft hilfreich, und manchmal auch unerlässlich (wie wir demnächst im Fall von Ludwig Wittgenstein sehen werden), sie vor dem Hintergrund ihrer Biographie zu betrachten. Es leuchtet ein, dass die Überlegungen bzw. Theorien eines frischgebackenen Doktoranden anders zu beurteilen sind als ähnliche Überlegungen bzw. Theorien einer auf ihrem Felde anerkannten Autorität, obwohl es selbstverständlich nicht auszuschließen ist, dass die Ansichten des frischgebackenen Doktoranden richtiger sein können als die seines erfahrenen Doktorvaters. Ich werde deshalb im Laufe dieser Studie, wann immer möglich und wenn es mir relevant erscheint, den von mir ausführlicher diskutierten oder aber auch bloß ausführlicher dargestellten Ansichten verschiedener Philosophen bzw. Wissenschaftler eine kurze biographische Skizze ihres Autors vorausgehen lassen. Ich hoffe, eine solche wird zu einem vertieften Verständnis der Anliegen dieser Persönlichkeiten beitragen können. In diesem Sinne wenden wir uns jetzt der Biographie des Autors der Allgemeinen Erkenntnislehre Moritz Schlick zu. Moritz Schlick (1882 - 1936) absolvierte das Luisenstädtische Realgymnasium in Berlin und studierte dann Naturwissenschaften und Mathematik an den Universitäten Heidelberg, Lausanne und Berlin. 1904 (also mit nur 22 Jahren! ) promovierte er bei Max Planck in Physik mit einer Arbeit Über die Reflexion des Lichts in einer inhomogenen Schicht (Wendel und Engler 2009 a, S. 54). Im Herbst 1907 (ebd., S. 53) heiratete er Blanche Hardy, die Tochter eines Geistlichen aus Massachusetts in den USA, und ließ sich nach 66 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="81"?> der Rückkehr aus Amerika zunächst in Zürich nieder. Schlick behauptete, dass für die Wahl dieses Ortes ausschließlich „ Gründe der Landschaft “ maßgebend waren (ebd.). Diese scheinbar zufällige Entscheidung erwies sich jedoch bald als wegweisend für Schlicks weitere intellektuelle Entwicklung. Er machte nämlich die Bekanntschaft mit dem Psychologen und Philosophen Gustav Störring, der zu jener Zeit an der Universität Zürich lehrte. Nach seiner Promotion und einem kurzen Ausflug in die Experimentalphysik widmete sich Schlick nämlich zunächst ethischen und ästhetischen Studien. Ende 1907 publizierte er eine größere Arbeit zur Ethik: Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre und Mitte 1908 reichte er im Archiv für die gesamte Psychologie einen Aufsatz mit dem Titel „ Das Grundproblem der Ästhetik in entwicklungsgeschichtlicher Beleuchtung “ zur Veröffentlichung ein (ebd., S. 54). Er plante auch ein größeres Werk mit dem Titel „ Der neue Epikur “ zu verfassen, das offenbar als Fortsetzung der Lebensweisheit gedacht war. Ein Mitschüler aus dem Gymnasium ermunterte Schlick, sich so schnell als möglich zu habilitieren, und in der Tat ersuchte dieser am 22. 6. 1909 die Philosophische Fakultät der (damaligen) Hochschule Zürich um die Erteilung der Venia Legendi für „ Die Geschichte der Philosophie und die systematischen philosophischen Fächer (Logik, Erkenntnistheorie, Ethik etc.) “ (ebd., S. 55). Bemerkenswert an dieser Aufzählung ist, dass die Physik, sein eigentliches Promotionsfach, nicht einmal erwähnt wird. Was ist geschehen? Einerseits kann man in dieser tiefgreifenden Verschiebung von Schlicks Lebensinteressen den Einfluss der Bekanntschaft mit Störring vermuten. Störring beschäftigte sich zu jener Zeit mit den psychologischen Grundlagen der Erkenntnistheorie (Wendel und Engler 2009, S. 10) und kam u. a. zu der Einsicht, dass es unberechtigt ist, zu verlangen, als wahr nur solche Aussagen zu akzeptieren, die verifiziert worden sind, da Verifikation bereits Deduktionsprozesse beinhalte, die ihrerseits begründungsbedürftig seien (ebd.). Die Ergebnisse von Störrings psychologischen Experimenten machten auf Schlick einen so tiefen Eindruck, dass er sich vornahm, eine größere Arbeit über den Wahrheitsbegriff zu verfassen. Später resultierte daraus die Schrift „ Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik “ , mit der sich Schlick nicht in Zürich, sondern 1911 in Rostock habilitierte (in Zürich ergaben sich hinsichtlich seines Vorhaben Schwierigkeiten: da er Absolvent eines Realgymnasiums war und keine Griechischkenntnisse hatte, wurde sein Gesuch abgelehnt, wobei möglicherweise die geringe Zahl gedruckter Werke, die er vorzuweisen hatte, mitentscheidend war). Die andere Motivationslinie dieser existenziellen Umstellung kann man in seiner biographischen Entwicklung erblicken. Schlick berichtet, dass er einerseits bereits im Jugendalter ein tiefes Interesse für die Philosophie hatte, andererseits aber auch von der Nichtigkeit der Metaphysik überzeugt war und ein tiefes Misstrauen gegen jede reine Spekulation hegte (Wendel und Engler 2009 a, S. 58). Diese Abneigung gegen die metaphysische Spekulation war so tief, dass Schlick keinen Augenblick daran dachte, die Philosophie zum Hauptgegenstand des Universitätsstu- 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 67 <?page no="82"?> diums zu machen. Wie wir bereits gesehen haben, 54 sehnte er sich nach „ vollkommen sicheren, dem Streit der Meinungen entrückten Wahrheiten “ , nach „ exakter Wirklichkeitserkenntnis “ - eine Sehnsucht, die sich aus seiner Sicht nur durch das Studium der mathematischen Naturwissenschaft befriedigen ließ (ebd.). Das Paradigma einer solchen Naturwissenschaft war für ihn die Physik, deshalb die Wahl seines ersten Studiums. Er wandte sich der Physik nicht um der Sammlung physikalischer Fakten willen zu, sondern „ aus philosophischem Bedürfnis und in philosophischem Geiste “ (ebd., S. 59). Was ihn interessierte, war von Anfang an nicht bloß die Naturerkenntnis, sondern immer auch deren Verhältnis zu allgemeineren, letztendlich philosophischen Fragen. Bereits während seines Studiums der Physik in Berlin hörte er „ mit Genuss und Gewinn “ Wilhelm Diltheys Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie und in Zürich begann er sich neben seinen psychologischen Studien unter Störring mit Husserls Logischen Untersuchungen (die auch in Störrings Seminar behandelt wurden) auseinanderzusetzen, wie auch mit Fragen der Logik und der Erkenntnistheorie bei Heinrich Rickert und Wilhelm Wundt sowie mit Leonard Nelsons Behandlung des Begründungsproblem in der Erkenntnistheorie (ebd., S. 63). Es erwachte bei ihm ein lebhaftes Interesse für Logik, mit der er sich früher wenig beschäftigt hatte (ebd., S. 64) Gleichzeitig begann er sich mit der Frage des Zusammenhanges von Wahrheit und Erkenntnis auseinanderzusetzen, was schließlich in der Schrift Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik kulminierte. Schlick zog von Zürich zu seinen Eltern nach Berlin um; von dort nahm er Kontakt mit dem an der Universität Rostock lehrenden Philosophieprofessor Franz Erhardt auf, dessen Hauptinteresse im Bereich der Erkenntnistheorie lag (ebd., S. 67; seine Erkenntnistheorie ist 1894 erschienen (Wendel und Engler 2009 b, S. 853), legte ihm brieflich seine philosophischen Auffassungen dar und bekundete seine Absicht, sich in Rostock zu habilitieren (Wendel und Engler 2009 a, S. 66) (Rostock war möglicherweise Schlicks Wahl, weil dort die Bedingungen in puncto Griechischkenntnissen und die „ orthodoxe “ Laufbahn lockerer waren). Ermuntert durch Erhardts positive Reaktion übersiedelte Schlick mit seiner Familie nach Rostock und reichte dort 1911 den Antrag auf Habilitation ein (ebd., S. 67). Im Habilitationskolloquium, das im Mai 1911 stattfand, referierte er seine Schrift „ Über die Möglichkeit der Erkenntnistheorie “ (ebd.), in der er ausführlich auf das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften eingegangen war. Schlick sah die Einzelwissenschaften in einem hierarchischen Zusammenhang stehend (ebd.), meinte aber, dass sie alle nur durch die Philosophie verstanden werden können. Er sah zwei Hauptfragen, deren Beantwortung sich die Erkenntnistheorie widmen soll: „ [D]ie erstere hat es mit der Entstehung der Erkenntnis zu tun, die letztere aber ist die eigentliche Kernfrage unserer 54 S. oben, „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ 68 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="83"?> Wissenschaft. Sie lautet: Inwieweit kommt unserer Erkenntnis objective Gültigkeit zu “ (ebd., S. 68). Schlick hat das Habilitationskolloquium offensichtlich zur Zufriedenheit des Rates der Philosophischen Fakultät bewältigt; am 29. 6. 1911 hielt er seine Antrittsvorlesung zum Thema „ Die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart “ . Er beschrieb sie als die der Koordination und Integration des Wissens. Philosophie stehe in gewissem Sinne über den einzelnen Wissenschaften, umfasse sie, sei ein „ Streben nach geistiger Vollendung im Ganzen, durch das Mittel der intellectuellen Vervollkommnung “ (ebd.). Was die Erkenntnistheorie der Gegenwart betraf, sah er noch großen Klärungsbedarf: Freilich herrscht doch noch eine große Gährung in den erkenntnistheoretischen Bewegungen der Gegenwart, und über gewisse Fragen wird (äußerst) lebhaft gestritten; diese widerstrebenden Meinungen zu vereinen und die unhaltbaren auszuschalten, ist eine der dringendsten Aufgaben der Philosophie der Gegenwart, eine Aufgabe, von der wir, wie ich glaube, mit Grund hoffen dürfen, dass sie in nicht zu ferner Zeit ihrer Lösung ein gutes Stück näher gebracht werden wird. (Zitiert nach ebd., S. 68f.) Es ist offensichtlich, dass dieser Satz die Intention erkennen lässt, an einer „ allgemeinen Erkenntnistheorie “ zu arbeiten. Bezeichnenderweise ist Schlicks erste Vorlesung an der Rostocker Universität dem Thema „ Grundzüge der Erkenntnistheorie und Logik “ gewidmet. Ihre Struktur entsprach bereits, wie wir bald genauer sehen werden, der Dreiteilung der AE: 55 Schlick behandelt in ihr 1) das Wesen des Erkennens; 2) Denkprobleme; und 3) Wirklichkeitsprobleme. Das ausgearbeitete Manuskript der Vorlesung deckt sich zum Teil fast wörtlich mit dem Text der ersten Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre (ebd., S. 69). Erwähnenswert ist noch, dass Schlick 1913 einen Aufsatz „ Gibt es intuitive Erkenntnis? “ veröffentlichte (ebd., S. 69), in dem er auf die Auffassungen von Henri Bergson, Hermann Graf Keyserling, Rudolf Eucken, Edmund Husserl und Heinrich Rickert einging und zu dem Schluss gelangte, dass bei dieser (aus seiner Sicht vermeintlichen) Form der Erkenntnis das Zentrale, nämlich die Objektivität der Erkenntnis, gänzlich verloren gehe. Er sah in der so verstandenen Intuition „ gerade das Gegenteil von Erkenntnis “ , weil in „ der reinen Intuition, der unverarbeiteten Anschauung, [. . .] alles schlechthin individuell [ist] “ (ebd., S. 71). Erkennen sei nicht das Einswerden mit dem Gegenstand, wie es die Mystiker anstreben, es sei auch nicht das Anschauen, da die Gegenstände in der Anschauung gegeben, aber nicht begriffen würden, sei keine auf Vertrautheit beruhende Kenntnis, welche die Anschauung liefere. Wer erkennen will, der „ muss in die Sphäre des Allgemeinen aufsteigen, wo er die Begriffe findet, deren er bedarf, um das Individuelle zu ordnen und zu bezeichnen “ (AE, S. 486). 55 Im Weiteren AE. S. Kürzelverzeichnis. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 69 <?page no="84"?> Erkennen sei also nicht Intuition, sondern bilde fast einen Gegenpol zu ihr: Je mehr man erkennt, um so höher erhebt man sich über die Intuition; je mehr man sich im Schauen verliert, desto weniger Erkenntnis genießt man. [Es kann] keine schärfere Verurteilung der Metaphysik als Wissenschaft geben als die Behauptung, die Intuition sei ihre Methode. (Zitiert nach Wendel und Engler 2009 a, S. 71) Die weiteren Stationen von Schlicks Leben sind verhältnismäßig gut bekannt und brauchen hier nur kursorisch erwähnt werden. 1922 wurde er auf den seit Jahren vakanten Lehrstuhl für „ Philosophie, insbesondere Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften “ an der Universität Wien berufen, auf den Lehrstuhl mithin, den vor ihm Ernst Mach und Ludwig Boltzmann innegehabt hatten (Mittelstraß 2004 c, S. 707). Dort rief er 1924 eine interdisziplinäre Diskussionsrunde ins Leben ( „ Schlick-Zirkel “ ), aus der 1928 der „ Verein Ernst Macht “ hervorging, und aus diesem wiederum dann 1929 mit dem „ Wiener Kreis “ gleichsam die Wiege des logischen Positivismus (ebd.). 1929 hatte Schlick eine Gastprofessur an der Universität Stanford inne und 1931/ 32 eine an der Universität Berkeley; ebenfalls im Zeitraum von 1929 bis 1932 stand Schlick in regelmäßigem Kontakt mit Ludwig Wittgenstein, der ihn stark beeinflusste (ebd.). 1936 wurde Schlick von seinem ehemaligen Studenten Hans Nelböck, der 1931 bei ihm promoviert hatte, auf den Treppen der Wiener Universität erschossen. Nelböck begründete seine Tat unter anderem damit, dass Schlicks antimetaphysische Philosophie seine moralischen Überzeugungen erschüttert habe, wodurch er seinen lebensweltlichen Rück- und Zusammenhalt verlor (Stadler 1997 a, S. 920). Allgemeine Erkenntnislehre: Hauptgedanken Die oben knapp zusammengefassten Ansichten Schlicks sind in sein Hauptwerk, die Allgemeine Erkenntnislehre eingegangen, das den Fokus und die Grundlage der Beratungen des Wiener Kreises bildete. Die AE, oder wie es sich später herausstellen sollte, die erste Auflage dieses Werkes, wurde vermutlich 1916 fertiggeschrieben (Wendel und Engler 2009 a, S. 75), aber erst Anfang 1919 (datiert 1918; ebd., S. 83), teilweise aufgrund der Kriegswirren, aber auch aufgrund von Schlicks militärischen Dienstpflichten (ebd., S. 76 - 83) vom Verlag Julius Springer in Berlin veröffentlicht. Springer hatte im Übrigen geplant, das Buch als ersten Band einer von der Redaktion der Zeitschrift „ Die Naturwissenschaften “ herausgegeben Monographienreihe erscheinen zu lassen, was an sich schon von seiner Wichtigkeit zeugt (ebd., S. 77). Wie bereits angedeutet, verfolgte Schlick mit seiner Allgemeinen Erkenntnislehre das Ziel, Wege aufzuzeigen, auf denen sich sichere, objektive Erkenntnis erlangen ließe. Dazu müsse man, so Schlick, zunächst den Erkenntnisprozess untersuchen, um festzustellen, ob und inwiefern dieses Ziel überhaupt erreicht werden kann. Dieser Aufgabe ist der erste Teil des Werkes gewidmet, auf den ich das Hauptaugenmerk legen werde. Der zweite Teil gilt dann den „ Denkproblemen “ . In ihm geht Schlick der Frage nach, 70 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="85"?> inwiefern es überhaupt möglich ist, durch urteilendes Denken zu Erkenntnissen zu gelangen. Im dritten und umfangreichsten Teil beschäftigt sich Schlick schließlich mit den „ Wirklichkeitsproblemen “ . Hierin erörtert er, inwiefern synthetische Urteile objektive Gültigkeit beanspruchen können und zumindest wahrscheinliche Aussagen über die Wirklichkeit ermöglichen. Das Werk ordnet sich in den Kanon der erkenntnistheoretischen Abhandlungen ein, die zu Beginn des 20. Jahrhundert entstanden sind. 56 Es ist lohnenswert, sich auf den gedanklichen Aufbau dieses Werkes in einiger Ausführlichkeit einzulassen, da dieser ungewöhnlich systematisch und klar ist und überdies bereits die Grundlinien des später entwickelten logischen Positivismus beinhaltet. Ich werde zunächst Schlicks Hauptgedanken zusammenfassen, wobei ich nahezu ganz auf Kommentare verzichte, um deren Entwicklung gemäß der Intention des Verfassers, ohne störende Einwände darstellen zu können. Erst im zweiten Schritt werde ich den Versuch unternehmen, einige seiner Gedanken kritisch zu beleuchten. Erster Teil. Das Wesen der Erkenntnis § 1 - 3 Schlick geht es mit seinem Werk nicht um eine psychologische Analyse des Erkenntnisprozesses, sondern um die Darlegung allgemeiner Gründe, durch welche gültige Erkenntnis überhaupt möglich ist. Der Psychologie komme die Aufgabe zu, den Entstehungsvorgang der Erkenntnis zu untersuchen, während Erkenntnistheorie sich im Unterschied dazu mit dem Geltungsproblem der Erkenntnis beschäftige: [Sie] fragt nach den allgemeinen Gründen, durch welche gültiges Erkennen überhaupt möglich ist, und diese Frage ist offenbar prinzipiell verschieden von derjenigen nach der Natur der psychischen Prozesse, in denen irgendwelche Erkenntnisse sich in diesem oder jenem Individuum zeitlich entwickeln. (AE, S. 137) 57 Nach den später im Wiener Kreis vertretenen Überzeugungen ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass sich Schlick zufolge alltägliches Erkennen und wissenschaftliches Erkennen in ihrem Grundcharakter nicht wesentlich voneinander unterscheiden: „ [D]as Wesentliche beim Erkennen [ist] hier wie dort ganz dasselbe [. . .]. Nur der erhabene Gegenstand und Zweck des Erkenntnisprozesses in der Forschung und Philosophie verleihen ihm hier eine höhere Dignität “ (AE, S. 153). Zentral für Schlicks Auffassung vom Erkenntnisprozess ist der Gedanke, dass jedes Erkennen immer ein Zurückführen des zu Erkennenden auf etwas bereits Erkanntes, ein Wiederentdecken des Gleichen im Verschiedenen ist (AE, 56 Für deren Liste vgl. Wendel und Engler 2009, S. 12 57 Man sieht hier den Vorboten der späteren Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 71 <?page no="86"?> S. 152, 157). Ob man ein Tier als den eigenen Hund Tyras erkennt (AE, S. 150) oder das Licht als eine Form der elektromagnetischen Schwingung (AE, S. 156) - Erkennen sei stets Rückführung auf das bereits Bekannte: „ Das Resultat der Analysen ist immer, dass Erkennen in der Wissenschaft, wie schon im täglichen Leben, ein Wiederfinden des einen im andern bedeutet “ (AE, S. 158). Während jedoch beim richtigen Erkennen im Alltag der Erkenntnisprozess im Bezeichnen des zu Erkennenden mit dem richtigen Namen kulminiere (AE, S. 150), kulminiere es in den empirischen Wissenschaften, wo das Gemeinsame der verschiedenen Phänomene in einem gemeinsamen Gesetz bestehe, in der Subsumierung derselben unter ein Gesetz (AE, S. 157). Aus dieser Beobachtung resultieren für Schlick „ gewichtige Schlüsse “ über das Ziel und die Methode der wissenschaftlichen Erkenntnis: wissenschaftliche Erkenntnis erweise sich im Grunde immer als eine „ Zurückführung des einen auf das andere “ (AE, S. 160). Daraus ergeben sich für Schlick zwei zentrale Fragen: 1) Auf welche Momente kann das zu Erkennende möglicherweise zurückgeführt werden? ; 2) Auf welchem Wege muss diese Reduktion erfolgen? (AE, S. 161). Was die erste Frage betrifft, weist Schlick darauf hin, dass sich die früher vorherrschende Meinung, alles müsse sich als mechanische, als Bewegungsvorgänge erkennen lassen, als falsch erwiesen habe und dass die Physik (seiner wie unserer Zeit) „ zur modernen Quantenhypothese und zur Relativitätstheorie “ gelangte (AE, S. 161). 58 Damit gibt er zu verstehen, dass die letzten Prinzipien der wissenschaftlichen Erklärung noch offen sind. Über das letzte Ziel des Erkennens hingegen scheint bereits auf diesem „ frühen Punkte der Untersuchung “ (AE, S. 162) eine klare Aussage möglich: die höchste Erkenntnis sei diejenige, die mit einem Minimum erklärender und nicht weiter erklärungsfähiger Prinzipien auskomme (AE, S. 163). Dieses Minimum möglichst klein zu halten, ist die letzte Aufgabe des Erkennens (ebd.), wobei Schlick auch explizit feststellt, dass die Vorstellung, man könne alle Erkenntnisse auf ein „ letztes “ Prinzip zurückführen, „ eines Lächelns würdig “ ist (ebd.). Schlick meint ferner, dass nur eine solche Methode wirklich imstande ist, wissenschaftliche Erkenntnis im strengsten, vollgültigen Sinne zu vermitteln, die den beiden Bedingungen Genüge tue: 1) vollständige Bestimmung des Individuellen und 2) dessen Zurückführung auf das Allgemeinste, und dies sei die Methode der mathematischen Wissenschaften (AE, S. 166). § 4 Erkenntnis durch Vorstellungen In den nachfolgenden zwei Paragraphen diskutiert Schlick zwei mögliche Formen der Erkenntnis: Erkenntnis durch Vorstellungen und Erkenntnis durch Begriffe. Mit Blick auf die Erstere stellt er fest, dass sich aus seiner 58 Es ist wichtig, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass Schlick bereits 1915 einen wesentlichen Aufsatz zur philosophischen Bedeutung der Relativitätstheorie veröffentlicht hat. 72 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="87"?> Bestimmung des Wesens des Erkenntnisaktes große Schwierigkeiten für diese Art des Erkennens ergeben. Denn wenn alles Erkennen ein Gleichsetzen dessen, was erkannt wird, mit dem, als was es erkannt wird, sei, müssen wir die Fähigkeit haben, die Vorstellungen (des zu Erkennenden und des bereits Bekannten) miteinander zu vergleichen, müssten die Vorstellungen scharf umrissenen Gebilde sein (AE, S. 168). Doch Erinnerungsvorstellungen - und mit solchen haben wir es im Erkenntnisakt zwangsläufig zu tun: schließlich ist, auch wenn wir eine gegenwärtige Wahrnehmung als etwas erkennen wollen, uns das bereits Bekannte lediglich als eine Erinnerungsvorstellung gegenwärtig - seien „ außerordentlich flüchtige und unscharfe, nebelgleich zerfließende Gebilde “ (AE, S. 169). Mehr noch: es ist wohl bekannt, dass jede Person uns in verschiedenen Situationen z. B. ganz unterschiedliche Antlitze darbietet und dennoch von uns mühelos als z. B. unser Freund Fritz Müller erkannt wird. Schlick erinnert ferner daran, dass bereits Berkeley realisierte, dass es überhaupt keine allgemeinen Vorstellungen gibt (AE, S. 175). Wenn wir einen Allgemeinbegriff denken, dann haben wir meist ein schwaches individuelles Bild eines Exemplars der gemeinten Gattung vor unserem „ geistigen Auge “ , das als Repräsentant der ganzen Gattung fungiert. Aus diesem psychologischen Tatbestand ergeben sich laut Schlick beträchtliche erkenntnistheoretische Schwierigkeiten. Denn wenn schon bei Individualvorstellungen Identifikation schwierig sei, wie könne sie dann vollzogen werden, wenn ein Individuum als zu einer bestimmten Klasse gehörig bestimmt werden soll? (AE, S. 176). Man müsste die Wahrnehmungsvorstellung mit der Vorstellung der ganzen Klasse vergleichen! Es ist jedoch unklar, wie dies konkret zu leisten wäre. Dennoch, aber ohne diese tiefen Schwierigkeiten gelöst zu haben, konstatiert Schlick, dass im täglichen Leben Wiedererkennen unproblematisch sei, dass das alltägliche Erkennen offensichtlich zustande komme und zwar mit einer Genauigkeit und Sicherheit, „ die für gewöhnliche Bedürfnisse unter allen Umständen ausreicht “ (AE, S. 171). Aus diesen Überlegungen geht jedoch unwiderleglich hervor, dass sich ein wissenschaftlich absolut brauchbarer, d. h. strenger, exakter Begriff des Erkennens auf diese Weise überhaupt nicht begründen lasse (AE, S. 177). Wissenschaftliches Erkennen verfährt in diesem Punkt grundsätzlich anders als das alltägliche Erkennen, indem es an die Stelle der Vorstellungen Begriffe setze. § 5 Das Erkennen durch Begriffe Am Anfang dieses Abschnittes stellt Schlick die zentrale und schwierige Frage, was ein Begriff sei (AE, S. 178). Zu seiner Zeit war die Ansicht weit verbreitet, dass es sich bei einem Begriff um eine Vorstellung mit fest bestimmtem Inhalt handele (ebd). Schlick widerspricht dieser Auffassung: solche Gebilde gebe es in der psychologischen Wirklichkeit überhaupt nicht. Schlick zufolge sind Begriffe keine Vorstellungen, keine realen psychischen 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 73 <?page no="88"?> Gebilde irgendwelcher Art, überhaupt nichts Wirkliches, sondern bloß etwas Gedachtes, „ das wir uns an Stelle der Vorstellungen mit fest bestimmtem Inhalt gesetzt denken. Wir schalten mit Begriffen so, als ob es Vorstellungen mit völlig genau umrissenen Eigenschaften wären, die sich stets mit absoluter Sicherheit wiedererkennen lassen “ (AE, S. 179). Diese „ genau umrissene Eigenschaften “ heißen Merkmale des Begriffes und werden durch die Definition des Begriffes festgelegt. Die Gesamtheit der Merkmale eines Begriffes wird sein Inhalt genannt, die Gesamtheit der Gegenstände, die ein Begriff bezeichnet sein Umfang. 59 Durch Definition will man absolute Konstanz und Bestimmtheit des Begriffs erreichen. Gemäß Schlick spielt der Begriff die Rolle eines Zeichens für die Gegenstände, die unter den Begriff „ fallen “ (AE, S. 180). Ein Begriff muss aber durch irgend etwas psychisch Reales vertreten werden: dieses Etwas ist nach Schlick eine Vorstellung oder ein Wort (AE, S. 181). Die Stellvertretung der Begriffe durch Vorstellungen stellt Schlick zufolge die ergiebigste Quelle von Irrtümern im Denken dar (AE, S. 183). Man müsse, um diese zu vermeiden, das Denken stets auf die Definitionen führen; Schlick hebt gesondert hervor, dass Bilder nicht die Bedeutung des Begriffs ausmachen (AE, S. 184). 60 Er resümiert seine Überlegung zu diesem Thema wie folgt: So sind also Begriffe nichts Wirkliches. Sie sind weder reale Gebilde im Bewusstsein des Denkenden, noch gar (wie es die Meinung des „ Realismus “ im Mittelalter war) irgend etwas Wirkliches an den realen Objekten, die durch sie bezeichnet werden. Es gibt streng genommen überhaupt keine Begriffe, wohl aber gibt es eine begriffliche Funktion, und diese kann je nach den Umständen durch Vorstellungen oder sonstige psychische Akte, oder auch durch Namen oder Schriftzeichen ausgeübt werden. (AE, S. 184f.) Überraschenderweise expliziert Schlick an dieser Stelle nicht, was genau er unter der „ begrifflichen Funktion “ versteht. Die Herausgeber der AE führen diese seine Feststellung auf die Ausführungen Cassirers in seiner Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff zurück. Cassirer schrieb dort: Aber je mehr der Begriff gleichsam von allem dinglichen Sein entleert wird, um so mehr tritt auf der andern Seite seine eigentümliche funktionale Leistung hervor. Die festen Eigenschaften [eines Gegenstandes] werden durch allgemeine Regeln ersetzt, die uns eine Gesamtheit möglicher Bestimmungen mit einem Blick überschauen lassen. (Zitiert nach AE, S. 184) Nach Schlick ist demnach die begriffliche Funktion etwas Wirkliches, nicht aber der Begriff selbst (AE, S. 187). Die erkenntnistheoretische Bedeutung der 59 Schlick betont an dieser Stelle, dass er den Begriff „ Gegenstand “ im „ allerweitesten Sinne “ gebraucht. „ Gegenstand kann schlechthin alles sein, an das man nur denken und das man nur bezeichnen kann, also nicht bloß ‚ Dinge ‘ , sondern ebensowohl etwa Vorgänge, Beziehungen, beliebige Fiktionen, also auch Begriffe [. . .]. “ (AE, S. 181) 60 Er beruft sich in diesem Punkt auf Husserls Logische Untersuchungen (vgl. Husserl 1992, Bd. II, S. 61ff.). 74 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="89"?> begrifflichen Funktion bestehe im Bezeichnen bzw. Zuordnen. „ Wenn man von irgendwelchen Gegenständen sagt, sie fallen unter den und den Begriff, so heißt das nur: man hat ihnen diesen Begriff zugeordnet “ (AE, S. 187). Diese Haltung führt jedoch zu einer gewissen Schwierigkeit, die Schlick mit seinem naturwissenschaftlichen Hintergrund konfrontieren muss: In der Mathematik hat man es nur mit Begriffen zu tun. Es scheint also, man könne das Sein der Begriffe nicht leugnen, ohne zu absurden Behauptungen zu kommen, wie etwa Lorenz Oken, 61 der in seinem Lehrbuch der Naturphilosophie feststellte: „ Die Mathematik ist auf das Nichts begründet und entspringt mithin aus dem Nichts “ 62 (AE, S. 189). Deshalb, so Schlick, ziehen es einige vor zu sagen: es gibt Begriffe, aber sie haben kein reales, sondern ein ideales Sein. Gegen diese Ausdrucksweise lasse sich ohne Zweifel nichts einwenden, meint er weiter, wenn sie rein terminologische Bedeutung behalte. Sie führe jedoch leicht zu unklaren, irrigen Anschauungen, die in die Richtung der platonischen Metaphysik weisen. In dem Sinne, dass man der Welt des Wirklichen eine von ihr unabhängige Welt des idealen Seins gegenüberstellt, ein Reich der Ideen, Werte, Wahrheiten, des Geltenden, die unzeitliche Welt der Begriffe (AE, S. 190). Die Annahme einer solchen Welt führe jedoch zu zahlreichen Problemen: zu der Frage nach dem Verhältnis der beiden Reiche (der Welt des Wirklichen und der Welt des idealen Seins) zueinander, nach den Beziehungen des Idealen zum Realen mit zahlreichen Scheinproblemen, welche die philosophische Spekulation belasten. [. . .] So wird das aufzuklärende Verhältnis in Wahrheit immer unklarer, zumal man den letzten Schritt zur völligen Hypostasierung der Begriffe und den Übergang zur echten platonischen Ideenlehre nicht gern vollziehen möchte [. . .]. Allen diesen Wirrnissen entgeht man, wenn man sich von vornherein klar macht, dass das ideale „ Sein “ [. . .] mit dem Sein der Wirklichkeit in keiner Weise verglichen oder ihm gegenübergestellt werden kann; es ist ihm nicht verwandt, vermag zu ihm in kein irgendwie geartetes Verhältnis zu treten. Es hat vor allem keinen Sinn, dem Reiche der Ideen Unabhängigkeit von der Welt des Wirklichen zuzuschreiben [. . .]. (AE, S. 190) Die Natur der Begriffe bestehe also darin, Zeichen zu sein, folglich setzen sie unter allen Umständen jemanden voraus, der zu bezeichnen wünscht (AE, S. 191). Schlick warnt ferner, dass auch nachdem der mittelalterliche Begriffsrealismus längst überwunden sei, immer noch viele Irrtümer begangen werden können, indem man das Verhältnis von Begriff und Gegenstand anders denn als bloßes Bezeichnen vorstelle. Insbesondere greift er die Lehre 61 1779 - 1851, ein deutscher Naturforscher, Naturphilosoph und vergleichender Anatom. Oken gilt als bedeutendster Vertreter einer romantisch-spekulativen Naturphilosophie schellingscher Prägung. Mit seiner dreizehnbändigen Allgemeinen Naturgeschichte für alle Stände (1833 - 1841) trug er wesentlich zur wachsenden Popularisierung der Naturwissenschaften bei. Sein Lehrbuch der Naturphilosophie ist zwischen 1813 und 1826 erschienen. 62 Oken 2007, § 32. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 75 <?page no="90"?> von der Abstraktion (Begriff entstehe aus den Dingen durch Abstraktion) an (AE, S. 191). Reale Dinge und Vorstellungen können nicht aus Begriffen aufgebaut werden, Begriffe können nicht aus Dingen/ Vorstellungen durch Weglassung bestimmter Eigenschaften entstehen. Schlick warnt vor jeder möglichen Verdinglichung der Begriffe: Begriffe seien nichts als Gedankendinge, die eine exakte Bezeichnung der Gegenstände zu Erkenntniszwecken ermöglichen sollen, wie ein fiktives Gradnetz, das die Erde umspanne und die genaue Bezeichnung eines Ortes ihrer Oberfläche gestatte (AE, S. 193). § 6 Grenzen des Definierens Im nächsten Abschnitt diskutiert Schlick die Frage, ob es möglich sei, eine absolut zuverlässige Definition eines Begriffes zu geben. Ist das Stück Metall, das ich in der Hand halte, Silber? Um diese Frage beantworten zu können, müsse ich, stellt Schlick fest, den Begriff des Silbers zu Hilfe nehmen, der die Eigenschaften dieses Stoffes definiere, wobei diese nicht nur die direkt sinnlich anschaubaren umfassten, wie z. B. die Farbe, sondern auch seine chemischen bzw. physikalischen, wie etwa Gewicht, Atomgewicht, elektrische Leitfähigkeit usw. (AE, S. 195f.). Diese Feststellung führt jedoch sofort zu einer prinzipiellen Schwierigkeit. Zu jeder sinnlichen Beobachtung (oder auch der Skalenablesung usw.) brauche es stets die Wiedererkennung eines Wahrnehmungsbildes, was uns zu unserem anfänglichen Problem zurückführe: Wiedererkennen anschaulicher Gebilde, Vergleichen von Wahrnehmungs- und Erinnerungsvorstellungen bleibe auch hier erforderlich, diese aber seien mit einer gewissen Unschärfe behaftet (AE, S. 197). Auch die Merkmale einer Definition müssen letztlich immer anschaulicher Natur sein, aus dem einfachen Grunde, weil alles Gegebene uns schließlich durch die Anschauung gegeben sei (AE, S. 198). Schlick konstatiert, dass diese Schwierigkeit für die Praxis überwindbar ist, für die Erkenntnistheorie jedoch bestehen bleibt. Diese müsse nämlich fragen, ob sich die Schwierigkeit ganz beseitigen lasse. Denn nur wenn das der Fall ist, könne es absolut sichere Erkenntnis geben (AE, S. 199). Schlick diskutiert dann die Kette der Rückführungen der Merkmale einer Definition. Bestimmte, in einer Definition gebrauchte Merkmale können auf andere, ursprünglichere (bereits bekannte) zurückgeführt werden, dabei allerdings drohe die Gefahr eines unendlichen Regressus (AE, S. 199). Deshalb stellt Schlick fest, dass die Bedeutung der letzten Merkmale nicht mehr definiert, sondern demonstriert werden (können) müsse. „ Was ‚ blau ‘ ist oder was ‚ Lust ‘ , kann man nicht durch Definition kennen lernen, sondern nur bei Gelegenheit des Anschauens von etwas Blauem oder des Erlebens von Lust “ (AE, S. 200). Weil aber die Wahrnehmung eines solchen unmittelbar Gegebenen stets mit Unsicherheit behaftet sei, scheint der Schluss zwingend, dass die Gewinnung absolut exakter Begriffe doch unmöglich sei. Schlick stellt an dieser Stelle die Frage: Müsse man diesem Skeptizismus recht geben? (AE, S. 200). Und fährt fort, bis 76 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="91"?> dato habe sich die Logik mit diesem Ergebnis begnügt: man meinte, dass es nicht nur keine Definition der letzten Begriffe geben könne, sondern dass diese auch keiner bedürften. Alles definieren zu wollen erschien als überflüssige Spitzfindigkeit, welche den Bau der Wissenschaft störe, statt ihn zu fördern. Der Inhalt der einfachsten Begriffe werde in der Anschauung aufgezeigt. Das könne bedeuten, dass 1) die Anschauung den Begriffen vollkommen klaren Inhalt zu geben vermag (AE, S. 202); 2) wir nirgends einer absolut exakten, prinzipiell vollkommenen Erkenntnis bedürfen (AE, S. 203). Schlick erinnert daran, dass die zweite Option nur von wenigen Philosophen vertreten wurde. Die prominentesten Beispiele dafür sind Gorgias und John Stuart Mill. Nach ihnen dürfte für keine Erkenntnis absolute Gewissheit in Anspruch genommen werden, auch nicht für die sogenannten Begriffswahrheiten (AE, S. 203). Aus diesen Überlegungen folgt für Schlick, dass die Sicherheit und Strenge von Erkenntnissen wenn, dann nur auf dem Wege zu retten sei, dass die Erlebnisse nicht immer undeutlich sind, dass in ihnen etwas Konstantes, Bestimmtes vorhanden ist. Da aber an der Flüchtigkeit des jeweils Gegebenen nicht zu zweifeln sei, könne jenes Konstante nur das Gesetz sein, das es beherrscht und ihm seine Form gibt. Hier könne man im heraklitischen Fluss der Erlebnisse ein festes Ufer gewinnen (AE, S. 204). Es scheint aber, dass ein prinzipieller Zweifel bestehen müsse, stellt sich doch an dieser Stelle die Frage, was wir von solchen strengen Regeln wissen können? Schließlich komme das Wissen nur durch flüchtige Erlebnisse zustande. Es scheint, dass wir uns im Kreis drehen. An diesem Punkt eröffnet Schlick die Aussicht auf einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma: Ist es tatsächlich so, dass der Inhalt aller Begriffe nur im Anschaulichen gefunden werde? Diese Frage gelte es zu untersuchen. Wenn die Antwort negativ ausfallen könne, dann und nur dann sei exaktes Denken und somit exaktes Erkennen möglich (AE, S. 204). Den Ausweg aus der Krise findet Schlick in der Mathematik und konkret in der dort erfundenen Methode, die Grundbegriffe durch implizite Definitionen zu bestimmen. In der Mathematik könne und solle bei jedem ihrer Schritte absolute Sicherheit gewährleistet sein. Die alten Mathematiker realisierten bald, dass die primitiven Begriffe (Punkt, Gerade) eigentlich nicht definierbar sind, weil sie sich nicht in noch einfachere Begriffe auflösen lassen. Sie beruhigten sich aber damit, schreibt Schlick, dass die Bedeutung dieser Begriffe in der Anschauung mit großer Deutlichkeit gegeben war (AE, S. 205). Der neueren Mathematik aber, fährt er fort, genügte der Hinweis auf die Anschauung nicht. Die Beweisführung gewann an Strenge; Wendungen wie „ Aus der Zeichnung sieht man . . . “ usw. waren verpönt. Es schien jetzt unerträglich, dass die Grundelemente der Geometrie, die unbeweisbaren Axiome, ihre Gültigkeit nur der Anschauung verdanken sollten (AE, S. 206). Um die Unsicherheit zu vermeiden, beschritten die Mathematiker einen Weg, der, wie Schlick betont, für die Erkenntnistheorie von höchster Bedeutung sei (AE, S. 207). Hilbert habe es unternommen, die Geometrie auf einem Fun- 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 77 <?page no="92"?> dament aufzubauen, das der Anschauung nicht bedürfe. Ob seine Lösung vollkommen oder nicht sei, interessiere hier nicht, betont Schlick, worauf es ankomme, sei das Prinzip, das er verwendete (AE, S. 208). Sein Prinzip war von überraschender Einfachheit: Die Grundbegriffe sollen dadurch definiert sein, dass sie den Axiomen genügen. „ Das ist die sogenannte Definition durch Axiome, oder Definition durch Postulate, oder die implizite Definition “ , schreibt Schlick (AE, S. 208). Was könne eine solche Definition in der Wissenschaft leisten, fragt er weiter. Alles Definieren in der Wissenschaft habe den Zweck, Begriffe als scharf bestimmte Zeichen zu bilden, mit denen sich die Erkenntnisarbeit völlig sicher verrichten lasse. Die Definition baute den Begriff aus allen den Merkmalen auf, die zu dieser Arbeit gebraucht werden. Die wissenschaftliche Denkarbeit bestehe aber im Schließen, stellt Schlick weiter fest (AE, S. 209). Für die strenge, Schluss an Schluss reihende Wissenschaft sei folglich der Begriff in der Tat nichts anderes als dasjenige, wovon gewisse Urteile ausgesagt werden können. Dadurch ist er auch zu definieren. Die Hilbert ’ sche Geometrie beginnt mit einem System von Sätzen, in denen Wörter vorkommen, die zunächst keinen Sinn und Inhalt haben, sie erhalten diesen erst durch das Axiomensystem. Ihr ganzes Wesen bestehe darin, Träger der durch dieses System festgelegten Beziehungen zu sein. Den Anfänger falle es schwer, den Gedanken eines Begriffs zu fassen, der durch ein System von Postulaten definiert und ohne jeden eigentlichen „ Inhalt “ sei, Schlick zufolge gebe es jedoch keine prinzipielle Schwierigkeit mit einer solchen Auffassung, weil Begriffe ohnehin nichts Reales seien (AE, S. 210). Schlick nennt auch einige konkrete Beispiele einer solchen Vorgehensweise, die, wie er vermerkt, in reinster Form „ naturgemäß “ die Mathematik liefert (AE, S. 211). Wenn wir etwa die Sätze der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nehmen und überall den Begriff „ Ebene “ durch die Kugelflächen ersetzen, unter dem Wort „ Punkt “ einen Punkt, unter dem Wort „ Gerade “ aber die größten Kreise auf der Kugelfläche verstehen, und in analoger Weise das Wort „ parallel “ umdeuten, so werden unter den Gebilden aus Kugeln, größten Kreisen usw. genau die gleichen Relationen gelten wie zwischen Ebenen, Geraden usw. im gewöhnlichen Raum. „ Wir haben also ein Beispiel von Gebilden, die ein anderes anschauliches Aussehen haben als die Geraden und Ebenen der gewöhnlichen Geometrie, aber doch in denselben Beziehungen zueinander stehen, denselben Axiome gehorchen “ , schreibt Schlick (AE, S. 211). So kann man zeigen, dass die Sätze der Riemann ’ schen Geometrie der Ebene identisch mit denen der Euklidischen sphärischen Geometrie sind, wenn unter Geraden der ersteren die größten Kreise der letzteren verstanden werden. Auch die theoretische Physik biete Beispiele für dieses Prinzip, fährt Schlick fort, wesensverschiedene Erscheinungen gehorchen denselben formalen Gesetzen. 63 Den einfachsten, allen geläufigen Fall der 63 Schlick nennt keine konkreten Beispiele an dieser Stelle, möglicherweise weil sie ihm sehr geläufig waren, man kann jedoch z. B. an ein „ Ideales Gas “ -Gesetz denken, hinter 78 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="93"?> Situation, in der die Beziehungen zwischen Begriffen von ihrem anschaulichen Gehalt völlig losgelöst seien, bilden für Schlick die aristotelischen Schlussfiguren (z. B. Wenn „ M ist P “ und „ S ist M “ , dann „ S ist P “ ), die völlig unabhängig davon gelten, was man unter M, P, und S versteht (AE, S. 212). Der streng deduktive Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie in der Mathematik, habe also mit dem anschaulichen Bilde nichts zu tun, konstatiert er weiter. Alleine Axiome und implizite Definitionen seien hier von Bedeutung. Anschauliche Vorstellungen dienen bloß als illustrierende Beispiele (AE, S. 213). An dieser Stelle nun vollzieht Schlick einen zentral wichtigen Schritt für seine Auffassung vom Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis im Allgemeinen, nicht begrenzt auf die „ formalen “ Wissenschaften wie Mathematik oder Physik. Er schreibt: Was in den besprochenen Fällen an die Stelle der gewöhnlichen Bedeutung der Grundbegriffe trat, waren freilich immer noch räumliche Gebilde, die uns aus der gewöhnlichen Geometrie bekannt waren; prinzipiell steht aber nichts im Wege, uns darunter auch ganz andere, unräumliche Gegenstände zu denken, etwa Gefühle oder Töne. Oder auch ganz unanschauliche Dinge: bedeutet doch z. B. in der analytischen Geometrie des Wort „ Punkt “ streng genommen nichts anderes als den Inbegriff dreier Zahlen. Denn dass diesen Zahlen die anschauliche Bedeutung von räumlichen Koordinaten beigelegt werden kann, ist für ihre Beziehungen zueinander und für die Rechnungen mit ihnen ganz gleichgültig. 64 (AE, S. 213) Ein mit Hilfe der impliziten Definitionen geschaffenes Gefüge von Wahrheiten ruhe nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit, sondern schwebe gleichsam frei, wie das Sonnensystem, schreibt Schlick (AE, S. 214). Die Bedeutung eines Begriffs sei nichts anderes als eine bestimmte Konstellation einer Anzahl der anderen Begriffe (AE, S. 215). Der Aufbau jeder strengen deduktiven Wissenschaft sei ein bloßes Spiel mit Symbolen. Im Augenblick der Übertragung der begrifflichen Relation auf anschauliche Beispiele sei die exakte Strenge nicht mehr gewährleistet. Erneut entsteht die Frage: Wenn uns wirkliche Gegenstände gegeben sind, wie können wir mit absoluter Sicherheit wissen, dass sie in genau diesen Beziehungen stehen, die in unseren Postulaten festgelegt sind? Kant meinte, schreibt Schlick, dass apodiktisch gewisse Urteile möglich seien, wir aber sind in diesem Glauben schwankend geworden (AE, S. 216). Umso wichtiger sei die Entdeckung der impliziten Definitionen: sie garantierten die vollkommene Bestimmtheit der Begriffe und damit die strenge Exaktheit des Denkens. Schlick betont allerdings, dass dieses Vorgehen einer radikalen Trennung des Begriffes von der Anschauung, des Denkens von der Wirklichkeit notwendig mache. Zwar beziehen wir dem sich die Vorstellung verbirgt, dass die Gasmoleküle sich in einer völlig mechanischen Weise, also wie kleine Kügelchen verhalten, oder an die Gleichsetzung des Lichtes mit der elektromagnetischen Strahlung. 64 Im Grunde entspricht dies der Kernidee von Carnaps Logischem Aufbau der Welt. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 79 <?page no="94"?> die beiden Sphären aufeinander, sie aber scheinen gar nicht miteinander verbunden zu sein, die Brücken zwischen ihnen seien abgebrochen. Dieser hohe Preis müsse jedoch zumindest vorläufig gezahlt werden, stellt Schlick fest (ebd.). § 8 Das Wesen des Urteils Im nächsten Abschnitt seiner Allgemeinen Erkenntnislehre behandelt Schlick das Wesen des Urteils. Dies scheint ihm zwingend, um zur vollen Einsicht über das Wesen des Begriffs zu gelangen, weil Axiome, die in seinem Schema Begriffe (implizit) definieren, Urteile seien. 65 Da auf der anderen Seite in jedem Urteil Begriffe auftreten, betrachtet Schlick die beiden Kategorien als korrelativ zueinander (AE, S. 218). „ Begriffe sind zweifellos nur um der Urteile willen da “ (ebd.), stellt er ferner fest, denn wenn der Mensch Gegenstände durch Begriffe und Begriffe durch Wörter bezeichne, so nur zu dem Zweck, um über sie zu denken, d. h. aber, Urteile über sie zu fällen. Was also ist ein Urteil aus erkenntnistheoretischer Sicht? Es wurde bereits festgestellt, dass Begriffe Zeichen sind und dass Axiome, die - wie eben dargelegt - Urteile sind, Beziehungen zwischen Begriffen festlegen. Es scheine deshalb naheliegend, dass so, wie Begriffe Zeichen für die Gegenstände, Urteile Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen sind (AE, S. 220). Zur Erhärtung dieser Vermutung betrachtet Schlick ein „ schlichtes “ Urteil: „ Der Schnee ist kalt “ 66 und kommt zu dem Schluss, dass dieses tatsächlich eine Beziehung zwischen dem Schnee (Subjekt) und der Kälte (Prädikat) bezeichnet, nämlich diejenige, die er die Beziehung der „ Zusammengehörigkeit “ nennt (AE, S. 221). Schlick folgert, dass das Urteil ein Zusammenbestehen (räumlich und zeitlich) der Merkmale bezeichnet, und nennt das Bestehen einer Beziehung eine Tatsache. Urteile sind demnach Zeichen für Tatsachen (AE, S. 222), wobei er auch mathematische Aussagen der Art 2 x 2 = 4 als Urteile über Tatsachen bezeichnet (AE, S. 223). Schlick stellt ferner fest, dass ein Mathematiker die „ Existenz “ eines Objekts seiner Wissenschaft bewiesen habe, sobald er gezeigt habe, dass es widerspruchslos definiert sei (AE, S. 227). Dasselbe gelte für alle reinen Begriffe: dabei handele es sich um Begriffe, die durch implizite Definitionen bestimmt seien und diese wiederum (Definitionen) unterliegen keiner anderen Bedingung als der der Widerspruchslosigkeit, wobei Widerspruch als eine Beziehung zwischen Urteilen zu verstehen sei (ebd). Urteile und Begriffe stehen also in einem eigentümlichen Wechselverhältnis zueinander: Begriffe werden durch Urteile verknüpft, es werden jedoch auch Urteile durch Begriffe miteinander verknüpft (ein Begriff taucht in mehreren Urteilen 65 Schlick begründet diese Behauptung nicht. Offensichtlich scheint sie ihm selbstverständlich zu sein. Wir werden auf diesen Punkt später - in der Diskussion seines Werkes - zurückkommen. 66 Interessanterweise betrachtet er nur ein Beispiel eines Urteils. 80 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="95"?> auf) (AE, S. 229). Derart bilde jeder Begriff einen Punkt, in dem eine Reihe von Urteilen zusammenstößt. Auf diese Weise kommt Schlick zu einer der zentralen Feststellungen seines Werkes: „ Die Systeme unserer Wissenschaften bilden ein Netz, in welchem die Begriffe die Knoten und die Urteile die sie verbindenden Fäden darstellen “ (AE, S. 230). Begriffe kann Schlick folglich als Beziehungszentren von Urteilen beschreiben. Er weist ferner darauf hin, dass in einem völlig in sich geschlossenen, deduktiv zusammenhängenden System einer Wissenschaft der Unterschied zwischen einem Lehrsatz und einer Definition nur relativ sei (AE, S. 231). Bei Übertragung dieser Erwägungen auf die Realwissenschaften sei jedoch zu bedenken, betont er, dass diese niemals streng in sich abgeschlossen seien. Von realen Gegenständen werden im Laufe der Forschung immer neue Eigenschaften bekannt, was dazu führe, dass die Begriffe dieser Wissenschaften immer stärker angereichert werden (obschon die Wortbezeichnungen für sie gleich bleiben). Das Wort steht Schlick zufolge für den wirklichen Gegenstand „ in der ganzen Fülle seiner Eigenschaften und Beziehungen “ (AE, S. 232). Es sei durchaus denkbar, dass der Begriff eines Gegenstandes im Laufe der Forschung völlig anders als am Anfang bestimmt werde. 67 Der Begriff stehe immer nur für das, was die Definition ihm zuschreibe. „ Deshalb sind Definitionen und echte Erkenntnisurteile für unser Denken in den Realwissenschaften zwar streng voneinander geschieden, aber ein und derselbe sprachliche Satz kann je nach dem Stande der Forschung das eine oder das andere, Definition oder Erkenntnis sein “ (AE, S. 232). Jedes Urteil setze einen Begriff zu anderen Begriffen in Beziehung. Definitionen seien also eine Unterklasse der Urteile. Der Zusammenhang der Urteile und Begriffe mache „ das Wesentliche der Erkenntnis aus. Ihre Möglichkeit besteht darin, dass die Begriffe durch Urteil miteinander verbunden sind. Nur in Urteilen ist Erkenntnis “ , resümiert Schlick (AE, S. 233). § 9 Urteilen und Erkennen Diese Überlegungen ermöglichen Schlick jetzt das Wesen des Erkennens genauer zu bestimmen. Dieser Aufgabe widmet er sich im nächsten Abschnitt seines Werkes: „ Urteilen und Erkennen “ . Einen Gegenstand zu erkennen heiße - wie wir bereits gesehen haben - , einen anderen in ihm wiederfinden oder auffinden. Wirkliche Erkenntnis liege dort vor, wo zwei Begriffe nicht bloß vermöge ihrer Definitionen denselben Gegenstand bezeichnen, sondern kraft heterogener Zusammenhänge (AE, S. 234). Man könne von der Erkenntnis realer oder begrifflicher Zusammenhänge sprechen (wie z. B. die Lösung einer mathematischen Aufgabe) (AE, S. 235). Erkenntnis bedeute, eine Beziehung zwischen Gegenständen aufzudecken. Jedes Urteil, das keine Tautologie oder Definition sei, enthalte eine Erkenntnis. Im Erkenntnisakt werde 67 Schlick bedient sich hier des Beispiels der Elektrizität, man kann auch an den Begriff des Atoms denken. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 81 <?page no="96"?> der erkannte Gegenstand demjenigen gleichgesetzt, als welcher er erkannt sei (AE, S. 236): so z. B. werde der Verfasser der Schrift über den athenischen Staat dem Aristoteles, das Licht „ gewissen Schwingungsvorgängen “ , der Schnee etwas Kaltem usw. gleichgesetzt. Im Weiteren diskutiert Schlick eine gewichtige Schwierigkeit dieser Sichtweise. Um das Urteil „ Schnee ist kalt “ zu fällen, brauche man eigentlich zwei Erkenntnisakte: „ Dies ist Schnee “ und „ Dies ist kalt “ (AE, S. 238). Das Subjekt dieser zwei Urteile sei zunächst nicht identisch: das erste Urteil ist ein Resultat einer „ Gesichtsempfindung “ , das zweite einer „ Hautempfindung “ . Mehr noch: das Urteil „ Dies ist kalt “ sei nicht als vollkommene Identität gemeint. Hier werde der durch das Demonstrativpronomen bezeichnete Gegenstand nur mit einem der unendlich vielen unter den Prädikatsbegriff fallenden Gegenstände identifiziert (AE, S. 239). Wie stehe es jedoch, fragt Schlick, mit der Gleichsetzung der Gegenstände, die in den beiden Sätzen ( „ Dies ist Schnee “ und „ Dies ist kalt “ ) durch das Demonstrativpronomen bezeichnet seien. Diese seien zunächst nicht identisch: „ Dies ist Schnee “ ist ein Urteil, das sich aufgrund einer Gesichtswahrnehmung ergebe, „ Dies ist kalt “ hingegen eines, das auf einer Tastwahrnehmung beruhe (AE, S. 240). Eine Möglichkeit, diese Schwierigkeit zu überwinden, bestünde darin, den beiden Urteilen den gleichen Gegenstand zugrunde zu legen, indem man die Relation Ding-Eigenschaft oder Substanz-Attribut einführe. Diese Option verwirft Schlick jedoch mit dem Hinweis darauf, dass beide: Substanz und Attribut metaphysische Begriffe seien, die „ manche Schwierigkeit in sich bergen “ (AE, S. 240). Man brauche solche Begriffe aber auch nicht, denn die Identität der beiden Gegenstände (der Subjekte der beiden Urteile) ergebe sich als Identität eines Raum- und eines Zeitpunktes (AE, S. 241). 68 Wir können beliebige, auch zeitlich und räumlich beliebig auseinander liegende Elemente gedanklich zusammenfassen, doch das stärkste Motiv, einen Gegenstand zu setzen, liege immer in der beständigen raumzeitlichen Koinzidenz (AE, S. 243). 69 Eine ähnliche Zergliederung lasse sich mit jedem Urteil vornehmen. Alles in der Außenwelt sei an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Auch historische Erkenntnisse lassen sich so auffassen. Schlick weist jedoch darauf hin, dass in den exakten Disziplinen und überhaupt bei jeder tiefer dringenden Erkenntnis die errungene Identifikation nicht nur die einer Raum- und Zeitstelle sei, sondern eine bedeutsamere, nämlich zuletzt eine Übereinstimmung der Gesetzmäßigkeit. So z. B. erweise sich Wärme als Molekularbewegung und Wille als „ Verlauf von Vorstellungen und Gefühlen “ (AE, S. 246). Das Wichtigste 68 In der ersten Ausgabe der AE stand an dieser Stelle noch eine Ausführung zur Identifikation von psychologischen Phänomenen (mittels der Identifizierung des Zeitpunktes) und eine Bemerkung zur „ Zeitlosigkeit der Begriffe “ . 69 Schlick betont, dass seine Analyse von der positivistischen Auflösung des Körpers in einen Komplex von „ Elementen “ (Ernst Mach) zu unterscheiden ist (AE, S. 244). Er weist ebenfalls darauf hin, dass das Verhältnis des Gegenstandes zu seinen Eigenschaften an dieser Stelle noch eine offene Frage ist (AE, S. 245). 82 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="97"?> mit Blick auf die Erkenntnis sei jedoch, dass ein Gegenstand durch verschiedene Beziehungen gegeben sei. In dem Urteil „ Der Schnee ist weiß “ werde die Identität der Gegenstände noch nicht im demselben Sinne gesetzt wie in dem wissenschaftlichen Urteil „ das Licht besteht in elektrischen Wellen “ (AE, S. 249). In diesem sei einer der Begriffe durch eine Ursachenbeziehung definiert, was ein typischer Fall einer wissenschaftlichen Erklärung sei. Im Urteil „ Die Wärme ist eine Molekularbewegung “ sei der Gegenstand „ Wärme “ nur als Ursache einer Temperaturempfindung oder Thermometeranzeige gedacht. 70 Überall in der Wirklichkeitsforschung lasse sich das zu Erforschende durch Ursachenbeziehung darstellen, behauptet Schlick. Ihm zufolge ist die von vielen vertretene Ansicht gerechtfertigt, nach der jede wissenschaftliche Erklärung eine Kausalerklärung sein müsse (ebd.). Am leichtesten sei das Wesen der in einer Erkenntnis vollzogenen Gleichsetzung bzw. Identifikation bei Urteilen zu durchschauen, die sich auf reine Begriffe beziehen, stellt Schlick weiter fest und gibt einige einfache mathematische Beispiele (z. B. 2 x 2 = 2 + 2). Bei jeder wissenschaftlichen Erkenntnis münde der Akt des Gleichfindens in einer teilweisen oder vollständigen Identifikation, z. B. werde das Licht mit elektrischen Wellen identifiziert (AE, S. 250). 71 Ziel der Wissenschaften sei es, die Erkenntnis so weit zu voranzutreiben, dass die Mittel bereit liegen, um im Einzelfall jederzeit eine völlige Identifikation zu ermöglichen und somit das Individuelle in der Welt vollständig zu bestimmen. „ Der Prädikatbegriff wird durch Kreuzung mehrerer Allgemeinbegriffe gebildet, das Subjekt wird unter jeden von ihnen durch das Urteil subsumiert und so als dasjenige bestimmt, was durch sie alle bezeichnet wird, an ihnen allen zugleich teilhat “ (AE, S. 251). Aus diesen Überlegungen folge, dass die große Aufgabe der Erkenntnis, individuelle oder besondere Gegenstände mit Hilfe allgemeiner Begriffe zu bezeichnen, sich in die folgende auflöse: „ Durch Kreuzung der allgemeinen Begriffe wird in ihrer Mitte ein Bezirk abgegrenzt, in welchem nichts anderes Platz hat, als allein der Gegenstand, der da erkannt wird “ (AE, S. 251f.). § 10 Was ist Wahrheit? Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen wagt sich Schlick an eine der zentralsten Fragen der Erkenntnistheorie wie der Philosophie überhaupt: Was ist Wahrheit? Er weist darauf hin, dass Wahrheit fast immer als Übereinstimmung des Denkens mit seinem Objekt definiert wurde. Was aber ist Übereinstimmung, fragt er. Keine Gleichheit (Identität), denn ein Urteil sei offensichtlich nicht mit dem Beurteilten gleich (identisch). Vielleicht haben wir es hier also mit Ähnlichkeit zu tun? Aber sind unsere Urteile den 70 An dieser Stelle zeichnet sich bereits die spätere Verfikationstheorie der Bedeutung ab, so wie die Ähnlichkeit zum Operationalismus. 71 Streng genommen haben wir hier mit einer Subsumtion zu tun, denn nicht jede elektrische Welle ist Licht, präzisiert Schlick 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 83 <?page no="98"?> Tatsachen ähnlich? Schlick verneint das und entwickelt seine eigene Position (AE, S. 255). Der Ausgangspunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen ist die Frage: Warum ordnen wir den Gegenständen Begriffe zu? (AE, S. 253). Die Antwort auf diese Frage wurde von ihm bereits früher gegeben: um über die Gegenstände urteilen zu können. Warum aber urteilen wir? Schlick meint, dass man sich zur Beantwortung dieser Frage Klarheit in Bezug auf eine andere Frage verschaffen muss: Wozu dient alles Bezeichnen überhaupt? (AE, S. 253). Die Antwort auf diese Frage lasse sich leicht geben. Schlick bedient sich der Analogie einer Bibliothek: so wie in einer Bibliothek die Bücher durch die Eintragungen im Bücherkatalog effizient repräsentiert werden, so stellen die Urteile Vertreter der Tatsachen dar: „ Überall wo es unmöglich oder unbequem ist, mit den Gegenständen selbst zu operieren, die uns beschäftigen, da setzen wir Zeichen an ihre Stelle, die sich leichter und nach Belieben handhaben lassen “ (ebd.). Damit diese jedoch ihre Rolle erfüllen können, müsse die Zuordnung eindeutig sein: ein bestimmtes Buch müsse durch eine eindeutige Kombination von Ziffern und Buchstaben repräsentiert werden. Das gelte auch für die Zuordnung der Urteile zu Tatsachen (AE, S. 254). Diese recht elementare Einsicht bildet für Schlick die Grundlage der Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit: „ ein Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr. “ (AE, S. 254, Hervorhebung im Original) Schlick postuliert mithin seine eigene, neuartige 72 Theorie der Wahrheit: Wahrheit sei nicht Übereinstimmung, nicht Kohärenz der Urteile (Kohärenztheorie der Wahrheit), nicht dasjenige, was sich in der Praxis bewährt (pragmatische Theorie der Wahrheit), sondern eindeutige Zuordnung des Urteils zur Tatsache (wobei - wie bereits gesagt - eine Tatsache mit einem Verhältnis zwischen Gegenständen identisch ist). 73 Interessanterweise illustriert er seine Auffassung mit dem seiner Ansicht nach falschen Urteil, „ Ein Lichtstrahl besteht in einem Strome schnell bewegter Körperchen “ (AE, S. 257). Schlick schreibt: [B]ei Prüfung aller Tatsachen, die die physikalische Forschung uns kennen gelehrt hat, [werden wir] bald gewahr, dass dieses Urteil keine eindeutige Bezeichnung der Tatbestände ermöglicht. Wir würden nämlich finden, dass hierbei zwei verschiedenen Tatsachenklassen [die Kathodenstrahlen und die Lichtfortpflanzung] dieselben Urteile zugeordnet wären, dass also eine Zweideutigkeit vorläge. (AE, S. 257f.) Im Anschluss kommt Schlick auf die Frage zu sprechen, die sich aus seiner Auffassung vom Wesen der Wahrheit ergibt und deren Klärung „ uns erst 72 Wobei zu erwähnen ist, dass Schlick diese Sicht der Wahrheit bereits in seinem Aufsatz von 1910 „ Wesen der Wahrheit “ vertreten hat (S. 469). 73 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Schlick auch die Möglichkeit kurz diskutiert, dass ein falsches Urteil ein Urteil sei, dem keine Tatsache entspricht (259f.). Er kommt zu dem Schluss, dass beide Auffassungen sich nicht widersprechen, dass aber seine doch zu bevorzugen ist. 84 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="99"?> volles Verständnis für das Wesen der Wahrheit geben kann “ (AE, S. 264). Denn wenn ein Urteil ein Zeichen einer bestimmten Tatsache sei, und Zeichen doch willkürlich gesetzt werden, stellt sich (für Schlick) die Frage „ wodurch denn eigentlich ein bestimmtes Urteil gerade zum Zeichen einer bestimmten Tatsache wird; mit anderen Worten: woran erkenne ich, welche Tatsache ein gegebenes Urteil bezeichnet? “ (ebd.) Seine Antwort auf diese Frage ist überraschend. Anstatt auf die gesellschaftliche bzw. kulturelle Konventionen zu rekurrieren, kraft derer die ursprünglich willkürliche Zuordnung ( „ Dies da ist ein Baum/ tree/ arbre/ drzewo/ derewo usw. “ ) eindeutig wird, führt er eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Erkenntnis ein. Schlick meint, dass es durchaus möglich wäre, alle Dinge der Welt so zu bezeichnen, dass wir jedem Ding ein besonderes Zeichen eindeutig zuschreiben würden. Diese theoretische Möglichkeit hat aber innerhalb von Schlicks System eine überraschende Folge: „ da Wahrheit bloß in [der] Eindeutigkeit der Zuordnung besteht, 74 so wäre es im Prinzip ein Kinderspiel, zu vollkommener Wahrheit zu gelangen. Die Wissenschaft hätte eine gar leichte Aufgabe, wenn Wahrheit einfach mit Erkenntnis identisch wäre “ (AE, S. 265). Das aber sei „ ganz und gar nicht der Fall “ : Erkenntnis ist mehr, viel mehr als bloße Wahrheit. Letztere verlangt nur Eindeutigkeit der Zuordnung und es ist ihr gleichgültig, welche Zeichen dazu benützt werden; Erkenntnis dagegen bedeutet eindeutige Zuordnung mit Hilfe ganz bestimmter Symbole, nämlich solcher, die bereits anderswo Verwendung fanden. (Ebd.) Ein Erkenntnisurteil sei demnach eine neue Kombination von lauter alten Begriffen (AE, S. 266). Kraft des Urteils komme einer neuen Wahrheit ein ganz bestimmter Platz im Kreise der bereits bekannten Wahrheiten zu. Dadurch, dass das Urteil diesen Platz anweist, werde die Tatsache oder der Gegenstand erkannt (ebd.). Ferner betont Schlick, dass nur die ersten Begriffe und Urteile, auf welche die Erkenntnis die übrigen zurückführe, auf Konvention beruhen und als willkürliche Zeichen gelernt werden müssen (AE, S. 267). So wie die Sprache neue Worte nicht durch neue Laute, sondern durch neue Kombinationen der wenigen fundamentaleren Sprachlauten bilde, so entstehen neue Begriffe durch Kombination der (wenigen) alten. „ Die Sucht, neue Worte für ihre Begriffe zu erfinden, kennzeichnet die kleineren Geister unter den Philosophen; einem Hume genügte die simpelste Terminologie als Kleid grundlegender Gedanken “ (AE, S. 267f.). Die primitivste Art des Erkennens, schreibt Schlick weiter, bestehe in einer Menge von unabhängigen Einzelzuordnungen und ergebe noch kein System (AE, S. 270). Es gäbe unter diesen Umständen so viele Zeichen wie unterscheidbare Gegenstände und ihre Zahl ließe sich nicht reduzieren, wenn nicht 74 Er scheint vergessen zu haben, dass er Wahrheit ausschließlich den Urteilen zuschreiben will, nicht der Zuschreibung der Begriffe zu den Gegenständen (AE, S. 263), während hier die Rede von Zuschreibung der Zeichen zu den Dingen, also von Begriffen ist. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 85 <?page no="100"?> noch etwas dazukommen würde. Erkenntnisgegenstände seien nicht von vornherein bestimmte, fest abgegrenzte Einheiten. Dass die Inhalte unseres Bewusstseins in ihm zu gewissen Komplexen zusammentreten, die wir als „ Einheiten “ erleben, beruhe auf einer psychologischen Tatsache, für welche „ die moderne Psychologie “ den von Christian von Ehrenfels geprägten Begriff „ Gestaltqualität “ verwendet. Demnach kann dasselbe Element verschiedenen Gegenständen angehören, aber auch umgekehrt: es kann gelingen in allen Gegenständen eines Gebietes dieselben ganz wenigen Elemente in steter Wiederholung aufzufinden. 75 Schlick schließt diesen Abschnitt mit der Feststellung: So sind Zuordnung, Wiederfinden des Gleichen und Zusammenhang ganz untrennbar verknüpft; von ihrem Verhältnis zueinander scheint die vorgetragene Wahrheitstheorie vollständig Rechenschaft zu geben. (AE, S. 271) § 11 Definitionen, Konventionen, Erfahrungsurteile Der nachfolgende Paragraph war in der ersten Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre nicht enthalten und bildet eine wichtige substanzielle Ergänzung zu ihr, die Schlick als Reaktion auf unterschiedliche Einwände, insbesondere vonseiten Hans Reichenbachs, 76 ausarbeitete und die als eine Art Auseinandersetzung mit der damals immer noch gegenwärtigen neukantianischen Erkenntnistheorie 77 angelegt ist. Am Anfang stellt Schlick paradigmatisch fest: „ Alle unsere Urteile sind entweder Definitionen oder Erkenntnisurteile “ (AE, S. 271) und betont, dass dieser Unterschied in den reinen Begriffswissenschaften nur relativ sei, in den Realbzw. Wirklichkeitswissenschaften hingegen umso schärfer hervortrete. In der Tat sei es „ eine Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie, an der Hand dieser Unterscheidung über den Geltungscharakter der verschiedenen Urteile bei der Wirklichkeitserkenntnis Klarheit zu schaffen “ (ebd.). 78 Schlick zufolge stellt das System der Wirklichkeitswissenschaften „ ein Netz von Urteilen “ dar, dessen einzelne Maschen einzelnen Tatsachen zugeordnet seien. Diese Zuordnung werde entweder durch Definition oder durch Erkenntnis erreicht. Schlick führt zwei Arten der Definition an: konkrete (Zurückführung auf bereits bekannte Begriffe), und implizite (Situierung in einem Netz von Axiomen). Von diesen zwei komme für die Begriffe wirklicher Gegenstände zunächst nur die erste in Frage. Wenn wir einem bestimmten Gegenstand wieder begegnen (ihn also wiedererken- 75 Was vermutlich dazu führen kann, dass sich die Zahl der Zeichen reduzieren lässt. Diese Möglichkeit aber wird von Schlick nicht explizit thematisiert. 76 AE, S. 103 - 113. 77 Aus solchen grundsätzlich neukantianischen Positionen heraus hat z. B. Hans Reichenbach gegen Schlick polemisiert (AE, S. 103 - 113). 78 Vgl. Fußnote 172 (S. 271), die Bezug nimmt auf Einsteins Überlegungen zu Geometrie und Denken. Vgl. auch Fußnote 173, S. 273 in der Einsteins Behauptung zitiert wird, dass die Axiome der Geometrie freie Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. 86 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="101"?> nen), so sprechen wir von Erfahrung. Da die Erfahrung die gleichen Gegenstände in verschiedenen Relationen zeige, ergeben sich zahlreiche Erkenntnisurteile, die allmählich ein zusammenhängendes Netz bilden. Solange es zur Aufstellung jedes neuen Urteils einer neuen Erfahrung bedürfe, also eine neue direkte Verbindung mit der Wirklichkeit erzielt werde, spricht man von der Klasse der Urteile, die man als deskriptive oder historische bezeichnen könne und die in den beschreibenden und historischen Disziplinen anzutreffen seien. Es gebe aber auch eine andere Möglichkeit des wissenschaftlichen Vorgehens: Nun ist das Merkwürdige, dass bei passender Wahl der Gegenstände, welche durch die konkreten Definitionen herausgegriffen werden, implizite Definitionen gefunden werden können von der Art, dass die durch sie bestimmten Begriffe sich zur eindeutigen Bezeichnung jener wirklichen Gegenstände verwenden lassen. Diese Begriffe hängen dann nämlich durch ein System von Urteilen untereinander zusammen, welches völlig übereinstimmt mit dem Urteilsnetze, das auf Grund der Erfahrung dem System der Tatsachen eindeutig zugeordnet wurde. Während dieses Netz durch mühsame Einzelerkenntnis Masche für Masche empirisch gewonnen werden musste, kann jenes Urteilssystem aus den impliziten Definitionen seiner Grundbegriffe auf rein logischem Wege vollständig abgeleitet werden. Wenn es also gelingt, jene impliziten Definitionen aufzufinden, so hat man das gesamte Urteilsnetz mit einem Schlage, ohne in jedem Falle auf neue Einzelerfahrung angewiesen zu sein. 79 (AE, S. 272f.) Schlick stellt weiter fest, dass dieses Vorgehen für die exakten Wissenschaften charakteristisch und dass nur auf diesem Wege „ eine strenge Lösung “ denkbar sei, derentwillen „ alle Wissenschaft in letzter Linie erfunden wurde “ , nämlich zur Vorhersage künftiger Ereignisse. Er illustriert diese Behauptung mit einem Beispiel aus der Astronomie. Man könne die Bewegungen der Planeten durch eine Unzahl von konkreten ( „ historischen “ ) Urteilen beschreiben, man könne aber auch die Planeten als etwas bezeichnen, das sich nach gewissen Gleichungen bewegt (was Schlick zufolge einer impliziten Definition gleichkommt), und was uns dann ermöglicht, Aussagen über vergangene und zukünftige Stellungen der Himmelskörper zu treffen. 80 Aus diesen Überlegungen zieht Schlick eine gewichtige Konsequenz: Es ist offensichtlich die Voraussetzung der Begreifbarkeit der Welt, dass es ein System von impliziten Definitionen gibt, das dem System der Erfahrungsurteile genau korrespondiert, und es wäre um unsere Wirklichkeitserkenntnis aufs beste bestellt, wenn wir mit absoluter Sicherheit wüssten, dass stete durch implizite Definitionen erzeugte Begriffe existieren, die eine streng eindeutige Bezeichnung der Welt der Tatsachen gewährleisten. (AE, S. 274) 79 Es ist unschwer in dieser Formulierung den Kerngedanken von Carnaps Logischer Aufbau der Welt zu sehen. S. unten. 80 Interessant ist, dass Schlick an dieser Stelle den Begriff des Naturgesetzes vermeidet. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 87 <?page no="102"?> Schlick ist jedoch skeptisch bezüglich der Möglichkeit der Existenz eines solchen Systems und erachtet die Behauptung, dass sich ein solches System finden lasse, im besten Fall als eine Hypothese, nicht als ein wahres Urteil (Tatsache). Er hält es allerdings für möglich, bestimmte einzelne Begriffe so einzurichten, dass sie unter allen Umständen auf die Wirklichkeit passen. Einen Begriff implizit definieren heiße, ihn durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen festzulegen. Einen solchen Begriff auf die Wirklichkeit anwenden heiße, „ aus dem unendlichen Beziehungsreichtum der Welt eine bestimmte Gruppe, einen bestimmten Komplex auszuwählen und durch Bezeichnung mittels eines Namens zu einer Einheit zusammenzufassen “ (ebd.). Wenn uns nun gelingt, eine eindeutige Bezeichnung von Wirklichem durch diesen Begriff zu erreichen, so nennen wir die so entstandene Zuordnung eine Konvention (AE, S. 275). Schlick erinnert daran, dass der Begriff der Konvention in dieser Bedeutung von Poincaré 81 eingeführt wurde, und illustriert Natur und Funktion der Konventionen am Beispiel der Zeitmessung (die Zeiteinheit wurde per Konvention gesetzt und hätte auch anders bestimmt werden können). Wenn eine gewisse Zahl von Begriffen durch Konvention festgelegt ist, so Schlick, sind die Beziehungen zwischen den durch sie bezeichneten Gegenständen dann nicht mehr konventionell, sondern aus der Erfahrung abzulesen. In diesen seine Ausführungen erkennt Schlick eine genaue Beschreibung der zwei Klassen von Urteilen, aus denen sich jedes System der Wirklichkeitswissenschaft aufbaut: Definitionen, mit denen die exakte Erkenntnis auf Stellvertretung der konkret bestimmten Begriffe durch implizit bestimmte hinzielt und unter denen die Konventionen „ einen ausgezeichneten Platz einnehmen “ (AE, S. 278), und auf der anderen Seite die Erkenntnisurteile, die entweder beobachtete Tatsachen bezeichnen (historische Urteile) oder auch „ für nicht beobachtete zu gelten beanspruchen “ (Hypothesen). 82 Zu den Definitionen sind Schlick zufolge auch jene Sätze zu rechnen, die sich aus Definitionen auf rein logischem Wege ableiten. Folglich bestehen reine Begriffswissenschaften (zu welchen er z. B. die Arithmetik zählt) eigentlich nur aus Definitionen: „ sie lehren nichts prinzipiell Neues, über ihre Axiome Hinausgehendes, aber dafür sind alle ihre Aussagen absolut wahr “ (AE, S. 279). Was hingegen die Wirklichkeitswissenschaften betrifft, so bestehen sie zur Hauptsache aus Erkenntnisurteilen (im engeren Sinne), die aber deshalb letztlich Hypothesen bleiben, „ ihre Wahrheit ist nicht schlechthin verbürgt “ (ebd.); wir müssen uns damit begnügen, dass die Wahrscheinlichkeit, „ mit 81 In seiner Schrift Wissenschaft und Hypothese (Poincaré 1906). 82 Schlick meint, dass die Klasse der historischen Urteile streng genommen leer ist, denn sie darf nur die Urteile beinhalten, die sich auf den Moment der Beobachtung beziehen und bereits einen Augenblick später, in Erinnerung, hypothetischen Charakter erlangen (AE, S. 278). 88 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="103"?> ihnen eine eindeutige Zuordnung “ (also in gewöhnlicher Sprache: die Wahrheit) erreicht zu haben, sehr hoch sei. Bei Schlick folgt nun eine Passage, die meines Erachtens nicht streng aus dem Dargelegten hervorgeht, die jedoch im Hinblick auf die spätere Entwicklung des logischen Positivismus von offenkundig zentraler Wichtigkeit ist]. Da sie äußerst dicht formuliert ist, zitiere ich sie hier verbatim: Das System von Definitionen und Erkenntnisurteilen, welche jede Realwissenschaft darstellt, wird also an einzelnen Punkten mit dem System der Wirklichkeit direkt zur Deckung gebracht und so eingerichtet, dass dann an allen übrigen Punkten von selbst Deckung stattfindet. Diejenigen Sätze des Urteilssystems, mit denen es sich unmittelbar auf die wirklichen Tatsachen stützt, können wir Fundamentalurteile nennen. Es sind die Definitionen im engeren Sinne und die historischen Urteile. Von ihnen ausgehend wird das ganze System Schritt für Schritt errichtet, indem man die einzelnen Bausteine durch rein logisches, deduktives Verfahren gewinnt [. . .]. Ist der ganze Bau richtig gefügt, und entspricht nicht nur den Ausgangspunkten, den Fundamentalurteilen, sondern auch den auf deduktivem Wege erzeugten Gliedern des Systems je ein Tatbestand der Wirklichkeit; jedes einzelne Urteil des ganzen Baues ist einem wirklichen Tatbestande eindeutig zugeordnet. 83 (AE, S. 285f.) Bezüglich der Strenge des „ logischen Aufbaus “ erblickt Schlick deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften. Die historischen Wissenschaften zeichneten sich dadurch aus, dass in ihnen keine Ableitungen, keine Voraussagen und viele Fundamentalurteile vorkommen. Sie seien also reich am Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen. Anders verhält es sich Schlick zufolge mit den exakten Wissenschaften. Sie erreichen die Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteilssystems zu den Tatsachen nicht dadurch, dass sie die Zahl ihrer Fundamentalurteile möglichst groß machen, sondern sie streben im Gegenteil danach, diese möglichst gering zu halten und überlassen es „ dem unfehlbaren logischen Zusammenhang “ , die beiden Systeme (Urteilssystem und die Tatsachen) zu eindeutiger Übereinstimmung zu bringen (AE, S. 287). Es folgt eine programmatische Festlegung des reduktionistischen Paradigmas: „ Je weniger fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, desto geringer ist die Zahl der Elementarbegriffe, die sie zur Bezeichnung der Welt gebraucht, desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt “ (ebd.). Die wichtigste Bedingung der ganzen Erkenntnisarbeit, ohne welche sie keinen Sinn hätte, sei die, „ dass jedes Glied des Urteilsgefüges einem Gliede des Tatsachengefüges eindeutig zugeordnet ist, und wenn es diese Bedingung erfüllt, so heißt es wahr “ (ebd.). § 12 Was Erkenntnis nicht ist Den nächsten Abschnitt bildet eine Polemik gegen den möglichen Einwand, der sich aus der Enttäuschung ergibt, dass Schlick Erkennen als ein bloßes 83 Also in der gewöhnlichen Sprache: jedes Urteil des Systems ist dann wahr. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 89 <?page no="104"?> Bezeichnen bestimmte (AE, S. 288). Bleibe damit, so der Einwand, der menschliche Geist den Dingen und Vorgängen nicht ewig fremd und fern? Könne er sich den Gegenständen dieser Welt, der er doch selbst als ein Glied angehört, nicht inniger vermählen? Das könne er, aber nicht als erkennend, meint Schlick. Wer sich Dingen nähert, stehe im Leben, nicht im Erkennen; ihm zeigen die Dinge das Antlitz ihres Wertes, nicht ihres Wesens (AE, S. 289). Aber sei nicht das Erkennen auch eine Lebensfunktion, fragt er weiter. Ja, aber es habe eine besondere Stellung im Leben. Deshalb müsse man die bisherigen Untersuchungen nach zwei Seiten noch besonders stützen. Man müsse erstens zeigen, dass dem Begriff der Erkenntnis keine andere Bedeutung beigelegt werden dürfe; man müsse ferner nachweisen, dass alle Hoffnungen des Menschen bezüglich der Erkenntnis mit dem geschilderten Prozess erfüllt seien (AE, S. 290). In den stärksten philosophischen Strömungen der Gegenwart herrsche die Meinung, dass allein die Anschauung, die Intuition, wahre Erkenntnis sei, dass die mit Begriffen arbeitende Methode der Wissenschaft nur ein Surrogat geben könne, keine echte Erkenntnis des Wesens der Dinge, schreibt Schlick weiter und bezieht sich dabei auf Bergson und Husserl (AE, S. 291). Die Propheten der Intuition behaupten, fährt er fort, die unmittelbare Anschauung leiste das in vollkommener Weise, was auch die symbolisierende Erkenntnis mit dem unzureichenden Mittel des Begriffes zu leisten trachte (AE, S. 292). Hier aber irren sie sich sehr, so Schlick. Intuition habe mit der Erkenntnis gar keine Ähnlichkeit. Ich müsste Rot mit anderen Farben vergleichen und dadurch dann seine Nuance richtig bezeichnen, oder ich müsste ein Tätigkeitsgefühl psychologisch analysieren und darin Spannungsempfindungen, Lustgefühle usw. aufdecken - dann erst dürfte ich mit einigem Recht behaupten, das Wesen des Rots/ des Tätigkeitsgefühls bis zu einem gewissen Grad erkannt zu haben. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt sei, solange sei er nicht erkannt (AE, S. 293). Durch die Anschauung werden uns Gegenstände nur gegeben, sie werden durch sie nicht begriffen. Intuition sei bloßes Erleben, Erkennen aber sei etwas ganz anderes, sei mehr. Intuitive Erkenntnis sei eine contradictio in adiectio. Der kulturlose Mensch und das Tier sehen die Welt vielleicht besser als wir, sie erkennen diese aber gar nicht. Damit sei der große Fehler aufgedeckt, den die Intuitionsphilosophen begehen: sie verwechseln Kennen mit Erkennen. Wir erkennen die Dinge allein durch das Denken, denn das Ordnen und Zuordnen, das dazu nötig ist, mache eben das aus, was man als Denken bezeichnet (ebd.). Erkenntnis der Dinge an sich sei so lange eine contradictio in adiectio, als man unter Erkenntnis Anschauen oder anschauliches Vorstellen verstehe, denn so werde ein Widersinn gefordert: Dinge vorzustellen, die unabhängig von allem Vorstellen seien. Die Frage nach der Möglichkeit solcher Erkenntnis dürfe nicht gestellt werden. Der wahre Erkenntnisbegriff habe dieses Problem nicht. Erkenntnis sei bloßes Zuordnen von Zeichen zu Gegenständen, sie berühre die Dinge nicht, Erkenntnis sei Bezeichnen (AE, S. 302). Eine Abbildung 90 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="105"?> könne ihre Aufgaben nie vollkommen erfüllen, dazu müsste sie eine Verdoppelung des Originals sein. Ein Gegenstand lasse sich nie so abbilden, wie er sei, da jede Abbildung an einen bestimmten Standpunkt gebunden sei, sie bezeichne aber durchaus. 84 Die Zeichen seien subjektiv, ihre Zuordnung zu den Gegenständen hingegen nicht. Deshalb können wir getrost sagen: in Wahrheit gibt uns jedes Erkennen eine Erkenntnis von Gegenständen, wie sie an sich selbst sind. Nehmen wir einmal an, unserer Kenntnis seien nur „ Erscheinungen “ zugänglich, hinter denen unbekannte Dinge an sich ständen, so wären diese Dinge doch zugleich mit den Erscheinungen von uns erkannt, denn da unsere Begriffe den Erscheinungen zugeordnet sind, diese aber als den Dingen an sich zugeordnet angenommen waren, so bezeichnen ja unsere Begriffe auch die letzteren, weil ein Zeichen des Zeichens doch auch ein Zeichen für das Bezeichnete selbst sei (AE, S. 303). § 13 Vom Wert der Erkenntnis In diesem Abschnitt beschäftigt sich Schlick mit der wichtigen Frage nach dem Wert der Erkenntnis. Die Frage hat seit der Publikation seines Werkes deutlich an Wichtigkeit zugenommen, wenn man allein die Höhe der Ausgaben für die wissenschaftliche Forschung betrachtet. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung beliefen sich im Jahr 2007 auf ungefähr 1.145.700.000.000 Dollar, während sie noch 2002 „ nur “ rund 790 Milliarden Dollar betragen hatten. 85 Es werden also weltweit enorme Summen ausgegeben und sie wachsen sehr schnell weiter. Ich habe leider keine entsprechenden Daten für 1918 - 1920. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung dürften bedeutend niedriger gewesen sein als heute, sie waren aber sicherlich bereits damals beträchtlich. Im Hinblick auf diesen enormen Aufwand mag Schlicks Antwort auf die Frage nach dem Wert des Wissens überraschen. Er hebt nicht den praktischen Nutzen des Wissens hervor, sondern stellt thetisch fest, dass Erkenntnis Wert habe, weil sie uns Lust bereite (AE, S. 310). Um diese These zu untermauern, greift er auf die biologischen Entwicklungstheorien zurück. Alle solche Theorien stimmten darin überein, dass sich in der Evolution der Lebewesen der Drang nach solchen Tätigkeiten verstärken müsse, die die Erhaltung des Lebens der Individuen und der Gattung begünstigen (AE, S. 311). Das Denken sei ursprünglich nur ein Werkzeug zur Selbstbehauptung gewesen, doch der Apparat des Urteilens und Schließens habe eine sehr viel weiter gehende Anpassung an die Umgebung ermöglicht als die automatische Assoziation (AE, S. 312). Dass alle Erkenntnis zunächst ganz allein dem Handeln diente, sei unzweifelhafte Wahrheit (AE, S. 313). Die Praxis gebe der reinen Forschung unaufhörlich neue Antriebe und stelle sie vor neue Probleme (ebd.). 84 Interessanterweise beinhaltet diese Überlegung den Kern der viel späteren Auseinandersetzung Rortys in seinem Werk Philosophy and the Mirror of Nature (Rorty 1979). 85 Knowledge, Networks and Nations 2011, S. 16. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 91 <?page no="106"?> Schlick zufolge irren sich jedoch diejenigen, die behaupten, Wissenschaft diene allein der praktischen Herrschaft über die Natur (AE, S. 314). Es sei zwar wahr, dass der Verstand zunächst bloß ein Instrument zur Erhaltung des Lebens gewesen sei, heute aber stelle seine Tätigkeit eine Quelle der Lust dar. Sie sei aus einem Mittel zum Zweck geworden (AE, S. 315). Der Prozess der Umbildung von Mitteln zu Zwecken mache das Leben immer reicher, lasse in uns neue Triebe entstehen und damit neue Möglichkeiten der Lust (AE, S. 316). Mögen die meisten Erkenntnisakte irgendeinen Nutzen haben, reine Wissenschaft sei nur dort zu finden, wo sie selber Zweck sei - alles andere sei Lebensklugheit oder Technik (AE, S. 317). Erkenntnis, sofern sie Wissenschaft sei, diene also nicht irgendwelchen anderen Lebensfunktionen. Sie sei nicht auf die praktische Beherrschung der Natur gerichtet, sondern eine selbstständige Funktion und bereite uns unmittelbare Freude (AE, S. 320). Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb das Leben des Forschenden erfülle, bestehe ihr Wert. Die Rede vom „ Wert an sich “ , der nichts mit Lust und Unlust zu tun habe, sei Unsinn, eine der schlimmsten Irrlehren der Philosophie. Das Gute sei deshalb gut, weil es Freude mache, so bestehe der Wert der Erkenntnis ganz einfach darin, dass sie uns erfreue, fasst Schlick seine Argumentation zusammen (AE, S. 321). Teil II und III der Allgemeinen Erkenntnislehre Es wäre sicher lohnenswert, sich auch mit dem II. und dem III. Teil von Schlicks Werk (Denkprobleme, §§ 14 - 21 und Wirklichkeitsprobleme, §§ 22 - 41) ausführlich auseinanderzusetzen, dies würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich werde deshalb der Vollständigkeit halber die Hauptthemen dieser beiden Teile bloß kursorisch abhandeln, um mich später lediglich mit einigen von ihnen ein wenig ausführlicher zu befassen, da diese ihre Aktualität bis heute kaum eingebüßt haben. Teil II Im zweiten Teil seines Werkes geht Schlick, wie bereits erwähnt, auf die Frage ein, inwiefern es überhaupt möglich ist, vermittels des urteilenden Denkens Erkenntnisse zu erlangen. Er diskutiert kurz die Schullogik, die bekanntlich neunzehn gültigen Modi des Syllogismus aufgestellt hat (AE, S. 324 ff). Zwölf von ihnen beinhalten negative Urteile, weshalb sie Schlick zufolge für die Wissenschaft unbrauchbar seien, wodurch nur noch sieben übrig blieben. Sechs von diesen aber beinhalten partikuläre Urteile (z. B. „ Einige S sind P “ ), weshalb sie aus Schlicks Sicht in der Wissenschaft nur von einer vorläufigen Bedeutung seien. Es bleibe also nur eine Schlussfigur übrig, der sog. Modus Barbara (Alle M sind P, Alle S sind M > Alle S sind P; AE, S. 326). Schlick kommt zu dem Schluss, dass alles Beweisen in der Wissenschaft ein Aneinanderreihen von Syllogismen im Modus Barbara sei (AE, S. 327, 330). Um auf die moderne Wissenschaft anwendbar zu sein, müsse die aristote- 92 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="107"?> lische Schlusslehre nicht geändert, sondern die Lehre vom Begriff vertieft werden (AE, S. 331). Strenges Schließen sei analytisch, so Schlick, was bedeute, dass durch den Syllogismus keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen seien (AE, S. 333). Folglich könne das reine Denken, das bloß auf den Verhältnissen der Begriffe zueinander beruhe und keine Rücksicht auf die anschauliche Wirklichkeit nehme, niemals Quelle eigentlicher Erkenntnis sein (AE, S. 344f.). Dem deduktiven, syllogistischen Schließen stehe das induktive gegenüber (AE, S. 345). Es verfahre aufbauend, synthetisch, sei aber kein strenges Schließen und habe keine apodiktische Gültigkeit. Notwendige Voraussetzung aller Deduktion sei das Gedächtnis (AE, S. 354f.). Die Flüchtigkeit unseres Geistes hindere uns nicht daran, die einfachen Akte des analytischen Schließens zu vollziehen (AE, S. 379f.). Des Weiteren behandelt Schlick das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen. Ein Reich des idealen Seins sei bereits in der Antike postuliert worden (AE, S. 380). Aber selbst Plato habe das Problem des Verhältnisses der beiden Sphären nicht lösen können, und auch die Modernen seien dazu nicht in der Lage. Die von Husserl postulierte „ Wesensschau “ biete Schlick zufolge keine Lösung des Problems (AE, S. 388). Die logischen Gebilde seien nichts Wirkliches, sie werden von uns fingiert (AE, S. 390). Fernerhin diskutiert Schlick ein interessantes Problem, das sich aus der Unterscheidung zwischen den psychologischen und logischen Inhalten ergibt: Wie ist es möglich, fragt er, dass die realen psychischen Beziehungen genau dasselbe leisten wie die rein logischen Relationen, ohne doch dasselbe zu sein, ohne die gleiche Schärfe zu besitzen? (AE, S. 392). Die Lösung des Rätsels biete die Rechenmaschine. Sie liefere präzise Resultate, obgleich die völlige Exaktheit durch keine natürliche Maschine zu realisieren sei. Wie werde dies erreicht? Kontinuierliche Prozesse können die Funktion des Diskontinuierlichen erfüllen (AE, S. 396). Das Problem des Verhältnisses der psychologischen Prozesse zu den logischen Beziehungen stelle sich uns also dar als ein Spezialfall der Frage nach der Erzeugung diskreter, d. h. zählbarer Gebilde durch kontinuierliche. Mit dem Nachweis, dass Letzteres möglich sei, sei auch das Problem gelöst, stellt Schlick fest (AE, S. 397). Im letzten Paragraph des zweiten Teils diskutiert Schlick das Problem der Verifikation der wissenschaftlichen Aussagen. Das Problem ergibt sich aus einem der Grundsatz seiner Erkenntnistheorie: Realbehauptungen der empirischen Wissenschaften, also synthetische Urteile, sind von den Begriffswahrheiten, den analytischen Urteilen, streng zu unterscheiden ( „ Es ist aber von allerhöchsten Bedeutung [. . .] nicht den Unterschied aus dem Auge zu verlieren, der die beiden Klassen von Urteilen durch einen Abgrund voneinander trennt, den keine Logik und Erkenntnistheorie überbrücken kann “ [AE, S. 433]). Während Erstere von den Gesetzen der Naturvorgänge abhängen und durch Verifikation anhand der Erfahrung immer nur vorläufig bestätigt werden (AE, S. 425), besitzen die Letzteren apodiktische Gewissheit, (AE, S. 430, 435f.). Zwar seien auch analytische Schlüsse von der Realisierung im Denken als psychologischem 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 93 <?page no="108"?> Prozess abhängig, synthetische Urteile seien jedoch empirische Wiedererkennungsakte, während analytische Urteile Identitätssetzungen von Begriffen darstellen, welche absolute Sicherheit besitzen. Logische Wahrheiten können durch mannigfaltige bildliche Beispiele veranschaulicht werden. Man erkenne ihre Wahrheit aber, indem am Schluss des Gedankenprozesses, wie Schlick es formuliert: das „ Identitätserlebnis “ auftrete, das man gewöhnlich als „ Evidenzgefühl “ bezeichne ( „ es stimmt “ , „ so ist es “ usw.; AE, S. 431). Das Evidenzgefühl sei allerdings kein untrügliches Kriterium der Wahrheit. Fehler können auftreten. Falsche Schlussfolgerungen hingegen kündigen sich durch ein „ Ungleichheitserlebnis “ an (AE, S. 432). Teil III Im letzten und umfangreichsten Teil des Werkes behandelt Schlick die Frage, wie synthetische Urteile objektive Gültigkeit beanspruchen und zumindest wahrscheinliche Aussagen über die Wirklichkeit treffen können. Sein Hauptanliegen am Anfang dieses Teils besteht darin, eine explizite Kennzeichnung eines charakteristischen Merkmals zu finden, das sich als Kriterium alles Wirklichen eignet. Er findet diese in der Zeitlichkeit: Wirklich sei alles, was zu einer bestimmten Zeit seiend gedacht werden müsse, stellt er fest (AE, S. 480) und unterstreicht die außerordentliche Tragweite dieses Satzes. Er führe nämlich weit über die Welt des unmittelbar Gegebenen hinaus. Gemäß diesem Kriterium gebe es viele Dinge an sich, wobei Schlick unter Dingen an sich im Gegensatz zu Kant und den Neukantianern nicht Dinge versteht, wie „ sie wirklich sind “ , im Unterschied zu ihrer Erscheinung, sondern Dinge, die nicht gegenwärtig gegeben sind und dennoch als seiend betrachtet werden müssen (AE, S. 483). Des Weiteren polemisiert er gegen Philosophen, die das Ding an sich (in diesem Sinne) ablehnen, die sog. Immanenzphilosophen (AE, S. 484 - 542). Er fasst diese Diskussion folgendermaßen zusammen: Es gibt nur eine Wirklichkeit, alles, was in ihren Bereich fällt, ist unserer Erkenntnis prinzipiell auf gleiche Weise zugänglich, dem Dasein wie dem Wesen nach. Nur ein kleiner Teil dieser Wirklichkeit ist uns jeweils gegeben. Aber die dadurch bedingte Trennung des Subjektiven und Objektiven ist zufälliger Art, nicht prinzipieller Natur, wie es diejenige zwischen Wesen und Erscheinung sein sollte, die wir als undurchführbar erkannt haben. (AE, S. 558f.) Im nächsten Paragraph widmet sich Schlick der Subjektivität der Zeit. Er betont, dass die Zeit als anschauliche Qualität rein subjektiv gelte; die Zeitordnung als eindimensionales Kontinuum aber habe in ihrer Zuordnung zur Welt der Dinge an sich in demselben Sinne objektive Bedeutung wie jede andere Bezeichnung durch Begriffe (AE, S. 571). Im nächsten Abschnitt erfahren wir, dass Ähnliches auch vom Raume gelte. Schlicks Ansicht nach existieren die anschaulich-räumlichen Verhältnisse nicht unabhängig von ihrem Angeschautwerden. Die transzendenten Gegenstände können 94 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="109"?> nicht im Anschauungsraume lokalisiert werden, denn die objektive Ordnung der Dinge sei nur eine, von Wahrnehmungsräumen aber gebe es mehrere, und keiner von ihnen habe unmittelbar Eigenschaften, die ihn zum alleinigen Träger jener Ordnung stempelten (AE, S. 576). Als Raum sollte folglich nur die Ordnung des Sinnlich-Anschaulichen bezeichnet werden; wenn man transzendente Dinge beschreibe, so müsse man das durch ein entsprechendes Adjektiv deutlich machen: transzendenter oder objektiver Raum, oder nach Leibniz, Herbart, Lotze: „ intelligibler Raum “ (AE, S. 593). Im wichtigen § 30 (AE, S. 595ff.) diskutiert Schlick die Frage der Subjektivität der Sinnesqualitäten. Die sinnlichen Qualitäten seien Bewusstseinselemente, nicht Elemente der transzendenten Wirklichkeit, sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten (AE, S. 599). Diese Feststellung hat wichtige Folgen für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen der quantitativen und der qualitativen Erkenntnis, das in § 31 behandelt wird. Die Ordnung unserer Bewusstseinsinhalte in Raum und Zeit sei zugleich das Mittel, durch welches wir die transzendente Ordnung der Dinge jenseits des Bewusstseins bestimmen lernen, und diese Bestimmung sei der wichtigste Schritt zu ihrer Erkenntnis. Wie vollziehen wir diesen Schritt? Bereits in § 9 hat Schlick darauf hingewiesen, dass die Identitätssetzung eines Dinges in seiner Lokalisation an demselben Raum- und Zeitpunkt bestehe. Alles in der Außenwelt sei an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, und das eine im anderen wiederfinden heiße, beiden denselben Ort zur selben Zeit anzuweisen (AE, S. 609). Damals aber hat Schlick noch keinen Unterschied gemacht zwischen Raum und Zeit als anschaulichen und als transzendenten „ Größen “ . Das Mittel, um von der (bloß) anschaulichen zur transzendenten Welt zu gelangen, sei die Methode der Koinzidenzen (AE, S. 610). Sie sei erkenntnistheoretisch von allerhöchster Wichtigkeit, betont Schlick. Er illustriert sie anhand der alltäglichen Beobachtung eines Bleistiftes. Wir schauen ihn an, wir können aber auch seine Spitze berühren. Beide Erlebnisse werden einem „ Punkte “ des transzendenten Raumes zugeordnet: Berührungspunkt der beiden Dinge „ Finger “ und „ Bleistift “ . Entscheidend für die Kennzeichnung des Wirklichen sei also die Koinzidenz unterschiedlicher Sinneseindrücke (AE, S. 609 - 613) Was ist nun durch die Einfügung der Dinge in die transzendente Ordnung erreicht? Ein gewaltiger Erkenntnisfortschritt, meint Schlick (AE, S. 616). Erkennen heißt Wiederfinden. Durch die obige Prozedur ist ein und dieselbe gemeinsame Ordnung aufgefunden; in der Fülle und dem Gewirr der subjektiven Daten sei die eine objektive Welt entdeckt. Das Objekt, das ich mit der rechten Hand berühre und mit dem rechten und dem linken Auge jeweils ein wenig anders sehe, erweise sich als dasselbe Objekt, derselbe Bleistift (AE, S. 617). Die Einfügung in das transzendentale Ordnungsschema bedeute das Wiederfinden der identischen Gegenstände in den mannigfaltigsten Relationen. Das würde einen ungeheuren Erkenntnisfortschritt auch dann bedeuten, wenn jene Relationen qualitativ ganz verschieden voneinander wären. In Wahrheit aber seien sie qualitativ völlig gleichartig: alle ihre 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 95 <?page no="110"?> Unterschiede werden als rein quantitative aufgedeckt und seien damit aufeinander zurückführbar. Was bedeutet das? Jede Beziehung wird durch die Angabe einer Anzahl von Größen (z. B. die Lage eines Punktes durch drei Raumkoordinaten und die Zeit) bestimmt, letztlich durch die Angabe der Länge von Strecken. Die Länge sei aber die Zahl der in ihr enthaltenen Einheiten. Ein und dieselbe Längeneinheit werde in allen Längen wiedergefunden, nur in verschiedener Anzahl. So werden sie quantitativ aufeinander zurückgeführt und es gebe keine vollkommenere Art der Erkenntnis (AE, S. 618). Denn das Wiederfinden des einen Gegenstandes im anderen vollziehe sich am vollkommensten dort, wo der Letztere eine bloße Summe von lauter gleichen Exemplaren des Ersteren sei. Das Wesen der quantitativen Erkenntnis bestehe also darin, dass sie den erkannten Gegenstand in eine Summe von Einheiten auflöse, die unverändert und unter sich völlig gleich in ihm wiedergefunden und gezählt werden können. Auf diese Weise werden alle räumlichen Größen, dann auch Zeitstrecken, der „ Herrschaft der Zahl “ unterworfen. Diese Erkenntnis beziehe sich auf die transzendente Ordnung: die objektive Welt sei der Gegenstand der quantitativen Erkenntnis (ebd.). Ähnlich könne man bei der Reduktion der wahrgenommenen Farbe auf die Wellenlängen vorgehen, heißt es weiter: es zeige sich, dass auch in diesem Fall den (bloß) subjektiven Farben, die lediglich in den Anschauungsraum des Gesichts, nicht in den objektiven Raum der Dinge gehören (AE, S. 620), im transzendenten Raum gewisse elektromagnetische Strahlungen zugeordnet werden können, wobei die konkrete Zuordnung bestimmter Frequenzen (bzw. Wellenlängen) zu bestimmten Farben „ natürlich wiederum mit Hilfe der Methode der Koinzidenzen “ geschehe (AE, S. 622). Aus dieser Betrachtung ergibt sich mit Klarheit, dass die (sinnlichen) Qualitäten nur dann vollständig erkannt werden, d. h. durch Kombinationen bereits vorhandener Begriffe vollkommen und eindeutig bezeichnet, wenn es gelinge, sie quantitativ auf andere Größen zurückzuführen. Und dadurch werden sie in ihrer Eigenschaft als besondere Qualitäten aus dem Weltbilde gänzlich eliminiert, so Schlick weiter (AE, S. 624). Im weiteren Verlauf seiner Diskussion wendet er sich dem Problem des Substanzbegriffes zu, also der Behauptung, dass man von einem Substrat der Wirklichkeit sprechen darf und soll, das seine Qualitäten als Eigenschaften trägt. Schlick schreibt, dass Humes Kritik an dem Substanzbegriff 86 nach wie vor Gültigkeit habe. Die Idee eines von den Eigenschaften unabhängigen und sie nur tragenden Kernes sei verfehlt, denn der Kern wäre dann etwas Eigenschaftsloses. Wir bräuchten uns mit dieser Idee also nicht weiter befassen. Alle Erkenntnis gehe demnach letztlich auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen (AE, S. 629). Aus diesen Bestimmungen ergibt sich für Schlick eine (in seinen Augen) elegante Lösung des vertrackten Problems des Verhältnisses von Physischem 86 Hume 1978 I.iv.III. 96 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="111"?> und Psychischem. Physisches sei kein Begriff für die extramentale Wirklichkeit, sondern (bedeute) eine bestimmte Art und Weise ihrer Bezeichnung. „‚ [P]hysisch ‘ heißt die Wirklichkeit, sofern sie durch das räumlich-zeitlich-quantitative Begriffssystem der Naturwissenschaften bezeichnet ist “ (AE, S. 643, Hervorhebung im Original). Das naturwissenschaftliche Weltbild sei nur ein System von Zeichen, die wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamtheit und Zusammenhang das Universum bildet (AE, S. 644). „ Psychisches “ wiederum sei nur eine Beschreibungsweise des unmittelbar Gegebenen, des Inhalts des bewussten Erlebens. Wir haben eigentlich dreierlei Reiche zu unterscheiden, deren Verwechslung das psychophysische Problem mitverschuldet habe: 1. Die Wirklichkeit selbst (die Qualitätenkomplexe, die Dinge an sich); 2. die der Wirklichkeit zugeordneten quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft, die in ihrer Gesamtheit den physikalischen Weltbegriff bilden; und 3. die anschaulichen Vorstellungen, durch welche die unter 2. genannten Größen in unserem Bewusstsein repräsentiert werden. Dabei ist 3. natürlich ein Teil von 1. [. . .]. (AE, S. 645) In welchem dieser drei Reichen sei das Physische zu suchen, fragt Schlick weiter. Zweifellos im 1. Aber das Wort [Physisches] beziehe sich auf jene wirklichen Gegenstände [des 1. Reiches], denen Begriffe aus dem 2. Reiche zugeordnet seien oder zugeordnet werden können. Dabei sei es zunächst eine offene Frage, ob sämtliche Gegenstände des 1. Reiches durch das naturwissenschaftliches Begriffssystem des 2. bezeichnet werden können, d. h., ob die ganze Welt als etwas Physisches aufgefasst werden könne. 87 Vom 3. Reiche und vom Psychischen (das ein Teilbezirk des 1. ist) sei bei der Begriffsbestimmung des Physischen also keine Rede. Eine Hypothese, die durch empirische Befunde dringend nahegelegt werde, ist die, dass die raumzeitlichen Begriffe tatsächlich zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet seien, also auch der Bewusstseinswirklichkeit (AE, S. 646). Dass wir die Letztere außerdem noch durch die sog. „ psychologischen “ Begriffe beschreiben, schaffe Schlick zufolge keinerlei Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem. „ Physisch “ bedeutet mithin nicht eine besondere Art des Wirklichen, sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Begriffsbildung (AE, S. 647). Schlick fasst diesen Gedankengang folgendermaßen zusammen: Die Physik ist das System exakter Begriffe, welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Allem Wirklichen, denn nach unserer Hypothese im Prinzip ist die gesamte Welt der Bezeichnung durch jenes Begriffssystem zugänglich. Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz 87 Wir haben soeben gesehen, dass Schlick zufolge dasjenige, was durch die „ räumlichzeitlich-quantitative “ Begriffe der Naturwissenschaft bezeichnet ist, als Physisches zu klassifizieren ist. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 97 <?page no="112"?> zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen. (AE, S. 647) 88 Im § 33 (Weiteres zum psychophysischen Problem) ergänzt Schlick diese Betrachtungen. Seiner Ansicht nach besteht der Grundfehler, dem die Leib- Seele-Frage geschuldet ist, darin, dass das Physische als etwas Wirkliches betrachtet wurde, das anschaulich-räumliche Ausdehnung besitzt. Es habe sich jedoch herausgestellt, dass diese anschaulich-räumliche Ausdehnung bloß eine subjektive Eigenschaft des „ anschaulichen Raumes “ sei, nicht des transzendenten Raumes der Dinge an sich (AE, S. 655). Die andere Komponente des Problems erblickt Schlick in dem Fehler, das Seelische schlechthin als unräumlich aufzufassen. Die Wirklichkeit sei das Gegenteil: alle unsere Raumvorstellungen seien aus den räumlichen, örtlichen Bestimmtheiten der (seelischen) Empfindungen geschöpft, man müsse also festhalten, dass nur diesen letzteren psychischen Größen Ausdehnung im anschaulichen Sinne zukomme, und gerade nicht den physischen Dingen (AE, S. 657). Die Welt des Physischen nämlich, wie unsere Vorstellungskraft sie ausmalt, ist dann nicht bloß räumlich, sondern sie umfasst auch alles Räumliche: sie erfüllt als einzige den ganzen Raum und duldet darin nichts anderes neben sich. Die Empfindungsqualitäten haben in diesem Weltbild keine Stelle, denn die „ sekundären Qualitäten “ werden ja aus ihm, wie wir sahen, mit Notwendigkeit und mit Recht eliminiert. Sie kommen in den Gesetzen nicht vor, welche die Abhängigkeiten in der physischen Welt regeln. Alles, was in jener Welt geschieht, wird allein durch physische Größen bestimmt (AE, S. 657). Im letzten Abschnitt des dritten Teils seines Werks wendet sich Schlick schließlich der Frage nach der Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zu. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Kant und die Ablehnung seiner Erkenntnistheorie. Zentral dabei ist Schlicks Stellungnahme zu den synthetischen Urteilen a priori, deren Existenz Schlick entschieden ablehnt. Er weist darauf hin, dass für Kant das Vorhandensein einer a priori gültigen Wirklichkeitserkenntnis irrtümlicherweise als Faktum dastand (AE, S. 723). Schlick befasst sich mit der Geometrie, die für Kant ein Beispiel dieser Art der Erkenntnis war, und weist darauf hin, dass ihre Bestimmung der Eigenschaften des Raumes nicht auf einer apriorischen Anschauungsform beruhe, wovon Kant ausging, sondern durch eine begriffliche Konstruktion zustande komme (AE, S. 734). Der Anschauungsraum besitze keine allgemeingültige und notwendige Geometrie. „ Der geometrische Raum ist ein begriffliches Hilfsmittel zur Bezeichnung der Ordnung des Wirklichen; es gibt keine reine Anschauung von ihm und es gibt keine synthetische Sätze a priori über ihn “ (AE, S. 739). Auch Arithmetik und Zeit sind Schlick zufolge begriffliche Konstruktionen, nicht „ reine Anschauung “ (AE, S. 739ff.). Angewandt auf die Wirklichkeit erweist sich die Arithmetik als eine die Naturgesetze in eine 88 Wir werden dieses Thema alsbald noch ausführlicher betrachten. 98 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="113"?> möglichst einfache und bequeme Form bringende Konvention, deren Zweckmäßigkeit allein anhand der Erfahrung überprüft wird (AE, S. 742). Der Mensch sei nicht im Besitze der synthetischen Urteile a priori, eine apodiktisch gültige Wirklichkeitserkenntnis ist ihm überhaupt versagt (AE, S. 743). Im nächsten (39.) Paragraph diskutiert Schlick die Annahme von reinen Denkformen, Kategorien im Sinne Kants. Schlick stellt fest, dass keine Form des Denkens Wirklichkeit bestimmen (erzeugen) kann; gegebene Tatsachen werden dadurch erkannt, dass diesen Urteile eindeutig zugeordnet werden. Der folgenschwere Irrtum Kants und des Neukantianismus ’ bestehe darin, dass beide das Verhältnis vom Denken und Sein missverstanden haben. Schlick zufolge haben Denken und Erkennen bloß bezeichnenden (semiotischen) und keinen konstruktiven Charakter (AE, S. 746f.). Er kommt zu dem Schluss, dass es reine Denkformen im Sinne Kants, die uns einer apodiktisch gültigen Wirklichkeitserkenntnis versichern, nicht gibt. Am Ende seiner Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie stellt er fest: Nun bestand aber die letzte und einzige Möglichkeit strenger, allgemeingültiger Wirklichkeitserkenntnis darin, dass das Bewusstsein der Natur ihre Gesetze diktiert. Da diese Möglichkeit entschwunden ist, so sind wir jeder Hoffnung beraubt, im Erkennen des Wirklichen zu absoluter Sicherheit zu gelangen. Apodiktische Wahrheiten vom Wirklichen übersteigen die Kraft des menschlichen Erkenntnisvermögens und sind ihm nicht zugänglich. Es gibt keine synthetischen Urteile a priori. (AE, S. 782) Aus dieser Konklusion ergibt sich als drängende Frage die nach der Berechtigung einer Erkenntnis, die auf induktivem Wege gewonnen wird. Diese Diskussion führt Schlick im letzten, dem 41. Paragraphen seines Werks: „ Von der induktiven Erkenntnis “ . Zum Leben, zum Handeln und für die Wissenschaft brauchen wir allgemeine Sätze, gültige Prämissen, aus denen wir Schlusssätze deduktiv ableiten können (AE, S. 783). Das Resultat der letzten Betrachtungen war jedoch, dass wir die absolute Gültigkeit solcher empirisch (nicht begrifflich) gewonnen Sätze nicht behaupten dürfen. An dieser Stelle ergeben sich für Schlick drei Fragen: 1) Wie gelangen wir dahin, Sätze von wahrgenommenen Fällen auf nicht wahrgenommene zu übertragen? ; 2) Welcher Art ist die Geltung, die wir für dergleichen Sätze beanspruchen, da wir doch ihre absolute Gültigkeit nicht behaupten dürfen? ; 3) Mit welchem Recht machen wir diesen Anspruch? „ Diese 3 Fragen bilden das Problem der Induktion “ (ebd.). Im Zusammenhang dieser Fragen erörtert Schlick zunächst die Herkunft der Kausalvorstellung. Wie die Bildung der Raum- und der Zeitvorstellung habe auch die Entstehung der Kausalvorstellung subjektive Wurzeln, die durch die empirische Psychologie beschrieben werden können. Unsere Vorstellung der Kausalität sei ein Produkt der Gewöhnung durch Assoziationsvorgänge: das Erleben einer Anzahl gleichartiger Abläufe lässt den Glauben an das durchgehende Bestehen eines allgemeinen Gesetzes entstehen (AE, S. 785f.). Ein Kausalzusammenhang sei nichts anderes als ein 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 99 <?page no="114"?> Gewöhnungszusammenhang (AE, S. 788f.). Der übliche Sprachgebrauch hierfür ist der, dass induktive gewonnene Sätze nicht den Charakter der Gewissheit tragen, sondern nur wahrscheinlich seien (AE, S. 791). Alle unsere Wirklichkeitserkenntnisse seien also streng genommen Hypothesen (AE, S. 792). Keine wissenschaftliche Wahrheit, mag sie historischer Art sein oder der exaktesten Naturforschung angehören, macht davon eine Ausnahme, keine ist im Prinzip von der Gefahr sicher, irgendwann einmal widerlegt und ungültig zu werden. (AE, S. 792) Insbesondere können weder die Vernunft noch die Erfahrung den Beweis der Gültigkeit des Kausalsatzes liefern (AE, S. 802). Man finde aber im Leben eine Art praktischer Rechtfertigung dieses Satzes: [D]er praktische Glaube an den [Kausal]satz entsteht durch Assoziation, durch einen Instinkt, der das handelnde Leben in jedem Augenblicke durchdringt, beherrscht und erhält: die Resultate dieser fundamentalen Lebensfunktion sind für das Leben gültig, es gibt keine andere Art des Geltens für das Handeln. Und der Betrieb der Wissenschaft ist ja auch ein Handeln. Weil die Welt nach dem Kausalprinzip aufgebaut ist, muss alles Leben in dieser Welt jenem Instinkte unterworfen sein. (AE, S. 805) Schlick spricht in diesem Zusammenhang von der „ absolute[n] praktische[n] Sicherung der wahrscheinlichen Geltung allgemeiner Erfahrungsurteile “ (AE, S. 806). Am Ende seines Werkes schreibt er, dass die Gewinnung der Wirklichkeitserkenntnis den einzelnen Wissenschaften aufgegeben sei, die Erkenntnistheorie habe hingegen nur die Aufgabe, die Prinzipien und Bedingungen dieser Arbeit zu beleuchten. Von dem, was die Wissenschaften errungen haben, könne die Erkenntnistheorie „ nichts vernichten oder umwerfen oder verändern, sondern sie will es nur richtig deuten, seinen tiefsten Sinn aufdecken. Solche Deutung ist aber die letzte, höchste wissenschaftliche Aufgabe und wird es bleiben “ (AE, S. 809). Fazit Bereits an dieser Stelle scheint eines klar zu sein: Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre ist ein monumentales Werk, das für die Arbeit der Wissenschaft das erkenntnistheoretische Fundament im Sinne eines konsequenten Empirismus legen will. Schlicks Werk kann als ein Musterbeispiel eines klar durchdachten, systematisch ausgearbeiteten, konsistenten und überschaubaren philosophischen Werks gelten. Schlicks präzise Gedankenführung mit ihren klaren, scharfen und kühnen Konturen, die Stringenz und die Ausführlichkeit seiner Argumentation sind wohltuend. Wohltuend ist auch, dass sich Schlick sichtlich darum bemüht hat, auf alle möglichen Einwände des Lesers einzugehen und ihn wohlwollend, zugleich aber sicher und bestimmt durch die komplexen Landschaften seiner Vorstellungen zu führen. Dabei entsteht vor 100 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="115"?> unseren Augen ein philosophisches Gebäude von imponierenden Ausmaßen, das den Eindruck der Solidität und Zuverlässigkeit erweckt. Das Werk ist jedoch fraglos auch ein Versuch einer rationalen Begründung des Reduktionismus, des eliminativen Materialismus und der Hegemonie der Physik und der mathematisierenden Erkenntnis über alle anderen Erkenntnisformen. Schlick liefert scheinbar unschlagbare Argumente dafür, dass Erkenntnis nichts anderes sein könne als ein bloßes Wiedererkennen des Alten im Neuen; dass Intuition keine Erkenntnis sein könne, da Erkenntnis begrifflich sein müsse und sich in nicht in bloßer Anschauung erschöpfen dürfe; dass Begriffe bloße Zeichen für die Wirklichkeit seien, dass das wissenschaftliche Weltbild also nichts anderes darstelle als ein System von Zeichen, deren Präzision der impliziten Definitionen anhand der Axiome zu verdanken sei; dass das Ziel oder Ideal der wissenschaftlichen Erkenntnis darin bestehen müsse, ein Netzwerk von Axiomen und Begriffen zu erstellen, das sich an einigen wenigen Punkten mit der Wirklichkeit decke und ihr so entspreche, dass die übrige Deckung sich von allein ergebe; dass die Qualitäten auf Zahlenverhältnisse zu reduzieren, der „ Herrschaft der Zahl “ zu unterwerfen seien, was seine Begründung und Rechtfertigung darin habe, dass Wärme letztendlich nichts anderes sei als die Bewegung der Moleküle, Licht letztendlich nichts anderes als ein elektromagnetische Welle (bzw. ein Photonenstrom), Psychisches letztendlich nichts anderes als die Aktivität des Gehirns. Es überrascht deshalb nicht, dass die erste Auflage des Werks nach seiner Erscheinung eine lebhafte und wohlwollende Aufnahme „ durch das an einer den Naturwissenschaften zugewandten Philosophie interessierten Publikum “ erfuhr (AE, S. 83). Es wurde in zahlreichen Rezensionen besprochen, 89 die „ weitestgehend zustimmend oder kritisch konstruktiv “ waren (AE, S. 85). Es ergab sich eine umfangreiche Diskussion mit Reichenbach über manche Einzelfragen des Werks, die für die Ausarbeitung der 2. Auflage von Bedeutung war (AE, S. 103 - 113). Schlick schickte ein Exemplar des Buches u. a. an Albert Einstein, der ihm Mitte Oktober 1919 Folgendes schrieb: Morgen fahre ich nach Holland für 2 Wochen und habe als einzige Lektüre Ihre Erkenntnistheorie mitgenommen. Dies zum Beweis dafür, wie gern ich drin lese. Auch Born liebt Ihr Buch sehr. (AE, S. 84) Die wohlwollende Aufnahme durch Physiker überrascht nicht: Das Werk ist im Großen und Ganzen eine Hymne an die Vorzüge der Physik und ihrer Art der Erkenntnisgewinnung. Dennoch, vielleicht gerade weil seine Gedankenführung so präzise, ausführlich und konsequent (ohne Sprünge) ist, zeigen sich beim genaueren Betrachten deutliche Risse und Spalten in dem Gedankenbau und es kann aus heutiger Sicht nur erstaunen, dass sie nicht früher, nicht schon beim Erscheinen des Werks angesprochen und bemängelt wurden. Im Folgenden möchte 89 Für die Aufzählung vgl. AE, S. 85f. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 101 <?page no="116"?> ich einige dieser Probleme chronologisch, d. h. in der Reihenfolge ihres „ Auftauchens “ in Schlicks Argumentation behandeln. Diskussion des I. Teils 1) Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden 90 Bereits Schlicks erste zentrale Feststellung: Erkennen ist Wiederfinden des Bekannten im Neuen gibt zu Zweifeln Anlass. Er gewinnt diese Auffassung des Wesens der Erkenntnis zunächst in Bezug auf das Erkennen im Alltag - am einfachen Beispiel des Erkennens des eigenen Hundes in dem sich dem Betrachter schnell nähernden Objekt. Ich werde die entsprechende Stelle wörtlich zitieren, da sie sich kaum vereinfachen lässt: Ich gehe auf der Straße nach Hause; da gewahre ich in der Ferne ein bewegliches braunes Etwas. An seiner Bewegung, Größe und anderen kleinen Merkmalen erkenne ich, dass es ein Tier ist. Die Entfernung verringert sich, und es kommt schließlich ein Augenblick, in dem ich mit Sicherheit erkenne: ich habe einen Hund vor mir. Er kommt immer näher, und bald erkenne ich, dass es nicht bloß irgendein Hund ist, [. . .] sondern ein wohlbekannter, nämlich mein eigener, Tyras, oder wie er sonst heißen mag. (AE, S. 147) Aufgrund dieses und nur dieses einzigen Beispiels gelangt Schlick zu dem folgenschweren Schluss, dass Erkennen nicht mehr sei als Wiedererkennen: „ Allen drei Stufen dieses Erkennens ist gemeinsam, dass dabei ein Objekt wiedererkannt wird, dass in etwas Neuem etwas Altes wiedergefunden wird, so dass es nun mit einem vertrauten Namen bezeichnet werden kann “ (AE, S. 150). Später erweitert Schlick diese Feststellung auf das Gebiet des Erkennens in der Wissenschaft (§ 3, AE, S. 157). Nun, es ist unschwer einzusehen, dass das Wiedererkennen des bereits Bekannten in etwas Neuem voraussetzt, dass etwas eben bereits bekannt ist. Ich kann nicht Hans Müller in der Menschenmenge wiedererkennen, wenn ich nicht früher die Bekanntschaft mit Hans Müller gemacht habe. Die Frage ist also, wie ich Hans Müller erkannt habe. Nach Schlick müssten wir ihn als etwas bereits Bekanntes erkannt haben. Aber als was? Und wie ist dieser ursprüngliche Erkenntnisakt vonstatten gegangen? War es auch ein Wiedererkennen des Bekannten in dem Neuen? Stehen wir hier nicht vor einem unendlichen Regressus? Schlick ist sich dieser Gefahr bewusst und versucht ihr vorzubeugen, indem er für das wissenschaftliche Erkennen die Vermittlung durch die Begriffe postuliert, deren Bedeutung durch Definitionen festgelegt werden kann, wobei er - um eben den unendlichen Regressus zu vermeiden - voraussetzt, dass der Umfang der primitivsten Begriffe durch Anschauung festgelegt wird (heute 90 Vgl. AE, S. 233: „ Sagt jemand: ‚ ich erkenne A als B ‘ oder in anderer, gleichbedeutender Formulierung: ‚ ich erkenne, dass A B ist ‘ - z. B.: ich erkenne, dass das Licht ein Schwingungsvorgang ist - , so heißt das: die Begriffe A und B bezeichnen einen und denselben Gegenstand [. . .]. “ 102 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="117"?> würde man dazu ostensive Definition sagen) ( „ Die Merkmale, in die eine Definition den Begriff eines beliebigen wirklichen Gegenstandes auflöst, müssen in letzter Linie immer anschaulicher Natur sein “ [AE, S. 198]). Das mag zunächst überzeugend klingen, erweist sich jedoch bei genauerer Prüfung als problematisch. Erstens geht aus Schlicks Beispiel eindeutig hervor, dass bereits alltägliche Erkenntnis durch Begriffe vermittelt wird. Schlick selber schrieb, dass er „ das braune Etwas “ zunächst als ein Tier erkannt hatte. Es lässt sich schwerlich bestreiten, dass wir es hier bereits mit einem Begriff zu tun haben, dem eines Tieres. Die andere Möglichkeit wäre zu behaupten, dass wir es hier nicht mit einem Begriff, sondern einem Fall der „ Allgemeinvorstellung “ zu tun haben, einer Vorstellung also, „ die in unserem Denken nicht einen einzelnen, individuellen Gegenstand vertr[itt], sondern gleich eine ganze Klasse von Objekten “ (AE, S. 173). Diese Möglichkeit weist Schlick jedoch, meines Erachtens zu Recht, dezidiert zurück, mit dem Hinweis, dass es unmöglich sei, eine Vorstellung von einem Hund zu haben, der weder braun noch weiß, weder groß noch klein, weder Bernhardiner noch Neufundländer usw. ist (ebd.). Wenn wir es aber bereits hier mit einem Begriff (Tier) zu tun haben, stellt sich selbstverständlich die Frage, wie wir mit ihm bekannt werden? Schlick sagt nichts zu diesem Thema und in Bezug auf die Wissenschaft behauptet er, dass - wie bereits erwähnt - die Bedeutung der Begriffe durch Definitionen festgelegt wird. Ein solcher Weg ist jedoch, was das Alltagsleben angeht, sicher untauglich: Kinder lernen die Bedeutung der Begriffe bestimmt nicht anhand von Definitionen. Nun, man könnte hier einwenden, dass die Beantwortung dieser Frage für das Hauptthema von Schlicks Werk, und das ist die wissenschaftliche Erkenntnis, irrelevant sei, wobei man allerdings nicht vergessen darf, dass Schlick selbst zur Bestimmung des Erkenntnisbegriffs von dem Erkenntnisprozess im alltäglichen Leben ausgeht. Und dies ist richtig so, denn der Begriff wird im Alltagsleben gebraucht, und ohne gewichtige Gegenargumente ist davon auszugehen, dass die Bedeutung des Begriffs im wissenschaftlichen Kontext, wenn überhaupt, dann nur unwesentlich von der alltäglichen Bedeutung abweicht und sie allenfalls modifiziert. Wie gelangen wir also zur Erkenntnis der elementaren, alltäglichen Begriffe, einer Erkenntnis im Sinne einer Befähigung, „ das braune Etwas “ als einen Hund zu erkennen? Eine naheliegende Vermutung wäre, dass dies durch Ostension, also durch Zeigen bzw. Hinweisen geschehen kann. Wir wissen aber zumindest seit Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen 91 (§ 239 - 246), 92 dass ostensive Definitionen überhaupt nicht einfach zu vollbringen sind. Bereits das Hinweisen auf konkrete Gegenstände ist ein 91 Wittgenstein 1999 a. 92 Dieses Werk wurde allerdings erst 1953, also bereits nach Wittgensteins Tod veröffentlicht. In diesem Punkt kann man also Schlicks Zeitgenossen verzeihen, dass sie die Schwierigkeit nicht bemerkt haben. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 103 <?page no="118"?> keineswegs eindeutiger Akt. Wenn ich auf einen Apfel zeige und sage, „ Dies ist ein Apfel “ , dann ist meinem Kind nicht unbedingt klar, ob ich das ganze „ Ding “ meine oder vielleicht nur einen Teil davon oder einen Aspekt daran, z. B. die Farbe oder den Stiel oder vielleicht auch das Wurmloch. Ich erlaube mir hier eine kleine persönliche Anekdote, die das Problem sehr schön illustriert. Als mein erster Sohn klein war, wohnten wir in einer modernen Wohnung im ersten Stock. Das Wohnzimmer hatte ein sehr großes Fenster, das von dem Boden bis fast zu der Decke reichte und auf die Parkplätze vor dem Haus hinausging. Es war die Zeit, als mein Sohn seine ersten Worte lernte. Ich habe mich bemüht, ihm möglichst viele beizubringen. Unter ihnen waren auch „ Auto “ und „ Fenster “ . Nach einer gewissen Zeit intensiver Bemühungen habe ich mit Schrecken festgestellt, dass mein Sohn Autos mit dem Wort „ Fenster “ und Fenster mit dem Wort „ Auto “ bezeichnete! Der Ursprung der Verwechslung war leicht zu finden: wenn ich ihm Autos gezeigt habe, dann stets durch das große Fenster des Wohnzimmers. Ich habe also zugleich die Autos und das Fenster gezeigt und mein Sohn hat meine Intention falsch gedeutet. Inzwischen ist er glücklicherweise aus der Verwirrung herausgewachsen und der Vorfall scheint keine bleibenden Schäden hinterlassen zu haben. Nun, an dieser Stelle muss man sich die Frage stellen: Hat mein Sohn eigentlich falsche Begriffe gelernt oder bloß falsche Worte, falsche „ Namenschilder “ mit den richtigen Begriffen in Verbindung gebracht? Interessanterweise ist die Frage schwer zu beantworten, weil ich ihn damals (selbstverständlich) nicht gefragt habe, was er unter dem Wort „ Auto “ und was er unter dem Wort „ Fenster “ verstehe. Es ist jedoch zu vermuten, dass die Begriffe richtig waren, da er die falschen Bezeichnungen konsistent benutzte, also wirklich Autos als „ Fenster “ bezeichnete und umgekehrt. Das Zeigen bzw. Hinweisen ist also immer mehrdeutig. Nehmen wir an, ich zeige nur direkt auf stehende Autos und zwar in einer Art, welche die herumstehenden Gegenstände eindeutig ausschließt. Indem ich jedoch auf ein Auto zeige, zeige ich zwangsläufig zugleich auf Räder, Karosserie, Scheiben, Türen usw. usw. Wie soll die Person, an die sich das Zeigen richtet, wissen, welche von diesen Einheiten ich meine, indem ich „ Auto “ sage? Nun, sie kann raten, dass ich das ganze „ Ding “ meine, da ich keine Differenzierungen mache. Die Tür kann man öffnen, das Rad kann man separat zeigen, um es von der ganzen Gestalt abzusondern. Aber dann kommt der entscheidende Punkt: Wenn der Lehrling versteht, dass ich das ganze vor uns stehende „ Ding “ als „ Auto “ bezeichne, was für einen Begriff dieses Dinges bildet er sich dann eigentlich? Schlick zufolge muss er dieses „ Ding “ als etwas bereits Bekanntes wiedererkennen. Das Problem aber ist, dass er sich eben einen neuen Begriff bilden sollte. Diesen Schritt hat Schlick in seiner Erzählung vernachlässigt. Er war davon ausgegangen, dass er die Begriffe „ Tier “ , „ Hund “ , „ Tyras “ bereits hatte und das wahrgenommene „ Ding “ als zu der entsprechenden Klasse gehörend erkennen konnte (wobei die letzte Klasse nur ein Element beinhaltet). Die Frage ist jedoch, wie der Begriff 104 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="119"?> einer Klasse gebildet wird. Im Falle eines Autos muss man fähig sein, Unterscheidungen zwischen Motorrädern, Fahrrädern, Autos, Lastwagen, Bussen usw. zu treffen, im Falle eines Hundes vermutlich die zwischen Kühen, Pferden, Schweinen, Schafen, Hühnern, Gänsen, Enten, Katzen, Hunden usw. Man muss also die Fähigkeit haben, die für die Wahrnehmung doch ziemlich unterschiedlichen Objekte zusammenzubringen und sie zugleich von anderen Objekten, zu denen doch gewisse Ähnlichkeiten bestehen (neben Hunden haben auch Katzen, Pferde, Schafe, Kühe, Schweine usw. vier Beine), zu unterscheiden. Diese komplexe kognitive Fähigkeit, die keineswegs auf das Definieren oder Hinweisen reduziert werden kann, besitzen offensichtlich bereits kleine Kinder und dank dieser Fähigkeit können sie neue Begriffe bilden bzw. lernen. In der Tat, die neusten Untersuchungen belegen, dass bereits sechs Monate alte Säuglinge über gewisse einfache Begriffe verfügen (Bergelson und Swigley 2012). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die „ Gestalten “ , die sich in diesem Prozess bilden, keineswegs bloße Zusammensetzungen aus bestimmten Teilelementen sind. Das Auto wird nicht als ein Gebilde, das aus vier Rädern, einigen Türen, einigen Fenstern, einer Karoserie usw. besteht, verstanden, der Hund nicht als ein Lebewesen, dass sich aus vier Beinen, einem Rumpf, einem Kopf, zwei Ohren, einer Schnauze und einem Schwanz zusammensetzt. Wenn der Erwerb eines Begriffs eines äußeren Gegenstandes solche komplexe Prozesse voraussetzt, so muss man sich vorstellen, dass die Schwierigkeit exponentiell wächst, wenn es darum geht, Begriffe interner Zustände oder Empfindungen (Lust, Unlust, Freude, Trauer, Schmerz, aber auch Gedanke, Vorstellung, Begriff usw.) zu erwerben. Denn in solchem Fall haben wir mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass das mit dem entsprechenden Begriff gefasste Phänomen überhaupt nicht in einer hinweisenden Geste zugänglich ist. Und doch sind wir auch in diesem Fall durchaus fähig, entsprechende Begriffe zu bilden. Wie ist das überhaupt möglich? Die Möglichkeit, Begriffe der internen oder psychischen Zustände zu bilden, deutet darauf hin, dass die Prozesse, durch die es im Falle der äußeren Gegenstände/ Phänomene zur Begriffsbildung kommt, den Prozessen jener Begriffsbildung ähnlich sind. Es ist nicht auszuschließen, dass das Hinweisen bei der Begriffsbildung allgemein eine höchstens untergeordnete Rolle spielt, dass wir in die Irre gehen, wenn wir annehmen, dass es hier von zentraler Bedeutung ist. In der Tat muss uns schon der Umstand vorsichtig machen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Eltern eines Kindes ihm die Begriffe durch stetiges Aufzeigen beibringen, und viel wahrscheinlicher, dass das Kind sie irgendwie „ aus der Luft “ , aus den Gesprächen, denen es beiwohnt, „ aufschnappt “ . Welches sind also die Mechanismen, die zum Erlernen von elementaren Begriffen führen? Wir müssen hier nicht die endgültige Antwort auf diese wichtige Frage liefern. Für unseren Kontext ist lediglich die Frage entscheidend, ob das Erkennen tatsächlich immer ein Wiedererkennen des Alten im Neuen 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 105 <?page no="120"?> bedeutet, wie Schlick behauptet. Denn diese Behauptung wird, wie wir noch sehen werden, innerhalb seines Systems gewichtige Konsequenzen haben. Mir scheint, dass die obigen Beispiele bereits ausreichen, um Schlicks Behauptung in Zweifel zu ziehen. Betrachten wir das Problem aber noch genauer. Wir können das am Beispiel des Erkennens einer Person tun. Dafür genügt es, Schlicks Beispiel mit seinem Hund Tyras ein wenig auszudehnen. Nehmen wir an, dass wir auf der Straße unseren Freund Hans Müller oder unsere Freundin Greta Muschg wiedererkennen. Der Akt des Wiedererkennen ist verhältnismäßig einfach zu verstehen: wir sehen die bekannten Gesichtszüge oder den bekannten Gang, oder vielleicht hören wir die bekannte Stimme (Das dies keineswegs einfache kognitive Leistungen sind, hat man erst jüngst zur Kenntnis nehmen müssen, als man realisierte, wie schwer es ist, Computern beizubringen, Gesichter oder die Stimme zu erkennen.) Was heißt es aber, Hans Müller bzw. Greta Muschg zu kennen? Besteht unsere Bekanntschaft mit diesen Menschen tatsächlich darin, dass wir sie unter bereits bekannte Begriffe subsumieren? Dies scheint nicht der Fall zu sein. Hans Müller oder Greta Muschg sind für uns nicht in erster Linie Exemplare einer Gattung (Mensch, Mann, Frau), sondern eigenständige und individuelle Persönlichkeiten. Es ist zweifelsohne wahr, dass wir an ihnen bekannte Elemente wiedererkennen: Gesicht, Hände, Füße, Kleider usw., wir erkennen in ihnen auch Persönlichkeitseigenschaften, die wir vielleicht bereits an anderen Menschen erkannt haben (obschon sie hoffentlich auch Eigenschaften aufweisen, die ihnen genuin eigentümlich sind). Man könnte deshalb postulieren, dass wir uns den Begriff unseres Freundes Hans Müller und den unserer Freundin Greta Muschg als eine Art komplexe Kreuzung oder Mischung ihrer entsprechenden körperlichen und seelischen Eigenschaften bilden. Wir sehen sie als Träger gewisser Eigenschaften, die wir bereits woanders kennengelernt haben. An dieser Stelle haben wir aber drei Probleme: 1) Schlick bestreitet vehement, dass wir die Gegenstände als „ Träger der Eigenschaften “ verstehen; 2) Ist der Mensch für uns tatsächlich bloß eine Summe der Eigenschaften? ; 3) Ist man berechtigt anzunehmen, dass wir den Begriff oder die Idee eines uns gut bekannten Menschen aus diesen Einzelheiten konstruieren? Wenn ja, dann müsste sich, wenn sich die Eigenschaften ändern, wir z. B. eine neue Eigenschaft entdecken, auch der Mensch ändern. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Ist es nicht plausibler, sich den Vorgang so vorzustellen, dass wir von dem Begriff der Individualität ausgehen und ihn entsprechend unserer Erfahrungen sukzessiv anreichern und ausgestalten? In diesem Zusammenhang mag der Hinweis angebracht sein, dass - soweit wir das beurteilen können - die ersten Begriffe, die ein Kind beherrscht, keineswegs die Begriffe der Sinnesqualitäten (Blau, warm usw.) sind, sondern vielmehr die von Mutter und Vater (zumindest sind dies für gewöhnlich die ersten Wörter, die das Kind sprechen lernt), also recht komplexer „ Gestalten “ , an welchen erst in einem späteren Stadium die 106 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="121"?> Einzelheiten (Augen, Nase, Hände usw.) ausdifferenziert werden. Jeder Mensch ist einzigartig, ein unwiederholbares Individuum, anders als alle andere, eine völlig neue Gestalt. Einen Menschen zu erkennen, ist ein langer Prozess. Ihn erkennen heißt nicht, ihn als etwas Altes zu erkennen, sondern genau als eine einzigartige, völlig individuelle Persönlichkeit. Demnach scheint man nicht sagen zu dürfen, dass alles Erkennen im gewöhnlichen Leben bloß ein Wiedererkennen des Alten im Neuen sei. Aber vielleicht wollte Schlick lediglich behaupten, dass der Aufbau der Begriffe aus einfachsten „ Bausteinen “ der Wahrnehmungsqualitäten charakteristisch nicht für die Verhältnisse des Alltagslebens, sondern für die strenge Begriffsbildung der Wissenschaften ist? Wenn ja, dann wäre er uns allemal die Erklärung schuldig, wie das Alltagserkennen zustande kommt, denn seine Erklärung, dass dies nichts anderes sei als Wiedererkennen, erweist sich als untauglich. Schauen wir uns aber genauer an, wie sich der Erkenntnisprozess in der Wissenschaft vollzieht. Entspricht er dort tatsächlich Schlicks Vorstellungen? Schlick gibt u. a. das Beispiel des Erkennens eines Metalls als Silber (AE, S. 195 f). Er schreibt: Wenn man mir ein Stück Metall in die Hand gibt, so werde ich nicht erkennen können, ob es etwa reines Silber ist oder nicht, solange ich auf die Wahrnehmungen angewiesen bin, die ich durch blosses Ansehen oder Betasten des Stückes gewinne. Denn die Erinnerungsvorstellungen, die ich vom Silber habe, sind nicht scharf genug, um sich deutlich von den Vorstellungen ähnlicher Metalle, etwa des Zinns oder gewisser Legierungen, zu unterscheiden. Ganz anders jedoch, wenn ich den wissenschaftlichen Begriff des Silbers zu Hilfe nehme. Dann ist es definiert als ein Stoff vom spezifischen Gewicht 10,5, vom Atomgewicht 108, von bestimmter elektrischer Leitfähigkeit usw. [. . .] (AE, S. 194 - 196) Das alles ist sicher richtig, die Frage ist aber, wie wir dazu gekommen sind, diese (und viele andere) Einzelheiten über die Eigenschaften dem Silber zuzuschreiben? Es gab nämlich eine Zeit, als die Menschen keine Ahnung davon hatten, dass das spezifische Gewicht des Silbers 10,5 G/ cm 3 beträgt (heute wird sie mit 10,49 bei 20°C angegeben), das Atomgewicht des Silbers 108 (heute wird sie übrigens mit 107,8682 angegeben) und das Silber ein elektrischer Leiter ist. Und dennoch, die damaligen Menschen erkannten Silber richtig als Silber. Wie machten sie das? Es ist doch offensichtlich, dass man zuerst etwas als eine besondere Substanz, eine „ Gattung “ für sich erkennen muss, um dann die Eigenschaften dieser Substanz allmählich erkennen zu können, und nicht umgekehrt. Also hier auch scheint es wie im Falle von Hans Müller oder Greta Muschg (oder Mutter und Vater), dass die Identifizierung einer neuartigen „ Gestalt “ im Vordergrund steht, einer Gestalt, die keineswegs als etwas bereits Bekanntes identifiziert wird, sondern eben als etwas Neues entdeckt. Wie kommt es zu einer solchen Entdeckung? Es ist sicher nicht einfach, den Prozess der Entdeckung des Silbers als Silber oder die des Goldes als Gold usw. zu rekonstruieren, weil diese Entdeckungen zu weit zurückliegen, 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 107 <?page no="122"?> als dass wir uns gesicherte Vorstellungen bzw. Erkenntnisse über sie bilden könnten. Wir können jedoch ziemlich genau nachvollziehen, wie es zur Entdeckung der sog. Elementarpartikel gekommen ist, denn diese Entdeckung ist relativ jungen Datums und verhältnismäßig gut dokumentiert. Schauen wir uns die Geschichte der Entdeckung des Elektrons an, die Schlicks sicher gut bekannt war. Im Jahr 1897 wollte J. J. Thompson, ein Professor für Physik an der Universität von Cambridge, Genaueres über die damals bereits bekannte sog. Kathodenstrahlen in Erfahrung bringen. Man wusste, dass, wenn man in einem Glasbehälter, aus dem die Luft herausgepumpt worden war, zwei Metallplatten in einer gewissen Entfernung voneinander anbringt und diese Platten mit einer ausreichend großen Spannung elektrisch lädt, die eine positiv, die andere negativ, gewisse „ Strahlen “ von der negativ zu der positiv geladenen Platte fließen werden. Da die negative Platte üblicherweise als Kathode bezeichnet wurde (die positive als Anode), nannte man diese Strahlen „ Kathodestrahlen “ . Thompson und seine Zeitgenossen wussten, dass die Kathodenstrahlen, wenngleich sie normalerweise den geraden Weg von einer Platte zur anderen nahmen, durch magnetische Felder gebeugt werden konnten. Durch Messungen solcher Beugungen gelangte Thompson zu dem Schluss, dass die „ Strahlen “ aus negativ geladenen Teilchen bestanden. Er konnte auch das Verhältnis der Masse dieses Teilchens zu seiner Ladung bestimmen. Dieses erwies sich als mindestens 1000 Mal kleiner als das entsprechende Verhältnis eines Wasserstoffions (also, wie wir es heute wissen, eines Protons). Thompson folgerte, dass dieser gewaltige Unterschied entweder auf die geringe Masse der Teilchen oder auf die von ihnen getragene große Ladung oder auf die Kombination beider zurückzuführen ist. Da jedoch die „ Kathodenstrahlen “ ohne Weiteres verdünntes Gas durchdringen konnten, folgerte er zu Recht, dass sie unmöglich eine große Ladung tragen können, also eine kleine Masse haben müssen verglichen mit der Masse eines Atoms. Thompsons Messungen und Schlussfolgerungen werden als die Entdeckung des Elektrons erachtet (Ford 2004, S. 30 f). Nun kann diese Geschichte von Schlicks Auffassung des Wesens der Erkenntnis her auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden. Der einen Deutung nach bestätigt sie diese Auffassung: Elektronen wurden als Teilchen erkannt und der Begriff des Teilchen war selbstverständlich bereits damals bekannt. Der anderen Deutung nach ist das, was hier im Vordergrund steht, nicht die Tatsache, dass Elektronen als Teilchen erkannt wurden, sondern, dass eine völlig neue Art von Teilchen, die sich als fast unvorstellbar klein erwiesen habe, entdeckt wurde. Welche Deutung ist nun die richtige? Wenden wir unseren Blick an dieser Stelle nochmals auf die alltägliche Erkenntnis zurück. Ich sehe vor mir mehrere Bäume: eine Birke, eine Eiche, eine Kastanie und eine Buche. Ich weiß, dass es sich bei ihnen allen eben um Bäume handelt. Ich weiß auch, dass sie genauso wie das Gras, das um sie herum wächst, und die kleinen Löwenzahnblumen, die im Gras sichtbar sind, Pflanzen sind. Nun kann man sich die Frage stellen: Bedeutet es einen Erkenntniszuwachs, wenn 108 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="123"?> ich von den Einzelheiten der Birke, Eiche, Kastanie usw. abstrahiere und sie alle pauschal als Bäume oder sogar als Pflanzen betrachte, oder bedeutet dies einen Erkenntnisverlust? Ich glaube, diese Frage lässt sich recht leicht beantworten: meine Erkenntnis der Birke als Birke beinhaltet alle die Eigenschaften dieses Baumes, kraft welcher er eben als ein Baum oder als eine Pflanze bezeichnet werden kann, ich gewinne aber substanziell mehr an Erkenntnis dieses Baumes, wenn ich diesen allgemeinen Eigenschaften auch jene beifüge, die nur der Birke, nicht aber der Eiche usw. zukommen. 93 Das Gleiche lässt sich über die Erkenntnis eines konkreten Menschen sagen: Wenn ich Hans Müller oder Greta Muschg bloß als Menschen bezeichne, ist meine Erkenntnis dieser Personen nur sehr allgemein und abstrakt. Ich kenne sie als Individualitäten noch überhaupt nicht. Wenn ich weiß, dass die eine Person ein Mann, die andere eine Frau ist, dann weiß ich schon ein wenig mehr über sie, wenn auch noch nicht allzu viel. Meine Erkenntnis wächst, nicht indem ich sie auf die möglichst allgemeinen Begriffe, unter die sie subsumiert werden können, zurückführe, sondern indem ich immer mehr Einzelheiten über sie in Erfahrung bringe und insbesondere an ihnen Eigenschaften entdecke, die für jede dieser Personen einzigartig und vielleicht - in ihrer Ausprägung oder Kombination - gar nicht replizierbar sind, d. h. keiner anderer Persönlichkeit zukommen. Die Beobachtung des Prozesses des Spracherwerbs bei Kindern legt die Vermutung nahe, dass sich dieser weder von den abstrakten „ Sinnesqualitäten “ (Blau, Warm usw.) in Richtung auf die Gegenstände noch von den abstrakten Begriffen (Mensch, Substanz, Kraft) in Richtung auf die konkreten Objekte vollzieht, sondern vielmehr gleichsam von der Mitte aus, von den konkreten Individualitäten aus (Mutter, Vater usw.) in Richtung auf die beiden begrifflichen Extreme (abstrakte Sinnesqualitäten, abstrakte Begriffe). In jedem Fall erscheint das Erkennen vor dem Hintergrund dieser Analyse keineswegs als eine Rückführung des Neuen auf das Alte, sondern vielmehr als eine Ergänzung des Alten durch neuartige Elemente bzw. Eigenschaften. Warum ist Schlick dann zu seinen ganz anderes lautenden und doch einigermaßen kontraintuitiven Schlüssen gekommen? Wenn man seine Vorgehensweise beleuchtet, fällt auf, dass er als sein paradigmatisches Beispiel des Erkennens einen paradigmatischen Fall der Wiedererkennung gewählt hat. „ Das braune Etwas “ als den eigenen Hund Tyras zu erkennen, ist eigentlich eine ungenaue Beschreibung der Sachlage, unabhängig davon, dass die deutsche Sprache einen solchen Gebrauch der Sprache durchaus zulässt. (Interessanterweise würde man im Englischen an dieser Stelle eindeutig von „ recognising “ und nicht von „ knowing “ des Hundes sprechen; auf Polnisch würde man sagen: „ ja rozpoznaje w tym zwierzeciu mego psa “ , nie „ ja 93 Es ist eine in der Logik wohlbekannte Tatsache, dass die Begriffe, je allgemeiner sie werden, desto mehr an Umfang (an der Zahl der unter sie „ fallenden “ Objekte bzw. Token) gewinnen, jedoch an ihrem Inhalt verlieren. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 109 <?page no="124"?> poznaje w tym zwierzeciu . . . “ ). Ich kannte Tyras schon als meinen Hund mit seinen individuellen Eigenschaften, bevor ich ihn in dem „ braunen Etwas “ wiedererkennen konnte. Das Gleiche trifft selbstverständlich auf die Wiedererkennung von Hans Müller oder Greta Muschg in einer Menschenmenge zu. Ich hätte sie nicht wiedererkennen können, wenn ich sie nicht früher bereits (gut) gekannt hätte. Das Verheerende an Schlicks Vorgehensweise ist, dass er nicht nur das Beispiel radikal falsch wählt, sondern dass er sich grundsätzlich mit diesem einen Beispiel begnügt und dann seine irreführenden Schlussfolgerungen auf alle Situationen verallgemeinert. Insbesondere führt er gerne die Reduktion des Lichts auf „ elektromagnetische Wellen “ als Beispiel für den wissenschaftlichen Erkennungsprozess an (AE, S. 154f., 233, 236, 247, 622). Seiner Ansicht nach haben wir „ das Wesen “ des Lichts erkannt, indem wir es auf solche Wellen zurückgeführt haben. Dies mag eine korrekte Beschreibung des Erkenntnisprozesses des Lichts im Sinne seiner Theorie sein, in Rücksicht auf das oben Gesagte aber muss man die Frage stellen, ob wir bei diesem Fall der Reduktion des Einen (des Lichts) auf das Andere (die elektromagnetischen Wellen) nicht von einem ähnlichen Erkenntnisverlust sprechen müssen, den wir bei der Rückführung der Birke auf den Begriff „ Baum “ festgestellt haben. Übrigens, wenn Erkennen tatsächlich Zurückführen das Neuen auf das bereits Bekannte ist, wie Schlick behauptet, muss man sich die Frage stellen, warum man eigentlich das Licht auf die elektromagnetischen Wellen zurückführen sollte und nicht umgekehrt. Licht ist uns sehr viel mehr bekannt als die elektromagnetischen Wellen, also sollte man sie im Sinne Schlicks auf das Licht „ reduzieren “ , und nicht umgekehrt. Ich habe oben von der Entdeckung des Elektrons gesprochen. Lassen Sie mich diesen Abschnitt mit dem Hinweis abschließen, dass bereits die Existenz dieses Begriffs Schlick in Bezug auf seine Ansichten hätte „ stutzig “ machen sollen. Denn eine Entdeckung scheint selbstverständlich einen Erkenntniszuwachs zu bedeuten. Und zugleich deutet dieses Wort unzweifelhaft darauf hin, dass das Entdeckte etwas Neuartiges ist, etwas, das früher nicht da gewesen ist. Entdecken lässt sich nicht auf das bereits Bekannte reduzieren. Aber wenn dies der Fall ist, dann kann alles Erkennen unmöglich eine solche Reduktion bzw. ein solches Zurückführen sein. (Wie werden zu dem Problem der Entdeckung in Bezug auf die Begriffe später zurückkehren). 2) Ihre Natur besteht ja darin Zeichen zu sein 94 Betrachten wir jetzt einen weiteren wichtigen Eckpfeiler von Schlicks System: seine Behauptung, dass die Begriffe nichts anderes sind als Zeichen, die man einigermaßen willkürlich an die Stelle der durch sie bezeichneten Gegenstände setzt. Wie oben summarisch dargestellt, erreicht Schlick diese Behauptung auf folgendem Wege: Unsere Vorstellungen sind zwangsläufig unscharf 94 AE, S. 179, 180, 184, 191. 110 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="125"?> und unstetig, und je weiter zurück eine Wahrnehmung liegt, der eine bestimmte Vorstellung entspricht, desto unschärfer ist die Vorstellung, die ihr entspricht. Unsere Erkenntnis soll jedoch zuverlässig und präzise sein. Dies lässt sich anhand der Vorstellungen nicht erreichen. Der Mensch hilft sich mit Blick auf sein Ziel, zuverlässige Erkenntnis möglich zu machen, indem er an die Stelle der Vorstellungen Begriffe setzt, die sich von den „ anschaulichen “ Vorstellungen dadurch unterscheiden, dass sie vollkommen bestimmt sind und „ nichts Schwankendes “ an sich haben (AE, S. 178). Diese Eigenschaft der Begriffe wird dadurch erreicht, dass ihr Inhalt mittels Definitionen festlegt wird: „ Durch die Definition sucht man also das zu erreichen, was man in der Wirklichkeit der Vorstellungen niemals vorfindet, aber zum wissenschaftlichen Erkennen notwendig gebraucht, nämlich absolute Konstanz und Bestimmtheit “ (AE, S. 180). „ Wir schalten mit den Begriffen so, als ob es Vorstellungen mit völlig genau umrissenen Eigenschaften wären, die sich stets mit absoluter Sicherheit wiedererkennen lassen “ (AE, S. 179). Es folgt aus dieser Bestimmung des Wesens der Begriffe zwingend, dass sie nichts Wirkliches sind, „ weder reale Gebilde im Bewusstsein des Denkenden, noch gar (wie es die Meinung des ‚ Realismus ‘ im Mittelalter war) irgend etwas Wirkliches an den realen Objekten, die durch sie bezeichnet werden. Es gibt streng genommen überhaupt keine Begriffe, wohl aber gibt es eine begriffliche Funktion [. . .]. “ (AE, S. 184f.). 95 Begriffe sind nichts als Zeichen für die Gegenstände, die unter sie „ fallen “ (AE, S. 188, 239), man kann sie sogar mit den Nummern vergleichen, durch die wir die Bücher, die in einer Bibliothek vorhanden sind, im Katalog repräsentieren (AE, S. 253). Sind Begriffe tatsächlich das, wofür sie Schlick hält? Erstens mag es überraschen, dass er von der begrifflichen Erkenntnis erst im Kontext der wissenschaftlichen Erkenntnis spricht und so den Anschein erweckt, als spielten Begriffe in der Alltagserkenntnis überhaupt keine Rolle. Eine solche Behauptung lässt sich sehr schwer mit unserer Erfahrung vereinbaren (wir haben bereits gesehen, dass wir, wie Schlick selber sagt, im Alltagsleben Begriffe verwenden, z. B. „ Hund “ ), sie lässt sich aber auch schwer mit Schlicks eigenem Gedankengang in Einklang bringen. Denn wie wir gesehen haben, behauptet er, dass das Erkennen ein Wiederfinden des Bekannten im Neuen und „ alles Wiederfinden [. . .] ein Gleichsetzen dessen [ist], was erkannt wird, mit dem, als was es erkannt wird “ (AE, S. 166). Er weist dann zu Recht darauf hin, dass ein Wiederfinden ein Vergleichen (des Neuen mit dem Alten) 95 Überraschenderweise erklärt Schlick nicht, was er mit dieser Funktion meint. Die Herausgeber der AE führen diesen Ausdruck auf die folgenden Ausführungen Ernst Cassirers in Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik zurück: „ Aber je mehr der Begriff gleichsam von allem dinglichen Sein entleert wird, um so mehr tritt auf der andern Seite seine eigentümliche funktionale Leistung hervor. Die festen Eigenschaften werden durch allgemeine Regeln ersetzt, die uns eine Gesamtreihe möglicher Bestimmungen mit einem Blick überschauen lassen “ (S. 29), zitiert in AE, Fußnote 79, S. 185. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 111 <?page no="126"?> voraussetzt, und stellt - wieder zu Recht - fest, dass ein solches Vergleichen im Falle von verschwommenen, unscharfen Vorstellungen nur mit großen Schwierigkeiten zu bewerkstelligen ist. Die Aufgabe gestalte sich insbesondere dann schwierig, wenn man die Zuordnung eines Exemplars ( „ das braune Etwas “ ) zu einer Klasse ( „ Hund “ ) vollziehen soll, denn in diesem Fall müsste man die Vorstellung des Einzelexemplars mit der Vorstellung der ganzen Klasse vergleichen, es gibt aber überhaupt keine allgemeinen Vorstellungen (AE, S. 174). Schlick überwindet diese offensichtliche und tiefe Schwierigkeit mit der unbekümmerten Feststellung, dass ein Erkennen im alltäglichen Leben eben doch „ auf diese Weise zustande kommt und praktisch ausreichende Sicherheit besitzt “ (AE, S. 171). Später heißt es bei ihm in Bezug auf die Zuordnung eines Exemplars zu einer Klasse: „ Die Erfahrung lehrt auch hier, dass es [Vergleichen und Gleichfinden] tatsächlich möglich ist und zwar mit einem Grade der Sicherheit, der für die Fälle des täglichen Lebens fast immer ausreicht, aber doch auch schon hier manchmal zu Irrtümern führt “ (AE, S. 176). Nun, dies mag erstaunen angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, die sich in diesem Zusammenhang ergeben dürften, wie Schlick selbst einräumt. Wie erklärt er denn diese unsere merkwürdige und in Anbetracht der Tatsache, dass wir über keine allgemeinen Vorstellungen verfügen, sogar fast wundersame Fähigkeit? Nun, dazu findet sich bei ihm Folgendes: Im allgemeinen werde ich einen Hund ganz richtig als Hund erkennen, indem das Wahrnehmungsbild [des braunen Etwas] in genügendem Grade übereinstimmt mit irgendwelchen Vorstellungen von Tieren, die ich irgend einmal gesehen habe und als Hunde bezeichnen lernte. 96 (AE, S. 176) Schlicks Unbekümmertheit an dieser Stelle ist erstaunlich. Zunächst ist nicht klar, wie ich mein gegenwärtiges Wahrnehmungsbild mit irgendeiner Vorstellung vergleichen kann. Denn man muss sich die Frage stellen, ob ich, während ich „ das braune Etwas “ wahrnehme, überhaupt eine Vorstellung „ nebenher “ habe. Normalerweise bilden wir, genauer gesagt, vergegenwärtigen wir uns unsere Vorstellungen, wenn wir nichts wahrnehmen, sondern mit geschlossenen Augen in Ruhe irgendwo sitzen. Es ist überhaupt nicht einfach, obschon nicht unmöglich, eine konkrete, gut konturierte Vorstellung parallel zu einer gegenwärtigen Wahrnehmung, die doch stark auf uns einwirkt, zu haben. Zweitens, wenn ich mir eine Vorstellung ins Gedächtnis „ rufen “ soll, dann muss man die Frage stellen, welche? Ich habe nämlich unendlich viele Vorstellungen zur Verfügung. Eine oberflächliche Antwort auf diese Frage würde lauten, selbstverständlich alle diese Vorstellungen, die dem gegenwärtigen Wahrnehmungsbild ähneln. Das Problem ist nur, solange ich die Vorstellung nicht habe, kann ich sie nicht mit der Wahrnehmung 96 Man beachte, dass Schlick an dieser Stelle bemüht ist zu vermeiden, vom Begriff des Hundes zu reden. Deshalb erfolgt der Vergleich seiner Meinung nach nicht mit dem Begriff, sondern mit „ irgendwelchen Vorstellungen “ von Hunden. 112 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="127"?> vergleichen, und wenn sie bloß in meinem Gedächtnis „ gespeichert “ ist, so „ habe “ ich sie nicht gegenwärtig. Ich müsste einen unbewussten Prozess voraussetzen, der ähnlich der Suchfunktion eines Computers die „ Festplatte “ meines Gedächtnisses „ scannt “ , um die Ähnlichkeit von etwas, das dort „ gespeichert “ ist, mit der gegenwärtigen Wahrnehmung festzustellen. Man kann sich einen solchen Prozess vorstellen, dieser aber wäre von mir, von meinem Bewusstsein und meiner bewussten Anstrengung unabhängig. Damit aber sind wir noch nicht am Ende der Schwierigkeiten. Was würde „ vergleichen “ konkret heißen? Man müsste „ Dinge “ vergleichen, die sich womöglich kaum, wenn überhaupt vergleichen lassen. Anhand welcher Kriterien aber entscheiden wir (oder entscheidet der postulierte Mechanismus), was ähnlich ist und was nicht? Schlick schreibt, dass die gegenwärtige Wahrnehmung mit eben jenen meiner Erfahrungsvorstellungen verbunden wird, die „ in genügendem Grade “ mit ihr übereinstimmen (und die damals, als sie gebildet worden sind, den Wahrnehmungen entsprachen, die ich als „ Hund “ bezeichnet habe.) Wie kann ich die gegenwärtige Wahrnehmung mit den „ gespeicherten “ Vorstellungen vergleichen? Warum? Ist es so, dass ich mir sage (im Bruchteil einer Sekunde): „ Sicher kein Baum, sicher kein Auto, sicher kein Flugzeug, sicher keine Blume, sicher nicht Greta Muschg “ usw.? Vermutlich benutze ich, um solche unbewusste Entscheidungen zu treffen, irgendwelche Kriterien, z. B.: „ Es bewegt sich, also sicher kein Baum, keine Blume “ , ferner: „ Es ist klein, also sicher kein Auto oder Flugzeug “ , vielleicht ferner „ Es hat vier Beine, also sicher nicht Greta Muschg “ . Man kann sich auch eine „ positive “ Suchmethode vorstellen: „ Es ist klein, es bewegt sich, es hat vier Beine, es ist braun, was kann es sein? “ Bereits die Feststellung, dass es unter den kleinen Tieren zu suchen ist, ist keineswegs selbstverständlich und dazu ist sie nicht sonderlich scharf umrissen (was heißt „ kleines Tier “ ? ). Wenn wir dazu noch ein zweites Kriterium hinzufügen: unter den vierbeinigen Tieren zu suchen, dann haben wir gewaltige Schwierigkeiten. Denn was ist ein Bein? Die Beinformen verschiedener Tiere unterscheiden sich bekanntlich gewaltig voneinander, was ist ihnen allen eigentlich gemeinsam? Und woran erkenne ich aus der Entfernung und möglicherweise bei schlechter Sicht, dass „ das braune Etwas “ überhaupt Beine hat? Dieses Problem führt uns schließlich zu dem tiefsten Rätsel: Schlick schrieb sorglos, dass wir das Wahrnehmungsbild „ des braunen Etwas “ mit „ irgendwelchen Vorstellungen von Tieren, die ich irgend einmal gesehen habe und als Hunde bezeichnen lernte “ vergleichen. Welche „ irgendwelche Vorstellungen “ von Hunden meint er? Ich kann nur konkrete Vorstellungen haben, die sind nie miteinander identisch, es muss also etwas vorhanden sein, dass diese unterschiedlichen Vorstellungen (wie die unterschiedlichen Vorstellungen von unterschiedlichen Beinen) miteinander vereint, so dass ich sagen kann: „ Vorstellung V 1 bis Vorstellung V n sind alle Vorstellungen von Hunden “ , und kraft dessen ich allen diesen Vorstellungen das Etikett „ Hund “ „ aufkleben “ kann. Normalerweise würden wir diese Funktion dem Begriff 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 113 <?page no="128"?> überlassen, Schlick will jedoch den Begriff des Begriffs nur für die wissenschaftliche Erkenntnis reservieren und sie als per Definition festgelegt betrachten. Mir scheint aber, dass die genauere Analyse, deren Konturen ich oben angedeutet habe, ergibt, dass auch im Alltagsleben kein Wiedererkennen und auch kein Erkennen ohne Begriffe zustande kommen kann. Dieser Befund hat aber gravierende Folgen für Schlicks Position. Denn weil an der Feststellung kein Weg vorbeiführt, dass wir im Alltagsleben bestens ohne Definitionen auskommen (wer hat je versucht, den Tisch oder die Kuh zu definieren? ! ), muss es zwangsläufig Begriffe geben, die nicht durch Definitionen festgelegt sind. Man könnte meinen, dass dies kein sonderliches Problem darstelle, schließlich ließe sich die Bedeutung der Alltagsbegriffe stets durch Hinweisen verdeutlichen bzw. festlegen. Wir haben aber bereits gesehen, dass ein solcher Ausweg keiner ist: der Begriff muss bereits da sein, um einen Gegenstand als ein Beispiel (eine mögliche konkrete Realisierung, ein Token) dieses Begriffs erkennen zu können. Darüber hinaus ist überhaupt nicht einsichtig, wie man auf solchem Wege die Begriffe der „ internen “ psychischen Zustände und Phänomene oder auch abstrakte Begriffe (Liebe, Frieden, Gerechtigkeit, Gedanke usw.) „ definieren “ könnte. Wenn sie aber nicht durch Definition und nicht durch Hinweisen festgelegt werden, wie entstehen sie dann überhaupt? Heutzutage denkt man sich das für gewöhnlich ungefähr folgendermaßen: vor sehr, sehr langer Zeit realisierte irgendein Neandertaler, dass das, was er gerade in der Hand hielt, und das, was er am Tag zuvor in der Hand gehalten hatte (und was mit dem Ding von heute nicht identisch war), eigentlich gleich sei, das gleiche Ding, nämlich eine Keule. Unser Neandertaler freute sich sehr, diese Entdeckung machen zu können, und brach umgehend auf, weil er sie seinen Kameraden in der Höhle beibringen wollte. Angekommen, legte er die beiden Gegenstände vor dem Lagefeuer nieder, zeigte auf sie und machte dabei jeweils Grunzgeräusche der gleichen Art, etwa „ Dies ist (hinweisende Geste) HrmHrm und dies ist (erneut eine hinweisende Geste, diesmal auf den anderen Gegenstand gerichtet) HrmHrm. Nach langem hin und her haben seine Höhlenkammeraden kapiert, dass er in den beiden offensichtlich unterschiedlichen Gegenständen das Gleiche erblickt. Haben sie auch verstanden, dass er in beiden Fällen eine Keule meinte? Kaum, sie sind wohl eher zu der Überzeugung gekommen, dass der Kerl ein Dummkopf und Depp sei, der zwei offensichtlich unterschiedliche Dinge nicht auseinanderhalten könne. Erst als er mit dem einen Gegenstand in der einen Hand und mit dem anderen in der anderen verzweifelt auf sie loszuschlagen anfing, ist ihnen eingefallen, dass die beiden sich ganz ähnlich benutzen lassen und also in einer gewissen Hinsicht doch eins sind. An dieser Stelle sind wir einer sehr wichtigen Entdeckung auf die Spur gekommen, denn wie ich sagte: Es ist den Höhlenkameraden unseres Neandertalers eingefallen, dass die beiden Gegenstände für den gleichen 114 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="129"?> Zweck gebraucht werden können. Dieser Moment ist sehr wichtig: es scheint wirklich so zu sein, dass das bloße Hinweisen unmöglich zum Erfassen eines neuen Begriffen führen kann. Es muss ihm etwas, gleichsam von innen her, entgegenkommen. Dieses Ereignis wird in der deutschen Sprache mit dem bildhaften Wort „ einfallen “ bezeichnet, als ob in einem solchen Moment etwas, gleichsam von oben, in den Menschen hineinfällt. Was aber ist dieses Etwas? Ist es zufälligerweise nicht eben der Begriff? Wir haben gesehen, dass er durch das Hinweisen nicht produziert werden kann. Wie ist er denn überhaupt entstanden? Wenn man die Schritte der obigen fiktiven Geschichte zurückverfolgt, kommt man zu dem Moment, wo unserer Neandertaler realisierte, dass zwei Gegenstände in einer gewissen Hinsicht eigentlich eins sind, nämlich Keule. Aber ist es nicht möglich, anstatt „ er realisierte “ , „ es ist ihm eingefallen “ zu sagen? War nicht der ursprüngliche Moment der Entdeckung der Gleichheit (gleicher Anwendungsmöglichkeit) auch ein Fall des Ein-Fallens? Aber wenn wir das so sehen können, dann ergibt sich selbstverständlich die Frage, von wo dieses Etwas (der Begriff) gleichsam herunter- und „ in den Kopf “ des Neandertalers hinein „ gefallen “ ist? Wir müssen dieser Frage hier nicht bis zu Ende nachgehen, an dieser Stelle genügt es uns festzuhalten, dass sich Schlicks Behauptung, die Grundbegriffe liegen gleichsam auf der Straße, man könne auf sie einfach hinweisen, als unbegründet und höchst zweifelhaft erweist. Es ist überhaupt interessant festzustellen, mit welcher Leichtigkeit Schlick die Möglichkeit zurückweist, dass die Begriffe Realitäten (im platonischen Sinne) sind. Er begründet seine Entscheidung eigentlich gar nicht, sondern stellt bloß thetisch fest, dass sie eben keine sind. Es mag sein, dass diese ontologische Position sich in dem intellektuellen Umfeld, in dem Schlick arbeitete, großer Beliebtheit erfreute und er es deshalb als nicht als nötig erachtete, das „ Selbstverständliche “ zu begründen. Es muss jedoch festgehalten werden, dass dieser Begründungsmangel den Eindruck erweckt, Schlicks Entscheidung sei das Resultat einer persönlichen Präferenz und nicht von unvoreingenommen und allseitigen Überlegungen. Die Einsicht, dass die Grundbegriffe nicht „ auf der Straße “ liegen, dass man auf sie nicht zeigen, hinweisen kann, hat Folgen auch für unser Verständnis des Wesens komplexer Begriffe, von welchen wir oft unreflektiert annehmen, dass es sich bei ihnen um bloße Kombinationen der Grundbegriffe handle. Versuchen wir diese Vermutung anhand eines konkreten Beispiels zu überprüfen. Was ist eine Kuh? Nehmen wir einmal an, wir sprechen mit jemanden, der noch nie im Leben eine Kuh gesehen hat (z. B. einem Eskimo oder einem Mitglied eines Urvolkes im Amazonasgebiet), und wir entscheiden uns dafür, auf eine Wörterbuchdefinition zurückzugreifen, um uns unnötige Mühen zu ersparen. Was sagt der Duden zu diesem Thema? Kuh: 1. a) weibliches Hausrind (nach dem ersten Kalben) (Duden 1996, S. 907). Das ist sehr schön, wird aber unseren Gesprächspartner nicht weiterbringen. Die Begriffe weiblich/ männlich werden ihm sicher vertraut sein, aber 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 115 <?page no="130"?> Hausrind? Also, suchen wir weiter: Hausrind: vom Auerochsen abstammendes, als Haustier gehaltenes Rind (ebd., S. 674). Das ist auch noch nicht besonders hilfreich. Haustier dürfte hoffentlich eine klare Sache sein, aber Auerochse? Rind? Also weiter: Auerochse: ausgestorbenes wildes Großrind (ebd., S. 150). Offensichtlich dreht sich die Sache um das Rind: 1. a) (als Milch u. Fleisch lieferndes Nutz-, auch noch als Arbeitstier gehaltenes) zu den Wiederkäuern gehörendes Tier mit kurzhaarigem, glattem, braunem bis schwarzem [weiß geflecktem] Fell, mit breitem Schädel mit Hörnern, langem, in einer Quaste endendem Schwanz und einem großen Euter beim weiblichen Tier (ebd., S. 1258). Die Definition ist für uns, die wir wohl wissen, was eine Kuh ist, sicher nicht schlecht (abgesehen davon, dass es auch weiße Kühe gibt, dass viele Kühe keine Hörnern mehr haben, weil man sie ihnen abgesägt hat, und dass die Definition keine Vorstellung davon gibt, wie groß das (ausgewachsene) Tier etwa ist). Doch wird unser unkundiger Gesprächspartner von ihr wirklich profitieren können? Wird er jetzt eine Kuh erkennen können, wenn er eine auf dem Felde sieht? Ergibt die Kombination der Begriffe wirklich den Begriff der Kuh? Ist es nicht viel mehr so, dass diese Kombination eine hinreichend präzise Beschreibung oder Charakterisierung dessen zu sein versucht, was wir sowieso unter dem Begriff verstehen? Denn wenn sie den Begriff tatsächlich definitiv festlegen würde, könnte man sie nicht verbessern. Ich habe aber bereits angedeutet, dass die obige Definition durchaus verbesserungsfähig, und auch -bedürftig ist, und man könnte die oben angedeuteten Verbesserungen auch noch vermehren: so wäre es beispielsweise sicher angemessen, etwas über die Hufe der Kuh zu sagen, die bekanntlich eine wesentlich andere Form haben als die der Pferde etwa. Also legt diese Definition den Begriff der Kuh nicht fest, sie versucht ihn vielmehr zu charakterisieren bzw. den alltäglichen Gebrauch des Begriffs korrekt zu spiegeln (dies ist in der Tat die anerkannte Funktion der sog. lexikalischen Definition). Diese Überlegungen haben auch Folgen für die Beurteilung von Schlicks Behauptung, dass im wissenschaftlichen Kontext die Bedeutungen der Begriffe durch Definitionen 97 festgelegt werden, um die für diesen Kontext nötige Präzision (in Schlicks Worten: „ absolute Konstanz und Bestimmtheit “ ; AE, S. 180) gewährleisten zu können. Es ist unbestritten, dass wir zu solchen Mitteln greifen und zwar nicht unbedingt nur im wissenschaftlichen Kontext. Auch im Alltagsleben - wie oben angedeutet - greifen wir oft zu einem Wörterbuch, um uns im Zweifelsfall der genauen Bedeutung eines bestimmten Begriffes zu vergewissern bzw. Unstimmigkeiten mit einem Gesprächs- 97 Schlickunterscheidet zwei Arten der Definitionen: die „ gewöhnlichen “ Wortdefinitionen, die er als „ explizit “ bezeichnet (AE, S. 217), und die „ impliziten “ (AE, S. 205ff.), die mittels Axiomen festgelegt werden. Wir werden auf die zweite Art der Definition weiter unten eingehen, meine Ausführungen an dieser Stelle beschränken sich auf die „ gewöhnlichen “ Definitionen. 116 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="131"?> partner auszuräumen. Aus dem früher Gesagten geht jedoch hervor, dass wir, indem wir das tun, uns auf andere Begriffe verlassen, deren Ursprung letztendlich - entgegen Schlick - nicht im bloßen Hinweisen liegt, sondern uns auf irgendeine momentan noch nicht feststellbare Weise gegeben ist. An diesem Punkt stellt sich erneut die Frage, der wir bereits einmal begegnet sind (s. oben): Woher haben wir diese Begriffe? Und wenn wir einräumen, dass sie nicht durch Hinweisen und nicht durch die Kombination anderer Begriffe entstehen, könnte es dann nicht sein, dass auch komplexere Begriffe nicht durch die Kombination von einfacheren gebildet werden? Ich habe bereits angedeutet, dass ich zu diesem wichtigen Punkt an einer anderen Stelle dieser Arbeit zurückkehren werde. Schlick formuliert in Bezug auf die Natur des wissenschaftlichen Definierens jedoch noch eine wichtige und folgenschwere Behauptung: Denn die Definition gibt eben den gemeinsamen Namen an, mit dem alle Objekte genannt werden sollen, welche die in der Definition angeführten Merkmale besitzen. Oder, in der herkömmlichen Sprache der Logik ausgedrückt: jede Definition ist eine Nominaldefinition. (AE, S. 180) Diese Feststellung scheint zu implizieren, dass eine wissenschaftliche Definition die Bedeutung eines Begriffes ein für allemal festlegt, in der Absicht ihre „ Konstanz und Bestimmtheit “ zu sichern. Diese Interpretation würde auch mit einer weiteren Behauptung Schlicks in Einklang stehen, dass der Begriff „ etwas Unwirkliches “ sei (AE, S. 181). Sein Sein werde ihm ausschließlich durch die Definition verliehen. Eine solche Interpretation ist jedoch schwer mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Forschung zu vereinbaren, in der, wie wir wohl wissen, die Bedeutung bestimmter Begriffe sich mit der Zeit grundlegend ändern kann (denken wir nur an die Veränderungen der Bedeutung des Begriffs „ Atom “ von der griechischen Antike bis heute). Interessanterweise gibt Schlick diesen Punkt an einer späteren Stelle seines Werkes selbst zu: Zuerst ist der Begriff eines Gegenstandes immer durch diejenigen Eigenschaften oder Beziehungen definiert, durch die der Gegenstand anfänglich entdeckt wurde; beim weiteren Fortgang der Wissenschaft geschieht es nicht selten, dass man einen Begriff desselben Gegenstandes später auf ganze andere Weise bestimmt [. . .]. Man denke etwa an das Wort und den Begriff der Elektrizität. (AE, S. 232) Wenn aber Schlick diese Möglichkeit zulässt, dann müsste er entweder auch zugeben, dass die wissenschaftlichen Definitionen nicht bloß Nominaldefinitionen bzw. nicht alle wissenschaftliche Definitionen solche sind, was seiner oben zitierten Feststellung (AE, S. 180) direkt widersprechen würde, oder er hätte zumindest klarmachen sollen, dass er die Nominaldefinitionen als veränderbar versteht, was wiederum aber der Absicht, durch solche Definitionen „ absolute Konstanz und Bestimmtheit “ der Bedeutung der Begriffe zu sichern, beträchtlichen Abbruch tun würde. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 117 <?page no="132"?> Die Tatsache, dass sich die Bedeutung der Begriffe ändern kann, ist aber schwer zu vereinbaren mit der am Anfang dieses Abschnittes zitierter Behauptung, die Begriffe seien bloße Zeichen. Denn das Zeichen muss sich nicht ändern, wenn sich das „ Ding “ , auf das es verweist, ändert. Der Wegweiser „ Bern “ (oder „ Berlin “ oder was auch immer) bleibt bestehen, auch wenn die Gestalt dieser Städte im Laufe der Zeit weitgehende Metamorphosen durchmacht. Wenn Schlick gesagt hätte, dass das Wort ein Zeichen des Begriffs sei, ergäbe sich diese Schwierigkeit nicht, er sagt aber ausdrücklich, dass der Begriff ein (bloßes) Zeichen sei. Vielleicht aber ist der Begriff doch mehr als nur ein Zeichen (für einen Gegenstand)? Die Begriffe haben noch eine weitere Eigenschaft, die sich schwer mit der Idee vereinbaren lässt, dass sie bloße Zeichen sind: man kann sie in ein Verhältnis zueinander setzen. Der Begriff „ Enkel “ steht in einer bestimmten Beziehung zum Begriff „ Großvater “ . Dies ist offensichtlich. Wie aber verhält sich die Sache mit Zeichen? Nehmen wir zwei Zeichen (Wegweiser): Berlin und Bern. Kann man sie in ein Verhältnis zueinander setzen? Nun, man kann die Größe und die Farbe der Zeichen vergleichen, vielleicht auch die Größe und Farbe der Buchstaben usw., doch die Zeichen sagen uns inhaltlich nichts über die Größe der beiden Städte beispielweise oder über ihre Lage. Darauf könnte Schlick erwidern, dass die Begriffe in wechselseitigen Verhältnissen stehen können, weil ihre Inhalte durch z. B. Definitionen gegeben sind und man diese Inhalte durchaus in ein Verhältnis zueinander setzen kann. Doch wenn man das zulässt, dann muss man auch zulassen, dass die Begriffe mehr sind als Zeichen, dass sie Bedeutung haben. Dann aber ergibt sich sofort die Frage, in welchem Verhältnis diese Inhalte zu den Gegenständen, die „ unter den Begriff fallen “ , stehen. Eine schwierige Frage, die man sich nicht stellen muss, wenn man sie als bloße „ Wegweisertafeln “ betrachtet. Mit dieser Frage hängt auch eine weitere Schwierigkeit zusammen: wozu brauchen wir überhaupt die Begriffe, wenn sie bloße Zeichen sind? Nun, eine Antwort auf diese Frage scheint nahezuliegen und wurde bereits erwähnt (s. oben): so wie die Katalognummer die Bücher in einer Bibliothek repräsentieren und (gemeinsam mit den entsprechenden Katalogeinträgen) das Handhaben des Bibliotheksbestandes erheblich erleichtern, so können wir mit den Begriffen erfolgreich „ hantieren “ , ohne mit den durch sie bezeichneten Gegenständen hantieren zu müssen. Es wäre doch einigermaßen kompliziert, wenn ich mir etwa über eine Eiche Gedanken machen wollte und diese Eiche tatsächlich „ zur Hand “ nehmen müsste . . . Wenn aber die Begriffe bloße Zeichen sind, und zwar willkürliche Zeichen für die Gegenstände, dann ergibt sich für Schlick ein Problem. Man könnte sich auf der Grundlage dieser Annahme vorstellen, dass wir die Gegenstände nicht mit Begriffen bezeichnen, sondern mit Zahlen oder Kombinationen von Zahlen oder vielleicht mit Zahlen und Buchstaben, wie man das tatsächlich in einer Bibliothek macht. Denn solange eine solche Zuschreibung eindeutig wäre, 118 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="133"?> würde sie den Zweck, den Schlick hier meint, erfüllen. In der Tat gibt er diese Möglichkeit selber zu: Es wäre nun aber nicht angebracht, alle Dinge der Welt in der Weise zu bezeichnen, dass wir lauter einzelne Zeichen dafür erfinden und die Bedeutung eines jeden auswendig lernen. Prinzipiell wäre es zwar leicht möglich, auf dieser Weise eine eindeutige Bezeichnung durchzuführen [. . .]. (AE, S. 265) Warum also nicht festlegen: der Baum = 1, die Erde = 2, wachsen = 3, in = 4, dann könnten wir sehr schöne und einfache Aussagen formulieren: 1 3 4 2. Sie wären dann sogar einfacher, als Aussagen der Art: „ Der Baum wächst in der Erde “ . Wenn jemand diesen Vorschlag für absurd halten wollte, sollte er/ sie bitte bedenken, dass dies im Grunde genommen genau das ist, was unsere Computer machen. In ihnen sind nämlich alle Begriffe durch Zahlen (sogar Zahlen im binären System geschrieben) sehr erfolgreich repräsentiert und es zeigt sich, dass man solche Zahlen-Zeichen sehr erfolgreich manipulieren kann. Für uns Menschen aber kommt das nicht infrage. Wieso eigentlich nicht? Eine Antwort auf diese Frage wäre die, dass es uns Menschen Mühe macht, sehr viele Zahlen auswendig zu lernen und dazu noch in Kombination mit bestimmten Inhalten (Zahlenkombination als Zeichen für den Inhalt eines Begriffes). Es ist einfacher, statt Zahlen Wörter zu lernen, so das Argument. Das mag sein, aber jeder, der im „ hohen “ Alter eine fremde Sprache lernen musste, kann bestätigen, dass das Auswendiglernen von vielen neuen Wörtern überhaupt nicht einfach ist. Vielleicht liegt aber der Grund, weshalb wir nicht Zahlen zum Kennzeichnen von Gegenständen gebrauchen, nicht darin, dass sie schwieriger zu memorieren sind als Wörter, sondern darin, dass die Begriffe, die für die „ Gegenstände “ stehen, mehr sind als bloße Zeichen, dass sie nicht nur eine willkürliche, sondern eine reale Verbindung mit den „ Gegenständen “ haben, aufgrund derer uns das Assoziieren des Begriffs mit dem „ Gegenstand “ recht leichtfällt. 3) Begriffe vereinfachen die Wirklichkeit, Begriffsbildung Abgesehen davon, dass Begriffe die Gegenstände bezeichnen, haben sie nach Schlick auch eine andere Funktion: sie vereinfachen uns die Welt. Denn im Prinzip wäre es möglich, jedem Gegenstand ein spezifisches Zeichen eindeutig zuzuordnen (vgl. AE, S. 265), wir hätten dann so viele Zeichen wie Gegenstände. Dies wäre ohnehin von Vorteil, weil, wie wir am Beispiel der Bücher in einer Bibliothek gesehen haben, es einfacher ist mit den Zeichen zu hantieren als mit den Dingen selbst. Begriffe greifen aus der potenziell unendlichen Fülle der Eigenschaften eines Gegenstandes (AE, S. 239) nur verhältnismäßig wenige heraus, die für die Identifizierung des Gegenstandes hinreichen (wenn man sich vorstellt, wie viele Eigenschaften man einem Baum zuschreiben könnte, den wir einfach als „ Eiche “ bezeichnen). Wie vollziehen wir diese Operation? Offensichtlich muss man nach gewissen Kriterien gewisse Eigenschaften bezüglich ihrer Relevanz ordnen und lässt 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 119 <?page no="134"?> nur diejenigen dem Begriff zukommen, die für die eindeutige Zuordnung notwendig und die allen unter den Begriff fallenden Gegenstände gemeinsam sind (vgl. AE, S. 180). Diese Aufgabe scheint zunächst relativ einfach zu sein: im Falle einer Eiche weiß ich, dass ich nicht die Zahl der Blätter und ihre jeweils ein wenig unterschiedliche Färbung oder die Zahl und die Form aller Äste oder die Zahl der Wurzeln zum Begriff zählen muss, dafür aber die allgemeine Form der Krone des Baumes, die Form der Blätter wie auch die Form und die Farbe der Rinde und die Form der Früchte des Baumes. Schlick macht uns die Aufgabe jedoch bedeutend schwieriger, indem er die Lehre von der Abstraktion explizit ablehnt (AE, S. 191). Seiner Ansicht nach kann ein Begriff nicht aus den Dingen entstehen dadurch, „ dass man von ihren individuellen Eigenschaften abstrahiere “ (ebd.). Denn wäre dies der Fall, „ so müsste man ja umgekehrt aus einem Begriff durch Hinzufügung ganz bestimmter Merkmale ein wirkliches Ding machen können. Das ist natürlich Nonsens “ (ebd.). Man kann sicher nicht aus den Dingen Begriffe konstruieren. Aus Tomaten kann ich Tomatensuppe machen, nicht aber den Begriff der Tomate. Dies ist unbestritten, und ich glaube, es würde sich niemand finden, der diesen Weg der Begriffskonstruktion beschreiten wollte. Dennoch scheint es ebenso unbestritten, dass, wie oben angedeutet, der Begriff eines Objekts nicht alle Eigenschaften dieses Objekts umfasst. Auf der anderen Seite es ist sicherlich auch wahr, dass ich dem Objekt keine Eigenschaft „ wegnehmen “ kann. Die Eiche hat soundso viele Blätter, ob ich sie abgezählt habe oder nicht, ob ich ihre Zahl denke oder nicht. Aber mein Begriff der Eiche muss diese Zahl nicht festlegen. Für meinen Begriff der Eiche ist es ziemlich egal, ob sie sehr viele Blätter hat (wie im Sommer) oder gar keine (wie im Winter). Dessen ungeachtet lässt Schlick keinen Zweifel daran, dass er eine solche Vorgehensweise nicht zulassen will. Er schreibt weiter: Wie also reale Dinge oder Vorstellungen nicht aufgebaut werden können aus bloßen Begriffen, so können Begriffe auch nicht aus Dingen und Vorstellungen durch Weglassung bestimmter Eigenschaften entstehen. Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen. Ich kann z. B. nicht den Begriff der mathematischen Kugel bilden, indem ich mir eine wirkliche Kugel vorstelle und dann von allen ihren physischen Eigenschaften, wie Farbe usw. abstrahiere; denn ich kann mir wohl eine Kugel einer beliebigen Farbe, niemals aber eine Kugel von gar keiner Farbe visuell vorstellen. (AE, S. 192) Dies ist sicherlich richtig, aber an dieser Stelle vermischt Schlick entgegen seinen eigenen Warnungen 98 zwei Dinge: den Begriff und die Vorstellung. Es 98 „ Das erkenntnistheoretisch noch nicht abgeklärte Denken verwechselt aber nicht nur leicht den Begriff mit dem realen Gegenstande, den er bezeichnet, sondern auch mit den anschaulichen Vorstellungen, welche in unserem Bewusstsein den Begriff repräsentieren “ (AE, S. 644). 120 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="135"?> ist richtig, dass ich mir niemals einen Gegenstand ohne Farbe (wenn „ durchsichtig “ auch als eine Farbe gilt) „ visuell vorstellen “ kann, aber heißt das wirklich, dass auch der Begriff eines Gegenstands eine Farbe haben muss? Man kann das Problem vielleicht deutlicher sehen, wenn man sich überlegt, dass es unter normalen Umständen sicherlich keinen physischen Gegenstand auf der Erde geben kann, der kein Gewicht hat, dass es aber sicher absurd wäre, die Frage zu stellen, wie schwer der Begriff eines Gegenstands ist. Je länger wir darüber nachdenken, desto rätselhafter erscheint der Prozess der Begriffsbildung. Wie stellt sich nun aber Schlick diesen Prozess vor? Nicht dadurch gelangt man zu den Begriffen, das man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe, [. . .] sondern dadurch, dass man die Merkmale voneinander unterscheidet und einzeln bezeichnet. Die Unterscheidung aber wird, wie bereits Hume eingesehen hat, 99 dadurch ermöglicht, dass die einzelnen Merkmale unabhängig voneinander veränderlich sind: so vermag ich bei der Kugel Gestalt und Farbe als besondere Merkmale voneinander zu trennen, weil ich mir einerseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Farbe, andererseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Gestalt vorstellen kann. (AE, S. 192f.) 100 Mir scheint, dass der hier beschriebene Prozess (einen zweiten werden wir bald kennen lernen) es uns tatsächlich ermöglicht, die einzelnen Merkmale oder Eigenschaften voneinander zu unterscheiden. Es ist aber fraglich, ob er für die Begriffsbildung überhaupt notwendig und hinreichend ist. Normalerweise würden wir einfach sagen, dass der Gegenstand (Kugel) eine gewisse Farbe, eine gewisse Form, eine gewisse Größe usw. habe. Wir müssen nicht in der Vorstellung die einzelnen dieser Eigenschaften umändern, um sie „ voneinander zu trennen “ , weil wir wissen, dass sie eben völlig unterschiedliche Eigenschaften sind, die alle einem Gegenstand zukommen müssen, und dass sie unterschiedliche „ Werte “ (z. B. rot, blau, grün usw.) annehmen können. Demnach scheint uns der von Schlick anvisierte Prozess bei der Beschreibung der Begriffsbildung nicht weiterzubringen. Hat Schlick noch mehr zu diesem Thema zu sagen? Eigentlich nicht. Er schließt diesen Abschnitt mit der Bemerkung: „ Diese kurzen Ausführungen mögen genügen, um vorläufig einige Klarheit über das Wesen des Begriffs zu schaffen “ (AE, S. 193), und warnt noch ausdrücklich vor jeder möglichen „ Verdinglichung der Begriffe “ . Begriffe seien nichts als „ Gedankendinge “ , die eine exakte Bezeichnung der Gegenstände zu Erkenntniszwecken ermöglichen sollen, wie ein fiktives Gradnetz, das die Erde umspannt und die genaue Bezeichnung eines Ortes ihrer Oberfläche gestattet (AE, S. 193). Diese Analogie ist sehr interessant. Denn wir wissen, dass sich der Ort eines Punktes im Raum zumindest im Prinzip durch die Angabe von drei Koordinaten genau 99 In seiner Treatise (Hume 1978, I. i.VII). 100 Vgl. auch § 11: „ Das synthetische Urteil, so können wir sagen, bezeichnet die Vereinigung von Gegenständen zu einem Tatbestand, die Definition dagegen die Vereinigung von Merkmalen zu einem Begriff “ (AE, S. 283). 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 121 <?page no="136"?> angegeben lässt, wobei der Ausgangspunkt dieser Koordinaten, der Kreuzungspunkt der Achsen x, y, und z, beliebig gewählt werden kann. Was Schlick „ vor Augen “ schwebt, ist wahrscheinlich eine Art multidimensionaler Raum, mit eben Farbe, Form, Größe, Gewicht usw. als seinen Dimensionen, in dem jeder bestimmte Begriff sich an einem konkreten Kreuzungspunkt dieser Dimensionen befindet (also z. B.: Farbe: beliebig; Form: rund, Kugel; Größe: 20 cm im Durchmesser; Gewicht: ca. 200 g, also Fussball). Die Frage ist, ob sich diese Idee wirklich realisieren lässt. Sind die angegebenen Dimensionen wirklich ausreichend, um den Begriff des Fussballs zu bilden, oder gar, mit anderen Dimensionen, den der Kuh? Ich glaube, man müsste diese Frage negativ beantworten. Wenn sie aber nicht ausreichend sind, welche weiteren Dimensionen müsste man hinzufügen, um nach der Schlick ’ schen Methode einen Begriff bilden zu können? Welche Dimensionen müsste man hinzufügen, um die Begriffe Lastwagen, iPod, Tulpe, Elefant, Liebe, Gerechtigkeit, Koordinatensystem, Logarithmus usw. in dem fiktiven „ multidimensionalen Raum “ erfolgreich lokalisieren zu können? Ist diese Idee überhaupt realisierbar? Mir scheint die Antwort auf diese Frage eher negativ zu sein. Man kann aber an dieser Stelle auch eine allgemeinere Frage stellen: Trifft es überhaupt zu, dass man durch irgendwelche Operationen an den Vorstellungen zu den Begriffen gelangen kann? Müsste man nicht vielmehr annehmen, dass Begriffe den Vorstellungen vorausgehen und nicht umgekehrt? Denn wie lernt ein Kind seine elementarsten Begriffe? Es sieht einen Hund vorbeilaufen, die Mutter sagt: „ Schau, ein Hund “ . Ein anderes Mal sieht es eine Katze auf dem Sofa sitzen. Seine Mutter sagt: „ Die Katze schläft “ . Nach einigen derartigen Erfahrungen kann das Kind einen Hund von einer Katze unterscheiden und mit der Zeit lernt es auch, sie richtig zu benennen. Hat es irgendwelche Operationen an seinen Vorstellungen vollzogen? Sich beispielsweise zunächst einen schwarzen, dann einen weißen Hund oder zunächst eine graue, dann eine gestreifte Katze vorgestellt? Dass macht keinen Sinn, und darüber hinaus führt es nirgendwohin, denn der Hund kann auch grau sein und die Katze schwarz. Die Unterscheidung zwischen Hund und Katze wird also im Geiste des Kindes sicher nicht dadurch herbeigeführt, dass, wie Schlick formuliert, „ die einzelnen Merkmale [z. B. Farbe, Anzahl Beine usw.] unabhängig voneinander veränderlich sind “ . Wodurch wird sie aber herbeigeführt? Ist es nicht so, dass dadurch, dass das Kind durch seine Eltern quasi gezwungen wird, die Unterscheidung zwischen Hund und Katze zu treffen, es auch dazu quasi gezwungen wird, die beiden genauer zu betrachten? Denn beide haben Kopf, Rumpf, vier Beine und einen Schwanz. Die sie unterscheidenden Merkmale liegen also nicht darin, sondern in etwas anderem: in der Form des Kopfes, in der Gangart, selbstverständlich auch oft in der Größe. Differenzierte Begriffe „ zwingen “ uns dazu, die Welt differenziert zu sehen. Für einen Laien sind alle Kühe auf dem Feld mehr oder weniger gleich, der Bauer kann sie unterscheiden und einzeln beim Namen nennen, der Bauer oder ein Fachmann kann auch die Vorzüge einer 122 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="137"?> konkreten Kuh und die Schwachstellen einer anderen wahrnehmen, weil er über die entsprechenden Begriffe verfügt. Diese Beobachtung lässt vermuten, dass man im Gegensatz zu Schlicks Behauptung, Begriffe seien in erster Linie dazu da, die Welt zu vereinfachen, vielmehr sagen sollte, dass sie die Welt bereichern. Sie ermöglichen es uns, die wahrgenommene Welt feiner zu differenzieren: aus einem mehr oder weniger konturlosen „ Wahrnehmungsbrei “ gestalten sich dank der Begriffe konkrete, abgegrenzte Dinge. Wenn dem aber tatsächlich so ist, so vertieft sich das Rätsel der Begriffsbildung zusehends. Denn es wird noch unverständlicher, wie ein Kind die Begriffe bilden kann, die es braucht, um die Welt überhaupt differenzierter zu sehen. Denn wenn es die Welt am Anfang nicht gleich differenziert sieht, dann hat es auch keine Veranlassung dazu, sie zu differenzieren. Wir scheinen uns im Kreis zu drehen. Aber wir haben gesagt, dass die Eltern es sind, die das Kind „ quasi “ dazu zwingen, die Unterscheidung zwischen Hund und Katze zu treffen. Es scheint zutreffend, dass die Anregung zur Begriffsbildung von den Eltern des Kindes kommt. In der Tat wissen wir, dass Menschen, die außerhalb der Menschengemeinschaft aufgewachsen sind, die Sprache und somit vermutlich auch die Begriffe nicht haben. Diese Beobachtung wiederum deutet darauf hin, dass man anstatt von „ Begriffsbildung “ besser von „ Begriffsübermittlung “ von einer Generation auf die andere sprechen sollte. Schließlich benutzen die allermeisten Menschen Begriffe, die sie in ihrer Kultur bereits vorgefunden haben. Begriffsschöpfungen sind eigentlich äußerst selten. Wenn man dies jedoch zugeben würde, dann stünden wir selbstverständlich vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe zu erklären, wie unsere entfernten Vorfahren die ersten Begriffe gebildet haben. Denn es ist nur zu klar, dass, selbst wenn das heutige Kind seine Begriffe eher übernimmt als formt, sie doch irgendjemand irgendwann gebildet haben muss. 4) Die Grundbegriffe sollen dadurch definiert sein, dass sie den Axiomen genügen Schlick geht aber, wie oben bereits erwähnt, noch einer anderen Idee nach, wie man die Bedeutung der Begriffe festlegen kann. Im § 6 weist er nämlich darauf hin, dass die gewöhnliche, alltägliche Art, Begriffe zu definieren, an Präzisionsgrenzen stößt: Die Merkmale einer Definition müssen in letzter Linie immer anschaulicher Natur sein, weil alles Gegebene uns schließlich durch die Anschauung gegeben ist (AE, S. 198). Die letzten Merkmale können nicht mehr definiert, sie müssen demonstriert werden (Blau, Lust) (AE, S. 200). Diese Methode aber sei stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftet, woraus folgen würde, dass absolute Erkenntnis (absolut sichere Erkenntnis) unmöglich sei (ebd.). Im § 7 beschreibt Schlick dann, wie sich diese prinzipielle Schwierigkeit überwinden lässt, indem man sich an der Geometrie ein Vorbild nimmt. Lange Zeit habe man sich in der Geometrie damit zufriedengegeben, dass ihre Grundbegriffe (Punkt, Gerade, Raum usw.) als gleichsam „ primitiv “ angenommen wurden, d. h. als nicht definierbar und nicht 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 123 <?page no="138"?> definitionsbedürftig, weil (letztlich) selbstverständlich. Erst gegen das Ende des 19. Jahrhunderts habe die Mathematiker dieser Zustand nicht mehr befriedigt. Sie suchten nach den Gründen der Gültigkeit aller geometrischen Wahrheiten (AE, S. 206). Insbesondere habe sich Hilbert mit dem Versuch hervorgetan, die Geometrie auf einem Fundament aufzubauen, das der Anschauung nicht bedurfte. Sein Ausweg aus dem Dilemma war einfach und genial zugleich: anstatt die Grundbegriffe definieren zu wollen, entschloss er sich, diese durch die Axiome zu definieren: Punkt und Gerade sind in diesem System nichts anderes als jene Gebilde, die bestimme Axiome des Systems erfüllen. Derart war die Definition durch Axiome oder Postulate bzw. die implizite Definition geboren (AE, S. 208). Diese brauche keine Anschaulichkeit mehr, könne folglich auch so absolute Schärfe und Konstanz garantieren. Was durch diese Vorgehensweise für die Wissenschaft gewonnen werden kann, beschreibt Schlick folgendermaßen: Alles definieren in der Wissenschaft hat den Zweck, Begriffe zu schaffen als scharf bestimmte Zeichen, mit denen sich die Erkenntnisarbeit völlig sicher verrichten lässt. Die Definition baut den Begriff aus allen den Merkmalen auf, die zu dieser Arbeit gebraucht werden. Die wissenschaftliche Denkarbeit besteht aber im Schließen, das heißt im Ableiten neuer Urteile aus alten. Von Urteilen, von Aussagen allein kann das Schließen seinen Anfang nehmen; zur Verwertung des Begriffs beim Denkgeschäfte wird also von seinen Eigenschaften keine andere gebraucht als die, dass gewisse Urteile von ihm gelten (z. B. von den Grundbegriffen der Geometrie die Axiome). Für die strenge, Schluss an Schluss reihende Wissenschaft ist folglich der Begriff in der Tat gar nichts weiter als dasjenige, wovon gewisse Urteile ausgesagt werden können. Dadurch ist er auch zu definieren. (AE, S. 209) Er ergänzt diese Feststellung dann, indem er unterstreicht, dass die Begriffe im wissenschaftlichen System tatsächlich zunächst keinen Sinn und Inhalt haben, „ sie erhalten Sinn erst durch das Axiomensystem, und nur soviel Inhalt, als dieses ihnen verleihen kann: ihr ganzes Wesen besteht darin, Träger der durch jenes festgelegten Beziehungen zu sein. Darin liegt keine Schwierigkeit, weil ja Begriffe überhaupt nichts Reales sind “ (AE, S. 210). Schlick räumt ein, dass diese Idee „ dem Anfänger “ schwer begreiflich erscheinen mag, dennoch aber könne man sich in diese „ überaus wichtigen Ideen “ mit Hilfe von Beispielen einleben (AE, S. 211), und dann liefert er solche Beispiele aus dem Bereich der Mathematik und konkret der Geometrie. An diesem Punkt muss man sich freilich die Frage stellen: Wird eine derartige Prozedur, die ja durchaus in der Geometrie funktionieren mag, aber auch im Leben funktionieren? Es leuchtet unmittelbar ein, dass die ganze Geometrie (insbesondere die euklidische) in kleinen logischen Schritten aufgebaut werden kann. Wenn ich zu einem Punkt A in einer gewissen Entfernung einen Punkt B hinzusetze, erhalte ich sofort eine Gerade a, die diese zwei Punkte als die kleinste Entfernung zwischen ihnen verbindet (und die unendlich viele Punkte enthält). Wenn ich einen dritten Punkt X hin- 124 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="139"?> zusetze, der sich nicht auf dieser Gerade befindet, kann ich mir eine zweite Gerade b vorstellen, die durch diesen Punkt verläuft und sich mit der ersten nicht schneidet (zu ihr parallel ist). Ich kann mir aber auch eine dritte Gerade c vorstellen, die durch X verläuft und sich mit der ersten Geraden a in einem bestimmten Punkt C kreuzt. Denke ich zu diesen Geraden noch eine weitere Gerade d, die wie b und c ebenfalls durch den Punkt X verläuft, aber sich mit der ersten Geraden a an einem anderen Punkt als die Gerade c kreuzt (nennen wir diesen Punkt D), so erhalte ich aus den entsprechenden Abschnitten der drei Geraden a, c und d eine geschlossene Figur mit drei Seiten, die ich „ Dreieck “ nennen kann. Diese hat nicht nur drei Ecken und drei Seiten von je einer bestimmten Länge, sondern auch drei „ Winkel “ . Man kann dann leicht feststellen, dass die „ Summe “ dieser Winkel usw. Die Schritte, die von einem ganz einfachen Anfang: einem Punkt im Raum (oder auf der Ebene) zu immer komplexeren Gebilden führen, sind klar, logisch, übersichtlich. Kann man jedoch realistisch hoffen, dass sich ebensolche klaren, logischen und übersichtlichen Übergänge in der „ wirklichen Welt “ finden lassen? Welcher Weg führt von einer Kuh zu einem Huhn? Oder zu einer Eiche? Wenn ich zwei Kühe in einer gewissen Entfernung voneinander aufstelle, erhalte ich dadurch zwischen ihnen auf logischem Weg ein Gebilde, das aus einer unendlichen Zahl von Kühen besteht? Oder wenn man wissenschaftlichere Beispiele haben will: Kann man durch irgendwelche Axiome die Bedeutungen der Begriffe Elektron, Proton oder Neutron festlegen und aus ihnen axiomatisch ableiten, dass es auch Myon-Neutrinos, Charm-Quarks und Pionen gibt? Ich glaube, man müsste eine solche Vorstellung - um mit Schlick zu reden - als Nonsens einordnen. Schlick geht jedoch noch weiter. Er schreibt: [D]urch die konkrete Definition wird der Zusammenhang der Begriffe mit der Wirklichkeit hergestellt, sie zeigt in der anschaulichen oder erlebten Wirklichkeit dasjenige auf, was nun durch den Begriff bezeichnet werden soll. Die implizite Definition dagegen steht nirgends in Gemeinschaft oder Verbindung mit der Wirklichkeit, sie lehnt sie absichtlich und prinzipiell ab, sie verharrt im Reich der Begriffe. Ein mit Hilfe impliziter Definition[en] geschaffenes Gefüge von Wahrheiten ruht nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit, sondern schwebt gleichsam frei, wie das Sonnensystem die Gewähr seiner Stabilität in sich selber tragend. (AE, S. 214) Das klingt grandios, insbesondere wenn man mit dem „ Reich der Begriffe “ platonische Assoziationen verbindet (die aber Schlick mit ihm explizit nicht verbindet, Begriffe sind für ihn, das muss man sich stets vor Augen halten, bloße Zeichen), aber wollen wir wirklich eine solche Wissenschaft haben? Eine Wissenschaft, die „ nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit [ruht] “ ? Wäre dies nicht zufälligerweise eine Wissenschaft, die uns die uns umliegende Welt nicht erschließt, sondern vielmehr eine intern konsistente Fiktion entwirft, also letztendlich zu einem schönen Mythos wird? 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 125 <?page no="140"?> Schlick entwickelt diese Gedanken weiter: ihm steht weiterhin das Ziel des Absoluten, der absolut sicheren Erkenntnis vor Augen, wenn er schreibt: Eben deshalb ist es von um so größerer Wichtigkeit, dass wir in der impliziten Definition ein Mittel gefunden haben, welches vollkommene Bestimmtheit der Begriffe und damit strenge Exaktheit des Denkens ermöglicht. Allerdings bedurfte es dazu einer radikalen Trennung des Begriffes von der Anschauung, des Denkens von der Wirklichkeit. Wir beziehen beide Sphären wohl aufeinander, aber sie scheinen gar nicht miteinander verbunden, die Brücken zwischen ihnen sind abgebrochen. (AE, S. 216) Schlick erklärt dann, dass man sich keine Sorgen machen solle, diesen „ sehr hohen Kaufpreis “ zahlen zu müssen, denn die Aufgabe an dieser Stelle sei nicht, die Strenge und Gültigkeit der Wirklichkeitserkenntnis zu retten, die Aufgabe (dieses Teils des Werks) „ ist allein das Erkennen der Erkenntnis “ (AE, S. 216). Aber was für eine Erkenntnis ist das, die uns verkündet, dass wir sie nur erlangen können, wenn wir „ die Brücken zu der Wirklichkeit “ abbrechen? Wollen wir eine solche Erkenntnis, selbst wenn wir sie definitionsgemäß als „ Erkenntnis “ bezeichnen dürften? Sollte man sich nicht vielmehr sagen: „ Mag sein, dass meine Erkenntnis nicht perfekt und absolut sicher sein wird, aber ich setze alles darauf, dass sie mich in möglichst enge Beziehung mit der Wirklichkeit bringt. Ich will in der Wirklichkeit stehen, auch wenn ich sie nur unscharf, leicht verschwommen sehen darf, und nicht in einem perfekt scharfen 3-D- und HD-Kino sitzen “ ? Schlicks geometrisierende Denkweise hat als eine natürliche Folge, dass er das höchste Ideal der Erkenntnis darin sieht, die Zahl der Erklärungsprinzipien möglichst klein zu halten: Eine Vorstellung vom letzten Ziel alles Erkennens können wir schon an diesem frühen Punkte der Untersuchung uns verschaffen. Wir brauchen nur darauf zu achten, dass alles Begreifen dadurch von Stufe zu Stufe weiterschreitet, dass zuerst das eine im anderen wiedergefunden wird, dann in jenem wieder ein anderes und so fort. [. . . A]uf die geschilderte Weise wird die Zahl der Erscheinungen, die durch ein und dasselbe Prinzip erklärt werden, immer größer, und demnach die Zahl der zur Erklärung der Gesamtheit der Erscheinungen nötigen Prinzipien immer kleiner. [. . .] Es kann daher die Anzahl der verwendeten Erklärungsprinzipien geradezu als ein Maß der erreichten Höhe der Erkenntnis dienen, die höchste Erkenntnis wird nämlich offenbar diejenige sein, die mit einem Minimum erklärender nicht weiter erklärungsbedürftiger Prinzipien auskommt. Dies Minimum möglichst klein zu machen, ist also die letzte Aufgabe des Erkennens. (AE, S. 162f.) Diese Worte tönen wie ein Echo des Ideals, das Hilbert in Bezug auf ein axiomatisches System in der Geometrie bereits 1893 aufgestellt hatte. In einem Brief schrieb er damals: Die Frage nach dem kleinsten System von Forderungen [Axiomen], die ich an ein System von Einheiten stellen muss, damit dasselbe dazu dienen kann, die 126 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="141"?> geometrischen (d. h. auf die äußere Gestalt der Dinge bezüglichen) Erscheinungen der Außenwelt zu beschreiben, scheint bis heute noch nicht vollständig erledigt. 101 Dieses Prinzip ist sehr verständlich und nachvollziehbar im Rahmen der Geometrie oder auch der Mathematik, die man beide von den einfachsten Annahmen ausgehend in konsequenter Weise aufbauen kann. Ist es aber auch auf andere Gebiete anwendbar? Wie bereits angedeutet, kann eine Kuh kaum auf einen Regenwurm zurückgeführt oder, in Schlicks Terminologie, in ihm „ wiedergefunden “ werden. Ist es berechtigt zu erwarten, wie es heute zweifelsohne noch üblich ist, dass sich die Prozesse, die im Innern einer Kuh ablaufen, nach den gleichen Prinzipien vollziehen wie die in einem Regenwurm? Würde man der Realität nicht eher gerecht, wenn man sich sagte, dass es zumindest wahrscheinlich ist, dass sich in einer Kuh auch Prozesse abspielen, die sich unmöglich auf jene eines Regenwurms zurückführen lassen? Dann würde man das Idealprinzip der Erkenntnis vielleicht nicht in einem (absoluten) Minimum erklärender Prinzipien sehen, sondern in einem Minimum, das zur Erklärung des bestimmten, konkreten Erkenntnisgegenstandes notwendig ist. Es bleiben also an dieser Stelle viele offene Fragen. Schlicks geometrisierende Denkweise erreicht im § 11 eine Art Gipfelpunkt. 102 Bereits am Anfang dieses Paragraph findet sich eine Formulierung, die einen stutzig macht: Nun ist das Merkwürdige, dass bei passender Wahl der Gegenstände, welche durch die konkreten [d. h. begrifflichen, im Gegensatz zu „ impliziten “ , durch Axiome] Definitionen herausgegriffen werden, implizite Definitionen gefunden werden können von der Art, dass die durch sie bestimmten Begriffe sich zur eindeutigen Bezeichnung jener wirklichen Gegenstände verwenden lassen. Diese Begriffe hängen dann nämlich durch ein System von Urteilen untereinander zusammen, welches völlig übereinstimmt mit dem Urteilsnetze, das auf Grund der Erfahrung dem System der Tatsachen eindeutig zugeordnet wurde. Während dieses Netz durch mühsame Einzelerkenntnis Masche für Masche empirisch gewonnen werden musste, kann jenes Urteilssystem aus den impliziten Definitionen seiner Grundbegriffe auf rein logischem Wege vollständig abgeleitet werden. (AE, S. 273) Wie es scheint, hält Schlick es für möglich, dass man Axiome einer Wissenschaft, und zwar jetzt nicht bloß einer rein begrifflichen Wissenschaft wie der Geometrie oder der Arithmetik, sondern, wie er sagt, einer „ Realwissenschaft “ (AE, S. 232, 271 usw.) so wählen könnte, dass die empirische Erkenntnis sich erübrigt, weil sich jedes Erkenntnisurteil „ auf rein logischem Wege “ aus den impliziten Definitionen ableiten lässt. An dieser Stelle „ reibt man sich die Augen “ und fragt sich, ob man vielleicht etwas falsch verstanden hat, 101 Zitiert nach Scriba und Schreiber 2005, S. 501. 102 Wir werden auf diesen Paragraph weiter unten noch zurückkommen, es scheint jedoch angebracht, den nachfolgenden Punkt bereits jetzt anzusprechen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 127 <?page no="142"?> denn die Behauptung (oder vielleicht sollte man eher „ Hoffnung “ sagen) hört sich doch wiederum ziemlich unsinnig an. Die nachfolgende Formulierung lässt jedoch keinen Zweifel an Schlicks Intentionen: Das System von Definitionen und Erkenntnisurteilen, 103 welche jede Realwissenschaft [im Gegensatz zu reiner Begriffswissenschaft] darstellt, wird also an einzelnen Punkten mit dem System der Wirklichkeit direkt zur Deckung gebracht und so eingerichtet, dass dann an allen übrigen Punkten von selbst Deckung stattfindet. [. . .] Von ihnen ausgehend wird das ganze System Schritt für Schritt errichtet, indem man die einzelnen Bausteine durch rein logisches, deduktives Verfahren gewinnt [. . .]. Ist der ganze Bau richtig gefügt, und entspricht nicht nur den Ausgangspunkten, den Fundamentalurteilen, sondern auch den auf deduktivem Wege erzeugten Gliedern des Systems je ein Tatbestand der Wirklichkeit; jedes einzelne Urteil des ganzen Baues ist einem wirklichen Tatbestande eindeutig zugeordnet. (AE, S. 285f.) Schlick unterhält also offensichtlich die Vorstellung, dass man die Wirklichkeit durch geschickte Definitionen perfekt abbilden kann, so dass sich auch die zukünftigen Tatsachen „ auf rein logischem Wege “ ableiten lassen. Diese Vorstellung mag der Wirklichkeit der reinen Logik oder Geometrie (oder Mathematik) entsprechen, sie ist aber mit Blick auf die Realität der empirischen Welt völlig unangebracht. Es ist aber eben diese Vorstellung, die die Grundlage von Carnaps Logischem Aufbau der Welt und auch des gesamten Programms des logischen Positivismus bzw. Empirismus bildet. Dieser Interpretation von Schlicks Intentionen scheint die folgende Stelle aus § 9 zu widersprechen: Bei der Übertragung dieser Erwägungen auf die Realwissenschaften ist zu bedenken, dass diese niemals streng in sich abgeschlossen sind; vielmehr werden uns von den realen Gegenständen im Laufe der Forschung immer neue Eigenschaften bekannt, so dass die Begriffe dieser Gegenstände mit der Zeit immer reicheren Inhalt gewinnen, also sich ändern, während die Worte, mit denen wir sie benennen, immer die gleichen bleiben. (AE, S. 233) Da Schlick auf S. 285 eindeutig von der Realwissenschaft sprach, und nicht bloß von den Begriffswissenschaften, stellt sich die Frage, wie sich dieser Widerspruch auflösen lässt. Eine mögliche Deutung wäre die, dass er auf S. 233 an den „ Realzustand “ der Realwissenschaft seiner Zeit denkt, auf S. 285 hingegen an den „ Idealzustand “ , der sich vielleicht nicht einmal in der näheren Zukunft erreichen lässt. Die andere Möglichkeit ist weniger schmeichelhaft: Die Passage auf S. 285 gehört zu § 11, der erst für die zweite Auflage der AE geschrieben worden ist. Vielleicht hat Schlick die Konsequenzen der Veränderungen, die er in dieser Auflage vorgenommen hat, für die aus der ersten Auflage übernommenen Inhalte nicht in aller Gründlichkeit durch- 103 Was dieser Begriff konkret bzw. genau bedeutet, werden wir weiter unten diskutieren. Die hier zitierte Aussage lässt sich jedoch auch ohne eine solche ausführliche Erklärung nachvollziehen. 128 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="143"?> dacht. Für diese Interpretation würde sprechen, dass Schlick die Veränderungen seiner erkenntnistheoretischen Position in der Zeit zwischen der ersten Auflage des Werks (1918) und der zweiten (1925) als so gravierend betrachtete, dass diese den gesamten Charakter der Allgemeinen Erkenntnislehre betroffen und es sich darum nicht um eine eigentliche Neuauflage gehandelt hätte (AE, S. 97f.). 