Große Werke des Films 1
0715
2015
978-3-7720-5567-6
978-3-7720-8567-3
A. Francke Verlag
Günter Butzer
Hubert Zapf
120 Jahre nach den ersten öffentlichen Vorführungen ist der Film längst als eigenständige Kunst anerkannt, die ihre "Großen Werke" ebenso hervorgebracht hat wie die Literatur, die Musik oder die bildende Kunst. Über die Epochen- und Genregrenzen hinweg hat sich ein Kanon von Werken herausgebildet, der als Bezugsgröße für die Einordnung und Beurteilung von Filmen fungiert, der aber auch immer wieder aufs Neue befragt und revidiert werden muss. Die Reihe Große Werke des Films, die mit diesem Band startet, will diesen dynamischen Prozess der Kanonbildung, -fortschreibung und -revision mitgestalten, indem sie etablierte Filme neu interpretiert und aktuelle Filme für den Kanon vorschlägt.
Der erste Band der Reihe präsentiert Werke von Friedrich Wilhelm Murnau ("Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens"), Fritz Lang ("M - Eine Stadt sucht einen Mörder"), Ernst Lubitsch ("To Be or Not to Be"), John Ford ("The Searchers"), Alfred Hitchcock ("Psycho"), Federico Fellini ("Otto e mezzo"), Stanley Kubrick ("Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb"), Jean-Luc Godard ("Alphaville"), Pier Paolo Pasolini ("Medea"), Iván Zulueta ("Arrebato"), Krysztof Kieslowski ("Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten"), David Lynch ("Lost Highway") und Alexander Sokurov ("Faust").
<?page no="0"?> Große Werke des Films 1 Günter Butzer / Hubert Zapf (Hrsg.) <?page no="1"?> Große Werke des Films Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf <?page no="3"?> Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2013/ 2014 herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Große Werke des Films <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildungen © Blend Images / Fotolia.com | © nabihaali / Fotolia.com © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8567-3 <?page no="5"?> Vorwort Günter Butzer Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens (1922) S. 9 Heike Schwarz Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) S. 39 Johanna Hartmann Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be (1942) S. 61 Katja Sarkowsky John Ford, The Searchers (1956) S. 83 Ingo Kammerer Alfred Hitchcock, Psycho (1960) S. 105 Adina Sorian Federico Fellini, Otto e mezzo (1963) S. 127 Michael Sauter Stanley Kubrick, Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (1964) S. 145 Inhaltsverzeichnis S. 7 <?page no="6"?> Susanna Layh Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution (1965) S. 163 Julia Koloda Pier Paolo Pasolini, Medea (1969) S. 189 Hanno Ehrlicher Iván Zulueta, Arrebato (1979) S. 209 Franz Fromholzer Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten (1988) S. 229 David Kerler David Lynch, Lost Highway (1997) S. 253 Linda Ledwinka Alexander Sokurov, Faust (2011) S. 277 Die Beiträgerinnen und Beiträger S. 297 Inhaltsverzeichnis 6 <?page no="7"?> 120 Jahre nach den ersten öffentlichen Vorführungen ist der Film längst als eigenständige Kunst anerkannt, die ihre ‚Großen Werke‘ ebenso hervorgebracht hat wie die Literatur, die Musik oder die bildende Kunst. Über die Epochen- und Genregrenzen hinweg hat sich ein Kanon von Werken herausgebildet, der als Bezugsgröße für die Einordnung und Beurteilung von Filmen fungiert, der aber auch stets aufs Neue befragt und revidiert werden muss. So sind kanonische Werke nicht nur auf ihre historische Bedeutung, sondern ebenso auf ihre aktuelle Relevanz hin zu diskutieren; neue Filme müssen auf ihre Kanonizität hin besprochen werden; vergessene Werke schließlich sind neu bzw. wieder zu entdecken. Die Reihe Große Werke des Films, die mit diesem Band startet, will diesen dynamischen Prozess der Kanonbildung, fortschreibung und revision mitgestalten, indem sie etablierte Filme ebenso vorstellt wie aktuelle Filme, denen ein kanonisches Potenzial innewohnt. Die Konzeption der Reihe, die weder thematisch noch generisch eingegrenzt wird, ermöglicht dabei die Offenheit des Blicks und gewährleistet innovative Einsichten durch die Neuinterpretation bekannter Werke ebenso wie durch die Vorstellung unbekannter oder nicht mehr bekannter Filme. Im Laufe der Zeit wird sich so, wenn kein neuer Kanon, so doch ein stetig wachsendes Korpus von Filmen herausbilden, das, so ist zu hoffen, für die Leserinnen und Leser auch immer wieder Überraschungen bereithält. Die neuere Kanonforschung hat gezeigt, dass das mit jeder Kanonisierung - unabhängig von ihrem Geltungsbereich und ihrer Verbindlichkeit - verknüpfte Moment der Selektivität schlichtweg unabdingbar für jede kulturelle Formation und von daher unhintergehbar ist. Werden die Selektion und die damit verbundenen Wertungsprozesse nicht reflektiert, vollziehen sie sich unter der Hand und damit ungesteuert. Auf Grund dieser Prämisse erweist es sich als ebenso klug wie zukunftsweisend, Kanonisierung als reflexiven Vorgang gleichermaßen zu betreiben wie zu beobachten, um weder einer falschen Ontologisierung ‚großer Filme‘ als überzeitliche Qualität anheimzufallen, noch die Relevanz von Selektivität für die kulturelle Dynamik zu leugnen. Nicht zuletzt ist dabei auch zu berücksichtigen, dass ästhetische Kanones - und mit ihnen der filmische - nicht nur und sogar nicht primär aus einem Korpus von hochgeschätzten Werken bestehen, sondern in weitaus stärkerem Maße aus ‚Deutungskanones‘ (Renate von Heydebrand), die die Interpretation der Filme ebenso anleiten wie sie eine bestimmte Lektüre eines Films als kanonisch verbreiten. Veränderungen im filmischen Kanon vollziehen sich zuallererst im Bereich des Deutungskanons, und hierfür sollen die vorliegenden Interpretationen Anstöße und Argumente liefern. Dass wir die seit Jahrzehnten erfolgreiche Publikationsreihe Große Werke der Literatur (zuletzt erschienen ist Band 13) durch die Reihe Große Werke des Films erweitern und ergänzen, nicht aber ersetzen wollen, hat - neben der ästhetischen Produktivität der Filmkunst - auch zu tun mit Veränderungen dessen, was die Kultursemiotik als ‚kulturelle Texte‘ beschreibt. Hier vollzieht sich der Prozess der Kanonbildung, der - - Vorwort <?page no="8"?> nach Jurij Lotman essentiell für die Selbstorganisation einer Kultur ist, auf einer höheren Ebene: Ein kanonischer kultureller Text ist ein Text, der im für die Kultur prestigereichsten Medium übermittelt wird und der der besonderen Pflege - durch Ritualisierung, Speicherung, Interpretation, Auslegung, Übersetzung und Autorisierung - unterliegt. Die Präferenz bestimmter Medien ist aber einem Wandel unterworfen, oder umgekehrt besteht kultureller Wandel nicht zuletzt im Wechsel des dominanten Mediums, und der Film ist Teil eines solchen Wechsels in der Dominanz kultureller Texte, wie er insbesondere durch die zunehmende Bedeutung ikonischer Zeichen und deren Medien zum Ausdruck gelangt. Dabei kann von einer einfachen Opposition von sprachlichen und ikonischen Zeichen nicht die Rede sein; vielmehr treffen beide im filmischen Text zusammen, verbunden mit einem breiten Spektrum akustischer Zeichensysteme, das von Geräuschen und Lauten bis hin zur Filmmusik reicht. Es ist diese spezielle ästhetische Faktur, die den Film nicht nur als eine Kunst sui generis ausweist, sondern auch seine vielfältigen Beziehungen zur Literatur ermöglicht, so dass beide Künste nicht nur konkurrieren, sondern zugleich interagieren und eine intermediale Komplexität erzeugen, die als solche charakteristisch für unsere heutige Kultur geworden ist. Auch dieser nun nicht mehr filmimmanente, sondern gesamtkulturelle Kanonisierungsprozess ist mit im Blick zu behalten, wenn man sich den ‚großen Werken des Films‘ zuwendet. Der vorliegende Band präsentiert klassische Werke aus dem gesamten Spektrum der inzwischen über hundertjährigen Filmgeschichte - und solche, die es werden könnten. Vom Kriminalfilm über den Horrorfilm, Western, Science Fiction und Psychothriller bis zum Autorenfilm, dem Melodram und der Filmkomödie sind zahlreiche Genres mit so illustren Namen wie John Ford, Alfred Hitchcock, Fritz Lang, Jean-Luc-Godard, Stanley Kubrick u.v.a. vertreten. Die Beiträge nehmen die Filme aus werkanalytischer, kulturwissenschaftlicher und rezeptionsgeschichtlicher Sicht in den Blick. Sie gehen zurück auf eine Augsburger Ringvorlesung im Studienjahr 2013/ 14, an der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Philologisch-Historischen Fakultät sowie Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler mitgewirkt haben. Ziel der Reihe, die fortgesetzt werden soll, ist die sukzessive Etablierung eines Kanons von Einzelinterpretationen bedeutender Werke der Filmgeschichte, die zugleich als Reflexion kanonrelevanter Prozesse und deren Deutungskanones fungiert. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Unterstützung des Projekts sowie dem Francke Verlag und besonders dessen Lektor Tillmann Bub für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr spezieller Dank gilt Eva-Maria Mahr und Eva Ries für das große Engagement, mit dem sie das gesamte Unternehmen begleitet, und für die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben. Augsburg, im April 2015 Günter Butzer und Hubert Zapf Vorwort 8 <?page no="9"?> Günter Butzer And every shadow filled up with doubt. Jace Everett Tout cadrage chez Murnau est l’histoire d’un meurtre. Alexandre Astruc Die Spiegelbilder des Grauens sind Selbstzweck. Siegfried Kracauer Seit im Verlauf der Neuzeit das Jenseits einer sukzessiven Schrumpfung unterzogen wurde, 2 dringen die Toten vermehrt als Untote ins Diesseits ein. Sie tun dies aber nicht, wie vordem, in persona, sondern auf dem Wege der Massenmedien. So ist etwa die Berühmtheit von Vlad Draculea III, genannt Tepes, weniger seiner zeittypischen Grausamkeit als der frühneuzeitlichen Erfindung der Flugblätter und Flugschriften zu verdanken. 3 Ihren genuinen Ort aber haben die Untoten auf der Leinwand gefunden, jenem „écran démoniaque“, als den Lotte Eisner den Film der Weimarer Republik bezeichnet hat: ein Projektionsschirm des Dämonischen, auf dem das Untote, Unheimliche und Unbewusste sichtbar wird. 4 Dabei muss der Begriff des Mediums in einem weiten Sinn verstanden werden: als Technik der Appräsentation des „Optisch- Unbewußten“. 5 In diesem Sinn ist das spiritistische Menschmedium, über das die Toten mit den Lebenden kommunizieren können, ebenso ein Medium wie die Fotografie des Verstorbenen, die dessen Bildnis dem Lebenden bewahrt. 6 Nicht zufällig hat man in gewissen, dem Murnauschen Produktionsteam nicht fern stehenden Kreisen versucht, die unsichtbaren Geister auf die Fotoplatte zu bannen, in der Annahme, mit 1 Der Vampir Lestat de Lioncourt in Neil Jordans Interview With the Vampire (00: 29: 27). 2 Dieser Prozess einer ‚Entortung‘ des Jenseits, der mit dessen zunehmender Mediatisierung einhergeht, bildet den Gegenstand eines Forschungsprojekts zu den Medienkulturen des Jenseits, in dessen Zusammenhang der vorliegende Beitrag steht. 3 Vgl. Kührer, Vampire, S. 108ff.; Achnitz, „Draculas Herkommen“. 4 L’Écran démoniaque lautet der französische Originaltitel von Eisners einflussreichem Buch, das im Folgenden nach der deutschen Übersetzung (Die dämonische Leinwand) zitiert wird. 5 Benjamin, „Das Kunstwerk“, S. 500. 6 Vgl. zum mediengeschichtlichen Ort des Spiritismus Hörisch, Sinn, S. 247f., sowie ders., Brot und Wein, S. 247-262. - Ein berühmtes Dokument der Verknüpfung von Vampirismus und Spiritismus stellt Maupassants Erzählung „Le Horla“ (1887) dar. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens I. „What if there is no hell? “ 1 <?page no="10"?> Günter Butzer 10 dem neuen technischen Medium ließe sich der visuelle, scheinbar unmittelbare Beweis der Existenz immaterieller Wesen erbringen. 7 In Wirklichkeit braucht man die Geister gar nicht auf Celluloid zu fixieren, da das fotografische Medium in einer Art ontologischem Chiasmus nicht nur das Tote am Leben erhält, sondern zugleich das Lebende ins Tote verwandelt. So sieht es jedenfalls der Fotografie- und Filmdiskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in dem Murnaus Nosferatu zu situieren ist. 8 Diesem ist der Gang ins Kino ein Weg zu den Schatten der Unterwelt, die in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits hausen und nur in blutigen Ritualen zu beschwören sind. Denn die Schatten nähren sich, wie schon in der Nekyia von Homers Odyssee zu lesen ist, vom Blut der Lebenden und werden dadurch selbst - zumindest für die Dauer einer Filmvorführung - lebendig. So geht der Zuschauer des Vampirfilms ein Bündnis mit den Dämonen der Leinwand ein, die er mit seinem Blut bzw. Geld (zu dieser Äquivalenz weiter unten) zum Leben bzw. zum lebendigen Schatten erweckt. 9 10 Vor der Uraufführung von Murnaus Nosferatu am 4. März 1922 gab es bereits eine Reihe von Vampirfilmen. 11 Nosferatu aber ist der erste unter ihnen, der sich im Vorspann explizit als Intertext von Stokers Dracula-Roman präsentiert. 12 Dass der Film dessenohngeachtet - und für sog. Literaturverfilmungen höchst ungewöhnlich, weil strategisch unklug - einen anderen Titel als der Roman trägt, ist nur bedingt einer fehlenden Verwertungslizenz von Stokers Witwe geschuldet, die durch Gerichtsbeschluss nach dem Anlaufen des Films fast noch die Zerstörung sämtlicher Kopien 7 Zur spiritistischen Fotografie vgl. Krauss, Beyond Light and Shadow; den Bezug zu Nosferatu stellt Kaes, „The Return of the Undead“, S. 37 her. Laurence Rickels (Vampire Lectures, S. xii-xiv) betont die Gleichursprünglichkeit von Okkultismus und moderner Medientechnologie. 8 Vgl. dazu ausführlich unten, Abschnitt V. 9 Zur Affinität von filmischem Medium und Vampirismus vgl. Keppler, „Prolog zum Vampir“, S. 14-23 und Gelder, Reading the Vampire, S. 87-90. Dass diese Affinität auch in Murnaus Nosferatu latent vorhanden ist, zeigt Elias Merhiges Shadow of the Vampire, der sie in der fiktiven Produktionsgeschichte des Films explizit macht. Zur Verknüpfung von Vampirismus und Film vgl. auch den Beitrag von Hanno Ehrlicher über Iván Zuluetas Arrebato in diesem Band. 10 Vgl. Crawford, „For the Blood is the Life“. Die Erzählung aus dem Jahr 1905 bezieht sich auf die in Fußnote 30 angeführten Passagen in Stokers Dracula. 11 Der Film-Pionier Georges Méliès hat 1896 mit Le manoir du diable einen ersten ‚Vampirfilm‘ (so bezeichnet wegen der Verwandlung einer Fledermaus in Mephistopheles) vorgestellt. In Deutschland wurde noch vor Nosferatu Robert Wienes Genuine (1920; englischer Untertitel: „A Tale of a Vampire“) aufgeführt, der Nachfolgefilm des berühmten Cabinet des Dr. Caligari. Vgl. auch Fußnote 71. 12 Dieser Vorspann war allerdings in der ursprünglichen deutschen Fassung, im Unterschied zur internationalen Version, nicht enthalten, und wurde erst in der restaurierten Fassung, die hier zu Grunde gelegt wird, ergänzt (vgl. Alt, „Transformationen“, S. 19). Laut Margit Dorn (Vampirfilme, S. 72) wurde Stokers Roman jedoch im Programmheft zu Nosferatu als Vorlage des Films genannt. II. „For the Blood is the Life“ <?page no="11"?> 11 erwirkt hätte, wäre nicht ein Teil bereits ins Ausland verschickt worden. 13 Die augenscheinlichsten Veränderungen des Films gegenüber dem Roman - wie der veränderte Titel, die geänderten Namen der Figuren, die von England nach Deutschland verlagerten Schauplätze und die zeitliche Rückdatierung der Handlung vom späten 19. Jahrhundert auf das Jahr 1838 - verweisen vielmehr auf eine grundsätzliche, in den genannten Elementen noch nicht einmal medial motivierte Transposition des literarischen im filmischen Text, die - jenseits aller Fragen der Angemessenheit und Werktreue - einer näheren Betrachtung wert ist, da sie wesentliche Aufschlüsse über die Faktur von Nosferatu erlaubt. Diese Veränderungen, die rhetorisch wie psychoanalytisch als Verschiebungen und Verdichtungen zu bestimmen sind, erscheinen um so willkürlicher, als auch Murnaus Film, weit über das im Stummfilm Gängige hinaus, extensiv mit literarischen Mitteln arbeitet - allerdings mit solchen, die mit Stokers Dracula wenig zu tun haben. Dieser präsentiert sich als polyphoner und multiperspektivischer, fast schon montagehafter Brief- und Tagebuchroman, der Zeitungsartikel und transkribierte Phonographen- Aufzeichnungen integriert - im Ganzen ein Material, das fiktionsintern nur durch maschinelle Vervielfältigung überhaupt erhalten ist und dessen Authentizität und Zuverlässigkeit in einer abschließenden „Note“ explizit in Frage gestellt werden. Haben wir es also bei Stoker mit einem hochreflektierten Mediendiskurs zu tun, der sich jederzeit auf dem Stand des späten 19. Jahrhunderts befindet, so verschiebt Henrik Galeen, der Drehbuchautor von Nosferatu, nicht nur die Handlung, sondern auch die Medienentwicklung um gut 50 Jahre nach hinten: Ein anonymer homodiegetischer, an der Handlung jedoch nicht selbst beteiligter Erzähler, der sein Material qua mündlicher Zeugenbefragung zusammengetragen hat, berichtet ex post in einem literarisch nicht gebrochenen Diskurs von dem schrecklichen Ereignis der Heimsuchung seiner Heimatstadt durch einen die Pest verbreitenden Vampir, der durch das Selbstopfer einer jungen Frau vernichtet wird. Die zahlreichen, durch eine eigene Schrifttype und grüne Viragierung markierten Inserts des Erzählerberichts (vgl. Abb. 1) werden ergänzt durch z.T. mehrfach dargebotene Passagen aus einem alten Buch über Vampire, das dem Protagonisten Hutter in einem transsylvanischen Gasthaus zugesteckt wird und das das für den Film notwendige kulturelle Wissen einspeist (vgl. Abb. 2). Nimmt man die für den Stummfilm üblichen Zwischentitel mit den Reden der Figuren hinzu, hat 13 Vgl. Eisner, Murnau, S. 199. Der juristische Vorgang hat die Aufnahme des Films in Deutschland beeinträchtigt, so dass er, wie zahlreiche andere deutsche Filme der Zeit, erst über die Rezeption in Frankreich und den USA nach 1945 wieder - oder fast erstmals - in Deutschland zur Kenntnis genommen wurde (vgl. Patalas, „Nosferatu“, S. 26). Noch Werner Herzogs Film Nosferatu - Phantom der Nacht (1979) versteht sich nicht nur als Hommage an Murnaus Pionierfilm, sondern zugleich als bewusster Anschluss des sog. Neuen Deutschen Films an die in einer breiteren Öffentlichkeit nach wie vor nicht präsente Tradition des Weimarer Kinos. Eine Ironie der Filmgeschichte stellt es dar, dass Herzogs Films vor allem in den USA einen großen Publikumserfolg erzielen konnte. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="12"?> Günter Butzer 12 man einen in seinem discours von Stokers Roman nahezu völlig unabhängigen literarischen Text erheblichen Umfangs vor sich, der autonom mit dem ikonischen Text interagiert. 14 Abb. 1: Titelblatt des Erzählerberichts Abb. 2: Titelblatt des Vampirbuchs Doch bereits auf der Ebene der erzählten Geschichte weist der Text von Nosferatu erhebliche Veränderungen gegenüber Dracula auf, deren Behandlung einen geeigneten Ausgangspunkt für die Beschreibung der Bedeutung von Murnaus Film abgibt. 15 Zunächst zum titelgebenden Namen der Vampire: Der Name ‚Nosferatu‘, dessen Herkunft bis heute nicht eindeutig geklärt ist, der aber jedenfalls auf in Südosteuropa geläufige Gattungsbezeichnungen für Vampire zurückgeht, 16 taucht auch bei Stoker auf, wo er als Äquivalent für den Begriff der Untoten erklärt wird. Über diese sagt der Vampirspezialist Van Helsing: When they [the vampires, G.B.] become such, there comes with the change the curse of immortality; they cannot die, but must go on age after age adding new victims and multiplying the evils of the world; for all that die from the preying of the Un-Dead become themselves Un-Dead, and prey on their kind. And so the circle goes on ever widening, like as the ripples from a stone thrown in the water. Friend Arthur, if you had met that kiss 14 Die Musik zu Nosferatu bleibt in der folgenden Analyse unberücksichtigt. Deren Komponist, Hans Erdmann, war einer der Protagonisten der Filmmusik in den 1920er Jahren, der auch, zusammen mit Giuseppe Becce und Ludwig Brav, 1927 ein Allgemeines Handbuch der Film-Musik veröffentlicht hat, das Ulrich Rügner als „maßstabsetzend[]“ („Filmmusik“, S. 160) bezeichnet. Zu Erdmanns Filmmusik vgl. Heller, „Musik“, und Siebert, „Erdmann“. 15 Auf einige der im Folgenden beschriebenen Ambiguitäten und Ambivalenzen macht auch Thomas Elsaesser aufmerksam, allerdings ohne deren genetische Beziehung zu Stokers Dracula zu verfolgen. Elsaesser schreibt: „Somit scheinen verschiedene kausale Ketten nebeneinander zu verlaufen, ineinander verflochten von einem komplexen und auf den ersten Blick verwirrenden Wechsel zwischen unterschiedlichen Handlungsräumen und -orten. [...] Was Murnau hier aufbaut, ist so etwas wie eine Architektur von geheimen Verwandtschaften, zu tiefgreifend oder auch zu schrecklich, um den Charakteren bewußt zu sein“ (Weimarer Kino, S. 173f.). Auf die Ambiguitäten und Paradoxien in Nosferatu weist bereits Unrau, „Symphonie des Grauens“, hin, gelegentlich auch auf eine „contradiction between image and intertitle“ (S. 238). 16 Vgl. Ruthner, „Vampirische Schattenspiele“, S. 46, der zwei mögliche Etymologien anbietet: zum einen aus dem rumänischen necuratule (‚Unreiner‘), zum andern aus dem neugriechischen nosophoros (‚Seuchenträger‘), auf welch letztere Bedeutung Murnaus Nosferatu offenbar zurückgreift, wenn er den Vampir als Pestbringer präsentiert. <?page no="13"?> 13 which you know of before poor Lucy die; or again, last night when you open your arms to her, you would in time, when you had died, have become nosferatu, as they call it in Eastern Europe, and would all time make more of those Un-Deads that so have fill us with horror. 17 ‚Nosferatu‘ ist demnach, im Unterschied zu Dracula, kein Name, sondern eine Gattungsbezeichnung für den untoten Vampir, wodurch der Vampirdiskurs - auch Stokers Roman sollte übrigens ursprünglich „The Un-Dead“ heißen - bei Murnau vom Individuellen aufs Kollektiv verschoben wird. Verbunden damit ist schon bei Stoker die seuchenartige Ausbreitung des Vampirismus, der ja tatsächlich, wie eine Seuche, durch Infektion übertragen wird. Der nosferatu trägt freilich auch bei Murnau einen Namen - Orlok 18 - und ist wie Dracula ein transsylvanischer Graf. Ansonsten hat er in seiner Gestalt, glaubt man der Forschung, aber kaum etwas mit Dracula gemein. So schreibt Katrin Strübe: Eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen Graf Dracula und Graf Orlok würde man beim Anblick von Murnaus Vampir niemals vermuten. Er hat spitze Ohren, einen kahlen Schädel, tief in den schwarzen Höhlen sitzende Augen, rattenartige Zähne, klauenähnliche Hände und wirkt insgesamt mit seinem skelettartigen Äußeren mehr wie ein wandelnder Leichnam denn ein aristokratischer Vampir wie ihn Stoker gezeichnet hat. 19 Doch wie weit her ist es mit jenem aristokratischen Vampir bei Stoker? Als Jonathan Harker in Dracula seinen Gastgeber in dessen Schloss erstmals erblickt, beschreibt er ihn in seinem Tagebuch wie folgt: „[...] a tall old man, clean shaven save for a long white moustache, and clad in black head to foot, without a single speck of colour about him anywhere.“ 20 Nimmt man die auch bei Stoker belegte Wucherung der Fingernägel hinzu, ist vom Gentlemen-Vampir mit erotischer Ausstrahlung hier noch nichts zu erkennen; offenbar hat hier vielmehr die spätere filmische Dracula-Ikonografie, insbesondere durch Bela Lugosi und Christopher Lee, die Lektürefantasie der Interpreten überlagert. 21 Stattdessen entspricht die zitierte Beschreibung Draculas weitgehend (bis auf den Schnurrbart) der Gestalt Graf Orloks, wie sie Max Schreck bei Murnau verkörpert (vgl. Abb. 3). 17 Stoker, Dracula, S. 229. 18 Zur Namensbedeutung von ‚Orlok‘ vgl. unten, Fußnote 91. 19 Strübe, After Nightfall, S. 106; ähnlich bereits Dorn, Vampirfilme, S. 78. 20 Stoker, Dracula, S. 22. Bereits Stokers Figur ist also wie geschaffen für den Schwarz-Weiß-Film. Zur äußeren Erscheinung Draculas vgl. auch ebd., S. 305. 21 Die Rede vom ‚Gentleman-Vampir‘ Dracula bei Stoker ist gerade in der Literatur zu Nosferatu als Kontrastfolie omnipräsent - was sie indessen nicht zutreffender macht. Vgl. bspw. Koebner, „Der romantische Preuße“, S. 22. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="14"?> Günter Butzer 14 Abb. 3: Graf Orlok alias Nosferatu Die wesentliche Differenz zwischen Dracula und Orlok liegt demnach nicht in deren Aussehen schlechthin, sondern darin, dass es sich bei Orlok um eine unveränderliche Gestalt handelt, während Dracula sich durch Blutzufuhr verjüngt. Bereits vor seiner Abreise erscheint er Harker in seinem Sarg, nach dem Genuss frischen Kinderbluts, deutlich lebendiger und jünger, und als er ihm später in London auf der Straße begegnet, erkennt er ihn kaum wieder, weil sich sein Aussehen völlig gewandelt hat. 22 Dracula ist eine dynamische, auf Expansion und Exzess angelegte Figur, deren politische und erotische Souveränität durch die Blutzufuhr gesteigert wird und die durch expansive Fortpflanzungspolitik eine (wenn auch frühzeitig gestoppte) Bedrohung darstellt. Im Gegensatz dazu ist Murnaus Orlok eine statische Figur, die sich im Verlauf des Films äußerlich nicht verändert. Ihre hagere, schwarze Gestalt hat nichts gemein mit der - für Stokers Dracula m.E. überstrapazierten - Ikonografie der Verführung, sondern steht in einer völlig anderen Tradition: Murnaus Nosferatu ist der leibhaftige, volkstümliche Tod, der Deutschland am Beispiel der Hafenstadt Wisborg überfällt, Personifikation einer anonymen Macht, die alle unterschiedslos dahinrafft - wie die von ihm mitgeführte Pest deutlich macht. 23 Der anonyme nosferatu ist aber, wie erwähnt, zugleich Graf Orlok, der sich in Ellen, die Frau Hutters (wie Harker bei Murnau heißt) verliebt und zu ihr nach Wisborg reist. Orlok ist nämlich, im Unterschied zu Dracula, in gewisser Weise monogam veranlagt; zwar tötet er aller Wahrscheinlichkeit nach die Matrosen auf dem Schiff, bereits die Toten in Wisborg werden jedoch der Pest zugeschrieben. Streng genommen haben wir es durchweg mit einer doppelten Codierung des Todes durch den Vampir und die Ratten (als Metonymie der Pest) zu tun, die bei den Todesfällen stets zusammen auftreten - so lange, bis sich Orlok Ellen annähert. Tatsächlich ist sie die einzige Frau, die es im ganzen Film für Orlok gibt. So verschiebt Murnau die promiskuitive Anlage Draculas, die Stoker gegen die restriktive viktorianische Sexualmoral ins Feld führt, zurück auf eine romantische Liebeskonzeption, in der das alte Motiv vom Tod und dem Mädchen sentimentalisch ausfantasiert wird: der Tod verfällt dem Mädchen und 22 Vgl. Stoker, Dracula, S. 59f., 183f. 23 Zu Nosferatu als Personifikation des Todes vgl. Perez, „Nosferatu“, der von „a figure of death ingrained in life“ (S. 3) spricht. <?page no="15"?> 15 ist am Ende - wie noch zu zeigen sein wird - bereit, für seine Liebe zu sterben. 24 Wir sind eben bei Murnau im Jahr 1838 in der deutschen Provinz und nicht, wie bei Stoker, in den 1890er Jahren in London. Teil dieser Singularisierung der Vampir-Frau-Beziehung ist die Verdichtung der beiden zentralen Frauenfiguren Stokers zu einer einzigen: Murnaus Ellen trägt sowohl Züge der erotisch offensiven, möglichst viele Männer verschlingenden Lucy in sich (die dann konsequenterweise selbst zum Vampir wird, aber schon zuvor einen erheblichen Blutverbrauch hat) 25 als auch der im Roman zunehmend auf das bürgerliche Frauenbild eingeengten Mina. So fungiert Ellen von Anfang an als spiritistisches Kontaktmedium Nosferatus, indem sie seine Energie bereits von Transsylvanien aus registriert und in einem somnambulen Zustand ausagiert, wie es bei Stoker Lucy zugeschrieben wird. Zugleich ist sie aber auch die rationale Figur, die als einzige erkennt, wie der Vampir zu bekämpfen ist, und dies, ähnlich wie Mina, auch konsequent durchführt (Hutter, der die selben Informationen hat wie sie, ist in dieser Beziehung, wie auch in manch anderer, impotent). Durch die Verknüpfung der Eigenschaften beider Figuren wird die Ellen-Figur Murnaus - wesentlich stärker als die Figuren Stokers - ambig: sie wird, wie noch genauer auszuführen sein wird, zum intelligenten Medium. Eine ähnliche Operation ist auch in Bezug auf zwei weitere Figuren Stokers zu beobachten: den väterlichen Arbeitgeber Harkers, Hawkins, und Renfield, den wahnsinnigen Adepten Draculas. Beide Figuren werden bei Murnau zu derjenigen des verrückten Außenseiters Knock verdichtet, der von Anfang an als Verbündeter Nosferatus auftritt und diesen absichtlich nach Wisborg holt. Im Unterschied zu Hawkins weiß Knock um die vampirische Natur Nosferatus; er korrespondiert mit diesem in einer Geheimsprache, die an die Codes der zeitgenössischen Geheimlogen, wie dem der Pansophen, gemahnt, mit dem der Film über die Produktionsfirma „Prana“ und deren Leiter Albin Grau verbunden ist, der zugleich als Set-Designer für Nosferatu fungierte und als solcher eng mit Murnau zusammenarbeitete. 26 Durch die Amalgamierung von ökonomischer Vaterfigur (Hawkins vermacht in Dracula Harker seine Kanzlei und seinen Besitz und ermöglicht diesem am Ende des Romans eine eigene bürgerliche Existenz) und vampirischem Adepten ziehen Murnau und sein Drehbuchautor Galeen eine weitere Ambiguität in den Film ein: Die Vaterfigur gerät nunmehr 24 Das Erlösungsmoment, das damit für den Vampir verbunden ist, bezieht Alt auf Wagners Fliegenden Holländer, wobei er zugleich dessen Kontrafaktur hervorhebt, denn Nosferatu „ist keineswegs nur der Gefangene seines Loses, nicht sterben zu können, sondern auch der Sklave seines Triebes, eines Begehrens nach Blut“ (Alt, „Transformationen“, S. 29). Kaes schreibt über Ellen: „Her death is at once a redemptive gesture [...] as well as an act for the good of the community“ („Return of the Undead“, S. 40). In Herzogs Nosferatu werden das Leiden und die Erlösungsbedürftigkeit des Vampirs dann explizit herausgestellt. 25 Vgl. Fußnote 68. 26 Vgl. Rizzardini, „Elementi di paracelsismo“, der konstatiert: „Il cinema era una macchina perfetta per gli intenti di Grau, che fondò la Prana per soddisfare il desiderio di uscire dall’elitarismo dei circoli iniziatici per arrivare al popolo, rendendo comunicabili, attraverso la forza simbolica dell’immagine filmica, principi e ‚tesori‘ occulti e celati allo sguardo dei non illuminati“ (S. 339). Die Ausführungen Rizzardinis führen die Recherchen Berriatúas zum Okkultismus in Nosferatu in seinem Dokumentarfilm Die Sprache der Schatten (00: 18: 45-00: 23: 13) fort. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="16"?> Günter Butzer 16 zum dämonischen Verbündeten des Vampirs, was bedeutet, dass der ohnehin schwache Hutter jeglicher väterlichen Hilfe beraubt wird, da auch die zweite, wissenschaftliche Vaterfigur in Dracula, der Vampirspezialist Van Helsing, bei Murnau zum Teil von dem bereits erwähnten volkstümlichen Vampirbuch 27 und zum Teil von Bulwer ersetzt wird, welch Letzterer sein Wissen aber nur im Privatissimum an seine Studenten weitergibt (zu Bulwer s.u.). In der Figur Knocks aber wird der moralisch einwandfreie, ehrbare Bürger Hawkins zum wahnsinnigen Verbündeten Nosferatus, der sich an dessen Mordlust erfreut. Damit haben die Figuren keinen epistemischen und moralischen Halt mehr und sind, völlig auf sich allein gestellt, den Angriffen des Vampirs schutzlos ausgeliefert. In Knock vereinigen sich esoterische mit pekuniären Interessen, und das macht die Figur noch im Wahnsinn so gefährlich - zumal Hutter selbst das finanzielle Interesse Knocks teilt und den Auftrag, zu Graf Orlok zu reisen, vor allem des in Aussicht gestellten Geldes wegen annimmt, auch wenn dies, wie Knock bemerkt, „ein bischen Schweiß und vielleicht ........... ein wenig Blut“ 28 kosten wird. Damit wird schon frühzeitig eine Tauschbeziehung von Geld und Blut installiert (vgl. Abb. 4-5), die noch genauer zu untersuchen sein wird. 29 Abb. 4-5: Blut gegen Geld Schließlich verstärkt sich die Bedeutungsoffenheit des Films noch dadurch, dass die bei Stoker unhinterfragte wissenschaftliche Autorität Van Helsings bei Murnau, wie erwähnt, auf den im Vorspann als ‚Paracelsianer‘ bezeichneten Professor Bulwer verschoben wird, der in Nosferatu die Ideen des wahnsinnigen Renfield aus Dracula verbreitet (ohne dass er selbst im Film als verrückt markiert werden würde). Dessen Weltanschauung gründet auf dem biblischen Satz „Blut ist Leben! “ (00: 47: 46) 30 und wird von Bulwer insofern wissenschaftlich objektiviert, als er gegenüber seinen Studenten das Aussaugen des ‚Lebenssaftes‘ und damit den Vampirismus als „geheimnisvolle[s] 27 „[...] es ist der dämonologische Text Von Vampyren, der hier die Rolle von Stokers Wissensautorität Van Helsing übernimmt“ (Ruthner, „Vampirische Schattenspiele“, S. 45). 28 Murnau, Nosferatu, 00: 07: 55-00: 08: 07. Nachweise im Folgenden in Klammern im Text. 29 Unrau bezeichnet Hutters Geldgier als ein „near-vampiric desire“ („Symphonie des Grauens“, S. 237). 30 Vgl. Dtn 12,23. Vgl. auch Stoker, Dracula, S. 152 und die Selbstauslegung Renfields ebd., S. 249. <?page no="17"?> 17 Wesen der Natur“ (00: 45: 29) propagiert. 31 Das heißt, der Vampirismus gerät vom zwar in seiner Existenz anerkannten, aber bekämpfbaren und daher zu bekämpfenden Prinzip in Dracula zum allgegenwärtigen Naturprinzip in Nosferatu. Wenn aber die gesamte Natur der Ökonomie des Aussaugens - im Sinne eines allgemein gültigen nature sucks - folgt, gibt es kein Jenseits des Vampirismus mehr und man kann, wie es Murnau dann auch vorführt, den Vampir nur mit seinen eigenen Mitteln (Hypnose, Blut, s.u.) besiegen. Wie gleich deutlich werden wird, macht sich der Film nicht zuletzt durch seinen discours zum Verbündeten dieser Weltanschauung. Die angesprochenen Ambiguitäten und Ambivalenzen werden vom Erzähler des literalen Filmtexts nicht wahrgenommen, geschweige denn auserzählt. 33 Vielmehr dient dessen ebenso einsinnige wie einstimmige Narration lediglich als Grundlage für die durchgehende Polyphonie des filmischen discours. Die ikonischen Zeichen fungieren demnach, zusammen mit den eingeschalteten Zwischentiteln, als Ort der semantischen Öffnung der scheinbar einfachen Erzählung, kommentieren und ironisieren die naive und auf Sensation angelegte Erzählerrede und bilden so die im engeren Sinne ästhetische Ebene des Films. Das heißt: die Bedeutungen, die uns Murnau und sein Kameramann Fritz Arno Wagner zeigen, sind keineswegs kongruent mit den Bedeutungen, die wir in den textuellen Inserts lesen können. Diese präsentieren ein Narrativ der Erlösung, das deutlich dem Kreuzzugsnarrativ von Dracula entgegengesetzt ist. Dort ziehen die Fab Five Van Helsing, Dr. Seward, Arthur Holmwood, Quincey Morris und Jonathan Harker zusammen mit ihrem Medium Mina wie die „old knights of the Cross“ 34 Richtung Sonnenaufgang dem Bösen in Gestalt Draculas entgegen bzw. hinterher, um es zu vernichten. In Nosferatu hingegen wird das Böse in der eigenen Heimat bekämpft, und das funktioniert ob seiner verheerenden Präsenz nicht mehr als Kreuzzug, sondern nurmehr als Erlösung. 35 Angesichts der totalen Korrumpiertheit bzw. Impotenz der Männer muss sich die Frau in Gestalt Ellens zur Befreierin aufschwingen, und sie tut dies nicht mit den Mitteln des Kriegs, sondern des Opfers - jedenfalls auf den ersten Blick. Damit ist aus dem Vampir-Angriff aus Dracula in 31 Das vampiristische Paradigma Bulwers bildet „die grausame Art der fleischfressenden Pflanzen“ (00: 45: 30) - eine Einstellung, die etwa im Vorspann der Vampir-Serie True Blood zitiert wird. 32 Sookie Stackhouse in True Blood, Season 2, Episode 2 (00: 32: 24). 33 Auch nicht von manchem Interpreten. So schreibt etwa Skal, Nosferatu sei „starkly devoid of the consciously ambiguous or knowingly ironic“ (Hollywood Gothic, S. 54). 34 Stoker, Dracula, S. 341. 35 Die entsprechende, in einem Insert gezeigte Passage des Vampirbuchs lautet wörtlich: „Sindemalen keine andere Rettung fürhanden, es sey denn, daß ein gar sündlos Weyb dem Vampyre den ersten Schrey des Hahnen vergessen mache. Sie gäbe ihm sonder Zwange ihr Blut“ (01: 17: 52). Weibliche Unschuld und Erlösung sind hier also aufs Engste gekoppelt. Das Insert wird kurz vor Ellens Entschluss, den Vampir zu töten, wiederholt (vgl. 01: 21: 42) und liefert damit eine (scheinbar) eindeutige Motivation ihrer Erlösungstat. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens III. „It doesn’t really matter who’s dead“ 32 <?page no="18"?> Günter Butzer 18 Nosferatu ein Schicksalsdrama geworden, in dem sich von Anfang an die Isotopien von amor, mors und fatum verschränken. 36 Da Stokers Roman mit dem Aufenthalt Harkers bei Dracula einsetzt, sind die ersten drei, circa neun Minuten umfassenden Sequenzen von Nosferatu völlig unabhängig vom Roman. Was wir in diesen Sequenzen sehen, wird nur sehr bedingt im literalen Erzähltext berichtet: eine biedermeierliche (kinderlose! ) Eheidylle, die bei genauerer Betrachtung von erotischer Spannung und Todesahnung grundiert ist. Hutter, der naive, aber, wie sich dann erweist, geldgierige junge Angestellte des Maklers Knock, weicht dem erotischen Begehren seiner Frau aus und beantwortet es mit ‚toten Blumen‘. 37 Als Konkurrent des Vampirs kommt er von Anfang an nicht in Frage. Das belegt auch sein unbewusster Schutz vor dem Vampirbiss durch ein Halstuch, das ironischerweise immer wieder verrutscht. 38 Hutter kommuniziert also auf der pekuniären Ebene und nicht auf der erotischen. Auf dieser agiert seine Frau Ellen, deren mediale Qualitäten sich in ihren düsteren Vorahnungen angesichts der Reise Hutters nach Transsylvanien erstmals äußern. 39 Der ikonische Text von Nosferatu installiert demnach einen Zusammenhang von medialer Zirkulation und Begehren, der vom literalen Text nicht oder nur partiell formuliert wird. Ob Hutter in der ersten Nacht bei Orlok tatsächlich vom Vampir gebissen - und damit sein mit Knock vereinbartes Tauschgeschäft: Blut gegen Geld - konfirmiert wurde, bleibt streng genommen im Unklaren. Offensichtlich hingegen ist der Tauschhandel Geld gegen Frau, der zwischen Nosferatu und Hutter geschlossen wird und der in die mediale Kontaktaufnahme zwischen Nosferatu und der schlafwandelnden (mithin medial empfangsbereiten) Ellen mündet: in der Szene, als der Schatten Nosferatus dabei ist, sich auf Hutter zu stürzen (vgl. 00: 36: 27-00: 37: 33). Diese mediale Kontaktaufnahme führt, vorbereitet durch die (auch bei Stoker belegte) Fotografie Ellens (eine andere Art medialer Kontakt! ), die den Vampir erstmals auf ihre Existenz und Erscheinung aufmerksam macht (vgl. 00: 32: 04-00: 33: 03), zur Verschiebung des vampirischen Begehrens, das von Murnau, einigermaßen ironisch, vom homoerotischen ins heteroerotische Feld umgebogen wird. Da der homosexuelle Diskurs in der 36 Zu Letzterem vgl. die Begegnung Hutters mit Prof. Bulwer auf dem Weg zu Knock, die mit dem Zwischentitel Bulwers endet: „Nicht so hastig junger Freund! Niemand enteilt seinem Schicksal“ (00: 06: 06). 37 Vgl. die Einstellung 00: 05: 16-00: 05: 29, in der sich Hutter aus der Umarmung seiner Frau löst und die zuvor im Garten gepflückten Blumen zwischen die beiden Körper schiebt, woraufhin in der nächsten Einstellung (00: 05: 29-00: 05: 36) Ellen mit melancholischem Blick die Blumen (statt ihren Mann! ) streichelt. Der folgende Zwischentitel lautet: „Warum hast Du sie getötet ......... die schönen Blumen... ? ! “ (00: 05: 37). 38 Vgl. gleich die erste Einstellung nach dem establishing shot, die Hutter vor dem Spiegel beim Binden des Halstuchs zeigt (00: 04: 11-00: 04: 18), sowie die Einstellung vor Hutters Abreise, in der der Sitz des Halstuchs von Ellen korrigiert wird (00: 10: 57-00: 11: 14). Vgl. dazu Jung, Dracula, S. 78-80. 39 Vgl. die Einstellungen 00: 09: 55-00: 10: 01, 00: 10: 01-00: 10: 14, 00: 10: 33-00: 10: 42, 00: 10: 45- 00: 10: 48 sowie die Abschiedsszene 00: 12: 10-00: 12: 30. Bezeichnenderweise gehen die Todesahnungen und die Melancholie Ellens aber der Reiseankündigung Hutters schon voraus (s. Fußnote 37). <?page no="19"?> 19 Vampirliteratur vor Murnau und Stoker bereits etabliert war, 40 muss diese Verschiebung des Begehrens als intentionale Neuausrichtung des filmischen Texts verstanden werden; von Seiten der Figur Nosferatus erweist sie sich jedoch als offenkundig nicht bewusst gesteuert, sondern durch den Ruf Ellens somnambul gelenkt. 41 Der „Ruf des Totenvogels“ (00: 38: 02), von dem im Insert die Rede ist, erscheint mithin bereits hier doppeldeutig, denn: gerufen hat Ellen, und nicht Nosferatu (vgl. Abb. 6-7). Abb. 6-7: Der Ruf des Totenvogels Von nun an ist das mediale Band zwischen Ellen und Nosferatu geknüpft, und die von der Handlung in Stokers Dracula nicht vorgegebenen, mithin rein filmisch motivierten ausführlichen Parallelmontagen des III. und IV. Akts, die die Rückreise Hutters (zu Land) und Nosferatus (auf See) inszenieren, erscheinen für den Zuschauer als Wettlauf um die Frau. Ihre Parole lautet demgemäß: „Ellen! Ellen! ! “ (00: 41: 04). Wenn diese demnach im III. Akt auf einer Bank auf dem Dünenfriedhof, umgeben von Kreuzen, gezeigt wird, wie sie sehnsuchtsvoll aufs Meer hinausblickt und nach „dem Geliebten“ Ausschau hält (vgl. 00: 49: 46-00: 50: 11, 00: 50: 58-00: 51: 20), weiß nicht der Erzähler, wohl aber der Zuschauer, auf wen sie tatsächlich wartet. Wenn sie dann im IV. Akt schlafwandelnd angesichts der nahe bevorstehenden Ankunft Hutters und Nosferatus ausruft: „Ich muß zu ihm. Er kommt! ! ! “ (01: 03: 05), tritt die eindeutige Zweideutigkeit im Zusammenspiel von literalem und ikonischem Text offen zu Tage. Und wenn sie schließlich nach ihrem Entschluss, sich zur Befreiung ihrer Stadt von Nosferatu diesem zu opfern, in ein Kissen die Worte „Ich liebe dich“ (01: 24: 02) stickt, verschiebt sich diese Zweideutigkeit fast schon ins eindeutig Vampireske. Spätestens jetzt weiß man: Hutters ursprüngliches Geschäft - der Tausch von Blut gegen Geld - ist nicht zustande gekommen. Vielleicht hat Hutter gar keinen Blutzoll 40 Insbesondere durch die auch für Stoker einflussreiche Erzählung Carmilla von Joseph Sheridan Le Fanu aus dem Jahr 1872. - Zur homoerotischen Ausrichtung der Sequenz vgl. auch Dorn, Vampirfilme, S. 80. 41 Jung sieht es ähnlich: „Während die filmische Darstellung also suggeriert, Ellen habe Hutters Bedrohung telepathisch erahnt und habe seinen Namen gerufen, um ihn zu warnen, macht der Film auf der Ebene der Erzählung klar, daß sie auf Nosferatus Ausstrahlung reagiert“ (Dracula, S. 77). Ebenso Roberts, German Expressionist Cinema: „Murnau’s careful mise-en-scène suggests that, however much concern Ellen may have for her husband, in reality she is fascinated by the menace and virility of Nosferatu“ (S. 48). Vgl. auch Bloom, Literary Monster, S. 164-166. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="20"?> Günter Butzer 20 entrichtet, sicherlich aber wird ihn der inzwischen wahnsinnig gewordene Knock nicht mehr auszahlen. Stattdessen hat er seine Frau an den Vampir verkauft. Die Ökonomie des Krieges - Blut gegen Geld - ist gescheitert, der impotente Mann hat den Krieg verloren. Wie in Dracula, hängt nun alles an den medialen Qualitäten der Frau. Bei Stoker haben wir es, wie bereits angedeutet, mit einem Roman zu tun, der medientechnisch up to date ist. 42 Die Verfolgung und Bekämpfung des Vampirs erfolgt mit Hilfe von Aufzeichnungen, die z.T. aus der short hand, z.T. von Grammophonplatten transkribiert wurden; in jedem Fall sind sie von Mina, die nicht nur als Lehrerin ausgebildet ist, sondern zudem die skills einer Sekretärin besitzt, mit Hilfe von Schreibmaschine und Kohlepapier getippt und vervielfältigt worden. Nur auf Grund dieser technischen Reproduktion sind die Vampirjäger nach der Zerstörung der Originaltexte durch Dracula überhaupt noch in der Lage, die nötigen Informationen zu scannen, welche zur Identifikation des Vampirs führen. 43 Allerdings: am Ende sind weder die skripturalen Dokumente noch die telegrafischen Botschaften, welch letztere den mit dem Zug reisenden Vampirjägern über den Weg von Draculas Schiff Auskunft erteilen, hinreichend zu dessen Verfolgung und Tötung. Denn am Ende ist es die Blutsverbindung zwischen Dracula und Mina, die er gezwungen hat, sein Blut zu saugen, welche den medialen Kontakt zum Vampir aufrechterhält. Es ist mithin das Menschmedium Mina, über das Van Helsing mittels Hypnose in die Wahrnehmung Draculas eindringen und so auf seiner Spur bleiben kann. 44 Damit trägt die Telepathie eindeutig den Sieg über die Telegrafie davon - auch wenn der Kanal von beiden Seiten nutzbar ist und Dracula über Mina zugleich Auskünfte über die Pläne der Vampirjäger erlangt. 45 Die auf die Blutsbande gegründete mediale Verbindung setzt demnach die wechselseitige Ausschließlichkeit von Kommunikation und Bewusstsein außer Kraft und erfüllt damit ein Ideal, das in den medientechnischen Entwicklungen um 1900 zum Ausdruck gelangt: im Gehirn des anderen lesen zu können. 46 Durch den Kurzschluss von Bewusstsein und Kommunikation ist der Vampir bei Stoker zu fixieren. Auf der Strecke bleibt die mediale Kompetenz der Frau im Sinne von short hand und typewriter, und so ist es nur konsequent, dass Mina am Ende des Romans ihrer Berufstätigkeit abschwört und sich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter konzentriert. Während also Stokers Roman einerseits progressiv mit den neuesten medialen Techniken von Grammophon und typewriter arbeitet, andererseits regressiv die Bande des Bluts favorisiert, setzt Murnaus Nosferatu auf die ikonische Argumentation des Films. Er tut dies im Anschluss an die schon erwähnte Äquivalenz von Blut und Leben, die damit als Alternative zur Austauschbarkeit von Blut und Geld firmiert. Formuliert wird diese - bei Stoker dem schließlich doch nicht so wahnsinnigen Renfield 42 Vgl. dazu erstmals Kittler, „Draculas Vermächtnis“. 43 Vgl. die abschließende „Note“ Jonathan Harkers in Stoker, Dracula, S. 402. 44 Elsaesser spricht im Anschluss an Kittler von „hysteria and somnambulism“ als „the human equivalents of wireless transmission“ („No End to Nosferatu“, S. 92). 45 Vgl. Stoker, Dracula, S. 361. 46 Vgl. Gomes, Gedankenlesemaschinen, S. 25-76. <?page no="21"?> 21 in den Mund gelegte - Auffassung bei Murnau, wie bereits dargestellt, von dem Paracelsianer Bulwer in irritierender Übereinstimmung mit dem verrückten Knock. Die zunächst auf metaphorischer Analogie beruhende Ideologie vom Blutsaugen als „Wesen der Natur“ (00: 45: 29) wird aber auf der ikonischen Ebene des Films in eine allgemeine Sympathie der Natur (im Sinne der hermetischen sympatheia) transferiert - sprich: die Natur steht, wie die Parallelmontage der Ankunft Hutters und Nosferatus in Wisborg zeigt, im Bündnis mit der vampirischen Telepathie. 47 Durch die Montagetechnik wird deutlich, dass sich die Konkurrenz zwischen Hutter und Nosferatu zusehends zugunsten des Letzteren entscheidet. Wer zu Ellen kommt, das ist Nosferatu, dessen Schiff „mit gespenstischer Eile“ (01: 01: 21) regelrecht auf den Wellen reitet und den Wind als Boten voranschickt (vgl. Abb. 8-11). Abb. 8-11: Der reisende Vampir im Bündnis mit Wellen und Wind Im Unterschied zur zeitgenössischen deutschen Produktionspraxis basiert ein erheblicher Anteil von Murnaus Filmmaterial auf Außenaufnahmen, zu denen er mit seinem Team nicht nur nach Lübeck und Wismar, sondern auch in die Hohe Tatra (also schon recht nahe der Heimat Nosferatus) reiste. Während sich die meisten deutschen Regisseure in der von Kracauer so titulierten Kaliko-Welt 48 der Studios einrichten und - wie Murnau selbst in Der letzte Mann (1924) - sogar Straßenszenen nicht im Stadtraum filmten, sondern in den Studios nachbauten, wurde Nosferatu nicht zuletzt berühmt wegen seiner Naturaufnahmen, die etwas scheinbar Totes in der Filmgeschichte wiederbelebten: die Visionen der Bäume, die „sich den Launen des Windes fügen“, und der Blätter, „die im Sonnenlicht zittern und glänzen“, wie sie Cook und Bonnelli 1860 mit der Erfindung ihres Photobioskops beschworen hatten und wie sie dann durch den Kinematographen der Brüder Lumière erfüllt wurden. 49 Das Zittern der im Wind sich regenden Blätter in Lumières Filmen geriet dadurch zur Ikone des neuen Mediums, die freilich schon bald von den Studio-Trickaufnahmen Méliès‘ und seiner Nachfolger abgelöst wurde. Seit dem Einsatz elektrischer Lichtquellen um 1915 zog sich 47 Vgl. Murnau, Nosferatu, 01: 02: 16-01: 04: 16. - Hier wäre ein weiterer Anschluss des Films an okkulte Vorstellungen zu sehen. Vom Meer als „Chiffre des Unbewussten“ (Alt, „Transformationen“, S. 25) zu sprechen, greift demnach zu kurz, ebenso wie Dorns Behauptung: „Die Natur ist als Bindeglied zwischen der zivilisierten, scheinbar ‚realen‘ Welt und der Welt des Unheimlichen und ‚Monströsen‘ konzipiert“ (Vampirfilme, S. 77). Besser trifft es Brittnacher, der anlässlich der literarischen Vampirtexte ebenso lapidar wie zutreffend schreibt: „Erhabene Natur ist im gotischen Roman die Komplizin des Bösen“ (Ästhetik des Horrors, S. 120) - was ohne Einschränkung auf Nosferatu zu übertragen ist. 48 Vgl. Kracauer, „Kaliko-Welt“. 49 Vgl. Kracauer, Theorie des Films, S. 53. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="22"?> Günter Butzer 22 die Filmproduktion verstärkt in die künstliche Welt der Studios zurück. Umso enthusiastischer feiert der Kritiker Béla Balázs die „latente Poesie der Natur“ 50 in Murnaus Film. Dieser liefere, so Balázs, die Illusion unmittelbarer physischer Realität, die vor allem in den Totalen des Meeres sich von der Handlung löst und die erhabene Macht der Natur ins Bild setzt. Mit dieser überwältigenden Natur ist Nosferatu im Bunde, und auch (oder vor allem? ) deshalb hat Hutter keine Chance gegen ihn. 51 Nosferatu pflanzt sich nicht fort: Sofern er Blut trinkt, trinkt er es nur zu Nahrungszwecken (bzw. um die Pest, also den Tod zu verbreiten). Von vampirischen Abkömmlingen ist im Film sowenig die Rede wie von der Absicht Nosferatus, solche zu schaffen. 53 Auch in dieser Hinsicht ist er enthaltsam. Zwar verspürt die Schwester des Reeders Harding Nosferatus Einfluss (vgl. 01: 20: 16-01: 20: 53), doch scheint sich dieser nicht für sie zu interessieren. Stattdessen steht der Vampir hinter dem Fenster seines in Wisborg erworbenen, gegenüber dem Hutters gelegenen Haus und wartet auf ein Zeichen Ellens, dass sie bereit ist, ihn zu empfangen. Als es so weit ist, platziert Murnau Nosferatu kniend neben dem Bett Ellens, andächtig und fast devot an ihrem Hals saugend: ein romantischer Liebhaber, der endlich den Weg zur Geliebten gefunden hat und bereit ist, mit ihr den Liebestod zu sterben. Auch hier wird eine mögliche (vampirische) Fortpflanzung Nosferatus durch Ellen nicht thematisiert, und auch dies ist durchaus im Sinne der romantischen Liebeskonzeption, die ja - im Unterschied zur familiär ausgerichteten empfindsamen - nicht reproduktionsorientiert ist. Nosferatu, so hat die ikonische Ebene des Films gezeigt, ist übers Meer gefahren, um zu Ellen zu gelangen, getrieben von einem natur-magischen Band der Symrespektive Telepathie. Erscheint auf den Bildern der Reise die Anziehung noch dynamisch, verfällt Nosferatu indes nach der Ankunft in Wisborg in Passivität. Wie erstarrt blickt er hinter den Gittern seines Fensters zu Ellen hinüber, die in derselben Starre 50 Balázs, „Nosferatu“, S. 176. Vgl. dazu auch Eisner, Dämonische Leinwand, S. 98f. - In seiner filmtheoretischen Studie Der sichtbare Mensch aus dem Jahr 1924 distanziert sich Balázs wieder von dieser Auffassung, indem er die von ihm konstatierte „Entwicklung der Filmkunst [...] immer weiter weg von der Originalnatur“ (Der sichtbare Mensch, S. 66) unterstützt. Daraus resultiert schließlich eine gänzlich andere Art von filmischem Realismus als derjenige Kracauers, dessen Ideal die Wiedergabe bzw. Enthüllung der „wirklich existierende[n], physische[n] Realität“ (Theorie des Films, S. 55) darstellt. 51 Vgl. Perez Guillermo, „Shadow and Substance“, S. 150: „[...] the natural world is the true protagonist of Nosferatu.“ - Auf die Schwäche der Männerfiguren weist - allerdings ohne Einbeziehung Hutters - auch Ruthner hin, der sie im Unterschied zu Stokers ‚Männerbund‘ (welcher jedoch, wie ausgeführt, auch nicht ohne das weibliche Medium auskommt) als „eigentümlich desorganisiert, unwissend, unentschlossen und/ oder ineffizient in ihren Abwehrversuchen des Bösen“ (Ruthner, „Vampirische Schattenspiele“, S. 44) bezeichnet. 52 Count Dracula in Stoker, Dracula, S. 31. 53 Das konstatieren auch Ruthner, „Vampirische Schattenspiele“, S. 36, und Alt, „Transformationen“, S. 31. IV. „I love the shade and the shadow“ 52 , <?page no="23"?> 23 zurückschaut. In wechselseitiger Hypnose stehen sie sich unbeweglich gegenüber, so dass bei Weitem nicht klar ist, wer hier wen fesselt (vgl. Abb. 12-13). 54 Abb. 12-13: Gebannte Blicke Schließlich ist es aber die Frau, die ihren Blick losreißt und den Vampir zu sich ruft (mit derselben Geste, mit der sie zuvor ihren Mann empfangen hat) 55 - während die Geste ihres Mannes am Fenster durch eine Vogelscheuche ironisiert wird 56 -, und Nosferatu folgt ihr wie im Schlaf. Der literale Text spricht vom Opfer Ellens, der ikonische Text zeigt eine Verführungsszene, in der der Mann willenlos dem Ruf der Frau folgt (vgl. Abb. 14-16). 54 Koebner spricht mit Bezug auf diese Szene von Nosferatu als einem „beklemmend besessenen Voyeur[]“ („Der romantische Preuße“, S. 22). Gaschler hält dafür, Nosferatu sei „jetzt in der strengen Geometrie von Fenstern gefangen, die einen Gegensatz bilden zu den Tür- und Torbögen seines Schlosses und den Netzen der Demeter [sc. seines Schiffs, G.B.], die ihn wie eine unbesiegbare Spinne erscheinen lassen“ (Meisterwerke, S. 45). 55 Vgl. ebd., 00: 05: 16 und 01: 26: 56. - Auf den offensichtlichen Bezug der Geste Ellens zur Kreuzigung Christi weist z.B. Roberts, German Expressionist Cinema, S. 47, hin. 56 Vgl. Murnau, Nosferatu, 01: 19: 29 und 01: 25: 05. - Die Ikonografie der Vogelscheuchen-Einstellung geht laut Angela Dalle Vacche auf Caspar David Friedrichs Gemälde Frau vor der untergehenden Sonne (1818) zurück, laut Salvador Rubio Gómez wegen der formalen Gestaltung auf Friedrichs Mönch am Meer (1810). Die durchgängigen Verweise auf Werke der bildenden Kunst, v.a. der deutschen Malerei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die die visuelle Faktur von Nosferatu prägen, können hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. dazu Dalle Vacche, Cinema and Painting, S. 161-196; Catania, „Absent Presences“; Rubio Gómez, „Nosferatu y Murnau“; Alt, „Transformationen“, S. 27-29. Zu bedenken wäre indessen, auch angesichts der erwähnten Forschungswidersprüche, der Hinweis Lotte Eisners, Murnau halte sich „gerade nur an Anklänge, an Erinnerung großer Kunstwerke, die er zu eigenen Visionen transponiert” (Dämonische Leinwand, S. 97). Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="24"?> Günter Butzer 24 Abb. 14-16: Nosferatu in Trance Um die Begegnung von Ellen und Nosferatu eindrucksvoll ins Bild zu setzen, nimmt Murnau wiederum Änderungen an der Vampir-Figur vor, die, im Unterschied zu den späteren Dracula-Filmen und dem Roman selbst, in Nosferatu einen Schatten hat, welcher in der Verführungssequenz quasi autonom agiert (vgl. 01: 28: 19-01: 29: 04). 57 Während Murnau sonst nur sparsam von der subjektiven Kamera Gebrauch macht (und damit die Autonomie der ikonischen Ebene garantiert), ist in der Szene, in der sich der Vampir der in ihrem Bett ausgebreiteten Ellen nähert, die Fokalisierung konsequent auf den Blick Nosferatus fixiert - jedoch ist es in dieser Einstellung nicht der Vampir selbst, der die Frau berührt (und offensichtlich in Ekstase versetzt), sondern sein verselbstständigter Schatten (vgl. Abb. 17-18). Aber genau genommen stellt natürlich auch die Figur Nosferatus selbst nichts anderes als einen Schatten dar, der vom Filmprojektor auf die Leinwand geworfen und in Bewegung gesetzt wird. In der konträr zur Romanvorlage (nicht unbedingt zur Überlieferung! ) gewählten Schattenhaftigkeit des Vampirs thematisiert Murnaus Film demnach seine eigene Medialität. 58 Abb. 17-18: Nosferatus Schatten berührt Ellen Diese enge Korrelation des Vampirs mit dem Schatten lässt sich durch den gesamten Film verfolgen: Bereits auf der literalen Ebene wird Nosferatu konsequent als Schatten 57 Catania sieht gerade in der Schattenhaftigkeit Nosferatus die adäquate filmische Umsetzung der bereits bei Stoker angelegten „immaterial materiality“ des Vampirs: „The crucial point here is that it is partially because of the shadow he casts that Nosferatu comes to embody the disembodiment of his shadowless counterpart [Dracula, G.B.]“ („Absent Presences“, S. 330). 58 „[...] the figure of Nosferatu exists not as a representation of anything outside of film, but as an enactment of the filmic process itself“ (Kaes, „Return of the Undead“, S. 38). Ähnlich bereits Jung, Dracula, S. 84. <?page no="25"?> 25 bezeichnet, 59 und der schon erwähnte Angriff Nosferatus auf Hutter in seinem Schloss, der durch die telepathische Kontaktaufnahme Ellens gestoppt und auf diese selbst umgebogen wird, wird visuell nicht vom Vampir, sondern von seinem Schatten ausgeführt (d.h. Nosferatus Schatten liegt bereits auf Hutter, als der Vampir sich von ihm abwendet; vgl. 00: 36: 28-00: 36: 42). Als Initiation in die Schattenwelt Nosferatus aber fungiert jene berühmte Kutschfahrt (vgl. 00: 22: 19-00: 23: 32), die schon bei Stoker als rite de passage ins Reich Draculas inszeniert wird und die André Breton so fasziniert hat. 60 Bei Murnau ist es der Übertritt ins jenseitige Reich des Todes, den der von manchem Kritiker als unpassend empfundene Zeitraffer und vor allem die Montage von Filmnegativen in der entsprechenden Sequenz markieren. 61 Mehr als deutlich lenkt Murnau damit die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sein Medium, reißt sie - bis hin zur Lächerlichkeit 62 - aus dem suspense der Handlung und verschränkt für den Rest des Films Vampirismus, Schattenreich und filmisches Medium. Insofern ist die Tötung des Vampirs nicht nur die Leistung der Frau, die ganz Hingabe spielen muss, um den Vampir die Gefahr des Sonnenaufgangs vergessen zu lassen; es ist, wie die Schluss-Szene zeigt, das elektrische Licht, das den Vampir vernichtet, und damit jene technische Quelle, die den vampirischen Schatten erst ermöglicht hat. 63 Mythologisch betrachtet, kann das elektrische Licht den Vampiren freilich nichts anhaben, weshalb ihr genuiner Ort - wie der Vampir Louis de Pointe du Lac in Neil Jordans Interview With the Vampire berichtet - das Kino ist: „A mechanical wonder 59 Vgl. Murnau, Nosferatu, 00: 03: 29, 00: 31: 52, 00: 46: 48 (Erzähler) und 00: 33: 53, wiederholt 01: 17: 38 (Vampirbuch). Nach Copper, Der Vampir, S. 171, lautete der Untertitel von Nosferatu in der englischen Fassung „A Symphony of Shadows“. 60 Vgl. Breton, Les Vases communicants, S. 50. Zum Kultstatus des Films bei den Pariser Surrealisten vgl. Sadoul u.a., „Jenseits der Brücke“, S. 14f., 16. - Der Vampir hat, entsprechend seiner auch sonst - bis heute! man denke an die Twilight-Reihe und die diversen Vampir-Serien - bezeugten Schnelligkeit, eine eigene Bildgeschwindigkeit, wie bereits die Szene bezeugt, in der Nosferatu seine Reisesärge auf die Kutsche verlädt (vgl. 00: 40: 36-00: 40: 55). Catania („Absent Presences“, S. 234) bezieht diese zurück auf Stokers Satz „For the dead travel fast“ (Dracula, S. 17), den dieser wiederum Bürgers vampiristischer Ballade Lenore entlehnt hat. Andererseits eignet Nosferatu aber auch, worauf zuerst Lotte Eisner hingewiesen hat, eine „fast unterträglich werdende[] Langsamkeit“ (Dämonische Leinwand, S. 100) - insbesondere, wenn er sich auf seine Opfer zubewegt. Dazu Unrau: „Nosferatu has his own domain and rhythms“ („Symphonie des Grauens“, S. 237). Der Vampir steht also nicht nur im Bündnis mit der Natur (s.o.), sondern auch mit dem filmischen Medium. So sieht es jedenfalls Jameux, wenn er schreibt „que le vampire et l’ensemble du film participent d’un même rythme, [...] chacune de ses apparitions nous met plus étroitement en rapport avec la dynamique du film“ (Murnau, S. 41). 61 Noch in Jean Cocteaus Orphée (1949) wird die Unterwelt durch die Verwendung von Negativmaterial gekennzeichnet. 62 „The trick photography, like the odd camera angles, Murnau uses deliberately as an endistancing device“ (Perez Guillermo, „Shadow and Substance“, S. 153). Zur Abwertung der Trick-Sequenz vgl. bspw. Balázs, „Nosferatu“, S. 176, der dem „Geisterwagen im Wald“ eine „lächerlich[e]“ Wirkung zuschreibt, und Copper, Der Vampir, S. 168-172. 63 Vgl. zum Folgenden Murnau, Nosferatu, 01: 29: 41-01: 31: 25. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="26"?> Günter Butzer 26 allowed me to see the sun rise for the first time in two hundred years. And what sunrises! Seen as the human eye could never see them.“ 64 Es bedarf daher der Überbelichtung, um den untoten Schatten mit fotografischen Mitteln auszulöschen. 65 Auf der Handlungsebene stirbt Nosferatu mithin durch natürliches Sonnenlicht (auch das eine Neuerung Murnaus gegenüber Stoker), auf der Ebene des discours stirbt er durch Überblendung - wobei, dem romantischen Erlösungsmotiv entsprechend, die offenbare Anziehungskraft des Lichts auf den Vampir zu betonen ist, der, den Sonnenstrahlen bereit entronnen, magisch zu ihnen zurückgezogen wird (vgl. Abb. 19-20). Abb. 19-20: Nosferatu stirbt an zu viel Licht Damit stellt sich die Frage, wie viele Vampire wir hier eigentlich vor uns haben. Wenn Ellen Nosferatu ihr Blut offeriert, simuliert sie eine Freiwilligkeit der Hingabe, die dieser nicht durchschauen darf, damit die Vampir-Beseitigungs-Aktion erfolgreich ist. Daher die hypnotische Verführung, die Nosferatu das Bewusstsein raubt und ihn selbstvergessen am Bett Ellens ausharren lässt. 66 Das Mädchen täuscht damit den Tod, 64 Vgl. Jordan, Interview With the Vampire, 01: 42: 14-01: 42: 43. Dazu werden die Sonnenaufgänge aus Murnaus erstem amerikanischen Film Sunrise (1927) und aus Nosferatu gezeigt, während der Vampir fasziniert im Kinosessel sitzt. - Bereits in Coppolas Bram Stoker’s Dracula geht Dracula mit Mina ins Kino. Dazu Gelder, Reading the Vampire: „It is as if the project of filming Stoker’s novel about Dracula also involves filming the beginnings of film itself“ (S. 89) . 65 „Nosferatu’s destruction, caught in Ellen’s bedroom by the sun’s rays, amounts to a kind of overexposure: the film itself helps to destroy the creature it has created“ (Gelder, Reading the Vampire, S. 97). Vgl. Alt, „Transformationen“, S. 36, der die „Entkörperung“ Nosferatus als „Chiffre für die auflösende Macht des Kameralichts“ nimmt, „zugleich eine meta-ästhetische Referenz auf das Medium des Films, das am Ende die Mythen der Dunkelheit, mit denen es spielte, entzaubert.“ Ruthner schreibt: „Der Vampir ist durch die an ihm angewandten Simulationstechniken eigentlich schon hier zum untoten cyborg, zum technisch dämonischen Mischwesen geworden“ (Ruthner, „Vampirische Schattenspiele“, S. 43). - Bloom hat darauf hingewiesen, dass Nosferatus Gestik bei Sonnenaufgang - er legt die rechte Hand zunächst aufs Herz und dann auf sein Gesicht - die Gestik Ellens wiederholt, als sie Nosferatu von ihrem Fenster aus im gegenüberliegenden Fenster bemerkt - „realizing that he will die just as she prepared herself for her death“ (Literary Monster, S. 168). 66 Vgl. Unrau, „Symphonie des Grauens“: „Nosferatu’s attacks seem to occur while he is in a zombielike state“ (S. 236). - In Herzogs Nosferatu umarmt, anders als bei Murnau, Lucy (wie Ellen bezeichnenderweise im Rückbezug auf Stokers Vamp-Figur heißt) Nosferatu bei Sonnenaufgang und zieht ihn zu sich aufs Bett zurück, bis er nicht mehr entkommen kann (vgl. Herzog, Nosferatu, <?page no="27"?