5) Da nun Begriffe Zeichen für die Gegenstände sind, so sind Urteile vermutlich Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen Wir haben im vorigen Abschnitt bereits gesehen, dass Schlick in seiner Analyse des Erkenntnisprozesses neben Begriffen auch den Begriff des Urteils benutzt. Er spricht sogar vom „ System der Urteile “ und man vermutet, dass sich das Erkennen seiner Auffassung nach nicht in Begriffen und ihren Relationen erschöpft, sondern entscheidend mit den Urteilen zusammenhängt. Was aber versteht Schlick unter dem Begriff des Urteils? Er leitet seine diesbezügliche Diskussion mit der Feststellung ein, dass, wenn man das Wesen des Begriffs als das des Zeichens verstanden hat, 104 man es als naheliegend erachten wird, dass auch das Urteil „ nichts anderes [. . .] als ein Zeichen [ist] “ (AE, S. 220). So viel ist für ihn klar, die Frage ist dabei nur: ein Zeichen für was? Die Antwort findet sich leicht: Im vorigen Paragraphen wurde gezeigt, dass die Axiome, die ja Urteile sind, Beziehungen zwischen Begriffen festlegen. Da nun Begriffe Zeichen für die Gegenstände sind, so sind Urteile vermutlich Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen. 105 (AE, S. 220) Interessant an diesem Schritt ist, dass er stillschweigend zwei Annahmen macht: 1) dass ein Axiom ein Urteil ist: die Frage ob es sich so verhält, wird von ihm nicht diskutiert; 2) dass, wenn eine Klasse von Urteilen (Axiomen) Beziehungen zwischen gewissen Gegenständen (Begriffen) festlegt, alle Urteile Beziehungen zwischen Gegenständen bezeichnen werden. Schlick analysiert dann „ ein schlichtes Beispiel “ eines Urteils: „ Der Schnee ist kalt “ 106 und kommt dabei zu dem Schluss, dass man die ursprüngliche Vermutung leicht modifizieren muss: das Urteil bezeichnet nicht bloß die Beziehung zwischen zwei Gegenständen, sondern „ das Bestehen einer Beziehung, d. h. die Tatsache, dass die Beziehung zwischen ihnen statthat “ (AE, S. 222). Zur Bezeichnung einer Beziehung an sich, brauche es kein Urteil, es reiche hier ein Begriff (Schlick gibt als Beispiele „ Gleichzeitigkeit “ und „ Verschiedenheit “ ). Das Urteil muss also darüber hinausgehen, und das tut es, indem es das 104 „ Das Wesen der Begriffe war darin erschöpft, das sie Zeichen sind, die wir im Denken den Gegenständen zuordnen, über die wir denken “ (AE, S. 220). 105 Schlick erinnert an dieser Stelle daran, dass er den Begriff „ Gegenstand “ im „ allerweitesten Sinne “ gebraucht (vgl. AE, S. 181). 106 Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Schlick weiß, was ein Urteil ist, er versucht lediglich die Bedeutung des Wortes deutlicher zu machen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 129 <?page no="144"?> Bestehen einer Beziehung quasi „ besiegelt “ . Daraus ergibt sich für Schlick der Schluss: Urteile sind also Zeichen für Tatsachen. So oft wir ein Urteil fällen, wollen wir damit einen Tatbestand bezeichnen; und zwar entweder einen realen oder einen begrifflichen, denn nicht nur die Verhältnisse wirklicher Gegenstände, sondern auch das Dasein von Relationen zwischen Begriffen ist als ein Tatbestand aufzufassen. Es ist eine Tatsache, dass der Schnee kalt ist, es ist aber auch eine Tatsache, dass 2 x 2 und 4 einander gleich sind. (AE, S. 222) Das alles klingt überzeugend, bei genauerer Betrachtung ergeben sich wiederum auch hier Probleme. Schlick vollzieht an dieser Stelle einen merkwürdigen Übergang von der konkreten Feststellung, dass ein Urteil der Art „ Der Schnee ist kalt “ das Bestehen der in ihm zum Ausdruck gebrachten Beziehung bestätigt oder behauptet, zu der allgemeinen Feststellung, dass ein Urteil immer ein Zeichen für Tatsachen allgemein ist. Die Feststellung, „ Es ist eine Tatsache, dass zwischen X und Y eine Beziehung B besteht “ ist keineswegs identisch mit der Feststellung, „ Eine Tatsache ist (df) das Bestehen einer Beziehung “ . Etwas Gegenteiliges zu behaupten würde heißen, fälschlicherweise von der Feststellung, „ Es ist eine Tatsache, dass Peter älter als Karl ist “ , auf die Feststellung schließen zu wollen „ Das Bestehen eines Verhältnisses zwischen (mindestens) zwei Elementen ist eine Tatsache “ . Ein solcher Schluss wäre offensichtlich ungültig. Um zu prüfen, ob Schlicks Behauptungen an dieser Stelle berechtigt sind, müssen wir mindestens drei Fragen beantworten: 1) Stimmt es, dass eine Tatsache nichts anderes als das Bestehen einer Beziehung ist? ; 2) Stimmt es, dass ein Urteil immer eine Tatsache zum Ausdruck bringt; 3) Stimmt es, dass es (immer) ein Zeichen für Tatsachen ist. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir ein ursprünglicheres Problem behandeln: Was ist eine Tatsache, was wird gewöhnlich unter dem Begriff „ Tatsache “ verstanden? Eine Wörterbuchdefinition besagt: „ wirklicher, gegebener Umstand; Faktum “ (Duden 1996, S. 1517). Und dann weiter: „ Umstand: 1. Zu einem Sachverhalt, einer Situation, zu bestimmten Verhältnissen, zu einem Geschehen beitragende oder dafür mehr oder weniger wichtige Einzelheit, einzelne Tatsache “ (Duden 1996, S. 1593). Wir drehen uns ein wenig im Kreis, was darauf hindeutet, dass wir es hier mit elementaren, grundsätzlichen, schwer zu definierenden Begriffen zu tun haben. Es ist manchmal hilfreich, sich dem Verständnis eines Wortes dadurch zu nähern, dass man es mit seinem Gegenteil kontrastiert. Was ist das Gegenteil einer „ Tatsache “ ? Ich hoffe, der Leser wird sich mit mir einverstanden erklären können, wenn ich sage, eine „ Fiktion “ , „ Erfindung “ oder vielleicht sogar „ Lüge “ . Wenn wir auf etwas als auf eine „ Tatsache “ hinweisen, so meinen wir in erster Linie, dass dieses Etwas wirklich, real, nicht erfunden, bloß erdacht oder erwünscht ist. „ Schweiz ist kleiner als Deutschland, dies ist eine Tatsache “ , „ Sarah hat sich mit Wilhelm verlobt, dies ist eine 130 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="145"?> Tatsache “ , „ Karl hat gelogen, dies ist eine Tatsache “ , „ Ich habe meine Schlüssel verloren, dies ist eine Tatsache “ , „ Morgen wird es wieder schneien, dies ist (aller Voraussucht nach) eine Tatsache “ , sind die Arten von Sätzen, die einem hier in Sinn kommen. Trifft es zu, dass alle diese Sätze „ das Bestehen einer Beziehung “ zum Ausdruck bringen? Wenn man den Begriff der Beziehung weit genug fasst, dann vielleicht. Schließlich steht auf der Welt alles mit allem in irgendeiner Beziehung. Einige der obigen Beispiele scheinen diese Auffassung sogar zu bestätigen ( „ Schweiz ist kleiner als Deutschland “ , „ Sarah hat sich mit Wilhelm verlobt “ ). Ob jedoch solche Sätze wie „ Ich habe meine Schlüssel verloren “ oder „ Karl hat gelogen “ tatsächlich in erster Linie eine Beziehung zwischen zwei „ Gegenständen “ zum Ausdruck bringen, ist zumindest fraglich. Interessanterweise scheint man bei allen obigen Sätzen den Nebensatz „ dies ist eine Tatsache “ durch eine Feststellung der Art „ und es stimmt “ bzw. „ es ist wahr “ ersetzen zu können. Diese Überlegungen deuten offensichtlich darauf hin, dass wir gewöhnlich dann von Tatsachen sprechen, wenn das Gesagte wahr ist, stimmt, der Wirklichkeit entspricht bzw. sie korrekt wiedergibt, manchmal dann, wenn die Feststellung überraschend, vielleicht sogar unglaubwürdig ist, wobei es nicht darauf ankommt, ob darin von Beziehungen oder anderen Inhalten die Rede ist. Wenn diese Analyse stimmt, dann hätte Schlicks Auffassung vom Wesen des Urteils, dass nämlich ein Urteil immer ein Zeichen einer Tatsache sei, eine unerwartete Folge: als Urteil würden nur Wahrheiten gelten (was immer unter Wahrheit zu verstehen ist, zu dieser Frage werden wir demnächst kommen), es wäre per definitionem nicht möglich, ein falsches Urteil zu fällen. Also kann eine Tatsache unmöglich bloß die Beziehung zwischen zwei Elementen sein. Man könnte diese Diskussion weiter fortsetzten. Betrachten wir z. B. das Urteil „ Dieses Bild ist schön “ . Stimmt es, dass es eine Tatsache zum Ausdruck bringt bzw. bezeichnet? Wenn ja, welche wäre das? Bestimmt nicht die, dass das Bild, das ich als „ schön “ bezeichne, wirklich schön ist. Die Mehrheit der Betrachter könnte es durchaus „ scheußlich “ finden. Vielleicht aber die Tatsache, die mit dem fraglichen Urteil zum Ausdruck gebracht bzw. gedeutet wird, dass ich überzeugt davon bin, dass das Bild schön ist. Kann man aber eine Überzeugung als Tatsache beschreiben? Auch hier bleiben viele Fragen offen. Es scheint also zumindest fraglich, ob sich ein Urteil immer als ein Zeichen für eine Tatsache auffassen lässt. Wenn aber nicht, was ist ein Urteil dann? Vielleicht ist es ein bloßes Zeichen für eine real existierende oder aber bloß vermeintliche Beziehung zwischen zwei Gegenständen (sehr breit gefasst)? Eine Wörterbuchdefinition des Begriffs „ Urteil “ im philosophischen Sinne besagt, dass es sich bei ihm um eine „ in einen Satz gefasste Erkenntnis “ handelt (Duden 1996, S. 1625). Dies scheint zu eng gefasst, denn eine solche Definition schließt die Möglichkeit von Urteilen, die falsch sind, aus. Der gewöhnliche Gebrauch des Wortes (im philosophischen Sinne) lässt aber eine solche Möglichkeit durchaus zu. Denn der Satz „ Es gibt grüne Männchen auf dem Mars “ würde durchaus als ein Urteil 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 131 <?page no="146"?> gelten, obschon ihm höchstwahrscheinlich keine Tatsachen entsprechen, der Satz also kaum als eine Erkenntnis gelten kann. Eine solche Möglichkeit lässt Schlick übrigens selbst durchaus zu (AE, S. 235 107 ). Was ein Urteil ist, muss hier nicht endgültig entschieden werden. Für unsere Zwecke reicht es, wenn wir einfach festhalten, dass Schlicks Auffassung vom Wesen des Urteils fraglich ist. Und schließlich müssen wir uns mit der Frage befassen, ob die Behauptung zutrifft, dass ein Urteil ein Zeichen ist. Wir haben bereits festgestellt, dass es unmöglich (ausschließlich) ein Zeichen einer Tatsache sein kann. Wir haben auch bereits die Frage diskutiert, ob es sich bei Begriffen um bloße Zeichen handeln könnte, und sind zu dem Schluss gekommen, dass dies eher unwahrscheinlich ist. Uns schien die Annahme berechtigt, dass Begriffe doch mehr sind als bloße Zeichen. Aber wenn das so ist, trifft es höchstwahrscheinlich auch auf die Urteile zu, denn diese werden in begrifflicher Sprache verfasst. Alle diese scheinbar völlig abstrakten und nutzlosen Überlegungen haben weitreichende Folgen. Denn aus der Annahme, dass alles Urteilen ein In- Beziehung-Setzen ist, zieht Schlick nicht nur den Schluss, dass Begriffe und Urteile gleichsam Systeme von Netzen bilden 108 - und auch die „ Systeme unserer Wissenschaften [. . .] ein Netz [bilden], in welchem die Begriffe die Knoten und die Urteile die sie verbindenden Fäden darstellen “ (AE, S. 230) - , sondern auch, und dies ist viel entscheidender, dass das Erkennen in einem solchen In-Beziehung-Setzen besteht. § 8 schließt mit der Feststellung: „ Dieser Zusammenhang [zwischen Begriffen und Urteilen] macht das Wesentliche der Erkenntnis aus. Ihre Möglichkeit beruht darauf, dass die Begriffe durch Urteile miteinander verbunden sind. Nur in Urteilen ist Erkenntnis “ (AE, S. 233). Und am Anfang von § 9 stellt Schlick fest: „ Erkenntnis bedeutet Aufdeckung einer Beziehung zwischen Gegenständen; indem wir eine Erkenntnis aussprechen, bezeichnen wir also eine Beziehung, und indem wir eine Beziehung bezeichnen, fällen wir ein Urteil “ (AE, S. 235). Stimmt das? Eine Person kann man anhand ihrer gegenseitigen Beziehungen zu den Familienmitgliedern eindeutig bestimmen. Solche Beziehungen bilden ein Netz, in dem jede Person einen Knoten und in dem die Beziehungen zwischen dieser Person und den anderen Familienmitgliedern die „ verbindenden Fäden darstellen “ . Miriam ist die Tochter von Paul und Karla Müller, Stefan ihr älterer Bruder und Ida ihre jüngere Schwester. Pauls Vater heißt . . .usw. Angenommen ich hätte eine bestimmte Person mittels eines solchen Familiennetzes eindeutig bestimmt, habe ich sie damit schon erkannt? Weiß ich etwas 107 „ Jedes Urteil, das nicht eine offene Tautologie oder eine Definition ist, enthält eine Erkenntnis (sofern es nicht etwa falsch ist [. . .]). “ 108 „ So bildet jeder Begriff gleichsam einen Punkt, in welchem eine Reihe von Urteilen zusammenstoßen [. . .]. Er ist wie ein Gelenk, das sie alle zusammenhält “ (AE, S. 230). 132 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="147"?> über Miriam, wenn ich weiß, dass sie die Tochter von Paul und Karla ist (und sonst nichts über diese Personen weiß)? Offensichtlich nicht. Es mag stimmen, dass die Aussage „ Miriam ist die Tochter von Paul “ ein Urteil darstellt und dass dieses Urteil eine Erkenntnis beinhaltet, aber es ist auch offensichtlich, dass diese Erkenntnis nicht hinreicht, um sagen zu können, ich hätte Miriam erkannt. Darauf könnte Schlick entgegnen, dass dies sicher nicht die vollständige Erkenntnis von Miriam sei, dass mich aber nichts daran hindert, weitere Beziehungen zwischen ihr und anderen „ Gegenständen “ zu entdecken, und dass, wenn ich sie alle entdeckt habe, ich über die vollständige Erkenntnis von Miriam verfügen werde. Ist es aber nicht so, dass wir normalerweise denken, wir erkennen Miriam nicht dadurch, dass wir ihre familiären, sozialen und sonstigen Netzwerke erforschen (wenngleich derartige Kenntnisse durchaus zu unserem Wissen von Miriam beitragen können), sondern dadurch, dass wir herausfinden, welche Person sie völlig unabhängig von solchen Beziehungen ist: ist sie tapfer, ist sie feige, warmherzig oder kalt, weltoffen oder eine Eigenbrötlerin, welche Musik mag sie, was sind ihre Lieblingsfreizeitbeschäftigungen, welchen Beruf übt sie aus usw. Darauf könnte Schlick entgegnen: Kein Problem, denn „ [e]inen Gegenstand erkennen heißt, einen andern in ihm wiederfinden oder auffinden “ (AE, S. 233). In Schlicks Terminologie ist eine Charaktereigenschaft wie z. B. Tapferkeit ein „ Gegenstand “ , demnach gehört: Tapferkeit in Miriam „ wiederfinden oder auffinden “ durchaus zum Erkenntniskerngeschäft. Das Problem ist, dass Schlick unter „ einen andern in ihm wiederfinden oder auffinden “ eindeutig etwas anderes versteht, und zwar etwas, was man heute mit dem Begriff „ Reduktion “ bezeichnet. Als ein typisches Beispiel des „ Erkennens von A als B “ oder dafür „ dass A B ist “ führt er die Identifizierung des Lichts mit einem „ Schwingungsvorgang “ an (AE, S. 233) und ergänzend schreibt er, dass es sich bei einer solchen Identifizierung nicht um die Zurückführung (Reduktion) eines Gegenstand auf einen anderen kraft bloßer Definitionen (etwa „ Junggeselle ist ein unverheirateter junger Mann “ ), sondern vielmehr „ kraft heterogener Zusammenhänge “ handelt. Sind zwei Begriffe auf ganze verschiedene Weise definiert und findet man dann, dass unter den Gegenständen, die der eine vermöge seiner Definition bezeichnet, auch solche sind, die unter den zweiten Begriff fallen, dann ist der eine durch den andern erkannt. (AE, S. 234) Diese Formulierung ist offensichtlich so gewählt, dass man sagen kann: Unter den unterschiedlichen Arten der elektromagnetischen Strahlung, gibt es eine (zwischen 380 und 780 nm Wellenlänge), die wir als Licht wahrnehmen. Das Licht ist also elektromagnetische Strahlung, aber nicht jede Form dieser Strahlung ist auch Licht. So viel ist klar. Da sich die Umfänge der beiden Begriffe nicht vollständig decken, lässt Schlicks Formulierung jedoch die Frage offen, ob es Formen des Lichts geben kann, bei denen es sich nicht um elektromagnetische Strahlung handelt. Vermutlich meint er jedoch, dass alle 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 133 <?page no="148"?> „ Gegenstände “ , die unter den Begriff „ Licht “ fallen, auch unter den Begriff der „ elektromagnetischen Strahlung “ fallen, dass also die Beziehung zwischen den beiden Begriffen keine symmetrische ist. Mir scheint an dieser Stelle ein Kommentar zu einer gewissen Verschiebung angebracht, die sich im Denken Schlicks vollzogen hat, verglichen mit den ursprünglichen Beispielen des Erkenntnisprozesses, und die hier zum Vorschein kommt. Wir erinnern uns, dass Schlick den alltäglichen Erkenntnisvorgang am Beispiel der Erkenntnis, dass „ ein bewegliches braunes Etwas “ ein Tier, ein Hund, und schließlich „ mein Hund Tyras “ ist (AE, S. 147). Wenn wir sagen, „ ein Hund ist ein Tier “ , haben wir eine andere Empfindung, als wenn wir sagen, „ Licht ist eine Form der elektromagnetischen Strahlung “ . Schliesslich ist es, wie bereits erwähnt, üblich, die Aussagen der letzteren Art (es gibt selbstverständlich unzählige weitere davon: Wasser ist H 2 O; Bewusstsein ist ein Ergebnis der Nervenprozesse im Gehirn; Der menschliche Leib ist eine Ansammlung von Molekülen usw.) als Fälle von Reduktion zu bezeichnen, dennoch hat man nicht das Gefühl, dass, wenn man sagt, „ ein Hund ist ein Tier “ , man den Hund auf das Tier reduziert. Wieso eigentlich? Die Vermutung liegt nahe, dass dieser subtile Unterschied in der Empfindung damit zusammenhängt, dass wir das Gefühl haben, es gibt in der Welt nicht nur „ natürliche Arten “ (Hunde, Katzen, Bäume, Menschen usw.), sondern auch eine „ natürliche Hierarchie “ der Begriffe: alle Hunde sind Säugetiere, alle Säugetiere sind Wirbeltiere, alle Wirbeltiere sind Chordatiere, alle Chordatiere sind Tiere, alle Tiere sind Lebewesen, und wir haben keine Schwierigkeit damit, die enger gefasste Klasse als einen Teil der breiter gefassten Klasse anzuerkennen. Oberflächlich betrachtet liegt der Fall des Lichts ganz ähnlich: wir haben eine enger gefasste Klasse (verschiedene Formen des Lichts, z. B. verschiedene Farben) als einen Teil einer breiter gefassten Klasse: elektromagnetische Strahlung, die neben dem Licht noch andere Formen der Strahlung umfasst (Radiowellen, Infrarot, ultraviolette Strahlung, Röntgenstrahlung, Gammastrahlung usw.), anerkannt. Und dennoch, ein gewisses Unbehagen bleibt. Wieso? Sehen wir ein Tier auf der Weide, haben wir kein Problem damit, es als z. B. „ eine Kuh “ zu bezeichnen. Sehen wir eine Welle auf dem Teich, haben wir ebenfalls kein Problem damit, sie als eine solche zu benennen. Der Satz: „ Das Licht ist eine Welle “ (oder „ eine Photonenwelle bzw. Photonenstrom “ ) hingegen erzeugt gewisse Widerstände. Wieso? Erstens muss festgehalten werden, dass man eine Kuh oder eine Welle problemlos sehen kann, das Licht hingegen eigentlich nicht. Wir sehen eigentlich nicht das Licht, sondern lediglich die vom Licht beleuchteten Gegenstände. Man kann sich davon überzeugen, wenn man den nächtlichen Himmel betrachtet. Dieser erscheint schwarz, mit Ausnahme der leuchtenden Punkte der Sterne und ggf. der leuchtenden Mondscheibe. Der interstellare Raum ist jedoch durch und durch beleuchtet: das Licht der Sonne und der anderen Sterne kann sich in ihm ungehindert verbreiten, es ist dort anwesend, immer auf dem Weg von der Sonne (oder anderen Sternen) in die 134 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="149"?> entferntesten Winkel des Solarsystems bzw. des Universums. Dieser interstellare Raum erscheint uns allerdings als schwarz. Das Licht ist also eigentlich unsichtbar. Zweitens sehen wir, anders als bei einem Teich oder dem Meer, die Wellen nicht dort, wo wir das Licht vermuten. Das Licht scheint unter gewissen Bedingungen gewisse Phänomene zu erzeugen, die auf seine Wellennatur schließen lassen (Interferenzmuster in einem Doppelspaltexperiment), aber darf man von der Tatsache, dass das Licht sich wie eine Welle verhalten kann, darauf schließen, dass es eine Welle ist? Der Mensch kann kriechen, aber er ist kein Regenwurm. Und darf man aus der Tatsache, dass das Licht sich wie ein Teilchenstrom verhalten kann, schließen, dass es nichts anderes als ein solcher Teilchenstrom ist? Der Mensch kann springen, aber er ist deshalb kein Fussball. Wir haben keine Schwierigkeit damit anzuerkennen, dass der Mensch weder ein Wurm noch ein Fussball ist, denn wir sehen, dass er noch viele andere Eigenschaften hat, die weder diesem noch jenem zukommen. Können wir aber sicher sein, dass das Licht keine anderen Eigenschaften hat, als die uns bis jetzt bekannten? Vielleicht ist das Licht viel mehr als bloß „ eine Welle “ oder ein „ Teilchenstrom “ , und vielleicht finden wir deshalb, weil wir diese Tatsache dumpf ahnen, den Satz „ Das Licht ist eine elektromagnetische Strahlung “ problematisch? Es scheint darüber hinaus angebracht, auf eine besondere Stelle in Schlicks Gedankengang aufmerksam zu machen. Am Ende von § 8 schreibt er: „ Jedes Urteil setzt einen Begriff zu andern Begriffen in Beziehung “ (AE, S. 233). Diese Formulierung erweckt den Eindruck, dass das Urteil nicht die bereits bestehenden Beziehungen zwischen „ Gegenständen “ gleichsam begrifflich „ widerspiegelt “ , sondern dass es eine neue Beziehung (und zwar zwischen Begriffen, nicht zwischen Gegenständen) setzt oder womöglich sogar konstruiert. Träfe diese Interpretation zu, würde sie ohne Frage „ Tür und Tor öffnen “ für die Erkenntniswillkür oder Subjektivität: die ausgesagten Beziehungen wären dann nicht in der Welt, sondern nur in unseren „ Köpfen “ vorhanden. Das will Schlick bestimmt nicht sagen. Er schreibt auch explizit, dass das Finden, dass unter gewissen Gegenständen, die auf eine bestimmte Art definiert werden, auch solche fallen, die auf eine andere Art definiert sind (elektromagnetische Wellen/ Licht), auf zwei Wegen gewonnen werden könne: 1) durch Begriffsanalyse (z. B. man kann zeigen, dass sich das Licht in Übereinstimmung mit gewissen mathematischen Gleichungen verhält); 2) „ durch Beobachtung und Erfahrung - und dann ist dadurch eine Erkenntnis realer Zusammenhänge gewonnen [. . .] “ (AE, S. 234f.). Wir werden aber bald sehen, dass diese zweideutige Formulierung keineswegs bloß eine vernachlässigbare Ungenauigkeit von Schlicks Seite darstellt, sondern dass sie doch tiefere Gründe hat. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 135 <?page no="150"?> 6) „ [E]in Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr. “ Im § 10 diskutiert Schlick einen der zentralsten Begriffe jeder Erkenntnistheorie, den Begriff der Wahrheit, und dabei gelangt er wiederum zu überraschenden und kontraintuitiven Schlüssen. Warum ordnen wir den Gegenständen Begriffe zu, fragt Schlick nochmals? Um über sie urteilen zu können. Warum aber urteilen wir? Wir haben seine Antwort bereits in der Zusammenfassung seines Werkes kennengelernt, deshalb nur kurz zur Wiederholung: Wo es unhandlich ist, mit den Gegenständen zu hantieren (wie z. B. in einer Bibliothek mit Büchern), setzen wir an die Stelle der Gegenstände Zeichen (Katalogeinträge). Eine Bedingung muss aber erfüllt sein, damit das System funktionieren kann: die Zuordnung der Zeichen zu den Gegenständen muss eindeutig sein. Das gilt auch für die Zuordnung der Urteile zu Tatsachen; bei Schlick heißt es: „ [E]in Urteil, das einen Tatbestand eindeutig bezeichnet, heißt wahr “ (AE, S. 254) Nachdem er diese überraschende Feststellung formuliert hat, verteidigt er sie. Früher wurde Wahrheit fast immer als Übereinstimmung des Denkens mit seinem Objekt definiert, schreibt er. Aber was ist Übereinstimmung? Keine Gleichheit, denn das Urteil ist mit dem Beurteilten nicht identisch (ist nur ein Zeichen dafür, für die Tatsache). Vielleicht ist das, was mit „ Übereinstimmung “ gemeint ist, keine Gleichheit (Identität), sondern eine bloße Ähnlichkeit? Aber sind unsere Urteile den Tatsachen ähnlich, fragt Schlick und stellt dann fest, dass die im Urteil auftretenden Begriffe den durch sie bezeichnenden Gegenständen gewiss nicht ähnlich sind, aber genauso wenig den Beziehungen, die sie bezeichnen. „ In dem Urteil ‚ der Stuhl steht rechts vom Tisch ’ wird doch nicht der Begriff des Stuhles rechts vom Begriff des Tisches gestellt “ (AE, S. 256). Schlick schließt seine Diskussion dieses Problems mit der Feststellung: So zerschmilzt der Begriff der Übereinstimmung vor den Strahlen der Analyse, insofern er Gleichheit oder Ähnlichkeit bedeuten soll, und was von ihm übrig bleibt, ist allein eindeutige Zuordnung. In ihr besteht das Verhältnis der wahren Urteile zur Wirklichkeit. (AE, S. 256) Diese Feststellung erstaunt, denn selbst nachdem man zwei mögliche Analysen des Begriffs „ Übereinstimmung “ in Bezug auf den Wahrheitsbegriff (zu Recht) zurückgewissen hat, bleiben sicher noch weitere Möglichkeiten auf dem Kampffeld des Wahrheitsbegriffs, die untersucht werden sollten (z. B. Wahrheit als Nichtwiderspruch oder Wahrheit als das, was sich in der Praxis bewährt usw.). Schlicks Feststellung bzw. Schluss setzt eigentlich folgende Prämissen voraus: 1) Ich habe unterschiedliche Verständnismöglichkeiten des Wahrheitsbegriffes untersucht und fand, dass sich nur zwei davon als tragfähig erwiesen: Wahrheit in der Form der Übereinstimmung und als eindeutige Zuordnung. 2) Ich habe unterschiedliche Verständnismöglichkeiten des Begriffs der „ Übereinstimmung “ untersucht und dabei festgestellt, dass es nur zwei tragfähige Interpretationsmöglichkeiten dieses Begriffs gibt: 136 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="151"?> a) Übereinstimmung ist Identität (des Urteils und der Tatsache); b) Übereinstimmung ist Ähnlichkeit (des Urteils und der Tatsache). 3) Ich habe die Varianten a) und b) untersucht (s. oben) und festgestellt, dass sie abgewiesen werden müssen. Ergo bleibt nur eine Möglichkeit: Wahrheit besteht in der eindeutigen Zuordnung. Schlick hat von den drei Prämissen eigentlich nur eine, nämlich 3), einigermaßen adäquat begründet, ist also zu seinem Schluss überhaupt nicht berechtigt. Der Leser ist erneut erstaunt, wie wenig folgerichtig Schlicks Denken eigentlich ist, trotzdem es sich den Anschein strenger Konsequenz gibt. Da nun die Idee der Wahrheit als eindeutiger Zuordnung völlig neu und nicht sofort intuitiv nachvollziehbar ist und sie bis jetzt eigentlich überhaupt nicht begründet, sondern bloß thetisch festgestellt wurde, fühlt sich Schlick zu ihrer Verteidigung genötigt. Wiewohl ihre Rechtfertigung überraschend knapp ausfällt. Seine Verteidigungsstrategie besteht aus zwei Schritten. Im ersten versucht er die Idee, dass das Urteil mehr als ein Zeichen einer Tatsache sein könnte, zu diskreditieren. Man muss sich durchaus des Gedankens entschlagen, als könne ein Urteil im Verhältnis zu einem Tatbestand mehr sein als ein Zeichen, als könne es inniger mit ihm zusammenhängen denn durch bloße Zuordnung, als sei es imstande, ihn irgendwie adäquat zu beschreiben oder auszudrücken oder abzubilden. Nichts dergleichen ist der Fall. Das Urteil bildet das Wesen des Beurteilten so wenig ab wie die Note den Ton, oder wie der Namen eines Menschen seine Persönlichkeit. (AE, S. 257) Der Leser merkt, dass dies eigentlich keine rationale Begründung seiner Behauptung, sondern bloß eine Beschwörung derselben ist. Schlick liefert keine neuen Argumente, die seine These stützen könnten, er wiederholt diese nur nochmals und illustriert sie mit einer (vermeintlichen) Analogie. Der zweite Schritt ist sehr interessant. Schlick schreibt: Eindeutigkeit ist die einzige wesentliche Tugend einer Zuordnung, und da die Wahrheit die einzige Tugend der Urteile ist, so muss die Wahrheit in der Eindeutigkeit der Bezeichnung bestehen, zu welcher das Urteil dienen soll. (AE, S. 257) Angenommen, dass ein Urteil tatsächlich ein Zeichen einer Tatsache ist (was wir oben in Frage gestellt haben), folgt Schlicks Schluss hieraus? Zum einen ist auffallend, dass Schlick sich des Begriffs der „ Tugend “ bedient, was in der Wissenschaft bekanntlich ganz unüblich ist, da dieser Begriff in die wissenschaftliche Diskussion Werte einführt, was man innerhalb des Empirismus normalerweise tunlichst vermeidet, damit sich in den streng objektiven Diskurs, wie es heißt, keine Subjektivität einschleicht. Man kann versuchen, diesen Begriff durch das neutrale „ Eigenschaft “ zu ersetzen, wodurch die Schwierigkeit sich zwar wesentlich verringern, aber nicht ganz verschwinden würde. Denn indem man von „ wesentlicher “ Eigenschaft sprechen wollte, müsste man eigentlich objektiv angeben können, wieso eine bestimmte 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 137 <?page no="152"?> Eigenschaft wesentlicher sei als andere. Wir sehen hier die Wurzel oder die ersten Anzeichen eines Streits, der Jahrzehnte später (insbesondere nach der Veröffentlichung von Kuhns Structure of Scientific Revolutions im Jahr 1962) innerhalb des logischen Positivismus ausgebrochen ist und der sich um den Status der Werte innerhalb der Wissenschaft drehte. Doch belassen wir es bei diesem Ausdruck und schauen, ob wir den Schluss dann schon als begründet erachten können. Eindeutigkeit ist „ die einzige wesentliche Tugend “ einer Zuordnung. Stimmt das? Ist es nicht eher so, dass man sich durchaus unterschiedliche eindeutige Zuordnungen vorstellen kann, die jedoch nicht gleichwertig sind. Z. B. könnte man sich vorstellen, dass man jedem Buch in einer Bibliothek ein und nur ein Gemälde in irgendeinem Museum der Welt zuordnen würde. Die Zuordnung wäre eindeutig, wäre sie aber auch nützlich? Genauso könnte man jedem Buch eine zufällige Zahl zuordnen, die jeweils für ein neues Buch gesondert generiert würde (wobei man strengstens darauf achten würde, dass eine Zahl, die bereits einem Buch zugeordnet worden war, nicht nochmals zum Einsatz käme). Wäre eine solche Zuordnung in einer Bibliothek etwas wert? Man kann sich auch weitere Beispiele von eindeutigen Zuordnungen gewisser Zeichen zu bestimmten Büchern ausdenken. Es zeigt sich unmittelbar, dass Eindeutigkeit sicherlich nicht „ die einzige wesentliche Tugend “ einer Zuordnung ist. Wie steht es aber mit der Behauptung, dass die Wahrheit die einzige „ Tugend “ der Urteile ist? „ Der Schnee ist kalt “ , „ Die Tage im Sommer sind länger als im Winter “ , „ Der (gesunde) Mensch hat zwei Beine “ , „ Ein Panzer ist schwerer als ein Schmetterling “ , „ Das Produkt von 20 und 30 ist eine Zahl zwischen 1 und 1.000.000 “ . Ich könnte noch Tausende solcher „ Wahrheiten “ produzieren, doch dürften diese bereits ausreichen, um sich klarzumachen, dass die Wahrheit nicht die einzige „ Tugend “ der Urteile ist. Die Urteile, besonders in der Wissenschaft, müssen nicht nur wahr, sondern und vor allem auch noch wichtig, interessant, neu, vielleicht auch im Sinne Poppers riskant usw. sein. Was folgt aber daraus, dass Eindeutigkeit nicht „ die einzige wesentliche Tugend “ der Zuordnung und Wahrheit nicht „ die einzige wesentliche Tugend “ der Urteile ist? Es folgt, dass die von Schlick vollzogene Identifizierung der Wahrheit mit der Eindeutigkeit der Zuordnung völlig unbegründet dasteht. Denn seine Denkfigur war diese: 1) Das Urteil ist eine Zuordnung (wir haben gesehen, dass die Wahrheit diese Prämisse äußerst zweifelhaft ist); 2) Die zentrale Eigenschaft der Zuordnung ist Eindeutigkeit; 3) Die zentrale Eigenschaft der Urteile ist Wahrheit. Ergo: Wahrheit ist Eindeutigkeit der Zuordnung. Wenn aber sowohl die Zuordnungen als auch die Urteile über mehrere wichtige Eigenschaften verfügen, ist überhaupt nicht klar, welche mit welchen „ gepaart “ werden sollten, wenn überhaupt. Übrigens begeht Schlick mit seiner Schlussmethode an dieser Stelle noch einen anderen logischen Fehler. Seine Gedankenschritte sind, wie wir gese- 138 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="153"?> hen haben, die folgenden: Urteile sind Zuordnungen; zentrale Tugend des Urteils ist Wahrheit; zentrale Tugend der Zuordnung Eindeutigkeit, ergo ist Wahrheit Eindeutigkeit der Zuordnung. Die Mangelhaftigkeit der Schlussmethode lässt sich an einem Beispiel ihrer Anwendung (auf einen anderen Fall) leicht erkennen. Eine Katze ist ein Säugetier, dies ist unbestritten; die zentrale Eigenschaft einer Katze ist, (sagen wir) dass sie Mäuse fängt; die zentrale Eigenschaft eines Säugetiers ist, (sagen wir) dass sich seine Jungen von der Milch der Mutter ernähren. Ergo ist Mäuse fangen, sich von der Milch der Mutter ernähren. Offensichtlich stimmt hier etwas nicht . . . Das Problem besteht darin, dass, wenn man eine Klasse von Objekten als sich innerhalb einer anderen, größeren Klasse befindend einordnet (alle Katze sind Säugetiere, aber nicht umgekehrt; alle Urteile sind Zuordnungen, aber nicht umgekehrt), die zentrale Eigenschaft der übergeordneten Klasse mit der zentralen Eigenschaften der kleineren Klasse zwangsläufig nicht identisch ist. Die zentrale Eigenschaft der kleineren Klasse muss sich von der zentralen Eigenschaft der größeren Klasse unterscheiden, um überhaupt die Grundlage zur Bildung der kleineren Klasse abgeben zu können. Die zentralen Eigenschaften zweier Klassen werden identisch sein, wenn die Klassen identisch sind (Junggeselle, unverheirateter Mann), dann aber sind sie eine Eigenschaft (unverheiratet). Schlick hat uns also keine stichhaltigen Argumente für seine Behauptung geliefert, dass Wahrheit in der eindeutigen Zuordnung besteht. Es ist jedoch logisch möglich, dass er die Wahrheit auch ohne gute Argumente getroffen hat. Denn wie allgemein bekannt, kann man logisch aus falschen Prämissen zu einem richtigen Schluss gelangen. Wir müssen also noch gesondert untersuchen, ob Schlicks Behauptung in Bezug auf das Wesen der Wahrheit Sinn macht oder nicht. Wir haben uns bereits eine Vorstellung darüber gebildet, worin eine eindeutige Zuordnung eines Begriffs (als ein Zeichen verstanden) zu einem Gegenstand bestehen soll. Schlick betont jedoch, dass nur ein Urteil, nicht aber ein Begriff, wahr oder falsch sein kann (AE, S. 263). Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Fällen der Bezeichnung? Schlick argumentiert, dass sich der Unterschied daraus ergibt, dass nur im Falle eines Urteils, nicht aber in dem eines Begriffs, der Vollzug der Zuordnung beabsichtigt ist. Wenn ich das Wort „ Wasser “ ausspreche und mir die Vorstellung Wasser zur Vertretung des Begriffs vergegenwärtige, so kann dabei nichts Wahres oder Falsches, nichts Eindeutiges oder Mehrdeutiges sein. Wenn ich aber beim Aussprechen des Wortes auf eine farblose Flüssigkeit zeige, so wird meine Handlung sofort einem Urteil äquivalent; ich deute damit an, dass ich eine Zuordnung vollziehen will, und die kann nun in der Tat richtig oder falsch sein. (AE, S. 263) „ Wenn ich das Wort ‚ Wasser ’ ausspreche und mir die Vorstellung Wasser zur Vertretung des Begriffs vergegenwärtige, so kann dabei nichts Wahres oder 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 139 <?page no="154"?> Falsches, nichts Eindeutiges oder Mehrdeutiges sein “ . Stimmt das? Nehmen wir an, ich habe ein Kind vor mir, von dem ich herausfinden soll, ob es die Bedeutungen unterschiedlicher Begriffe richtig versteht. Nehmen wir an, ich habe mich entschlossen, diese Aufgabe dadurch zu erledigen, dass ich dem Kind eine Anzahl von verschiedenen Bildern gebe, aus denen das Kind ein passendes für einen Begriff auswählen soll. Nehmen wir weiter an, dass ich das Wort „ Wasser “ ausspreche und dem Kind Zeit lasse, das passende Bild zu finden. Das Kind wählt jedoch ein Bild eines Fahrrads. Dies ist eindeutig falsch. Ich bin berechtigt, diese Handlung so zu interpretieren, dass das Kind dieses Wort nicht richtig versteht. Auf der anderen Seite muss festgehalten werden, dass wir es hier mit der Zuordnung eines Wortes zu einem (durch das Bild repräsentierten) Begriff zu tun haben, und nicht mit der Zuordnung des Begriffs zu einem Gegenstand/ Objekt. Dies wäre der Fall, wenn das Kind, sagen wir, eine in Worte gefasste, also „ explizite “ (AE, S. 217) Definition eines Begriffs (z. B. Wasser ist eine durchsichtige Flüssigkeit, die Durst stillt, Feuer löscht und in großen Mengen in Seen, Flüssen, und Meeren oder Ozeanen vorhanden ist) mit einem Bild in Einklang bringen sollte. Wenn wir sicher wären, dass das Kind alle in der Definition gebrauchten Worte richtig versteht und dennoch das Bild des Fahrrads als das der Definition entsprechende wählt (was selbstverständlich sehr unwahrscheinlich ist), dann würden wir doch sagen wollen, dass die Zuordnung falsch ist (und etwas Gravierendes mit dem Kind nicht in Ordnung ist). Interessanterweise würden wir in einem solchen Fall von der „ richtigen “ oder „ falschen “ , nicht aber von der „ wahren “ oder „ falschen “ Zuordnung sprechen wollen, aber wir haben jetzt nicht die Zeit, uns mit dieser Feinheit zu beschäftigen. 109 Es ist schon richtig, dass wir erst bei dem Urteil „ Dies hier ist Wasser “ von seiner Wahrheit bzw. Falschheit sprechen. Geben wir Schlick so viel zu und fragen weiter. Wir wollen wissen, ob die eindeutige Zuordnung eines Urteils zu einer Tatsache tatsächlich das Wesen der Wahrheit ausmacht. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst Klarheit darüber verschaffen, worin die eindeutige Zuordnung eines Urteils zu einer Tatsache bestehen soll. Um dieses Ziel erreichen zu können, müsste man einerseits die Fälle einer mehrdeutigen Zuordnung, andererseits solche einer eindeutigen Zuordnung konstruieren, um durch einen Vergleich zwischen ihnen das Wesen der eindeutigen Zuordnung genau fassen zu können. Nun liefert uns Schlick ein Beispiel für beides, der sehr interessant ist. Er schreibt: Wenn diese Bestimmung richtig ist [dass die Wahrheit in der Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteils zu der Tatsache bestehe], so kann ein falsches Urteil nichts anderes sein, als ein solches, das eine Mehrdeutigkeit der Zuordnung verschuldet. Dies lässt sich in der Tat sehr leicht bestätigen. Nehmen wir etwa, um an unser altes 109 Wir werden aber auf sie in dem Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ eingehen. 140 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="155"?> Beispiel anzuschließen, das falsche Urteil: „ Ein Lichtstrahl besteht in einem Strome schnell bewegter Körperchen “ [. . .], so werden wir bei Prüfung aller Tatsachen, die die physikalische Forschung uns kennen gelehrt hat, bald gewahr, dass dieses Urteil keine eindeutige Bezeichnung der Tatbestände ermöglicht. Wir würden nämlich finden, dass hierbei zwei verschiedenen Tatsachenklassen dieselben Urteile zugeordnet wären, dass also eine Zweideutigkeit vorläge. Es wären ja einerseits die Tatsachen, bei denen es sich wirklich um bewegte Korpuskeln handelt, wie etwa Kathodenstrahlen, andererseits die Tatsachen der Lichtfortpflanzung durch dieselben Symbole bezeichnet. Überdies würden zugleich auch zwei identischen Tatsachenreihen, nämlich der Lichtfortpflanzung einerseits, der Wellenausbreitung andererseits, verschiedene Zeichen zugeordnet sein. Die Eindeutigkeit wäre verloren, und der Nachweis davon ist der Nachweis der Falschheit jenes Urteils. (AE, S. 257f.) Schlick geht also etwa folgendermaßen vor: Wir sind der Ansicht, dass das Licht in einem Strome schnell bewegter Körperchen bestehe. Dann aber stellen wir fest, dass dies nicht der Fall ist, weil Lichtverbreitungsphänomene entdeckt worden sind (z. B. Interferenzmuster beim Beleuchten einer undurchsichtigen Fläche mit zwei kleinen Öffnungen), die auf den Wellencharakter des Lichtes hindeuten. Weil sich nun unsere ursprüngliche Behauptung auf zwei unterschiedliche Tatsachenreihen beziehen bzw. ihnen zugeordnet sein würde, erweist sich die Zuordnung als nicht eindeutig, die These mithin als falsch. Eine seltsame Behauptung. Normalerweise würden wir, nachdem wir uns mit den Ergebnissen der Interferenzexperimente vertraut gemacht haben, doch nicht sagen, dass die ursprüngliche Behauptung sich auf zwei verschiedene Tatsachenklassen bezieht, sondern, dass sie teilweise falsch ist bzw. gewissen Arten der Phänomene nicht entspricht, sie nicht korrekt beschreibt, und deshalb falsch ist. Man kann sich aber auch leicht eine Situation vorstellen, in der sich eine eindeutige Zuordnung dennoch als falsch erweist. Stellen wir uns nochmals die Situation vor, in der ein Kind seine Kenntnisse einer ihm fremden Sprache zeigen soll. Nehmen wir an, das Kind steht noch ganz am Anfang des Lernprozesses. Wir geben ihm zwei Stapel von Karten: in dem einem befinden sich Bilder von Gegenständen, in dem anderen die diesen Gegenständen zugehörenden Worte. Das Kind soll jetzt die Worte den Bildern zuordnen. Gehen wir ferner davon aus, dass das arme Kind alles falsch macht: keine einzige Zuordnung stimmt. Dieses Beispiel veranschaulicht die Tatsache, dass man sich sehr wohl eine eindeutige Zuordnung vorstellen kann, die keineswegs die Wahrheit der mit ihm zusammenhängenden bzw. durch sie zum Ausdruck gebrachten Urteile garantiert. Das obige Zitat zeigt aber auch eine weitere offensichtlich gewordene Schwäche von Schlicks Auffassung des Wesens der Wahrheit: wir wissen heute, oder zumindest meinen wir zu wissen, dass das Licht zugleich Teilchencharakter und Wellencharakter aufweist. Das heißt, nicht in gleichen Situationen, sondern abhängig davon, wie man es untersucht, einmal diese, 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 141 <?page no="156"?> einmal jene Eigenschaften offenbart. Das Urteil: „ Licht ist sowohl Teilchen als auch Welle “ ist also wahr (oder wird heute für wahr gehalten), aber nicht eindeutig. Es zeigt sich also, dass die Zuordnung des Urteils zu einer Tatsache (um bei dieser Terminologie zu bleiben) gar nicht eindeutig sein muss, um ein Urteil als wahr bezeichnen zu können. Wir wissen im Übrigen, oder zumindest meinen wir zu wissen, dass eine solche Mehrdeutigkeit in der Welt der Quantenmechanik sehr verbreitet ist. Nicht nur das Licht, sondern alle Elementarteilchen, sogar auch Moleküle, können in gewissen Situationen als Teilchen, in anderen hingegen als Wellen erscheinen; wir wissen auch, oder zumindest meinen wir zu wissen, dass sich ein Teilchen zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten befinden kann, und vieles mehr, das noch Schlick, der doch Physik studiert hatte, als Verrücktheit gelten musste. Es scheint also zutreffend und richtig, dass die Auffassung, die Wahrheit (eines Urteils) bestehe in der Eindeutigkeit der Zuordnung des Urteils zu einer Tatsache, verworfen werden muss. Die Behauptung, Wahrheit ist Eindeutigkeit der Zuordnung, hat aber für Schlick nicht nur eine rein theoretische Bedeutung. Sie hat auch interessante mehr oder weniger praktische Konsequenzen. Denn wie Schlick folgerichtig bemerkt, hat diese Auffassung eine völlig überraschende und unerwünschte Folge: Man könnte nämlich alle „ Gegenstände “ der Welt mit je einem Zeichen versehen, wodurch man eine eindeutige Zuordnung erhalten, dadurch aber auch eine unendliche Zahl von Wahrheiten hervorbringen würde: Es wäre nun aber nicht angebracht, alle Dinge der Welt in der Weise zu bezeichnen, dass wir lauter einzelne Zeichen dafür erfinden und die Bedeutung eines jeden auswendig lernen. Prinzipiell wäre es zwar leicht möglich, auf dieser Weise eine eindeutige Bezeichnung durchzuführen; und da Wahrheit bloß in [der] Eindeutigkeit der Zuordnung besteht, so wäre es im Prinzip ein Kinderspiel, zu vollkommener Wahrheit zu gelangen. Die Wissenschaften hätten eine gar leichte Aufgabe, wenn Wahrheit einfach mit Erkenntnis identisch wäre. (AE, S. 265) Schlick scheint an dieser Stelle bereits vergessen zu haben, dass er auf S. 263 argumentierte, dass man nicht von der Wahrheit der Zuordnung von Zeichen (Begriffen) zu Gegenständen sprechen könne, dass Wahrheit ausschließlich den Urteilen zukomme, die nach seiner Auffassung keine Zeichen für Gegenstände (Dinge), sondern Zeichen für die Beziehungen zwischen den Gegenständen sind. Man kann ihm diese kleine Unsicherheit der Gedankenführung jedoch verzeihen und zur Hauptsache übergehen. Die Hauptsache ist aber die, dass aus seiner Auffassung vom Wesen der Wahrheit folgt, dass Erkenntnis auf die Entdeckung der Wahrheiten abzielt. Dieses Ziel wäre, wie oben angedeutet, innerhalb seines Systems leicht zu erreichen. Worum bemühen wir uns also in unserem Erkenntnisstreben, wenn nicht um die Wahrheit über die Welt? Dazu stellt Schlick Folgendes fest: Erkenntnis ist mehr, viel mehr als bloße Wahrheit. Letztere verlangt nur Eindeutigkeit der Zuordnung und es ist ihr gleichgültig, welche Zeichen dazu benützt 142 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="157"?> werden; Erkenntnis dagegen bedeutet eindeutige Zuordnung mit Hilfe ganz bestimmter Symbole, nämlich solcher, die bereits anderswo Verwendung fanden. [. . .] Das Erkenntnisurteil ist eine neue Kombination von lauter alten Begriffen. (AE, S. 266f.) An sich ist dieser Gedanke eine konsequente Weiterführung seines ursprünglichen Diktums „ Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden “ (AE, S. 166), der Annahme, dass ein Objekt (wieder)erkannt wird, indem in etwas Neuem etwas Altes wiedergefunden wird (AE, S. 150). Wir haben bereits gesehen, dass diese These der Überprüfung nicht standhält. Die obige Formulierung birgt aber zusätzliche Gefahren in sich. Ohne eine Präzisierung oder Einschränkung würde sie nämlich zu der Absurdität führen, dass ein Urteil der Art „ Der Baum hat fünf Augen, zwei Flügel und vier Räder “ eine neue Erkenntnis bedeuten würde. Dieses Urteil stellt nämlich ohne Zweifel eine neue Kombination von alten Begriffen dar und scheint zumindest eindeutig zu sein. Schlick korrigiert sich jedoch schnell und spricht nicht bloß von Urteilen, sondern von wahren Urteilen: Kraft des Urteilszusammenhanges kommt also der neuen Wahrheit ein ganz bestimmter Platz im Kreise der Wahrheiten zu: die ihr entsprechende Tatsache erhält dadurch den Platz zugewiesen, den sie kraft des Tatsachenzusammenhanges im Reiche der Wirklichkeit einnimmt. Und eben dadurch, dass das Urteil diesen Platz uns anzeigt, wird die Tatsache oder der Gegenstand erkannt. (AE, S. 266) Die Idee eines zusammenhängenden Systems der Wahrheiten hat zweifelsohne etwas Bestechendes an sich. Ist es jedoch berechtigt, darauf zu bestehen, dass das Neue stets auf das Alte zurückgeführt wird? Wir haben bereits gesehen, dass Schlicks Beschreibung des Erkenntnisprozesses eigentlich auf das Wiedererkennen, nicht auf das Erkennen zugeschnitten ist. Man kann sich das in dieser Auffassung vorliegende Problem verdeutlichen, indem man paar Schritte überspringt und zum nächsten Paragraph übergeht. Dort diskutiert Schlick das Verhältnis zwischen Definitionen, Konventionen, und Erfahrungsurteilen. 7) § 11 Definitionen, Konventionen, Erfahrungsurteile Für unsere Zwecke ist weniger interessant, wie Schlick zwischen Definitionen und Konventionen unterscheidet (was an sich ein interessantes Diskussionsthema wäre), sondern welche Auffassung er in Bezug auf das vertritt, was bei ihm „ Erfahrungsurteile “ heißt und was die Hauptverbindung darstellt zwischen dem System der wissenschaftlichen Urteile und dem „ Tatsachenzusammenhang im Reiche der Wirklichkeit “ (AE, S. 266), wobei unser besonderes Augenmerk auf dem Stellenwert liegt, den Schlick diesen Urteilen in seiner Wissenschaftstheorie zuschreibt. Zunächst lassen sich seine Ausführungen intuitiv unmittelbar nachvollziehen: Angenommen, wir haben 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 143 <?page no="158"?> einen Gegenstand einmal erkannt und begegnen ihm dann wieder, möglicherweise auch in anderen Zusammenhängen. Diese Art der Erlebnisse mit dem bereits bekannten Gegenstand nennen wir Erfahrung, wie Schlick schreibt (AE, S. 272). Da sich der betreffende Gegenstand in unserer Erfahrung in unterschiedlichen Relationen zu anderen Gegenständen zeigt, können wir zahlreiche Erkenntnisurteile über diese Verhältnisse fällen, die ihrerseits ein Netz bilden. Dann führt Schlick den Begriff des deskriptiven oder historischen Urteils ein: unter einem solchen versteht er ein Urteil, das nur durch direkte Verbindung mit der Wirklichkeit gefällt werden kann, im Kontrast mit den Urteilen, die sich aufgrund von bekannten Gesetzmäßigkeiten aus diesen (Urteilen) in Verbindung mit Anfangsparametern auf logischem Wege ableiten lassen. Der Name wurde hier so gewählt, weil diese Art von Urteilen vor allem in den beschreibenden und historischen Disziplinen vorkommt, daneben aber auch im täglichen Leben (ebd.). Ein wenig weiter (AE, S. 285) führt Schlick den Begriff des Fundamentalurteils ein. Fundamentalurteile sind diejenigen Sätze des Urteilssystems, „ mit denen es sich unmittelbar auf die wirklichen Tatsachen stützt “ (ebd.), wobei Schlick darunter nicht nur die „ historischen Urteile “ , sondern auch Definitionen versteht (ebd.). Und hier nun folgt eine einigermaßen überraschende Wende. Zunächst weist Schlick zu Recht darauf hin, dass sich die unterschiedlichen Wissenschaften in der Art unterscheiden, wie in ihnen das Urteilssystem der Wissenschaft (Definitionen und Erkenntnisurteile) mit dem „ System der Wirklichkeit “ (ebd.) „ zur Deckung “ kommt. 110 Bei den historischen Wissenschaften muss diese „ Deckung “ in Einzelarbeit gewährleistet werden, es fehlen ihnen die Elemente (wir würden gerne sagen: Gesetze, aber Schlick vermeidet dieses Wort tunlichst), die als Grundlage für die Ableitung der logischen Folgen anderer Urteile des Systems benutzt wurden. Innerhalb dieser Wissenschaften lässt sich folglich die Zukunft nicht voraussagen. Diese unbestrittene Beobachtung führt Schlick nun zu der folgenden einigermaßen erstaunlichen Feststellung: „ Diese [historischen] Disziplinen sind sehr reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ (AE, S. 286). Die „ exakten Wissenschaften “ verfahren diesbezüglich in einer völlig anderen Weise: sie streben danach, die Zahl ihrer Fundamentalerkenntnisse möglichst klein zu halten und stützen sich auf logische Deduktionen, um „ die beiden Systeme [das Urteilssystem der Wissenschaft und das ‚ System der Wirklichkeit ‘ ] zur eindeutigen Übereinstimmung zu bringen “ (AE, S. 287). Schlick singt dann eine Lobeshymne an die Adresse der „ exakten Wissenschaften “ : So gleichen die exakten Wissenschaften nicht einem Maulwurfsbau, der sich durch das Erdreich der Tatsachen windet, sondern einem Eiffelturm, der nur an wenigen Punkten gestützt frei und leicht in die luftige Höhe allgemeinster Begriffe sich 110 Wir haben zuvor gesehen, dass Schlick die Idee der Wahrheit als einer Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit ablehnt. Ist die Vorstellung der „ Deckung “ der Urteile mit dem „ System der Wirklichkeit “ aber nicht in etwa das Gleiche? 144 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="159"?> erhebt, von der aus man die Einzeltatsachen nur um so vollkommener beherrscht. Je weniger fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, desto geringer ist die Zahl der Elementarbegriffe, die sie zur Bezeichnung der Welt gebraucht, desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt. (AE, S. 287) Die historischen Wissenschaften sind also „ reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ und „ je weniger fundamentale Urteile einer Wissenschaft zugrunde liegen, [. . .], desto höher mithin die Erkenntnisstufe, zu der sie uns emporhebt. “ Jetzt sieht man genauer, welche Folgen die Annahme hat, dass Erkennen „ ein Wiedererkennen das Alten in dem Neuen “ sei, ein Hinzufügen des Neuen in das bereits vorhandene System der Urteile. Nimmt man die Geometrie (oder die Mathematik) als Vorbild der Wissenschaft und hält sich zudem an Schlicks Bestimmung des Wesens des Erkenntnisprozesses, so kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass diejenigen Wissenschaften, die auf möglichst wenigen Prämissen bzw. „ Fundamentalurteilen “ oder Gesetzmässigkeiten aufbauen, die sind, die die höchste Erkenntnisstufe erreichen. Diese Sichtweise verkennt völlig, dass das Leben gerade dort, wo es sich nicht voraussagen lässt, reich und interessant ist. Wie wäre es, wenn ich mit der Geburt detailliert wüsste, was ich bis zu meinem Tode alles erleben werde? Würde ich dieses Leben leben wollen? Wie wäre es, wenn ich im Voraus genau wüsste, was ich während einer Ferienreise in ein fremdes Land erleben werde? Würde ich diese Reise unternehmen wollen? Diese Sichtweise verkennt völlig, dass, wenn ich die Positionen der Planeten genau berechnen kann (Schlicks Beispiel S. 273f.), ich mich dafür nicht mehr zu interessieren brauche, dass ich diese Aufgaben genauso gut einem Computer überlassen kann, weil sie völlig uninteressant, zur reinen Routine für mich geworden ist. Schlicks Auffassung vom Wesen des Erkenntnisprozesses verarmt unsere Welt, sie lässt dasjenige, was man in ihr als schöne, neue und überraschende Blumen entdeckt, als lästigen Maulwurfbau des bloßen „ historischen Urteils “ erscheinen. Auf der anderen Seite legt Schlick in der oben zitierten Passage seinen Finger genau auf den Punkt, der entscheidend dafür ist, dass die Voraussagbarkeit so hoch geschätzt wird: es ist zweifelsohne so, dass die „ exakten Wissenschaften “ uns „ die Einzeltatsachen “ auf eine Weise beherrschen lassen, wie die „ historischen Wissenschaften “ uns das nicht ermöglichen können. Wenn die Beherrschung der Welt (bzw. der Natur) im Vordergrund steht, muss man wohl nach dem von Schlick so hoch gepriesenen Wissen der exakten Wissenschaften streben. Ein solches Erkenntnisziel kann man also nachvollziehen. Mehr noch, man kann es als ein notwendiges Ziel der Erkenntnis zu schätzen wissen. Die Autos müssen zuverlässig fahren, die Computer müssen zuverlässig funktionieren, die Wolkenkratzer müssen dem Wind und sogar dem Erdbeben standhalten können, die Flugzeuge sollen bitte ja nicht regelmäßig ohne Grund in der Luft zerschellen. Alle diese Ziele könnten wir ohne exakte Wissenschaften nicht erreichen. Aber man sollte aus 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 145 <?page no="160"?> ihrer Nützlichkeit nicht den Schluss ziehen, dass die „ historischen Wissenschaften “ „ reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ sind. Wenn ich eine neue schöne Orchideenart im Amazonasurwald entdecke, so ist dies doch kein Grund für Zähneknirschen und Selbstvorwürfe, weil ich nicht imstande war, diese Art von den anderen, mir bereits bekannten abzuleiten, sondern ein Grund zur Freude, dass die Welt sich als noch reicher erweist, als ich mir sie vorgestellt habe. 8) § 12 Was Erkenntnis nicht ist Die Festlegung des Erkenntnisbegriffs ermöglicht es Schlick, die Frage zu beantworten, was das Erkennen nicht ist. Man könnte meinen, dass diese Frage an sich nicht interessant ist, Schlick erkennt jedoch ganz richtig, dass seine Bestimmung des Wesens des Erkennens so brisant ist, dass sich das Problem durchaus stellt. Er formuliert die möglichen Einwände gegen seine Position sehr treffend selbst: Wer die Bestimmungen überblickt, die wir bis jetzt über das Wesen der Erkenntnis machen konnten, wird vielleicht von einem Gefühl der Enttäuschung beschlichen. Erkenntnis nichts weiter als ein bloßes Bezeichnen? Bleibt damit der menschliche Geist den Dingen und Vorgängen und Beziehungen, die er erkennen will, nicht ewig fremd und fern? Kann er sich den Gegenständen dieser Welt, der er doch selbst als ein Glied angehört, nicht inniger vermählen? (AE, S. 287f.) Er verteidigt dann seine Auffassung insbesondere gegen die damals einflussreichen Positionen von Husserl und Bergson, welche das Ideal der Erkenntnis in der Anwendung der Intuition erblickten. 111 Schlick polemisiert gegen diese Haltung, indem er behauptet, dass unmittelbare Anschauung - er versteht Intuition offensichtlich als eine solche - , keine Erkenntnisse im eigentlichen Sinne zu liefern imstande sei. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt sei, solange sei er nicht erkannt (AE, S. 293). (Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass er hier seine Position bloß wiederholt, ohne zusätzliche Gründe dafür zu geben.) Durch die Anschauung werden uns Gegenstände nur gegeben, sie werden durch sie nicht begriffen, schreibt er weiter, Intuition sei bloßes Erleben, Erkennen aber sei etwas ganz anderes, sei mehr. Intuitive Erkenntnis sei eine 111 S. 291. Bergson: „ Philosophieren besteht darin, sich durch eine Aufbietung der Intuition in das Objekt selbst zu versetzen “ (Bergson 1909, S. 26). Husserl: „ Es liegt aber gerade im Wesen der Philosophie, sofern sie auf die letzten Ursprünge zurückgeht, dass ihre wissenschaftliche Arbeit sich in Sphären direkter Intuition bewegt, und es ist der größte Schritt, den unsere Zeit zu machen hat, zu erkennen, dass mit der im rechten Sinne philosophischen Intuition, der phänomenologischen Wesenserfassung, ein endloses Arbeitsfeld sich auftut und eine Wissenschaft, die ohne alle symbolisierenden und mathematisierenden Methoden ohne den Apparat der Schlüsse und Beweise, doch eine Fülle strengster und für alle weitere Philosophie entscheidender Erkenntnisse gewinnt “ (Husserl 1910, S. 341). 146 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="161"?> contradictio in adiectio. Der kulturlose Mensch und das Tier sehen die Welt vielleicht besser als wir, aber sie erkennen sie nicht besser, sie erkennen sie nämlich gar nicht. Und damit ist der große Fehler aufgedeckt, den die Intuitionsphilosophen begehen: sie verwechseln Kennen mit Erkennen. Kennen lernen wir alle Dinge durch Intuition, denn alles, was uns von der Welt gegeben ist, ist uns in der Anschauung gegeben; aber wir erkennen die Dinge allein durch das Denken, denn das Ordnen und Zuordnen, das dazu nötig ist, macht eben das aus, was man als Denken bezeichnet. (AE, S. 293) Sind seine Argumente überzeugend? Es ist, so glaube ich, unbestritten, dass das bloße Anschauen keine Erkenntnis liefert. Ich kann eine Uhr so lange anschauen wie ich will, ich werde sie dadurch nicht erkennen, nicht verstehen können, wie sie funktioniert. Genauso unbestritten scheint mir, dass ich mein Denken betätigen muss, um die Welt zu erkennen, und dass sich aus einer solchen Tätigkeit ein gewisses „ Ordnen und Zuordnen “ ergibt. Folgt aber daraus, dass einen Gegenstand erkennen heißt, ihn in ein Begriffssystem einzuordnen (und insbesondere, wie Schlick nicht müde wird zu betonen, „ das Alte in dem Neuem wiederzuerkennen “ ; AE, S. 150), und heißt es, dass die Intuition mit der Erkenntnistätigkeit nichts zu tun hat? Betrachten wir zunächst die erste Frage. Nehmen wir an, dass ich vor mir eine einfache mechanische Uhr habe und ich herausfinden will, wie sie funktioniert. Nehmen wir weiter an, dass es mir gelungen ist, die Uhr zu öffnen, und ich sie nun in ihre Einzelteile zerlege. Dabei stelle ich fest, dass sie im Innern hauptsächlich aus verschiedenen Zahnrädern besteht, dass sich dort auch eine Feder befindet, dazu Edelsteine, die als Lagerung für die Zahnräder dienen, eine Anzeigevorrichtung mit den Zeigern, ein Zifferblatt selbstverständlich, eine Antriebsvorrichtung und vielleicht noch andere kleine Teilchen. Mit Glück und Geschick werde ich nach einer langen Zeit herausfinden können, wie die Uhr aufgebaut ist (und arbeitet), welche Funktion die einzelnen Teilen in dem ganzen Getriebe haben, und ich werde imstande sein, die Uhr wieder zusammenzubauen. Ich weiß jetzt, wie sie funktioniert, ich habe die Uhr erkannt. Ist mir das dadurch gelungen, dass ich sie in ein Begriffssystem eingefügt habe? Ich habe zweifelsohne verschiedene Begriffe gebraucht, um ihre Funktionsweise zu verstehen. So z. B. den Begriff des Zahnrades. Eine Katze, die ein Zahnrad anschaut, wird nie herausfinden können, wozu es gut ist. Ein kleines Kind auch nicht. Ich muss schon eine Vorstellung oder genauer einen Begriff von der Sache haben, um zu wissen, dass ein sich bewegendes Zahnrad das andere antreiben kann und dass die Geschwindigkeiten der beiden von ihren relativen Größen abhängen. Das Gleiche gilt etwa auch für die Antriebsfeder. Für ein Tier genau wie für ein Kleinkind ist eine solche Feder bloß ein Stück Metall mit scharfen Kanten, also etwas, was vor allem gefährlich ist. (Ein Tier wird sogar nicht einmal das „ wissen “ , doch wenn er sich an der Kante der Feder verletzt, wird er bei 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 147 <?page no="162"?> nochmaliger Begegnung vorsichtig sein.) Man muss schon einen Begriff von der Feder haben, um zu wissen, dass sie eben als Antrieb dienen kann. Es scheint mir allerdings offensichtlich, dass sich meine Erkenntnisarbeit in dem vorliegenden Fall nicht mit der Aufdeckung der begrifflichen Verhältnisse zwischen diesen beiden und noch anderen Begriffen erschöpfen wird. Im Gegenteil, ihre begrifflichen Wechselverhältnisse sind im vorliegenden Fall von relativ geringer Bedeutung. In welchem Verhältnis stehen der Begriff des Zahnrades und der Begriff der Feder zueinander? Vielleicht in dem, dass beide (im Falle des Zahnrades allerdings nicht zwingend) aus Metall gefertigt sind. Diese Erkenntnis ist aber für die bevorstehende Aufgabe wenig ersprießlich. Dabei kommt es vielmehr darauf an, dass ich mir, wie man so sagt, eine Vorstellung davon verschaffe, wie die einzelnen Teile der Uhr (nicht die einzelnen Begriffe: es gibt mehr Teile als Begriffe) zusammenwirken. Dieses Beispiel, und man kann es selbstverständlich um beliebig viele vermehren, scheint also darauf hinzuweisen, dass durchaus eine Erkenntnis denkbar ist, die sich nicht in der Einordnung des neuen Phänomens in ein bereits bestehendes Begriffssystem erschöpft. Dieses Beispiel zeigt übrigens auch, dass sich nicht alle Erkenntnis als „ das Wiedererkennen des Alten in dem Neuen “ klassifizieren lässt. Wenn ich die Funktionsweise einer Uhr zum ersten Mal erforsche, so erkenne ich nicht das Alte in dem Neuen, sondern eindeutig etwas Neues. Gehen wir jetzt zur zweiten Frage über: Stimmt es, dass die Intuition mit der Erkenntnistätigkeit nichts zu tun hat? Schlick behauptet, Intuition sei lediglich ein Anschauen und spiele insofern eine gewisse, gleichwohl untergeordnete Rolle im Erkenntnisprozess, da „ alles, was uns von der Welt gegeben ist, [. . .] uns in der Anschauung gegeben [ist] “ (AE, S. 293). Dies sei aber ein bloßes Kennen, kein Erkennen. Diese zwei seien jedoch „ so grundverschiedene Begriffe, dass selbst die Umgangssprache dafür verschiedene Worte hat; und doch werden sie von der Mehrzahl der Philosophen hoffnungslos miteinander verwechselt “ (AE, S. 294). Interessanterweise begründet Schlick seine Auffassung der Intuition (als eine bloße Anschauung) nicht, sondern baut sein Argument gegen sie auf dieser Annahme auf. Ist Intuition Anschauung? Was ist Intuition überhaupt? Schlick hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Umgangssprache zwei verschiedene Worte hat: Kennen und Erkennen, was dokumentiert, dass die beiden Prozesse nicht identisch sind. Da nun die Umgangssprache mit Intuition und Anschauung ebenfalls zwei verschiedene Worte hat, deutet diese Tatsache dann nicht auch darauf hin, dass sich hinter den zwei Worten zwei verschiedene Wirklichkeiten verbergen? Es trifft zu, dass Husserl Intuition als „ Wesensschau “ bezeichnete. Was die Vermutung nahelegt, dass er damit (eine Art von) Anschauung meinte. Dies ist aber nicht die einzige Möglichkeit den Begriff zu verstehen. Bereits in der oben (Fußnote 58) zitierten Passage aus Bergson tritt deutlich eine andere Auffassung zutage: Intuition heißt bei ihm die Fähigkeit, sich in das Objekt 148 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="163"?> der Erkenntnis zu versetzen (Husserl wiederum spricht von Wesenserfassung). Diese Sicht ist allerdings älter als Bergsons Philosophie: sie kommt in einer bis zur Verschmelzung gesteigerten Variation bei manchen Mystikern vor. Es muss Schlick als Verdienst angerechnet werden, dass er diese Auffassung, obschon recht knapp, diskutiert. Bei ihm heißt es: Das denkbar innigste Verhältnis zwischen zwei Gegenständen ist die gänzliche Identität beider, so dass sie also in Wirklichkeit gar nicht zwei, sondern nur einer sind. So hat es denn nicht an Denkern gefehlt, die sich mit keinem geringeren Erkenntnisbegriff zufrieden gaben als dem des völligen Einswerden des Erkennenden mit dem Erkannten: es waren die Mystiker des Mittelalters, nach denen besonders die Erkenntnis Gottes in dieser Weise stattfinden sollte. (AE, S. 289f.) Schlick weist darauf hin, dass diese Vorstellung der Erkenntnis mehrheitlich aufgegeben wurde, weil sich die Überzeugung durchsetzte, dass ein solches Einswerden nicht möglich sei. Schlick meint jedoch, dass das Problem mit dieser Auffassung woanders liegt: denn selbst wenn ein solches Einswerden möglich wäre, wäre es ihm zufolge auf keinen Fall eine Erkenntnis, wobei er diese Ansicht nicht weiter begründet (AE, S. 290). Vielleicht hielt er es nicht für nötig, da er bereits ausführlich darlegt hatte, dass Erkenntnis „ ein Wiederfinden des Alten in dem Neuen “ ist, „ ein Urteil “ , „ eine Einordnung in ein Begriffssystem “ . Auf jeden Fall lässt er dieser Behauptung keine Erörterung folgen. 112 Wir allerdings sollten einen Moment bei dieser Frage verweilen. Oberflächlich betrachtet ist die Behauptung, Erkennen bestehe in dem Einswerden mit dem Objekt des Erkennens, ein offensichtlicher Unsinn. Ich kann doch nicht eins mit einem Baum, einer Kuh oder mit einer Uhr werden, wenn ich sie erkennen will. Ebenso offensichtlich ist jedoch, wie ich hoffe, dass die Menschen, die eine solche Idee in die Welt gesetzt haben, etwas anderes damit meinten als die buchstäblich körperliche Verschmelzung mit einem Gegenstand. Sie waren doch nicht dumm. Was konnten sie dann gemeint haben? Wenn man sich klarmacht, dass sie vom „ Einswerden mit Gott “ sprachen, sollte kein Zweifel daran bestehen, dass sie einen seelischen oder geistigen Prozess meinten (oder beides), aber sicher keinen körperlichen. Sobald man diesen recht elementaren - so hoffe ich - Punkt berücksichtigt, verliert die Behauptung ihren „ verrückten Anstrich “ . Es ist selbstverständlich nicht leicht, von seelischen oder geistigen Prozessen zu sprechen in einem Zeitalter, in dem sie als bloße Illusionen, reine Epiphänomene und Fiktionen abgetan werden, man muss aber bedenken, dass sie zumindest für die Mystiker des Mittelalters, eigentlich aber auch für die meisten Menschen bis etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts offensichtliche, unbezweifelbare Wirklichkeiten waren. Aus dieser Perspektive ist es 112 Schlick diskutiert (AE, S. 296 - 298) den vermeintlichen Fehler, den Descartes mit seinem berühmten „ cogito, ergo sum “ begangen habe, als bestes Beispiel für den „ in dem Unbegriff der intuitiven Erkenntnis verborgene[n] Irrtum “ (AE, S. 296). Diese Diskussion ist jedoch für das gegenwärtige Thema irrelevant. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 149 <?page no="164"?> verhältnismäßig leicht, sich das „ Einswerden “ mit dem Objekt der Erkenntnis vorzustellen. Man muss lediglich voraussetzen, dass es sich bei ihm nicht um die grobklotzige äußere Erscheinung (z. B. des Baumes) handelt, sondern um sein inneres Wesen (Entelechie), das wiederum geistiger und/ oder seelischer Natur ist. Man muss ferner bedenken, dass Seele oder Geist eigentlich keine räumlichen Dimensionen aufweisen, und dass es deshalb durchaus denkbar ist, dass sich die Seele eines Menschen unter besonderen und besonders günstigen Bedingungen mit dem Wesen/ der Entelechie eines Baumes vereint bzw. von ihm durchdrungen wird, was dazu führt, dass man die Welt gleichsam aus der Perspektive dieses Wesens (Entelechie des Baumes) betrachtet. Dieser Prozess würde es dem Erkennenden ermöglichen, die berühmte Frage von Thomas Nagel „ What is it like to be a bat “ (Nagel 1974) ganz genau zu beantworten. Man merkt also an dieser Stelle, dass es eigentlich Schlicks materialistische Hintergrundannahmen sind, die ihn daran hindern, dem Ideal vom „ Einswerden “ mit dem Erkenntnisobjekt Sinn zuzuschreiben. Diese Betrachtungen helfen auch Schlicks anderen Vorwurf zu entkräften, der eher an die Adresse Husserls als an die Bergsons gerichtet ist. Schlick schreibt (zu Recht), dass sich Erkenntnis unmöglich in der Anschauung erschöpft. Aber behauptet Husserl das denn, wenn er von „ Wesensschau “ spricht? Mit einer anderen Möglichkeit, die Rede vom Einswerden und der Wesensschau zu verstehen, befasst sich Schlick im § 18 (Das Verhältnis des Psychologischen zum Logischen) des 2. Teils seines Werks. Dort greift er „ den platonischen Mythos “ an, dass die wirklichen Wesen in einer von der unseren ewig weit entfernten Welt thronten, und diskutiert das bekannte Problem, wie die realen Dinge an den Ideen teilhaben könnten. Insbesondere greift er die Vorstellung, die (platonischen) Ideen würden „ erfasst “ oder „ erlebt “ an (AE, S. 383). In diesem Zusammenhang zitiert er die folgende Passage aus Husserls Logischen Untersuchungen: Aber vom Erfassen, Erleben und Bewusstwerden ist hier, in Beziehung auf dieses ideelle Sein, in ganz anderem Sinn die Rede, als in Beziehung auf das empirische, d. i. das individuell vereinzelte Sein. [. . . Wir erleben die Ideen] in einem Akte auf Anschauung gegründeter Ideation. (Husserl 1992, Bd. I, S. 128 f) Schlick macht sich über diese Formulierung lustig: Was nun dies Erleben des Ideellen (das ja nicht zu dem Erleben in dem uns allein bekannten Sinne des Wortes gehört) eigentlich für ein Erlebnis ist, kann man folgerichtig nicht weiter fragen; es ist eben ein letztes, es wird einfach - erlebt. (AE, S. 385) Schauen wir uns das Problem ein wenig genauer an. Ich sage „ Gerechtigkeit “ , und Sie wissen, was ich meine. Wie wissen Sie das? Nun, auf irgendeine Weise haben Sie irgendwann die Bedeutung dieses Wortes verstanden. Wir haben schon darüber gesprochen, dass sich die konkrete Weise, wie wir die Bedeutungen einzelner Begriffe lernen, überhaupt nicht einfach nachzuvoll- 150 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="165"?> ziehen lässt und bis heute rätselhaft geblieben ist. Vielleicht geschieht es ja so, dass, wenn ich das Wort sage, in Ihrem „ Geiste “ ein Bild, eine Vorstellung erscheint, das/ die Sie mit dem Begriff „ Gerechtigkeit “ zu assoziieren gelernt haben. Schlick selbst warnt uns allerdings davor (obschon ein wenig später in dem Buch), die Vorstellung mit dem Begriff zu verwechseln. 113 Die Vorstellung, die Sie haben, ist also nicht der Begriff der Gerechtigkeit. Das Wort „ Gerechtigkeit “ sicher auch nicht. Der gleiche Begriff wird in anderen Sprachen anders benannt. Was also ist der Begriff? Schlick sagt, „ ein Zeichen für den Gegenstand “ . Was für ein Gegenstand kommt hier jedoch in Frage? Solange wir von Katzen und Autos sprechen, ist es augenscheinlich so, dass wir mit den entsprechenden Begriffen diese konkreten Gegenstände meinen. Die Gerechtigkeit aber kann man mit den Augen nicht sehen. Und dennoch, wenn ich das Wort „ Gerechtigkeit “ ausspreche, haben Sie keine Schwierigkeit es zu verstehen. Würde ich von Ihnen verlangen, eine genaue Definition oder zumindest eine genaue Erklärung des Begriffs zu formulieren, so wäre das für Sie möglicherweise keine leichte Aufgabe. Und dennoch, Sie verstehen (zumindest ungefähr), was ich meine. Wie ist das möglich? Die Alltagssprache hat eine Reihe von Wörtern und Wendungen, die in einer solchen Situation zur Anwendung kommen können: „ Ich begreife es “ , „ Ich verstehe es “ , „ Ich kapiere es “ . Sie beschreiben alltägliche Erlebnisse, die uns jedoch nur scheinbar vertraut sind. Kant hat einmal sehr treffend beobachtet, dass die Definitionen der philosophischen Begriffe „ das Werk eher schließen als anfangen müssen “ (Kant 1995, B759), weil solche Begriffe oft „ dunkle Vorstellungen enthalten [. . .], die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen [. . .] “ (Kant 1995, B757). 114 Interessanterweise nun wird das Wort „ Intuition “ im Alltag verwendet, wenn von einer Ahnung, einem „ Bauchgefühl “ die Rede sein soll. Könnte es nicht sein, dass wir von den Inhalten der Begriffe auch Intuitionen in diesem Sinne haben, die es uns ermöglichen, bestimmte Worte korrekt anzuwenden und uns gegenseitig auch zu verstehen, obschon wir eigentlich selten imstande sind, die Inhalte der Begriffe präzise zu formulieren? Wenn aber dieser Gedanke zulässig ist, kann man sich dann nicht ferner vorstellen, dass wir uns heute in Bezug auf die Erkenntnis der Begriffe in der Situation befinden, die Paulus im 1. Korintherbrief so treffend charakterisierte: „ Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin “ (1. Kor. 13,12)? Mit anderen Worten: dass also eine Situation denkbar ist, in der unsere Einsicht in das Wesen der Begriffe 113 „ Das erkenntnistheoretisch noch nicht abgeklärte Denken aber verwechselt den Begriff nicht nur leicht mit dem realen Gegenstande, den er bezeichnet, sondern auch mit den anschaulichen Vorstellungen, die den Begriff in unserem Bewusstsein repräsentieren “ (AE, S. 644). 114 Vgl. auch Steiner: „ Es ist sogar im Leben höchst selten, dass ein Mensch wirklich mit seinem Bewusstsein in all dasjenige eindringt, was er ausspricht “ (GA326, S. 60). 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 151 <?page no="166"?> viel unmittelbarer und umfangreicher sein könnte, als dies heute der Fall ist, und wir sie „ von Angesicht zu Angesicht “ erkennen können, durch eine Art „ Wesensschau “ , von der Husserl sprach, die aber nicht bloßes Schauen bedeutet, sondern vielmehr eine vollkommene Ein-Sicht in ihr Wesen ermöglicht? Nachdem sich Schlick zu seiner eigenen Zufriedenheit der Idee, dass Erkenntnis durch Intuition erlangt werden könnte, entledigt hat, diskutiert er noch eine weitere Möglichkeit, die er bereits früher kurz angesprochen hat, dass wir nämlich im Erkenntnisakt eine Abbildung des erkannten Gegenstandes schaffen. Dazu bemerkt er, dass eine Abbildung ihre Aufgaben nie vollkommen erfüllen kann; sie müsste, wenn sie eine vollkommene Abbildung sein wollte, eine Verdoppelung des Originals sein. Abgebildet könne ein Gegenstand nie so werden, wie er ist, weil wir einen Gegenstand immer nur von einem bestimmten Standpunkt aus betrachten, während er auch aus sehr vielen anderen Perspektiven wahrgenommen werden könnte. 115 Diese Schwierigkeit kommt beim Bezeichnen nicht vor, betont Schlick. Bezeichnen lasse sich ein Gegenstand eindeutig. Die Zeichen, die man zum Bezeichnen verwende, seien zwar subjektiv, ihre Zuordnung zu dem Gegenstand jedoch nicht (AE, S. 303). Somit fühlt sich Schlick in seiner Auffassung bestätigt, dass das Erkennen ein bloßes Zuordnen von Zeichen zu Gegenständen, ein Bezeichnen sei. Erkennen berühre die Dinge nicht, brauche sie aber auch nicht zu berühren, um eine vollkommene Erkenntnis zu sichern (AE, S. 302). Ich glaube, man muss Schlick Recht geben, wenn er behauptet, dass das Erkennen kein Abbilden von Erkenntnisobjekten sein kann. Diese Idee rührt von der Verwechslung des Begriffs mit der Vorstellung her: man hat das Gefühl, dass man einen Gegenstand bereits irgendwie „ erfasst “ hat, wenn man sich eine Vorstellung von ihm gemacht hat. Dabei wird vergessen, dass jeder Begriff (z. B. Baum) durch unendlich viele konkrete Vorstellungen repräsentiert werden kann und dass keine dieser Vorstellungen das Wesen des Begriffs vollständig zum Ausdruck bringt. Erst durch die Reflexion über die Eigenschaften verschiedener Vorstellungen eines Begriffs kann man zu den wesenhaften Bestimmungen des Begriffs an sich gelangen. Wir haben aber auch bereits gesehen, dass diese Arbeit, anders als Schlick es sich wünscht, nicht als bloßes Bezeichnen (Zuschreibung des subjektiven Zeichens zu einem Gegenstand) verstanden werden kann. Wenn aber das Erkennen weder Abbilden noch Bezeichnen ist, was ist es dann? Auch auf diese Frage werden wir an einer späteren Stelle dieses Buches zurückkommen müssen. Hier möchte ich noch kurz einen weiteren Aspekt des Problems ansprechen. Ich habe eben gesagt, dass Schlick zu Recht vor der Verwechslung des Begriffs mit der Vorstellung warnt, ich habe aber bereits im zweiten Abschnitt 115 Diese Passage erinnert an die berühmte Formulierung des Ideals der objektiven Erkenntnis von Thomas Nagel: „ The View from Nowhere “ (Nagel 1986). 152 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="167"?> der Diskussion seines Werkes gegen die Auffassung Stellung bezogen, dass Begriffe bloße Zeichen sind. Wenn sie keine Vorstellungen und nicht bloße Zeichen sind, was sind sie dann eigentlich? Interessant ist nun, dass fast zeitgleich mit dem Erscheinen der ersten Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre der berühmte deutsche Philosoph und Logiker Gottlob Frege, auf den sich Schlick in seinem Werk übrigens bezieht (AE, S. 740), einen wichtigen Aufsatz veröffentlichte ( „ Der Gedanke “ , Frege 1966), in dem er sich genau mit diesem Problem befasst. Frege stellt in seinem Aufsatz eine ungewöhnliche Frage. Nehmen wir an, ein Mathematiker hält einen Vortrag über den pythagoreischen Lehrsatz, der auf großes Interesse stößt: viele interessierte Zuhörer sind im Vortragssaal anwesend. Nehmen wir weiter an, dass der Vortragende die Zuhörer auffordert, sich über diesen Lehrsatz Gedanken zu machen. Wie viele Lehrsätze gibt es im Saal? Frege weist darauf hin, dass es so viele Vorstellungen dieses Lehrsatzes gibt, wie Zuhörer anwesend sind (plus die Vorstellung des Vortragenden). Denn eine Vorstellung muss in einem konkreten Bewusstsein repräsentiert sein, sie existiert nicht, ohne vorgestellt zu werden, sie braucht einen bewussten Träger. Dies scheint jedoch auf den Begriff des Lehrsatzes nicht zuzutreffen. Bereits die Sprache weist darauf hin, schreibt Frege, dass es sich in diesem Falle unmöglich um mehrere Fassungen des fraglichen Lehrsatzes handeln kann: der Vortragende bittet die Zuhörer über den Lehrsatz (nicht die Lehrsätze) nachzudenken, mithin denkt er über den Lehrsatz spontan in Einzahl. 116 Aus dieser Überlegung zieht Frege einen weitreichenden Schluss. Wir sind, heißt es bei ihm weiter, mit dem Reich der physischen, räumlichen Gegenstände ganz vertraut. Diese Gegenstände werden mit den Sinnen wahrgenommen und brauchen keinen bewussten Träger, um zu existieren: sie sind da, ob die Menschen, die über sie nachdenken können, da sind oder nicht. Die Stühle, auf denen die Zuhörer während des Vortrags sitzen, werden im Vortragssaal bleiben, auch nachdem die Zuhörer den Saal verlassen und die Stühle bereits vergessen haben. Wir sind, sagt Frege, auch mit einem zweiten Reich verhältnismäßig gut vertraut: dem Reich unserer Vorstellungen. Wir sind fähig, uns mentale Bilder von den Gegenständen zu machen, sei es von konkreten (Stuhl, Baum), sei es von abstrakten (Dreieck, Gerechtigkeit: diese werden für gewöhnlich durch konkrete Bilder repräsentiert) oder von fiktiven (Einhorn). Diese „ Gegenstände “ lassen sich nicht mit den leiblichen Sinnen wahrnehmen (sie werden mit dem „ inneren Sinn “ wahrgenommen), sie brauchen aber stets einen bewussten Träger, um in Erschei- 116 Es ist in diesem Zusammenhang relevant, darauf hinzuweisen, dass Rudolf Steiner diese Idee bereits 1894 in seiner Philosophie der Freiheit formulierte: „ Es gibt in der einigen Begriffswelt nicht etwa so viele Begriffe des Löwen, wie es Individuen gibt, die einen Löwen denken, sondern nur einen. Und der Begriff, den A zu der Wahrnehmung des Löwen hinzufügt, ist derselbe, wie der des B, nur durch ein anderes Wahrnehmungssubjekt aufgefasst [. . .] “ (GA4, S. 249). 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 153 <?page no="168"?> nung treten zu können. Keine Vorstellung ohne den Vorstellenden. Und dann kommt bei Frege der entscheide Punkt. Er fährt fort: Ein drittes Reich muss anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, dass es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, dass es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewusstseinsinhalte es gehört. So ist z. B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgend jemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. (Frege 1966, S. 43f.) Der Gedanke scheint einleuchtend. Der pythagoreische Lehrsatz ist wahr, unabhängig davon, ob jemand das weiß oder nicht. Er war auch schon wahr, bevor Pythagoras ihn entdeckte. An dieser Stelle ist die Alltagssprache wiederum lehrreich: Wir sagen: „ Pythagoras entdeckte den pythagoreischen Lehrsatz “ , nicht, „ Pythagoras erfand ihn “ . Demnach sehen wir eine Ähnlichkeit zwischen dem entsprechenden Prozess und der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus ( „ Kolumbus entdeckte Amerika “ , nicht, „ er erfand Amerika “ ) und einen Unterschied zwischen ihm und der Erfindung des Telefons etwa ( „ Bell erfand das Telefon “ , nicht, „ Bell entdeckte das Telefon “ ). Die Wendung „ Kolumbus entdeckte Amerika “ setzt aber offensichtlich voraus, dass das Entdeckte bereits vor der Entdeckung existierte. Wenn wir dann von der Entdeckung des pythagoreischen Lehrsatzes oder der des Gravitationsgesetzes sprechen, müssen wir wohl genauso davon ausgehen, dass diese Dinge bereits vor der jeweiligen Entdeckung existierten. Wenn das aber so ist, wo existierten sie dann? Nicht im Kopf des Entdeckers und auch nicht in irgendeinem anderen Kopf, aber wo dann? In Anbetracht dieser und ähnlicher Überlegungen scheint es durchaus angebracht, mit Frege die Existenz eines solchen „ dritten Reiches “ zu postulieren. 117 Es ist auffallend, dass sich Schlick mit diesen Gedankengängen auch in der 2. Auflage seiner Schrift überhaupt nicht befasst. Er erwähnt zwar, dass ein Reich des idealen Seins von Plato postuliert wurde, um das Problem zu lösen, das logische Gebilde offensichtlich keine bloßen psychologischen Gebilde sind (AE, S. 380), und bemerkt dazu lakonisch: „ Die bildliche, platonische Lösung, wonach die Ideen von unserem Geist einfach ‚ geschaut ’ werden, befriedigt uns heute nicht “ (AE, S. 381). Er erwähnt ebenfalls die Debatte um den „ Psychologismus “ und Husserls Angriff auf diese Idee, Freges Beitrag dagegen mit keinem Wort. Es könnte zwar sein, dass ihm Freges Aufsatz im Januar 1925, als er das Manuskript der zweiten Auflage mehr oder weniger fertiggestellt hatte (Wendel und Engler 2009 a, S. 92), einfach nicht bekannt war. Allerdings war Frege zu jener Zeit eine sehr bedeutende Größe in der philosophischen und auch mathematisch-logischen Welt und seine neuesten 117 Nachdem Frege diese Idee in die Welt gebracht hatte, schien sie bald wieder in Vergessenheit geraten zu sein, bis sie einige Jahrzehnte später in leicht veränderter Form in Poppers Objective Knowledge. An Evolutionary Approach wieder auftauchte (Popper 1979, S. 106 - 118, 156 - 158). 154 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="169"?> Überlegungen dürften eigentlich zur „ Pflichtlektüre “ der damaligen philosophischen Elite gehört haben. Ist Schlick auf Freges Gedanken möglicherweise nicht eingegangen, weil sie ihm zu unbequem und gleichzeitig nicht einfach zu widerlegen schienen? 9) § 13 Der Wert der Erkenntnis besteht ganz einfach darin, dass sie uns erfreut Im 13. und letzten Abschnitt des ersten Teils seines Werks handelt Schlick vom Wert der Erkenntnis. Nach allen bisherigen streng logisch und möglichst objektiv gehaltenen Überlegungen würde der Leser sicher eine ähnlich gelagerte Argumentation erwarten. Vielleicht, könnte er vermuten, würde Schlick auf die praktischen Folgen und die Erfolge der wissenschaftlichen Erkenntnis eingehen, die doch bereits zu seiner Zeit beträchtlich waren und dazu unbestritten (womöglich sogar „ unbestrittener “ als heute). Darum ist man überrascht zu lesen, dass Schlick den zentralen Wert der Erkenntnis darin erblickt, dass sie uns Lust bereitet: Aus welchem Grunde bemühen wir uns, die reiche Mannigfaltigkeit des Universums nur durch solche Begriffe zu bezeichnen, die aus einem Minimum von Elementarbegriffen aufgebaut sind? Die letzte Antwort auf diese Frage ist zweifellos: Weil uns diese Zurückführung des einen auf das andere Lust bereitet [. . .] (AE, S. 310) Es irren sich die Philosophen, so Schlick, die behaupten, Wissenschaft diene allein der praktischen Herrschaft über die Natur (AE, S. 314). Richtig sei, dass der Verstand zunächst nur ein Instrument zur Lebenserhaltung war, heute aber sei seine Tätigkeit eine Quelle der Lust. Die Erkenntnistätigkeit habe sich aus einem Mittel zu einem Zweck an sich entwickelt (AE, S. 315). Mögen die meisten Erkenntnisakte irgendeinen Nutzen haben; reine Wissenschaft werde nur dort betrieben, wo sie selber Zweck sei - alles andere ist Lebensklugheit oder Technik, heißt es weiter (AE, S. 317). Wissenschaft diene also nicht irgendwelchen Lebensfunktionen. Sie sei nicht auf praktische Beherrschung der Natur gerichtet, sondern eine selbstständige Funktion und bereite uns unmittelbare Freude. Und in dieser Lust, mit der der Erkenntnistrieb das Leben des Forschenden erfüllt, bestehe ihr Wert (AE, S. 320). Erstaunlicherweise vergleicht Schlick - im Sinne von Schillers Briefen über ästhetische Erziehung - wissenschaftliche Arbeit mit einem Spiel: die spielenden Tätigkeiten seien die höchsten, schreibt er, sie alleine befriedigen unmittelbar, während alles auf Zwecke orientierte Handeln bloß ein Mittel sei und seinen Wert erst aus dem Erfolg erhalte (AE, S. 315). Am Ende dieses Abschnitts wendet sich Schlick noch dezidiert gegen jegliche Versuche, objektive, von der menschlichen Wirklichkeit unabhängige Werte geltend zu machen. Die Rede vom „ Wert an sich “ , der nichts mit Lust und Unlust zu tun hat, sei Unsinn, eine der schlimmsten Irrlehren der Philosophie. Das Gute sei deshalb gut, weil es Freude mache, so bestehe 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 155 <?page no="170"?> der Wert der Erkenntnis ganz einfach darin, dass sie uns erfreue, schließt Schlick den 1. Teil ab (AE, S. 321). Wissenschaft als ein Spiel, als Selbstzweck und Quelle der Lust. Eine interessante Idee, es fragt sich nur, ob die Steuerzahler bereit wären, den Wissenschaftlern jährlich die Hunderte von Milliarden Euro, Dollar, Pfund, Franken oder was auch immer zur Verfügung zu stellen, damit sie mit ihren teuren Spielzeugen spielen können. Der praktische Wert der Wissenschaft (Technologie) ist leicht nachvollziehbar. Doch es gibt auch „ Grundlagenforschung “ , deren Nutzen sich nicht unmittelbar erschließt (z. B. die Fragen nach der Entstehung des Universums, wie die „ schwarzen Löcher “ funktionieren usw.), und dennoch haben wir (die Gesellschaft) das Gefühl, dass solche Forschung sinnvoll ist, und sind bereit, dafür zu bezahlen. Es fällt schwer zu glauben, dass dieses gesellschaftliche Geschenk deshalb geleistet wird, weil wir den Wissenschaftlern Lust bereiten wollen. Aus Schlicks Auffassung vom Wert der Erkenntnis ergibt sich aber zumindest noch eine weitere unbequeme Frage: Was sollen wir mit den Wissenschaftlern machen, denen die „ Zurückführung auf das Minimum von Elementarbegriffen “ keine, die „ Wesensschau “ dafür jedoch große Lust bereitet? Sollte man im Sinne von Schlicks Auffassung sagen, dass sie dann eben die „ Wesensschau “ und nicht die Zurückführung auf das Minimum von Elementarbegriffen betreiben dürfen? 10) Zusammenfassung Damit sind wir am Ende der Betrachtung des 1. Teils von Schlicks Schrift angelangt. Bevor wir uns mit einigen wenigen Themen des 2. und des 3. Teils auseinandersetzen werden, scheint es angebracht, den Weg, den wir in der Diskussion seines Werkes bislang zurückgelegt haben, kurz zu rekapitulieren. Im 1. Abschnitt der Diskussion haben wir uns mit Schlicks Hauptthese des Werks beschäftigt, dass das Erkennen ein „ Wiederfinden des Alten im Neuen “ sei. Wir haben feststellen müssen, dass die von ihm zugunsten seiner These angeführten Argumente unzulänglich sind: zum einen haben wir festgestellt, dass sich die Bedeutung von Begriffen nicht durch Zeigen festlegen lässt; dann haben wir das Problem des Erkennens einer Person in den Blick genommen und festgestellt, dass es sich kaum auf das „ Wiederfinden “ reduzieren lässt, da jeder Mensch einzigartig ist. Zuletzt haben wir den Eindruck gewonnen, dass Schlick nur deshalb zu seiner ungewöhnlichen Behauptung gelangt ist, weil er als Schlüsselbeispiel des Erkenntnisprozesses eigentlich einen Fall des Wiedererkennens (seines Hundes in der sich ihm nähernden Gestalt) gewählt hat, dass er also grundsätzlich das Erkennen mit dem Wiedererkennen verwechselt und über dieses schreibt, nicht über jenes. Im 2. Abschnitt haben wir uns mit Schlicks These auseinandergesetzt, dass Begriffe bloße Zeichen für Gegenstände (im weitesten Sinne) seien. Wir haben 156 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="171"?> erstens gesehen, dass sich seine Behauptung, Erkennen vollziehe sich im Alltagsleben mittels Vorstellungen (nicht Begriffen), als unbegründet erweist, und ferner festgestellt, dass es Begriffe geben kann, deren Inhalt nicht durch Definitionen (aber auch nicht durch Hinweisen) festgelegt wird, was zu der Frage führt, wie sie gebildet werden. Wir haben festgestellt, dass eine Kombination von Begriffen, wie sie für eine Definition typisch ist, es kaum vermag, den Begriff festzulegen/ ihn verständlich zu machen; wir haben auch gesehen, dass Definitionen verbesserungsfähig sind, was darauf hindeutet, dass Definitionen keine bloßen Nominaldefinitionen sind (wie Schlick behauptet) und dass Begriffe doch mehr sind als Zeichen (Zeichen muss man nicht abändern, wenn sich das durch sie Angezeigte verändert). Wir haben ferner festgestellt, dass die von Schlick behauptete Funktion der Begriffe, die (quasi) Einträgen in Bibliothekskatalogen gleichkommt, geradesogut von Zahlen erfüllt werden könnte, wir gebrauchen im Alltagsleben aber keine Zahlen zu diesem Zweck, was offensichtlich ein Hinweis darauf ist, dass Begriffe doch noch andere Funktionen erfüllen, die über ihre bloße Zeichennatur hinausgehen. Schließlich haben wir uns mit Schlicks These auseinandergesetzt, dass Begriffe nicht durch Abstraktion entstehen. Die Gründe, die er für diese These anführt, haben sich als unzureichend erwiesen. Wir haben allgemein festgehalten, dass Schlicks These, Begriffe seien keine Realitäten, sondern bloße Zeichen, eigentlich eine thetische Feststellung ist, die vielmehr von seiner persönlichen Präferenz zeugt, als dass sie eine gut begründete philosophische Position darstellt. Im 3. Abschnitt haben wir Schlicks These unter die Lupe genommen, dass die Hauptfunktion der Begriffe in der Vereinfachung der Wirklichkeit bestehe, wie auch seine Vorstellungen in Bezug auf den Prozess der Begriffsbildung. Wir haben die Unwahrscheinlichkeit festgestellt, dass die Hauptaufgabe der Begriffe bloß in der Vereinfachung der Wirklichkeit besteht. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Begriffe unsere Wahrnehmungswirklichkeit bereichern. Darüber hinaus haben wir festgestellt, dass Schlicks Beschreibung des Begriffsbildungsprozesses unbefriedigend ist. Schlick meinte: „ Nicht dadurch gelangt man zu den Begriffen, das man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe, [. . .] sondern dadurch, dass man die Merkmale voneinander unterscheidet und einzeln bezeichnet. “ Man muss aber generell bezweifeln, dass Begriffe in irgendeiner Form von Vorstellungen in abgeleitet werden können, sie scheinen den Vorstellungen eher vorauszugehen, als dass sie durch sie gebildet würden. Zudem haben wir uns von der Richtigkeit der Auffassung überzeugt, nach der jeder Mensch in seiner individuellen Entwicklung die Begriffe nicht bildet, sondern aus dem bestehenden Begriffsfundus bzw. Begriffsschatz seiner Kultur übernimmt. Was natürlich die schwierige Frage aufwirft, wie sie in der grauen Vorzeit von unseren Vorfahren gebildet wurden. Wir werden gegen Ende des Buches auf diese Frage zurückkommen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 157 <?page no="172"?> Im 4. Abschnitt haben wir uns seiner der Geometrie entlehnten Idee zugewandt, Begriffe ließen sich durch Axiome definieren (implizite Definition), wodurch sie eine ungewöhnliche Präzision gewinnen würden, da man auf die unscharfe Ostension verzichten könne. Dieser Weg mag in der Geometrie gangbar sein, wir haben jedoch die Frage aufgeworfen, ob er es auch für die „ Wirklichkeitswissenschaften “ ist. Eine Wissenschaft, die „ nirgends auf dem Grunde der Wirklichkeit [ruht] “ , scheint kaum ein Ideal einer Wirklichkeitswissenschaft zu sein. Infolge seiner geometrisierenden Denkweise sieht Schlick das Ideal der Erkenntnis darin, die Zahl der Erklärungsprinzipien möglichst klein zu halten. Man kann bezweifeln, ob dieses Ideal in den Wirklichkeitswissenschaften erstrebenswert ist. Wir haben auch Schlicks Vorstellung diskutiert, dass sich durch eine geschickte Wahl von Definitionen Erkenntnis erreichen lasse, die quasi wie von selbst mit der Welt an allen Punkten im Einklang stehe. Diese Vorstellung ist beinahe unsinnig zu nennen, es sei denn, man versteht unter ihr das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten, die eine unbegrenzte Zahl konkreter Realisierungen aufweisen können, dann aber stellt sich die Frage, warum Schlick dies nicht so formulierte; zudem fragt sich, inwiefern dieses Ideal für Wissenschaften gelten kann, in denen keine Naturgesetze zum Tragen kommen. Im 5. Abschnitt haben wie Schlicks weitere These diskutiert, dass Urteile Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen sind, also für die Tatsachen. Wir haben gefragt, ob es stimmt, 1) dass eine Tatsache nichts anderes als das Bestehen einer Beziehung sei; 2) dass ein Urteil immer eine Tatsache zum Ausdruck bringe; 3) dass es (immer) ein Zeichen für Tatsachen sei. Alle drei Fragen wurden von uns negativ beantwortet. Dieses Ergebnis unterminiert Schlicks These, die er in § 9 formuliert, dass das Erkennen nichts weiter sei als ein Netz von Begriffen. Ist eine Person erkannt, indem sie in ein Netz von Beziehungen gesetzt wird, durch die sie sich eindeutig bestimmen lässt, haben wir gefragt. Und auch hier lautete unsere Antwort, nein. Dieses Ergebnis stellt auch die These in Frage, dass Erkenntnis nur in Urteilen zu finden sei. Wir haben auch gesehen, dass es anders als Schlick nahelegt - der beide als erkenntnistheoretisch gleichwertige Fälle von begrifflicher „ Zurückführung “ auf das bereits Bekannte betrachtet - , einen wichtigen Unterschied gibt zwischen der Feststellung, dass ein Hund ein Tier ist, und der Feststellung, dass das Licht elektromagnetische Strahlung ist. Im ersten Fall haben wir es mit einer natürlichen Einordnung eines Begriffs in eine umfangreichere Klasse zu tun, im zweiten steht die Natürlichkeit der entsprechenden Einordnung in Frage. Im 6. Abschnitt haben wir uns mit Schlicks These auseinandergesetzt, dass Wahrheit in der eindeutigen Bezeichnung bestehe. Wir haben gesehen, dass er durch einen erstaunlichen argumentativen „ Kurzschluss “ zu dieser Behauptung gelangt: die Übereinstimmungstheorie der Wahrheit mache keinen Sinn, also bleibe die eindeutige Zuordnung als einzige Möglichkeit, das Wesen der Wahrheit zu verstehen. Wir haben auch die folgende merkwürdige Gedan- 158 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="173"?> kenfigur unter die Lupe genommen: da Eindeutigkeit die einzige wesentliche Tugend einer Zuordnung sei und da die Wahrheit die einzige Tugend der Urteile darstelle, müsse die Wahrheit in der Eindeutigkeit der Bezeichnung bestehen. Wir haben auch gesehen, dass die Entwicklungen in der Physik, die zu der Einsicht führten, dass die Grundbestandteile der Materie zugleich Wellen und Teilchen sind, Schlicks Hauptthese widerlegen. Damit fällt auch seine These, dass Erkenntnis mehr sein müsse als bloße Wahrheit (weil diese „ billig “ zu haben sei), dass sie in einer neuen Kombination von lauter alten Begriffen bestehen müsse. Wörtlich und ohne weitere Einschränkungen verstanden führt diese These zu Absurditäten ( „ Der Baum hat fünf Augen, zwei Flügel und vier Räder “ ) - ein Problem, das sich entschärfen lässt, indem man darauf hinweist, dass jede Erkenntnis in ein System von Wahrheiten eingeordnet werden muss, wobei es nicht sicher ist, ob man das Problem endgültig lösen kann, ohne zuzugeben, dass Wahrheit etwas anderes ist als eine eindeutige Bezeichnung. Im 7. Abschnitt, haben wir uns nochmals mit Schlicks hoffnungsvoller Vorstellung auseinandergesetzt, dass das System von Definitionen und Erkenntnisurteilen, das jede Realwissenschaft darstelle, an einzelnen Punkten mit dem System der Wirklichkeit direkt zur Deckung gebracht und so eingerichtet werde, dass es dann an allen übrigen Punkten von selbst zur Deckung komme. Die kritische Diskussion dieser, wie uns bereits im 3. Abschnitt schien, die Absurdität streifenden Vorstellung, entkräftet Schlicks Kritik, dass die „ historischen Wissenschaften “ einem Maulwurfsbau ähneln und dass sie „ reich an Material, ganz arm dagegen an Erkenntnissen “ seien. Im 8. Abschnitt haben wir Schlicks Auffassung hinterfragt, dass Erkennen unmöglich ein „ Einswerden “ mit dem Objekt der Erkenntnis oder Intuition sein kann. Wir haben gesehen, dass 1) Intuition nicht bloßes Anschauen oder Erleben ist und deshalb vielleicht doch eine Form der Erkenntnis sein kann (ob die höchste oder niedrigste sei hier dahingestellt); 2) die Vorstellung, dass Erkennen im „ Einswerden “ des Erkennenden mit dem Objekt der Erkenntnis gipfeln kann, nicht so absurd ist, wie sie Schlick darstellt; 3) haben wir Schlick Recht gegeben in seiner These, dass Erkenntnis unmöglich Abbilden (der Wirklichkeit) bedeuten kann (die Idee, die in der Verwechslung des Begriffes mit der Vorstellung wurzelt). Wir haben aber auch gesehen, dass, nachdem man die Auffassung, Begriffe seien Vorstellungen, aber auch die Ansicht von Schlick, nach der sie bloße Zeichen sind, verworfen hat, Unklarheit darüber herrscht, wie die Begriffe aufzufassen sind. Wir haben in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass Schlick Freges wichtige Idee von einem „ dritten Reiche “ völlig unberücksichtigt lässt. Schließlich mussten wir im 9. Abschnitt feststellen, dass Schlicks These, der Wert der Erkenntnis bestehe ganz einfach darin, dass sie uns Lust bereitet, eindeutig zu kurz greift. Was wiederum ahnen lässt, dass das Wesen des Erkenntnisprozesses völlig anders verstanden werden muss, um den sehr 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 159 <?page no="174"?> hohen Wert, der dem Erkenntnisstreben zugemessen wird, verständlich zu machen. Resümierend kann man wohl festhalten, dass es fast schon erstaunlich ist, wie ein Gedankengebäude, das auf solch wackligen Beinen steht, trotz des Eindrucks von Solidität, den es an der Oberfläche erweckt, zu seiner Zeit ein solch positives Echo finden konnte. Diskussion besonderer Punkte der Teile II und III Wie bereits erwähnt, möchte ich nur einige wenige und aus der Sicht der heutigen Wissenschaftstheorie besonders relevante Punkte aus dem zweiten und dritten Teil des Werkes aufgreifen: das Problem der logischen Gesetze (§ 18), das Problem der Verifikation (§ 21), das Problem der quantitativen und qualitativen Erkenntnis (§ 31), das Problem des Verhältnisses von Psychischem und Physischem (§ 32 f.) (inklusive der Behauptung, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis die mögliche Erkenntnis erschöpfe (AE, S. 646f.), das Problem der Substanz (AE, S. 628 usw.) und schließlich das Problem der induktiven Erkenntnis (§ 41). Verifikation (§ 21) Schlicks Diskussion des Verifikationsprozesses ist überraschend modern: er greift Aspekte dieses Prozesses voraus, die erst viel später mit Popper und insbesondere mit Quine Einzug in die Diskussion gehalten haben. Er liefert eine klar konturierte Darstellung der allgemeinen Logik der Verifikation. Den Ausgangspunkt bildet eine Hypothese (Schlick nennt sie U: Urteil). Von dieser wird ein neues Urteil U 1 abgeleitet, indem man zu U ein anderes Urteil (U') hinzufügt, das so gewählt wird, dass U und U' die gemeinsamen Prämissen eines Syllogismus bilden, deren Konklusion U 1 ist. U' wird von Schlick als „ Hilfssatz “ bezeichnet (AE, S. 426; wir würden solche Sätze heute „ Hilfshypothesen “ nennen) und kann eine Realbehauptung, Definition oder begriffliche Wahrheit sein (AE, S. 425). Aus U 1 kann dann mittels eines weiteren Satzes U'' ein weiteres Urteil (U 2 ) abgeleitet werden und so weiter bis man schließlich zu einem Satz U n gelangt, der die folgende Form hat: „ Zu der und der Zeit, an dem und dem Orte wird unter den und den Umständen das und das beobachtet oder erlebt “ (ebd.) - eine Feststellung also, die direkt durch Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden kann. So weit ist seine Analyse unauffällig und folgt dem, was bereits damals gängige Praxis war. 118 Dann aber kommt eine unerwartete Wende, Schlick schreibt: Streng genommen ist dieser Schluss [U n ] nur dann einwandfrei, wenn die Wahrheit jener hinzugefügten Urteile (U', U''. . .) bereits für sich feststeht. Dies wiederum ist 118 „ Die Wissenschaften haben längst besondere Methoden entwickelt, um die Eindeutigkeit der Bezeichnung von Tatsachen durch Urteile zu kontrollieren; es sind die Methoden der Verifikation “ (AE, S. 424)). 