> 27 dem angesichts der Fülle an Licht auch das aufgenommene Blut nicht mehr hilft. So gerät die Tötung des Tods zum eigentlichen Ziel der Verführung, 67 womit in der medialen Auseinandersetzung zwischen Blut und Hypnose wieder einmal Letztere den Sieg davonträgt. Ironischerweise entpuppt sich die Bluttransfusion, anders als in Dracula, hier als Sackgasse nicht für die Spenderin, sondern für den Vampir. 68 Nosferatu kann Ellen zwar ihr Blut aussaugen, doch Ellen entzieht Nosferatu ihr Blut wieder, wenn es im Sonnenlicht verdampft. Sie mag daher kein Vampir im wörtlichen Sinn sein, aber immerhin ein metaforischer. Metaforische Vampire hießen zu Murnaus Zeiten (und heißen bis heute) Vamps und sind ausschließlich weiblichen Geschlechts. Mit den Spice Girls könnte man daher über Ellen sagen: „The Lady is a Vamp“. 69 Denn während Nosferatu dem romantischen Liebesmodell verhaftet bleibt und den Liebestod stirbt, simuliert Ellen dieses Modell nur und unterzieht es durch ihr Handeln der Ironisierung. Somit siegt der weibliche Vamp über den männlichen Vampir. 70 Murnaus Film aber aktualisiert wiederum ein Element des frühen Kinos: denn die ersten Vampirfilme sind nichts anderes gewesen als Filme über Vamps. 71 01: 34: 46-01: 35: 49) - womit Herzog eine Szene aus Galeens Skript realisiert, die Murnau selbst gestrichen hat (vgl. „Bild 172“ des Skripts, abgedruckt in: Eisner, Murnau, S. 603: „Nosferatu erhebt den Kopf. Er ist taumlig fast vom Genuss. Ellens Augen in fürchterlichster Angst. So darf er nicht fort, der Nosferatu. Sie schlingt die Arme um ihn. Und er kann nicht widerstehn. Sein Kopf senkt sich wieder über sie.“). Koebner hält dafür, Galeens Skript feiere in der von Murnau gestrichenen Passage „Ellens ‚Martyrium‘ als perverse Liebesnacht“ („Der romantische Preuße“, S. 23). 67 Damit ist der Tod freilich, wie Perez Guillermo bemerkt, nicht besiegt: „Just as the physical world, and not any of the human characters, is the true protagonist of Nosferatu, so death, and not the monstrous eponymous vampire, is its true subject. [...] In fact, Nosferatu ends, as one would expect it to end, with the irreducible triumph of death“ („Shadow and Substance“, S. 159). 68 Vgl. Stoker, Dracula, S. 131ff., 138ff., 145, 159f., wo (fast) sämtliche männlichen Protagonisten in einer deutlich sexuell konnotierten Szenenfolge dem Vampiropfer Lucy ihr Blut spenden, das dann aus der weiblichen blood bag - eine in neueren Vampirfilmen gerne verwendete Bezeichnung für den menschlichen Blutspender - von Dracula wieder ausgesaugt wird. 69 Es handelt sich um eine Parodie des Musical-Songs „The Lady Is a Tramp“ von Lorenz Hart und Richard Rodgers (bekannt etwa durch die Interpretation von Frank Sinatra). - Die klassische Verkörperung des Vamps in den 1920er Jahren stellt die Filmschauspielerin Theda Bara (Anagramm für ‚Arab Death‘) dar (vgl. Copper, Vampir, S. 36). - Prüßmann bezeichnet Nosferatus Liebe zu Ellen als amour fou (Dracula-Filme, S. 62). Ruthner spricht gelegentlich davon, Ellen wolle „den Vampir in die Falle ihres Betts [...] locken“ („Vampirische Schattenspiele“, S. 45), ohne daraus jedoch die nötigen Konsequenzen zu ziehen. 70 Ruthner spricht nicht unzutreffend von „eine[r] Art heroischem Selbstmordanschlag gegen den untoten Usurpator Wisborgs“ („Vampirische Schattenspiele“, S. 35); Koebner nennt Ellen eine „Braut des Bösen“ („Der romantische Preuße“, S. 21). 71 Hier ist insbesondere Louis Feuillades zehnteilige Kriminalserie Les Vampires von 1915/ 16 zu nennen, in der eine Sängerin mit dem Künstlernamen Musidora auftritt, die „in enganliegenden Gewändern mit gewagten Ausschnitten zum erstenmal den Typ des männerverschlingenden Weibsteufels verkörpert, der hernach als ‚Vamp‘ in die Filmgeschichte eingegangen ist“ (Prodolliet, Nosferatu, S. 121, Anm. 16). In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, einer relativen Hochzeit des Vampirfilms, erscheinen Spielfilme wie Vamp (Richard Wenk, 1986), Teen Vamp (Samuel Bradford, 1986) und Beverly Hills Vamp (Fred Olen Ray, 1989). Aktuell wird die Affinität von Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="28"?> Günter Butzer 28 Der russische Schriftsteller Maxim Gorki schreibt 1896 in einer oft zitierten Notiz über einen Kinobesuch: Last night I was in the Kingdom of Shadows. If you only knew how strange it is to be there. It is a world without sound, without colour. Everything there - the earth, the trees, the people, the water and the air - is dipped in monotonous grey. Grey rays of sun across the grey sky, grey eyes in grey faces, and the leaves of the trees are ashen grey. It is no life but its shadow, it is not motion but its soundless spectre.... And all this in a strange silence where no rumble of wheels is heard, no sound of footsteps or of speech. Nothing. Not a single note of the intricate symphony that always accompanies the movements of people. 73 Diese unheimliche Erfahrung entstammt der Frühzeit des Films, in der der Kinobesuch als Gang ad inferos, als Weg in die Unterwelt erscheint, in dem die Schatten der Toten hausen. Es ist eine Welt der farblosen Graustufen, die keine Geräusche kennt (außer dem Knattern des Projektionsapparats): kein Leben, sondern dessen Schatten; keine Menschen, sondern Gespenster. An diesem Zitat, das für viele steht, wird deutlich, wie eng die Kinoerfahrung von Anfang an mit der Erscheinung von Untoten verknüpft gewesen ist. Gorki macht diese Erfahrung Ende des 19. Jahrhunderts noch im Rahmen einer Varieté-Show in Nishny Nowgorod; zu Murnaus Zeit begibt man sich in den Bauch des Kinosaals, der wie der Höllenbauch eines gefräßigen Teufels wirkt, wie man ihn aus der Tradition der Groteske kennt. Und annähernd zeitgleich mit der Entstehung des modernen Kinos beschreibt Freud in der Traumdeutung das Unbewusste als Unterwelt 74 und ermöglicht damit eine Korrelation zwischen den Artikulationen des Unbewussten, wie sie sich im Traum visualisieren, und den Licht-und-Schatten-Projektionen des Films. 75 So gerät die Leinwand zum Projektionsschirm des Unbewussten, dessen Figuren (mit Gorkis Worten) zu befremdlichen, unheimlichen Gestalten zwischen Leben und Tod - kurz: zu Untoten werden, die ihren Tod zugleich hinter und vor sich haben, wie das Unbewusste zugleich ein vergessenes Vergangenes und ein zu wiederholendes Zukünftiges darstellt. 76 So könnte man das Kinoerlebnis als Projektion eines aufgeschobenen To- Vamp und Vampir bspw. in dem Film Vamps (Amy Heckerling, 2012) aufgegriffen, der auf der gleichnamigen TV-Serie beruht. Die dem Vamp-Begriff zu Grunde liegende Metaphorik des Aussaugens wird von Dorn (Vampirfilme, S. 57) als zentrale Metapher des Vampirismus schlechthin betrachtet. Siehe dazu auch den folgenden Abschnitt V. 72 Vgl. die gleichnamige Studie zur Entstehung des Kino-Dispositivs von Noël Burch. 73 Zit. nach Burch, Life to those Shadows, S. 23. 74 Vgl. Freud, Traumdeutung, S. 528, und das dem Text vorangestellte Vergil-Motto „Flectere si nequeo superos, acheronta movebo“ (Aeneis VII, 312). Dazu Starobinski, „Acheronta movebo“; Platthaus, Höllenfahrten, S. 55-90; Verf., „Höllenfahrt ohne Auferstehung“, S. 173. 75 Auf dieser Korrelation basiert jede psychoanalytische Filmtheorie. Vgl. z.B. Baudry, „Das Dispositiv“; Metz, Psychoanalysis and Cinema, S. 99-147. Ruthner spricht in Bezug auf Nosferatu vom Film als „angsterregende[r] symbolische[r] Projektionsfläche für das Imaginäre des Zuschauers“ („Vampirische Schattenspiele“, S. 47). 76 Vgl. Freud, „Jenseits des Lustprinzips“, S. 228-233. V. „Life to those Shadows“ 72 <?page no="29"?> 29 des bezeichnen, als Aufenthalt in der Zwischenwelt des Unabgegoltenen und scheinbar Abwesenden, das sich derart eine gespenstische Präsenz verschafft. 77 Dies erklärt die Dominanz von Lust und Angst (nicht nur) in der frühen Kinoerfahrung, als primären, präaffektiven Zuständen, die angesichts der Schattenwelt auf der Leinwand im wörtlichen Freudschen Sinn regressiv - im Rückgang vom Unbewussten zur Wahrnehmung - erlebt werden. 78 Dies erklärt darüber hinaus die enge Beziehung von Kino und Horror - Letzterer als Resultante erhabener Angstlust, die die schiere Lust der Wunscherfüllung mit der Furcht vor der Bestrafung untrennbar vereint. 79 Wenn, wie ich zu zeigen versucht habe, Murnau aus Stokers zwar doppelbödigem, aber nichtsdestotrotz binär strukturiertem Vampirroman mit Hilfe von Verdichtungen und Verschiebungen einen ambigen und ironischen Film gemacht hat, so haben wir es mit einer medialen Transposition nicht nur im engen Sinn zu tun, sondern mit einer Transposition ins mediale Zwischenreich zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, wo die semantischen Ambiguitäten und emotionalen Ambivalenzen auf ein unabgegoltenes „Triebschicksal“ (Freud) verweisen, das in entstellter Form auf der Leinwand erscheint. Die Frage muss daher gestellt werden, um welches Schicksal es sich dabei handeln könnte. Darauf wurden unterschiedliche Antworten gegeben. Am wenigsten überzeugt die jüngste von Katrin Strübe, die in Nosferatu die Instabilität der frühen Weimarer Republik projiziert sieht; dabei stehe die mutige Ellen „für die Frauen, die, durch das hohe Männerdefizit nach dem ersten Weltkrieg, den Wiederaufbau und die Wiederherstellung der Ordnung mit vorantrieben“, ihr selbstloses Opfer aber für die materiellen Entbehrungen der Deutschen nach dem verlorenen Krieg. 80 Würde Murnaus Film tatsächlich nichts anderes als eine Allegorie des Wiederaufbaus darstellen, wäre weder seine Phantasmagorie der Erlösung noch deren Ambivalenz der Verführung - mithin das gesamte imaginäre und affektive Potential des Films - zu verstehen. Kaum weiter trägt indessen auch Margit Dorns Auffassung, Murnaus Vampir verkörpere „alle Kräfte, die Deutschland nach dem ersten Weltkrieg ‚ausgesaugt‘ und geschwächt haben“. 81 Die daraus resultierende politische, ggf. auch ökonomische Lesart ist zwar, 77 Ähnlich argumentiert Rickels, der den Vampirismus als Symptom mangelnder gesellschaftlicher Trauerarbeit fasst: „[...] vampirism not only serves the exclusion of the different [...], but [...] it also always covers the need to mourn. That the vampire is someone who was buried improperly also meant, still to the point, that this special someone was not mourned properly“ (Vampire Lectures, S. 4). In diesem Sinn schreibt Kaes mit Bezug auf Nosferatu: „It is a fact that during the mass killings of World War I, tens of thousands of fallen soldiers were never properly buried and mourned. [...] Thus there was widespread fear that the ghosts of the unburied (and thus undead) soldiers would roam the earth in search of a final resting place“ („Return of the Undead“, S. 39). Dass die Geister der unbestatteten und unbetrauerten Toten als untote Schatten umherirren, ist ein kulturelles Axiom, das in der europäischen Literatur bis auf Vergil und Homer zurückverfolgt werden kann und zugleich eine wesentliche Grundlage für Freuds Psychoanalyse abgibt. Vgl. dazu Verf., „Facilis descensus Averno? “, S. 327f. 78 Vgl. Freud, Traumdeutung, S. 510-524. 79 Vgl. Seeßlen/ Weil, Kino des Phantastischen, S. 13-20. 80 Vgl. Strübe, After Nightfall, S. 107. Ähnlich Alt, „Transformationen“, S. 33. 81 Dorn, Vampirfilme, S. 85. Dorn erläutert dies wie folgt: „Der Vampirismus ist geeignet, die Ursachen des gesellschaftlichen Niedergangs - den verlorenen Krieg, das neue politische System, Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="30"?> Günter Butzer 30 wie gezeigt wurde, nicht von der Hand zu weisen, gerät aber viel zu einsinnig - in ihrer Verurteilung und Bekämpfung des Vampirismus ebenso wie in der patriotischen Selbstaffirmation. Sehr früh schon hat Siegfried Kracauer eine komplexere Lesart vorgestellt, die von ähnlichen mediologischen Prämissen wie den hier vorgetragenen ausgeht. Nosferatu, so Kracauer, bezeuge „Murnaus einzigartige Gabe, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Unwirklichem zu verwischen. Ein Lichthof aus Traum und Ahnung [umgibt] die Wirklichkeit in seinen Filmen, und eine greifbare Gestalt [wird] in den Augen der Zuschauer plötzlich zur bloßen Erscheinung“. 82 Murnau vollzieht demnach in Nosferatu die der filmischen Illusion entgegengesetzte Wirkung, indem er den projizierten Schatten den Schein des Lebens wieder entzieht und jedes Bild, wie Alexandre Astruc schreibt, mit einem Todesflor umgibt, so dass die Kamera zum Schauplatz eines angekündigten Mordes gerät. 83 Berücksichtigt man den Umstand, dass Murnau im Unterschied zum damals im Entstehen begriffenen Erzählkino „eine Szene und manchmal sogar eine einzelne Einstellung als selbständige Einheit behandelt“, 84 wird deutlich, dass hier die Räume zwischen den Bildern, die von der Imagination der Zuschauer gefüllt werden, mit zum Film gehören. Wenn Kracauer etwas abschätzig schreibt, in Nosferatu diene „soviel filmisches Gespür und technische Begabung einzig und allein der Absicht [...], Schrecken zu spiegeln“, 85 so bleibt zu bedenken, was dieser Schrecken indiziert. „Die Schrecken, die Nosferatu verbreitet, gehen aus von einen [sic] Vampir, der die Pest verkörpert“, so Kracauer, um dann einschränkend hinzuzufügen: „Gleich Attila ist Nosferatu eine ‚Geißel Gottes‘ und nur als solche gleichzusetzen mit der Pest. Er ist eine blutrünstige, aussaugerische Tyrannenfigur, die im Reich der Mythen und Märchen haust“. 86 und besonders die ‚blutsaugerischen‘ Reparationsforderungen der Alliierten - symbolisch zu konkretisieren“ (ebd.). Kritisch dazu Jung: „Wenn es einen politischen Bezugspunkt in der außerfilmischen Realität von Nosferatu gibt, so ist dieser mit Sicherheit eher in dem gerade verlorenen Krieg zu suchen“ (Dracula, S. 87). Auf die Fremdheit des Vampirs, die mit antisemitischen Vorstellungen besetzt werden kann, wurde in der Forschung vielfach hingewiesen (vgl. Bronfen, „The Vampire“, S. 86f.; Müller, „Der Vampir als Volksfeind“; Ruthner, „Vampirische Schattenspiele“, S. 52f.; Roberts, German Expressionist Cinema, S. 48). Zu bedenken ist immer auch die keineswegs irenisch gemeinte Bemerkung Blooms: „The film Nosferatu suggests many possible meanings for vampirism because of its symbolic resonances, without committing anything to words. [...] the horror does not consist of just one thing but of many possibilities“ (Literary Monster, S. 162). 82 Kracauer, Caligari, S. 85. 83 Vgl. Astruc, „Le feu et la glace“, S. 13: „La camera aura le plus simple et le plus épouvantable des rôles : être le terrain prescient et annonciateur d’une opération d’assasinat“. Hier wäre die oben (Fußnote 9) erwähnte mediologische Diskussion zum Zusammenhang von Film und Vampirismus anzuschließen. 84 Elsaesser, Weimarer Kino, S. 172. In einer Filmkritik von Nosferatu in der Vossischen Zeitung vom 7. März 1922 heißt es: „Murnau [...] stellt die Bildchen, sorglich durchgearbeitet, in sich abgeschlossen“ (zit. nach Arnold u.a., Nosferatu, S. 62). Zur Etablierung des Erzählkinos hat Murnau freilich mit seinem späteren Film Der letzte Mann (1924), der ihm den Ruf nach Hollywood einbrachte, selbst wesentlich beigetragen. 85 Kracauer, Caligari, S. 86. 86 Ebd. <?page no="31"?> 31 Damit ist wohl zu viel gesagt. Dass Nosferatu ein Tyrann sei, womöglich noch - der zentralen These von Kracauers Buch folgend - eine Präfiguration Hitlers, wird kaum noch jemand ernsthaft behaupten wollen. So plausibel Kracauers Ansatz auch ist, den Film der Weimarer Republik als Freilegung der unbewussten deutschen Kollektivpsyche zu lesen, so fragwürdig bleibt die Annahme, diese weise unmittelbar voraus auf die deutsche Zukunft. Stattdessen ist Klaus Kreimeier zuzustimmen, der postuliert, der deutsche Film der 1920er Jahre verarbeite „in erster Linie die Vorgeschichte der zwanziger Jahre“; die Filme der Zeit, so Kreimeier, „betreiben die ‚Psychoanalyse‘ [Kreimeier spricht von einer ‚vulgären Psychoanalyse‘, G.B.] der vorangegangenen Epoche“, nicht zuletzt des Ersten Weltkriegs. 87 Ob dies in der formulierten Allgemeinheit Bestand hat, muss hier nicht interessieren. Kreimeiers These mit Kracauers Ansatz verknüpfend, könnte man indessen gerade die - bei Stoker nicht vorhandene - Korrelation des Vampirs mit der Pest aufgreifen und mit der Assoziation zu Attila verknüpfen, so dass sich eine Verbindung zum Krieg einstellt, der nicht nur in der damaligen Kollektivsymbolik als Seuche imaginiert wird. Es wurde bereits deutlich, dass Nosferatu, im Unterschied zu Dracula, selbst kaum etwas zur Verbreitung des Vampirismus beiträgt, sondern vielmehr auf die eine Frau fixiert ist, die ihn durch Verführung tötet. Obwohl oder gerade weil sich der Vampirismus seuchenartig - gewissermaßen durch Infektion - fortpflanzt, kann er in Nosferatu vom Vampir selbst auf die durch Ratten übertragene Pest verschoben werden (die wiederum abrupt mit dem Tod des Vampirs endet) (vgl. Abb. 21). 88 Die Pest aber unterhält, wie erwähnt, kollektivsymbolische Beziehungen mit dem Krieg, so dass die zeitgenössischen Zuschauer, wenn sie die von Nosferatu auf seinem Weg und in Wisborg verbreitete Pest und deren Schar von Opfern sehen, dabei zugleich die Toten des Krieges imaginieren. 89 87 Vgl. Kreimeier, „Dispositiv Kino“, S. 18. 88 Ruthner sieht den „appeal des Nosferatu-Sujets [...] in der Verknüpfung des Individuellen mit dem Kollektiven“, die über „das Motiv der Krankheit und die Erscheinungsweise des Vampirs“ („Vampirische Schattenspiele“, S. 51) geleistet wird. 89 So auch Anton Kaes, der postuliert „that Murnau’s film represents a radical reworking of Stoker’s novel through the lens of World War I“, und dies wie folgt erläutert: „The very technology of film projection allowed the dead to reappear as moving images and phantoms, thus rendering cinema the ultimate realm of the undead, the privileged site of what can be imagined but has no life outside of film“ („Return of the Undead“, S. 32). Kaes erinnert auch daran, dass nicht nur in den 1830er Jahren, der Handlungszeit von Nosferatu, die Cholera in Europa grassierte, sondern gegen Ende des Ersten Weltkriegs die Spanische Grippe sich ausbreitet „like the plague had in prior centuries“; die Bilder der Pesttoten in Murnaus Film versteht er demgemäß als Deckerinnerungen „that hide[] the traumatic experience of mass killing that could not yet be visually articulated“ (S. 35). Den Bezug zum Ersten Weltkrieg stellen auch Unrau, „Symphonie des Grauens“, S. 237 und Koebner, „Der romantische Preuße“, S. 24 her. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens <?page no="32"?> Günter Butzer 32 Abb. 21: Filmplakat - Nosferatu als Herr der Ratten Bestätigt wird diese Annahme durch einen Text, den Albin Grau für das Programmheft von Nosferatu geschrieben hat und in dem mit Nachdruck und in mehrerlei Hinsicht auf den Zusammenhang von Vampirismus und Erstem Weltkrieg hingewiesen wird. „Der Schrecken des Krieges“, schreibt Grau dort, nachdem er die Idee zu einem Vampirfilm auf ein eigenes Kriegserlebnis in Serbien zurückgeführt hat, „ist aus den Augen der Menschen gewichen; aber es ist etwas zurückgeblieben, die Sehnsucht, zu begreifen, wenn auch oft nur unbewußt, was hinter diesem ungeheuren Geschehnis liegt, was daherbrauste wie ein kosmischer Vampir“. 90 Die ‚kosmische‘ Anspielung des pansophischen ‚Meisters vom Stuhl‘ Grau einmal außer Acht gelassen, wird deutlich, dass für das zeitgenössische Publikum der Schrecken des Vampirs die Schrecken des Krieges mit sich führt, 91 „wenn auch oft nur unbewußt“, dass mithin, jenseits jeder konventionellen Symbolik, der Zuschauer mehr sieht als den manifesten filmischen Text. Der Todesflor, von dem Astruc in Bezug auf die Bilder Murnaus spricht, erhält so eine sehr konkrete Bedeutung, wenn das Publikum auf dem inneren Projektionsschirm den eigenen Toten begegnet, die ihm der äußere Schatten des untoten Vampirs wieder vor Augen führt (aber was ist hier eigentlich Innen und was Außen? ! ). Auf Grund der erwähnten Autonomie der Szenen und Einstellungen 92 werden die Lücken zwischen den Bildern betont, die eine Vielzahl von Verbindungen zulassen, und zugleich wird die Bedeutung des Einzelbilds geöffnet. Auf diese Weise erzeugt Murnau einen imaginär-symbolischen Raum, der nicht den Gesetzen der Chronologie und der Kausalität folgt, sondern einer „Traum-Logik“; 93 diese provoziert vielfältige 90 Grau, „Vampire“, zit. nach Arnold u.a., Nosferatu, S. 62. 91 Der Name ‚Orlok‘, der für den Film neu gebildet wurde, geht auf das niederländische ‚oorlog‘ zurück und bedeutet nichts Anderes als ‚Krieg‘ (für den Hinweis danke ich Frau Susanne Schmitz, Bad Honnef). Alt erinnert der Name ‚Orlok‘ „an das englische ‚warlock‘ (Hexenmeister, Zauberer)“ („Transformationen“, S. 16). 92 Astruc spricht von seinem Eindruck, der Film Murnaus beginne mit jeder Einstellung neu, da „[t]oute image chez Murnau exige d’être anéantie par une autre image“ („Le feu et la glace“, S. 12). 93 Elsaesser, Weimarer Kino, S. 173. Koebner schreibt, Murnau erzähle „über weite Strecken wie von einem schweren Traum“ („Der romantische Preuße“, S. 25). <?page no="33"?> 33 Verknüpfungen und bringt im Zuschauer einen ‚zweiten Film‘ 94 hervor, der nicht mehr von der Kohärenz der Erzählung beherrscht wird, sondern von deren Lücken und Ellipsen, ihren Rissen und unerwarteten Wendungen. Dieser ‚zweite Film‘ weist Affinitäten, Bezüge und Konstellationen auf, die weder den Figuren noch dem Zuschauer bewusst sein müssen und die dennoch - oder gerade deshalb - das energetische Zentrum des Films bilden, weil sie jene Ambivalenz von Horror und Faszination generieren, für die Nosferatu das erste und nach Ansicht mancher (etwa seines Nachschöpfers Werner Herzog) bis heute unübertroffene Beispiel darstellt. Liest man von hier aus den Eingang des literalen Filmtexts, erkennt man, dass dieser zugleich mit der Wirkung der Figur Nosferatus auch die Wirkung des Films präzise benennt: Abb. 22: Metafiktionaler Erzählkommentar 94 Vgl. Kuntzel, „Le défilement“, der, ausgehend von der Bedeutung von ‚Film‘ als projiziertem Werk und als Filmrolle, von der Doppelung jeden Films in eine kontinuierlich-bewegte und eine diskontinuierlich-fixierte Bildfolge spricht, die sich wie bewusste Wahrnehmung und unbewusste Perzeption zueinander verhalten und deren Beziehung Kuntzel mit Hilfe der Verfahren der Traumarbeit (Verdichtung, Verschiebung etc.) beschreibt. Denn wie für den Traum gilt auch für den Film: „[...] les éléments ‚non-vus‘ consciemment font inconsciemment effet“ (S. 107). Die Pointe von Murnaus Nosferatu läge dann darin, mit Hilfe diskontinuierlicher Bilder den ‚unbe wussten Film‘ bei den Zuschauern zu aktivieren und dadurch eine „inquiétante étrangeté“ (S. 109) hervorzurufen. Friedrich Wilhelm Murnau, Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens - <?page no="34"?> Günter Butzer 34 Filmographie Interview With the Vampire. Produktion: Geffen Pictures, USA, 1994. Regie: Neil Jordan. Drehbuch: Anne Rice, Neil Jordan. Kamera: Philippe Rousselot. Musik: Elliot Goldenthal. Darsteller: Tom Cruise (Lestat de Lioncourt), Brad Pitt (Louis de Pointe du Lac), Antonio Banderas (Armand), Stephen Rea (Santiago), Christian Slater (Daniel Malloy), Kirsten Dunst (Claudia). Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens. Produktion: Prana, Deutschland, 1922. Regie: Friedrich Wilhelm Murnau. Drehbuch: Henrik Galeen. Kostüme und Bauten: Albin Grau. Kamera: Fritz Arno Wagner. Originalmusik: Hans Erdmann. Darsteller: Max Schreck (Graf Orlok), Gustav von Wangenheim (Hutter), Greta Schroeder (Ellen), Alexander Granach (Knock), John Gottowt (Prof. Bulwer). Restaurierung: Luciano Berriatúa im Auftrag der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung. Nosferatu - Phantom der Nacht. Produktion: Werner Herzog, BRD/ F, 1979. Regie: Werner Herzog. Drehbuch: Werner Herzog. Kamera: Jörg Schmidt-Reitwein. Musik: Popol Vuh, Florian Fricke, Charles Gounod, Richard Wagner. Darsteller: Klaus Kinski (Graf Dracula), Isabelle Adjani (Lucy Harker), Bruno Ganz (Jonathan Harker), Walter Ladengast (Dr. van Helsing), Roland Topor (Renfield). Die Sprache der Schatten. Friedrich Wilhelm Murnau und seine Filme. Die frühen Jahre und Nosferatu. Produzent: Manuel Cereijo (tve) in Zusammenarbeit mit Filmoteca Madrid/ Friedrich-Wilhelm- Murnau-Stiftung, Spanien/ Deutschland, 2007. Autor: Luciano Berriatúa. Sprecher: Thomas Lang. Übersetzung: Eva Diaz. True Blood. Season 2. Episode 2: „Keep This Party Going“. Produktion: Alan Ball u.a./ HBO, USA, 2009. Regie: Michael Lehmann. Drehbuch: Brian Buckner. Kamera: Romeo Tirone. Musik: Nathan Barr. Darsteller: Anna Paquin (Sookie Stackhouse), Stephen Moyer (Bill Compton), Sam Trammell (Sam Merlotte), Ryan Kwanten (Jason Stackhouse), Rutina Wesley (Tara Thornton), Alexander Skarsgård (Eric Northman), Deborah Ann Woll (Jessica Hamby), Nelsan Ellis (Lafayette Reynolds), Kristin Bauer van Straten (Pamela Swynford De Beaufort). 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Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 249 In Fritz Langs künstlichen Stadtkulissen für seinen ersten Tonfilm M - Eine Stadt sucht einen Mörder aus dem Jahre 1931 amalgamiert die visuelle Reinszenierung einer grausamen Realität von Serienmorden mit filmisch einzigartigen Mitteln und formiert sich so zu einem Psychogramm des menschlichen Individuums und zu einem psychologischen Portrait und Soziogramm einer anonymisierten Metropole. Lang erweist sich hier, wie auch in seinen anderen Werken, als Dramaturg und Kommentator des bestialisch Realen, der immanenten Grausamkeit der menschlichen Psyche und des zwanghaften Handelns des Menschen als Massentier. 1 Nicht nur der einsame, dem allgemeinen Lebensrhythmus entzogene Serienmörder Hans Beckert wird einer detaillierten Analyse durch die Filmkamera unterzogen, auch das durch Kollektivismus und massengesellschaftlich geprägte Getöse der Großstadt wird psychopathologisch seziert und sprichwörtlich durchleuchtet, wobei der Filmkonsument als Zeuge und Analyseinstanz wirkt. Lang erweist sich als Portraitist des Menschen in seiner pathologischen Abgründigkeit, der nicht nur als zwanghafter Einzeltäter auftritt, sondern auch als von niederen Instinkten getriebener, der Massenkultur und ihrer zerstörerischen Kraft zuträglicher, williger Gehilfe fungiert. Langs Filme, darunter Dr. Mabuse, der Spieler (1922), Metropolis (1927) und die später im amerikanischen Exil entstandenen mittleren Werke Fury (1936) und You Only Live Once (1937), können somit als filmische Psychogramme gelten, die Lang als Analysten und sogar Profiler mit Kameraauge definieren. Die komplette Überwachung des Versuchsobjekts ‚Mensch‘ dokumentiert, im Sinne eines Freudschen Kulturpessimismus, 2 auch das Pathologische in der menschlichen Psyche, wenngleich Lang Momente der Empathie für das Andere auch zulässt und somit auf Krisenmomente des scheinbar Normalen hinweist. Langs Diktion der Darstellung des Pathologischen beeinflusst auch die Neuverfilmung von M (1951) durch den amerikanischen Regisseur Joseph 1 Nichtsdestotrotz schafft Lang mit seinem Film auch ein liebevoll gestaltetes Werk über die Außenseiter der Gesellschaft wie Bettler und Berliner Originale. 2 Siehe dazu Sigmund Freuds Auslassungen zum Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb des Menschen in seiner kulturtheoretischen Schrift Das Unbehagen in der Kultur, welche ein Jahr vor Herausgabe des Films M - Eine Stadt sucht einen Mörder im Jahre 1930 erschien. Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder - <?page no="40"?> Heike Schwarz 40 Losey zwanzig Jahre nach Erscheinen des Klassikers M - Eine Stadt sucht einen Mörder. Vom Berlin der Weimarer Republik wird das Geschehen in das Los Angeles der 1950er verlegt, die Abgründe der Psyche des Mörders wird der amerikanischen, psychoanalytischen Erklärungskonvention der pathologischen Mutter-Sohn Beziehung angepasst, das Soziogramm der Massenkultur ergibt eine kritische Reflektion einer kapitalistisch geprägten empathielosen Gangsterwelt. Fritz Langs Meisterwerk M - Eine Stadt sucht einen Mörder komponiert Kriminalfilm, Psychogramm eines Psychopathen, 3 sowie Gesellschafts- und Zeitgeistkritik zu einem ästhetisch einzigartigen Film, der die Thematik des Serienmordes allerdings nicht sensationalisiert, sondern durch Perspektivenwechsel eine Komplexität aufweist und den Blick in die Psyche eines Zwangstäters bietet. Die Darstellung der Morde wird hier komplett ausgeklammert. Im historischen Rückblick wird die politische Turbulenz der Weimarer Republik deutlich, als sich extreme politische Tendenzen zu einer Vorahnung der absoluten Vernichtung aufbauschen. 4 Der Moloch der Großstadt zeigt sich schon im zeitgleich entstandenen Film Berlin, Alexanderplatz (1931) von Regisseur Piel Jutzi nach Alfred Döblins Gesellschaftsroman (1929). Der psychopathische Serientäter wird in späteren deutschen Filmen seinen Platz finden: Nachts wenn der Teufel kam (1957) mit Mario Adorf als debilem Frauenmörder und Es geschah am hellichten Tag (1958) mit Gerd Fröbe als von seiner Frau tyrannisiertem Kindermörder. Die Idee dazu liefert Dürrenmatts Vorlage, die später als Das Versprechen (1958) in Romanform erscheint und wiederum im Jahre 2001 von Sean Penn als The Pledge in den USA verfilmt wird. In Fritz Langs Film soll die Austilgung des ‚Abnormalen‘, welches von der Gesellschaft und vor allem von im Untergrund agierenden Ganoven zum Abartigen degradiert wird, die vormals vorherrschende Grundordnung wieder herstellen. Der Anführer der Verbrecher (Gustav Gründgens) verweist in seiner Lederuniform und seiner Diktion bereits auf die kommenden Herrschaftsstrukturen des Dritten Reiches hin. So wird deutlich, dass die Geschichte der kollektiven Jagd auf den Serienmörder Hans Beckert gerade auch diese gesellschaftlichen Umbrüche reflektiert. Fritz Lang portraitiert aber auch die systematische Arbeit der Kriminologen, deren Fallanalyse die in den 1920ern entwickelte Krimi- 3 Eine Grunddiagnose ‚Psychopath‘ gibt es nicht. Üblicherweise wird heute in den USA im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) und im International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) der WHO von ‚antisozialer‘ Persönlichkeitsstörung gesprochen und z.B. auf Empathielosigkeit verwiesen. Der Begriff des psychopath wurde 1941 vom amerikanischen Psychiater Hervey Cleckley in seiner Studie The Mask of Sanity begründet. Von Interesse ist dies hier bezüglich eines psychisch auffälligen, zwanghaft handelnden Menschen als Serientäter, ohne die Verbindung Psychopathologie/ Krimineller grundsätzlich zu unterstellen, wobei die scheinbare ‚Normalität‘ des Täters im Sinne Cleckleys anwendbar wäre. 4 Zu den Modellen des Politischen während der Weimarer Zeit in Bezug auf M siehe Kunkel, „Weimars Politainment“. I. Abgründe und Absonderliches: Das Psychopathologische <?page no="41"?> 41 nalpsychologie umfasst. Der Film endet mit dem unvergessenen Monolog, den der gestellte, von Todesangst verschreckte Kindermörder vor einem aus Verbrechern zusammengesetzten Tribunal hält: „Immer muss ich durch die Straßen gehen, und immer spüre ich, da ist einer hinter mir her. Das bin ich selber und verfolgt mich“. 5 Es stellt sich die Frage nach der Schuldfähigkeit eines triebgesteuerten Serienmörders und wie die Gesellschaft, die im Rausch einer Selbstjustiz dem Gewaltmonopol der Polizei trotzt, mit solchen getriebenen Tätern umzugehen hat, wenn sie sich nicht selbst Schuld aufladen will. 6 Zu Beginn des Films singen die Kinder in einem Hinterhof einen scheinbar harmlosen Reim: „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt der Schwarze Mann zu dir“ (Lang, M, 00: 01: 10), eine Variation des Haarmann-Liedes über den Serienmörder Fritz Haarmann. 7 Wenn die Mutter auf ihr Kind Elsie wartet, ihm das Essen zubereitet und den Namen des Kindes durch das dunkle Treppenhaus ausruft, dann wartet sie vergebens. Der Schatten des Schwarzen Mannes hat Elsie bereits erreicht. In der Abhandlung Kriminalpsychologie - Psychologie des Täters: Ein Handbuch für Juristen, Justiz-, Verwaltungs- und Polizeibeamte, Ärzte, Pädagogen und Gebildete aller Stände von Dr. Erich Wulffen, seinerseits Ministerialdirektor und Vorstand der Abteilung für Strafsachen, Gnaden- und Gefängniswesen im sächsischen Justizministerium im Jahre 1925, wird die Einführung einer kriminalpsychologischen Wissenschaft in die Lehrpläne der Kriminalisten gefordert. Nur durch eine wissenschaftlich fundierte „Einsicht in das Innere des Verbrechers“ und Einordnungsmöglichkeit der Handlung, könne demnach die Genesis menschlicher Verhaltensweisen verstanden werden (S. 27). Wulffen spricht im Vorwort von einer intuitiven Gewissheit, einer instinktiven, intensiven Einfühlung des Forschers, der im Bereich der zu etablierenden Kriminalpsychologie eine Möglichkeit findet, den Täter systematisch zu erfassen, um ihn schließlich zu stellen (S. 8). Durch wilde und steinige Pfade führe die große Aufgabe der Kriminalpsychologie: „Aufschreien im tiefsten Schmerz der Verzweiflung möchte das bessere Menschentum, das uns geblieben ist, um all das Ungeheure, was geschehen ist und geschieht“ (S. 460). Die Diskrepanz von notwendiger Empathie einerseits, also der Einsicht in die Abgründe des Täters und das „innerste Selbst“ 8 , dem ungeheuren Anderen, betont 5 Lang, M, 01: 38: 22. Beckert spricht hier von sich und seinem alter ego oder seiner dunklen Seite in der dritten Person (meine Hervorhebung). Nachweise im Folgenden in Klammern im Text. 6 Zur allgemeinen Rechtssprechung und den jeweiligen Reformen zur Unterbringung psychisch kranker Täter siehe Kuban, Das Recht der Verwahrung und Unterbringung am Beispiel der „Irrengesetzgebung“ zwischen 1794 und 1994. 7 Die Kinder verwenden hier einen rhythmischen Aufzählreim, der Text ist eine Abwandlung des Haarmann-Liedes, welches wiederum eine Variation eines Liedtextes aus der Operette Marietta ist, die 1923 uraufgeführt wurde und wohlbekannt war. 8 Hiermit sei kurz auf den Film Silence of the Lambs (1991) von Jonathen Demme verwiesen, der das Genre des Serialkillerfilms in den 1990ern grundlegend beeinflusst hat, und in dessen deutscher Synchronisierung die FBI-Agentin Clarice Starling vom Serienmörder Hannibal Lecter auf die Notwendigkeit der ‚Einfühlung‘ ins innerste Selbst hingewiesen wird (im englischen Original heißt es: „look deep within yourself“; 00: 00: 14). Auf Demmes Film folgten in den USA und auch Deutschland unzählige (populär)wissenschaftliche Bücher, die das Phänomen des Serienmörders und des Profiling verbreiteten. Siehe dazu Harbort, Das Hannibal-Syndrom. Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder <?page no="42"?> Heike Schwarz 42 schon Wulffen. Seit den 1990ern werden selten populärwissenschaftliche Veröffentlichungen zu Serienmördern ohne Hinweis auf den mittlerweile legendären US- Kriminalisten und FBI-Psychologen Robert Ressler veröffentlicht, der diesen Konflikt mit Bezug auf Nietzsches Jenseits von Gut und Böse ebenfalls erwähnt: 9 „Irgendjemand hat einmal gesagt, dass derjenige, der gegen Monster ankämpft, darauf acht geben muss, dass er im Laufe dieses Kampfes nicht selbst zum Monster wird. Aber wenn du lange genug in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund in dich hinein.“ 10 Zwar wird Ressler als Begründer des Behavioral Science Unit des FBI angesehen, 11 systematisiert hat die Wissenschaft zur Erforschung serieller Mordtaten jedoch tatsächlich Ernst Gennat in der Weimarer Republik der 1920er, jener liebevoll ‚Buddah‘ genannte Berliner Kriminalkommissar, den Fritz Lang in M als den gefürchteten ‚dicken Lohmann‘ portraitiert. 12 Durch den Prozess der ‚Einfühlung‘ 13 ist eine Teilhabe oder ein Verständnis gegenüber dem Serientäter Beckert in M nur zu einem gewissen Grad möglich, durch eine Kategorisierung von Täterprofilen jedoch, wie sie in M durch die Arbeit der Polizei systematisiert wird, und die Verfolgung Beckerts mit der Kamera kann eine Innenschau des Täters und dessen seelischer Abgründe, zumindest momentan, evoziert werden, woraus sich äußerste Spannungsmomente ergeben können. In einem dramatischen Höhepunkt am Ende des Films spricht die Figur des Hans Beckert - kongenial von Peter Lorre verkörpert - direkt in die Filmkamera. Was vom Schwarzen Mann, der uns als unheimlicher Schatten, der über der Stadt liegt, zu Beginn des Films in einem Kinderreim begegnet, bleibt, ist die Erkenntnis, dass der Täter hier von seinem eigenen Abgrund bereits verschlungen wurde. Phänomen Serienmord; Pfeiffer, Der Zwang zur Serie ; Simpson, Psycho Paths. Tracking the Serial Killer Through Contemporary American Film and Fiction. 9 Siehe dazu den österreichischen Profiler Thomas Müller, der seinem Buch Bestie Mensch ebenfalls Resslers Zitat voranstellt. Der gewalttätig inszenierte US-amerikanische Film The Flock (2007), in dem Richard Gere einen Profiler mimt, beginnt mit eben genau diesem Zitat, welches eine Stimme aus dem Off vorträgt (00: 01: 35). 10 Siehe Ressler, Whoever Fights Monsters. My Twenty Years Tracking Serial Killers for the FBI. In Jenseits von Gut und Böse heißt es bei Nietzsche im Aphorismus Nr. 146: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht selbst dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Siehe Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 274. 11 Die seit 1972 existierende Abteilung heisst nun Behavioral Research and Instruction Unit. 12 Die Figur des Kommissar Lohmann, der in M von Otto Wernicke gespielt wird, taucht später in Langs letztem Film Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1960) noch einmal auf, dargestellt von Gerd Fröbe, der im Film ein Buch über Kriminalpsychologie gut lesbar in Händen hält. Zur historischen Figur des umtriebigen Kriminalkommissars Gennat und der Begründung seiner sogenannten ‚Fallanalyse‘ siehe Stürickow, Der Komissar vom Alexanderplatz. Kriminalfälle im historischen Berlin. 13 Zum Begriff der Einfühlung oder Empathie in Bezug auf literarische Empathie siehe auch Keen, Empathy and the Novel. <?page no="43"?> 43 In Fritz Langs erstem Tonfilm wird die scheinbare Ordnung einer Großstadt (Berlin) in ihren Grundfesten erschüttert: ein unbekannter Kindermörder versetzt mit seinen wiederholten Taten die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Eine beispiellose Jagd auf den Triebtäter beginnt. Die Institution der Polizei steht vor einem Rätsel, mit systematischen Studien und kriminalpsychologischer Theorie will sie den Täter einkreisen. Sogar die Milieus der Verbrecher und Bettler sind durch ständige Polizeirazzien alarmiert und genervt, planen nun selbst, den Täter dingfest zu machen, um wieder ungestört agieren zu können. Derweil ist Hans Beckert, der von Wahnsinn getriebene Mörder, nicht nur Jagdobjekt von Establishment und von im Untergrund operierenden Gruppierungen, sondern selbst Gejagter seiner eigenen Mordlust - versinnbildlicht durch eine gepfiffene Sequenz aus Edvard Griegs Peer Gynt. In der Halle des Bergkönigs. 14 Im Zentrum seines Filmes steht für Lang die Auflösung der Frage nach den Motiven der Menschen, ihre Beweggründe für ihr Handeln, vor allem die des Täters: „What makes him tick? “, fragt Lang (Ostrowicz, S. 173). Langs Filmtransformation des Falles Peter Kürten weist M auch als Zeitdokument auf. Über seinen Film schreibt Lang: Jede Zeitung bringt täglich Berichte über menschliche Tragödien und Komödien, über Absonderliches und Allgemeingültiges, und diese Berichte sind von einer solchen Phantastik oder Zufälligkeit oder Romantik [...] erfüllt, daß kein Dramaturg irgendeines großen Konzerns wagen könnte, einen solchen Stoff vorzuschlagen, ohne ein schallendes Hohngelächter über sich ergehen lassen zu müssen über die Unwahrscheinlichkeit oder Zufälligkeit, oder Kitschigkeit der Konflikte. So ist das Leben. 15 Deutlich wird, dass Langs Version von M viele Genres vereint und auf multiplen Ebenen arbeitet. So ist der Film eine zeitgeschichtliche Dokumentation der gesellschaftlichen Zustände während der Weimarer Republik in einer fiktiven Großstadt, wohl Berlin, in der die Menschen sich in sozialen Gruppierungen organisieren, seien es Bettlerbörsen oder Gaunerorganisationen, die sich öffentlich Ringvereine nennen. 16 Der Film kann somit als Beispiel des Sozialrealismus mit restlichen Anklängen an expressionistische Bildaufbereitung hin zu Ansätzen der Neuen Sachlichkeit, aber auch des Film Noir gelten, wobei Anklänge des Komischen, Absurden und Grotesken offensichtlich werden, wenn Lang die Gaunergruppen portraitiert. 17 Langs Sozi- 14 Zur Einordnung des Liedmotivs siehe Urs Büttner, „Hans Beckert in der Halle des Bergkönigs“. 15 Lang, „Mein Film“, S. 655. 16 Zu den sogenannten Ringvereinen und der Kriminellenszene Berlins während der Weimarer Republik siehe Feraru, Muskel Adolf & Co. - Die „Ringvereine“ und das organisierte Verbrechen in Berlin. 17 Für die Rollen der Gauner hat Fritz Lang auf verschiedene etablierte Schauspieler zurückgegriffen. So ist Theo Lingen als ‚Bauernfänger‘, Paul Kemp als gewitzter Taschendieb, der elegante Fritz Odemar als Falschspieler und der vierschrötige Friedrich Gnaß als Einbrecher zu sehen. Als Haupt der Bande agiert der Bühnenstar Gustav Gründgens in einer seiner ersten Filmrollen. Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder II. Zeitdokument und Zeitüberdauerndes: Fritz Langs M <?page no="44"?> Heike Schwarz 44 alrealismus zeigt sich im Film als minutiöser Bericht über Polizeiarbeit und die Systematisierung der Kriminologie und Kriminalistik und verweist auf den gerade erst aufkommenden Bereich der sogenannten ‚Fallanalyse‘, die heute allgemein als ‚Profiling‘ bezeichnet wird. 18 Historische Figuren, wie der Berliner Kriminalkommissar Ernst Gennat, Begründer der Fallanalyse, welcher später das US-amerkanische Profiling beeinflusste, mischen sich mit Berliner Originalen, so dass der Film als deutliches Zeitdokument gelten kann. M kann darüber hinaus als Psychogramm des Serientäters Beckert gelesen werden, dem der Filmbetrachter auf seinen Streifzügen durch die Straßen folgt, als wäre er sein alter ego, von dem Beckert in seinem Entschuldungsmonolog am Ende des Filmes spricht. Als Gerichtsdrama im letzten Teil des Films, welcher in seiner Ernsthaftigkeit der Gewitztheit der vorherigen Szenen gegenübersteht, zeigt sich Langs deutliches Manifest gegen Selbstjustiz als einen Anstoß zu einer Debatte um den Sinn der Todesstrafe - allerdings nach Gutdünken umgedeutet, wie etwa von Vertretern des aufkommenden Nationalsozialismus, die den Film als einen Appell zugunsten der Todesstrafe interpretierten. 19 Nicht zuletzt kann der Film als ein Musterstück über Massenhysterie und Macht gelten, die von aufgehetzten aber auch verängstigten Massen als Mob ausgeht. Dieses Motiv wird Lang später noch einmal verstärkt in seiner darauf folgenden ersten US- Filmproduktion Fury (1937) verwenden. Debatten löste der Film tatsächlich aus. Die zeitgenössische Kritik war relativ vernichtend. 20 Das Publikum schockiert. Allerdings betreibt Lang hier keine ‚Hollywoodisierung‘, keine Hyperbel, sondern dokumentiert in erschreckender Weise eine vorhandene Realität, kritisiert in drastisch offener Weise den aufkommenden bzw. real existierenden Nationalsozialismus inklusive dessen Rhetorik von Abartigkeit und Entartung, sowie das Verhalten des Publikums, das den Sensationen des seriellen Mord- und Mörderkults innerhalb der exzessiven Massenkultur erliegt, dem Konsum des undenkbar Entsetzlichen, dem seriellen Kindermord. Die Sensationsgier der Massen, welche im aufgepeitschten Rhythmus einer seriellen Konsumwelt treibt, entspricht dem Verständnis des französischen Philosophen Guy Debords in seiner Societé du Spectacle (1967), in der die Reproduktion des Spektakels in Bildern und Nachrichten als einziges soziales Bindemittel und derart als „instrument of unifica tion“ fungiert (Debord, Society of the Spectacle, S. 1). Die Dreharbeiten zum Projekt M beginnen unter dem Titel M - Mörder unter uns. Als M - Eine Stadt sucht einen Mörder kam die Produktion schließlich am 11. Mai 1931 in die Kinosäle, nachdem zu Langs Erstaunen die Zensur nicht einschritt. Der Film erlitt in diversen Fremdsprachenversionen - Lorre hatte Wochen später vor seltsamer Kulisse seinen Text neu aufzusagen, Darsteller wurden ausgetauscht - 1932 einige Verzerrungen und wurde in der BRD 1960 in gekürzter und malträtierter 18 Profiling meint nichts anderes als ‚Fallanalyse‘. Der Begriff wurde von Robert Ressler in den 1970ern für den amerikanischen Raum verwendet. Er ging durch die zahlreichen filmischen Darstellungen von Serientätern in den allgemeinen Sprachgebrauch über. 19 Angeblich hätte Goebbels in seinem Tagebuch vermerkt, dass Langs Film ein Aufruf für die Todesstrafe wäre (vgl. Gunning, S. 192). 20 Siehe Kunkel, „Weimars Politainment“, S. 149. - <?page no="45"?> 45 Version (mit Filmmusik sowie einer kontinuierlichen Geräuschkulisse) erneut herausgebracht unter dem seltsamen Titel M - Dein Mörder sieht dich an. In dieser Variante wird das Format 1: 1.19 auf das Standardformat 1: 1.33 modifiziert, mit der Folge, dass den Darstellern oftmals der Kopf abgetrennt wird. Ungefähr 2636 m der ursprünglichen Fassung sind erhalten, 2001 gab es eine 108-minütige Version, 21 gegenwärtig liegt eine restaurierte Form mit ca. 3024 Filmmetern aus dem Jahre 2011 vor.Der Genremix aus Kriminalfilm, 22 Psychogramm und Soziogramm, Dokumentation und Sozialrealismus des Absurden, Komischen und Grotesken zeigt sich auch in künstlerisch-ästhetischer Sicht. Der Ton als Unterstützer einer mimetischen Darstellungsweise wird hier in eher eigenständiger Art und Weise verstanden, also teilweise losgelöst vom Bild. Es gibt im Film keine ständige, sich gegenseitig unterstützende Verkoppelung von Ton und Bild, sodass der Ton eben nicht den realistischen Bildabfolgen zu einer Komplettierung der Gegenillusion verhilft, sondern eine vom Bild auch losgelöste Funktion innehat. Im Gegenpol des Tons erkennt man die Perspektivierung des Bildes. Etwa wenn Hans Beckert von der gepfiffenen Tonfolge regelrecht verfolgt wird, das Motiv weiterhin hört, auch wenn er sich die Ohren zuhält (Lang, M, 00: 52: 28). Der Ton wird hier also nicht nur zur Untermalung einer naturalistischen Sichtweise verwendet, sondern erhält durch Fokalisierungstendenzen zum Teil ein Eigenleben und dient zur Intensivierung und Akzentuierung eines stream of consciousness. Das gepfiffene Leitmotiv aus Edward Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 1 „In der Halle des Bergkönigs“ (in der Sequenz, welche den Beinahemord am nordischen Helden Peer Gynt durch Trolle beschreibt) taucht im gesamten Film fünf Mal auf und ist für den Zuschauer als Ausdruck des seelischen Zustandes des Mörders leicht einzuordnen. 23 Je nachdem auf welche Art und Weise das Leitmotiv gepfiffen wird - ruhig, gelassen oder gehetzt - deutet es auf die Stimmungslage des Mörders hin und verweist eindeutig auf das kommende Grauen eines drohenden Mordes. Die Melodie wird also zum Gefahrensignal. Sie wird dem Mörder schlussendlich auch zum Verhängnis, wenn ein blinder Mann das Pfeifen wiedererkennt und dem Mörder zuordnen kann. Das Pfeifen als Signal gilt auch als akustisches Zeichen für den ersten Auftritt des „dicken Lohmann“ (Lang, M, 00: 23: 00) und als Kennungsmarke, das die Bettler als Netz über die Stadt legen (Lang, M, 01: 01: 20). Neben den innovativen Einschüben des Tons, gilt Langs Einsatz der Parallelmontage, welche verschiedene Erzählstränge miteinander verknüpft, als revolutionär. Die literarische Montage, die eine fragmentierte Wirklichkeitserfahrung durch das Zusammenfügen verschiedener Textpassagen und Genres bereits kennt, liefert dies in Romanen wie Jon Dos Passos Manhattan Transfer (1925) oder Döblins Berlin Alexanderplatz (1929). Die später als cross-reading oder cut-up angewandte Montagetechnik 21 Diese Informationen werden der DVD von 2003 vorangestellt. 22 Zur Geschichte des deutschen Kriminalfilms siehe Kracauer, Von Caligari bis Hitler. 23 Beckert kauft für Elsie einen Luftballon (Lang, M, 00: 05: 52). Das Publikum sieht Beckert beim Verfassen eines anonymen Briefes von hinten (Lang, M, 00: 09: 00). Beckert erblickt ein mögliches Opfer (Lang, M, 00: 51: 13-00: 51: 26) und ist verzweifelt, weil er keinen Erfolg hat (Lang, M, 00: 52: 28 sowie 00: 53: 22). Der Bettler erkennt die Melodie wieder (Lang, M, 00: 54: 47). Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder <?page no="46"?> Heike Schwarz 46 der Literatur zeigt bei M eine ironisierende Parallelisierung zweier völlig gegensätzlicher Gruppen, nämlich die der Verbrecher und der Polizei, wobei hier nicht nur die Schnittfolge der Bilder eine Rolle spielt, sondern auch der Einsatz der Tonspur, etwa wenn sich Ton und Bild überlappen, die Stimmen aus der Gangsterwelt in die Welt der gesetzlichen Institutionen getragen, oder Sätze parallel zusammengeschnitten werden. Während zweier, gleichzeitig stattfindender Konferenzen, das Treffen der Vertreter der Ringvereine der Ganoven, sowie die Zusammenkunft der gesetzlichen Vertreter, beginnt der Schränker (Gustav Gründgens) eine Geste mit dem Satz „Ich bitte...“, der vom Polizeipräsidenten mit den Worten „...sich dazu zu äußern“ beendet wird, indem er die Geste des Schränkers übernimmt (Lang, M, 00: 34: 02). So gegensätzlich die Parteien sind, so ähnlich werden hier ihre Charakterzüge, unterstützt von Langs Schnitttechnik, gezeichnet. In M nimmt Lang nicht nur die grausamen Taten des Peter Kürten (‚Vampir von Düsseldorf‘) 24 auf, sondern verleibt dem Film die Turbulenz der Weimarer Zeit ein. Trotz lebendigem kulturellem und liberalem Avantgardismus 25 ist die Gesellschaft geprägt von Kriegstraumata, Brünningschen Notverordnungen, sowie bitterer Armut, Massenarbeitslosigkeit und politischen Extremen, die sich zu einer Atmosphäre der Krise aufbauschen, charakterisiert durch Gewaltbereitschaft und „politischgesellschaftlicher Desorientierung“ (Vogt, „M - Mörder unter uns“, S. 276). Diese Umstände lässt Lang nicht unkommentiert. Das Verhalten der Menschen - zum Massenmensch in einer Metropole geworden - steht in M ebenso im Fokus, denn die Reaktionen der Bevölkerung auf Beckerts Verbrechen zeigt die Menschenmassen 26 als Kippfiguren der hysterischen Überreaktion. Langs Faszination für kriminelle Handlungen, soziologische und pathologische Vorgänge wird gespeist von Szenerien, die ihm aus Paris und Berlin bekannt sind (vgl. Lang, Zum Beispiel Fritz Lang). Lang porträtiert also nicht nur das (verkommene) Individuum, sondern auch die Verfilzungen und Auswucherungen einer Gesellschaft, insbesondere der Verbrecherwelt, zeigt aber auch den vermeintlich respektablen Bürger und den Verlust des 24 Ernst Gennat ermittelt in Düsseldorf mit seiner ‚Mordinspektion M‘, in Berlin werden die Neuigkeiten zum Fall des Vampirs von Düsseldorfs ständig verbreitet. Zeitungen erscheinen täglich in mehreren Ausgaben und Extraausgaben. 25 Die Weimarer Republik bringt in den Goldenen Zwanzigern unzählige Schlager hervor, darunter u.a. die Stars Kurt Gerron mit der Großstadtinfanterie und dem Gassenhauer „Mein Bruder macht beim Tonfilm die Geräusche“, Marlene Dietrich singt „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, Max Hansen veräppelt Adolf Hitler in „Waren Sie schon mal in mich verliebt“. Der jüdische Sänger Hansen kann später nach Dänemark fliehen, Gerron wird von den Nazis in Auschwitz ermordet. 26 Zum Begriff ‚Masse‘ in Langs Film M siehe auch Santana-Acuña, „‚M‘ wie Masse. Langs Film als Beitrag zur Sozialtheorie“. III. Psychopathologie der Masse: Kippfiguren der Hysterie <?page no="47"?> 47 kontrollierenden Über-Ichs und somit Tendenzen zum Hysterischen, Panischen, Paranoiden und Irrationalen. Von einem Plakat, das 10000 Mark Belohnung bietet und von acht vermissten oder bereits toten Kindern zeugt (Jungen und Mädchen), zoomt die Kamera über die Köpfe der angestauten Menge hinweg (Lang, M, 00: 09: 45). Eine Stimme liest den Text, leitet aber bereits in die nächste Szene weiter, in der Bürger eines Stammtisches gezeigt werden: „...und jeder, der neben dir sitzt, kann der Mörder sein“, heißt es im vorgelesenen Zeitungsartikel (Lang, M, 00: 10: 02). Die nun folgende gegenseitige Denunziation und Bezichtigung der Stammtischteilnehmer unterstreicht die allgemeine Hysterie und Paranoia, die von den Menschen Besitz ergreift. Die Szene endet im Tumult mit dem Satz: „Du Verleumder, du gemeiner Ehrabschneider“ (Lang, M, 00: 11: 45). Nach einem abrupten Schnitt in eine Privatwohnung werden genau diese Worte von einer anderen Figur während einer Polizeidurchsuchung wiederholt. Anlass war eine anonyme Anzeige. „Jeder Mensch auf der Straße kann der Täter sein“, entschuldigt sich der Polizist (Lang, M, 00: 12: 15). Mit diesen Worten findet sich der Zuseher sogleich auf der Straße und erblickt einen Bürger, der einem Kind die Uhrzeit nennt. Sofort gilt er einem anderen als Verdächtiger. Die Kameraperspektive in extremer Untersicht und Obersicht unterstreicht das Chaos, die Hysterie, welche die Menge nun antreibt. Ein Verdächtiger wird in der Masse schier erdrückt, die Panik, welche die Massen pulsieren lässt, wird von einer langen Einstellung dokumentiert, während die Menge „Aufhängen! “ schreit (Lang, M, 00: 13: 44). Dieser Zustand der gegenseitigen Bezichtigung und Angst zeigt die Psychologie oder Pathologisierung nicht nur des Einzelnen, des Mörders, sondern der angesteckten Massen. Der französische Sozialpsychologe Gustav LeBon beschreibt abfällig in seinem Werk Psychologie der Massen (1895) den Menschen, der in der Neuzeit vollkommen in der Masse aufgeht: „Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele, die wohl veränderlich, aber von ganz bestimmter Art ist“ (S. 29). Im Sinne von Elias Canetti, der auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges in Masse und Macht (1960) verweist, verschieben sich die Dominanzen hin zur Masse, die quasi über den Einzelnen hinauswächst und als Hetzmeute zu einer ernsthaften Gefahr wird. In der Masse, der Meute, Canetti spricht auch von Hetzmassen, potenziert sich der Hass auf einen Sündenbock, der nur symbolisch fungieren muss, um zum zentralen Ziel der aufgebrachten Masse zu werden, um ihre „dunkle Bewegungstendenz“ abzuladen (S. 31). Was also der Einzelne nicht wagt, in der Masse aufgelöst scheint er es zu wagen. Der Mensch als asoziales, empathieloses Wesen kann erst in der Auflösung des Individualismus in der Anonymität der Massen Erleichterung finden und mit anderen Menschen, vor denen der Einzelne eventuelle Berührungsängste habe, zu einer Einheit verschmelzen. Mit Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse übersetzt heißt das: „Das Heterogene versinkt im Homogenen“ (S. 11). Im sozialen (Herden)Trieb - Sigmund Freud erwähnt hier auch den ‚herd in stinct‘ oder ‚the group mind‘ (S. 7) - verändert sich der Einzelne. Das Bindemittel der Massen (Freud), sozusagen der Kitt, ist im Falle von M die Angst vor dem Fremden, dem Mörder und natürlich die Jagd auf ihn. Hier zeigt sich auch in den Worten Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder - <?page no="48"?> Heike Schwarz 48 Freuds jene ‚Unverantwortlichkeit der Masse‘: „Es genügte uns 27 zu sagen, das Individuum komme in der Masse unter Bedingungen, die ihm gestatten, die Verdrängungen seiner unbewussten Triebregungen abzuwerfen“ (S. 12). LeBon rezipierend spricht Freud hier von der hypnotisierten Masse, die durch Suggestion und Ansteckung einem Primitivismus und einer Wildheit anheimfällt (vgl. S. 14-15). Der Mensch wird, so Freud, zum Barbar (vgl. S. 15). José Ortega y Gasset bringt es in Der Aufstand der Massen (1930) auf den Punkt: „Wenn die Masse selbständig handelt, tut sie es nur auf eine Art: Sie lyncht“ (S. 122). Dieser Unkontrolliertheit der kollektiven Dynamik steht in M immer noch die Ordnungsmacht der staatlichen Institutionen gegenüber, welche nun nicht nur den einzelnen Mörder finden, sondern auch die Menschen insgesamt kontrollieren muss. Abb. 1: Die Massen stürzen sich auf einen Verdächtigen Als oppositionelle Kraft, in die gleiche Richtung der Mörderjagd tendierend, fungieren die Organisationen der Verbrecher, die Ringvereine, die sich auch Gesangsvereine nannten, welche wiederum Jagd auf den Mörder machen, da sie durch vermehrte Polizeirazzien in ihrer ureigenen Ordnung des kriminellen Dunstes gestört sind: „Wir müssen wieder geordnete Verhältnisse bekommen“ (Lang, M, 00: 32: 59). Die Verbrecher, peinlichst genau in Unterorganisationen gegliedert, sich einer strengen Hierarchie unterordnend, werden angeführt von einer sprichwörtlichen ‚Führerfigur‘, dem Schränker. Das Ziel ist die Dingfestmachung und, wie es der Schränker formuliert, die „Ausmerzung“ des pathologischen Mörders, des Anderen, von dem sich die gewöhnlichen Verbrecher sehr wohl abgrenzen: „Diese Bestie hat kein Recht zu existieren, die muss weg“ (Lang, M, 00: 33: 34). Erst die Organisation der Straßenüberwachung, die von der Bettlerorganisation en détail realisiert wird, bringt den gewünschten Erfolg (Lang, M, 00: 42: 48). Durch die inoffizielle Rasterfandung der scheinbar unsichtbaren Bettler wird der Mörder gefasst, der sich allerdings selbst verrät, da er seinen modus operandi wiederholt und vergnügt sein Lied pfeift (Lang, M, 00: 54: 47). 27 Seltsamerweise spricht Freud in diesem Abschnitt immer im Plural; er spricht also quasi in der Masse. <?page no="49"?> 49 Mit der Kontrolle über den Raum 28 hat der Polizeiapparat keinen Erfolg, es sind die scheinbar Unkontrollierbaren, die Bettler, die ein effektives Netz über die Stadt spannen. Wenn ein Blinder erkennt, dass der Mörder wieder durch die Straßen ‚flaniert‘, ist dieses Kontrollsystem unüberbrückbar. Lang zeigt hier die Straßenkarteneinteilung der Bettler (Lang, M, 00: 43: 21) äquivalent zur Kartierung der Kriminalpolizei (Lang, M, 00: 17: 26) und der Kontrolle über die Stadtgeographie durch die Ganoven, wenn der Lederhandschuh des Schränkers auf der Karte weilt (Lang, M, 00: 40: 24). Diesen graphisch replizierten Überblick über den Moloch ‚Großstadt‘ erhält der Zuseher in Langs Version von Anfang an aber nicht, nur bei Losey wird zu Beginn ein establishing shot über Los Angeles gezeigt (Losey, M, 00: 00: 36). Der Beginn von Langs Film unterläuft die Erwartungshaltung des Publikums, das sich an Kinokonventionen gewöhnt hatte. Zunächst wird eine Graphik mit einer Hand, in welcher der Buchstabe ‚M‘ markiert ist, eingeblendet. Es gibt keinerlei musikalische Untermalung, wie sie etwa in Langs Stummfilmen und üblicherweise als Eingangsmusik abläuft. 29 Eine Graphik „Ein Fritz Lang Film“ wird eingeblendet, es folgt ein einzelner Tonschlag und sekundenlanges Stück Schwarzfilm. In die Dunkelheit der Leinwand hinein ertönt die Stimme eines kleinen Mädchens, die den makabren Abzählreim des Haarmann-Liedes hörbar macht: „Warte, warte nur ein Weilchen/ Bald kommt der Schwarze Mann zu dir/ Mit dem kleinen Hackebeilchen/ Macht er Schabefleisch aus dir“ (Lang, M, 00: 01: 08). Durch eine panoptische Kameraeinstellung von rechts oben sind so die möglichen Opfer des Kindermörders sichtbar. 30 Beckert wiederum, stets als serieller Mörderflaneur auf den Straßen der Großstadt unterwegs, hat diese potentiellen Opfer ebenfalls auf seinem Radar, wenn er die Stadt nach ihnen abscannt. Teilweise wird der Blick des Zusehers zu einem Kameraauge, das - natürlich nur im Duktus des Films existent - eine räumliche Überwachung übernimmt. 31 Wenn Elsie bereits ermordet worden ist, symbolisiert durch den ins Bild rollenden Ball und 28 Über die Korrelation der aktuell diskutierten Überwachung des öffentlichen Raumes zur Eindämmung der kriminellen Handlungen, sowie der allgemein als Surveillance Studies bezeichnete Bereich der Überwachungstheorien siehe Zurawski, Raum - Weltbild - Kontrolle: Raumvorstellungen als Grundlage gesellschaftlicher Ordnung und ihrer Überwachung. Zur Definition der Surveillance Studies siehe Kirstie Ball, Kevin D. Haggerty, u.a. (Hg.), Routledge Handbook of Surveillance Studies. 29 Diese Eingangsmusik wurde der Schnittversion von Langs M im Jahre 1960 zugefügt. Lang hatte hier keine Autorität mehr. 30 Lang zeigt eine Gesellschaftsklasse, wie es seinerzeit das Berliner Original Heinrich Rudolf Zille in Zille sein Milljöh (1913) graphisch und grotesk aufarbeitete. Aus diesem Milieu wird der Mörder seine Opfer ‚abgreifen‘, Kinder der Mittelschicht werden von ihren Eltern aus der Schule abgeholt und sind den Verlockungen der Südfrüchte- und Spielzeugläden nicht derart zugetan. 31 Eine ähnliche Perspektive nimmt der Zuseher ein, wenn er exklusiv den Täter vor dem Spiegel erblickt und überprüfen kann, ob die Polizei mit ihrem Täterprofil recht behält (Lang, M, 00: 15: 54). Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder IV. Surveillance Culture: Kategorisierung, Kartographisierung und Überwachung <?page no="50"?> Heike Schwarz 50 den in der Oberleitung verfangenen Luftballon (Lang, M, 00: 08: 04), wird zeitgleich ihre Abwesenheit von verschiedenen Orten offensichtlich: das Treppenhaus, der Dachboden, der Esstisch (Lang, M, 00: 07: 48). Nach einer Abblende wird der Zuseher Zeuge der nun anlaufenden seriellen Kultur der Mediensensation. Schon Frau Beckmann kauft ein als Sensation angekündigtes Blatt, auf den Straßen wird unmittelbar nach dem Mord bereits in einer Extraausgabe berichtet, von den ungeduldigen, aufgestachelten Massen konsumiert. 32 In diesem Strom schwimmt der Serienmörder, wenn er in seinem Brief schreibt: „Ich bin noch nicht am Ende“ (Lang, M, 00: 09: 02). Wie Anton Kaes zeigt, ist Beckerts serielles Handeln verknüpft mit der seriell aufgereizten Atmosphäre (vgl. Kaes, M., S. 29). Die Kräfte in Langs Film scheinen also zwischen Kontrollwahn und Kontrollverlust zu oszillieren. Die Verbrecher verlangen Kontrolle, verlieren sie aber wegen massiver Razzien, verlieren sie beinahe, wenn sie den Täter, der selbst keine Kontrolle mehr hat, lynchen wollen. Während eines Telefongesprächs zwischen Innenminister und Polizeipräsident beschreibt der Polizeipräsident präzise das Jonglieren mit diesen Mächten und einer nötigen Kontrolle. Hier beschreibt Lang die ‚Kleinarbeit‘ des Polizeiapparates, der die primäre Ordnungsmacht beansprucht. Während der Polizeipräsident dem Innenminister ausdrücklich versichert, dass die Polizei „jederzeit auf dem Sprung steht“, sieht man Polizisten fast gelangweilt beim Essen und beim Konsum von Bier sitzen (Lang, M, 00: 16: 40), die Ordnung wird also von allen untergraben. Der alltägliche Aberwitz jenseits der perfekten Kontrollierbarkeit zeigt sich auch, wenn sich Zeugen streiten, ob eine Mütze grün oder rot war (Lang, M, 00: 19: 01). Das Durchsuchen des Tatortes schließlich zeigt eine panperspektivische Aufnahme von einem schräg von oben gefilmten Winkel, die graphisch dargestellte Einzirkelung des Tat ortes und die Erweiterung des zu untersuchenden Gebietes, in der Mitte abgebildet der Tatort selbst (Lang, M, 00: 16: 54). Diese Einstellung wird später durch die Landkarte wiederholt, auf welche die lederne Hand des Schränkers deutet, um die Jagd auf den Mörder zu systematisieren und Kontrollmacht zu signalisieren. Nicht nur die Klassifizierung durch Fingerabdrücke, Psychogramme, Diagnosen und Karteikarten, Vernehmungsprotokolle und Zeitkontrollen sowie die Auswertung des handgeschriebenen Briefes durch die Polizei zeigt die technologisierte Katalogisierung der Menschen, auch das systematische Vorgehen der Ganoven und sogar der Bettler, die ihre vorgegebenen Straßenzüge überwachen, beweist, dass es keinen Ort des Verborgenen geben kann. Selbst das Chaos, ausgelöst durch die Abnormität des Mörders, soll durch Überwachen und Kategorisieren in eine Form der Disziplin gebracht werden. Langs serielle Narration 33 zeigt nicht nur, dass die Perspektiven in M - Eine Stadt sucht einen Mörder mehrfach überlagert sind, der Kamerawinkel kann auch als eine Art Beobachtung gedeutet werden, die während einer Labortestreihe mit Partizipienten deren Reaktion beobachtet, etwa wenn die Teilnehmer eines Stammtisches schließlich in aggressives Verhalten abgleiten (Lang, M, 00: 11: 36). 32 Zur seriellen Kultur der Sensationsnachrichten meint Anton Kaes: „mass-marketed representations feed on each other in constant serial repetition“ (Kaes, M, S. 28). 33 Vgl. ebd., S. 36. - <?page no="51"?> 51 Im städtischen Raum wechseln sich durch Tonspurüberlappung verbundene Sequenzen mit geräuschlosen Abschnitten ab, die in Stummfilmgeschwindigkeit gezeigt werden. Die stark kontrastierenden Schwarzweißbilder offenbaren die totale Überwachung des öffentlichen Raumes, so z.B. sichtbar bei den Vorbereitungen einer Polizeirazzia (Lang, M, 00: 21: 29). Selbst Langs Sichtachsen, die er in einzelnen Einstellungen zur Visualisierung einer solchen Über-Ordnung zeigt, verweisen auf den Zusammenhang von filmischem Blick und der „Funktionsweise des hierarchisierenden und zwingenden Blickes“, wie sie Angelica Schwab in ihrer Studie zu Serienmördern im Film aufweist (S. 136). Schwab sieht Lang hier als Visualisierer von Foucaults Blick der panoptischen Raumüberwachungs-Darstellungen im Sinne des Panopticon von Jeremy Bentham (S. 137). Dieser allumfassende Über-Blick zeigt sich etwa, wenn einzelne Männer den Mörder schließlich vor einem Gebäudeeingang stellen (Lang, M, 01: 01: 56). In diesen Frequenzen stimmt Langs Bildsprache mit jener von modernen Überwachungskameras überein, was den Filmakteuren, die sich mitten im Geschehen befinden, nicht hilfreich erscheint, da sie kurze Zeit den Mörder aus den Augen verlieren. Dennoch gibt es für Beckert, durch die Kombination der polizeilichen Katalogisierung von psychisch Erkrankten, Täterprofilen und Beweismitteln am Tatort mit der Aktivität der Unterwelt, aus diesem Gesamtapparat kein Entrinnen. Beckert, der gehetzte und markierte Triebmensch, tickt sprichwörtlich gegen den Strom und gegen die Gesetze der Zeit selbst, wenn er auf einem Dachboden gegen eine Uhr stößt, deren Zeiger entgegen des Uhrzeigersinns laufen (Lang, M, 01: 17: 10). Beckert ist also sprichwörtlich der ‚Außenseiter‘, wie der Schränker betont, der das Geschäft von Polizei und Verbrechern verdirbt. Der Schränker fordert während einer Ganovensitzung „geordnete Verhältnisse“, da das „Renommee der Verbrecher“ leiden würde (Lang, M, 00: 33: 32). Der Polizeipräsident etwa spricht von der „Beliebtheit der Polizei“, also auch dem Renommee, welches ebenfalls lädiert sei (Lang, M, 00: 20: 15). Diese ironisierende Gleichstellung von Gegenspielern zeigt aber, dass nur Beckert der totale Andere ist: „Zwischen dem und uns, da ziehen wir einen dicken Strich“, sagt der Schränker (Lang, M, 00: 33: 36) und „Diese Bestie hat kein Recht, die muss ausgerottet werden, vertilgt, ohne Gnade und Barmherzigkeit“ (Lang, M, 00: 33: 44). Während sich also teilweise komisch anmutende Parallelen zwischen Polizei und Unterwelt manifestieren, bleibt der Täter zunächst ein Rätsel. Im Zigarrenrauch der Konferenzen vermehrt sich auch das Nebulöse, das den Täter umgibt. Fungiert hier der Film aber auch als Entwicklungsmittel für Empathie? In seiner Geschichte und Mythologie des Film-Thrillers schreibt Georg Seeßlen über die Figur des Mörders, welche dem Zuschauer nicht fremd bleibt, an dessen Sichtweise und Perspektive der Zuseher teilnimmt: „Seine Unscheinbarkeit, ja kindische Gewöhnlichkeit machen ihn so gefährlich und zwingen die gesellschaftlichen Kräfte, ihr Wesen zu offenbaren“ (S. 54). Hier findet also bereits eine Koppelung von Individuum und Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder V. Konfrontation mit dem Anderen: Psychogramm des Täters <?page no="52"?> Heike Schwarz 52 Gesellschaft, vom einzelnen Menschen an die Masse oder Massenkultur statt. Nun kann man fragen, wenn man die Figur Hans Beckert, jenen kindischen, kindlichen und linkischen, aber dennoch den Kindern gegenüber charmanten Verbrecher betrachtet, ob man Seeßlens weiterer Charakterisierung zustimmt, wenn er sagt, dass „dieser Mörder mit seinem unfassbaren Tun auf dieselben Widersprüche reagiert wie die, die ihn jagen, nur ist er der totale Sklave seiner anarchistischen Triebe und kann sie nicht, wie die anderen, sozial machen“ (S. 54-55). Wohl eher macht hier Beckert seine anarchistischen Triebe sehr wohl „sozial“, indem er nicht konform zur sozialen Masse agiert, aber ihr Gefühlsleben vor sich her treibt und beeinflusst, etwa, wenn er sich in Briefform an die Polizei wendet und betont, dass er nicht aufhören werde. Er wird durch seine Taten ein soziales Phänomen, zu einem die Masse einenden Objekt, wird zu einem zentralen Fokus der öffentlichen Hysterie, deren Ursache, deren Urheber er ist. Seeßlen ordnet den Täter Beckert ein als „Nachfahr der Schlafwandler, geteilten Persönlichkeiten und menschlichen Marionetten aus den phantastischen Filmen des deutschen Stummfilms“ (S. 55). Beckert ist in der Tat, in klassischem und popkulturellem Sinne, ‚gespalten‘, er wandelt und taumelt zwischen verschiedenen Gemütszuständen und seelischen Verfassungen hin und her, ist getrieben, schier Opfer seiner eigenen Triebe und kann kein ‚sozial verträgliches‘ Kontinuum oder eine persönli ches Balance erreichen. Als gespaltene Persönlichkeit kann er gelten, weil auch die Darstellung des Täters Beckert in der Spiegelszene den literarischen und filmischen Konventionen bzw. Stereotypisierungen der Doppelnatur oder der sogenannten multiplen Persönlichkeit des pathologischen Mörders entspricht. 34 Abb. 2: Beckert posiert vor dem Spiegel Wie später Norman Bates (dargestellt von Anthony Perkins) in Hitchcocks Schwarz weißmeisterwerk Psycho (1960) nach Robert Blochs gleichnamiger Novelle, 34 Was generell als psychische Spaltung definiert wird, wird genretypisch in Filmen durch Spiegel und Spiegelungen repräsentiert, wenn sich die Protagonisten betrachten und womöglich in unzählige Reflektionen zerbrechen, was der inneren Multiplizität oder dem Vorgang der Dissoziation entsprechen soll. Entsprechende spätere Beispiele sind amerikanische Filme wie The Three Faces of Eve (1957) oder Sybil (1976). In Secret Window (2004), der Verfilmung der Erzählung „Secret Window, Secret Garden“ (1990) von Stephen King, wird die Darstellungskonvention des multiplen Protagonisten mit Hilfe eines Spiegels fortgesetzt. -- w ird <?page no="53"?> 53 auch Beckert durch seine Mimik entlarvt. Bates ist Norman, Normal und Norma, die mordende Mutter, welche sich in der mimischen, aber auch theatralischen Verwandlung durch crossdressing, also das Verkleiden manifestiert. Die Umwandlung ist dem Charakter sozusagen ins Gesicht geschrieben. Ähnlich agiert hier auch Peter Lorre als Hans Beckert. Die Einstellungen geben auch ihm genug Zeit, die Gefühlswelt sichtlich zu versinnbildlichen. Wenn Beckert vor einem Spiegel posiert, wird die Symbolik des Spiegels als Vervielfältigungsmittel verwendet, um die innere Spaltung zu initiieren und zu akzentuieren (Abbildung 2). Ebenso ersichtlich werden Beckerts innere Verwandlungen, wenn er vor einem Schaufenster pausiert, von einer Raute aus Messern umrahmt, während er sein potentielles Opfer erblickt und von seinen Trieben sichtlich übermannt wird und sich ‚verwandelt‘ (Lang, M, 00: 50: 03). Während des erwähnten Telefongesprächs des Innenministers mit dem Polizeipräsidenten sieht man dessen Schilderung der schwierigen Polizeiarbeit: Fingerabdruckdatei sowie Graphologie. Während der Graphologe die Schrift und die Psyche des Täters analysiert, sieht der Zuseher zum ersten Mal den Täter von vorne und zwar beim Stichwort „Ausdruck von Schauspielerei“ (Lang, M, 00: 15: 33). Hans Beckert steht vor einem Spiegel und zieht Gesichter, schauspielert also - ein Umstand, der auch später während der Schaugerichtsszene in seiner Miene wieder sichtbar wird, wenn er in Panik ausruft: „Aber meine Herren, das muss ein Irrtum sein...“ (Lang, M, 01: 32: 40). Während hier nun der Graphologe von der „pathologisch starke[n] Sexualität dieses Triebmenschen“ spricht, beobachten wir Beckerts Wechsel des Gesichtsausdruckes (Lang, M, 00: 15: 53). In einem medium close-up von leicht unten sehen wir das Spiegelbild sowie die Gestalt selbst, die vor dem Spiegel steht. Während wir also die Stimme des Graphologen hören, zeigt uns das cut-away, wie Beckert tief in den Spiegel blickt, die Stimme spricht von „Indolenz und Trägheit“ (Lang, M, 00: 15: 34), die nach außen hin vorherrsche, Beckert lächelt sich an. Beckert mag sich also in der Öffentlichkeit beherrschen, zu einem gewissen Grad, denn die Taten selbst erfordern ein hohes Maß an Beherrschung, wenn ein mögliches Opfer angesprochen und sein Vertrauen ausgenutzt wird. Indolenz in Bezug auf Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Reaktion ist nicht vorhanden, denn Beckert reagiert sehr wohl in Form eines Briefes. All das stellt die Frage nach seiner Zurechnungsfähigkeit und deutet unter Umständen auch auf ein sehr wohl überlegtes Handeln. Joseph Loseys Mörder ist das Gegenteil von indolent, denn er scheint, neben der üblichen mutterfeindlichen psychoanalytischen Hollywoodisierung, an einer entsetzlich entmenschlichten Welt zerbrochen zu sein und reagiert auf sie in übertriebener Weise. Als die Stimme des Graphologen dramatisch von einem „intensiv fühlbare[n] Zug von Wahnsinn“ spricht, starrt sich Beckert entsetzt an (Lang, M, 00: 15: 54). Ein Erkennen oder reines Minenspiel? Dies scheint die These der Geisteskrankheit durch den Graphologen zu unterstreichen. Es ist hier nur der Zuseher, der jetzt die Identität des Täters kennt. Er kann nun in gewissem Maße die Kenntnis oder Unkenntnis der Polizei überprüfen. Die Spiegelung Beckerts weist bereits auf die Bildsprache der inneren Spaltung hin, das Gegenüber, also das Spiegelbild, die Seele, scheint nicht kontinuierlich zu bestehen, sondern aus verschiedenen Anteilen zusammengesetzt und variabel zu Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder <?page no="54"?> Heike Schwarz 54 sein. Beckerts Indolenz oder scheinbare Harmlosigkeit birgt also schon den Kern des Wahnsinns, wenn sich Beckert im Spiegel ‚erkennt‘ und vor sich selbst erschrickt. Wie Dr. Jekyll enthält er bereits seinen Anteil Mr. Hyde. Interessant erscheint, dass sich lediglich das Spiegelbild verändert, die Figur im Vordergrund tut dies aber nur unwesentlich, da diese Mimik des Körpers vor dem Spiegel nicht detailliert erkennbar ist. Reflektion findet also keinen Weg zurück in die reale Welt, sondern existiert hier nur in der Fiktion der Spiegelung, dennoch kann sich Beckert, wie Narziss, im Spiegelbild entblößen, uns seinen wahren Kern oder seine Schattenseiten zeigen. Diese Kernszene, die aus der kürzeren Fassung herausgeschnitten war, stellt also generell die Frage nach Identität, dem Ich oder dem gespaltenen Ich und der Selbstreflexion oder den äußeren Rollenspielen oder Reflexionen im Anderen. Neben der „privaten Harmlosigkeit“ (Lang, M, 00: 35: 39), wie ein Kriminologe im Film meint, lauert das Monster. Referenz sind hier Haarmann, Grossmann, Denke und Kürten, deren grausame serielle Taten eingebettet waren in ein kleinbürgerliches Leben. 35 In der wissenschaftlichen Debatte zur menschlichen Sexualität stellt Richard von Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis aus dem Jahre 1886, dem Erscheinungsjahr von Robert Louis Stevensons Story of Dr. Jekyll and Mr. Hyde - dem prototypisch gespaltenen fiktionalen Charakter - eine Analyse menschlichen Triebverhaltens und seinen damals als pathologisch eingeordneten Formen dar. Krafft-Ebing spricht von „Lustmord“, welcher eine „Gefahr für die allgemeine Wohlfahrt“ darstelle (S. 342). In diesem Zusammenhang ist von Wolllust und Sadismus die Rede, vom grausamsten aller Mordgelüste (vgl. S. 63 ff.). 36 Er zitiert Lombroso, der mit seiner Theorie zur Physiognomie, also der Wissenschaft zur systematischen Einordnung der äußeren Erscheinung von Lebewesen, eine Analyse der menschlichen Gesichtszüge erschuf, derer sich die Nationalsozialisten bemächtigten, um ihre Rassenideologie zu begründen. Man müsse quasi nur auf die Gesichtszüge eines Menschen blicken, um ihn als Verbrecher einzuordnen. Die seit der Antike gelehrte Theorie der Physio gnomik oder Lombrosos Theorien aber könnten selbst Beckert hier Angst machen, wie Anton Kaes vorschlägt, denn sein Gesicht muss er genau untersuchen, ob man die Schuld womöglich schon sehen kann (vgl. Kaes, M, S. 56). In einem dramatischen Höhepunkt am Ende des Films spricht die Figur des Hans Beckert direkt in die Filmkamera. Die scheinbare Unmöglichkeit, sich mit einem Kindermörder zu identifizieren oder ihn gar zu verstehen, korreliert mit dem in Szene gesetzten Monolog des Triebtäters, während die Moral und trügerische Ethik 35 Zum Fall des Peter Kürten, dessen Kleinbürgerlichkeit in keinster Weise seinen Sadismus widerspiegelte, siehe Berg, Der Sadist: Der Fall Peter Kürten. 36 Zum Begriff des Lustmordes in der Weimarer Republik siehe Tatar, Lustmord: Sexual Murder in Weimar Germany. VI. Selbstjustiz und Scheingerichte: Von Gut und Böse bei Lang und Losey - <?page no="55"?> 55 einer hysterischen und hysterisierten Gesellschaft, die den Mörder unschädlich machen will, scheinbar verloren geht. Lang betont, dass die Szene selbst den Mörder nicht zeige, wie er sich verteidige, sondern zu erklären versuche, welches unkontrollierbare Grauen er vor sich selbst spüre (Lang, Zum Beispiel Fritz Lang, 00: 03: 33 (Teil 4)). Goebbels hätte, so Lang, diese Ausschnitte in einem Dokumentarfilm verwendet, um ‚entartete Filmkunst‘ zu erläutern. Lorre, geboren in Ungarn als László Loewenstein, galt den Nazis als Prototyp des Unmenschen, wie sie im antisemitischen Propagandafilm Der ewige Jude von 1940 als degeneriert und verdorben dargestellt werden. Zu Langs Beckertfigur wird hier gesagt: „Nach dem Schlagwort, nicht der Mörder, sondern der Ermordete ist schuldig, wird versucht, das normale Rechtsempfinden zu verdrehen und durch Mitleid erregende Darstellung des Verbrechers das Verbrechen zu beschönigen und zu entschuldigen“ (Hippler, Der ewige Jude, 00: 43: 22). Dieses „normale Rechtsempfinden“ kumuliert zum Lynchen des Mörders. Der panische Beckert findet sich vor einem Femegericht wieder, das von dem in Ledermontur gekleideten Schränker als Hauptrichter (an)geleitet wird. Es muss Beckert sofort klar sein, was hier mit ihm geschehen soll. Er fordert in Todesangst, an die Polizei ausgeliefert zu werden, was der Menge, die sich in einem verlassenen Gewölbe versammelt hat, nur Gelächter entlockt (Lang, M, 01: 36: 12). Der Schränker als Personifizierung des Ganoventums, das der Gesellschaft eigene Regeln selbst im Juristischen aufoktroyieren will, gibt sich als intellektuell überlegen und menschlich, indem er dem Täter einen Anwalt zur Seite stellt. Hier zeigt Lang in der Tat auf, dass ein „normales Rechtsempfinden“, also die Lynchjustiz, einer humanistischen Gesellschaft nicht ansteht. Der Anwalt, dem Lang etliche Einstellungen widmet, gilt als Stimme der Ratio, der Vernunft, der Menschlichkeit gegenüber dem Geisteskranken, dem Unverständlichen. Eine Anerkennung von Unzurechnungsfähigkeit wird vom Schränker komplett abgelehnt, er nennt den geltenden Paragraphen 51 einen „Jagdschein“, auf den der Mörder sich womöglich künftig einfach beruft, um weiter zu morden (Lang, M, 01: 36: 31). In Der geborene Verbrecher (1896) referiert Eugen Bleuler über verbrecherisches Handeln: „Hat Jemand die Wahl, schlecht oder gut zu sein, das Böse oder das Gute zu tun, so liegt die entscheidende Ursache bei ihm“ (S. 51). Wenn aber, nach Bleuler, eine „abnorme Hirnsituation“ (S. 52) vorherrsche, dann könne konstatiert werden: „Der Defekt des Verbrechers trägt alle Charaktere des Krankhaften“ (S. 53). Ähnlich des Anwalts im Film von Lang, verweist Bleuler also auf die Krankhaftigkeit und die Frage, wie zum „Schutze der Gesellschaft“ (S. 58) zu verfahren sei. Bleuler ist hier eindeutig: „Zunächst ist festzuhalten, dass man niemanden, sei er Mensch oder Tier, gesund oder krank, ehrlich oder ein Verbrecher, mehr Uebles zufügen soll als notwendig“ (S. 73). Bleuler appelliert an Kultiviertheit und Mitleid, um eine humane Gesellschaft zu erhalten. Schließlich folgert er: „Die Verbrecher sollen also, gerade wie die Geisteskranken, so human behandelt werden als unsere Mittel erlauben“ (S. 74). Gegen eine Hinrichtung der Verbrecher spräche allgemein die folgende Ver rohung des Einzelnen (S. 75). 37 37 Zur nicht bewiesenen abschreckenden Wirkung der Todesstrafe siehe Hermann, „Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe - ein Artefakt der Forschung? “. Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder - <?page no="56"?> Heike Schwarz 56 Schon 1904 wird in „Kriminalpsychologie und strafrechtliche Psychopathologie auf naturwissenschaftlicher Grundlage“ (Leipzig 1904) von der „medizinischpsychologischen Aufgabe“ gesprochen, wenn es um Schuldfähigkeit eines Täters geht (Wulffen, S. 15). Aus dem psychiatrischen Gutachten über den Düsseldorfer Mörder Peter Kürten von Prof. Dr. Franz Sioli geht hervor: „Es geht nicht an, Kürten nur als schwarzen Verbrecher zu betrachten, sondern er muss in seiner Ganz heit betrachtet werden als ein Mensch, dem auch zarte Gefühle und Triebe nicht fremd sind“ (S. 27). Er habe eine „eigentümliche Manifestation eines Doppel-Ichs“ (S. 27). 38 Angedeutet wird eine Art Dissoziation von Beckert selbst, wenn er während seines Monologes die Augen derart verdreht, dass die Iris nicht mehr zu sehen ist. Die Frage ist, ob man seiner Performance glauben schenken mag, denn Beckert kämpft um sein Leben. Dennoch kann ein Doppel-Ich von der Schuld nicht lossprechen, wie es womöglich Robert Lifton mit seiner Theorie des doubling anwenden und ihm Dr. Jekyll hinsichtlich Hyde zustimmen würde. 39 Man kann hier also nur von einer inneren Zerrissenheit Beckerts sprechen und dennoch von fast schizophren aufgeladenen inneren Stimmen. Der frühere Paragraph 51 (Absatz 2) des StGB Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches (1871) hätte eigentlich tatsächlich ‚Schutz‘ gewährt: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“ (S. 224). Nulla poena sine culpa kann nach heutigem Recht gemäß StGB Paragraph 20 gelten, der von „Schwachsinn oder einer anderen seelischen Abartigkeit“ (S. 202) in Bezug auf Schuldunfähigkeit spricht. Deutlich wird, dass Beckert nach eigener Aussage willentlich nicht anders kann. Nach dem erschütternden Monolog steht für den Schränker fest, dass der Zwang zu morden ein Todesurteil zur Folge haben wird: „Dieser Mensch muss ausgelöscht werden wie ein Schadenfeuer, dieser Mensch muss ausgerottet werden, dieser Mensch muss weg“ (Lang, M, 01: 40: 54). Der Anwalt spricht vom Moment des Zwangs, der Beckert freispräche (Lang, M, 01: 42: 38). Die Reaktion im Publikum entspricht einem Vortrag einer Frau, der mit dem Appell endet: „Frag doch de Mütter, de Mütter sollste fragen“ (Lang, M, 01: 43: 20). Der Zuseher wird hier von einem Extrem ins andere transportiert. Empathiemomente für den Mörder, dessen offensichtliche Todesangst, die Vernunft oder Einsicht, einem Staat zu überlassen, auf institutionellem Wege solche Täter zu behandeln und zu verwahren und die Gefühlsverstrickung der Opferangehörigen sowie der Wunsch, den Mörder zu richten, sind unvereinbare Gegensätze. Die Versammelten scheinen hier völlig in Rage zu geraten, auf den Aufruf einer weiblichen Stimme („keine Gnade für den Mörder, keine Gnade“; Lang, M, 01: 43: 29), ertönen Schreie „Schlagt ihn tot, den Hund! “ und Lang zeigt Nahaufnah- 38 In der englischen Version von Langs Film heißt es in Beckerts Monolog „My other self is my monster...I can´t escape, the voice urges me on“. In der französischen Version Le Maudit spricht Beckert von „le demon“, dem Dämon, der in seinem Inneren lauert. 39 Zum Konzept des umstrittenen doubling siehe Lifton, The Nazi Doctors: Medical Killing and the Psychology of Genocide. - <?page no="57"?> 57 men von geifernden Zusehern, die den Mörder sofort hinrichten wollen: „Abkillen, die Bestie! “ (Lang, M, 01: 43: 36). Wie vorher schon Lorre als Beckert, blicken uns die Gesichter teilweise direkt an. Im Vergleich dazu bieten sich Einstellungen aus Langs erstem US-Film Fury (Blinde Wut) aus dem Jahre 1937 an, in dem die geifernde Menge dabei zusieht, wie ein der Entführung eines kleinen Mädchens Verdächtiger (Spencer Tracy als Sympathieträger), welcher sich später als unschuldig herausstellt, scheinbar bei lebendigem Leib verbrennt (Lang, Fury, 00: 41: 43). Der Mensch ist bei Lang also auch geiferndes Massentier ohne Hemmungen und getrieben von Blutgier und Rache, bei Fury geht sie einen Schritt weiter, legt Feuer und ergötzt sich am vermeintlichen Tod des in der Zelle Gefangenen. Die Monologe der Täter Hans Beckert und Martin W. Harrow zeigen auf, dass hier kein anonymer Täter im Sinne einer gefahrlos weiter existierenden Gesellschaft unschädlich gemacht werden muss, sondern sich auch komplexe Fragen bezüglich menschlichen Gruppenverhaltens ergeben. Joseph Losey, 40 der extrem dem Vorbild verhaftet bleibt und dennoch teilweise eine eigene Bildsprache und Kontextualisierung findet, verbindet die Jagd der Stadt Los Angeles auf den „Babykiller“ mit einer Kritik an einem von kapitalistischen Prinzipien getriebenen Ganoventum. 41 Bei Losey kontrolliert der scheinbar dem Establishment angehörende sadistische Boss Charlie Marshall (Howard da Silva) neben Spielhöllen auch Radiostationen, Fernsehsender und Zeitungen, von denen er verlangt, als Retter der Moral gepriesen zu werden, wenn er den Kindermörder fasst: „An exclusive story, pictures by no means“ (Losey, M, 01: 10: 38). Dazu bildet Marshall die „Operation M“ (Losey, M, 00: 29: 37). Angehörige der stark hierarchisierten Ganovenschaft (Losey, M, 00: 26: 37) können nur durch Geldzahlungen zur Jagd angestachelt werden: „You got your dough, now beat it“ (Losey, M, 01: 14: 30). Was Bettler bei Lang vollbringen, vollführen bei Losey Taxifahrer, die durch ein nicht mehr existierendes Los Angeles fahren, das nicht künstlich in einem Studio entstanden ist. Loseys pädophil veranlagter, fetischbesessener Täter wird vom Bild der toten Mutter traumatisiert und spielt als Pied Piper auf einer bildsprachlich eindeutigen Flöte. 42 Ein Psychiater spricht von „childhood injury or serious neglect“ (Losey, M, 00: 35: 00). Stärkstes Element in Loseys Adaption ist eindeutig die Figur des alkoholkranken Anwalts Dan Langley (Lang+Losey! ), der für den skrupellosen Marshall arbeitet und als Moralinstanz der Geschäftemacherei Marshalls gegenübersteht. Hier hat Luther Adler als überragender Darsteller einen eigenen Monolog, während Wayne sich abmüht, einen von Schuld geplagten Kindermörder zu etablieren (Abb. 3). 40 Zum fast vergessenen Regisseur Joseph Losey sei auf folgende Biographie verwiesen: Hirsch, Joseph Losey. 41 Losey übernimmt jedoch etliche Einstellungen 1: 1, so etwa Elsies Tischgedeck, die Szene in einer Laube sowie eine Einbruchsszene. Dennoch profitiert der Film von Loseys Sprachwitz und der Darstellung der Stadt in ihrer tatsächlichen Alltäglichkeit. 42 Wie James Leahy überzeugend darstellt, sind die sexuellen Verweise in Loseys M überdeutlich. Die Besetzung mit dem sympathischen und attraktiven David Wayne stellt hier einen interessanten Coup dar, ähnlich wie Hitchcocks Strategie in Psycho (vgl. Leahy, The Cinema of Joseph Losey, S. 51). Fritz Lang, M - Eine Stadt sucht einen Mörder <?page no="58"?> Heike Schwarz 58 Abb. 3: Harrow vor dem Scheingericht Langleys Versuch, den wütenden Mob hinzuhalten, bis die Presse ihre Story hat, endet in der Katastrophe. Als er anmerkt, dass man durch Lynchjustiz nicht besser wäre als der Mörder selbst, der blind in einer zerstörerischen Welt taumelt, dass man sich durch Verbrechen nicht zum Richter qualifiziert, unterbricht ihn Marshall: „Don t be a philosopher, be funny, make them laugh“ (Langley, M, 01: 25: 55). Die Verbrecher nehmen sogar von den Ärmsten (Langley spricht vom „lunch money“, das den Kindern gestohlen wird, wenn die Väter die Spielautomaten füttern), aber sie sind nur Teil einer konsumierenden, dumpfen Masse, die durch Bosse kontrolliert wird. Langleys Hassausbruch zeigt seine komplette Abscheu vor dieser korrupten Welt: „I can t help to think who are the killers! Who killed our children‘s hope? “ (Losey, M, 01: 26: 31). Marshall erschießt Langley, die Polizei taucht auf. Langley taumelt und stirbt. „Could be a murder after all“, sagt der Polizeipräsident, Marshall wird nicht davon kommen. Als Harrow abgeführt wird, schreit er nur noch „wrong, wrong, wrong“ (Losey, M, 01: 27: 36). Bei Lang jedoch wird Beckert von der Polizei kurz vor seiner Exekutierung durch die Unterwelt aufgelesen und später „im Namen des Volkes“ verurteilt, wobei nicht klar wird, was mit ihm geschieht. Lang überlässt den Zuseher nicht im Dunst des Monologes des herausragenden Lorre. Er bremst die Spannung, indem er zum letzten Mal auf Frau Beckmann verweist, die als trauernde Mutter in die Kamera spricht: „Man muss eben noch besser auf die Kinder acht geben“ (Lang, M, 01: 45: 24). In einer Massengesellschaft voller Zwangscharaktere, mag man mit David Riesmans The Lonely Crowd (1950) antworten, ist dies jedoch von vergeblicher Mühe. , , <?page no="59"?> 59 Filmographie M - Eine Stadt sucht einen Mörder. Produktion: Seymour Nebenzahl, Nero-Film, Deutschland, 1931. Regie: Fritz Lang. Drehbuch: Egon Jacobson, Fritz Lang, Thea von Harbou. Kamera: Fritz Arno Wagner. Musik: Edvard Grieg Peer Gynt-Suite Nr. 1 (Melodie „Aus der Halle des Bergkönigs“). Darsteller: Peter Lorre (Hans Beckert), Gustav Gründgens (Schränker), Friedrich Gnaß (Einbrecher), Theo Lingen (Bauernfänger), Paul Kemp (Taschendieb), Fritz Odemar (Falschspieler), Otto Wernicke (Kriminalkommissar Karl Lohmann), Ernst-Stahl Nachbaur (Polizeipräsident), Ellen Widmann (Mutter Beckmann), Georg John (blinder Baloonverkäufer). M. Produktion: Seymour Nebenzahl (als Seymour Nebenzal), USA, 1951. Regie: Joseph Losey. Drehbuch: Norman Reilly Raine, Leo Katcher, Waldo Salt. Kamera: Ernest Laszlo. Musik: Michel Michelet. Darsteller: David Wayne (Martin W. Harrow), Luther Adler (Dan Langley), Howard da Silva (Inspektor Carney), Martin Gabel (Charlie Marshall), Roy Engel (Polizeichef Regan). Bibliographie Ball, Kirstie, Kevin D. 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Sein oder Nichtsein - Heil Hamlet! ) 1 aus dem Jahr 1942 ist heute zu den Klassikern des amerikanischen Films zu zählen, das zeitgenössische Publikum nahm den Film jedoch äußerst kritisch auf. Zwischen Beginn der Dreharbeiten am 6. November 1941 und der Premiere des Films hatte sich aufgrund des Angriffs auf Pearl Harbor und des darauffolgenden amerikanischen Kriegseintritts die Rolle der USA vom Beobachter zum Kriegsteilnehmer gewandelt. 2 Nach dieser Änderung der politischen Situation war die Entscheidung für das Genre ‚Komödie‘ Anlass und Begründung der Vorwürfe, der Film würde die Gräuel des Naziregimes an der polnischen Bevölkerung verharmlosen und den Zweiten Weltkrieg unangemessen darstellen. 3 Mittels einer umfassenden Analyse der Handlungsstruktur, der Charakterisierung der Protagonisten und der Analyse der intertextuellen Referenzen, soll der Film charakterisiert und der Vorwurf der Unangemessenheit diskutiert werden. Schon die Eröffnungssequenz suggeriert, dass etwas faul ist - nicht im Staate Dänemark, wie Marcellus im ersten Aufzug von Hamlet, dem titelgebenden Shakespeareschen Stück konstatiert, sondern in Warschau im Jahr 1939. In das Setting der Anfangssequenz führt den Zuschauer ein Erzähler ein, der als voice-over in den Film integriert ist und das Geschehen kommentiert. Er liest zuerst die Namensschilder verschiedener Geschäfte vor und beschreibt das Stadtbild Warschaus. Diese sachliche Beschreibung wird abgelöst durch die verblüfften Reaktionen von Passanten und des Erzählers auf die Anwesenheit Adolf Hitlers in der Warschauer Innenstadt - ein Anblick dessen Authentizität sogleich in Frage gestellt wird: But suddenly, something seems to have happened. Are those Poles seeing a ghost? Why does this car suddenly stop? Everybody seems to be staring in one direction. People seem 1 Erst 1960 wurde der Film in westdeutschen Kinos gezeigt, weitere drei Jahre später von der ARD ausgestrahlt und so einem breiteren Fernsehpublikum zugänglich gemacht. Zur Veröffentlichungsgeschichte siehe „Gestapo Satire“. 2 Carringer/ Sabath, Ernst Lubitsch, S. 152-155. 3 Z.B. begründet Smedley die Kritik an Lubitschs Film aufgrund des ungünstigen Zusammenfallens von Produktionszeit und der Veränderung der geschichtlichen Zeitläufe: „It was an unusual film, uncompromising in its way and fundamentally at odds with American thinking at a time of international crisis. The film had been conceived before American intervention in the war, when commentators might have taken a more relaxed view of a satire on Nazi philosophy (as indeed they had done when reviewing Chaplin’s The Great Dictator, on its release in 1940). But the appearance of To Be or Not to Be a couple of months after the attack on Pearl Harbor found a number of critics and other writers unable to share the joke“, siehe Smedley, A Divided World, S. 209. Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be I. <?page no="62"?> Johanna Hartmann 62 to be frightened, even terrified, some flabbergasted. Can it be true? It must be true. No doubt. The man with the little mustache Adolf Hitler. 4 Der Erzähler begründet weiter, warum es die historische Person Adolf Hitler nicht sein kann: Adolf Hitler in Warsaw when the two countries are still at peace? And all by himself? […] Is he by any chance interested in Mr. Maslowski’s delicatessen? That’s impossible! He’s a vegetarian. And yet, he doesn’t always stick to his diet. Sometimes he swallows whole countries. Does he want to eat up Poland too? 5 Das Auftreten ohne Entourage und zeitlich noch vor dem Angriff Deutschlands auf Polen - eine Andeutung auf den bevorstehenden Einmarsch und das Ende der Friedenszeit - veranlasst den Erzähler, die Authentizität der Figur radikal in Frage zu stellen. Sein Verdacht bestätigt sich: Es ist nicht Hitler selbst, der in Warschau gesichtet wird, sondern der Schauspieler Bronski, ein Ensemblemitglied des Warschauer Teatr Polski, der in der Nazi-Satire Gestapo die Figur des Hitler gibt. Ziel seines kostümierten Auftritts in der Öffentlichkeit ist es, anhand der Reaktionen auf den Straßen Warschaus die Authentizität seiner Erscheinung unter Beweis zu stellen. Dieser Versuch muss - wie später gezeigt wird - notwendigerweise misslingen. Ein kleines Mädchen bittet Bronski um ein Autogramm und identifiziert ihn so als Schauspieler. In dieser Anfangssequenz werden bereits die zentralen Themen und Konstellationen des Films aufgeworfen. Nach einem kurzen Eingehen auf die Biographie und das Schaffen Lubitschs wird im Folgenden die komplexe Plotstruktur, verbunden mit den verhandelten Fragen nach Authentizität, dem Unterschied und den verschwimmenden Grenzen zwischen Schein, Illusion, Spiel und Realität sowie Kunst und Leben, analysiert - Themen, die, wie Poague konstatiert, das Gesamtwerk Lubitschs durchziehen. 6 Anhand dieser Dimension des Films, der ästhetisch in variiert wiederholten Bildkompositionen umgesetzt wird, soll die Repräsentation des nationalsozialistischen Regimes thematisiert und analysiert werden. Gerade durch den Einsatz von Elementen der Verwechslungskomödie wird auf hochironische Weise Kritik an den Mechanismen des nationalsozialistischen Regimes geübt und so nach Möglichkeiten ethischen Handelns in Zeiten totalitärer Regime gefragt. Dieser Aspekt des Films soll zusammen mit der Figurencharakterisierung interpretiert werden. Zuletzt werden die intertextuellen Referenzen zu den Shakespeareschen Stücken Hamlet und The Merchant of Venice auf ihre leitmotivischen, thematischen, und poetologischen Funktionen hin untersucht. Anknüpfend an die vorhergehenden Analysen beziehen sich die intertextuellen Referenzen auf diese Stücke auf die Rolle und Integrität des Einzelnen im Angesicht existenzieller Bedrohungssituationen und die damit verbundenen ethi- 4 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 02: 10. 5 Ebd., 00: 02: 26. 6 Poague, The Cinema of Ernst Lubitsch, S. 70. Gemünden interpretiert diesen thematischen Fokus als „an allegory of exile cinema that revolves precisely around the problematic of the performance of reality and its many related notions - mimicry and masquerade, cultural camouflage, mistaken identity, impersonation, travesty, cross-dressing, and ethnic drag“, siehe Gemünden, „Space Out of Joint“, S. 62. <?page no="63"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 63 schen Implikationen. Die titelgebende erste Zeile von Hamlets Monolog „[t]o be, or not to be“ 7 wird so zur Überlebensfrage, nicht nur für das Warschauer Theaterensemble, sondern auch für den politisch engagierten Film. Ernst Lubitsch, der 1892 in Berlin als Sohn jüdischer Eltern geboren wurde und aufwuchs, gilt als Ausnahmetalent des deutschen bzw. amerikanischen Films. Im Jahr 1922 wanderte Lubitsch in die USA aus und kehrte nur noch für zwei kürzere Aufenthalte in den Jahren 1927 und 1932 nach Deutschland zurück. Drei Jahre nach seinem letzten Aufenthalt in Deutschland wurde ihm und mehr als 200 weiteren jüdischen Filmschaffenden die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. 8 Seine Biographie lässt somit eine grobe Einteilung in zwei verschiedene Schaffensphasen zu. Gleichzeitig zeigt sich darin auch sein schwer zu definierender Status. Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern und Intellektuellen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deutschland verlassen mussten, war es ihm möglich, als Hollywoodregisseur nahezu ungebrochen an seine Erfolge in Deutschland anzuknüpfen. 9 Sowohl der Wechsel von Stummauf Tonfilm, als auch von der deutschen auf die englische Sprache gelang ihm ohne größere Schwierigkeiten. Dies war zum einen begründet durch seine Zusammenarbeit mit schon etablierten Schauspielern wie z.B. Mary Pickford und zum anderen dadurch, dass seine deutsche Herkunft bei der Bewerbung von Filmen nicht genannt wurde. 10 In der ersten Jahrhunderthälfte etablierte sich in Hollywood das sogenannte studio system. Wenige große Studios wie z.B. Warner Bros., Paramount, MGM, Fox, RKO, Universal und Columbia bestimmten den Großteil der Filmproduktionen, die in eigenen Kinos gezeigt wurden. Lubitsch wechselte in dieser Zeit mehrmals seinen Arbeitgeber. Er fing 1924 bei Warner Bros. an und ging 1927 zu Paramount, das als director’s studio bezeichnet wurde, da es seinen Regisseuren größtmögliche künstlerische Freiheit ermöglichte. Lubitsch konnte so, wie aus Deutschland gewohnt, zugleich Regisseur und Produzent seiner Filme sein. 11 Sein ästhetisch und thematisch heterogenes Œuvre zeichnet sich durch eine bestimmte Qualität aus, die wegen ihrer schwierigen Definierbarkeit als ‚Lubitsch touch‘ bezeichnet wird. 12 Anne-Marie Bar 7 Shakespeare, Hamlet, S. 63. 8 Stratenwerth, „Scherz, Satire, Antisemitismus - Die Herrnfelds und die Lubitschs“, S. 167. 9 Weitere Filmschaffende, die noch vor 1933 auswanderten, waren z.B. Albert Bassermann, Conrad Veit, Fritz Kortner, Marlene Dietrich, Richard Tauber, Erich Pommer, Leontine Sagan, Robert Wiene, Billie Wilder, Robert Sidomak, Detlef Sierk und G.W. Papst. Siehe Happel, Der historische Spielfilm im Nationalsozialismus, S. 28-29. Vgl. auch Horak zu der Situation Filmschaffender im Exil nach 1933. 10 Braudy, „Double Detachment“, S. 1072. 11 Schatz, „Genius“, S. 75, sowie Eyman, Laughter, S. 292-293. Für einen ausführlichen Überblick zu Lubitschs Karriere siehe Thompson, Herr Lubitsch, S. 17-33. Zu seinem Frühwerk siehe Hake, Passions and Deceptions. 12 Siehe Thompson, Herr Lubitsch, S. 127-131 für eine kritische Darstellung der Genealogie dieses Begriffs. II. on <?page no="64"?> Johanna Hartmann 64 definiert dieses Konzept als „the incredible lightness with which he handles vaude ville and comedy of manners whilst introducing serious political, and even philosophical, reflections. To Be or Not to Be is an excellent example of this balance“. 13 Eine weitere Definition wird von Hake angeboten, die vorschlägt, dass [h]is acute awareness of the difference between public and private behaviour laid the foundation for what later became known as the ‘Lubitsch touch’. Whether in historical, contemporary, or fantastic settings, with melodramatic or comic overtones, Lubitsch always returned to this constitutive tension between appearance and truth in order to confirm the power of the gaze, and of surface phenomena, in sustained reflections both on the nature of human desire and on the cinema’s visual attractions. 14 Ungeachtet dessen, wie Lubitschs Stil definitorisch zu fassen ist, ist seinen Filmen eine „elliptische[] Erzählweise“ 15 zu eigen, die zentral auf die Imagination und Aktualisierungsleistung der Zuschauer angewiesen ist; eine Strategie, die nicht nur ästhetisch zentral ist, sondern auch eine Möglichkeit war, die sittenstrenge Zensurpolitik zu umgehen, die durch den ‚Production Code‘ auf das amerikanische Filmwesen ausgeübt wurde. 16 Die Ästhetik von Lubitschs Filmen blieb auch in seiner amerikanischen Schaffensphase zentral von seiner Begeisterung für das Theater und die Zeit bei Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin geprägt. Dort übernahm er auch kleinere Rollen als Darsteller, wie z.B. die des zweiten Totengräbers in Shakespeares Hamlet. 1915 drehte Lubitsch seinen ersten Film als Regisseur (Blindekuh) und versuchte sich im Laufe seiner Karriere an verschiedenen Genres. Er drehte unter anderem Historienfilme, Slapstickkomödien, Romanzen, Musicals und Monumentalfilme. Beide Schaffensphasen sind von einer kontinuierlichen Produktivität und Vielseitigkeit gekennzeichnet. Insgesamt drehte Lubitsch mehr als 70 Filme. 28 seiner circa 40 abendfüllenden Filme entstanden in Hollywood. Obwohl Lubitschs Filmwerk in seiner Gesamtheit nicht unbedingt politisch engagiert ist, können einige wenige Filme als politisch motiviert und als Reaktionen auf bestimmte politische Situationen interpretiert werden. Hierzu gehört The Man I Killed (1932, später umbenannt in Broken Lullaby), ein Antikriegsfilm, der sich mit der Schuld eines französischen Mörders an einem deutschen Soldaten während des Ersten Weltkrieges auseinandersetzt und von Lubitsch als „Auslotung des deutschen Wesens“ intendiert war. 17 Weiterhin zu nennen sind Ninotchka (1939), 18 eine Satire auf den Kommunismus mit Greta Garbo in der Hauptrolle, und Cluny Brown aus 13 Baron, The Shoah on Screen, S. 118. 14 Hake, German National Cinema, S. 36. 15 Naumann, „Schein und Sein“, S. 19. 16 Poague z.B. definiert die Eigenheit von Lubitschs Filmen als „cinematic wit, […] his gracefully charming and fluid style, […] ingenious ability to suggest more than he showed and to show more than others dared suggest […]“, vgl. Poague, The Cinema of Ernst Lubitsch, S. 13. Am besten wohl versinnbildlicht ein Zitat Lubitschs selbst den auf Intuition basierenden Stil: „There are a thousand ways to point a camera, but really only one“; Weinberg, The Lubitsch Touch, S. xxiii. 17 Spaich, Ernst Lubitsch und seine Filme, S. 334-337. 18 Zur ethischen Dimension in Ninotchka siehe Henry, Ethics and Social Criticism, S. 85-97. - <?page no="65"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 65 dem Jahr 1946 - eine weitere Satire, in der die moralisch indifferente Haltung der englischen Oberschicht zum Nationalsozialismus und zum Krieg dargestellt wird. Im Vergleich zu diesen Filmen nimmt To Be or Not to Be allerdings eine Sonderstellung ein, da er noch während des Krieges gedreht und gezeigt wurde, und somit auf eine aktuelle politische Situation reagierte und diese kommentierte. To Be or Not to Be - neben Ninotchka Lubitschs heute bekanntester Film - sperrt sich gegen eindeutige Genrezuweisungen. 19 Er kann als ‚Nazi satire‘ 20 , ‚black comedy‘ 21 , ‚Nazikomödie‘, ‚Anti-Nazi-Film‘ 22 , oder ‚screwball masterpiece‘ 23 bezeichnet werden. Er greift z.B. aber auch auf thematische und ästhetische Elemente und Techniken der Verwechslungskomödie, Romanze, des Agenten- und Kriminalfilms, der (Tragi-) Komödie und des Kriegsfilms zurück. 24 Letztendlich lässt es die Komplexität des Films, die sich aus sich überschneidenden und vermengten Genres, Traditionen und Stilmitteln ergibt, nicht zu, ihn in die eine oder andere Kategorie einzuordnen. 25 Es handelt sich bei To Be or Not to Be um einen Film von ungeheurer und zugleich unerhörter Komik. Er wurde zwar als kinematographische Abrechnung des Regisseurs mit dem Nationalsozialismus interpretiert, übersteigt aber die Dimension der persönlichen Rache bei Weitem. 26 Der Film entlarvt die Lächerlichkeit und gleichzeiti ge Grausamkeit des nationalsozialistischen Personals und kann somit als eine „comic deconstruction of Nazism“ interpretiert werden. 27 Besonders die Skizzierung der Plot struktur veranschaulicht diesen Aspekt. Im Zentrum des Films steht eine Warschauer Theatergruppe um das Schauspielerehepaar Maria und Joseph Tura, die im August 1939 Shakespeares Hamlet und die Naziparodie Gestapo probt. Die polnische Regierung (selbst-)zensiert aus Angst vor Hitlers Reaktion die Aufführung von Gestapo, was die kurz darauf folgende Invasion natürlich nicht verhindert. Nach dem deutschen Angriff auf Warschau überschlagen sich die Ereignisse. Der polnische Überläufer Professor Siletzky hat sich die Kontaktadressen der polnischen Untergrundbewegung in Warschau erschlichen, um diese an den in Warschau zuständigen SS-Offizier Colonel Ehrhardt zu übergeben. Kurz nach der Abreise von Professor Siletzky kommt der Betrug ans Licht und der 19 Steinle, „Sein oder Nichtsein“, S. 222-223. 20 Weinberg, The Lubitsch Touch, S. 155. 21 Ebd., S. 158, sowie Eyman, Laughter, S. 304. 22 Gemünden, „Space Out of Joint“, S. 67. 23 Steinle, „Sein oder Nichtsein“, S. 220. 24 Spaich verweist darauf, dass sich To Be or Not to Be der in den Kriminalfilmen der 1940er Jahre starken Schwarz-Weiß-Kontraste bedient, ein ästhetisches Merkmal, das v.a. dem Kameramann Rudolph Maté zuzuschreiben ist (siehe Spaich, Ernst Lubitsch und seine Filme, S. 364). 25 Langman z.B. druckte den fast identischen Artikel zu To Be or Not to Be in sowohl seiner Ency clopedia of American War Films und der von ihm herausgegebenen Encyclopedia of American Film Comedy ab. 26 Eyman, Laughter, S. 15. 27 Gemünden, „Space Out of Joint“, S. 60. III. - - - <?page no="66"?> Johanna Hartmann 66 polnische Pilot Stanislav Sobinski - ein glühender Verehrer Maria Turas - wird damit beauftragt, den polnischen Untergrund noch vor Siletzkys Ankunft in Warschau zu informieren. Nachdem sich herausstellt, dass sich Siletzky schon in Warschau befindet, beschließt das Ensemble des Teatr Polski mit Hilfe ihrer Offizierskostüme Professor Siletzky unschädlich zu machen. Es entwickelt sich ein Verwechslungsspiel, bei dem die Grenzen zwischen Illusion und Realität, Schein und Sein, Kunst und Leben immer schwieriger zu ziehen sind. Dies zeigt sich formalästhetisch im Bereich der Bildkomposition, indem durch statische Kameraeinstellungen auf das hauptsächlich in Innenräumen gezeigte Geschehen der Blick auf ein Bühnengeschehen imitiert wird und weiterhin in der Struktur der Handlungsebenen. Der Film beginnt mit zwei parallelen Handlungssträngen, die nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Warschau zusammengeführt werden. Im ersten Handlungsstrang versucht der polnische Pilot Sobinski das Herz von Maria Tura zu gewinnen. Er macht ihr zum Missfallen ihres Mannes mit Blumen Aufwartungen und bittet um ein heimliches tête-à-tête, für das sie ihn während des Hamletmonologs ihres Mannes in ihre Garderobe bestellt. 28 Dieses Spiel, das Maria inszeniert und in dem sie das Stichwort gibt, wiederholt sich am nächsten Abend. Nur ist Sobinski nun entschlossen, Joseph Tura mit der vermeintlich gegenseitig empfundenen Liebe zwischen ihm und Maria zu konfrontieren. Dazu kommt es aber nicht, da Maria und Sobinski die Nachricht vom Angriff Polens durch deutsche Truppen erreicht. Sobinski eilt zu seiner Kompanie und die Schauspieler flüchten sich in einen Keller, wo sie einen Bombenangriff überdauern. Die folgenden Einstellungen zeigen das veränderte Stadtbild Warschaus. Die Geschäftsschilder aus der Eingangssequenz werden nun zerstört gezeigt und von Plakateinblendungen gefolgt, die die Verbote und Anweisungen der Besatzer dokumentieren. Die Plakate thematisieren die Lebensbedingungen der polnischen Bevölkerung unter dem SS-Kommandanten Ehrhardt. Diese Einblendungen markieren den Übergang zum zweiten Handlungsstrang in dem die Unschädlichmachung Siletzkys und die unversehrte Flucht aus Warschau im Zentrum stehen. Die Theaterschauspieler helfen nun Stanislav Sobinski anhand mehrerer ‚Inszenierungen‘, die Zerstörung des polnischen Untergrunds zu verhindern, indem sie sich als Nationalsozialisten verkleiden, um den Überläufer Professor Alexander Siletzky daran zu hindern, eine Liste mit Adressen der polnischen Untergrundbewegung an die Nationalsozialisten zu übergeben. Die romantische Episode zwischen Sobinski und Maria Tura wird nun zu einer Beziehung zwischen zwei Verbündeten, die ihr Handeln nach dem gemeinsamen Ziel des Widerstands ausrichten. Das berufsmäßige Spiel der Schauspieler, das zu Beginn des Films noch auf der Bühne des Teatr Polski aufgeführt wird, wird nun zu einem todernsten, in die Realität verlagerten (Verwechslungs-)Spiel. Gleichzeitig wird das Teatr Polski zum Schauplatz des fiktionalisierten historischen Geschehens. Diese Verlagerungen resultieren aber auch in der erzwungenen Aufgabe des künstlerischen Lebens. Nach dem Angriff auf Warschau wird das Theater geschlossen, öffentlich zugängliche Kunst gibt es nicht mehr. 28 Diese Entwicklung ist zwar komisch, doch kaum operationalisierbar. Ophelia, die von Maria Tura gespielt wird, hat ihren Auftritt im Anschluss an Hamlets Monolog. <?page no="67"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 67 Das Halten eines Speers, über das sich die Nebendarsteller Greenberg und Bronski zu Anfang des Films noch beschweren, wird zum Sinnbild für die Sehnsucht nach der Möglichkeit künstlerischen Ausdrucks. Die als drei ‚Inszenierungen‘ der Theatergruppe zu identifizierenden Versuche die Zeitläufte zu ändern, werden eingeleitet durch Professor Siletzkys Bestreben, Maria Tura als Agentin zu gewinnen und zum Wechsel auf die „winning side“ 29 zu bewegen. Unter dem Vorwand, für diese Gelegenheit würdiger gekleidet sein zu wollen, kehrt sie in ihre Wohnung zurück, wo sie ihrem Ehemann und Sobinski die Situation erklärt. Josef Tura versteht zwar kein Wort, fühlt sich aber dazu berufen, bei dem nun folgenden Spiel die Hauptrolle zu spielen. Die folgende, erste Inszenierung hat zum Ziel, Siletzky mit den Unterlagen aus dem Hotel Europe, eines zum nationalsozialistischen Sicherheitstrakt umgewandeltem Hotel, zu locken, ihm die Unterlagen abzunehmen, ihn unschädlich zu machen und gleichzeitig seinen Suizid zu fingieren. Dieser erste Plan gelingt nur teilweise. Zwar gelingt es den Schauspielern Professor Siletzky aus dem Hotel zu locken und eine authentische Suizidnachricht zu verfassen, Maria Tura wird aber daran gehindert das Hotel zu verlassen. Dem als Colonel Ehrhardt verkleideten Josef Tura gelingt es zwar in dem zum vermeintlichen Gestapohauptquartier umfunktionierten Stadttheater an die Liste mit Kontaktadressen zu gelangen, er erfährt jedoch von der Existenz von Duplikaten, die sich immer noch im Hotel befinden, und die am nächsten Morgen nach Berlin geschickt werden sollen. Letztendlich aber lassen Josef Turas Eifersucht und Eitelkeit ihn aus der Rolle fallen, was dazu führt, dass Siletzky realisiert, dass er unfreiwilliger Mitspieler in einer Inszenierung geworden ist. Er versucht zu fliehen und wird bezeichnenderweise auf der Bühne des Teatr Polski - in einem letzten pathetischen Ausführen des Hitlergrußes und mit den Schauspielern des Teatr Polski als Zuschauer im Publikumsraum - erschossen und seine Leiche in den Kulissen versteckt. Diese Wendung erfordert eine weitere, zweite Inszenierung. Der nun als Siletzky verkleidete Josef Tura versucht im Hotel Europe - ein Symbol für die Übernahme des öffentlichen Lebens durch die Nationalsozialisten - die Kopie der Unterlagen an sich zu bringen, wird aber von dort aus selbst zum richtigen Colonel Ehrhardt gebracht. Bei dem Treffen sagt Ehrhardt zu, ihn und Maria nach Schweden zu bringen, sobald er sich der Befähigung Marias als Spionin versichert habe. Nachdem dieser Plan vermeintlich zu gelingen scheint, wird im Zuge der Vorbereitungen für eine Festivität anlässlich des Besuchs Hitlers in Warschau die versteckte Leiche Siletzkys gefunden. Josef Tura, der von dieser neuen Entwicklung nichts weiß, erscheint zum verabredeten Treffen mit Colonel Ehrhardt, wo er mit der Leiche Siletzkys, die ihm bis auf das (Bart-)Haar gleicht, konfrontiert wird. Tura kann sich vorerst dadurch retten, dass er der Leiche den Bart abrasiert, ihr eine Requisite anklebt und Colonel Ehrhardt dazu bringt, zu glauben, er sei der ‚echte‘ Siletzky. Es folgt eine erneute Wendung: Im Versuch Josef Tura aus dem Gestapohauptquartier zu retten, entlarven ihn seine Schauspielkollegen in der Gegenwart Colonel Ehrhardts als Betrüger und verhaften ihn vermeintlich. Die geplante Ausreise nach Schweden kann nun nicht mehr stattfinden. 29 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 40: 02. <?page no="68"?> Johanna Hartmann 68 Um dem Theaterensemble die Flucht aus Warschau zu ermöglichen, schlägt der Regisseur Dobosh eine weitere, letzte Inszenierung vor: Eine Variation des in der Vergangenheit aufgeführten Stücks Murder in the Operahouse, eine Referenz auf The Murder of Gonzago, das Stück im Stück in Shakespeares Hamlet. Im nun letzten Teil des Films treten die als Nationalsozialisten verkleideten Schauspieler während des geplanten Empfangs für Hitler in den Gängen des eigenen Theaters auf. Sie provozieren eine Konfrontation des als Zivilisten ‚verkleideten‘ Greenberg mit dem als Hitler verkleideten Bronski. Bei dieser Konfrontation gibt Greenberg den letzten von insgesamt drei Shylock-Monologen, die bezeichnenderweise von den Nationalsozialisten nicht als solche erkannt werden. Tura, der als Begleiter Hitlers auftritt, konfrontiert den Chef der Wache mit dem Versagen seiner Wachmänner und rät dem als Hitler verkleideten Bronski die sofortige Abreise aus Polen. Die Schauspieler können unerkannt mit dem Flugzeug in Richtung England abheben, wo Tura wieder den Hamlet geben kann. Zu Beginn seines Monologs müssen nun er und Sobinski zusehen, wie ein englischer Marineoffizier den Zuschauerraum in Richtung Maria Turas Garderobe verlässt. Die Plotstruktur ist zentral durch den engen Zusammenhang von Artifizialität und Authentizität, Schein und Realität sowie Spiel und Ernst gekennzeichnet. Letztlich geht es um Sein oder Nicht-Sein, um die Möglichkeiten ethischen Handelns in Zeiten politischer Unterdrückung, aber auch um das schlichte Überleben. Die Theatermetapher dringt in das Leben der einzelnen Akteure ein, was sich in der Allgegenwart von Requisiten, Kostümen, dem Gebrauch von Dialogzeilen und vor allem falschen Bärten manifestiert. Auch wenn diese Elemente für den Verlauf des Plots zentral sind und - bis auf Maria Tura - alle Figuren zum einen oder anderen Zeitpunkt den Überblick verlieren, ist doch für den Zuschauer der Unterschied zwischen Realität und Spiel immer deutlich zu erkennen. Obwohl es zu Beginn des Films das Anliegen des Schauspielers Bronski ist, seine Authentizität unter Beweis zu stellen, werden dem Zuschauer einige Hinweise gegeben, die auf die Artifizialität der dargestellten Situation hindeuten: Die offensichtlich gemalten Kulissen sind nicht, wie Moníková meint, Zeichen für die schlechte Qualität der Ausstattung und der Requisiten des Films. 30 Vielmehr dienen sie als Symbol für die Zerstörung Warschaus und sind somit ein Verweis auf die historische Realität im Jahr 1942. Der ironisierende Unterton der kommentierenden Stimme aus dem Off deutet ebenso auf diese Artifizialität der Szene hin, wie letztendlich auch die Präsenz Hitlers in Gestalt eines Schauspielers. Gleichzeitig ist dieser thematische Aspekt, der in der Anfangsszene versinnbildlicht wird, als Allegorie auf das nationalsozialistische System und den zu seinem Machterhalt zentralen Mechanismen zu interpretieren. Das Funktionieren des NS- Regimes hängt somit nicht von der Performanz der einzelnen Figur ab, sondern ist 30 „Was die Bauten und die Ausstattung betrifft, ist der Film ein Desaster. Ich habe selten stümperhaftere Kulissen gesehen als die Straße von Warschau im August 1939, mit den kindlich gepinselten Ladenschildern (Lubinski, Kubinski, Lominski, Rozanski, und Poznanski…), auf der plötzlich mitten im Frieden Adolf Hitler steht. Allgemeine Aufregung, erschrockene Gesichter, heruntergezogene Ladenrollos. Schnitt.“ Siehe Moníková, „Ernst Lubitsch“, S. 105. <?page no="69"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 69 angewiesen auf das Mitspielen, auf die Performanz eines ‚Publikums‘. 31 Genau deswegen muss Bronskis Experiment notwendigerweise scheitern. Die Verifizierung der Authentizität seiner Erscheinung liegt gerade nicht in seinem Schauspiel und seiner Erscheinung, sondern ist verlagert in die Reaktion eines wie auch immer gearteten Publikums. Diese performativen Strategien sind nun auf den Straßen Warschaus im Jahr 1939 kaum zu erwarten. Indem das Mädchen ihn um ein Autogramm bittet, unterlässt sie den Hitlergruß als performativen Akt, der notwendig gewesen wäre, um ihn zu dem zu machen, was er vorgibt zu sein. 32 Durch das Aufzeigen dieser Strategien, wird die Verstrickung des deutschen Volkes thematisiert, ohne ihm im Film Raum zu geben. Was in der Anfangssequenz scheitert, gelingt jedoch in den weiteren Bestrebungen der polnischen Theatergruppe. Sie engagiert sich mittels ihrer Requisiten und Kostüme im aktiven Widerstand: Performanz wird somit zu Realität. Steinle formuliert dies folgendermaßen: Die Theatermetapher ist für den Film auf allen Ebenen konstitutiv: In der Handlung verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Ernst, Rolle und Identität, Bühne und Realität, Kostüm und Uniform, echten und falschen Bärten. In ‚echt‘ gestorben wird theatralisch auf der Bühne mit den Schauspielern als Zuschauer. Die Verwicklung von theatraler Kunstwelt und ‚Realität‘ verstärken Dekor und Kameraarbeit […]. 33 Und auch Poague interpretiert To Be or Not to Be als „comic investigation of the relationship between illusion and reality“, 34 widerspricht jedoch Petrie, der behauptet, die abrupten Übergänge „into the illusion-reality, theatre-life dichotomy that is central to the film […] make[] it impossible for us to take anything that follows on face value“. 35 Aus Spiel wird Ernst und die Realität zum Ort des Spiels. Gleichzeitig wird das Theater als Ort des Spiels Schauplatz der fiktiven Realität. Nicht nur die fiktive Satire Gestapo, die im Film als „document of Nazi Germany“ 36 bezeichnet wird, sondern auch der Film To Be or Not to Be ist als fiktionalisierte Abbildung der Realität zu interpretieren. Der Film spielt somit mit den Grenzen zwischen Sein und Schein, Realität und Fiktion, was sich als ästhetisches Prinzip im Film manifestiert. Durch den Einsatz dieser Strategien - vor allem die verschiedenen ‚Inszenierungen‘ der Schauspielertruppe - wird eine ständige Hypothesenbildung und -revidierung provoziert. 31 Wie Gemünden herausstellt, spielt das performative Element des Nationalsozialismus auch in Langs Film Hangmen Also Die eine zentrale Rolle. Siehe Gemünden, „Space Out of Joint“, S. 74. 32 Siehe auch Henry, Ethics and Social Criticism, S. 97-106. 33 Steinle, „Sein oder Nichtsein“, S. 222. 34 Poague, The Cinema of Ernst Lubitsch, S. 85. 35 Petrie, „Theatre Film Life“, S. 38. 36 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 05: 45. <?page no="70"?> Johanna Hartmann 70 Trotz der Bestrebungen, den Überläufer Siletzky unschädlich zu machen, bleiben die Schauspieler in To Be or Not to Be doch immer einzelne Individuen. Sie werden als eitle und narzisstische Charaktere dargestellt, die an einer Ausweitung ihrer jeweiligen Rollen interessiert sind und im ständigen Konkurrenzkampf zueinander stehen: Greenberg sehnt sich danach den Shylock zu geben und Bronski sieht in Hitler seine Paraderolle, die er ungefragt zu einer Sprechrolle macht. Anstatt nur einzutreten entgegnet er auf die Begrüßung mit dem Hitlergruß die Worte „Heil myself“, 37 eine Zeile, die in der deutschen Fassung als „ich heil’ mich selbst“ übersetzt wurde und somit noch deutlicher die narzisstische Dimension betont. Die Schauspieler arbeiten für den Erfolg eines Stücks zusammen und bleiben doch immer sie selbst - Individuen mit persönlichen Motivationen und Antrieben, die sie nicht unter Kontrolle halten können. Besonders deutlich wird dies in der Beziehung des Schauspielerehepaars Josef und Maria Tura, deren Verhältnis durch Zuneigung bestimmt ist, die aber dennoch in einem äußerst kompetitiven Verhältnis zueinander stehen. Obwohl Maria Tura die bessere Schauspielerin ist, reklamiert Josef Tura den obersten Platz auf den Plakaten für sich selbst. 38 Als es darum geht, sich für den Untergrund zu organisieren, konfrontiert er Sobinski mit den folgenden Worten: „First, you walk out of my soliloquy, and then you walk into my slippers. And now you question my patriotism“. 39 Zuerst also sieht er sich als Schauspieler, dann als Ehemann und erst dann als polnischen Patrioten, nur um dies dann wieder zu reevaluieren: „I’m a good Pole. I love my country and my slippers! “ 40 Während Maria die Kunst der Improvisation beherrscht, verstummt ihr Mann, wenn er spontan auf eine Situation reagieren muss. Beim Treffen mit Professor Siletzky verrät er sich dadurch, dass er sich nicht weiter zu helfen weiß als die Zeile „so they call me Concentration Camp Ehrhardt? “ 41 immer und immer zu wiederholen. Paradoxerweise offenbart er sich durch sein schlechtes und menschelndes Spiel, trifft aber - wie sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen wird - genau das Verhalten Colonel Ehrhardts. Maria Tura ist die einzige Figur, die immer den Überblick und die Kontrolle über ihr Spiel behält. Somit wird sie zur Orientierungsfigur aber auch zum emotionalen und ethischen Bezugspunkt für den Zuschauer. Als die Nachricht vom deutschen Einmarsch in Polen ihre Garderobe erreicht und Josef Tura noch mit seiner vermeintlichen Demütigung durch den den Zuschauerraum verlassenden Sobinski zu kämpfen hat, ist sie die erste, die das Ausmaß dieses Ereignisses zu beschreiben vermag: „War. It’s really war. People are going to kill each 37 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 04: 46. 38 Die Rolle des Joseph Tura wurde speziell auf den Komiker Jack Benny hingeschrieben, der dem amerikanischen Publikum durch sein Radio- und Fernsehprogramm bekannt war. Siehe Paul, American Comedy, S. 235. Die Rolle des Josef Tura gilt als Höhepunkt Bennys filmischen Schaffens. Siehe dazu Langman, „To Be or Not to Be“, S. 581-582. 39 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 46: 00. 40 Ebd., 00: 46: 05. 41 Ebd., 00: 55: 50. IV. <?page no="71"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 71 other and be killed“. 42 Hier bietet sich ein Vergleich zwischem dem Verhalten Josef und Maria Turas an. Beide können als eitle Figuren charakterisiert werden. Im Gegensatz zu Josef Tura jedoch, der es nicht unterlassen kann, selbst Professor Siletzky und Colonel Ehrhardt zu fragen, ob sie diesen „great, great Polish actor, Joseph Tura“ 43 kennen und somit die Entdeckung seiner Identität riskiert, ist es Maria Tura, die stets ihren professionellen Habitus beibehält und dem Angebot als nationalsozialistische Agentin zu arbeiten, ethische und moralische Bedenken entgegensetzt: „But what are we going to do about my conscience? “ 44 und sich somit ethisch begründet den Überredungsversuchen Siletzkys widersetzt. Professor Siletzky selbst nimmt eine Sonderstellung innerhalb der Figurenkonstellation ein. Im Gegensatz zu den Nationalsozialisten ist er nicht von deren Ideologie überzeugt, sein Handeln ist vielmehr durch seinen persönlichen Gewinn motiviert. Er ist die einzige Figur, über die der Zuschauer nicht lachen kann. To Be or Not to Be übt auf hochironische Weise Kritik an den Mechanismen, den Machtstrukturen und Praktiken des nationalsozialistischen Regimes. Das nationalsozialistische Personal wird der Lächerlichkeit preisgegeben, was jedoch nicht mit einer Verharmlosung verwechselt werden darf. 45 Naivität und Dummheit mischen sich in der Figurenzeichnung mit einer Form von Grausamkeit, die Eingang in die Alltagsroutine gefunden hat. Nach Hake, die vier Typen der stereotypen Darstellung von Nationalsozialisten in Anti-Nazifilmen unterscheidet, ist Colonel Ehrhardt die Verkörperung des Typs ‚Parteimitglied‘, der durch seine Ungebildetheit, Obrigkeitshörigkeit und einer Entscheidungsfreudigkeit, die mit dem Unwillen Verantwortung zu übernehmen einhergeht, charakterisiert ist. 46 Der von Sig Ruman verkörperte Colonel Ehrhardt ist ein grausamer, hinterlistiger, unterwürfiger und unberechenbarer Opportunist, der den Überblick über die von ihm unterzeichneten Erschießungsbefehle verloren hat. Auf eine bestimmte Erschießung angesprochen, entgegnet er „Oh, well, I sign so many every day! “ 47 und verhängt dabei die Todesstrafe für ‚Vergehen‘, die er sich selbst zu Schulden kommen lässt, wie das Erzählen eines Hitlerwitzes. 42 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 20: 25. 43 Ebd., 00: 57: 56. 44 Ebd., 00: 41: 05. 45 Z.B. argumentiert Butler, dass die Darstellung der Nationalsozialisten der Darstellung in den amerikanischen Kriegsfilmen der 1940er Jahre entgegenläuft: „The Nazis are represented as pompous, strutting half-wits, but in a way totally different from the ‘ serious caricaturing of the enemy in the conventional war film“, Butler, The War Film, S. 66. 46 Das Parteimitglied „personifiziert die hierarchische Struktur und institutionelle Gewalt des Regimes in fast grotesker Weise“. Weiterhin unterscheidet sie zwischen dem Offizier, dem Sympathisanten und dem Kollaborateur, die alle mit einem typischen bestimmten Verhaltens- und Gefühlsrepertoire ausgestattet sind. Hake, Screen Nazis, S. 40-43. Hake identifiziert Colonel Ehrhardt als typischen Repräsentanten der Kategorie „Parteimitglied“, das „die hierarchische Struktur und institutionelle Gewalt des Regimes in geradezu grotesker Weise personifiziert. […] Er entstammt der unteren Gesellschaftsklasse, ist ungebildet, willig Befehle entgegenzunehmen und willig zu folgen, ohne Fragen zu stellen; er ist der ideale Untergebene“, Hake, Screen Nazis, S. 41; (meine Übersetzung). 47 Lubitsch, To Be or Not to Be, 01: 11: 56. , <?page no="72"?> Johanna Hartmann 72 Trotz ihrer Grausamkeit wirken die dargestellten Nationalsozialisten komisch. Dies ist vor allem darin begründet, dass ihr Verhalten von den polnischen Schauspielern antizipiert wird - entweder impovisatorisch, wie dies bei der Frage „So they call me Concentration Camp Ehrhardt? “ der Fall ist, oder sich auf die fiktive Nazisatire Gestapo beziehend. Die Wiederholung variierter Konstellationen und Szenen unter verschiedenen Vorzeichen resultiert zum einen in einer durch ihre Realitätsnähe komischen und satirischen Wirkung der wiederholten Szene, und stellt dadurch das regimekritische Potenzial der fiktiven Satire, wie auch des filmischen Texts dar. Hierzu bietet sich der Vergleich einer Szene aus dem Stück Gestapo und dem Treffen zwischen Tura und Ehrhardt an. Die Satire antizipiert das Gespräch zwischen Tura und Ehrhardt - nur ein Beispiel dafür, wie zentrale Szenen im Film in variierter Konstellation wiederholt werden. In beiden Szenen machen Nationalsozialisten einen Hitlerwitz und ziehen sich - konfrontiert mit ihrem ‚Vergehen‘ und außer Stande, sich sprachlich zu rechtfertigen - auf die Performanz des Hitlergrußes als reflexhafte und wortlose Loyalitätsbekundung zurück. An Colonel Ehrhardt und seinem Untergebenen Schulz werden die Machtstrukturen des NS-Regimes illustriert: Beide sind Befehlsempfänger, die zu einem selbstständigen Urteil unfähig sind. Sie sind willens Befehle auszuführen und gleichzeitig unwillig Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Auf seine Verantwortung, vermeintliche Informationsträger erschossen zu haben, angesprochen, erwidert Ehrhardt fast mantrahaft mit „shifting the responsibility on me again? “ 48 Schulz erwidert Vorwürfe mehrfach mit dem Satz „I resent that“. 