160 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="175"?> von vornherein nur der Fall, wenn die U' Definitionen oder Begriffssätze sind [. . .]. Sind es dagegen Realbehauptungen, deren Wahrheit nicht über allen Zweifel erhaben ist, so beweist die Eindeutigkeit, wenn man am Ende des Verifikationsprozesses richtig zu ihr geführt wird (also die Wahrheit von U n ), streng genommen noch nicht die Wahrheit von U, denn durch Zufall kann es bekanntlich eintreten, dass ein Schlusssatz richtig ist, obgleich unter den Prämissen, aus denen er gewonnen wurde, sich eine oder mehrere falsche befinden. (AE, S. 425f.) Schlick vertritt jedoch die Ansicht, dass der Verifikationsprozess auch unter diesen Umständen nicht gänzlich an Wert verliert: Da aber eine rein zufällige Bestätigung im allgemeinen sehr unwahrscheinlich wäre, so verliert die Verifikation nicht ihren Wert. Sie bietet zwar keinen absolut strengen Beweis für die Wahrheit von U, sondern macht sie nur wahrscheinlich; dafür bedeutet sie aber zugleich eine Verifikation für die sämtlichen Hilfssätze U', U''. . . [. . .]. (AE, S. 426) 119 Schlick bemerkt ferner, dass jeder einzelne dieser Hilfssätze in der Praxis der Wissenschaft meist noch durch zahlreiche andere Urteilsketten verifiziert wird, so dass die einzelnen Ergebnisse sich gegenseitig stützen. Ich finde es bemerkenswert, dass die Idee, nach der die Bestätigung von der Wahrheit der Hilfshypothesen abhängig ist - die Idee, die in der Wissenschaftstheorie gemeinhin als Duhem-Quine-Unterdeterminationsthese bezeichnet wird, da sie bereits von Duhem formuliert und zu Beginn der 50er Jahre von Quine erneut aufgegriffen wurde in einer Art, die wesentlich zum Zerfall des Programms der logischen Positivismus beigetragen hat - , hier deutlich zum Ausdruck kommt. Ich finde es ebenfalls bemerkenswert, dass in dieser Passage bereits die Rechtfertigung der späteren Wissenschaftsphilosophie von Karl Popper (des kritischen Rationalismus) enthalten ist. Bekanntlich insistierte Popper darauf, dass Bestätigungen einer Vermutung erkenntnistheoretisch nutzlos sind, und zwar aus genau dem Grund, der hier von Schlick genannt wird: es ist logisch durchaus möglich, aus falschen Prämissen zu einer Wahrheit zu gelangen (das sog. Paradox der materialen Implikation). Es scheint, dass Schlick an dieser wichtigen Stelle die letzten Konsequenzen aus seiner eigenen Position wie auch aus der Wissenschaftsgeschichte nicht ziehen wollte. Streng logisch gesehen besagt die Bestätigung einer Hypothese, die auf dem oben geschilderten Wege erlangt worden ist, tatsächlich nichts über den Wahrheitsstatus der ursprünglichen Hypothese. Die (streng genommen) Widerlegung der Newton ’ schen Mechanik durch Einsteins Relativitätstheorie veranschaulicht dieses Problem ganz deutlich. Eine Theorie, die fast als unumstößlich gegolten hatte und die Tausende Male bestätigt worden war, hat sich letztendlich als falsch (nur bedingt anwendbar) erwiesen. Dieses logische Problem gilt für jeden Fall der Bestätigung. Schlick 119 Die Herausgeber zitieren an dieser Stelle Poincaré mit dem gleichem Gedanken (Poncaré 1906, S. 177). Interessanterweise beruft sich Schlick nicht explizit auf dieses ihm sicher bekannte Werk. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 161 <?page no="176"?> meint hingegen offensichtlich, dass die Zufallsbestätigung im Allgemeinen unwahrscheinlich ist und eine Ausnahme bleiben wird. Möglicherweise ist seiner Aufmerksamkeit auch entgangen, dass die ptolemäische Theorie des Weltalls wie später die Newton ’ sche Mechanik jahrhundertelang, in der Tat viel länger noch als diese, empirisch wiederholt „ bestätigt “ wurde, was nichts daran ändert, dass sie sich letztendlich als falsch erwiesen hat. Das Problem der quantitativen und qualitativen Erkenntnis, primäre und sekundäre Qualitäten (§ 31) Befassen wir uns jetzt mit einem Problem, das für die richtige Einschätzung der Stellung der wissenschaftlichen Erkenntnis von zentraler Bedeutung ist: das Problem des Verhältnisses zwischen der qualitativen und der quantitativen Erkenntnis. Schlicks Ausführungen sind ein guter Ausgangspunkt für die entsprechende Reflexion, weil sie sehr klar und in einer kompakten Form Argumente liefern, die ansonsten bloß hier und da Erwähnung fanden, heute aber kaum noch finden, weil die Schlüsse, zu denen Schlick aufgrund seiner Argumentation gelangt, nicht wenigen als selbstverständlich und nicht mehr erklärungsbedürftig gelten. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet eine Reflexion über den ontologischen Status der sog. „ sekundären Qualitäten “ . 120 Er formuliert diese wichtigen Gedanken so prägnant, dass ich die Passage in ihrer ganzen Länge wiedergebe: Die Kritik der Immanenzgedanken zeigte uns, dass wir die transzendenten Dinge als reale Vermittler annehmen mussten zwischen den Erlebnissen, die des lückenlosen Zusammenhanges ermangeln - sowohl derjenigen, die demselben individuellen Bewusstsein angehören, als auch besonders solcher, die auf verschiedene Individuen verteilt sind. Die transzendenten Realitäten bilden die identischen Gegenstände, auf welche Worte und Begriffe der miteinander verkehrenden Menschen sich beziehen. Wir haben uns längst überzeugt, dass die Rolle solcher identischen Gegenstände nicht übernommen werden kann von den Elementenkomplexen, d. h. von den Verbänden der Sinnesqualitäten, weil diese für verschiedene Individuen eben niemals dieselben sind [. . .]. Das war eine durch Physiologie und Physik festgestellte Tatsache, und durch sie wird es schlechthin unmöglich gemacht, die Sinnesqualitäten (rot, warm, laut usw.) als Eigenschaften der Dinge an sich anzusehen. In unserer Terminologie: die (psychologischen) Begriffe, mit denen wir die Sinnesqualitäten bezeichnen, können wir nicht auch zur Bezeichnung der transzendenten Gegenstände benutzen. Der naive Realismus führt zu Widersprüchen, denn er muss von einem und demselben Dinge Bestimmungen aussagen, die miteinander unverträglich sind; er muss z. B. denselben Körper für rot und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären. So wird er als unhaltbar erkannt und muss der Einsicht in die „ Subjektivität “ der Sinnesqualitäten Platz machen. 120 AE, S. 450, 576, 643, 651, 657, 658, 668f. Vgl. den Ursprung dieser Idee in Locke 1997, II. viii.8 - 10 162 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="177"?> Die sinnlichen Qualitäten sind Bewusstseinselemente, nicht Elemente der transzendenten, nicht gegebenen Wirklichkeit; sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten. Bekanntlich stammt diese Einsicht bereits aus dem Altertum. Demokrit besaß sie in voller Klarheit; sie ging dann 600 aber der Philosophie verloren während langer Zeit, in welcher der naive Realismus des Aristoteles herrschte, und sie musste erste in neuerer Zeit (Galilei, Boyle, Locke) zu frischem Leben erweckt werden. (AE, S. 597 - 600) Das Hauptargument für den angeblich bloß subjektiven Charakter der „ sekundären “ Qualitäten ist also der Umstand, dass sie von verschiedenen Menschen verschieden wahrgenommen werden, dass, wenn man sich nach den Berichten verschiedener Menschen richten sollte, man denselben Körper „ für rot und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären “ müsste. Man kann dieses Argument noch um ein paar „ selbstverständliche “ Punkte ergänzen, um die (scheinbare) Richtigkeit der Schlussfolgerung weiter zu untermauern: besondere Zustände (wie z. B. Farbenblindheit) zeugten eindeutig davon, dass die subjektive Wahrnehmung weit von der Wirklichkeit abweichen könne; und überhaupt: ohne Augen gebe es keine Wahrnehmung der Farben (ohne Ohren keine der Töne), ohne eine verarbeitende Gehirnleistung sowieso nicht. Farben, Töne, Wärmeempfindungen usw. seien also bloß subjektive „ Konstrukte “ des Gehirns, „ sie gehören dem Subjekt an, nicht den Objekten “ , so die geläufige Argumentation. Die Argumente scheinen überzeugend und unwiderlegbar zu sein. 121 Nehmen wir sie jedoch genauer in den Blick. Zwei Menschen betrachten den gleichen Apfel (gleichzeitig, unter den gleichen Lichtbedingungen und beide stehen sie eng nebeneinander). Der eine sagt: Er ist rot. Der andere: Er ist blau. Ist das möglich? Sie werden hoffentlich mit mir einverstanden sein, wenn ich behaupte, dass ein solch krasser Widerspruch praktisch ausgeschlossen ist (außer, eine der beiden Personen ist farbenblind oder beide sind es). Was man sich vorstellen kann, ist, dass die Betrachter, wenn sie die Farbe eines, sagen wir, roten Apfels genauer bestimmen müssten (handelt es sich um Dunkelrot, Burgunderrot, Karmesinrot, Purpurrot, Weinrot, Florentiner Rot usw.), in Verlegenheit geraten könnten, weil sie mit diesen feinen Unterschieden überfordert wären. Doch wenn man ihnen entsprechende farbige Muster vorlegen würde und sie sich entscheiden sollten, welchem Muster die Farbe des Apfels am nächsten ist, würde man eine hohe Übereinstimmungsrate erhalten. Es besteht eine substanzielle empirische Evidenz für die Universalität der Farbbenennung in verschiedenen Kulturen, was wiederum darauf schließen lässt, dass Menschen unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund Farben ähnlich, vielleicht sogar identisch wahr- 121 Wir werden später ( „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ ) sehen, dass sie überraschenderweise doch nur bedingt richtig ist, denn in den sog. Nahtoderfahrungen scheint es möglich, sinnliche Wahrnehmungen der Welt anscheinend ohne jegliche Zuhilfenahme der Sinnesorganen zu haben. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 163 <?page no="178"?> nehmen (Loreto at al. 2012). Im Alltagsleben herrscht zwischen den Menschen ein hoher Grad an Übereinstimmung in Bezug darauf, welche Farbe die Blumen im Blumenladen oder die Kleider im Kleiderladen haben, ob man einen hohen oder einen tiefen Ton gehört hat usw. Dank dieser Übereinstimmung ist die Kommunikation zwischen ihnen möglich. Im Übrigen zeugt die Tatsache, dass verbale Kommunikation möglich ist, indirekt davon, dass unsere Wahrnehmung von Tönen sehr genau und zuverlässig ist. Schließlich sind die absoluten Unterschiede der Wellenfrequenzen zwischen den einzelnen Sprachlauten relativ gering und Menschen sprechen oft recht schnell. Dieser Einheitlichkeit der Wahrnehmung der „ sekundären “ Qualitäten stehen jedoch Phänomene gegenüber, die zweifelsohne von großen individuellen oder situationsbedingten Unterschieden zeugen. Und hier meine ich die „ normalen “ Fälle, die mit Krankheitsphänomenen (wie z. B. Farbenblindheit, Taubheit usw.) nichts zu tun haben. Der rote Apfel erscheint uns bei völliger Dunkelheit farblos; was für den einen ein warmes Zimmer ist, ist für den anderen viel zu kalt; wenn ich meine Hand in ein Behältnis mit warmem Wasser tauche und danach in ein anderes mit lauwarmem, wird sich dieses Wasser kälter „ anfühlen “ , als es sich ohne den „ Erstkontakt “ mit dem warmen Wasser anfühlt, usw. Aber liegt der Fall mit den „ primären “ Qualitäten wesentlich anders? Ein Löffel, der teilweise in Tee eingetaucht ist, erscheint gebrochen; die lange gerade Straße scheint immer enger zu werden, je weiter sie sich von mir weg erstreckt; ein Stück Metall ist erwärmt länger als bei Zimmertemperatur; wenn ich es genügend beschleunige, wird es hingegen kürzer, als wenn es einfach auf dem Tisch liegt; ein Gewicht von 1 kg wiegt mehr oder weniger als 1000 g, abhängig davon, wo konkret auf der Erde ich es wiege, und in einer ausreichend großen Entfernung von der Erde wiegt es überhaupt nichts; die Leitungsfähigkeit der Metalle ändert sich mit ihrer Temperatur und wenn diese tief genug ist, wird sie praktisch unendlich groß, usw. Es ist unbestritten, dass die „ primären Qualitäten “ der Gegenstände nicht absolut bleiben, sondern sich der konkreten Situation entsprechend ändern können. Interessanterweise haben wir keine Schwierigkeit damit: niemand bezichtigt sie aus diesem Grund der Subjektivität. Man nimmt einfach Rücksicht auf solche Veränderungen, und so definierte man z. B. den Meter am Ende des 19. Jahrhunderts als eine Länge zwischen zwei Strichen auf dem Meterprototyp, der aus Platin und Iridium angefertigt worden war, bei einer Temperatur von 0°C, und man versucht nicht einmal Gegenstände auf der ISS zu wiegen. Warum erscheinen uns die entsprechenden „ Konzessionen “ im Falle der „ sekundären Qualitäten “ nicht ebenso berechtigt? Warum gilt es nicht als selbstverständlich, statt: „ Weil der Apfel einmal so erscheint und einmal so, hat er objektiv gesehen eigentlich gar keine Farbe “ , einfach zu sagen: „ Der Apfel ist rot, weil er normal sehenden Personen unter normalen Lichtverhältnissen rot erscheint “ ? Eine mögliche Erklärung für diese rätselhafte Ungleichbehandlung im philosophischen Diskurs über die primären und sekundären Qualitäten mag 164 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="179"?> in dem oben bereits erwähnten Argument liegen: Ohne Auge (und Gehirn) keine Farbe, ergo ist Farbwahrnehmung ein Konstrukt von Auge und Gehirn. Das Problem mit diesem Ansatz besteht natürlich darin, dass, wie bereits George Berkeley klar herausstellte (Berkeley 1999, S. 25, 27f.), sich das Gleiche auch über die „ primären “ Qualitäten sagen lässt: Ohne Auge oder zumindest den Tastsinn keine Ausdehnung, Form, Bewegung, Solidität oder Zahl. Man möchte argumentieren, dass ich mich von der Existenz und Ausdehnung der Körper um mich herum selbst dann überzeugen kann, wenn ich die Augen schließe oder gar blind wäre, indem ich nämlich diese Körper betaste, aber man muss doch zugeben, dass ich ohne den Tastsinn keine Möglichkeit dazu hätte. Es ist nicht nötig, aus dieser Beobachtung extreme idealistische Schlüsse zu ziehen, wie Berkeley es getan hat (die Welt existiere ausschließlich im Geiste des Beobachters oder Gottes), die Beobachtung ist jedoch ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Unterschied zwischen den primären und den sekundären Qualitäten nicht so groß ist, wie er gewöhnlich gemacht wird. Weiter wird argumentiert, dass die Qualität der Farb- oder Tonwahrnehmung wesentlich vom Aufbau des entsprechenden Sinnesorgans abhängt, dass ein Regenwurm oder eine Schnecke nicht über eine differenzierte Farbwahrnehmung verfügen, dass Hunde oder Fledermäuse besser als Menschen hören, dass Adler und Habichte besser sehen, dass Tiere allgemein besser riechen können usw. Aber niemand ist auf die Idee gekommen, die Objektivität der Zeit zu bezweifeln, weil sie sich einerseits mit einer primitiven Klepsydra, andererseits mit einer höchst raffinierten Atomuhr messen lässt. Das Gleiche gilt beispielsweise für die Temperatur oder sogar die Länge: die entsprechenden Messgeräte haben in der neusten Zeit eine fast an ein Wunder grenzende Präzision erlangt, die Unterschiede in der Messgenauigkeit zwischen den älteren und den modernen Messgeräten verleiten uns jedoch nicht zu der Behauptung, dass Länge oder Temperatur keine objektiven Eigenschaften der Welt seien. Wieso auch sollte die Tatsache, dass es im langen Verlauf der Evolution gelungen ist, „ Messgeräte “ zu konstruieren, die bestimmte Größen viel genauer abbilden können als ältere „ Messgeräte “ , davon zeugen, dass die durch sie abgebildeten Größen bloß subjektiv sind? Aber, so geht die Argumentation weiter, um Farben usw. wahrnehmen zu können, braucht es Menschen oder andere bewusste Wesen, die „ primären “ Qualitäten hingegen lassen sich mit bloß physikalischen Messgeräten ermitteln. Allerdings braucht es Menschen, um diese Messgeräte herzustellen. Worin sollte also der Vorzug dieser Qualitäten bestehen? Man könnte sogar argumentieren, dass sie subjektiver als die „ sekundären “ sind, da sie sich erst mit künstlichen Gegenständen genau bestimmen lassen. Diese Messgeräte aber seien bloß physischer Natur, sie brauchen kein Bewusstsein, kein empfindendes Wesen, um ihre Messungen zu registrieren. Das stimmt, doch wo liegt das Problem? Empfindende Wesen, Bewusstsein, 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 165 <?page no="180"?> das sind Hervorbringungen der Natur und damit weniger „ künstlich “ als physikalische Messgeräte. Schlick selber schreibt: „ Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen “ (AE, S. 647). So gesehen sollte man wohl eher Temperatur, Zeit, Länge als „ subjektiv “ disqualifizieren. Warum sollte man das Bewusstsein und seine Leistungen aus der Sphäre des Natürlichen ausschließen wollen? Schließlich wird, quasi mit Leukipp und Demokrit (Mansfeld 1986, Bd. II, S. 247 - 249, 281 - 287, argumentiert, dass die Welt aus Atomen (oder anderen Elementarteilchen) besteht und da diese keine Farben, Töne, Gerüche usw. haben, können die „ sekundären Qualitäten “ unmöglich Teil der objektiven Welt sein. Diese Argumentation macht sich jedoch einer petitio principii schuldig: sie setzt voraus, was erst das Resultat der wissenschaftlichen Forschung sein kann: die Festlegung der Grundbausteine des Universums. Es ist ganz und gar unzulässig, die wissenschaftliche Forschung damit zu beginnen, dass man arbiträr festlegt, es gebe in der Welt nichts anderes als Atome (und die Leere). Es scheint also, dass die stichhaltigen Argumente fehlen, mit denen sich die These von der Subjektivität der „ sekundären Qualitäten “ begründen ließe. Dieses Ergebnis aber hat Folgen für die Beurteilung von Schlicks Diskussion des Verhältnisses zwischen dem Physischen und dem Psychischen, die, wie bereits gesagt, im § 32 folgt. Abgesehen von der ontologischen Frage der objektiven Existenz bzw. Nichtexistenz der „ sekundären Qualitäten “ behandelt Schlick die epistemologische Frage ihrer Erkennbarkeit. Er stellt fest, dass es eine Täuschung sei, dass uns die bewussten Qualitäten direkt, intim und absolut erkannt sind. Genauer gesagt zieht er eine scharfe Trennlinie zwischen dem Bekanntsein und dem Erkanntsein dieser Qualitäten (und anderer Phänomene). Die bewussten Phänomene sind uns zwar bekannt, können von uns aber nicht unmittelbar erkannt werden (AE, S. 630). Sie [die Qualitäten, welche den Inhalt unseres Bewusstseins bilden] sind uns absolut bekannt, wie aber ist es mit ihrer Erkenntnis bestellt? Im Vergleich mit der Erkenntnis der Außenweltsqualitäten offenbar schlecht genug; denn die Psychologie, welche die Erforschung der subjektiven, bekannten Qualitäten zum Gegenstande hat, kann sich in bezug auf Umfang und Erkenntniswert ihrer Resultate mit den Naturwissenschaften nicht wohl messen. (AE, S. 630. Vgl. S. 618) Obwohl man Schlick gerne beipflichten wird in seiner Behauptung, dass sich die Psychologie in Bezug auf den Erkenntniswert ihrer Resultate mit den Naturwissenschaft nicht messen kann, vermag die Behauptung, dass die bewussten Qualitäten von uns nicht erkannt werden, doch einigermaßen zu überraschen. Wie begründet Schlick diese These? 166 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="181"?> Ein Teil der Begründung wurde bereits früher geliefert. Bereits im § 12 ( „ Was Erkenntnis nicht ist “ ) argumentierte Schlick im Zuge seiner Darlegungen mit der Idee, dass Intuition keine höhere Form der Erkenntnis sei, dass etwa das bloße Betrachten einer Farbe noch keine Erkenntnis dieser Farbe sei. Hätte ich das Rot durch Vergleich mit anderen Farben irgendwie eingeordnet, seine Nuance und seinen Sättigungsgrad dadurch richtig bezeichnet, [. . .] dann erst dürfte ich behaupten, das Wesen des erlebten Rot [. . .] bis zu einem Grad erkannt zu haben. Solange ein Gegenstand mit nichts verglichen, in kein Begriffssystem in irgendeiner Weise eingefügt ist, solange ist er nicht erkannt. (AE, S. 292f.) Um etwas in seinem Wesen erkennen zu können, muss man es mit anderen Dingen vergleichen. Daran ist sicher nichts auszusetzen. Um die Besonderheit und Eigenart eines Stuhls, einer Birke oder eines Hundes begreifen zu können, muss ich den entsprechenden Gegenstand mit anderen vergleichen. Für unser Problem folgt daraus, dass die bloße Tatsache, dass mir das Rot eines Gegenstandes oder das Gefühl der Freude unmittelbar gegeben ist, noch nicht hinreicht, um sagen zu können, dass ich die Eigenart des entsprechenden Phänomens begriffen habe. Daran aber schließt sich der zweite und wesentlichere Teil der Begründung der obigen These an. Wer nun erwartet hätte, dass Schlick das von ihm ganz richtig gesehene Problem angeht, indem er die Methode beschreibt, wie man die entsprechenden Phänomene mit anderen vergleichen solle (Rot mit Blau, Gelb usw., Freude mit Trauer, Dankbarkeit usw.), um eben ihre Eigenart feststellen zu können, sieht sich getäuscht. Denn dieser beschreitet einen völlig anderen Weg. In der Mitte des 31. Abschnitts kommt er zu dem Schluss, dass die quantitative Erkenntnis die höchste Form der Erkenntnis bilde und dass eine bewusste Qualität zu erkennen, folglich heiße, sie auf bestimmte Quantitäten zurückzuführen bzw. zu reduzieren. Der Weg, auf dem er zu diesem Resultat gelangt, ist auch heute aufschlussreich. Betrachten wir ihn genauer. Jeder Gegenstand des Raumes steht in bestimmten Relationen zu anderen Gegenständen. Diese Relationen lassen sich durch die Angabe einer Reihe von Größen (z. B. die Lage eines Punktes durch die drei Raumkoordinaten und die Zeit) ganz genau bestimmen, in letzter Linie durch die Angabe von Streckenlängen (AE, S. 617). Die Länge sei aber die Zahl der in ihr enthaltenen Einheiten. Eine und dieselbe Längeneinheit werde in allen Längen wiedergefunden, nur in verschiedener Anzahl. So werden sie quantitativ aufeinander zurückgeführt und es gibt, so Schlick, keine vollkommenere Art der Erkenntnis, „ [d]enn das Wiederfinden des einen Gegenstandes im anderen findet am vollkommensten da statt, wo der letztere eine bloße Summe von lauter gleichen Exemplaren des ersteren ist “ (AE, S. 618). Das Wesen der quantitativen Erkenntnis besteht ihm zufolge - wie wir oben gesehen haben - darin, dass sie den zu erkennenden Gegenstand in eine Summe von Einheiten auflöst, die unverändert und unter sich völlig gleich in ihm wiedergefunden 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 167 <?page no="182"?> und gezählt werden können. Auf diese Weise werden alle räumlichen Größen, dann auch Zeitstrecken „ der Herrschaft der Zahl unterworfen “ . Im Verlauf der Argumentation diskutiert Schlick die seiner Auffassung nach erfolgreiche Reduktion der Farben auf die elektromagnetischen Strahlung (AE, S. 619 - 623) und der Wärme auf die Molekularbewegung (AE, S. 623f.) und stellt abschließend fest: Aus der Betrachtung dieser Verhältnisse ergibt sich mit Klarheit: Qualitäten sind nur dann vollständig erkannt, d. h. durch Kombinationen bereits vorhandener Begriffe vollkommen und eindeutig zu bezeichnen, wenn es gelingt, sie quantitativ auf andere zurückzuführen. Und dadurch werden sie in ihrer Eigenschaft als besondere Qualitäten aus dem Weltbilde gänzlich eliminiert. Möglichkeit der quantitativen Bestimmung ist also nicht nur eine willkommene, zur strengeren Fassung nötige Beigabe zur Erkenntnis, sondern sie ist die unumgängliche Bedingung der restlosen Erkenntnis überhaupt. Nur die quantitative, also letzten Endes additive Zurückführung von Größen aufeinander gestattet, die einen in den anderen unverändert vollständig wiederzufinden, nämlich als Teile im ganzen, als Summanden in der Summe. Der Eliminationsprozess der Qualitäten ist der Kern aller Erkenntnisfortschritte der erklärenden Wissenschaften. (AE, S. 624f.) Der Schluss ist höchst merkwürdig. Stand nicht am Anfang die Frage, ob und wie wir die bewussten Qualitäten erkennen können, verbunden mit der unstrittigen Feststellung, dass dies durch bloßes Anschauen nicht möglich ist. Am Ende lesen wir, dass man das Rot, um es vollständig erkennen zu können, eliminieren (durch etwas anderes ersetzen) muss! Das wäre in etwa so, als wollte man behaupten, man könne Greta Muschg nur dann erkennen, wenn man sie tötet und den Leichnam entsorgt. Wie gelangt man zu einer solchen Absurdität? Eine für Schlick notwendige argumentative Prämisse ist die Behauptung, dass alles Erkennen ein Widerfinden des einen im anderen ist (übrigens wiederholt er diese These auf S. 616 nochmals). Wir haben bereits gesehen, dass diese Annahme falsch ist, dass sie also den Schluss nicht stützen kann. Ich werde die Birke nicht dadurch erkennen können, dass ich sie auf die Eiche oder auf den Baum zurückführe, Greta Muschg nicht dadurch, dass ich ihren Ort innerhalb des Netzwerkes ihrer Familienbeziehungen präzise bestimme, sie somit auf ihre Vorfahren zurückführe. Schlick geht hier jedoch noch wesentlich weiter. Erkennen heißt nicht mehr einfach, etwas auf etwas anderes zurückzuführen (wie ursprünglich „ das braune Etwas “ auf „ meinen Hund Tyras “ ), sondern, wie wir bereits gesehen haben, konkret und ausschließlich auf Zahlenverhältnisse. Demnach werde ich die Kuh am vollkommensten erkennen, wenn ich sie als eine bloße Summe von gleichen Exemplaren von womöglich Katzen, Mäusen, Tieren, Zellen, letztlich aber vermutlich Zahlen begriffen habe. Eine erstaunliche Feststellung. Selbst für die geometrischen Figuren stimmt die Behauptung offensichtlich nicht (ich kann nicht einen Kreis auf eine Anzahl von Vierecken reduzieren oder umgekehrt; ist es ausreichend, einen Kreis dadurch zu definieren, dass man 168 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="183"?> seinen Radius angibt? Der Radius bestimmt zwar den Kreis, aber er ist nicht der Kreis), geschweige denn für komplexere Gegenstände: eine Gerade, einen Kreis und ein Dreieck kann man zwar als „ eine bloße Summe von lauter Exemplaren “ von Punkten definieren, man muss jedoch noch weitere Bestimmungen hinzufügen, um die drei Figuren eindeutig bestimmen zu können. Sie lassen sich zwar durch Angabe der drei räumlichen Koordinaten eindeutig bestimmen, und man kann eine Anzahl sich zusammen bewegender Punkte eindeutig bestimmen, indem man ihre räumlichen Koordinaten und überdies die zeitliche Koordinate angibt, wie es Schlick vorschlägt - damit aber kann man eben lediglich die sich bewegenden geometrischen Figuren „ erkennen “ , diese Angaben würden nicht einmal zur Bestimmung der Bewegungen von Elementarteilchen genügen, denn selbst diese sind nicht bloße eigenschaftslose Punkte im eigenschaftslosem Raum, sondern haben auch Qualitäten, die über die raumzeitlichen Bestimmungen hinausgehen (Ladung, Spin, Masse, Lebensdauer usw.). Noch weniger ergiebig wäre die bloße Angabe von raumzeitlichen Eigenschaften der Moleküle, z. B. der Proteine, wenn man ihre biologischen Eigenschaften bestimmen wollte. Wir können heute zwar die tertiäre Struktur der Proteine ziemlich genau angeben, aber dies hilft nur sehr wenig für die Bestimmung ihrer Eigenschaften. Und die Angabe der raumzeitlichen Koordinaten aller Punkte, die sich in einem menschlichen Körper befinden, sagt praktisch nichts über diesen Menschen, außer der Tatsache, dass er/ sie sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufgehalten hat. Die Vorstellung, dass man die vollkommene Erkenntnis dadurch erreicht, dass man alle Gegenstände auf ihre raumzeitlichen Koordinaten reduziert, bildet mithin eine Art reductio ad absurdum von Schlicks Erkenntnisprogramm. Und dennoch spricht Schlick an dieser Stelle eigentlich nichts anderes aus als die Überzeugung, die immer noch zum Kern des gegenwärtigen Verständnisses vom Wesen bzw. von der Essenz der Wissenschaft oder zumindest der Naturwissenschaft gehört. Es ist, wie ich hoffe, offensichtlich geworden, dass sich der Schluss, die objektive Welt sei Gegenstand der ausschließlich quantitativen Erkenntnis und die „ sekundären Qualitäten “ müssten aus dem Erkenntnisprozess, ja aus dem Weltbild, eliminiert werden, aus Schlicks Prämissen nicht ableiten lässt; allerdings wissen wir auch, dass der Schluss auch dann richtig sein kann, wenn seine Prämissen falsch sind. Da auch heute noch die Vorstellung dominiert, dass die höchste Form der Erkenntnis nur dann erreicht werden kann, wenn sie quantitativ ist, wenn die Gegenstände „ der Herrschaft der Zahl unterworfen “ sind oder, wie es bei Schlick weiter heißt, wenn „ die Dinge durch ein Zahlensystem beherrscht “ werden (AE, S. 619), ist es von zentraler Bedeutung, sich die Frage zu stellen, worin diese Überzeugung gründet und ob ihre Begründung berechtigt ist oder nicht. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 169 <?page no="184"?> Das Verhältnis von Psychischem und Physischem (§ 32 f.) Im Folgenden wenden wir uns noch einem weiteren Punkt von Schlicks Überlegungen zu, dem Problem des Verhältnisses von Psychischem und Physischem. Bereits im § 31 konstatiert Schlick, dass die durch die introspektive Methode zu gewinnenden psychischen Gesetzmäßigkeiten unbefriedigend seien (AE, S. 631), und stellt eine zentrale Frage: „ Gibt es keinen Ausweg, um auch in der Psychologie die Stufe der quantitativen Erkenntnis zu erklimmen, auf der es, wie wir sahen, allein möglich wird, das Ziel der Erkenntnis vollständig zu erreichen? “ (AE, S. 631f.). Man vermutet, dass die Antwort positiv ausfällt, und wird nicht enttäuscht. Schlick nimmt Bezug auf seine früheren Ausführungen (AE, S. 618 - 625, s. oben) und stellt fest, dass man bereits mit einem Verfahren vertraut ist, das es ermöglicht, Qualitäten durch Quantitäten zu ersetzen (AE, S. 632). Er fragt, ob dieses Verfahren auch auf die subjektiven Qualitäten des Bewusstseins anwendbar sei. Das sei möglich unter der Voraussetzung, dass es räumliche Änderungen gebe, die in eindeutiger Weise mit den Qualitäten des Bewusstseins zusammenhängen. Diese findet er in den Gehirnprozessen. Es gibt, so Schlick, keine Bewusstseinsqualität, die nicht durch Einwirkung auf den Körper und insbesondere auf das Gehirn, beeinflusst werden könnte (ebd.), deshalb scheint es ihm klar, dass sich die Gehirnprozesse den Bewusstseinsqualitäten eindeutig zuordnen lassen. Zur Erforschung solcher Zusammenhänge müsse die Psychologie sich von der Methode der Introspektion lösen und zur „ physiologischen Psychologie “ wandeln. „ Sie allein kann zu einer prinzipiell vollständigen Erkenntnis des Psychischen gelangen “ (AE, S. 633). Wenn wir auch unabsehbar weit davon entfernt sind, genau zu wissen, welche [Gehirn]prozesse da im einzelnen in Frage kommen, so ist doch wenigstens der Weg gewiesen: es müssen zerebrale Prozesse für subjektive Qualitäten substituiert werden; nur so besteht Hoffnung, sie restlos zu erkennen. Der Weg zur Erkenntnis aller Qualitäten, mögen sie objektiv oder subjektiv sein, ist immer der gleiche: es wird das Zeichensystem der Naturwissenschaft für sie eingeführt, und sie werden dadurch aus dem Weltbilde der exakten Wissenschaft eliminiert; das heißt natürlich nicht: aus der Welt geschafft. Im Gegenteil: sie sind ja das allein Reale, und jenes Weltbild ist nur ein aus begrifflichen Zeichen konstruiertes Gebäude. 122 Endgültige Erkenntnis von Qualitäten, so können wir zusammenfassend sagen, ist nur durch die quantitative Methode möglich. Das Bewusstseinsleben ist also nur insofern vollkommen erkennbar, als es gelingt, die introspektive Psychologie in eine physiologische, naturwissenschaftliche, in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge, überzuführen. (AE, S. 633f.) 122 Die Spannung zwischen dem naturwissenschaftlichen Weltbild und der Welt an sich ist in diesen Zeilen unverkennbar. Welche Bedeutung Schlick der Welt, im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Bild dieser Welt beimessen wollte, ist schwierig zu entscheiden. Ich werde dieses Thema hier nicht diskutieren. 170 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="185"?> Diese Passage liest sich immer noch wie die Bibel der modernen Neurobiologie, genauer gesagt des Zweigs von ihr, der als „ eliminativer Materialismus “ bezeichnet wird (Beckermann 1999, S. 233 - 254). Wir haben bereits gesehen, dass das Programm der Reduktion der Qualitäten auf die Zahlenverhältnisse auf absurden Prämissen basiert, es ist aber auch wichtig, an dieser Stelle auf eine andere, nicht logische, sondern empirische Schwierigkeit des hier angedeuteten Programms hinzuweisen. Schlick geht von der Annahme aus, dass sich den Bewusstseinsprozessen eindeutig Gehirnprozesse zuschreiben lassen, dass sich also in meinem Gehirn, wenn ich einen bestimmten Baum sehe, ein bestimmtes Aktivierungsmuster von bestimmten Nervenzellen feststellen lasse, und wenn ich Freude am Anblick dieses Baumes erlebe, ein anderes, aber ebenso bestimmtes Aktivierungsmuster anderer Nervenzellen, und zwar bei gleicher bewusster Erfahrung das gleiche Aktivierungsmuster der gleichen Nervenzellen. Wir sind heute weiter. Wir wissen, dass eine eindeutige Zuordnung von Gehirnprozessen zu „ bewussten Qualitäten “ nicht möglich ist, dass der gleichen bewussten Erfahrung unterschiedliche Aktivierungsmuster des Gehirns zugeschrieben werden können 123 und dass es auch möglich ist (obwohl aufgrund der Komplexität der Gehirnprozesse praktisch unmöglich festzustellen), dass den gleichen Aktivierungsmustern unterschiedliche bewusste Erfahrungen entsprechen, was den eliminativen Materialismus als eine praktisch aussichtlose metaphysische Option erscheinen lässt; darum spricht man heute in materialistisch gesinnten Kreisen lieber vom Funktionalismus (Beckermann 1999, S. 141 - 180) oder der sog. Supervenienz (ebd., S. 203 - 233) als dem Modus der Verhältnisses zwischen dem Psychischen und dem Physischen: so wie eine Funktion (z. B. das Kühlhalten) durch physisch unterschiedliche Systeme realisiert werden kann, so stellt man sich vor, dass auch die gleichen psychischen oder bewussten Phänomene von unterschiedlichen physischen Aktivierungsmustern realisiert werden oder über sie „ supervenieren “ können. Diese Entwicklungen waren Schlick freilich nicht bekannt. Wie stellte er sich dann das Verhältnis von Physischem und Psychischem konkret vor? Aufgrund der oben zitierten Feststellung, dass die introspektive Psychologie in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge zu überführen sei, kann man seine Antwort erahnen. Zentral für das Verstehen des Weges, auf dem Schlick dieses Problem anzugehen gedenkt, ist sein Begriff der physischen Wirklichkeit. Er stellt fest, dass damals nicht mehr der Begriff der ausgedehnten „ Substanz “ im Mittelpunkt stand, sondern der allgemeinere des räumlich-zeitlichen Prozesses. „‚ [P]hysisch ‘ heißt [jetzt] die Wirklichkeit, sofern sie durch das räumlich-zeitlich-quantitative Begriffssystem der Naturwissenschaften bezeichnet ist “ , schreibt Schlick (AE, S. 643, Hervorhebung im Original), wobei er betont, dass das naturwissenschaftliche Weltbild nur ein System von Zeichen 123 Vgl. z. B. Azouz und Gray 1999, Fiser et al. 2004, Shidara et al. 2005, Vogels et al. 1989. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 171 <?page no="186"?> sei, die wir den Qualitäten und Qualitätskomplexen zuordnen, deren Gesamtheit und Zusammenhang das Universum bildet (AE, S. 644). Er spricht dann von drei gesonderten Reichen, die wir innerhalb der Wirklichkeit zu unterscheiden haben, und deren Verwechslung und Vermischung das psychophysische Problem eigentlich mitverschuldet hat: 1) die Wirklichkeit selbst (die Qualitätenkomplexe, die Dinge an sich); 2) die der Wirklichkeit zugeordneten quantitativen Begriffe der Naturwissenschaft, die in ihrer Gesamtheit den physikalischen Weltbegriff bilden; und 3) die anschaulichen Vorstellungen, durch welche die unter 2) genannten Größen in unserem Bewusstsein repräsentiert werden, wobei 3) natürlich Teil von 1) sei. Schlick stellt fest, dass es zunächst eine offene Frage sei, ob sämtliche Gegenstände des 1. Reiches durch das naturwissenschaftliche Begriffssystem des 2. bezeichnet werden können, d. h., ob die ganze Welt als etwas Physisches aufgefasst werden könne (AE, S. 646). Eine Hypothese, die durch empirische Befunde dringend nahegelegt wird, schreibt Schlick weiter, sei die, dass die raumzeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet seien, also auch zur Beschreibung der Bewusstseinswirklichkeit (AE, S. 646). Dass wir diese außerdem noch durch die sog. „ psychologischen “ Begriffe beschreiben, schafft keinerlei Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem. „ Physisch “ bedeutet mithin nicht eine besondere Art des Wirklichen, sondern eine besondere Art der Bezeichnung des Wirklichen, nämlich die zur Wirklichkeitserkenntnis notwendige naturwissenschaftliche Begriffsbildung, lesen wir weiter (AE, S. 646). Schlicks Argumentation kulminiert in dem folgenden Mantra des reduktiven Materialismus: Die Physik ist das System exakter Begriffe, welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Die gesamte Welt ist der Bezeichnung durch jenes Begriffssystem zugänglich. Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen. (AE, S. 647) Welches sind nun aber die „ empirischen Befunde “ , die „ dringend nahe legen “ , dass „ tatsächlich die raumzeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet sind “ , das möchte der Leser doch nun gerne wissen. Ein paar Seiten weiter erfährt er es. Auf S. 651 heißt es nämlich: Wie schon mehrfach bemerkt, sprechen ganz bestimmte ausgedehnte Erfahrungen dafür, dass die physischen Begriffe auch zur Bezeichnung der unmittelbar erlebten Wirklichkeit, also des Psychischen, verwendbar sind [. . .]. Und ein paar Zeilen weiter: Wir wissen, dass der Ablauf unserer Bewusstseinsprozesse nur dann ungestört stattfindet, wenn bestimmte Teile des Gehirns intakt sind. Zerstörung des Hinterhauptlappens zerstört das Sehvermögen, Zerstörung des Schläfenhirns hebt die Fähigkeit zur Bildung von Wortvorstellungen auf usw. 172 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="187"?> Das ist also Schlicks Hauptargument für die These, dass die psychischen/ bewussten Prozesse auf die physische Wirklichkeit des Gehirns reduzierbar sind. Das Argument ist sehr bekannt, ebenso bekannt ist jedoch, dass es eigentlich schwach ist. Auf einem beschädigten Klavier kann kein Pianist ein perfektes Konzert spielen, ohne Batterie kann kein Auto (mit Benzinantrieb) laufen, ohne Elektrizität bzw. Gas kann kein Mittagessen gekocht werden, doch das unbeschädigte Klavier, die Batterie, Elektrizität (bzw. Gas) sind nicht die Ursachen des Konzertes, des Funktionierens des Autos bzw. der Mahlzeit und diese können nicht auf jene reduziert werden. Das unbeschädigte Klavier, die funktionierende Batterie, die Elektrizitätsbzw. Gaszufuhr sind bloß die notwendigen Bedingungen der entsprechenden Ereignisse, nicht ihre Ursachen, und jedes Ereignis verlangt für gewöhnlich, dass sehr viele unterschiedliche (jeweils notwendige) Bedingungen erfüllt werden, damit es zustande kommen kann. 124 Interessanterweise ist sich Schlick dieser Schwierigkeit eigentlich bewusst und seine Art mit ihr Umzugehen ist äußerst aufschlussreich. Er stellt zu Recht fest, dass die Erfahrungen des Ausfalls der bewussten Funktionen infolge der Beschädigung oder Zerstörung des Gehirns mit Sicherheit eigentlich nur zeigen, dass zwischen dem physikalischen Objekt „ Gehirn “ und der erlebten Wirklichkeit „ Bewusstseinsinhalt “ eine innige Beziehung bestehe (AE, S. 651), und schreibt weiter: Wollte man diese Beziehung als gegenseitige Abhängigkeit, also als kausale Beziehung auffassen (wie es die dualistische Lehre von der Wechselwirkung zwischen Körper und Geist tat), dann wäre das Bewusstsein, das Ich, ein besonderes von den „ Gehirnvorgängen “ verschiedenes Objekt, das einer Bezeichnung durch physikalische Begriffe prinzipiell nicht zugänglich wäre. [. . .] Außerdem wäre es dann auch unmöglich, alle Hirnprozesse physikalisch verständlich zu machen, d. h. aus physikalischen Ursachen zu erklären, denn ihre Ursachen würden ja zum Teil in den psychischen Prozessen zu suchen sein, die eben durch physikalische Begriffe nicht darstellbar wären - die physikalische Kausalität hätte Lücken, und dies würde auf Begriff und Formulierung der Naturgesetze einen schlechthin umstürzenden Einfluss haben (AE, S. 651f.) Diese Formulierung glänzt durch Präzision und Ehrlichkeit: Würde man zulassen, dass nicht nur das Gehirn auf den „ Geist “ Einfluss hat, sondern auch umgekehrt, hätte die physikalische Kausalität Lücken, was „ auf Begriff und Formulierung der Naturgesetze einen schlechthin umstürzenden Einfluss “ hätte. Man muss an dieser Stelle bedenken, dass dieses Argument die Antwort auf die Frage liefern soll, ob sich die ganze Wirklichkeit tatsächlich rein physikalisch beschreiben lasse, eine These, die auf S. 646 als eine Hypothese eingeführt wurde. Diese Hypothese wird Schlick zufolge durch „ empirische Befunde “ gestützt, die „ dringend nahe legen “ , dass tatsächlich „ die 124 Wir werden auf dieses Problem ausführlich im Exkurs „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ eingehen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 173 <?page no="188"?> raum-zeitlichen Begriffe zur Beschreibung jeder beliebigen Wirklichkeit ausnahmslos geeignet sind, also auch der Bewusstseinswirklichkeit “ (AE, S. 646). Welche Befunde sind dies? Solche, von denen man sagen kann/ muss, dass, wenn man sie nicht im Sinne der Hypothese interpretieren würde, sie die Hypothese stürzen würden. Um also die Hypothese aufrechtzuerhalten, muss man die Befunde so auslegen, dass sie sie stützen. Aber dies ist wiederum ein klarer Fall einer petitio prinicipii! Man kann Schlick nur dankbar sein, dass er diese entscheidende Argumentationsschwäche seiner Position (und man darf wohl sagen jeder materialistischen Position bis heute) mit solcher Klarheit ans Licht bringt. Mit Blick auf die Entwicklung von Schlicks Argumentation sollte man an dieser Stelle unbedingt auf den Umstand hinweisen, dass das „ materialistische Mantra “ (s. oben) vor der Auseinandersetzung mit dem Problem des Verhältnisses der psychischen Phänomene zu den Gehirnprozessen formuliert wurde. Auf S. 646 stellt Schlick fest, dass „ [d]ie Physik das System exakter Begriffe [ist], welches unsere Erkenntnis allem Wirklichen zuordnet. Die gesamte Welt ist der Bezeichnung durch jenes Begriffssystem zugänglich “ , und erst auf S. 651 stellt er sich die Frage, wie man das Verhältnis Bewusstsein/ Gehirn auffassen soll. Er geht also eigentlich nicht offen und unvoreingenommen an sie heran. Seine Meinung ist bereits festgelegt: physikalische Begriffe können die ganze Wirklichkeit beschreiben. Die „ empirischen Befunde “ werden im Lichte dieser Grundüberzeugung interpretiert. Deshalb überrascht der Schluss, den er aus der Betrachtung dieser Befunde zieht, überhaupt nicht: Aber alle diese Komplikation des Weltbildes [die Möglichkeit, dass die physikalische Kausalität Lücken hat, mit umstürzender Wirkung auf die Naturgesetze] sind völlig unnötig und ganz leicht zu vermeiden, wenn wir an Stelle der dualistischen Annahme 125 die viel einfachere Hypothese einführen, dass die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zur Bezeichnung jeder beliebigen Wirklichkeit, also auch der unmittelbar erlebten, geeignet ist. Dann ergibt sich als Beziehung zwischen dieser Wirklichkeit und den physischen Hirnprozessen nicht mehr eine solche der kausalen Abhängigkeit, sondern schlechthin der Identität. Es ist ein und dasselbe Wirkliche, nicht etwa „ von zwei verschiedenen Seiten betrachtet “ , oder „ in zwei verschiedenen Erscheinungsformen “ , sondern nur durch zwei verschiedene Begriffssysteme bezeichnet, nämlich das psychologische und das physikalische. (AE, S. 652) Wenn man annimmt, die ganze Wirklichkeit sei physikalische Wirklichkeit, liegt die These auf der Hand, dass zwischen psychischen Phänomenen und physischen Gehirnprozesse Identität herrscht. Die Frage ist, ob man hinrei- 125 Ich werde an einer späteren Stelle dieses Werkes zeigen, dass die Ablehnung des materialistischen Monismus, der hinter Schlicks Position steht und bis heute die Naturwissenschaft klar dominiert, keineswegs zur Annahme des kartesianischen Dualismus zwingt. 174 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="189"?> chende Gründe dafür hat, eine solche Hypothese aufzustellen. Schlick hat keine benannt, und auch heute gibt es keine stichhaltigen Gründe, die diese Hypothese hinreichend stützen würden. 126 Was man Schlick an dieser Stelle allerdings als wichtiges Verdienst anrechnen muss, ist seine Ehrlichkeit: Er sagt klar und deutlich, dass die These, wonach „ die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zur Bezeichnung jeder beliebigen Wirklichkeit [. . .] geeignet ist “ , bloß eine Hypothese ist. Heute wird diese Hypothese von vielen als längst ausgemachte, selbstverständliche Tatsache behandelt. Außerdem ist ihm zugutezuhalten, dass er deutlich ausspricht, dass, sollte sich diese Hypothese als unzutreffend erweisen, dieser Befund „ einen schlechthin umstürzenden Einfluss “ auf das gängige wissenschaftliche System hätte, und zwar nicht nur auf die Psychologie und die verwandten Wissenschaften, sondern auch auf die exaktesten der exakten Naturwissenschaften: Physik, Chemie, Biologie usw. Im Übrigen: selbst wenn man Schlicks materialistischen Monismus ablehnt, kann man ihm gerne beipflichten, wenn er schreibt: „ Natur ist alles, alles Wirkliche ist natürlich. Geist, Bewusstseinsleben, ist kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen “ (AE, S. 647). Absolut richtig, der Geist ist genauso wirklich, wie die sichtbare Natur. Man müsste allerdings die Verhältnisse ein wenig geraderücken: Nicht der Geist ist „ ein Ausschnitt aus der Gesamtheit des Natürlichen “ , sondern das sinnlich wahrnehmbare Natürliche ist „ ein Ausschnitt “ aus der Gesamtheit des Geistes. Das Problem der Substanz Ich möchte mich jetzt einem weiteren Problem zuwenden, das Schlick im Zuge seiner Diskussion der quantitativen und qualitativen Erkenntnis und des Verhältnisses von Physischem und Psychischem behandelt. Wir sind bereits viel früher auf dieses Problem gestoßen, und zwar im § 5 (Erkennen durch Begriffe), als Schlick im Rahmen seiner Diskussion des Definierens von Begriffen gewisse Sonderbarkeiten feststellt. So schreibt er beispielsweise auf S. 192: Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen. Ich kann z. B. nicht den Begriff der mathematischen Kugel bilden, indem ich mir eine wirkliche Kugel vorstelle und dann von allen ihren physischen Eigenschaften, wie Farbe usw. abstrahiere; denn ich kann mir wohl eine Kugel einer beliebigen Farbe, niemals aber eine Kugel von gar keiner Farbe visuell vorstellen. Und ein wenig weiter: Nicht dadurch gelangt man zu den Begriffen, dass man gewisse Merkmale der Dinge oder Vorstellungen fortließe, [. . .] sondern dadurch, dass man die Merkmale 126 Für eine Aufzählung und Diskussion solcher angeblichen Gründe vgl. Majorek 2012. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 175 <?page no="190"?> voneinander unterscheidet und einzeln bezeichnet. Die Unterscheidung aber wird, wie bereits Hume eingesehen hat, 127 dadurch ermöglicht, dass die einzelnen Merkmale unabhängig voneinander veränderlich sind: so vermag ich bei der Kugel Gestalt und Farbe als besondere Merkmale voneinander zu trennen, weil ich mir einerseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Farbe, andererseits beliebig gefärbte Körper in der gleichen Gestalt vorstellen kann. (AE, S. 192 f, Hervorhebung im Original) Diese Feststellung mutet seltsam an. Denn es ist doch ziemlich offensichtlich, dass wir, wie ich früher am Beispiel einer Eiche dargelegt habe, nicht alle Eigenschaften des uns bekannten Gegenstands (Objekts) in seine Definition bzw. in seine Beschreibung einbeziehen. Es fragt sich also, was Schlick zu dieser seltsamen und stark kontraintuitiven Position geführt hat. Eine direkte Antwort auf diese Frage bekommt man in der Allgemeinen Erkenntnislehre nicht, ich vermute aber, dass es mit Schlicks Ablehnung des Substanzbegriffs zu tun hat. Bereits im § 9 sagt er über die Begriffe Substanz und Attribut: „ Das sind nun aber metaphysische Begriffe, die manche Schwierigkeit in sich bergen “ (AE, S. 240), und später kehrt er zu diesem Thema zurück um festzustellen (§ 31): Ein Atom, ein Elektron ist also aufzufassen als ein Verband von Qualitäten, die durch bestimmte Gesetze miteinander verknüpft sind - nicht als ein substantielles Ding, welches seine Qualitäten als Eigenschaften trüge und von ihnen, eben als ihr Träger, unterschieden werden könnte. Die Kritik, die Hume gegen diesen Substanzbegriff richtete, besteht noch immer völlig zu Recht. 128 (AE, S. 628) Ein wenig weiter stößt er in das gleiche Horn: Die Idee eines von den Eigenschaften unabhängigen und sie nur tragenden Kernes ist verfehlt, denn der Kern wäre dann etwas Eigenschaftsloses. Wir müssen uns mit dieser Idee nicht weiter befassen, denn wir sind bei unserer Analyse überhaupt nicht auf sie gestosßen und können den Prozess der Naturerkenntnis ohne sie verständlich machen. Dadurch ist ihre Entbehrlichkeit bewiesen. [. . .] Alle Erkenntnis geht also in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen. (AE, S. 629) 127 Vgl. Hume 1978, I. i.VII 128 Er meint Humes Treatise, I.iv.III, wo es heißt: „‘ This confest by the most judicious philosophers, that our ideas of bodies are nothing but collection form ’ d by the mind of the ideas of the several distinct sensible qualities, of which objects are compos ’ d, and which we find to have a constant union with each other. ’“ Und weiter, nachdem Hume das Problem schilderte, das für uns entsteht, wenn wir das gleiche Objekt zwei Mal beobachten, wobei es beim zweiten Mal, nach einem längeren Zeitabschnitt, andere Qualitäten aufweist und uns so vor ein Dilemma stellt, dass das gleiche Ding ein anderes Ding geworden ist: „ In order to reconcile [these] contradictions the mind is apt to feign something unknown and invisible, which it supposes to continue the same under all these variations; and this unintelligible something it calls a substance, or original and first matter. “ 176 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="191"?> Einige Seiten später (§ 32) schreibt Schlick - wie wir gesehen haben - von seinem „ ersten Reich “ , dass es die „ Wirklichkeit selbst “ , also die „ Qualitätenkomplexe, die Dinge an sich “ umfasse (AE, S. 645). Schlick errichtet seine Erkenntnistheorie demnach auf dem Fundament einer Ontologie, welche die Existenz der Substanzen ablehnt und nur die Existenz der Eigenschaften zulässt. An sich überrascht diese Tatsache überhaupt nicht, denn es ist schon eine Binsenwahrheit, dass „ [e]mpiricists attacked metaphysics of essences and epistemology of rational intuition, innate ideas and infallible knowledge “ (Psillos 2007, S. 107). 129 Es ist vielleicht ebenfalls unbestritten, dass der Substanzbegriff gewisse philosophische Schwierigkeiten in sich birgt. Diese müssen wir aber an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren. Es genügt uns, der Frage nachzugehen, ob Schlicks Option eine plausible Lösung des Problems darbietet. Es ist unschwer festzustellen, dass seine Lösung offensichtliche Mängel aufweist: 130 wenn ein Gegenstand die Summe seiner Eigenschaften wäre ( „ Qualitätenkomplex “ ), dann würde er ein anderer, wenn sich eine dieser Eigenschaften ändert. Würden wir einen Holzzaun neu streichen, weil die alte Farbe abblättert, wäre das Resultat kein neu gestrichener alter Zaun, sondern wir hätten es jetzt mit einem völlig anderen Gegenstand zu tun, einem anderen Zaun. Schlimmer noch: wenn ein Schreibtisch einen Kratzer auf der Schreibfläche bekäme, würde er dadurch zu einem neuartigen Objekt, einem anderen, neuen Tisch. Es geht noch schlimmer: Würden wir in einem Zimmer bei einsetzender Dunkelheit das Licht anschalten, änderte sich die wahrgenommene Farbe des Tisches und somit würde der vertraute Tisch zu einem neuen Objekt, einem neuen Tisch. Alle diese Konsequenzen von Schlicks Position sind selbstverständlich stark kontraintuitiv, um nicht zu sagen absurd. Was treibt Schlick in diese ungemütliche Ecke? Er wird durch seine Überzeugung dort hineingedrängt, dass die Zulassung der Substanz ( „ Materie “ ) als der Träger der Eigenschaften ebenso unangenehme Folgen hätte: diese „ Materie “ an sich müsste nämlich eigenschaftslos sein, was ganz unmöglich erscheint. Ist diese Konsequenz aber zwingend? Es ist unbestritten, dass wir für gewöhnlich in solchen Kategorien über die Welt denken: der „ naive Realismus “ nimmt doch tatsächlich an, dass es einen Träger der Eigenschaften gibt. Ein Stuhl ist braun, er kann aber weiß übermalt werden und wird dennoch ein Stuhl bleiben. Die Farbe braun ist eine veränderliche Eigenschaft dieses Stuhls. Der Stuhl hat auch ein bestimmtes Gewicht. Wenn ich aber auf dem Sitz eine zusätzliche Sitzplatte montiere, wird sich das Gewicht des Stuhles zwar ändern, der Stuhl wird aber der Stuhl bleiben. Schlicks Befürchtung ist die, dass, wenn wir einen „ Träger “ der Eigenschaften zuließen, dieser „ eigenschaftslos “ sein müsste. Wir wissen aber sehr wohl, dass der Stuhl nicht eigenschaftslos ist, selbst dann, wenn wir 129 Vgl. auch Ladyman 2007, S. 304 - 307, 310 - 314. 130 Für eine klassische und umfangreiche Kritik des Nominalismus vgl. Armstrong 1978. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 177 <?page no="192"?> meinen, dass die Farbe nicht zu den zentralen, definierenden Eigenschaften des Stuhls gehört. Ob er grün oder braun oder weiß ist, spielt keine Rolle, solange er eine gewisse Form hat, die seine Funktion gewährleistet. Der Stuhl hört auf, ein Stuhl zu sein, nicht wenn ich ihn übermale, sondern wenn ich ihn beispielsweise mit einer Säge zerteile. Wenn man jedoch nicht einräumen will, dass es „ Träger “ von Eigenschaften gibt, für die einige Eigenschaften „ lebenswichtig “ , andere hingegen verhältnismäßig unerheblich sind, dann landet man bei der stark kontraintuitiven Behauptung: „ Man kann im allgemeinen überhaupt nicht eine Eigenschaft von einem Dinge fortdenken und die übrigen ungeändert bestehen lassen “ (AE, S. 192). Aber wieso denn nicht? Selbstverständlich kann man das, wir haben es soeben mit dem Stuhl gemacht. Sicherlich kann ich nicht alle Eigenschaften von dem Stuhl fortdenken, ich kann auch nicht die Farbe allgemein von ihm fortdenken: der Stuhl wird immer irgendeine Farbe haben (auch wenn er aus Glas hergestellt wurde und somit „ farblos “ oder „ durchsichtig “ ist), wohl aber eine spezifische Farbe. Warum sieht Schlick diese offensichtliche Tatsache nicht? Die Schwierigkeit ergibt sich für ihn wahrscheinlich deshalb, weil er die Eigenschaft von dem spezifischen Wert dieser Eigenschaft nicht klar unterscheidet. Der Stuhl muss wohl eine Farbe haben (oder durchsichtig sein), welche Farbe aber, ist unerheblich. Ich kann also die Eigenschaft „ Farbe “ tatsächlich nicht vom Begriff des Stuhls „ fortlassen “ , wohl aber kann ich die spezifische Farbe (z. B. Rot) „ fortlassen “ . Das Gleiche gilt für Größe, Gewicht, Form usw. Das Problem mit dieser Lösung wird für Schlick aber wohl sein, dass ihm nicht klar ist, was eine Eigenschaft an sich sein soll, ohne dass sie einen spezifischen „ Wert “ annimmt: was Farbe allgemein ist, wenn sie nicht konkret Rot oder Blau oder Grün ist. Ich sage: „ Das Problem wird wohl sein “ , weil Schlick dieses Problem überhaupt nicht diskutiert. Seine Ablehnung der „ Substanz “ oder des „ Kernes “ ist, wie ich sie oben zitiert habe, äußerst knapp formuliert: „ Die Idee eines von den Eigenschaften unabhängigen und sie nur tragenden Kernes ist verfehlt, denn der Kern wäre dann etwas Eigenschaftsloses. Wir müssen uns mit dieser Idee nicht weiter befassen [. . .]. “ In Anbetracht der weitreichenden weltanschaulichen Konsequenzen dieser ontologischen Entscheidung muss Schlicks philosophische Unbekümmertheit erstaunen. Die Konturen der Begründung seiner Position lassen sich allerdings ganz gut rekonstruieren. Wir haben bereits gesehen, dass Schlick es ablehnt, die Universalien im klassischen, mittelalterlichen Sinne in seiner Ontologie zuzulassen: Begriffe haben für ihn keine Realität, sind nicht wirklich, sind bloße Zeichen. Die Inhalte der Begriffe werden entweder durch Definitionen festgelegt, also auf andere Begriffe zurückgeführt, oder letztendlich (um den unendlichen Regress zu vermeiden) durch das Hinweisen auf konkrete Gegenstände und in einem weiteren, aber auch letzten Schritt auf „ unmittelbares Erleben “ : „ Was ‚ Blau ‘ ist oder was ‚ Lust ‘ , kann man nicht durch Definition kennen lernen, sondern nur bei Gelegenheit des Anschauens von etwas Blauem oder des Erlebens von Lust “ (AE, S. 200). 178 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="193"?> In einem solchen „ unmittelbaren Erleben “ ist jedoch, so scheint es zumindest, nur ein konkretes Blau oder Rot oder eine konkrete Lust gegeben, nicht aber die abstrakte Eigenschaft „ Farbe “ . Es wäre für Schlick tatsächlich schwierig zu erklären, wie wir eigentlich zu diesem Begriff kommen, denn er will, wie wir gesehen haben, die Abstraktion als Möglichkeit der Begriffsbildung nicht zulassen (AE, S. 191; diese würde hier allerdings ohnehin „ nichts bringen “ , denn es ist nicht klar, was ich von Gelb, Rot usw. abstrahieren sollte, um auf den allgemeinen Begriff „ Farbe “ kommen zu können); der Farbbegriff lässt sich aber kaum durch andere Begriffe definieren 131 und das Hinweisen als Methode ist in seinem Fall auch ausgeschlossen, weil ich jeweils auf eine konkrete bemalte/ gefärbte Fläche hinweisen muss und nicht auf die „ Farbe “ allgemein hinweisen kann (wir haben die Schwächen der hinweisenden Methode bereits oben erläutert). Vielleicht wäre es ja möglich, auf verschiedenfarbige Flecken hinzuweisen und zu sagen: „ Die Farbe ist das, was diesen allen gemeinsam ist “ . Ist aber irgendetwas, was man sehen kann, allen diesen Flecken gemeinsam, außer eben, dass sie Flecken, vielleicht auf einem Blatt Papier, sind? Schlick tut so, als ob wir den Begriff der Farbe gar nicht hätten, sondern uns nur über konkrete Farben unterhalten könnten. Deshalb kann er oder will er nicht begrifflich unterscheiden zwischen der Eigenschaft (Farbe) und dem konkreten Wert dieser Eigenschaft (Blau), deshalb muss er kontraintuitiv behaupten, dass man die Eigenschaft von dem Gegenstand unmöglich „ fortlassen “ könne. Das Problem mit seiner Position besteht jedoch in der Tatsache, dass wir offensichtlich über den Begriff der Farbe (wie auch andere Eigenschaften allgemein) verfügen, und das ist eine Tatsache, die er nicht erklären kann. Mit seiner Position verbindet sich jedoch noch ein weiteres Problem: man muss in ihr (wie selbstverständlich auch in jeder anderen philosophischen Position) erklären können, was man unter einer konkreten Farbe versteht. Nehmen wir an, dass wir Gras vor dem Fenster, eine grüne Bank und einen grünen Ball betrachten und feststellen, dass sie alle die gleiche Qualität aufweisen: sie alle sind grün. Es ist nun davon auszugehen, dass das Grün dieser drei Gegenstände nicht absolut identisch ist: es ist im realen Leben kaum möglich, an zwei verschiedenen Stellen gleiche Farben mit absolut identischer Nuance wahrzunehmen. Warum behaupten wir, dass diese doch unterschiedlichen „ Dinge “ - man muss bedenken, dass sie sich sowohl in der Farbe als auch in ihrer Position im Raum unterscheiden - eine „ Sache “ sind, nämlich eben die grüne Farbe? Indem wir alle drei als grün bezeichnen, scheinen wir die Existenz eines universalen „ Grün “ anzunehmen, das sich an 131 Interessant ist in diesem Zusammenhang die lexikalische Definition der Farbe, die man im Duden findet: Farbe 1. a) mit dem Auge wahrnehmbare Erscheinungsweise der Dinge, die auf der verschiedenartigen Reflexion und Absorption von Licht beruht (Dudden 1996, S. 486). Auf diese Art kann ich bestimmt keinem Kind den Begriff der Farbe beibringen. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 179 <?page no="194"?> verschiedenen Stellen und zu unterschiedlichen Zeiten „ manifestieren “ kann. Mit Blick auf Schlick und seinen Ansatz lässt sich also sagen, dass sich das Problem bloß verschoben hat: er wollte keine dinglichen Universalien zulassen, landet aber bei einer Position, die eine andere Art von Universalien zulassen muss, nämlich Eigenschaften. An der entsprechenden Stelle der Allgemeinen Erkenntnislehre hat man das Gefühl, dass Schlick sich dieser Schwierigkeit nur vage bewusst ist, dass ihm aber gleichsam halbbewusst unwohl dabei ist, und deshalb schreibt er unmittelbar nach der Passage, in welcher er die Existenz der Substanzen ( „ Dinge “ ) ablehnte, dass die Erkenntnis in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen gehe. Konsequenterweise hätte er an dieser Stelle aber sagen müssen, die Erkenntnis gehe auf Eigenschaften (Qualitäten), hatte er doch soeben das Atom und das Elektron als „ Verband von Qualitäten “ charakterisiert; Qualitäten sollten also mindestens neben „ Beziehungen und Abhängigkeiten “ aufgelistet, wenn nicht sogar vor diesen behandelt werden und stärker ins Gewicht fallen. Ich möchte diese kurze Diskussion mit dem Hinweis abschließen, dass an einer ontologischen Entscheidung kein Weg vorbeiführt: ob man sich für die Ontologie der Universalien, der Substanzen oder der Qualitäten entscheidet, für eine Ontologie muss man sich. Und indem man die Entscheidung getroffen hat, hat man zugleich eine metaphysische Entscheidung getroffen, eine Entscheidung, die keineswegs ein Ergebnis der empirischen Forschung ist. Ich habe versucht, Schlicks Gründe für seine Wahl genau wiederzugeben und mit entsprechenden Zitatstellen zu belegen. Wir haben, wie ich glaube, gesehen, wie dünn diese Gründe sind: Schlick bezieht sich auf Hume, erwähnt, dass die Ontologie der Substanzen „ manche Schwierigkeit in sich [birgt] “ (AE, S. 240), diskutiert diese Schwierigkeiten jedoch nicht und zeigt nicht, dass seine eigene Ontologie jener tatsächlich überlegen ist. Man hat stark den Eindruck, dass diese Wahl eher auf persönlichen Präferenzen beruht, als dass sie aufgrund unparteiischer Betrachtung der vorhandenen Optionen getroffen wurde. Und das ist etwas, das wir bereits bei Schlicks Zurückweisung der Realexistenz von Begriffen (Universalien) festgestellt haben. Schlicks Position steht außerdem unter dem Druck der Frage, wie er auf der Grundlage seiner Ontologie der Eigenschaften überhaupt zu seinen „ Gegenständen “ kommen kann. Man kann hier zunächst von den „ abstrakten Gegenständen “ (Zahl, Figur, Geschwindigkeit, Masse, Qualität, Beziehung, aber auch Lust, Liebe, Gerechtigkeit usw.) absehen und sich ganz konkreten dreidimensionalen Gegenständen (Stühle, Tische, Bäume) zuwenden. Nun ist es eine gut bekannte Tatsache, auf die bereits Hume hinwies, dass sich die wahrgenommen Eigenschaften der (dreidimensionalen) Gegenstände von Moment zu Moment verändern. Sie verändern sich aber auch mit unserer Position zu ihnen: der Tisch sieht anders aus, wenn ich neben ihm sitze, und anders, wenn ich ihn von der Tür des Arbeitszimmers aus beobachte. Wir (die „ naiven Realisten “ ) haben keine Schwierigkeit damit, 180 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="195"?> wir wissen, dass es sich in beiden Fällen um den gleichen Tisch handelt, wohingegen z. B. Computer komplexe Erkennungsprogramme brauchen, um den gleichen Gegenstand in unterschiedlicher Beleuchtung und aus unterschiedlichen Positionen dargestellt als eben den gleichen Gegenstand zu erkennen (sie benötigen noch komplexere Erkennungsprogramme, um den gleichen Menschen bzw. das gleiche Gesicht zu erkennen); Schlick braucht seinerseits auch etwas, was uns plausibel erklären kann, wie wir aufgrund des Wirrwarrs der sinnlichen Wahrnehmungen zu den konstanten Gegenständen kommen können. Schlick bedient sich diesbezüglich interessanterweise der Gestaltpsychologie. Er schreibt: [D]ie Erkenntnisgegenstände [sind] nicht von vornherein bestimmte fest abgegrenzte Einheiten [. . .]. Dass in unserem Bewusstsein dessen Inhalte zu gewissen Komplexen zusammentreten, die wir als „ Einheiten “ erleben, ist eine Tatsache, für welche die moderne Psychologie den von Chr. Ehrenfels geprägten Begriff der „ Gestaltqualität “ verwendet. Den Gestalten kommt bei der Beschreibung des unmittelbar Gegebenen eine schlechthin fundamentale Rolle zu. Mit jener Tatsache ist das gegeben, was wir als „ Zusammenhang “ bezeichnen: dasselbe Element kann verschiedenen Gegenständen angehören. Und schließlich gelingt es bei passender Wahl des Standpunktes, in allen Gegenständen eines Gebietes dieselben ganz wenigen Elemente in steter Wiederholung aufzufinden. (AE, S. 271; vgl. auch S. 170) Schlick denkt sich die Sache offensichtlich in etwa so: Wir sehen unterschiedliche Stühle. Wir sehen, dass sie alle aus Beinen, Sitzfläche, Lehne usw. bestehen (abgesehen von den Dutzenden anderer Eigenschaften). Diese sind dieselben ganz wenigen Elemente, die bei allen Stühlen in „ steter Wiederholung “ aufzufinden sind. Wir nennen also einen entsprechenden Gegenstand „ Stuhl “ , und wenn wir wieder einmal die gleichen Elemente zusammen erblicken, wissen wir, dass wir wiederum einen Stuhl vor uns haben. Diese Auffassung führt jedoch unmittelbar zu zwei Schwierigkeiten unterschiedlicher Art. Erstens, um die Zusammenfügung der „ wenigen Elemente “ zu einem konkreten Gegenstand vollziehen zu können, müssen wir diese Elemente erkannt haben. Wir müssen also konkret wissen, dass ein bestimmter „ Qualitätenkomplex “ ein Bein (Stuhlbein, nicht Elefantenbein) ist, ein anderer eine Sitzfläche, ein wieder anderer eine Lehne. Diese „ Gegenstände “ haben aber an sich sehr unterschiedliche Erscheinungsformen (man denke an die unterschiedlichen Modelle von Stühlen), die sich noch dazu unter sich verändernden Bedingungen in ihrem Erscheinungsbild stark verändern können. Wie kommen wir also dazu, ein Stück Holz als „ Stuhlbein “ zu bezeichnen, und ein anderes Stück Holz als die „ Sitzfläche “ ? Es droht also auch hier eine Art unendlicher Regress der Bestimmung der konkreten Gegenstände (ich habe auf dieses Problem bereits in der Diskussion des Anfangs der Allgemeinen Erkenntnislehre aufmerksam gemacht). Zweitens: selbst wenn wir irgendwie zur Identifizierung der „ wenigen Elemente “ gelangt sind, ist überhaupt nicht klar, wie wir diese Elemente zusammen- 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 181 <?page no="196"?> fügen, und überhaupt nicht sicher, dass wir sie zu den bekannten Gegenständen zusammenfügen müssen. Die klassischen Beispiele der mehrdeutigen Bilder (Ente/ Hase; junge Frau/ alte Hexe; Necker-Würfel, Vase/ zwei Gesichter usw.) sind mittlerweile Gemeingut, es ist also allgemein bekannt, dass die gleichen Elemente unterschiedlich zu einer „ Gestalt “ zusammengefügt werden können. Folglich muss man davon ausgehen, dass, selbst wenn die Elemente festgelegt worden sind, aus ihnen nicht zwingend das gewünschte Bild des Stuhles entstehen muss. Schlick ist uns also weiterhin die Erklärung schuldig, wie auf der Grundlage seiner Ontologie der Eigenschaften das vertraute Weltbild des „ naiven Realismus “ , das schließlich unsere tägliche Erfahrung ist, entstehen kann. Es ist, wie ich glaube, nicht nötig, gesondert aufzuzeigen, dass sich bei der Konstruktion der „ abstrakten Gegenstände “ (oder in der üblichen Formulierung: der abstrakten Begriffe) von der Art, die ich oben aufgelistet habe, 132 nach Schlicks Methode noch größere Schwierigkeiten ergeben. Denn in diesem Fall sind die „ Elemente “ der „ Gestalt “ nicht in der Wahrnehmung gegeben und es ist folglich überhaupt nicht einsichtig, wie diese „ Gestalten “ aufgrund des Hokuspokus der Gestaltpsychologie entstehen können. Ich finde es übrigens eine interessante Ironie des Schicksals, dass sich Schlick an diesem wichtigen, ja „ fundamentalen “ Punkt gedrängt fühlt, von der Gestaltpsychologie Gebrauch zu machen, also gerade von der Auffassung, die vierzig Jahre später durch Thomas Kuhns Werk The Structure of Scientific Revolutions (Kuhn 1970, S. 111 - 115) wesentlich zum Niedergang des Schlick ’ schen Programms beigetragen hat. Das Problem der induktiven Erkenntnis (§ 41) Wir haben bereits gesehen, dass sich Schlick dem vertrackten Problem der Berechtigung der induktiven Schlüsse stellen will. Er formuliert drei Fragen: 1) Wie gelangen wir dazu, Sätze von wahrgenommenen Fällen auf nicht wahrgenommene zu übertragen? ; 2) Welcher Art ist die Geltung, die wir für dergleichen Sätze beanspruchen, da wir doch ihre absolute Gültigkeit nicht behaupten dürfen? ; 3) Mit welchem Recht erheben wir diesen Anspruch? (AE, S. 783). Wir haben auch bereits in der Zusammenfassung dieses Teils vom Schlicks Werk (s. oben) gesehen, wie er diese Fragen beantwortet. Schlick stellt fest, dass der Mensch im Leben stehe und es um des Lebens willen Erfahrung geben müsse (AE, S. 804). Überdies meint er, dass unser Bewusstsein an diese Welt angepasst sei: „ [S]eine [des Menschen] subjektive Erwartungen werden durch objektive Vorgänge erzeugt und treffen wieder mit ihnen zusammen, eben weil sie angepasst sind “ (AE, S. 805). Daraus ergibt sich anstelle der theoretischen, die nicht gegeben werden kann, eine prak- 132 Abschnitt: „ Ihre Natur besteht ja darin, Zeichen zu sein “ . 182 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="197"?> tische Rechtfertigung der Induktion. Die erste und die dritte Frage beantworten sich gemeinsam: [D]er praktische Glaube an den [Kausal]satz durch Assoziation, durch einen Instinkt, der das handelnde Leben in jedem Augenblick durchdringt, beherrscht und erhält. Die Resultate dieser fundamentalen Lebensfunktion sind für das Leben gültig, es gibt keine andere Art des Geltens für das Handeln. Und der Betrieb der Wissenschaft ist ja auch ein Handeln. Weil die Welt nach dem Kausalprinzip aufgebaut ist, muss alles Leben in dieser Welt jenem Instinkt unterworfen sein. (AE, S. 805) Dies ist eine sehr interessante Beobachtung. Wenn man über das Leben reflektiert, stellt man fest, dass die praktische Notwendigkeit, die Berechtigung der Induktion zu akzeptieren, eigentlich weit über die Bedürfnisse der Wissenschaft hinausgeht. Ich kann nicht aufstehen, mich nicht auf den Stuhl setzen, nicht ins Auto einsteigen, ohne zu glauben, dass die Welt konstant ist, dass der Boden unter meinen Füßen genauso solide wie gestern ist, dass der Stuhl mich genauso sicher wie gestern tragen wird, dass das Auto genau wie gestern nicht auseinanderbricht, sondern mich zum meinen Ziel bringen wird. Und die Welt erweist sich gütigerweise als konstant, berechenbar und - was vielleicht noch wichtiger ist - als für unsere Lebensführung im Grunde genommen erstaunlich zuträglich. Die Fälle, wo der Gehsteig oder der Boden unter einem plötzlich einsinkt, sind glücklicherweise äußerst selten (und auch im Nachhinein erklärlich), Stühle zerbrechen äußerst selten, Autos (sogar Flugzeuge) gehen selten kaputt. Ob man dieses grundsätzliche, spontane, unterbewusste Vertrauen, die wir der Welt entgegenbringen können und entgegenbringen, als Instinkt (wie Schlick) oder als tiefen, unterbewussten Glauben an die Konstanz der Welt bezeichnet, ist hier weniger wichtig. Ohne dieses instinktive oder spontane Vertrauen in die Berechenbarkeit der Welt wäre das geordnete Leben nicht möglich. Jede Minute wäre von der Angst begleitet, dass uns im nächsten Moment etwas Unerwartetes und unter Umständen Schreckliches zustoßen könnte. Dieses Vertrauen ist uns ebenso wichtig wie die Luft. Die Suche nach der Antwort auf die erste und die dritte von Schlicks Fragen führt uns also zu der Einsicht, dass eine geordnete, konstante Welt für unsere Lebensführung und für unsere Wissenschaft unerlässlich ist. Wie steht es jedoch mit der zweiten Frage? Auf diese gibt Schlick eine erwartbare Antwort: Man müsse zugeben, dass induktive gewonnene Erkenntnisse nicht den Charakter der Gewissheit tragen, sondern nur wahrscheinlich seien (AE, S. 791), alle unsere Wirklichkeitserkenntnisse sind also streng genommen Hypothesen (AE, S. 792). Keine wissenschaftliche Wahrheit, mag sie historischer Art sein oder der exaktesten Naturforschung angehören, macht davon eine Ausnahme, keine ist im Prinzip vor der Gefahr sicher, irgendwann einmal widerlegt und ungültig zu werden. (AE, S. 792) 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 183 <?page no="198"?> Dies sind, wie Schlick schreibt, „ wohlvertraute Dinge “ (AE, S. 792). Dieser Schluss mag dennoch überraschen, denn wie wir gesehen haben, suchte Schlick in seinem Werk die Möglichkeit, sichere Erkenntnis zu erlangen. Zu diesem Zweck hat er auch die Idee der impliziten Definitionen eingeführt, die die eindeutige Bestimmung der Begriffe garantieren sollten, mit dem Netzwerk der Begriffe argumentiert, die dank der günstigen Art sie zu definieren, die perfekte Deckung mit den empirischen Tatsachen definieren könnten, und später auch die strenge Art der Schlussfolgerung gemäß dem Modus Barbara (s. oben) für die einzige in der Wissenschaft zulässige erklärt. Deshalb erscheint das Zugeständnis, dass jede empirische (nicht begriffliche) Erkenntnis doch nur wahrscheinlich ist, wie eine Art Kapitulation und schafft eine gewisse Spannung mit dem ersten Teil des Werkes, der eben die Hoffnung aufkommen ließ, dass absolut gültige Erkenntnis erreichbar ist. Zum Schluss seiner Ausführungen stellt Schlick eine wichtige Frage: Wie ist es möglich, die ganze Welt in ihrem unendlichen Formenreichtum durch ein einfaches, durchsichtiges, aus einigen wenigen Elementen aufgebautes Begriffssystem zu bezeichnen und sozusagen auf eine Formel zu bringen (AE, S. 808)? Seine Antwort lautet: [W]eil die Welt selber ein einheitliches Ganzen ist, weil sich überall Gleiches im Verschiedenen in ihr findet. In diesem Sinne ist die Wirklichkeit ganz und gar rational, das heißt, sie ist objektiv so beschaffen, dass eine kleine Zahl von Begriffen ausreicht, sie eindeutig zu bezeichnen; es ist also nicht etwa erst unser Bewusstsein, das sie erkennbar macht. Indem wir die Zahl der begrifflichen Zeichen auf ein Minimum reduzieren, folgen wir dem eigensten Wesen und Gesetz des Wirklichen; deshalb eben ist diese Reduktion Erkenntnis der Wirklichkeit. (AE, S. 808f.) Man könnte meinen, dass diese Behauptung ebenso selbstverständlich ist wie die früheren Feststellungen über die praktische Notwendigkeit des Vertrauens in die Induktion oder den bloß hypothetischen Charakter der empirischen Erkenntnis. Das wäre jedoch etwas vorschnell angenommen. Ich habe bereits früher (s. oben) darauf hingewiesen, dass sich die hier von Schlick anvisierte Reduktion ohne Weiteres in der Geometrie oder vielleicht auch in der Arithmetik durchführen lässt, dass es aber eigentlich höchst umstritten ist, ob sich die Eigenschaften des geometrischen bzw. arithmetischen Raumes auf andere Erfahrungsgebiete übertragen lassen. Die Geometrie kann man von einem Ausgangspunkt aus systematisch aufbauen. Das Gleiche lässt sich bestimmt nicht über die Naturwelt sagen. Schlicks Überzeugung ist sicher nicht grundlos. Sein Glaube ist getragen von den Erfolgen der Newton ’ schen Mechanik, die eine unendliche Fülle von Phänomenen auf einige wenige Prinzipien zurückzuführen vermochte: alle Körper überall auf der Erde befolgen die drei Hauptgesetze der Newton ’ schen Mechanik und das Gravitationsgesetz. Heute feiert die Quantenmechanik ähnliche Triumphe. Diese erwecken den Anschein, dass sich nicht nur die Welt der physikalischen Phänomene: ob makro oder mikro ist hier unbedeutend, sondern auch andere 184 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="199"?> Bereiche der Erfahrungswelt (die Welt der Lebewesen und die Welt der Menschen) auf einige wenige Prinzipien werden reduzieren lassen. Wir wissen aber, dass sich bereits in der Sphäre der rein physikalischen Phänomene nicht alle Gesetzmäßigkeiten auf die Newton ’ sche Mechanik reduzieren lassen. Elektrizität, Magnetismus, Licht, schließlich Phänomene im atomaren und subatomaren Bereich verlangen andere Erklärungsprinzipien. Wir wissen auch, dass man zur Erklärung der Eigenschaften von Mineralien gezwungen ist, ihre chemische Zusammensetzung, die sich von Mineral zu Mineral ändert, zu berücksichtigen. Aber auch dies reicht offensichtlich nicht, um die spezifischen Eigenschaften einer bestimmten Substanz erklären zu können. Steinkohle, Graphit und Diamant sind chemisch gesehen der gleiche Stoff. Um ihre Eigenart erklären zu können, muss man nicht nur ihre chemische Zusammensetzung berücksichtigen, sondern auch die strukturelle Beschaffenheit dieser Substanzen und die Eigenschaften des Kristallnetzes. Die Zahl der Erklärungsprinzipien wächst zwangsläufig, abhängig davon, welche Art der Eigenschaften man erklären will. Wenn ein beliebiges Mineral in die Luft geworfen wird, unterliegt es dem Gravitationsgesetz und anderen Gesetzen der Newton ’ schen Mechanik, diese aber sind unzureichend, um seine (chemischen) Eigenschaften zu erklären. Es ist logisch nicht auszuschließen, dass zur vollständigen Erklärung der Welt der Lebewesen noch andere als bloße chemische und strukturelle Prinzipien nötig sind. Es ist logisch auch nicht auszuschließen, dass die Zahl dieser Prinzipien mit der Komplexität der Phänomene nicht nur linear, sondern sogar exponentiell zunimmt. Jede Pflanzenart hat ihre spezifischen Eigenschaften, die sich von denen einer anderen Pflanzenart nicht ableiten lassen. Bis vor kurzem noch ging man davon aus, dass diese Eigenschaften auf die Eigenschaften der DNS zurückgeführt werden können. Dies scheint zunehmend unwahrscheinlich 133 , in jedem Fall aber muss die Entscheidung, ob eine solche Reduktion durchführbar ist, Sache eines empirischen Forschungsprogramms bleiben und kann nicht einem philosophischen Postulat überlassen werden. Die Annahme, dass sich das geometrische Denkmuster auf die ganze Wirklichkeit ausdehnen lässt, dass die Menschen in ähnlicher Weise ähnliche Gesetze befolgen wie die Steine, und nur solche Gesetze, ist in den Forschungsresultaten nicht begründet. Die Überzeugung, dass die Wirklichkeit objektiv so beschaffen ist, „ dass eine kleine Zahl von Begriffen ausreicht, um sie eindeutig zu bezeichnen “ , kann man deshalb nicht als ein wissenschaftliches Forschungsergebnis, sondern nur als einen Glaubensartikel einstufen. Betrachtet man die oben zitierte Feststellung Schlicks genauer, findet man leicht seinen Denkfehler mit weitreichenden Konsequenzen (Aufstellung des reduktionistischen Erkenntnisprogramms). Schlick geht davon aus, dass sich die ganze reiche, vielfältige und komplexe Welt auf einige wenige Erklä- 133 Wir werden uns dieser Frage ausführlich im Exkurs „ Können Gene Morphogenese erklären? “ zuwenden. 2 b Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre 185 <?page no="200"?> rungsprinzipien werde zurückführen (reduzieren) lassen, weil die Welt „ ein einheitliches Ganzes “ sei und weil sich in ihr überall „ Gleiches im Verschiedenen “ finde. Man darf wohl sagen, dass die Welt der geometrischen Figuren einheitlich ist und dass sich in ihnen überall „ Gleiches im Verschiedenen “ findet, nämlich abstrakte Punkte. Es wäre jedoch absurd zu behaupten, dass sich die Eigenschaften eines Dreiecks, eines Kreises, eines Würfels, einer Kugel usw. von den Eigenschaften eines einzigen Punktes ableiten lassen. Der Übergang von der wahren Behauptung „ Alle geometrischen Figuren kann man als aus einfachen Punkten bestehend betrachten “ zu der Behauptung „ Man kann die Eigenschaften der geometrischen Figuren von den Eigenschaften des Punktes ableiten “ ist völlig willkürlich und unzulässig. Man hat stark den Eindruck, dass das, was sich für Schlicks Gedankengebäude letztendlich als verheerend erwiesen hat, seine ursprüngliche, und wie wir gesehen haben, völlig falsche Annahme bzw. Prämisse war, dass alles Erkennen nichts anderes sei als Wiedererkennen des Alten im Neuen. Wir werden auf die Gründe dieser seltsamen Verblendung im Kapitel „ Einige Forschungsergebnisse der Geisteswissenschaft “ zurückkommen. Zusammenfassung Unsere Betrachtung von Schlicks erkenntnistheoretischem Hauptwerk kommt also zu einem überraschenden Resultat: der Kern von Schlicks empiristischem Programm, das einige Jahre später das Rückgrat des Programms des logischen Positivismus bildete, erweist sich als alles andere als voraussetzungslos, objektiv und rein empirisch begründet. Er beinhaltet zahlreiche erkenntnistheoretische und/ oder ontologische Annahmen (Begriffe seien bloße Zeichen, Erkenntnis sei Rückführung auf das Bekannte, Erkenntnis gebe es nur in Urteilen, die Tatsache sei eine Beziehung zwischen zwei Gegenständen, das Urteil sei ein Zeichen für die Tatsache, Intuition sei keine Erkenntnis, es gebe keine Substanzen in der Welt, nur Qualitäten, diese seien auf die Quantitäten zurückführbar, der Glaube an die Berechenbarkeit der Welt und der Glaube an ihre Reduzierbarkeit auf einige wenige einfache Prinzipien usw.), die scheinbar durch strenge Begründung gestützt sind, die sich aber bei genauerer Betrachtung als bloße persönliche Präferenzen entpuppen. Was bedeutet diese Einsicht? Wir haben gesehen, dass Schlick dem Programm der streng empirischen Wissenschaft ein solides erkenntnistheoretisches Fundament geben wollte. Wenn Erkenntnis ein Zurückführen auf das bereits Bekannte, Begriffe bloße Zeichen, die durch implizite Definitionen eindeutig bestimmt werden können, und Wahrheit nichts anderes ist als Eindeutigkeit der Zuordnung: Gegenstand/ Zeichen, dann ist die reduktionistische wissenschaftliche Vorgehensweise berechtigt. Dann scheint es natürlich, ja sogar notwendig, die sekundären Qualitäten auf die primären zurückzuführen und sie aus dem wissenschaftlichen Weltbild zu 186 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="201"?> eliminieren, dann brauchen wir uns nicht um irgendwelche unergründliche Tiefen der Welt kümmern, da die Welt nur die Oberfläche ist, die sie uns zeigt. 134 Wir haben gesehen, dass die von Schlick angebotene erkenntnistheoretische Begründung des reduktionistischen Paradigmas einen Fehlschlag darstellt. Was sich zunächst wie ein solides, ja monumentales Gebäude ausnahm, „ zerschmilzt vor den Strahlen der Analyse “ (AE, S. 256), um Schlicks eigene Worte zu gebrauchen, und zerfällt zu einem traurigen Trümmerhaufen. Dass die zugunsten einer Position angeführten Argumente falsch sind, bedeutet aber bekanntlich nicht, dass die Position selbst falsch ist. Sie kann auch anders, besser begründet werden. Aber gibt es denn andere und bessere erkenntnistheoretische und/ oder epistemologische Argumente für das reduktionistische Wissenschaftsprogramm des logischen Empirismus? Im Nachfolgenden werden wir bei Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein nach ihnen suchen. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt Intellektuelle Biographie Die nachfolgende Biographie Rudolf Carnaps basiert auf seiner „ Intellectual Autobiography “ , die in dem 1963 erschienenen XI. Band der Library of Living Philosophers, 135 der Carnap gewidmet war, veröffentlicht wurde (Schilpp 1963, S. 3 - 85). Die Betonung liegt also eindeutig, wie von Carnap gewünscht, auf seiner intellektuellen Entwicklung, und nicht der persönlichen. Die aber ist in seinem Fall von entscheidender Bedeutung. Carnap wurde 1891 in dem kleinen Dorf Ronsdorf in der Nähe von Barmen, heute ein Stadtteil von Wuppertal, geboren. Er war das letzte von zwölf Kindern. Sein Vater, der starb, als Carnap erst sieben Jahre alt war, stammte aus einer Familie armer Weber, brachte es aber zu einem wohlhabenden Fabrikbesitzer. Carnaps Mutter stammte aus einer akademischen Familie. Ihr Vater war ein bekannter Bildungsreformer und ihr ältester Bruder Wilhelm ein bekannter Archäologe, der zusammen mit Heinrich Schliemann die Überreste von Troja entdeckte (Creath 1998, S. 208). Carnap schreibt ferner, dass sich unter der Vorfahren der Mutter auch Lehrer, Pfarrer und Bauern befanden (Carnap 1963, S. 3). Dies ist insofern von Bedeutung, als er betont, dass seine Eltern tief religiös waren, insbesondere die Mutter, deren Glaube „ ihr ganzes Leben durchtrank “ (ebd.). Sie schärfte den Kindern ein, dass das Wesentliche an der Religion nicht so sehr das Akzeptieren eines Glaubensbekenntnisses sei, sondern das moralisch gute Leben. Die Überzeugungen des ihrer Mitmenschen waren für sie 134 Vgl. das „ Manifest “ der logischen Positivisten: „ In der Wissenschaft gibt es keine ‚ Tiefen ‘ ; überall ist Oberfläche “ (Manifest 1929, S. 11). 135 Diese Serie wurde ursprünglich von der Northwestern University publiziert, ab 1960 jedoch von der Open Court Publishing Company (Chicago, La Salle, Illinois). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 187 <?page no="202"?> ethisch neutral, solange sie ernsthaft die Wahrheit suchten. Carnap schreibt, dass diese Haltung ihn sehr tolerant gegenüber Menschen mit anderen Überzeugungen gemacht hat (ebd.). Carnap studierte an der Universität in Jena, später in Freiburg i. B., zunächst Physik und Mathematik, später Physik und Philosophie, wobei er betont, dass er seinen Interessen folgte, ohne Rücksicht auf Examen oder die berufliche Karriere. Einen besonderen Einfluss übte Gottlob Frege auf ihn aus, bei dem er in Jena symbolische Logik und die Grundlagen der Mathematik studierte. Frege war zu dieser Zeit praktisch unbekannt in Deutschland und es war offensichtlich - schreibt Carnap - , dass er zutiefst enttäuscht, manchmal sogar verbittert war über diese „ Totenstille “ , die ihn umgab. Kein Verlagshaus war bereit, sein Hauptwerk, die zwei Bände der Grundgesetze der Arithmetik, herauszubringen, sodass Frege das Buch auf eigene Kosten veröffentlichen lassen musste (ebd., S. 4). Im Herbst 1910 besuchte Carnap Freges Vorlesung „ Begriffsschrift “ über begriffliche Notation. Die Vorlesung fand kaum Resonanz bei den Studenten, für Carnap aber war sie prägend (ebd., S. 5). Er beschreibt Frege als eine altmodische Erscheinung, kleingewachsen, eher schüchtern und extrem introvertiert. Er schaute selten auf die Zuhörer und es gab keine Fragen oder Diskussion zu dem Vorgetragenen (ebd.). Im Sommersemester 1913 besuchte Carnap eine weitere Vorlesung von Frege: „ Begriffsschrift II “ . Carnap und sein Freund waren dabei die einzigen Zuhörer (ebd.). In dieser Vorlesung griff Frege häufig die Formalisten an, die Zahlen als bloße Symbole betrachteten. Einen offensichtlich großen Eindruck auf Carnap machte Freges Darstellung seiner Entdeckung des logischen Fehlers im ontologischen Beweis der Existenz Gottes (ebd., S. 6). Carnap schreibt, dass, obwohl er sich sehr für Freges System der Logik interessierte und Frege selbst sich der allgemeinen philosophischen Tragweite seines Werkes offensichtlich bewusst war, er, Carnap, die Bedeutung dieses Werkes erst nach dem Ersten Weltkrieg erkannte, als er die Arbeiten von Frege und Russell mit großer Aufmerksamkeit studierte. Im Sommer 1914 besuchte Carnap eine weitere Vorlesung von Frege: „ Logik in der Mathematik “ . In ihr prangerte Frege den Mangel an Präzision in den herkömmlichen Formulierungen von Axiomen, Definitionen und Beweisen in der Mathematik an (ebd.). Carnap schreibt, dass ihn die Physik von all seinen Studienfächern am meisten anzog und er 1913 mit experimentellen Forschungen in der Physik begann, die zur Dissertation führen sollten. Er entdeckte aber bald, dass er kein guter Experimentator war, zudem wurde der Professor, bei dem er studierte, in den ersten Tagen des Krieges getötet (ebd., S. 7). Carnap interessierte sich auch für andere Bereiche des Wissens, störte sich jedoch an der mangelnden Klarheit der Begriffserläuterungen und Gesetzesformulierungen und der großen Zahl von nur unzureichend verbundenen Fakten in diesen Disziplinen. 188 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="203"?> Bereits während der voruniversitären Jahre begann er allmählich, an den religiösen Lehren zu zweifeln (ebd.). Denn wenn sie wörtlich genommen werden, schreibt er, sind sie mit der modernen Wissenschaft und besonders mit der Evolutionstheorie in der Biologie und mit dem Determinismus in der Physik unvereinbar. Er studierte eifrig die Arbeiten der Führer des Monistenbundes (Haeckel und Ostwald). Carnap fand zwar, dass diese Arbeiten keine ernstzunehmenden philosophischen Werke darstellten, aus der Sicht der Erkenntnistheorie waren sie sogar oft ziemlich primitiv (ebd.), dennoch sympathisierte er mit ihrem Beharren darauf, dass die wissenschaftliche Methode die einzige Methode zur Gewinnung von fundiertem, systematischem und kohärentem Wissen sei, und mit ihrem humanistischen Ziel, das in der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen durch rationale Mittel bestand. Die Wandlung seiner grundlegenden Überzeugungen sei ein allmählicher Prozess gewesen. Zuerst löste er sich von allem Übernatürlichen in den religiösen Lehren. Christus betrachtete er nicht mehr als göttlich, sondern sah in ihm einen Menschen unter anderen Menschen, wenngleich auch einen großen Führer; später gab Carnap die Idee des persönlichen Gottes auf und ersetzte sie durch einen Pantheismus im Stile von Spinoza, den er aus der Perspektive Goethes wahrnahm. (Carnap schreibt, dass er Goethes Lebensweisheit hoch schätzte.) Dieser Pantheismus hatte eher ethischen als theoretischen Charakter. Bald erkannte Carnap aber, dass sich der Pantheismus als Doktrin nicht wissenschaftlich begründen lasse, da die Ereignisse in der Natur, einschließlich jener unter den Menschen und in der Gesellschaft, ein Teil der Natur seien und durch die wissenschaftliche Methode erklärt werden könnten, ohne dass dafür irgendeine Gottesvorstellung nötig sei. Zusammen mit dem Glauben an den persönlichen Gott gab Carnap auch den Glauben an die Unsterblichkeit als das Überleben einer persönlichen, bewussten Seele auf. Der wichtigste Faktor in dieser Entwicklung war, wie er schreibt, ein starker Eindruck von der Kontinuität in der wissenschaftlichen Sicht der Welt. Der Mensch entwickele sich allmählich, alle mentalen Prozesse seien eng mit dem Gehirn verbunden, wie könnten sie dann weiterbestehen, wenn der Körper zerfällt? (ebd., S. 8). So gelangte er allmählich zu einer klaren naturalistischen Auffassung: alles, was geschieht, ist Teil der Natur. Zu erklären blieb die Tatsache der Existenz von religiösen Überzeugungen. Hier orientierte sich Carnap an der Anthropologie und später an der Theorie Freuds. Weil er jedoch die positive Wirkung der Religion im Leben seiner Eltern unmittelbar erlebt hatte, bewahrte er sich die Achtung vor gläubigen Menschen. Auf dem gegenwärtigen Stand unserer Kultur brauchen viele Menschen nach wie vor religiöse und mythologische Symbole und Bilder, stellt er fest, deshalb sei es falsch zu versuchen, sie der Unterstützung, die sie von diesen Ideen erhalten, zu berauben oder sie gar lächerlich zu machen. Was die Theologie betrifft, war Carnaps Haltung eine völlig andere. Sie sei völlig unvereinbar mit dem wissenschaftlichen Denken der Gegenwart. Kirchliche Dogmen seien durch die Ergebnisse der Wissenschaft widerlegt 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 189 <?page no="204"?> worden, lesen wir. Doch selbst wenn man die kruden wörtlichen Interpretationen der religiösen Urkunden ablehne und stattdessen eine raffinierte Neuformulierung akzeptiere, welche die theologischen Fragen außerhalb des Geltungsbereichs der wissenschaftlichen Methode stelle, so zeige sich, dass religiöse Dogmen den gleichen Charakter wie Aussagen der traditionellen Metaphysik haben: sie seien ohne jeglichen kognitiven Inhalt. Seit dieser Zeit war Carnap davon überzeugt gewesen, dass das Gleiche auch für die meisten Aussagen der gegenwärtigen christlichen Theologie gelte (ebd., 9). Zu keiner Zeit jedoch war Carnap den moralischen Fragen gegenüber nihilistisch eingestellt. Die Hauptaufgabe des Individuums schien seiner Ansicht nach in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und der Schaffung von fruchtbaren und gesunden Beziehungen mit den Mitmenschen zu bestehen, was zur Zusammenarbeit bei der gesellschaftlichen Entwicklung führen und letztlich die gesamte Menschheit zu einer Gemeinschaft formen würde, in der jeder Einzelne die Möglichkeit habe, ein befriedigendes Leben zu führen und an den kulturellen Gütern teilzuhaben. Die Tatsache des Todes sei dabei kein Problem. Jeder gebe seinem Leben seine Bedeutung selbst, stelle sich die Aufgaben und kämpfe dafür, sie zu erfüllen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam für Carnap völlig überraschend. Der Wehrdienst stand im Gegensatz zu seiner ganzen Haltung, er akzeptierte ihn aber als eine notwendige Pflicht zur Rettung des Vaterlandes. Die allgemeine Tendenz seines Denkens war pazifistisch, antimilitaristisch, antimonarchistisch, vielleicht auch sozialistisch, schreibt er (ebd.). Der Krieg zerstörte mit einem Schlag seine Illusionen und die seiner Freunde, dass alles schon auf dem richtigen Weg war, der dauernden Fortschritt verhieß. Carnap bekennt, dass er und seine Freunde zu dieser Zeit sozialistische Neigungen hatten. Für sie waren die Arbeiterparteien in verschiedenen Ländern die einzigen großen Gruppierungen, die wenigstens einen Rest der Ziele des Internationalismus und der Antikriegshaltung bewahrt hatten. Carnap begann zu dieser Zeit den Zusammenhang zwischen der internationalen Ordnung und der Wirtschaftsordnung zu studieren und auch die Ideen der sozialistischen Arbeiterbewegung. Er und seine Freunden begrüßten die Novemberrevolution, zumindest als Befreiung von den alten Mächten. Sie begrüßten auch die Revolution in Russland. In beiden Fällen stellte sich jedoch bereits nach ein paar Jahren bei ihnen Ernüchterung ein: sie erkannten, dass die versprochenen hohen Ideale nicht verwirklicht wurden. Carnap schreibt auch, wie begeistert er von Einsteins Relativitätstheorie war und wie er versuchte, seine große intellektuelle Freude an ihr mit seinen Freunden zu teilen. Carnaps Arbeit in Philosophie begann um 1919, wie wir in seiner Autobiographie lesen (ebd., S. 10). Zunächst wirkte er in relativer Isolation, dann im Kontakt mit Hans Reichenbach und anderen. Nach vier Jahren Wehrdienst musste sich Carnap entscheiden: sollte er sich der Philosophie oder der Physik widmen? Sein Interesse galt beiden, er sah jedoch deutlich, dass ihm 190 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="205"?> die experimentelle Arbeit in der Physik nicht behagte, ihn zog es von Natur zur Theorie. Gleichwohl versuchte er, seine Interessen an der theoretischen Physik mit denen an der Philosophie zu verbinden. Ungefähr 1919 studierte er Whiteheads und Russells Principia Mathematica und von da ab wendete er in seinem eigenen Denken über philosophische Probleme oder bei der Formulierung des Axiomensystems die symbolische Notation zunehmend in der Principia-Form an, und nicht mehr in der Form Freges. Dann lesen wir diese bemerkenswerten Sätze: When I considered a concept or a proposition occurring in a scientific or philosophical discussion, I thought that I understood it clearly only if I felt that I could express it, if I wanted to, in symbolic language. I performed the actual symbolization, of course, only in special cases where it seemed necessary or useful. (Ebd., S. 11) Carnap begann mit der Ausarbeitung eines Axiomensystem für eine physikalische Theorie von Raum und Zeit, wobei er als Primitive zwei Relationen: Koinzidenz von Weltpunkten von zwei physischen Elementen und die zeitliche Relation T zwischen den Weltpunkten der gleichen physikalischen Elemente annahm. Dieses System sollte seine Dissertation werden. Er wurde mit seinem Vorhaben jedoch von Professor zu Professor weitergereicht, vom Physikinstitut zum Philosophieinstitut und zurück geschoben und stellte ernüchtert fest, dass man nicht als Brückenbauer begrüßt wird, wenn man zwei Interessen verfolgt, die an zwei verschiedenen der üblichen akademischen Abteilungen angesiedelt sind, sondern von beiden Seiten eher als Außenseiter und lästiger Eindringling angesehen wird. Schließlich hat er seine Dissertation (Der Raum 1921) zu einem anderen Thema verfasst. In ihr versuchte er zu zeigen, dass die Vielfalt der widersprüchlichen Theorien über die Natur des Raumes, die von Mathematikern, Philosophen und Physikern entwickelt wurden, darauf zurückzuführen ist, dass sie ganz verschiedene Themen behandeln, die sie mit dem gleichen Begriff „ Raum “ belegen. Die Philosophen, die den stärksten Einfluss auf Carnap hatten, waren Frege und Russell. Von Frege lernte er Sorgfalt und Klarheit in der Analyse der Begriffe und sprachlichen Ausdrücke, die Unterscheidung zwischen dem Ausdruck und dem, wofür er steht, und innerhalb dieser zwischen „ Bedeutung “ und „ Sinn “ . Er lernte von Frege auch, dass das Wissen in der Mathematik analytisch, also von gleicher Art wie in der Logik sei. Der größte Teil von Carnaps eigener Arbeit war zwar der reinen Logik und den logischen Grundlagen der Mathematik gewidmet, er legte jedoch großes Gewicht auf die Anwendung der Logik auf die nicht-logische Erkenntnis. Während Frege in der Logik und Semantik den stärksten Einfluss auf Carnap hatte, fiel diese Rolle im Bereich des philosophischen Denkens im Allgemeinen Russell zu. 1922 las Carnap Russells Our Knowledge of the External World, as a Field For Scientific Method in Philosophy. Im Vorwort spricht Russell über „ die logisch- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 191 <?page no="206"?