49 Ehrhardt verkörpert eine unbedarfte Grausamkeit, die z.B. im Stolz über seinen Spitznamen „Concentration Camp Ehrhardt“ gipfelt. In zynischer Art erklärt er das Zustandekommen dieses Namens: „we do the concentrating, and the Poles do the camping“. 50 Als er Tura mit Siletzkys Leiche konfrontiert, unterhält er sich mit seinen Kollegen über die Effizienz verschiedener Foltermethoden: SS-Offizier: Well, he should have cracked by now. Ehrhardt: Give him a little time. Let him enjoy his goose pimples. SS-Offizier: Colonel, do you really prefer this procedure to our usual methods? Ehrhard: Well, I would say with intellectuals, the mental approach is more effective and much quicker. SS-Offizier: But if he shouldn’t turn out to be an intellectual? Ehrhard: Then we try a little physical culture. 51 Um an sein Ziel zu gelangen, wendet er sowohl physische als auch psychische Gewalt bereitwillig an. Lubitsch selbst beschrieb die Nationalsozialisten in To Be or Not to Be folgendermaßen: I admit that I have not resorted to the methods usually employed in pictures, novels, and plays to signify Nazi terror. No actual torture chamber is photographed, no flogging is shown, no close-up of excited Nazis using their whip and rolling their eyes in lust. My 48 Lubitsch, To Be or Not to Be, 01: 22: 31. 49 Ebd., 01: 12: 23. 50 Ebd., 00: 54: 09. 51 Ebd., 01: 19: 32. <?page no="73"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 73 Nazis are different; they passed that stage long ago. Brutality, flogging, and torturing have become their daily routine. They talk about it the same way as a salesman referring to the sale of a handbag. Their humor is built around concentration camps, around the sufferings of their victims. 52 Unter Miteinbezug von Lubitschs Biographie in die Interpretation entbehrt der Vorwurf der Verharmlosung, die auch mit seiner Herkunft aus Deutschland begründet wurde, nicht einer gewissen Tragik. 53 Lubitsch hat Deutschland zwar freiwillig und früh verlassen, die Nationalsozialisten druckten allerdings Plakate mit seinem Konterfei und stellten ihn sozusagen als Exemplar für die angeblich archetypische, jüdische Erscheinung aus. 54 Auch in den USA wurde er für seine Darstellung des Krieges angegangen. Als Tura alias Siletzky ihn fragt, ob er diesen „great, great Polish actor, Joseph Tura“ kenne, antwortet Ehrhardt mit dem kontroversesten und meistkritisierten Satz des Films „What he did to Shakespeare, we are doing now to Poland.“ 55 Zur Rezeption seines Films äußert sich Lubitsch selbst folgendermaßen: To Be or Not to Be has caused a lot of controversy and in my opinion has been unjustly attacked. This picture never made fun of Poles, it only satirized actors and the Nazi spirit and the foul Nazi humor. Despite being farcical, it was a truer picture of Nazism than was shown in most novels, magazine stories, and pictures which dealt with the same subject. In those stories the Germans were pictured as a people who were beleaguered by the Nazi gang and tried to fight this menace through the underground whenever they could. I never believed in that and it is now definitely proven that this so-called underground spirit among the German people never existed. 56 Hier spricht Lubitsch die Verstrickung der deutschen Bevölkerung an. Sie leitet sich wiederum aus den performativen Gefolgschaftsbekundungen her, die Hitler seine Macht verleihen und ohne die er nur „a man with a little mustache“ 57 wäre, was wiederum ein Verweis auf den Zusammenhang zwischen Maskerade und politischer Realität ist. Obwohl oder gerade weil der Hitlergruß allgegenwärtig ist, wird der Per- 52 Paul, American Comedy, S. 230-231. 53 Hier ist vor allem die Kritik von Mildred Martin vom Philadelphia Inquirer angesprochen. Martin bezeichnete Lubitsch als „Berlin born director“, was sie in Verbindung setzt zu seinem „callous, tasteless effort to find fun in the bombing of Warsaw.“ Diese Anschuldigung veranlasste Lubitsch zu einem Widerspruch, in dem er argumentiert: „When in To Be or Not to Be I have referred to the destruction of Warsaw I have shown it in all seriousness; the commentation under the shots of the devastated Warsaw speaks for itself and cannot leave any doubt in the spectator’s mind what my point of view and attitude is towards those acts of horror. What I have satirized in this picture are the Nazis and their ridiculous ideology. I have also satirized the attitude of actors who always reman [sic] actors regardless how dangerous the situation might be, which I believe is a true observation“, siehe Lubitsch, „In Defense“, S. 227. 54 Eyman, Laughter, S. 15 sowie „Luftmensch“, S. 167; Gemünden, „Space Out of Joint“, S. 61. U. a. wurde Lubitsch auch in dem nationalsozialistischen ‚Dokumentarfilm‘ Der ewige Jude angegriffen. 55 Lubitsch, To Be or Not to Be, 01: 13: 37. Noch im Vorfeld wollten Kollegen Lubitsch dazu überreden, diesen Satz aus dem Skript zu streichen, was dieser tief gekränkt von sich wies. Siehe Weinberg, The Lubitsch Touch, S. 223; siehe auch Paul, American Comedy, S. 230-231. 56 Lubitsch, „Letter“, S. 267. 57 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 02: 24. <?page no="74"?> Johanna Hartmann 74 son Hitler selbst im Film nur marginaler Raum eingeräumt. Auch ohne die physische Gegenwart Hitlers, ist dieser in der Gefolgschaft der Untergebenen anwesend. Er wird als inhaltslos dargestellt, als eine Figur ohne Sprechrolle (wie dies auch in der Nazisatire Gestapo der Fall ist), und letztendlich als ein Schauspieler, der sich hauptsächlich durch seine Ikonizität auszeichnet, die sich wiederum hauptsächlich in seinem Bart verankert. Im Verlauf des Filmes ist er hauptsächlich in ikonographischen Repräsentationen anwesend, z.B. in Form eines Fotos, eines Gemäldes, auf einem Buchumschlag oder als Graffiti. Selbst bei seinem Ankommen im Warschauer Theater wird er nur von hinten gezeigt, wodurch sich der Fokus auf das ihm ehrerbietende Publikum richtet. 58 Gemünden fasst die Bedeutung dieser Szene folgendermaßen zusammen: „[…] the reality of Nazism is performative, and that it is real only to the extent that it is performed“. 59 Auf das performative Element des Nationalsozialismus wird in einer der letzten Szenen des Films noch einmal angespielt. Als Bronski immer noch verkleidet als Hitler mit dem Fallschirm in einem Heuhaufen in England landet, kommentieren dies die arbeitenden Bauern mit dem Satz „First it was Hess, now him“ („Erst war es Hess, nun ist er es selbst“). Der letzte Teil des Satzes kann auch als „[…] now a ham“ verstanden werden, 60 zu übersetzen mit „nun ist es ein Schmierenkomödiant“, als ein weiterer Hinweis auf die Performativität des Nationalsozialismus. 61 To Be or Not to Be bezieht sich auf verschiedene Intertexte, die unterschiedliche Funktionen übernehmen. Auf das Funktionspotenzial des fiktiven Intertexts Gestapo ist oben bereits eingegangen worden. Die intertextuellen Referenzen auf die Shakespeareschen Stücke Hamlet und The Merchant of Venice, die strukturbildende, leitmotivische und thematische Funktionen übernehmen, sollen im Folgenden im Mittelpunkt stehen. Anhand dieser Intertexte werden zudem auf unterschiedliche Weise zentrale Fragen nach der Möglichkeit und der Verpflichtung zum ethischen Handeln, der Definition von Menschlichkeit und Würde, aber auch das Recht auf Vergeltung bzw. Widerstand gegen erfahrenes Unrecht in Zeiten politischer Unterdrückung und Verfolgung verhandelt. In beiden Intertexten wird nach Sein oder Nicht-Sein, dem ‚Wie‘ des Seins oder Nicht-Seins, dem Handeln oder Nicht-Handeln gefragt. Der Film zeigt drei im Theater aufgeführte Hamlet-Monologe, drei gesprochene Shylock- Monologe und eine Variation dieses Monologs. Die Bezüge auf diese beiden Stücke sind mit den oben differenzierten, zwei zentralen Handlungssträngen verknüpft. Die 58 Gemünden hat diesen Shot als Zitat aus Leni Riefenstahls Propagandafilm Triumph des Willens identifiziert. Siehe „Space Out of Joint“, S. 66. 59 Ebd., S. 68. 60 Lubitsch, To Be or Not to Be, 01: 22: 31. 61 ‚Ham‘ ist das englische Wort für Schinken, aber auch für Schmierenkomödiant bzw. schlechter Schauspieler. Weiterhin ist ‚ham‘ die erste Silbe des Wortes ‚Hamlet‘ und übernimmt somit leitmotivische Funktionen im Film, was sich in den verschiedenen Hamlet-Monologen und auch in den Dialogen zwischen den Schauspielern zeigt. V. <?page no="75"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 75 drei Hamlet-Monologe werden allesamt von Josef Tura in der Rolle des Hamlet gegeben, wobei der erste und der dritte Hamlet-Monolog den Film gewissermaßen einrahmen. Beim erstmaligen Sprechen des Monologs muss Josef Tura ungläubig mitansehen, wie ein Zuschauer - der Flieger Sobinski - seinen Platz im Publikum verlässt. Am folgenden Abend wiederholt sich die Szene. Ganz zu Ende des Films nun müssen sowohl Sobinski als auch Josef Tura miterleben, wie ein englischer Marineoffizier den Zuschauerraum in Richtung Marias Garderobe verlässt. Aus diesen drei Hamlet-Monologen, die dem Handlungsstrang der Dreiecksbeziehung zwischen Josef Tura, Maria Tura und Stanislav Sobinski zuzuordnen ist, speist sich u. a. das komische Potenzial des Films. Ein komischer Effekt, der dem heutigen Publikum fast völlig entgeht, ergibt sich aus dem stummen Blick des von Jack Benny gespielten Josef Tura. Jack Benny war in den 1940er Jahren einer der beliebtesten amerikanischen Komiker. Seine Sketche hatten ein typisches wiederkehrendes Element: er nahm Blickkontakt mit dem Publikum auf und gab durch seinen indignierten und bisweilen gelangweilten Gesichtsausdruck seiner Stimmungslage Ausdruck. Dieses Mienenspiel, das gewissermaßen das Markenzeichen Jack Bennys darstellte, wird vom Souffleur als Gedächtnislücke interpretiert, der ihm den Anfang des wohl bekanntesten Dramenmonologs einsagt. Diese Szene ist weiterhin komisch, da es Maria Tura selbst ist, die den Flieger aus dem Zuschauerraum bittet und so für das schauspielerische Versagen ihres Mannes verantwortlich ist. Der Beginn des Hamlet- Monologs erfährt somit eine semantische Variation. Ist er in Shakespeares Stück noch Ausdruck von Hamlets existenzieller Lebenskrise, wird er hier zum Stichwort für Sobinski, das Theater zu verlassen. 62 Den drei Hamlet-Monologen, die zentral zum komödiantischen Charakter des Films beitragen, stehen die drei ‚Aufführungen‘ des Shylock-Monologs, der sogenannten Rialto-Szene, gegenüber. Diese drei Monologe sind mit dem zweiten Handlungsstrang verknüpft, der die Widerstandsaktivitäten des Theaterensembles aufgreift. Zwei Szenen finden sich zu Beginn des Films, der dritte Monolog gegen Ende des Films. Während die Funktion der Hamlet-Monologe sich relativ statisch auf den Handlungsstrang zwischen Josef Tura, Maria Tura und Stanislav Sobinski bezieht, ist das Funktionspotenzial der Shylock-Monologe komplexer. In allen drei Szenen wird der Monolog vom Schauspieler Greenberg gesprochen, der damit auf verschiedene Situationen reagiert, diese kommentiert und zuletzt beeinflusst. Die variierte Darstellung dieses Monologs ist mit der dynamischen Veränderung ihres Bedeutungspotenzials verbunden. In der ersten Shylockszene will Greenberg seinen Kollegen Bronski von seinem schauspielerischen Talent überzeugen. Seine Faszination ist nicht zuletzt Resultat seiner Identifikation mit der Figur des Shylock: „The Rialto scene. Shakespeare must have thought of me when he wrote this. It’s me.“ 63 Greenberg und Bronski sind jedoch auf Nebenrollen festgelegt, sie halten einen Speer anstatt die von ihnen angestrebten Sprechrollen zu geben. 62 Im weiteren Verlauf des Films wird dieser Monologanfang zur geheimen Zuneigungsbekundung, die Sobinski Maria durch Siletzky ausrichten lässt. 63 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 08: 18 <?page no="76"?> Johanna Hartmann 76 Greenberg: Have I not eyes? Have I not hands? Organs? Senses? Dimensions? Affections? Passions? Fed with the same food? Hurt with the same weapons? Subject to the same diseases? If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? Bronski: You’d move ‘em to tears. 64 Obwohl Greenberg die einzige Figur ist, die eindeutig als jüdisch identifiziert werden kann, wird der einleitende Satz „I am a Jew“ nicht gesprochen. Durch die Vermeidung jeglicher religiöser Vergleiche wird vor allem die humanistische Dimension dieses Monologs herausgestellt. In der zweiten Szene, in der Greenberg den Shylock-Monolog in reduzierter Form spricht, stehen er und Bronski im Schnee und halten Schaufeln. Die deutschen Truppen haben Warschau besetzt, die Theater sind geschlossen und das Halten eines Speers, über das sich die beiden in einer vorhergehenden Szene noch beschwert hatten, wird zum Ausdruck der Sehnsucht nach Frieden und der Möglichkeit des künstlerischen und kreativen Ausdrucks. Unterlegt von melancholischer Geigenmusik spricht Greenberg den Shylock-Monolog zum zweiten Mal, bringt nun aber die empfundene Ungerechtigkeit, die erfahrene Willkür, seinen Unglauben über den Angriff, aber auch die Klage über die unmenschliche Behandlung durch die deutschen Besatzer und die Sehnsucht nach dem Ende dieses Zustands zum Ausdruck. Greenberg: If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? Bronski: What a Shylock you would have been. Greenberg: All I had to do was to carry a spear. Bronski: I wonder if we’ll ever carry a spear again. Greenberg: Let’s hope so. 65 In der dritten Shylockszene wird der Monolog, wie Steinle dies formuliert, zu einem „humanistische[n] Manifest“, 66 das sich, im Gegensatz zu den vorhergehenden Inszenierungen, durch den Zorn Greenbergs unterscheidet. In den Gängen des Teatr Polski spielen Greenberg und Bronski, umringt von SS-Leuten, nun die von ihnen herbeigesehnten Hauptrollen. Während Greenberg die Zeilen spricht, erklingt im Hintergrund die erste Strophe der deutschen Nationalhymne und das Horst-Wessel- Lied. In dieser dritten ‚Inszenierung‘ wird zum ersten Mal die Frage nach der Legitimität von Rache und Widerstand gegen erfahrenes Unrecht angesprochen. Tura als SS-Offizier: How did you get here? Greenberg: I was born here. Tura: And what made you decide to die here? Greenberg: Him. Tura: What do you want from the Führer? Greenberg: What does he want from us? What does he want from Poland? 64 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 08: 23. 65 Ebd., 00: 23: 32. 66 Steinle, „Sein oder Nichtsein“, S. 223. <?page no="77"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 77 Why all this? Why? Why? Aren’t we human? Have we not eyes? Have we not hands, organs, senses, dimensions, affections, passions? Fed with the same food? Hurt with the same weapons? Subject to the same diseases? Healed by the same means? Cooled and warmed by the same winter and summer? If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? If you wrong us, shall we not revenge? […] 67 Bronski: Greenberg, he always wanted to play Shylock and he got his chance at last. And he’ll play it again not in the corridor, but on the stage of the Polski theater. 68 Bedeutsamerweise ändert sich die Semantik des Wortes ‚wir‘ in den drei Monologen. In der ersten Szene ist es vor allem das Potenzial der Rolle, schauspielerisches Können und Emotionalität auszudrücken zu können, das Greenberg anzieht. In der zweiten Szene identifiziert er sich mit der Figur des sich ungerecht behandelt fühlenden Shylock, was seiner Interpretation eine tragische Dimension verleiht. In der dritten Szene spricht Greenberg nun nicht mehr für sich als Individuum, sondern für das polnische Volk, für das er qua seiner Menschlichkeit, die sich durch seine Emotionalität, körperliche Verletzlichkeit und Leiblichkeit begründet, explizit das Recht auf Gerechtigkeit und Widerstand einfordert. Die jüdische Identität Greenbergs und Shylocks spielt in allen drei Szenen keine signifikante Rolle, 69 jedoch ist Greenberg die einzige Figur, die nicht nach England flieht. Er erscheint zum letzten Mal, als er von SS-Männern im Teatr Polski abgeführt wird. Seine Abwesenheit in der von Reportern umringten Gruppenkonstellation in England kann somit als indirekter Verweis auf die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden interpretiert werden. Die Rialto-Szene wird für die Interpretation einer weiteren Szene in To Be or Not to Be bedeutsam. Sie ist die umgekehrte und in gewisser Form pervertierte Variation des Shylock-Monologs. Beim ersten Treffen zwischen Professor Siletzky und Maria Tura versucht er sie zum Überlaufen zu bewegen. Hierzu bedient er sich verschiedener rhetorischer und argumentativer Strategien. Zuerst spricht er sie in ihrer Profession als Schauspielerin an, für die ihre Tätigkeit für die Nationalsozialisten nur eine weitere Rolle darstellen würde - ein Versuch, den Ernst der Realität als Spiel zu tarnen und somit dessen Auswirkungen zu verschleiern. Weiterhin versucht er, sie mit der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu ködern. Diesem Argument, das sie als durchaus verlockend anerkennt, setzt sie als letzte Barriere ihr Gewissen entgegen: „Naturally it’s all very attractive and tempting but what are we gonna do 67 Lubitsch, To Be or Not to Be, 01: 29: 42. 68 Ebd., 01: 31: 33. 69 Auch wenn die Shylock-Monologe ein klares Indiz für die jüdische Religionszugehörigkeit der meisten polnischen Opfer darstellt, steht deren jüdische Identität eher im Hintergrund. To Be or Not to Be stellt den ersten amerikanischen Kriegsfilm dar, der den Angriff auf Polen bzw. das Kriegsschicksal Polens im Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt stellt. Erst 1944 wurden zwei weitere und auch letzte Filme, In Our Time und None Shall Escape gedreht. Biskupski kritisiert vehement die Repräsentation der Figuren als polnische Staatsbürger und als Kriegsopfer und weiterhin die Darstellung Polens als Staatsgebilde, S. 3, 56, 83-87. <?page no="78"?> Johanna Hartmann 78 about my conscience? “ 70 Daraufhin versucht Siletzky, sie vom Nationalsozialismus und seiner eigenen Menschlichkeit zu überzeugen. Erst in Bezug auf die beiden vorhergehenden Shylockszenen (diese Variation ist zwischen dem zweiten und dritten Monolog Greenbergs angesiedelt) wird diese semantische Verkehrung erkennbar. Siletzky: Mrs. Tura, you’re an actress, aren’t you? Maria Tura: Yes. Siletzky: Naturally, in the theater it’s important that you choose the right part. Maria Tura: Very. Siletzky: But in real life, it’s even more important that you choose the right side. Maria Tura: The right side? Well, what is the right side? Siletzky: The winning side. Maria Tura: I don’t quite understand. Siletzky: Well, here in Warsaw, there are a lot of people that we know very well and a lot of people that we don’t know quite so well and would like to know a great deal better. That’s where you can help us, Mrs. Tura. Maria Tura: You want me to be a spy? Siletzky: Now, come, come. That’s rather a crude word. Maria Tura: You know, I once played a spy. It was a great success. I had wonderful notices. It was really an exciting part. Siletzky: Wouldn’t it be exciting to play it in real life? Maria Tura: I got shot in the last act. I suppose that happens to most spies. Siletzky: My dear Mrs. Tura, we would never dream of subjecting anybody as charming as you to danger. All you’d have to do would be to entertain a little. For instance, invite certain people to your home. Maria Tura: I can see myself giving a great banquet in my one-room mansion. Of course, they took my lovely apartment away from me. Siletzky: I assure you that can be very easily remedied. Life could be made very comfortable for you again, Mrs. Tura. Well. What do you say? Maria Tura: Naturally, it’s all very attractive and tempting. But what are we going to do about my conscience? Siletzky: Well, we’ve simply got to convince you that you’re going to serve the right cause. I wonder if you really know what Nazism stands for. Maria Tura: I have a slight idea. Siletzky: In the final analysis, all we’re trying to do is create a happy world. Maria Tura: People who don’t want to be happy have no place in this happy world. That makes sense. Siletzky: We’re not brutal, we’re not monsters. Tell me, do I look like a monster? Maria Tura: Of course not, Professor. Siletzky: You say that as though you really meant it. Maria Tura: I do. Siletzky: We’re just like other people. We love to sing, we love to dance. We admire beautiful women. We’re human. And sometimes very human. 70 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 38: 18. <?page no="79"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 79 Maria Tura: I’m convinced of that. Siletzky: Why don’t you stay here for dinner? I can imagine nothing more charming. And before the evening is over, I’m sure you’ll say, “Heil Hitler”. 71 Siletzkys Versuch, die Menschlichkeit und die nationalsozialistische Ideologie argumentativ unter Beweis zu stellen, begründet er mit dem Ziel, eine glückliche Welt schaffen zu wollen. Inklusions- und Exklusionsmechanismen die auf Religion, politischer Meinung, nationaler Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung beruhen, lässt er aber außer Acht. Erst Maria Tura spricht implizit die Opfer dieser Mechanismen an. Siletzky geht darauf nicht weiter ein sondern betont seine eigene Harmlosigkeit. Paradoxerweise wird dies durch einen negierten Deklarativsatz umgesetzt, der - analog zur rhetorischen Frage - im Gegenteil der implizierten Antwort resultiert. In Siletzkys Monolog wird mit Aussagesätzen gearbeitet, die als Verkehrung der von Shylock gebrauchten rhetorischen Frage zu betrachten sind. Gelingt es Shylock/ Greenberg durch den Gebrauch der rhetorischen Frage, die Anerkennung seiner Menschlichkeit zu erwirken, so muss Siletzkys Versuch, auf seine Menschlichkeit durch die bloße Behauptung derselben zu bestehen, scheitern, begründet er diese doch hauptsächlich mit seiner Erscheinung und seiner hedonistischen Genussfreudigkeit. Durch seine Argumentation belegt er, das zu sein, was er abstreitet zu sein: ein Monster, brutal und unmenschlich. Gerade durch die Qualifizierung der nicht steigerbaren Kategorie ‚human‘ durch das Wort ‚very‘ - womit er seine Schwäche und sein Begehren für Maria Tura anspricht - wird seine Unmenschlichkeit festgeschrieben. Shylock hingegen, dessen Konzept der Menschlichkeit gekennzeichnet ist durch seine erleidende und eher passive Natur, rückt seine eigene Verletzlichkeit in den Vordergrund. Wie Poague argumentiert, leitet sich die Attraktivität der Shylock-Rolle aus ihrer Bedeutung her. Shylocks ‚vision of the world‘ wird von den Schauspielern geteilt, indem sie den Rialto-Monolog in ihre letzte ‚Aufführung‘ im Teatr Polski miteinbeziehen, die bedeutsamerweise von den Nationalsozialisten nicht erkannt wird. 72 Vor allem die dritte Shylockszene legt einen Vergleich mit der Funktion des Stücks im Stück in Hamlet nahe. Hamlet lässt von einer vorbeifahrenden Theatergruppe das Stück The Murder of Gonzaga aufführen, in das er selbst noch eingreift. In Shakespeares Stück ist es Hamlets Ziel, während der Aufführung - die in fiktionalisierter Form die Ermordung seines Vaters darstellt - seinen Onkel im Wiedererkennen seiner eigenen Taten seine Fassung verlieren zu lassen. Somit will er bewirken, dass er sich als Mörder verrät bzw. sich zu seiner Schuld bekennt. Hier ist jedoch ein zentraler Unterschied zwischen der Funktion des Stücks im Stück in Hamlet und in To Be or Not to Be festzustellen: Während Hamlet im Versuch die Aussagen des väterlichen Geistes zu authentifizieren ein Schuldeingeständnis provozieren will, ist den Schauspielern nicht an einem Schuldeingeständnis gelegen. Für sie und die Zuschauer steht die Schuld der Nationalsozialisten fest, die „without a word of warning“ 73 71 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 39: 45. 72 Poague, The Cinema of Ernst Lubitsch, S. 88. 73 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 20: 20. <?page no="80"?> Johanna Hartmann 80 Polen angegriffen und besetzt haben. Vielmehr ist es das Anliegen der Schauspieler, auf eine gegenwärtige Situation zu reagieren und die Flucht aus Polen zu ermöglichen. Während Hamlet von seinem Vater Rache aufgetragen wird, wird in der dritten Shylockszene vielmehr das theoretische Recht darauf begründet. Vor allem in dieser dritten Shylockszene werden die intertextuellen Bezüge zu Hamlet und The Merchant of Venice bedeutungskonstitutiv zueinander in Beziehung gesetzt. Der Film To Be or Not to Be fragt zentral nach den Aufgaben und Funktionen von Kunst und der Verantwortung von Individuen innerhalb einer Gesellschaft. Persönliche Verantwortung und die individuellen Entscheidungen nach dem Sein oder Nicht-Sein, dem Wie-Sein oder Wie-Nicht-Sein determinieren die Bedeutungsebenen des filmischen Textes. Gerade aufgrund der Komplexität der Handlungsstrukturen, die durch die Integration verschiedener Intertexte weiteren Bedeutungsdimensionen zugeordnet werden, der vernetzten Figurenkonstellationen, Themen und Motive ist der Film so bedeutsam. Er ist weiterhin ein Meisterwerk an Wortwitz, das Lubitsch auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens produziert hat. Nicht nur diese Aspekte machen To Be or Not to Be zu einem Filmklassiker, sondern auch seine ästhetische Komplexität und das ethische Potenzial des Films. To Be or Not to Be kann als Beispiel für den engagiert-politischen Film betrachtet werden, der jenseits der fiktionalisierten Darstellung des NS-Regimes immer auch ein Film über Schauspieler, deren Eitelkeit und Ruhmsucht bleibt. Der Film setzt Ethik und Ästhetik in bedeutungsstiftende Beziehungen, aus denen sich auch heute noch die Anziehungskraft des Films erklärt. Dies drückt Greenberg in der Eröffnungsszene paradigmatisch für den ganzen Film aus wenn er sagt: „A laugh is nothing to be sneezed at.“ 74 74 Lubitsch, To Be or Not to Be, 00: 05: 05. VI. Schluss <?page no="81"?> Ernst Lubitsch, To Be or Not to Be 81 Filmographie To Be or Not to Be. Produktion: Alexander Korda, Ernst Lubitsch., USA, 1942. Regie: Ernst Lubitsch. Drehbuch: Erwin Justus Mayer, basierend auf dem Stück Noch ist Polen nicht verloren von Melchior Lengyel. Kamera: Rudolph Maté. Musik: Werner R. Heymann. Darsteller: Jack Benny (Josef Tura), Carole Lombard (Maria Tura), Robert Stack (Stanislav Sobinski), Felix Bressart (Greenberg), Lionel Atwill (Rawitch), Stanley Ridges (Professor Siletzky), Sig Ruman (Colonel Ehrhardt), Tom Dugan (Bronski), Charles Halton (Dobosh). Bibliographie „Gestapo Satire. Spott mit Entsetzen“. In: Der Spiegel, 27 (1960), S. 65. (http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ print/ d-43066140.html.) Ackermann, Zeno u. Sabine Schülting (Hg.), Shylock nach dem Holocaust. Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur. Berlin 2011. Baron, Anne-Marie, The Shoah on Screen. Strasbourg 2006. Biskupski, Mieczysław B., Hollywood’s War with Poland, 1939-1945. Lexington, KY 2010. Braudy, Leo, „The Double Detachment of Ernst Lubitsch“. MLN, 98 (1983), S. 1071-1084. Butler, Ivan, The War Film. 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In diesem Rahmen sehen Kritiker nicht nur Neo-Western - wie die Serie Deadwood (2004-2006) oder Ang Lees Brokeback Mountain (2005) - als kontextspezifische Modifikationen etablierter Erzähl- und Imaginationsformen, sondern diskutieren auch klassische Western wie Howard Hawks’ Red River (1948) oder Sam Penkinpahs The Wild Bunch (1969) als Aushandlungsforen für komplexe gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Themen, als Reflexion des amerikanischen nation building, aber auch des gesellschaftlichen Unbehagens sowie politischer und kultureller Krisen, oft in Rückgriff auf mythologische Archetypen. 1 Hier spielen die Western von John Ford und insbesondere The Searchers eine herausragende Rolle. Als der Film 1956 in die Kinos kam, war er nur bedingt erfolgreich, 2 die Besprechungen zurückhaltend. 3 Das hat sich grundsätzlich geändert; The Searchers wurde u.a. mit Joseph Conrads Heart of Darkness verglichen, 4 und ein Filmkritiker geht gar so weit zu konstatieren, dass, wenn Ernest Hemingway in Mark Twains Huckleberry Finn den Ursprung der modernen amerikanischen Literatur sehe, der Ursprung des modernen amerikanischen Films in John Fords The Searchers liege. 5 Ästhetisch hat The Searchers einen weitreichenden Einfluss ausgeübt, u.a. auf Regisseure wie George Lucas, Martin Scorsese oder Steven Spielberg. 6 Aber die Wirkung des Filmes geht über die erzählerischen und ästhetischen Aspekte des Mediums weit hinaus. Für den politischen Philosophen Robert Pippin stellen Western wie The Searchers die grundsätzliche Frage nach den Möglichkeiten des Politischen und nach seiner Rolle für das amerikanische Selbstverständnis, gar nach seinem ‚Kern‘: „The great Hollywood Westerns present in a recognizably mythic form dimensions of an American self-understanding of great relevance to the question of the nature of the political in the American imaginary.“ 7 In diesem Verständnis können Western - über ihre Inszenierung zeitgenössischer, auf den ‚Wilden Westen‘ nur projizierter Konflikte - einen Beitrag zur politischen Philosophie leisten. Pippin macht dies gleich zu Begin seiner Studie deutlich, wenn er Fords Stage- 1 Siehe z.B. Winkler, „Tragic Features“; Pippin, Hollywood Westerns. 2 Vgl. Frankel, The Searchers, S. 7. 3 Vgl. Eckstein, „Introduction“, S. 33. 4 Vgl. Pippin, Hollywood Westerns, S. 109. 5 Vgl. Stuart Byron zit. in Frankel, The Searchers, S. 7. 6 Vgl. Henderson, „American Dilemma“, S. 47. 7 Pippin, Hollywood Westerns, S. 141. John Ford, The Searchers <?page no="84"?> Katja Sarkowsky 84 coach (1939) durch seine archetypische Figurenkonstellation die Frage stellen sieht: „can such a collection of people, without much common tradition of history, without much of what has been seen as the social conditions of nationhood, become in some way or other a unity capable of something greater than the sum of its parts? “ 8 Die Einheit, die Pippin hier meint, ist nicht so sehr die bloße Kooperation von Individuen, sondern die Konstitution einer politischen Einheit, die sowohl Ergebnis von Willen und Handlung ist, als auch dann die Grundlage für gemeinsames, gar gemeinschaftliches Handeln. Im Folgenden möchte ich Pippins Überlegungen zum Western allgemein und zu The Searchers im Besonderen als Ausgangspunkt nehmen, den Film als eine Form des Nachdenkens über Gemeinschaftskonstitution und über das Verhältnis von Gemeinschaftsbildung und Gesellschaft zu diskutieren. Dabei stellt der Film Gemeinschaft und Gesellschaft nicht einander gegenüber; vielmehr ist die Gemeinschaft die Basis für Gesellschaft und beruht ihrerseits in The Searchers auf der Familie als kleinster Einheit. Wer zur Familie gehört, als ‚verwandt‘ angesehen wird und auf welcher Basis, wird als zentrale Frage unterschiedlicher Modelle von ‚Gemeinschaft‘ im Film ausgehandelt. Im deutschen Sprachgebrauch schwingt bei dem Konzept der Gemeinschaft historisch Ferdinand Tönnies’ Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft mit: 9 Gemeinschaft als ein Begriff der „vollkommenen Einheit menschlichen Willens als einem ursprünglichen oder natürlichen Zustand“, einer Gemeinsamkeit durch „Abstammung oder Geschlecht“ 10 steht bei Tönnies die Gesellschaft als einem „Kreis von Menschen, welche, wie in der Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, nicht aber wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind“ 11 gegenüber. Und auch wenn sich dieser Gebrauch immer wieder verändert hat, so erscheint doch, wie Hartmut Rosa et al. argumentiert haben, „im semantischen Speicher der Gegenwartsgesellschaft [...] Gemeinschaft oftmals als Element, das von der Moderne verdrängt, ausgelöscht, verhindert oder verbannt wurde“, 12 als eine vormoderne und vorpolitische, als eine quasi ‚natürliche‘ Sozialisationsform einer modernen, ‚abstrakten‘ Form menschlicher Organisation des Zusammenlebens - eben der Gesellschaft - gegenübergestellt. Allerdings stehen sich, wie Hans Joas hervorhebt, im amerikanischen Sprachgebrauch Gemeinschaft und Gesellschaft nicht in der gleichen Weise gegenüber wie im deutschen, insbesondere weil der Begriff der community ein wesentlich breiteres 8 Pippin, Hollywood Westerns, S. 4. 9 Inklusive ihrer fatalen, von Tönnies nie beabsichtigten Radikalisierung im Konzept der ‚völkischen Gemeinschaft‘, siehe Rosa, Gertenbach, u.a., Theorien der Gemeinschaft, S. 43. 10 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 8. 11 Ebd., S. 40. 12 Rosa, Gertenbach, u.a., Theorien der Gemeinschaft, S. 9-10. I. Gemeinschaft, Gesellschaft und Hybridität in The Searchers <?page no="85"?> John Ford, The Searchers 85 Spektrum möglicher Vergemeinschaftungsformen umfasst. 13 Darüber hinaus ist im amerikanischen Kontext die Gemeinschaft in der Moderne nicht nur eingebunden in ein Narrativ des Verlustes, sondern „auf den Gemeinschaftsverlust folgt in dieser Perspektive - zumindest potentiell - die Entstehung neuer Gemeinschaften“. 14 In der republikanischen Tradition der USA wird Gemeinschaft somit „nicht als vorpolitisch vorausgesetzt: Gemeinschaft ist nicht die durch Natur oder Kultur immer schon vorgegebene Grundlage des politischen Handelns, sondern dessen Ergebnis. Gemeinschaft entsteht durch gemeinsames politisches Handeln“. 15 Western wie die Fords oder Hawks’ stellen hier nicht so sehr Gemeinschaftsbildung als solche dar, als sie vielmehr als kulturelle Aushandlungsforen für die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen dienen und so - wie literarische Texte auch - als eine Art der gesellschaftlichen Praxis gesehen werden können. Wie in Stagecoach findet auch in The Searchers diese Aushandlung über die Zeichnung der einzelnen Figuren und der erzählerischen und visuellen Inszenierung ihrer Beziehung zueinander statt. Allerdings geschieht dies auf wesentlich komplexere Weise in The Searchers; stehen sich mit den zentralen Figuren in Stagecoach Personen gegenüber, die vor allem in ihrer gesellschaftlichen Respektabilität divergieren (die wiederum im Film konsequent seziert und demontiert wird), so spiegelt das Ensemble in The Searchers zum einen die demographische Heterogenität des texanischen Grenzlandes nach dem Bürgerkrieg wider, zum anderen setzt es die Figuren in komplexe und auch widersprüchliche Beziehungen zueinander. Diese teils unversöhnlichen Gegensätze sind zentral für die Art und Weise, wie der Film Fragen der Gemeinschaftskonstitution und deren Verhältnis zu Gesellschaft und Nation aushandelt. Dabei spielt Ethan Edwards natürlich eine entscheidende Rolle; er ist mit Abstand die komplexeste und auch irritierendste Figur des Filmes: als ehemaliger Offizier der Konföderation, (vermutlich) Söldner der mexikanischen Kaisers Maximilian, (vermutlich) gesuchter Verbrecher, offensichtlicher Rassist, Leichenschänder und potentieller Mörder seiner Nichte, angetrieben von der Liebe zu seiner Schwägerin und seinem Hass auf die Indianer, denen er gleichzeitig ähnlich erscheint, steht Ethan für ein zutiefst problematisches Wertesystem von Ehre, Rache und Blutverwandtschaft, das im Verlaufe des Films dekonstruiert wird. Seinem Antagonisten, dem Komantschenhäuptling Scar, kommt hier eine wichtige Funktion zu, die vielfach als die eines alter ego diskutiert wird. So schreibt Pippin: Scar [...] sometimes seems another part of Ethan’s character, his alter ego, that part of him we need to understand to understand him. [...] They are in fact mirror or twinned characters in many ways. They are both on ferocious revenge quests; Ethan wants to do to Scar what he imagines Scar did to him, steal and kill his ‘woman’; and they both seem hybrid characters. 16 13 Vgl. Joas, „Gemeinschaft und Demokratie“, S. 50. 14 Ebd., S. 54f. 15 Rosa, Gertenbach, u.a., Theorien der Gemeinschaft, S. 114. 16 Pippin, Hollywood Westerns, S. 121-122. <?page no="86"?> Katja Sarkowsky 86 Diese Verknüpfung der beiden Charaktere sowie das Wissen beider Kontrahenten um die kulturellen Praktiken und Eigenheiten der Gesellschaft des jeweils anderen (deutlicher und auch visuell ausgeprägt bei Ethan) macht beide zu den, wie Pippin sie nennt, hybriden Charakteren. Standen zumeist entweder Ethan Edwards oder aber die Spiegelfunktion der beiden Antagonisten und damit auch die Rolle des ‚indigenen Anderen‘ im Mittelpunkt der kritischen Auseinandersetzung, so möchte ich mich im Kontext dieses Beitrags auf zwei Figuren konzentrieren, die in den meisten Diskussionen verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erhalten: Martin Pawley, Adoptivsohn von Ethans Bruder Aaron und dessen Frau Martha, und Debbie Edwards, Ethans entführte Nichte. Zusammen mit Ethan Edwards und Scar formen sie eine Figurenkonstellation, ein komplexes Netz von Verwandtschafts- und Adoptionsbeziehungen, mit Hilfe derer der Film Gemeinschaftskonstitution in historischen und gegenwärtigen Kontexten kultureller und ethnischer Hybridität und Pluralität aushandelt. Martin und Debbie sind zwar, wie auch Ethan und Scar, Standardfiguren des Westernensembles: der Side-Kick des Helden und die zu rettende Frau sind eine notwendige Ergänzung des einsamen Helden und seines Gegenspielers, Figuren, die den Konflikt der Protagonisten schärfer hervortreten lassen. In The Searchers jedoch, so möchte ich argumentieren, sind diese beiden Figuren darüber hinaus zentraler dafür, wie in dem Film die Möglichkeiten von Gemeinschaft ausgehandelt werden, als es zunächst den Anschein hat: Sie dienen als eine Art ‚zivilisatorische Matrix‘ gegenüber den beiden Antagonisten Ethan und Scar (sowie Teilen der weißen Siedlergesellschaft), über die mit Hilfe des Prinzips der ‚Verwandtschaft‘, die keine Blutsverwandtschaft ist, Alternativen zu der Frontierlogik der Rache, der sowohl Ethan als auch Scar gehorchen, aufgezeigt werden. Sowohl Martin als auch Debbie werden dabei als Charaktere gezeichnet, die auf unterschiedliche Weise indigene und weiße Siedlerelemente in sich vereinen: Martin ist - im Gegensatz zu Romanvorlage - teilweise indianischer Abstammung; und Debbie bezeichnet in ihrer ersten Wiederbegegnung mit Martin nach Jahren des Lebens bei den Komantschen diese als ‚my people‘, ist also offensichtlich integriert. Den beiden hybriden, gewalttätigen Gegenspielern Ethan und Scar stehen somit zwei ebenfalls hybride Charaktere gegenüber, deren Identitäten auf die Möglichkeiten friedlicher Koexistenz verweisen, und die damit auch dem Rassismus, wie er nicht nur von Ethan vertreten wird, sondern sich mit Laurie auch im Herzen der Siedlergemeinschaft findet, eine das Konstrukt der ‚Rasse‘ dekonstruierende Haltung entgegensetzen. Anhand dieser Figuren wird, so mein Argument, eine Verschiebung im Verständnis von der Familie als auf Blutsverwandtschaft basierende Gemeinschaft hin zu Familie als einer Wahlverwandtschaft der Fürsorge inszeniert; diese Verschiebung ist nicht vollständig und bleibt von Ambivalenzen gekennzeichnet. Nahegelegt wird im Film aber eine Übertragung von der Familie als einer ‚Kerngemeinschaft‘ im Sinne Tönnies (auch wenn sie eben nicht auf Blutsverwandtschaft basiert) auf die Gesellschaft als Ganze, bzw. auf die Nation. Insofern werden über die Vielschichtigkeit der jeweiligen Figuren- und Beziehungsdarstellung hinaus zentrale Konflikte und Projektionen im amerikanischen Selbstverständnis und für die Möglichkeiten von Gemeinschaftsbildung nicht nur historisch mit Blick auf die <?page no="87"?> John Ford, The Searchers 87 Zeit nach dem Bürgerkrieg, in der der Film spielt, ausgehandelt, sondern auch - wie insbesondere Brian Henderson argumentiert hat - zeitgenössisch, also mit Bezug auf die 1950er Jahre in den USA. 17 Diese Ebenen hängen, wie zu zeigen sein wird, eng miteinander zusammen, und beziehen sich erzählerisch und ikonographisch auf etablierte Erzählmuster - insbesondere das der Indian captivity narrative - die sich bis in die amerikanische Kolonialzeit zurückverfolgen lassen und die ihre spezielle Ausformung in den verschiedenen Facetten des Frontier-Mythos fanden. Zentral hier ist natürlich die Grenzziehung zwischen ‚Zivilisation‘ und ‚Barbarei‘ und die eng damit verknüpfte Alterität von ‚Weißen‘ und ‚Indianern‘, 18 die Vorstellung von Gemeinschaft maßgeblich prägt, die aber im Film auch immer wieder in Frage gestellt wird. Die Handlung des Filmes erscheint auf den ersten Blick einfach: Drei Jahre nach Ende des amerikanischen Bürgerkriegs kehrt der Veteran Ethan Edwards zur Ranch seines Bruders Aaron und dessen Frau Martha nach Texas zurück. Als die Rinder eines Nachbarn gestohlen werden, schließt sich Ethan an Stelle seines Bruders dem Suchtrupp an; bald stellt sich allerdings heraus, dass der Diebstahl ein Ablenkungsmanöver der Komantschen war und nur dazu führen sollte, dass die Ranchen schutzlos zurück gelassen werden: Als die Gruppe zurückkehrt ist das Edwardsche Haus niedergebrannt, Aaron und sein Sohn getötet, Martha vergewaltigt und umgebracht, die beiden Töchter entführt, die ältere, Lucy, wird bald ebenfalls getötet aufgefunden. Ethan begibt sich nun auf eine jahrelange Suche nach der überlebenden Nichte, Debbie, die mittlerweile, so Ethans Interpretation, eine der Frauen des Komantschen ‚Scar‘ (dem Mörder ihrer Familie und ihr Entführer) geworden ist - was dazu führt, dass Ethan sie nach einiger Zeit nicht mehr zurückholen, sondern sie stattdessen töten will. Ethan wird auf der Suche begleitet von Martin Pawley, dem Adoptivsohn Marthas und Aarons, der im Verlauf der Suche immer deutlicher auch zum Beschützer Debbies vor ihrem Onkel wird. Besessen von seiner Rachsucht und seinem Hass kann dieser erst, nachdem er den bereits toten Scar skalpiert hat, von der Überzeugung ablassen, dass für seine Nichte der Tod besser sei als ein - aus seiner Sicht - durch sexuellen Umgang mit einem Indianer ‚kontaminiertes‘ Leben, und mit ihr ‚nach Hause‘ reiten. Auf den ersten Blick erscheint der Film als eine Umsetzung einer klassischen Indian captivity narrative, also Erzählungen von der Entführung weißer Siedler - oft, aber nicht immer Frauen - durch feindliche Indianer. Weitgehend unabhängig von den 17 Vgl. Henderson, „American Dilemma“, S. 65-72. 18 ‚Indianer‘ ist aus unterschiedlichen Gründen problematisch als eine Bezeichnung für die indigene Bevölkerung Nordamerikas. In Anlehnung an Hartmut Lutz’ analytische Unterscheidung, der entsprechend ‚Indianer‘ den Begriff für historisch zu kontextualisierende kulturelle Projektionen und ‚Native Americans‘ die Sammelbezeichnung für die kulturell heterogenen indigenen Gruppen Nordamerikas darstellt (Lutz, „Indianer“ und „Native Americans“, S. 2-3), wird in diesem Beitrag weitgehend von ‚Indianern‘ als kultureller Konstruktion die Rede sein. II. The Searchers als Indian captivity narrative <?page no="88"?> Katja Sarkowsky 88 komplexen historischen Realitäten (insbesondere im Südwesten der USA) 19 ist die Indian captivity narrative ein etabliertes Genre mit zumeist klaren Erzählmustern im Spannungsfeld von Zivilisation und Barbarei; in seiner hegemonialen Form - oder, wie Pauline Turner Strong es mit Raymond Williams nennt, in seiner ‚selektiven Tradition‘ 20 - folgt der Entführung und der Ermordung der Familie die Leidensgeschichte bei den Indianern, die häufig durch die ständige Notwendigkeit der Verteidigung der eigenen Zivilisiertheit in der vermeintlich ‚wilden‘ Umgebung gekennzeichnet ist. Das Grundmuster dieses Genres beschließt die Geschichte mit der Befreiung der Gefangenen und der Rückkehr in die Zivilisation, also die weiße Gesellschaft, gelegentlich auch mit der Integration der Gefangenen in die indigene Gesellschaft oder aber deren Tod. 21 Für Strong ist diese Tradition im Kontext der Entwicklung einer amerikanischen Selbsterzählung mit starker ideologischer Wirkmäch tigkeit zu sehen: In a selective tradition that dates to the seventeenth century, Anglo-American identity is represented as the product of struggles in and against the wild: struggles of a collective Self surrounded by a threatening but enticing wilderness, a Self that seeks to domesticate this wilderness as well as the savagery within itself, and that opposes itself to Others portrayed as savage, bestial, demonic, and seductive […]. 22 Das Ringen mit der ‚Wildnis‘ als äußeres wie inneres und die Projektion des ‚Wilden‘ auf die indigene Bevölkerung ist ein Aspekt der captivity narrative, der noch über die Plotstruktur hinaus The Searchers mit diesem literarischen Genre verbindet. Der früheste vollständige Text dieses Genres ist A Narrative of the Captivity and Restoration of Mrs. Mary Rowlandson von 1682; er enthält bereits alle strukturellen Elemente, die im Folgenden als Merkmale der captivity narrative gelten sollten 23 und wurde umgehend ein Bestseller, dem viele Varianten des Themas folgten. Allerdings entwickelten sich im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausprägungen des Genres, die Integrations- und Transkulturationsprozesse durchaus auch thematisierten: Einige der späteren Texte, wie beispielsweise Seavers A Narrative of the Life of Mary Jemison von 1823, enden nicht mit der Rückkehr der Entführten, sondern mit deren selbstgewähltem Verbleib in der indianischen Gesellschaft. Letzterer Aspekt stellte - insbesondere mit Blick auf Frauen als Verkörperung nationaler Kultur und Zivilisation - die Naturalisierung der Hierarchien und die Grenzen zwischen angloamerikanischer und indigenen Kulturen in Frage; insbesondere das Tabu der ‚Vermischung‘ von ‚Rassen‘ ist ein Gesichtspunkt, der sich für die Analyse von Fords Film und die Art und Weise, wie er Gesellschaft und Gemeinschaft aushandelt, als wichtig erweisen wird: Zentral für Ethan Edwards und für andere Mitglieder der Siedlergemeinschaft ist jede Vermeidung intimer Kontakte mit den Indianern; dies betrifft eben nicht nur dessen erzwungene Form, die Vergewaltigung, sondern auch die (in der Frontierlogik ideologisch undenkbare) freiwillige ‚Hingabe‘ oder gar ethnien- 19 Siehe hierzu Brooks, „Borderland History“, S. 270-280. 20 Strong, Captive Selves, S. 1. 21 Vgl. Derounian-Stodola, „Introduction“, S. xi. 22 Strong, Captive Selves, S. 1. 23 Vgl. Derounian-Stodola, The Indian Captivity Narrative, S. 94. - <?page no="89"?> John Ford, The Searchers 89 übergreifende Familiengründung. Figuren wie Martin Pawley und Debbie Edwards stehen dieser rassenpuristischen Auffassung als Verkörperung anderer, komplexerer und heterogenerer Realitäten entgegen. Der Film The Searchers basiert auf dem Roman gleichen Titels von Alan LeMay, der 1954 publiziert worden war und der sich seinerseits lose auf die Geschichte von Cynthia Ann Parker stützt, die 1836 in Texas als kleines Mädchen von den Komantschen entführt worden war, als junge Frau dann ihren Entführer heiratete und mit ihm mehrere Kinder hatte. 24 Sie wurde 20 Jahre später gegen ihren ausdrücklichen Willen ‚nach Hause‘ geholt, fand sich aber nicht mehr in der weißen Siedlergesellschaft zurecht und starb nicht lange nach ihrer Rückkehr. 25 Film wie Buch folgen strukturell dem Muster der captivity narrative, auch wenn in dieser Hinsicht LeMays Roman offener endet als Fords Film: Während bei Ford die Rückkehr der entführten Debbie nach fünf (manche Kritiker bestehen auf sieben) Jahren zelebriert wird (nicht ohne Ambivalenzen, wie noch zu sehen sein wird), endet die Romanvorlage damit, dass Martin die sowohl vor den Komantschen als auch der U.S.-Kavallerie fliehende Debbie halb erfroren in der Wildnis findet; aus der Zweierkonstellation der wiedervereinten (Stief-)Geschwister im Roman macht der Film Debbies Rückkehr in die Siedlergemeinschaft. Trotz dieser Parallelen ist der Film nicht als eine Romanverfilmung oder als Nacherzählung eines historischen Ereignisses zu verstehen; vielmehr bedient sich Ford offensichtlich eines Erzählmusters, das zwar zunächst - ganz auch im Kontext des Western-Genres - eine klare Einteilung in zivilisiert/ barbarisch entlang ethnischer Linien suggeriert, dann aber diese vermeintlich klare Grenze zwischen den ‚guten‘ Siedlern und den ‚bösen‘ Komantschen hinterfragt und damit sowohl weitgehend dem Roman, als auch den zeitgenössischen Reaktionen auf den Fall von Cynthia Parker entgegensteht. Sowohl die Zeichnung der Charaktere als auch die Figurenkonstellation und die Darstellungen der Siedlergesellschaft sind von Beginn an ambivalent. Beides ist zentral für ein Verständnis des Filmes als Aushandlungsforum der Möglichkeit von Gemeinschaftsbildung und Gesellschaftskonstitution: Zum einen werden hier die komplexe Konstruktion des und der Umgang mit dem kulturellen ‚Anderen‘ als Strategien der individuellen und kollektiven Selbstkonstitution ausgelotet, zum anderen präsentiert gerade der Film nicht nur mit Ethan Edwards und Scar, sondern auch mit Martin Pawley und Debbie Figuren, die als Verkörperung einer zutiefst widersprüchlichen Hybridität verstanden werden können und anhand deren Rolle im Film sich unterschiedliche Auffassungen von ‚Gemeinschaft‘ aufzeigen lassen. 24 Die Figur des Scar im Film wird dabei oft als auf Parkers Sohn, Quanah Parker, basierend verstanden (Soliz, „The Searchers and the Navajos“, S. 78), der als ein wichtiger Komantschenanführer Widerstand gegen die weiße Besiedlung leistete und später zu einer zentralen Vermittlerfigur zwischen den Komantschen und den Amerikanern wurde (Frankel, The Searchers, S. 4- 5; für eine ausführliche Diskussion Quanah Parkers siehe Frankel, The Searchers, S. 91-182) 25 Vgl. Frankel, The Searchers, S. 64. <?page no="90"?> Katja Sarkowsky 90 The Searchers inszeniert einen Konflikt zwischen zwei Auffassungen von Gemeinschaft: organisch vs. politisch. Für beide bildet die Familie zunächst die Basis; die Siedlergemeinschaft im Texas der Jahre nach dem Bürgerkrieg ist in Familieneinheiten organisiert. Damit ist allerdings die Frage, was denn Verwandtschaft und Familie konstituiere, zentral, und hier gehen die Entwürfe weit auseinander. Ethan Edwards vertritt über lange Strecken ein Verständnis von Familie und Gemeinschaft als organisch, das an die ‚völkische‘ Radikalisierung von Tönnies’ Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft erinnert. Eine Auffassung von Blutsverwandtschaft als ‚Kern‘ der Gemeinschaft wird von Ethan als ganz selbstverständlich vertreten, wenn er z.B. Martin entgegen dessen Selbstverständnis vehement nicht als Bruder der entführten Debbie sehen kann. Als Martin darauf besteht weiter nach Debbie zu suchen, entspinnt sich folgender Wortwechsel: Ethan: „Why? “ Martin: „Why? Because she’s my she’s my...“ Ethan: „She’s your nothin. She’s no kin to you at all.“ Martin: „Well, I always thought she was; the way her folks took me in and all, they raised me...“ Ethan: „That don’t make you no kin“ 26 Ethan bleibt bis zum Ende des Filmes bei dieser Auffassung; sein Entschluss, Debbie nicht zu töten, sondern nach Hause zu bringen, kann - nicht ohne Ironie - als Bestätigung dieser Auffassung gesehen werden: sie ist trotz der zwischenzeitlichen Solidarisierung mit den Komantschen und trotz der rhetorischen Aufkündigung der Blutverwandtschaft (! ) und Enterbung durch Ethan immer noch verwandt und daher Teil einer Gemeinschaft, in der Solidarität auf Basis gemeinsamer Abstammung gewährt wird. Wie sehr schnell in The Searchers deutlich wird, ist allerdings dieses Verständnis von Familie und Gemeinschaft als auf Blutsverwandtschaft basierend den komplexen Realitäten der Frontiergesellschaft im Texas der 1860er Jahre nicht angemessen: So wird z.B. Martin Pawly nach dem Tod seiner Eltern von den Edwards adoptiert und wächst, unabhängig von seiner teilweise indigenen Abstammung, ganz selbstverständlich als ihr Sohn auf; Debbie wird, wie viele der überlebenden captives, in die Sozialstruktur der Komantschen integriert, die sie schließlich selbst als ‚my people‘ bezeichnet. James Brooks hat die konfligierenden Auffassungen von Verwandtschaft als zentral für den Film bezeichnet; dessen Dilemma sei „the relative power of blood descent vs. affinal ties and fictive kinship in the creation of family boundaries and responsibilities“. 27 In den Charakteren Martin und Debbie schlägt sich ein Verständnis von Familie und Verwandtschaft nieder, das die komplexen Konstellationen der 26 Ford, The Searchers, 00: 48: 14-00: 48: 25. 27 Brooks, „Borderland History“, S. 268. III. Wahl- und andere Verwandtschaften: Gemeinschaft als Ursprung und Gemeinschaft als Ergebnis von Solidarität <?page no="91"?> John Ford, The Searchers 91 Frontiergesellschaft reflektiert, in denen - um es nochmals mit Rosa et al. zu sagen - „Gemeinschaft [...] nicht die durch Natur oder Kultur immer schon vorgegebene Grundlage des politischen Handelns [ist], sondern dessen Ergebnis“; 28 analog dazu sind auch Verwandtschaft und Familie Ergebnis, nicht Grundlage gemeinsamen Handelns. Es ist diese Auffassung, auf der auch das Ende des Filmes beharrt, zumindest auf den ersten Blick. Pippin hebt dies hervor, wenn er schreibt: [O]ne could say that what the searchers have been searching for is not just Debbie, but ‘home’, or even the meaning of home, kinship, some form of belonging together. And it does at first glance look as if Ethan represents an archaic, even primitive reliance on race, blood, and ethnicity to establish such a home, and Martin seems the ‘modern’ or even ‘American’ hope - that race and ethnicity might eventually fade as markers of community. 29 Auf Pippins Skepsis, was ein hoffnungsvolles ‚amerikanisches‘ Szenario angeht, wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein. Wichtig ist zunächst Martins Funktion als Verkörperung einer modernen Auffassung von Familie und Gemeinschaft. Hybriditäten des Grenzlandes I: Martin Pawly Martin steht mit seiner ethnisch hybriden Identität für ein Modell von Gemeinschaft, die durch Praxis hergestellt wird und die als solche gelingen oder misslingen kann, unabhängig von der Blutsverwandtschaft, die für Ethan so essentiell ist. Dieses Modell bestätigt Martin immer wieder durch sein Handeln, das zwar auf der Ebene des Filmplots Debbie gilt, symbolisch aber als Gegenpol zu Ethan fungiert. So besteht er kurz vor dem Angriff der Texas Ranger und der Kavallerie auf das Komantschendorf, in dem sich die nun erwachsene Debbie befindet, darauf, zuvor versuchen zu dürfen, Debbie zu befreien; anders als die anderen - insbesondere Ethan - ist er nicht bereit, ihren Tod bei dem Angriff in Kauf zu nehmen. Als Ethan ihn darauf hinweist, dass einer der Skalpe, die sie zuvor im Lager Scars vorgeführt bekamen, der seiner Mutter gewesen sei, stutzt er nur kurz und ruft dann: „That don’t change it. That don’t change nothing! “, 30 um dann auf seinem Plan zu beharren. Ethans Versuch, Martin von seinen Rettungsabsichten abzubringen, indem er an Rachegefühle für dessen ermordete Mutter appelliert, läuft ins Leere; für Martin ist die Adoptionsverwandtschaft zu Debbie und die Solidarität ihr gegenüber realer als die gegenüber seiner leiblichen Mutter, an die er sich nicht erinnert. Rache hingegen wird zu keinem Zeitpunkt als eine Motivation für Martin auch nur angedeutet, ganz im Gegensatz zu Ethan. Die Gegenüberstellung des fürsorglichen Martin und des rachsüchtigen Ethan in dieser und anderen Szenen kann im Kontext alternativer Männlichkeitsentwürfe gelesen werden, wie dies beispielsweise Cristine Soliz und Brian Henderson getan haben. Für Soliz dient Martin als „reciprocal foil, and eventual successor to, and symbolic vanquisher of, Ethan’s brand of 28 Rosa, Gertenbach, u.a., Theorien der Gemeinschaft, S. 114. 29 Pippin, Hollywood Westerns, S. 136. 30 Ford, The Searchers, 01: 45: 40. <?page no="92"?> Katja Sarkowsky 92 maleness“, 31 und sie stellt dabei die immer wieder hergestellte Nähe Martins zu indigenen Kulturen im Vordergrund. Seine wiederkehrende Inszenierung als Indianer durch seine Kleidung, seinen Reitstil etc., insbesondere bei seiner Ankunft im Hause der Edwards zu Beginn des Filmes 32 macht ihn für Soliz zu einem ‚indianischen Gegenmodell‘ hegemonialer anglo-amerikanischer Maskulinität. Abb. 1: Martins Ankunft Auch Henderson sieht in Martin die Verkörperung eines alternativen Männlichkeitsmodells in Kombination mit seiner Inszenierung als Indianer, setzt aber den Schwerpunkt anders: für Henderson - wie für Soliz - fungiert Martin zwar (trotz seiner Hybridität) symbolisch als Indianer, aber als ein Indianer, der durch die Adoption ‚weiß‘ wurde. 33 Seine weiße Identität muss dabei im Verlaufe des Filmes immer wieder erneut unter Beweis gestellt werden, um die Ehe mit Laurie, einer weißen Frau, am Ende des Filmes zu rechtfertigen. 34 Diesen Gedanken weiter gedacht wäre somit die Familiengemeinschaft, die sich am Ende des Filmes mit der ‚Rückkehr‘ Debbies, mit der anstehenden Eheschließung Lauries und Martins sowie mit dem Ausschluss Ethans neu konstituiert, zwar eine durch Wahl und gemeinsames Handeln konstituierte Gemeinschaft, die der gemeinsamen Abstammung nicht bedarf, die aber dennoch auf symbolischer Ebene ethnisch homogen ist. Ethan ist zu sehr mit seinem Gegenspieler, dem Indianer, assoziiert, sprachlich und in Hinsicht auf sein kulturelles Wissen, und nicht zuletzt mit Blick auf die Spiegelungsfunktion von Ethan und Scar, beide getrieben von Hass und Rachsucht, als dass er an dieser teilhaben dürfte. 35 31 Soliz, „The Searchers and the Navajos“, S. 81. 32 Vgl. ebd., S. 84; Henderson, „American Dilemma“, S. 56; siehe Abb. 1. 33 Vgl. Henderson, „American Dilemma“, S. 52. 34 Vgl. ebd., S. 71. 35 Ethans endgültiger Akt der ‚Indianisierung‘ ist die Skalpierung Scars. Die Skalpierung eines Feindes, den er noch nicht einmal selbst getötet hat, markiert damit - durch die im Rahmen der Alteritätslogik der Frontier feststehende Assoziierung des Skalpierens mit den Indianern - nicht nur den Tiefpunkt moralischen Verhaltens, wie Winkler hervorhebt („Tragic“, S. 136- 137), auch wenn dieser Akt durchaus in einer Linie mit Ethans vorausgegangenen Leichenschändungen gesehen werden kann, die für Winkler Ethan in eine Tradition mit griechischen Helden wie Achilles stellen - Helden, die die Grenzen heroischen Verhaltens überschreiten <?page no="93"?> John Ford, The Searchers 93 Auch wenn ich die Auffassung teile, dass mit Ethan zumindest auch ein ‚indianisches Element‘ aus der Gemeinschaft am Ende des Filmes ausgeschlossen wird, so scheint mir der Prozess von Martins Eingliederung in eine letztendlich ethnisch homogene Gemeinschaft nicht so eindeutig. Zwar wird er immer ‚weißer‘, was die optischen Markierungen angeht, dies gilt allerdings nur für die Szenen in der Siedlergesellschaft, nicht in Szenen, in denen er sich tatsächlich unter Indianern befindet. So ist er mehrmals mit nacktem Oberkörper zu sehen, was sonst im Film visuell ausschließlich mit den Indianern assoziiert ist: so z.B. in der Sequenz mit der versehentlich gekauften Ehefrau ‚Look‘, 36 zum anderen in der bereits erwähnten Szene gegen Ende des Filmes, in der er sich in Scars Lager schleicht um Debbie zu retten. Martin erscheint im Verlauf des Filmes symbolisch sowohl als ‚weiß‘, als auch immer wieder als ‚indianisch‘ verortet; ich lese ihn somit als Verkörperung einer im Grenzland der frontier zwangsläufigen und auch in der Logik des Films gar zu befürwortenden Hybridität, die, um es mit Homi Bhabha zu sagen, sich der binären Gegenüberstellung ethnischer und kultureller Gruppen widersetzt 37 und somit das Potential hat, die starren ideologischen Grenzziehungen der Siedlergesellschaft in Frage zu stellen. Hybriditäten des Grenzlandes II: Debbie Edwards Aber nicht nur der hybride Martin wird am Ende des Filmes in die Siedlerfamilie integriert, sondern auch Debbie, die fünf (oder, je nach Lesart sieben) Jahre lang bei den Komantschen gelebt hat und sich zunächst als eine der ihren begreift. Debbie ist damit - neben Ethan, Scar und Martin - eine weitere Figur, die durch die Transkulturationsprozesse der Kontaktzone (Pratt) des amerikanischen Südwestens gekennzeichnet ist; die Parallele zu Martin, ihrem Bruder, ist offensichtlich: 38 Ist dieser als ‚Indianer‘ von einer weißen Familie adoptiert, so wird sie, als ‚Weiße‘, in die Komantschengemeinschaft integriert. Adoption ist in beiden Fällen eine der Blutsverwandtschaft gleichwertige Grundlage für die Gemeinschaftsbildung und die sich und sich außerhalb der Konventionen stellen (Winkler, „Tragic“, S. 127). Zum anderen ist er aber auch der Höhepunkt der strukturellen Parallelität von Scar und Ethan. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu der Romanvorlage, in der nicht nur Weiße ebenfalls skalpieren, sondern insbesondere auf Amos’ (wie Ethan bei LeMay heißt) Umgang mit dieser Praxis verwiesen wird: nachdem er seine Feinde skalpiert hat, wirft er deren Haarschopf verächtlich weg. Dies sei hier nur am Rande erwähnt, verdeutlicht diese Änderung gegenüber der Vorlage doch die Bedeutung des Skalpierens in dieser Szene als einer Grenze zwischen weißer ‚Zivilisation‘ und indianischer ‚Barbarei‘. 36 Look stirbt während eines Angriffs der Kavallerie auf ein Dorf von Komantschen. Ihr Tod hat mehrere ideologische Funktionen im Film, zentral jedoch scheint mir für die Handlung, dass Martin damit wieder ledig ist. Zwar waren die Komantschen polygam und werden auch im Film so gezeigt, aber für die Ehe mit Laurie muss in der anglo-amerikanischen Logik die Ehe mit Look zuvor beendet werden. Dies bedeutet darüber hinaus, dass in der Logik des Filmes Martin tatsächlich mit Look verheiratet ist, kulturell unterschiedliche Formen der Eheschließung also - trotz der problematischen Inszenierung der Sequenzen mit Look - implizit anerkannt werden. 37 Vgl. Bhabha, „Bread“, S. 207. 38 Vgl. Henderson, „American Dilemma“, S. 52. <?page no="94"?> Katja Sarkowsky 94 daraus ergebenden Verpflichtungen: Ist für Martin die Suche nach seiner Schwester eine Selbstverständlichkeit, so entwickelt Debbie enge emotionale Bindungen an die Komantschen, bezeichnet sie gar als ‚my people‘ und leitet daraus Loyalitäten ihnen gegenüber ab - obwohl Scar der Mörder ihrer Eltern und Geschwister ist. Martins Adoption ist seine Rettung, die ihn seiner Adoptivfamilie vorbehaltlos gegenübertreten lässt; Debbie wurde entführt und von ihren Entführern adoptiert. Die zu erwartende Ambivalenz stellt sich dennoch zunächst nicht ein, vielmehr scheinen sich bei der ersten Wiederbegegnung mit Martin und Ethan deren Befürchtungen zu bestätigen: nicht nur ist Debbie offenbar eine der Frauen des Antagonisten Scar geworden, sondern sie macht zudem deutlich, dass sie bei den Komantschen bleiben möchte, ein Entschluss, der sie beinahe das Leben kostet. Der Aufbau der Szene, in der Debbie versucht Martin und Ethan zu bewegen, sie bei den Komantschen zu lassen, verdient Aufmerksamkeit für das Detail. Die Szene beginnt zunächst in der Totalen Debbie, zunächst nur anhand ihres gerade so über die Horizontlinie erkennbaren Haarschopfes zu erahnen, kommt über den Kamm des Hügels gelaufen. Die Inszenierung ihrer Ankunft ist ein klarer visueller Anklang an vorangegangene Szenen, in denen die Indianer entweder über die Horizontlinie plötzlich da sind oder aber direkt aus der Landschaft zu wachsen scheinen; d.h. De b bie wird hier nicht nur durch ihre Kleidung und ihre ersten Worte in der Komantschensprache als indianisch markiert, sondern auch durch die Art und Weise, wie ihre Ankunft in Szene gesetzt wird. Das Publikum kann sie dabei schon sehen, Martin und Ethan, in einen Schlagabtausch vertieft, sehen sie aber noch nicht. Als Martin sich umdreht, Debbie erkennt und dann auf sie zuläuft, verbleibt die Perspektive der/ des ZuschauerIn zunächst bei Ethan und wechselt dann zwischen Debbies und Martins Perspektive hin und her, jeweils in Naheinstellung über die Schulter gefilmt, als stünden wir direkt hinter der jeweiligen Person. Der Austausch beginnt mit Martins Versuch, sich als Debbies Bruder in Erinnerung zu rufen. Sie antwortet zunächst in der Komantschensprache, aber die Erinnerung und Martins Emotion bringen die englische Sprache zurück, machen sie wieder zu dem Kind, das Jahre zuvor entführt worden war. Die Kameraführung unterstützt auch im weiteren Verlauf der Szene die Dynamik dieses Austauschs: Mit Debbies wiedererwachender Fähigkeit, auf Englisch ihrer ursprünglichen Sehnsucht nach Rettung und dann nicht nur der Akzeptanz ihrer Situation gegenüber, sondern auch ihrer Solidarität mit den Komantschen Ausdruck zu verleihen, wechselt die Perspektive zunächst schnittweise, dann wieder ganz zu Ethan, der schließlich versucht, Debbie zu erschießen. 