> analytische Methode der Philosophie “ ; das Buch schließt mit einigen Feststellungen, die Carnap wörtlich zitiert: The study of logic becomes the central study in philosophy: it gives the method of research in philosophy, just as mathematics gives the method in physics. [. . .] All this supposed knowledge in the traditional systems must be swept away, and a new beginning must be made. [. . .What is needed] is the creation of a school of men with scientific training and philosophical interests, unhampered by the traditions of the past, and not misled by the literary methods of those who copy the ancients in all except their merits. (Russell 1972, S. 243 - 246, zitiert nach Carnap 1963, S. 13) Carnap schreibt, dass er diese Herausforderung von da an als „ Aufgabe für ihn persönlich “ erlebte. Er setzte seine Beschäftigung mit der symbolischen Logik in der Absicht fort, ein einschlägiges Lehrbuch zu verfassen. Da er sich eine Ausgabe der Principia Mathematica nicht leisten konnte und auch die Unibibliothek in Freiburg keine besaß, wandte er sich direkt an Russell mit der Bitte um Hilfe. Dieser schickte ihm eine 35 Seiten starke handschriftliche Fassung der wichtigsten Seiten des Werks! (ebd., S. 13). Für Carnap war Hans Reichenbach die Person, die ihm in seinen Ansichten am nächsten stand. Beide hatten ihre wissenschaftlichen Wurzeln ursprünglich in der Physik. Zunächst standen sie in brieflichem Kontakt miteinander, und im März 1923 kam es zur ersten Begegnung während einer kleinen wissenschaftlichen Konferenz in Erlangen. Diese befasste sich mit dem neuen Symbolismus in der Logik, mit der Theorie der metaphysikfreien Erkenntnis und mit der axiomatischen Methode in der Physik. Die Debatten waren hitzig, in dem Ziel aber wussten sich alle einig: die Entwicklung einer gesunden und genauen Methode in der Philosophie. Diese Konferenz zeigte, dass zahlreiche Menschen in Deutschland an diesem gleichen Ziel arbeiteten. Die Erlanger Tagung kann, so Carnap, als kleiner, aber wichtiger erster Schritt in der Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie in Deutschland gelten (Carnap 1963, S. 14). Nach dieser Tagung trafen sich Carnap und Reichenbach häufig. Reichenbach blieb im engen Kontakt mit den neusten Entwicklungen in der Physik und konnte sie Carnap erklären. Dieser setzte seine Arbeit an den Grundlagen der Physik fort. In einem Artikel über die Aufgabe der Physik (veröffentlicht 1923) betrachtete er das ideale System der Physik als dreiteilige Struktur: 1) grundlegende physikalische Gesetze als ein formales Axiomensystem; 2) phänomenal-physikalisches Wörterbuch, d. h. die Regeln der Korrespondenz zwischen beobachtbaren Eigenschaften und physikalischen Größen; 3) Beschreibung des physikalischen Zustands des Universums für zwei beliebige Zeitpunkte (man erkennt hier sofort die Kernideen des späteren logischen Positivismus) (ebd., S. 15). Aus ihnen wäre der Zustand der Welt zu jedem anderen Zeitpunkt ableitbar, meinte Carnap damals und räumt ein, dass er der Laplace ’ schen Form des Determinismus anhing. 1926 dann ist seine Monographie Physikalische Begriffsbildung erschienen, in der er die Form der Regeln 192 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="207"?> behandelte, die zur Spezifikation der quantitativen physikalischen Größen formuliert werden müssen. Er beschrieb die Welt der Physik als ein abstraktes System geordneter Quadrupel reeller Zahlen, zu denen die Werte bestimmter Funktionen koordiniert sind (ebd., S. 15f.). Den Hauptteil seiner philosophischen Arbeit in der Zeit von 1922 bis 1925 widmete Carnap den Überlegungen, aus denen heraus Der logische Aufbau der Welt entstanden ist (ebd., S. 16). Inspiriert durch Russells Beschreibung von Ziel und Methode der zukünftigen Philosophie unternahm Carnap zahlreiche Versuche zur Analyse der alltagssprachlichen Begriffe (welche die Dinge und ihre beobachtbaren Eigenschaften beschreiben) und zur Ausarbeitung von Definitionen dieser Begriffe mit Hilfe der symbolischen Logik. Wie er schreibt, ließ er sich dabei von psychologischen Fakten leiten, die die Bildung von Begriffen materieller Dinge aus Wahrnehmungen betrafen, sein eigentliches Ziel aber sei nicht die Beschreibung dieser Prozesse gewesen, sondern eher ihre rationale Rekonstruktion. Zunächst betrieb er die Analyse in der üblichen Weise: ausgehend von Komplexen zu immer kleineren Bestandteilen, z. B. von materiellen Körper zu augenblicklichen visuellen Felder, dann zu Farbflecken und schließlich zu einzelnen Positionen im Gesichtsfeld (Machs Elemente). Carnap schreibt, dass seine Vorgehensweise „ wahrscheinlich “ von Mach und den phänomenalistischen Philosophen beeinflusst war, [b]ut it seemed to me that I was the first who took the doctrine of these philosophers seriously. I was not content with their customary general statements like: „ A material body is a complex of visual, tactile, and other sensations “ , but tried actually to construct these complexes in order to show their structure. (Ebd, S. 16) Dieser Ansatz erfuhr später eine Änderung unter dem Einfluss der Gestaltpsychologie, die zeigte, dass die angeblich einfachen Sinnesdaten ein Ergebnis des Abstraktionsprozesses sind. Unter dem Einfluss dieser Sichtweise nahm Carnap statt der einzelnen Sinnesdaten die Elementarerlebnisse als die eigentlichen Elemente an (ebd., S. 17). Carnap schreibt weiter, dass er bei den Arbeiten am Aufbau realisierte, dass er in den Gesprächen mit seinen Freunden unterschiedliche philosophische Sprachen benutzte, insofern als er sich den Denkweisen des jeweiligen Gesprächspartners anpasste: materialistische, idealistische, nominalistische oder Freges Sprache der abstrakten Einheiten von verschiedenen Arten (ebd., S. 18). Manche seiner Freunde konnten sich damit nicht anfreunden oder sahen darin eine Widersprüchlichkeit. Carnap hatte im Laufe der Jahre erkannt, wie er sagt, dass seine Art zu denken neutral war, was die traditionellen Kontroversen anging: Realismus versus Idealismus, Platonismus versus Nominalismus, Materialismus versus Spiritualismus usw. (ebd.). Für ihn stellten sie nur Formen der Sprache dar, keine Formulierungen von Positionen. Deshalb verwendet er im Aufbau zur Beschreibung der „ Konstitution “ die neutrale Sprache der symbolischen Logik und drei weitere Sprachen: 1) Wortsprache; 2) realistische Sprache, die in den 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 193 <?page no="208"?> Naturwissenschaften üblich ist; 3) Umformulierung der Definition als die Regel für die Anwendung des Konstruktionsprozesses, die von jedermann angewendet werden könnte, sei es Kants transzendentales Subjekt oder eine Rechenmaschine. Carnap deutet in seinem Buch auch die Möglichkeit der Verwendung der physikalistischen Basis an. Seine Haltung in Bezug auf das Problem der Basis empfand Carnap als ontologisch neutral (ebd., S. 18). Im Sommer 1924 lernte Carnap durch Reichenbach Schlick kennen. Dieser teilte Carnap mit, dass er ihn gern als Dozent in Wien hätte (ebd., S. 20). 1925 ging Carnap für kurze Zeit nach Wien und hielt einige Vorträge in Schlicks philosophischem Kreis. Von Herbst 1926 bis Sommer 1931 war er Dozent für Philosophie an der Universität Wien. Carnap schreibt, dass die Zeit in Wien für seine philosophische Arbeit einer der anregendsten, angenehmsten und fruchtbarsten Lebensabschnitte war (ebd.). Mit seinen Interessen und grundlegenden philosophischen Ansichten fühlte er sich im Wiener Kreis besser aufgehoben, als bei jeder anderen Gruppe, mit der er später je in Kontakt stand. Carnap freute sich auch über das rege Interesse, das sein Aufbau in Schlicks Kreis fand. Der Mathematiker Hans Hahn, der sich lebhaft für die symbolische Logik interessierte, zeigte sich besonders angetan; er habe immer gehofft, dass jemand Russells Programm einer exakten Methode der Philosophie mit den Mitteln der formalen Logik durchführen werde, und er begrüßte Carnaps Werk als die Erfüllung dieser Hoffnungen (ebd.). Das Bemühen um fruchtbare Zusammenarbeit wurde in jenem Kreis dadurch erleichtert, so Carnap, dass alle Mitglieder mit einigen Bereichen der Wissenschaft Erfahrung aus erster Hand hatten (ebd., S. 21). Dieser Umstand habe es ermöglicht, dass Klarheit und Verantwortung der Diskussionen ein höheres Niveau erreichten, als dass gewöhnlich in philosophischen Gruppen der Fall gewesen sei. Die Mitglieder des Kreises waren auch mit der symbolischen Logik vertraut, was es möglich machte, die Analyse von Begriffen oder Propositionen, die zur Diskussion standen, symbolisch darzustellen, wodurch die Argumentation präziser wurde. Darüber hinaus bestand unter den meisten Mitgliedern Einigkeit über die Ablehnung der traditionellen Metaphysik. Sie versuchten, die Begriffe der traditionellen Philosophie zu vermeiden und stattdessen jene der Logik, der Mathematik und der empirischen Wissenschaft zu verwenden oder jene Ausdrücke der Alltagssprache, die sich dennoch grundsätzlich in eine wissenschaftliche Sprache übersetzen ließen. Charakteristisch für den Kreis war die offene und undogmatische Haltung, aus der heraus die Diskussionen Carnap zufolge geführt wurden (ebd., S. 22). Jeder sei bereit gewesen, seine Ansichten einer Überprüfung zu unterziehen und sich ihrer Beurteilung durch andere zu stellen oder auch sie selbst zu prüfen. Der gemeinsame Geist war einer der Kooperation und nicht der Konkurrenz. Das von allen geteilte Ziel war es, im Kampf um Klärung und Einsichten zusammenzuarbeiten. Die angenehme Atmosphäre bei den Treffen des Kreises war vor allem Schlicks Persönlichkeit zu ver- 194 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="209"?> danken, seiner unermüdlichen Freundlichkeit, Toleranz und Bescheidenheit, stellt Carnap fest (ebd., S. 21). Mit seiner klaren, nüchternen und realistischen Denkweise übte Schlick häufig einen förderlichen und mäßigenden Einfluss auf die Diskussionen des Kreises aus. Manchmal warnte er vor einer übertriebenen These oder einer Explikation, die zu künstlich erschien, und appellierte an den, wie man sagen könnte, wissenschaftlich verfeinerten gesunden Menschenverstand. Alle Mitglieder des Kreises waren lebhaft am sozialen und politischen Fortschritt interessiert, die meisten von ihnen, darunter Carnap, waren Sozialisten. Ihre philosophische Arbeit wollten sie jedoch von ihren politischen Zielen getrennt halten (lediglich Neurath kritisierte diese Haltung). Hahn und Carnap waren auch an parapsychologischen Untersuchungen interessiert, Hahn nahm sogar aktiv an Séancen teil, weil er die Absicht verfolgte, strengere wissenschaftliche Methoden des Experimentierens einzuführen (leider ohne Erfolg, wie Carnap schreibt; ebd., S. 23). Neurath opponierte stark gegen diese Haltung. Er argumentierte, dass Séancen lediglich dazu dienten, den Supernaturalismus zu stärken und damit den politischen Fortschritt zu schwächen. Aber Hahn und Carnap verteidigten ihr Recht, alle Prozesse oder angeblichen Prozesse objektiv und wissenschaftlich zu untersuchen, ohne Rücksicht auf die Frage, ob die Ergebnisse von anderen verwendet oder missbraucht wurden. Ein weiteres Problem, das im Zentrum des Interesses des Kreises stand, war das Ideal der Einheitswissenschaft (mehr dazu s. unten: LP und Folgen). Dieses richtete sich gegen die scharfe Trennung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, welche damals in Deutschland üblich war. Das Ideal der Einheitswissenschaft sei insbesondere ein Anliegen Neuraths gewesen, hält Carnap fest (ebd., S. 23). Carnap gibt in seiner Autobiographie auch interessante Einblicke in das Verhältnis des Wiener Kreises zu Ludwig Wittgenstein. Er schreibt, dass der Tractatus während der Treffen des Kreises in langen Passagen laut vorgelesen und Satz für Satz diskutiert wurde (ebd., S. 24). Oft waren lange Überlegungen nötig, um herauszufinden, was gemeint war. Und manchmal fand man auch dann keine eindeutige Interpretation. Die Inhalte des Tractatus gaben Anlass zu lebhaften Diskussionen. Bezeichnend ist, dass Wittgenstein sich trotz des klar geäußerten Wunsches der Mitglieder des Kreises, die Interpretationsprobleme direkt mit ihm zu diskutieren, weigerte, an den Treffen des ganzen Kreises teilzunehmen. Nach mehrfachen Versuchen seitens Schlicks willigte er 1927 endlich ein, sich mit drei Mitgliedern zu treffen: Schlick, Carnap und Waismann (ebd., S. 25). Später (Anfang 1929) brach er auch den Kontakt mit Carnap ab, was dieser bedauerte (ebd., S. 27). Carnap macht klar, dass Wittgenstein einen starken Einfluss auf den Kreis ausübte, betont jedoch, dass man nicht davon sprechen könne, dass die Philosophie des Wiener Kreises einfach Wittgensteins Philosophie war. Die einzelnen Mitglieder waren unterschiedlich stark von Wittgenstein beein- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 195 <?page no="210"?> flusst. Für Carnap war Wittgenstein der Philosoph, der neben Russell und Frege den größten Einfluss auf sein Denken hatte. Wittgensteins wichtigste Erkenntnisse waren aus Carnaps Sicht, dass die Wahrheit logischer Aussagen nur auf ihrer logischen Struktur und auf der Bedeutung der Begriffe beruhe; dass sie unter allen Umständen wahr sind, also unabhängig von den kontingenten Tatsachen der Welt, und folglich keinen sachlichen Inhalt haben (ebd., S. 25). Eine weitere Idee Wittgensteins, die großen Einfluss auf Carnap ausübte, war die, dass die Sätze der traditionellen Metaphysik frei von kognitiven Inhalten seien (ebd., S. 25). Carnap schreibt, dass vor allem Schlick sehr stark von Wittgenstein beeinflusst wurde, und zwar sowohl philosophisch als auch persönlich. Während der nachfolgenden Jahre hatte Carnap manchmal den Eindruck, dass Schlick seine meist kühle und kritische Haltung aufgab und bestimmte Ansichten und Positionen von Wittgenstein akzeptierte, ohne in der Lage zu sein, sie durch rationale Argumente in den Diskussionen im Kreis zu verteidigen. Obwohl der Kreis also im Allgemeinen stark von Wittgenstein beeinflusst war, gab es auch „ Abweichler “ . So sei etwa Neurath war von Anfang an sehr kritisch gegenüber Wittgensteins mystischer Haltung eingestellt gewesen, seiner Philosophie des „ Unaussprechlichen “ und der „ höheren Dinge “ , wie Carnap festhält (ebd., S. 28). Der Hauptpunkt, in dem Carnap von Wittgenstein abwich, war die Einschätzung der Bedeutung der Mathematik. Wittgenstein betrachtete sie mit Gleichgültigkeit oder gar Verachtung, sein diesbezüglicher indirekter Einfluss auf einige Studenten in Wien war so stark, dass diese ihr Mathematikstudium aufgaben. Carnap hingegen schätzte die Mathematik sehr hoch. Die andere Abweichung betraf die Frage der Überlegenheit der Ideal- oder der Normalsprache. Wittgenstein hatte eine deutliche Vorliebe für die natürliche Sprache und eine skeptische, sogar teilweise negative Sicht auf die symbolische Sprache hinsichtlich der Klärung philosophischer Probleme. Carnap nahm in diesem Punkt eine andere Position ein. Er schreibt, dass die Mehrheit der britischen analytischen Philosophen die Ansicht Wittgensteins teilte, die Mehrheit der analytischen Philosophen in den USA dagegen die Ansicht des Wiener Kreises (ebd., S. 29). Carnaps Autobiographie gibt auch interessanten Aufschluss über die Kontakte des Wiener Kreises mit anderen Denkern. Als die philosophischen Gruppen, die dem Wiener Kreis am nächsten standen, nennt Carnap einerseits den Reichenbach-Kreis in Berlin (zu dem Carl G. Hempel gehörte) und andererseits die Warschauer philosophische Gruppe. In Warschau pflegte Carnap besonders enge Kontakte zu Alfred Tarski. Beide einte die Überzeugung, dass die formale Theorie der Sprache für die Klärung philosophischer Probleme von großer Bedeutung war. Im November 1930 weilte Carnap auf Einladung der Warschauer Philosophischen Gesellschaft für eine Woche in Warschau. Er führte Gespräche mit Tarski, Stanislaw Lesniewski und Tadeusz Kotarbinski. Carnap stellte dabei fest, dass die polnischen Philosophen eine sehr viel gründlichere und fruchtbarere Arbeit auf dem Gebiet 196 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="211"?> der Logik und ihrer Anwendung auf Grundprobleme vor allem in der Mathematik, der Erkenntnistheorie und der allgemeinen Theorie der Sprache geleistet hatten und bedauerte, dass diese Arbeit aufgrund der Sprachbarriere außerhalb von Polen so wenig bekannt war. In Wien pflegte Carnap außerhalb des Kreises Kontakte mit Kurt Gödel, und er hatte auch vergnügliche Diskussionen mit Karl Popper. Dessen Manuskript Logik der Forschung las er mit Interesse. Carnap zufolge war Poppers philosophische Grundhaltung der des Kreises ganz ähnlich, Popper hätte allerdings zur Überbetonung der Unterschiede geneigt. Schon als ein junger Autor habe Popper viele interessante Ideen produziert, die im Kreis diskutiert wurden (ebd., S. 31). Carnap berichtet dann von einem außergewöhnlichen Ereignis, das sich am Ende seines Aufenthaltes in Wien zutrug. Im Zuge der Diskussionen innerhalb des Wiener Kreises hatte er die Idee der logischen Syntax einer Sprache als rein analytische Theorie von der Struktur ihrer Ausdrücke entwickelt. Seine Denkweise war von den metamathematischen Untersuchungen Hilberts und Tarskis beeinflusst. Er hatte auch oft mit Gödel über dieses Problem gesprochen. 1930 schilderte Gödel Carnap seine neue Methode, die Zahlen mit Zeichen und Ausdrücken zu korrelieren, und stellte ihm gegenüber fest, dass er mit Hilfe dieser Methode der Arithmetisierung beweisen konnte, dass jedes formale System der Arithmetik unvollständig und unabschließbar sei (Gödels berühmter Unvollständigkeitssatz); 1931 veröffentlichte er das Ergebnis. Gödels Mitteilung wurde zu einem Wendepunkt in Carnaps Denken: After thinking about these problems for several years, the whole theory of language structure and its possible application in philosophy came to me like a vision during a sleepless night in January 1931, when I was ill. On the following day, still in bed with a fever, I wrote down my ideal on forty-four pages under the title “ Attempt at a metalogic ” . These shorthand notes were the first version of my book Logical Syntax of Language. (Ebd., S. 53) Von 1931 bis 1935 lebte Carnap in Prag, wo er den Lehrstuhl für Naturphilosophie in der naturwissenschaften Abteilung der Deutschen Universität innehatte. Das Leben in Prag sei einsamer gewesen als in Wien. Im Herbst 1934 verbrachte er mehrere Wochen in England. Auf Einladung von Susan Stebbing hielt er Vorlesungen an der University of London; dort ist er dann auch Bertrand Russell zum ersten Mal begegnet. Carnap zeigt sich in seiner Autobiographie tief beeindruckt von Russells Persönlichkeit, dem weitem Horizont seiner Ideen, der von den technischen Feinheiten der Logik bis zum Schicksal der Menschheit reichte, von seiner undogmatischen Haltung in theoretischen wie praktischen Fragen und von der hehren Perspektive, aus der er die Welt und die Handlungen der Menschen betrachtete (ebd., S. 33). Carnap führte bei dieser Gelegenheit auch Gespräche mit jüngeren Philosophen, wie z. B. Alfred Ayer (später einer der Hauptvertreter des logischen Empirismus in England). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 197 <?page no="212"?> Mit Beginn des Hitler-Regimes im Jahr 1933 wurde die politische Atmosphäre auch in Österreich und der Tschechoslowakei zunehmend unerträglich, schreibt Carnap (ebd., S. 34). Die Nazi-Ideologie breitete sich unter der deutschsprachigen Bevölkerung immer mehr aus, aber auch unter den Studierenden und sogar den Professoren. In Anbetracht dieser Entwicklung leitete Carnap Bemühungen ein, um zumindest für eine gewisse Zeit nach Amerika zu gehen. Er verließ Prag im Dezember 1935 und kam in die Vereinigten Staaten. Bereits 1934 hatte Carnap zwei amerikanische Philosophen kennengelernt, die zuerst Mitglieder des Wiener Kreises in Wien und dann ihn in Prag besucht hatten: Charles W. Morris von der University of Chicago und Willard Van Orman Quine von der Harvard University (ebd., S. 34). Beide waren vom Denken des Wiener Kreises stark angezogen und trugen später dazu bei, dass es in Amerika Verbreitung fand. Beide bemühten sich auch darum, es Carnap zu ermöglichen, nach Amerika zu kommen. Die University of Chicago bot ihm eine Dozententätigkeit für das Winter-Quartal 1936 an und dann eine Festanstellung, in der Carnap vom Herbst 1936 bis 1952 wirkte. Er war sehr glücklich darüber, sich in Amerika niederzulassen, und im Jahr 1941 wurde er amerikanischer Bürger. Er war nicht nur erleichtert, der erstickenden politischen und kulturellen Atmosphäre und der Gefahr eines Krieges in Europa entkommen zu können, sondern auch erfreut über das große Interesse, das insbesondere die jüngeren Philosophen in den USA der wissenschaftlichen und auf der modernen Logik beruhenden Methode der Philosophie entgegenbrachten, die er dort praktizierte (ebd.). Im Jahre 1937 konnte mit finanzieller Unterstützung der Rockefeller-Stiftung auch Carl G. Hempel als wissenschaftlicher Mitarbeiter Carnaps hinzugewonnen werden. Im Winter 1939 weilte Russell an der University of Chicago. Er bot ein Seminar an über Fragen nach Sinn und Wahrheit (das die Grundlage für sein Buch Inquiry into Meaning and Truth bildete). Carnap bewunderte bei dieser Gelegenheit Russells Fähigkeit, eine Atmosphäre zu schaffen, in der jeder Teilnehmer sein Bestes tat, um zu der gemeinsamen Aufgabe etwas beizutragen. Im August 1939 fand der Fünfte Internationale Kongress für die Einheit der Wissenschaft in Harvard statt, den u. a. auch von Neurath besuchte, der damals bereits in Holland lebte (ebd., S. 35). 1940/ 41 weilte Carnap als Gastprofessor in Harvard (ebd.). Während des ersten Semesters seines Aufenthaltes war auch Russell da, der die William- James-Vorlesungen hielt. Auch Tarski verbrachte dieses Jahr in Harvard. Zusammen mit anderen bildeten sie eine Gruppe, die sich der Diskussion von logischen Problemen widmete. Russell, Tarski, Quine und Carnap waren ihrer aktivsten Mitglieder. Carnap konnte in dieser Zeit viele private Gespräche mit Tarski und Quine führen, die sich meistens um den Bau der Wissenschaftssprache drehten. An einigen dieser Diskussionen nahm auch Nelson Goodman teil. Dieser hatte gerade seine Promotion mit einer ausgezeichneten Dissertation abgeschlossen. 1942 bis 1944 war Carnap mit einem 198 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="213"?> Forschungsstipendium der Rockefeller-Stiftung ausgestattet. Er verbrachte diese Zeit in der Umgebung von Santa Fe in New Mexico. Bis 1952 wirkte er dann wieder in Chicago (mit Ausnahme des Frühjahrssemester 1950, das er als Gastprofessor an der University of Illinois in Urbana verbrachte). In der Zeit von 1952 bis 1954 weilte er am Institute of Advanced Study in Princeton, wo er sich voll und ganz der Forschung widmen konnte. In dieser Zeit konnte er wichtige Gespräche mit John von Neumann, Wolfgang Pauli und einigen Spezialisten der statistischen Mechanik zu einigen Fragen der theoretischen Physik führen. Es ergaben sich auch einige interessante Gespräche mit Albert Einstein. Carnap schreibt, dass Einstein sich Sorgen um das Problem des Jetzt (engl.: „ Now “ ) machte (ebd., S. 37). Einstein meinte, dass die entsprechenden wissenschaftlichen (psychologischen) Beschreibungen unmöglich unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen können, dass dass das Hier und Jetzt etwas an sich habe, das außerhalb des Bereichs der Wissenschaft liege. Carnap war der Meinung, Einstein unterschied einfach nicht zwischen Erfahrung und Wissen (ebd., S. 38). Im Jahre 1954, nach dem frühen Tod Reichenbachs, übernahm Carnap den Lehrstuhl an der University of California in Los Angeles, den Reichenbach früher innehatte. „ I was happy to see how much the spirit of scientific philosophy was alive among the philosophers at this university ” , heißt es bei Carnap (ebd., S. 39). Er hielt diesen Lehrstuhl bis 1961. Am 14. September 1970 starb er in Los Angeles (Creath 1998, S. 213). Creath würdigte Carnaps philosophische Leistungen in folgenden Worten: Carnap left a legacy of clarity of thought, philosophic achievement and personal kindness that has rarely been equalled. After a period of eclipse, his work has been partially ‘ rediscovered ’ , and it seems likely to inform and inspire succeeding generations of philosophers much as it had done throughout the middle third of the twentieth century. (Ebd.) Fazit Die Betrachtung von Carnaps „ intellektueller Autobiographie “ trägt meines Erachtens wesentlich dazu bei, den Einfluss des logischen Positivismus auf das Denken zahlreicher Philosophen und Wissenschaftler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen. Denn wie aus dem oben Dargestellten hervorgeht, pflegte Carnap in seinem intellektuell gesehen außergewöhnlich reichen Leben enge Kontakte mit den „ besten Köpfen “ seiner Zeit, wobei diese Kontakte sich weit über die Grenzen des Wiener Kreises hinaus erstreckten. Nicht nur die Mitglieder dieses Kreises, sondern auch solch prägende Denker jener Zeit wie (in alphabetischer Reihenfolge) Alfred Ayer, Albert Einstein, Nelson Goodman, Kurt Gödel, Carl G. Hempel, John von Neumann, Wolfgang Pauli, Alfred Tarski, Karl Popper, Bertrand Russell, W. V. Quine und Ludwig Wittgenstein gehörten zu seinen Bekannten und beeinflussten ihn, wie auch sie von ihm beeinflusst wurden. Es drängt sich einem der Eindruck auf, dass sich in jener Zeit ein einzigartiges Netz an 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 199 <?page no="214"?> intellektuellen Kontakten zwischen Denkern in verschiedenen Ländern und an verschiedenen Zentren des intellektuellen Lebens entwickelte und dass diese verschiedenen Menschen tatsächlich wie von einem gemeinsamen Geist getragen und beseelt waren. Diese einzigartige Koinzidenz im Denken dieser prägenden Persönlichkeiten ist meiner Ansicht nach der Grund für die außergewöhnlich starke Ausstrahlung und den entsprechend großen Einfluss der Ideen des Wiener Kreises wie des logischen Positivismus. Damals entstand etwas, das sich als ein Paradebeispiel dessen bezeichnen lässt, was Ludwik Fleck 1935 in seinem oben bereits erwähnten Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache als Denkkollektiv bezeichnete. Ob aber ein starkes, einflussreiches Denkkollektiv ein Garant für die Richtigkeit seiner Ansichten ist, das ist, wie wir bereits andeutungsweise gesehen haben ( „ Aufkommen “ ), fraglich. Der logische Aufbau der Welt 136 Bereits das Vorwort des Buches enthält wichtige Hinweise auf die Absichten, die Carnap mit seinem Werk verfolgt. Am Anfang nimmt er Bezug auf die Errungenschaften innerhalb der Logik in den letzten Jahrzehnten, die durch die Krisis in der Mathematik notwendig geworden waren, da die alte Logik in dieser Krise „ vollständig versagte “ , wie er schreibt, weil sie zu Widersprüchen geführt hatte (LA, S. III). Die neue Logik habe verständlicherweise zunächst im engeren Fachkreis der Mathematiker und Logiker Beachtung gefunden. Ihre hervorragende Bedeutung für die gesamte Philosophie würde immer noch wenig geahnt. Das Buch sei ein Schritt auf dem Wege, ihre Vorzüge auch auf diesem breiteren Felde zu würdigen. Es folgt eine zentrale programmatische Feststellung: Es handelt sich hier hauptsächlich um die Frage der Erkenntnislehre, 137 also um die Frage der Zurückführung der Erkenntnisse auf einander. Die Fruchtbarkeit der neuen Methode erweist sich dadurch, dass die Antwort auf die Zurückführungsfrage zu einem einheitlichen, stammbaumartigen Zurückführungssystem der in der Wissenschaft behandelten Begriffe führt, das nur wenige Wurzelbegriffe benötigt. Man wird erwarten, dass durch solche Klärung des Verhältnisses der Wissenschaftsbegriffe zueinander auch manche allgemeinere Probleme der Philosophie in ein neues Licht rücken. Es wird sich zeigen, dass einige Probleme durch die gewonnenen erkenntnistheoretischen Einsichten erheblich vereinfacht werden; andere enthüllen sich als bloße Scheinprobleme. Auf solche weitergehenden Folgerungen wird dies Buch nur kurz eingehen. Hier liegt noch ein weites, in großen Teilen unbebautes Feld, das der Bearbeitung harrt. (LA, S. III f.) 136 Im Weiteren LA (s. Kürzelverzeichnis). 137 Hervorhebung im Original, aber im Original nicht kursiv, sondern gesperrt gedruckt: „ d i e F r a g e . . . “ . Diese Bemerkung bezieht sich auch auf alle nachfolgenden Fälle von Hervorhebungen im Original, die stets durch den gesperrten Druck erfolgten, hier aber mit Kursivdruck wiedergegeben werden. 200 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="215"?> Carnaps Vorwort beinhaltet noch viele andere aufschlussreiche Behauptungen. Mit diesen wie auch mit der Interpretation der obigen Passage werde ich mich erst in der Diskussion des Werkes (s. unten) befassen. Das Werk ist in fünf Hauptteile gegliedert: I. Einleitung: Aufgabe und Plan der Untersuchungen; II. Vorbereitende Erörterungen; III. Die Formprobleme des Konstitutionssystems; IV. Entwurf eines Konstitutionssystems; und schließlich V. Klärung einiger philosophischer Probleme auf Grund der Konstitutionstheorie. Als Motto für den ersten Abschnitt des Buches (I. A.) wählte Carnap Russells Diktum: „ The supreme maxim in scientific philosophising is this: Wherever possible, logical constructions are to be substituted for inferred entities “ (§ 1). 138 In diesem Abschnitt wird die Aufgabe des Werkes erörtert. Sie bestehe in der Aufstellung des „ Konstitutionssystems “ der „ Gegenstände oder der Begriffe “ (§ 1). Was meint Carnap damit? Wir sind bereits mit Schlicks (irriger) Idee vertraut, dass Erkenntnis ein Widerfinden des Alten im Neuen ist. Im Einklang mit dieser Idee meint Carnap, dass sich die Begriffe (oder wie er sie auch nennt, die „ Gegenstände “ [§ 1]) auf andere Begriffe (Gegenstände) zurückführen lassen. Dies sei dann möglich, wenn alle Aussagen über einen bestimmten Begriff (Gegenstand) sich in Aussagen über diese anderen Gegenstände (Begriffe) umformen lassen (§ 1). Die allgemeine Regel der Aussagenumformung für einen Begriff nennt Carnap „ Konstitution “ dieses Begriffes (§ 2). Das Ziel einer solchen Konstitution oder genauer eines „ Konstitutionssystems “ sei jedoch nicht bloß eine Zurückführung von gewissen Begriffen auf andere Begriffe, sondern eine solche Zurückführung, innerhalb derer eine Hierarchie, eine Art Stammbaum der Begriffe (Gegenstände) erstellt würde, die/ der es ermöglicht, die Vielzahl der höherstufigen auf eine geringe Zahl primärer Begriffe zurückführen (zu reduzieren). In der Idee des „ Konstitutionssystems “ kann man den Ursprung der Unterscheidung zwischen zwei Arten der Sprache (L O und L T ) sehen, die den Kern der endgültigen Formulierung des Programms des logischen Empirismus bildete (s. oben: „ Das Aufkommen des logischen Positivismus “ ). Als methodisches Hilfsmittel zur Konstruktion des „ Konstitutionssystems “ nennt Carnap die „ Logistik “ (oder formale Logik) und insbesondere ihren „ wichtigsten Zweig “ , die Relationstheorie (§ 3). Im ersten Abschnitt ( „ Über die Form wissenschaftlicher Aussagen “ ) des zweiten Teils des Werkes ( „ Vorbereitende Erörterungen “ ) entwickelt Carnap seine Theorie des Charakters wissenschaftlicher Behauptungen. Zunächst unterscheidet er zwischen den „ Eigenschaftsbeschreibungen “ und den „ Beziehungsbeschreibungen “ der „ Gegenstände “ eines Wissensgebietes (§ 10). Es sind die Letzteren, die er in seiner „ Konstitutionstheorie “ als grund- 138 Carnap gibt die Quelle dieser Maxime nicht an. Sie befindet sich im Aufsatz „ The Relation of Sense-data to Physics “ in Russells Mysticism and Logic and Other Essays, 1949, S. 155. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 201 <?page no="216"?> legender erachtet. Beziehungen können „ isomorph “ sein, stellt Carnap weiter fest. Sie haben diese seiner Auffassung nach wichtige Eigenschaft, wenn sie „ von gleicher Struktur “ sind, d. h. in den formalen Eigenschaften übereinstimmen, oder genauer: wenn sie eindeutig aufeinander abbildbar sind. Die Klasse isomorpher Beziehungen heiße ihre „ Struktur “ (§ 11). Eine Strukturbeschreibung werde entweder durch eine Pfeilfigur (wie in den physikalischen Kräftediagrammen) oder durch eine Nummernpaarliste gegeben. Carnap zufolge bildet die Strukturbeschreibung eines Gebietes die höchste Stufe der Formalisierung und „ Entmaterialisierung “ der Darstellung dieses Gebietes (§ 12); in der Zusammenfassung dieses Abschnitts am Ende des Buches formuliert er eine wichtige These: „ Die Darstellung der Welt in der Wissenschaft ist im Grunde eine Strukturbeschreibung “ (LA, S. 262). Carnap führt dann einen weiteren wichtigen Begriff ein, nämlich die „ Kennzeichnung “ eines Gegenstandes. Unter dieser versteht er dessen „ eindeutige Umschreibung “ , d. h. die Angabe der Parameter, anhand derer der gemeinte Gegenstand innerhalb eines Gegenstandsgebietes eindeutig erkannt werden kann (§ 13). In der Zusammenfassung dieser Stelle formuliert Carnap seine zweite wichtige These: „ Jeder Gegenstand der Wissenschaft kann innerhalb seines Gebietes durch bloße Strukturangaben gekennzeichnet werden “ (LA, S. 263). Aus dieser These leitet er einen ersten zentralen Schluss seines Werks ab: Die Umformung aller wissenschaftlichen Aussagen in Strukturaussagen sei (zumindest prinzipiell) möglich, sie sei aber auch nötig, wenn die Wissenschaft vom Subjektiven zum Objektiven vordringen solle, denn „ echte Wissenschaft ist stets Strukturwissenschaft “ (LA, S. 263, Hervorhebung im Original). Im Abschnitt B des II. Teils (§ 17 - 25) diskutiert Carnap die „ Gegenstandsarten “ und ihre Beziehungen. Er unterscheidet physische, psychische und geistige „ Gegenstände “ , wobei er unter den Letzteren die Objekte der Geisteswissenschaften bzw. Kulturwissenschaften versteht. Interessant an diesem Abschnitt ist vor allem seine Feststellung, das psychophysische Problem (d. h. die Beziehung zwischen den psychischen und den physischen „ Gegenständen “ ) sei das Zentralproblem der Metaphysik (§ 22). Im ersten Abschnitt (A) des III. Teils des Buches formuliert Carnap den Kern der für den logischen Positivismus zentralen Idee der Reduktion der Wissenschaften auf - letztendlich - die Physik ( „ Theoriereduktion “ s. oben, „ Aufkommen “ ): Das Ziel der Konstitutionstheorie besteht in der Aufstellung eines Konstitutionssystems, d. h. eines in Stufen geordneten Systems der Gegenstände (oder Begriffe); die Stufenordnung ist dadurch bestimmt, dass die Gegenstände jeder Stufe auf Grund der Gegenstände der niederen Stufe „ konstituiert “ sind in einem später genauer anzugebenden Sinne. (§ 26, LA, S. 34) Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts formuliert Carnap vier „ Hautprobleme der Konstitutionstheorie “ (§ 26): 1) Eine geeignete Basis müsse gefunden werden, die erste Stufe des Systems, auf die sich alle anderen gründen; 2) Die 202 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="217"?> Formen des Überganges von einer Stufe zu einer anderen müssten bestimmt werden, wobei diese Formen für alle Übergänge gleich bleiben sollen; 3) Man müsse für die Gegenstände verschiedener Arten untersuchen, wie sie durch die schrittweise Anwendung der oben erwähnten Stufenformen konstituiert [definiert] werden können; 4) Schließlich müsse die Gesamtform des Systems bestimmt werden. Im § 27 führt Carnap den wichtigen Begriff des „ Quasigegenstandes “ ein. Im strengsten Sinne haben nur Sätze eine selbständige Bedeutung, stellt er fest. Innerhalb der Teilzeichen eines Satzes sei es jedoch sinnvoll, zwischen den Eigennamen und anderen Zeichen zu unterscheiden. Die Eigennamen ( „ Napoleon “ , „ Mond “ ) bezeichnen bestimmte einzelne, konkrete Gegenstände. Die übrigen Zeichen will Carnap nach Frege „ ungesättigte Zeichen “ nennen. Bei der ursprünglichen Verwendung der Zeichen dürfe an der Subjektstelle eines Satzes nur ein Eigenname stehen, die Sprache sei jedoch dazu übergegangen, auch Zeichen für allgemeine Gegenstände und auch andere ungesättigte Zeichen an der Subjektstelle zuzulassen, heißt es bei ihm weiter (LA, S. 35). Bei der uneigentlichen Verwendungsart werden also ungesättigte Zeichen so gebraucht, als ob sie einen Gegenstand so gut bezeichneten, wie Eigennamen das tun, und das, obwohl sie (ungesättigten Zeichen) für sich nicht bezeichnen. Weil diese Fiktion zweckmäßig sei, wolle Carnap sie beibehalten. Um den Fiktionscharakter einer solchen Redeweise deutlich vor Augen zu haben, solle jedoch von einem ungesättigten Zeichen nicht gesagt werden, es bezeichne einen „ Gegenstand “ , sondern es bezeichne einen „ Quasigegenstand “ . „ Ein Hund “ oder „ Hunde “ seien also Quasigegenstände, stellt Carnap fest (LA, S. 36). In diesem Abschnitt formuliert Carnap auch den Begriff der „ Aussagefunktion “ (§ 28). Diese entstehe, wenn in einem Satz (den Carnap als ein Zeichen der Aussage versteht) gewisse Kernbegriffe durch Variablen ersetzt werden, so wie es in einer mathematischen Gleichung üblich ist (§ 28). Der Begriff der Aussagefunktion ermöglicht ihm nun den Prozess der „ Konstitution “ der Gegenstände (Begriffe) präziser zu definieren: Ein Begriff a werde aus b und c konstituiert, indem seine „ konstitutionale Definition “ angegeben werde, d. h. „ eine Übersetzungsregel, die allgemein angibt, wie jede Aussagefunktion über a umgeformt werden kann in eine umfangsgleiche Aussagefunktion über b, c. “ (LA, S. 264, Zusammenfassung von § 35) Wenn es eine solche Regel gebe, so heiße a „ zurückführbar “ auf b, c. (§ 35) Gibt es in b, c einen zu a gleichbedeutenden Ausdruck, so heiße eine solche konstitutionale Definition „ explizite Definition “ , müsse hingegen für die ganzen Satzformen (Aussagefunktionen) in denen a vorkomme, eine Übersetzungsregel mit b, c gegeben werden, so heiße sie „ Gebrauchsdefinition “ (§ 39). Im Abschnitt B des III. Teils ( „ Die Systemform “ ) stellt Carnap die Frage, wie das Konstitutionssystem aufzubauen sei, damit alle wissenschaftlichen Gegenstände in ihm Platz finden (§ 46). Er interpretiert dann die Feststellung 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 203 <?page no="218"?> „ a ist zurückführbar auf b, c “ als gleichbedeutend mit der Behauptung: „ Für jeden Sachverhalt in Bezug auf a lässt sich eine notwendige und hinreichende Bedingung angeben, die nur von b, c abhängt “ oder: „ Es gibt für a ein zugleich untrügliches und nie fehlendes Kennzeichen, das ausdrückbar ist durch b, c “ (Zusammenfassung von § 47 auf S. 265 in LA). Carnap formuliert dann die folgende wichtige Behauptung: „ Da die Wissenschaft für jeden Begriff (grundsätzlich) ein solches Kennzeichen angeben kann, so ist jeder wissenschaftliche Gegenstand konstituierbar “ (Zusammenfassung von § 48 und § 49 auf S. 265). Im § 57 des Abschnitts B (des III. Teils) stellt Carnap fest, dass alle physischen Gegenstände auf Sinnesqualitäten zurückführbar seien, aber auch umgekehrt alle psychischen auf physische, weshalb die Wahl der Basis eigentlich entweder im Physischen oder im Psychischen liegen könne. Carnap entscheidet sich dann für die „ eigenpsychische “ Basis (direkte Wahrnehmungen), weil eigenpsychische Phänomene ihm als erkenntnismäßig primär gegenüber physischen erscheinen ( „ fremdpsychische “ hingegen als sekundär zu diesen) (§ 58). Im ersten Teil des Abschnitts C des III. Teils (§ 61 - 74) diskutiert Carnap dann die Grundelemente der so gewählten Basis. Als solche betrachtet er die Mach ’ schen Sinnesempfindungen, 139 die er als „ Elementarerlebnisse “ bezeichnet (§ 67) und für unzerlegbare Einheiten hält (§ 68). Wir müssen uns mit diesen Ausführungen nicht ausführlich befassen, da Carnap bereits 1931 in seinem Aufsatz Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft zu den physischen Gegenständen als den primären Bezugsobjekten übergegangen ist. Im zweiten Teil des Abschnitts C (§ 75 - 83) behandelt er die Grundrelationen und kommt zu dem Schluss, dass ein Konstitutionssystem auf eigenpsychischer Basis mit nur einer Grundrelation, und zwar der der Ähnlichkeitserinnerung auskommen könne (§ 82). (Zwischen x und y besteht Ähnlichkeitserinnerung, wenn x und y Elementarerlebnisse seien, die durch Vergleich einer Erinnerungsvorstellung von x und y als teilähnlich erkannt werden, d. h. sie in einem Bestandteil annährend übereinstimmen (§ 78)). Abschnitt D des III. Teils (§ 84 - 94) ist der Frage gewidmet, in welcher Form die einzelnen Gegenstände zu konstituieren seien. Carnap schlägt hier vor, die „ Gegenstände “ nach den Sinnesgebieten zu ordnen (§ 85). Da er diese Sichtweise bereits drei Jahre später aufgegeben hat, kann man die entsprechende Diskussion überschlagen. Viel wichtiger ist Abschnitt E: „ Die Darstellungsformen eines Konstitutionssystems “ (§ 95 - 105). In ihm unterscheidet Carnap zwischen vier Arten der Sprache: die Grundsprache des Konstitutionssystems sei die symbolische Sprache der „ Logistik “ (formalen Logik) gemäß dem System Russell-Whitehead (§ 95). Die anderen drei Sprachen: Wortsprache (also die Umschreibung 139 Vgl. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen (2008/ 1886). 204 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="219"?> der logischen Symbolik in Worten, § 98), realistische Sachverhaltssprache (also die gewöhnliche Sprache, § 98) und die Sprache der fiktiven Konstruktion (in welcher jede konstitutionale Definition als eine Operationsvorschrift in einem konstruktiven Verfahren ausgedrückt werde (§ 99)) dienen nur als „ erleichternde Hilfssprachen “ (§ 95). In der Zusammenfassung dieses Abschnitts (LA, S. 267) fügt Carnap hinzu, dass das Konstitutionssystem in einem Aufbau von Kettendefinitionen bestehe, unter denen er die Ableitung von gewissen Begriffen ( „ Gegenständen “ ) aus anderen versteht. Der IV. Teil des Werkes (§ 106 - 156) ist dem Entwurf eines Konstitutionssystems gewidmet. Auf die relevanten Aspekte dieses Teils werden wir in der Diskussion (s. unten) eingehen. Schließlich behandelt er im V. Teil (§ 158 - 165) einige philosophische Probleme, die sich durch die Konstitutionstheorie ergeben. Im Abschnitt A „ Einige Wesensprobleme “ (§ 158 - 165) erfahren wir, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen Individual- und Allgemeinbegriffen hinfällig sei. Der Unterschied zwischen diesen beiden Klassen bestehe lediglich darin, dass einem Individualbegriff ein zusammenhängendes Gebiet in der Raum-Zeit Ordnung entspreche, einem Allgemeinbegriff hingegen ein solches Gebiet in Bezug auf eine andere qualitative Ordnung. Vom logischen Gesichtspunkt aus seien die ersteren nicht einfacher oder einheitlicher als die letzteren (§ 158). Im § 160 stellt Carnap die Frage, worin das Wesen des Physischen, des Psychischen und des Geistigen bestehe. Und er antwortet, dass es sich bei ihren Gegenständen um Quasigegenstände (im oben erläuterten Sinn) handelt, um „ sprachliche Hilfsmittel zur Darstellung gewisser Zusammenhänge zwischen Erlebnissen “ . Es folgt eine Feststellung, die den Kern der für den frühen logischen Positivismus so charakteristischen Verifikationstheorie der Bedeutung bildet: Eindeutig beurteilbar ist nur die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes, nicht die Bedeutung eines Zeichens, auch nicht eines Gegenstandszeichens. Die Angabe des Wesen eines Gegenstandes oder, was dasselbe ist, die Angabe der Bedeutung des Zeichens eines Gegenstandes, besteht deshalb in der Angabe von Kriterien der Wahrheit derjenigen Sätze, in denen das Zeichen dieses Gegenstandes auftreten kann. (§ 161, LA, S. 222, Hervorhebung im Original) Auf die Frage, ob es zwei wesentlich getrennte Gegenstandsarten gebe: physische und psychische (Leib-Seele Dualismus) antwortet Carnap im § 162, dass Physisches und Psychisches bloß verschiedene Ordnungsformen von Grundelementen darstellen und wie verschiedene Sternbilder aus gleichen Elementen (Sternen) zusammengesetzt sind (LA, S. 224). Er stellt ferner fest, dass das Ich bloß eine Klasse der Erlebnisse (oder eigenpsychischen Zustände) sei (§ 163) und die Kausalität bloß eine funktionelle Abhängigkeit (§ 165). „ Daher verlieren die Begriffe ‚ Ursache ‘ und ‚ Wirkung ‘ , die schon in den unstrengen Gesetzen der Wahrnehmungswelt ihre anthropomorphe ‚ Wirkens ‘ -Bedeutung verloren haben, hier in der physikalischen Welt überhaupt jede Bedeutung “ (LA, S. 271, Zusammenfassung von § 165). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 205 <?page no="220"?> Im Abschnitt B des V. Teils befasst sich Carnap mit dem psychophysischen Problem (§ 166 - 169). Die sog. psychophysische Parallelität bestehe zwischen einer eigenpsychischen Erlebnisreihe und den beobachteten Vorgängen des eigenen Gehirns. Es handle sich also hier nicht um eine Parallelität zwischen grundsätzlich verschiedenen Phänomenen, sondern zwischen Reihen von Erlebnisbestandteilen. Eine solche sei nicht überraschend, sie komme häufig vor (§ 168). In der Wissenschaft könne diese Parallelität nur festgestellt werden, die Deutung dieses Befundes gehöre zur Metaphysik. In der Wissenschaft (d. h. mit wissenschaftlichen, konstituierbaren Begriffen) könne nicht einmal die Frage nach diesem metaphysischen Problem ausgesprochen werden. Dies bedeute jedoch keine Lücke in der Wissenschaft (§ 169). Die Abschnitte C und D des V. Teils befassen sich mit dem Wirklichkeitsproblem der Konstitutionstheorie (C: Das konstitutionale oder empirische Wirklichkeitsproblem; D: Das metaphysische Wirklichkeitsproblem) Die Unterscheidung zwischen einem „ wirklichen “ und einem „ unwirklichen “ d. h. bloß gedachten, erlogenen usw. Ding behalte ihre Gültigkeit auch innerhalb des Konstitutionssystems mit eigenpsychischer Basis (§ 170). Was das metaphysische Wirklichkeitsproblem betrifft (die Frage der Existenz der Wirklichkeit unabhängig vom erkennenden Bewusstsein), so argumentiert Carnap, dass die drei (damals vorherrschenden) erkenntnistheoretischen Richtungen: Realismus, Idealismus und Phänomenalismus innerhalb des Gebiets der Erkenntnistheorie übereinstimmen. Die Konstitutionstheorie stelle das gemeinsame, neutrale Fundament dieser drei Weltauffassungen dar. Die für Physiker typische Neigung zum Realismus solle durch einen „ Objektivismus “ ersetzt werden: die gesetzmäßigen Zusammenhänge seien objektiv in dem Sinne, dass sie dem Willen des Einzelnen enthoben seien. „ [D] agegen würde die Zuschreibung der Eigenschaft ‚ real ‘ an irgendeine Substanz (sei es nun Materie, Energie, elektromagnetisches Feld oder was immer) aus keiner Erfahrung herzuleiten, also metaphysisch sein “ (§ 178, LA, S. 250). Schließlich befasst sich Carnap in Abschnitt E des V. Teils (§ 179 - 183) mit den Aufgaben und Grenzen der Wissenschaft. Die Zusammenfassung seiner einschlägigen Überlegungen am Ende des Werks ist an Präzision und Kompaktheit kaum zu überbieten: Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, die wahren Aussagen zu finden und zu ordnen; das geschieht erstens durch den Aufbau des Konstitutionssystems, d. h. die Einführung der Begriffe, und zweitens durch die Feststellung der empirischen Zusammenhänge zwischen diesen Begriffen (179). Es gibt in der Wissenschaft keine grundsätzlich unbeantwortbare Frage. Denn jede Frage besteht in der Aufstellung einer (als wahr oder falsch festzustellenden) Aussage. Jede Aussage ist aber grundsätzlich übersetzbar in eine Aussage über die Grundrelation. Und jede solche Aussage ist grundsätzlich am Gegebenen verifizierbar (180). Glaube und Intuition im irrationalen (z. B. religiösen) Sinne haben es nicht mit dem Unterschied wahr-falsch zu tun, gehören also nicht zum theoretischen Gebiet, zu dem der Erkenntnis (181). Verstehen wir (wie auch viele Metaphysiker) unter „ Metaphysik “ 206 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="221"?> nicht die Lehre von den logisch untersten oder von den höchsten wissenschaftlichen Erkenntnissen ( „ Grundwissenschaft “ bzw. „ Weltlehre “ ), sondern ein Gebiet reiner Intuition, so hat Metaphysik mit Wissenschaft, mit dem Gebiet des Rationalen, nichts mehr zu tun; es kann zwischen beiden weder Bestätigung noch Widerspruch geben (182). Die dargelegte Auffassung ist kein Rationalismus, dass sie reine Rationalität nur für die Wissenschaft fordert; für das praktische Leben dagegen werden Existenz und Bedeutsamkeit der übrigen, der irrationalen Sphären anerkannt (183). (LA, S. 272 f, Hervorhebung im Original) Diskussion Carnaps Werk ist äußerst präzise, dicht und kompakt geschrieben. Die allgemeine Ausrichtung seines Aufbaus ist klar: es handelt sich um die Erstellung einer Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, die es ermöglichen sollte, eine vollkommen präzise und objektive Erkenntnis der Welt zu erlangen. Eine solche Erkenntnis soll auch streng empirisch sein. Selbst Begriffe wie „ Materie “ , „ Energie “ , „ Ursache “ sollten eliminiert werden. Dazu müsste die reiche Wirklichkeit der Sinneswelt umgeformt werden, an die Stelle der realen Gegenstände sollten abstrakte Symbole treten. Denn nur sie könnten Garanten der Präzision der Erkenntnis sein. Hat Carnap das von ihm anvisierte Ziel im Aufbau erreichen können? Im Nachfolgenden werde ich einige Kernpunkte seiner Ausführungen genauer unter die Lupe nehmen. Es wird sich bald zeigen, dass die genaue Analyse des ganzen kompakten Werks den Rahmen der vorliegenden Untersuchung völlig sprengen würde. Bereits im „ Vorwort “ zum Aufbau erkennt man, dass in dieses Werk die Ergebnisse von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre eingeflossen sind. Erkenntnis sei Zurückführung der Erkenntnisse aufeinander (bei Schlick hieß es: des Neuen auf das Alte), das Ideal sei ein „ Zurückführungssystem “ , das mit möglichst wenig „ Wurzelbegriffen “ operiere (Schlick sprach auch von möglichst wenigen Axiomen). Carnap ergänzt Schlick um die Vorstellung des „ stammbaumartigen “ Systems, die jedoch wohl bereits von Schlick impliziert wurde. In meiner Diskussion von Schlicks diesbezüglichen Ideen habe ich diese Art des Denkens als „ geometrisierend “ bezeichnet und habe in Frage gestellt, ob sie zum Begreifen des Reichtums der Phänomene der Naturwelt adäquat ist. Interessanterweise ergeben sich für Carnap an dieser Stelle bereits keine Zweifel. Dieses Ideal bedarf keiner Begründung mehr; es wird als selbstverständlich angenommen. Die Naturwelt wird als eine Welt vorgestellt, die der Welt der Geometrie entsprechend aufgebaut ist: so wie diese sich prinzipiell von einem Punkt im Raume aus allmählich aufbauen lasse, so wird auch mit Blick auf die Naturwelt angenommen, dass sie auf einige wenige „ Stammbegriffe “ zurückführbar sei. Bereits hier begegnen wir also stark kontraintuitiven ontologischen Vorstellungen, die als unhinterfragte Prämissen in das Gedankengebäude eingehen und es stützen. Nachdem wir gesehen haben, was mit Schlicks feinem Gedanken- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 207 <?page no="222"?> gebäude geschehen ist, als wir seine Grundprämissen in Frage stellten, wie es wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel, lässt sich bereits an dieser Stelle erahnen, dass Carnaps Ausgangspunkt zu ähnlichen grundsätzlichen Schwierigkeiten wird führen müssen. Im Weiteren betont Carnap, dass sich seine Gedanken von einer Schicht von „ tätig oder aufnehmend Mitarbeitenden “ getragen fühlen, denen eine gewisse „ wissenschaftliche Grundeinstellung “ gemeinsam ist (LA, S. IV). Diese besteht in der „ Abkehr von traditioneller Philosophie “ . Die neue Art des Philosophierens, heißt es weiter, ist entstanden in enger Berührung mit der Arbeit in den Fachwissenschaften, besonders in der Mathematik und Physik. (Und hier kommt eine weitere nicht nur epistemologische, sondern sogar ontologische Annahme zum Tragen: die Ergebnisse, Erfolge, vor allem aber die Methoden dieser Wissenschaften lassen sich ohne Weiteres auf die anderen Felder übertragen.) Folge der Anlehnung an die Mathematik und Physik sei es, dass die strenge und verantwortungsbewusste Grundhaltung des wissenschaftlichen Forschers auch als Grundhaltung des philosophisch Arbeitenden erstrebt wird, während die Haltung des Philosophen alter Art mehr der eines Dichtenden gleicht. (LA, S. IV) Diese Feststellung ist sehr bemerkenswert. Wir wissen, dass Aristoteles noch im Mittelalter als die höchste Autorität und als ein Paradigma des strengen Denkens galt. Wir wissen auch, dass Denker wie Descartes, Locke, Spinoza, Leibniz oder Kant sich bemüht haben, ihre Systeme in strengen Gedankengängen zu entwickeln, auch wenn ihnen das nicht unbedingt immer ganz gelang. Jetzt aber erfahren wir, dass alle diese Denker die reinsten „ Kindsköpfe “ waren, die sich bestenfalls aufs Dichtens, jedenfalls weniger auf richtiges, rationelles Denken verstanden, und dass endlich mit Carnap und seinen Freunden eine neue „ Welle “ von Denkern aufkomme, die endlich fähig sein würden, mit den „ Märchen “ der „ Kindsköpfe “ Schluss zu machen, den „ Stall des Augias “ der alten Philosophie auszumisten und dort, wo bis jetzt Dunkelheit und Schmutz herrschten, helles Licht einströmen zu lassen. Man hat den Eindruck, dass es den „ neuen Denkern “ zwar nicht an Selbstvertrauen und Glauben in die eigene messianische, ja prophetische Berufung fehlte, dass es ihnen aber doch vielleicht an Respekt für die Errungenschaften früherer Generationen mangelte. Die „ neue Art des Philosophierens “ beinhaltet also einen neuen Denkstil, aber auch eine neue Aufgabenstellung: der Einzelne übernimmt nicht mehr die Aufgabe, ein ganzes Gebäude der Philosophie zu errichten. Es wird eine Art „ Arbeitsteilung “ eingeführt: jeder arbeitet an seinem Teilbereich innerhalb einer Gesamtwissenschaft. Diese Feststellung ist ebenfalls bemerkenswert und zwar aus drei Gründen. Zum einen wird hier der Tatsache Rechnung getragen, dass sich die Wissenschaften so weit entwickelt haben, dass kein Mensch imstande ist, ihre Gesamtheit zu umfassen. Dies scheint 208 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="223"?> eine notwendige Folge des wissenschaftlichen Fortschritts zu sein: kein Universalgenies, sondern Spezialisten sind in der modernen Wissenschaft gefragt. Heute sind wir entsprechend weiter auf diesem Wege fortgeschritten und erleben ein ungeheuer weit fortgeschrittenes Spezialistentum, in dem es durchaus möglich, ja zunehmend notwendig ist, sich das ganze Forschungsleben lang einem kleinen Problem zu widmen. Heute wird offiziell anerkannt, dass „ [we] are increasingly specialists in very small fields ” (Nature 2012, S. 415). Es ist allerdings nicht schwer, sich die negativen langfristigen Konsequenzen dieses Prozesses auszumalen. Die Welt sei eine Einheit und müsse als eine Einheit oder Ganzheit verstanden werden: doch wenn die einzelnen Forscher sich auf die Erforschung der einzelnen Staubkörnchen spezialisiert haben, wer wird dann imstande sein zu sagen, welche Eigenschaften der Berg hat? Und wenn die einzelnen Forscher sich auf die Erforschung einzelner Organellen spezialisiert haben, wer wird dann imstande sein zu sagen, wie der ganze Körper funktioniert? Zweitens wird hier der Begriff der „ einen Gesamtwissenschaft “ eingeführt, der, wie wir bereits gesehen haben, eines der Kernanliegen des logischen Positivismus bildete. Dies ist die Überzeugung, welche als eine logische Folge des Diktums der Zurückführbarkeit der komplexeren Phänomene (und konsequenterweise auch der Begriffe) auf die einfacheren, angeblich grundlegenderen, erachtet werden kann. Ist diese These erst einmal gebilligt, scheint es unvermeidlich, dass die komplexeren Entitäten - wie wir es im Fall von Schlick mit den „ sekundären Qualitäten “ und etwa den psychischen Phänomenen gesehen haben - aus dem wissenschaftlichen Weltbild eliminiert werden und der Versuch unternommen wird, sie auf die Ebene der - letztendlich - Physik zu reduzieren (wir erinnern uns daran, dass Schlick es als Ideal betrachtete, langfristig „ die introspektive Psychologie in eine physiologische, naturwissenschaftliche, in letzter Linie in eine Physik der Gehirnvorgänge, überzuführen “ (Allgemeine Erkenntnislehre, S. 633f.)). In der Tat könnte man sagen, dass Carnaps diesbezügliche Überlegungen lediglich „ das Tüpfelchen auf dem i “ von Schlicks Ausführungen sind. Denn wenn die Rückführung einer höheren auf die jeweils elementarere Ebene für alle Phänomene leistbar scheint (sagen wir: Soziologie auf Psychologie, Psychologie auf Neurobiologie, Neurobiologie auf Chemie, diese schließlich auf Physik) dann folgt daraus zwingend, dass die Methoden der Physik für die Erforschung des ganzen Spektrums der Weltphänomene angemessen und ausreichend wären. Konsequent zu Ende gedacht, würde dies aber bedeuten, dass sich nicht nur Psychologie und Soziologie, sondern auch Geschichte, Archäologie, Ethnologie, Sprachwissenschaften, Pädagogik, Kunstwissenschaft, Nationalökonomie usw. usf. auf die Physik reduzieren lassen sollten. Es ist heute, mehr als 80 Jahre nach der Geburt dieses Ideals, wirklich schwer zu verstehen, wie eine dermaßen absurde Vorstellung sich in „ den Köpfen “ sehr intelligenter Wissenschaftler hatte einnisten können. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 209 <?page no="224"?> Und schließlich ist es drittens interessant festzustellen, dass Carnap hier von Philosophie spricht, von der neuen Art des Philosophierens, und nicht bloß der neuen Art Wissenschaft zu betreiben. Damit räumt er ein, dass der Philosophie auch in seiner „ neuen Welt “ eine gewisse Rolle zukommt. Diese Rolle muss zudem nicht als besonders kleine gedacht werden. Denn stellt man sich die Frage, ob Carnaps Ausführungen im Aufbau eine wissenschaftliche oder eine philosophische Tätigkeit darstellen, so muss man doch festhalten, dass sie der letzteren Kategorie angehören. Somit erweist sich Philosophie (im traditionellen Sinne) als auch im Carnap ’ schen System der Wissenschaft vorhanden, obschon er sie eigentlich durch die Wissenschaft ersetzen wollte (LA, S. III). Es ist nicht klar, ob sich Carnap dieser Konsequenz seines Systems bewusst war. Der Vorteil der oben erwähnten Arbeitsteilung ist es, so Carnap, dass durch die Kumulation der Anstrengungen der Einzelnen ein Gesamtbau errichtet wird, der sicher ist: „ So wird sorgsam Stein zu Stein gefügt und ein sicherer Bau errichtet, an dem jede folgende Generation weiterschaffen kann “ (LA, S. IVf). Auch diese Feststellung ist bemerkenswert, denn wie wir bereits gesehen haben, war die letzte Schlussfolgerung von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre die, dass in den „ Wirklichkeitswissenschaften “ keine absolut sichere Erkenntnis möglich sei. Schlicks Behauptung ist richtig, sie hat einen rein logischen Charakter (induktiv erreichte Sätze sind nur wahrscheinlich, nie aber „ apodiktisch “ richtig) und ist von der Zahl der mittuenden Wissenschaftler völlig unabhängig. Man könnte aufgrund der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung sogar behaupten, dass, je mehr Sätze von nur beschränkter Wahrscheinlichkeit in einer Schlussfolgerungskette voneinander abhängig sind, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der letzten auf sie gestützten Schlussfolgerung. Darum ist es bemerkenswert, dass das Ideal der sicheren Erkenntnis Carnap offensichtlich immer noch vor Augen schwebt. Er äußert sich jedoch nicht dazu, woher er seine Zuversicht nimmt. Aus der Forderung nach Rechtfertigung und „ zwingender Begründung “ (LA, S. V) einer jeden These ergibt sich Carnap zufolge die Ausschaltung des „ spekulativen, dichterischen Arbeitens der Philosophie. “ Man müsse „ die ganze Metaphysik aus der Philosophie [. . .] verbannen, weil sich ihre Thesen nicht rational rechtfertigen lassen. “ Auch diese Forderung ist sehr interessant. In der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre haben wir festgestellt, dass sein Werk zahlreiche metaphysische Annahmen voraussetzt: Begriffe seien bloße Zeichen, eine Tatsache sei eine Beziehung zwischen zwei Gegenständen, ein Urteil sei ein Zeichen für die Tatsache, es gebe keine Substanzen in der Welt, nur Qualitäten usw.). Wir haben bereits gesehen, dass auch Carnap mit ontologischen Annahmen operiert: die Welt sei letztendlich einfach, die komplexeren Gebiete lassen sich auf die einfacheren, elementareren zurückführen. Wir werden bald auch Carnaps anderen ontologischen Annahmen begegnen. Es ist offensichtlich, dass die Mitglieder des „ Wiener 210 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="225"?> Kreises “ sich dessen nicht bewusst waren, dass sie keineswegs die Metaphysik aus der Philosophie oder Wissenschaft erfolgreich eliminiert, sondern dass sie eine bestimmte Metaphysik durch eine andere (nominalistische, reduktionistische, letztendlich materialistische) ersetzt hatten. Diese Blindheit hat bis heute fatale Konsequenzen für den Dialog zwischen den Vertretern der „ orthodoxen “ oder „ Mainstream “ -Wissenschaft und den Vertretern anderer Erkenntnisrichtungen. Jene unterliegen bis heute unter der Illusion, dass die orthodoxe Wissenschaft auf rein rationalen Überlegungen aufgebaut sei, während sie in Tat und Wahrheit zahlreiche metaphysische Annahmen dogmatisch, unreflektiert akzeptiert, was zu wesentlichen Verzerrungen der Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung führen kann. Wir werden zu diesem wichtigen Thema an einer späteren Stelle dieses Buches zurückkehren. 140 Jede wissenschaftliche These müsse sich rational begründen lassen, das bedeute aber nicht, so Carnap weiter, dass sie auch rational gefunden werden müsse. Grundeinstellung und Interessenrichtung entstehen nicht durch Gedanken, sondern seien durch Gefühl, Trieb, Anlage und Lebensumstände bedingt. Das gelte auch für Physik und Mathematik. Entscheidend für die Wissenschaft sei jedoch, dass die Begründung ihrer Thesen nichts Irrationales an sich habe, sondern stets rein empirisch-rationalen Charakters sei. [D]as Finden neuer Lösungen muss nicht rein denkmäßig geschehen, sondern wird immer triebmäßig bestimmt sein, wird anschauungsmäßige, intuitive Mittel verwenden. Aber die Begründung hat vor dem Forum des Verstandes zu geschehen; da dürfen wir uns nicht auf eine erlebte Intuition oder auf Bedürfnisse des Gemütes berufen. (LA, S. V, Hervorhebung im Original) Diese These, wie bereits die Betonung des sozialen, kollektiven Charakters des Wissenschaftsbetriebs, muss heute als hellsichtig erscheinen. Denn es war erst in den 30er Jahren, dass Reichenbach und Popper unabhängig voneinander und ohne Bezug auf Carnap die Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs- und dem Begründungszusammenhang eingeführt haben: also dem Schritt der Forschung, der sich einerseits auf die Entdeckung der neuen Zusammenhänge, Theorien, Gesetzmäßigkeiten richtet und der keineswegs den Regeln der Vernunft unterworfen zu sein braucht (man kann eine zündende Idee erträumen), und jenem, der sich auf die Überprüfung der im ersten Schritt gewonnenen Ideen oder Hypothesen richtet und der strengsten logischen und empirischen Regeln unterworfen werden muss. Man kann, was das betrifft, in Carnaps Werk sogar als eine Vorwegnahme von Thomas Kuhns berühmter Structure of Scientific Revolutions sehen. Denn wenn Carnap schreibt, dass „ Grundeinstellung und Interessenrichtung [. . .] nicht durch Gedanken [entstehen], sondern [. . .] durch Gefühl, Trieb, Anlage, Lebensumstände [bedingt sind] “ , so deutet er bereits auf die spätere Haupt- 140 Im Kapitel „ Wissenschaftler gegen den Materialismus der Wissenschaft “ , besonders der Abschnitt, der Sheldrakes Buch The Science Delusion gewidmet ist. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 211 <?page no="226"?> these Kuhns, dass das Weltbild, in dessen Rahmen die Wissenschaftler operieren, nicht nur rationale Grundlagen hat, sondern letztendlich durch „ Gefühl, Trieb, Anlage, Lebensumstände “ bedingt oder zumindest beeinflusst ist. Es überrascht deshalb nicht, dass Carnap positiv auf Kuhns Buch reagierte, das übrigens innerhalb des positivistischen Programms der „ International Encyclopedia of Unified Science “ erschien (Stadler 2007, S. 625). Es ist aber offensichtlich, dass Carnap seine Feststellung weder 1928 noch 1962 in ihrer ganzen Problematik erkannte. Er war der Ansicht, dass eine solche Voreingenommenheit am Anfang des Forschungsprozesses nicht weiter schade, da sie durch die nachfolgenden Untersuchungen allmählich eliminiert werden könne. Es war auch erst 1994, dass Kathleen Okruhlik den Finger auf den wunden Punkt der heute immer noch vorherrschenden Methode der Hypothesenüberprüfung gelegt hat. Sie wies darauf hin, dass, wenn gewisse Annahmen nur eine eingeschränkte Auswahl von Hypothesen zulassen, die alle durch eine bestimmte Voreingenommenheit oder Einseitigkeit belastet sind, das empirische Nachprüfungsverfahren, das auf die Selektion der besten aus den vorhandenen Hypothesen ausgerichtet ist, diese Einseitigkeit nicht eliminieren können wird (Okruhlik 1998). Carnap schließt sein Vorwort mit einer äußerst interessanten Bemerkung über den „ Zeitgeist “ . Viele würden sich heute gegen die von ihm skizzierte Einstellung wehren. Was gibt ihm dennoch die Zuversicht, dass der Ruf nach Klarheit, nach metaphysikfreier Wissenschaft ein günstiges Echo finden wird? Das ist die Einsicht, oder, um es vorsichtiger zu sagen, der Glaube, dass jene entgegenstehenden Mächte der Vergangenheit angehören. Wir spüren eine innere Verwandtschaft der Haltung, die unserer philosophischen Arbeit zugrunde liegt, mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebensgebieten auswirkt; wir spüren diese Haltung in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen [. . .]. Hier überall spüren wir dieselbe Grundhaltung, denselben Stil des Denkens und Schaffens. Es ist die Gesinnung, die überall auf Klarheit geht und doch dabei die nie ganz durchschaubare Verflechtung des Lebens anerkennt, die auf Sorgfalt in der Einzelgestaltung geht und zugleich auf Großlinigkeit im Ganzen, auf Verbundenheit der Menschen und zugleich auf freie Entfaltung des Einzelnen. Der Glaube, dass dieser Gesinnung die Zukunft gehört, trägt unsere Arbeit. (LA, S. Vf.) Man kann Carnap hier nur Recht geben: seine Wahrnehmung war durchaus korrekt. Es haben sich zu jener Zeit Kräfte im Kulturleben der europäischen oder sogar „ westlichen “ Menschheit manifestiert, die etwas Neues wollten. Der Erste Weltkrieg war vorüber und er bedeutete einen entschiedenen Bruch mit der Tradition des 19. Jahrhunderts. Man kann wohl sagen, dass sich dieser „ neue Geist “ nicht nur in der Kunst und Architektur, sondern wahrlich überall manifestierte. Die alte Klassengesellschaft, die sich auf die starren, ererbten Strukturen der Aristokratie stützte, war im Umbruch, man suchte 212 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="227"?> nach neuen Lebensformen, aber auch nach neuen Ausdruckformen in der Architektur, wie in der Malerei, der Musik (Jazz), sogar bei der Kleidung (äußerst bemerkenswert ist etwa der Umbruch bei den Damenkleidern zwischen der Vorkriegszeit, als immer noch bodenlange Kleider und Korsetts getragen wurden, und den 20er Jahren, als plötzlich knielange schlanke schlichte Kleider und Röcke in Mode kamen). Genauso richtig ist, dass das Programm des logischen Positivismus ein überraschend breites, internationales Echo unter vielen Intellektuellen in zahlreichen Ländern Europas (später selbstverständlich auch in Amerika) gefunden hat. Man kann durchaus von einer „ geistigen Welle “ sprechen, die sich in der damaligen Welt stark ausbreitete. Carnap spricht dieses Phänomen explizit an: Die Grundeinstellung und die Gedankengänge dieses Buches sind nicht Eigentum und Sache des Verfassers allein, sondern gehören einer bestimmten wissenschaftlichen Atmosphäre an, die ein Einzelner weder erzeugt hat, noch umfassen kann. Die hier niedergeschriebenen Gedanken fühlen sich getragen von einer Schicht von tätig oder aufnehmend Mitarbeitenden. Gemeinsam ist dieser Schicht vor allem eine gewisse wissenschaftliche Grundeinstellung. (LA, S. IV) Obgleich man Carnaps Freude, „ im Gleichschritt mit dem Zeitgeist “ zu laufen, verstehen kann, sieht man nüchtern betrachtet jedoch sofort, dass diese Freude auch eine Kehrseite hat. Denn die „ geistigen Wellen “ kommen und gehen. Nicht nur Kleidungs-, sondern auch Kunst- und Architekturmoden ändern sich. Was gestern als fortschrittlich galt, wird heute als rückständig, altmodisch taxiert. Lässt sich das Gleiche von intellektuellen Moden sagen? Dies scheint durchaus denkbar. Rückblickend ist man geneigt zu sagen, dass sich die „ geistige Welle “ , auf der der logische Positivismus geritten war, spätestens zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts erschöpft hatte, weshalb sein Programm zunächst erschlaffte und dann in sich zusammenfiel. Selbstverständlich lassen sich gute rationale Gründe für diesen Zerfall angeben - wir werden später auf sie ausführlicher eingehen - , zugleich aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das neupositivistische Programm zu einem erheblichen Teil einer bestimmten intellektuellen Mode entsprach. An dieser Stelle noch eine abschließende Bemerkung: Ich finde es äußerst bezeichnend, dass einer der Hauptpropheten des Rationalismus, der Vernunft und der rationalen Begründung sein Programm letztendlich auf den Glauben stützt. In der letzten Passage des Vorworts kommt dieser Begriff zweimal vor. Das Gebäude von Carnaps einheitlicher, rationaler, metaphysikfreier Wissenschaft ist auf dem Fels des Glaubens errichtet. Ich wiederum glaube, Carnap hat die Ironie dieser Situation nicht einmal bemerkt. Einleitung. Aufgabe und Plan der Untersuchungen Das Ziel von Carnaps Werk ist - wie wir gesehen haben - „ die Aufstellung eines erkenntnismäßig-logischen Systems der Gegenstände oder der Begriffe, 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 213 <?page no="228"?> des ‚ Konstitutionssystems ‘“ (LA, S. 1) Dieser Feststellung folgt eine Passage, die das Konstitutionssystem in dem, was es ausmacht, schildert: Das Konstitutionssystem stellt sich nicht nur, wie andere Begriffssysteme, die Aufgabe, die Begriffe in verschiedene Arten einzuteilen und die Unterschiede und gegenseitigen Beziehungen dieser Arten zu untersuchen. Sondern die Begriffe sollen aus gewissen Grundbegriffen stufenweise abgeleitet, „ konstituiert “ werden, so dass sich ein Stammbaum der Begriffe ergibt, in dem jeder Begriff seinen bestimmten Platz findet. Dass eine solche Ableitung aller Begriffe aus einigen wenigen Grundbegriffen möglich ist, ist die Hauptthese der Konstitutionstheorie, durch die sie sich am meisten von anderen Gegenstandstheorien unterscheidet. (LA, S. 1, Hervorhebung im Original) Ich habe bereits bei der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre darauf hingewiesen, dass sich die Idee der Ableitung „ höherer “ Begriffe aus „ elementaren “ bzw. Grund-Begriffen sehr wohl in der Geometrie oder Mathematik oder auch in der Logik verwirklichen lässt, dass es aber höchst fraglich ist, ob sie sich gleichermaßen auf die Objekte ( „ Gegenstände “ ) der „ Wirklichkeitswissenschaften “ anwenden lässt. Bezeichnenderweise bietet Carnap keine Argumente zur Unterstützung seiner kühnen Behauptung, dass eine solche „ Ableitung aller Begriffe aus einigen wenigen Grundbegriffen “ auch auf dem Feld der „ Realwissenschaften “ möglich ist. Seine „ Hauptthese “ gilt ihm als eine selbstverständliche und unumstößliche Wahrheit. Im nächsten Abschnitt (2. „ Was heißt „ konstituieren “ ? ) liefert Carnap ausführlichere Erläuterungen des zentralen Begriffs der oben zitierten Passage, nämlich des „ Konstituierens “ . Dazu muss zunächst der Begriff der „ Zurückführbarkeit “ erläutert werden: „ Ein Gegenstand (oder Begriff) heißt auf einen oder mehrere andere Gegenstände „ zurückführbar “ , wenn alle Aussagen über ihn sich umformen lassen in Aussagen über diese anderen Gegenstände “ (LA, S. 1, Hervorhebung im Original). Es folgt ein Beispiel (typisch, dass es der Mathematik entnommen ist): alle Brüche sind auf die natürlichen Zahlen zurückführbar, ein Versprechen, diese Definition später (§ 35) zu präzisieren, und eine Feststellung, dass es sich bei der Zurückführbarkeit um eine transitive Relation handelt. Bereits hier wird offensichtlich, dass die Operation der Zurückführung sehr wohl an Zahlen oder Brüchen durchgeführt werden kann, dass sie aber in Bezug auf z. B. Bäume oder Menschen fast sicher versagen muss. Man kann sich nicht vorstellen, dass sich alle Aussagen über Gerda Muschg in die Aussagen über einen oder mehrere andere „ Gegenstände “ umformen lassen. Lassen sich aber alle Aussagen über Giraffen in Aussagen über andere „ Gegenstände “ umformen? Lassen sich alle Aussagen über Lilien in Aussagen über andere „ Gegenstände “ umformen? Und wenn nicht, an welche Gegenstände außer Zahlen usw. denkt Carnap konkret, wenn er behauptet, dass sich die Aussagen über sie auf Aussagen über andere „ Gegenstände “ umformen lassen? 214 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="229"?> Es folgen nun die folgenden Erläuterungen: „ a auf b, c zurückführen “ oder „ a aus b, c konstituieren “ soll bedeuten: eine allgemeine Regel aufstellen, die angibt, in welcher Weise man in jedem einzelnen Falle eine Aussage über a umformen muss, um eine Aussage über b, c zu erhalten. Diese Übersetzungsregel nennen wir „ Konstitutionsregel “ oder „ konstitutionale Definition “ [. . .]. (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Es wird sofort einsichtig, dass, obwohl das Programm der Reduktion des ganzen Reichtums der Naturphänomene auf einige wenige „ Gegenstände oder Begriffe “ wohl bald in der Entwicklung des logischen Positivismus aufgegeben worden ist, die Kernidee in den Versuchen, theoretische Terme auf beobachtbare Terme zurückzuführen, praktisch bis zum endgültigen Zerfall des Programms erhalten geblieben ist. Wenn man früh genug realisiert hätte, dass eine solche Reduktion prinzipiell nicht zu leisten ist, hätte man sich sehr viel Energie und Zeit gespart. Schließlich definiert Carnap, was er unter dem „ Konstitutionssystem “ versteht: Unter einem „ Konstitutionssystem “ verstehen wir eine stufenweise Ordnung der Gegenstände derart, dass die Gegenstände einer jeden Stufe aus denen der niederen Stufe konstituiert werden. Wegen der Transitivität der Zurückführbarkeit werden dadurch indirekt alle Gegenstände des Konstitutionssystems aus den Gegenständen der ersten Stufe konstituiert; diese „ Grundgegenstände “ bilden die „ Basis “ des Systems. (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Es folgt wiederum ein Beispiel, das, wie man bereits ahnt, der Mathematik entnommen ist: alle arithmetische Begriffe lassen sich aus den Grundbegriffen der natürlichen Zahlen „ konstituieren “ . Es folgen einige Bemerkungen zur Möglichkeit der Axiomatisierung einer Theorie. Diese bestünde darin, dass sämtliche Aussagen der Theorie in ein Deduktionssystem eingeordnet werden, dessen Basis die Axiome bilden, und dass sämtliche Begriffe der Theorie in ein Konstitutionssystem eingeordnet werden, dessen Basis die Grundbegriffe bilden. (LA, S. 2) Carnap merkt dazu an, dass die Aufgabe der systematischen Konstitution der Begriffe bisher weniger Beachtung gefunden habe als die erste Aufgabe (der Deduktion der Aussagen aus den Axiomen) und dass er sich ihr in seinem Werk widmen will: Sie soll hier behandelt und auf das Begriffssystem der Wissenschaft, der einen Gesamtwissenschaft angewendet werden. Nur wenn es gelingt, ein solches Einheitssystem aller Begriffe aufzubauen, ist es möglich, den Zerfall der Gesamtwissenschaft in die einzelnen, beziehungslos nebeneinander stehenden Teilwissenschaften zu überwinden. Obwohl der subjektive Ausgangspunkt aller Erkenntnis in den Erlebnisinhalten und ihren Verflechtungen liegt, ist es doch möglich, wie der Aufbau des Konstitutionssystems zeigen soll, zu einer intersubjektiven, objektiven Welt zu gelangen, 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 215 <?page no="230"?> die begrifflich erfassbar ist und zwar als eine identische für alle Subjekte. (LA, S. 2f., Hervorhebung im Original) Hier haben wir im Kern Carnaps Programm, seine Hoffnung und auch die Gründe für das Programm offengelegt. Ich werde jetzt die ihn treibenden Ideen zu explizieren versuchen. Wissenschaft sei eigentlich, idealiter, als eine Gesamtwissenschaft zu verstehen. Momentan seien wir von diesem Ideal weit entfernt: es bestehen realiter zahlreiche Wissenschaften, von Carnap Teilwissenschaften genannt, die „ beziehungslos nebeneinander stehen “ . Diesen unbefriedigenden Zustand gelte es zu überwinden. Die einzige Methode, das Ziel der einen Gesamtwissenschaft zu erreichen, sei die Anwendung der systematischen Konstitution der Begriffe, das heißt die Rückführung der Begriffe der Wissenschaften der höheren Stufen auf die Begriffe der Wissenschaften der niederen Stufen und, weil die Rückführungsrelation transitiv sei, letztendlich auf die Begriffe der Basisstufe. Dies sei möglich, wie die Beispiele aus der Mathematik belegten. Die Welt sei logisch aufgebaut, und dieser logische Aufbau der Welt könne in unserer Erkenntnis nachgezeichnet werden. Nur so sei es möglich, zu einer intersubjektiven, objektiven Welt zu gelangen, die uns zunächst durch bloße subjektive Erlebnisinhalte gegeben sei, zu einer Welt, die begrifflich erfassbar und überdies für alle Subjekte identisch sei. Gelinge dies nicht, so drohe ein weiterer Zerfall der Gesamtwissenschaft in die zusammenhangslos nebeneinander stehenden Teilwissenschaften, was mit allen Mitteln zu verhindern sei. Es ist äußerst interessant, sich in die Hintergründe dieses Gedankenganges einzuleben bzw. einzudenken. Woher nimmt Carnap die Vorstellung der einen Gesamtwissenschaft, die zerfallen ist oder welcher der Zerfall droht? Carnap verliert quasi kein Wort, um diese Vorstellung zu begründen. Die einzige Begründung, die ich gefunden habe, ist ein knapper und kryptischer Satz auf S. 4: „ [D]ie Gegenstände zerfallen nicht in verschiedene, unzusammenhängende Gebiete, sondern es gibt nur ein Gebiet von Gegenständen und daher nur eine Wissenschaft. “ Mag sein, dass es nur eine Welt gibt, und mag sein, dass die Gebiete dieser Welt nicht unzusammenhängend sind. Folgt daraus aber, dass es nur eine Wissenschaft geben kann? Wenn ich ein Mehrfamilienhaus vor mir habe, dann weiß ich, dass es sich dabei um eine gewisse Einheit handelt, die aber aus verschiedenen Untereinheiten (Wohnungen) besteht. Sie sind sicher nicht unzusammenhängend, aber was in einer Wohnung vor sich geht, ist weitgehend unabhängig davon, was in einer anderen passiert. Ich weiß auch, dass ich unterschiedliche Methoden anwenden muss, um die „ Gegenstände “ , welche in diesen Wohnungen vorhanden sind, zu untersuchen: wenn ich etwas von den Menschen erfahren will, die dort wohnen, werde ich anders vorgehen, als wenn ich etwas von den Möbeln in Erfahrung bringen will, und wieder anders im Falle von Fernsehgeräten etc. Wieso die Einheit eines (komplexen) Erkenntnisgegenstandes die Einheit der Erforschungsmethode implizieren soll, ist völlig schleierhaft. Eine 216 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="231"?> Gesamtwissenschaft war auch historisch nie gegeben. Es trifft zwar zu, dass sich im klassischen Griechenland eine Einzelperson (allen voran Aristoteles) praktisch mit der Gesamtheit der damals bekannten Forschungsfelder befassen konnte, man hat aber höchstens von Erkenntnis gesprochen, die ein Ziel hat: die Wahrheit, aber nicht von einer Wissenschaft. Als sich im 17. Jahrhundert die Wissenschaft (die immer noch nicht so genannt wurde) als ein besonderer Zweig des menschlichen Erkenntnisstrebens etabliert hatte, vereinte sie etwa in der Royal Society Forscher, die sich unterschiedlichen Phänomenbereichen widmeten (Physik, Optik, Physiologie) und die ein gemeinsames Ziel hatten: sichere Erkenntnis, aber nicht im Entferntesten die Vorstellung, dass ihre individuellen Bestrebungen aufeinander reduziert, zurückgeführt werden sollten. Man hat den Eindruck, dass es nicht die nüchterne Betrachtung der Geschichte der Entwicklung der Wissenschaft war, die Carnap an dieser Stelle trieb, sondern ein „ aus der Luft “ gegriffenes Ideal. Es ist ferner interessant festzustellen, dass Carnap davon ausgeht, dass die Welt, die uns in der Erfahrung gegeben ist, bloß subjektiv ist und erst zu einer intersubjektiven, objektiven Welt, die begrifflich erfassbar ist, geformt werden muss, und dass ferner eine solche objektive Welt für alle Subjekte identisch sein wird. Dieser Gedanke fußt auf einer unausgesprochenen, doch für selbstverständlich genommenen Prämisse, die wir bereits anlässlich der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre hinterfragt haben, dass nämlich die Sinneswahrnehmungen, die „ sekundären Qualitäten “ , einen bloß subjektiven Charakter haben und aus dem wissenschaftlichen Weltbild eliminiert werden müssen. Ich habe hoffentlich zeigen können, dass diese Behauptung keineswegs so selbstverständlich ist, wie sie oft (auch heute noch) erscheint oder hingestellt wird, dass es bloß quantitative, aber keine qualitativen Unterschiede diesbezüglich zwischen den „ primären “ und „ sekundären “ Qualitäten gibt, dass also die Erscheinungsform der Erfahrungswelt keineswegs als bloß subjektiv abgetan werden darf. Es ist unbestritten, dass jeder von uns die Welt von einem bestimmten Standpunkt aus wahrnimmt und dass z. B. eine Eiche, die ich sehe, sich jemand anderem, der sie von einer anderen Seite betrachtet, anders darstellen wird, doch es wäre sicherlich völlig falsch, alle individuellen Wahrnehmungsbilder der Eiche eliminieren zu wollen, um zu einem „ objektiven “ Bild von ihr zu gelangen. Vielmehr scheint der hier angebrachte Weg darin zu bestehen, dass man die einzelnen, an einen bestimmten Standpunkt gebundenen Wahrnehmungsbilder um andere, von anderen Standpunkten aus gewonnene ergänzt, so dass man am Schluss ein reicheres, volleres und kein verarmtes, verstümmeltes Bild der Eiche erhält. 141 141 Wir werden uns mit dem Problem der Objektivität später ausführlich beschäftigen müssen: s. Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals “ . 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 217 <?page no="232"?> Interessant ist ebenfalls, dass Carnap sich nach einer nicht nur objektiven/ intersubjektiven, sondern so verfassten Welt sehnt, die „ identisch für alle Subjekte “ wäre. Nun, in bestimmter Hinsicht kann man - wie oben angedeutet - mit gutem Grund behaupten, dass die Welt unserer „ äußeren “ Erfahrung bereits für alle Subjekte identisch ist: Wir sehen die gleichen Bäume, Autos, Wolken usw. Carnap schwebt jedoch offensichtlich eine viel strengere Identität vor Augen, eine Identität vermutlich, die jegliche individuellen Unterschiede auslöschen würde. Es scheint, dass die ideale Welt für ihn eine Welt wäre, in der die „ Erlebnisinhalte “ aller Menschen sich völlig gleichen würden. Ist aber eine solche Welt erstrebenswert? Ich glaube, niemand würde in Frage stellen, dass das Erlangen zuverlässiger, sicherer Erkenntnisse erstrebenswert ist. Es wäre nicht gut um unsere Erkenntnis bestellt, wenn ein Mensch behaupten würde, dass 2+2=4 ist, ein zweiter dagegen, es sei 5, während ein dritter für 7,5 plädierte. So leicht und ohne Schwierigkeiten wir uns auf mathematische Tatsachen einigen können, so wünschenswert wäre es, dass wir bezüglich komplizierterer Erkenntnisse auf einen Nenner kämen: ob menschliche Aktivität tatsächlich die Klimaerwärmung verursacht hat, was die Ursachen unterschiedlicher Krebsarten sind und welches die geeignetsten Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung? Ist es sinnvoll, den Heroinsüchtigen Metadon anzubieten oder vielleicht sogar die Drogen zu legalisieren? Im Idealfall wollen wir in solchen Fragen zu Ergebnissen bzw. Antworten kommen, die für alle Menschen gültig (identisch) sind. Muss zu diesem Zweck aber auch die Welt für alle Menschen identisch werden? Können wir nicht dennoch zu identischen Erkenntnissen kommen, obwohl die individuellen Erfahrungen der Welt individuell und unterschiedlich bleiben? Meine Erlebnisse heute werden sicher andere sein, als Ihre Erlebnisse an dem Tag, an dem Sie diese Worte lesen, was uns freilich überhaupt nicht daran hindert anzuerkennen, dass 2+2=4 ist. Nun könnte man mir vorwerfen, dass ich Carnap falsch verstanden habe, dass es ihm eben darum gehe (gegangen sei), identische Erkenntnisse zu sichern. Dies scheint mir unwahrscheinlich. Er spricht eindeutig von einer „ intersubjektiven, objektiven Welt “ , die „ identisch für alle Subjekte “ sei und die sich nur anhand seines „ Konstitutionssystems “ errichten lasse. Der Eindruck entsteht, dass Carnap, statt die Welt unserer Erfahrung erkennen zu wollen, gottgleich eine neue Welt schaffen will, die dann die Objektivität der Erkenntnis sichern würde. Interessanterweise erscheint Carnap erst diese neue Welt als „ begrifflich erfassbar “ . Diese Feststellung erinnert an Carnaps Zugeständnis in seiner intellektuellen Autobiographie (s. oben), dass er bereits in seiner Jugend das Gefühl hatte, einen Begriff bzw. eine Proposition erst dann zu verstehen, wenn er ihn/ sie in symbolischer Sprache darstellte. Dies ist aber sicherlich keine allgemeine Erfahrung. Wir haben gewöhnlich doch den Eindruck, dass wir unsere Erfahrungswelt begrifflich erfassen können, ohne uns eine neue, zumal symbolische Welt konstruieren zu müssen. Wir gebrauchen Begriffe im 218 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="233"?> Alltagsleben und unsere Erfahrung scheint uns zu lehren, dass diese Begriffe die Welt durchaus adäquat erfassen. Sie sind vielleicht nicht ideal, manchmal recht unscharf, manchmal müssen sie präzisiert werden, manchmal brauchen wir sogar neue Begriffe um gewisse, bis dato unbekannte Phänomene erfassen zu können, aber wir haben stets das Gefühl, dass sich unsere Begriffe auf unsere Erfahrungswelt beziehen, obschon diese Erfahrungswelt oft durch wissenschaftliche Instrumente erweitert wird, und dass wir keineswegs eine neue Welt konstruieren müssen, auf die wir dann erst Begriffe anwenden können. Es scheint also, dass sich hinter dieser knappen Formulierung seltsame Fantasien ihres Autors verbergen: eine fast göttliche Allmachtsfantasie, die Carnap und seinen Verbündeten eine neue Welt würde erschaffen lassen, gekoppelt an eine merkwürdige Verdrängung der Tatsache, dass bereits die ganz gewöhnliche Welt der gewöhnlichen Erfahrung durchaus erkennbar ist. Es ist aus dieser Sicht auch äußerst interessant, die von Carnap gewählte Bezeichnung zu reflektieren. Wie wir gesehen haben, spricht er von „ Rückführung “ (wie Schlick in der Allgemeinen Erkenntnislehre, S. 152, 157, 160, 166 und passim) oder „ Konstitution “ des Gegenstandes, mit eindeutiger Präferenz für „ Konstitution “ . (Heute wird übrigens in diesem Zusammenhang - meines Erachtens zu Recht - oft der Begriff der „ Reduktion “ verwendet.) Wieso „ Konstitution “ , wenn Schlicks Begriff der „ Rückführung “ den Sinn der von Carnap gemeinten Operation eigentlich sehr gut wiedergibt und Schlicks Verständnis des Erkenntnisprozesses (das jedes Erkennen immer ein Zurückführen des zu Erkennenden auf etwas bereits Erkanntes, ein Wiederentdecken des Gleichen im Verschiedenen ist [Allgemeine Erkenntnislehre S. 152, 157]) sehr gut entspricht? Nun, ein Grund für diese Wortwahl mag darin liegen, dass sich Carnap von Schlick absetzen, als eigenständiger Philosoph und nicht bloß als ein Schüler oder Epigone von Schlick erscheinen will. Es ist jedoch unübersehbar, dass der Begriff „ Konstitution “ Konnotationen von Schaffen, Erschaffen mit sich führt (Duden 1996, S. 874: konstituieren: 1. a) gründen, ins Leben rufen). Fühlt Carnap sich als Schaffender, als Schöpfer einer neuen, besseren Welt? Bevor wir Carnaps Einleitung verlassen, müssen wir uns noch kurz mit einem Problem beschäftigen. Am Ende der Einleitung, als eine Art Fußnote (weil kleiner gedruckt), ergänzt Carnap seine Ausführungen zum Thema Begriff und Gegenstand (auf die ich hier nicht ausführlich eingehen werde) mit einer bemerkenswerten Feststellung: Wir können aber (ohne das hier zu begründen) noch weiter gehen und geradezu sagen, dass der Begriff und sein Gegenstand dasselbe sind. Diese Identität bedeutet jedoch keine Substantialisierung des Begriffs, sondern eher umgekehrt eine „ Funktionalisierung “ des Gegenstandes. (LA, S. 6) Diese Feststellung erstaunt. Denn wenn man auch akzeptieren kann, dass die Grenze zwischen Allgemeinbegriffen und Individualbegriffen relativ ist (z. B. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 219 <?page no="234"?> kann der Begriff „ Klasse “ sowohl eine Schulklasse als auch einen Allgemeinbegriff einer beliebigen Klasse von Gegenständen bedeuten), so erscheint die Behauptung, dass der Begriff mit seinem Gegenstand identisch sei, doch zutiefst problematisch. Wie kann man behaupten, dass der Computer vor mir mit dem Begriff des Computers identisch ist, oder der Begriff des Baumes bzw. der Birke mit der Birke, die ich aus meinem Fenster sehe? Wenn dieser Begriff mit der Birke, die ich sehe, identisch ist, dann kann er nicht identisch mit der Buche sein, die auf dem Berghang hinter dem Haus steht, denn die Birke im Garten ist nicht identisch mit jener Buche auf dem Berghang. Aber ich kann doch problemlos den gleichen Begriff (Baum) in beiden Fällen anwenden. Das Fehlen jeglicher Reflexion über die Konsequenzen solcher Behauptungen zeugt meines Erachtens von der Oberflächlichkeit von Carnaps Denkart, von einer Tendenz, den tiefen Problemen auszuweichen. Teil II Der Unterabschnitt B der Einleitung ist dem Plan der Untersuchungen des Werkes gewidmet und hier weniger von Interesse. Hingegen begegnen wir bereits im Abschnitt A ( „ Über die Form wissenschaftlicher Aussagen “ ) des II. Teils ( „ Vorbereitende Erörterungen “ ) einer Reihe von bedeutenden und kontroversen Feststellungen. Bereits am Anfang dieses Unterabschnitts stellt Carnap im § 10 (Eigenschaftsbeschreibung und Beziehungsbeschreibung) fest, dass „ im Folgenden die These vertreten und in den weiteren Untersuchungen begründet werden [soll], dass die Wissenschaft nur die Struktureigenschaften der Gegenstände behandelt “ (LA, S. 11). Bereits auf S. 8 hatte er festgestellt: Die eigentlichen Grundbegriffe des Konstitutionssystems, also diejenigen Begriffe, auf die alle Begriffe der Wissenschaft zurückgeführt werden sollen, sind jedoch nicht die Grundelemente, sondern die Grundrelationen. Das entspricht einer grundsätzlichen Auffassung der Konstitutionstheorie, dass nämlich ein Beziehungsgefüge seinen Gliedern gegenüber primär ist. Der Leser wird sich daran erinnern, dass wir einem ähnlichen Gedanken bei Schlick begegnet sind. Er stellte nämlich im § 31 seiner Allgemeinen Erkenntnislehre fest, dass „ [a]lle Erkenntnis [. . .] in letzter Linie auf Beziehungen, Abhängigkeiten, nicht auf Dinge, Substanzen [geht]. “ (AE, S. 629). Wir erinnern uns auch, dass sich für Schlick alle Urteile auf die Beziehungen zwischen Gegenständen beziehen, Urteile sind „ Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen “ (§ 8, LA, S. 220). Da nun alle Erkenntnis in der Form von Urteilen gefasst ist, folgt daraus fast zwingend, dass sie sich auf die Beziehungen zwischen „ Gegenständen “ und nicht auf die Gegenstände selbst bezieht. Bei der Diskussion von Schlicks Werk habe ich in Frage gestellt, 1) ob man Urteile tatsächlich als „ Zeichen für die Beziehungen zwischen Gegenständen “ auffassen kann; 2) ob Erkenntnis der Beziehungen zwischen Gegenständen als primär zur Erkenntnis der Gegenstände aufgefasst werden kann. 220 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="235"?> Ich habe damals argumentiert, dass man z. B. eine Person durch ihre Stellung in dem Geflecht der Familienbeziehungen präzise definieren kann, dass man aber dadurch überhaupt nichts über die Person selbst und ihre individuellen Eigenschaften aussagen kann. Carnap verspricht uns jetzt, die kontroverse These vom Primat der Beziehungen gegenüber den Gegenständen zu begründen. Wir sind gespannt, wie er das zu leisten gedenkt und ob ihm seine Begründung besser gelingt, als sie Schlick gelungen ist. 142 Zunächst vergleicht er in einem konkreten Beispiel die Eigenschaftsbeschreibung und die Beziehungsbeschreibung einiger Menschen. „ Eine Eigenschaftsbeschreibung sieht etwa so aus: zu dem Gebiet gehören die Gegenstände a, b, c; alle drei sind Menschen, a ist 20 Jahre alt und groß, b 21 Jahre alt, klein und dünn, c ist dick. Eine Beziehungsbeschreibung sieht etwa so aus: zu dem Gebiet gehören die Gegenstände a, b, c; a ist Vater von b, b Mutter von c, c Sohn von b, a ist 60 Jahre älter als c. “ Er hebt dann zu Recht hervor, dass sich die Beziehungen zwischen den „ Gegenständen “ nicht aus der Eigenschaftsbeschreibung nicht eruieren lassen, was die Beziehungsbeschreibung als vorteilhafter, reicher erscheinen lasse. (Wobei es durchaus möglich ist, von „ relationalen Eigenschaften “ zu sprechen, was später auch Carnap selber getan hat: „ [Der Begriff Eigenschaft] ist in einem sehr weiten Sinne zu verstehen, einschließlich dessen, was immer sinnvollerweise über irgendein Individuum gesagt werden kann, gleichgültig, ob wahr oder falsch. Er steht nicht nur für qualitative, sondern auch für quantitative, relationale, raumzeitliche und andere Eigenschaften. “ 143 Wenn man den Begriff der Eigenschaft so versteht, dann kann man durchaus die Tatsachen, dass a Vater von b, und b Mutter von c ist, als die Eigenschaften der entsprechenden „ Gegenstände “ bezeichnen, woraus sich eine reichere Eigenschaftsbeschreibung des „ Gebiets “ ergeben würde.) Was jedoch an diesem Beispiel sehr auffallend ist, ist die erstaunliche Armut der Eigenschaftsbeschreibung der drei Personen. Es ist bestimmt möglich, über eine Person mehr zu sagen, als dass sie dünn oder dick, 20- oder 21-jährig ist. Es ist bestimmt auch möglich, eine Person in ein viel komplexeres Geflecht der Eigenschaften einzuordnen, als nur von ihr zu sagen, dass sie Sohn von b und Enkel von a ist. Die Frage ist aber, welche Art der Beschreibung sich letztendlich als reicher erweist. Gibt uns Carnap die Antwort auf diese Frage? Es folgen einige Beispiele der beiden Arten der Beschreibung, die vor allem der Geometrie entnommen sind, wobei Carnap als ein weiteres Beispiel der Eigenschaftsbeschreibung eine Zeittafel historischer Personen mit Angabe von Geburts- und Todesjahr einer jeden anführt und als ein Beispiel für die Beziehungsbeschreibung - bezeichnenderweise - die „ Beschreibung einer Personenmenge durch einen Stammbaum, also durch Angabe der Verwandt- 142 Es ist übrigens interessant festzustellen, dass sich Carnap in seinen Ausführungen überhaupt nicht auf Schlick beruft. 143 Carnap, Rudolf: Bedeutung und Notwendigkeit. In: Meixner 2003, S. 201. 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 221 <?page no="236"?> schaftsbeziehungen “ . Diesen Beispielen folgt die Feststellung, dass die Beziehungsbeschreibung am Beginn des ganzen Konstitutionssystems stehe und somit die Basis der Gesamtwissenschaft bilde und dass es das Ziel jeder wissenschaftlichen Theorie sei, „ ihrem Inhalt nach zu einer reinen Beziehungsbeschreibung zu werden “ (LA, S. 12), was das Gewicht dieser Art der Beschreibung in seinem System unterstreicht. Es folgt § 11 ( „ Der Begriff der Struktur “ , S. 13 f), in dem Carnap eine besondere Art von Beziehungsbeschreibungen erläutert, nämlich die Strukturbeschreibungen. Unter „ Struktur “ einer Beziehung versteht er die Summe aller formalen Eigenschaften der Beziehung, d. h. solcher Eigenschaften, die sich „ ohne Bezugnahme auf den inhaltlichen Sinn der Beziehung und auf die Art der Gegenstände, zwischen denen sie besteht, formulieren lassen “ (LA, S. 13). Beispiele solcher formaler Eigenschaften, die er nennt, sind etwa: Symmetrie, Reflexivität, Transitivität usw. Diese bilden den Gegenstand der Relationstheorie. Die formalen Eigenschaften einer Beziehung lassen sich ausschließlich mit Hilfe logischer Zeichen definieren, stellt er weiter fest. Carnap bittet uns dann, uns die Strukturbeschreibung in der Form einer „ Pfeilfigur “ vorzustellen: alle Beziehungsglieder werden durch Punkte dargestellt, von jedem Punkt geht ein Pfeil zu allen anderen Punkten, zu denen der erste in der darzustellenden Beziehung steht, wobei ein Doppelpfeil ein Gliederpaar bezeichnet, für das die Beziehung in beiden Richtungen verläuft usw. Es ist unmittelbar einsichtig, dass die Möglichkeit, alle „ Gegenstände “ auf ihre „ formalen Eigenschaften “ , die sich „ ohne Bezugnahme auf den inhaltlichen Sinn der Beziehung und auf die Art der Gegenstände, zwischen denen sie besteht, formulieren lassen “ , zu reduzieren, aus der Sicht von Carnaps Projekt: eine einheitliche Gesamtwissenschaft zu stiften, äußerst anziehend ist. Denn nur eine solche Möglichkeit würde sicherstellen, dass sich die diversen Phänomengebiete einzelner Wissenschaften unter einem Begriffssystem werden vereinheitlichen lassen. Die zentrale Frage ist jedoch, ob die Hoffnung darauf berechtigt ist. Bis jetzt hat uns Carnap keine Argumente dafür geliefert. Man kann sich sehr wohl eine „ Pfeilfigur “ , wie Carnap sie vorschlägt, vorstellen. Es ist jedoch völlig schleierhaft, wie man von diesen Punkten und Pfeilen aus die Kühe, die auf der Weide Gras fressen, die Wale, die sich in den Tiefen des Ozeans paaren, oder die Menschen, die eine Fussballmannschaft bejubeln, rekonstruieren könnte. Im12. Paragraph ( „ Die Strukturbeschreibung “ , LA, S. 14f.) stellt Carnap fest, dass zwei Beziehungen, wenn sie dieselbe Struktur haben, in allen formalen Eigenschaften übereinstimmen, wobei er auch zugibt, dass zwar, wenn die Struktur einer Beziehung angegeben wird, alle formalen Eigenschaften festgelegt sind, aber nicht umgekehrt: im Allgemeinen lässt sich nicht sagen, welche formalen Eigenschaften genügen, um die Struktur einer bestimmten Beziehung festzulegen (LA, S. 14). Ferner betont er, dass, während die Beziehungsbeschreibung im Allgemeinen noch Schlüsse auf individuelle Eigenschaften der Glieder möglich mache, dies bei einer Struktur- 222 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="237"?> beschreibung nicht mehr der Fall sei (LA, S. 14f.). Eine solche Beschreibung bilde also „ die höchste Stufe der Formalisierung und Entmaterialisierung “ , stellt er weiter fest (LA, S. 15, meine Hervorhebung, MBM). Dass eine Strukturbeschreibung im Sinne Carnaps „ die höchste Stufe der Formalisierung “ bildet, leuchtet unmittelbar ein. Wobei natürlich das Verständnis der Zielsetzung nicht unbedingt auch ein Einverständnis mit ihr bedeutet. Wir werden uns mit der Frage, ob diese Zielsetzung eine sinnvolle ist, weiter unten auseinandersetzen. Dagegen ist der Begriff der „ Entmaterialisierung “ als ein Ideal der Wissenschaftlichkeit nicht sofort verständlich. Carnap erläutert seine Intention an dieser Stelle nicht, und so ist der Leser gezwungen zu raten, welche Vorstellungen sich für ihn hinter dieser Formulierung verbergen. Man könnte meinen, dass bereits die Verwendung von Begriffen eine ausreichende „ Entmaterialisierung “ des Stoffes unserer Erkenntnis, der Erfahrung, bedeutet. Wir erinnern uns, dass Schlick die Vorteile der Begriffe als „ Platzhalter “ , als Katalogeinträge in einer Bibliothek gepriesen hat, die die Handhabung von Erfahrungsinhalten wesentlich erleichtern. Wir waren zwar mit dieser Auffassung des Wesens der Begriffe nicht einverstanden, aber es ist unbestritten, dass man in der Forschung gezwungen ist, seine Ergebnisse in begrifflicher Form darzustellen: in einem Lehrbuch der Biologie werden wir nicht Fröschen und Lilien begegnen, sondern Begriffen, die sich auf diese und andere Lebewesen beziehen. Nun scheint es, dass Carnap dieser Grad der „ Entmaterialisierung “ der Erfahrungsinhalte nicht ausreicht. Offenbar will er keine Inhalte mehr haben, sondern nur noch die Form, die Struktur. Die von ihm namhaft gemachte Pfeilfigur soll, wie er sich das vorstellt, ebenso auf die Verhältnisse zwischen abstrakten mechanischen Kräften, die von gewissen Punkten ausgehend auf andere Punkte wirken, wie auch für die Verhältnisse zwischen Fröschen in einem Teich anwendbar sein. Also wenn ich Carnap richtig verstehe, ist die „ Entmaterialisierung “ , was als eine Zielsetzung der Wissenschaft irgendwie großartig und erstrebenswert klingt, gleichbedeutend mit „ Befreiung vom Inhalt “ - und dies lässt das Ziel sofort bedenklich erscheinen. Hinter diesem Erkenntnisziel scheint sich ein merkwürdiges Ideal zu verbergen. Ich werde versuchen, dieses Ideal anhand eines konkreten Beispiels zu entfalten. Stellen wir uns vor, wir wollen einen Menschen kennen lernen. Der Mensch steht vor uns in seiner reichen, komplexen äußeren Erscheinung. Wir wissen aber, dass er nicht nur seine Oberfläche hat, sondern dass sich hinter dieser Oberfläche in jedem Moment ein reiches Innenleben verbirgt. Wir wissen aber auch, dass dieser Mensch in seinem Leben bereits recht viel erfahren hat und dass dieser Erfahrungsschatz genauso zu seiner Person gehört, auch wenn er sich vielleicht nicht unmittelbar in den gegenwärtigen seelischen Phänomenen manifestiert. Und wir wissen, dass dieser Mensch die vielfältigsten Keime zu zukünftigen Erlebnissen und Taten in sich trägt, einige von ihnen in der Form gewisser Dispositionen, die bereits jetzt erkennbar sind, während andere, wenn sie sich einmal manifestieren, uns völlig überraschen werden. Vielleicht 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 223 <?page no="238"?> wird er ein großer Wissenschaftler? Vielleicht ist dieser Mensch eine Frau, die eine Künstlerin wird? Oder vielleicht eine große Wohltäterin der Menschheit? Nun scheint Carnap uns sagen zu wollen, dass all dieser Reichtum unwichtig, überflüssig ist, dass wir den vor uns stehenden Menschen nicht nur auf das Knochengerüst, sondern auf ein System von Pfeilen reduzieren können und sollen. Vielleicht lässt sich das machen. Man kann z. B. das Leben eines Menschen an einem bestimmten Tag als eine Abfolge von raumzeitlichen Punkten darstellen, die er jeweils „ durchlaufen “ hat. Auf diese Weise werden wir seine Bewegungen mit Pfeilen ganz genau abbilden können. Werden wir aber damit sein Leben, seine Erfahrungen an diesem Tag abgebildet haben? Die Frage, die sich hier stellt, ist also nicht nur die, ob das, was Carnap sich vorstellt, leistbar ist (was an sich bestimmt nicht gesichert ist), sondern vor allem, ob dieses Ideal überhaupt erstrebenswert ist. Diese Frage wird uns bei der weiteren Betrachtung von Carnaps Gedankengängen begleiten müssen. Der Feststellung von der höchsten Stufe der Formalisierung und Entmaterialisierung folgt eine weitere programmatische These von zentraler Bedeutung: Die Behauptung unserer These, dass wissenschaftliche Aussagen sich nur auf Struktureigenschaften beziehen, würde also bedeuten, dass wissenschaftliche Aussagen von bloßen Formen sprechen, ohne zu sagen, was die Glieder und die Beziehungen dieser Formen sind. (LA, S. 15) Wir sollen also eine Wissenschaft von Kühen oder Lilien oder Menschen entwickeln, ohne auf diese Rücksicht zu nehmen und ohne über sie Aufschluss zu bekommen? ! Carnap räumt ein, dass seine Behauptung „ zunächst “ paradox erscheint. Er stützt sie jedoch durch den Hinweis, dass Whitehead und Russell durch ihre Ableitung der mathematischen Disziplinen aus der Logik „ in aller Strenge nachgewiesen “ haben, dass die Mathematik nur ebensolche Strukturaussagen mache. Das mag stimmen, ich habe aber bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass, was für die Mathematik gilt, nicht zwingend für andere Erfahrungsbereiche gelten muss. Carnap vermutet diesen Einwand und fährt fort: Dagegen scheint es sich mit den Realwissenschaften völlig anders zu verhalten: eine Realwissenschaft muss doch wissen, ob sie von Personen oder Dörfern spricht. Hier ist ein entscheidender Punkt: die Realwissenschaft muss zwar solche verschiedenen Gebilde unterscheiden können, das tut sie zunächst meist durch Kennzeichnung mit Hilfe anderer Gebilde, schließlich aber geschieht die Kennzeichnung durch bloße Strukturbeschreibung. (Ebd., Hervorhebung im Original) An dieser Stelle lässt sich in Carnaps Überlegungen eine höchst interessante und folgenschwere Problemverschiebung ausmachen. Zunächst hatte man den Eindruck, dass der Verfasser mit der Frage ringt, wie die Erkenntnis am besten zustande kommen kann. Dies war sicherlich auch der Ausgangspunkt von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre: worin besteht wissenschaftliche Erkenntnis und was ist sie zu leisten imstande. Carnap scheint diese Fra- 224 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="239"?> gestellung samt den von Schlick erarbeiteten Ergebnissen am Beginn seines Buches übernommen zu haben: „ Es handelt sich hier hauptsächlich um die Frage der Erkenntnislehre, also um die Frage der Zurückführung der Erkenntnisse auf einander “ , schreibt er auf der ersten Seite des Vorworts. Sein Anliegen scheint zu sein, Schlicks Ergebnisse weiterzuführen, sie zu präzisieren. „ Die Fruchtbarkeit der neuen Methode erweist sich dadurch, dass die Antwort auf die Zurückführungsfrage zu einem einheitlichen, stammbaumartigen Zurückführungssystem der in der Wissenschaft behandelten Begriffe führt, das nur wenige Wurzelbegriffe benötigt “ , heißt es auf der folgenden Seite. An dieser Stelle hat der Leser noch den Eindruck, dass Carnap die Aufgabe der Welterkenntnis am effektivsten mittels eines stammbaumartigen Begriffssystems erfüllen zu können meint. Deshalb wirkte seine Behauptung, dass „ die wissenschaftlichen Aussagen sich nur auf Struktureigenschaften beziehen “ , befremdlich, weil man doch sehr bezweifeln muss, ob durch die Strukturen auch die Inhalte der Erfahrung adäquat wiedergegeben werden können. Jetzt verschiebt sich jedoch plötzlich und fast unmerklich die Problemstellung: Die Aufgabe ist nicht mehr, die Weltphänomene zu erkennen, sondern, die „ verschiedenen Gebilde unterscheiden [zu] können “ . Die Realwissenschaft muss wissen, „ ob sie von Personen oder Dörfern spricht “ , und diese Unterscheidung könne Carnap zufolge letztlich durch eine bloße Strukturbeschreibung geleistet werden. Das mag sein, obschon man das Gleiche einfach mit einem Begriff erledigen kann, was aber ist mit einem solchen Vorgehen für die Erkenntnis der Personen oder Dörfer gewonnen? Carnaps weitere Ausführungen bestätigen diese Interpretationen. Er stellt fest, dass eine wissenschaftliche Aussage nur dann Sinn habe, wenn die Bedeutung der in ihr vorkommenden Gegenstandsnamen angegeben werden könne. Dies ist selbstverständlich unbestritten. Dieses Ziel könne, so Carnap, auf zwei Weisen erreicht werden: durch „ Aufweisung “ , also durch eine hinweisende Gebärde, oder durch eine „ eindeutige Umschreibung “ , die er „ Kennzeichnung “ nennt (LA, S. 16). Carnap erläutert diesen Begriff folgendermaßen: Eine Kennzeichnung gibt nicht etwa alle Eigenschaften des Gegenstandes an, womit sie die konkrete Wahrnehmung ersetzen würde; sondern sie beruft sich gerade auf die Anschauung. Sie gibt auch nicht einmal die wesentlichen Merkmale an, sondern nur so viele kennzeichnende Eigenschaften, dass der gemeinte Gegenstand angesichts des Gegenstandsbereiches, von dem die Rede ist, eindeutig erkannt werden kann. (LA, S. 16) Die Lektüre dieser Zeilen versetzt den Leser in Staunen. Will Carnap das Rad neu erfinden? Es dürfte doch offensichtlich sein, dass wir im Alltagsleben den „ Gegenstand “ von welchem die Rede ist, ohne Weiteres mittels Begriffen bestimmen können, Begriffen, die etwa so funktionieren, wie Carnap es hier für die „ Kennzeichnung “ beschreibt. Ein Begriff umfasst nicht alle Merkmale eines Gegenstandes, sondern nur diejenigen, die es ermöglichen, den Gegen- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 225 <?page no="240"?> stand, von dem die Rede ist, eindeutig zu bestimmen. Man kann sich diese recht offensichtliche Tatsache anhand eines fiktiven Gesprächs vergegenwärtigen: „ Sieh mal die da! “ ; „ Was meinst du? “ , „ Diese Kuh. “ Und der Gegenstand, der gemeint war, wurde eindeutig bestimmt, ohne dass man auf ihn mit der Hand hinweisen musste. Gibt es mehrere Kühe auf dem Feld, so wird das Gespräch fortgesetzt: „ Welche Kuh meinst du? “ , „ Die braun-weiße “ , „ Ich sehe aber zwei braun-weiße Kühe, welche meinst du? “ , „ Die mit dem weißen Fleck zwischen den Augen “ (oder etwas Ähnliches). Durch solche Hinweise erreicht man bald vollständige Klarheit. Es ist mir völlig unverständlich, wozu Carnap ein neues System erfinden will, wenn das alte bereits bestens funktioniert? Die Sache wird ein wenig komplizierter, wenn sich der Gegenstand, von dem die Rede ist, nicht im Blickfeld der Gesprächspartner befindet und doch ein konkreter Gegenstand ist. Wenn z. B. die Rede von einer Kuh ist, die man zusammen mit seinem Gesprächspartner am vorigen Tag gesehen hat. Dann kann die Identifizierung aufgrund mangelhafter Erinnerungsfähigkeit von einem oder beiden Partner scheitern. Ich wage aber zu bezweifeln, dass man diese durch eine noch so präzise Strukturbeschreibung etwa der Kuhherde ersetzen kann. Im Übrigen fällt an dieser Passage auf, dass Carnap vom „ eindeutigen Erkennen “ des Gegenstandes spricht. Ich habe diese Redewendung durch „ eindeutiges Bestimmen “ ersetzt. Denn die Identifizierung des Gesprächsobjekts kann keineswegs bereits mit dem Erkennen dieses Objekts gleichgesetzt werden. Im Gegenteil: die Identifizierung des Erkenntnisobjekts ist lediglich der Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses. Ich finde es bedenklich, dass Carnap diese zwei völlig unterschiedlichen Ebenen vermischt. (Der Leser wird sich erinnern, dass wir bei Schlick auf ein ähnliches Problem gestoßen waren: er hat die Begriffe Wiedererkennen und Erkennen miteinander vermischt, was ihn zu der völlig irrigen Auffassung geführt hat, dass das Erkennen im Rückführen auf das bereits Bekannte bestehe. Wurde diese Auffassung des Erkenntnisprozesses von Carnap unkritisch übernommen? ) Carnap macht weiter darauf aufmerksam, dass eine derartige Kennzeichnung eines Gegenstands normalerweise doch auf andere Gegenstände zurückführt und schließlich in der Anweisung endet, was Carnap mangelhaft erscheint. Diese Feststellung erinnert stark an - Schlicks Beschreibung des Prozesses der Begriffsbildung: die Rückführung eines Begriffes auf andere, elementarere Begriffe und schließlich auf eine hinweisende Definition, die Berufung auf konkrete Wahrnehmungen. Auch für Schlick war die Notwendigkeit, sich auf konkrete Erfahrung zu beziehen, unerwünscht und er wies auf die Möglichkeit der „ impliziten Definitionen “ der Begriffe, also der Definitionen mittels Axiomen hin. Wir haben damals bemerkt, dass dieser Weg in der Geometrie oder - weiter gefasst - in der Mathematik durchaus gangbar sein kann, dass es aber höchst unwahrscheinlich ist, dass er auch in den „ Realwissenschaften “ angewendet werden könnte, da sie sich nicht auf 226 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="241"?> Systeme von Axiomen stützen können. Interessanterweise weist jedoch Carnap an dieser Stelle auf eine Möglichkeit „ eines eindeutigen Systems von Kennzeichnungen innerhalb eines Gegenstandsgebietes auch ohne Hilfe von Aufweisungen “ hin (LA, S. 16) und es stellt sich alsbald heraus, dass er tatsächlich Schlicks (und Hilberts) „ implizite Definitionen “ meint (LA, S. 19). 144 Nun folgt im § 14 ein ausführliches Beispiel, wie man alle Gegenstände innerhalb eines Gegenstandsgebiets eindeutig kennzeichnen kann, ohne sie durch Hinweisen bezeichnen zu müssen und ohne irgendeinen Gegenstand außerhalb des gewählten Gegenstandsgebiets zu Hilfe zu nehmen. Carnap beschreibt eine Karte der Eisenbahnverbindungen auf einem Gebiet. Er meint, man könne auf dieser Karte alle Bahnhöfe eindeutig bestimmen, ohne sie mit den Ortschaftsnamen zu belegen, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich zwei Bahnhöfe in genau der gleichen Entfernung von einem bestimmten Knotenpunkt des Netzes (einer Stadt mit den meisten eingehenden und ausgehenden Bahnverbindungen) und auf einer Linie mit genau der gleichen Anzahl von Station zwischen zwei Knotenpunkten befinden. Wenn es nun gelungen sei, ein solches Netzwerk festzulegen, dann nämlich, wenn man nur für einen Punkt des Netzes den Namen gefunden habe, „ so ergeben sich die übrigen leicht, da für die benachbarten Punkte immer nur wenige in Betracht kommen “ (LA, S. 18). Carnap schließt aus diesem Beispiel, dass „ die eindeutige Kennzeichnung durch bloße Strukturangaben allgemein möglich ist, soweit überhaupt wissenschaftliche Unterscheidung möglich ist “ (LA, S. 19). Eine gewagte Behauptung auf der Grundlage - wiederum - nur eines einzigen Beispiels. 145 Denn die Bahnstationen, obschon zahlreich, bleiben stationär (wenngleich eine Station geschlossen und eine andere eröffnet werden kann), was die Bestimmung der entsprechenden Verhältnisse überhaupt möglich macht. Wenn man sich jedoch vorstellt, dass man eine ähnliche Bestimmung eines Vogelschwarms im Flug, eines Fischschwarms in Bewegung, eines Bienenvolks bei der täglichen Arbeit des Nektarsammelns oder einer in vollem Gang befindlichen großen Technoparty unternehmen wollte, würde sich eine solche Aufgabe ungleich schwieriger gestalten. Man weiß, dass, wenn man Bewegungen eines Lebewesens registrieren will, man es mit einem Sendegerät ausstatten muss, das ein Signal emittiert, welches, wenn es durch mehrere Satelliten empfangen wird, die eindeutige Bestimmung der Position des Tiers und seiner Bewegungen erlaubt. Aber in einem solchen Fall wird nicht das Tier durch seinen Ort in einem Netzwerk bestimmt, sondern 144 „ Die beschriebene, rein strukturelle Kennzeichnung ist verwandt mit der impliziten Definition, wie sie von Hilbert für seine Axiomatik der Geometrie [. . .] angewandt und von Schlick [Allgemeine Erkenntnislehre, S. 29ff] in ihrer allgemeinen Methode und wissenschaftlichen Bedeutung dargestellt worden ist “ (LA, S. 19). 145 Interessanterweise hat Rudolf Steiner darauf hingewiesen, dass die meisten Irrtümer der Forschung durch Einseitigkeit entstehen (GA324, S. 15). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 227 <?page no="242"?> umgekehrt sein Ort durch das spezifische, identifizierbare Signal. Angenommen jedoch, dass es uns gelingt, eine solchermaßen abstrakte Repräsentation eines „ Gegenstandsgebiets “ zu erstellen. Was haben wir damit gewonnen? Um zu Carnaps Beispiel zurückzukehren: Wenn es uns gelungen ist, die Ortschaftsnamen den schwarzen Punkten auf der Karte der Eisenbahnverbindungen eindeutig zuzuordnen, was haben wir dann über diese Ortschaften und über die in ihnen lebenden Menschen gelernt? Wahrlich, herzlich wenig. Es zeigt sich also an dieser Stelle erneut die fast atemberaubende Armut von Carnaps Erkenntnisbegriffs. Aus Carnaps Sicht haben wir damit jedoch sehr viel gewonnen. Der Sinn dieser Übung wird am Ende vom Abschnitt A (des II. Teils) im § 16 offenbar. Dort stellt Carnap fest, dass aus den angestellten Untersuchungen hervorgeht, dass grundsätzlich jeder Gegenstandsname, der in einer wissenschaftlichen Aussage vorkomme, durch eine strukturelle Kennzeichnung des Gegenstands, verbunden mit der Angabe des Gegenstandsgebiets, auf welches sich die Kennzeichnung beziehe, ersetzt werden könne. Diese These gilt Carnap zufolge nicht nur für individuelle Gegenstände, sondern auch für allgemeine Begriffe, Klassen und Relationen. Daraus folgt, dass „ jede wissenschaftliche Aussage grundsätzlich so umgeformt werden kann, dass sie nur noch eine Strukturaussage ist “ (LA, S. 20, Hervorhebung im Original). Eine solche Umformung ist jedoch nach Carnap nicht nur möglich, sondern auch notwendig, denn die Wissenschaft will vom Objektiven sprechen; alles jedoch, was nicht zur Struktur, sondern zum Materialen gehört, alles, was konkret aufgewiesen wird, ist letzten Endes subjektiv. (LA, S. 20) Und weiter: Die Reihe der Erlebnisse ist für jedes Subjekt verschieden. Soll trotzdem Übereinstimmung in der Namengebung erzielt werden für die Gebilde, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, so kann das nicht durch Bezugnahme auf das gänzlich divergierende Materiale geschehen, sondern nur durch formale Kennzeichnung der Gebildestrukturen. [. . .] [F]ür die Wissenschaft [ist es] möglich und zugleich notwendig [. . .], sich auf Strukturaussagen zu beschränken. (LA, S. 21, Hervorhebung im Original) An dieser Stelle wird der Ursprung des Problems, das Carnap zu überwinden sucht, sichtbar. Carnap will in der Erkenntnisgewinnung streng empirisch im Sinne von Mach (und Schlick) vorgehen, er will aber letztlich auch zu einer zuverlässigen (objektiven und sicheren) Erkenntnis gelangen. Seiner Ansicht nach müssen die Mach ’ schen „ Empfindungen “ oder „ die Reihe der Erlebnisse “ eines jeden Subjekts zwangsläufig subjektiv sein. Da er die in der Vielfalt der sinnlichen Erfahrungen zum Tragen kommende einheitsstiftende Rolle der Begriffe nicht anerkennen kann, weil er dem Nominalismus huldigt und die Wirklichkeit der Begriffe nicht zugeben will, und weil er das, was wir gewöhnlich als „ Eigenschaften “ bezeichnen, nicht zulassen will, da diese 228 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="243"?> durch „ die Reihe der Erlebnisse “ des Subjekts erkannt werden, die ihm subjektiv und deshalb suspekt erscheinen, muss er für die begriffliche Einheit der an Eigenschaften reichen Erfahrung einen Ersatz finden, um überhaupt zur objektiven (und sicheren) Erkenntnis gelangen zu können. Den Ersatz für die Begriffe erblickt er in den Strukturaussagen. Diese sind für ihn von den subjektiven Sinnesdaten unabhängig, oder können zumindest von ihnen unabhängig gemacht werden, und zumindest im Prinzip für jedes Subjekt gleich, also objektiv. An diesem Punkt ergeben sich wenigstens drei Fragen: 1) Wie begründet Carnap die These, dass alles, was „ zum Materialen gehört “ , letztes Endes subjektiv ist; 2) Wie begründet er die These, dass die Struktur objektiv ist; 3) Kann die Strukturbeschreibung wirklich die uns von den Begriffen (auch Begriffe für Eigenschaften) geleisteten Dienste ersetzen? Betrachten wir diese Fragen nun genauer. Die einzige Begründung der ersten These, die ich in Carnaps Werk finde, beschränkt sich auf die oben zitierten Zeilen: Erlebnisse seien subjektiv, also müssen die Namen, die auf Grund dieser Erlebnisse (des divergierenden Materialen) konstituiert werden, auch subjektiv sein. So formuliert besteht dieser Gedanke aus einer Prämisse und einem Schluss. Die Prämisse lautet: „ Alle Erlebnisse sind subjektiv “ , der Schluss: „ Die Namen, die auf Grund dieser Erlebnisse konstituiert werden, sind auch subjektiv “ . Als eine Schlussfigur ist dieser Gedankengang offensichtlich ungültig. Er braucht eine „ obere Prämisse “ , um ihn zum einem gültigen Syllogismus umzuformen. Die könnte ungefähr so aussehen: „ Was auf Grund von subjektiven Daten konstituiert wird, ist auch subjektiv “ . Mit Hilfe dieser Prämisse erhalten wir einen gültigen Syllogismus: Alles, was auf Grund von subjektiven Daten konstituiert wird, ist auch subjektiv. Alle Erlebnisse sind subjektiv. \ Alle Namen, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, sind subjektiv. Jetzt stimmt die Schlussfigur (Modus Barbara), die Frage ist aber, ob die Prämissen wahr sind. Fangen wir mit der unteren Prämisse an, da wir sie schon paar Mal berührt haben. „ Alle Erlebnisse sind subjektiv “ . Carnap scheint sie als einen Schluss aus der Beobachtung abzuleiten, dass die Reihe der Erlebnisse für jedes Subjekt verschieden sei. Das ist sicher richtig, folgt jedoch daraus, dass alle Erlebnisse subjektiv sind? Dies würde nur dann folgen, wenn man verlangen würde, dass nur das objektiv ist, was für alle Subjekte identisch ist. Ist dies eine berechtigte Forderung? Es ist anzunehmen, dass mein Erlebnis des pythagoreischen Lehrsatzes nicht identisch ist mit dem Erlebnis des gleichen Lehrsatzes des werten Lesers oder der werten Leserin, was uns jedoch nicht daran hindert, darin einig zu sein, dass der Satz stimmt. Wenn man die Behauptung „ alle Erlebnisse sind subjektiv “ ganz streng auslegt, müsste man auch schließen, dass alle unsere Gedankenerlebnisse oder Erkenntniserlebnisse - die letztendlich zunächst nichts anderes sind als eben unsere Erlebnisse, wenn auch „ inneren “ , keine sinnlichen - bloß sub- 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 229 <?page no="244"?> jektiv sind, und folglich auch die Gedankenerlebnisse Carnaps, die ihn zum Verfassen seines Buches geführt haben, und das wiederum würde bedeuten, dass auch sein Buch bloß subjektiv ist. Dies mag stimmen, ist aber sicher nichts, was Carnap behaupten wollte. Um also überhaupt begründete Hoffnung auf das Erlangen objektiver Erkenntnis haben zu können, muss es entweder so sein, dass nicht alle Erlebnisse bloß subjektiv sind, oder, dass wir aufgrund von subjektiven Erlebnissen zu objektiven Schlüssen kommen können, oder beides. In Bezug auf die angebliche Subjektivität jeglicher Erlebnisse scheint es angebracht, zwischen mindestens zwei sehr umfänglichen Klassen von Erlebnissen zu unterscheiden: die eine umfasst die Erlebnisse/ Erfahrungen der Art: „ Dies gefällt mir “ , „ Dies gefällt mir nicht “ . Die andere Erlebnisse/ Erfahrungen der Art: „ Dies ist eine Kuh “ , „ Dies ist blau “ . Auffallend ist, dass in den Sätzen, die Erlebnisse der ersten Klasse beschreiben, das Personalpronomen (im Dativ) auftaucht, was klarmacht, dass sich die Aussage auf eine bestimmte Person mit ihren individuellen, persönlichen, subjektiven Eigenschaften bezieht. Dies ist jedoch für die zweite Klasse der Erlebnisse eindeutig nicht der Fall: Diese Aussagen beschreiben - zumindest oberflächlich betrachtet - keine subjektiven Reaktionen auf Weltphänomene, sondern diese Weltphänomene selbst. Auffallend ist ferner, dass, während wir in Bezug auf die Aussagen der ersten Klasse keineswegs Übereinstimmung von anderen erwarten, wir das bei Aussagen der zweiten Klasse durchaus tun und dementsprechend recht erstaunt wären, wenn unser Gesprächspartner, nachdem wir ihm gegenüber festgestellt haben, „ Dies ist eine Kuh “ , erwidern würde, „ Nein, dies ist ein Kaninchen/ Kamel “ . Es scheint also durchaus möglich, dass man persönliche, individuelle Erfahrungen hat, die dennoch objektiv sind. Und da wir gewöhnlich im Alltagsleben von einer solchen Möglichkeit ausgehen (wir sagen nicht: „ Ich sehe den blauen Himmel, doch das ist sicher bloß ein subjektives Erlebnis “ ), scheint mir der Beweislast für die gegenteilige These bei ihren Befürwortern zu liegen. Betrachten wir jetzt die zweite Prämisse genauer: „ Alles, was aufgrund von subjektiven Daten konstituiert wird, ist auch subjektiv. “ Um sie adäquat untersuchen zu können, müssen wir uns zunächst die Bedeutung des Begriffs „ Konstituieren “ in Erinnerung rufen. Wir erinnern uns, dass Carnap auf S. 2 feststellte: „ ‚ a aus b, c konstituieren ‘ soll bedeuten: eine allgemeine Regel aufstellen, die angibt, in welcher Weise man in jedem einzelnen Falle eine Aussage über a umformen muss, um eine Aussage über b, c zu erhalten “ , und dass er den Begriff der „ Konstitution “ dem Begriff der „ Rückführung “ (von a auf b, c) gleichsetzte. Mir scheint nun, dass, wenn man nur mit subjektiven Daten als Ausgangspunkt zu tun hat (also Aussagen der Art: „ Dies gefällt mir “ , „ Ich mag ihn nicht “ usw.), es tatsächlich schwierig sein wird, auf dieser Basis zu objektiven Feststellungen zu kommen. Wenn man jedoch den Begriff des „ auf Grund “ erweitert, zeigt sich, dass auch die These, „ auf Grund subjektiver Erfahrungen gibt es keine objektive Erkenntnis “ , überhaupt nicht 230 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="245"?> so sicher ist, wie sie zunächst scheinen mag. Ich kann diese Behauptung wiederum anhand eines fiktiven Gesprächs belegen. Stellen wir uns vor, dass eine Grundschullehrerin ihren Schülern die Grundelemente der Geometrie beibringen will. Sie zeichnet ein großes, schönes Haus mit gelben Wänden und mit einem roten Satteldach an die Tafel. Die Schüler sind begeistert, es gefällt ihnen. Die Lehrerin erklärt dann: „ Seht ihr diese vordere gelbe Wand? Wie viele Seiten hat sie? „ Vier “ sagen die Kinder. „ Und welche Form hat sie “ , fragt die Lehrerin. Die Kinder wissen es nicht, sie kann ihnen aber erklären: „ Diese Form nennt man ‚ Rechteck ‘“ , und ihnen auch erläutern, was es damit auf sich hat. Demnach kann man auf Grund von teilweise subjektiven Erlebnissen ( „ Das Bild gefällt mir “ ) zu objektiven Erkenntnissen gelangen. Es ist vielleicht angebracht, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass praktisch jede wissenschaftliche Tätigkeit mit einem subjektiven Erlebnis anfängt. Ein Mensch entdeckt, dass er von Lilien magisch angezogen wird, und beschließt, sie zu studieren. Eine andere Person findet Ameisen faszinierend und widmet sich ihrer Erforschung. Eine dritte Person findet Erzählungen von vergangenen Zeiten und Menschen sehr bewegend und beschließt, Historiker zu werden. Es scheint also in gewissem Sinne berechtigt zu sagen, dass jede objektive Erkenntnis auf Grund von subjektiven Daten entsteht. Wir erinnern uns, dass Carnap diesen Punkt am Anfang seines Buches selbst einräumt, wo es heißt: Jede wissenschaftliche These muss sich rational begründen lassen; das bedeutet aber nicht, dass sie auch rational durch verstandesmäßige Überlegung, gefunden werden müsse. Grundeinstellung und Interessenrichtung entstehen nicht durch Gedanken, sondern sind bedingt durch Gefühl, Trieb, Anlage, Lebensumstände. (LA, S. V) Es scheint also, dass Carnaps Behauptung ( „ Alle Namen, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, sind subjektiv “ ) durch seine Argumente nicht ausreichend gestützt wird. Wie wir aber wissen, kann sie dennoch richtig sein. Schauen wir uns diese Behauptung nochmals an: Die Reihe der Erlebnisse ist für jedes Subjekt verschieden. Soll trotzdem Übereinstimmung in der Namengebung erzielt werden für die Gebilde, die auf Grund der Erlebnisse konstituiert werden, so kann das nicht durch Bezugnahme auf das gänzlich divergierende Materiale geschehen, sondern nur durch formale Kennzeichnung der Gebildestrukturen. Auch bei nochmaliger Betrachtung erscheint seine Behauptung sehr merkwürdig. Denn ist es nicht so, dass im Alltagsleben eine sehr hohe Übereinstimmung in der „ Namengebung “ herrscht? Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir für gewöhnlich Übereinstimmung unserer Mitmenschen erwarten, wenn wir einen Gegenstand als „ Baum “ und einen anderen als „ Maus “ bezeichnen. Es ist durchaus richtig, dass es auch Zweifelsfälle und Zwischenfälle gibt, wo die Zuordnung eines Gegenstands zu einer Klasse nicht eindeutig oder nicht einfach ist, im Großen und Ganzen aber herrscht im 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 231 <?page no="246"?> Alltagsleben Übereinstimmung, nicht Chaos. Und merkwürdigerweise ist diese Übereinstimmung doch auf Grund unserer Erlebnisse entstanden. Wie dies konkret geschieht, wissen wir nicht, und der Weg dazu mag rätselhaft scheinen. Die Tatsache der überwiegenden Übereinstimmung in der Namengebung im Alltagsleben dürfte jedoch unbestritten sein. Warum also will Carnap das Rad neu erfinden? Die Antwort auf diese Frage habe ich eigentlich bereits gegeben. Er sieht nicht die Rolle der Begriffe in unserer unmittelbaren Erfahrung und landet dadurch bei seiner (eigentlich völlig künstlichen) Schwierigkeit. Wir haben anlässlich der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre bereits gesehen, dass kein Geringerer als der große Logiker und Mathematiker Gottlob Frege schon 1918 darauf hingewiesen hatte, dass wir alle nicht unzählige Begriffe, sondern nur einen Begriff etwa des pythagoreischen Lehrsatzes haben. Doch für Carnap wie für alle Nominalisten sind Begriffe völlig künstliche, von den Menschen bloß zu ihrer Bequemlichkeit im täglichen Umgang mit der Erfahrungswelt erfundene Fiktionen, bloß eine Art von willkürlicher Signatur in Bibliothekskatalogen (Schlick), die unmöglich zur Erlangung der objektiven Erkenntnis beitragen können. Er wollte oder konnte nicht einsehen, dass Begriffe bereits Teil der elementarsten Erfahrungen sind. Man kann an dieser Stelle mit einen der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart, John McDowell, sagen: [W]hen we enjoy experience conceptual capacities are drawn on in receptivity, not exercised on some supposedly prior deliverances of receptivity. And it is not that I want to say they are exercised on something else. It sounds off key in this connection to speak of exercising conceptual capacities at all. That would suit an activity, whereas experience is passive. In experience one finds oneself saddled with content. One ’ s conceptual capacities have already been brought into play, in the content ’ s being available to one, before one has any choice in the matter. (McDowell 1998, S. 10, Hervorhebung im Original) Wenden wir uns jetzt Carnaps Behauptung oder Annahme zu, dass die Strukturaussagen zwangsläufig objektiv sind. Bezeichnenderweise gibt er keine Begründung für diese Behauptung, sondern betrachtet sie offensichtlich als eine Selbstverständlichkeit. Ist sie das aber? Gibt es wirklich nur eine mögliche Strukturbeschreibung eines bestimmten Ausschnitts der Wirklichkeit? Betrachten wir nochmals Carnaps eigenes Beispiel der Karte der Bahnverbindungen. Gibt es tatsächlich nur eine einzige Möglichkeit die entsprechenden Verhältnisse auf einem bestimmten Gebiet strukturell abzubilden? Ist es nicht vielmehr so, dass wir, wenn wir eine solche Karte erstellen wollen, vor einigen mehr oder weniger arbiträren Entscheidungen stehen: Welcher Bahnhof ist wichtiger: Bern oder Zürich? ; Soll man den praktisch nicht mehr benutzten Bahnhof Ringoldingen auf der Karte immer noch aufführen oder soll er weggelassen werden? ; Soll man die Verbindung zwischen Interlaken und Thun, die sehr stark frequentiert ist, in gleicher Weise auf der Karte aufführen, wie die Verbindung Spiez-Zweisimmen, die sehr viel weniger befahren wird, oder nicht? Und was machen wir mit der 232 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="247"?> heute eigentlich nicht mehr benutzten Strecke Oey-Diemtigen: soll sie noch auf der Karte erscheinen (die Schienen sind noch da) oder nicht (es fahren keine Züge mehr dort) usw.? Betrachten wir jedoch auch eine etwas unübersichtlichere Situation: die einer großen Hühnerfarm mit Freilaufhaltung. Auf dieser Farm haben die Hühner keine festen „ Wohnplätze “ , sondern laufen frei und ziemlich chaotisch auf einer recht große Fläche herum. Wie sollen wir eine adäquate Strukturbeschreibung einer solchen Farm nach Carnaps Art liefern? Ich wüsste ehrlich nicht, wo ich überhaupt anfangen sollte . . . Übrigens dürfte Carnap gewusst haben, dass eine Strukturbeschreibung sicher nicht zwingend objektiv sein muss. Das vielleicht bekannteste Beispiel des Problems ist hier das ptolemäische Weltsystem mit der Erde im Zentrum, planetarischen Sphären, der Sphäre der Fixsternen, dem achtem Himmel, mit Epizykeln usw. Carnap könnte zwar argumentieren, dass diese Beschreibung keine Strukturbeschreibung in seinem Sinne sei, aber dann hätte er genau angeben müssen, welche Strukturbeschreibung seiner Vorstellung der Strukturbeschreibung entspricht. Dies hat er nicht getan. Er schreibt stets, als ob jegliche Strukturaussagen allein kraft der Tatsache, dass sie Strukturaussagen darstellen, wissenschaftlich und objektiv sind. Sobald man jedoch realisiert, dass selbst eine wohlgemeinte Strukturaussage nicht der Wirklichkeit entsprechen muss, muss man sich die Frage stellen, welche Bedingungen sie erfüllen muss, dass wir ihr Objektivität zuschreiben können. Sobald man dies jedoch macht, ist es schwer, sich der Konsequenz zu entziehen, dass die Kardinalbedingung der Objektivität einer Strukturaussage in ihrer Entsprechung mit der Wirklichkeit besteht. Das Problem, das sich für Carnap aus dieser recht offensichtlichen Feststellung ergibt, ist, dass die Strukturaussage zu einem bloßen Model der Wirklichkeit reduziert wird, einem Modell, das auf das jeweilige Gegenstandsgebiet ausgerichtet sein muss. Ein solches Zugeständnis würde jedoch Carnaps Hoffnung zunichtemachen, dass man alle Gegenstandsgebiete der einzelnen Wissenschaften via Strukturaussagen auf ein einziges Gebiet werde zurückführen können, um so die Einheitswissenschaft zu etablieren. Kommen wir jetzt zur dritten Frage: Können Strukturbeschreibungen Begriffe (einschließlich Begriffe für Eigenschaften) ersetzen? Wir haben bereits gesehen, dass sich Carnap aufgrund nur eines einzigen Beispiels (die Karte der Eisenbahnverbindungen) zu der Feststellung bemüßigt fühlt, dass „ die eindeutige Kennzeichnung durch bloße Strukturangaben allgemein möglich ist “ (meine Hervorhebung, MBM). Ist das wirklich so? Wir wissen, dass die klassische Art, ein Objekt einer Klasse zuzuordnen, grundsätzlich auf dem bereits in der Antike bekannten Vorgehen beruht, das die Bestimmung des „ genus proximum “ und dann die genauere Bestimmung des gegebenen Objekts mittels der „ differentia specifica “ vorsieht. Wenn wir also beispielsweise wissen, dass es sich in einem konkreten Fall um ein Tier, ein Säugetier, ein vierbeiniges Tier, ein Haustier handelt, dann werden wir unschwer darauf kommen, dass es sich entweder um einen Hund oder um 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 233 <?page no="248"?> eine Katze handeln muss (es besteht hier sicherlich die Möglichkeit eines Irrtums, z. B. könnte es sein, dass jemand eine Ratte meinte und Ratten als „ Haustiere “ taxierte), und wenn wir weiter erfahren, dass das fragliche Tier „ miau “ und nicht „ wau wau “ macht, dann werden wir sicher sein, dass es sich um eine Katze handelt. Im Großen und Ganzen kommen wir mit diesem Vorgehen im Leben und auch in der Wissenschaft sehr gut klar. Carnap will jedoch keine Begriffe zulassen, weil sie ihm bloße arbiträre Namen sind, und er will auch keine Eigenschaften zulassen, weil sie ihm zu subjektiv sind. Wir dürfen also seiner Meinung nach nicht sagen, dass das Ding vor uns ein Tier ist, weil es sich bewegt und sich selber ernähren kann, und wir dürfen nicht sagen, dass es ein Säugetier ist, weil es seine Junge mit Muttermilch versorgt usw. - wir sollen diese ziemlich unbedenklichen Feststellungen durch „ Strukturaussagen “ ersetzen. Ich wäre Carnap sehr dankbar gewesen, wenn er geschildert hätte, wie wir nicht im Falle eines Bahnhofs auf der Strecke Bern-Zürich, sondern in einer solchen Situation (Säugetier) die unzweideutige, rein strukturelle Bestimmung des vor uns stehenden Dings leisten könnten, weil ich hier völlig ratlos bin. Und wenn ich darüber hinaus die Entscheidung treffen sollte, ob es sich bei dem fraglichen Tier um eine Katze namens Camilla (die schwarz-weiß ist) oder Damon (der ganz grau ist) handelt, ohne auf „ schwarz “ , „ weiß “ , „ grau “ usw. zurückgreifen zu dürfen, dann wäre ich ganz verzweifelt. Es ist also kaum vorstellbar, dass die bloßen Strukturbeschreibungen die Begriffe und Eigenschaftsbeschreibungen unserer Lebenswelt je werden ersetzen können. Demnach darf man wohl sagen, dass sowohl Carnaps Befürchtungen als auch seine Hoffnungen der kritischen Untersuchung nicht standhalten können. Die Befürchtung, dass aufgrund „ subjektiver Erlebnisreihen “ keine objektive Erkenntnis zustande kommen kann, ist ebenso aus der Luft gegriffen wie die Hoffnung, dass die Strukturbeschreibungen immer objektiv sein werden und dass sie die Begriffe (auch die Begriffe für Eigenschaften) werden ersetzten können. Carnaps Vorstellung, dass „ es für die Wissenschaft möglich und zugleich notwendig ist, sich auf Strukturaussagen zu beschränken “ (LA, S. 21), führt zu einer weiteren und gravierenden Schwierigkeit, auf die ich aber erst weiter unten werde eingehen können. Das Wesen der Zurückführbarkeit und der Konstitution Betrachten wir jetzt einen weiteren zentralen Punkt von Carnaps System: seine Vorstellungen bezüglich der „ Zurückführbarkeit “ der höherstufigen Begriffe auf Grundbegriffe und der „ Konstitution “ der „ Gegenstände “ der höheren aus jenen der tieferen Stufen. Wir haben bereits gesehen, was er im Allgemeinen damit meint: [D]ie Begriffe sollen aus gewissen Grundbegriffen stufenweise abgeleitet, „ konstituiert “ werden, so dass sich ein Stammbaum der Begriffe ergibt, in dem jeder Begriff seinen bestimmten Platz findet. “ (LA, S. 1, Hervorhebung im Original) 234 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="249"?> Und weiter: „ a auf b, c zurückführen “ oder „ a aus b, c konstituieren “ soll bedeuten: eine allgemeine Regel aufstellen, die angibt, in welcher Weise man in jedem einzelnen Falle eine Aussage über a umformen muss, um eine Aussage über b, c zu erhalten. Diese Übersetzungsregel nennen wir „ Konstitutionsregel “ oder „ konstitutionale Definition. “ (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Schließlich: Unter einem „ Konstitutionssystem “ verstehen wir eine stufenweise Ordnung der Gegenstände derart, dass die Gegenstände einer jeden Stufe aus denen der niederen Stufe konstituiert werden. Wegen der Transitivität der Zurückführbarkeit werden dadurch indirekt alle Gegenstände des Konstitutionssystems aus den Gegenständen der ersten Stufe konstituiert; diese „ Grundgegenstände “ bilden die „ Basis “ des Systems. (LA, S. 2, Hervorhebung im Original) Im § 35 ( „ Zurückführbarkeit; Konstitution “ ) gibt Carnap eine - wie er meint - genauere Definition der Zurückführbarkeit und Konstitution der Gegenstände. Um diese genauere Definition verstehen zu können, braucht man einen Begriff, den Carnap im § 28 ( „ Die Aussagenfunktionen “ ) einführt. Streicht man in einem Satz die Gegenstandsnamen, so sagen wir von dem Zeichen (bzw. dem Satz), das dann übrigbleibt, es bezeichne eine „ Aussagefunktion “ (LA, S. 38). Nehmen wir einen einfachen Satz: „ Luchs ist ein Hund “ (vgl. S. 36; Luchs ist ein Hundename). Ich kann das Wort „ Luchs “ aus dem Satz streichen und erhalte dann die Form: „ . . . ist ein Hund “ . Diese bezeichnet Carnap als „ Aussagefunktion “ , denn es ist offensichtlich, dass an der Stelle von „ . . . “ nicht nur „ Luchs “ , sondern unzählige andere Namen eingesetzt werden können. Carnap bezeichnet dann den gestrichenen Name als „ Argument “ , die leeren Stellen als „ Argumentstellen “ und führt den Begriff des „ zulässigen Arguments “ ein, also eines Namens/ Wortes/ Begriffs, der die Argumentstelle einer Aussagefunktion besetzen kann. In unserer Aussagefunktion wäre „ Luchs “ ein zulässiges Argument, „ Paris “ aber nicht (wobei Carnap nicht klarmacht, wie man die zulässigen von den nicht zulässigen Argumenten unterscheiden kann. Schließlich kann ich meinen Hund „ Paris “ nennen). Schließlich schreibt er, dass es besser sei, die Argumentstelle, statt sie leer zu lassen, durch das Zeichen einer Variablen kenntlich zu machen, also anstelle von: „ . . . ist ein Hund “ , „ x ist ein Hund “ zu schreiben. Im § 32 ( „ Die Extension einer Aussagefunktion “ ) schreibt er weiter: Stehen zwei Aussagefunktionen in dem Verhältnis zueinander, dass jeder Gegenstand (bzw. Paar, Tripel usw.), der die eine befriedigt, auch die andere befriedigt (ein Gegenstand „ befriedigt “ die Aussagefunktion, falls wenn man diesen Gegenstand anstelle der Variablen in der Aussagefunktion einsetzt, ein wahrer Satz entsteht), so sagen wir: die erste „ impliziert generell “ die zweite. Stehen zwei Aussagefunktionen gegenseitig in diesem Verhältnis der generellen Implikation, so heißen sie „ generell äquivalent “ oder „ umfangsgleich “ . (LA, S. 42, Hervorhebung im Original) 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 235 <?page no="250"?> Mit dem Verständnis des Begriffs Aussagefunktion ausgestattet, können wir jetzt Carnaps Erläuterungen zum Wesen der Zurückführung und der Konstitution verfolgen. Was den Begriff der Zurückführbarkeit betrifft, schreibt er: Gibt es zu jeder Aussagefunktion ausschließlich über die Gegenstände a, b, c,. . . (wobei b, c . . . auch nicht fehlen dürfen) eine umfangsgleiche Aussagefunktion ausschließlich über b, c . . .., so heißt a „ zurückführbar “ auf b, c,. . .. Kürzer, aber weniger genau, können wir demnach sagen: ein Gegenstand heißt auf andere „ zurückführbar “ , wenn alle Sätze über ihn übersetzt werden können in Sätze, die nur noch von den anderen Gegenständen sprechen “ . (LA, S. 47, Hervorhebung im Original) Es folgt ein Beispiel: Den Satz „ x ist eine Primzahl “ könne man auf den Satz „ x ist eine natürliche Zahl, die nur die Eins und sich selbst als Teiler hat “ zurückführen. Also ist der Begriff „ Primzahl “ auf die Begriffe „ natürliche Zahl “ und „ Teiler “ „ zurückführbar “ . Mit diesen Begriffen ausgestattet, kann man jetzt auch die Festlegung des Begriffs der Konstitution präzise angeben: Einen Begriff aus andere Begriffen „ konstituieren “ soll bedeuten: seine „ konstitutionale Definition “ auf Grund der anderen Begriffe angeben. Unter einer „ konstitutionalen Definition “ des Begriffes a auf Grund der Begriffe b, c verstehen wir eine Übersetzungsregel, die allgemein angibt, wie jede Aussage, in der a vorkommt, verwandelt werden kann in eine umfangsgleiche Aussagefunktion, in der nicht mehr a, sondern nur noch b, c vorkommen. Im einfachsten Falle besteht eine solche Übersetzungsregel in der Anweisung, a überall, wo es vorkommt, zu ersetzen durch einen bestimmten Ausdruck, in dem nur noch b, c vorkommen ( „ explizite “ Definition). (LA, S. 47) Es muss wiederum darauf hingewiesen werden, dass, auch wenn die mathematischen bzw. geometrischen Begriffe durchaus, wie Carnap es sich wünscht, aufeinander „ zurückgeführt “ und gegenseitig „ konstituiert “ werden können, es mindestens sehr fraglich ist, ob man auf die gleiche Art Katzen auf Hühner „ zurückführen “ bzw. jene aus diesen „ konstituieren “ kann. Es ist in dieser Hinsicht festzuhalten, dass Carnap kein Beispiel für eine solche „ lebensweltliche “ „ Zurückführung “ bzw. „ Konstitution “ liefert. Wir haben bis jetzt die Definition der Zurückführbarkeit aus dem § 35 diskutiert. Interessanterweise finden wir bei Carnap noch eine zweite Definition dieses Begriffs. Im § 47 schreibt er, dass die Konstitutionstheorie alle Gegenstände aller Wissenschaften „ nach ihrer Zurückführbarkeit aufeinander in ein System ordnen “ wolle (LA, S. 65) und stellt fest, dass das Kriterium der Zurückführbarkeit auch in „ realistischer Sprache “ formuliert werden könnte. Diese Formulierung lautet dann folgendermaßen: Wir nennen einen Gegenstand a „ zurückführbar auf die Gegenstände b, c,. . . “ , wenn sich für das Bestehen jedes beliebigen Sachverhaltes in Bezug auf Gegenstände a, b, c . . . eine notwendige und hinreichende Bedingung angeben lässt, die nur von den Gegenständen b, c,. . . abhängt. (LA, S. 65, Hervorhebung im Original) 236 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="251"?> Carnap behauptet, dass es sich bei dieser Formulierung lediglich um eine „ andere Form “ des Kriteriums aus § 35 (LA, S. 47 f) handle, eine Form, die nicht bloß von Aussagenfunktionen und ihren logischen Beziehungen handelt, sondern von „ Sachverhalten und ihren sachlichen Beziehungen “ . Diese Feststellung erstaunt wiederum, denn es dürfte offensichtlich sein, dass es sich hier im Vergleich mit der Definition, die auf S. 47 gegeben worden ist, um eine völlig neue und viel strengere Bedingung der Zurückführbarkeit handelt. Jetzt geht es nicht bloß darum, dass „ alle Sätze “ über einen Gegenstand a in Sätze über andere Gegenstände überführt werden können, sondern darum, dass man - effektiv - zeigen kann, wie die „ Sachverhalte “ , in denen Gegenstand a vorkommt, von den anderen Gegenständen (b, c . . .) verursacht werden (wobei Carnap den Begriff der Verursachung an dieser Stelle tunlichst vermeidet). Denn „ eine notwendige und hinreichende Bedingung von a “ anzugeben, galt damals (heute hat sich das Bild verkompliziert) als äquivalent zu „ die Ursache von a “ anzugeben. Akzeptiert man dieses Kriterium der Zurückführbarkeit, wird die Konstitution der Gegenstände tatsächlich anspruchsvoll. Man muss nämlich eine allgemeine Regel finden, die aufzeigt, wie die Sachverhalte, in denen nur b, c, usw. vorkommen, die Sachverhalte verursachen, in denen auch a vorkommt. Man muss sich die ganze Tragweite dieser Modifikation vor Augen führen. Erstens dürfte offensichtlich sein, dass diese Definition nicht auf mathematische „ Gegenstände “ anwendbar ist. Wir haben aber gesehen, dass bis jetzt hauptsächlich diese als Beispiele für die „ Zurückführbarkeit “ oder „ Konstitution “ gedient haben. Schon der Umstand, dass sie nach dem neuen Kriterium der Zurückführbarkeit aus dem Umfang dieses Begriffs ausgeschlossen sind, zeigt, dass Carnap mit seiner scheinbar unbedeutenden Modifikation völlig neue Verhältnisse geschaffen hat. Zweitens dürfte ebenso offensichtlich sein, dass das neue Kriterium der Zurückführbarkeit kein logisches, sondern ein empirisches Kriterium ist. Die Annahme dieses Kriterium verpflichtet uns zu der empirischen Suche und Überprüfung, ob die Sachverhalte, in denen a vorkommt, tatsächlich durch Sachverhalte, in denen nur b, c, usw. vorkommen, verursacht werden. Eine solche Überprüfung kann sich als sehr komplex erweisen, denn es nicht immer einfach ist, die Kräfte/ Entitäten, die bei der Entstehung eines bestimmten „ Sachverhalts “ mitwirken, zu identifizieren. Es dauerte lange, bis die Menschen realisierten, dass z. B. die Luft eine notwendige Bedingung der Schallübertragung ist, der Sauerstoff eine notwendige Bedingung der Verbrennung, und noch länger, bis sie realisierten, dass die Schwerkraft eine notwendige Bedingung der normalen Entwicklung der Muskeln und Knochen darstellt. Drittens: weil Carnap vom Bestehen jedes beliebigen Sachverhaltes in Bezug auf a spricht, erweist sich diese empirische Suche als prinzipiell unabschließbar. Wenn man dieses Kriterium wörtlich nimmt, müsste man „ das Ende der Forschung “ abwarten, um mit Sicherheit feststellen zu können, ob der Gegenstand a auf Gegenstände b, c, usw. zurückführbar ist oder nicht. Denn selbst wenn uns 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 237 <?page no="252"?> gelingen würde zu zeigen, dass in sehr vielen Fällen von Sachverhalten, in denen a vorkommt, diese als durch b, c, usw. verursacht betrachtet werden können, muss die Möglichkeit offen bleiben, dass sich später solche Sachverhalte mit a finden werden, die nicht als durch b, c usw. verursacht betrachtet werden können. Ein heute sehr gut bekanntes Beispiel dieser Situation sind Phänomene des Bewusstseins in ihrem Verhältnis zur Aktivität des Gehirns. Bis vor kurzem galt es als ein selbstverständliches Dogma, dass Bewusstseinsphänomene durch Gehirnaktivität verursacht werden (und deshalb auf diese reduziert werden können), doch das Bekanntwerden der sogenannten Nahtoderfahrungen, also von verschieden(st)en Bewusstseinsphänomenen, die auch dann zustande kommen, wenn das Gehirn klinisch tot und somit völlig inaktiv ist, hat dieses Dogma erschüttert. Die Gleichsetzung der Bedingung der Zurückführbarkeit „ von a auf b, c “ mit dem Nachweis, dass b und c notwendig und hinreichend für a sind, verwandelt also Carnaps Projekt von einer realistischen - wenn auch anspruchsvollen - wissenschaftlichen Aufgabe in eine bloß hypothetische, aber nie abschließbare Möglichkeit. Zurückfahrbarkeit, Konstitution, strukturelle Aussagen und Erkenntnis Ich habe bei der Diskussion der §§ 12 bis 16 darauf hingewiesen, dass Carnaps Behauptung, dass es „ für die Wissenschaft möglich und zugleich notwendig ist, sich auf Strukturaussagen zu beschränken “ (LA, S. 21), zu einer weiteren und gravierenden Schwierigkeit führt, die jedoch erst später betrachtet werden kann. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, dies zu tun. Wir haben gesehen, dass Carnap einen „ Stammbaum “ der Begriffe errichten will, innerhalb dessen die höherstufigen Begriffe auf die Grundbegriffe „ zurückgeführt “ bzw. die höherstufigen aus den Grundbegriffen „ konstituiert “ werden können. Wir haben aber auch gesehen, dass Carnap ebenfalls hofft, die Begriffe durch „ Strukturbeschreibungen “ zu ersetzen, da nur diese die nötige Präzision und Stabilität wissenschaftlicher Aussagen garantieren könnten. Deshalb sei es für die Wissenschaft nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, „ sich auf Strukturaussagen zu beschränken “ . In jedem Fall soll also zumindest die Grundlage, die Basis des Stammbaums der Begriffe von reinen Strukturaussagen gebildet werden. Nun stellen wir uns vor, dass es uns trotz der oben angedeuteten nicht unerheblichen Schwierigkeiten gelungen ist, dies zu leisten. Wir haben jetzt die Lebenswelt auf Strukturaussagen reduziert. Haben wir damit die Lebenswelt erkannt? Schließlich ist es die Aufgabe der Wissenschaft, die Erkenntnis der Lebenswelt zu liefern, und Carnap geht es darum, uns zu zeigen, wie eine solche gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis zustande kommen kann ( „ Es handelt sich hier hauptsächlich um die Frage der Erkenntnislehre [. . .] “ , S. III, Hervorhebung im Original). Haben wir also die Erkenntnis der Lebenswelt erlangt, indem wir diese Welt auf Strukturaussagen zurückgeführt haben? 238 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="253"?> Zunächst ist festzuhalten, dass Carnap auch für die durchaus kontroverse These, dass es für die Wissenschaft möglich und zugleich notwendig ist, sich auf Strukturaussagen zu beschränken, praktisch keine Argumente gibt. Wir haben bereits gesehen, dass er sich aufgrund nur eines einzigen Beispiels (die Karte der Eisenbahnverbindungen) zu der Feststellung bemüßigt fühlt, dass „ die eindeutige Kennzeichnung durch bloße Strukturangaben allgemein möglich ist “ , was ihm scheinbar die Berechtigung gibt, die fragliche These zu formulieren. Abgesehen davon, dass es offensichtlich unzulässig ist, aufgrund nur eines Beispiels eine Verallgemeinerung mit einer uneingeschränkten Geltung zu treffen, müssen wir uns den Unterschied zwischen der Karte der Eisenbahnverbindungen und der Realität unserer Lebenswelt vor Augen führen. Denn der Sprung von Carnaps Beispiel zu dem realen Universum mit seinen äußerst komplexen Strukturen insbesondere im Bereich der Lebewesen ist wahrlich atemberaubend. Könnten wir eine in Carnaps Sinne adäquate Strukturbeschreibung einer Wiese oder sagen wir einer bloß 1000 km 2 großen Fläche des Regenwalds im Amazonasbecken (dessen Gesamtfläche etwa fünf Millionen Quadratkilometer umfasst) geben? Oder betrachten wir ein anderes, vielleicht näherliegendes Beispiel: Wir wissen heute genauer, wie schwierig es ist, die Struktur des menschlichen Gehirns zu erforschen, mit seinen ca. 100 Milliarden Nervenzellen, von denen jede über mehrere Tausend Verbindungen mit anderen Nervenzellen verfügt, noch dazu Verbindungen, die sich im ständigen Umbau befinden. Es ist gut möglich, dass sich diese Struktur nie zu Ende erforschen lassen wird. Wie ließe sich dann aber die Struktur des ganzen menschlichen Körpers genau bestimmen, von dem das Gehirn nur ein Organ unter vielen ist, wenn auch zugegebenermaßen das komplexeste? Ich habe oben auch auf die Schwierigkeit einer strukturellen Abbildung bzw. Rekonstruktion der sich bewegenden Systeme hingewiesen. Man muss bedenken, dass sich auch der menschliche Leib oder jede andere lebende Struktur in konstanter Bewegung und Veränderung befindet. Ist also Carnaps Hoffnung berechtigt, dass die Wissenschaft sich auf Strukturaussagen beschränken kann? Wie lässt sich der dicht gewebte Teppich der menschlichen Erfahrung in Strukturaussagen einfangen? Wie die komplexen geschichtlichen Ereignisse: die Französische Revolution, der Zweite Weltkrieg oder der Zerfall des kommunistischen Systems in Osteuropa? Wenn man natürlich vom Beispiel des Eisenbahnnetzes ausgeht, kann man leicht zu der Überzeugung gelangen, dass sich die Dinge in ihren wesentlichen Teilen und Eigenschaften durch eine bloße strukturelle Beschreibung abbilden lassen. Wir alle sind heute mit der „ strukturellen Beschreibung “ des U-Bahn-Systems in London vertraut, einer Beschreibung, die zwar nichts über einzelne Stationen aussagt, die aber in Verbindung mit den Informationen, die an jeder Station vorhanden sind, voll und ganz dazu ausreicht, um von einem Punkt des Systems zum anderen zu kommen. Ist dieses Beispiel jedoch adäquat als ein Paradigma der Situation, in der wir uns befinden, wenn wir das Universum im Großen und im Kleinen erkennen 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 239 <?page no="254"?> wollen? Wäre eine, selbst adäquate „ Strukturbeschreibung “ des Londoner U- Bahn-Netzes wirklich mit der Erkenntnis dieses Netzes mit seinen vielen Stationen und ihrer jeweils komplexen, reichen individuellen Identität identisch? Ich glaube, dass sich an dieser Stelle deutlich zeigt, dass Carnaps Programm nicht die Erkenntnis der Lebenswelt liefert, wie versprochen, sondern die einer erbärmlichen Verkümmerung dieser Welt. Auf dem von ihm eingeschlagenen Weg werden wir des Reichtums, der Schönheit, der Herrlichkeit dieser Welt beraubt und im Namen von Präzision und Objektivität mit deren dürren Knochen „ beschenkt “ (und eigentlich nicht mal mit diesen! ). Die Aufgabe der Wissenschaft Wir haben bislang lediglich ein paar Kernpunkte von Carnaps System genauer diskutiert und diese Diskussion könnte fast beliebig fortgesetzt werden. Allein ihr Umfang würde dann allerdings den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Wenden wir uns darum jetzt nur noch einigen wichtigen von Carnaps Ausführungen zu, die sich am Ende seines Werks finden. Im § 179 (S. 252 f) behandelt er das Problem der Aufgabe der Wissenschaft. Er stellt diesbezüglich, wie wir bereits gesehen haben, Folgendes fest: Das Ziel der Wissenschaft [vom Gesichtspunkt der Konstitutionstheorie aus] besteht darin, die wahren Aussagen über die Erkenntnisgegenstände zu finden und zu ordnen. (Nicht alle wahren Aussagen, sondern eine nach bestimmten Prinzipien zu treffende Auswahl; das teleologische Problem dieser Prinzipien soll hier nicht erörtert werden.) Um die Aufgabe in Angriff nehmen zu können, um überhaupt Aussagen über Gegenstände machen zu können, müssen diese Gegenstände konstituiert sein. (Denn sonst haben ihre Namen ja keinen Sinn.) Der Aufbau des Konstitutionssystems ist daher die erste Aufgabe der Wissenschaft. Die erste nicht im zeitlichen, sondern im logischen Sinne. (LA, S. 252) Die Feststellung, dass die Aufgabe der Wissenschaft im Finden und Ordnen der wahren Aussagen über die Erkenntnisgegenstände besteht, bildet einen fast nicht nachvollziehbaren Rückfall hinter Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre. Hatte dieser doch bereits darauf hingewiesen, dass Wahrheiten sehr einfach zu haben seien. Die Gründe für diese seine Behauptung waren zwar falsch, die Behauptung ist aber, wie ich in der einschlägigen Diskussion gezeigt habe, durchaus richtig. „ Drei ist eine Zahl zwischen eins und vier “ , „ Eine Katze ist größer als eine Spinne “ , „ Wasser ist eine Flüssigkeit “ , „ Morgen wird es entweder gutes oder schlechtes oder mittelmäßiges Wetter geben “ und Milliarden anderer solcher Wahrheiten lassen sich jederzeit mühelos produzieren. Die Aufgabe der Wissenschaft muss sicherlich enger gefasst werden. Carnap sagt zwar, dass er nicht an allen wahren Aussagen interessiert ist, doch er erläutert nicht, welche für die Wissenschaft von Interesse sein sind. 240 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="255"?> Auch die zweite Hälfte der oben zitierten Aussage erstaunt. Um überhaupt Aussagen über Gegenstände machen zu können, müssen diese Carnap zufolge konstituiert sein, denn sonst haben ihre Namen keinen Sinn. Carnap verwickelt sich hier offensichtlich in einen Selbstwiderspruch. Denn von den Begriffen, die er in der oben zitierten Passage gebraucht, hat er lediglich die der Konstitution und des Konstitutionssystems einigermaßen definiert. Alle anderen Begriffe (Ziel, Wissenschaft, Gesichtspunkt, Aussage, Erkenntnis, Gegenstand, Erkenntnisgegenstand, Prinzipien, Name, Sinn, Aufbau usw., ganz abgesehen von den Verben, Präpositionen usw.) werden von ihm gebraucht, ohne dass er sie je definiert oder konstituiert hätte. Damit hat seine Aussage seiner eigenen Darstellung nach zum größten Teil keinen Sinn. Für uns hat sie aber durchaus Sinn, was beweist, dass seine Hauptbehauptung in der zweiten Hälfte der obigen Passage falsch sein muss. Das Erstaunen ergibt sich nicht so sehr aufgrund des Inhalts der Behauptung, sondern aufgrund der Tatsache, dass Carnap diese recht offensichtliche Konsequenz seiner Feststellung entgangen ist. Interessanterweise wird die Behauptung, dass die Begriffe keinen Sinn haben, wenn sie nicht definiert, und/ oder nicht in ein Konstitutionssystem eingegliedert sind, ein paar Seiten weiter in leicht abgewandelter Form wiederholt. Nur dann können Worte als Zeichen von Begriffen angesehen werden, wenn sie entweder definiert sind, oder wenigstens definiert werden können; genauer: wenn sie in ein erkenntnismäßiges Konstitutionssystem entweder eingeordnet sind oder wenigstens eingeordnet werden können [. . .]. (LA, S. 259) Diese Formulierung macht die Sache nur noch schlimmer. Zum einen erweckt sie den Anschein, dass einen Begriff zu definieren, nach Carnap heißt, ihn in ein Konstitutionssystem einzuordnen. Man weiß aber, dass Begriffe auch dann schon definiert wurden, als man von einem Konstitutionssystem noch gar nicht zu träumen wagte. Zum anderen schafft diese Formulierung die Situation, in der man mit der Entscheidung, ob ein Wort Sinn hat (als Zeichen eines Begriffs angesehen werden kann) oder nicht, warten muss, bis man sich vergewissert hat, ob es definiert bzw. in ein Konstitutionssystem eingeordnet werden kann oder nicht, was selbstverständlich sehr lange dauern kann. Wie kann man jedoch überhaupt etwas, dessen Bedeutung man gar nicht versteht, in ein Konstitutionssystem einordnen? Man muss sich die Schwierigkeit konkret vor Augen führen: Wie kann man ein „ X “ , von dem man nicht weiß, was es ist, in ein solches System einordnen? ! Carnap spannt an dieser Stelle offensichtlich den Karren vor das Pferd. Ich habe übrigens am Anfang dieses Kapitels darauf aufmerksam gemacht, dass Carnap zwischen einem Begriff und einem Gegenstand kaum unterscheidet. Sein System soll „ ein erkenntnismäßig-logische[s] System der Gegenstände oder der Begriffe “ sein (S. 1). Wir wissen jedoch, dass zwischen diesen zwei Klassen von Objekten im Hinblick auf ihre jeweiligen 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 241 <?page no="256"?> Eigenschaften ein Unterschied besteht, der so groß ist, dass Frege sie als in zwei völlig unterschiedlichen Welten angesiedelt sah. Wissenschaft hat keine Grenzen. Wissenschaft und Philosophie Gegen Ende seines Werks, im § 180 ( „ Über die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis “ , LA, S. 253 - 256) stellt Carnap fest: „ Die Wissenschaft, das System begrifflicher Erkenntnis, hat keine Grenzen “ (LA, S. 253). Diese Feststellung mag zunächst als eine Polemik gegen Wittgenstein gewertet werden, der am Schluss seines Tractatus bekanntlich die These formulierte: „ Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ . 146 Es zeigt sich aber bald, dass Carnaps Formulierung nicht als Herausforderung an die Adresse Wittgensteins zu verstehen ist. Denn die nachfolgenden zwei Sätze des Logischen Aufbaus lauten: Das soll nicht heißen: es gibt nichts außerhalb der Wissenschaft, sie ist allumfassend. Das Gesamtgebiet des Lebens hat noch viele Dimensionen außer der Wissenschaft; aber die Wissenschaft stößt innerhalb ihrer Dimension an keine Schranke. (LA, S. 253) Das ist eine sehr optimistische Feststellung, die eigentlich zu begrüßen ist. Das Problem ist, dass wir nach der Lektüre von Carnaps Werk überhaupt nicht wissen, was wir unter dem Begriff der Wissenschaft verstehen sollen. Er hat ihn nämlich nirgends definiert, nirgends „ konstituiert “ und nirgends klar von anderen, verwandten Begriffen abgegrenzt. Es lässt sich folglich nicht beurteilen, ob diese Feststellung wahr oder falsch, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist. Es ist vielleicht besonders auffallend, dass Carnap das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft völlig unaufgeklärt lässt. Am Anfang dieses Kapitels habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass er von der „ neuen Philosophie “ bzw. der „ neuen Haltung des Philosophierens “ (LA, S. IV) spricht (die unter anderem darin bestehen solle, „ die ganze Metaphysik aus der Philosophie zu verbannen “ und jede These rational zu begründen (LA, S. V)). Das Vorwort seines Werks beginnt jedoch mit der Frage „ Was ist die Absicht eines wissenschaftlichen Buches? “ , wodurch der Eindruck entsteht, dass sein Buch ein wissenschaftliches und kein philosophisches sein will. Oder soll man das Verhältnis zwischen beiden als das der Identität vorstellen? Oder soll man die Philosophie als einen Teil der Wissenschaft betrachten oder vielleicht umgekehrt? Dass solche Fragen unbeantwortet bleiben, muss als ein wesentlicher Mangel von Carnaps Werk gewertet werden. Fazit Was sollen wir jetzt, am Ende dieser Betrachtungen von Carnaps Aufbau halten? Die Beurteilung fällt nicht leicht, zumal sie bereits in der Vergan- 146 Carnap zitiert diese Konklusion Wittgensteins am Ende seines Werks auf S. 261. 242 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="257"?> genheit äußerst kontrovers ausgefallen ist. So heimste Carnap einerseits das höchste Lob für sein Werk ein. W. V. O. Quine z. B. schrieb: „ Russell had talked of deriving the world from experience by logical construction [. . .] Carnap [. . .] set himself to the task in earnest. “ (Quine & Carnap 1990, S. 456; zitiert nach Misak 1995, S. 61), und er nannte den Aufbau „ a dazzling sequel to Russell ’ s project “ (Quine 1966, S. 667, zitiert nach Misak ebd., S. 62). Und Reichenbach meinte, dass dieses Werk der Erfüllung des Ziels des logischen Positivismus vielleicht am nächsten kam, das darin bestand, einen Empirismus zu entwickeln, der lediglich die Sinneswahrnehmung und die analytischen Prinzipien der Logik als die Quellen des Wissens anerkennt ( „ an empiricism which recognizes only sense perception and the analytic principles of logic as sources of our knowledge “ (Reichenbach 1949, S. 310, zitiert nach Misak ebd., S. 62). Dieser Ansicht schlossen sich z. B. Quine (1961) und Mohn (1978) an (beide zitiert in Moulines 1991, S. 264). Spätere Autoren fanden nicht weniger als sechs weitere unterschiedliche Hauptverdienste, die sie Carnap als dem Verfasser dieses Werks nachrühmten: So meinte etwa Kambartel (1968, zitiert in Moulines 1991, S. 264), dass der Aufbau den konsequentesten (wenn auch verfehlten) Versuch eines formalen Beweises der Erkenntnistheorie des klassischen britischen Empirismus sei; Hack (1977) und Sauer (1985) vertraten die Ansicht, das Werk bilde eine modernisierte und formalisierte Fassung der kantschen Formulierung der Grundlagen des wissenschaftlichen Wissens (Moulines ebd.); Runggaldier (1984) war er Überzeugung, dass es im besten Sinne die konventionalistische Philosophie repräsentiere (Moulines ebd.); für Vuillemin (1971) bestand das größte Verdienst des Werks darin, dass es die erste systematische Anwendung der modernen Logik in der Frege-Russell-Tradition auf ein Feld außerhalb der reinen Mathematik sei, und zwar auf die Welt der phänomenalen Erfahrung (Moulines ebd.); Goodman (1963) und Moulines (1973) argumentierten, dass der Aufbau die erste präzise Formulierung eines phänomenalistischen Systems darstelle, d. h. eines Systems, das die minimale begriffliche Basis setze, die notwendig sei, um die durch die Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis zu rekonstruieren (Moulines ebd.); schließlich waren Moulines (1973) und Kese (1988) der Auffassung, dass es ein Model avant la lettre für ein System der künstlichen Intelligenz darstelle (Moulines ebd.). Auf der anderen Seite war der Aufbau auch Zielscheibe schärfster Kritik. Goodman hat diese folgendermaßen knapp zusammengefasst: The Aufbau is a crystallization of much that is widely regarded as worst in 20 th century philosophy. It is an anathema to anti-empirical metaphysicians and to alogical empiricists, to analytic Oxonians and to anti-analytic Bergsonians, to those who would exalt philosophy above the sciences and to those who would abolish philosophy in favor of the sciences. A good part of current polemical writings in philosophical journals is directed against views found in virulent form in the Aufbau. The Aufbau stands preeminent as a horrible example. (Goodman 1963, S. 545) 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 243 <?page no="258"?> Wie können wir uns heute diesen weit divergierenden Aussagen gegenüber positionieren? Mir scheint, dass man die philosophische Hauptstoßrichtung des Aufbaus von den möglichen Anwendungen im Bereich der AI 147 abgesehen heute als radikal verfehlt betrachten muss. Das Ideal der Zurückführung der Wahrnehmungswelt oder der Wahrnehmungserfahrung bzw. des Wahrnehmungswissens auf die formale Logik muss heute als eine unverständliche Chimäre erscheinen. Es hätte Carnap klar sein müssen, dass die logischen Aussagen für die wichtigsten Elemente und Aspekte unserer Erfahrungswelt blind sind. Denn die Formulierung „9 x a(x) ( „ Es gibt ein x, dass a(x) “ ) ist formal identisch mit „9 x b(x) ( „ Es gibt ein x, dass b(x) “ ), und für die Logik spielt es keine Rolle, dass a(x) heißt, „ x ist ein Mörder “ , während b(x) heißt, „ x ist ein Heiliger “ . Für unsere Welt spielt dieser Unterschied aber eine entscheidende Rolle. Ähnliches lässt sich über Aussagen mit zweistelligen Relationen sagen: „9 x, 9 y xAy “ ( „ Es gibt ein x und es gibt ein y, so dass, xAy “ , ist formal identisch zu „9 x, 9 y xBy “ und zu „9 x, 9 y xCy “ , wobei A heißen kann „ auf der Matte “ , B „ auf dem Tisch “ , C „ auf dem Mars “ , so dass die entsprechenden logischen Formeln als „ Die Katze ist auf der Matte “ oder „ Die Maus ist auf dem Tisch “ oder „ Hans Müller ist auf dem Mars “ und auf unzählige andere Weisen expliziert werden können. Aus unserer Sicht ist viel weniger wichtig, dass es ein x und ein y gibt, die eine bestimmte Relation erfüllen bzw. in einer bestimmten Relation mit bestimmten formalen Eigenschaften (z. B. Reflexivität, Symmetrie, Transitivität) stehen, sondern welches x und welches y in welcher konkreten Relation zueinander stehen. Die Welt lässt sich nicht auf Logik und logische Verhältnisse reduzieren! ! Wie wir gesehen haben, illustrierte Carnap seine Ausführungen gerne mit Beispielen aus der Mathematik bzw. der Geometrie. Sein Programm war inspiriert durch die erfolgreiche Rückführung der Arithmetik auf Logik durch Russell und Whitehead. Seine Vorgehensweise basierte aber auf einer unausgesprochenen und unreflektierten, als selbstverständlich angenommenen Prämisse: So wie die Welt der Mathematik und Logik funktioniert, so muss auch die ganze Welt funktionieren. Wir haben bereits anlässlich der Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre gesehen, dass diese Prämisse bzw. Annahme völlig unbegründet ist, denn obschon es einfach einzusehen ist, dass sich die Geometrie aus einigen wenigen primitiven Elementen Schritt für Schritt aufbauen lässt, und es ebenso einsichtig ist, dass sich Ähnliches mit der Mathematik vollziehen lässt, folgt daraus keineswegs, dass das Gleiche für die Welt der phänomenalen Erfahrung gilt. Geometrie ist leicht auf Punkte und Linien zurückführbar. Es ist jedoch ein gewaltiger und unberechtigter Gedankensprung, aus dieser Tatsache zu schließen, dass die Welt der Bäume, Blumen, Bienen, Wolken, Berge, Bäche, Kühe, Katzen, Vögel 147 Diese hat Moulines 1991 ausführlich diskutiert, ich werde jedoch auf diese (mögliche) Anwendung von Carnaps Überlegungen hier nicht eingehen. 244 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="259"?> und Menschen ebenfalls auf irgendwelche primitiven, einfachen Elemente zurückführbar ist und aus diesen „ rekonstruiert “ werden könnte. Carnap versuchte die Welt der physischen Eigenschaften als ein System von geordneten Quadrupeln darzustellen (Carnap 1963, S. 19). Er vertrat die Ansicht, man könne den Raum als ein System von drei räumlichen und einer zeitlichen Dimension rekonstruieren und jedem solcher Punkte eine bestimmte Sinnesqualität (z. B. Farbe) und einen bestimmten Wert einer physikalischen Größe zuordnen. Bereits Goodman wies auf den völlig illusorischen Charakter dieser Vorstellung hin: Carnap gives [. . .] as examples of admissible atomic statements: ‘ This space-time point is warm ’ and ‘ at this space-time point, is a solid object ’ . Obviously no mathematical space-time point is warm, and at no such point is there any object that is solid or red or that has any other observable quality; observable qualities belong to objects of perceptible size. (Goodman 1963, S. 550) Schlimmer noch: kein raumzeitlicher Punkt hat Masse, Ladung, Spin, usw. Diese rein physischen Eigenschaften lassen sich erst Elementarteilchen zuschreiben. Die Eigenschaften der Elementarteilchen können also nicht als die Summe der Eigenschaften der von ihnen „ eingenommenen “ raumzeitlichen Punkte betrachtet werden. Umso weniger ist es möglich, die Eigenschaften eines Baumes, einer Kuh und schließlich eines Menschen als Summe/ Durchschnitt/ Kombination der Eigenschaften der von ihnen „ eingenommenen “ raumzeitlichen Punkte zu betrachten. Carnap nahm an, weil die Welt der Mathematik und Geometrie sich auf einfache Elemente zurückführen lässt, müsse sich die ganze Welt auf einfache Elemente zurückführen lassen. Ein anderer Schluss wäre in dieser Situation möglich und sogar zulässig: Die Welt der Mathematik und Geometrie funktioniert so, dass sie sich auf einige wenige primitive Elemente reduzieren, zurückführen lässt, die phänomenale Welt lässt sich nicht so reduzieren, also wird die Erkenntnis der phänomenalen Welt andere Prinzipien und Methoden verlangen als die, welche für die Erkenntnis der Welt der Mathematik und Geometrie ausreichend sind. Da er an diesem entscheidenden Punkt die falsche Richtung eingeschlagen hat, konstruiert er eine Welt, die letztendlich eine Gespensterwelt oder eine gespenstische Welt ist. Ähnliches lässt sich über eine weitere Annahme Carnaps sagen, die man als eine Konsequenz der obigen betrachten kann: dass die Strukturaussagen die einzig objektiven Aussagen sind und dass sich alle Aussagen der Wissenschaft auf Strukturaussagen zurückführen lassen müssen, dass „ alle wissenschaftlichen Aussagen [. . .] Strukturaussagen [sind] “ (§ 16, LA, S. 20, vgl. auch S. 15, 19, 21). Die Welt ist emphatisch mehr als eine bloße Struktur, und wenn die Wissenschaft die Welt beschreiben oder erkennen will, so muss sie emphatisch mehr liefern als bloße Strukturaussagen. Carnaps Beispiel der Eisenbahnkarte (§ 14, LA, S. 17f.) machte das Problem deutlich. Wie ich bereits oben auseinandergesetzt habe, können wir einer solchen Karte 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 245 <?page no="260"?> höchsten entnehmen, wo sich bestimmte Bahnhöfe ungefähr befinden, in welcher Entfernung sie voneinander liegen und in welchen Verhältnissen sie zueinander stehen. Aber wir wissen noch nichts Wirkliches über die Städte, die auf der Karte mit bloßen Punkte markiert sind, wir wissen nichts über die Häuser und Straßen, die Läden, Restaurants, Kaffees und Parks und nichts über ihre Bewohner und deren Leben. Um diese Dinge kennen zu lernen, müssen wir die „ schwarzen Pünktchen “ , die Städte erst besuchen. Zu behaupten, Strukturaussagen sind die einzigen Aussagen, die zählen, ist ein wenig, als ob man behaupten wollte, das Knochengerüst des Menschen ist alles, was wir von ihm wissen können und sollen. Struktur ist zweifelsohne wichtig, aber Knochen allein sind recht unappetitlich. Man braucht auch Fleisch (Muskeln), innere Organe und sogar Haut usw., um das einigermaßen vollständige Bild des Menschen zu haben, und man muss etwas von seiner Biographie wissen, um sagen zu können, dass man diesen Menschen, diese Person, zumindest einigermaßen kennt. Carnap verrät die ihn antreibenden Motivationskräfte, indem er vom Ziel der Entmaterialisierung spricht: „ [Strukturbeschreibung] bildet die höchste Stufe der Formalisierung und Entmaterialisierung “ (§ 12, LA, S. 15, s. auch oben). Was sollen/ wollen wir „ entmaterialisieren “ und warum? Man hat den Eindruck, Carnap will sich der Substanz, des Inhalts entledigen und nur die Form, die Struktur zurückbehalten. Aber ist die Substanz, der Inhalt um der Form, der Struktur willen da oder die Form, die Struktur um des Inhalts, der Substanz willen? Im Übrigen widerspricht Carnap an dieser wie auch an mach anderer Stelle seinem wissenschaftlichen Credo: „ Jede wissenschaftliche These muss sich rational begründen lassen “ (LA, S. V). Die obigen Zielsetzungen erfahren keine solche rationale Begründung. Das Streben nach Formalisierung und nach Struktur anstelle des Inhalts führte im logischen Positivismus bzw. Empirismus später zum Ideal der Axiomatisierung jeglicher Theorie, dem Ideal, das zwar in Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre eine Rolle spielt, im Aufbau jedoch noch nicht. Dieses Ideal kann man aus heutiger Perspektive als ein Überbleibsel der newtonschen Mechanik betrachten, die tatsächlich auf einige wenige Axiome reduziert bzw. von ihnen abgeleitet werden kann. Für die Quantenmechanik lässt sich eine solche Reduktion allerdings nicht durchführen. Es ist deshalb sehr verständlich, dass bereits in den 50er Jahren ein Physiker Carnaps Vorhaben mit der Feststellung quittierte: „ Physics is not like geometry; in physics there are no definitions and no axioms ” (Carnap 1963, S. 37). 148 Die Ausrichtung auf die Form, die Tendenz zum Formalisieren (Moss betrachtet diese Tendenz sogar als eine Art persönliches Credo Carnaps (Moss 1965, S. 28)) findet, wie bereits vermerkt, im krassen Widerspruch zu Carnaps eigenen wissenschaftlichen Prinzipien keine rationale Begründung 148 Auf der anderen Seite schreibt Moulines noch 1991, dass, wenn etwas eine Theorie sei, man sie axiomatisieren können sollte (Moulines 1991, S. 271). 246 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="261"?> im Aufbau. Woher kommt sie dann? Einerseits muss sie einfach als Carnaps persönliche Präferenz oder sogar als persönliche Veranlagung betrachtet werden. Wir haben gesehen, dass Carnap in seiner Autobiographie einräumt, dass er das Gefühl hatte, einen Begriff oder eine Präposition erst dann klar verstanden zu haben, wenn er ihn oder sie in symbolischer Sprache ausdrücken konnte (Carnap 1963, S. 11). Das Gleiche lässt sich sicher nicht von jedem Menschen sagen. Auf der anderen Seite muss man diese Tendenz als als ein „ Zeitgeist “ -Phänomen sehen. Es ist sehr auffallend, dass das späte 19. Jahrhundert und das frühe 20. Jahrhundert große Triumphe der formalen Logik und ihrer Anwendung auf die Mathematik in den Werken der Protagonisten Frege, Russell und Whitehead erlebten. Wie wir in Carnaps Autobiographie gesehen haben, gab es damals zugleich eine große Gruppe von führenden Intellektuellen, die ähnlich wie Carnap dachten und die sich auf verschiedene Länder verteilten: neben Deutschland (vor allem) auf England, Polen und die Vereinigten Statten. Es ist auch äußerst interessant zu sehen, dass sich zwischen diesen Menschen, unter denen Carnap wohl im Zentrum stand, lebhafte persönliche Kontakte entwickelten. Mehr noch, man hat den Eindruck, dass Carnap völlig Recht hat mit seiner Einschätzung, dass das Denken seiner Zeit allgemein, d. h. abgesehen von der auserwählten Gruppe, die direkt zur Entwicklung des logischen Positivismus beigetragen hat, zum Nominalismus tendierte (vgl. LA § 27, S. 37). Ich habe aber bereits früher darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein einer starken und stark „ vernetzten “ Gruppe von gleichgesinnten Spitzenintellektuellen keineswegs die Garantie dafür liefert, dass ihre Überzeugungen richtig bzw. wahr sind. Der Mangel an Einsicht in die Voraussetzungen seines eigenen Denkens manifestierte sich bei Carnap auch an mindestens zwei anderen Stellen. Zum einen geht es hier um seine Haltung gegenüber seinem Verfahren der „ Konstitution “ der phänomenalen Welt aus den „ eigenpsychischen Daten “ . Carnap schreibt: „ I was guided in my procedure by psychological facts concerning formation of concepts of material things out of perceptions “ (Carnap 1963, S. 16). Diese Feststellung ist vielleicht verständlich im Kontext des Stands des psychologischen Wissens seiner Zeit (1925 - 1930), heute wissen wir aber, dass die vermeintlichen „ Tatsachen “ , keine waren, sondern bloße Annahmen. Die Vorstellung, dass man die Gegenstände der phänomenalen Welt aus „ Farbflecken “ oder „ einzelnen Positionen im Sichtfeld “ aufbauen könnte, hat sich letztendlich als illusorisch erwiesen. Die Entdeckung von David Hubel und Torsten Wiesel aus den 60er Jahren, die auf den allmählichen Aufbau des Wahrnehmungsbildes aus einzelnen Elementen zu deuten schien, erwies sich als ein Holzweg. Die höheren Sehzentren in der Hirnrinde arbeiten nicht als Summationsflächen für niedrigere Zentren und es fehlt im Gehirn offensichtlich die Projektionsfläche, auf welcher das Wahrnehmungsbild aufgebaut und „ angeschaut “ werden könnte. Man kann zweifelsohne ein beliebig komplexes Bild auf einem Bildschirm aus einzelnen Pixeln entstehen lassen, man kann sogar 3-D-Gegenstände aus 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 247 <?page no="262"?> einzelnen Pixeln „ drucken “ , es ist jedoch offensichtlich, dass der Computer, der das Bild auf dem Bildschirm produziert, oder der 3-D-Drucker, der den 3- D-Gegenstand druckt, das Bild/ den Gegenstand nicht wahrnimmt. Carnaps Fehleinschätzung bezüglich des Status des wissenschaftlichen Wissens seiner Zeit (als Tatsachen statt als Annahmen) mahnt auch heute zur Vorsicht: welche von den heute als wissenschaftliche Tatsachen geltenden Behauptungen werden die Probe der Zeit bestehen, welche werden in 70, 100 oder gar 500 Jahren noch zum Kanon der Wissenschaft gehören? Wir wissen das nicht und können es überhaupt nicht einschätzen. Der oben genannte Mangel an Einsicht ist noch eklatanter im Falle von Carnaps Behauptung, in seiner Theoriebildung ontologische Neutralität zu bewahren, metaphysikfrei zu denken, neutral in Bezug auf die traditionellen Kontroversen: Realismus versus Idealismus, Platonismus versus Nominalismus, Materialismus versus Spiritualismus zu sein (Carnap 1963, S. 18). Carnaps vermeintliche ontologische Neutralität muss als Ontologiebzw. Metaphysikblindheit betrachtet werden. Wenn Carnap davon spricht, dass das Denken seiner Zeitgenossen (und sein eigenes) zum Nominalismus neigte, dann sagt er damit auch, dass seine Zeitgenossen und er selbst zu einer spezifisch ontologischen, also auch metaphysischen Position neigten. Wenn er schreibt, dass „ [w]ith respect to the problem of the basis, my attitude was again ontologically neutral “ (ebd.), scheint er nicht zu merken, dass, unabhängig davon, ob er von „ eigenpsychischen Daten “ oder „ physikalistischen Daten “ als Basis ausgeht, er fest im nominalistischen, materialistischen Denkens verankert ist. Es kommt ihm überhaupt nicht ernsthaft in den Sinn, dass die Begriffe den Wahrnehmungen gegenüber primär sein könnten, insofern als sie diese strukturieren, und nicht erst als eine Art Abstraktion aus den Wahrnehmungen gewonnen werden. Dies ist für ihn keine Option, weil ihre bloße Erwägung verlangen würde, dass man sich der Frage stellt, ob die Welt der Materie primär und die Welt des „ Geistes “ ein Produkt derselben ist, oder ob es sich nicht eher umgekehrt verhält. Eine diesbezügliche ontologische, metaphysische Entscheidung hat Carnap bereits als Jugendlicher getroffen, indem er - wie er schreibt - den Glauben allmählich aufgegeben hatte. Aber nach dieser Wende ist er selbstverständlich keineswegs ontologisch neutral gesinnt. Im Gegenteil: er ist so stark in einer bestimmten ontologischen Position verfangen, dass er sie nicht mal mehr als eine solche wahrnimmt. So wie ein Fisch, der im Wasser schwimmt, nicht merkt, dass es etwas anderes in dieser Welt geben könnte. Deshalb kann Carnap auch ohne irgendwelches Unbehagen nach einem Bild der Wirklichkeit streben, das der laplaceschen Form des Determinismus nachgebildet ist (ebd., S. 15). Die Notwendigkeit, ein solches Bild (das sich übrigens, wie wir heute wissen, auch in der Physik als falsch erwiesen hat) zuzulassen, würde manch einem Philosoph Kopfzerbrechen, schlaflose Nächte und Gewissensbisse bereiten, für Carnap ist es völlig unproblematisch, weil er eben in einem bestimmten ontologischen Fahrwasser schwimmt und sich in ihm pudelwohl fühlt. 248 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="263"?> Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Umstand, dass Carnap von seinem geliebten Frege nur das übernimmt, was ihm zu Passe kommt: die formale Sprache der Logik. Wo aber Frege auf die Notwendigkeit der Annahme einer nicht-nominalistischen, unter ontologischen Gesichtspunkten letztlich platonischen „ dritten Welt “ hinwies (Freges einschlägiger Aufsatz „ Der Gedanke “ erschien bereits 1918), hält es Carnap überhaupt nicht nötig, sich mit dem Problem ernsthaft auseinanderzusetzen. Der Mangel an Einsicht in die Voraussetzungen bzw. die Folgen des eigenen Denkens zeigt sich im Falle von Carnap mit aller Deutlichkeit auch dann, wenn man versucht, seine Prinzipien auf seine eigene Theorie anzuwenden. 149 Betrachten wir aus dieser Sicht nochmals eine der Kernaussagen in seinem LA: Er will ein „ Konstitutionssystem “ errichten, in dem gewisse Aussagen bzw. „ Gegenstände “ auf andere, niederstufige „ Gegenstände “ „ zurückführbar “ sind, wobei die „ Zurückführbarkeit “ von a auf b, c dann gegeben sei, wenn „ [f]ür jeden Sachverhalt in Bezug auf a [. . .] sich eine notwendige und hinreichende Bedingung angeben [lässt], die nur von b, c abhängt “ , oder „ [es] [. . .] für a ein zugleich untrügliches und nie fehlendes Kennzeichen [gibt], das ausdrückbar ist durch b, c “ (Zusammenfassung von § 47 auf S. 265 in LA). Lässt sich diese Prozedur auf Carnaps Theorie anwenden? Carnap selbst hat jedenfalls nicht einmal einen Versuch in diese Richtung unternommen und der Grund für diesen Mangel ist offensichtlich: man kann philosophische Sprache nicht aus irgendwelchen ursprünglichen ( „ primitiven “ ) Elementen aufbauen. Man kann so mit der Logik und mit der Mathematik verfahren, aber nicht mit der Philosophie. Darauf könnte Carnap erwidern, dass es ihm darum gegangen sei, den Charakter der wissenschaftlichen Aussagen zu beschreiben bzw. bestimmen und Philosophie keine Wissenschaft sei. Damit würde er sich jedoch unweigerlich ungemütliche Folgen einhandeln: Da er die Eigenschaften, den Charakter der Wissenschaft auf der Grundlage philosophischer Überlegungen zu bestimmen bestrebt ist, gibt er implizit zu, dass die Philosophie der Wissenschaft übergeordnet ist, dass also die Wissenschaft nicht die ganze Wirklichkeit zu umfassen vermag. Doch damit ergäbe sich ein ganzer Rattenschwanz von Problemen: Wie lässt sich in diesen anderen Bereichen das Geschäft der Erkenntnis überhaupt betreiben? Können diese anderen Gebiete und kann insbesondere die Philosophie überhaupt Erkenntnisse erlangen? Ist also dasjenige, was Carnap geleistet hat, überhaupt eine Erkenntnis? Gibt es höhere Formen der Erkenntnis als die wissenschaftliche Erkenntnis usw.? Carnap gibt uns in seinem Logischen Aufbau keinen Hinweis darauf, dass er sich dieser Probleme im Entferntesten bewusst war. Am Rande kann auch vermerkt werden, dass Carnaps Ausführungen im LA in ein ganz schiefes Licht geraten aus der Perspektive der später von den 149 Thomas Nagel hat bemerkt: „ It is usually a good strategy to ask whether a general claim about truth or meaning applies to itself “ (Nagel 1997, S. 15). 2 c Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt 249 <?page no="264"?> logischen Positivisten entwickelten Verifikationstheorie der Bedeutung, die grundsätzlich besagt, dass der Sinn eines Satzes mit der Methode der Verifikation der Aussage dieses Satzes identisch ist. 150 Da überhaupt nicht klar ist, mittels welcher Methode man den Wahrheitsgehalt der Sätze des LA verifizieren könnte, müsste man sie im Sinne des logischen Positivismus (auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung) eigentlich als lauter Unsinn bezeichnen! Wir haben im Manifest des logischen Positivismus, das Carnap zumindest als Koautor mitverfasst hat, die Behauptung zur Kenntnis genommen: „ In der Wissenschaft gibt es keine ‚ Tiefen ‘ ; überall ist Oberfläche “ (Manifest 1929, S. 11). Vielleicht gibt es in der Wissenschaft (und in der Welt) doch Tiefen, die man aber nicht sieht, weil man selber oberflächlich ist? Und weil man diese Tiefen nicht sehen will oder kann, erscheinen einem unterschiedliche ontologische Positionen, deren Annahme bzw. Nicht-Annahme tiefe existenzielle Konsequenzen mit sich bringt, bloß als „ Formen der Sprache “ (Carnap 1963, S. 17f.) oder in Wittgensteins Terminologie als „ Sprachspiele “ , die friedlich nebeneinander existieren können. Ich glaube, es lag mit an Carnaps „ ontologischer “ Oberflächlichkeit, dass er es nicht für nötig hielt, unter dem Eindruck der Entwicklungen, die sich zu seinen Lebzeiten z. B. in der Physik vollzogen (insbesondere die Entstehung der Quantenmechanik betreffend), seine Position zu revidieren, wie es z. B. Wittgenstein bekanntlich getan hat. J. M. B. Moss, der den eingangs bereits erwähnten XI. Band der Library of Living Philosophers, der 1963 erschien und Rudolf Carnap gewidmet war, für die Zeitschrift „ Analytic Philosophy “ rezensierte, fasste Carnaps philosophisches Schaffen folgendermaßen zusammen: The picture that emerges is one of an exceptionally clear thinker who, lacking what has traditionally been regarded as philosophical vision, has nevertheless been able to transform almost every field of the subject to which he has directed his activity. His work, whose motto might well be „ let us formalise “ is such that a substantial segment of contemporary philosophy consists of little more than footnotes to it. (Moss 1965, S. 25) Mit Blick auf seinen Aufbau 151 und ohne seine Verdienste schmälern zu wollen, ist mein Eindruck, dass diese letztendlich sehr positive Beurteilung heute deutlich negativer ausfallen würde. Mir scheint, dass Carnap nicht nur der „ philosophische Weitblick “ fehlte, sondern auch die philosophische Tiefe. (Ich habe auch meine großen Zweifel, ob man ihn als einen „ außergewöhnlich klaren Denker “ bezeichnen kann.) Carnap war ein „ Kind seiner Zeit “ : er traf auf eine Atmosphäre, die seiner Art des Philosophierens außerordentlich zuträglich war. Diese Atmosphäre ist einer anderen Atmosphäre gewichen und Carnap und seine Theorien sind heute, nur vierzig Jahre nach seinem 150 Vgl. unten Abschnitt „ Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus “ . 151 Man muss aber auch berücksichtigen, dass sich, wie eben erwähnt, die Hauptrichtung von Carnaps Denken Zeit seines Lebens nicht wesentlich verändert hat. 250 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="265"?> Tod, praktisch kein Thema mehr. Selbst viele auf Logik spezialisierte Philosophieprofessoren wissen nahezu nichts mehr von seinem großen zentralen Werk. 152 Sein Aufbau, der auf den ersten Blick als ein Musterbeispiel der Präzision und gedanklichen Stringenz erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine künstliche Konstruktion, die auf den wackligen Beinen willkürlicher - paradoxerweise - metaphysischer Annahmen errichtet wurde und in sich zusammenfällt, sobald diese Annahmen in Frage gestellt werden. In Anbetracht dieser Tatsache kann es kaum verwundern, dass das grundsätzlich auf diesen Annahmen errichtete Programm des logischen Positivismus bzw. des (späteren) logischen Empirismus ebenfalls in sich zusammengefallen ist. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus Rudolf Carnap hat in seiner Autobiographie geschildert, mit welcher Intensität Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus im Wiener Kreis studiert wurde. Da dieses Werk einen großen Einfluss auf dessen Programm hatte und an sich zu den wichtigsten Klassikern der Philosophie des 20. Jahrhunderts gehört, scheint es angebracht, dass wir uns mit ihm befassen, obwohl Ludwig Wittgenstein selbst weder dem Kreis noch der philosophischen Strömung angehörte, die man als „ logischen Positivismus “ bezeichnet. Er wurde, wie wir uns erinnern, im Manifest des logischen Positivismus auch nicht als Mitglied des Kreises genannt, sondern als einer der drei „ führenden Vertreter der wissenschaftlichen Auffassung “ (neben Einstein und Russell; s. oben: „ Aufkommen “ ). Biographie Bevor wir uns mit den Inhalten des Tractatus auseinandersetzen, ist es angebracht, dass wir uns wie im Fall von Schlick und Carnap ausführlicher mit dem Leben des Denkers befassen. Die Kenntnis der Biographie ist in Wittgensteins Fall besonders wichtig, nicht nur aufgrund ihrer Außergewöhnlichkeit, sondern auch weil sie, wie wir noch sehen werden, ein wichtiges Licht auf das zu behandelnde Werk wirft. 153 152 Ich könnte die Namen von mindestens drei Philosophieprofessoren in der Schweiz nennen, die ich bezüglich des LA konsultieren wollte und die wirklich nicht imstande waren, mir eine Auskunft zu geben. 153 Meine Schilderung von Wittgensteins Leben basiert zum größten Teil auf seiner Biographie aus dem Oxford Dictionary of National Biography (Hacker 2004) als auch auf der englischen Wikipedia, die nicht nur außergewöhnlich umfangreich, sondern auch außergewöhnlich gut recherchiert und dokumentiert ist. Ich habe mich allerdings darum bemüht, die Originalquellen der in dieser enthaltenen Informationen, soweit es mir möglich war, zu überprüfen. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 251 <?page no="266"?> Ludwig Wittgenstein wurde am 26. April 1889 in einer Familie mit jüdischen Wurzeln geboren; er war das jüngste Kind und der fünfte Sohn von Karl Wittgenstein (Karl Wittgenstein und seine Frau Leopoldine geb. Kalmus hatten insgesamt neun Kinder), der bereits in den 80er Jahren zu einem der reichsten Industriellen in Europa aufgestiegen war. Schätzungen zufolge waren die Wittgensteins nach den Rothschilds die zweitreichste Familie des Habsburger Reichs (Edmonds und Eidinow 2001, S. 63). Selbst nach der großen Depression 1938 besaß die Familie allein in Wien dreizehn Herrenhäuser (ebd., S. 102). Alle Kinder der Familie wurden katholisch getauft und wuchsen in einer ungewöhnlich seelisch reichen Umgebung auf, da die Familie Wittgenstein eines der kulturellen Zentren Wiens bildete. Bruno Walter beschrieb das Leben in dem Hauptsitz der Familie in Wien, dem sogenannten „ Wittgenstein Palast “ , als eine „ alles durchdringende Atmosphäre der Humanität und Kultur “ (Monk 1990, S. 8). Karl Wittgenstein war ein bekannter Kunstmäzen, der bei August Rodin Werke in Auftrag gab und den berühmten Ausstellungsort und die Kunstgalerie der Stadt, das Sezessionshaus, finanzierte. Gustav Klimt malte das Hochzeitsporträt von Wittgensteins Schwester Margarethe, und Johannes Brahms und Gustav Mahler gaben regelmäßige Konzerte in den zahlreichen Musikzimmern der Familie (ebd.). Karl Wittgenstein wollte, dass seine Söhne sein industrielles Imperium weiterführen. Sie wurden nicht in die Schule geschickt, sondern zu Hause unterrichtet, damit sie sich keine „ schlechte Gewohnheiten “ aneigneten. Drei der fünf Brüder verübten später Selbstmord. Karl Wittgenstein wird als ein strenger Perfektionist geschildert, dem es an Empathie mangelte, und seine Frau als eine ängstliche und unsichere Frau, die unfähig gewesen sei, sich ihrem Mann zu widersetzen. Ludwig Wittgenstein wurde von Heimlehrern unterrichtet bis er vierzehn war. Erst dann, und unter dem Einfluss des gewaltsamen Todes seiner zwei älteren Brüder, die dem Druck des Vaters, ihre künstlerischen Begabungen zugunsten der wirtschaftlichen Kariere zu opfern, nicht standhalten konnten bzw. wollten, gab Ludwigs Vater seine Erlaubnis, zwei von seinen verbleibenden Söhnen in die Schule zu schicken (Hacker 2004, S. 897). Es war aber für Ludwig bereits zu spät, um die Eintrittsprüfungen für das Gymnasium in der Wiener Neustadt bestehen zu können, so dass er die Realschule in Linz besuchen musste. Nebenbei: Adolf Hitler besuchte die gleiche Schule, war jedoch zwei Jahrgänge unter Wittgenstein und die beiden kannten sich sehr wahrscheinlich nicht (ebd.). Ludwig Wittgensteins Abschlusszeugnis war nicht glänzend. Seine einzige Bestnote (5) erhielt er in Religion, für Benehmen und Englisch bekam er lediglich eine 2, für Französisch, Geographie, Geschichte, Mathematik und Physik eine 3 und für Deutsch, Chemie, Geometrie und Freihandzeichnen eine 4. Er hatte große Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung und fiel aus diesem Grund in seiner schriftlichen Deutschprüfung durch. Wittgenstein war auch sehr musikalisch. Zwar lernte er in seiner Kindheit kein Instrument (später brachte er sich selbst das 252 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="267"?> Klarinettespielen bei), war aber imstande, ganze komplexe Kompositionen mit großer Genauigkeit und sehr ausdrucksstark zu singen (ebd.). Es war während der Realschulzeit, dass Wittgenstein seinen Glauben an Gott verlor (ebd.). Nach der Realschule besuchte er die Technische Hochschule in Berlin- Charlottenburg, wo er 1908 auch seinen Diplomabschluss machte. Seine Interessen zu dieser Zeit konzentrierten sich auf die Luftfahrtkunde (Monk 1990, S. 27). Im gleichen Jahr begann er ein Doktorstudium an der Victoria University in Manchester. Er hatte allerlei kühne Pläne, wozu auch das Entwerfen und Fliegen eines eigenen Flugzeugs gehörte. Er forschte über das Flugverhalten von Drachen in der oberen Atmosphäre und arbeitete an einem Entwurf eines Propellers mit kleinen Düsentriebwerken an den Flügelenden, den er 1911 patentieren ließ und der ihm ein Forschungsstipendium an der Universität sicherte (Hacker ebd., S. 898). Gleichzeitig begann er sich jedoch auch für die Grundlagen der Mathematik zu interessieren, insbesondere nach der Lektüre von Russells Principles of Mathematics und Freges Grundgesetzen der Arithmetik (ebd.). Er wurde von diesen Studien so eingenommen, dass er sein Interesse für die Luftfahrtkunde völlig verlor und zur Überzeugung gelangte, dass er sich dem Studium der Logik und der Grundlagen der Mathematik widmen müsse. Wittgenstein beschrieb sich in dieser Zeit als jemand, der in einem Zustand „ permanenter unbeschreiblicher, fast pathologischer Erregung “ lebte (Monk 1990, S. 30 - 35). Im Sommer 1911 besuchte er Frege in Jena, um ihm seine ersten Schriften auf diesen Gebieten zu zeigen. Wittgenstein wollte bei Frege studieren, dieser aber schlug ihm vor, nach Cambridge zu gehen, um bei Russell zu studieren, und so erschien Wittgenstein am 18. Oktober 1911 ohne Voranmeldung in Russells Räumen am Trinity College, Cambridge (Hacker 2004, S. 898). Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit in Bezug auf Wittgensteins Qualitäten, war Russell bereits im November dieses Jahres überzeugt, dass Wittgenstein ein Genie sei: „ [Wittgenstein] was perhaps the most perfect example I have known of genius as traditionally conceived, passionate, profound, intense and dominating “ (Russell 1998, S. 329). Drei Monate nach dessen Ankunft äußerte Russell seiner Liebhaberin Lady Ottoline Morrell gegenüber: „ I love him and feel he will solve the problems I am too old to solve. [. . .] He is the young man one hopes for “ (Monk 1990, S. 41), und 1916 schrieb er nach Wittgensteins Kritik an seinem Werk: „ His criticism, ‘ tho I don ’ t think he realized it at the time, was an event of first-rate importance in my life, and affected everything I have done since. I saw that he was right, and I saw that I could not hope ever again to do fundamental work in philosophy “ (Russell 1998, S. 282). Die beiden wurden Freunde. Schon am Ende des ersten akademischen Jahres in Cambridge hatte Wittgenstein das Gefühl, dass er von Russell nichts mehr lernen konnte (Hacker ebd., S. 898). Bereits 1912 wurde Wittgenstein Mitglied des exklusiven Cambridge Moral Sciences Club, einer einflussreichen Diskussionsgruppe für Philosophiedozenten und Stu- 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 253 <?page no="268"?> denten. Bald dominierte er die Treffen des Klubs und in denen frühen 1930er Jahren hörte er auf, sie regelmäßig zu besuchen, nachdem sich andere beschwert hatten, dass er niemandem außer sich selbst eine Chance gab, sich in den Diskussionen zu äußern (Edmonds und Eidinow 2001, S. 22 - 28). Laut Fania Pascal, einem Mitglied diese Clubs, war Wittgenstein ein „ disturbing centre of the evenings [. . .] He would talk for long periods without interruption, using similes and allegories, stalking about the room and gesticulating. He cast a spell “ (Klagge und Nordmann 2003, S. 333f.) (Dessen ungeachtet kam es 1946 im Rahmen der Klubtreffen zu einer berühmten Begegnung zwischen Wittgenstein und Karl Popper, auf die ich weiter unten ausführlicher eingehen werde.) Wittgensteins Vater starb am 20. Januar 1913. Sein Erbe machte Ludwig zu einem der reichsten Menschen in Europa (Hacker ebd., S. 898, Monk 1990, S. 71), er spendete jedoch einen Großteil seines Vermögens für österreichische Künstler und Schriftsteller (u. a. für Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Oskar Kokoschka; Hacker ebd., S. 899). Wittgenstein kam dann zu der Überzeugung, dass er in der Umgebung anderer Akademiker nicht zum Kern der ihn beschäftigenden Fragen würde vordringen können und so reiste er 1913 nach Norwegen, wo er in dem kleinen Dorf Skjolden den zweiten Stock eines Hauses für den Winter mietete. Später betrachtete er diese Zeit als eine seiner produktivsten Lebensabschnitte. Während dieses Aufenthalts ist seine Logik, der Vorläufer des Tractatus, entstanden. 1914 wurde Wittgenstein in Norwegen auf eigenen Wunsch von George Edward Moore besucht, der sechzehn Jahre älter war und bereits damals ein international anerkannter Philosoph und Dozent (Don) an der Cambridge Universität (und der später zu einem der führenden Vertreter der analytischen Philosophie in England wurde) (Hacker ebd., S. 899). Moore trat diesen Besuch nur widerwillig an, denn wie er schrieb, erschöpfte ihn Wittgenstein. Dieser wiederum betrachtete Moore als ein Beispiel dafür, wie weit man im Leben kommen kann, mit „ absolutely no intelligence whatever “ (Monk, 1990, S. 262). Es wurde bald offensichtlich, dass Wittgenstein erwartete, dass Moore die Rolle seines Sekretärs übernahm und seine Gedanken niederschrieb. Dabei wurde Wittgenstein jedes Mal wütend, wenn Moore einen Fehler machte (Edmonds und Eidinow, 2001, S. 45f.). Zurück in Cambridge bat Moore die Universitätsbehörden, Wittgenstein für seine Logik den Bachelor zuzuerkennen, seine Bitte wurde jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, dass das Werk den formalen Ansprüchen nicht genügte: es hatte keine Fußnoten und keine Einführung. Moore informierte Wittgenstein darüber, woraufhin dieser wütend wurde und im Mai 1914 an Moore schrieb: „ If I am not worth your making an exception for me even in some STUPID details then I may as well go to Hell directly; and if I am worth it and you don ’ t do it then - by God - you might go there “ (Monk 1990, S. 103). Moore war zutiefst verletzt. Seinem Tagebuch vertraute er an, dass er sich krank fühlte und den Brief nicht vergessen konnte. Die zwei sprachen bis 1929 nicht mehr miteinander (McGuinness 1988, S. 200). 