39 Diese Szene erscheint zwar als ein Kampf um Debbies Schicksal; aber wie die folgende Inszenierung deutlich macht, geht es vor allem um eine Gegenüberstellung von Ethan und Martin: als Martin sich schützend vor seine Schwester stellt, ist Debbie hinter seinem Rücken buchstäblich nicht mehr zu sehen, nur ihre Hände, die ihn hilfesuchend umklammern; 40 sie selbst verschwindet dabei nicht nur hinter Martin, sondern auch hinter seiner symbolischen Funktion. 39 Vgl. Ford, The Searchers, 01: 22: 50-01: 24: 05. 40 Ford, The Seachers, 01: 24: 08; (Abb. 2). <?page no="95"?> John Ford, The Searchers 95 Abb. 2: Martin stellt sich schützend vor Debbie Denn mit Ethan und Martin stehen sich hier nun erstmals direkt zwei Entwürfe der zukünftigen Gemeinschaft gegenüber: ein Bestehen auf Alterität entlang naturalisierter und ideologisch aufgeladener Identitäts- und Identifizierungslinien einerseits, und einer Vorstellung von Bindungen und Verpflichtungen über solche Grenzen hinweg andererseits. Damit wird allerdings auch deutlich, dass die symbolische Funktion Martins und Debbies unterschiedlich stark prononciert ist: Auch wenn beide hybride Charaktere sind, was ihre ethnischen Markierungen angeht, so ist Martin derjenige, der sowohl für einen alternativen Gemeinschaftsentwurf steht und ihn auch, buchstäblich, verteidigt. Er ist ein eigenständig Handelnder, und wird in dieser Position auch immer stärker; Debbie hingegen ist sowohl auf der Ebene des Plots als auch der Inszenierung nur sehr bedingt handlungsfähig, wie Henderson hervorhebt: Her choice to stay with the Comanches and with Scar is overridden by Ethan and Martin. Only their methods differ: Ethan wants to shoot her, Martin wants to abduct her. But the text itself rides roughshod over Debbie by making her change her mind suddenly when Martin appears to take her away, a conspicuously unmotivated act in a film that elsewhere supplies too many motives. 41 Debbie trifft zwei entgegengesetzte Entscheidungen im Film: Zuerst insistiert sie auf ihrer Identifikation mit den Komantschen und bestätigt damit zum einen Ethans Überzeugung, dass sie nicht nur nicht mehr die jungfräuliche Nichte sei, deren Rettung - in der Lesart von Slotkin, Pippin und anderen - als Sühne für das eigene als schuldhaft empfundene Begehren der Frau von Ethans Bruder, Martha, dienen kann; zum anderen stellt ihre Entscheidung bei den Komantschen zu bleiben Ethans Verständnis von Gemeinschaft grundsätzlich in Frage. Die anglo-amerikanische, ‚weiße‘ Identität, verkörpert von Frauen als stellvertretend für die Nation, hat sich wie von Ethan befürchtet als zutiefst fragil erwiesen, und ist eng an das Tabu von Sexualität zwischen Menschen unterschiedlicher ‚Rassen‘ gebunden: From the time of Mrs. Rowlandson’s captivity in King Philip’s War to the captivities of the nineteenth-century Plains Indian wars, most returning captives were treated as pariahs, on the assumption that they had been sexually and spiritually ‘polluted’ or racially trans- 41 Henderson, „American Dilemma“, S. 53. <?page no="96"?> Katja Sarkowsky 96 formed by their intimate contact with Indians. They thus became objects of the very same racial antipathies that had been invoked to motivate their rescue. 42 Dies galt insbesondere für Frauen und erklärt teilweise die erstaunliche Sorglosigkeit, mit der bei der Planung der Befreiungsaktionen im Film der mögliche Tod der zu Befreienden in Kauf genommen wurde; diese findet sich in den späteren Jahren der Suche nach Debbie ebenso wie in historisch belegten Befehlen, denen die Annahme zugrunde lag, dass die Frauen sowieso schon ‚ein Schicksal schlimmer als den Tod‘ erlitten hätten, also die sexuelle ‚Kontamination‘ durch die Indianer. Die zweite Entscheidung, die Debbie trifft, ist die unerklärte Kehrtwende, Martin bei seinem Befreiungsversuch tatsächlich zu folgen; dramaturgisch wird dieser Entschluss für die Inszenierung von Ethans eigener ‚Umkehr‘ benötigt und ist damit ebenso instrumentell für die Gegenüberstellungen, mit Hilfe derer der Film unterschiedliche Gemeinschaftsentwürfe auslotet, wie ihre erste Entscheidung. Ethans Verhalten und Einstellung seiner Nichte gegenüber hat viel kritische Aufmerksamkeit erfahren, sowohl was seinen ursprünglichen Wunsch (und aktiven Versuch) sie zu töten angeht, als auch mit Blick auf seinen Entschluss, sie schließlich doch nach Hause zu bringen, die vermeintliche Kehrtwende Ethans nach der katalysatorischen Skalpierung Scars. Pippin ist skeptisch gegenüber einer Lesart die annimmt, Ethan habe seine rassistische Haltung aufgegeben: It seems the reemergence of a kind of humanity in Ethan, but it could also represent the realization by him, as he looks into her eyes, that she is despite all (and for him, thankfully) still white. ‘Let’s go home’ could just emphasize this racial solidarity. 43 Ich teile diese Skepsis. In dieser Interpretation revidiert Ethan sein Verständnis des ‚Weiß-seins‘ - weg von einer zivilisatorischen Markierung, die durch ‚Kontamination‘ verloren gehen kann, hin zu einem essentiellen Merkmal von Identität. Sie wird gestützt durch eine frühere Szene, in der Ethan Debbie enterbt und jede Verwandtschaft mit ihr leugnet. Was auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ist im Kontext von Ethans obsessivem Verständnis des Zusammenhangs von (Familien-)Gemeinschaft und Verwandtschaft konsequent: Ihre Loyalität gegenüber den Komantschen eliminiert in Ethans Augen die gemeinsame Basis der Verwandtschaft und der mit ihr verbundenen gegenseitigen Fürsorge und Solidarität; jedoch ist der Akt der Aufkündigung der Verwandtschaft noch eine notwendige Voraussetzung für eine Enterbung, das heißt, er muss die Verwandtschaft leugnen, denn er kann nicht mit jemandem verwandt sein, deren/ dessen Identität als ‚weiß‘ in Frage steht. 44 Paradox ist dieser Akt deshalb, weil er damit die Blutverwandtschaft, die bis dahin klar die Voraussetzung für die Gemeinschaftsbildung und für die daraus entstehenden gegenseitigen Verpflichtungen war, nun von einem diesen Verpflichtungen entsprechenden Verhalten abhängig macht. Ethans Wieder- und Anerkennung von Debbie als seiner Nichte bestätigt (Bluts-)Verwandtschaft als die einzig legitime Basis von (Familien-)Gemeinschaft. Geht man dann von Gemeinschaft als Basis für Gesell- 42 Slotkin, Gunfighter Nation, S. 467. 43 Pippin, Hollywood Westerns, S. 124. 44 Vgl. Brooks, „Borderland History“, S. 268. <?page no="97"?> John Ford, The Searchers 97 schaft aus - wie dieser Film es tut und wie im letzten Teil dieses Beitrages diskutiert werden wird - dann bedeutet dies - in der Koppelung an das von Ethan als selbstverständlich erachtete Verbot transethnischer Sexualität - ein Plädoyer für eine ethnisch homogene Gemeinschaft der Nation. Zentral ist nun die Frage, als wen Ethan Debbie ‚nach Hause‘ bringt. Viel hängt an der Interpretation ihrer Position in Scars Familie: Sie kann - und wird zumeist - als eine der Ehefrauen Scars verstanden werden; sie kann aber auch plausibel als seine Adoptivtochter gedeutet werden. Die erwachsene Debbie erscheint zum ersten Mal, als Ethan und Martin unter einem falschen Vorwand zu Scar kommen; sie ist es, die den beiden Scars Lanze mit den erbeuteten Skalpen zeigt. Für Ethan ist zwar klar, dass sie eine der Frauen des Komantschen ist, aber seine Frage „Are all those his wives? “ 45 bleibt unbeantwortet. Es ist also durchaus denkbar, dass sie eben nicht, wie Ethan ganz selbstverständlich annimmt und worauf seine obsessive Absicht sie zu töten aufbaut, Scars Ehefrau geworden ist, sondern dass sie als seine Tochter mit der Familie lebt. 46 Der Film löst diese Unklarheit nicht auf. Eine solche Lesart stellt nochmals Ethans Obsession mit einer Form der Gemeinschaftsbildung in den Mittelpunkt, für die Blutsverwandtschaftals einzig legitimes Fundament in Frage kommt. Adoption als eine Form der ‚Wahlverwandtschaft‘ ist, wie mit Blick auf Martin durchweg im Film deutlich wird, keine für Ethan vorstellbare Basis. In der Logik des Filmes jedoch, der weder Ethans noch Debbies Umschwung erklärt, kann Debbie als Adoptivtochter Scars noch auf eine ganz andere Position verweisen: die der Tochter, die Kind ist und bleibt, und die als solches auch nach Hause gebracht wird. In der folgenden Passage soll abschließend diesem Gedanken mit Blick auf die Ambivalenz der Rückkehr und dem gesellschaftskritischen Gestus des Filmes nachgegangen werden. Wenn vor dem Hintergrund der Interpretation Debbies als Kind, sie und Martin als die hier zu betrachtenden Spiegelfiguren noch einmal verglichen werden, wird neben deren unterschiedlichem symbolischem Gewicht ein weiterer, zentraler Unterschied deutlich: während Martin im Verlauf des Filmes reifer wird und als Erwachsener in die Welt der Siedler zurückkehrt, regrediert Debbie; erwachsen ist sie Camp der Komantschen (ob als Tochter oder als Ehefrau), aber zurückkehren in die Siedlergemeinschaft kann sie nur als Kind. Vor dem Hintergrund dieser Annahme kann auch Ethans Haltungsänderung gegenüber Debbie noch einmal neu interpretiert werden: nicht nur erkennt er seine Nichte als ‚immer noch weiß‘, sondern er erkennt sie als Kind wieder. Die Geste, mit der er sie nach der Verfolgungsjagd in der Höhle anhebt, ist die gleiche wie nach seiner Ankunft im Hause seines Bruders zu Beginn des Filmes. 45 Ford, The Searchers, 01: 20: 40. 46 Vgl. Brooks, „Borderland History“, S. 282. IV. Ambivalente Rückkehr: The Searchers als Gesellschaftskritik <?page no="98"?> Katja Sarkowsky 98 In den folgenden und abschließenden Sequenzen des Filmes wird Debbie bis zum Eingang des Hauses der Jorgensens, in das sie ‚zurückkehrt‘, keinen Schritt mehr tun - sie wird vielmehr von Ethan bis zur Schwelle (nicht über diese! ) getragen, wo sie von den Jorgensens an Eltern statt mit offenen Armen in Empfang genommen wird. Der visuell symmetrische Aufbau der Sequenz, der Blick vom Haus hinaus und die Bewegung hinein unterstützen den Eindruck des märchenhaften Abschlusses einer Reise von der ‚Wildnis‘ zurück in die ‚Zivilisation‘ (Abb. 3). Abb. 3: Debbies Rückkehr Ethan bringt Debbie also nach Jahren schließlich doch noch in die weiße Siedlergesellschaft zurück und, im Gegensatz zu ihrem historischen Vorbild Cynthia Ann Parker, offensichtlich mit ihrem Einverständnis. Aber, so suggeriert seine Geste, er bringt nicht die erwachsene Debbie zurück, sondern ein sprachloses Kind; denn nicht nur geht Debbie nach Ethans entscheidendem Satz „Let’s go home, Debbie“ 47 nicht mehr selbst, sie hört auch auf zu sprechen. Im Gegensatz zu der erwachsenen Debbie, die die Komantschensprache spricht und nach dem Ringen um englische Worte dann zu Martin sagt, „these are my people“, 48 kann dieses kleine Mädchen als kulturell und sexuell unberührt imaginiert und so ‚nach Hause‘ zurückgebracht werden. Die letzte Sequenz des Filmes, die diese Rückkehr zeigt, schließt somit inhaltlich und visuell an den Anfang an; auf die Zirkularität der Struktur des Filmes ist immer wieder hingewiesen worden. Allerdings konzentrieren sich die Interpretationen dieser Sequenz zumeist auf Ethan unddessen einsamen Verbleib außerhalb des Hauses, gesehen von innen und besiegelt mit der sich schließenden Tür, die wir eingangs sich haben öffnen sehen. Frankels Lesart drückt ein verbreitetes Verständnis dieser Szene aus wenn er schreibt: „The mission is accomplished, but there is no place for the avenger in the new civilization he has helped forge. Ford cannot kill Ethan - John Wayne is simply too strong to die - but he can exclude him“. 49 Diese Lesart überzeugt auf Basis der Art und Weise, wie Ethan hier dargestellt wird - als jemand, der zunächst eintreten möchte (wie zu Beginn des Filmes), sich dann buchstäblich den 47 Ford, The Searchers, 01: 51: 28. 48 Ebd., 01: 23: 57. 49 Frankel, The Searchers, S. 309; in der Romanvorlage stirbt Amos (Ethan) durchaus. <?page no="99"?> John Ford, The Searchers 99 anderen Charakteren im Weg findet, und der dann schließlich nicht eintritt, sondern sich von der häuslichen Gemeinschaft, der wiederhergestellten Familie, abwendet, der Wüste zu. Der Held hat seine Aufgabe erfüllt und wird nun nicht mehr gebraucht - und er weiß es. So viel zum ersten Blick auf diese Szene. Wenn wir nun den Blick vom Protagonisten auf die gesamte Gruppe, die in das Haus eintritt und das, wofür sie steht, einbeziehen, ergibt sich ein komplizierteres, diese klassische Westernlesart modifizierendes Bild, das auch als Basis der Gesellschaftskritik des Films gesehen werden kann. Frankel verweist auf die ‚neue Gesellschaft‘, die Ethan mit aus der Taufe gehoben hat, an der er aber nicht teilhaben kann (oder will). Auf Gruppenprozesse bezogen und verstanden, auch als Kommentar zur amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre, kann Ethan hier als Repräsentant einer Frontiergesellschaft gelesen werden, die auf Härte und Gewalt (gegen andere und gegen sich selbst) und einem Verständnis von Gruppenalterität und ‚Rassenreinheit‘ beruht, und die sich nun überlebt hat. In dieser Lesart ist, wie bereits angedeutet, Martin Pawly die Verkörperung einer neuen, moderneren amerikanischen Gesellschaft, in der Ethnizität für die Gemeinschaft eine untergeordnete Rolle spielt. 50 Der Innenraum, dessen Tür hier den ‚wilden‘ Außenraum, zu dem auch Ethan gehört, ausschließt, wird in dieser Lesart jedoch zu selbstverständlich als ein geschützter und stabiler Raum angenommen. Die visuell und erzählerisch zirkuläre Struktur des Filmes macht deutlich, dass dem nicht so ist. Der Eingangsszene des Filmes, in der sich die Tür des Familienheimes nach außen öffnet, folgen unmittelbar unterschiedliche Bedrohungen: zunächst wird Ethan unterschwellig als eine solche inszeniert, der heimkehrende Bruder, der nicht nur als unverbesserlicher Konföderationsveteran, als Söldner und vermutlich Krimineller eingeführt wird, sondern vor allem auch als ein Mann, der die Frau seines Bruders liebt und der daher mit seiner Rückkehr eine mögliche Gefährdung der Familie darstellt. Ist Ethans Bedrohungspotential eher subtil in Szene gesetzt, so wird doch sehr bald die eigentliche Gefahrdeutlich, die durch die Komantschen. Dieses eingangs so zentrale Bedrohungspotential ‚von außen‘ wird dem Publikum durch die Schlusssequenz und ihre visuelle Wiederholung der Eingangssequenz wieder ins Gedächtnis gerufen. Zwar scheint sich hier die Tür gegenüber der Gefahr zu schließen - Ethan bleibt draußen, die Indianer sind besiegt. Der Rassenhass, den Ethan repräsentiert wird aus dieser neuen Gesellschaft ebenso ausgeschlossen wie die, gegen dieer sich richtet. Dennoch ist diese Lesart, wie Pippin hervorhebt, zu einfach. Denn obwohl die Siedlerfamilien nicht Ethans rigorose Überzeugung von Blutsverwandtschaft als einzig legitimer Basis für Verwandtschaft teilen und Martins Herkunft weitgehend keine Rolle zu spielen scheint, so teilt sie doch Ethans Rassismus. Lauries unerwarteter, rassistischer Ausbruch Martin gegenüber verweist auf tiefsitzende Ressentiments gegenüber und eine fetischisierende Faszination mit der Frage nach einer interethnischen Sexualität: 50 Vgl. Pippin, Hollywood Westerns, S. 136. <?page no="100"?> Katja Sarkowsky 100 Fetch what home? The leavings of Comanche bucks, sold time and again to the highest bidder, with savage brats of her own? [...] Do you know what Ethan will do if he has a chance? He’ll put a bullet in her brain! I tell you Martha would want it that way. 51 Lauries Haltung macht deutlich, dass der Einschluss Martins und Debbies am Ende des Films in die ‚Patchworkfamilie‘ der Jorgensens und der (Selbst-)Ausschluss Ethans aus dieser Gemeinschaft nur auf den ersten Blick vermuten lässt, dass hier mit Ethan ein puristisches (und rassistisches) Gemeinschaftsverständnis keinen Eingang in diese - nicht organische, sondern durch gemeinsames Handeln konstituierte - Familiengemeinschaft findet. Darüber hinaus schließt die Gemeinschaft Ethan ja nicht aktiv aus, sie ignoriert ihn eher, wie sie auch ihre eigenen Widersprüche ignoriert. 52 Die Zirkularität der Schlussszene suggeriert also eine Verlagerung der Bedrohung der Gemeinschaft von außen nach innen. In diesem Sinne ist die Gemeinschaft, die sich am Ende des Filmes etabliert, eine geschaffene, erarbeitete, die durchaus synekdotisch für die amerikanische Gesellschaft stehen kann. Sie beruht auf gewählten Verbindungen, die ethnischen Grenzen ihre Zentralität absprechen - wie z.B. die zu erwartende Hochzeit zwischen Martin, der u. a. indianischer Abstammung ist, und Laurie zeigt; sie beruht also auf Transkulturationsprozessen. Dieser Bezug lässt sich aber nicht nur für den historischen Rahmen des Filmes herstellen, sondern, wenn wir The Searchers als eine Krisenerzählung der 1950er Jahre verstehen - auch für die Zeit von dessen Produktion; in diesem Gegenwartsbezug liegt das gesellschaftskritische Potential des Filmes. Insbesondere von Brian Henderson wurde argumentiert, dass der Film das Genre nutze um zeitgenössische Krisen aufzugreifen: The Searchers nutze die Alterität von Weißen und Indianern und vor allem das obsessive Thema interethnischer Sexualität um die Angst vor Eheschließungen zwischen Schwarzen und Weißen nach der Supreme Court Entscheidung Brown vs. Board of Education 1954 - das Urteil, das formal die Segregation in Schulen und Universitäten beendete - zu thematisieren. 53 Die Auseinandersetzungen zwischen weißen Siedlern und den Indianern nach dem Bürgerkrieg dienen in dieser Lesart als eine Projektionsfläche für nicht anders thematisierbare ethnische Konflikte und deren zugrunde liegenden Ängsten vor einer Auflösung von Grenzen zwischen ethnischen Gruppen. Hendersons Lesart ist nicht unumstritten, aber sein Argument, der Film kommentiere im Endeffekt nicht historische, sondern gegenwärtige Konflikte, liegt auch Pippins Interpretation zugrunde. Ich möchte dies abschließend zum Anlass nehmen, den Film als einen Kommentar zu historischen und zeitgenössischen Konflikten zwischen der amerikanischen Majoritätsgesellschaft und der indigenen Bevölkerung zu verstehen; auf beiden Ebenen geht es um deren Integration in die oder ihren Ausschluss aus der amerikanischen Nation und deren Erinnerung. Die termination policy der 1950er Jahre - also der Versuch, das vertragliche Verhältnis zwischen den indigenen Gruppen und der Regierung zu beenden und ersteren so mehr ‚Unabhängigkeit‘ zu verschaffen, sie aber im Effekt als Kollektivakteure zu eliminieren - kann 51 Ford, The Searchers, 01: 43: 10-01: 43: 20. 52 Vgl. Pippin, Hollywood Westerns, S. 139. 53 Henderson, „American Dilemma“, S. 66-67. <?page no="101"?> John Ford, The Searchers 101 sicher als ein zeitgenössischer Bezug gesehen werden. Zwar waren die termination policy und ihre oft verheerenden Folgen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht annähernd so präsent wie die Auseinandersetzung um die Gleichstellung von Afroamerikanern; der Historiker Roger Nichols sieht diese Politik jedoch als einen klaren und weitreichenden Versuch einer forcierten Assimilation in Anknüpfung an die Vernichtungspolitik des 19 Jahrhunderts, 54 eine Strategie der Eliminierung indigener Gemeinschaftsstrukturen in den USA. Dies ist eng verknüpft mit einer unmittelbar im Film angelegten Auseinandersetzung mit dem historischen Erinnern. Denn die Gemeinschaft, mit deren Inszenierung The Searchers schließt, beruht nicht nur auf Transkulturationsprozessen, sondern vor allem auch auf dem Vergessen. Dieses Vergessen, manifest in Ethans (Selbst-) Ausschluss und Debbies Schweigen, ist nicht individuell sondern kollektiv; ‚vergessen‘ wird eine Geschichte von Gewalt und Landnahme, von einer ethnischen Alterität, die sich bis in die Gegenwart der Filmproduktion zieht, von tiefgreifenden gesellschaftlichen Widersprüchen. Der Film greift diese Geschichte immer wieder auf: so beispielsweise in Ethans unbändigem Hass, der sich in einer Szene an einer Büffelherde entlädt. Diese Szene zeigt nicht nur Ethan, der auf Büffel schießt um die Indianer ihrer Lebensgrundlage zu berauben, sie zeigt Ethan als Repräsentanten einer Kultur, die eine andere Kultur auslöscht. Die Darstellung der Zerstörung indigener Lebensweise - und damit auch die teilweise Ausbalancierung der Darstellung der Indianer als Schlächter weißer Siedler - findet ihren Höhepunkt in einer Szene etwa in der Mitte des Filmes, in der Ethan und Martin durch ein von der Kavallerie zerstörtes Dorf der Komantschen reiten (wo sie auch die tote Look finden). Die Direktheit, mit der die Kamera das zerstörte Camp und die getöteten Indianer vorführt, ist ungewöhnlich für einen Western der 1950er Jahre (Abb. 4). Abb. 4: Das Komantschencamp nach dem Massaker Diese Darstellung wurde vielfach als eine Darstellung des Massakers der 7. Kavallerie unter Custer an den Cheyenne am Wachita River 1868 gelesen; ich sehe sie eher als eine Verschmelzung verschiedener Massaker im amerikanischen Westen während 54 Nichols, Indians, S. 292. <?page no="102"?> Katja Sarkowsky 102 der Indianerkriege - Sand Creek 1864, Wachita 1868, aber vor allem Wounded Knee 1890: die bildliche Darstellung zeigt deutliche Anklänge an die historischen Bilder des zerstörten Lagers der Lakota am Wounded Knee 1890 (Abb. 5). Abb. 5: Wounded Knee Insofern leistet The Searchers eine für einen Western ungewöhnliche Erinnerungsarbeit, die ihre besondere Brisanz durch den zeitgenössischen Kontext durch die termination policy gewinnt. Beide möglichen zeitgeschichtlichen Interpretationen - Hendersons Bezug auf die Stellung von Afroamerikanern und meine Lesart des Filmes mit Blick auf die Auseinandersetzung um die Stellung der indigenen Bevölkerung - erlauben es, den Film als die Frage stellend zu lesen, welche Rolle Ethnizität als Ein- oder Ausschlussverfahren für die Gemeinschafts- und damit auch analog für die Gesellschaftskonstitution in den USA spielen sollte. Der Film ist hier alles andere als eindeutig, und die Ambivalenz des Endes verweist auf die Fragilität möglicher alternativer Modelle: Zwar wird Ethan mitsamt den Widersprüchen, für die er steht, buchstäblich in die Wüste geschickt; Martins und Debbies hybride Positionierungen erscheinen als das Zukunftsmodell für die Gemeinschaft und damit auch für die Gesellschaft. Aber die Tür vor Ethan zu schließen beseitigt die von ihm verkörperten Widersprüche nicht. Filmographie The Searchers. Dt. Der schwarze Falke. Produktion: Warner Bros., USA, 1956. Regie: John Ford. Drehbuch: Frank S. Nugent. Kamera: Winton C. Hoch. Musik: Max Steiner. Darsteller: John Wayne (Ethan Edwards), Jeffrey Hunter (Martin Pawley), Natalie Wood (Debbie Edwards), Lana Wood (Debbie Edwards als Kind), Vera Miles (Laurie Jorgensen), John Qualen (Lars Jorgensen), Olive Carey (Mrs. Jorgensen), Henry Brandon (Scar), Beulah Archulette (Look), Walter Coy (Aaron Edwards), Dorothy Jordan (Martha Edwards). <?page no="103"?> John Ford, The Searchers 103 Bibliographie Bhabha, Homi, „By Bread Alone. Signs of Violence in the Mid-Nineteenth Century“. In: The Location of Culture. London u. New York 1994, S. 198-211. Brooks, James, F, „‚That Don’t Make You Kin! ‘: Borderland History and Culture in The Searchers“. In: The Searchers. Essays and Reflections on John Ford’s Classic Western. Hg. v. Arthur Eckstein u. Peter Lehman. Detroit, MI 2004, S. 265-287. Derounian-Stodola, Kathryn Zabelle, „Introduction“. In: Women’s Indian Captivity Narratives. Hg. v. 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Winkler, Martin M., „Tragic Features in John Ford’s The Searchers“. In: Classical Myth and Culture in the Cinema. Hg. v. Martin M. Winkler. Oxford 2001, S. 118-147. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Ford, The Searchers, 00: 04: 28 Abb. 5: Library of Congress Abb. 2: Ford, The Searchers, 01: 24: 08 (Prints and Photographs Division) Abb. 3: Ford, The Searchers, 01: 53: 00 Abb. 4: Ford, The Searchers, 01: 08: 28 <?page no="105"?> Ingo Kammerer Eigenartiges geschieht in diesem Film. Nicht so sehr in Bezug auf die behandelten Themen und geformten Überwältigungseffekte, die zweifellos für die Produktionszeit ungewöhnlich und skurril genug; sonderbar ist vielmehr die filmische Mehrfach- Offerte einer unmöglichen Kontaktaufnahme. Dreimal, bezeichnenderweise durch die Hauptfiguren, wird der Zuschauer direkt fixiert, ohne dass in der Folgeeinstellung eine Figurensubjektive den Blick als Anblick innerhalb der Fiktion kennzeichnet (vgl. Abb. 1-3). Das träumende Publikum 1 wird unsanft geweckt, mit möglicherweise unangenehmen Auswirkungen in seinem voyeuristischen Tun ‚erkannt‘ oder aber auf seine besondere Bedeutung für diesen Film hingewiesen und dadurch vom Plot selbst distanziert. Ungewöhnlich häufig sendet hier die Anderswelt ein Signal der Verfremdung und Offenbarung zugleich, was im klassischen Hollywood-Kino 2 durchaus unüblich ist, da doch die Quasi-Realität des Films unentdeckt, die Trennlinie zur Gegenwart des Rezipienten unsichtbar bleiben soll. Nicht hier. Zumindest nicht durchgängig. Die Protagonisten des Films fassen ihr Publikum grinsend ins Auge. Dafür muss es Gründe geben. 1 Die Analogie von Kino und Traum oder Träumen wird in theoretischen Betrachtungen schon bald nach Erfindung des Films diskutiert und bis heute immer wieder aufgegriffen (vgl. die Überblicksdarstellung in: Brütsch, „Dream screen? “, auch Teile in: Kappelhoff, „Kino und Psychoanalyse“). Stark reduziert kann man mit Faulstich (vgl. Grundkurs Filmanalyse, S. 19-23) den Spielfilm als „ein emotionales Erlebnis, eine Art Traum“ für den Zuschauer betrachten, in dem sich „über Identifikation und Projektion das Unterbewußte, das Verdrängte“ des Betrachters äußert und „aus dem man [erst] ‚erwacht‘, wenn der Film zu Ende ist“ (ebd., S. 19f.). 2 Als klassisches Hollywood-Kino wird allgemein die Zeit der großen Filmstudios von etwa 1920 bis Ende der 1950er Jahre betrachtet. In diesem auch als Golden Age bezeichneten Zeitraum eroberten Hollywood-Produktionen ihre führende Position auf dem Weltmarkt und die großen US-amerikanischen Filmstudios eine beinahe unbeschränkte ökonomische Machtposition im Filmgeschäft. Basierend auf der Kontrolle von Produktion, Vertrieb und Präsentation der Filme (vgl. Grob, „Hollywood“, S. 259) waren insbesondere effiziente Genreproduktionen und das Starsystem sowie, daraus folgend, eine spezielle Studioästhetik des Wiedererkennens wichtige Parameter dieser normsetzenden Politik (vgl. Schweinitz, „Stil“, S. 594). Zum Erzählgrundsatz der Filme wurde das Kontinuitätsprinzip erhoben, wodurch der unsichtbare Schnitt (vgl. coverage system in: Beller, „Montage“, S. 169-172) und damit eine ungestörte Teilnahme des Zuschauers an der Filmhandlung zum (bis heute weitgehend gültigen) Standard der Narration geriet (vgl. Schleicher, „Montage“, S. 391ff.). Der distanzierende Figurenblick in die Kamera zur Durchbrechung der vierten Wand und Direktadressierung des Publikums - im Vorfeld des ‚goldenen Zeitalters‘ durchaus eine Option der Zuschaueransprache - war in diesem voyeuristischen Kino des Einfühlens und Erlebens nicht vorgesehen. Alfred Hitchcock, Psycho <?page no="106"?> Ingo Kammerer 106 Abb. 1-3: (An-)Blicke Wer sich mit Psycho auseinandersetzt, bewegt sich im Bereich des Genrekinos (und geht doch darüber hinaus), fokussiert mit Alfred Hitchcock einen Autor mit bestimmter Ästhetik (und muss diese gerade in Bezug auf jenen Film neu gewichten), hat es schließlich mit einem Werk zu tun, das nicht nur die Filmrezeption mit Auswirkungen bis zum heutigen Tag verändert hat, sondern gar sprichwörtlich geworden ist und die wohl höchste Publikationsdichte (in Wort, Bild und Ton) vorweist, die ein Film bis dato erzielen konnte. Psycho ist wahrlich ein ‚Monsterfilm‘, ein Schlüsselwerk der Filmgeschichte, das weit mehr Bezugsfelder offeriert, als hier diskutiert werden können. Im Folgenden soll daher vornehmlich die Komposition des Textes im Fokus stehen oder die darin vollzogene kuriose Allianz des Regieautors mit dem Publikum. Psycho ist verfilmte Literatur. Man übersieht das gelegentlich, vielleicht sogar zurecht, da der Roman bezüglich Qualität und Wirkung mit dem Film nicht Schritt halten kann. Robert Bloch, ein recht erfolgreicher Autor populärer Kriminaltexte, schreibt 1959 - lose orientiert am zwei Jahre zuvor aufgedeckten Kriminalfall des Ed Gein 3 - Psycho als rätselhaften Horror-Thriller. Multiperspektivisch erzählend, durch erlebte Rede immer wieder Einfühlung in verschiedene Figuren anbietend und zugleich (natürlich) einen Überblick verweigernd, legt Bloch all jene Inhalte vor, die im Film wiederkehren werden: die ‚sprechende‘ Mutter als Mumie, der Gelddiebstahl Mary (späterhin Marion) Cranes und deren Flucht, der Mord unter der Dusche - auch der Schlussmonolog ‚Mutters‘, die „nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun konnte“, 4 ist bereits vorhanden. Obwohl sich Hitchcock und Drehbuchautor Joseph Stefano inhaltlich also recht eng an Blochs Roman halten, 5 sind da doch Eingriffe, auch medial bedingte Verände- 3 Ed Gein aus Plainfield im Bundesstaat Wisconsin war ein Massenmörder und Leichenschänder, der sich zuhause ein Gruselkabinett aus Menschenteilen eingerichtet hatte und wohl sehr mit seiner toten Mutter in Verbindung stand (vgl. Rebello, Geschichte von Psycho, S. 29-37). Robert Bloch war der erste Autor, der Geins Charakter und Taten (weitläufig) in der Figur des Norman Bates literarisch aufgriff, indes nicht der letzte. Insbesondere im Spielfilm wird immer wieder auf Geins Fall zurückgegriffen, z.B. in der bekannten Horror-Serienfigur Leatherface (zuerst: The Texas Chain Saw Massacre, USA 1974, R. Tobe Hooper). 4 Bloch, Psycho, S. 184. 5 Bloch selbst hat in einer Nachbemerkung zum Roman ab 1994 auf diesen Umstand hingewiesen. Verärgert darüber, dass nicht mehr er, sondern vielmehr der Drehbuchautor Joseph Stefano als Urheber der Geschichte betrachtet wird, stellt er fest, sein Roman Psycho sei die „Vorla- I. Medienverbund Psycho <?page no="107"?> Alfred Hitchcock, Psycho 107 rungen, die schließlich den (Qualitäts-)Unterschied ausmachen. 6 So wird z.B. die Rolle Marion Cranes beträchtlich aufgewertet und durch die Besetzung mit dem einzigen ‚Star‘ des Films verstärkt an die Einfühlungsbereitschaft und Handlungsvorwegnahme des Publikums appelliert. Ähnliches gilt für die Figur des Norman Bates. Der im Roman nicht eben attraktive, über 40-jährige Alkoholiker - durchaus ein Unsympath - wird im Film nicht nur, aber auch durch den Besetzungscoup Anthony Perkins zu einer völlig anderen Figur, mit der man zwangsläufig mittfühlen kann (und soll! ). Natürlich fällt als besonderes filmisches Konzentrat die Gestaltung der ‚Marion-Crane-Story‘ der ersten 45 Filmminuten auf, 7 vor allem aber ist die bei Hitchcock stattfindende Hinwendung an den Zuschauer, an seine Gewohnheiten und Hoffnungen in Bezug auf die Gestaltung von (Genre-)Filmen in diesem Ausmaß neu und tatsächlich entscheidend. Denn eigentlich geht es in Hitchcocks Psycho nur um das Publikum, dessen Manipulation einerseits, andererseits aber auch um die Offenbarung dieser Manipulation. Entsprechend ist die dramaturgische Gestaltung des Plots von immenser Bedeutung: Genre- und Handlungserwartungen des Publige, der die Handlung mitsamt ihrer überraschenden Wendungen entnommen ist, und ohne die es den Film nicht gäbe.“ (Bloch, Psycho, S. 188) 6 Zum Filminhalt: Marion möchte Sam heiraten, der aber hat ein Geldproblem und ziert sich. Also unterschlägt sie 40 000 $ und flieht aus Phoenix in Richtung Fairvale zu Sam. Nach turbulenter Flucht steigt sie in einem versteckten Motel ab, dessen Besitzer, Norman Bates, nebenan mit seiner kranken und eigentümlichen Mutter in einer viktorianischen Villa lebt. Als Marion vor dem Zubettgehen eine Dusche nimmt, wird sie von einer älteren Frau (? ) mit mehreren Messerstichen getötet. Kurz darauf entdeckt Norman (scheinbar) schockiert die Tat und beginnt sofort mit Aufräumarbeiten. Schließlich beseitigt er die Leiche und das, was an sie erinnert (auch das nicht erkannte Geld! ), indem er alles im Auto verstaut und dieses im naheliegenden Sumpf versenkt. Sam, Marions Schwester Lila und der Versicherungsagent Arbogast sind fortan auf der Suche nach Marion (und dem Geld! ). Während Arbogasts Routine-Befragung in Bates Motel erweckt Norman dessen Verdacht, da er nicht nur widersprüchliche Angaben macht, sondern sich auch beharrlich weigert, ihn seiner Mutter vorzustellen. Nachdem der Versicherungsagent dies Sam und Lila telefonisch mitgeteilt hat, sucht er Mutter Bates auf und wird von ihr (? ) mit zahlreichen Messerstichen ermordet. Währenddessen erfahren Sam und Lila vom Sheriff des Ortes, dass Normans Mutter lange tot ist, und beschließen auf eigene Faust im Motel zu recherchieren. Ihr Unterfangen endet beinahe mit dem Tod Lilas, als sich herausstellt, dass Norman schizophren ist und in der Kleidung seiner Mutter all die Morde begangen hat. Sam überwältigt Bates in letzter Minute und liefert ihn der Polizei aus. In Polizeigewahrsam ist Norman, der seine tote Mutter als ausgestopfte Mumie im Haus hielt, dann endlich ganz zur Mutter geworden und erwägt mit ihrer Stimme eine Art des lebendigen Sich-Totstellens als Unschuldsbeteuerung und Zukunftslösung. Als Abbild der beginnenden kriminaltechnischen Aufarbeitung wird in der Schlusseinstellung das Auto (und das Geld! ) aus dem Sumpf hinter Bates Motel gezogen. 7 Bloch präsentiert dem Leser den merkwürdigen Norman Bates (Kap. 1) und erst im Anschluss daran Mary Crane auf der Flucht, nicht weit vom fatalen Motel entfernt (Kap. 2). Wenn auch im Folgenden über Erzählerbericht, erlebte Rede und inneren Monolog eine Einfühlung mit Mary Crane ermöglicht wird, ist doch das auch genrespezifisch relevante tödliche Zusammentreffen mit einem bereits bekannten Psychopathen absehbar. Bloch erfüllt also beinahe klassisch die Genreerwartungen des Rezipienten (vgl. ebd., S. 1-41), während Hitchcock die Hoffnungen des Publikums (auch durch Verbergen des Antagonisten) lange Zeit in die falsche Richtung lenkt (s.a. Kap. II.2.). <?page no="108"?> Ingo Kammerer 108 kums werden wirkungsvoll durchbrochen, die Positionierung des Zuschauers in der Schwebe gehalten, der Film selbst durch ein doppeltes Zentrum und die darin vollzogene Spiegelung in zwei kontrastierende Texte unterteilt. Dieser Film, meinte Hitchcock zu Truffaut, gehöre doch eigentlich den Filmemachern. Nicht die Handlung, keine irgendwie bedeutende Botschaft des Films, auch keine außergewöhnliche schauspielerische Leistung habe den Betrachter bewegt. Der reine Film - also die Anordnung von Filmstücken, Fotografie, Ton, lauter technische Sachen - erschüttere hier das Publikum und bringe es zum Schreien. 8 Filmkunst zu gebrauchen, um eine Massenemotion zu schaffen, sei sein Ziel gewesen. Und die Rechnung ging bekanntlich weltweit auf. 1. Zentrum Marion - „I’ll replace it with her fine, soft flesh“ 9 Es ist durchaus naheliegend, die Betrachtung Psychos mit der berühmtesten Szene des Films, wenn nicht der Filmgeschichte, zu beginnen. Mit der ‚Duschszene‘ endet nicht nur der erste Teil des Films in einer brachialen Gewaltexplosion, sondern auch die genrespezifische Sicherheit des Zuschauers. Und eigentlich endet hier der Film. Alles Noch-Kommende ist ein Nach- und Eingedenk-der-Duschszene, alles Vorhergehende muss im Gefolge der Begebenheit im Badezimmer neu gewichtet werden. Zweck und Ziel dieses Films sind hier in knapp zwei Minuten komprimiert zu besichtigen: Ein überraschender Mord hinterlässt eine Leerstelle im Film, die den Zuschauer aus dem Gleichgewicht wirft. Auch heute noch ist die Szene ein effizienter Tiefschlag für den Betrachter. In einem damals nie gesehenen Schnittgewitter bricht das Grauen über ihm ein; völlig unerwartet wird er seiner Identifikationsfigur beraubt, auf eine Art und Weise, die in den Magen fährt. Die unerhörte Tat, die den beruhigenden Moment der Reinigung hurtig zerstört, ist kaum zu verdauen, obgleich doch bei, zugegeben, distanzierter Analysearbeit (und sinnvollerweise abgestellter Toninformation) nichts wirklich Grauenvolles - im Sinne von: blutig, zerfetzend oder gar abtrennend - konkret wahrzunehmen ist. Im Unterschied zum heute mehr denn je gültigen Interesse an expliziter Gewaltdarstellung, gelingt Hitchcock mit der Duschszene so etwas wie die pure Suggestion von Gewalt on screen: Alles, was der Zuschauer sieht und hört, wird von ihm selbst zu einem blutigen Massaker zusammengeführt. Der Film liefert hierfür zwar die audiovisuelle Grundlage, diese aber wird gerade auf der visuellen Ebene zur reinen Andeutung von Gewalt, zum ‚metrischen Montagetanz‘ der Kamera um ein unmögliches Paar. 8 Vgl. Truffaut, Mr. Hitchcock, S. 275f. 9 Hitchcock, Psycho, 00: 24: 07f. II. Psycho-Dramaturgie <?page no="109"?> Alfred Hitchcock, Psycho 109 Abb. 4-6: Mordabstraktionen Es ist das Superzeichen ‚Film‘, das durch Einstellungsmontage, Montagetempo und auditive Information den Zuschauer zur persönlichen Schließung des Szeneninhalts anleitet. Dabei ist die Montagegeschwindigkeit während der Tat mit einer durchschnittlichen Einstellungslänge weit unter einer Sekunde extrem gerafft. 10 Die visuelle Komposition der Szene weicht immer wieder von den Figuren ab und präsentiert wilde und unscharfe Sprünge, die eine klare räumliche Orientierung des Zuschauers erschweren und den eigentlichen Vorgang durchaus abstrahieren, eben zur Schöpfung durch Montage erheben (vgl. Abb. 4-6). 11 Allerdings ist das wirklich Erschütternde an der Duschszene die Tonspur. Die sehr hoch abgemischten ‚Streicherdolche‘ des Komponisten Bernard Herrmann als ein intensives und überaus effektives musikalisches Alarmsignal, die Stiche in Melonen durch den Geräuschemacher als Tonraum für eigene Vorstellungen, 12 vereinzelte Schreie des Opfers und, nicht zu vergessen, die fortwährend prasselnde Dusche: Es ist die auditive Szenengestaltung, die den visuellen Abstraktionsraum in das Grauen der gegenwärtigen Rezeption zurückführt. Marion Cranes Ermordung ist reine Filmkunst, eben das von Hitchcock beschriebene Zusammensetzen von „Filmstücken, Fotografie, Ton“, um „das Publikum zum Schreien zu bringen.“ 13 Dass die Szene in der Dusche so wirken kann, verdankt sie neben der gekonnten formalästhetischen Umsetzung aber auch ihrer erzähldramaturgischen Funktion: Sie ist quasi der ‚blinde Fleck‘ des Films. Vollkommen unsichtbar gehalten läuft doch alles auf sie zu, ist sie Dreh- und Angelpunkt der perfiden Dramaturgie Psychos und 10 Die Konfrontation der Antagonisten dauert knapp 20 Sekunden bei 33 Einstellungen. Dabei variiert die Einstellungsdauer zwischen 0,33 und 1,5 Sekunden, jedoch mit deutlicher Tendenz zur Präsenz unter einer Sekunde (27 Einstellungen! ; vgl. Fischer, Duschmord, S. 120-124). Insgesamt wird während der „Phase des Mordes“ mit einer durchschnittlichen Einstellungslänge von 0,7 Sekunden gearbeitet, was im Vergleich zur Vor- (Ø: 6,25 Sekunden) und Nachphase der Duschszene (Ø: 9,8 Sekunden) natürlich eine signifikante Abweichung und überhaupt für 1960 ein ungewohnt hohes Schnitttempo repräsentiert (vgl. ebd., S. 68). 11 Brigitte Desalm („Überwachen und Strafen“, S. 47) spricht vom „Ultimo einer mit filmischen Mitteln nahezu abstrakt ausgeführten Gewaltdarstellung.“ Dieser Wille zur Abstraktion oder das „geradezu abstrakte Verhältnis zum Film und den dort erzählten Geschichten“ (Keazor, „Hitchbook“, S. 17) ist kein Vorrecht Psychos oder gar der Duschszene, sondern ein Grundprinzip Hitchcock scher Kunst. Schon früh erkannten Rohmer und Chabrol, dass „Hitchcock einer der größten Erfinder von Formen in der Geschichte des Films“ sei und diese formalen Gestaltungsideen nicht der Verschönerung des Inhaltes gälten, sondern eben denselben erst kreierten (Rohmer/ Chabrol, Hitchcock, S. 232). Form schafft Inhalt: „In dieser Formel steckt der ganze Hitchcock.“ 12 Vgl. Rebello, Geschichte von Psycho, S. 223 13 Truffaut, Mr. Hitchcock, S. 275. , <?page no="110"?> Ingo Kammerer 110 ein Chaosmoment der rezeptiven Desorientierung, der lange (auch über den Filmschluss hinaus) im Zuschauer vorhält. In der Dusche geschieht etwas mit diesem Film, kommt es zum Bruch mit der Erzählkonvention und so zur Verabschiedung des teilwissenden Zuschauers. Ein neuer Film beginnt. 2. Der Vorfilm - „Sometimes we deliberately step into those traps“ 14 Was kennzeichnet nun aber den vorangegangenen Text, der unsichtbar zur Duschszene strebt? Zunächst eine vom Publikum zu erwartende Handlungsführung im Genrefeld des Suspense-Thrillers der Marke Hitchcock. Zu den Konventionen dieser intertextuellen Verständigung 15 zählen ein Identitätsproblem der Identifikationsfigur und die notwendige radikale Perspektivierung der Erzählung auf eben diese Figur. Der Thrillerprotagonist, der aus seinem bisherigen Alltag in eine Welt der Bedrohung und Unsicherheit geworfen wird, 16 ist dabei ein Einfühlungsobjekt oder eine „Ankerfigur“ 17 für den Zuschauer, der im gemütlichen Kinosessel mit ihm (geistige) Abenteuer erleben kann. Dieser thrill oder das Erleben von Angstlust 18 in relativer Sicherheit und bei zeitlicher Rahmung ist das Ziel der Rezeption. Marion Crane ist in diesem Kontext zwar eine etwas eigenwillige, aber durchaus funktionale Identifikationsfigur. Dass sie außerehelichen Geschlechtsverkehr in Stundenhotels ausübt, ist für 1960 natürlich unerhört, aber sie will ja unbedingt geheiratet werden, weshalb der ‚gute Kern‘ der Figur dem damaligen Zuschauer die Einfühlung erleichtert; dass sie nun, um die Hochzeit mit Sam zu beschleunigen, 40.000 $ unterschlägt, ist freilich ein Problem, aber die Permanenz ihres schlechten Gewissens, ihr absolut unprofessionelles Verhalten auf der Flucht und letztlich ihre Entscheidung zur Rückkehr und Rückgabe machen es dem Publikum möglich, ihr mit Sympathie zu begegnen; auch dass sie von Janet Leigh und damit dem einzigen Star des Films verkörpert wird, hilft dem Publikum, einiges an Zumutung zu ertragen. 19 Jedoch sind nicht nur das Star-System und das damit angesprochene Begehren 14 Hitchcock, Psycho, 00: 36: 24f. 15 Vgl. Kammerer, Film - Genre - Werkstatt, S. 105-122. 16 Zum häufig durch einen Zufall eingeleiteten genrespezifischen Weltenwechsel, dem ‚Weg ins Exil‘, wozu die bisherige Heimat dem Protagonisten wird, vgl. Kammerer, „Das Exil des Thrillerhelden“, S. 221-226 (am Beispiel von Hitchcocks North by Northwest) u. ders., Film - Genre - Werkstatt, S. 142-144. 17 Koebner/ Wulff, „Einleitung“, S. 11. 18 So die Übersetzung des eigentlich „unübersetzbaren“ Begriffs thrill (Balint, Angstlust und Regression, S. 6) in Michael Balints psychologischer Studie Thrills and Regressions, die zur Verdeutlichung der Wirkung des (Film-)Thrillers immer wieder herangezogen wird, vgl. z.B. Seeßlen, Thriller, S. 9-21; Derry, The Suspense Thriller, S. 21-30; Kammerer, Film - Genre - Werkstatt, S. 147-149. 19 Die Geldunterschlagung hält doch einige, kaum zu füllende Leerstellen bereit. Weniger vielleicht das von Marion in der Eingangsszene geäußerte ‚Legalisierungsinteresse‘ der sexuellen Beziehung ist irritierend - obwohl auch dieser Wunsch nach konventioneller Ordnung sich schwerlich mit einem Diebstahl verträgt -, in jedem Fall scheint es aber nicht sehr wahrscheinlich, dass der brav seine Schulden abzahlende und doch alles in allem recht biedere Sam diese Tat gutheißen wird. <?page no="111"?> Alfred Hitchcock, Psycho 111 des Zuschauers hier entscheidend, auch das Genrewissen, die erhoffte Thrillerspannung und die im Film vorgenommene rigorose perspektivische Engführung tun ein Übriges, dass das Publikum erst gar nicht zum „Wahrscheinlichkeitskrämer“ 20 wird. Spielfilme sind eben ein Spiel, eine Quasi-Realität, deren Regeln nur hier gelten und vom Spieler nicht allzu streng mit der Wirklichkeit abgeglichen werden sollten. Das Publikum ist vorerst und durchaus konventionell an die Figur Marion Crane gebunden. Stetig in ihrer Nähe erlebt man ihre Verwicklungen hautnah, hört ihre inneren Stimmen und sieht, was sie sieht. Jene zuletzt genannten Blickmontagen - also subjektive Kamerablicke in Kombination mit der Ansicht des Blickenden - sind ein wichtiges filmisches Mittel der Einfühlung und Projektion und gerade in Hitchcocks Werk ein substanzielles Element der Zuschauerbeteiligung. 21 Alle Ansichten der Figur Marion haben mit den prägenden Handlungsinhalten der knappen ersten Filmhälfte zu tun: mit dem gestohlenen Geld (Abb. 7-9) und der Flucht. Der Anspannungsraum Marion Cranes wird also ständig auf den Zuschauer zurückgespiegelt und dieser nimmt zwangsläufig (und wohl mehr und mehr begeistert) am unmoralischen Abenteuer teil. Solche unmoralische Verstrickung des Rezipienten findet ja bereits mit der ersten Einstellung des Films statt. Der Kameraflug über die Dächer von Phoenix/ Arizona hat kein anderes Ziel als das Eindringen in eine Intimzone (vgl. Abb. 10-12), was 1960, das muss man heute eben erklären, sowohl filmisch als auch inhaltlich eine Zumutung darstellt. In puritanischen Zeiten und einem mächtigen Zensurapparat wie dem „Production Code“ 22 war es im Film nicht gestattet, selbst verheiratete Filmfiguren auf einem Bett zu platzieren, und an die Propagierung von außerehelichen Aktivitäten in diesem Feld erst gar nicht zu denken. Wie es Hitchcock nun geschafft hat, diesen fulminanten Einstieg durchzusetzen, sei dahingestellt. Dass er ihn braucht, um das Publikum von Anfang an in lose Gefilde zu führen und so in eine angstlüsterne Position des sehenden Begehrens zu verstricken, soll aber nicht unerwähnt bleiben. Die objektiven Kamerabewegungen im Vorfeld der Duschszene sind diesem ‚brennenden Blick‘ geschuldet und eng mit dem Handlungsgerüst der Thrillerspannung verankert: Das post-koitale Paar hat ein Heirats-, weil Geldproblem, das fremde Geld liegt in Griffweite und könnte eine Lösung sein. Gerade mit diesem Geld gibt sich Hitchcock besondere Mühe. Fortwährend in Detailschüssen fokussiert, jede Geldentnahme und Ortsveränderung minutiös dokumentierend (vgl. Abb. 13-15), sogar mit einem eigenen musikalischen Leitmotiv 20 So („our old friends, the plausibles“; Truffaut, Mr. Hitchcock, S. 108) nannte Hitchcock amüsiert-despektierlich jene Zuschauer, die in Fiktionen nach logischen Entwicklungen und Herleitungen suchen und sich auf diese Weise (denn sie ‚unterschreiben‘ nicht den Fiktionsvertrag) um das Unterhaltungsziel fiktionaler Lektüre bringen. 21 Vgl. Kammerer, Film - Genre - Werkstatt, S. 149ff. 22 Der Production- oder Hays-Code war eine Art Selbstzensur der US-amerikanischen Filmindustrie, um staatlichen Interventionen zuvorzukommen. Der 1930 erstellte Code versprach, dass kein Film produziert werde, der moralische Fragwürdigkeiten ausstelle, und versuchte dies über eine Richtlinienliste (einen besonderen Sperrvermerk erhielten sämtliche Bereiche des Sexuellen) sicherzustellen. Der Code wurde 1968 durch die Einführung der gestaffelten Altersfreigabe abgelöst. Vgl. Neumann, Production Code. <?page no="112"?> Ingo Kammerer 112 ausgestattet, ist das Geldbündel der Dreh und Angelpunkt der ersten 45 Filmminuten. Und ist doch zugleich „überhaupt nichts“ 23 oder eine Abart des so genannten MacGuffin, ergo das „‚reine‘ Zeichen, das nur auf sich selbst verweist“, 24 zwar wichtig für die Figuren des Films, aber, so Hitchcock, ohne jede Bedeutung für Erzähler und Zuschauer. 25 An den 40.000 $ interessiert nur der damit zusammenhängende Gesetzesübertritt und die folgende Flucht einer leidlich sympathischen Figur, weshalb für das besondere rezeptive Bedingungsfeld Psychos festzuhalten ist, dass ein reines Zeichen alle Aktivitäten des Films auslöst und folglich ein nichtiges Ding den Zuschauer vom (Nach-)Denken abhält. Abb. 7-15: Köder und Heringe - Blickmontagen (7-9), post-koitales Paar (10-12), Geld (13-15) Genau betrachtet ist das Geld nämlich ein Ablenkungsmanöver wie der gesamte erste Teil des Films. Denn die nicht eben integre Verwicklung des Zuschauers in die Spannungsdramaturgie von Heiratsplänen, Gelddiebstahl und dilettantischem Fluchtverhalten des einzigen Filmstars der Besetzung ist ein red herring, eine falsche Fährte. Ein Handlungsdreh, um die Wirkung der Duschszene zu potenzieren. Hitchcock manipuliert das Publikum also zu Gefühlen, die keine Lösung erfahren, bindet den Zuschauer ausschließlich an eine Figur, die die Hälfte des Films nicht überleben darf, verwickelt letztlich den Rezipienten in eine Form der lasterhaften Teilnahme, ohne ihm die Gelegenheit zu bieten, das moralische Dilemma wieder abzuschütteln. Es ist ein raffiniertes und zudem durchtriebenes Spiel, das hier mit dem genrespezifischen Sehnen des Zuschauers veranstaltet wird. Denn dieser begehrende (auch hoffende) Blick des Betrachters fließt ja schließlich mit den toten Augen seiner Identifikationsfigur in den Abfluss der Duschwanne und bleibt so im Ganzen ungelöst und unbefriedigt. Wenn dann das in einer objektiven Kamerafahrt präsentierte Geld 23 Truffaut, Mr. Hitchcock, S. 127. 24 Elsaesser, „Dandy in Mr. Hitchcock“, S. 29. 25 Vgl. zum MacGuffin: Truffaut, Mr. Hitchcock, S. 125ff. <?page no="113"?> Alfred Hitchcock, Psycho 113 stumm bleibt und somit nicht nur sein musikalisches Leitmotiv, sondern auch seine angenommene Funktion hörbar verliert, wird der Dreh der Konzeption eigentlich aufgedeckt (vgl. Abb. 16-18). Der Zuschauer aber ist rettungslos überfordert, gewissermaßen allein vor Ort zurückgelassen und hofft nun, wenn der anschließende Kamerablick hoch zur Villa geht und Normans Vorwürfe an ‚Mutter‘ zu hören sind, auf Auflösung und Orientierung. Abb. 16-18: Homerisches Gelächter - Doppelter Bedeutungsverlust (Figur und Objekt) Mit der Duschszene ist der nur ihretwegen platzierte erste Film unbefriedigend geplatzt. Ein zweiter beginnt, der all die im Vorfeld eingebrachten Kategorien der Sinnstiftung spiegeln wird. 3. Zentrum Norman - „We all go a little mad sometimes“ 26 Noch einmal zurück zur Kamerafahrt des Übergangs (Abb. 16-18): Mit der Bewegung über den toten Filmstar hinweg, auf das nun endgültig funktionslose reine Zeichen des verborgenen Geldbündels zu, endet eigentlich unter homerischem Gelächter des Erzählers der Film oder, so könnte man sagen, das teuflische Experiment des Filmemachers mit dem Zuschauer. Es galt das antizipierende Genrepublikum in die Irre zu führen und abschließend zu schockieren und dies ist zweifellos gelungen. Gleichwohl ist die mit der Duschszene erreichte Desorientierung des Publikums natürlich ein Zustand, der ausgenutzt werden will. Zunächst offeriert Hitchcock dem erschöpften Publikum einen trügerischen Erholungsraum. Die akribische Darstellung der Säuberungshandlungen von Norman Bates ist zum einen eine Ruhezone nach ‚Schnittgewitter‘ und unerhörter Plotwendung, zum anderen aber eine neuerliche Unmöglichkeit, denn natürlich werden hier Spuren verwischt. So ist auch dies eine Verstrickungsmaßnahme, die der Rezipient vornehmlich deswegen hinnimmt, da er auf der Suche nach Beruhigung, Sicherheit und Orientierung erneut sein Heil bei einer Figur sucht. Solche Suche korrespondiert mit den aristotelischen Wirkungsbedingungen des klassischen Kinos und des Genrefilms allgemein, wo mit dem Versprechen einer ‚inneren Affektreinigung‘ dem Publikum Spannungsminderung im Zuge der zeitlich begrenzten Allianz mit fiktiven Figuren in Aussicht gestellt wird. Von reichlich fehlgeleitetem Jammer und Schauder umgetrieben, sucht der Zuschauer hier eine Loslösung und neue Orientierungsgrundlage und ‚findet‘ sie schließlich, auch aus Mangel an Optionen, im zwiespältigen Norman Bates. Bates ist ja bereits vor dem Duschmord durch den einzigen Perspektivenwechsel als Zufluchtstätte eingeführt worden (vgl. Abb. 19-21). Dabei allerdings - das Prin- 26 Hitchcock, Psycho, 00: 40: 25f. <?page no="114"?> Ingo Kammerer 114 zip unmoralischer Verstrickung bleibt bestehen - als tadelnswerter Peeping-Tom, der (wie das Publikum auch) seinen Begierden freien Lauf lässt. Nun steht Norman Bates aber unter der Fuchtel einer gruseligen Mutter, ist irgendwie ganz sympathisch und wahrhaftig schockiert bei der Entdeckung der Toten. Ergo springt das Publikum auf seine Seite, nimmt an seiner Vertuschung verwirrt und bejahend teil und wünscht ihm, dass die verwerfliche Tat gelingt. Abb. 19-27: Der Zuschauer als Komplize 27 Wieder sind die Blickmontagen das Verbindungselement. Säuberungs- und Aufräumarbeiten Bates‘ bieten Ansichten für Einfühlung und Projektion (vgl. Abb. 22- 24). Bei der abschließenden Versenkung des Autos (mit Koffer, Mordopfer und Geld! ) kommt es dann aber zu einem magischen Moment des Films, der etwas genauer betrachtet werden soll. Noch einmal: Hier geht es um die Vertuschung eines Mordes und dem kann man wohl kaum zustimmen. Freilich setzt solch ablehnende Haltung einen mündigen und gewissermaßen integren Zuschauer voraus, wovon in Psycho zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auszugehen ist. Das Auto muss verschwinden - und damit evtl. auch die Erinnerung an den bösen Scherz der ersten 45 Minuten. Die Frage ist nur: Wie lässt man dies den Zuschauer selbst formulieren? Hitchcock greift hier, wie oft, zu den Erkenntnissen des Kuleshow-Effekts, nach denen der Zuschauer bei subjektiver Montage automatisch Erblicktes und Blickenden in Beziehung setzt sowie eigene Gedanken und Emotionen auf den eher neutral agierenden Schauspieler projiziert. 28 Wenn nun also das Auto kurzzeitig im Sumpf steckenbleibt und eine Entlarvung der Tat droht, dann wünscht man (für/ mit Norman) den Un- 27 Titel einer Hitchcock-Studie von Jens Malte Fischer. Fischer verdeutlicht, dass in Hitchcock- Filmen über die Gestaltungsmuster subjektive Montage, Suspensedramaturgie und Rollenbesetzung eine sympathetische und kathartische Identifikation mit dem Schurken möglich sei (vgl. Fischer, „Zuschauer als Komplice“) und bezeichnet dies als „das eigentliche ‚skandalon‘ der Filme Hitchcocks“ (S. 148). 28 Vgl. Beller, „Aspekte der Filmmontage“, S. 22. <?page no="115"?> Alfred Hitchcock, Psycho 115 tergang der Beweisstücke und hofft auf das Gelingen der Vertuschungstat. Das abschließende Lächeln Normans, der im Übrigen beim ersten Gegenschnitt vollkommen neutral agiert (vgl. Abb. 25-27), spiegelt gewissermaßen die Erleichterung des Zuschauers wider. Wenn also der Rezipient zehn Minuten nach der Ermordung seiner Identifikationsfigur zur Vertuschung der Tat quasi gedankenaktiv beiträgt, ist nicht mehr zu übersehen: Psycho hat sich längst seinen Idealzuschauer zurechtgeschneidert, der, rettungslos gejagt von eigenen Emotionen und Hoffnungen, zum Spielball in den Händen eines manipulierenden Erzählers geworden ist. Jenes zweigeteilte dramaturgische Zentrum Psychos - Duschmord und Tatvertuschung - veranschaulicht das wesentliche Gestaltungsprinzip dieses ‚Zuschauerfilms‘. Man ist immer nah dran und wird zu widersprüchlichen Emotionen und ‚Handlungen‘ verführt: Opfer und Täter, unschuldig Getriebener und schuldiger Antreiber, Getäuschter und dennoch Gläubiger. Der Rezipient ist auf Dauer der Ansammlung von Hoffnungsdefiziten und unmoralischen Ein- und Ausblicken nicht gewachsen und wird so zum willfährigen Komplizen der jeweils vorgesetzten Handlungsfigur. 4. Der Nachfilm - „As if I could do anything except sit and stare“ 29 Psycho ist als solches ‚Laborexperiment‘ mit dem zweigeteilten Zentrum eigentlich beendet. Was ‚bewiesen‘ werden musste - der Zuschauer am Gängelband des Regisseurs, von diesem auf vielerlei verquere Wege geführt -, ist bewiesen und die folgenden 46 Minuten sind dann auch nurmehr eine Art Nachfilm, eine Form der kriminalartigen Groteske, die auch deshalb den Zuschauer fesseln kann, weil die Verunsicherung durch den Duschmord noch immer anhält. Dabei wird gewissermaßen konsequent die im dramaturgischen Zentrum verdeutlichte Spiegelung der Gestaltungsmotive weitergeführt. Die noch im ‚Vorfilm‘ bevorzugte (und hinterhältige) Eindeutigkeit der Handlungsführung und der ausgelegten Fährten wandelt sich ins Undurchsichtige und Mehrdeutige, das eingangs immer wieder festzustellende ‚Offenbarungsinteresse‘ der objektiven Kameraführung weicht einer verbergenden Verschleierungstaktik. 30 Auch existiert in diesem Nachfilm die eine Identifikationsfigur nicht mehr. Vielmehr wird nun dem Publikum eine Anzahl von Reflektorfiguren angeboten, ohne dass man sich an eine davon besonders binden kann oder will. Selbst die Blickmontagen - im Vorfeld der Dusche klar im Bezugsfeld der Thrillerspannung funktional - werden nun zum Zuschauer hin gelegentlich weit geöffnet und vieldeutig. Wenn beispielsweise Lila Crane auf der Suche nach ‚Mutter‘ die trutzige Villa durchschreitet (ab ca. 01: 31: 30), sind all jene Elemente im Spiel, die Hitchcock so liebt, um das Publikum in die Handlung zu verstricken. Der erneut wirksame Kule- 29 Hitchcock, Psycho, 01: 43: 05f. 30 So ist z.B. die unter die Decke fliegende Kamerafahrt, bevor Norman ‚Mutter‘ in den Keller trägt, nicht mehr aufdeckend und zugleich verstrickend wie noch im Vorfilm, sondern Geheimnis umwittert und tatsächlich eine Entfernung des Publikums von der Intrige. Vgl. Hitchcock, Psycho, 01: 21: 49-01: 22: 54. <?page no="116"?> Ingo Kammerer 116 show-Effekt in beinahe reiner Form überlässt es aber hier vollständig dem Zuschauer, Sinn zu stiften. Die Objekte, die Lila in den Blick nimmt, können vieles bedeuten und bedeuten letztlich doch nichts oder eben das, was der Zuschauer auf sie projiziert. Da nun der Höhepunkt des Films längst überschritten, das Experiment mit dem Publikum, wie erwähnt, bereits beendet und demnach keine Verstrickung mehr vorgesehen ist, ist auch keine Zeichenbedeutung noch wirklich relevant. Somit lässt z.B. der rein durch Blickmontagen erzählende Film in Normans Zimmer (vgl. Abb. 28-36) viele Möglichkeiten der (emotionalen) Zuschreibung auf Normans Charakter zu: sexuell konnotierte, die Regression des Bewohners betreffende, den Psychopa t hen in ihm erläuternde, aber auch eher neutral bezeichnende. Jeder Zuschauer gestaltet hier seinen Aktivierungsgrad selbst und wenn Donald Spoto in Bezug auf das titellose Buch (das er als pornografische Schrift entlarvt; vgl. Abb. 34f.) in Lilas Gesicht (vgl. Abb. 36) eine „schockierte Reaktion“ gesehen haben will, 31 dann ist das eine Bedeutungsprojektion unter vielen möglichen. Abb. 28-36: Bedeutungsoffene Blickmontagen Hitchcock überlässt mit diesen offenen Tableaus dem Zuschauer die Ausgestaltung seines Anspannungsraums. Natürlich weiß der Strippenzieher, dass die Duschszene noch immer ihre Wirkung tut und ‚Mutter Bates‘ noch nicht in Erscheinung getreten ist. Also kann er den Betrachter vollkommen frei beteiligen an der Ausgestaltung dieses Nachfilms, der doch keine andere Funktion hat als die der Anspannungsdehnung vor der ‚Aufdeckung‘ des Geheimnisses. Jenes damit gemeinte Kennenlernen ‚Mutters‘ (ab ca. 01: 36: 37) - und das ist das Ziel des Nachfilms und der möglicherweise letzte ‚Hoffnungsanker‘ des Zuschauers - wendet den Film dann endgültig zur reinen Farce. Die mirakulös sich in Richtung Zuschauer drehende Mumie, der überzogene und gedehnte Schrei Lila Cranes, Norman Bates wild lachend in der Halbtotalen und der rettungslos überspielte 31 Spoto, Alfred Hitchcock und seine Filme, S. 342. <?page no="117"?> Alfred Hitchcock, Psycho 117 Überwältigungskampf sind eigentlich nicht mehr ernst zu nehmen. Hitchcock demaskiert das ganze Unterfangen der Handlungsverschleppung hier recht deutlich und doch wirken wieder die musikalischen ‚Streicherdolche‘ und mit ihnen die Erinnerung an die bereits weit zurückliegende Szene. Die folgende zweite Auflösung durch den Psychiater ist nur noch für all jene ‚Wahscheinlichkeitskrämer‘ gedacht, die es ganz genau wissen wollen. Allerdings wird auch hier eigentlich nichts wirklich verdeutlicht: In Psycho geht es eben nicht um den Transvestiten Norman Bates, sondern um die Travestie des Films - nicht um die ödipale Beziehung von Mutter und Sohn, sondern um die Abhängigkeit des Rezipienten vom Autor - überhaupt nicht um Figuren auf der Handlungsebene des Films, sondern um die hinzukommende Figur des Zuschauers, ohne die der Film nicht funktioniert - schließlich auch nicht um Geld, sexuelle Neurosen oder andere Handlungsintrigen und deren Lösung, sondern um die Verwicklung des Publikums in einen Manipulationsplot der Willkür. Ohne Frage, Psycho ist schon auch ein böser Scherz mit dem Publikum. Das Schlussbild (01: 43: 46f.) des aus dem Sumpf gezogenen Autos erinnert den Zuschauer noch einmal an vergangene Taten, auch an das darin platzierte Geld, das ja als eine Art Auslöser der folgenden ‚Übertritte‘ bezeichnet werden kann. Hier findet keine Schonung des unmoralisch Verstrickten statt, auch nicht, wenn das Zerschneiden des Bildes - ein Rückbezug auf den Filmvorspann - das filmische Prinzip der Montage, der Perspektivenführung durch Schnitt, also des gewollten Sehens und Verbergens beschwört. Wo aber ist nun der ‚Spaß‘ des Ganzen auszumachen? Hitchcock hat ja mehr als einmal erklärt, wie königlich er sich bei der Produktion von Psycho amüsiert habe: Er sprach immer von (s)einem „fun picture“. 32 Aber wie bei anderen Aussagen Hitchcocks muss man auch hier vorsichtig sein bzw. genau hinsehen. Zum Beispiel auf den Trailer zu Psycho. 33 32 „You have to remember that Psycho is a film made with quite a sense of amusement on my part. To me it’s a fun picture. The process through which we take the audience, you see, it’s rather like taking them through the haunted house at the fairground“, Hitchcock, zitiert in Wood, „Psycho“, S. 74. Im Interview mit Bogdanovich verdeutlichte Hitchcock: „Wenn ich humorvoll sage, dann meine ich damit meinen Humor […]. Hätte ich dieselbe Geschichte auf ernsthafte Art erzählen müssen, dann hätte ich den Verlauf einer Krankengeschichte dokumentiert und diese nicht mit den Mitteln des Krimis oder Suspense wiedergegeben. Es hätte sich dann darauf beschränkt, was der Psychiater am Ende berichtet“, Bogdanovich, „Synonym für ‚Suspense‘“, S. 651. 33 In diesem (Meta-)Trailer fungiert Hitchcock als eine Art Tour-Guide, der den Zuschauer zu verschiedenen Räumen des Films führt (allesamt im Setting Motel mit Villa) und ihn auf einige Attraktionen desselben hinweist. Inhalte der Filmstory werden aber immer nur bis zu einem bestimmten Punkt preisgegeben, um dann vielsagend zwinkernd abzubrechen (im Stil von: „This picture has great significance, because ... Let’s go to Cabin No. 1“; Hitchcock, Trailer Psycho, 04: 36f.; s.a. Abb. 38). So erhält man manchen Einblick in das Kommende (mehrere Morde, III. Fun Picture Psycho <?page no="118"?> Ingo Kammerer 118 Zunächst ist dies ein Trailer, in dem ein merklich lustvoll agierender Autor die Zuschauer mit auf eine Tour durch die Film-Settings nimmt (vgl. Abb. 37-39). Natürlich verrät Hitchcock hier nicht alles über den Film, er stellt vielmehr grauenhafte Details fröhlich als Attraktionen in Aussicht und macht den Zuschauer so schon im Vorfeld zum begehrenden Komplizen, denn solches will durchaus ‚gesehen‘ werden. Was somit textsortenspezifisch konsequent gestaltet ist - das Publikum soll ja den Hauptfilm aufsuchen -, ist infolge der besonderen Präsentation durchaus außergewöhnlich. Denn Hitchcock, der Regisseur und Gestalter, ‚verrät‘ beim Gang durch die Filmräume nichts weniger als den Fiktionsvertrag, indem er dem Betrachter durch seine Anwesenheit zeigt, dass hier ein Autor von seiner Kunstschöpfung erzählt, während er durch die dafür geschaffenen Kulissen spaziert. 