254 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="269"?> Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Wittgenstein freiwillig für die österreichisch-ungarische Armee. Er glaubte, seinen Wert nur in der Konfrontation mit dem Tode erfahren zu können (Hacker ebd., S. 899). Typisch für ihn meldete er sich für den nächtlichen Dienst an einer Artilleriebeobachtungsstelle: für die Zeit und den Ort mit dem höchsten Risiko (ebd.). Wittgenstein kämpfte an verschiedenen Fronten und wurde mehrmals mit hohen militärischen Ordnen ausgezeichnet, darunter der Militärorden für Tapferkeit am Band mit Schwertern für sein „ außergewöhnlich mutiges Verhalten, Ruhe und Heroismus, die die Bewunderung der Truppe gewonnen haben “ (Waugh 2008, S. 114). 1918 wurde er zum Oberleutnant befördert und zur italienischen Front abkommandiert. Für seine Verdienste in der letzten österreichischen Offensive im Juni 1918 wurde Wittgenstein für die Goldene Medaille für Heldenmut, damals eine der höchsten Auszeichnungen in der österreichischen Armee, empfohlen, die er jedoch nicht erhielt, sondern er wurde „ lediglich “ mit der Militär-Verdienstmedaille ausgezeichnet (Monk 1990, S. 154). Während des Krieges führte er systematisch Notizbücher, in denen er neben seinen philosophischen Reflexionen auch Persönliches festhielt, u. a. seine Verachtung für den Charakter anderer Soldaten (Klagge 2001, S. 68). Es war auch während des Krieges, dass er Leo Tolstois Kurze Darlegung des Evangelium kaufte; er trug das Buch überall mit sich herum und empfahl es jedem leidenden oder verzweifelten Menschen mit einer solchen Eindringlichkeit, dass er von seinen Mitsoldaten bald „ der Mann mit den Evangelien “ genannt wurde (Monk 1990, S. 116). 1916 las er Dostojewskis Die Brüder Karamasow, und das so oft, dass er ganze Passagen des Buches auswendig kannte, insbesondere die Reden des alten Sosima, der für ihn ein mächtiges christliches Ideal von einem Heiligen repräsentierte, der „ direkt in die Seele anderer Menschen sehen konnte “ (ebd., S. 136). Russell stellte fest, dass Wittgenstein „ wie verwandelt “ aus dem Krieg zurückgekehrt war, als ein Mensch mit einer tiefen mystischen und asketischen Haltung (ebd., S. 183). Einen Militärurlaub im Sommer 1918 verbrachte er in einem der Sommerhäuser seiner Familie in Wien, wo er im August seinen Tractatus vervollständigte. Er reichte das Buch unter dem Titel Der Satz dem Verlag Johada und Siegel ein. Kurz danach kam es zu einer Reihe von Ereignissen, die Wittgenstein zutiefst betrübten. Am 13. August 1918 starb sein Onkel, am 25. Oktober erfuhr er, dass Johada und Siegel sich entschieden hatten, das Buch nicht zu veröffentlichen, am 27. Oktober schied mit Kurt bereits der dritte seiner Brüder freiwillig aus dem Leben. Um diese Zeit erreichte ihn auch die Nachricht, dass sein bester Freund David Pinsent bei einem Flugzeugunglück im Mai gestorben war. In Wittgenstein wuchs die Verzweiflung und er trug sich mit Selbstmordgedanken. Nach dem Urlaub wurde er erneut an die italienische Front geschickt und dort infolge der Niederlage der österreichischen Armee von den alliierten Kräften gefangen genommen. Er verbrachte danach neun Monate in einem italienischen Kriegsgefangenenlager. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 255 <?page no="270"?> Am 25. August 1919 kehrte er zu seiner Familie nach Wien zurück, wobei er Berichten zufolge physisch wie seelisch völlig verbraucht gewesen sei. Er redete ständig von Selbstmord und versetzte damit seine Schwestern und seinen einzigen noch verbliebenen Bruder in Schrecken. Er hatte zwei Entschlüsse gefasst: sich an einem Lehrerseminar zum Grundschullehrer ausbilden zu lassen und sich von seinem Vermögen zu trennen. Er verteilte es unter seinen Geschwistern. Sie betrachten ihn als gestört, willigten aber ein (Bartley 1994, S. 33 - 39, 45). Ab September 1919 besuchte Wittgenstein die Lehrerbildungsanstalt in Wien, im Sommer 1920 arbeitete er als Gärtner in einem Kloster. Er bewarb sich unter einem falschen Namen für eine Lehrerstelle in Reichenau und bekam sie, entschied sich jedoch, die Stelle nicht anzutreten, als seine wahre Identität bekannt geworden war. Bald danach bekam er seine erste Stelle unter seinem eigenen Namen im abgelegen, lediglich ein paar Hunderte Einwohner zählenden Dorf Trattenbach im Osten Österreichs. In seinen ersten Briefen bezeichnete er es als schönen Ort, aber bereits im Oktober 1921 schrieb er an Russell: „ I am still at Trattenbach, surrounded, as ever, by odiousness and baseness. I know that human beings on the average are not worth much anywhere, but here they are much more good-for-nothing and irresponsible than elsewhere “ (Klagge 2001, S. 185). Bald wurde er zum Objekt des Klatsches der Dorfbewohner, die ihn, milde gesprochen, exzentrisch fanden. Er hatte kein gutes Verhältnis zu seinen Lehrerkollegen, war aber selbst ein enthusiastischer Lehrer, der bereit war, einigen seiner Schüler auch spät am Abend Nachhilfestunden zu geben. Seine Schwester Hermine schaute ihm ab und an beim Unterrichten zu und stellte fest, dass seine Schüler „ literally crawled over each other in their desire to be chosen for answers or demonstrations “ (Malcolm 1981). Für die weniger begabten Schüler und Schülerinnen war er aber eher ein Tyrann. Die zwei ersten Unterrichtsstunden waren immer der Mathematik gewidmet und dies waren die Stunden, an die sich manche seiner Schüler später mit Grausen erinnerten (Monk 1990, S. 195). Sie berichteten, dass Wittgenstein die Jungen mit dem Stock traktierte und ihnen Ohrfeigen verpasste, während er die Mädchen an den Haaren zu ziehen pflegte (Bartley 1994, S. 107). In der Zeit seines Aufenthalts in Österreich wurde sein Tractatus 1921 in der Zeitschrift „ Annalen der Naturphilosophie “ zunächst auf Deutsch als Logisch-philosophische Abhandlung veröffentlicht. Wittgenstein war allerdings mit der Form dieser Veröffentlichung nicht glücklich und sah in ihr einen „ Raubdruck “ . Es sollte eine englische Übersetzung folgen und Russell hatte sich bereit erklärt, die Einführung zu schreiben, in der er die Wichtigkeit des Werks darlegen wollte, weil nicht sicher war, dass sich für die englische Fassung dieses schwer verständlichen Textes von einem als Philosoph noch unbekannten Verfasser überhaupt ein Verleger finden würde. Wittgenstein war jedoch nicht zufrieden mit Russells Leistung. Er verlor sein Vertrauen in ihn, fand ihn als Person aalglatt und seine Philosophie mechanistisch und meinte, Russell habe den Tractatus gründlich missverstanden (Edmonds und 256 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="271"?> Eidinow 2001, S. 35ff.). Das Buch ist schließlich 1922 in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen (Hacker ebd., S. 900). Im September 1923 besuchte Frank P. Ramsey (ein vielversprechender Mathematikstudent, Philosoph und der Übersetzer des Tractatus ins Englische, der 1930 gerade einmal dreißig Jahre alt starb) Wittgenstein in Österreich, um mit ihm über das Werk zu reden. Er wollte für die berühmte philosophische Zeitschrift „ Mind “ eine Besprechung des Tractatus schreiben (Monk 1990 S. 212). Er bemühte sich aber auch darum, Wittgenstein zur Rückkehr nach Cambridge zu bewegen. Ramsey berichtete in einem Brief an seine Eltern, dass Wittgenstein äußerst bescheiden in einem kleinen Zimmer lebte, das lediglich Raum bot für ein Bett, Waschtisch, einen kleinen Tisch und einen kleinen, harten Stuhl. Wittgenstein und Ramsey aßen ein schlichtes Abendessen bestehend aus grobkörnigem Brot, Butter und Kakao. Wittgenstein begnügte sich mit seinem mageren Lohn und akzeptierte keine Hilfe, auch von seiner Familie nicht. Ramsey schrieb an John Maynard Keynes: „ [Wittgenstein ’ s family] are very rich and extremely anxious to give him money or do anything for him in any way, and he rejects all their advances; even Christmas presents or presents of invalid ’ s food, when he is ill, he sends back. And this is not because they aren ’ t on good terms but because he won ’ t have any money he hasn ’ t earned [. . .]. It is an awful pity “ (Monk 1990 S. 220f.). Im April 1926, als Wittgenstein in Otterthal nahe Trattenbach unterrichtete, ist es zu einem Vorfall gekommen (der sogenannte Vorfall Haidbauer), der ihn zur Aufgabe seiner Lehrertätigkeit veranlasste und schwerwiegende Folgen für Wittgensteins Reputation hätte haben können. Einer seiner Schüler war der damals elf Jahre alte Josef Haidbauer, ein Junge, dessen Vater verstorben war und dessen Mutter in der Gegend als Magd arbeitete. Josef war ein langsamer Schüler und eines Tages schlug ihn Wittgenstein - offensichtlich am Ende seiner Geduld - zwei oder drei Mal so heftig auf den Kopf, dass der Junge zusammenbrach. Wittgenstein trug den bewusstlosen Josef ins Büro des Schuldirektors und verließ dann eilig das Schulgebäude. Auf dem Wege aber begegnete er einem gewissen Herrn Piribauer, dem Vater eines Mädchens namens Hermine, das Wittgenstein bereits früher so heftig an den Ohren gepackt hatte, dass sie blutete (Monk 1990, S. 224, 232f.). Piribauer war bereits durch andere Schüler aus Wittgensteins Klasse von dem Vorfall informiert. Er beschimpfte Wittgenstein, sagte ihm, er sei kein Lehrer, sondern ein Tierbändiger und wollte ihn von der Polizei festnehmen lassen. Am 28. April 1926 reichte Wittgenstein beim lokalen Schulinspektor seine Kündigung ein. Im Mai wurde eine offizielle Untersuchung des Vorfalls eingeleitet und der Richter ordnete ein psychiatrisches Gutachten über Wittgenstein an. Im August 1926 waren die Untersuchungen noch im Gange, später aber wurden sie nicht weiterverfolgt. Es wird vermutet, dass Wittgensteins Familie und ihr Geld eine Rolle dabei spielten und die Affäre vertuschen halfen (Waugh, 2008, S. 162; Monk ebd., S. 232). 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 257 <?page no="272"?> Nach diesem Vorfall arbeitete Wittgenstein einige Monate lang wieder als Gärtner des Klosters Hütteldorf, wo er auch darüber nachdachte, der Klostergemeinschaft als Mönch beizutreten. Zur gleichen Zeit etwa bat ihn seine Schwester Margarethe (derer Hochzeitsbild Klimt gemalt hatte) darum, ihr mit dem Entwurf ihres neuen Stadthauses zu helfen. Wittgenstein willigte ein und widmete sich der Arbeit zusammen mit einem Team von Architekten mit ganzer Seele. Er ging mit dieser Aufgabe anscheinend recht pedantisch um. Er konzentrierte sich auf die Fenster, Türen und Heizkörper und verlangte, dass alles genau so ausgeführt wurde, wie er es sich wünschte. Er brachte ein Jahr damit zu, die Türklinken zu entwerfen, und ein weiteres Jahr mit dem Entwurf der Heizkörper. Als das Haus fast errichtet war, verlangte Wittgenstein, dass die Decke eines Zimmers um 30 mm erhöht wurde, damit es exakt die von ihm gewünschten Proportionen hatte (Jeffries 2002). Der Tractatus war nun Gegenstand vieler Debatten unter den Philosophen und Wittgenstein erlangte zunehmend internationalen Ruhm. Er übte auch, wie wir bereits gesehen haben, einen starken Einfluss auf die Mitglieder des Wiener Kreises aus. 1927 machte Schlick persönliche Bekanntschaft mit Wittgenstein (Carnap 1963, S. 25) und informierte ihn über das Interesse des Kreises an seinem Buch und den eindringlichen Wunsch der Mitglieder, den Autor zu treffen, um mit ihm einige Punkte des Buches klären zu können. Wittgenstein war jedoch nicht bereit, diesem Wunsch zu entsprechen. Schlick hatte mehrere Gespräche mit Wittgenstein und dieser willigte schließlich in ein Treffen mit Weismann und Carnap ein. Die drei Mitglieder des Kreises (Schlick, Carnap und Weismann) trafen sich im Sommer 1927 dann mehrfach mit Wittgenstein. Schlick warnte seine Kollegen eindringlich, keine Diskussionen der Art, wie sie im Wiener Kreis üblich waren, mit Wittgenstein anzufangen, denn dieser wünschte sich solche unter keinen Umständen. Man solle sogar vorsichtig sein, Fragen zu stellen, weil Wittgenstein sehr sensibel sei und durch direkte Fragen leicht gestört werden könne. Die beste Haltung wäre Schlick zufolge die, Wittgenstein sprechen zu lassen und dann sehr vorsichtig anzufragen, wenn Klärungen absolut notwendig seien (Carnap ebd.). Carnap schreibt weiter, dass er bei der Begegnung mit Wittgenstein sofort merkte, dass Schlicks Warnungen völlig berechtigt waren. Wittgensteins eigenartiges Verhalten sei jedoch nicht durch Arroganz verursacht gewesen. „ In general, he was of a sympathetic temperament and very kind; but he was hypersensitive and easily irritated “ , schreibt Carnap (ebd.). Im Laufe dieser Diskussionen wurde aber bald offensichtlich, dass Wittgenstein eine andere Einstellung gegenüber der Philosophie vertrat als die Mitglieder des Kreises: His point of view and his attitude toward people and problems, even theoretical problems, were much more similar to those of a creative artist than to those of a scientist; one might almost say, similar to those of a religious prophet or a seer. When he started to formulate his view on some specific philosophical problem, we often felt the internal struggle that occurred in him at that very moment, a struggle 258 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="273"?> by which he tried to penetrate from darkness to light under an intense and painful strain, which was even visible on his most expressive face. When finally, sometimes after a prolonged arduous effort, his answers came forth, his statement stood before us like a newly created piece of art or a divine revelation. [. . .] [T]he impression he made on us was as if insight came to him as through divine inspiration, so that we could not help feeling that any sober rational comment of analysis of it would be a profanation. (Ebd., S. 25f.) Carnap betont, dass es einen markanten Unterschied gab zwischen Wittgensteins Haltung philosophischen Problemen gegenüber und seiner eigenen wie auch der von Schlick. Die Einstellung der Mitglieder des Wiener Kreises zu philosophischen Problemen unterschied sich nicht sehr von der, die Wissenschaftler ihren Problemen gegenüber einnehmen. Ihrer Ansicht nach stellte eine Diskussion von Zweifeln und Einwänden den besten Weg zur Überprüfung einer neuen Idee dar. Wittgenstein hingegen tolerated no critical examination by others, once the insight had been gained by an act of inspiration. I sometimes had the impression that the deliberately rational and unemotional attitude of the scientist and likewise any ideas which had the flavor of “ enlightenment ” were repugnant to Wittgenstein. (Ebd., S. 26) In den Diskussionen im Rahmen des Wiener Kreises zeigte sich auch ein interessanter Unterschied zwischen Wittgenstein und insbesondere Schlick hinsichtlich der Religion. Beide waren sich darin einig, dass die religiösen Doktrinen keinen theoretischen Inhalt hatten. Wittgenstein lehnte allerdings Schlicks Ansicht ab, wonach Religion zur Kindheitsphase der Menschheit gehöre und im Laufe der Kulturentwicklung langsam verschwinden werde (ebd.) Carnap zufolge deuteten solche Reaktionen auf einen starken inneren Konflikt hin zwischen Wittgensteins Gefühlsleben und seinem intellektuellen Denken. Carnap interpretiert diesen Konflikt folgendermaßen: die Einsicht, dass die Sätze der Metaphysik und Religion bedeutungslos sind, die Wittgenstein voll akzeptierte, waren für ihn, der mit sich selbst absolut ehrlich war, äußerst schmerzhaft. Carnap meint auch erkannt zu haben, dass Wittgenstein unter diesem inneren Konflikt seiner Persönlichkeit tief und schmerzhaft litt (ebd., S. 27). Auf Drängen von Ramsey und anderer kehrte Wittgenstein 1929 nach Cambridge zurück. John Maynard Keynes (1883 - 1946), 154 der zu jener Zeit ebenfalls in Cambridge tätig war und in Wittgensteins Kreis verkehrte, schrieb in einem Brief an seine Frau: „ Well, God has arrived. I met him on the 5.15 train “ (Monk 1990, S. 255). Trotz seines Ruhmes konnte Wittgenstein zunächst nicht an der Universität arbeiten, weil er über keinen universitären Abschluss verfügte. So bewarb er sich als advanced student. Russell war der Ansicht, dass seine Referenzen für eine Promotion genügten und forderte ihn auf, den Tractatus als seine These einzureichen. Diese wurde 154 Der also wie Russell, Schlick und manche andere von Wittgensteins Bewunderern älter war als er. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 259 <?page no="274"?> 1929 von Russell und Moore überprüft und angenommen. Am Ende der Verteidigung seiner Dissertation klopfte Wittgenstein den beiden Prüfern auf die Schulter und sagte: „ Don ’ t worry, I know you ’ ll never understand it “ (Monk 1990, S. 271). Wittgenstein wurde als Dozent berufen und wurde Fellow des Trinity College. 1939, nachdem G. E. Moore seinen philosophischen Lehrstuhl geräumt hatte, wurde Wittgenstein zu seinem Nachfolger gewählt. Bald danach erwarb er die britische Staatsangehörigkeit. Norman Malcolm, damals ein Post-Graduate Research Fellow in Cambridge, später ein einflussreicher Vertreter der analytischen Philosophie in Amerika und Wittgensteins Freund, beschrieb dessen Vorlesungen folgendermaßen: It is hardly correct to speak of these meetings as „ lectures “ , although this is what Wittgenstein called them. For one thing, he was carrying on original research in these meetings [. . .] Often the meetings consisted mainly of dialogue. Sometimes, however, when he was trying to draw a thought out of himself, he would prohibit, with a peremptory motion of the hand, any questions or remarks. There were frequent and prolonged periods of silence, with only an occasional mutter from Wittgenstein, and the stillest attention from the others. During these silences, Wittgenstein was extremely tense and active. His gaze was concentrated; his face was alive; his hands made arresting movements; his expression was stern. One knew that one was in the presence of extreme seriousness, absorption, and force of intellect [. . .] Wittgenstein was a frightening person at these classes. (Malcolm 1958, S. 25) Nach der Arbeit ging Wittgenstein oft ins Kino, um sich Western anzusehen und dabei zu entspannen. Er bevorzugte die vorderen Sitze. Norman Malcolm zufolge eilte Wittgenstein ins Kino, wenn die Lehrveranstaltung beendet war (Malcolm ebd., S. 26). Er las auch gerne Kriminalromane zur Entspannung (Hoffmann 2003). Während der Dreißigerjahre, angesichts der steigenden Flut des Nationalsozialismus und der Massenarbeitslosigkeit, und überzeugt vom baldigen Niedergang der europäischen Zivilisation, sympathisierte Wittgenstein mit dem Sowjetkommunismus. Er betrachtete Russland als ein vielversprechendes Experiment auf dem Felde der menschlichen und sozialen Beziehungen. Er lernte Russisch und erwog 1935 die Möglichkeit, die Philosophie aufzugeben und eine medizinische Ausbildung zu absolvieren, um sich dann in Russland als Assistenzarzt niederzulassen oder aber als Arbeiter auf einer Kolchose. Im September dieses Jahres verbrachte er zwei Wochen in Leningrad und Moskau, wo ihm Philosophieprofessuren in Moskau und in Kazan angeboten wurden. Es wurde ihm aber auch klargemacht, dass man seine Dienste als Arbeiter oder Assistenzarzt nicht benötigte (Hacker ebd., S. 904). Es war auch bereits in den Dreißigerjahren, dass sich eine Wende in Wittgensteins Denken vollzog, die später in seinem zweiten großen Werk, den Philosophischen Untersuchungen, kulminierte (ebd., S. 904 ff). P. M. S. Hacker schreibt, dass das Material für den ersten Teil der Untersuchungen (bis § 421) 260 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="275"?> bereits Ende des Sommers 1944 fertig vorlag (Hacker ebd., S. 905); das Werk wurde jedoch erst 1953 posthum veröffentlicht. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fand Wittgenstein es unerträglich, dass ein Krieg im Gange war und er Philosophie lehrte. Es machte ihn wütend, wenn einer seiner Studenten ihm erzählte, dass er professioneller Philosoph werden wollte (Malcolm 1958, S. 28). Im September 1941 bat Wittgenstein John Ryle, den Bruder des berühmten Philosophen Gilbert Ryle, ihm eine Arbeit im Guy ’ s Hospital in London zu beschaffen. John Ryle war Professor der Medizin in Cambridge und an den Vorbereitungen von Guy ’ s Hospital für die Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe beteiligt. Ihm gegenüber äußerte Wittgenstein, er würde langsam sterben, bliebe er in Cambridge, er wollte jedoch lieber schnell sterben. Kurze Zeit später begann er seine Arbeit im Krankenhaus als Apothekenportier, d. h., er lieferte die Medikamente aus der Apotheke an die entsprechenden Abteilungen, wo er den Patienten dann geraten haben soll, sie nicht zu nehmen (Monk 1990, S. 431ff.). Das Krankenhauspersonal war nicht darüber informiert worden, dass es sich bei ihm um einen der weltweit berühmtesten Philosophen handelte, obwohl ihn manche erkannten, diejenigen zumindest, die früher die Treffen des Moral Sciences Club besucht hatten, sie waren jedoch diskret. Eine dieser Personen bat Wittgenstein: „ Good God, don ’ t tell anybody who I am! “ (ebd., S. 432). Dennoch wurde er von manchen von ihnen Professor Wittgenstein genannt, und er durfte mit den Ärzten speisen. Am 1. April 1942 schrieb er: I no longer feel any hope for the future of my life. It is as though I had before me nothing more than a long stretch of living death. I cannot imagine any future for me other than a ghastly one. Friendless and joyless. (Ebd, S. 442) Während Wittgenstein im Guy ’ s Hospital arbeitete, ist er Basil Reeve, einem jungen Arzt mit Interesse an der Philosophie begegnet, der mit Dr. R. T. Grant die Schockwirkung auf die Opfer der Luftangriffe untersuchte. Als die Angriffe zu Ende gingen, gab es weniger Opfer zu studieren, und im November 1942 wechselten Grant und Reeve in die Royal Victoria Infirmary von Newcastle upon Tyne, um sich der Untersuchung der Opfer von Straßenverkehr und Industrie zu widmen. Grant bot Wittgenstein eine Laborantenstelle mit einem Wochenlohn von £ 4. Vom 29. April 1943 bis Februar 1944 lebte Wittgenstein dann in Newcastle (ebd., S. 447ff.). In diese Zeit fiel auch seine Erfindung eines verbesserten Geräts zum Aufzeichnen des Pulsdrucks und seiner Beziehung zu Atmungstiefe und -frequenz (Hacker ebd., S. 905). 1947 gab Wittgenstein seine Professur in Cambridge 1947 auf, um sich auf sein Schreiben zu konzentrieren, und reiste nach Irland. Er nahm auch die Einladung von Norman Malcolm an, der damals bereits Professor an der Cornell University war, ein paar Monate mit ihm und seiner Frau in Ithaca, New York, zu verbringen. Im April 1949 unternahm er die Reise, obwohl er, 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 261 <?page no="276"?> wie er Malcolm erzählt hatte, zu krank sei, um philosophisch zu arbeiten. Ein Arzt in Dublin hatte bei ihm eine Anämie diagnostiziert und ihm Eisen- und Leber-Tabletten verschrieben. Nach London zurückgekehrt, wurde bei ihm Prostatakrebs entdeckt, der sich bereits ins Knochenmark ausgebreitet hatte und darum nicht mehr operiert werden konnte. Am 25. April 1951 begann er mit Arbeiten an seinem letzten Manuskript. Tags darauf war sein 62. Geburtstag. Am Nachmittag dieses 26. April machte er einen Spaziergang und schrieb seinen letzten Tagebucheintrag. Am Abend verschlechterte sich sein Zustand deutlich und als sein Arzt ihm sagte, er würde wahrscheinlich nur noch wenige Tage leben, antwortete Wittgenstein: „ Good! “ . Joan Bevan, die Frau seines Hausarztes Edward Bevan, in dessen Haus Wittgenstein zu der Zeit lebte, blieb bei ihm in jener Nacht, und kurz bevor er am 29. April zum letzten Mal das Bewusstsein verlor, sagte er ihr: „ Tell them I ’ ve had a wonderful life. “ Nach Ansicht Norman Malcolms eine „ strangely moving utterance “ (Malcolm 1958, S. 80 f). Fazit Es zeichnet sich also ein eher zwiespältiges Bild von Wittgensteins Persönlichkeit ab. Auf der einen Seite ein vielseitiges Genie mit außergewöhnlichen Begabungen nicht nur für Mathematik, Logik und Philosophie allgemein, sondern auch für Technik und sogar Musik, eine äußerst einfühlsame, vielleicht auch äußerst empfindliche Person (Hacker spricht von Wittgensteins „ morbid sensitivity and irritable disposition “ ; Hacker ebd., S. 898), zutiefst ehrlich und zutiefst idealistisch, mit überragender, sogar überwältigender persönlicher Ausstrahlung (eine in diesem Zusammenhang interessante Tatsache ist, dass Wittgenstein eher klein gebaut und von schlanker Statur war; Hacker ebd., S. 909). Auf der anderen Seite jemand, der eindeutig zur Überheblichkeit, ja sogar Verachtung denen gegenüber neigte, die anders dachten oder in seinen Augen nicht auf seinem Niveau standen, und der so ungeduldig mit den Schwächen der Mitmenschen war, dass diese bei ihm sogar Gewaltausbrüche provozieren konnten. Auf der einen Seite ein Mensch mit einer Vorliebe für anspruchsvolle klassische Musik (Haydn bis Brahms) und Literatur (Goethe, Schiller, Lichtenberg, Lessing, Tolstoi, Dostojewski, den hl. Augustinus, Kierkegaard) (Hacker ebd., S. 897), auf der anderen Seite jemand, der eine gewisse Vorliebe für Western und Krimis zeigte. Was ebenfalls stark auffällt, ist, dass Wittgenstein, wie Carnap auch, in einem außergewöhnlich großen Kreis von äußerst einflussreichen Denkern, man könnte sogar sagen, Spitzendenkern seiner Zeit verkehrte und auf sie einen ungemein starken, fast magischen Einfluss ausübte. Es ist doch eher selten, dass man einen Denker mit Gott vergleicht, wie es kein Geringerer als John Maynard Keynes im Fall von Wittgenstein getan hat. Was aber im gegenwärtigen Kontext von besonderer Bedeutung ist, sind Wittgensteins religiöse, ja mystische Neigungen. Wie erinnern uns, dass er seinen von der Familie 262 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="277"?> „ ererbten “ Glauben in seiner Schulzeit verloren hatte, ihn jedoch während des Ersten Weltkriegs offensichtlich wiedergewann und von anderen Soldaten als „ der Mann mit den Evangelien “ bezeichnet wurde. Hacker schreibt, dass Wittgensteins religiöse Inbrunst in seinem späteren Leben verblasste; was ihm von dieser Phase geblieben sei, war „ a religious view of life, craving perfection and purity, beset with religious angst and guilt, but without religious faith “ (Hacker ebd., S. 900). Wittgensteins religiöse Überzeugugnen spielten jedoch zur Zeit der Abfassung des Tractatus zweifellos eine wichtige Rolle in seinem Leben. Lässt sich diese Seite seiner Persönlichkeit in seinem zentralen Frühwerk wiederfinden? Tractatus Mit dieser vielleicht eher überraschenden Frage können wir uns jetzt der Analyse des Tractatus 155 zuwenden. Dieses Werk kann als eine Art Fortsetzung des Russell-Whitehead ’ schen Programms der Zurückführung der Mathematik auf die Logik in den Bereich der Sprache betrachtet werden. So wie diese zeigten, dass sich das Gesamtbau der Mathematik von einigen einfachen Grundprinzipien ableiten lässt, so versucht Wittgenstein festzulegen, was sich nicht nur in der Mathematik, sondern überhaupt sagen lässt und wie dieses Sagbare eigentlich aus einfachen Bausteinen ableitbar ist. Im Vorwort stellt Wittgenstein fest, dass er mit seinem Buch dem Ausdruck von Denken und Sprache eine Grenze ziehen will: „ Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen “ (Tlp, S. 9, kursiv im Original). 156 Der Tractatus gilt als ein schwieriges Buch, folglich darf es nicht überraschen, dass die Urteile über Sinn und Wert des Werks weit auseinander liegen. So äußerte sich z. B. Karl Popper folgendermaßen darüber: Wittgenstein tried to show that all so-called philosophical or metaphysical propositions were in fact non-propositions or pseudo-propositions: that they were senseless or meaningless. All genuine (or meaningful) propositions were truthfunctions of the elementary or atomic propositions which described “ atomic facts ” , i. e. facts which can in principle be ascertained by observation. In other words they were fully reducible to elementary or atomic propositions which were simple statements describing possible states of affairs, and which be in principle established or rejected by observation. If we call a statement an “ observation statement ” not only if it states an actual observation but also if it states anything that may be observed we shall have to say that every genuine proposition must be a truthfunction of and therefore deducible from, observation statements. All other apparent propositions will be, in fact, nonsense; they will be meaningless pseudo-propositions. (Popper 1957, S. 163f.) 155 Im Weiteren: Tlp (vgl. Kürzelverzeichnis). 156 Vgl. Ebd., S. 33: „ Alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen “ , und S. 85: „ Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. “ 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 263 <?page no="278"?> Elizabeth (G. E. M.) Anscombe, eine der engsten Schülerinnen Wittgensteins, schreibt in ihrem dem Tractatus gewidmeten Buch, Poppers Ansicht sei „ the most common view of the Tractatus “ (Anscombe 1971, S. 25), wobei es sich allerdings, wie sie behauptet, um ein Missverständnis von Wittgensteins Intentionen handle (ebd., S. 26). Aber nicht nur „ mainstream “ -Philosophen missverstanden Wittgenstein. Seine Gesinnungsgenossen und sogar seine engsten Mitarbeiter taten das auch. So hatten z. B. die Mitglieder des Wiener Kreises zwar eine sehr hohe Meinung vom Tractatus und widmeten seinem Studium mehrere Monate (Misak schreibt sogar: „ all of 1926 - 7 “ ; Misak 1995, S. 49), lasen und diskutierten es Satz für Satz (Stadler 1997, S. 232). Dennoch hatten sie Mühe mit den Schlusspassagen des Buches. Rudolf Carnap empfahl, die abschließenden Sätze des Buches zu ignorieren. Wittgenstein reagierte darauf mit der Bemerkung an Schlick: „ Ich kann es nicht glauben, dass Carnap die letzten Sätze des Buches und somit die fundamentale Konzeption des ganzen Buches so vollständig missverstanden haben sollte “ (Conant 1995, S. 286). Mehr noch, als Bertrand Russell das Manuskript des Tractatus von Wittgenstein erhalten hatte (der damals im italienischen Kriegsgefangenlager inhaftiert war), schrieb er ihm mit einigen Kommentaren und Fragen zurück. Sein Brief ist nicht erhalten geblieben, es ist jedoch zu vermuten, dass er insbesondere die logischen Aspekte des Tractatus betonte. Wittgenstein erwiderte darauf: Now I ’ m afraid you haven ’ t really got hold of my main contention, to which the whole business of logical propositions is only corollary. The main point is the theory of what can be expressed (gesagt) by propositions - i. e. by language (and, what comes to the same, what can be thought) and what cannot be expressed by propositions, but only shown (gezeigt); which, I believe, is the cardinal problem of philosophy [. . .]. (Anscombe 1971, S. 161) Es scheint, dass Wittgenstein sogar damit gerechnet hat, dass seine Intentionen missverstanden werden. Georg Henrik von Wright, der finnische Philosoph, der den Philosophielehrstuhl nach Wittgensteins Abgang in Cambridge übernommen hatte, schrieb: He was of the opinion [. . .] that his ideas were generally misunderstood and distorted even by those who professed to be his disciples. He doubted he would be better understood in the future. He once said he felt as though he were writing for people who would think in a different way, breathe a different air of life, from that of present-day men. (Malcolm 1958, S. 6) Die Hoffnung auf diese Andersdenkenden und gleichsam in anderen Sphären lebenden Menschen hat sich aber kaum verwirklicht. Holm Tetens unterscheidet in seiner 2009 erschienen Werkinterpretation drei Klassen von Tractatus-Sätzen: 1) Sätze, die der Leser versteht und auch für wahr erachtet; 2) solche, die er immanent aus bestimmten Voraussetzungen Wittgensteins nachvollziehen kann, die er aber nicht für wahr hält, weil er die 264 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="279"?> betreffenden Voraussetzungen nicht teilt; und schließlich 3) Sätze, die für ihn rätselhaft bleiben. Bei Tetens heißt es dann: „ Für jeden Interpreten verteilen sich die Sätze des Tractatus ein wenig anders auf die drei erwähnten Klassen. Niemand kann sich die richtige und vollständige Interpretation dieses ungewöhnlichen und teilweise ungewöhnlich dunklen Buches zu Gute halten “ (Tetens 2009, S. 5). Eine neuere Leseart des Tractatus wird von der sogenannten „ New Wittgenstein “ -Interpretionsfamilie angeboten (Crary und Read 2000). Dieses sogenannte „ resolute reading “ ist umstritten und wird viel diskutiert. Die Hauptthese dieser Leseart ist die, dass Wittgenstein im Tractatus keine theoretische Darstellung der Sprache bietet, welche Ethik und Philosophie in ein mystisches Reich des Unsagbaren verweist, sondern vielmehr eine mit therapeutischem Zweck. Durch die Arbeit an den Sätzen des Buches kommt der Leser dahin zu erkennen, dass die Sprache alle seine Bedürfnisse perfekt befriedigt und dass die Philosophie auf einem falschen Verständnis des Verhältnisses zur Logik unserer Sprache fußt. Ist diese Interpretation richtig? Im Folgenden möchte ich Wittgensteins Werk einer kritischen, vielleicht sogar einer unverschämt kritischen, einer frechen Analyse unterziehen. Wittgenstein mit seiner überragenden Persönlichkeit ist nicht mehr da, und das ermöglicht es uns heute, sein frühes Hauptwerk nüchtern anzugehen. Ein solcher besonders kritischer Blick auf den Tractatus ist umso berechtigter, als sich bekanntlich Wittgenstein selbst einige Jahre nach der Veröffentlichung seines Erstlings von ihm distanzierte. Ironischerweise begann dieser Prozess kurz nachdem er sein Werk 1929 der University of Cambridge als eine Art Dissertationsersatz einreichte (und auf Grund dieser Schrift seine Doktorwürde erlangte; Hacker ebd., S. 903). Nur einige Monate später begann die Philosophie des Tractatus unter seinen Händen zu zerbröseln (ebd.). Betrachten wir also einige der Behauptungen dieses Werkes genau und fragen wir uns, ob sie uns ebenso selbstverständlich sind, wie sie es damals Wittgenstein 157 und vielen seiner illustren Zeitgenossen waren. Im Gegensatz zu den in den vorigen Kapiteln behandelten Werken von Schlick und Carnap macht es im Falle des Tractatus keinen Sinn, die Ausführungen des Verfassers zunächst kommentarlos zusammenzufassen, um sie dann in einem zweiten Schritt einer kritischen Analyse zu unterziehen. Es macht keinen Sinn, man sollte wohl besser sagen: ein solches Vorgehen ist im Falle des Tractatus nicht möglich. Denn dieses Buch stellt keine Entfaltung einer philosophischen Argumentation dar. Es beinhaltet vielmehr eine lange Reihe von Feststellungen, die, wie es scheint, ihrem Autor ebenso selbstverständlich sind wie die Aussagen der elementaren Geometrie oder Arith- 157 Damals, weil Wittgenstein seine Ansichten bekanntlich später im Leben grundlegend revidierte. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 265 <?page no="280"?> metik und folglich keiner Begründung bedürfen. Durch diese Form entsteht der Eindruck - wiederum im starken Kontrast zu Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre - , dass der Verfasser überhaupt nicht bereit ist, sich auf eine Diskussion seiner Thesen einzulassen. Entweder werden sie vom Leser, so wie sie sind, akzeptiert oder nicht. Und in letzterem Falle, hat man sich grundsätzlich nichts mehr zu sagen. Ein Vorgehen, das gut zu dem Eindruck von Wittgensteins Art passt, den Carnap bei ihren Begegnungen innerhalb des Wiener Kreises gewonnen hatte und den er, wie wir uns erinnern, folgendermaßen schilderte: „ [T]he impression he made on us was as if insight came to him as through divine inspiration, so that we could not help feeling that any sober rational comment of analysis of it would be a profanation “ (Carnap 1963, S. 25f.). Carnaps Schilderung von Wittgensteins Gebaren findet immerhin eine gewisse Bestätigung in dessen eigenen Worten im Vorwort zum Tractatus: „ [M]ir scheint [. . .] die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben “ (Tlp, S. 10, kursiv im Original, das ganze Vorwort ist kursiv gedruckt). Schon diese Selbstsicherheit des zur Zeit der Abfassung seines Werks erst 29 Jahre alten Wittgenstein ist bemerkenswert. Bereits aus dem Vorwort erfahren wir, dass es das Ziel des Buches ist, „ dem Denken eine Grenze zu ziehen “ (Tlp, S. 9), oder genauer, nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken, der Sprache. Es werden also der Sprache Grenzen gezogen, „ und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein “ , schreibt Wittgenstein. Bereits an diesem Punkt kann man stutzig werden. Wie kann man der Sprache Grenzen ziehen wollen? Die Sprache ist doch etwas Lebendiges, Sich-Entwickelndes, ihr Grenzen ziehen zu wollen gliche dem Vorhaben, einem Pferd oder einer Eiche vielleicht sogar einem Menschen Grenzen zu ziehen, zu bestimmen, wie sie sich verändern und entwickeln sollen. Wir wissen, dass wir das Wachstum der Pflanzen oder Tiere einigermaßen steuern können und dass wir einem unartigen Kind Grenzen setzen müssen. Im Allgemeinen aber freut man sich an dem ungehinderten Wachstum einer Eiche, an ihrer ungehinderten Entwicklung und an ihrem majestätischen Aussehen im „ hohen Alter “ . Man will ihr keine Grenzen setzen. Und was Kinder betrifft, so will man sie vor allem fördern und ihnen nur in Ausnahmefällen Grenzen setzen. Warum sollte man also der Sprache Grenzen setzen wollen? Wittgenstein gibt uns keine Antwort auf diese Frage. Wittgensteins Buch hat die Form einer streng mathematischen oder geometrischen Konstruktion, in der jeder Behauptung eine Nummer zugewiesen ist, wobei die einzelnen Behauptung nicht nur bezüglich ihrer Reihenfolge, sondern auch bezüglich ihrer Bedeutung bzw., wie Wittgenstein es formuliert, ihres „ logischen Gewichts “ angeordnet sind. Er schreibt in der Fußnote: 266 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="281"?> Die Dezimalzahlen als Nummern der einzelnen Sätze deuten das logische Gewicht der Sätze an, den Nachdruck, der auf ihnen in meiner Darstellung liegt. Die Sätze n.1, n.2, n.3, etc. sind Bemerkungen zum Satze No. n; die Sätze n.m1, n.m2 etc. Bemerkungen zum Satze No. n.m; und so weiter. (Tlp, S. 11) 158 Das ganze schmale (ca. 80 Seiten umfassende) Werk beinhaltet lediglich sieben Hauptbehauptungen: 1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. 4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. 5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. 6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [ p , , N( )]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes. 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Betrachten wir die ersten zwei Sätze des Buches: 1 Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. Wir sind bereits mit der ontologischen Position von Schlick vertraut und wissen, dass er es vermeiden wollte, von Substanzen zu sprechen, und der Ansicht war, man könne die Welt auf die Eigenschaften und Tatsachen, die er als in einer Beziehungen zwischen Gegenständen (sehr weit gefasst) bestehend verstand (AE, S. 222). Für Wittgenstein ist die Welt ebenfalls die Gesamtheit der Tatsachen, nicht Dinge, wobei das, was er unter einer Tatsache versteht, erst im 2. Satz expliziert wird: „ Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten “ , und ferner heißt es unter 2.01: „ Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen). “ (Ich werde auf diese Sätze weiter unten ausführlicher eingehen.) Die Übereinstimmung der beiden Positionen ist frappierend, wenn man bedenkt, dass beide Werke völlig unabhängig voneinander und praktisch zeitgleich entstanden sind (Schlick arbeitete an seiner AE in Rostock, Wittgenstein in Cambridge, es ist ferner davon auszugehen, dass beide nichts voneinander wussten: Wittgenstein war damals völlig unbekannt und nicht einmal promoviert). Wie oben erwähnt, brachte Schlick seine Allgemeine Erkenntnislehre sehr wahrscheinlich 1916 zu Ende, veröffentlicht wurde sie aber erst 1919 (datiert 1918); Wittgenstein vervollständigte den Tractatus bereits im August 1918, als er Kriegsgefangener in Como und später in Cassino war, erschienen ist das Werk 158 Aus diesem Grund werde ich im Folgenden auf die Angabe der Seitenzahl einer Äußerung grundsätzlich verzichten und es bei der Nennung der Nummer der Äußerung bewenden lassen. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 267 <?page no="282"?> dann aber erst 1921. Diese inhaltlichen und zeitlichen Parallelen erklären auch das Interesse, mit dem der Tractatus im Wiener Kreis studiert wurde. Was an den oben angeführten ersten beiden Sätzen des Werks auffällt, ist erstens, dass Wittgenstein nicht nur Substanzen, sondern auch Eigenschaften aus seiner Metaphysik ausschließen zu wollen scheint - die Welt scheint für ihn ausschließlich aus den Verbindungen zwischen Gegenständen zu bestehen. Durch die Substitution der Grundbegriffe aus den Sätzen 1 und 1.1 durch ihre Definitionen aus den Sätzen 2 und 2.01 erhalten wir nämlich die Aussage: „ Die Welt ist die Gesamtheit der Verbindungen von Gegenständen “ oder genauer: „ Die Welt ist die Gesamtheit jener Verbindungen von Gegenständen, die bestehen “ . Und zweitens ist hier bemerkenswert, dass Wittgenstein den Begriff des Gegenstandes wie auch den der Verbindung zwischen Gegenständen völlig offen lässt. Wir rätseln also, ob man unter „ Gegenständen “ bloß Tische und Stühle usw. verstehen soll, oder ob auch Gerechtigkeit, Liebe und die Zahl zwei Gegenstände sind. Wir rätseln auch, ob zwischen einem Tisch und einem neben ihm stehenden Stuhl eine „ Verbindung “ besteht (wahrscheinlich schon) und ob zwischen der Gerechtigkeit und dem Tisch eine „ Verbindung “ besteht (wahrscheinlich nicht, aber wenn nicht, warum nicht? ). Wir erhalten keine Auskunft darüber, wie wir überhaupt feststellen können, ob zwischen „ zwei Gegenständen “ eine „ Verbindung “ besteht oder nicht. Wir erhalten ebenfalls keine Argumente dafür, dass die von Wittgenstein formulierten Behauptungen wahr sind. Lassen wir diese Fragen für einen Moment offen und überlegen wir, ob Wittgensteins erste Behauptung stimmt. Stimmt es, dass die Welt „ alles ist, was der Fall ist “ ? Wie sollen wir in dieser Sicht auf die Welt die Vergangenheit und vor allem die Zukunft einordnen? „ Der Zweite Weltkrieg brach am 1. September 1939 aus “ . Ist dies der Fall oder war dies der Fall? In der fraglichen Feststellung wurde die Vergangenheitsform des Verbs gebraucht, was darauf zu deuten scheint, dass dieser Sachverhalt nicht mehr existiert. Oder existiert er doch? Man kann versuchen, die Schwierigkeit zu umgehen, indem man sagt: „ Es ist der Fall, dass der Zweite Weltkrieg . . . “ . Aber wenn diese Feststellung ein (gegenwärtiger) Sachverhalt ist, dann muss er jetzt existieren. Wo aber existiert er? Eine für Wittgenstein schwierige Frage, die auch sofort offensichtlich macht, dass es wichtig wäre, die Begriffe „ Gegenstand “ und „ Verbindung zwischen Gegenständen “ genauer zu bestimmen, was Wittgenstein jedoch nicht tut. Wie verhält sich nun aber die Situation mit Zukunftsaussagen? Der Satz „ Dies ist ein Spross “ würde wahrscheinlich für Wittgenstein als eine Beschreibung einer Tatsache gelten. Was aber ist mit „ Dies (dieser Spross) wird eine Eiche werden “ ? Ist das auch eine Tatsache? Vielleicht, denn man kann wohl sagen „ Es ist der Fall, dass dieser Spross eine Eiche werden wird “ . Aber wie sollen wir die Lage betrachten, wenn morgen ein Hirsch den Spross frisst? Die angebliche Tatsache wird zur bloßen Hoffnung. Andererseits, wenn aus dem Spross irgendwann tatsächlich eine Eiche wird, dann verwandelt sich die ursprüngliche Tatsache ( „ Dies 268 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="283"?> ist ein Spross “ ) in eine Falschheit ( „ Dies ist kein Spross, dies ist ein Baum! “ ). Dieses Problem wird noch offenkundiger, wenn wir Menschen und ihre Entwicklung betrachten. „ Hans Müller wiegt 15 kg “ . Dies ist heute eine Tatsache. Aber in einem Jahr ist dies keine Tatsache mehr. Was also ist eine Tatsache in Bezug auf Hans Müller? Dass er 15 kg wiegt oder dass er 22 kg oder vielleicht 80 kg wiegt? Oder muss man Tatsachen an die Zeit koppeln? Oder betrachten wir eine andere alltägliche Situation. „ Dieses Auto fährt mit einer Geschwindigkeit von 100 km/ h “ . Dies ist ziemlich sicher eine Tatsache im Sinne von Wittgenstein. Diese Tatsache impliziert, dass sich viele Tatsachen recht schnell ändern, denn das Auto kann recht schnell seine Geschwindigkeit ändern. Ist die Welt die Gesamtheit aller dieser sich schnell verändernden und folglich auch eigentlich schnell verschwindenden Tatsachen? Vielleicht. Wie steht es aber mit der Feststellung „ Der Zug wird um 15 Uhr in Bern eintreffen “ ? Ist das auch eine Tatsache? Und wenn ja, in welchem Sinne? Denn es ist allen klar, dass es auch anders kommen kann, der Zug kann Verspätung haben. Sollten wir vielleicht nicht lieber sagen „ Der Zug soll um 15 Uhr in Bern eintreffen “ ? Vielleicht, aber ist dies eine Tatsache? Man kann noch lange in diesem Stil weiterdenken. Die Fragen finden keine Antworten im Tractatus. Schlimmer noch. Der Leser findet in diesem Werk kein Bewusstsein für die Existenz solcher Schwierigkeiten. Und langsam gewinnt man den Eindruck, dass das Bild der Welt, das Wittgenstein vor Augen stand, als er an seinem Werk arbeitete, ein merkwürdig statisches, gefrorenes Bild ist, eine fotografische Momentaufnahme, die die faktische Dynamik der Erfahrungswelt, ihre Veränderbarkeit, ihren Reichtum an Möglichkeiten, an Potenzialitäten völlig ausblendet. Satz 2 und 2.01 2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen) scheinen zunächst eine allgemein akzeptierte Definition der Tatsache zu sein. Der Duden stellt fest: Tatsache: wirklicher, gegebener Umstand, Faktum (Duden 1996, S. 517). Satz 2.01 weist darüber hinaus eine frappierende Ähnlichkeit mit der Ansicht auf, die Schlick in seiner AE zum Ausdruck brachte, indem er eine Tatsache als das Bestehen der Beziehung zwischen Gegenständen bestimmte (AE, S. 222). Dennoch, reflektiert man kurz darüber, so stellt man fest, dass dieser Begriff interessante, tiefere Dimensionen besitzt. Auf einige dieser „ tieferen Dimensionen “ habe ich bereits in meiner Diskussion der entsprechenden Passagen der Allgemeinen Erkenntnislehre aufmerksam gemacht. Jetzt kann man diese Diskussion ein wenig vertiefen. Ich habe damals geschrieben, dass wir, wenn wir von „ Tatsachen “ sprechen, diese für gewöhnlich mit etwas bloß Erfundenem, Erdachtem kontrastieren. Wittgensteins Formulierung, „ Tatsache ist das Bestehen von Sachverhalten “ , wie auch Schlicks Formulierung, „ Tatsache ist ein Bestehen der Beziehung zwischen 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 269 <?page no="284"?> Gegenständen “ machen den gleichen Punkt. Wenn wir diese Aussage aber akzeptieren, dann müssen wir einsehen, dass sie eine wichtige und schwerwiegende Folge hat. Wenn ich sage: „ Peter hat gelogen, und dies ist eine Tatsache “ , dann sage ich sinngemäß etwa: „ Ich weiß, dass es (leider) wahr ist, dass Peter gelogen hat “ . Diese Umschreibung eines Satzes, in dem der Begriff „ Tatsache “ vorkommt, bringt ans Licht, dass die Rede von „ Tatsachen “ eigentlich zwangsläufig bereits gewisse Erkenntnisprozesse voraussetzt: um etwas als eine Tatsache beschreiben zu können, muss ich mich nicht nur vergewissern (soweit es mir möglich ist), dass etwas „ der Fall ist “ , sondern auch, dass mein Verständnis der Situation, meine Einsicht in sie, meine Erkenntnis von ihr adäquat sind. Wenn diese Einsicht richtig ist, dann müsste man behaupten, dass die Rede von Tatsachen epistemologische Einsichten, Erkenntnis voraussetzt, dass also ein Versuch, die Welt zu verstehen, indem man mit den „ Tatsachen “ anfängt, grundsätzlich fehlgeht. Daraus ergeben sich für Wittgenstein fatale Folgen. Satz 1.13 des Tractatus lautet: „ Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt “ . Die Rede vom „ logischen Raum “ deutet darauf hin, dass Wittgenstein im Tractatus eine Art der Weltauffassung schaffen will, welche der Logik eine zentrale, prioritäre Stelle einräumt. Es zeigt sich aber bereits an dieser Stelle, dass diese Ausrichtung grundsätzlich irrig ist. Man kann wohl versuchen, logische Beziehungen zwischen den Tatsachen zu bestimmen. Um das tun zu können, muss man jedoch zunächst die Tatsachen selbst bestimmen. Dies ist aber eine erkenntnistheoretische, letztlich eine empirische Aufgabe, welche die Sphäre der bloßen Logik eindeutig sprengt. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man über den Begriff der „ Verbindung “ zwischen Gegenständen nachdenkt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es überhaupt nicht klar ist, was genau Wittgenstein unter diesem Begriff verstand. Sicher ist lediglich, dass er darunter viel mehr verstehen musste, als eine bloß physische, körperliche Verbindung. Wenn dies aber der Fall ist, dann folgt daraus zwingend, dass die Formen der „ Verbindungen “ zwischen Gegenständen nicht in der unmittelbaren Wahrnehmung „ gegeben “ sind. Bereits solche elementare Relationen wie „ Melinda ist die Mutter von Miranda “ sind nicht in der Wahrnehmung gegeben, sondern lediglich auf oft recht umständlichen Wegen feststellbar. Übrigens: das Bestehen bzw. Nicht-Bestehen der „ Verbindung “ zwischen den „ Gegenständen “ „ Klaus “ und „ Miranda “ , die durch den Satz „ Klaus ist der Vater von Miranda “ behauptet wird, ist bekanntlich noch schwieriger festzustellen. Dazu kommt der Umstand, dass in der heutigen Welt, der Welt der „ Patchworkfamilien “ , „ Leihmütter “ , Alleinerziehenden, gleichgeschlechtlichen Ehen usw. die Relation „ Mutter (bzw. Vater) von “ (bzw. selbstverständlich „ Sohn/ Tochter von . . . “ ) recht kompliziert zu bestimmen ist. In den meisten Fällen ist es am Ende eines langen und vielleicht auch langwierigen Prozesses normalerweise möglich zu sagen, was die diesbezüglichen Fakten sind. Es sollte jedoch recht offensichtlich sein, dass dieser Prozess wenig bis gar nichts 270 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="285"?> mit der Anwendung der Gesetze der Logik zu tun hat. Und es ist so, dass diese Gesetze erst an seinem Ende zum Tragen kommen können, indem sie uns z. B. zu behaupten erlauben, dass, wenn Melinda die Mutter von Miranda ist und David der Sohn von Miranda, Melinda die Großmutter von David ist und David der Enkel von Melinda. Satz 2.0123 behauptet: „ Wenn ich den Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten “ . Dies scheint zu implizieren, dass man von der Kenntnis des Gegenstands erst „ am Ende der Forschung “ sprechen kann, wenn nicht nur alle Eigenschaften dieses Gegenstands, sondern auch alle Eigenschaften aller anderen Gegenstände bekannt sind (denn ich muss wohl auch diese kennen, um bestimmen zu können, welche Verbindungen - und Sachverhalte sich doch Verbindungen zwischen Gegenständen - er eingehen kann). Doch bereits der nächste Satz (2.01231) besagt, dass man, um einen Gegenstand zu kennen, „ zwar nicht seine externen - aber [. . .] alle seine internen Eigenschaften kennen [muss] “ , was überrascht, denn 1) würde man gewöhnlich annehmen wollen, dass ein Gegenstand „ Verbindungen “ mit anderen Gegenständen auch kraft seiner externen Eigenschaften eingehen kann (z. B. eine spiegelnde Oberfläche - sei es die eines Spiegels oder eines Stücks Glases oder gut polierten Metalls oder sogar die eines Teichs - reflektiert Licht); 2) ist es nicht klar, wo die Trennlinie zwischen den inneren und den äußeren Eigenschaften verläuft; 3) ist es erst an dieser Stelle, dass wir erfahren, dass Wittgenstein in seiner Ontologie doch Eigenschaften zulässt. Ist dies eine Inkonsequenz vonseiten Wittgensteins, der die Welt (zumindest scheinbar) auf die Tatsachen reduzieren wollte, oder haben wir ihn am Anfang falsch verstanden? Oder sind Eigenschaften auch Tatsachen? Aber Tatsachen sind nach Wittgenstein letztendlich Verbindungen zwischen Gegenständen, damit würden Eigenschaften eher nicht unter die Tatsachen fallen. Also vielleicht doch eine Inkonsequenz? Antworten auf diese Frage fehlen in dem Buch. Satz 2.0141 beinhaltet eine erstaunliche Aussage: „ Die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten ist die Form des Gegenstandes. “ Die Form eines Balls ist also nicht die einer Kugel, sondern die der Möglichkeit seines „ Vorkommens in Sachverhalten “ ! Man kann Wittgensteins Intention an dieser Stelle irgendwie verstehen: er will wahrscheinlich sagen, dass für den Gegenstand nicht sein äußeres dreidimensionales Aussehen entscheidend ist, sondern seine Fähigkeit, „ Verbindungen “ mit anderen Gegenständen einzugehen, doch als Leser wäre man sicherlich dankbar, Erläuterungen über diesen wichtigen Punkt zu erhalten. Die Ähnlichkeit dieses Punktes mit Carnaps Vorstellung, nach der alle wissenschaftlichen Aussagen auf Strukturaussagen reduzierbar sind (s. oben), ist aber offensichtlich. Wir haben jedoch anlässlich der Diskussion dieser Behauptung gesehen, dass die Forderung, die Welt auf Strukturaussagen zu reduzieren, nicht realisierbar ist. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 271 <?page no="286"?> Betrachten wir jetzt Satz 2.02: 2.02 Der Gegenstand ist einfach. Auch hier wird der Leser gezwungen, über die Intentionen des Verfassers zu rätseln und erhält keine Unterstützung von ihm. Was sollen wir unter der Feststellung „ Der Gegenstand ist einfach “ verstehen? Ein Auto scheint ein Gegenstand zu sein, aber es wäre sicherlich unsinnig, behaupten zu wollen, es sei einfach. Vielleicht also ist ein Auto nach Wittgenstein kein Gegenstand? Aber was ist dann einer? Und was kann er im Sinn haben, wenn er meint, dass irgendein Gegenstand einfach ist oder sein kann? Selbst einfachste Gegenstände wie z. B. ein Stein oder sogar ein Sandkorn sind, wie wir wissen, zusammengesetzt, haben eine innere Struktur, können zerlegt werden. Das Gleiche lässt sich selbstverständlich auch von den Lebewesen sagen. Die einzigen Gegenstände, die mir in Sinn kommen, von denen man sagen könnte, dass sie einfach (im Sinne von: nicht zusammengesetzt) sind, sind Quarks und Elektronen, doch Wittgenstein verstand unter „ Gegenständen “ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht diese (insbesondere nicht Quarks, die damals nicht bekannt waren). Was verstand er dann darunter? Im Satz 2.021 schreibt er als eine Art Erklärung seiner Behauptung: „ Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt. Darum können sie nicht zusammengesetzt sein, “ was das Rätsel allerdings nur noch vertieft. Auf der einen Seite ist die Richtung von Wittgensteins Denken leicht nachvollziehbar: die Substanz ist ein philosophischer Begriff für etwas Dauerhaftes, Unzerstörbares, für die Grundbestanteile des Universums. In diesem Sinne könnte man sagen, dass - abhängig von den persönlichen Präferenzen - Gott oder die Atome (im klassischen griechischen Sinn der unteilbaren und unzerstörbaren Dinge) die Substanz der Welt bilden. Dieser Tradition folgend scheint es für Wittgenstein zwingend zu behaupten, dass der Gegenstand einfach sei. Wäre er nicht einfach, könnte er zerlegt werden, dann würde er aber aufhören zu existieren und somit quasi „ beweisen “ , dass er nicht die Substanz der Welt ist. Aber wenn wir diesen Gedanken akzeptieren, vertieft sich das Rätsel, was Wittgenstein unter einem „ Gegenstand “ versteht, fast ins Unermessliche. Wir finden im Tractatus keine Antwort auf diese Frage. Betrachten wir jetzt Satz 2.0201: 2.0201 Jede Aussage über Komplexe lässt sich in eine Aussage über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen, welche die Komplexe vollständig beschreiben. Dieser Satz scheint die Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass sich komplexe Gegenstände - in Schlicks Terminologie - vollständig und ohne Verlust aus einfacheren Elementen aufbauen lassen. Diese Überzeugung bildet das Fundament des Programms der Reduktion der phänomenalen Welt auf die ihr angeblich zugrunde liegende einfachere, aber auch grund- 272 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="287"?> legendere Ebene. Interessanterweise haben wir bereits bei Schlick und Carnap eine ähnliche Geste bzw. ein ähnliches Bestreben feststellen können. Schlick vertrat die Ansicht, man könne alle Begriffe auf immer einfachere, letztendlich auf unmittelbar beobachtbare „ Qualitäten “ zurückführen, Carnap wiederum behauptete, dass höherstufige Begriffe sich auf die Begriffe der Basisstufe „ rückführen “ lassen. Wir haben in beiden Fällen gesehen, dass dies kaum zu leisten ist. Wittgenstein setzt hier einen neuen Akzent: es geht nicht um die Zerlegung der Gegenstände (was ihm zufolge nicht möglich ist), auch nicht um die Zerlegung der Begriffe in einfachere, elementarere Begriffe, sondern um die Zerlegung der Aussagen über Komplexe in Aussagen über einfachere Elemente, die jedoch, zusammengenommen, die Komplexe vollständig beschreiben würden. Ist dies zu leisten? Stellen wir uns ein komplexes Bild eines alten Meisters vor, vielleicht ein Stillleben der holländischen Schule, z. B. von Cornelis de Heem. Man kann dieses Bild im Vokabular der alltäglichen Sprache beschreiben. Man kann sagen, welchen Eindruck das Bild auf einen macht durch die ungeheuer präzise, fast fotografisch genaue Wiedergabe der Einzelheiten, durch die Schönheit der dargestellten Blumen und anderen Objekten, durch eine sowohl farblich als auch formenhaft ausgewogene, symmetrische Komposition usw. Man kann aber versuchen, diese komplexe Aussage in eine Reihe von Aussagen über die Bestandteile des Bildes zu zerlegen. Man kann sagen: im Vordergrund auf der linken Seite befindet sich auf einem steinernen Sims ein roter Hummer, rechts von ihm ein Ast mit einigen roten Pfirsichen, rechts von diesem Ast eine teilweise geschälte Zitrone, im Hintergrund ein Behältnis aus Glas teilweise mit einer gelblichen Flüssigkeit ausgefüllt, und um das Behältnis herum gibt es viele farbige Blumen. Man kann diese Blumen: ihre Gattungen, Positionen, Farben usw. genauer beschreiben. Man kann aber noch weiter gehen: man kann dieses äußerst komplexe Bild in eine große Anzahl von Pixeln auflösen, so wie dies eine moderne Digitalkamera oder ein Drucker macht. Jedem Pixel kann man einen einfachen Satz zuschreiben, der Art: im Punkt soundso (definiert durch zwei Koordinaten) ist ein gelber Pixel, im Punkt soundso ein roter usw. Würde irgendeine Reihe von Sätzen über die Pixelbestände (und ihre Relationen) von de Heems Bild die globale, „ Gestalt “ -Beschreibung aber überhaupt ersetzen können? Wir haben dieses Problem bereits in unserer Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre gestreift: es ist heute dank der Gestaltpsychologie wohl bekannt, dass dieselben Elemente als völlig unterschiedliche Gestalten wahrgenommen werden können. Ist es dann eine berechtigte Hoffnung, dass sich jede Aussage über Komplexe in eine „ Aussage über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen lässt, welche die Komplexe vollständig beschreiben “ ? Nach der Behauptung über die Möglichkeit der Zerlegung von Aussagen über Komplexe in Aussagen über deren Bestandteile folgt der bereits zitierte 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 273 <?page no="288"?> Satz 2.021: „ Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt. Darum können sie nicht zusammengesetzt sein “ , und ihm folgen zwei äußerst rätselhafte Feststellungen: 2.0211 Hätte die Welt keine Substanz, so würde, ob ein Satz Sinn hat, davon abhängen, ob ein anderer Satz wahr ist. 2.0212 Es wäre dann unmöglich, ein Bild der Welt (wahr oder falsch) zu entwerfen. Hätte die Welt keine Substanz, so würde, ob ein Satz Sinn hat, davon abhängen, ob ein anderer Satz wahr ist. Was will Wittgenstein damit sagen? Er führt jetzt drei Begriffe ein: Substanz, Sinn und Wahrheit, die er nicht erläutert, die jedoch bekanntlich ganz unterschiedlich gedeutet oder interpretiert werden können. Spätestens an dieser Stelle merken wir, dass Wittgenstein ungewöhnlich frei, um nicht zu sagen schlampig mit Begriffen umgeht. Er spricht von Gegenständen, von (einer) Substanz, vom Sinn und von der Wahrheit, meint offensichtlich etwas Bestimmtes mit diesen Begriffen und kümmert sich überhaupt nicht darum, ob seine Vorstellungen bezüglich der Inhalte dieser Begriffe sich mit den Vorstellungen seiner Leser treffen oder nicht, gibt sich überhaupt keine Mühe, seine Intentionen zu erläutern. Der Leser muss raten, was der Verfasser sagen will. Der Effekt ist, wie ich bereits angedeutet habe, dass man entweder den Eindruck bekommt, „ Hier ist ein Genie, der tiefste Wahrheiten über das Universum offenbart, die mir jedoch schleierhaft sind. Wenn ich ihn aber nicht verstehe, dann selbstverständlich deshalb, weil ich kein Genie bin. “ Oder man kommt eben zu dem Schluss: „ Hier ist jemand, der Unsinn erzählt, und weil es Unsinn ist, ist es unverständlich. “ Es folgt eine Sequenz von Feststellungen, die Wittgensteins Auffassung der Sprache als Bild der Wirklichkeit einführen: 2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen. . . . 2.12 Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. 2.13 Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes. 2.14 Das Bild besteht darin, dass sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten. . . . 3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. . . . 3.01 Die Gesamtheit der wahren Gedanken sind ein Bild der Welt. . . . 3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus. . . . 274 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="289"?> 4 Der Gedanke ist der sinnvolle Satz. 4.001 Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache. . . . 4.01 Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken. Wir machen uns Bilder der Tatsachen, der Gedanke ist ein solches (logisches) Bild, da jedoch der Gedanke mit einem (sinnvollen) Satz identisch ist, ist auch der Satz ein Bild der Wirklichkeit, und da die Sprache die Gesamtheit der Sätze ist, ist also die Sprache (vermutlich) ein Bild der Wirklichkeit. Der Anfang dieser Sequenz scheint zunächst völlig unbedenklich. Es ist sicher richtig, dass wir uns Bilder der Tatsachen machen. Gewöhnlich spricht man in diesem Zusammenhang von „ Vorstellungen “ . Wenn man will, kann man das Bild oder die Vorstellung auch als ein Modell der Wirklichkeit bzw. der Tatsachen verstehen, in dem seine/ ihre Elemente den Gegenständen entsprechen: die Vorstellung des Baumes dem Baum „ da draußen “ , die Vorstellung der Katze der Katze „ da draußen “ auf dem Baum. Satz 2.14 scheint ein wenig unbeholfen formuliert zu sein. Ich glaube, was Wittgenstein sagen wollte, war nicht, dass das Bild darin bestehe, dass „ sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten “ , denn das Bild besteht unabhängig davon, wie sich seine Elemente zu einander verhalten, sondern dass das Bild dann ein gutes/ passendes/ angemessenes Bild der Tatsachen ist, wenn „ sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten “ , eben: die vorgestellte Katze auf dem Baum und nicht z. B. über dem Baum (vgl. unten, Satz 2.223). Diese einfache Auffassung der Sprache als ein Bild der Wirklichkeit fängt an zu bröckeln, sobald wir an abstraktere „ Gegenstände “ wie Katzen und Bäume denken. Der Leser erinnert sich, dass Wittgenstein uns nicht gesagt hat, was er unter einem „ Gegenstand “ versteht, vermutlich aber will er auch über abstraktere „ Gegenstände “ Aussagen treffen. „ Linda liebt Folkert “ . Inwiefern ist dieser Satz ein Bild der in ihm zum Ausdruck gebrachten Tatsachen? Ich kann sicherlich das Wort „ Linda “ mit einem Bild von Linda, einer Vorstellung von Linda verknüpfen, und das Gleiche kann ich sicher auch mit dem Wort „ Folkert “ machen. Welche Vorstellung soll jedoch die Relation der Liebe zwischen Linda und Folkert (nicht aber zwingend umgekehrt) „ illustrieren “ ? Eine Vorstellung von Linda, wie sie Folkert küsst? Oder traurig und ungeduldig auf ihn wartet? Oder sich riesig freut, als er an ihrer Wohnungstür steht? Oder mit Freude für ihn kocht? Oder mit ihm schläft? Das Problem ist, dass alle diese Vorstellungen zwar richtig sind und dennoch bloß - jede für sich - eine unvollständige Beschreibung bzw. ein unvollständiges Bild der genannten Tatsache bzw. des genannten Sachverhalts (wir erinnern uns: eine Tatsache ist nach Wittgenstein das Bestehen eines Sachverhalts) liefern. Der Sachverhalt umfasst alle diese Bilder und viel mehr, und kein einziges Bild kann eigentlich als ein befriedigendes Modell des fraglichen Sachverhalts gelten. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 275 <?page no="290"?> Wie wäre es aber mit noch abstrakteren „ Gegenständen “ ? „ Freiheit ist das höchste Gut “ . Welche Bilder können diese Aussage adäquat abbilden? Oder: „ Es gibt unendlich viele Primzahlen “ oder: „ Die Gravitationskraft nimmt zum Quadrat der Entfernung ab “ . Ich überlasse es dem Leser, passende Bilder für diese (und unzählige andere) Aussagen zu finden. Ich kann dies nämlich nicht. Aber vielleicht habe ich Wittgenstein falsch verstanden, vielleicht meint er ein andersartiges Bild der Wirklichkeit, keine bloße Vorstellung, wenn er vom Gedanken als von einem Bild der Wirklichkeit spricht. Denn er sagt nicht: „ Der Gedanke ist ein Bild der Wirklichkeit “ , sondern: „ Der Gedanke ist ein logisches Bild der Tatsachen “ . Was mag er wohl unter einem „ logischen Bild “ verstehen? Das Problem ist, auch diese Frage lässt Wittgenstein offen, so dass der Leser gezwungen ist zu raten. Vermutlich meinte Wittgenstein damit den Umstand, dass das gedankliche Bild der Tatsachen vor allem die (logischen) Relationen zwischen den Elementen der Wirklichkeit (korrekt) abbildet: unsere Vorstellung von der Katze ist „ kleiner “ als die Vorstellung des Baumes, und die vorgestellte Katze sitzt eben auf dem vorgestellten Baum und schwebt nicht etwa über ihm. Wenn dies Wittgensteins Intention gewesen wäre, so müsste er uns z. B. erklären können, wie er solche Aspekte der Wirklichkeit wie die Tatsache, dass die Katze schwarz, die Baumrinde aber braun ist und die Blätter grün sind in einer relationalen Terminologie abbilden wollte. Auf solche und ähnliche Fragen finden wir im Tractatus keine Antworten. In dem auf Satz 3 unmittelbar folgenden Satz 3.001 schreibt Wittgenstein lediglich: „ Ein Sachverhalt ist denkbar “ , heißt: Wir können uns ein Bild von ihm machen. Was den Eindruck verstärkt, dass er gedankliche Bilder im Sinne gewöhnlicher Vorstellungen denkt. Satz 4: „ Der Gedanke ist der sinnvolle Satz “ , der oberflächlich betrachtet wiederum völlig unbedenklich zu sein scheint, führt zu interessanten Schwierigkeiten. Zusammen mit Satz 3.1 ( „ Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus “ ) scheint er eine offensichtliche Tatsache zum Ausdruck zu bringen, dass erst ein sinnvoller Satz (vermutlich entweder gesprochen oder geschrieben), nicht aber ein Bruchteil eines Satzes, einen Gedanken vollständig offenbart. So wie Satz 4 aber formuliert ist, erweckt er den Anschein, dass Wittgenstein den Gedanken mit dem Satz identifizieren will: Der Gedanke ist der (sinnvolle) Satz, er ist also mit dem Satz identisch. Und diese Sicht (bzw. diese Interpretation von Wittgensteins Intentionen) führt zu Schwierigkeiten. Betrachten wir den folgenden Satz: 3.032 Etwas „ der Logik Widersprechendes “ in der Sprache darstellen, kann man ebensowenig, wie in der Geometrie eine den Gesetzen des Raumes widersprechende Figur durch ihre Koordinaten darstellen; oder die Koordinaten eines Punktes angeben, welcher nicht existiert. 276 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="291"?> Es interessiert jetzt nicht, dass der Satz offensichtlich falsch ist, denn ich kann durchaus sagen: „ a ist größer als b und b ist größer als c, also ist a kleiner als c “ , auch wenn diese Aussage den Gesetzen der Logik klar widerspricht. Was an dem Satz 3.032 im gegenwärtigen Kontext interessiert, ist bloß seine Länge. Selbst nur bis zu dem Semikolon ist der Satz recht lang. Nun überlegen wir uns konkret, wie ein solcher Satz (und man kann sich durchaus noch viel längere Sätze vorstellen) entsteht. Er wird entweder Wort für Wort geschrieben oder gesprochen, oder vielleicht auch nur innerlich „ gesprochen “ bzw. gedacht. Und dieser Prozess dauert jeweils eine bestimmte Zeit, die im Falle des „ innerlichen Sprechens “ recht kurz sein mag, aber doch einen gewissen „ Umfang “ hat. Nun, Wittgenstein sagt, der Gedanke sei ein sinnvoller Satz. Der ganze Satz, versteht sich. Dann aber muss man sich fragen, wo der Gedanke ist, der im Satz 3.032 „ sinnlich wahrnehmbar “ zum Ausdruck gebracht wurde, wenn ich anfange (oder wenn Wittgenstein oder wer auch immer anfängt), ihn zu sprechen bzw. schreiben bzw. „ innerlich “ zu sprechen? Denn irgendwie muss ich wissen, was ich am Ende des Satzes sagen will, auch dann, wenn ich erst „ Etwas ‚ der Logik . . . “ gesagt habe. Sonst könnte ich den Satz nicht sinnvoll gestalten. Wie kann ich aber wissen, was ich noch nicht gesagt habe? Wir begegnen hier einem Paradox: Wir wissen nicht, was wir denken, bevor wir unsere Gedanken formuliert haben, zugleich aber Zeit müssen wir irgendwie wissen, was wir denken, bevor wir den Gedanken formuliert haben, um ihn überhaupt formulieren zu können. Sonst wären wir in der Situation jenes Mädchens aus der Erzählung von Graham Wallas, das, gebeten, sich der Bedeutung seiner Aussage sicher zu sein, bevor sie sie zum Ausdruck brachte, erwiderte: „ How can I know what I think till I see what I say? “ (Wallas 1993, S. 341). 159 Diese Überlegung zeigt, dass der sinnvolle Gedanke da sein muss, bevor der ihn zum Ausdruck bringende vollständig gebildete Satz da ist. Was wiederum zwingend zu der Frage führt: Wo und in welcher Form ist dieser Gedanke da, bevor er zum Ausdruck gebracht wird? Muss man hier die Frege ’ sche „ dritte Welt “ postulieren? 160 Damit aber haben wir längst nicht das Ende der Schwierigkeiten erreicht, die sich aus der Auffassung der „ Sprache als Bild der Wirklichkeit “ ergeben. Man kann nämlich richtige und falsche Bilder der Wirklichkeit haben. Das meint auch Wittgenstein: 2.21 Das Bild stimmt mit der Wirklichkeit überein oder nicht; es ist richtig oder unrichtig, wahr oder falsch. . . . 2.222 In der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit besteht seine Wahrheit oder Falschheit. 159 Vgl. auch W. Shakespeares Rosalind: „ Do you not know I am a woman? When I think I must speak “ (As You Like It, 3. 2. 233). 160 S. oben: „ Moritz Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre “ . 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 277 <?page no="292"?> Nun, wenn die Wahrheit in der „ Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung “ des Sinns des Satzes mit der Wirklichkeit besteht, dann braucht man eine Methode haben, die uns es ermöglicht, diese Frage zu entscheiden, „ die Spreu vom Weizen “ zu trennen. Wittgenstein stellt sich diesen Prozess sehr einfach vor: 2.223 Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen. Es ist offensichtlich, dass Wittgenstein an dieser Stelle der einfachen Übereinstimmungstheorie der Wahrheit huldigt, der Theorie also, die Schlick in seiner Allgemeinen Erkenntnislehre (zu Recht) scharf kritisierte. Erinnern wir uns an die Argumente, die er gegen sie angeführt hat (AE, S. 255 ff). So sei es unsinnig, Wirklichkeit und Gedanken vergleichen (oder gar gleichsetzen) zu wollen, da sich nicht „ Birnen mit Äpfeln “ vergleichen lassen: Begriffe sind den Gegenständen, die sie (nach Schlick) repräsentieren, nicht einmal ähnlich, geschweige denn mit ihnen identisch. Wittgenstein lässt sich an dieser Stelle in die Irre führen, weil er Begriffe als Bilder der Wirklichkeit, also als Vorstellungen versteht. Wir haben aber gesehen, dass man nur in einem sehr eingeschränkten Maße von bildlichen Vorstellungen der Wirklichkeit sprechen kann, da viele unserer Begriffe überhaupt nicht bildlich darzustellen sind. Doch selbst wenn man tatsächlich bildhafte Vorstellungen bilden kann (wie von Bäumen und Katzen), ist es fraglich, ob die Begriffe, die sich hinter diesen Vorstellungen verbergen, überhaupt bildhaft sind. Ohne auf diese Frage hier ausführlicher eingehen zu wollen, möchte ich auf die folgende Schwierigkeit hinweisen. Es ist durchaus sinnvoll zu fragen, wie lang, breit und hoch ein bestimmter Tisch ist. Ist dies aber in Bezug auf den Begriff des Tisches ebenfalls sinnvoll? Das scheint nicht der Fall zu sein. Wenn der Begriff des Tisches aber keine räumlichen Dimensionen hat, können wir ihn dann adäquat bildlich vorstellen? Ähnliches gilt auch für die Form des Tisches. Ein konkreter Tisch ist entweder quadratisch, rechteckig, rund, oval oder was auch immer. Welche Form aber hat der Begriff des Tisches? Keine von diesen? Alle? Kann man überhaupt sinnvollerweise von der Form des Tischbegriffs sprechen? 161 Wir merken, dass die Vorstellung, man könne die Wahrheit einer Aussage dadurch prüfen, dass man die Aussage (deren Sinn) mit der Wirklichkeit vergleicht, sehr vereinfacht oder schlicht falsch ist. 162 161 Wir werden uns mit dem Problem des Fehlens der räumlichen (und auch zeitlichen) Dimensionen bei Begriffen ausführlicher im Kapitel „ Objektivität der Erkenntnis als ein zentraler gemeinsamer Nenner der Wissenschaft: das Wesen des Objektivitätsideals Begriff der Objektivität “ befassen. 162 Manche führende Gegenwartsphilosophen, einschließlich des „ späten Wittgenstein “ , sind zu der Überzeugung gelangt, dass Sprache unmöglich als Bild der Wirklichkeit begriffen werden kann. Richard Rorty schrieb diesbezüglich in seiner berühmten Studie Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie Folgendes: „ Putnam schließt sich heute Wittgenstein und Goodman an: eine Theorie, die sich die Sprache als ein Abbild der Welt 278 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="293"?> Diese Vorstellung führt aber noch zu einer logischen Schwierigkeit. Angenommen, wir könnten einen solchen Vergleich durchführen. Wir stellten also fest, dass der Satz A mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Nun, diese Feststellung ( „ Satz A stimmt mit der Wirklichkeit überein “ ) ist ein neuer Sachverhalt in der Welt. (Wittgenstein stellt in Satz 2.141 fest: Das Bild ist eine Tatsache). Zugleich aber ist der Satz qua Satz ein Bild der Wirklichkeit. Somit entsteht die Frage, ob dieses Bild ein wahres oder ein falsches Bild ist. Also muss man dieses Bild mit der Wirklichkeit vergleichen. Man muss einen Metasatz bilden können: „‚ Satz A stimmt mit der Wirklichkeit überein ‘ stimmt mit der Wirklichkeit überein. “ Dieser Satz ist aber wieder nur ein Bild, dessen Adäquatheit in Frage gestellt werden kann, und so weiter ad infinitum. Die Prüfung der Wahrheit des Bildes anhand des Vergleichs mit der Wirklichkeit führt unweigerlich zu einem infiniten Regress. Wir überspringen mehrere Gedanken und kommen zum folgenden wichtigen Satz: 4.024 Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.) Man versteht ihn, wenn man seine Bestandteile versteht. Dieser Satz ist insofern sehr wichtig, als er die Grundüberlegung der später vom Wiener Kreis entwickelten Verifikationstheorie der Bedeutung liefert: in einer (extremen) Formulierung besagte diese Theorie bekanntlich, dass die Bedeutung eines Satzes mit der Methode der Überprüfung seines Wahrheitsgehaltes identisch ist. Wittgenstein geht in seiner Formulierung nicht so weit, aber man könnte vielleicht sagen, dass er für diese Formulierung den Weg ebnet. Wir werden uns mit der Verifikationstheorie der Bedeutung weiter unten beschäftigen, an dieser Stelle möchte ich lediglich darauf aufmerksam machen, dass der Untersatz: „ Man versteht ihn [den Satz], wenn man seine Bestandteile versteht “ , Wittgenstein in offensichtliche Schwierigkeiten verwickelt. Betrachten wir irgendeinen Bestandteil des Satzes 4.024: z. B. „ Einen Satz verstehen “ . Um zu wissen, was dieser Bestandteil bedeutet, muss ich Wittgenstein zufolge wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist. Kann ich das? Das scheint nicht der Fall zu sein: es scheint unmöglich zu sein, dem Ausdruck „ Einen Satz verstehen “ einen Wahrheitswert zuzuschreiben. denkt - ein System von Darstellungen, von dem die Philosophie zu zeigen hat, dass es zum Dargestellten in irgendeiner nichtintensionalen Beziehung steht - , ist für die Erklärung des Erwerbs und Verstehens der Sprache nicht brauchbar “ (Rorty 1987, S. 323f., Hervorhebung im Original). Ich glaube aber, dass man auch ohne komplexe Überlegungen merkt, dass Begriffe unmöglich Gegenstände spiegeln. Deshalb brauchte der „ frühe Wittgenstein “ nicht auf die Einsichten des „ späten Wittgensteins “ , Putnams, Goodmans, Rortys und anderer zu warten, um die Vorstellung der Sprache als Bild der Wirklichkeit verwerfen zu können. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 279 <?page no="294"?> Und dennoch: wir verstehen ihn und wissen, dass er einen Teil eines vollständigen Satzes bzw. Gedankens bildet. Das Gleiche gilt selbstverständlich für die anderen Bestandteile des Satzes 4.024: so sind uns „ heißt “ , „ wissen was der Fall ist “ , „ wenn er wahr ist “ oder auch einfach „ einen “ , „ Satz “ , „ Fall “ usw. wie auch Kombinationen von diesen Bestandteilen einigermaßen verständlich, obwohl ihnen kein Wahrheitswert zugeschrieben werden kann. Wie verhält es sich aber mit dem Satz selbst? „ Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. “ Weiß ich, was der Fall ist, wenn dieser Satz wahr ist? Interessanterweise merkt man sofort, dass überhaupt nicht klar ist, welche Folgen die Annahme dieses Satzes haben wird. Man müsste sich diese Folgen in aller Ruhe überlegen und das kann dauern. Aber wir verstehen den Satz sofort, ohne diese Überlegungen ausführen zu müssen. Bereits diese Tatsache zeigt, dass der in dem Satz zum Ausdruck gebrachte Gedanke falsch ist. Ein wenig weiter stellt Wittgenstein (apodiktisch) fest: 4.11 Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft (oder die Gesamtheit der Naturwissenschaften). Es ist auch an diesem Punkt sofort klar, dass er über das Ziel hinausschießt. Denn erstens hoffen wir, dass auch die Geisteswissenschaften zur Formulierung wahrer Sätze in der Lage sind; zweitens ist der Satz „ Heute haben wir (endlich) schönes Wetter “ wahr (glauben Sie mir! ), gehört aber zu keiner Naturwissenschaft; drittens ist der Satz „ 2+2=4 “ ebenfalls wahr und gehört ebenfalls zu keiner der Naturwissenschaften; und schließlich: wie verhält es sich mit dem Satz 4.11 selbst? Ist er wahr? Wenn ja, müsste er zu einer der Naturwissenschaften zugeschrieben werden, dies scheint aber unmöglich zu sein, insbesondere weil Wittgenstein im unmittelbar darauffolgenden Satz 4.111 wenig überraschend feststellt: „ Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften “ . Folgt aber nicht aus dem Satz 4.11, dass ein Satz, wenn er sich keiner der Naturwissenschaften zuschreiben lässt, nicht wahr sein kann? Das würde jedoch heißen, dass der Satz 4.11 nicht wahr ist. Und so entpuppt sich 4.11 als ein recht klassisches Beispiel des berühmten Lügnerparadoxes. Ich überspringe jetzt Wittgensteins interessante logische Überlegungen, inklusive seine überaus nützliche und heute klassische „ Erfindung “ der logischen Wahrheitstafeln (4.31) und gehe direkt zu Satz 5 über. 5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. (Der Elementarsatz ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst.) (Bereits im Satz 4.21 hält Wittgenstein fest: „ Der einfachste Satz, der Elementarsatz, behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes. “ ) Ich finde diesen Satz sehr aufschlussreich, denn er gibt uns einen besonders guten Einblick in Wittgensteins geistige Einstellung, die sich hinter seinen Überlegungen verbirgt und ihn zu gewissen Schlussfolgerungen (ver)leitet, die dann 280 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="295"?> formuliert sind in den Sätzen 5.61: „ Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen “ , und insbesondere 6.13: „ Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist transzendental “ . Man hat festgestellt, dass Wittgenstein den Tractatus unter dem starkem Einfluss der damals noch jungen Errungenschaften Freges und Russells auf dem Feld der formalen Logik geschrieben hat, dass er von diesen Errungenschaften fasziniert war und „ sich geradezu enthusiastisch auf ihre Anwendung wie auf ihre noch ungelösten Probleme stürzt[e] “ (Tetens 2009, S. 14) und dass er besonders am Anfang des Tractatus in erster Linie als Logiker auftritt (ebd., S. 16). Dieser Zug, diese intellektuelle Einstellung kommt im Satz 5 besonders deutlich zum Vorschein. Doch nüchtern betrachtet (wörtlich genommen) ist das, was der Satz besagt, einfach Unsinn. Zunächst mag er als ein vielleicht bloß schwierig zu interpretierender Satz erscheinen. Wenn man aber bedenkt, dass Wittgenstein behauptet, dass der Gegenstand einfach sei (2.02) und dass jede Aussage über Komplexe sich in eine Aussage über deren Bestandteile zerlegen lasse (2.0201), dann kann man von diesen Prämissen aus schließen, dass der Wahrheitswert eines komplexen Satzes (seine Wahrheitsfunktion) von den Wahrheitswerten der ihn zusammen bildenden Elementarsätze abhängig ist. Ist z. B. ein bestimmter komplexer Satz als eine Konjunktion von Elementarsätzen aufzufassen, dann wird er nur dann wahr sein, wenn alle ihn konstituierenden Elementarsätze wahr sind. Das ist eigentlich recht offensichtlich. Wo liegt dann meiner Ansicht nach das Problem mit Satz 5? Nun, Wittgenstein schreibt nicht: „ Die Wahrheitsfunktion eines (komplexen) Satzes ist eine Funktion der Wahrheitsfunktionen (Wahrheitswerte) der [ihn konstituierenden] Elementarsätze, sondern er schreibt: „ Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion . . . “ . Dar Satz mit seinem Gehalt wird demnach auf seine Wahrheitsfunktion reduziert! Aber die Wahrheitsfunktion hat in Freges und Russells Logik immer noch nur zwei Werte, 0 oder 1 (falsch oder wahr) (mittlerweile gibt es Mehrwert-Logiken, aber auch in diesen ist der Spielraum der Wahrheitswerte - verständlicherweise - sehr eingeschränkt z. B.: 1, 0, ½). Es folgt also, dass alle Sätze auf 0 und 1 reduziert werden! Das ist absurd. Im Übrigen wissen wir heute, dass sich eine solche Reduktion bestens vollziehen lässt - aber nicht, indem ganze Sätze, sondern indem einzelne Elemente der Sätze, im Endeffekt einzelne Buchstaben, auf 0 und 1 reduziert werden. Die Computer verstehen keine andere Sprache als Nullen und Einsen. Aber sie verstehen nicht, was sie verarbeiten, und sie haben überhaupt kein Interesse an der Tatsache, dass die Sätze „ Miranda liebt Rudolf “ und „ Rudolf hasst Miranda “ , obschon (vielleicht) beide wahr sind, zusammen nicht bloß eine wahre Konjunktion bilden, sondern eine sehr traurige, vielleicht sogar erschütternde Mitteilung über das gegenseitige Verhältnis dieser zwei Personen darstellen. Man kann gegen diese Interpretation einwenden, dass ich Wittgensteins Absicht an dieser Stelle falsch interpretiere, dass er eigentlich sagen wollte, was ich eben angedeutet habe, dass der Wahrheitswert eines komplexen 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 281 <?page no="296"?> Satzes von den Wahrheitswerten der Elementarsätze abhängig ist. Er hat es aber nicht gesagt. Er hat etwas anderes gesagt, und dieses „ Versehen “ ist äußerst aufschlussreich: es zeigt, dass sich für Wittgenstein die Welt tatsächlich auf die Gesetze der Logik, auf die Wahrheitswerte der Aussagen reduziert, dass die Inhalte der Sätze für ihn in den Hintergrund treten. Bereits im „ Satz “ (eigentlich Abschnitt) 5.3 begegnen wie einem weiteren Beispiel dieser Tendenz: 5.3 Alle Sätze sind Resultate von Wahrheitsoperationen mit den Elementarsätzen. Die Wahrheitsoperation ist die Art und Weise, wie aus den Elementarsätzen die Wahrheitsfunktion entsteht. Nach dem Wesen der Wahrheitsoperation wird auf die gleiche Weise, wie aus den Elementarsätzen ihre Wahrheitsfunktion, aus Wahrheitsfunktionen eine neue. Jede Wahrheitsoperation erzeugt aus Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen wieder eine Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen, einen Satz. Das Resultat jeder Wahrheitsoperation mit den Resultaten von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen ist wieder Resultat einer Wahrheitsoperation mit Elementarsätzen. Jeder Satz ist das Resultat von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen. (52f., Hervorhebung im Original) Aus diesem verhältnismäßig langen Abschnitt greife ich nur ein paar Elemente heraus. Am Anfang der Passage stellt Wittgenstein fest: „ Alle Sätze sind Resultate von Wahrheitsoperationen mit den Elementarsätzen “ und an ihrem Ende: „ Jeder Satz ist das Resultat von Wahrheitsoperationen mit Elementarsätzen “ . Schon wieder: Angenommen, dass sich komplexe Sätze restlos in Elementarsätze auflösen lassen (ich lehne diese Behauptung entschieden ab, aber „ um des Arguments willen . . . “ ), kann man durchaus behaupten, dass sich die Wahrheitsfunktion jedes komplexen Satzes als eine Funktion der Wahrheitswerte seiner Elementarsätze definieren lässt. Aber sicher nicht die Aussage des Satzes! An dem komplexen Satz „ Miranda liebt Rudolf und Rudolf hasst Miranda “ interessiert uns nicht in erster Linie, dass der Satz wahr ist (wenn er wahr ist), sondern dass sich Miranda in einer äußerst unangenehmen, vielleicht sogar verzweifelten existenziellen Lage befindet. Die Zuschreibung der Wahrheitswerte zu den Elementen dieses Satzes und zum Satz als Ganzes ist aus unserer menschlichen Sicht eigentlich nebensächlich. Steht einmal diese Zuschreibung fest, fängt der Prozess der Verarbeitung der Aussage, der Reaktion auf sie erst an. Ähnliches lässt sich vielleicht auch von diesen Sätzen sagen: „ Vorgestern wurden in Syrien 100 Zivilisten umgebracht, gestern 80, heute wiederum 100; innerhalb von nur drei Tagen wurden in Syrien also bereits 280 Zivilisten getötet. “ Angenommen die ersten drei Elementarsätze sind alle wahr, so ist auch der letzte Elementarsatz wahr. Aber diese Feststellung ist nicht das Ende, sondern bloß der Anfang eines normalen menschlichen Umgangs mit diesen Sätzen. 282 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="297"?> Satz 5.6 lautet: „ Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt “ (Hervorhebung im Original). Ist das wirklich so? Zunächst ist zu vermerken, dass in diesem Satz das Wort „ Sprache “ in Einzahl steht. Was aber ist, wenn jemand mehrere Sprachen beherrscht? Verdoppelt sich seine Welt mit jeder neu erworbenen Sprache? Und wenn nicht, wieso nicht? Viel wichtiger aber als dieser eher pedantische Einwand ist ein anderes Problem. Ich habe bereits oben angedeutet, dass im Leben nicht bloß die logischen Verhältnisse zwischen den Sätzen und oft auch nicht der begriffliche Inhalt der Sätze entscheidend sind. Der Satz „ Miranda liebt Rudolf und Rudolf hasst Miranda “ wie auch der Satz „ Vorgestern wurden in Syrien 100 Zivilisten umgebracht, gestern 80, heute wiederum 100; innerhalb von nur drei Tagen wurden in Syrien also bereits 280 Zivilisten getötet “ sind nicht bloß Informationsträger, sie rufen beim Hörer gewisse Reaktionen hervor. Müssen diese Reaktionen verbalisiert werden? Ich glaube, dies ist nicht nötig und wird oft auch nicht gemacht, und dennoch: Man hat diese Reaktionen. Oft braucht es lange, bis man sich klar darüber geworden ist, wie man auf ein Ereignis, in einer Situation emotional, gefühlsmäßig reagierte. Es kann auch vorkommen, dass man „ im Nachhinein “ merkt, dass man eigentlich anders reagierte, als man das zunächst bewusst verbalisierte, dass man z. B. eigentlich Wut und nicht Trauer in einer konkreten Situation empfand. Und dennoch, man erlebte etwas. Diese Situation kompliziert sich zusehends, wenn man von den Reaktionen von Kindern spricht. Oft fühlen sie in bestimmten Situationen sehr stark etwas, das sie nicht in Worte fassen können. Ihre Welt reicht also offensichtlich über die Grenzen ihrer Sprache hinaus. Ähnlich geht es einer Person, die sich plötzlich in einem fremden Land befindet, dessen Sprache sie nicht beherrscht. Plötzlich gibt es so viele Dinge, die man kommunizieren will und nicht kann, und man wird sich schmerzhaft bewusst, dass die eigenen Sprachfähigkeiten die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten extrem einengen. Dann kann man nur sagen: „ Meine Welt passt in meine Sprache nicht hinein! Sie ist viel reicher als meine Sprache “ . Ähnliches lässt sich selbstverständlich auch über Musik oder allgemeiner über Kunsterlebnisse sagen: auch hier gehen unsere Empfindungen oft weit über die Grenzen unserer Sprache hinaus. Schon deshalb, weil z. B. kaum jemand all die Farbnuancen benennen kann, die man doch unterscheiden kann, wenn man sie sieht, und die einen beeindrucken. Das Gleiche gilt für die Musik: kaum jemand kann alle Noten, die er in einer Symphonie hört, benennen, und dennoch hinterlassen sie in der Seele des Menschen einen gewissen Eindruck. Es ist ein Irrglaube, dass die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt bedeuten. Der nächste Satz ist noch extremer, 5.61: „ Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen “ . Hier kommt die verengte Optik eines leidenschaftlichen Logik-Verehrers nochmals deutlich zum Ausdruck. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es entgegen Wittgensteins Behauptung 3.032 ( „ Etwas ‚ der Logik Widersprechendes ‘ in der Sprache darstellen, kann man ebensowenig . . . “ ) durchaus möglich ist, unlogische Behauptungen 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 283 <?page no="298"?> zu machen. Schon dieser Umstand macht klar, dass die Grenzen der Welt mit den Grenzen der Logik nicht identisch sind. Viel wichtiger aber ist, dass, wie ebenfalls bereits angedeutet, unsere wichtigsten menschlichen Reaktionen und Haltungen, unsere menschliche Existenz in der Welt sehr oft herzlich wenig mit der Logik zu tun haben. Schon die Tatsache, dass jemand wie Wittgenstein so tief von der formalen Logik fasziniert war, dass er sie beinahe vergöttlichte, ist keineswegs ein logisches Ergebnis irgendwelcher logischer Operationen an irgendwelchen Elementarsätzen, sondern ein existenzielles Faktum der Person Ludwig Wittgenstein, das allen seinen Überlegungen vorrangig ist und sie mit „ unsichtbarer Hand “ in eine bestimmte Richtung steuerte. Satz 6 ist eine weitere Frucht von Wittgensteins Vorliebe für formale Logik: 6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [ p , , N( )]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes. Es ist bezeichnend für Wittgensteins Vorgehensweise, dass der Satz in dieser Form im Tractatus erscheint. Denn es ist offensichtlich, dass er für die „ Nicht- Eingeweihten “ völlig unverständlich ist. Um ihn verstehen zu können, muss man mit der formalen Logik und der formallogischen Notation vertraut sein, und zwar mit derjenigen ihrer unterschiedlichen Varianten, die Wittgenstein an dieser Stelle zur Anwendung bringt. Er bietet keine Erklärung seiner Symbole, was man auf mindestens zwei Weisen deuten kann: 1) entweder schreibt er nur für die „ Eingeweihten “ (in die formale Logik und diese besondere Art, sie symbolisch darzustellen); oder 2) er schreibt für alle, mit der Haltung etwa „ Wenn du dies nicht verstehen kannst, dann bist du selber schuld, du bist ein Idiot und ich werde dir sicher nicht helfen, meine Gedanken zu verstehen. “ Der ganze Duktus des Tractatus ist, wie wir dies bereits gesehen haben, der einer apodiktischen Feststellung gewisser angeblicher Wahrheiten, die keine Diskussion zulässt und keine braucht, einer Feststellung, an deren Ende alle Probleme der Philosophie (angeblich) gelöst worden sind. Durch das ganze Buch zieht sich unterschwellig diese unausgesprochene Botschaft Wittgensteins an den Leser: „ Ich habe Recht, und wenn du das nicht einsiehst, dann bist du selber schuld. Ich lasse mich auf keine Diskussion über das Gesagte ein. Meine Einsichten, meine Wahrheiten brauchen auch keine Begründung. “ Was aber will er mit Satz 6 sagen? Unter p ist die Menge aller (möglichen) Elementarsätze zu verstehen, unter die Menge aller Untermengen dieser Sätze, unter N die sogenannte Scheffer ’ sche Funktion, also eine Operation an den Wahrheitswerten der Elementarsätze, die der Konjunktion der Negationen zweier beliebiger Sätze entspricht: [nicht-p und nicht-q oder [ : p ^ : q]. Für zwei Sätze in der gewöhnlichen Kombination ihrer Wahrheitswerte ergibt sich also die folgende (Wittgenstein ’ sche) Wahrheitstafel: 284 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="299"?> p q nicht-p und nicht-q W W F F W F W F F F F W Mit der Scheffer ’ schen Funktion lassen sich alle anderen Wahrheitsfunktionen (Negation, Konjunktion, Disjunktion, Implikation usw.) definieren (Tetens 2009, S. 57). Satz 6 besagt dann effektiv, dass jeder logische Satz aus allen Elementarsätzen durch die Anwendung der Scheffer ’ schen Funktion auf eine Untermenge dieser Sätze abgeleitet werden kann, oder einfacher gesagt, durch die Negation von allen Sätze dieser Untermenge. Macht das Sinn? Es mag sein, dass wir jeden beliebigen Satz durch die Negation aller anderen Sätze (mit der Ausnahme von dem, den wir formulieren wollen) erhalten haben, aber dies ist selbstverständlich eine völlig künstliche Konstruktion. Im Leben werden wir das niemals machen wollen und auch nicht können, denn indem wir einen bestimmten Satz formulieren, denken wir überhaupt nicht an alle anderen möglichen Sätze, die wir formulieren könnten. Wir denken nur an den Satz, den wir formulieren wollen. Es ist auch offensichtlich, dass Wittgenstein seine Perspektive auf die Aussagesätze verengt, mit denen sich die Logik für gewöhnlich befasst. Es gibt aber auch andere Satzformen: Fragen, Befehle usw., die sich der Wittgenstein ’ schen Analyse völlig entziehen. (Wie wir bald sehen werden, sah Wittgenstein diese Einseitigkeit später ein.) Es ist also eine grobe Vereinfachung, von der „ allgemeinen Form des Satzes “ zu sprechen, wenn man bloß Aussagesätze im Sinn hat, folglich geht die Wittgenstein ’ sche Formulierung dieser „ allgemeinen Form “ völlig am Leben und am realen Sprachgebrauch vorbei. Satz 6.13 lautet: „ Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist transzendental. “ Nach den obigen Überlegungen ist es nicht mehr nötig, sich länger mit diesem Satz aufzuhalten. Die Logik ist eine Disziplin (also ein Lehre), die uns darüber unterrichten kann, wie sich richtige Schlussfolgerungen ziehen lassen. Sie befasst sich also mit der Struktur von rationalen Argumenten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es gibt zahlreiche Phänomene in der Welt, die sich innerhalb der Logik und ihrer Gesetze nicht abbilden lassen. „ There are more things in heaven and earth, Horatio, Than are dreamt of in your philosophy. “ 163 Es mag sein, dass man die elementare Arithmetik von der Logik ableiten kann, sicher aber nicht die Welt. Satz 6.3 lautet: „ Die Erforschung der Logik bedeutet die Erforschung aller Gesetzmäßigkeiten. Und außerhalb der Logik ist alles Zufall. “ Gemeinhin wird diese extreme Formulierung folgendermaßen gedeutet: Wenn wir alle Sach- 163 Hamlet 1. 5. 165 - 6. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 285 <?page no="300"?> verhalte der Welt kennen würden und alle Elementarsätze über sie bilden könnten, dann würden sich die Beziehungen und Kombinationen zwischen allen diesen Sätzen rein aufgrund der Gesetze der Logik ergeben. Auch die sogenannten Naturgesetze würden sich dann quasi „ automatisch “ aus der rein logischen Betrachtung der Beziehungen zwischen den Elementarsätzen ergeben (was Schlick und Carnap sehr freuen würde). Doch diese Behauptung ist sicher falsch. Angenommen, wir würden eine unendlich lange Reihe von Sätzen bilden wie: „ Die Anziehungskraft zwischen Erde und einem sie umkreisenden Körper nimmt zum Quadrat der Entfernung zwischen den beiden ab “ , „ Die Anziehungskraft zwischen der Sonne. . . “ , „ Die Anziehungskraft zwischen dem Stuhl und dem Tisch . . . “ usw., so könnten wir dennoch nicht logisch schließen, dass die Anziehungskraft zwischen zwei beliebigen Körpern zum Quadrat der Entfernung zwischen den beiden abnimmt, denn eine solche Behauptung eines Gesetzes ginge über jegliche mögliche Beobachtung hinaus und träfe Aussagen nicht nur über Gegenstände, die jetzt existieren, ob sie beobachtet werden können oder nicht, sondern auch über Gegenstände, die in der Vergangenheit existierten und nicht beobachtet wurden und heute nicht mehr existieren, wie auch über Gegenstände, die noch nicht existieren und vielleicht nie beobachtet werden. Kurz: eine solche Behauptung würde von der Induktion Gebrauch machen, die keineswegs eine logisch-deduktive Schlussmethode ist. Wir sind jedoch der Ansicht, dass die induktive Schlussmethode, obwohl sie sich logisch nicht begründen lässt, uns ermöglicht, die Naturgesetzmäßigkeiten zu erforschen. Darüber hinaus wurden wir in der modernen Physik und insbesondere in der Quantenmechanik mit Tatsachen konfrontiert, die der gewöhnlichen Logik widersprechen. Man muss also Phänomene und auch Gesetzmäßigkeiten erforschen, die nicht nur nicht innerhalb der Logik liegen, sondern ihr auch direkt widersprechen. Das Ende des Tractatus Bis jetzt habe ich einige wichtige Äußerungen des Tractatus kritisch beleuchtet, die, ob man mit ihnen einverstanden sein kann oder nicht, im Großen und Ganzen das Programm des logischen Positivismus unterstützen. Aus diesem Grund haben sie auch - wie ich zu Beginn andeutete - das Interesse, ja, sogar den Enthusiasmus der Mitglieder des Wiener Kreises geweckt. Am Ende des Buches jedoch ändert sich der Ton deutlich und wir begegnen dort Feststellungen, die sich nur schwer mit dem Programm des Wiener Kreises vereinbaren lassen. 6.371 Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. 6.372 So bleiben sie bei den Naturgesetzen als bei etwas Unantastbarem stehen wie die Älteren bei Gott und dem Schicksal. 286 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="301"?> Und sie haben ja beide Recht, und Unrecht. Die Alten sind allerdings insofern klarer, als sie einen klaren Abschluss anerkennen, während es bei dem neuen System scheinen soll, als sei alles erklärt. (Hervorhebung im Original) Es scheint an dieser Stelle, dass Wittgenstein den Wert der Naturgesetze für die Erklärung der Wirklichkeit in Frage stellt, und, ein wenig im Geiste des viel späteren Feyerabend, die moderne Naturwissenschaft auf der gleichen Stufe ansiedelt wie die mythischen Naturerklärungen der „ Alten “ oder sogar eine Ebene darunter. Meint er das wirklich so? 6.41 Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles, wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht: es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. Was es nichtzufällig macht, kann nicht in der Welt liegen, denn sonst wäre dies wieder zufällig. Es muss außerhalb der Welt liegen. Hier wiederum scheint es, dass er dem „ Sinn der Welt “ durchaus Existenz zubilligt, ihn nur als außerhalb der Welt liegenden versteht. Wenn er aber außerhalb der Welt besteht, wo besteht er dann? Wie soll man diese rätselhaften Formulierungen verstehen? 