34 Abb. 37-39: Psycho Sightseeing Wenn der Brite hier also mit der Realitätsillusion des Films schon im Vorfeld bricht, dann ist das in dieser Deutlichkeit sicherlich auffällig, bei genauer Betrachtung seiner Filme allerdings auch irgendwie vertrautes Terrain. Es gehört mit zu den Eigenarten dieses Genrewerks, dass immer wieder auf die Gemachtheit seines Spannungsraums verwiesen wird. Da ist der spezielle Humor des Briten, der oft genug in Momenten steigernder Anspannung gezündet wird und den Zuschauer blitzartig von der einen Emotion der Nähe in die andere der Distanz führt. Zudem gibt es bekanntlich in jedem Film einen Auftritt Hitchcocks in seiner Schöpfung. Jene Cameos - für das damalige Publikum eine der Attraktionen eines Hitchcock-Films - sind stets auch eine Produktionsoffenbarung, die den Rezipienten kurzzeitig und fröhlich vom Fil m inhalt distanziert. 35 Zuschauer eines Hitchcock-Thrillers sind also von Anfang an problematische Mutter-Sohn-Beziehung, Handlungsort Villa mit Motel), antizipiert auch Beziehungen, ohne aber die Zusammenhänge wirklich erkennen zu können. 34 James Allardice, einer der Autoren Hitchcocks, schrieb den Trailer zu Psycho (vgl. Arnold, „23 Minuten“, S. 168) und orientierte sich dabei in Vorgehen und Stil an den ebenfalls von ihm verantworteten Rahmenhandlungen zur Fernsehserie „Alfred Hitchcock presents“. Jenen Rahmen der seit 1955 ausgestrahlten Fernsehserie beherrschte allein Hitchcock, indem er mit Blick in die Kamera „witzig-makabre Einführungen“ (Hahn/ Giese, Alfred Hitchcock, S. 113) zu den folgenden TV-Krimifiktionen zum Besten gab. Das Konzept war ausgesprochen erfolgreich und so war es ein logischer Schritt, die erzielte Popularität des Briten für seine Kinofilme zu nutzen. Obgleich das Publikum die Art der Ansprache also kannte, war dann die fiktionalfaktuale Vermischung der Inhaltsbereiche im Psycho-Trailer (Hitchcock im Filmsetting) etwas Neues, ebenso die direkte Bezugnahme auf konkrete Filminhalte im Sprechtext. Deutlich wird aber sowohl da als auch dort: Star des Films ist der Regisseur. 35 Vgl. Kammerer, Film - Genre - Werkstatt, S. 167ff. <?page no="119"?> Alfred Hitchcock, Psycho 119 immer ein wenig entillusioniert und erwarten den Spaß der hurtigen Spannungsunterbrechung und entlarvenden Selbstreferenz des Autors. Psycho, der Hauptfilm, scheint da dann aber eine Ausnahme zu sein. Zwar tritt hier Hitchcock auf, jedoch beinahe versteckt, im Hintergrund und unter einem Stetson verborgen. 36 Auch schreitet der Film recht ernst und düster voran und vielleicht hat ja der Autor mit dem Trailer bereits seine humorvollen Karten ausgespielt. Keineswegs. Die Komik ist hier sogar deutlicher als in seinen anderen Filmen eine Auswirkung der Figuren-Zuschauer-Allianz. Wie bereits zu Beginn verdeutlicht, lässt Hitchcock in Psycho die Protagonisten aus ihrer Rolle springen und das Publikum direkt adressieren (vgl. Abb. 1-3). Der Zuschauer wird an-, möglicherweise auch ausgelacht, in jedem Fall ‚erkannt‘ und auf das Spiel (mit ihm? ) hingewiesen. Diese kaum zu ignorierende Durchbrechung der filmischen Illusion ist ein absolut genrefremder Effekt, ein ironisches Verständigungssignal aus der Anderswelt, das für einen parodistischen Unterton sorgt und als ein Hinweis auf die Lektüreoption von Psycho als Komödie gelesen werden kann. Natürlich eine schwarze Komödie, denn die Sujets und Figuren sind ja nicht gerade herzerwärmend. Aber doch scheinen die Akteure zu zwinkern, den Unernst ihrer Handlungen zu entlarven und den Angesprochenen darauf hinzuweisen, dass ein zweiter Blick auf den Film lohnend sein wird. Zugegeben, eine zweite Filmansicht ist wohl nötig, denn die Duschszene beeindruckt bei der ersten Konfrontation doch sehr. Sie wird auch späterhin nie wirklich komische Wirkung erzielen. Manches andere allerdings schon. Es wird nun eben die gesamte Machart um das Zentrum der doppelten Verstrickung erkennbar. Die auf Überwältigung abzielende Dramaturgie, all jene um die Mittelachse herum gespiegelten Erzählformen des ‚reinen Films‘ können wahrgenommen und durchaus schmunzelnd genossen werden. Die Farce im Obstkeller der Bates-Villa wird endlich und umso deutlicher sichtbar, der Ablenkungs- und Entlarvungsspaß mit dem Geld- MacGuffin, dem Roten Hering, bleibt nicht mehr unerkannt und manche Sätze Norman Bates‘ wie „[Mother] isn’t quite herself today“ oder „[Mother] is as harmless as one of those stuffy birds“ 37 erhalten eine neue, durchaus erheiternde Bedeutung. D.h. natürlich auch, dass der Zuschauer auf der Suche nach der Komik Analyse betreibt und seine eigene Manipulierbarkeit durch den Film zu durchschauen lernt. Komische Distanzierung als Befreiung von einem Alpdruck zu empfinden und dabei auch noch etwas über sich selbst (und über das Medium Film) zu lernen: Es mag wohl merkwürdig klingen, aber dieser Film besitzt, gerade weil er trickreich den Zuschauer verstrickt und ihm dies auch aufzeigt, eine Art implantierten Erkenntnishebel zur Selbstbefreiung aus fremdbestimmter Unmündigkeit. Somit ist das fun picture auch jenseits der von Hitchcock wohl anvisierten persönlichen Manipulationsbefriedigung 38 eine Reaktion auf die innerfilmisch ‚gesetzte‘ 36 Vgl. Hitchcock, Psycho, 00: 06: 21f. 37 Vgl. Hitchcock, Psycho, 00: 32: 15f. u. 00: 39: 31f. 38 Spoto notiert eine Erinnerung des Drehbuchautors Ernest Lehman (North by Northwest, Family Plot), in der Hitchcock das Publikum mit einer Orgel vergleicht, auf der die Filmautoren spielen. Eines Tages, so Hitchcock, werde man für diese Art Unterhaltung evtl. gar keinen Film <?page no="120"?> Ingo Kammerer 120 Dekonstruktion. Zeichen des Textes offerieren eben konkret (mindestens) eine lohnenswerte Neu- oder Gegenlektüre. Der ‚implizite Leser‘ (W. Iser) kann sowohl fiktional eintreten und sich einfühlend gruseln, als auch zurücktreten, den ohnehin belanglosen Inhalt ignorieren, die Machart der Verwicklungsköder durchschauen und schließlich über seine leichte Manipulierbarkeit im Kino und unter den Händen eines Hitchcock schmunzeln. Es sind vor allem die Direktadressierungen der Hauptfiguren, die eine solche Lesart anbieten, wenn nicht aufdrängen: Marions Kontaktaufnahme während wüster Bestrafungsfantasien des bestohlenen Klienten im voiceover, ‚Mutters‘ augenlose Verspottung nach effektiver Fahrt im Drehstuhl und freilich Normans Blick vor der doppelten Schlusspointe. 39 Natürlich hatte Psycho schlechte Presse. 40 Das war dann doch alles zu neu und irgendwie zu ‚böse‘, letztlich auch nicht der vertraute Hitchcock, jener ‚Master of Suspense and Humour‘, den man schätzte (wenn auch noch nicht wirklich ernst nahm). Das Publikum kümmerte sich aber nicht darum und stürmte die Kinos. Der Film wurde ein Welterfolg und etablierte ganz nebenbei die noch heute gültige Gewohnheit, pünktlich ins Kino zu gehen. Es war allen Verantwortlichen natürlich klar, dass man in einen Film, der seinen einzigen Star schon früh verabschiedet, nicht verspätet eintreten darf. Da solches damals aber durchaus üblich war - ins Kino zu gehen, wann man wollte, also auch mitten im Film, und den verpassten Anfang innerhalb der nächsten Vorstellung nachzuholen -, galt es hier zu disziplinieren (und ganz nebenbei: den Kunstwert des Films zu behaupten). Also wurde eine Broschüre mehr brauchen, sondern eingepflanzte Elektroden in den Zuschauerhirnen durch Tastendruck direkt stimulieren können. „Wird das nicht wunderbar sein? “ (Vgl. Spoto, Die dunkle Seite des Genies, S. 485) Die Orgel als Manipulationsinstrument und der Regisseur als manipulierender Hypnotiseur (er verglich sich häufig mit der literarischen Figur Svengali aus du Mauriers Roman Trilby; vgl. z.B. Bogdanovic, Synonym für „Suspense“, S. 586) waren immer wieder gewählte Bilder Hitchcocks, mit denen er seine Motivation als Filmemacher verdeutlichte. Bezüglich Psycho meinte er zu Truffaut: „Dieser Film ist sehr interessant konstruiert. Es war, was das Spiel mit dem Publikum betrifft, für mich die aufregendste Erfahrung. In Psycho habe ich das Publikum geführt, als ob ich auf einer Orgel gespielt hätte“ (Truffaut, Mr. Hitchcock, S. 264). 39 Gemeint ist die doppelte Überblendung von Norman auf Mutters Mumiengesicht und schließlich auf die Bergung von Marions Fahrzeug aus dem Sumpf (so dass auch hier wieder alle drei Blickgeber mehr oder weniger in einem Bild erscheinen); vgl. Hitchcock, Psycho, 01: 43: 44. 40 Bekannt geworden ist die zwiespältige Einstufung von Bosley Crowther, dem damaligen Filmkritiker der New York Times (vgl. Kolker, „Early Reception“, S. 57-59). Anfangs (Juni 1960) eher enttäuscht und negativ urteilend - er erkennt einen „obviously low-budget job“, empfindet den Film „slowly paced for Mr. Hitchcock“, die Machart im Ganzen „old-fashioned melodramatics“ und die Auflösung „quite flat“ (S. 58) - macht Crowther zum Jahresende eine Kehrtwende, zählt Psycho zu den zehn besten Filmen des Jahres, denn „[s]ensual and sadistic though it was, it represented expert and sophisticated command of emotional development with cinematic techniques“ (S. 59). Es ist anzunehmen, dass bei Crowther und vielen anderen ein zweiter Blick auf neue Einsichten ermöglichte. IV. Archetyp Psycho Ps c y ho <?page no="121"?> Alfred Hitchcock, Psycho 121 zum „sorgsame[n] Umgang mit Psycho“ 41 entwickelt und schwor man die Kinobesitzer darauf ein, keinen Zuschauer nach Beginn der Vorstellung mehr einzulassen. Hitchcock insistierte von Plakaten, in Zeitungsinseraten und als Pappkamerad darauf, pünktlich zu sein und doch bitte nichts über den Film zu verraten, was wohl auch beherzigt wurde: Die Komplizenschaft mit dem Briten war auch durch den zuvor erlittenen bösen Spaß nicht aufzulösen. 42 Hitchcocks in der Erstauswertung zwar äußerst einträglicher, aber eben doch von der Kritik weitgehend abgelehnter Film wurde schon wenige Jahre später als ein „Schlüsselwerk“ der Moderne, 43 als „Lehrstück visuellen Erzählens, dem eine unübertroffene Bildlogik innewohnt“, 44 erkannt und entwickelte sich zu einem der einflussreichsten Archetypen unserer Zeit. Viele Filmproduktionen der letzten Jahrzehnte orientieren sich mehr oder weniger auffällig an ihm, Psycho-Zitate sind eine gern gewählte filmische Bezugnahme anderer Regisseure, 45 zudem gilt das Werk (insbesondere dank der Duschszene) als „‚Portalfilm‘ für den ‚modernen‘ Horror“ 46 und hat demnach manches Subgenre des Leinwandgrauens mit auf den Weg gebracht. Auch wurden Se- und Prequels um Norman Bates’ Geschichte, 47 jüngst erst eine Fernsehserie 48 und 1998 sogar das bis heute einmalige Paradox einer (beinahe) Bild-für-Bild-Kopie des Films in Farbe produziert. 49 Doch nicht nur Filmschaffende huldigen dem Vorbild: Psycho ist längst Mainstream und selbstverständlicher Teil der Populärkultur geworden, 50 was gleichwohl nicht ausschließt (eventuell sogar 41 Rebello, Geschichte von Psycho, S. 274. 42 Vgl. ebd. S. 269-286. 43 Z.B. bei Wood, der eine eigenwillige historische Verbindung stiftet: „Psycho is one of the key works of our age. Its themes are of course not new […] but the intensity and horror of their treatment and the fact that they are here grounded in sex belong to the age that has witnessed on the one hand the discoveries of Freudian psychology and on the other the Nazi concentration camps“ (Wood, „Psycho“, S. 83). 44 Schmidt, „Psycho“, S. 413. 45 Seeßlen spricht von einem „‚Psycho‘-Syndrom“ (vgl. Thriller, S. 142-159 u. 194-202) insbesondere der frühen 60er Jahre, bei zumeist starker Konzentration auf die Shocker-Qualitäten des Vorbilds (es sei dies, so Seeßlen, die „Entwicklung eines ‚Kinos der Scheußlichkeiten‘“ gewesen; S. 150); aber auch vergleichsweise seriöse Filme wie Repulsion, Le locataire (GB 1965/ F 1976, R. Roman Polanski), Carrie, Dressed to Kill (USA 1976/ 1980, R. Brian de Palma), The Exorcist (USA 1973, R. William Friedkin), Halloween (USA 1978, R. John Carpenter), Fatal Attraction (USA 1987, R. Adrian Lyne) oder Hostel (USA 2005, R. Eli Roth) sind ohne das Modell Psycho kaum denkbar. 46 Vonderau, „Hands of a Maniac“, S. 129 (Herv. v. I.K.). 47 Psycho II (USA 1982, R. Richard Franklin), Psycho III (USA 1986, R. Anthony Perkins) und Psycho IV - The Beginning (USA 1990, R. Mick Garris). 48 Bates Motel (USA 2013f.). 49 Psycho (USA 1998, R. Gus van Sant). 50 Man denke etwa an das durch Dauerpräsenz inzwischen (beinahe) vom Film losgelöste reine musikalische Zeichen der ‚Streicherdolche‘ von Bernard Herrmann. <?page no="122"?> Ingo Kammerer 122 erklärt), dass ein Künstler wie Douglas Gordon den Film auf 24 Stunden dehnt und mit diesem ‚Tagesvideoband‘ in den großen Museen der Welt reüssieren kann. 51 Psycho ist ein paradigmatisches Werk der Filmgeschichte. Das Ende der klassischen Erzählung, der Genresicherheit, der Zuschauerpflege und Einhaltung der ‚Spielregeln‘ wird mit diesem Film eingeläutet: Die Moderne des Kinos nimmt hier ihren Ausgang. Es ist bis heute, obwohl er eigentlich eine Sonderstellung im Werk des Briten einnimmt 52 (aber vielleicht auch gerade deswegen), der erfolgreichste und bekannteste Film Alfred Hitchcocks geblieben. Jenes verstrickende und gleichzeitig aufklärerische Spiel mit dem Publikum, jene Filmschule der Gefühlsmanipulation oder, wie Georg Seeßlen so treffend anmerkt, jenes „Bild-Werden des Zweifels selber“: 53 Hier wird es in einem Text ausgestellt und zur ganz unterschiedlich gearteten Nutzung angeboten. Der Psychologe Gerhard Bliersbach behauptete einmal, dass die traumatischen Erfahrungen eines geschauten Hitchcock-Films uns wohl zu einem „Wiederholungszwang“ der Filmansicht, zu einem Wiederbegegnungsritual im Kino verführten, ohne dass das erlittene Trauma sich wirklich bewältigen ließe. 54 Ganz sicher hätte Hitchcock diese Perpetuum-Mobile-Effizienz gut gefallen. Doch unabhängig davon, ob Bliersbach hier nun Recht hat oder nicht, scheint eine Zweitansicht von Psycho in jedem Fall lukrativ. Erst dann erkennt man gewissermaßen das Zwinkern, den manipulativen Spaß hinter der filmischen Machart und amüsiert sich womöglich wie weiland Hitchcock: ein bisschen über den Film und sehr über sich selbst. 51 Gemeint sind die beiden Videoinstallationen 24 Hour Psycho (1993) und 24 Hour Psycho Back and Forth and To and Fro (2008) von Douglas Gordon; vgl. hierzu Frohne, „Anamorphosen des Kinos“, insbes. S. 164ff. 52 Hitchcocks Werk ist wesentlich von der dramaturgischen Entscheidung bestimmt, dass der Zuschauer an entscheidenden Stellen des Plots mehr weiß als die Haupt- und Identifikationsfigur (Suspense-Effekt; vgl. Borringo, Spannung in Text und Film, S. 38-58). Die dadurch herbeigeführte „doppelte Optik“ des Zuschauers (vgl. Kammerer, Film - Genre - Werkstatt, S. 154), welche aus der ambivalenten Verbindung von auktorialem Mehrwissen und personaler Einschränkung resultiert, findet in Psycho keine Berücksichtigung. Das Publikum ist hier nicht ‚Mitgestalter‘, sondern Gegenstand der Intrige. 53 Seeßlen, Thriller, S. 148. 54 Vgl. Bliersbach, „Gelungene Träume? “, S. 65 u. 72. <?page no="123"?> Alfred Hitchcock, Psycho 123 Filmographie Psycho. Produktion: Paramount/ Shamley Productions, USA, 1960. Regie: Alfred Hitchcock. Drehbuch: Joseph Stefano nach dem Roman von Robert Bloch. Kamera: John L. Russell. Musik: Bernard Herrmann. Darsteller: Anthony Perkins (Norman Bates), Janet Leigh (Marion Crane), Vera Miles (Lila Crane), John Gavin (Sam Loomis), Martin Balsam (Milton Arbogast). DVD: Universal Studios, Die Hitchcock Collection 2003, EAN: 3259190278318. Bibliographie Arnold, Frank, „Du hast nur 23 Minuten. Alfred Hitchcocks Fernseharbeiten“. In: Alfred Hitchcock. Hg. v. Lars-Olav Beier u. Georg Seeßlen. Berlin 1999, S. 163-184. Balint, Michael, Angstlust und Regression. Übers. v. Konrad Wolff. Stuttgart 1999. Beller, Hans, „Aspekte der Filmmontage. Eine Art Einführung“. In: Handbuch der Filmmontage. 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Abb. 10: Hitchcock, Psycho, 00: 02: 45 Abb. 11: Hitchcock, Psycho, 00: 03: 35 Abb. 12: Hitchcock, Psycho, 00: 04: 01 Abb. 13: Hitchcock, Psycho, 00: 10: 30 Abb. 14: Hitchcock, Psycho, 00: 20: 30 Abb. 15: Hitchcock, Psycho, 00: 30: 30 Abb. 16-18: Hitchcock, Psycho, 00: 46: 38-00: 47: 21 Abb. 19-21: Hitchcock, Psycho, 00: 42: 24-00: 42: 34 Abb. 22-24: Hitchcock, Psycho, 00: 50: 29-00: 50: 44 Abb. 25-27: Hitchcock, Psycho, 00: 56: 52-00: 57: 00 Abb. 28-36: Hitchcock, Psycho, 01: 34: 13-01: 34: 55 Abb. 37: Hitchcock, Trailer Psycho, 00: 01: 18 Abb. 38: Hitchcock, Trailer Psycho, 00: 04: 43 Abb. 39: Hitchcock, Trailer Psycho, 00: 05: 45 <?page no="127"?> Adina Sorian Nichts liegt jenseits der Vorstellungskraft des berühmten Filmemachers Guido Anselmi, dem Protagonisten von Fellinis Achteinhalb (Otto e mezzo), außer wer er eigentlich ist und was er will. Zu Beginn von Achteinhalb weiß Anselmi nicht mehr, wie und warum er überhaupt die Arbeiten an seinem neuen Film fortführen soll. Seine Ehe droht an seiner ständigen Untreue zu zerbrechen und in seinem Kopf herrscht ein Durcheinander, das jede Inspiration verhindert. Eingezwängt zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und innerem Schaffensdruck steckt der Starregisseur, ein Mann im mittleren Lebensalter, in einer persönlichen und künstlerischen Krise. Inzwischen laufen die Vorbereitungen für seinen neuen Film - einem Science-Fiction-Werk für das er am Set in der Filmstadt eine gigantische Stahlkulisse hat errichten lassen - auf Hochtouren. In einem renommierten Kurort sucht Guido etwas Abstand vom Alltag und trifft dort all jene Personen wieder, die unweigerlich Teil seines Lebens sind: seine Frau, die er einlädt, ihm nachzureisen, obwohl er seine Geliebte in einem Hotel bei sich in der Nähe untergebracht hat, der Schriftsteller der mit ihm über sein Drehbuch sprechen will, und die Schauspielerin, die darauf drängt zu erfahren, was für eine Rolle sie spielen wird. Reale Begegnungen und Gespräche vermischen sich bald mit Erinnerungsbildern aus der weit zurückliegenden Kindheit, bald mit sexuellen Fantastereien, und der Ort, der Guido Erholung spenden sollte, verwandelt sich zusehends in ein purgatorio, das von Huren ebenso bevölkert wird wie von mythisch idealisierten Madonnengestalten, Geistlichen, und Guidos längst verstorbenen Eltern. 1 Inspiriert von C.G. Jungs Traumtheorie und Archetypenlehre ist Achteinhalb Fellinis erste Erkundung der Phänomene Traum, Erinnerung, Kindheit und Imagination; eine der Logik des Unbewussten folgende, in Schwarzweiß komponierte Reise durch Guidos vielschichtige Erfahrungswelt, in der Reales und Imaginäres zu unterscheiden unmöglich ist. In weiten Teilen ist der Film ein selbstreflexiver kinematografischer stream of consciousness - Grund für Filmkritiker und Rezensenten, ihn mit Joyces Ulysses und Prousts À la recherche du temps perdu zu vergleichen (vgl. Moravia zit. in Fava u. Vigano, S. 115, vgl. auch Miller, S. 116). Auch wenn Fellini in einem Interview betonte, weder den einen noch den anderen Roman gelesen zu haben (Constantini, Fellini on Fellini, S. 57-58), sind sowohl die von Joyce perfektionierte Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms als auch die der Strategie der Recherche stark ähnelnden selbstreflexiven Verfahrensweisen des Films Kernstück und Lebenspuls von Achteinhalb. Erscheint der Film somit einerseits als Kind seiner Zeit - der Ära der cinéphilie, in der Kino nicht nur als 1 Zu den intertextuellen Bezügen zu Dantes Commedia vgl. Lewalskis, „Federico Fellini’s Purgatorio“. Federico Fellini, Otto e mezzo <?page no="128"?> Adina Sorian 128 kommerzielle Massenveranstaltung gesehen wurde, sondern als vollwertige Kunst, und der Regisseur, in Analogie zum literarischen Schriftsteller, zu deren alleinigem Schöpfer erhoben wurde -, so weist er andererseits über diese unter dem Begriff der Autorenpolitik (politique des auteurs) in die Filmgeschichte eingegangene kulturelle Praxis hinaus. Fünf Jahre bevor der Literaturtheoretiker und Poststrukturalist Roland Barthes den ‚Tod des Autors‘ ausrufen sollte, so möchte ich im Folgenden zeigen, präsentiert sich Fellini als ein Regisseur, der das Konzept des ‚großen‘ Autor-Regisseurs zugleich dekonstruiert und bestätigt. Wie ich nachstehend argumentiere, bewegt sich Achteinhalb in einem produktiven Spannungsfeld zwischen der im Kino und in der filmwissenschaftlichen Praxis bis in die 1960er Jahre vorherrschenden Autorenpolitik, der zufolge der Regisseur als auteur seines Werks sämtliche Aspekte des Films bestimmte, einerseits, und der Krise derselben, die im Anschluss an Barthes Postulat vom ‚Tod des Autors‘ in den 1970er Jahren in der Kinolandschaft Einzug hielt, andererseits. Die Idee vom ‚großen Filmemacher‘, die in den 50er und 60er Jahren die internationalen Filmfestspiele ebenso beherrschte wie die Cahiers du cinéma, 2 verbindet sich in Achteinhalb mit dem Bewusstsein über die wesentliche Unvollkommenheit und Brüchigkeit des Konzepts des großen Filmautors: schöpferische Bemühungen sind stets prekär; ihr Weg ist nie von vornherein abzusehen, und Autorschaft ist immer nur Ausdruck eines sich im kreativen Akt herstellenden, kontingenten Subjekts, dem erst nachträglich ‚Autorität‘ zugesprochen werden kann. Das zeigt uns der rat- und rastlose Guido und verweist damit durch einen raffinierten Kunstgriff Fellinis zugleich auf den großen Filmemacher Fellini selbst - Italiens Meisterregisseur, der sich, wie er in einem Interview berichtete, während der Vorbereitung zu Achteinhalb in einem Zustand äußerster künstlerischer Verworrenheit befand. ‚Bella Confusione‘ lautete der Arbeitstitel Achteinhalbs, und gerade diese schöne, eigentümlich planvolle Verworrenheit versinnbildlicht den besonderen, selbstreflexiven Charakter des Films, die typisch ‚fellineske‘ Melancholie, Leichtigkeit des Humors, sowie souveräne Bildlichkeit - Spezifika, die von zahlreichen wichtigen Theoretikern als große Symbole der filmischen Moderne gefeiert wurden. Bis heute findet Achteinhalb in vielen bedeutenden internationalen Filmen und Fernsehproduktionen Widerhall, vom Musikvideo zu R.E.M.s „Everybody Hurts“ zu Charlie Kaufmans Synecdoche New York. Neben vielen anderen Prämien brachte Achteinhalb Fellini einen Oscar für das Beste Drehbuch und Nominierungen für Beste Regie, Bestes Sujet, und Beste Originalbauten ein, und für die Filmmusik von Nino Rota gewann der Film einen Nastro d’Argento. Das British Film Institute zählt Achteinhalb, der nach Fellinis eigener Zählung das achteinhalbte seiner Werke war, zu den größten Filmen aller Zeiten. 2 Die Cahiers waren eine von André Bazin, François Truffaut, Jean-Luc Godard und anderen Filmregisseuren der Nouvelle Vague mitherausgegebene Filmzeitschrift, die die spezifischen Regeln der kinematografischen Kunst begreifen wollte und als repräsentativ für die politique des auteurs gelten kann. ‚ <?page no="129"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 129 Während er noch im Vorgängerfilm La dolce vita mit seiner Darstellung der Hautevolee im Rom der fünfziger Jahre Anschluss an die gesellschaftliche Wirklichkeit gesucht hatte, kehrte Fellini mit Achteinhalb in den Augen vieler dem italienischen Neorealismus den Rücken. Der Neorealismus, der 1943 noch während der Zeit des italienischen Faschismus entstand, als das italienische Kino sich programmatisch gegen den Illusionismus des Hollywood-Kinos und das faschistische Kino der Mussolini-Ära abzusetzen begann, forderte einen neuen Realitätsbegriff und damit ein neues Kino auf allen Ebenen. Gegen die schmeichelhaften und verfälschenden Darstellungen der italienischen Gesellschaft wie sie das Vorkriegskino praktizierte, wandten sich Regisseure wie Visconti, Rossellini, De Sica, Fellini, und Antonioni - teils während des Krieges und in großem Stil danach - indem sie die momentanen wirtschaftlichen und sozial äußert prekären Bedingungen in den Fokus rückten. Nicht mehr Heldenpathos und Propaganda sollten das Kino dominieren, sondern der Blick auf die ungeschminkte Wirklichkeit, auf die alltäglichen Geschehnisse, das Leben der kleinen Leute. Gedreht wurde an Originalschauplätzen, häufig kamen Laienschauspieler zum Einsatz und auf aufwändige technische und ästhetische Mittel wurde weitgehend verzichtet, möglichst sogar auf ein Drehbuch (vgl. Leonhard, Medienwissenschaft, S. 1219-1220). Diesen Realismus-Begriff (den Fellini in seinen Filmen La strada (Das Lied der Straße, 1954), Il bidone (Die Schwindler, 1955) und noch La dolce vita (Das süße Leben, 1960), der zu großen Teilen in Rom auf offener Straße gedreht worden war, in vielerlei Hinsicht erfüllte) fasste der Regisseur spätestens nach La dolce vita, der Film, der ihm sowie Marcello Mastroianni 1960 zu Weltruhm verhalf, offenbar weiter. „Realismus“, so fand Fellini bereits 1959, „ist ein schlechtes Wort. In einem gewissen Sinne ist alles realistisch. Ich sehe keinen Trennungsstrich zwischen der Vorstellung von Wirklichkeit. Ich sehe viel Wirklichkeit in der Vorstellung“ (Fellini, Aufsätze und Notizen, S. 194). Während Fellini damit für viele den Neorealismus hinter sich gelassen hatte, sah Gilles Deleuze in Fellinis ‚visionärem‘ Wirklichkeitsbegriff die eigentliche Erfüllung des Neorealismus. 3 Über den Neorealismus schreibt der Philosoph in seinem zweiten Kino-Band, man habe es hier mit einem Unbestimmbarkeits- oder Ununterscheidbarkeitsprinzip zu tun: man weiß nicht mehr, was imaginär oder real, körperlich oder mental in der Situation ist, nicht weil man diese Merkmale vermengte, sondern weil man es nicht mehr zu wissen braucht und es auch keinen Anlaß mehr gibt, danach zu fragen (Deleuze, Zeit-Bild, S. 19). Deleuze Ansicht nach war der Neorealismus die große Wende in der Entwicklung des Films, dies jedoch nicht, weil er inhaltlich oder formal die äußere Wirklichkeit abbildete, sondern weil er es wie keine Form zuvor vermochte, Bilder zu erschaffen, die sich der Zeit und dem Denken selbst annäherten. In Deleuze Terminologie markierte der Neorealismus den Übergang vom „Bewegungs-Bild“ (oder „Aktionsbild“) zum „Zeit-Bild“. Deleuze rekurriert hier auf Cesare 3 Dies hat ähnlich schon Lorenz Engell festgestellt. I. Achteinhalb im Kontext des italienischen Neorealismus: Vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild s s <?page no="130"?> Adina Sorian 130 Zavattinis Definition des Neorealismus als einer Kunst der Begegnung - „eine Kunst bruchstückhafter, vergänglicher, zerstückelter und verpaßter Begegnungen“ (Deleuze, Zeit-Bild, S. 12). Nicht aber Begegnungen zwischen Menschen in der empirischen Welt versteht Deleuze darunter, sondern vielmehr Begegnungen zwischen dem Bewusstsein und der Wirklichkeit. Analog zu Zavattini sieht Deleuze diese Begegnungen als solche des Konflikts, der Differenz, der Inkommensurabilität. Ihnen entsprächen Bildformen, die sich nicht mehr von dem her denken ließen, was er als die ‚sensomotorischen Situationen‘ des Aktionsbildes bezeichnet, also jenen den traditionellen Realismus kennzeichnenden Kausalbeziehungen zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen, Reiz und Reaktion, Situation und Aktion. Die Logik des Aktionsbildes lässt sich durch das Schuss-und-Gegenschuss-Verfahren des Hollywood-Kinos am besten begreifen: Zuerst wird die Figur aufgenommen und in einer zweiten Einstellung das, was sie sieht; im nächsten Schritt wird die Reaktion der Figur auf das, was sie sieht, gezeigt und anschließend wiederum die Wirkung dieser Reaktion auf das Gesehene. Diese sensomotorischen Verbindungen zwischen der Wirklichkeit der Figur und der der Handlung sind nun nach Deleuze im Neorealismus erstmals nur noch „in den Störungen bemerkbar, die auf sie einwirken, sie lockern, ablenken und aus dem Gleichgewicht bringen“ (Deleuze, Zeit-Bild, S. 17). An die Stelle der sensomotorischen Verkettungen treten im Neorealismus rein „optische“ und „akustische Situationen“, in denen traumähnliche Verbindungen zwischen der Realität des Milieus und der Realität der Aktion vorherrschen (vgl. Deleuze, Zeit-Bild, S. 17). Deleuze beschreibt diese optisch-akustischen Situationen vor allem in Anlehnung an die Filme der italienischen Filmemacher der Nachkriegszeit (Visconti, De Sica, Fellini, Antonioni), aber er denkt auch an Hitchcock und die französische Nouvelle Vague der späten 50er und 60er Jahre (Godard, Rivette, Truffaut): das Bild zeige Gegenstände, die von den Figuren gesehen, nicht aber in Handlungen eingebunden werden; es träten Figuren auf, die beobachten, nicht aber agieren. In Umkehrung der gewohnten Identifikation zwischen dem Zuschauer und der Figur werde hier „die Figur […] selbst gewissermaßen zum Zuschauer. Sie bewegt sich vergebens, rennt vergebens und hetzt sich vergebens ab, insofern die Situation, in der sie sich befindet, in jeder Hinsicht ihre motorischen Fähigkeiten übersteigt“ (Deleuze, Zeit-Bild, S. 13). Stellvertretend für diese Identifikation der Figur mit dem Zuschauer, die Deleuze zufolge in der Tat Hitchcock als erster vollzogen habe, könne die Rolle des Kindes im Neorealismus (und später auch in Frankreich bei Truffaut) gelten: in der Welt der Erwachsenen sei das Kind von einer gewissen motorischen Unzulänglichkeit betroffen, die es aber umso befähigter mache, zu sehen und zu verstehen (vgl. Deleuze, Zeit-Bild, S. 14). Natürlich verkörpert auch Guido, der Held Achteinhalbs, 4 diesen Typus: Er ist buchstäblich handlungsunfähig, blockiert, nur noch zum Beobachten seines eigenen Lebens in der Lage. In der berühmten Anfangssequenz von Achteinhalb steckt er in einem riesigen Verkehrsstau, dem er nur entkommt, indem er sich in einer spektakulären 4 Damit ist nicht das Kind Guido gemeint, dessen Rolle im Film an späterer Stelle dieses Aufsatzes gesondert betrachtet wird. <?page no="131"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 131 Tagtraumszene aus seinem Auto befreit, um daraufhin wie ein Drachen in die Wolken zu steigen (vgl. Abb. 1). Abb. 1 Eine großartige Quelle optischer Bilder ist Achteinhalb schließlich auch deshalb, weil sich der Film der Erforschung von Erinnerung, Halluzinationen, Traum und Alptraum widmet - Phänomene die, so Deleuze, vorwiegend dann auftreten, wenn die motorische Bewegungsfähigkeit der Figuren blockiert ist. In Bezug auf Filme, die sich solchen Phänomenen zuwenden, schreibt Deleuze, ihnen sei gemeinsam, daß sie alle ein zeitliches „Panorama“ bilden, ein instabiles Ensemble von freischwebenden Erinnerungen und Bildern einer Vergangenheit im allgemeinen, die in schwindelerregendem Tempo vorüberziehen, als ob die Zeit eine tiefgründige Freiheit gewinnen würde. Man könnte sagen, daß auf die Bewegungsunfähigkeit der Personen eine allseitige und anarchische Mobilisierung der Vergangenheit antwortet. (Deleuze, Zeit-Bild, S. 79) Wenn die Zeit selbst autonom wird, nicht mehr an räumliche Vorstellungen gebunden ist, verwischen sich auch Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt, Realem und Imaginiertem, Zuschauer und Schauspiel. Die spektakulären Bildschöpfungen in Achteinhalb sind Paradebeispiele für diesen ‚irrealisierenden‘ Effekt der optischen Bilder, von der Drachenfliegerszene zu Beginn des Films bis zur abschließenden Vision des großen Reigens (die hier später noch behandelt werden). Wie Deleuze treffend bemerkt, haben diese optischen Situationen ihre Fortsetzung im sensomotorischen Zusammenhang verloren und sind „lediglich noch mit einer abgelösten Vergangenheit verbunden, nämlich mit freischwebenden Kindheitserinnerungen, Phantasien und Déja-vu-Eindrücken“ (Zeit-Bild, S. 79). Weil die optischen und akustischen Situationen des Neorealismus nicht mehr in den logischen, raum-zeitlichen Analogiebeziehungen des Aktionsbilds des frühen Realismus aufgehen, entsteht in Deleuze Sicht mit ihnen ein ganz neuer Bildtypus, nämlich das ‚Zeit-Bild‘. Im Zeit-Bild werden sowohl Zeit als auch Denken direkt ins Bild integriert: zum einen kommt die Zeit, abgelöst von ihrem Verhältnis zum Raum und zur Handlung, ‚an sich‘ zur Darstellung; sie wird in Reinform erfahrbar. Zum anderen übt das Zeit-Bild dadurch, dass in ihm die logischen sensomotorischen Ketten gelos <?page no="132"?> Adina Sorian 132 ckert oder aufgelöst sind, ‚Schocks‘ auf das Denken aus. Wie bei Eisensteins „Gedanken-Montage“ 5 hat dieser Schock einen bestimmten Effekt auf den Geist, und zwar „zwingt [er] ihn zu denken und das Ganze zu denken“ (Deleuze, Zeit-Bild, S. 207). Das Denken ist nach Deleuze also Teil des Zeit-Bildes; es ist in ihm als der Ort integriert, an dem die zwei inkommensurablen Faktoren des Bildes zu einem Begriff, einer Einheit höherer Ordnung, zusammenführt werden. Nach der Krise des Aktionsbildes nahm der Film eine folgenschwere Entwicklung, als er sich auf eine sehr hegelianische Weise von melancholischen Reflexionen über den eigenen Tod gefangennehmen ließ: da es keine Geschichte mehr zu erzählen gab, nahm er sich selbst zum Gegenstand und konnte von da an nur noch seine eigene Geschichte erzählen (Deleuze, Zeit-Bild, S. 106). Wie dieses Zitat aus Deleuze Zeit-Bild verdeutlicht, findet mit dem Neorealismus und der Überwindung des Aktionsbildes nicht nur eine Hinwendung zu Zeit, Denken und den Innenwelten von Traum, Phantasie und Erinnerung statt, sondern zugleich das, was man den Übergang vom ‚referentiellen‘ zum ‚selbstreferentiellen‘ Kino nennen könnte. Wo das Kino zuvor Geschichten von Helden erzählt hatte, die sich mittels Kraft oder Geschick durch schwierige Situationen manövrierten, erzählte es nun vor al lem von sich selbst und seinen medialen und künstlerischen Bedingungen. Dass Fellinis Achteinhalb in diesem Sinne durch und durch ein selbstreflexiver Film ist, ja, dass die Person des Filmemachers Guido Anselmi während des ganzen Films sogar niemand anderen als Federico Fellini selbst darstellt, wurde von Kritikern bereits früh erkannt und fand in einer Reihe wirkungsvoller späterer Analysen des Films immer wieder Bestätigung. 6 Den vielleicht einflussreichsten Beitrag in dieser Hinsicht hat Christian Metz in seinem berühmten Aufsatz von 1966, „La construction ‚en abyme‘ dans Huit et Demi de Fellini“, geleistet, wo er demonstrierte, dass Achteinhalb nicht einfach, wie andere selbstreflexive Filme, ein Film ist, der um einen „Film im Film“ zentriert ist. Auf den aus der Wappenkunde stammenden Begriff der ‚Infraierungskonstruktion‘ oder construction en abyme zurückgreifend, zeigt Metz vielmehr, dass der „Film im Film […] hier der Film selbst ist“ (Metz, „Infraierungskonstruktion“, S. 294): Dadurch dass Guido über seinen Film reflektiere und sich über sich selbst Gedanken mache, werde er, so Metz, mit Fellini vorrübergehend eins; und dadurch, dass der Film, den Guido machen will, eine Gewissensprüfung und eine Bilanz des Filmemachens ist, werde er eins mit dem, den Fellini gemacht hat. In diesem Sinne ist für Metz „8 ½ […] der Film in dem 8 ½ entsteht“ („Infraierungskonstruktion“, S. 294). 5 Auch wenn, wie Deleuze bemerkt, Eisensteins Analyse sich durchgehend auf das klassische Kino, das Kino des Bewegungs-Bildes bezieht (vgl. Deleuze, Zeit-Bild, S. 207). 6 Vgl. Virmaux, Bellour, Jacotey und Kast. Vgl. später auch Metz, sowie Miller, S. 10-11. II. Krise des Aktionsbildes, Tod des Autors? Der phantasmatische Blick und das Kristallbild in Achteinhalb s - <?page no="133"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 133 Im Anschluss an die Argumentation von Deleuze und Metz, sowie unter Rückgriff auf weitere noch zu erläuternde filmtheoretische Begriffe, sollen nachfolgend zwei konkrete filmische Verfahrensweisen in Achteinhalb betrachtet werden, die das Funktionieren dieser besonderen selbstreflexiven Struktur des Films verdeutlichen: der ‚phantasmatische Blick‘ und das ‚Kristallbild‘. Entsprechend der leitenden Fragestellung dieses Aufsatzes ist dabei zu untersuchen, wie sich diese selbstreflexiven Verfahrensweisen in der Diskussion über den ‚Autor‘ oder auteur verorten lassen. Wie ich nach einigen vorbereitenden Erläuterungen zur Debatte um den Autor zeigen werde, weisen diese Figuren nämlich einerseits eine offensichtliche Nähe zu Ideen auf, die wenige Jahre nach der Entstehung des Films von Roland Barthes unter dem Stichwort vom ‚Tod des Autors‘ konturiert wurden (und kurze Zeit später auch im Bereich der Filmwissenschaft ein Umdenken angeregt haben). Andererseits kann aber auch davon gesprochen werden, dass diese Verfahrensweisen die Subjektivität des, oder genauer gesagt, der Filmemacher-Protagonisten Achteinhalbs - Guido Anselmi und Federico Fellini - in besonderem Maße ins Zentrum der filmischen Reflexion rücken und der Film damit unweigerlich im Paradigma der politique des auteurs verhaftet bleibt. und der ‚Tod des Autors‘ Die in den 1960er Jahren vor allem durch Roland Barthes bahnbrechenden Aufsatz „Der Tod des Autors“ bekannt gewordenen intellektuellen Gegenbewegungen zur autorzentrierten Literaturwissenschaft werden üblicherweise zusammen mit dem Vormarsch des Poststrukturalismus und den studentischen Revolten von 1968 gesehen. Dabei wird leicht vergessen, dass einige der ersten Impulse für diesen Feldzug gegen die Figur des Autors von keinen anderen als den Schriftstellern des 19. Jahrhunderts kamen, auf die Barthes in seinem Essay über das Verschwinden des Autors rekurriert. Bereits Mallarmé habe, so Barthes, „in vollem Maße die Notwendigkeit gesehen, die Sprache [langage] an die Stelle dessen zu setzen, der bislang als ihr Eigentümer galt“. Wie für die Poststrukturalisten sei es für Mallarmé die Sprache gewesen, die spricht, nicht der Autor (Barthes, „Tod des Autors“, S. 187). Und über Proust, den Autor der Recherche, schreibt Barthes, er habe gegen die Konventionen des traditionellen Romans seinen Erzähler nicht als jemanden dargestellt, „der gesehen oder gefühlt hat, nicht einmal als jemanden, der geschrieben hat, sondern als jemanden, der schreiben wird“ (Barthes, „Tod des Autors“, S. 187). Diese frühen, auf literarischer Seite unternommenen Bemühungen, die Emanzipation des Schreibens vom Autor zu erreichen, sind es, ebenso wie moderne linguistische Sprechakttheorien, auf die sich Barthes beruft, wenn er schließlich seinerseits den literarischen Text als einen „vieldimensionalen Raum“ bestimmt, „in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“ (Barthes, „Tod des Autors“, S. 190). Achteinhalb , <?page no="134"?> Adina Sorian 134 Barthes Aufruf zur Abwendung von der autorzentrierten, biographistischen Literaturwissenschaft wie sie seit Jahrhunderten existiert hatte 7 fand ab den 1970er Jahren auch in verschiedenen filmwissenschaftlichen Überlegungen ein Echo, so etwa in marxistisch geprägten, poststrukturalistisch-psychoanalytischen oder feministischen Ansätzen. Jenen diente Barthes Aufsatz zum „Tod des Autors“, neben den Schriften Claude Lévi-Strauss , Michel Foucaults, Louis Althussers, Jacques Lacans und anderer, als theoretische Grundlage für die Entwicklung einer neuer Filmwissenschaft, die sich nicht mehr auf die in der Tradition patriarchaler Heldenverehrung stehende politique des auteurs und der damit einhergehenden Stilisierung des (männlichen) Regisseurs als Star verlassen wollte. Ziel der verschiedenen neuen filmwissenschaftlichen Ansätze war es, sowohl den kollektiven Charakter von Filmproduktionen sichtbar zu machen, als auch, je nach individueller theoretischer Ausrichtung, deren genderspezifischen, politischen, psychoanalytischen, oder intertextuellen Aspekten Rechnung zu tragen. In diesem Zusammenhang erscheint Achteinhalb geradezu als Vorbote einiger in diesem Zuge von der Filmwissenschaft aufgegriffener Überlegungen. Zunächst kann im Film die Nähe zur poststrukturalistischen Idee vom Primat des Werks vor dem Künstler festgestellt werden. So lässt sich Achteinhalb, ganz ähnlich dem, was Barthes in seinem Essay über Prousts Recherche schrieb (vgl. Barthes S. 188-9), als ein Werk beschreiben, das in einer radikalen Verwischung der Autor-Werk-Relationen seinem Autor quasi vorausgeht: die Schaffenskrise eines Filmemachers, der etwas sagen möchte, ohne es zu können; und in dem Moment, als das Sagen endlich möglich wird, endet der Film. Genaugenommen löst sich Guidos Blockade in dem Moment, als er erkennt, dass er „keine Angst davor“ mehr haben muss, etwas zu sagen, „was [er] noch nicht weiß, was [er] noch such[t]“, 8 denn das, was er - vielleicht - einmal zu sagen haben wird, wird sich immer erst gesagt haben. Das heißt, der Inhalt seines Films existiert nicht schon im Voraus irgendwo ‚in seinem Kopf‘ und wartet darauf, veräußert zu werden, sondern er entsteht im selben Moment, in dem der Film tatsächlich gemacht, die Arbeit ausgeführt wird. Wie bei Barthes gibt es keine Intention, keinen ‚Geist‘ in Achteinhalb, der dem Film zeitlich vorausginge oder ihn überstiege, sondern jedes der Details von Guidos (und Fellinis) Film entsteht erst mit dem Akt seiner filmischen Umsetzung, seiner Realisation. Mit der Terminologie der Sprechakttheorie formuliert, erweist sich der Film, den Guido machen wird - der durch den speziellen, eine ‚doppelte Infraierung‘ erzeugenden Kunstgriffs Fellinis gleichzeitig der Film ist, den wir schon sehen, Fellinis Achteinhalb -, als das, was die Sprechakttheorie ein ‚Performativ‘ nennt, nämlich das Vollziehen einer Handlung mit Hilfe einer Äußerung, die keinen anderen Äußerungsgehalt hat als eben den Akt, den sie vollzieht - etwa wie in ‚Ich gratuliere dir‘ oder ‚Ich verspreche dir‘. Noch in einer weiteren Hinsicht klingen in Achteinhalb poststrukturalistische Ideen an: das Filmende lässt dem intertextuellen und kollektiven Charakter des Filmemachens offenbar den Vorzug vor dem auteur. Wenn Guido am Ende des Films zu seiner 7 Dieser Paradigmenwechsel war in den USA schon in den 1940er Jahren mit William Wimsatts und Monroe Beardsleys Manifest gegen die intentional fallacy und in Deutschland 1967 mit Wolfgang Isers Wirkungsästhetik auf den Weg gebracht worden. 8 Fellini, 8 ½, 02: 05: 33-02: 05: 39. Nachweise im Folgenden in Klammern im Text. , , , <?page no="135"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 135 Frau sagt, „Es ist eine Freude zu leben, lass‘ uns unser Leben gemeinsam leben“ (Fellini, 8 ½, 02: 05: 45-02: 05: 48), dann wird unter ‚Leben‘ erstens, wie immer in diesem Film, auch das Kunstwerk verstanden, das Guido machen wird und das wir schon sehen. Zweitens meint Guido mit ‚gemeinsam‘ nicht nur ihn und seine Frau, sondern all die realen und imaginierten Personen seines Lebens, die in diesen Momenten - die meisten von ihnen nun in idealistisch strahlendem Weiß gekleidet - nach und nach wieder das Bild bevölkern. Als purifizierte Verkörperungen von Guidos Erinnerungsbildern, symbolisch gereinigt und von allen Irrungen der Vergangenheit entsühnt, ziehen sie erneut in Guidos Welt ein (vgl. Abb. 2). In ironischer Anspielung auf das, was Guidos Kritiker-Kollege Daumier kurz zuvor im Film über Guidos Erinnerungen bemerkt, inszeniert die mise-en-scène die Personen aus Guidos Leben buchstäblich als Triumphzug zum Leben erweckter „Bilder“, „Töne“, „Worte“, „die aus der Leere kommen und in die Leere gehen“ (02: 03: 23-02: 03: 32). Abb. 2 Mit dem Poststrukturalismus und gegen die von Daumier in dieser Sequenz geäußerte Auffassung, ein Künstler müsse sich zum Schweigen erziehen, wenn er nichts wirklich Notwendiges zu sagen habe, wird mit dieser mise-en-scène am Ende des Films der Primat des Spektakels vor dem Plot, der Intertextualität vor der Idee, des pathos vor dem logos affirmiert. Noch einmal deutlicher zeigt dies das berühmte Finale Achteinhalbs, das mit einem aus nahezu allen Figuren des Films bestehenden zirkushaften Reigen (vgl. Abb. 3) eine großartige Metapher für den kollektiven, in der Darstellungs- und Unterhaltungskunst wurzelnden Charakter des Filmemachens anbietet. <?page no="136"?> Adina Sorian 136 Abb. 3 Obwohl sich der Film somit, trotz seiner weitgehend psychologischen Thematik, von der subjektzentrierten politique des auteurs zu distanzieren scheint, nimmt Achteinhalb, wie ich nachstehend darlegen möchte, insgesamt doch eine ambivalentere Position innerhalb der Reflexion über den Autor ein als diese Schlussszene suggeriert. Die zwei eingangs erwähnten zentralen Figuren des Films - der phantasmatische Blick und das Kristallbild - sollen unter diesem Gesichtspunkt vorgestellt und operationalisiert werden. Der phantasmatische Blick „Ich habe nichts zu sagen, und doch will ich etwas sagen“ (Fellini, 8 ½, 01: 20: 10- 01: 20: 13). Die Krise des Filmautors Guido, die er Rosella, der Freundin seiner Frau, mit diesen Worten zu erklären versucht, findet zahlreiche Entsprechungen auf der visuellen und akustischen Ebene Achteinhalbs, von der im Verkehrsstau materialisierten künstlerischen Blockade zu Beginn des Films (00: 00: 59-00: 02: 08), über Guidos alptraumhaftes Verstummen bei der Pressekonferenz, das filmisch-erzählerisch bis zur Flucht in den Selbstmord fortgesponnen wird (01: 59: 20-02: 01: 26), bis zur Absage der gesamten Produktion im Anschluss an die Konferenz (02: 01: 38-2: 02: 02). Und doch verhält es sich mit der Negation der Autorfigur nicht so einfach in Achteinhalb, denn alle diese Tropen der Negation sind, wie hier argumentiert wird, ebenso Tropen, Metaphern für die radikale Selbstreflexivität des Autors; ihre eigentlich Aussage ist: Ich habe nichts zu sagen, darum erzähle ich von mir selbst ‘. Folgt man dieser Annahme, entspricht in Achteinhalb dem Verschwinden der klassischen auteur-Figur, analog zur von Deleuze beschriebenen Überlagerung des heteroreferentiellen Bewegungs-Bilds durch das selbstreferentielle Zeit-Bild im Neorealismus, die Entstehung einer neuen Auto instanz, nämlich der eines selbstreflexiven auteur, der in Abwesenheit einer Geschichte mit klarem Außenbezug „nur noch seine eigene Geschichte“ (Deleuze, Zeit- Bild, S. 16) erzählen kann. Das Besondere in diesem Film ist dabei, dass dieser über sich selbst reflektierende Autor in seiner Geschichte nicht nur inhaltlich vorkommt, sondern auch formal in Erscheinung tritt - nämlich als quasi-materialisierter Kamerablick, den wir in der materiellen Realität des Bildes wahrnehmen können. Die filmtheoretische Entsprechung für diese selbstreflexive, sich im Film-Bild materialisierende Kamera, ist die Figur des ‚unmöglichen‘ oder ‚phantasmatischen Blicks‘, , r <?page no="137"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 137 ein kinematographisches Konzept, das von der Filmwissenschaftlerin Joan Copjec aus Jacques Lacans Theorie des Blickes extrapoliert wurde. 9 Der Blick, sagt Copjec, befindet sich für Lacan nicht vor dem Bild, sondern im Bild selber, als das was in ihm ausgespart ist. Abweichend von der Auffassung der meisten Filmtheoretiker, die sich in ihrer Verwendung des kinematographischen Blicks bislang auf Lacan berufen hatten, ist nach Copjec der kinematographische ‚Blick‘ im Lacanschen Verständnis nicht mit dem Schauen des Auges gleichzusetzen, sondern steht für den blinden Fleck im Feld des Sichtbaren, von dem aus jemand gesehen wird, ohne eigentlich erkannt zu werden (vgl. Copjec, Read My Desire, S. 35-36). 10 Was hiermit gemeint ist, verdeutlicht exemplarisch die berühmte Anfangssequenz von Achteinhalb, in der Guidos kreative Blockade durch einen Verkehrsstau verbildlicht ist (00: 00: 59-00: 02: 08). Obgleich Guido der Erzähllogik nach der ‚Erzähler-Beobachter‘ (cinematic narrator) 11 in dieser Sequenz zu sein scheint, aus dessen Sicht wir das Geschehen sowie die Insassen der anderen Autos beobachten, ist es filmisch betrachtet dennoch nicht eindeutig seine Perspektive, die hier eingenommen wird. Wenn wir etwa die Insassen der anderen Autos sehen, dann reagieren diese zwar auf ein Angeblicktwerden oder auf etwas, das sie sehen, doch fehlt der dazugehörige Gegenschuss, der das Objekt ihrer Betrachtung tatsächlich als Guido qualifizieren würde (vgl. Abb. 4 u. 5). 12 Und gleichzeitig ist es auch keine klassische ‚unsichtbare‘ (nullfokalisierte) 13 Kamera, die hier sieht - denn dann würden die Figuren sie nicht wahrnehmen. Wem also gehört dieser Blick, der im Bild tatsächlich fehlt? 9 Etwas später folgten auch Todd McGowan und Slavoj Žižek diesem Ansatz - ersterer in seinem Buch The Real Gaze: Film Theory After Lacan, letzterer vor allem in seiner 2001 erschienenen Studie zum Werk des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski, The Fright of Real Tears. 10 Copjec beruft sich hier auf Lacans Seminar XI. 11 Dieser Begriff stammt von Seymour Chatman und bezeichnet eine filmische Erzählerinstanz, in der visuelles und sprachliches Erzählen analytisch zusammengefasst sind (vgl. Chatman, Coming to Terms, S .124-138). Für die Zwecke dieses Aufsatzes soll dieser Begriff beibehalten werden und die Problematik der filmischen Erzählerinstanz unberücksichtigt bleiben, auch wenn, wie Markus Kuhn in seiner Studie zur Filmnarratologie ausführt, die Annahme einer Erzählerinstanz im Film höchst umstritten ist und während der vergangenen Jahrzehnte zu einer Reihe von divergierenden Begriffen geführt hat (vgl. Kuhn, Filmnarratologie, S. 75-76). 12 Ich beziehe mich hier auf die Analysen von Lorenz Engells und D.A. Miller, aber erweitere sie um einzelne, vor allem auf Lacan zurückgehende, Überlegungen zum kinematographischen ‚Blick‘. 13 Dies ist Gérard Genettes Begriff und bezeichnet eine Art ‚auktoriale‘ Form der Fokalisierung, bei der die Wahrnehmung an keine spezifische Figur gebunden ist und die narrative Instanz folglich mehr weiß als die Figuren (vgl. Genette, Erzählung, S. 134). <?page no="138"?> Adina Sorian 138 Abb. 4 Abb. 5 Lorenz Engell beschreibt dies so: „Das einzige Betrachtersubjekt ist […] die Subjektivität des Films selbst, der hier seine eigenen Figuren betrachtet“ (Engell, „Der gute Film“, S. 7). Oder anders gesagt verschwindet der Kamerablick hier nicht hinter der Illusion, die er kreiert, so wie dies in realistischen Filmen üblich wäre, sondern nimmt die Rolle eines ‚phantasmatischen‘ Subjekts ein, das sich der eigenen Unsichtbarkeit widersetzt und sich im Bild als ‚unmöglicher‘, aber dennoch spürbarer Betrachterstandpunkt materialisiert. Versinnbildlicht dieser ‚unmögliche‘, quasi-materielle Kamerablick nicht genau die besondere Rolle des auteur in Achteinhalb, einem Film, in dem der Autor-Regisseur, statt seine Botschaft nur indirekt durch sein Kunstwerk auszudrücken, auch als konkrete Person darin auftritt? Im klassischen cinéma des auteurs tritt der auteur, so sehr er auch der ‚Star‘ seines Films sein mag, üblicherweise hinter die Realität des Bildes zurück: Er hat keinen Körper, keine Stimme; er findet sich nirgendwo in der Tatsächlichkeit des Bildes, sondern ist einzig in der formalen Gestaltung, den Themen und der Erzählweise des Werks verankert. In Achteinhalb dagegen wird Federico Fellini, verkörpert durch Guido, nicht nur zur Figur in seinem Film, sondern er kommt auch auf der Ebene des filmischen Erzählens vor - wenn auch in einer unheimlichen Pseudo-Position. Denn obwohl der intradiegetische Betrachter/ Erzähler dieser Szene offensichtlich als Guido verstanden werden soll (welcher wiederum Fellini verkörpert), bleibt der Gegenschuss, der ihn in der filmischen Logik des Betrachtens als Guido bestätigen würde, konsequent aus. Nie sind die Blicke der Insassen der Autos die klassischen Blicke des ‚Anderen‘, die das Betrachtersubjekt ‚erkennen‘ würden, wodurch er, um im Lacanschen Paradigma zu bleiben, seine sozio-symbolische Identität erhielte, sondern sie scheinen ‚blinde‘ Blicke zu sein, die die Identität des Betrachters im Gegenteil geradezu in Frage stellen. Eine interessante und überzeugende Interpretation dieses Phänomens gibt D.A. Miller. Das Fehlen eines Gegenschusses in dieser Sequenz, so Miller, kommt tatsächlich der Annihilation des Betrachtersubjekts gleich: „The meaning of this lack is not that ‚the figure sees, unseen‘ (position of social advantage - the man, the author, the spectator), but that ‚the figure is looked at, unrecognised (position of social death) (Miller, 8 ½, S. 19). Aus dieser Sicht verwundert es nicht, wenn Guido, dessen Gesicht wir während der gesamten Anfangssequenz nie zu sehen bekommen, im weiteren Verlauf der Sequenz panisch aus der Situation flieht: in der großartigen Tagtraumszene, die der Film schließlich entfaltet, befreit sich Guido aus seinem Auto und schwebt durch die Wolken in die Höhe, bis er von einem an seinem Fußgelenk befes- ‘ “ <?page no="139"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 139 tigten Seil wie ein Drachen auf die Erde zurückgeholt wird und sein Traum, der spätestens jetzt als solcher kenntlich wird, abrupt zu Ende ist (Fellini, 8 ½, 00: 01: 45- 00: 02: 45). In der nächsten Szene erwacht Guido im Sanatorium eines Kurorts; und erst hier sehen wir zum ersten Mal sein Gesicht, in Nahaufnahme zuerst als Spiegelbild (00: 04: 24-00: 04: 32). Wie Miller treffend bemerkt, ist Anselmi/ Fellini erst in diesem Moment als eigentliche Figur des Films ‚geboren‘: „Only now does he seem fully incarnate, the authorial world made flesh“ (Miller, 8 ½, S. 22). Das Kristallbild und die Ununterscheidbarkeit von und Figur Die symbolische Identität der Künstlerfiguren Guido Anselmi - Federico Fellini, auf die die meisten Kritiker Achteinhalbs bereits hingewiesen haben, ist vielleicht die interessanteste, bestimmt aber im Kontext der Problematik des auteur relevanteste, in Achteinhalb erreichte Verwirklichung von dem, was Deleuze im Zuge seiner Auffächerung des ‚Zeit-Bildes‘ ein ‚Kristallbild‘ nennt. Kristallbilder vereinen Deleuze zufolge Aktuelles und Virtuelles, Gegenwärtiges und Vergangenes auf eine Weise, die die disparaten Elemente in einem ständigen Kreislauf der gegenseitigen Reflexion ununterscheidbar werden lässt: „[D]as aktuelle und das virtuelle Bild,“ so Deleuze, „koexistieren und kristallisieren gemeinsam, beide Bilder treten in einen Kreislauf, der uns beständig von einem auf das andere verweist […]“(Deleuze, Zeit-Bild, S. 114). Anhand des Deleuzeschen Begriffes lässt sich relativ differenziert beschreiben, wie in Achteinhalb die Figur des Filmemachers Fellini mit der Anselmis zusammenfällt, genauer gesagt, in die verschiedenen, Anselmi in diesem Film spielenden Personen aufgeteilt wird, um dann mit diesen Teilen bis zur Ununterscheidbarkeit zu verschmelzen. Freilich ist vorweg festzuhalten, dass der Deleuzesche Begriff des Kristallbilds eine Situation beschreibt, die im Begriff des ‚Schauspielers‘ selbst bereits angelegt ist: Der Schauspieler ist, wie Deleuze glaubte, mit seiner Rolle untrennbar verhaftet; „das virtuelle Bild der Rolle wandelt er zu einem aktuellen, das daraufhin sichtbar und leuchtend wird“ (Deleuze, Zeit-Bild, S. 99). Da er der Figur, die er spielt, einen konkreten Körper, eine bestimmte Gestik und Mimik gibt, erzeugt der Schauspieler einen ‚Schein‘, der vom ‚Sein‘ gar nicht zu trennen ist: in dem Moment, in dem er im Bild (oder auf der Bühne) erscheint, wird der Schauspieler quasi eins mit seiner Rolle, er ‚geht‘ in ihr ‚auf‘, in dem Maße, wie er ihr individuelle körperliche Merkmale und Bewegungen verleiht, die seine eigenen und entsprechend ‚real‘ sind. Mit Baudrillard könnte man argumentieren, dass das schauspielerische Bild somit einen ‚hyperrealen‘ Charakter erhält, denn es verschmilzt in sich die Realität des Schauspielers mit ihrer zeichenhaften Verdopplung - dem Schauspiel, das der Schauspieler in seiner Rolle zum Besten gibt. Achteinhalb macht sich ebendiese Hyperrealität des schauspielerischen Bildes ausgiebig zunutze, wenn er Marcello Mastroianni - der in Fellinis Gesamtwerk immer wieder als alter ego des Regisseurs fungiert - und den Kinderdarsteller Riccardo Gugliemi in die Rolle des Regisseurs Guido Anselmi schlüpfen lässt, erst abwechselnd, und in der Reigenszene am Ende des Films dann zusammen in ein und derselben Szene. Meisterhaft wird dabei nicht nur die symbolische Gleichzeitigkeit des Kindes im Künstler und des Künstlers im Kind sichtbar gemacht, sondern Mastroianni und Gugliemi bringen die Bilder der virtuellen Figur Anselmis auch mit Aspekten, seien es auteur <?page no="140"?> Adina Sorian 140 reale oder imaginierte, des Künstlers Federico Fellinis immer wieder zur Koexistenz. Am deutlichsten geschieht dies dort, wo sie aktiv an der Entstehung des Films arbeiten, der sich vor unseren Augen gerade abspielt, Fellinis Achteinhalb. So etwa in der Sequenz, in der Anselmi/ Mastroianni die Probeaufnahmen für den Film, an dem er und seine Crew arbeiten, betrachtet, wobei sich, auf und vor der Leinwand, Szenen ereignen, die in alternativen Versionen im Rahmenfilm Achteinhalb bereits vorgekommen sind (01: 43: 39-01: 51: 12), 14 oder in der Schlussszene, wo das Kind Guido/ Gugliemi die Rolle des Regisseurs aufnimmt und mit einem Megaphon das Zirkus gefolge dirigiert, das in der vorhergehenden Szene als Teil des großen, vom erwachsenen Guido inszenierten Abschlussreigen zu sehen war (02: 10: 16-02: 10: 39). Mit Deleuze formuliert haben wir es an all diesen Stellen mit kristallinen Bildern zu tun, in denen Virtuelles und Aktuelles ständig aufeinander verweisen und nicht aufhören, sich zu überlagern und zu überschneiden. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Verfahrensweise für den Status des auteur in Achteinhalb ableiten lassen, sind durchaus ambivalent. Denn zum einen handelt es sich bei den vielfachen Selbstbezugskonstruktionen von Fellinis Achteinhalb ganz klar um spielerisch-postmoderne Dekonstruktionen des Begriffs des auteur als Urheber seines Werks, und Engells liegt in seiner Analyse richtig, wenn er behauptet, Fellini sei in diesem Film die Hervorbringung Guidos nicht weniger als umgekehrt: so wie Guido ein Gefangener der Welt ist, die er selbst hervorgerufen hat, so ist auch der auteur Fellini, der in Achteinhalb durch Guido porträtiert wird, das Produkt des Films, den er produziert hat (vgl. Engells, „Der gute Film“, S. 10). In typisch postmoderner Spielerei mit dem Konzept der Originalität ist keiner ursprünglicher als der andere. Und die Verwischung der ontologischen Grenzen zwischen Schöpfer und Produkt, die Verklammerung von Ebene und Metaebene, die hier stattfindet, gilt auch für den Film insgesamt: Wie die zwei Seiten einer Möbiusschleife - eine Figur, die auf dem Filmplakat Achteinhalbs in dem zur Acht gebogenen Filmstreifen auftaucht - sind der gesamte Inhalt des Films und sein Produktionskontext zu einer Form verwoben; insofern hatte Christian Metz 1963 vollkommen Recht, als er behauptete, dass „8 ½ der Film [sei] in dem 8 ½ entsteht“. Und dennoch bleibt hinsichtlich der leitenden Fragestellung dieses Aufsatzes festzustellen, dass diese postmoderne ‚schöne Verworrenheit‘ Achteinhalbs das klassische auteur-Konzept nicht nur dekonstruiert, sondern zugleich auch, in seiner Selbstreflexivität, bewahrt. Als repräsentativ kann hier die Szene am Ende des Films angenommen werden, in der Guido erkennt: „Wieder ist alles wie vorher. Wieder bin ich verwirrt … Aber diese Verwirrung bin ich selbst“ (02: 05: 21-02: 05: 30). Denn dieser Punkt der kritischen Selbsterkenntnis, an dem Guido sich voll und ganz mit dem Chaos identifiziert, dem er zuvor zu entfliehen gesucht hatte, ist keineswegs der Todesstoß für die 14 Vgl. hierzu auch Engell, „Der gute Film“, S. 9-12. III. Achteinhalb, oder die Midlife-Crisis des Films an der Grenze zwischen Moderne und Postmoderne - . <?page no="141"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 141 schöpferische Individualität des Filmemachers. Vielmehr ist es der nötige Motivationsschub für Guido, um einen Film genau über diese Thematik zu drehen - seine künstlerische Subjektivität und die Suche nach Inspiration - und mit ebendieser Hinwendung zum eigenen Leben seine kreative Blockade zu überwinden. Dies macht die im Film folgende, oben erwähnte Schlusssequenz Achteinhalbs unmissverständlich deutlich. Im bereits abgebauten Drehort erscheinen in dieser Sequenz erneut Guidos Bekannte und Kollegen, und obwohl er die Produktion seines Films schon abgesagt hat, stellt Guido die Personen seines Lebens nun zu einem großen zirkushaften Reigen auf, das Megaphon, mit dem er sie dirigiert, fest in der Hand, als hätte er es niemals abgelegt. Noch während ihm der Kritiker Daumier beipflichtet, dass es das Richtige gewesen sei, auf die Realisation eines konfusen, konzeptlosen Filmes zu verzichten (Fellini, 8 ½, 02: 02: 11-02: 04: 48), findet Guido im Irrationalen und Formlosen, das er sein Leben nennt, seine lang ersehnte Inspiration wieder. In der spektakulären Reigen- Sequenz fassen sich alle Personen aus Guidos Leben an den Händen und tanzen unter seinen Anweisungen den Ringelreihen, wie um Versöhnung mit dem Leben zu feiern, und der Zuschauer erkennt, dass für Guido in der Akzeptanz des Chaos, dem er weder Herr werden kann noch länger sein will, der Schlüssel zu seiner Kreativität liegt. Personifiziert wird dies vor allem durch das Kind, das er einst gewesen ist und das in der Person Gugliemis, begleitet von einem Zirkusgefolge, den Anfang des Reigens bildet (02: 06: 08). Wie die anderen ist das Kind Guido in Weiß gekleidet und wird vom erwachsenen Guido dazu ermuntert, sich mit seinen Bekannten die Hand zu reichen und gemeinsam mit ihnen das Leben zu feiern. Am Ende gesellt sich schließlich auch der Regisseur selbst, Hand in Hand mit seiner Frau, zu der karnevalesken Gemeinschaft, die auf den Ruinen der als Raketenabschussbasis erbauten Filmkulisse ausgelassen den berühmten Schlussreigen des Films tanzt (02: 09: 40-02: 10: 05; vgl. Abb. 3). Wie oben bereits ausgeführt, wird mit diesem Abschlusstableau einerseits die kollektive Dimension des Filmemachens über die des individuellen auteur gestellt. Andererseits gibt es wohl kaum ein Symbol, welches die romantische Sicht auf das aus sich selbst schöpfende Künstler-Genie mehr zum Ausdruck bringt als das des Kindes, das in diesem Filmschluss auf so unvergessliche Weise in Erscheinung tritt. Die Bedeutung des Kindes bei Fellini, dessen Erleben stets von besonderer Intensität und künstlerischer Sensibilität zeugt, ist Kennern seines Werks, insbesondere seines Films Amarcord, wohl bekannt, und wie John Stubbs in seiner Studie zu Fellini gezeigt hat, liegt gerade in Achteinhalb „[i]n the boy’s intensity […] the beginning of the portrait of the artist (Stubbs, Federico Fellini as Auteur, S. 79). In metonymischer Beziehung zur Kindheitsthematik steht in Achteinhalb noch eine weitere Strategie, mit der das Bild des aus seinem Inneren schöpfenden Künstlers evoziert wird, nämlich die leitmotivische Anspielung auf das Jungsche Konzept der anima, der weiblichen Seite in der männlichen Psyche. Hinter dem Wortspiel ‚Asa Nisi Masa‘, das in den Kindheitssequenzen des Films immer wieder repetiert wird, verbirgt sich nichts anderes, wie Kritiker einhellig dargelegt haben. Obgleich sowohl das Konzept der anima als auch das Bild des Kindes das Irrationale und Vorbewusste des künstlerischen Prozesses hervorheben, wurzeln “ <?page no="142"?