6.42 Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken. 6.421 Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.) Hier erstaunt uns Wittgenstein wieder: Er sagt ganz eindeutig, dass es die Ethik gibt, dass sie kein Unsinn ist, wie das oft ein wenig später von den Logischen Positivisten behauptet wurde. Mehr noch: Die Ethik (und mit ihr die Ästhetik) ist für Wittgenstein transzendental, wie die Logik. Wiederum eine erstaunliche Feststellung. 6.432 Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt. Wiederum eine verblüffende Feststellung. Es scheint, dass Wittgenstein an die Existenz Gottes glaubt, obschon er meint, dass sich Gott in der Welt nicht offenbart. 6.44 Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist. 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 287 <?page no="302"?> Ist dies möglich? Das Mystische wird hier eindeutig nicht lächerlich gemacht, sondern durchaus ernst genommen. Kann es sein, dass Wittgenstein dies wirklich so meint? 6.52 Wir fühlen, dass, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Verstehen wir Wittgenstein richtig: ist es sein Ernst, dass die Wissenschaft unsere Lebensprobleme nicht berührt? Was meint er mit den Lebensproblemen? Was kann sie dann berühren? 6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Bis jetzt haben wir Wittgensteins Intention so verstanden, dass er zeigen wollte, dass „ alles, was sich sagen lässt, [. . .] sich klar sagen [lässt] “ , und dass er meint, dass dasjenige, was sich nicht klar sagen lässt, entweder gar nicht interessant ist oder vielleicht sogar einfach Unsinn. „ Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr - nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken [. . .]. Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein “ (S. 9). Jetzt scheint es, dass er sagen will, dass außerhalb der Grenze der Sprache etwas liegt, das möglicherweise sogar wertvoll ist: das Mystische. Meint er das wirklich? 6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Was kann er wohl mit dieser Behauptung meinen? Das sein Buch ein Unsinn ist? Die ganze Zeit war er doch scheinbar darum bemüht, eben das Sinnvolle vom Unsinnigen zu trennen und die Grenzen des Sinnvollen aufzuzeigen. Sollen wir diese Bemühung als eine Zeitverschwendung betrachten? 7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Gemeinhin wird dieser Schlusssatz des Tractatus als ein Verbot der Rede über den „ Unsinn “ gedeutet, des Unsinns, der sich laut dem Vorwort des Verfassers außerhalb der Grenzen des Aussprechbaren befindet. Insbesondere wurde diese Aufforderung als ein Verbot der „ Metaphysik “ verstanden. Denn Wittgenstein stellte doch explizit fest - wie wir bereits gesehen haben - , dass sich alle wahren Sätze innerhalb der Grenzen der Naturwissenschaft(en) befinden. Daraus folgt, dass die Sätze außerhalb dieses Bereichs seiner Ansicht nach entweder falsch sind, oder dass sich ihnen keinen Wahrheits- 288 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="303"?> wert zuschreiben lässt, in welchem Fall man sich Diskussionen über solche Sätze sparen kann. Zu einem solchen Bereich außerhalb der Naturwissenschaft(en) gehört jedoch eindeutig die Metaphysik. Der Schlusssatz des Tractatus wirft jedoch Fragen auf. Er sagt nämlich nicht, dass, wovon man nicht sprechen kann, Unsinn sei (was man vielleicht erwarten könnte), sondern lediglich, dass man über dieses „ Etwas “ schweigen soll. Der Schluss des Werkes erweckt somit den Eindruck, dass Wittgenstein darauf hinweisen will, dass sich, wie bereits im Satz 6.522 deutlich und explizit festgehalten, außerhalb des Aussprechbaren ein Unaussprechliches befindet, das vielleicht eine Bedeutung hat (denn die Lösung aller wissenschaftlichen Fragen löst unsere Lebensprobleme noch keineswegs), über das man jedoch schweigen muss. Was kann Wittgenstein wohl damit meinen? Wir haben bereits gesehen, dass Carnap das Ende des Tractatus nicht gefiel und dass er meinte, man solle es ignorieren, was eine entrüstete Reaktion von Seiten Wittgensteins hervorrief. Es ist also offensichtlich, dass das, was Wittgenstein am Ende sagen wollte, ihm auch sehr wichtig war. Wir werden auf diese Frage demnächst zurückkommen. Fazit Ich habe am Anfang dieses Kapitels geschildert, was für einen großen Eindruck Wittgenstein und sein Tractatus auf seinen Zeitgenossen machten. Über Russells Bewunderung für Wittgenstein habe ich bereits berichtet. Ähnlich erging es Schlick nach seiner ersten Begegnung mit Wittgenstein. Er war danach fast außer sich vor Begeisterung für Wittgenstein. Seine Gattin beschrieb den Zustand ihres Mannes nach dieser Begegnung als die „ ehrerbietiger Haltung des Pilgers “ und bezeichnete ihn als „ hingerissen “ von dem Treffen (Stadler 1997, S. 470). Der Einfluss Wittgensteins auf Schlick war so stark, dass dieser seine Position des kritischen Realismus aus der Allgemeinen Erkenntnislehre preisgab und ab 1925 die „ linguistische Wende der Philosophie “ im Sinne Wittgensteins betrieb. Er schrieb sogar dem von ihm verehrten Wittgenstein gewisse Erkenntnisse zu, welche er selbst bereits in der Allgemeinen Erkenntnislehre vertreten hatte (ebd.). Ich habe bereits erwähnt, dass die Mitglieder des Wiener Kreises den Tractatus monatelang Satz für Satz lasen und diskutierten. Das Werk hatte einen bedeutenden Einfluss auf die Arbeiten des Kreises. Und dennoch meine ich, dass dieses Werk neunzig Jahre nach seinem Entstehen und aus der durch die dazwischen liegenden Erfahrungen und Überlegungen bereicherten Sicht von heute - vor allem aber auch unabhängig vom Einfluss der Persönlichkeit Wittgensteins und der hohen Meinung von Autoritäten wie Bertrand Russell, die Wittgenstein entschieden für einen Genie gehalten haben, und trotz des gebührenden Respekts für seinen Verfasser - als größtenteils verfehlt eingestuft werden muss. Abgesehen von den möglichen Verdiensten des Tractatus für die formale Logik (die ich 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 289 <?page no="304"?> hier ausgeklammert habe), lassen sich keine seiner Hauptthesen (mit der möglichen Ausnahme der letzten Abschnitte, auf die wir gleich noch eingehen werden) heute aufrechterhalten, und wie ich es gezeigt habe, strotzt das Werk nur so von bombastischen Feststellungen, die sich bei genauerer Analyse als völlig unbegründet bzw. schlicht deplatziert erweisen. Es verwundert deshalb nicht, dass bereits Ende der 20er Jahre „ the central theses of the Tractatus collapsed like a row of dominoes “ (Hacker 2004, S. 903) und dass Wittgenstein die die frühen Dreißigerjahre damit verbrachte, seine vormaligen Behauptungen zu kritisieren und förmlich zu demontieren, in dem Versuch, die Grundlage für seine spätere Philosophie zu legen (Hacker ebd., S. 903 und 904). Ich habe in meiner Diskussion von Schlicks Allgemeiner Erkenntnislehre auf dessen Tendenz zum geometrisierenden Denken hingewiesen. Im Falle von Wittgenstein kann man von einer anderen Abirrung sprechen: von einer sehr starken Tendenz zum logisierenden Denken, einer Neigung, die Welt durch die verengte Optik der formalen Logik zu betrachten. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Gottlob Frege, dessen logische Arbeiten einen starken Einfluss auf Wittgenstein hatten, anscheinend ein Mensch war, der sich praktisch ausschließlich für Logik und Mathematik interessierte. Wittgenstein berichtete über seine Begegnungen mit Frege: „ Frege would never talk about anything but logic and mathematics. If I started on some other subject, he would say something polite and then plunge back into logic and mathematics “ (Kanterian 2007, S. 36). Ich habe jedoch am Ende des vorigen Kapitels argumentiert, dass der Reichtum der Welt sich nicht auf die bloßen logischen Verhältnisse und Relationen reduzieren lässt, in ihnen nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Dass Wittgenstein eine verengte Optik auf die Welt hatte (mindestens zur Zeit seiner Arbeit am Tractatus), ist aber nicht nur die Ansicht eines außenstehenden Kritikers, sondern paradoxerweise empfand Wittgenstein das selbst so. In seinen Philosophischen Untersuchungen geht er äußerst kritisch mit seinen einstigen Ansichten ins Gericht, vor allem mit der von ihm früher vertretenen engen und einseitigen Auffassung der Sprache: Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? - Es gibt unzählige solcher Arte: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir „ Zeichen “ , „ Worte “ , „ Sätze “ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andere veralten und werden vergessen. (Ein ungefähres Bild davon können uns die Wandlungen der Mathematik geben.) Das Wort „ Sprachspiel “ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln - Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen - Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung (Zeichnung) - 290 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="305"?> Berichten eines Hergangs - . . . Theater spielen - Reigen singen - Rätsel raten - Einen Witz machen; erzählen - . . . Bitten, Danken, Fluchen, Grüssen, Beten. - Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihre Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung [der Anfang des offiziellen Titels des Tractatus]). (Wittgenstein 1999, § 23, S. 250) Es ist in der Tat interessant zu sehen, dass sich Wittgenstein selbst in seiner späteren Phase, die, wie wir gesehen haben, bereits in den 30er Jahren anfing, der Einschränkungen, die ich in der obigen Diskussion moniert habe, völlig bewusst wurde. Er hat sich aber auch kritisch zu seiner früheren Sicht der Logik als einer transzendentalen, der Sprache und dem Leben übergeordneten Instanz geäußert: F. P. Ramsey hat einmal im Gespräch mit mir betont, die Logik sei eine „ normative Wissenschaft “ . Genau welche Idee ihm dabei vorschwebte, weiß ich nicht; sie war aber zweifellos eng verwandt mit der, die mir erst später aufgegangen ist: dass wir nämlich in der Philosophie den Gebrauch der Wörter oft mit Spielen, Kalkülen nach festen Regeln, vergleichen, aber nicht sagen können, wer die Sprache gebraucht, müsse ein solches Spiel spielen. - Sagt man nun aber, dass unser sprachlicher Ausdruck sich solchen Kalkülen nur nähert, so steht man damit unmittelbar am Rande eines Missverständnisses. Denn so kann es scheinen, als redeten wir in der Logik von einer idealen Sprache. Als wäre unsre Logik, eine Logik, gleichsam, für den luftleeren Raum. - Während die Logik doch nicht von der Sprache - bzw. vom Denken - handelt in dem Sinne, wie eine Naturwissenschaft von einer Naturerscheinung, und man höchstens sagen kann, wir konstruierten ideale Sprachen. Aber hier wäre das Wort „ ideal “ irreführend, denn das klingt, als wären diese Sprachen besser, vollkommener, als unsere Umgangssprache; und als brauchte es den Logiker, damit er den Menschen endlich zeigt, wie ein richtiger Satz ausschaut. All das kann aber erst dann im rechten Licht erscheinen, wenn man über die Begriffe des Verstehens, Meinens und Denkens größere Klarheit gewonnen hat. Denn dann wird es auch klar werden, was uns dazu verleiten kann (und mich verleitet hat) zu denken, dass, wer einen Satz ausspricht und ihn meint, oder versteht, damit einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln. (Wittgenstein 1999, § 81, S. 286, Hervorhebung im Original) Dieser Abschnitt macht deutlich, dass Wittgenstein seine frühere Auffassung der Logik als einer den „ richtigen “ Gebrauch der Sprache regelnden, ihr Vorschriften machenden und somit der Sprache und dem Leben übergeordneten, transzendenten Disziplin zugunsten einer Sicht aufgab, in der die 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 291 <?page no="306"?> Logik nur noch die Rolle einer Dienerin der Sprache und des Lebens innehat. Es ist aufschlussreich, dass Wittgenstein hier vom „ Verleitetsein “ zu der Ansicht schreibt, dass man, indem man spricht, einen Kalkül nach bestimmten Regeln betreibt. „ Was uns dazu verleiten kann (und mich verleitet hat) “ , heißt es bei ihm, d. h., dass nicht nur er, sondern auch andere zu dieser Ansicht „ verleitet “ wurden. Wer sind diese „ anderen “ ? Meinte er vielleicht die Mitglieder des Wiener Kreises? Denn dass sie verleitet wurden, steht heute außer Zweifel. Wenn aber Wittgenstein dies bereits in den 40er Jahren eingesehen hat, dann war er wohl einer der Ersten, die das Programm des logischen Positivismus in Frage stellten. Nur am Rande soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass der „ späte “ Wittgenstein in dem oben zitierten Abschnitt meinte, man müsse „ größere Klarheit “ in Bezug auf die Begriffe des Verstehens, Meinens und sogar Denkens gewinnen, um das Verhältnis der Sprache zur Logik und umgekehrt genauer bestimmen zu können. Interessant an diesem Hinweis aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts ist, dass wir bis heute nicht über eine solche größere Klarheit verfügen. Es wird immer noch oft angenommen, dass die Neurobiologie Aufschlüsse in Bezug auf die Prozesse des Verstehens, Meinens usw. bringen werde. Es sind jedoch zumindest einige zeitgenössischen Philosophen, unter ihnen solche prominente Figuren wie Richard Rorty und Jürgen Habermas, zu der Überzeugung gelangt, dass Gedanken ihrem Wesen nach nicht im Gehirn repräsentiert werden können (mehr dazu im Exkurs: „ Kann das Gehirn den Geist hervorbringen? “ ). Es ist in der Tat unschwer einzusehen, dass wir eigentlich keinen unmittelbaren Zugang zu den Begriffen an sich haben, dass wir stets entweder in Bildern (Vorstellungen) oder Worten denken, die nicht die Begriffe selbst sind, sondern lediglich eine Art Wegweiser zu ihnen. Der einflussreiche britische Philosoph Crispin Wright hat diese Einsicht in einer schönen Formulierung zum Ausdruck gebracht: [W]e have no wordless contact with the thought that P. If we are to assess it, it has somehow to be given to us symbolically. (Wright 1992, S. 222f., Hervorhebung im Original) Betrachten wir einen konkreten einfachen Fall: Wenn mich jemand dazu anhält, über das „ Dreieck “ nachzudenken und in meinem Bewusstsein die Vorstellung eines konkreten Dreiecks erscheint, dann weiß ich doch, dass diese konkrete Vorstellung nur ein Repräsentant, bloß eine konkrete Realisierung dessen ist, was ich unter dem Allgemeinbegriff „ Dreieck “ verstehe, der viel umfangreicher, umfassender ist als jegliche mögliche konkrete Vorstellung eines bestimmten Dreiecks. Und wie wir bereits gesehen haben, machte Gottlob Frege (und vor ihm Rudolf Steiner) darauf aufmerksam, dass es nicht so viele Begriffe des Dreiecks gibt wie Menschen, die diese Begriffe oder eben genauer: diesen Begriff denken, sondern dass es bloß einen Begriff des Dreiecks gibt, der in der, wie Frege es nannte, „ dritten Welt “ beheimatet 292 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="307"?> ist. Einen Begriff denken, heißt also, auf irgendeine Weise Zugang zu dieser seltsamen Welt gewinnen zu können. Zugang zu dieser Welt zu gewinnen, heißt wiederum vermutlich, eine Aktivität zu entwickeln, die ihn zu sichern vermag. Wenn aber dem Bewusstsein der Zugang zu den Begriffen an sich versperrt ist, so ist einleuchtend, dass jene Aktivität, die überhaupt erst das ist, was die einzelnen Begriffe hervorruft, um sie dann gleichsam in einen Gedankenteppich zu verweben, uns möglicherweise noch tiefer verborgen ist, als die einzelnen Begriffe/ Gedanken an sich. Es überrascht deshalb nicht, was Wright nur einige Seiten weiter schreibt: „ [S]omething irreducibly human and subcognitive actively contributes to our engagement with any issue at all “ (ebd., S. 226, Hervorhebung im Original). Auf die Tatsache, dass sich der Denkprozess bzw. die Denktätigkeit unserem Bewusstsein zunächst radikal entzieht, hat Rudolf Steiner bereits 1916 mit aller Schärfe und seltener Klarheit hingewiesen: „ Im gewöhnlichen Bewusstsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird “ (GA20, S. 161). Auf diese Überlegung werden wir an einer späteren Stelle dieses Buches ausführlicher eingehen müssen. 164 Kehren wir jedoch von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen zu seinem Tractatus zurück. Der Umstand, dass dieser den Test der Zeit nicht bestanden hat, ist meines Erachtens äußerst lehrreich. Denn wie anhand der biographischen Skizze vom Anfang dieses Kapitels meiner Hoffnung nach deutlich wurde, ist dieses Werk die Schöpfung eines Genies, das auf seine Zeitgenossen einen tiefen und bleibenden Eindruck machte. Wir haben gesehen, dass Wittgenstein philosophische Diskussionen unter Dozenten der Universität von Cambridge völlig dominierte, dass er zumindest von einigen beinahe wie ein Gott behandelt wurde (für die Mitglieder des Wiener Kreises war er, bevor sie ihm begegnet sind, das „ unbekannte Genie “ (Stadler 1997, S. 232)) und dass selbst namhafte Philosophen in seiner Gegenwart den Eindruck hatten, durch Wittgensteins Ausstrahlung zur Bedeutungslosigkeit degradiert zu werden. Wittgensteins „ Kariere “ an der Universität von Cambridge ist in dieser Hinsicht auch äußerst bezeichnend: es kommt sehr selten vor, dass jemand inständig darum gebeten wird, eine Professorenstelle in Cambridge anzunehmen. Und dennoch, seine Ansichten haben sich eindeutig als falsch erwiesen, was er selbst in der späteren Phase seines Denkens eingesehen und zugegeben hat. Ein Genie, das sich irrt? Offensichtlich braucht wahre Erkenntnis mehr als bloßes Genie, denn an Wittgensteins Fall wird offensichtlich, dass selbst ein Genie nicht gegen Erkenntnisfehler gefeilt ist. Es ist in dieser Hinsicht interessant, dass Wittgenstein seine Ansichten in den 30er Jahren häufiger änderte (Hacker 2004, S. 903). In einer Nebenbemerkung möchte ich darauf hinweisen, dass das 20. Jahrhundert außergewöhnlich reich an Ereignissen und Entwicklungen war, die 164 Vgl. Kapitel „ Übersinnliche Erkenntnismethoden der Imagination, Inspiration und Intuition und die Frage nach der Objektivität ihrer Forschungsresultate “ . 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 293 <?page no="308"?> oft mit fast grausamer Unerbittlichkeit zeigten, dass sich Hoffnungen der Menschen als Illusionen entpuppen, auch wenn diese Hoffnungen von vielen geteilt werden. Millionen von Männern zogen begeistert in den Ersten Weltkrieg, getragen von der Überzeugung, dass er eine Art Katharsis für Europa bringen werde. Doch er brachte vor allem unsägliches Leid. Millionen von Menschen waren vom Kommunismus, vom Stalinismus, auch vom Nationalsozialismus, später von Mao Zedong begeistert. Wir wissen, wie diese Begeisterung endete. Im Falle von Wittgenstein waren es nicht Millionen, doch zumindest Duzende, und zwar oft die „ hellsten Köpfe “ jener Zeit, die in ihn die größten Hoffnungen gesetzt haben. Sie erfüllten sich nicht. Interessanterweise waren die oben erwähnten großen „ Führer “ der Menschheit absolut von ihrer Mission überzeugt. Mir scheint, dass sich das Gleiche auch von Wittgenstein sagen lässt. Ich habe bei der Besprechung der Allgemeinen Erkenntnislehre darauf hingewiesen, dass Schlicks Vorgehensweise in diesem Werk sehr systematisch, logisch und konsequent ist, dass er seine Ansichten sorgfältig Schritt für Schritt vor dem Leser entfaltet und sich darum bemüht, sie so gut wie möglich zu begründen. Man hat den Eindruck, dass er auf den Leser eingehen, ihn auf seine Gedankenreise mitnehmen will, und gewillt ist, ihm alles, was auf dieser Reise zu beobachten ist, liebevoll und geduldig zu erläutern. Dieser Eindruck deckt sich mit den uns erhaltenen Berichten über Schlicks Persönlichkeit. Darin heißt es, dass er eine freundliche, tolerante und bescheidene Persönlichkeit hatte und ein Talent, Menschen zusammenzuführen. Schlicks Bescheidenheit ging so weit, dass er durchaus fähig war, seine eigenen Verdienste (z. B. der Allgemeinen Erkenntnislehre) zum Nachteil von sich selbst und zugunsten seiner Mitarbeiter in den Hintergrund treten zu lassen (Stadler 1997, S. 231). Wittgensteins Stil im Tractatus ist dieser Haltung diametral entgegengesetzt: er ist in seiner Darstellung - wie wir gesehen haben - apodiktisch, rücksichtslos, dogmatisch, überheblich, letztendlich vielleicht doch auch arrogant. Bezeichnend für seine Vorgehensweise ist auch der Umstand, dass er sich praktisch nicht auf andere Denker und ihre Werke bezieht. Er erwähnt einige wenige hin und wieder (vor allem Russell, auch Frege und Whitehead (3.318, 4.0031, 5.02, 5.252, 5.4, 5.521, 5.525, 5.5303, 5.535, 5.541, 5.5422)) und ein paar andere Denker nur flüchtig (Moore: 5.541, Hertz: 6.361; Kant: 6.36111). Es entsteht so der Eindruck eines selbstgenügsamen Werks, das praktisch keinen Bezug zur Arbeit und zu den Leistungen anderer hat und das, weil es sich aus eigener Kraft im von intellektuellen Anregungen freien Raum zu entfalten vermag, gut auf solche Bezüge verzichten kann. Vielleicht war Wittgenstein ein Genie, aber ein Genie mit recht unangenehmen Persönlichkeitszügen. Hacker schreibt, dass Wittgenstein Liebe und Loyalität, aber auch Angst in seinen Mitmenschen evozierte. Stadler beschreibt ihn als einen „ heroischen Einzelgänger [. . .], der sich jeder Systematisierung und verbindlichen Rekonstruktion seiner Philosophie, aber auch jeder partnerschaftlichen intellektuellen Zusammenarbeit widersetzte “ (Stadler ebd., S. 473), und er attestiert ihm 294 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="309"?> „ egomanische Züge “ (ebd.). Zahlreiche Erzählungen über Wittgensteins Verhalten in sozialen Situationen bestätigen diesen Befund. So wird z. B. berichtet, dass sich Wittgenstein beim ersten Treffen mit Schlick, Waismann, Carnap, Feigl und dessen späterer Frau Maria Kaspar-Feigl geweigert hat, über die vorgeschlagene philosophische Thematik zu sprechen, und seinen Diskussionspartnern stattdessen Gedichte von Rabindranath Tagore vorlas: die meiste Zeit mit dem Rücken zu ihnen (ebd.). Von dem „ Vorfall Haidbauer “ , der die rücksichtslose Seite von Wittgensteins Persönlichkeit ans Licht brachte, habe ich bereits berichtet (s. oben). Noch Jahre später konnte ihn die Wut packen. Am 25. Oktober 1946 kam es im Moral Sciences Club in Cambridge zu einer Begegnung oder vielleicht genauer, zu einem Vorfall zwischen Wittgenstein und Karl Popper. Wittgenstein führte an diesem Abend den Vorsitz, Popper, damals Privatdozent für Logik und wissenschaftliche Methodik an der London School of Economics, war der Gastredner. Etwa 30 Philosophen, manche recht prominent, einer von ihnen Bertrand Russell, waren anwesend. Poppers Vortrag hatte das Thema „ Gibt es philosophische Probleme? “ . Es kam zum Streit: Popper verteidigte die Auffassung, dass philosophische Probleme durchaus real sind, während Wittgenstein argumentierte, dass es sich bei ihnen um bloße linguistische Scheinprobleme handeln würde. Die beiden Kontrahenten gerieten so heftig aneinander, dass sie fast aufeinander losgingen. Wittgenstein griff zum glühend heißen Feuerhaken, mit dem er Popper bedrohte und von ihm verlangte, er solle ihm ein Beispiel einer moralischen Regel nennen. Popper erwiderte: „ Not to threaten visiting speakers with pokers “ , worauf Wittgenstein beleidigt aus dem Zimmer stürmte (Edmonds und Eidinow 2001, S. 3). 165 Es scheint also, dass eine an Arroganz grenzende Überzeugung vom eigenen Wert, „ egomanische Züge “ , keine gute Voraussetzungen für die Wahrheitssuche bilden. Wir wissen aber auch, dass Wittgenstein noch eine völlig andere charakterliche Seite hatte: er war bereit, sein Vermögen zu verschenken, äußerst bescheiden zu leben und einer äußerst bescheidenen Beschäftigung nachzugehen (als Grundschullehrer in einem abgelegenen Dorf), sein Leben im Ersten Weltkrieg zu riskieren, eine prestigeträchtige und lukrative Stelle als Universitätsprofessor in Cambridge während des Zweiten Weltkriegs aus rein idealistischen Gründen aufzugeben (er könne nicht philosophieren, wenn andere sterben) usw. Wo finden wir diese andere Seite seiner Persönlichkeit? Vielleicht zeigt sie sich gar nicht in seinem philosophischen Schaffen, sondern „ lediglich “ in seinem Leben, in seiner Lebensführung, seinen Lebensentscheidungen? Oder ist diese andere Seite doch auch irgendwie im Tractatus sichtbar? Ich meine, dass die Antwort auf diese Frage „ Ja “ lauten muss. Wenn man die „ andere Seite “ Wittgensteins berücksichtigt, 165 Wobei zu erwähnen ist, dass diese Schilderung der Vorkommnisse von Popper stammt und umstritten ist (Edmonds und Eidinow ebd., S. 6 - 21). 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 295 <?page no="310"?> dann scheint es möglich, ja notwendig, die oben bereits zitierte Feststellung, „ Gott offenbart sich nicht in der Welt “ , ernst zu nehmen und aus ihr zu schließen, dass Wittgenstein an die Existenz Gottes glaubte. Eines Gottes jedoch, der sich nicht in der Welt offenbart, eines Gottes, der dem Intellekt, den rationalen, auch sprachlichen Fähigkeiten des Menschen unzugänglich ist, der sich lediglich in einer nicht in Worte zu fassenden Form zeigen kann: „ Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische “ . Dieser Gott ist die Quelle des Sinns der Welt ( „ Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen “ ), Er ist aber auch die Quelle des Ethischen, das, wie Er, ebenfalls unaussprechlich ist, von dem nicht gesprochen, das getan werden sollte, so wie Wittgenstein es in seinem Leben zu tun versuchte: „ Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transzendental “ . Da dieser Gott auch (selbstverständlich) der Urgrund der Sein ist, ein die offenbare Wirklichkeit schaffender und unterhaltender Gott, ist es letztendlich unmöglich, die offenbare Wirklichkeit mittels der sogenannten Naturgesetze aus ihr selbst erklärlich zu machen: „ Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die sogenannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien. “ Was sich sagen lässt, und dass sind die Sätze der Naturwissenschaft ( „ 6.53 Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft [. . .] “ ), ist eigentlich für die wahre Wirklichkeit, für den göttlichen Urgrund des Seins unbedeutend, völlig irrelevant, sie berühren sie/ ihn gar nicht, deshalb muss derjenige, der die Welt richtig sehen will, solche Sätze hinter sich lassen ( „ Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig “ ). Über diese höchste göttliche Wirklichkeit lässt sich nichts aussagen, über sie kann man nur schweigen: „ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ . Aus dieser Perspektive erweist sich Wittgensteins Tractatus als alles andere denn die Grundlage und Rechtfertigung des reduktionistischen Programms des logischen Positivismus, was Wittgensteins reservierte Haltung den Mitgliedern des Wiener Kreises gegenüber erklärlich macht. Der Grund für diese Haltung war nicht bloß und vielleicht sogar nicht in erster Linie seine Überheblichkeit, seine Arroganz, sondern seine den Ansichten der Vertreter des Wiener Kreises diametral entgegenstehende metaphysische Haltung: Während diese die Existenz der geistigen Welt, die Existenz Gottes leugnen wollten, war Wittgenstein in seinem Herzen zutiefst davon überzeugt, dass diese die einzige wahre Wirklichkeit bilden. Hacker schreibt, dass Wittgenstein in seinem Tractatus „ delimited the sphere of science in order to make room for ineffable mataphysics “ (Hacker 2004, S. 902), weil er der Ansicht war, dass das Wichtigste und Wertvollste im Leben der Menschen, das, was seinen wahren Wert ausmacht, nur „ gezeigt “ , nicht aber in Worten ausgedrückt werden kann (ebd., S. 899). Wittgensteins Tractatus zeigt sich in diesem Licht nicht als eines der vielen Werke des ausgehenden 19. und des 296 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="311"?> beginnenden 20. Jahrhunderts, die für die Abkehr von bzw. den Bruch mit der alten religiösen (christlichen) europäischen Tradition plädierten, sondern er erweist sich vielmehr als ein fast mystischer Traktat in der Tradition von Nikolaus von Kues ’ (1401 - 1464) De docta ignorantia: der gelehrten Unwissenheit. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, kann man auch sagen, dass Wittgenstein mit dem Tractatus keine andere Absicht verfolgte als eben die, die Kant zum Schreiben seiner Kritik der reinen Vernunft inspirierte. Im Vorwort zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest: „ Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen “ (Kant 1995, B XXXI, Hervorhebung im Original) - Wittgenstein tat mit seinem Tractatus eigentlich nichts anderes. „ Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen “ : das für den Menschen zentral Wichtige ist seiner Ansicht nach unaussprechbar, kann also vom Gesagten nicht berührt, nicht „ beschmutzt “ werden. Der Unterschied zwischen den beiden besteht in diesem Punkt lediglich darin, dass Kant meinte, man könne die transzendente Wertsphäre (Kant nannte sie „ eine moralische Welt “ (Kant ebd., B836)), durch den Glauben erkennen (ebd., B828), während Wittgenstein der Meinung war, dass sie sich lediglich dem „ Schauen “ erschließe bzw. ausschließlich „ gezeigt “ werden könne. Man kann also behaupten, dass die zentrale Errungenschaft des Tractatus nicht darin liegt, was in ihm geschrieben steht, sondern paradoxerweise in dem Hinweis darauf, dass sich das eigentlich Wichtige nicht darstellen lasse, dass es sich den Worten entziehe: Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig. Und diese Errungenschaft, die bis jetzt praktisch völlig unerkannt geblieben ist, 166 bildet meines Erachtens den bleibenden Wert dieses Werks. Da jedoch dieser Aspekt der Tractatus in keinster Weise in die Entwicklung der Doktrin des logischen Positivismus eingeflossen ist, soll er hier nicht näher behandelt werden. Fazit: die Hauptwerke des logischen Positivismus Wir haben drei für das Programm des logischen Positivismus zentrale Werke einer einigermaßen gründlichen Analyse unterzogen und dabei feststellen müssen, dass sie - distanziert, aber unvoreingenommen philosophisch betrachtet - sehr viele Unzulänglichkeiten aufweisen. Ohne hier nochmals auf alle Einzelheiten dieser Kritik eingehen zu wollen, möchte ich daran erinnern, dass wir im Fall der Allgemeinen Erkenntnislehre feststellten, dass Schlick stark zu einer - wie ich es bezeichnet habe - geometrisierenden 166 Vor kurzem hat Tetens eine in diese Richtung gehende Interpretation des Tractatus veröffentlicht (Tetens, 2009) 2 d Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus 297 <?page no="312"?> Denkart neigte und die Tatsache ausblendete, dass sich die natürliche Welt nicht zwingend an die geometrischen Gesetzmäßigkeiten halten muss. Im Falle von Wittgenstein haben wir gesehen, dass er unter dem Bann der Logik stand und die Auffassung vertrat, dass sich das Sagbare in eine Art logisches Kalkül zwängen lasse. Carnap wiederum war davon zutiefst überzeugt, dass sich die reiche phänomenale Erfahrungswelt auf bloße strukturelle Verhältnisse reduzieren lasse. Alle drei teilten sie die Überzeugung, dass sich, wie es in der Geometrie oder Mathematik üblich ist, komplexe Phänomene auf einfachere oder gar ganz einfache, elementare, „ atomare “ Aussagen einer „ Basisstufe “ werden zurückführen lassen, denn „ der Gegenstand ist einfach “ (Tlp, 2.02). Und noch etwas war ihnen gemeinsam. Wir haben gesehen, dass sich alle drei sehr kritisch über die Metaphysik und „ metaphysische Aussagen “ geäußert haben. Metaphysische Aussagen seien im Grunde genommen Unsinn, da sie mit Begriffen operieren würden, denen keine Bedeutung zugeschrieben werden könne. Es muss deshalb als gewisse Ironie des Schicksals betrachtet werden, dass diese Werke aus heutiger Sicht selbst als zum großen Teil metaphysische Konstruktionen erscheinen müssen. Die zahlreichen unreflektierten Annahmen, die in diese Werke eingeflossen sind, sind fraglos keine Resultate wissenschaftlicher empirischer Forschung, sondern des dieser Forschung eigentümlichen Bildes von der Welt und ihrer Funktionsweise. Ein solches Bild ist allerdings nichts anderes als eben eine Form dessen, was man in der Philosophie als Metaphysik bezeichnet. Misak zitiert in seinem bereits mehrfach erwähnten Werk Williams ’ Feststellung über das zentrale Werk des Hauptexponenten des logischen Positivismus in England, A. J. Ayers: „ [I]t is ironic that, at a distance of 50 years, [Ayer ’ s] Language, Truth and Logic reads like a paradigm metaphysical tract “ (Misak 1995, S. 79), 167 und schreibt: The same might be said of Carnap ’ s Aufbau and of any other major logical positivist work. [. . .T]he great Logical Empiricists - the most famous example is Rudolf Carnap - produced ‘ rational reconstruction of the language of science ’ - which looked for all the world like elaborate systems of metaphysics - or at least that is how they looked to philosophers who did not join the movement. (Ebd., S. 62f.) Der gleichen Meinung war auch einer der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart, Hilary Putnam: [The] attempts by Frege, Russell, Carnap, and the early Wittgenstein were called „ attacks on metaphysics, “ but in fact they were among the most ingenious, profound, and technically brilliant constructions of metaphysical systems ever achieved. (Putnam 1990, S. 52) Wir haben also gesehen, dass die grundlegenden Annahmen, auf denen die drei hier besprochenen Werke errichtet wurden, grundsätzlich verfehlt waren. Man muss folglich festhalten, dass das ganze Programm des logischen 167 Misak bezieht sich hier auf Williams 1986, S. 12. 298 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="313"?> Positivismus von Anfang an auf sehr wackligen philosophischen Füßen stand. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass dieses Programm nach verhältnismäßig kurzer Zeit in sich zusammenbrach. Betrachten wir jetzt ein wenig genauer, wie es zu dazu kam. 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus Bis jetzt haben wir in diesem Kapitel vom Wiener Kreis als eine Art homogene Einheit gesprochen. Es wäre aber sicherlich falsch zu meinen, dass innerhalb des Kreises immer perfekte Einigkeit in Bezug auf alle Aspekte der in ihm ausgearbeiteten Doktrin herrschte. Im Gegenteil: der Kreis setzte sich aus sehr intelligenten und eigenständigen Denkern zusammen, die Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen nicht scheuten. Darauf haben vor kurzem Stöltzner und Uebel mit aller Deutlichkeit hingewiesen: Die philosophische und historische Forschung der letzten zwei Jahrzehnte hat zu einer weitgehenden Neubewertung des Wiener Kreises geführt. Statt als eine homogene Gruppe, die ein thematisch enges und inzwischen überwundenes Programm, den Logischen Empirismus bzw. Logischen Positivismus vertreten habe, erscheint der Wiener Kreis heute als eine heterogene Bewegung von eigenständigen Denkern, die sich zum gemeinsamen Projekt einer wissenschaftlichen Weltauffassung zusammenfanden und dabei lokale wie internationale Allianzen mit Gleichgesinnten knüpften. Sosehr sich durch das lange vernachlässigte Studium der Originaltexte nun interne Meinungsverschiedenheiten in der Sache erschließen, sich innerhalb des Kreises sogar wesentliche Argumente der späteren Kritik am Logischen Empirismus finden, so erweist sich der Wiener Kreis nichtsdestoweniger als ein kohärentes historisches Phänomen [. . .]. (Stöltzner und Uebel 2006, S. IX) Es sollte deshalb nicht überraschen, dass bereits in den ersten Jahren der Existenz des Wiener Kreises oder weiter gefasst: der Bewegung der „ wissenschaftlichen Weltauffassung “ manche Themen und Streitpunkte in den Schriften der Mitglieder des Kreises kontrovers diskutiert wurden. Später kamen dazu auch Auseinandersetzungen mit den Argumenten und Einwänden, die von den außerhalb des ursprünglichen Kreises stehenden Denkern gegen die Doktrin des logischen Positivismus bzw. des logischen Empirismus 168 erhoben wurden, und welche letztlich zum Zerfall des Programms führten. Es wäre sicherlich reizvoll, auf zumindest die wichtigsten der Kontroversen des logischen Positivismus ausführlich einzugehen (z. B. 168 Die Bezeichnung „ logischer Positivismus “ wird üblicherweise für die Entwicklungen innerhalb der Bewegung der „ wissenschaftlichen Weltauffassung “ in der Zeit zwischen 1925 und1935 verwendet, mit dem Ausdruck „ logischer Empirismus “ hingegen bezeichnet man üblicherweise die Entwicklungen innerhalb dieser breit gefassten Strömung nach 1935 (Beisbart 2008, S. 1). 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 299 <?page no="314"?> die Debatte um die Protokollsätze, 169 die Kontroverse ideale versus normale Sprache, 170 die den Physikalismus und die Einheit der Wissenschaft betreffende Debatte, 171 die Erörterung der Frage, was wissenschaftliche Theorien sind und was sie ausmacht, usw.) - allein, dies würde uns hier viel zu weit führen und kaum Wesentliches zu unserer Betrachtung beitragen. Ich beschränke mich deshalb im Folgenden auf eine möglichst knappe Darstellung von lediglich ein paar der wichtigsten dieser Debatten. Verifikationstheorie der Bedeutung Eines der zentralen Ziele der logischen Positivisten neben der Gewährleistung von Präzision, Strenge, Sicherheit und Klarheit der Aussagen, war die Abgrenzung der ( „ gesunden “ ) Wissenschaft von der (ungesunden) „ Metaphysik “ (vgl. Manifest 1929). Es gebe, so meinten sie, grundsätzlich zwei Arten von Aussagen. Die eine umfasst die Aussagen, wie sie in der empirischen Wissenschaft gemacht werden. Deren Sinn lasse sich durch logische Analyse, genauer: durch Rückführung auf einfachste Aussagen über empirisch Gegebenes feststellen. Die anderen Aussagen, die „ metaphysischen “ , erweisen sich als völlig bedeutungsleer. Nun stellte Wittgenstein im Tractatus fest, dass man einen Satz nur dann verstehe, wenn man wisse, was „ der Fall sei “ , den dieser Satz beschreibt: „ Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist “ (Tlp 4.024). Wann weiß man aber, ob etwas der Fall ist? Wenn man weiß, dass eine Behauptung, die diesen Fall beschreibt, wahr ist. Wie kann man dies jedoch wissen? Indem man die fragliche Behauptung verifiziert. Ohne dass die Behauptung dem Verifikationsprozess unterzogen würde, könne man unmöglich sicher sein, ob sie stichhaltig sei oder nicht. Die Wahrheit des Satzes, der den Fall beschreibt, hänge also vom Ergebnis des 169 Begriff, den Carnap in seinem Aufsatz „ Die physikalische Sprache als universale Sprache der Wissenschaft “ 1931 einführte (Carnap 1931 a). 170 Bereits die frühen Schriften der logischen Positivisten beinhalten klare Formulierungen der Notwendigkeit einer Reform der Sprache. So schreibt etwa Carnap im Zuge seiner Diskussion der Protokollsätze und der damit verbundenen Protokollsprache Folgendes: „ [D]ie Verwendung der inhaltlichen Redeweise [ ‚ normalen Sprache ‘ ] [führt] uns zu Fragen [. . .], bei deren Behandlung wir in Widersprüche und unlösbare Schwierigkeiten geraten. Die Widersprüche verschwinden aber, sobald wir uns auf die korrekte formale Redeweise beschränken. [. . .] Durch die Anwendung der formalen Redeweise werden diese Scheinfragen automatisch ausgeschaltet. Wenn wir nicht mehr von ‚ Erlebnisinhalten ‘ , ‚ Farbempfindungen ‘ u. dgl. sprechen, sondern statt dessen vom ‚ Protokollsatz ‘ , ‚ Protokollsatz mit Farbwort ‘ usw., so gibt es keinen Widerspruch mehr bei der Aufstellung des Ableitungszusammenhanges zwischen Protokollsprache und physikalischer Sprache “ (Carnap 1931 a, S. 456, Hervorhebung im Original). 171 „ In our discussions, chiefly under the influence of Neurath, the principle of the unity of science became one of the main tenets of our general philosophical conception. This principle says that the different branches of empirical science are separated only for the practical reason of division of labor, but are fundamentally merely parts of one comprehensive unified science “ (Carnap 1963, S. 52). 300 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="315"?> Verifikationsprozesses ab. Wenn man aber den Wahrheitsgehalt eines Satzes nur am Ende des erfolgreich abgeschlossenen Verifikationsprozesses feststellen könne, so müsse man bereits im Voraus wissen, wie dieser Verifikationsprozess gestaltet werden müsse, um ihn überhaupt einleiten zu können. Und dieses „ Wie “ beinhalte die Bedeutung des fraglichen Satzes - und das scheint auch der logische Schluss aus Wittgensteins obiger Feststellung zu sein. 172 Die Verifikationstheorie der Bedeutung war geboren. Ihre erste Formulierung findet sich im Aufsatz von Waismann, der in der ersten Nummer der Zeitschrift „ Erkenntnis “ veröffentlich wurde: „ Kann auf keine Weise angegeben werden, wann ein Satz wahr ist, so hat der Satz überhaupt keinen Sinn; denn der Sinn eines Satzes ist die Methode seiner Verifikation “ (Waismann 1930/ 31, S. 229). Etwa ein Jahr später schrieb Schlick: We know the meaning of a proposition when we are able to indicate exactly the circumstances under which it would be true (or, what amounts to the same, the circumstances which would make it false). The description of these circumstances is absolutely the only way in which the meaning of a sentence can be made clear. After it has been made clear we can proceed to look for the actual circumstances in the world and decide whether they make our proposition true or false. (Schlick 1992, S. 48) Im gleichen Atemzug erweiterte auch Schlick die Geltung dieses Prinzips von der Sphäre der Wissenschaft auf die des Alltagslebens: There is no vital difference between the ways we decide about truth and falsity in science and in every-day life. Science develops in the same ways in which does knowledge in daily life. The method of verification is essentially the same; only the facts by which scientific statements are verified are usually more difficult to observe. (Schlick ebd.) Das Verifikationsprinzip stand im Zentrum des Interesses des Wiener Kreises. 173 Es sollte deshalb nicht überraschen, dass es in den Schriften unterschiedlicher Mitglieder des Kreises wie auch anderer Verfechter des logischen Positivismus in unterschiedlichen Fassungen festgehalten ist: To understand a proposition means to know what is the case if the proposition is true. 172 Carnap schreibt in seiner „ intellektuellen Autobiographie “ Wittgenstein explizit die Verifikationstheorie der Bedeutung zu: „ The view that these sentences and questions [sentences of metaphysics] are non-cognitive was based on Wittgenstein ’ s principle of verifiability. This principle says first, that the meaning of a sentence is given by the conditions of its verification and, second, that a sentence is meaningful if and only if it is in principle verifiable “ (Carnap 1963, S. 45). Ob er damit den Tractatus oder mündliche Äußerungen Wittgensteins meint, ist nicht zu eruieren. Aus den Inhalten des Tractatus alleine scheint mir das, was Carnap mit „ Wittgenstein ’ s principle of verifiability “ meint, überhaupt nicht ableitbar. 173 Vgl. z. B. Hanfling: „ Verifiability [. . .] was one of the main concerns of the Logical Positivism “ (Hanfling 1981, S. 1, Fußnote 3, vgl. auch Misak 1995, S. 81). 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 301 <?page no="316"?> One cannot understand it without knowing whether it is true. To become aware of the sense of a proposition one has to get clear about the procedure for establishing its truth. If one does not know this procedure, then one cannot understand the proposition either. [. . .] The sense of a proposition is the method of its verification. (Waismann 1965, S. 24, Hervorhebung im Original) Stating the meaning of a sentence amounts to stating the rules according to which the sentence is to be used, and this is the same as stating the way in which it can be verified (or falsified). The meaning of a proposition is the method of its verification. (Schlick 1936, S. 341) We say that a sentence is factually significant to any person if, and only if, he knows how to verify the proposition which it purports to express - that is, if he knows what observations would lead him, under certain conditions, to accept the proposition as being true, or reject it as being false. (Ayer 1962, S. 48) Diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Das Verifikationsprinzip hat auch in der philosophischen Welt außerhalb des Kreises der Verfechter des logischen Positivismus hohe Wellen geschlagen. Noch 1954 schrieb Everett J. Nelson: During the last two decades probably no other topic in philosophy has received more consideration than has the verification theory of meaning. (Nelson 1954, S. 182) Was Anfang der 30er Jahre einigen Denkern als eine Selbstverständlichkeit erschien, stieß jedoch bald auf Kritik. So wies etwa Lewis bereits 1934 darauf hin, dass aus dem Verifikationsprinzip der Bedeutung folge, dass die Aussagen über die Rückseite des Mondes sinnlos seien, da es damals keine Methode gab, sie zu verifizieren (Lewis 1934 S. 138). Dieser Einwand ist jedoch nicht ganz berechtigt: das Verifikationsprinzip verlangt nicht, dass man den zu verstehenden Satz verifizieren müsse, sondern lediglich, dass man weiß, worin eine solche Verifikation bestehen würde. 174 Dies ist in den Aussagen über die Rückseite des Mondes durchaus gegeben. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde jedoch eingesehen, dass das Verifikationsprinzip, egal in welcher Fassung, zwei große Probleme mit sich bringt: erstens lässt es die Naturgesetze als unsinnig erscheinen (Misak 1995, S. 82). Naturgesetze sind Aussagen, die unendlich viele Realisierungen haben (z. B. friert Wasser unter normalem Druck bei 0° C) und daher lassen sie sich nie endgültig verifizieren. Sie erscheinen uns jedoch als durchaus sinnvoll. Das Prinzip hat es auch schwer mit den sogenannten „ dispositionalen Begriffen “ , das sind Aussagen wie „ Zucker ist wasserlöslich “ (Misak ebd., S. 84). Zunächst könnte man meinen, dass sich solche Aussagen einfach verifizieren lassen. Zucker ist wasserlöslich bedeute doch nichts anderes, als dass sich Zucker, wenn wir in Wasser geben, darin auflöse. Das Problem liegt jedoch darin, dass aus rein logischer Sicht ein Satz der Form „ Wenn wir Zucker in 174 Wittgenstein stellte im Tractatus fest: „ Man kann [den Satz] verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist “ (Tlp 4.024). 302 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="317"?> Wasser geben, löst er sich darin auf “ nur dann falsch ist, wenn das Antezedens wahr und die Konsequenz falsch ist. Wenn aber das Antezedens falsch ist, dann ist die Implikation wahr. Folglich muss, solange der Zucker nicht in Wasser ist und sich nicht darin auflöst, die Implikation als wahr gelten. Das hat aber zur Folge, dass auch der Satz „ Der Tisch wasserlöslich “ als wahr gelten muss, bis wir festgestellt haben, dass er sich in Wasser nicht auflöst. Das heißt jedoch, dass man die dispositionalen Eigenschaften auch da zuschreiben könnte, wo sie überhaupt nicht hingehören. Carnap versuchte das Problem mit dem Vorschlag zu lösen, dass die dispositionalen Eigenschaften nur partiell definiert seien. Sie können nur für jene Gegenstände voll definiert werden, welche die Tests bestanden haben. Diese Lösung überzeugt jedoch nicht, denn es macht keinen Sinn zu behaupten, dass ein Begriff dann Bedeutung habe, wenn gewisse Beobachtungen durchgeführt wurden, dass der gleiche Begriff aber bedeutungslos sei, wenn sie nicht durchgeführt wurden bzw. nicht durchgeführt werden können. Misak fasste dieses Problem wie folgt zusammen: If meaning is attributable only for decidable cases, so that we cannot attribute the disposition to an individual upon which the relevant experiment is not performed, we do not have an adequate account of the meaning of dispositional terms. As Ayer says, „ to say that such a statement is neither true nor false, under this condition, is no great improvement on having to say that it is true both that the table is soluble and that it is not “ . (Misak ebd., S. 85) Damit aber sind wir noch lange nicht am Ende der Betrachtung der Schwierigkeiten des Verifikationsprinzips. Eigentlich kommen wir erst jetzt zu den Problemen, die meines Erachtens die gravierendsten sind. Betrachten wir das Prinzip in seiner einfachen ursprünglichen Form: „ Die Bedeutung eines Satzes besteht in der Methode seiner Verifizierung. “ Es ist, glaube ich, unschwer einzusehen, dass dieses Prinzip „ den Karren vor das Pferd spannt “ . Es stellt uns vor die unmögliche Aufgabe, die Methode der Verifikation von etwas zu finden, was wir nicht verstehen! Denn es verlangt, dass man sich, bevor man einen Satz verstehen kann, Rechenschaft darüber geben muss, ob man über eine Methode verfügt, den Wahrheitswert der Aussage des Satzes zu verifizieren. Diese Aufgabe ist jedoch sicherlich unerfüllbar, wenn der Sinn der Aussage verborgen bleibt. Schon aus diesem Grund sollte das Verifikationsprinzip verworfen werden. Auf dieses Problem hat bereits 1938 Werkmeister aufmerksam gemacht: „ Propositions are not meaningful because they can be verified, but they can be verified (or disproved) because they are meaningful “ (Werkmeister 1938, S. 264). Er illustrierte die Schwierigkeit am Beispiel der Längenbestimmung: If we were to accept a strict identity of verifiability and meaning, we would be forced to accept Bridgman ’ s [operationalism], but his own defence of his thesis is his best refutation: he shows how to determine length of an object, but not the meaning of length as such. The meaning of length determines operations, not the 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 303 <?page no="318"?> other way around. To argue that the meaning of a term is the same as its verifiability involves logical confusions which ultimately lead into a vicious circle. (Werkmeister ebd., S. 263) Gehen wir weiter. Was sollen wir zur Bedeutung der einzelnen Begriffe sagen, aus denen sich der Satz zusammensetzt? Soll diese Bedeutung ebenfalls über den Verifikationsprozess erschlossen werden oder über explizite und/ oder ostensive Definitionen? Schlick lässt solche Definitionen explizit zu: The ‚ grammatical ‘ rules will consist partly in ordinary definitions, i. e. explanations of words by means of other words, partly of what are called ‚ ostensive ‘ definitions [. . .]. The simplest form of an ostensive definition is a pointing gesture combined with the pronouncing of the word, as when we teach a child the significance of the sound ‚ blue ‘ by showing a blue object [. . .]. (Schlick 1936, S. 340) Wenn die Bedeutung einzelner Begriffe über Verifikation erlangt werden sollte, dann greift hier wieder der oben angedeutete Einwand: man kann nicht verifizieren, was man nicht versteht. Wenn man aber zulässt, dass die einzelnen Begriffe durch Definitionen und/ oder Ostension verständlich gemacht werden können, dann ist man die Erklärung schuldig, warum man die Möglichkeit nicht zulässt, dass man den ganzen Satz, der aus lauter verständlichen Wörtern besteht, kraft der (verständlichen) Bedeutungen der einzelnen Begriffe, verstehen kann. Ferner: wie kann die Bedeutung (eines Satzes) identisch mit einer Methode (welche auch immer) sein? Begehen die Schöpfer des Verifikationsprinzips hier nicht den logischen Fehler, der später von Ryle als „ Kategorienfehler “ bezeichnet wurde? (Ryle 1949, S. 16) Weiter: Das Verifikationsprinzip wurde von logischen Positivisten eingeführt, um die Metaphysik zu eliminieren, doch um es einführen zu können, mussten sie gewisse „ metaphysische “ Annahmen (in Bezug auf das Wesen der Bedeutung) machen. Diese Notwendigkeit widerspricht krass der ursprünglichen Intention und macht das ganze Programm zunichte. Misak schrieb dazu: „ The problem, of course, is that the logical positivists ’ account of meaninglessness seems to be a metaphysical theory and so, by their own standards, it seems that the verifiability principle must be abandoned “ (Misak 1995, S. 79). Und schließlich und zentral: Was sollen wir vom Verifikationsprinzip selbst halten? Einen Satz verstehen, heißt eine Methode seiner Verifikation angeben zu können. Welches ist die Verifikationsmethode für dieses Prinzip selbst? Kann es eine solche Methode geben? Wenn nicht - was ziemlich sicher scheint - , würde das jedoch bedeuten, dass das Prinzip selber dem Verifikationsprinzip zufolge sinnlos ist! Ein krasser Selbstwiderspruch! Es sollte offensichtlich sein, dass das Verifikationsprinzip, egal in welcher Fassung, kein empirischer Satz ist, der sich auf „ das Gegebene “ zurückführen oder aus ihm „ ableiten “ lässt. Wenn aber alle Sätze nur dann sinnvoll sind, wenn eine solche Rückführung bzw. Ableitung für sie möglich ist, so muss das Prinzip 304 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="319"?> als unsinnig gelten. Es ist erstaunlich, dass sich die Gründungsväter des logischen Positivismus dieses offensichtlichen Widerspruchs nicht sofort bewusst wurden! Popper und Falsifikationismus Die ursprüngliche Auffassung des Wiener Kreises, nach der die Theorien durch empirische Methoden überprüft und bestätigt bzw. widerlegt werden können und erst solche, die derartigen Überprüfungen standgehalten haben in den Korpus der Wissenschaft einbezogen werden können und dürfen, wurde schon in den 30er Jahren von Karl Popper angegriffen. 175 Popper behauptete, dass jeder induktive Schluss bloß eine Verallgemeinerung der bisherigen Erfahrung sei, weshalb man zugeben müsse, dass jegliche Verifikation empirischer Aussagen logisch gesehen unmöglich sei, da sich nicht ausschließen lasse, dass die empirisch festgestellten Regelmäßigkeiten (paradigmatisch: „ Alle Schwäne sind weiß “ ) von zukünftigen Erfahrungen widerlegt werden (Entdeckung schwarzer Schwäne) (Popper 2005, S. 3). 176 Nach Popper folgt daraus, dass die wissenschaftlichen Theorien niemals empirisch verifiziert werden können und dass das, was die Wissenschaft vernünftigerweise zu erreichen hoffen könne, lediglich die Falsifikation dieser Behauptungen durch „ strenge Überprüfungen “ sei (Popper ebd., S. 14f.). Theorien sind [. . .] niemals empirisch verifizierbar. [. . .] [W]ir [wollen] nur ein solches System als empirisch anerkennen, das einer Nachprüfung durch die „ Erfahrung “ fähig ist. Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, als Abgrenzungskriterium nicht die Verifizierbarkeit, sondern die Falsifizierbarkeit des Systems vorzuschlagen; mit anderen Worten: Wir fordern zwar nicht, dass das System auf empirisch-methodischen Wege endgültig positiv ausgezeichnet werden kann, aber wir fordern, dass es die logische Form des Systems ermöglicht, dieses auf dem Wege der methodischen Nachprüfung negativ auszuzeichnen: Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können. (Ebd., S. 16f.) Dadurch erlangt aber ein Aspekt der Wissenschaft zentrale Bedeutung: Popper zufolge geht es in der Wissenschaft nicht mehr um sicheres Wissen, weil das unmöglich zu erlangen sei (selbst wenn wir glücklicherweise auf wahre Feststellungen stoßen, werden wir es nie mit Sicherheit wissen), sondern um den Fortschritt der Wissenschaft, der durch „ kühne Vermutungen “ einerseits und „ strenge Widerlegungen “ andererseits erreicht werde, gepaart mit dem Ausscheiden all dessen aus dem Kanon der Wissenschaft, was sich als falsch erwiesen habe. 177 Trotz mancher Kritik (z. B. Lakatos 1974, 175 In seinem berühmten Werk Logik der Forschung, das 1934 erschienen ist (Popper 2005). 176 Die Idee der Unsicherheit jeglicher induktiver Schlüsse ist übrigens im Keim bereits in Rudolf Steiners Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung aus dem Jahre 1886 (GA2, S. 70) vorhanden. 177 Vgl. auch Popper 1979, S. 81, 164, 168 und passim sowie Popper 1989, S. 51. 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 305 <?page no="320"?> S. 91 - 128 und Putnam 1973, S. 424 - 433), die allgemein darauf zielte, Poppers Behauptung, nach der sich Einzelaussagen isoliert prüfen ließen, in Frage zu stellen, blieb Popper seiner Auffassung bis zum Ende seines Lebens treu. Sein logischer Angelpunkt scheint tatsächlich unwiderlegbar: ein induktiver Beweis einer Aussage kann nie schlüssig sein, 178 eine Widerlegung aber kann diesen Status beanspruchen. Poppers Bestreben, Klarheit in die wissenschaftliche Methode zu bringen, war für viele Wissenschaftstheoretiker der Nachkriegszeit zweifellos prägend. 179 Trotz des entscheidenden Unterschieds, was das Kriterium der Wissenschaftlichkeit betrifft, waren Popper und Carnap hinsichtlich mancher anderer Aspekte ihrer Auffassung von der wissenschaftlichen Methode jedoch einer Meinung. Für beide war sie das Musterbeispiel menschlicher Rationalität; sie bringe tendenziell wahre Theorien des Universums hervor, weise eine deduktive Struktur auf, beruhe auf der Unterscheidung zwischen Beobachtung und Theorie und ermögliche es, Wissenschaft und damit Rationalität von Spekulation, Mythos und Unsinn zu trennen (Hacking 1996, S. 20 f). Quine, Sellars, Hanson, Kuhn Ein weiterer Stützpfeiler der Doktrin des logischen Empirismus, der Glaube an das Vorhandensein eines festen und letzten Fundaments der Wissenschaft in Form theoriefreier Erfahrung, kam erst in den 50er Jahren ins Wanken. 1951 publizierte W. V. O. Quine den einflussreichen Aufsatz „ Two Dogmas of Empiricism “ (Quine 1961), in dem er die Möglichkeit der Trennung zwischen empirischen und theoretischen Termini und somit der Reduktion von Theorie auf unmittelbare Erfahrung anhand rein sprachlich-logischer Überlegungen grundsätzlich in Frage stellte. 1956 erschien der ebenso einflussreiche Aufsatz von Wilfrid Sellars, in dem er die Relevanz nicht-epistemischer Tatsachen ( „ the Given “ ) für die Begründung der theoretischen Aussagen scharf angriff (Sellars 1968). Kurz darauf tat Norwood Russell Hanson das Gleiche in Bezug auf die Unterscheidung zwischen beobachtbaren und theoretischen Termini, indem er darauf hinwies, dass die Wahrnehmung von theoretischen Hintergrundannahmen geprägt sei, weshalb man von der Theoriegeladenheit (engl. „ theory-ladenness “ ) der Beobachtung sprechen müsse (Hanson 1961, S. 2, 19 usw.). Von einer anderen Seite argumentierte Stephen Toulmin, dass theoretische Überlegungen nicht rein empirisch begründet, sondern in den Idealen und Paradigmata des jeweiligen Forschers fundiert seien (Toulmin 1981). Diese Anregungen kulminierten schließlich 1962 in Kuhns berühmter Arbeit The Structure of Scientific Revolutions (Kuhn 1970). Die Hauptthesen des Buches, dass eine wissenschaftliche Disziplin sich als solche erst mit der Etablierung 178 Ausführlicher dazu im Kapitel „ Einige theoretischen Probleme des empirischen Forschungsparadigmas “ . 179 Vgl. Hacking 1996, S. 16 - 22, der Popper mit Carnap auf eine Stufe stellt. 306 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="321"?> eines Paradigmas konstituiere, das heißt eines allgemein geteilten, jedoch grundsätzlich kontingenten Verständnisses dessen, worin die Regeln und Standards der wissenschaftlichen Praxis bestehen (Kuhn ebd., S. 10f., 19), dass die Paradigmen „ quasi-metaphysische Annahmen “ (engl.: commitments) beinhalteten (ebd., S. 41) 180 und dass die Übergänge von einer wissenschaftlichen Theorie zu einer neuen von vor-theoretischen Überlegungen und Entscheidungen (Was sind die fundamentalen Entitäten, aus denen das Weltall besteht? Wie interagieren diese untereinander und mit unseren Sinnen? Welche Fragen können zu diesen Entitäten berechtigterweise gestellt werden und welche Methoden des Antwortsuchens sind legitim? usw.; ebd., S. 4f., 12f.) abhängig seien und Gestaltcharakter aufweisen, so dass man von wissenschaftlichen Revolutionen sprechen könne (ebd., S. 111 - 135), lösten eine Kontroverse aus, da sie als Unterminierung der Rationalität der Wissenschaft aufgefasst wurden (Kuhn sprach von der Inkommensurabilität des alten und des neuen Paradigmas; ebd., S. 103). 181 Wenn, wie Popper behauptete, der geregelte Fortschritt das Rückgrat der Wissenschaft bildet und wenn dieser Fortschritt sich als von außerwissenschaftlichen, gleichsam metaphysischen und unter Umständen irrationalen Faktoren geleitet erweist (rational bleibt die Wissenschaft unter Kuhn ’ schen Voraussetzungen lediglich auf der Stufe des puzzle solving der „ normalen “ Wissenschaft; ebd., S. 35 - 43), droht uns langfristig möglicherweise tatsächlich eher eine Zunahme der Irrationalität, statt dass wir mit ihrer Abnahme rechnen dürfen. Auch wenn Kuhn den an ihn gerichteten Vorwurf, die Wissenschaft als irrational darstellen zu wollen, weit von sich wies (Kuhn 1973) und er seine Thesen von 1962 in der Ausgabe seines Buches von 1970 einigermaßen verwässert hat, 182 blieben die Auswirkungen seines Werkes äußerst einschneidend und weitreichend. In der Tat behaupteten einige, dass Kuhns Buch das meistzitierte Werk der Geschichte sei, und der berühmte Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking schrieb 2012 in seiner Einführung zur Sonderausgabe des Buches anlässlich des 50. Jahrestags seines erstens Erscheinens: „ [T]he book really did change ‚ the image of science by which we are now possessed ‘ . Forever. “ (Hacking 2012, S. xxxvii). Neben der Etablierung einer neuen, veränderten Sicht auf die Wissenschaft bestand die andere wichtige Leistung von Kuhn darin, dass er 180 Auf die Abhängigkeit der Theorie von vortheoretischen Entscheidungen hatte bereits Fleck in dem bereits oben erwähnten Werk hingewiesen. In der Einführung zu seinem Buch erwähnt Kuhn Fleck als einen seiner Hauptinspiratoren (Kuhn 1970, S. VI-VII). Interessanterweise kann man aber die Idee des Einflusses der Weltanschauung auf die wissenschaftlichen Theorien noch weiter zurückdatieren. Bereits 1909 machte Rudolf Steiner Bemerkungen, die auf dieses Problem hindeuten (vgl. GA108, S. 273). 181 Man kann es als Ironie des Schicksals betrachten, dass dieses Buch, das so viel zum Zerfall des Programms des logischen Empirismus beitrug, in der „ International Encyclopedia of Unified Science “ , dem „ Flagschiff “ des logischen Empirismus, erschienen ist. 182 Vgl. die Diskussion dieser Verschiebung in Newton-Smith 1996, S. 102 - 125. 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 307 <?page no="322"?> mit seinem Buch die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft radikal veränderte. War der logische Empirismus bestrebt gewesen, die Antwort auf die Frage zu geben, was Wissenschaft sein und wie sie vorgehen soll, so richtete Kuhn den Blick der Forscher auf die Frage, wie die Wissenschaft konkret arbeitet und wie sich ihre Arbeitsweise im Laufe eines historischen Prozesses konkret entwickelte. Lehoux und Foster haben diesen Aspekt von Kuhns Leistung sehr klar formuliert: Before Kuhn, philosophers had been focused on trying to state what the scientific method should be. But he suggested that we should pay attention to how science is done - how scientists actually work - rather than to how philosophers think it ought to work. If you want to know how science is carried out, then in one way or another, you are going to have to look at the history of science. It ’ s this history that shows us how the sciences work in action. (Lehoux und Foster 2012, S. 885) Das Ende der „ Received View “ . Der Glaube im Herzen der Rationalität Etwa gegen das Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich schließlich die Einsicht durchgesetzt, dass die Vorstellungen des logischen Empirismus in Bezug auf den Charakter der wissenschaftlichen Theorien und der Wissenschaft allgemein grundsätzlich verfehlt waren. Frederick Suppe, der 1974 über diesen Wendepunkt schrieb, zählte die folgenden Fehleinschätzungen des logischen Empirismus auf: 1. The analytic-synthetic distinction must not be presumed. 2. No distinction between direct-observation and nondirect-observation terms may be assumed. 3. Theoretical terms must be construed as being antecedently meaningful, though their incorporation into a theory may alter their meaning to an extent. 4. The meaning of theoretical terms may incorporate, or be modified by, recourse to analogies and iconic models. 5. The procedures for correlating theories with phenomena must not all be viewed as integral components of theories; at least some of them must involve auxiliary hypotheses and theories. 6. The procedures for correlating theories with phenomena must allow for causal sequence correlations and for experimental ones; the experimental correlations must be spelled out in full methodological detail. 7. The analysis cannot view the entire content of theories as being axiomatizable or formalizable. 8. Whatever formalization is involved must be semantic, not syntactical. 9. The analysis of theories must include the evolutionary or developmental aspects of scientific theorizing, and not limit itself to providing canonical formulations of theories at fixed stages of development. (Suppe 1977, S. 117) 308 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="323"?> Wenn man diese Aufzählung mit den oben 183 dargestellten Kernbehauptungen der „ received view “ vergleicht, so lässt sich über das Programm des logischen Empirismus mit Ayer tatsächlich sagen: „ Nearly all of it was [wrong] “ (Ayer 1978, S. 1, s. oben „ Aufkommen “ ). 184 Der logische Positivismus ist also tot. 185 Aus heutiger Sicht ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass er sterben musste: er stand von Anfang an auf philosophisch betrachtet äußerst wackeligen Beinen. Worüber man sich heute wundern muss, ist eher, wie es überhaupt möglich war, dass so viele so intelligente Menschen so lange so vernebelt waren, um den Grundsätzen und Idealen des logischen Positivismus bzw. (später) des logischen Empirismus Glauben zu schenken. Man kann dieses Phänomen mit der Ludwig Fleck entlehnten Begrifflichkeit von Denkstil und Denkkollektiv zu erklären versuchen (Stadler 1997, S. 467 - 487). Zweifelsohne bildeten die Mitglieder des Wiener Kreises und die Denker, die unter ihrem Einfluss, man möchte fast sagen, unter ihrem Bann standen, ein Denkkollektiv, das einen gemeinsamen Denkstil pflegte. Die Frage aber bleibt, weshalb dieser Denkstil auf eine dermaßen breite Resonanz stieß? Die beste Antwort auf diese Frage geben meines Erachtens paradoxerweise die Mitglieder des Wiener Kreises selbst, genauer gesagt, einer von ihnen: Otto Neurath. Lange vor Kuhn wies Neurath am Anfang der Entwicklung des Wiener Kreises bereits darauf hin, dass die philosophischen Doktrinen nicht aufgrund ihrer Wahrheit, sondern aufgrund der soziologischen Situation in einer bestimmten Kultur beurteilt werden. Carnap schrieb dazu: [Neurath] criticized strongly the customary view, held among others by Schlick and Russell, that a widespread acceptance of a philosophical doctrine depends chiefly on its truth. He emphasized that the sociological situation of a given culture and in a given historical period is favorable to certain kinds of ideology or philosophical attitude and unfavorable to others. (Carnap 1963, S. 22) Neurath hat meiner Meinung nach den Nagel auf den Kopf getroffen. Der logische Positivismus hat sich in einer besonderen Zeit entwickelt: in der Zeit des Glaubens an die Macht der Logik und der Mathematik, des Glaubens auch an den technischen Fortschritt. 186 Wir haben gesehen, dass Ende des 19. 183 Vgl. das Unterkapitel „ Aufkommen “ . 184 Paul Feyerabend bezeichnete die Theorien des Wiener Kreises ein wenig unfreundlich als einen „ philosophischen Primitivismus “ (Feyerabend 1993, S. 9, 376). 185 Passmore in Routledge Encyclopedia of Philosophy (Passmore 1998, S. 529; s. oben „ Aufkommen “ ). Es ist aufschlussreich, dass Hilary Putnam, das Programm des logischen Empirismus mit dem „ materialistischen Programm “ schlechthin identifizierte und nach dem Zerfall des logischen Empirismus schrieb: „ materialistic project [is] in total shambles “ (Putnam 1997, S. 51). 186 Neurath war überzeugt davon, dass die fortschreitende Industrialisierung die Ausbreitung der „ wissenschaftlichen Weltauffassung “ bringen werde. Carnap schrieb dazu: „ He shared our hopeful belief that the scientific way of thinking in philosophy would grow stronger in our era. But he emphasized that this belief is to be based, not simply on 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 309 <?page no="324"?> und Anfang des 20. Jahrhunderts tatsächlich bedeutende Fortschritte in diesen Bereichen erzielt worden sind, was das Aufkommen des Ideals der strengen, „ wissenschaftlichen Philosophie “ möglich machte. Es ist auch kein Zufall, dass diese Philosophie Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zerfiel, also genau zu der Zeit, als in den westlichen Länder der Glaube an Rationalität und technischen Fortschritt stark erschüttert wurde (Stichwort: 1968, mehr dazu s. unten: „ Qualitative-Forschung-Paradigma “ ). Diese Beobachtung führt uns auf die Spur einer interessanten Paradoxie des Programms des logischen Positivismus. Die logischen Positivisten wollten in ihrem Vorgehen streng rational und empirisch sein und jegliche „ metaphysische “ , irrationale Einflüsse daraus verbannen. Ihre Hoffnung, sich mit ihrem Programm durchsetzen zu können, ruhte jedoch nicht auf logischen, rationalen Argumenten, sondern letztendlich auf dem Glauben, also eben auf einem irrationalen oder vielleicht genauer, einem nicht-rationalen Fundament. John Dewey brachte dies in seinem Essay für den ersten Band der (geplanten) Encyplopedia of Unified Science präzise auf den Punkt. Im Zusammenhang seiner Äußerungen zur Wissenschaft und ihrer Natur stellte er fest: It [science] is essentially a co-operative movement, so that detailed specific common standpoints and ideas must emerge out of the very processes of cooperation. To try to formulate them in advance and insist upon their acceptance by all is both to obstruct co-operation and to be false to the scientific spirit. The only thing necessary in the form of agreement is faith in the scientific attitude and faith in the human and social importance of its maintenance and expansion. (Dewey 1971, S. 33f., meine Hervorhebung, MBM) Wir sind noch nicht so weit, wir haben das Ziel noch nicht erreicht, schrieb Dewey vor bald siebzig Jahren - doch worauf es ankomme, das sei der Glaube an die „ wissenschaftliche Haltung “ , der Glaube daran, dass man sie werde erreichen können und dass es für die Menschheit wichtig sei, dieses Ziel zu erreichen. Also selbst die puristischsten Verfechter der strengsten Rationalität konnten den Glauben nicht entbehren! Wenn auch nicht in ihrer Methode, so doch zumindest in ihrem Leben. Der Glaube erweist sich also auch für den Puristen der Rationalität als unentbehrlich! Die Wissenschaft hat tatsächlich seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts enorme Fortschritte gemacht: der Mensch ist auf dem Mond gelandet und da ich diese Worte schreibe, erkundet Curiosity, ein 900 kg the correctness of the scientific way of thinking, but rather on the historical fact that the Western world at the present time, and soon also the other parts of the world, will be compelled for economic reasons to industrialize more and more. Therefore, in his view, on the one hand the psychological need for theological or metaphysical ways of thinking will decrease, and on the other hand the cultivation of the natural sciences will be strongly increased because they are needed by the technology of industrialization. Consequently the general cultural atmosphere will become more favorable toward the scientific way of thinking. “ (Carnap 1963, S. 22) 310 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="325"?> schwerer Rover, die Marsoberfläche. Das Genom wurde entschlüsselt und das Higgs- oder „ Gottes “ -Teilchen gefunden, AIDS wurde fast besiegt. Und doch, das Ziel ist noch nicht erreicht: viele Rätsel bleiben und Wissenschaft und Technik haben die Menschheit nach wie vor nicht von ihren Sorgen erlöst. Im Gegenteil: die Arbeitslosigkeit steigt, viele Menschen hungern, viele haben keinen Zugang zu Wasser, das Klima erwärmt sich, die natürlichen Ressourcen werden immer knapper, Antibiotika drohen wirkungslos zu werden. Die allgemeine Einschätzung der künftigen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen ist heute viel weniger optimistisch als zur Zeit des logischen Positivismus. Und dennoch stehen Millionen von Wissenschaftlern unserer Zeit 187 grundsätzlich am gleichen Ort, wie die logischen Positivisten in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts: ihr Glaube daran, dass die empirische, experimentierende Wissenschaft der einzige Weg zur Erforschung der Rätsel der Natur sei, ist weiterhin unerschütterlich. Der logische Positivismus ist tot, der Glaube an das empirische, experimentelle Forschungsprogramm lebt weiter. Der Zerfall des logischen Positivismus hat uns gelehrt, dass sich sehr viele sehr kluge Menschen unisono zutiefst täuschen können. Das 20. Jahrhundert hat uns gelehrt, dass sich Millionen von Menschen unisono zutiefst (sogar gefährlich) täuschen können. Kann es sein, dass sich Millionen von sehr klugen Wissenschaftlern am Anfang des neuen Millenniums unisono zutiefst täuschen? Die Verfechter der Vorzüge der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Methode wiederholen das Mantra, dass es eine Katastrophe wäre, in das „ finstere Zeitalter “ des mittelalterlichen oder noch älteren (Aber)Glaubens zurückzufallen. In der Tat, wir wollen nicht verlieren, was wir durch den wissenschaftlichen Fortschritt gewonnen haben, und wir wollen nicht in die Abhängigkeit von zweifelhaften Autoritäten wie der Kirche (den Kirchen), dem Papst, den Imamen oder anderen religiösen Führern zurückfallen. Die Verfechter der Überlegenheit der Wissenschaft verweisen (zu Recht) auf die Auswüchse der religiösen Haltungen in Form von Terror und Unterdrückung, die in der heutigen Welt in einem beängstigenden Tempo um sich greifen, und sie mahnen uns, bloß nicht die Standards und Kriterien der wissenschaftlichen Methode aufzugeben oder auch nur bei ihrer Bewahrung nachzulassen. Sie haben Recht: wir wollen nicht zurück und wir wollen nicht der Willkürherrschaft einer fremden Macht unterworfen sein. Was die Verfechter der wissenschaftlichen Methode aber offensichtlich nicht zu sehen vermögen, ist, dass man nicht zwingend zurückgehen muss, dass man auch vorwärtsgehen kann. Ihre Haltung basiert auf der unkritisch und unreflektiert akzeptierten Annahme, dass die heutige Form der wissenschaftlichen Methode Ausdruck der höchsten Form menschlicher Erkenntnisfähigkeiten sei. Sie kennen keine anderen, keine höheren Formen dieser Erkenntnisfähigkeiten 187 Genauer gesagt über 15 Millionen im Zeitraum von 1996 bis 2011 (Ioannidis et al. 2004, vgl. oben „ Kurzer Abriss der Geschichte der Wissenschaft “ . 2 e Kontroversen, Zerfall und die Lehren daraus 311 <?page no="326"?> und meinen, es könne keine geben. Dabei befinden sie sich eigentlich in der Lage der Menschheit vor Kolumbus, die meinte, dass es keine anderen Kontinente als Europa, Afrika und Asien geben könne. Wir wissen, dass diese Meinung völlig falsch war. Wir wissen auch, dass die Entdeckung anderer Kontinente die Menschheit der „ alten Welt “ ungeheuer bereichert hat. Vielleicht sollten wir auch heute den Mut haben, zu „ neuen Ufern “ aufzubrechen, anstatt darauf zu beharren, dass es keine solche geben könne? 312 2 Das Aufkommen und der Zerfall des logischen Empirismus <?page no="327"?> 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung Die wohl wichtigste Folge des Zerfalls des neopositivistischen Programms bzw. seiner Konzeption von Wissenschaft bestand darin, dass den sozialen Elementen der wissenschaftlichen Wissensgewinnung vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Wie wir bereits am Anfang dieses Werkes gesehen haben, fand spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Übergang von der Wissenschaft als einem individuellen Streben berufener (meist vermögender) Einzelgänger zur Wissenschaft als einem kollektiven und übernationalen Unternehmen statt: Die „ scientific community “ wurde geboren. Es dauerte auch nicht lange, bis diese Wirklichkeit zum Gegenstand philosophischer Reflexion avancierte. Dieser Schritt vollzog sich am Anfang des 20. Jahrhunderts. 188 Mit den Arbeiten von Max Weber 189 , Karl Mannheim (vgl. Twenhöfel 1991, S. 19 - 76) und kurz danach Robert K. Merton (vgl. Twenhöfel ebd., S. 77 - 132) liegen die ersten Versuche vor, Wissenschaft und wissenschaftliche Wissensgewinnung als sozialen Prozess zu verstehen. Der Einfluss der sozialen Kräfte auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung wurde jedoch nach dem Zerfall des logischen Empirismus von vielen Forschern als viel tiefgreifender erachtet als jemals zuvor. Als bahnbrechend auf diesem Gebiet muss die bereits oben erwähnte Schrift von Thomas Kuhn The Structure of Scientific Revolutions angesehen werden, die das Problem der sozialen Bedingtheiten der wissenschaftlichen Wissensgewinnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit der scientific community rückte. Kuhns Buch setzte ein Umdenken in Gang, das schließlich zur Etablierung eines neuen Forschungsfeldes, der sog. Science Studies, führte, das wiederum in der Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in Science, Technology, and Society Studies (STS) metamorphosierte. Twenhöfel bezeichnet diese Entwicklung als den Übergang von der „ Wissenschaftssoziologie “ bei Mannheim und Merton zur „ Wissenssoziologie “ bei Kuhn und der späteren Edinburgh- Schule (Twenhöfel ebd., S. 133f.). 188 Einige wollen diesen Schritt schon in der Soziologie von Émile Durkheim sehen (vgl. z. B. Bloor 1991, S. 7; Duran 1998, S. 10). 189 Vgl. z. B. Weber 1904, S. 15f., und Weber 1917, S. 250f. <?page no="328"?> Ludwig Fleck: Denkstil und Denkkollektiv Die Kuhn ’ sche Revolution hatte jedoch einen wichtigen Vorläufer, dessen Beitrag zur Entstehung des neuen Feldes kaum Beachtung gefunden hat: den polnischen Arzt, Biologen und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck. Fleck (1896 - 1961) schloss sein Medizinstudium in Lvov (damals zu Polen gehörig) ab und arbeitete vor dem 2. Weltkrieg vor allem auf dem Feld der Bakteriologie. Er war während des Krieges aufgrund seiner jüdischen Abstammung zunächst in Auschwitz, dann in Buchenwald inhaftiert, überlebte aber und wurde nach dem Krieg Direktor der Abteilung für Mikrobiologie und Immunologie des staatlichen Instituts für Mutter und Kind in Warschau. Zwischen 1946 und 1957 publizierte er 87 medizinische und wissenschaftliche Artikel in polnischen, französischen, englischen und schweizerischen Zeitschriften. 1951 erhielt er den Nationalen Preis für wissenschaftliche Leistungen, 1954 wurde er in die Polnische Akademie der Wissenschaften gewählt, 1955 mit dem Orden der Polonia Restituta ausgezeichnet, der zweithöchsten zivilen Auszeichnung des Landes, die für herausragende Leistungen in den Bereichen Bildung, Wissenschaft, Sport, Kultur, Kunst, Wirtschaft, Landesverteidigung, Sozialarbeit und für die Förderung guter internationaler Beziehungen verliehen wird. Bereits 1935 hatte Fleck auf Deutsch das Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache veröffentlicht, von dem seine Herausgeber in der Reihe Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Lothar Schäfer und Thomas Schnelle schreiben, dass es „ alle Eigenschaften zu haben [schien], die es für den Erfolg geradezu prädestinierten “ (Fleck 1980, S. VIII). Kuhn stellte in der Einführung zu seinen Revolutions fest, dass dieses damals fast unbekannte Werk viele seiner eigenen Ideen vorwegnahm und ihn in vielerlei Hinsicht wesentlich inspirierte, aber bis zu seiner „ Wiederentdeckung “ praktisch unbekannt blieb (Kuhn 1970, S. vi f.). In seinem Buch entwickelt Fleck die Begriffe des Denkkollektivs, also der sozialen Einheit der Gemeinschaft der Wissenschaftler eines Faches, und des Denkstils, also der Denkgewohnheiten, auf denen ein bestimmtes Denkkollektiv sein Wissensgebäude aufbaut. In einem 1960 verfassten und zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten Manuskript definiert Fleck den Denkstil als „ gemeinschaftliche Tendenz zu selektiver Wahrnehmung und zu entsprechender geistiger und praktischer Verwendung des Wahrgenommenen “ (Fleck 1983, S. 178). Fleck widmet einen Abschnitt seiner Schrift von 1935 dem Thema der sozialen Bedingtheit „ jedes Erkennens “ (Fleck 1980, 53 - 70); darin schreibt er u. a.: Historische und stilgemäße Zusammenhänge innerhalb des Wissens beweisen eine Wechselwirkung zwischen Erkanntem und dem Erkennen: bereits Erkanntes beeinflusst die Art und Weise neuen Erkennens, das Erkennen erweitert, erneuert, gibt frischen Sinn dem Erkannten. 314 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus <?page no="329"?> Deshalb ist das Erkennen kein individueller Prozess eines theoretischen „ Bewusstseins überhaupt “ ; es ist Ergebnis sozialer Tätigkeit, da der jeweilige Erkenntnisbestand die einem Individuum gezogenen Grenzen überschreitet. (Ebd., S. 54) Einige Seiten weiter macht Fleck jedoch klar, dass er die soziale Bedingtheit des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses nicht für ein Übel hält, das es zu bekämpfen und überwinden gelte. Es gibt für ihn schlicht keine Möglichkeit, Erkenntnis außerhalb der menschlichen (oder im konkreten Falle wissenschaftlichen) Gemeinschaft zu betreiben: Jede Erkenntnistheorie, die diese soziologische Bedingtheit allen Erkennens nicht grundsätzlich und einzelhaft ins Kalkül stellt, ist Spielerei. Wer aber die soziale Bedingtheit für ein malum necessarium, für eine leider existierende menschliche Unzulänglichkeit ansieht, die zu bekämpfen Pflicht ist, verkennt, dass ohne soziale Bedingtheit überhaupt kein Erkennen möglich sei, ja, dass das Wort „ Erkennen “ nur im Zusammenhang mit einem Denkkollektiv Bedeutung erhalte. (Ebd., S. 59f.) Diese soziale Bedingtheit des Erkenntnisprozesses hat weitreichende Folgen. Im Widerspruch zu dem damals (1935) in neopositivistischen Kreisen weit verbreiteten Glauben an die durch die Sinne „ gegebenen “ Tatsachen stellt Fleck fest, dass das Gegebene nicht vorhanden sei ( „ Vom einfach Gegebenen kann hier überhaupt nicht gesprochen werden “ , ebd., S. 33) und die sog. Tatsache nicht unabhängig von anderen Tatsachen existieren könne, sondern von den bereits bekannten Tatsachen abhängig sei und ihrerseits auf sie zurückwirke. Er folgert daraus, dass jede neue Entdeckung, auch eine Entdeckung neuer Tatsachen, nicht Einzelleistung eines Wissenschaftlers, sondern eine Neuschöpfung des Denkkollektivs sei: Nie ist eine Tatsache von anderen vollkommen unabhängig: sie treten entweder als mehr oder weniger zusammenhängendes Gemenge der Einzelavisos auf oder auch als Wissenssystem, das eigenen Gesetzen gehorcht. Deshalb wirkt jede Tatsache auf viele andere zurück, und jede Veränderung, jede Entdeckung übt eine Wirkung auf ein eigentlich grenzenloses Gebiet: ein entwickeltes, zu harmonischem System ausgebautes Wissen besitzt die Eigenschaft, dass jede neue Tatsache harmonisch alle früheren Tatsachen - wenn auch noch so geringfügig - ändert. Jede Entdeckung ist in diesem Falle eigentlich eine Neuschöpfung der ganzen Welt eines Denkkollektivs. (Ebd., S. 134f.) Fleck nimmt ebenfalls die Kuhn ’ sche These vorweg, dass Wissenschaftler, die unterschiedliche Paradigmen repräsentieren, in „ unterschiedlichen Welten “ leben oder die Welt anders „ sehen “ und sie gemäß ihren Denkgewohnheiten (dem „ Denkstil “ ) interpretieren, wobei sie sich gegen jegliche Veränderungen wehren. Er schreibt: Ist ein ausgebautes, geschlossenes Meinungssystem, das aus vielen Einzelheiten und Beziehungen besteht, einmal geformt, so beharrt er beständig gegenüber allem Widersprechen. [. . .] 1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar. 2. Was in das System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 315 <?page no="330"?> 3. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder 4. es wird mittels großer Kraftanstrengung dem Systeme nicht widersprechend erklärt. 5. Man sieht, beschreibt und bildet sogar Sachverhalte ab, die den herrschenden Anschauungen entsprechen, d. h. die sozusagen ihre Realisierung sind - trotz aller Rechte widersprechender Anschauungen. (Ebd., S. 40) In dem bereits erwähnten Manuskript von 1960 setzte Fleck seine Entlarvung der Rolle der sozialen Faktoren in der realen Praxis der Wissenschaft fort. Er schreibt dort von der Kluft, die sich zwischen der „ offiziellen “ , seiner Meinung nach bereits obsoleten, obschon immer noch vorherrschenden Ansicht von der Natur der Wissenschaft und deren Realität auftut. „ Wahrheit “ und „ Objektivität “ seien immer noch die „ geweihten Ideale “ der Wissenschaft, schreibt er, sie seien aber für den gewöhnlichen modernen Wissenschaftler zu kompliziert geworden (Fleck 1983, S. 175). Er beschreibt weiter mit großem Realismus, aber auch einer gewissen Ironie die konfuse soziale Wirklichkeit der Entdeckung der Naturgesetze, die dann als ewig geltend dargestellt bzw. verkauft werden: Wie kann eine [. . .] von einer Zunft geschaffene und in der Tat temporäre Wahrheit (gefunden oder geschaffen von XY, tatsächlich aber von seinen Assistenten, denn XY selbst ist dauernd auf Kongressen) mit den ewigen Gesetzen der Natur (wie sie guten Kindern gepredigt wird) vereinigt werden? Allerdings ist die beste Politik die, nicht zu viele Fragen zu stellen und mit jenen an der Macht auf gutem Fuße zu bleiben. (Fleck 1983, S. 176) Flecks Sicht der Realität der wissenschaftlichen Wissensgewinnung kulminiert in dieser prägnanten Formulierung: Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt. (Ebd., S. 178f., Hervorhebung im Original) Wie wir bald sehen werden, nahm Fleck, von der Öffentlichkeit praktisch unbemerkt, fast prophetisch jene Reflexionen über die Natur des wissenschaftlichen Unternehmens vorweg, die mit Kuhns Scientific Revolutions einsetzten. Paul Feyerabend: Anarchische Erkenntnistheorie Nach dem Schock von Kuhns Scientific Revolutions und dem Zerfall des Programms des logischen Empirismus gab es, so könnte man sagen, eine kurze Verschnaufpause in der Auseinandersetzung mit der „ orthodoxen “ Wissenschaft. 1975 erschien dann ein Werk, das eine neue Phase der Auseinandersetzung einläutete: Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge. 190 Sein Autor, Paul Karl Feyerabend (1924 - 1994), ein in Österreich 190 Im Weiteren: AM mit dem jeweiligen Ausgabensjahr (vgl. Kürzelverzeichnis). Die Kernideen seiner Auffassung der Wissenschaft publizierte Feyerabend bereits 1970 im 316 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus <?page no="331"?> geborenen Wissenschaftstheoretiker, war kein Neuling auf dem Feld, sondern Professor für Philosophie in Berkeley (1958 - 1989), der bereits früher ein Jahr mit Karl Popper zusammengearbeitet hatte. Sein Buch erlebte einen succès de scandale (Williams 1998, S. 641) und Feyerabend avancierte mit ihm zum Enfant terrible der Wissenschaftstheorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts, eine Rolle, die er übrigens genoss (Williams ebd.). 191 Feyerabends Sicht der Wissenschaft wird oft auf das Motto „ Anything goes “ (AM 2010, S. 12) reduziert: Es gebe keine „ wissenschaftliche Methode “ , jede Methode, die aus irgendeinem praktischen Gesichtspunkt nützlich ist, sei gut und könne als wissenschaftlich gelten. Diese Haltung könnte man als eine extreme Form des Pragmatismus einstufen. Feyerabends Denken ist jedoch eigentlich viel subtiler, als es der mit ihm assoziierte Slogan offenbart. Sein Ausgangspunkt ist die damals bereits nicht mehr neue Einsicht, dass sich wissenschaftliche Theorien nicht auf „ harte Fakten “ stützen. Eine neue Theorie zu postulieren heißt vielmehr, die bekannten „ Tatsachen “ völlig neu zu interpretieren. Denn die „ Tatsachen “ werden nur mit Hilfe von Theorien konstruiert: No theory ever agrees with all the facts in its domain, yet it is not always the theory that is to blame. Facts are constituted by older ideologies, and a clash between facts and theories may be proof of progress. (AM 2010, S. 33, Hervorhebung im Original) Feyerabend rechnet zu den „ alten Ideologien “ auch die Kosmologien. Da wir immer innerhalb einer bestimmten Kosmologie denken und Theorien formulieren, sei es schlicht gefährlich, die neuen Theorien anhand der „ Tatsachen “ zu bewerten, welche aufgrund solcher Kosmologien konstruiert wurden: Aufsatz „ Against Method: Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge “ . Schon in diesem Aufsatz stellte er z. B. fest, dass die neuartigen Theorien keineswegs im Einklang mit den bekannten Tatsachen stehen: „ [T]he Copernican view is not in accordance with ‘ the facts ’ . Seen from the point of view of these ‘ facts ’ , the idea of the motion of the earth appears to be outlandish, absurd, and obviously false, to mention only some of the expressions which were frequently used at the time, and which are still heard wherever professional squares confront a new and counterfactual theory “ (zitiert in Achinstein 2004, S. 383). Wie es aber oft mit Ideen geschieht, die in akademischen Publikationen erscheinen, so blieben auch diese Ausführungen zunächst wirkungslos. 191 Einen guten Einblick in seinen Lebensstil geben Feyerabends Äußerungen in seiner privaten Korrespondenz. Anbei ein paar Beispiele: „ Gegen die Vernunft habe ich nichts, ebenso wenig wie gegen Schweinebraten. Aber ich möchte nicht ein Leben, in dem es tagaus, tagein nichts anderes gibt als Schweinebraten “ (Brief an Hans Albert (1970), zitiert in Oberschelp 2002, S. 78.). Oder: „ Ich scheiße auf die Wahrheit, was immer das ist. Was wir brauchen, ist Gelächter “ (Brief an Imre Lakatos (1971), zitiert in Oberschelp ebd., S. 92). Oder: „ When in Rome, curse the Romans “ (Brief an Hans Peter Dürr (1981), zitiert in Oberschelp ebd., S. 64). Aber auch: „ Ich vertrete hier, wo man die Universität in eine neue Kirche verwandeln will, wo Seelen gebildet werden, die ganz andere Auffassung, dass die Universität ein intellektueller Supermarkt ist, wo der reife Student herumwandelt und aufgreift, was ihm gefällt “ (Brief an Hans Albert (1968), zitiert in Oberschelp ebd., S. 26). 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 317 <?page no="332"?> It is this historico-physiological character of the evidence, the fact that it does not merely describe some objective state of affairs but also expresses subjective, mythical, and longforgotten views concerning this state of affairs, that forces us to take a fresh look at methodology. It shows that it would be extremely imprudent to let the evidence judge our theories directly and without any further ado. A straightforward and unqualified judgement of theories by ‘ facts ’ is bound to eliminate ideas simply because they do not fit into the framework of some older cosmology. (AM 2010, S. 47, Hervorhebung im Original) Es folgt daraus, dass die „ orthodoxe “ Vorstellung, dass Theorien an Tatsachen überprüft werden, oder aber auch ihre Popper ’ sche Variante, nach der die echten wissenschaftlichen Theorien an den Tatsachen scheitern und von ihnen widerlegt werden können sollen, hinfällig ist. Im Gegenteil: Die Kraft der „ Tatsachen “ , eine Theorie zu unterstützen oder sie zu widerlegen, könne nur mit der Hilfe einer (anderen) Theorie beurteilt werden. Feyerabend folgert daraus, dass das Aufstellen neuartiger Theorien die conditio sine qua non der Möglichkeit der Überprüfung der alten Theorie sei: Both the relevance and the refuting character of decisive facts can be established only with the help of other theories which, though factually adequate 192 , are not in agreement with the view to be tested. This being the case, the invention and articulation of alternatives may have to precede the production of refuting facts. Empiricism, at least in some of its more sophisticated versions, demands that the empirical content of whatever knowledge we possess be increased as much as possible. Hence the invention of alternatives to the view at the centre of discussion constitutes an essential part of the empirical method. (AM 2010, S. 22, Hervorhebung im Original) 193 Dieses völlig neuartige Prinzip der wissenschaftlichen Vorgehensweise bezeichnete Feyerabend in seinem oben erwähnten Aufsatz von 1970 als „ Principle of proliferation “ . 194 Um in der Wissenschaft weiterzukommen, sei es nicht ratsam, die bestehenden Hypothesen oder Theorien immer minuziöseren Tests zu unterziehen, um sich zu vergewissern, dass ihre Voraussagen bis zur zehnten Stelle nach dem Komma stimmen. Vielmehr solle man in einem kreativen Brainstorming immer neue Hypothesen und Theorien entwerfen, die nicht an den bestehenden geformt sind, sondern möglichst stark von ihnen abweichen. Denn nur wenn man über echte Alternativen zu den bestehenden Theorien verfügt, wird man imstande sein, die Stärken, aber auch die Schwächen diesen Theorien korrekt einschätzen zu können. Einheitliche Meinung ist für eine Kirche angebracht, für das Erlangen objektiven, wissenschaftlichen Wissens hingegen sind verschiedene Gesichtspunkte 192 Diese Bedingung wird von Feyerabend im 5. Kapitel seines Werkes aufgehoben. 193 Auch diese Idee war bereits im Aufsatz von 1970 vorhanden: „ I suggest introducing, elaborating, and propagating hypotheses which are inconsistent either with wellestablished theories or with well-established facts “ (Achinstein 2004, S. 376). 194 Vgl. Achinstein ebd., S. 376f. 318 3 Die Folgen des Zerfalls des logischen Empirismus <?page no="333"?> unabdingbar. Nur eine solche Vielfalt kann auch die Menschenfreundlichkeit des kognitiven Unternehmens garantieren: Unanimity of opinion may be fitting for a rigid church, for the frightened or greedy victims of some (ancient or modern) myth, or for the weak and willing followers of some tyrant. Variety of opinion is necessary for objective knowledge. And a method that encourages variety is also the only method that is compatible with a humanitarian outlook. (AM 2010, S. 25, Hervorhebung im Original) Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass die drei Ausgaben von Against Method (1975 = AM 1978, 1983 195 , 1993 = AM 2010) eine Weiterentwicklung von Feyerabends Denken erkennen lassen, die eine gewisse Abschleifung der scharfen Kanten der ersten Ausgabe mit sich bringt. So findet sich in der Ausgabe von 1975 noch folgende radikale Formulierung: The one thing he [epistemological anarchist] opposes positively and absolutely are universal standards, universal laws, universal ideas such as “ Truth ” , “ Reason ” , “ Justice ” , “ Love ” , and the behaviour they bring along, though he does not deny that it is often a good policy to act as if such laws (such standards, such ideas) existed and as if he believed in them. (AM 1978, S. 189) Sie wird später durch eine Abgrenzung des eigenen Ansatzes von einem „ naiven Anarchismus “ ersetzt: A naive anarchist says (a) that both absolute rules and context-dependent rules have their limits and infers (b) that all rules and standards are worthless and should be given up. Most reviewers regard me as a naïve anarchist in this sense, overlooking the many passages where I show how certain procedures aided scientists in their research. [. . .] Thus while I agree with (a) I do not agree with (b) (AM 2010, S. 242). In der Ausgabe von 1988 findet sich die folgende, ebenfalls extreme Formulierung, welche die Wissenschaft mit dem Mythos gleichstellt: Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer und fällt auf. Grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die bereits eine gewisse Position bezogen haben oder die die Wissenschaften akzeptieren, ohne jemals ihre Vorzüge und Schwächen geprüft zu haben. Und da das Annehmen und Ablehnen von Positionen dem einzelnen oder, in einer Demokratie, demokratischen Ausschüssen überlassen werden sollte, so folgt, dass die Trennung von Staat und Kirche durch die Trennung von Staat und Wissenschaft zu ergänzen ist. (AM 1993, S. 385, Hervorhebung im Original) Sie ist in der Ausgabe 1993/ 2010 durch eine viel mildere ersetzt: Science is neither a single tradition, nor the best tradition there is, except for people who have become accustomed to its presence, its benefit and its disadvantages. In a democracy it 195 In deutscher Übersetzung: AM 1993. 3 a Soziologie der Wissenschaft: Kurzgeschichte einer Bewegung 319 <?page no="334"?> should be separated from the state just as churches are now separated from the state. (AM 2010, S. 249, Hervorhebung im Original) Gewisse „ scharfe Kanten “ sind aber auch in der letzten Ausgabe des Werkes durchaus vorhanden. So äußert Feyerabend in allen drei Ausgaben die Vermutung, dass die wissenschaftliche Methode, so wie sie damals (und eigentlich heute immer noch) praktiziert wird, nicht nur nicht der Weisheit letzter Schluss sei, sondern reale Gefahren für die Menschen und ihr Zusammenleben berge: For is it not possible that science as we know it today, or a „ search for the truth “ in the style of traditional philosophy, will create a monster? Is it not possible that an objective approach that frowns upon personal connections between the entities examined will harm people, turn them into miserable, unfriendly, self-righteous mechanisms without charm or humor? „ Is it not possible, “ asks Kierkegaard, „ that my activity as an objective [or a critico-rational] observer of nature will weaken my strength as a human being? “ I suspect the answer to many of these questions is affirmative and I believe that a reform of the sciences that makes them more anarchic and more subjective (in Kierkegaard ’ s sense) is urgently needed (AM 2010, S. 156). Feyerabend legte einige Jahre später mit Farewell to Reason (1987) nach, einem Werk, in welchem er seine früheren Ansichten bekräftigte, aber auch ergänzte. So stellte er dort abermals fest, dass die Wissenschaft nur ein Teil der Kultur sein könne. Diesmal begründete er aber diese Auffassung nicht theoretisch, sondern mit menschlichen Grundanliegen: Das menschliche Leben sei reicher als die Wissenschaft und reicher als die Wissenschaft es begreifen könne. Wissenschaft könne unmöglich alle legitimen menschlichen Bedürfnisse stillen. Menschliches Gedeihen brauche mehr als Wissenschaft: Menschen brauchen eine Umgebung, die in gewissem Maße stabil ist und ihrer Existenz Sinn verleiht. Die rastlose Kritik, die angeblich das Leben der Wissenschaftler charakterisiert, kann Teil eines erfüllten Leben sein, aber nicht seine Grundlage. (Sie kann sicher nicht eine Grundlage sein für Liebe oder Freundschaft.) Die Wissenschaftler können daher einen Beitrag leisten zur Kultur, aber sie können und dürfen nicht verlangen, dass man eine Kultur zur Gänze auf ihre Ideen gründe. Das ergäbe eine komplizierte Barbarei, keine Kultur. (Feyerabend 1990, S. 376f., Hervorhebung im Original) Was Feyerabend an der gängigen wissenschaftlichen Vorgehensweise vor allem stört, ist das wissenschaftliche Ideal der Objektivität, denn Objektivität und Liebe schlössen sich gegenseitig aus, 196 und es sei einzig Liebe, nicht Objektivität, welche die mensch