> Adina Sorian 142 beide Begriffe doch in einem um die Subjektivität des Künstlers zentrierten Kreativitätskonzept, welches - der postmodern-dekonstruktivistischen Lesart des Films scheinbar widersprechend - als klassisch ‚modern‘ bezeichnet werden kann. Die Ambivalenz, die dem Bild des auteur in Achteinhalb im Hinblick auf seine Verortung im modernen beziehungsweise postmodernen ästhetischen Diskurs zum Autor anhaftet, ist nicht zuletzt in der melancholischen letzten Aufnahme Achteinhalbs sichtbar, die uns Guido als Kind auf dem bis auf vier Zirkusmenschen leer gewordenen Filmset zeigt. Es ist Nacht und die Fünf sind nur von einem Scheinwerfer beleuchtet. Gemeinsam mit dem jungen Guido, dann von ihm dirigiert, marschieren die Zirkusleute zu Nino Rotas eingängiger Zirkusmusik, bevor die Vier die Szene verlassen. Guido bleibt daraufhin noch einige Sekunden allein im Scheinwerferlicht stehen, bis das Licht schließlich erlischt und er selbst ebenfalls aus dem Bild herausläuft (02: 10: 15 -02: 10: 51). Nicht mehr mit Pauken und Trompeten, aber doch so, dass Guido bis zum Schluss der Dirigent des Geschehens bleibt, das ihn selbst zum Hauptthema hat, endet Achteinhalb sichtlich ‚modern‘ und ‚subjektzentriert‘ im Vergleich zur vorhergehenden Szene, wo mit dem karnevalesken Reigen in typisch postmoderner Manier gegen das Individualitäts- und Originalitätsgebot der modernen Autorenpolitik opponiert wurde. Als konventionell ‚modern‘ kann dabei auch der melancholische Ton bezeichnet werden, den Fellini seinem Film durch diese leise, im Fast-Dunkeln gefilmte Schlussszene verliehen hat - auch wenn dies wohl mehr ungewollt als gewollt geschehen ist, hing doch an Fellinis Kamera beim Drehen Achteinhalbs ein Zettel mit der Aufschrift: „Vergiss nicht, das ist ein komischer Film“ (zit. in Bondanella, S. 100; meine Übersetzung). Die Ambivalenz zwischen Melancholie und Heiterkeit, die Achteinhalb letztlich charakterisiert, lässt wieder eine kristalline Struktur im Sinne Deleuze hervortreten: beide Pole, der spielerisch-heitere und der melancholische, sind in Achteinhalb zur Koexistenz gebracht; sie sind verschieden und dennoch ununterscheidbar. Gerade in dieser Schlussszene des Films, die das regieführende, den erwachsenen Künstler antizipierende Kind Guido in den Fokus rückt, manifestiert sich zudem etwas, das für die Bildform des Kristalls typisch ist, nämlich das, was Deleuze im Anschluss an Bergson die Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit nennt: „Die Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart, die sie gewesen ist; die Vergangenheit bewahrt sich als allgemeine (achronologische) Vergangenheit; die Zeit teilt sich in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit auf, in vorrübergehende Gegenwart und sich bewahrende Vergangenheit“ (Deleuze, Zeit-Bild, S. 113). Deleuze zufolge tauscht der Kristall diese beiden Zeit-Bilder, die er konstituiert, unaufhörlich aus. Ebendiese Vertauschung und Überlagerung der Zeiten findet genauso wie die Koexistenz des Heiteren und Melancholischen eine direkte Metapher im zentralen, von Achteinhalb bemühten Begriff der Mid life-Crisis, ein Drama, das sich in jeder Wahrnehmung, jeder Erinnerung und jeder Vision Guidos in Achteinhalb abspielt und das von Miller mit Recht als „manic-depressive“ definiert worden ist (Miller, 8 ½, S. 109). Im Lichte der hier entwickelten Argumentation, handelt es sich bei der Midlife-Crisis Achteinhalbs natürlich nicht nur um ein persönliches Drama, sondern, wie dieser Aufsatz anhand der Diskussion des Autorbegriffs zu zeigen beabsichtigt hat, auch um das Drama der Filmgeschichte - einer s - <?page no="143"?> Federico Fellini, Otto e mezzo 143 Geschichte, die 1963 in und durch Fellinis Film, beispielhaft für Deleuze und Bergsons These über die Koexistenz der Vergangenheit und Gegenwart, sowohl moderne als auch postmoderne Züge trägt. Denn wie Fellinis Achteinhalb veranschaulicht, sind die Bilder und Konzepte des modernen Kinos im postmodernen Filmbild nie bloß negiert, ausgelöscht, sondern allenfalls im zweifachen, Hegelschen Sinne des Wortes in ihm aufgehoben, das heißt zugleich beseitigt und bewahrt. 15 Filmographie 8 ½ / Otto e mezzo. Produktion: Angelo Rizzoli, Italien, 1963. Regie: Federico Fellini. Drehbuch: Federico Fellini, Tullino Pinelli, Ennio Flaiano, Brunello Rondi. Kamera: Gianni Venanzo. Musik: Nino Rota. Darsteller: Marcello Mastroianni (Guido Anselmi), Claudia Cardinale (Claudia), Anouk Aimée (Luisa Anselmi), Sandra Milo (Carla), Barbara Steele (Gloria Morin), Riccardo Gugliemi (Guido als Kind). Bibliographie Barthes, Roland, „Der Tod des Autors“. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, u.a. Stuttgart 2000, S. 185-193. Bellour, Raymond, „La splendeur de soi-même“. In: 1. Federico Fellini. Études cinématographiques 28-29. Paris 1963, S. 27-30. 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This is the War Room! “ 1 - Diese berühmte Ermahnung des amerikanischen Präsidenten an den russischen Botschafter und einen seiner Generäle ist das wohl berühmteste Zitat aus Stanley Kubricks Dr. Strange love or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb. Die Szene schuldet ihren Witz nicht allein der paradoxen Forderung, sich doch bitte nicht im „War Room“ zu streiten: Hier zanken sich erwachsene Menschen in verantwortungsvoller Position wie Kleinkinder, während alle Anstrengungen darauf hinzielen sollten, einen potentiell verheerenden nuklearen Konflikt zu vermeiden. Diese Thematik kurz nach der Kubakrise des Jahres 1962 als Satire zu verarbeiten war gewagt; so konstatierte Bosley Crowther in der New York Times: „Stanley Kubrick’s new film, called Dr. Strange love or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb, is beyond any question the most shattering sick joke I’ve ever come across.“ Dennoch ließ der Film den Kritiker unentschlossen zurück: „My reaction to it is quite divided, because there is so much about it that is grand, so much that is brilliant and amusing, and much that is grave and dangerous.“ 2 Man könnte sagen, hätte Dr. Strangelove nicht auch ‚gefährliche‘ Aspekte, würde der Film heute wohl kaum noch als Meisterwerk gefeiert werden. Im Folgenden sollen verschiedene zentrale Aspekte des Films diskutiert werden. Dabei dient diese Einleitung der Verortung des Filmes sowohl in historischen Zusammenhängen, als auch im Werk Kubricks. Neben Grundlegendem zur Besetzung Dr. Strangeloves soll der Film auch in den Kontext ähnlicher Filme, des von Shapiro als ‚Atomic Bomb Cinema‘ bezeichneten Diskurses gestellt werden. 3 In einem nächsten Schritt soll auf Handlung und Struktur des Filmes sowie auf die Genese der vorliegenden Schnittfassung eingegangen werden. Mit dem Szenenbildner Ken Adam und dem Kameramann Gilbert Taylor werden kurz für die Ästhetik des Filmes zentrale Beiträger vorgestellt, bevor in einem weiteren Punkt drei zentrale Aspekte des Filmes und seiner Entstehung diskutiert werden: In Anlehnung an den englischen Titel des Films sind dies die Umarbeitung des ernsten Ausgangsmaterials in eine „nightmare comedy“ 4 (How I Learned to Stop Worrying…), die Interpretation 1 Kubrick, Dr. Strangelove, 00: 36: 23. 2 Crowther, „Dr. Strangelove“. 3 Siehe Shapiro, Cinema. 4 Siehe Kubricks Ausführungen in Phillips, „Stop the World. Stanley Kubrick“, S. 148. Stanley Kubrick, Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb I. Einleitung - - <?page no="146"?> Michael Sauter 146 einer psychologisch-sexuellen Ebene des Films und der Symbolbereich der Liebe (… and Love … ), sowie die kritische Auseinandersetzung des Filmes mit dem technologischen Fortschritt und seiner Kritik an daraus resultierenden Automatismen, die letztendlich menschliche Handlungskompetenzen unterordnen (…the Bomb). Stanley Kubrick, geboren 1928, muss zu den bedeutendsten Regisseuren des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Beeinflusst von Orson Welles, John Ford, aber auch Max Ophüls fand Kubrick zu einer ganz eigenen Art des Filmemachens. 5 Er gehörte zu den wenigen amerikanischen Regisseuren, die sich beinahe absolute Autonomie von den Zwängen des Studiosystems bewahren konnten. Kubrick kam über die Fotografie zum Film und arbeitete zunächst für das Look Magazine. Eine seiner frühen Reportagen widmete er dem Boxer Walter Cartier, ein Thema, das er in dem Dokumentarfilm Day of the Fight wieder aufgriff. In Kubricks Frühwerk finden sich neben dem Kriegsfilm Fear and Desire auch Killer’s Kiss und The Killing in der Tradition des Film Noir. Mit Paths of Glory, bei dem Kirk Douglas die Hauptrolle übernahm, gelang Kubrick ein erstes Meisterwerk. Es war auch Douglas, der während der Dreharbeiten zu Spartacus darauf insistierte, den Regisseur zu wechseln und Kubrick mit der Aufgabe betraute. Dieser war allerdings höchst unzufrieden mit dem Ergebnis dieser Auftragsarbeit und wandte sich verstärkt eigenen Projekten zu. Kubrick arbeitete zumeist an Literaturverfilmungen; Anfang der 60er Jahre unter anderem an der Adaption von Nabokovs Skandalroman Lolita, in der Peter Sellers drei Rollen übernahm. Für Dr. Strangelove griff Kubrick ebenfalls auf eine literarische Vorlage zurück, den Thriller Two Hours to Doom, den Peter George unter dem Pseudonym Peter Bryant 1958 veröffentlicht hatte. 6 Damit beginnt eine Hochphase Kubricks Schaffens, die 2001: A Space Odyssey, A Clockwork Orange und Barry Lyndon einschließt. Anders als amerikanische Regisseure der nächsten Generation, etwa Scorsese, Spielberg oder Lucas, begann Kubricks Karriere bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, also noch bevor das europäische Kino und insbesondere die Nouvelle Vague einen zunehmenden Einfluss auf das amerikanische Kino ausübten. 7 Die Kubakrise von 1962 und das Attentat auf John F. Kennedy im November 1963 sind wichtige historische Referenzpunkte für Dr. Strangelove. Ursprünglich für 1963 geplant, wurde die Premiere nach der Ermordung Kennedys auf 1964 verschoben. Jerome Shapiro folgend können wir den Film auch als Vertreter des ‚Atomic Bomb Cinema‘ verstehen. Shapiro untersucht in seiner gleichnamigen Studie eine Reihe von Filmen, die sich im Nachgang der Atombombenexplosionen über Japan mit den Themen Atomenergie und Nuklearwaffen auseinandersetzt. Weitere relevante Vertreter, die zum Teil größere Gemeinsamkeiten mit Kubricks Film haben, sind On the Beach (1959), basierend auf dem gleichnamigen Roman von Nevil Shute aus dem Jahre 1957, und Fail-Safe (1964). Letzerer basiert auf dem 1962 veröffentlichten Roman Fail-Safe von Eugene Burdick und Harvey Wheeler, der in weiten Strecken sehr Peter Georges Red Alert ähnelt. Sowohl George als auch Kubrick gingen rechtlich gegen den Roman, bzw. dessen Verfilmung vor, die, unter der Regie von Sydney 5 Vgl. Kolker, Cinema, S. 112. 6 Spätere Auflagen erschienen unter dem neuen Titel Red Alert. 7 Vgl. Kolker, Cinema, S. 175. <?page no="147"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 147 Lumet, ebenfalls 1964 erschien. Fail-Safe teilt im Grunde den Plot mit Dr. Strangelove, behält aber eine ernsthafte Perspektive bei. Durch die Kombination von renommiertem Regisseur und Staraufgebot (u.a. Henry Fonda und Walter Matthau) wurde Fail- Safe zur ernsten Konkurrenz und Kubrick vertraute auf juristische Mittel, um die Veröffentlichung bis nach der Premiere seines Films zu verzögern, was ihm schlussendlich auch gelang. Mit Goldfinger, ebenfalls 1964 erschienen, sei nur ein weiterer Film der Zeit genannt, der die Bedrohung durch die Bombe ganz anders im Muster des Agentenfilms verhandelt. 8 Von allen genannten Filmen wurde aber Dr. Strangelove zum Inbegriff einer instabilen und von Verunsicherung geprägten Zeit. Wie auch Shapiro weist Margot A. Henriksen dem Film eine zentrale Rolle zu und nennt ihre Studie über ‚Society and Culture in the Atomic Age‘ Dr. Strangelove’s America. 9 Der große und andauernde Erfolg des Films war 1964 aber noch nicht abzusehen. Gerade das Studio hatte Bedenken, wie ein solch provokativer Film überhaupt zu vermarkten sei, so berichtete Kubrick Terry Southern ernüchtert: „The publicity department is having a hard time getting a handle on how to promote a comedy about the destruction of the planet.“ 10 Entgegen dieser Befürchtung entwickelte sich großes öffentliches Interesse. Die Werbekampagne setzte unter anderem auf einen Werbetrailer von Pablo Ferro der neben avantgardistisch schnellen Schnitten das Thema des Films in Frageform anriss. Wichtiges Argument neben dem Namen des Regisseurs war sicherlich auch die hochkarätige Besetzung. Peter Sellers in den Rollen des Group Captain Lionel Mandrake, des amerikanischen Präsidenten Merkin Muffley und Dr. Strangeloves, wurde auf expliziten Wunsch des Studios besetzt, da er schon in Lolita mehrere Rollen übernommen hatte und das Studio den Erfolg wiederholen wollte. Auch George C. Scott in der Rolle des General ‚Buck‘ Turgidson und Sterling Hayden in der Rolle des Brig. General Jack D. Ripper waren einem weiteren Publikum ein Begriff. Ursprünglich war Sellers auch für die Rolle des Bomberpiloten Major ‚King‘ Kong vorgesehen, wurde dann aber verletzungsbedingt kurzfristig durch Slim Pickens ersetzt, der bis dahin vor allem in Western in Erscheinung getreten war. Kubricks Auseinandersetzung mit dem nuklearen Ernstfall zeichnet sich durch eine klare Struktur und Ökonomie der Darstellung aus, die die Ereignisse des Films auf drei zentrale Schauplätze reduziert. Dabei handelt es sich jeweils um eng begrenzte Räumlichkeiten und Gebiete: die Burpleson Airbase, den War Room, ein Lagezentrum im Pentagon, und den B-52-Bomber ‚Leper Colony‘ Major Kongs. Der Zuschauer wird mit einem gestaffelten Beginn konfrontiert: Dem Film vorangestellt ist ein Dementi der US-Streitkräfte, welches die Fiktionalität des Folgenden unterstreicht und versichert, dass ähnliche Vorgänge im wahren Leben ausgeschlossen 8 Vgl. Shapiro, Atomic, S. 152. 9 Vgl. Henriksen, Dr. Strangelove’s America. Die Studie geht auch explizit auf Kubricks Film ein. 10 Southern, „Strangelove Outtake“, S. 84. II. Plot und Struktur <?page no="148"?> Michael Sauter 148 seien. 11 Es folgt der von Pablo Ferro entworfene Vorspann, der die romantisch träumerischen Harmonien von „Try a Little Tenderness“ mit Bildern des Auftankvorgangs von Langstreckenbombern kombiniert und dabei geschickt sexuelle Assoziationen, etwa mit dem Liebesspiel von Libellen, erzeugt. 12 Diese Bilder, aus Dokumentarmaterial der US-Airforce zusammengeschnitten, werden abgelöst von Luftaufnahmen einer ominösen Nebellandschaft, die von einer Stimme aus dem Off kommentiert werden. Dabei wird ein geheimnisumwittertes Projekt der Sowjets erwähnt, die Entwicklung einer sogenannten ‚Doomsday Machine‘, deren Zweck im Dunkeln liege. Die eigentliche Handlung setzt auf der Burpleson Airbase mit dem Befehl General Rippers ein, die Basis hermetisch abzuriegeln, und dem ihm unterstehenden Geschwader strategischer Langstreckenbomber den Befehl ‚Wing Attack Plan R‘ zu übermitteln. Ripper ordnet an, jeden Kontakt zur Außenwelt zu vermeiden und lässt jedes Radio und Funkgerät der Basis beschlagnahmen. Group Captain Mandrake, der als britischer Verbindungsoffizier Ripper unterstellt ist, reagiert genauso entsetzt wie die Besatzung des B-52-Bombers um Major Kong, die ebenfalls die Korrektheit des Angriffbefehls anzweifeln. Dem Zuschauer wird schnell klar, dass Ripper an paranoiden Wahnvorstellungen leidet und in einem nuklearen Erstschlag die beste Option in einem vermeintlich unausweichlichen Konflikt mit den Sowjets sieht. Als Mandrake ein versehentlich nicht konfisziertes Radio findet und feststellt, dass, dem vorgeblichen Ernstfall gänzlich unangemessen, leichte Tanzmusik gesendet wird, konfrontiert er Ripper und beschließt, die Bomberstaffel zurückzurufen. Die langsame Reaktion der Streitkräfte auf die überraschende Situation wird durch eine kurze Szene verdeutlicht, in der General Turgidson aus dem Badezimmer heraus von einem amourösen Treffen mit seiner Sekretärin zu einer Krisensitzung ins Pentagon gerufen wird. Der Film kann grob in drei Blöcke eingeteilt werden: Nach der Exposition, die vornehmlich auf der Burpleson Airbase und an Bord des B-52-Bombers angesiedelt ist, rückt nun der War Room im Pentagon verstärkt in den Fokus. In diesem zweiten Teil springt der Film nun zwischen den Handlungsorten hin und her, wobei nun auch verstärkt die administrative Seite der Krise thematisiert wird, die Streitigkeiten der Generalität untereinander und die Versuche des Präsidenten Merkin Muffley, einerseits Ripper unschädlich machen zu lassen, andererseits mit den Sowjets in Kontakt zu treten, um auf diplomatischem Wege die Krise zu deeskalieren. Während Major Kong im Bomber zur Einleitung des Angriffs letzte Vorkehrungen trifft und Checklisten durchgeht, erscheint der russische Botschafter auf Bitten des Präsidenten im War Room. Im Büro Rippers versucht Mandrake den General zur Aufgabe und Herausgabe des Rückrufcodes zu bewegen, während herbeigerufene Verbände versuchen, die Burpleson Airbase einzunehmen und Ripper festzusetzen. Um das Schlimmste zu verhindern, telefoniert Präsident Muffley mit dem russischen Pre mier, der allerdings in Feierstimmung und angetrunken ist. Dieses zentrale Telefonge- 11 Die Geschichte hat diese Aussage widerlegt; Kubricks Szenario war in vielen Bereichen erschreckend akkurat. Vgl. Schlosser, „Almost Everything in ‚Dr. Strangelove‘ was true“. 12 Vgl. exemplarisch Seeßlen/ Jung, Stanley Kubrick und seine Filme, S. 139. - <?page no="149"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 149 spräch in der Mitte des Films markiert einen Höhe- und Wendepunkt, denn am Ende des Gesprächs gibt der russische Botschafter die Existenz einer russischen ‚Doomsday Machine‘ bekannt, einer Computervorrichtung, die im Falle eines nuklearen Angriffs nicht nur den Gegenschlag, sondern die nukleare Verwüstung des gesamten Planeten einleitet. An dieser Stelle kommt es zum ersten Auftritt Dr. Strangeloves, eines deutschen Wissenschaftlers, der nach Ende des Krieges nun für die USA forscht. Er kritisiert den Botschafter und die Widersinnigkeit der Geheimhaltung einer solchen Abschreckungswaffe. Damit ist ein zentraler Punkt erreicht: Die Krise kann definitiv nicht mehr auf rein diplomatischem Wege beigelegt werden - was droht ist nicht ‚nur‘ ein nuklearer Schlagabtausch, sondern die garantierte Auslöschung allen Lebens. Da es unmöglich scheint, die Bomber zurückzurufen, übermittelt der amerikanische Präsident alle nötigen Informationen an die sowjetische Luftabwehr, um im Notfall die Flugzeuge abschießen zu lassen. Im weiteren Verlauf wird die Burpleson Airbase eingenommen, General Ripper allerdings nimmt sich das Leben und damit scheint jede Möglichkeit des Rückrufs der Bomber vertan. Die Handlung des Filmes beschleunigt sich nun zusehends. Die B-52 Major Kongs weicht einer sowjetischen Luftabwehrrakete aus, wird dabei aber beschädigt. Besonders schwer wiegt, dass das Kommunikationssystem ausfällt, sodass es nun auch nicht mehr hilft, dass Mandrake inzwischen nach Durchsicht der Unterlagen Rippers den Rückrufcode erraten und, nach weiteren Verwicklungen, an den War Room durchgegeben hat. Hier verlieren Mandrake und die Burple son Airbase nun ihre Bedeutung für den Plot und der Rest der Handlung spielt sich zwischen War Room und Bomber ab. Die Beschädigung des Bombers stellt so einen weiteren point-of-no-return dar und leitet nach fast genau zwei Dritteln des Films den dritten Block ein, in dem Kong und seine Crew versuchen, ihr Ziel noch zu erreichen. Amerikaner und Russen realisieren nach der ersten Erleichterung über den gelungenen Rückruf der Bomberstaffel, dass ein Bomber, Kongs B-52, nicht umgekehrt ist und unbedingt abgefangen werden muss. Während sich im War Room zunehmend Entsetzen breit macht, kämpft die Crew der ‚Leper Colony‘ mit zahlreichen technischen Problemen. Es ist nur der Selbstaufopferung Kongs geschuldet, dass tatsächlich eine Bombe abgeworfen werden kann, auf der Kong schließlich, seinen Cowboyhut schwenkend, ins Ziel reitet. Mit der Detonation des Gefechtskopfes ist das Schicksal der Erde besiegelt. Dr. Strangelove tritt nun in den Mittelpunkt, er ist in dieser neuen Situation derjenige mit der meisten Expertise und entwirft Szenarien, in denen einige Wenige, darunter die hochrangigen Funktionäre im War Room, den Fallout in Bergwerken überleben und somit den Fortbestand der Menschheit sichern könnten. Abschließend kommt es zu Streitigkeiten zwischen dem russischen Botschafter und Buck Turgidson, die selbst in diesem Moment nicht aus alten Handlungsmustern ausbrechen können. Das letzte Wort hat Dr. Strangelove, der sich aus seinem Rollstuhl erhebt und kreischt „Mein Führer, I can walk.“ 13 Der Film endet mit einer Montage dokumentarischer Aufnahmen von explodierenden Wasserstoffbomben, 13 Kubrick, Dr. Strangelove, 01: 29: 08. - <?page no="150"?> Michael Sauter 150 unterlegt mit den Klängen von Vera Lynns „We’ll Meet Again“. Ein Lied, das dem britischen Publikum noch als Schlusslied abendlicher BBC Radiosendungen während des Zweiten Weltkriegs in Erinnerung gewesen sein mag, und das gerade deswegen ein potentielles Wiedersehen in Frage stellt, oder auch für ein wie auch immer geartetes Jenseits postuliert. 14 In Analogie zum erwähnten gestaffelten Beginn des Films kann man auch mehrere Enden des Filmes identifizieren. So wäre Major Kongs Ritt auf der Bombe ein möglicher Endpunkt der Handlung und Kritiker wie etwa Roger Ebert 15 sehen in der Abfolge der Szenen eine strukturelle Schwäche des Films. Neben der Besprechung im War Room und dem Bildmaterial explodierender Bomben war noch eine weitere Endsequenz geplant, die aber keinen Eingang in die Endfassung des Filmes fand. Ursprünglich sollte der Film in einer großen Tortenschlacht enden. Für die Herausnahme dieser trotzdem berühmt gewordenen, sehr aufwändigen Szene gibt es wohl verschiedene Gründe. Eine Theorie lautet, die Szene sei in ihrer Form so kurz nach dem Attentat auf Kennedy nicht tragbar gewesen, wird doch Präsident Muffley von einer Torte getroffen, was mit den Worten „Gentlemen, our beloved President has been struck down in his prime“ kommentiert wird. 16 Terry Southern hingegen behauptet, 17 Kubrick soll unzufrieden gewesen sein, da das Bildmaterial zwar beeindruckend gewesen sei, aber nicht geeignet, die gewünschte Aussage zur Zerstrittenheit der unterschiedlichen Teilbereiche der US-Streitkräfte untereinander zu transportieren. Vielleicht ist die Tortenschlacht auch nur redundant geworden: Set Designer Ken Adam berichtet, dass die Figuren wie Kleinkinder in den Überresten der Tortenschlacht spielen sollten, eine Regression ins Infantile, die schon an anderer Stelle zur Genüge thematisiert worden war. 18 Kubrick, der zu Beginn seiner Karriere Filme mit niedrigem Budget auf eigenes Risiko verwirklichte, war seit jeher große Autonomie in seinem Schaffensprozess gewohnt; in dieser Hinsicht musste er bei der Auftragsarbeit Spartacus und auch bei Lolita Kompromisse eingehen, bei Dr. Strangelove hingegen konnte er seine eigenen Vorstellungen umsetzen. Zusätzlich konnte er sich beim Dreh des Films auf die Beiträge kongenialer Mitarbeiter verlassen. Sicherlich nicht zu unterschätzenden Einfluss hatte der Szenenbildner Ken Adam, der zuvor mit aufwändigen Setdesigns, u.a. für Dr. No, Furore gemacht hatte. Als ehemaliger Pilot der Royal Air Force brachte er relevantes Wissen mit, das unter anderem bei der Rekonstruktion eines B- 52 Cockpits einfließen konnte. Auch an den Einstellungen kurz vor dem Bomben- 14 Vgl. Shapiro, Atomic, S. 144. 15 Vgl. Ebert, „Dr. Strangelove“. 16 Vgl. Lobrutto, „The Written Word“, S. 41. Je nach Quelle findet sich auch die Variante „[…] our gallant President has been struck […]“. 17 Vgl. Southern, „Strangelove“, S. 83. 18 Ciment, Kubrick, S. 208. III. Technische Umsetzung: Set Design und Kamera <?page no="151"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 151 abwurf und Major Kongs Ritt ins Ziel war Ken Adam maßgeblich beteiligt. 19 So präzise auch der Nachbau des Cockpits und des Flugzeugs geriet, treten diese Leistungen in den Hintergrund, wenn man sie mit dem Entwurf des War Rooms vergleicht, der in die Filmgeschichte eingehen sollte. Einer oft zitierten Anekdote zufolge soll Ronald Reagan nach seiner Amtseinführung als Präsident der Vereinigten Staaten darum gebeten haben, den War Room sehen zu dürfen und musste erst von einem Mitarbeiter darauf hingewiesen werden, dass dieser real nicht existiere. 20 Ken Adam schuf ein Lagezentrum, das zum Vorbild zahlreicher ähnlicher Räume werden sollte. Immer wieder wurde der Öffentlichkeit Fotomaterial zur Verfügung gestellt, das Präsidenten in vergleichbaren Räumlichkeiten zeigt. Pete Souzas Foto „Situation Room“ aus einem Sitzungssaal, in dem Präsident Obama und seine Mitarbeiter, unter anderem auch Hillary Clinton, gebannt den Verlauf des Zugriffs auf Osama bin Ladens Versteck in Pakistan verfolgen, erinnert beispielsweise ebenfalls an Einstellungen aus Dr. Strangelove. Konzeptuell verbindet der Entwurf drei grundlegende geometrische Formen, kombiniert rechteckigen Grundriss mit rundem Tisch und darüber im Kreis angeordneter Beleuchtung unter einem zeltähnlichen Dach, das mit seinen schrägen Wänden ein Dreieck über dem Raum bildet. 21 Über den Köpfen der Beteiligten schwebt das ‚big board‘, auf dem je nach Bedarf potentielle Angriffsziele in der Sowjetunion oder die Flugvektoren der Bomberstaffel aufscheinen. Zu Beginn des Films steuert diese von allen Seiten auf sowjetisches Gebiet zu, die leuchtenden Glühbirnen des ‚big board‘ werden so zur gespenstischen Andeutung, und das ‚big board‘, das durchaus auch an Brettspiele erinnert, 22 zum zentralen Repräsentationsmechanismus der globalen Dimension der Krise. Wesentlicher Zug des Sets ist seine Größe, in der die Figuren teilweise verloren scheinen, aber auch genügend Raum für Improvisation haben. Da die Beleuchtung nur direkt vorgenommen wurde, entsteht ein Spiel von Licht und Schatten, und der Tisch, um den sich die Beteiligten gruppieren, steht im Zentrum des Lichtkegels, während sich weiter entfernte Ecken des War Rooms im Dunkeln verlieren. Weitere wichtige Komponenten sind der polierte Boden, in dem sich die grelle Beleuchtung reflektiert und der alle Schauspieler dazu zwang, während des Drehs spezielle Überschuhe zu tragen, sowie der grüne Filzbezug des Tisches, der auf Kubricks Wunsch installiert wurde, um den Schauspielern die Assoziation nahezulegen, dass an diesem Tisch um das Schicksal der Welt gepokert wird. 23 Im Gegensatz zu Ken Adam gehörte Kameramann Gilbert Taylor wohl nicht zum engsten Kreis der Produktion. 24 Dabei war Taylor, dessen Karriere über 50 19 Vgl. Naylor, Inside. 20 In jüngerer Zeit z.B. anlässlich einer Berliner Ken Adam Ausstellung: Seeßlen, „Dr. Schrecklich & Mr. Komisch“. 21 Siehe auch Ciment, Kubrick, S. 208. 22 Vgl. Baxter, Kubrick, S. 183. 23 Berichte vom Set finden sich z.B. in Minoff, „,Nerve Center‘ for a Nuclear Nightmare“ und Ciment, Kubrick, S. 208. 24 Vgl. Baxter, Kubrick, S. 180. <?page no="152"?> Michael Sauter 152 Jahre umfasste, in besonderer Weise für die Arbeit an Dr. Strangelove qualifiziert. Während seiner Zeit bei der Royal Air Force gehörte es zu seinen Aufgaben, vom Flugzeug aus die Schäden der britischen Bombenangriffe auf deutsche Städte mit der Kamera zu dokumentieren, später sollte auch die Dokumentation der Zustände in befreiten Konzentrationslagern in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Im weiteren Verlauf seiner Karriere arbeitete er mit einer Vielzahl renommierter Regisseure zusammen, u.a. mit Alfred Hitchcock und Roman Polanski, und zeichnete für die Kameraarbeit in Filmen wie Frenzy, Polanskis Ekel und MacBeth, aber auch A Hard Day’s Night verantwortlich. Höchste Bekanntheit erreichte Taylor wohl als Kameramann für George Lucas’ Star Wars. Für den Zielanflug der ‚Leper Colony‘ in Dr. Strangelove wurden große Mengen Filmmaterial benötigt, die Taylor zusammen mit einer Crew mehrere Wochen lang in Grönland filmte. 25 Der Einsatz der filmischen Mittel ist dabei breit gefächert: von den beengten Verhältnissen im Nachbau des Cockpits, hin zur Verwendung der Handkamera beim Kampf um die Burpleson Airbase und die oftmals sehr langen, dialogbetonten Einstellungen im Büro Rippers und im War Room. Dr. Seltsam, oder wie ich lernte die Bombe zu lieben - der deutsche Filmtitel scheint auf den ersten Blick eine wörtliche Übersetzung aus dem Englischen, verkürzt aber und verstellt so den Blick auf einige zentrale Charakteristika und Themen des Films, die im englischen Titel anklingen: ‚Dr. Seltsam‘ etwa unterschlägt die zweite Hälfte des Namens ‚Dr. Strangelove‘, auch im Untertitel wurde ein Element gestrichen. Der vollständige Titel ‚How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‘ greift stereotype Muster zur Generierung von Titeln im Bereich der Self-Help- und Ratgeberliteratur auf; wie mehrere Kritiker bemerkt haben erinnert er etwa an Dale Carnegies Bestseller How to Stop Worrying and Start Living. Im Folgenden sollen nochmals drei im Titel anklingende Themenbereiche diskutiert werden: Die Entscheidung Kubricks das Ausgangsmaterial satirisch umzuformen, der Themenbereich der Liebe und der Sexualität als satirisches Mittel, und die Fortschritts- und Technikkritik, die im Rahmen einer ‚Liebe zur Bombe‘ mitschwingt. „How I Learned to Stop Worrying …“ Aus Dale Carnegies „How to Stop Worrying[…]“ wird bei Kubrick „How I Learned to Stop Worrying […]“. Durch die Verwendung der Vergangenheitsform und die Einfügung des ‚Lernens‘ wird der Berichtcharakter des Films und auch die Prozesshaftigeit dieser Transformation von Sorge zu Liebe unterstrichen. Man kann den Titel auch selbstreferentiell lesen und darin die Erklärung der Genese des Films als Satire erkennen. Wie die meisten Filme Stanley Kubricks basiert auch Dr. Strangelove auf einer Literaturvorlage. Der Regisseur sicherte sich die Rechte an Peter Georges 25 Vgl. Naylor, Inside. IV. Zentrale Aspekte: How to Stop Worrying and Love the Bomb. <?page no="153"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 153 Roman Red Alert und versuchte sich zunächst mit dem Autor an einer Adaption des Stoffes. Auch wenn aus heutiger Sicht einige Passagen aus Red Alert unfreiwillig komisch oder zynisch anmuten mögen, ist der Ton doch ernst, und der Roman als aufrüttelnder Thriller konzipiert. So formuliert George im Vorwort: This is the story of a battle. […] Most important of all, it is a story which could happen. It may even be happening as you read these words. And then it really will be two hours to doom. Yours and mine and every other living creature’s. 26 Kubrick hingegen betonte mehrmals, dass er schon früh gemerkt hatte, dass der Stoff vielleicht besser im Rahmen einer ‚nightmare comedy‘ verfilmt werden könnte. Dieser Eindruck verstärkte sich und nach mehreren Drehbuchentwürfen kam im Dezember 1962 auf Anfrage Kubricks auch der Journalist und Satiriker Terry Southern zum Autorenteam. 27 Neben Southerns Einflüssen verdankt Dr. Strangelove seinen anarchischen Humor auch in besonderer Weise den beteiligten Schauspielern. So improvisierte Peter Sellers in drei Rollen über weite Strecken frei und schuf damit unvergessliche Szenen, wie das Telefonat mit dem russischen Premier oder inspirierten Nonsens, etwa seine Erklärung, er sei nicht in der Lage General Ripper dabei zu helfen, das Maschinengewehr zu laden: „what’s happened, you see is … the string in my leg is gone.“ 28 Legendär sind die Versuche Kubricks dahingehend, seine Schauspieler zum Teil auch gegen deren Willen zu komödiantischen Meisterleistungen anzuspornen. George C. Scott ließ er Szenen in verschiedenen Intensitätsgraden spielen und wählte für die Schnittfassung immer die übertriebenste Leistung aus, was George C. Scott nach der Premiere bemängelte. 29 Slim Pickens hingegen soll nicht gewusst haben, für eine Satire besetzt worden zu sein. Die Strategie, die oftmals lächerlichen Rollen ‚straight‘, also ernsthaft spielen zu lassen und gerade so Humor zu erzeugen geht auf. Aktuelle Bezüge, zum Beispiel Turgidsons entsetzter Einwurf am Ende, „Mr President, we must not allow a Mineshaft-Gap“, 30 der auf die damals populäre Vorstellung einer missile-gap, einer vermeintlichen sowjetischen Überlegenheit im Bereich der Interkontinenalraketen, anspielt, sind oftmals nicht mehr ohne weiteres verständlich, bleiben aber meist durch die überzogene Sprache und schauspielerische Leistung satirisch wirksam. „… and Love …“ „How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb“ - die Bombe zu lieben, das scheint auch im Rahmen einer satirischen Behandlung des Themas viel verlangt. Wir können diese Denkfigur der Liebe zur Bombe aus verschiedenen Richtungen ange- 26 Bryant, Red Alert, S. 7. 27 Southern behauptete im Nachhinein, weite Strecken des Drehbuchs zu verantworten - das entsprach nur bedingt der Wahrheit, trug aber unzweifelhaft zu Southerns großer Popularität und seinem Durchbruch als Schriftsteller und Satiriker in den 1960er Jahren bei. 28 Kubrick, Dr. Strangelove, 00: 46: 28. 29 Vgl. Naylor, Inside. 30 Kubrick, Dr. Strangelove, 01: 28: 59. <?page no="154"?> Michael Sauter 154 hen. Welche Gründe gäbe es, die Bombe zu lieben? Zum einen natürlich im Rahmen einer kognitiven Anpassung, die auch im Titel anklingt, weg von Sorge und anderen starken Emotionen wie etwa Angst, hin zu positiveren Emotionen. Um den deutschen Titel von Dale Carnegies Ratgeber abzuwandeln: „Sorge dich nicht - liebe! “. Der Titel könnte andererseits im weiteren Sinne als Ausdruck einer nihilistischen Resignation gelesen werden, oder als Beschreibung der Faszination der Atombombe und einhergehender Vernichtungsszenarien. Nicht zuletzt könnte man in der Liebe zur Bombe eine krankhafte Fehlleitung des Affekts und der Libido sehen; so klingt auch im Namen Dr. Strangeloves die Möglichkeit einer Paraphilie an. Durch den ganzen Film zieht sich eine psychosexuelle Bedeutungsebene, die bereits von mehreren Kritikern beleuchtet wurde. 31 Dabei werden die Figuren in starke sexuelle Assoziationszusammenhänge gestellt, beispielsweise durch zahlreiche Phallussymbole: In General Rippers Büro zieren Dekorationswaffen die Wände und er selbst wird mit überdimensionierter Zigarre inszeniert, die in mehreren Einstellungen aus der Untersicht heraus zum zentralen Bildbestandteil wird (vgl. Abb. 1). Wenig später greift Ripper zum Maschinengewehr, um sein Büro zu verteidigen (vgl. Abb. 2). Auch die Atombombe, auf der Kong reitet, kann auf diese Weise gedeutet werden (vgl. Abb. 3). Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 General Rippers Wahnvorstellungen kombinieren antikommunistische Ressentiments mit Verschwörungstheorien zur Fluoridierung des Trinkwassers und scheinen ihren Ursprung in persönlichen sexuellen Problemen zu haben. Er berichtet, die negativen Auswirkungen zum ersten Mal beim Geschlechtsverkehr, „during the 31 Vgl. bspw. Nelson, Kubrick, S. 93-97. <?page no="155"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 155 physical act of love“, 32 bemerkt zu haben. Im Gespräch mit Mandrake erklärt er: „I do not avoid women, Mandrake. But I ... I do deny them my essence.“ 33 In diesem Licht könnte man interpretieren, er versuche sexuelle Gehemmtheit auf nuklearem Wege zu überwinden. Weiterhin nehmen zahlreiche Details des Films Bezug auf das bereits erwähnte sexuelle Grundthema. Beispielsweise sind fast alle Eigennamen des Films doppeldeutig und sexuell aufgeladen. Der Name des Brig. Gen. Jack D. Ripper erinnert offensichtlich an den Londoner Serienmörder. Der seines Gegenspielers Lionel Mandrake hingegen mag auf eine gewisse Schwäche hinweisen, man kann ‚Lionel‘ mit ‚kleiner Löwe‘ übersetzen, während ‚Mandrake‘, zu deutsch ‚Alraune‘, eine Pflanze bezeichnet, der potenzsteigernde Wirkung nachgesagt wird. Neben Lionel finden sich noch weitere Referenzen auf tierische, oder zumindest animalische Namensgeber, z.B. der Name des Bomberpiloten Major ‚King‘ Kong. Der Name des amerikanischen Präsidenten Merkin Muffley kombiniert das Wort für Schamhaartoupet ‚merkin‘ mit einer umgangssprachlichen Referenz auf das weibliche Genital ‚muff‘. Dieses Muster der Namensgebung erstreckt sich auch auf den russischen Gegenpart, vertreten durch den Botschafter de Sadesky, Premier Kissov oder das Primärziel der ‚Leper Colony‘, ‚Laputa‘, sowohl ein Verweis auf Swifts Gulliver’s Travels, als auch ein spanisches Wort für Prostituierte. In dieser Aufzählung darf Dr. Strangelove natürlich nicht fehlen, dessen Name auf eine „seltsame Liebe“ verweist. 34 Dr. Strangelove, der seinen früheren deutschen Namen ‚Merkwürdigliebe‘ anglisiert hat, ist nicht allen Teilnehmern der Krisensitzung im War Room geheuer; mit dem abgewandelten Shakespearezitat ‚A Kraut by any other name‘ kommentieren sie seine sinistre Vergangenheit. Der Wissenschaftler ist bereits in einigen früheren Einstellungen am Tisch im War Room zu sehen, tritt aber erst nach dem Gespräch des Präsidenten mit seinem russischen Amtskollegen und der Enthüllung der Existenz der ‚Doomsday-Maschine‘ in den Mittelpunkt. Anders formuliert, Dr. Strangelove trägt nichts dazu bei, die Eskalation zu verhindern, scheint aber umso mehr aufzuleben, je näher die Katastrophe rückt. Der Wissenschaftler kämpft mit seiner zunehmend störrischen rechten Hand, die sich mehr und mehr seiner Kontrolle entzieht. Zum Ende des Films scheint die Hand zunächst gegen den Willen Dr. Strangeloves in alte Handlungsmuster zu verfallen, und salutiert dem Präsidenten der Vereinigten Staaten mit dem Hitlergruß. Diese somatische Ausprägung einer inneren Zerrissenheit Strangeloves wird auf verschiedene Weisen interpretiert; einerseits wird sie mit dem Alien-Hand-Syndrom in Verbindung gebracht, andererseits wird Dr. Strangelove auch als kybernetisches Mischwesen, als Mensch mit ‚mechanischem Arm‘ gesehen. 35 Während die Krise auf ihren unausweichlichen Ausgang, das Ende der bewohnten Erde, zutreibt, wirkt Dr. Strangelove zusehends animiert, er gewinnt an Vitalität und scheint geradezu erregt. Das Schlusstableau des Films zeigt Strangelove, der seinen Rollstuhl verlassen hat und 32 Kubrick, Dr. Strangelove, 00: 53: 57. 33 Ebd., 00: 54: 26. 34 Vgl. Nelson, Kubrick, S. 95. 35 Vgl. etwa Crowther, „Dr. Strangelove“. <?page no="156"?> Michael Sauter 156 verkündet: „I have a plan“, 36 um unmittelbar darauf zu schreien, „Mein Führer, I can walk! “. 37 Diese Transformation erinnert an den Topos religiös konnotierter Spontanheilungen: eine ‚merkwürdige Liebe‘ zum Untergang scheint am Ende des Films Dr. Strangelove zu animieren und lässt ihn mit verstörender Zuversicht („I have a plan! “) in die Zukunft blicken. „… the Bomb“ Die Figur Dr. Strangeloves lässt sich auch im Zentrum eines weiteren Themenkomplexes verorten, nämlich als Repräsentant zunehmend entmenschlichter und automatisierter Wirkzusammenhänge. 38 In dieser Hinsicht wird er zum Vertreter und Koordinator eines Systems, das Handlungskompetenzen vom Menschen hin zur Maschine verlagert. Dr. Strangelove ist seit jeher ein Faszinosum des Films. Als wissenschaftlicher Berater des US-Präsidenten mit deutschen Wurzeln und NS- Vergangenheit erscheint er als Amalgam zahlreicher Personen der Zeitgeschichte. Edward Teller, einer der hauptverantwortlichen Entwickler der Wasserstoffbombe, wird immer wieder als mögliches Vorbild genannt, genauso wie Henry Kissinger. Weitere Inspirationsquelle mag Herman Kahn, Theoretiker des Nuklearkriegs für die RAND-Corporation und Autor zahlreicher Bücher zum Thema, etwa On Thermonuclear War, sein. Klare Parallelen scheinen, zumindest aus heutiger Sicht, auch zu Wernher von Braun zu bestehen, der für Deutschland unter anderem die V2-Rakete entwickelte und nach dem Krieg eine treibende Kraft des amerikanischen Rüstungs- und Raumfahrtprogramms wurde. 39 Manche dieser Vergleiche, zum Beispiel der mit Henry Kissinger, mögen vor allem aus heutiger Sicht plausibel wirken, sind jedoch wahrscheinlich ahistorisch. Unbestreitbar steht die Figur Dr. Strangeloves in der motivgeschichtlichen Tradition des mad scientist, wie etwa auch Mary Wollstonecraft Shelleys Viktor Frankenstein, oder die Figur des Rotwang in Fritz Langs Metropolis. Das Motiv der Technik, die sich vom Menschen emanzipiert, und dadurch eine höhere Entwicklungsstufe erreicht, erscheint am deutlichsten im Konzept der ‚Doomsday-Maschine‘: Die Auslösung eines verheerenden atomaren Gegenschlags wird an die Maschine, den Computer, delegiert, die vermeintliche Schwachstelle der menschlichen Intervention dadurch aus dem System eliminiert. Die zunehmende Marginalisierung des Menschen im Rahmen des Wettrüstens führt zu Effekten, die man aus heutiger Sicht als posthumanistisch bezeichnen könnte. Der vieldiskutierte Vorspann des Films, in dem die Auftanksequenz eines Langstreckenbombers gezeigt und geschickt mit sexuellen Anspielungen gespielt wird, kann metaphorisch auch als die Ankündigung eines sich inzwischen selbst-reproduzierenden technischen Systems verstanden werden. Komplementär dazu erklärt Dr. Strangelove am Ende des 36 Kubrick, Dr. Strangelove, 01: 29: 05. 37 Ebd., 01: 29: 09. 38 Zur Rolle der ‚Maschine‘ in Dr. Strangelove, siehe Nelson, Kubrick, S. 82-102. 39 In den letzten Jahren sind die Verstrickungen von Brauns in das NS-Regime vermehrt thematisiert worden, eine Diskussion, die lange aufgrund der hervorgehobenen Stellung von Brauns nicht geführt wurde. <?page no="157"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 157 Films, ein Computer könnte geeignete Auserwählte bestimmen, die in Bergwerken die nukleare Verwüstung der Erde 100 Jahre überdauern sollen. In diesem Plan greift der Computer massiv in die menschliche Evolution ein. Den Anwesenden macht Dr. Strangelove den Plan schmackhaft, indem er verspricht, den Algorithmus des Computers gleichsam durch eine nepotistische Funktion abzuschwächen, sodass die Führungskräfte natürlich zu den Auserwählten gehören würden. Vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit des Wissenschaftlers klingt hier die Vorstellung einer computergesteuerten Eugenik an. Die Unter- und Einordnung des menschlichen Subjekts in technische Wirkzusammenhänge scheint in besonderer Weise in den Szenen an Bord des B-52- Bombers auf. Ohnehin in militärische Befehlsstrukturen eingepasst, folgt die Crew einem für den Ernstfall eintrainierten Muster. Die ablaufenden Prozesse sind genau definiert und werden ständig durch Checklisten überwacht. Eingeschnallt in ihre Sitze sind die Piloten auf vielfältige Weise mit dem Flugzeug verbunden, nicht zuletzt durch Atemmasken, was die Interdependenz innerhalb des Mensch-Maschine- Gefüges noch unterstreichen mag. Die Enge des Cockpits zwingt die sich darin befindlichen Menschen dazu, sich an seine Geometrie anzupassen. Wenn etwa Lt. Lothar Zogg, gespielt von James Earl Jones, seinen Kopf durch eine Luke im Boden des Cockpits steckt und der Rest seines Körpers verborgen bleibt, erscheint er als Teil der Maschine. Je näher die Crew ihrem Primärziel kommt, desto verzweifelter versucht sie die Mission zu erfüllen. Als essentielle Technik versagt, übernimmt etwa Major Kong unter Einsatz seines Lebens die Aufgabe, die Bombenschächte manuell zu öffnen und stellt sich so ganz in den Dienst der Maschine. Es ist nur konsequent, dass er schließlich eins mit der Bombe wird. 40 Bereits in einer der ersten Einstellungen des Films wird das Verhältnis von Mensch und Maschine auf besondere Weise versinnbildlicht. Unmittelbar nach dem Vorspann folgen Bilder der Burpleson-Airbase, eine Radarantenne dreht sich im Mondlicht, Bomber starten. Es folgt der Schnitt ins Innere. In einem hell erleuchteten Raum steht Mandrake inmitten komplizierter Maschinen - ist aber auf den ersten Blick nicht zu sehen (vgl. Abb. 4), denn er verschwindet in Gänze hinter einem Ausdruck, den er gerade durchgeht (vgl. Abb. 5). Innerhalb weniger Sekunden fängt Kubrick so das Szenario des Filmes ein, in dem Menschen in den Hintergrund treten und nur noch begrenzte Handlungsoptionen in einem zunehmend komplexen und automatisierten System haben. 40 Vgl. Nelson, Kubrick, S. 101. <?page no="158"?> Michael Sauter 158 Abb. 4 Abb. 5 Interessanterweise sind diese Einstellungen, abgesehen von den Luftaufnahmen, die einzigen des Films, die nicht im Studio oder auf dem Studiogelände gedreht wurden. Bei der dargestellten Technik handelt es sich um einen IBM-Großrechner, gedreht wurde in London, was in der Vorberichterstattung der New York Times Erwähnung fand: The sole other nonstudio location, Kubrick stated, was at International Business Machines in London, where Computer 7090-the same data processor that calculated where Astronaut John H. Glenn Jr. would descend into the ocean after his earth orbit-figured in sequences with Sellers. 41 Aus dem Bericht spricht die Faszination für die Möglichkeiten des Computers, eine Begeisterung für den Fortschritt, die in Kubricks Film kritisch hinterfragt wird. Wie der Schauspieler, so ist auch der Computer bekannt und hochverdient; er tritt gleichsam zusammen mit Sellers auf. Diese Gegenüberstellung von Mensch und Maschine zu Beginn der Handlung ist ein weiterer Belegt für die Stringenz mit der Kubrick sein Thema konzeptuell und bildlich umsetzte. Eine andere Perspektive, aus der die Frage nach der Rolle der Technik im Film betrachtet werden kann, ist das zentrale Thema der Kommunikation. Die ‚Doomsday-Maschine‘ kann hier wieder als Beispiel für eine Extremposition gesehen werden, ist doch jede menschliche Kommunikation mit der Maschine ausgeschlossen. Das vermeintlich ausgemerzte menschliche Element sorgt dennoch für die Katastrophe, da die Existenz dieser Maschine nicht rechtzeitig bekanntgegeben wird. 42 Präsident Muffleys gegenläufige Strategie, auf offene Kommunikation zu setzen um die Krise zu bewältigen, wird auf vielerlei Weise behindert. General Ripper riegelt seine Basis hermetisch ab, das Funkgerät an Bord der ‚Leper Colony‘ wird zerstört, Group Capt. Mandrake darf erst nach langer Verhandlung einen wichtigen Anruf tätigen. Kommunikation ist im Film immer vom Scheitern bedroht, das Telefongespräch des amerikanischen Präsidenten, bei dem gleich mehrere Faktoren einer erfolgreichen Kommunikation im Wege stehen, mag als ein Beispiel dienen: die Verbindung ist schlecht, der sowjetische Premier hört laute Musik im Hintergrund und ist betrunken. Muffleys Amtskollege scheint zudem mehr um seine persönliche Be- 41 Minoff, „Nerve“. 42 Der sowjetische Plan, die Existenz der Maschine im Rahmen einer Parteiveranstaltung zu präsentieren, illustriert die Dominanz einer symbolischen Kommunikation, die die wesentlichen Nachrichteninhalte vernachlässigt und deswegen ihre Funktionalität verliert. <?page no="159"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 159 ziehung zum Präsidenten besorgt, als um die konkret drohende Katastrophe. Die Fragilität der Kommunikation ist eine große Quelle des Humors im Film. Der sowjetische Versuch, mit der ‚Doomsday-Maschine‘ Kommunikation dahingehend zu perfektionieren, dass Kommunikation redundant wird und das menschliche Element reduziert wird, wird auf amerikanischer Seite durch den sich über Beschränkungen hinwegsetzenden Wahnsinn Rippers konterkariert - eine der großen und grundlegenden Ironien des Films. Wie sich gezeigt hat, kann der Titel ‚Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‘ nicht nur als Beschreibung der Stoffgenese verstanden werden, sondern auch als Hinweis auf die vielfältige Durchdringung und Verflechtung sich kommentierender Bedeutungsebenen im Film. Seine Bedeutung kann nur mit Hinblick auf den kulturellen und historischen Kontext seiner Entstehungsgeschichte umrissen werden, erschöpft sich aber bei weitem nicht in dieser. In Kubricks Gesamtwerk nimmt der Film eine herausragende Stellung ein und gilt als sein erster unbestritten großer Film. Warum berührt uns Kubricks ‚nightmare comedy‘ noch heute? Mehr als 50 Jahre nach seiner Premiere scheint Dr. Strangelove weiterhin an Bedeutung und Statur zu gewinnen. Während vergleichbare Filme des ‚Atomic Bomb Cinemas‘ nicht mehr in diesem Maße rezipiert werden, gelang Kubrick ein scheinbar zeitloses Meisterwerk. Das ist umso erstaunlicher, da der Film ja zweifelsohne stark auf tagesaktuelle Themen und Personen des Zeitgeschehens rekurriert und viele seiner Anspielungen, zumal einem nicht-amerikanischen Publikum, heute nicht mehr ohne weiteres verständlich sind. Woran liegt es also, dass es dem Film nicht zu schaden scheint, wenn Referenzen auf Politik und Persönlichkeiten der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zunehmend opak werden? Zum einen natürlich daran, dass sich Dr. Strangelove auf eine Art und Weise in den weiten Diskurs des Kalten Krieges eingeschrieben hat, dass der Film selbst zur Chiffre der einschlägigen Handlungsmuster wurde; oder wie es Kolker formuliert: „Dr. Strangelove is the complete text of politics as a deadly joke, a text that has become more and more accurate in the years since its first appearance and now stands as a document of cold war discourse“ 43 . Aber das ist nur ein wesentlicher Aspekt. Es ist sicherlich Kubricks Verdienst, dass der Film zum anderen unterschiedlichste Komponenten scheinbar mühelos kombiniert und zu einem faszinierenden Ganzen fügt. Die Ökonomie der Handlung mit ihrem starken Fokus auf technische Abläufe ist bereits in Peter Bryants Romanvorlage Red Alert angelegt. Die Transformation des Drehbuchs hin zur Satire wäre nicht ohne den Beitrag Terry Southerns, die durchschlagende Komik des Films, aber auch nicht ohne die inspirierten Leistungen der Schauspieler denkbar. Ken Adam und Gilbert Taylor trugen ebenso in hohem Maße zum schon bald ikonischen Status des Films bei. Letztlich ist dieser wohl der Tatsache geschuldet, dass Dr. Strangelove bei komple- 43 Kolker, Cinema, S. 98. V. Bleibende Relevanz <?page no="160"?> Michael Sauter 160 xer Thematik auf einfache Weise das Komische im Albtraumhaften herauszustellen weiß. ‚Aktueller denn je‘ ist eine oftmals überstrapazierte Phrase, man könnte aber argumentieren, dass sie im Falle Dr. Strangeloves ausnahmsweise angemessen ist. Im Verlauf des Kalten Krieges sollte es noch mehrmals zu Beinahe-Katastrophen kommen, die bei nur geringfügig ungünstigerem Verlauf dem Horror des Films in nichts nachgestanden hätten. Nach dem Ende des Kalten Krieges schien die Gefahr eines Atomkrieges zunächst vermehrt von anderen globalen Schreckensszenarien, wie etwa dem Klimawandel, abgelöst zu werden. Nach einer Phase der Entspannung, in den USA auch geprägt durch neokonservative Gedankenspiele, etwa zum Ende der Geschichte (Francis Fukuyama), oder einer unipolaren Weltordnung, scheinen in letzter Zeit wieder alte Konflikte aufzubrechen und Antagonismen wiederbelebt zu werden. Die Muster der Eskalation sind dabei die gleichen geblieben: Langstreckenbomber werden zur Projektion geopolitischer Machtansprüche genutzt, sei es im Rahmen territorialer Streitigkeiten zwischen China und Japan, oder im Zuge der Ukrainekrise der Jahre 2014 und 2015. 44 Insofern, so könnte man befürchten, war Kubricks Dr. Strangelove nicht nur seiner Zeit voraus, sondern auch unserer. Filmographie Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb. Produktion: Columbia Pictures, USA, 1964. Regie: Stanley Kubrick. Drehbuch: Stanley Kubrick, Peter George, Terry Southern. Kamera: Gilbert Taylor. Musik: Laurie Johnson. Darsteller: Peter Sellers (Group Capt. Mandrake, Pres. Merkin Muffley, Dr. Strangelove), George C. Scott (Gen. ‚Buck‘ Turgidson), Sterling Hayden (Brig. Gen. Jack D. Ripper), Keenan Winn (Col. ‚Bat‘ Guano), Slim Pickens (Major ‚King‘ Kong), Tracy Reed (Miss Foreign Affairs). Inside: ‚Dr. Strangelove or How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb‘. Produktion: Columbia Pictures, USA, 2000. Regie: David Naylor. Drehbuch: Lee Pfeiffer. Bibliographie „Amerika setzt Zeichen im Inselstreit. B52-Bomber fliegen in von China beanspruchten Luft raum“. In: faz.net (http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ ausland/ amerika-setzt-zeichenim-inselstreit-b52-bomber-fliegen-in-von-china-beanspruchten-luftraum-12682591.html, Stand: 25.03.2015). Baxter, John, Stanley Kubrick. A Biography. New York 1997. Bryant, Peter, Red Alert. Los Angeles, CA 2008. Ciment, Michel, Kubrick. Paris 2011. 44 Siehe z.B. „Amerika setzt Zeichen im Inselstreit“. - <?page no="161"?> Stanley Kubrick, Dr. Strangelove 161 Crowther, Bosley, „Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb“. In: New York Times 31.01.1964. (http: / / www.nytimes.com/ movie/ review? res=EE05E7DF173DE367BC4950DFB76683 8F679EDE, Stand: 25.03.2015) Ebert, Roger, „Dr. Strangelove“. In: rogerebert.com 11.07.1999. (http: / / www.rogerebert.com/ reviews/ great-movie-dr-strangelove-1964, Stand: 25.03.2015) Henriksen, Margot A., Dr. Strangelove’s America. Society and Culture in the Atomic Age. Berkeley, CA u.a. 1997. Kolker, Robert, A Cinema of Loneliness. Oxford 2000. Lobrutto, Vincent, „The Written Word and the Very Visual Stanley Kubrick“. In: Depth of Field. Stanley Kubrick, Film, and the Uses of History. Hg. v. Geoffrey Cocks, James Diedrick u.a. Madison, WI u. London 2006, S. 31-54. Minoff, Leon, „‚Nerve Center‘ for a Nuclear Nightmare“. In: New York Times 21.04.1963. 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Hg. v. Nile Southern u. Josh Alan Friedman. London 2002, S. 72-85. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kubrick, Dr. Strangelove, 00: 23: 00 Abb. 2: Kubrick, Dr. Strangelove, 00: 53: 51 Abb. 3: Kubrick, Dr. Strangelove, 01: 23: 43 Abb. 4: Kubrick, Dr. Strangelove, 00: 03: 27 Abb. 5: Kubrick, Dr. Strangelove, 00: 03: 29 , <?page no="163"?> Susanna Layh Alphaville, der fiktive Schauplatz des gleichnamigen Films von Jean-Luc Godard, ist die futuristische Hauptstadt eines irgendwo im Weltraum angesiedelten, fernen Planeten. Regiert wird dieser düstere, technokratische Stadtstaat, in dem Logik und das Gesetz der Wahrscheinlichkeit ideologisch bestimmend sind, von einem alle Lebensbereiche der Einwohner kontrollierenden Supercomputer namens Alpha 60. Der französische Nouvelle Vague-Regisseur zeigt dem Publikum hier ein totalitäres System, in dem die (Computer-)technologie zum Gott erhoben wurde und der Mensch nun von der Maschine beherrscht wird. Erstaunlicherweise findet dieser neunte Film Godards, der am 05. Mai 1965 erstmals in die Kinos kommt, kontrastiv zu den meisten Reaktionen auf seine früheren Werke, Anklang bei den Zuschauern wie in der Kritik. 1 In Frankreich wird er gar frenetisch gefeiert, was ihm denn auch den Goldenen Bären bei den Internationalen Filmfestspielen 1965 in Berlin einbringt. Auf der einen Seite nimmt die rechtskonservative Kritik erfreut erstmals im Filmwerk Godards „heftige antikommunistische Impulse“ 2 wahr. Auf der anderen Seite feiert die Linke die Tatsache, dass der „›Anarchist‹ Godard“ nun endlich humanistisch motiviert, „[…] das Individuum nachdrücklich gegen den Totalitarismus zu verteidigen scheint“. 3 Der Filmemacher Godard selbst äußert sich über Alphaville als einen seiner populärsten Filme 4 bis heute folgendermaßen: With Alphaville, people have the feeling that for the first time I mastered the subject [of the film]. There’s an introduction, a development, a conclusion. I did my homework well … I give people the impression of finally taking on big problems. Alphaville expresses ideas that are in the air. Let’s say, ones that are to the taste of the day. I have, to some extent, cleared my name. 5 Alphaville ist ein vielschichtiges, enigmatisches Werk, das sich hermeneutischem Verstehen nicht sofort erschließt und verschiedene Lesarten geradezu herausfordert. So 1 Vgl. Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 164; Darke, Alphaville, S. 3; Brody, Everything is Cinema, S. 234. 2 Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 164. 3 Beide Zitate ebd. Vgl. zu den Reaktionen auf den Film in der Presse auch: Brody, Everything is Cinema, S. 234-236. 4 Vgl. Darke, Alphaville, S. 3. 5 Jean-Luc Godard, zit. n.: Brody, Everything is Cinema, S. 234. Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution I. Alphaville als kritische Dystopie in filmischer Gestalt <?page no="164"?> Susanna Layh 164 kann man den Film beispielsweise im Kontext des Gesamtwerks von Godard als Teil der Frühphase seines filmischen Schaffens betrachten, 6 oder fragen, inwiefern Alphaville typisch für die Nouvelle Vague als eine wesentliche cineastische Stilrichtung und filmästhetische Bewegung seit den 1950er Jahren ist. 7 Ebenso lohnenswert wäre es, die zahllosen intertextuellen Spuren - Filmzitate, literarische Anspielungen, philosophische Reflexionen, populärkulturelle Versatzstücke etc. - vertiefter zu verfolgen, die in Alphaville ausgelegt sind und häufig in parodistisch-satirischer Absicht die Assoziationsketten des Publikums freisetzen. 8 Zugleich aber ist es ebenso naheliegend, den Film genauer vor dem spezifischen Hintergrund der utopisch-dystopischen Literaturhistorie zu betrachten, also einen Dialog zu eröffnen zwischen Godards Film und den Prätexten einer literarischen Gattungstradition, in die sich dieser offensichtlich intertextuell einschreibt. In der Filmkritik wird Alphaville zumeist dem Genre des Science-Fiction-Films zugeordnet, 9 von manchen fälschlicherweise als Utopie bezeichnet, 10 von anderen wiederum gar als Anti-Utopie 11 betrachtet. Daher soll hier gefragt werden, ob es sich bei diesem Film tatsächlich nur um „eine seltsam naive Anti-Utopie“ 12 handelt, oder gar, ob „[…] Godard’s vision of technological servitude, a talking computer-god and a surveillance-ridden city state [was; S.L.] already a little derivative, if not old hat, back in the sixties? “ 13 Beides gilt es hier zu verneinen und zudem wird keine der genannten Genrezuschreibungen Godards Film über eine zukünftige, außergalaktische Diktatur gattungstheoretisch gerecht. Denn bei Alphaville handelt es sich nicht um die filmische Variante einer positiven literarischen Utopie, in der gemeinhin in kritischer Intention eine alternative Gesellschaftsordnung skizziert wird, die als positives Gegenbild zur zeitgenössischen Gesellschaft von Autoren wie Leserschaft gleichermaßen betrachtet werden kann. Ebenso wenig entspricht der Film den gattungskonstitutiven Merkmalen einer sogenannten Anti-Utopie, in der explizit eine gegen das Utopische gerichtete Grundhaltung in Gestalt konkreter Utopiefeindlichkeit zum Ausdruck kommt. 14 Vielmehr 6 Vgl. zu diesem Ansatz z.B.: Darke, Alphaville. Richard Brodys Lektüre von Alphaville hingegen ist beispielsweise stark biographisch geprägt. 7 David Anshen hingegen liest Godards Alphaville vor dem Hintergrund des italienischen Kinos in der Nachkriegszeit, d.h. der filmästhetischen Strömung des italienischen Neorealismus; vgl. Anshen, „Alphaville“. 8 Speck z.B. untersucht allgemein Selbstreflexivität und Zitierweise in Alphaville sowie das Zusammenspiel von Bild, Ton und Text; vgl. Speck, „Lemmy Caution als Bildner der Ich- Funktion“. 9 Vgl. z.B. Silverman/ Farocki, „Worte wie Liebe“, S. 77; Darke, Alphaville, S. 10f.; Anshen, „Alphaville“; Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 162; Stenzl, Jean-Luc Godard - musician, S. 70 etc. 10 Vgl. z.B. Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 163; Stenzl, Jean-Luc Godard - musician, S. 71. 11 Vgl. Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 162; Speck, „Lemmy Caution als Bildner der Ich- Funktion“, S. 57. 12 Vgl. Speck, „Lemmy Caution als Bildner der Ich-Funktion“, S. 57. 13 Darke, Alphaville, S. 23. 14 Diese ausgeprägte Utopiekritik in anti-utopischen Werken kann sich dabei inhaltlichthematisch ebenso gegen utopisches Gedankengut im Allgemeinen wie gegen konkrete histori- <?page no="165"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 165 reiht sich Godards Film in die klassische Tradition der Dystopie ein und rekurriert dabei mehr als deutlich auf die dystopische Literaturgeschichte. 15 Kenner der literarischen Dystopie finden in Alphaville vielfältige Allusionen zu den für diese Gattungstradition kanonischen Werken wie Jewgenij Samjatins My/ Wir (1920), Aldous Huxleys Brave New World (1932), George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949) oder Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953). Wie seine literarischen Vorgänger prolongiert auch Godard in seinem dystopischen Filmkosmos ‚Alphaville‘ zeitgenössische Ereignisse, Entwicklungen und Tendenzen zu einem fiktionalen Gesellschaftsentwurf, der noch schlechter erscheint als die außertextuelle Wirklichkeit. Diese düstere Extrapolation der jeweiligen außerfiktionalen Gegenwart erhält appellativ-didaktischen Warncharakter und evoziert dadurch das utopische Prinzip Hoffnung 16 ex negativo. 17 Godard bedient sich in Alphaville diverser Themen, Motive, Handlungs- und Narrationsmuster aus der dystopischen Literatur. Der Film zitiert, imitiert und paraphrasiert die poetologischen Konventionen der Dystopie, überschreitet diese jedoch gleichzeitig in inhaltlicher, narrativer wie formaler Hinsicht und nimmt damit eine gattungsparadigmatische Transformation des Genres, die sich in der Literatur verstärkt erst seit den 1990er Jahren vollzieht, im Medium Film vorweg. Solche - hier mit dem Terminus ‚kritische Dystopie‘ belegten - literarischen und filmischen Werke, welche hier aber bewusst keinem festen Entstehungszeitraum zugeordnet werden, unterscheiden sich von ihren tradierten Vorläufern sowohl formalästhetisch als auch inhaltlich-thematisch in mannigfaltiger Weise. Zwar nutzen sie das Potenzial der dystopischen Erzählform, doch erweitern sie zugleich innovativ deren formale Grenzen, beispielsweise durch metafiktionale Strategien und postmoderne Erzählspiele. Dadurch subvertieren diese Texte tradierte utopische wie dystopische Narrationsmuster und entziehen sich den gängigen gattungsspezifischen Schemata. Der utopische Impuls existiert in dynamischer Weise innerhalb des dystopischen Textes dadurch fort, dass utopische und dystopische Elemente miteinander verflochten und zudem mit anderen Gattungselementen verbunden werden. 18 Charakteristisch also für literarische und filmische Werke dieser Art ist eine grundsätzliche Offenheit der Form und eine textuelle Ambiguität, die sich u.a. niederschlagen in poetologischen Merkmalen wie Hybridität, Intertextualität, Selbstreflexivität bzw. Metafiktionalität, narrativen Gegendiskursen respektive häufig einer Polyphonie der Erzählstimmen, der Mischung von utopischen und dystopischen Elementen innerhalb des Textgefüges, der Deskription von Widerstandsstrategien und -bewegungen sche Erscheinungsweisen des Utopischen oder spezifische literarische Utopieentwürfe richten. Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 27f., S. 111-114. 15 Dies erkennt zwar z.B. auch der Filmkritiker Darke, allerdings sieht er entgegen der hier formulierten Thesen das dystopische Element in Alphaville lediglich als „[…] an element, one among many of which the master collagist avails himself […]“ (Darke, Alphaville, S. 23; Hervorhebung im Original). Dementsprechend reduziert er seine Aufzählungen der Analogien zu kanonischen Dystopien im Film lediglich auf inhaltlich-thematische Aspekte. 16 Vgl. Bloch, Das Prinzip Hoffnung. 17 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 112f. 18 Vgl. ebd., S. 25. <?page no="166"?> Susanna Layh 166 sowie im offenen, ambivalenten Ende der Texte. 19 Alphaville weist eine Mehrzahl der poetologischen Komponenten einer solchen kritischen Dystopie auf. Damit antizipiert Godard mit Alphaville im Medium Film ebenso wie wenig später auch beispielsweise George Lucas in THX 1138 (1971), Michael Anderson in Logan’s Run (1976) oder auch Terry Gilliam in Brazil (1985) einen paradigmatischen Veränderungsprozess in der utopisch-dystopischen Erzähltradition in Gestalt der sogenannten kritischen Dystopie. „Um 24.17 Uhr ozeanischer Zeit erreichte ich den Rand von Alphaville“ 20 heißt es im voice-over am Anfang des Films. Abgesehen davon, dass allein die fiktive Uhrzeit den filmischen Text sofort im Reich der Imagination situiert, wird dieser in doppelter Hinsicht von Beginn an in der utopisch-dystopischen Tradition verortet. Zum einen wird das nun folgende Geschehen als retrospektiver Report des autodiegetischen Ich-Erzählers Ivan Johnson/ Lemmy Caution präsentiert. Damit wird dieser in das fiktionale Gewand des angeblich authentischen Reiseberichts gekleidet, der schon die literarische Form der Utopien der Neuzeit in der Nachfolge von Sir Thomas Mores gattungsprägendem Archetext Utopia aus dem Jahre 1516 bestimmt. Zum anderen gemahnt die Nennung einer fiktiven ‚ozeanischen‘ Zeitrechung an den Handlungsraum - Ozeanien - in Orwells Nineteen Eighty-Four, was die Godard’sche Filmerzählung zudem ad hoc im Dystopischen ansiedelt. Der Erzähler ist zugleich die titelgebende Hauptfigur des Films. Als vorgeblicher Journalist der fiktiven Zeitschrift Figaro-Pravda operiert Lemmy Caution in Alphaville unter dem Decknamen Ivan Johnson, doch tatsächlich agiert er in seiner Funktion als US-Geheimdienstagent 003. Er ist ein von außerhalb der Grenzen des dystopischen Stadtstaates, genauer aus den sogenannten „pays extérieurs“ (00: 10: 04) kommender Akteur, der das perfide System von Alphaville im Verlauf des Films maßgeblich unterwandert und am Ende erfolgreich besiegt. Zunächst jedoch befindet er sich in klassischer Agentenbzw. Spionagefilmmanier wie sein berühmter filmischer Verwandter James Bond alias 007 gleich auf verschiedenen Missionen. Einerseits ist er auf der Suche nach dem seit geraumer Zeit in Alphaville verschollenen Agenten Henri Dickson. Die Order lautet, diesen nach Hause zu bringen. Andererseits soll er den genialischen Erfinder von Supercomputer Alpha 60 - vormals Léonard Nosferatu, nun Professor von Braun 21 - aufspüren, entführen oder gegebenenfalls eliminie- 19 Vgl. ebd., S. 175-204. 20 „Il était vingt-quatre heures dix-sept, heure-océanique, quand j’arrivais dans les faubourgs d’Alphaville“ (00: 02: 12). Fortan stehen die Nachweise zum Film in Klammern im Fließtext. Die Übersetzungen des französischen Originals werden, so denn nicht anders vermerkt, entsprechend den deutschen Untertiteln im Fließtext angeführt. Der französische Originaltext hingegen wird jeweils in einer Fußnote ergänzt. 21 Diese Doppelung im Namen der Figur eröffnet gleich zwei Bezugsfelder, die innerhalb des Films von Bedeutung sind. Zum einen gemahnt der Name Léonard Nosferatu grundsätzlich an die Stummfilm-Tradition und ist spezifisch als Hommage an Friedrich Wilhelm Murnaus Nosfe- II. Der hybride Filmtext <?page no="167"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 167 ren. Auf seinem Weg durch das semiotisch aufgeladene Alphaville begegnet Caution der schönen Natasha von Braun, Programmiererin von Beruf und zudem Tochter der mad scientist-Figur von Braun, welche die Poesie und die Liebe nicht kennt, Lemmys Sprache oftmals nicht versteht. Sehr schnell in Liebe zur rätselhaften Schönen mit den großen, dunklen Augen entbrannt, wird der Protagonist zur Parodie verschiedener Heldenfiguren der amerikanischen Populärkultur wie Kinogeschichte gleichermaßen. Er macht sich auf, in diesem dystopischen Filmuniversum der Zukunft allein gegen alle zu kämpfen, die Geliebte zu befreien und dabei gleich einmal die ganze galaktische Welt zu retten. Melancholisch, selbstreflexiv-philosophisch, gar der Poesie zugewandt, entspricht die Figur des Lemmy Caution, wie noch zu zeigen sein wird, dabei weder dem Typus des klassischen Leinwandhelden noch dem prototypischen handlungstragenden Protagonisten einer traditionellen Dystopie. Er ist eine parodistische, da vor allem hybride Gestalt, die konkrete Vorbilder aus Film, Literatur und Comic ebenso auf sich vereint wie Motive und Konventionen verschiedener Genres, die allesamt durch diese skurrile Verbindung unterlaufen und selbstreferentiell in Frage gestellt werden. Allein, aber nicht ausschließlich durch die Lemmy Caution-Figur, wird dabei aber vor allem der konventionelle dystopische Diskurs in Alphaville subversiv wie auch satirisch unterwandert und gleichzeitig für eine Rückkehr des Utopischen in den filmischen Text geöffnet. Alphaville als Ganzes ist ein äußerst hybrides Werk, in dem formalästhetische Charakteristika des film noir, des expressionistischen wie des Stummfilms aufgegriffen und zitiert werden, sich zudem mit Motiven der hard-boiled detective story, des Western und des Agentenfilms ebenso wie mit Comic-, Pulp- und Science-Fiction-Elementen vereinen. Diese verschiedenen, miteinander verwobenen Gattungskomponenten lassen einen hybriden Filmtext entstehen, der gleich der Funktionsweise der kritischen Dystopien der Literatur in innovativer Form textuellen Raum bietet für sozio-politische Kritik und die damit einhergehende utopische Intention im Sinne Blochs. 22 Die Stadt Alphaville, die Godards Schwarz-Weiß-Film seinen Namen, d.h. zumindest einen Teil seines Titels, gibt, profiliert sich dabei zugleich als Protagonist einer filmischen Großstadterzählung, welche die literarische Tradition des Großstadtromans evoziert. Bereits in den Eingangsszenen offenbart sich Alphaville den Zuschauern als ein futuristisches Reich der Finsternis. Die Metropole eines fernen Planeten, „la capitale de la galaxie“ (00: 07: 53), ist in ewige Dunkelheit gehüllt. Kontrastiv wird diese nur von vereinzelt aufflackernden Lichtquellen - Scheinwerferlicht, Ampelsignale, Leuchtreklame, Neonzeichen, illuminierte Metrofenster usw. - durchbrochen, die häufig in kurzer, schneller Großaufnahme zu sehen sind. So hört man in einer der ersten Einstellungen das Klicken eines Zippo-Feuerzeugs, das in Godards setting ausreicht, um einen Augenblick lang das Antlitz des in einem Auto sitratu - Eine Symphonie des Grauens zu lesen. Vgl. zu Murnaus Film den Beitrag von Günter Butzer in diesem Band. Zum anderen verweist der Nachname von Braun auf den deutschen Raketeningenieur und Konstrukteur der V2-Raketen im Dritten Reich, Wernher von Braun, dessen Bio graphie zudem gewisse Ähnlichkeiten mit dem fiktionalen Lebensweg von Godards mad scientist-Figur Prof. von Braun erkennen lässt. 22 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 187. - <?page no="168"?> Susanna Layh 168 zenden Lemmy Caution zu erleuchten. Die glimmende Zigarette verbleibt dann als ein kleiner, glühender Punkt vor dem nun wieder in der Dunkelheit des Fahrzeuginneren verborgenen Gesicht des Agenten (vgl. Abb. 1-2). Abb. 1-2: Licht und Dunkelheit In sehr schnellen, oftmals harten Schnitten und mit häufigen jump cuts zeigt Godard Momentaufnahmen eines düsteren, aber hochgradig technologisierten Stadt-Raums, der dem Publikum schnell suggeriert: Wir befinden uns hier in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit, in der Zukunft. Evoziert wird so eine unheimlich-finstere Science-Fiction-Atmosphäre und dies mit ganz simplen filmischen Mitteln und Verfremdungstechniken, da Godard schon 1965 überzeugt war: „We are already living in the future“. 23 Folglich schöpft der Regisseur nicht nur aus Budget-Gründen rein aus dem bereits Vorhandenen seiner Umwelt und lässt nicht eigens eine künstliche Filmarchitektur kreieren, um Alphaville zeitlich wie räumlich zu extrapolieren. Das zeitgenössische Paris wird so kurzer Hand zur Stadt Alphaville transformiert, gleichwohl es als die französische Hauptstadt im Jahre 1965 erkennbar bleibt. Die Gegenwart wird mit einem Schlag in die Zukunft verwandelt, wodurch diese fiktionale Welt gleichzeitig einen gesellschaftskritischen Kommentar über eben jene fiktionsexterne Realität abgibt. Denn gerade diese verfremdende Extrapolation der außerfiktionalen Gegenwart, insbesondere des zeitgenössischen Frankreichs, birgt ex negativo in Alphaville den gesellschaftskritischen Impetus des Films. Als Schauplätze für die Außenaufnahmen dienen u.a. der Flughafen von Orly, die weithin bekannte ‚Autoroute du Sud‘, eine Schule in Vincennes, 24 die Glassfassaden der Büro- und Wohngebäude im modernen Hochhausviertel ‚La Défense‘, 25 was Alphaville wie die Kristallstadt in Samjatins Wir, 26 - nur eben in tiefschwarzer Nacht - erscheinen lässt. Die meisten Innenaufnahmen liefert dabei das zentrale Gebäude der nationalen Rundfunk- und Fernsehanstalt sowie die „Fassade, die Eingangshalle und die Treppenhäuser des Hochhauses der ESSO-Administration“. 27 23 Jean-Luc Godard, zit. n.: Brody, Everything is Cinema, S. 227. 24 Vgl. z.B. Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 165. 25 Vgl. Brody, Everything is Cinema, S. 227. 26 Vgl. Layh, „Wir“. 27 Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 165. Vgl. zu den Pariser Schauplätzen auch: Darke, Alphaville, S. 30f. <?page no="169"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 169 Godard, der sein in Schwarz-Weiß gedrehtes Werk einen „Film über das Licht“ nennt, 28 verzichtet bei der Beleuchtung des Sets weitgehend auf Kunstlicht. Er lässt zudem fast ausschließlich nachts filmen und nach einem Streik der Mitarbeiter, weil diese keine Nachtzuschläge bekamen, dann doch zähneknirschend am Tage. Dies allerdings mit verdunkelten Fenstern. 29 Trotz der eindringlichen Warnungen seines langjährigen Kameramanns Raoul Coutard, dessen Arbeit das Kino der Nouvelle Vague entscheidend mitprägt, 30 verwendet Godard hochsensibles, zur damaligen Zeit neues Filmmaterial (Illford 35 mm). Dieses ermöglicht ihm zwar, gänzlich ohne künstliche Beleuchtung extreme Hell-Dunkel-Kontraste zu erzeugen (vgl. Abb. 1-2), gleichzeitig aber bergen die Drehs bei Nacht mit diesem Material ein hohes Risiko, schwarze, unbelichtete Aufnahmen zu bekommen. 31 Daher kursierte anscheinend am Set, so eine der Mitarbeiterinnen Godards, der folgende running gag: „We won’t see a thing! “ „Yes, but we’re shooting anyway.“ 32 Das Ergebnis waren dreitausend Meter unbrauchbaren Filmmaterials. Einige shots wurden daher ausgesondert, andere hingegen genauso verwendet wie sie waren (vgl. Abb. 5). 33 Dies verleiht dem Film stellenweise den Nimbus des Fehlerhaften, was jedoch Godards Intention, die Alltagsrealität durch das Auge der Kamera zu verfremden, nur entgegenkam. Der Filmemacher selbst begründet sein Insistieren auf dieser Vorgehensweise folgendermaßen: The sensitive film gives the image a lunar aspect. […] It was very important to me. I wanted an expressionistic style. In filming things that we see every day, I wanted them to arouse fear. Without cheating. The things are there. One looks at them. And suddenly, one discovers that they are not at all as one thought. 34 So entsteht rein durch die verfremdeten Aufnahmen zeitgenössischer Realität, durch das Spiel mit der Kameraperspektive sowie mit Licht und Schatten nicht nur eine Atmosphäre des Freud’schen Unheimlichen 35 im Stil der frühen Science-Fiction- Filme, sondern gleichzeitig fühlen sich die Zuschauer unweigerlich an den film noir erinnert, für den die sogenannte Chiaroscuro-Ausleuchtung, 36 welche zu einer starken Hell-Dunkel-Kontrastierung führt, charakteristisch ist. Diese Reminiszenz an den film noir wird verstärkt durch zahlreiche Durchgangsszenen in labyrinthischen Gängen, gläsernen Gebäuden und heruntergekommenen Hotelzimmern, durch die gehäuft verwendete, extreme Untersicht auf Wendeltreppen und andere Transitorte, durch nächtliche Autofahrten, die - ganz im Stil der Nouvelle-Vague - mit der Hand- 28 „C’est un film sur la lumière“. Jean-Luc Godard, zit. n.: Douin, Jean-Luc Godard, S. 162. Vgl. zu Godards Spiel mit Licht und Schatten, mit der Kontrastierung von Helligkeit und Dunkelheit, zum Licht als Thema wie Leitmotiv von Alphaville, Darke, Alphaville, S. 38-59. 29 Vgl. Brody, Everything is Cinema, S. 228. 30 Vgl. zur Zusammenarbeit von Godard und Coutard z.B.: Darke, Alphaville, S. 14f. 31 Vgl. Brody, Everything is Cinema, S. 228. 32 Suzanne Schiffman, zit. n. ebd. 33 Vgl. ebd. 34 Jean-Luc Godard, zit. n. ebd., S. 229f. 35 Vgl. Speck, „Lemmy Caution als Bildner der Ich-Funktion“, S. 58. 36 Vgl. Darke, Alphaville, S. 12; Speck, „Lemmy Caution als Bildner der Ich-Funktion“, S. 57. <?page no="170"?> Susanna Layh 170 kamera aus dem fahrenden Wagen heraus gefilmt werden 37 sowie durch Szenen bei schlichtweg beständig schlechtem Wetter, also bei Regen, Schnee und Nebel. Alphaville übernimmt traditionelle Stilmittel des film noir 38 wie das Großstadt-setting, die dokumentarische Genauigkeit der Schilderung, oder die subjektiv kommentierende voice-over-Erzählung des Lemmy Caution. Zudem rekurriert das Figurenarsenal parodistisch auf Figurenstereotype, die für Filme aus der sogenannten série noir charakteristisch sind, wie auf den hart zupackenden, aber nicht korrumpierbaren detective oder die verführerische femme fatale. Der dem Größenwahn und der Hybris verfallene Wissenschaftler Prof. von Braun lässt sich dabei als Figuration des klassischen psychopathischen Verbrechers lesen, der ebenfalls einen festen Platz im Figurenensemble dieser Filmtradition hat. Neben diesen offensichtlichen Anleihen beim film noir situiert die futuristische Bilderwelt Alphavilles den Film jedoch ebenso deutlich im Bereich des scheinbar völlig gegensätzlichen Genres der Science-Fiction, markiert ihn also gewissermaßen als „sci-fi noir“. 39 Dabei ist der suggerierte Fortschritt und Erfindungsgeist in Form vorgeblicher technologischer Innovationen in der dystopischen Zukunftsgesellschaft reine Schimäre, da Manipulation der Wahrnehmung des Publikums durch setting und Narrationskontext. Eine Frage dessen also, wie Alltagsgegenstände und zeitgenössisches Inventar auf geschickt-innovative Weise in Alphaville filmisch inszeniert werden, um eben diesen futuristischen Science-Fiction-Nimbus zu erzielen. So wird ein kleiner Reisewecker flugs zum schnurlosen Telefon eines Hotelzimmers, eine Juke box transformiert sich zum perfiden Überwachungsapparatus, die Knöpfe eines Fahrstuhls liefern die äußert komplex erscheinende Apparatur für eine ultramoderne, öffentliche Telefonzentrale der Zukunft (vgl. 00: 17: 16-00: 17: 35). 40 Alpha 60 - das beständig bedrohliche, allgegenwärtige Zentralgehirn des dystopischen Stadtstaates - besteht faktisch aus nichts anderem als einem kleinen Phillips-Ventilator im Wert von drei Dollar, der von unten angeleuchtet wurde (vgl. Abb. 4), 41 sowie aus der Steuerungsanlage des französischen Nationalradios. 42 Die filmische Verfremdung entlarvt damit zugleich kritisch die fiktionsexterne zeitgenössische Alltagswelt als eine bereits existente verstörend-dystopische Realität. 43 Auf diese Weise entsteht in Alphaville ein düsterer, zukünftiger Filmkosmos, eine labyrinthische Welt voller rätselhafter Zeichen und Symbole, die - damit immer wieder auch an die Tradition des Stummfilms gemahnend - in der Art der entsprechenden Zwischentafeln eingeblendet werden (vgl. Abb. 3). 44 37 Vgl. Speck, „Lemmy Caution als Bildner der Ich-Funktion“, S. 58. 38 Vgl. ebd. S. 57. 39 Darke, Alphaville, S. 30. 40 Vgl. Brody, Everything is Cinema, S. 230. 41 Vgl. Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 109. 42 Vgl. Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 165. 43 Vgl. Brody, Everything is Cinema, S. 230. 44 Vgl. zum Stummfilm und der Bedeutung der Zwischentitel als Einstellung: Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 106f. - <?page no="171"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 171 Abb. 3-4: Alpha 60 Godard inszeniert seine damalige Noch-Ehefrau Anna Karina in der Rolle der Natasha liebevoll wie eine der Darstellerinnen in den großen Stummfilmen, mit zahllosen immer perfekt ausgeleuchteten, fast schon intimen close-ups, expressiver Mimik und demgemäßer Körpersprache, die er folgendermaßen kommentiert: „Anna Karina […] spielt wirklich wie im Stummfilm, mit dem ganzen Körper. Sie spielte nie psychologisch […].“ 45 Durch diese zahlreichen Anleihen bei und die Reminiszenzen an diverse Filmgenres und -konventionen kreiert Godard mit Alphaville einen hybriden dystopischen Filmtext, der das herkömmliche Prinzip des Dystopischen durchbricht und durchlässig wird für die Rückkehr des Utopischen in den Textraum. Vordergründig jedoch präsentiert sich das filmische Universum in Alphaville zunächst als ein prototypischer dystopischer Gesellschaftsentwurf ganz in der Tradition seiner literarischen Vorläufer. Die Stadtarchitektur Alphavilles - einmal abgesehen von den offensichtlichen Anleihen bei Fritz Langs Metropolis (1927) 46 - spiegelt wie die lichtdurchflutete Stadt aus Glas in Samjatins Wir das die unmenschliche Technokratie beherrschende Prinzip der Logik und der Struktur wider. Wie in Dystopien gemeinhin üblich wird dieses repressive System von einer alles dominierenden, religionsähnlichen Ideologie getragen, man denke hier exemplarisch nur an Orwells ‚IngSoc‘, Huxleys ‚Fordismus‘ oder die göttergleiche Verehrung des Wohltäters in Samjatins Wir. Diese jeweilig herrschende Staatsdoktrin verspricht den Bürgern Dystopias gemeinhin ein glückliches, sorgenfreies Leben auf der Basis der von der Obrigkeit propagierten Parameter, eine verwirklichte Utopie gewissermaßen. Die innerfiktionale Realität jedoch sieht immer gänzlich anders aus, da die Figuren in all diesen dystopischen Welten schlechterdings unterdrückt, gedemütigt und der Gehirnwäsche unterzogen werden. So lautet die auf einem Poster in Alphaville en passant eingeblendete politische Pro- 45 Ebd., S. 111. 46 Zu einem erinnert die Filmarchitektur wie Godards Bildgestaltung in Alphaville in vielem an Metropolis. Zum anderen lassen sich verschiedene inhaltlich-thematische Parallelen zwischen den beiden Filmen finden, wie die dystopische Erzählung vom Fluch der Technik und dem schlussendlichen Sieg der Liebe in beiden Filmen. III. Das dystopische Filmuniversum Godards <?page no="172"?> Susanna Layh 172 grammatik des Staates: „Silence. Logique. Securité. Prudence.“ / „Stille. Logik. Sicherheit. Umsicht.“ (00: 02: 18). Das totalitäre Regime funktioniert ausschließlich nach mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen, alles ist nur eine logische Folge, denn „[s]owohl im Leben des Einzelnen, als auch in dem der Nation ist alles nur Ursache und Wirkung“ (00: 50: 31-00: 50: 38). 47 Der Mensch mutiert in diesem Erzählkosmos zu einem „Sklaven der Wahrscheinlichkeit“ (00: 23: 42). 48 Es existiert keine Vergangenheit und keine Zukunft, was für die Bewohner von Alphaville zählt, ist nur die Gegenwart. Geschichte und Erinnerung sind ausgelöscht. Dies erinnert nicht nur an die rationalistische Ideologie in Samjatins ‚Einzigem Staat‘, sondern weckt auch Reminiszenzen an die Reflexionen von Orwells Protagonisten Winston Smith, einem Geschichtsfälscher im Dienste der Obrigkeit Ozeaniens: The sacred principles of Ingsoc. Newspeak, doublethink, the mutability of the past. He felt as though he were wandering in the forests of the sea bottom, lost in a monstrous world where he himself was the monster. He was alone. The past was dead, the future was unimaginable. 49 Godards „outer-space dystopia“, 50 in der die Anspielungen auf das Dritte Reich und das Regime der Nationalsozialisten 51 ebenso deutlich sind wie die allgemeine Kritik an Kapitalismus und Kommunismus gleichermaßen, 52 kann dabei als Parabel auf jedwedes totalitäre System gelesen werden und indiziert die grundsätzliche Austauschbarkeit von Ideologien. Ebenso wie Huxley in Brave New World thematisiert Godard in Alphaville u.a. den naiven Glauben an unbegrenzten wissenschaftlichtechnologischen Fortschritt, wozu auch zeitgenössische Fragen wie die Schaffung künstlicher Intelligenzen 53 gehören, und die potentielle Entwicklung einer Gesellschaft, die auf maßlosem Konsumismus und Materialismus fußt. Zudem kritisiert diese filmische Dystopie jene eine solche Gesellschaft in der zeitgenössischen Gegenwart repräsentierenden Großkonzerne ebenso wie die zeitgenössische Kultur- und Filmindustrie 54 oder auch die Auswüchse einer sich stetig ausdifferenzierenden Bürokratie. Die Macht und Gewalt der Alphaville diktatorisch beherrschenden Wahrscheinlichkeitsideologie wird unterstrichen durch verschiedene die Handlung gewissermaßen sezierende Bildtafeln mit entsprechenden Zeichen, Symbolen und physikalischen Formeln. So beispielsweise durch die immer wieder als Zwischentafel aufflackernde, manchmal auch nur versteckt in das Filminventar eingebaute, Einstein’sche Formel 47 „Dans la vie des individues comme dans celle des nations, tout s’enchaîne, tout est conséquence.“ 48 „Les gents sont devenus des esclaves de probabilité.“ 49 Orwell, Nineteen Eighty-Four, S. 28. 50 Brody, Everything is Cinema, S. 226. 51 Vgl. ebd., S. 232. 52 Vgl. ebd., S. 231. Dies lässt sich zudem schon am sprechenden Namen der Hauptfigur Ivan Johnson ablesen, der im Vornamen einen russischen kulturellen Hintergrund, im Nachnamen aber eine US-amerikanische Herkunft indiziert. 53 Vgl. ebd., S. 223f. 54 Vgl. Anshen, „ Alphaville“, S. 102. <?page no="173"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 173 der Relativitätstheorie E = mc² (vgl. Abb. 6). Dies kann gelesen werden als nur einer von vielen semiotischen Verweisen auf den Kalten Krieg, sowie auf die durchaus kritisch zu betrachtende, immer weiter fortschreitende Technologisierung der Gesellschaft und deren Zerstörungspotential zum Beispiel in Form der Atombombe. Gleichzeitig ist dies aber auch eine Referenz auf die Genialität von Alpha 60, auf die omnipotente und omnipräsente Allmacht an der Spitze des Staates; ein Supercomputer als filmischer Nachfahre der diversen literarischen Staatsoberhäupter Dystopias wie Orwells Big Brother, Samjatins Wohltäter oder „His fordship Mustapha Mond […] One of the Ten World Controllers“ 55 in Huxleys Brave New World. 56 Mit der ganzen Stadt durch Kameras und Bildschirme vernetzt repräsentiert das Superhirn Alpha 60 in direkter Nachfolge von Orwells Diktum „Big Brother is watching You“ 57 das typische dystopische Motiv der totalen Überwachung der Bevölkerung. Wird gegen die Doktrin des Staates verstoßen, zum Beispiel durch die Verwendung verbotenen Vokabulars, schaltet sich der regierende Zentralcomputer als Zensur instanz ein, was den Zuschauern durch Störbilder und Störsignale aus dem Off, wie ein schnelles, schrilles, zwischengeschaltetes Piepsen, vermittelt wird. Wirkt die verstörend kaputt klingende, verzerrte Stimme von Alpha 60 58 zunächst wie das voiceover einer zweiten Erzählinstanz neben Lemmy Caution, wird dann aber schnell klar, dass die monotonen Phrasen und Parolen nicht nur für das Kinopublikum bestimmt, sondern über Lautsprecher beständig in der ganzen Stadt akkustisch wahrnehmbar sind. Der Zuschauer wird so zum Mitbürger Alphavilles, der hört und sieht, womit die Bevölkerung permanent überschwemmt wird. Die vierte Wand ist damit aufgehoben. Godard zeigt hiermit die Funktionsweisen von Propaganda und Indoktrination auf, die für dystopische Gesellschaftsordnungen charakteristisch sind. Als Resultat des beständigen Konsums der täglichen Bilderflut und Floskeln stehen die Einwohner Alphavilles wie unter einem hypnotischem Bann, betäubt von einer telepathischen Macht, 59 und zusätzlich sediert durch Drogen wie die Soma-Konsumenten in Huxleys Brave New World oder die Figuren in späteren Filmen wie George Lucas’ THX 1138 und Kurt Wimmers Equilibrium. Killer of Emotions (2002). Sie sind zu Mutanten geworden, wie Lemmy Caution sie immer wieder nennt, zu Marionetten eines 55 Huxley, Brave New World, S. 47. 56 Dieses dystopische Motiv des allgegenwärtigen und allmächtigen Staatsoberhaupts wird dadurch noch verstärkt bzw. gedoppelt, dass das Konterfei von Prof. von Braun, des Erfinders von Alpha 60 und dessen menschlicher Repräsentant, in den Innenräumen sämtlicher öffentlicher Gebäude hängt und vielfach im Film zu sehen ist. 57 Orwell, Nineteen Eighty-Four, S. 3. 58 Um eine solche, mechanisch klingende Stimme zu bekommen, war das Team, so Godard, lange beschäftigt, „[…] jemanden zu suchen, der an den Stimmbändern operiert war und wieder sprechen gelernt hatte“ (Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 109). Angeblich waren die Stimmbänder des schließlich ausgewählten Sprechers im Zweiten Weltkrieg unheilbar verletzt worden, so dass er mittels einer künstlichen Membran wieder neu sprechen lernen musste; vgl. Silverman/ Farocki, „Worte wie Liebe“, S. 77. 59 Ein Motiv, das später in der Filmgeschichte von dem argentinischen Regisseur Esteban Sapir in La Antena (2007), einer weiteren kritischen Dystopie, auserzählt wird. - <?page no="174"?> Susanna Layh 174 Systems. Entrechtet, entfremdet, entindividualisiert gleichen sie den uniformierten Nummern in Wir, die weder Namen, Seele oder Menschlichkeit noch einen eigenen Willen besitzen, da ihnen - wie Samjatins Protagonisten D-503 - der Splitter ‚Phantasie‘ aus dem Kopf gezogen wurde. 60 Analog dazu wissen auch die Bewohner von Godards Alphaville nicht mehr, was Kunst und Kreativität bedeuten oder was mit Liebe und Gewissen gemeint sein könnte. Die Tyrannei von Alpha 60 hat all dies zerstört, wie Lemmy von seinem erfolglosen Vorgänger Henri Dickson erfährt. Poesie und Gefühle sind verboten, da per staatlicher Verordnung ‚unlogischer‘ Natur. Die sogenannten Staatsfeinde, die sich wider der offiziellen Doktrin, ihre Erinnerung an die Sprache der Vergangenheit wie der Lyrik und ihre Emotionen zu bewahren suchen, leben wie Dickson in einem heruntergekommenen Viertel der Staat. Selbstmord wird diesen sogenannten ‚Unangepassten‘ von staatlicher Seite dringend angeraten, ein in der dystopischen Tradition immer wieder auftauchendes Motiv. Denjenigen aber, die sich eben nicht anpassen, sich also größerer Vergehen schuldig machen, droht weitaus Schlimmeres. Wer weint, zum Beispiel, und sei dies in Trauer um die verstorbene Ehefrau, wird mit dem Tode bestraft. Das geschieht in öffentlichen Schauprozessen, in Alphaville bezeichnenderweise „la grande fête“ (00: 10: 37) genannt, ein für Dystopien ebenfalls sehr charakteristisches Motiv und immer wieder wirksames staatliches Instrument zur Kontrolle der Bürgerschaft. 61 Godard aber gestaltet die aus der Literatur bekannte Szene einer öffentlichen Massenhinrichtung nicht nur als Volksspektakel, sondern inszeniert gleich ein ganzes Wasserballett in einem Hallenbad (vgl. 00: 39: 11- 00: 42: 41). Das Ganze dramatisch akzentuiert durch die entsprechend dissonanten musikalischen Leitmotive, komponiert von Paul Misraki. 62 Doch dann durchbrechen Gewehrsalven die Musik. Der Kinobesucher sieht ebenso wie Lemmy, der als Gast in der fernen Galaxie dem tragisch-absurden Schauspiel beiwohnt, eine lange Reihe Dissidenten, die - während einer nach dem anderen auf einem Sprungbrett vortritt - ein letztes Mal lautstark ihre staatsfeindlichen Ansichten kundtun können. Erneut Gewehrsalven, der jeweils Hingerichtete stürzt in den Pool. Eine Gruppe knapp bekleideter Synchronschwimmerinnen springt hinterher, um die Leichname herauszufischen. Anmutig drehen diese schönen Badenixen ein paar Pirouetten im Wasser, zögern jedoch nicht, dem Abtrünnigen gegebenenfalls emotionslos mit einem gro- 60 Vgl. Samjatin, Wir, S. 211. 61 Vgl. z.B. das Prinzip der „Hate Week“ in Nineteen Eighty-Four (vgl. Orwell, Nineteen Eighty-Four, S. 3), die von staatlicher Seite organisiert wird, um die aufgestauten Gefühle der breiten Masse der Bevölkerung zu kanalisieren, d.h. deren Hass auf das System auf vorgebliche Staatsfeinde wie Goldstein umzulenken. Ein ähnliches Ziel wird in Atwoods The Handmaid’s Tale mit der Inszenierung öffentlicher Massenhinrichtungen von angeblichen Straftäterinnen, den sogenannten „Women’s Salvagings“ (vgl. Atwood, The Handmaid’s Tale, S. 285), verfolgt. 62 Die Filmmusik findet hier keine weitergehende Berücksichtigung. Vgl. zur Musik in den Filmen Godards allgemein: Stenzl, Jean-Luc Godard - musician. Hier findet sich auch eine Passage über die Musik in Alphaville (vgl. ebd., S. 70-75), in der sich Paul Misraki, der auch die Filmmusik zu den früheren Lemmy Caution-Verfilmungen komponierte, u.a. über seine Zusammenarbeit mit Godard äußert. <?page no="175"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 175 ßen Messer den Gnadenstoß zu versetzen. 63 Gerade das zeitgenössische Publikum fühlt sich durch die audiovisuelle Ausgestaltung der Szenerie unweigerlich an die sogenannten Aqua-Musicals mit Esther Williams in der Hauptrolle erinnert, die in den 1940er und 1950er Jahren sehr beliebt waren. Die von Godard präsentierte Ästhetisierung der Gewalt und des Grauens wird damit verstärkt durch die Diskrepanz zwischen Intertext - also der Assoziation zu Filmen der leichten Unterhaltung wie Bathing Beauty (1944) oder Neptune’s Daughter (1949) - und der Unrechtmäßigkeit und Brutalität des tatsächlich gezeigten Geschehens. Durch das offensichtliche Filmzitat wird die Perversion einer Gesellschaft offengelegt, in der Massenexekutionen als Galavorstellung zum Vergnügen der privilegierten Oberschicht inszeniert werden. Gleichzeitig findet hier eine der vielen für Alphaville insgesamt typischen semiotischen Umwertungen statt, indem der populäre Filmstar, die allseits beim zeitgenössischen Kinopublikum beliebte Kunstschwimmerin Esther Williams, zur staatlich sanktionierten Mörderin in Gestalt der Wasserballerinas stilisiert wird. 64 Dieses Prinzip der semiotischen Umkehrung oder zeichenhaften Verkehrung durchzieht den Film auf allen Ebenen und trägt damit zur Subversion der Textstruktur, also schlussendlich auch des traditionellen dystopischen Diskurses bei. Inhaltlich, motivisch und strukturell verkehren sich Zeichen aller Art, lösen sich von ihren ursprünglichen Bedeutungsgehalten und deren weiterführenden Spuren wie Signifikationen, intensivieren so die dystopische Bedeutungsdimension und subvertieren sie in einem Atemzug. Die rupture zwischen Signifikant und Signifikat wird auserzählt und filmisch ausgestaltet, der Filminhalt mithin durch semiotische Verweise aufgeladen, was wiederum formalästhetisch eine visuelle Spiegelung erfährt. Alphaville ist bestimmt von einem System binärer Oppositionen, wobei am Ende - ganz simpel erzählt - die eine über die andere obsiegt oder ein Zeichen schlichtweg seine Verkehrung erfährt. Der Beispiele hierfür gibt es mannigfach. So begegnet der zu Filmbeginn noch unwissende Lemmy Caution bei seiner Ankunft im Hotel einer der Liebesdienerinnen im Dienste des Staates mit dem sprechenden Namen Beatrice. „Je suis séductrice d’ordre trois“ (01: 00: 36), antwortet ihm ein wenig später im Film eine Kollegin, die Beatrice ersetzt, narkotisiert säuselnd auf seine Nachfrage nach der Bedeutung ihrer Existenz, nach dem, was sie denn eigentlich hier täte, gar von ihm wolle. Diese sogenannte „Verführerin der Stufe drei“ trägt nur den symbolträchtigen Namen von Dantes Beatrice, ist aber eben keine Personifikation aller Tugend, Weisheit und Schönheit, die dem Dichter den Weg weist, sondern eine vom Staat verdingte Prostituierte, die Lemmy Caution ihren Körper anbietet. Ein Sinnbild für das Thema der Prostitution, das nicht nur das Werk Godards an sich durchzieht, 65 sondern gerade auch das System von Alphaville in diversen Berei- 63 Vgl. Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 161; Brody, Everything is Cinema, S. 232. 64 Vgl. Seeßlen, „Tarzan gegen IBM“, S. 161. 65 Vgl. Loshitzky, The Radical Faces, S. 162f. IV. Das Prinzip der semiotischen Umkehrung <?page no="176"?> Susanna Layh 176 chen bestimmt. 66 Offensichtliches Zeichen hierfür ist die eintätowierte Kontrollnummer von Beatrice, aber auch die Natashas, 67 welche deren Fremdbestimmtheit, wenn nicht gar Leibeigenschaft - ähnlich den Brandzeichen, die Atwoods handmaids am Knöchel eintätowiert werden 68 - manifestieren. Ebenso wie Godard hier einen sprechenden Namen als dessen Gegenteil erzählt, verkehren sich in Alphaville auch charakteristische Motive der utopisch-dystopischen Literaturtradition. Die Protagonisten Dystopias sind gemeinhin neben anderem schuldig des Verbrechens der Liebe oder der Sexualität. Dabei wird der zumeist eher unfreiwillige Revolutionär immer von der jeweiligen Frauenfigur verführt, also Orwells Winston von Julia, Samjatins D-503 von I-330 usw., was in den kanonischen Dystopien unweigerlich den finalen Untergang aller Beteiligten herbeiführt. Lemmy Caution aber verfällt vielleicht der mysteriösen Natasha von Braun, doch am Ende wird er zum rettenden Helden, der sie aus dem Abyss von Alphaville befreit. Das tragische dystopische Liebes-Motiv wird somit von Godard fortgeschrieben, umgekehrt und zur Utopie der Liebe transformiert. Damit verkehrt sich zugleich das klassische Besucher-Begleiter/ Führer-Modell, 69 das seit den Renaissance-Utopien formbestimmend ist. Zwar ist Natasha zu Beginn von Godards dystopischer Filmerzählung Lemmys Begleiterin durch die wenig schöne neue Welt von Alphaville, doch am Ende wird er zu ihrem Führer aus eben jenerwelchen. Hinzu kommt die Berichtform des Films, um nur ein Beispiel der Umkehrung auf der formalen Ebene zu nennen, die Alphaville zugleich wieder als kritische Dystopie ausweist. Lemmy Cautions Report evoziert das verbotene Tagebuch, das Winston, D-503 und viele andere um ihr physisches und psychisches Überleben kämpfende Figuren in Dystopia verfassen, um sich im subversiven Akt des Schreibens oder Erzählens ihrer selbst zu versichern und sich ihre individuelle Erinnerung zu bewahren. Dieser Versuch, dem im Text herrschenden Diskurs des unterdrückerischen Regimes eine individuelle Stimme entgegenzustellen, wird den Protagonisten in den traditionellen Dystopien aber immer zum Verhängnis. Das illegale und daher unter Strafe stehende Tagebuchschreiben ist ein schriftliches Zeugnis ihrer Nonkonformität mit der Staatsdoktrin, das die Figuren immer irgendwann innerhalb des jeweiligen dystopischen Textes zu Fall bringt. Lemmy Cautions Bericht jedoch scheint im Gegensatz dazu retrospektiv verfasst. Er ist dem Erzählgeschehen als erklärend-kommentierendes voice-over unterlegt, das innerhalb der strukturellen Komposition von Alphaville einen klaren narrativen Gegendiskurs zum herrschenden Machtdiskurs von Alpha 60 darstellt und jenen nach und nach subversiv untergräbt. Dadurch, dass bereits zu Beginn des Filmes offensichtlich ist, dass Cautions Report 66 So thematisiert Alphaville nicht nur käufliche Liebe als Ersatz für wahre Gefühle, sondern kapitalistisches Konsumdenken allgemein als besondere Form der Prostitution. Zudem sind die Einwohner Alphavilles hoffnungslos dem Credo von Fortschrittsoptimismus und Effizienz verfallen, haben mithin ihre Seelen an den Computergott Alpha 60 verkauft. Vgl. Roud, Jean- Luc Godard, S. 32. 67 Diese Tätowierungen erinnern darüber hinaus auch sofort an die Kennzeichnung der Häftlinge in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten durch die sogenannten ‚Winkel‘. 68 Vgl. Atwood, The Handmaid’s Tale, S. 75. 69 Vgl. Frye, Varieties of Literary Utopias, S. 26. <?page no="177"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 177 ex post verfasst ist, wird ein im Filmverlauf potentielles Folgen der klassischen dystopischen Erzählung ad hoc in Frage gestellt. Entgegen dem ultimativen Scheitern von Cautions literarischen Vorfahren ob des Verbrechens der Liebe und/ oder des Schreibens wird in Alphaville so schon von Anfang an auf der formalen Ebene die schlussendliche Rettung der Liebenden suggeriert, also das Bewahren des utopischen Prinzip Hoffnung über den Zusammenbruch des Systems und das Filmende hinaus antizipiert. In filmästhetischer Hinsicht findet sich diese fortwährende semiotische Umkehrung auch auf der Bildebene wieder. Godard montiert immer wieder die eingangs erwähnten Negative, die zunächst nur das mangelhafte Ergebnis der schwierigen Lichtverhältnisse bei den Nachtaufnahmen waren, an entsprechenden Stellen als Indikator einer abrupten Handlungszäsur mit in den Film hinein (vgl. Abb. 5). Abb. 5: Negativ Diese irritierenden - immer wieder eingeschobenen - überbelichteten Bilder, der plötzliche Wechsel von Schwarz zu Weiß und umgekehrt, markieren zeichenhaft gerade am Ende des Films einen unheimlichen Vorgang im Geschehen, eine Transition zu einer Veränderung der Verhältnisse in Alphaville. Sie signalisieren den Zusammenbruch der Computerherrschaft, der Stromversorgung und damit des dystopischen Stadtstaates. Durch diese Bildmontage wird eine apokalyptische Atmosphäre evoziert, die den Untergang Alphavilles auf der visuellen Ebene indiziert. Die Bilder wechseln abrupt von positiv zu negativ, sie flimmern gelegentlich und zeigen damit gewissermaßen als eine Spiegelung auf der formalen Ebene an, dass im Reich der Finsternis das Licht nun vollkommen erlischt und die Welt von Alphaville in Chaos und Tod versinkt. 70 70 Darke zeigt auf, dass es sich bei dieser Bildmontage zudem gleich um ein doppeltes Filmzitat handelt. Sowohl in Murnaus Nosferatu als auch in Cocteaus Orphée finden sich Sequenzen mit negativen Bildern, die jeweils auf einen unheimlichen Übergang von einem Zustand in einen anderen, auf den Übertritt aus der Welt der Lebenden in das Reich der Toten verweisen. Godard jedoch verkehrt auch diese offensichtliche Anleihe aus der Filmhistorie in das Gegenteil und hebt damit das bald folgende positive Filmende hervor. Denn Lemmy Caution verlässt die tote, seelenlose Stadt Alphaville und befindet sich am Schluss auf dem Weg zurück in die Galaxie der Lebenden; vgl. Darke, Alphaville, S. 59. <?page no="178"?> Susanna Layh 178 Jene, die Struktur von Alphaville bestimmenden Verkehrungen, Umkehrungen und semiotischen Enthebungen spiegeln sich denn auch in den sinnentleerten Verhaltensmustern und Floskeln, in der Gestik und Mimik der Einwohner der Stadt Alphaville. So bedeutet, entgegen der gemeinhin in der außerwie innerfiktionalen Welt herrschenden Konvention, ein Kopfnicken eine Verneinung, ein Kopfschütteln hingegen die Bejahung, wie den Zuschauern gerade die zahlreichen close-ups von Natasha immer wieder irritierend vor Augen führen. Die allgemeine Kommunikationsunfähigkeit zeigt sich zudem an der beständig von allen Bürgern Alphavilles verwendeten, sinnbefreiten Floskel: „Mir geht es sehr gut, danke, bitte schön.“ 71 Das Wort ‚pourquoi‘/ ‚weshalb‘ ist verboten und stattdessen in konsequenter Umkehrung durch ‚parce que‘/ ‚deshalb‘ ersetzt. Bei der Verwendung von „pourquoi“ schaltet sich denn auch sofort das - für die Figuren wie für das Publikum hörbare - Piepsen des Zentralcomputers zensorisch ein (vgl. 00: 12: 38). Ein weiterer Beweis für die totale Überwachung der Bevölkerung. Alphaville als eine Welt der Zeichen, der Zahlen und der Wahrscheinlichkeitsrechnungen ist eine Stadt ohne Sprache oder eher der Nicht-Sprache. Die in wiederum ironischer Umkehrung - und zudem im ebenso ironischen Verweis auf Huxleys Alphas - von Godard „alphabètes“ 72 genannten Einwohner der Metropole leiden unter Sprachverlust, da in dieser albtraumhaften Zukunftsstadt sukzessive die Worte verloren gehen. Lemmy Caution jedoch, „le analphabète“, 73 bringt die Sprache, also die verbotenen Wörter aus der Außenwelt in die Erzählgegenwart von Alphaville zurück. In der Konsequenz verstehen sich beide Seiten nicht, da die jeweiligen Gesprächspartner zwar beide Französisch, aber dennoch nicht dieselbe Sprache sprechen. Sinn und Bedeutung können in diesem Diskurs nicht fixiert werden, das gegenseitige Verstehen bleibt häufig aus. Diese Kommunikationsschwierigkeiten werden filmästhetisch durch den immer wieder wegfallenden Ton symbolisch verstärkt. 74 Das mehrfache Verstummen des jeweiligen Dialogs für den Zuschauer wird so zum formalen Sinnbild für das inhaltliche Nicht-Verstehen derFiguren. Den Zuschauern wird der sukzessive Sprach-, Sinn- und Bedeutungsverlust der Bürger von Alphaville am Beispiel einer sogenannten ‚Bibel‘ im Film faktisch vorgeführt. Gleich in einer der ersten Szenen, als Lemmy Caution seine Unterkunft bezieht, wird jene Bibel von Beatrice gesucht, die sich angeblich in jedem Hotelzimmer befinden müsse (vgl. 00: 05: 26). Lemmy Caution ist als hartgesottener detective zwar nicht religiös, versteht aber - ebenso wie das Publikum - vor dem Hintergrund seines kulturellen Wissens darunter sofort das Manifest des christlichen Glaubens, welches ihn folglich wenig interessiert. In einer deutlich späteren Szene, als Lemmy 71 „Je vais très bien - merci - je vous en prie“. 72 Jean-Luc Godard, zit. n.: Brody, Everything is Cinema, S. 225. 73 Jean-Luc Godard, zit. n. ebd. 74 Vgl. z.B. die Einstellung 00: 13: 07-00: 13: 19, in der das Gespräch zwischen Lemmy Caution und Natasha, die sich gerade darüber unterhalten, dass sie sich gegenseitig überhaupt nicht verstehen, für 12 Sekunden unterbrochen wird und auch sonst absolut nichts zu hören ist. Dann schaltet sich die Stimme Cautions im voice-over plötzlich wieder mit dem folgendem retrospektiven Kommentar des Geschehens ein: „C’est toujours comme ça. On ne comprend jamais rien“ / „So ist das immer. Man versteht überhaupt nichts“ (00: 13: 20-00: 13: 22). <?page no="179"?> Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution 179 Caution einmal wieder versucht, Natasha die Bedeutung von Wörtern nahezubringen, die sie nicht kennt, stellt sich heraus, dass es mit besagter ‚Bibel‘ eine ganz andere Bewandtnis hat. Denn im Kosmos von Alphaville existiert der christliche Glaube selbstredend nicht mehr. Hier herrscht nur noch die omnipräsente ‚Religion‘ der Logik und der Rationalität. Demzufolge handelt es sich bei der Bibel auch nicht, wie von Hauptfigur und Publikum ursprünglich angenommen, um die Heilige Schrift, sondern schlicht um ein Wörterbuch (vgl. 01: 06: 20). Allein dies ist für sich genommen schon ein Beispiel für den dramatischen Signifikationsverlust in der außergalaktischen Gesellschaft. Denn im Reich von Alpha 60 steht der Signifikant Bibel nun für das Signifikat Wörterbuch, was für den aus den fernen Galaxien kommenden Lemmy Caution jedoch unverständlich ist, da er die Signifikanten Bibel und Wörterbuch mit anderen Signifikaten besetzt als die ‚alphabètes‘. In Analogie zu Orwells Newspeak, einer neuen dystopischen Sprachform, deren linguistische Charakteristika im Appendix von Nineteen Eighty-Four in ihrer Entstehung wie ihrem Veränderungsprozess erläutert werden, 75 besitzt auch Alphaville eine ganz eigene, im Wandel begriffene Sprache. Diese begründet sich zuvorderst auf dem Prinzip der Reduktion des Sprachschatzes und der Eliminierung von Begrifflichkeiten, die der logisch, rationalen Ausrichtung von Alpha 60 zufolge in der Welt von Alphaville überflüssig geworden sind. Daher lässt die Obrigkeit sukzessive Wörter aus dem Wörterbuch entfernen, wie diese absurde, stellenweise fast slapstickhafte Szene zeigt. So erzählt Natasha Lemmy Caution: Fast jeden Tag verschwinden Wörter, weil sie verboten wurden. Um sie zu ersetzen, gibt es neue Wörter, hinter denen neue Ideen stehen. In den letzten zwei, drei Monaten sind Wörter verschwunden, die ich sehr mochte. (01: 06: 32-01: 06: 53) […] Rotkehlchen, Weinen, Herbstlicht […] und Zärtlichkeit (01: 06: 58-01: 07: 06). 76 Mit dem Auslöschen der Wörter aus dem Wörterbuch, also dem Verschwinden der Signifikanten, entschwinden automatisch die Signifikate, die Bedeutungsinhalte, und damit auch die damit verbundenen Verhaltensmuster und Gefühle. Denn es fehlen gleichzeitig die Referenten in der innerfiktionalen Realität. Dissemination ist in dieser Gesellschaft auserzählter Sinn- und Sprachverlust, denn der Verlust der Bedeutung von Wörtern beinhaltet gleichzeitig den Verlust individueller wie kollektiver Erinnerung. Der Besucher aus den ‚pays extérieurs‘ jedoch bringt die Signifikanten in Gestalt der lautlich artikulierten Wörter in die hermetisch abgeschlossene Welt von Alphaville zurück. Für Lemmy Caution besteht die Einheit von Signifikant und Signifikat noch, da er die in Alphaville schon vergessenen Wörter mit Inhalten besetzen kann. Natasha hingegen kann die Signifikanten wie das Schlüsselwort „conscience“ / „Gewissen, Bewusstsein“ (01: 03: 43) nicht mit Bedeutung füllen. Für sie bleiben die 75 Vgl. Orwell, Nineteen Eighty-Four, S. 312-326. 76 „Presque tous les jours il y a des mots qui disparaissent parce qu’ils sont prohibé. Alors, à la place de même pas forcement on met des nouveaux mots qui correspond des idées nouvelles. D’ailleurs depuis deux ou trois mois il y a des mots que j’aimais beaucoup qui ont disparus.“ (01: 06: 32-01: 06: 53) […] Rouge-gorge, pleurer, lumière d’automne, tendresse aussi“ (01: 06: 58- 01: 07: 06). <?page no="180"?> Susanna Layh 180 von Caution verwendeten Begriffe sinnentleerte Worthülsen, allein schon da die Bibel/ das Wörterbuch jene nicht aufführt. Dystopische Staaten sind immer geprägt von Sprach- und Bedeutungsverlust durch Zensur, Indoktrination und Literaturverbot. Sie sind gekennzeichnet durch den Verlust von Erinnerung und Historie dank gezielter Geschichtsverfälschung. Deswegen ist es auch häufig die Lektüre eines verbotenen Buches, 77 die den Erkenntnisprozess des dystopischen Protagonisten befördert und seine Rebellion gegen das Unrechtssystem in Gang setzt, was jedoch immer zu seinem Scheitern, manchmal gar zu seinem Tod führt. In Godards Film wird auch dieses Motiv aufgegriffen und einfach umerzählt. Denn der entscheidende Impuls zum Umsturz des Systems von Alphaville geht von einem Gedichtband aus. Der todkranke Henri Dickson, den Lemmy in einer verkommenen Pension ausfindig macht, hat sich einen Teil seiner Erinnerung an die Vergangenheit und damit ein Rudiment seiner Sprache bewahrt, da er an Wörtern mit Hilfe von Paul Éluards Gedichtsammlung Capitale de la douleur (1926) festhält. Der Buchtitel an sich ist dabei schon zu lesen als eine Spiegelung des Handlungsschauplatzes, denn Alphaville ist in der Tat eine „Hauptstadt des Schmerzes“. Im Sterben liegend überreicht Dickson Lemmy Caution das verbotene Buch, in dem einzelne Stellen und Wörter unterstrichen sind, und verrät ihm kryptisch, wie Alpha 60 zu besiegen sei. Er erteilt Caution den gestammelten - grammatikalisch inkorrekten - Auftrag: „Die retten, die weinen“ (00: 28: 15-00: 28: 18). 78 Nach und nach erkennt Lemmy im Verlauf des Films die subversive Kraft des Lyrikbandes, die Macht der poetischen Sprache also gegen das herrschende System der Logik. Und so entwickelt sich das zeichenhafte Spiel in Alphaville zu einem wahrhaftigen Kampf binärer Oppositionen. Dies suggeriert schon allein der Untertitel der deutschen Fassung des Films - „Lemmy Caution gegen Alpha 60“ - ebenso wie der ursprünglich von Godard geplante Filmtitel „Tarzan versus IBM“. 79 Daraus lässt sich innerhalb des Films eine ganze Kette an Dichotomien ableiten, die einander im Filmtext diametral gegenüberstehen: Lemmy Caution versus Alpha 60, Licht versus Dunkelheit, Liebe versus Emotionslosigkeit, Poesie versus Logik usw. Und damit stehen sich auf intertextueller Ebene in ultimativer Konsequenz Paul Éluard, dessen Gedichtband in Alphaville zum subversiven Instrument der Rebellion gegen die Technokratie von Alpha 60 stilisiert wird, 80 und Jorge Luis Borges, respektive deren jeweilige Texte, 77 Vgl. z.B. Goldsteins Buch in Nineteen Eighty-Four oder die Shakespeare-Lektüre von John the Savage in Brave New World. In Bradburys Fahrenheit 451 ist das Motiv des Bücherbanns bzw. die Verbrennung von Büchern durch die staatstragende Feuerwehr sogar handlungsbestimmend. 78 „Sauver ceux qui pleurent“. Die ganze Botschaft, die Lemmy sich notiert und die später auf seinem Zettel kurz zu sehen ist, lautet wie folgt: „détruire - α 60- par elle-même - sauver ceux - celle qui pleurent - tuer V. - tendresse“ (01: 06: 56) / „zerstören - Alpha 60 - durch sich selbst - die retten - die weinen - V. umbringen - Zärtlichkeit“. 79 Vgl. Darke, Alphaville, S. 10. 80 Den Hypotext des poetisch-amourösen Dialogs zwischen Lemmy Caution und Natasha von Braun (01: 12: 32-01: 14: 38) sucht man in dem 1926 erstmals publizierten Gedichtband Capitale de la douleur des surrealistischen Dichters Paul Éluard jedoch vergeblich. Godard, der sich ganz der Maxime „exprimer ce qui est imprimé“ (D’Abrigeon, o.S.) verschreibt, montiert hier Zeilen aus zehn unterschiedlichen Gedichten Éluards, die in den Zyklen „L’amour la poésie“, „Le dur <?page no="181"?> 181 gegenüber. Denn bei genauerer Lektüre der im voice-over wie im Dialog mit Lemmy eingeführten Abhandlungen von Alpha 60 stellt sich heraus, dass es sich bei vielen Äußerungen des sprechenden Computers um Versatzstücke aus verschiedenen zeitphilosophischen Essays des argentinischen Literaten in den Bänden Historia de la Eternidad sowie Otras Inquisiciones handelt. 81 Am Ende obsiegen jeweils die ersten Prinzipien. Lemmy, ‚le analphabète‘, bringt Sprache, Licht und Erkenntnis, Liebe und Lyrik zurück in das am Filmende dem Untergang geweihte Alphaville. Mit seiner Hilfe erinnert sich Natasha an ihre Vergangenheit, daran, dass sie als Tochter von Prof. von Braun nicht in Alphaville, sondern in der alten Welt, genauer „Nueva York“ geboren ist (vgl. 01: 09: 56-01: 10: 16). Sie erinnert sich wieder an verloren gegangene Worte wie ‚la conscience‘, an Bedeutungen, die sie zuvor nicht verstand, und wird dadurch der Liebe fähig. Durch die semiotische Verkehrung als filmisches Strukturprinzip wie durch die Gegenüberstellung binärer Oppositionen, die eine beständige Umwertung erfahren, wird die Konzeption der traditionellen Dystopie auf der Zeichenebene gesprengt. Alphaville erweist sich so als eine kritische Dystopie, in der dystopische und utopische Elemente koexistieren und sich die dystopische Erzählung schlussendlich für das Utopische öffnet. Gerade auch durch die Figur des Lemmy Caution wird nicht nur der dystopische Diskurs durchbrochen, sondern das Utopische in die dystopische Gesamttextur des Films zurückgeführt, bleibt gar über dessen Ende hinaus in der Rezeption erhalten. Die Utopie der Liebe und der Macht des poetischen Wortes untergräbt das logisch-rationale System des Computerherrschers und bringt letzen Endes das totalitäre Regime zu Fall. Zur Modifikation des konventionellen dystopischen Diskurses in Alphaville gehört auch die im Vergleich zur tradierten dystopischen Erzählung veränderte Handlungsfolge und Figurenkonzeption. Dabei wird in Godards Film das klassische dystopische Narrationsmuster vor allem durch die maßgeblich transformierte Rolle der Hauptfigur durchbrochen. Denn wäre Alphaville eine typische dystopische Narration, désir de durer“ und „Le phénix“ publiziert wurden, zu einer autonomen kinematographischen Collage. Zur detaillierten Decodierung der Textfragmente und einer genauen Analyse literarischer Referenzen im Werk Godards siehe: D’Abrigeon, „Jean-Luc Godard, Cinéaste-écrivain“. Vgl. auch Martin, Recital. 81 Gerade die Zitate aus den Texten von Jorge Luis Borges gehören zu den eingangs erwähnten intertextuellen Spuren, die in ihrer Bedeutungsimplikation für die Interpretation des Films zu verfolgen äußerst lohnenswert wäre, da sie bislang in der Forschung praktisch keine Beachtung fanden. Hier müsste zunächst genauer geklärt werden, welche Textfragmente aus welchem Werk stammen und wie diese Montage im Gesamtdiskurs des Filmtextes zu lesen sein könnte. Gerade auch der in Alphaville immer wieder angeführte Begriff der ‚Legende‘ rekurriert auf Borges und bedürfte daher einer eigenständigen Betrachtung innerhalb des Gesamtkontextes des Films, was sicherlich wertvolle Ergebnisse liefern würde. V. Die Subversion der traditionellen Dystopie Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution <?page no="182"?> Susanna Layh 182 hätte Godard eigentlich die Geschichte der Nebenfigur Henri Dickson 82 erzählen müssen. Dieser Vorgänger von Lemmy Caution erleidet im Grunde dasselbe Schicksal wie die Hauptfiguren Winston Smith, D-503, Bernard Marx und all die anderen Rebellen wider Willen, die am Ende der jeweiligen klassischen Dystopie als gebrochene Individuen ein kümmerliches Dasein fristen oder sterben müssen. Auch Dickson gelingt es nicht, sich dem Bann des totalitären Systems zu entziehen oder sich erfolgreich zu widersetzen. Als Lemmy Caution ihn in der heruntergekommenen Absteige Roter Stern ausfindig macht, kommt der Agent in Diensten der Galaxie zu spät. Er kann Dickson nicht mehr helfen. Mittellos, am Ende seiner Kräfte, vom Alkohol zerfressen und aufgrund der permanenten Indoktrination durch die omnipräsente Propaganda am Rande des Wahnsinns wie der Sprachlosigkeit, bleiben Dickson nur Rudimente der Erinnerung an seine Vergangenheit, seine Sprache, seine Bildung, an sich selbst. So stirbt auch er, wie die meisten seiner literarischen Vorfahren, einen jämmerlichen Tod, wenn auch immerhin - und dies ist wieder einer der satirischen Momente des Films - in den Armen einer schönen Frau. Zudem gelingt es Dickson noch im Todeskampf Lemmy mit dem Gedichtband und dem geflüsterten Auftrag den entscheidenden Schlüssel für die Zerstörung von Alpha 60 und damit den Sturz des Systems zu liefern. In Alphaville ist aber dennoch gerade nicht - wie sonst in der dystopischen Tradition üblich - die Nebenfigur der eigentliche Rebell. Literarische Exempla solcher Nebencharaktere wären regimekritische Schriftstellerfiguren wie Samjatins R und Huxleys Helmholtz Watson oder auch Orwells unangepasste Frauenfigur Julia, die aber allesamt bitter für ihren Widerstand bezahlen müssen und scheitern. Stattdessen zeigt sich auch auf der Figurenebene in Godards Film eine weitere Verkehrung, respektive eine Verschiebung der dystopischen Erzählkonvention. Denn in Alphaville ist die Hauptfigur der ausgewiesene Rebell. Lemmy Cautions fiktionale Ahnen wie Winston Smith, D-503 oder Bernard Marx geraten alle infolge eines individuellen Erkenntnisprozesses mit der Staatsmacht in Konflikt, welche die Figuren daraufhin durch Gehirnwäsche und andere Methoden zugrunde richtet. Kontrastiv dazu wird Godards galaktischer Spion Nummer 003 gleich zu Beginn der dystopischen Narration als Widerstandsfigur präsentiert. Wiewohl deutlich parodistisch angelegt, erweist sich der abgehalfterte Agent dennoch durchweg als ‚wahrer‘ Held, der sich durch den Film prügelt (und wenn im Schattenkampf), sich seinen Weg einfach freischießt und am Ende seiner Mission den gefährlichen Opponenten besiegt. Mit der Figur des Lemmy Caution wird damit in Alphaville die literarische Tradition der erfolgreichen Widerstandskämpfer und Oppositionsgruppen antizipiert, die verstärkt in den kritischen Dystopien seit den 1990er Jahren in Erscheinung treten. Solche Figuren oder Figurengruppen kämpfen um eine Verbesserung ihrer jeweiligen dystopischen Verhältnisse und reüssieren dabei zumindest teilweise. Ihre individuellen respektive kollektiven Bestrebungen erhalten utopische Funktion innerhalb des jeweiligen dys- 82 Der Name dieser Figur ist dabei auch wieder eine der vielen kleinen Anspielungen des Films, in diesem Fall auf die populäre pulp-detective-Figur Harry Dickson, die in den 1930er Jahren - gewissermaßen als eine amerikanische Variante von Sherlock Holmes - in über 200 Ausgaben einer Pulp-Magazin-Reihe Abenteuer erlebt und gegen das Böse kämpft. <?page no="183"?> 183 topischen Textes, da so nicht nur implizite Gesellschaftskritik geübt wird, sondern bereits textintern explizite Strategien und Lösungsmöglichkeiten für die dystopische Misere angeboten werden. 83 Godards Entwurf von Lemmy Caution und dessen ‚seltsamen Abenteuern‘ parodiert zwar jene Figurenkonzepte des Rebellen, die geschlossene dystopische Narration aber wird dennoch dadurch aufgebrochen. Die Unterminierung des dystopischen Diskurses zeigt sich dabei in Alphaville nicht nur auf der Handlungsebene, sondern wird auf der formalen Ebene durch das beständige intertextuelle Spiel mit Filmzitaten und die durchgängige Evokation von gleich diversen Filmgenres verstärkt. Lemmy Caution an sich wird präsentiert als ein „wandelndes Zitat“ 84 durch den Filmtext, eine Parodie gleich verschiedener filmischer Charaktere und Traditionen, an der sich exemplarisch die satirische Wirkungsweise des Films als Ganzes ausmachen lässt. Gleichzeitig wird dadurch die utopische Funktion, die somit auf den Protagonisten projiziert wird, intensiviert. So wird in Alphaville beispielsweise auch der klassische Westerntopos als Inbegriff des amerikanischen Hollywoodkinos parodistisch aufgegriffen, aktualisiert, gar in den Weltraum verlagert. Lemmy Caution ist eine kantige Figur, ein Raubein mit vernarbtem Gesicht, der nicht nur den Whiskey, sondern laut eigenem Bekennen im Verhör durch Alpha 5 am meisten „l’or et les femmes“ / „Gold und Frauen“ (00: 45: 33-00: 45: 35) liebt und gleich einmal Schießübungen im Hotelzimmer veranstaltet. Und nicht nur dadurch erinnert er an John Wayne, jenen beim zeitgenössischen Kinopublikum äußerst beliebten Schauspieler in zahllosen Wildwest-Streifen und Inbegriff des amerikanischen (Western-)Helden. Der Geheimdienstagent 003 ist gewissermaßen ein western hero in space, der sich - von außen kommend - im Feindesland bemüht, eine Frau zu retten 85 und sich wie die klassische Sheriff-Figur dem lokalen Bösewicht entgegenstellt. Jean-Luc Godard selbst fasst die Analogie zu dem tradierten Erzählmuster des Western folgendermaßen zusammen: Alle Western gehen doch so. Ein Sheriff kommt irgendwo an, er will einen Gefangenen abholen, und dann nimmt er ihn mit. Der Film dauert entweder so lange, wie er ihn sucht, oder so lange, wie er braucht, um ihn zurückzubringen, oder von beidem etwas. Hier ist es ganz genauso. Ein Sheriff kommt an von irgendwoher, er nennt es die äußeren Welten, er kommt an, und dann fährt er wieder ab. 86 Der space-sheriff Lemmy Caution wird in Alphaville zum postmodernen lonesome rider der Großstadt, der zwar ohne Pferd, aber dafür mit seinem Ford Galaxy in die Stadt ‚einreitet‘, in der er Ordnung schaffen, aufräumen wird. Damit ist Godards Lemmy Caution eine ultimative Persiflage des amerikanischen Western-Helden, nicht makellos und fehlerfrei, aber der moralisch Gute, der allein gegen alle kämpft, und am Schluss im großen Showdown das Böse besiegt, indem er den skrupellosen Gegenspieler erschießt. 83 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 201-203. 84 Speck, „Lemmy Caution als Bildner der Ich-Funktion“, S. 58. 85 Brody z.B. verweist am Rande auf die Ähnlichkeit von Alphaville mit John Fords The Searchers, vgl. Brody, Everything is Cinema, S. 226. 86 Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, S. 110f. Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution <?page no="184"?> Susanna Layh 184 Aber dies ist nur eine der zahllosen intertextuell aufgeladenen Markierungen, die Godards Protagonist auf sich vereint. Ausgestattet mit Fotoapparat, Notizbuch und allzeit schussbereiter Pistole, ausstaffiert mit zerknautschtem Trenchcoat, Hut und einem verbeulten Koffer, im Mundwinkel beständig die unvermeidliche Zigarette bildet Lemmy Caution eine skurril-komische Mischung aus Philip Marlowe, Dick Tracy, Flash Gordon, James Bond und anderen Charakteren der Filmhistorie. Er ist ein Hybrid aus Pulp- und Comic-heros, hard-boiled detective und Agentenfigur gleichermaßen, geradezu ein „explicit pastiche of film noir protagonists“ 87 wie Sam Spade oder Mike Hammer. Dem zeitgenössischen Zuschauer ist die von Eddie Constantine gespielte Figur des französisch sprechenden FBI-Agenten Lemmy Caution zudem bereits aus zahlreichen Filmadaptionen der Kriminalromane des britischen Schriftstellers Peter Cheyney bekannt. 88 Abb. 6-7: Lemmy Caution, Agent und hardboiled detective Gleich zu Beginn des Films reiht sich Lemmy Caution denn auch ironischselbstrefentiell als lesender Held in die Tradition der hard-boiled detective stories wie des film noir ein. Als Teil einer absurden Schießübung verschanzt er sich auf dem Hotelbett hinter einem aufgeschlagenen Buch, hinter dem er im nächsten Atemzug blitzschnell die Pistole hervorzieht, um zielsicher ins Schwarze zu treffen. Der Zuschauer erkennt für einen Moment lang den Titel des Buches als Le Grand Sommeil, die französische Übersetzung des Kriminalromans The Big Sleep von Raymond Chandler (vgl. 00: 08: 06). Fortan ist Lemmy Caution in Alphaville dezidiert als Zitat des archetypischen detective Philip Marlowe ebenso erkennbar wie als filmischer Nachfolger von Humphrey Bogart in der Rolle eben dieser Figur in Howard Hawks’ Verfilmung aus dem Jahre 1946. So ist beispielsweise die Schlusssequenz von Alphaville, als Lemmy Caution und Natasha dem apokalyptischen Inferno in der untergehenden Computerstadt entfliehen, eine direkte Reminiszenz an eine Szene in The Big Sleep, 89 als auch 87 Woolfolk, „Disenchantment and Rebellion“, S. 198. 88 Vgl. Darke, Alphaville, S. 19; Brody, Everything is Cinema, S. 225f. Eddie Constantine erscheint einschließlich seiner Rolle in Alphaville insgesamt acht Mal als Agent Lemmy Caution auf der Kinoleinwand. Während ihm die vorausgehenden Filme große Popularität beim Kinopublikum und entsprechende Kassenerfolge einbrachten, überrascht es wenig, dass Godards eigenwillige Interpretation der allseits beliebten Agenten-Figur die Erwartungen des breiten Massenpublikums enttäuschte. Als Resultat bekam Eddie Constantine nach Alphaville anscheinend nie wieder eine Rolle angeboten. Vgl. Darke, Alphaville, S. 19-22; Brody, Everything is Cinema, S. 234. 89 Vgl. Hawks, The Big Sleep, 01: 11: 55-01: 13: 55. <?page no="185"?> 185 Humphrey Bogart und Lauren Bacall (in der Rolle der Vivian Sternwood Rutledge) in einem Auto endlich für einen Moment lang im Kuss zueinander finden. Hier lassen sich zahlreiche weitere intertextuelle Spuren verfolgen, die zumeist ein Element des Komischen in den Film einbringen und damit das dystopische Konzept der üblicherweise tragisch scheiternden Hauptfigur insgesamt subvertieren. Kontrastiv zum hoffnungslos geschlossenen Ende traditioneller Dystopien ist zudem die offene, ambivalente, wenn nicht gar positiv konnotierte Schlussgestaltung der dystopischen Narration charakteristisch für eine kritische Dystopie. 90 In Alphaville dringt Lemmy Caution, nachdem er eine ganze Reihe an Verhören, Schießereien, Prügeleien und Verfolgungsjagden überstanden hat, am Ende des Films in das Herz der Finsternis der dystopischen Technokratie vor. Wie im traditionellen Western oder auch dem klassischen Agentenfilm kommt es zum finalen Showdown zwischen den Vertretern von Gut und Böse. Die Konfrontation endet damit, dass Caution den verblendeten Demiurgen von Braun erschießt und den Stadtstaat Alphaville durch ein Rätsel, das er dem Computer Alpha 60 aufgibt, zerstört. Durch ‚unlogische‘ Fragen und Antworten, schlicht die poetische Sprache, der das auf Zahlenkombinationen und binären Oppositionen aufgebaute Computersystem keine Bedeutung zuordnen kann, bringt Lemmy Caution es zum Implodieren. Alpha 60, als Inkarnation der Zeichen, die er beständig aussendet und die immer wieder auf ihn zurückverweisen, scheitert an sich selbst, d.h. an der Unmöglichkeit der systeminternen Bedeutungszuweisung. Die Logik, das transzendentale Signifikat von Alphaville wird als logozentrische Illusion entlarvt, was die Selbstdestruktion des Zentralcomputers und damit des Gesamtsystems Alphaville nach sich zieht. Als Resultat bricht die Stromversorgung im Stadtstaat zusammen und das düstere Alphaville wird endgültig in Dunkelheit gehüllt. Die meisten Menschen gehen sofort am nun herrschenden Lichtmangel und dem Verlust der allgegenwärtigen Kontrolle durch den Supercomputer zugrunde. Lemmy Caution jedoch gelingt es - wie schon John Wayne, James Bond und Philip Marlowe vor ihm - in letzter Sekunde, in dem nun ausgebrochenen apokalyptischen Chaos, in wahrer Heldenmanier die hilflose Schöne zu retten und dem Inferno zu entkommen. Die letzte Filmsequenz zeigt, wie Lemmy und Natasha im Auto entfliehen. Während hinter ihnen Alphaville und die ‚alphabètes‘ kollabieren, fahren sie über die Grenzen der Stadt hinaus, in die Weiten der Galaxie, der Heimat von Lemmy Caution und einer potentiell glücklichen Zukunft entgegen. In dieser Schlusssequenz zeigt sich dabei eine der verschiedenen Parallelen zu Jean Cocteaus Film Orphée (1950), der Alphaville als nur eine der vielen weiteren intertextuellen Filmreferenzen durchzieht. Gleichzeitig wird ebenso der antike Mythos von Orpheus und Eurydike selbst evoziert. Natasha transformiert sich für einen Augenblick in die Eurydike-Figur, die sich zweimal umdreht, um auf die sterbende Alptraumstadt zurückzublicken. Daran wird sie jedoch von Lemmy Caution gehindert, der damit seinerseits ebenso kurzzeitig in die Rolle der mythologischen Sängergestalt schlüpft. Dies stilisiert ihn neben allen 90 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 195-199. Jean-Luc Godard, Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution <?page no="186"?> Susanna Layh 186 anderen Facetten seiner Figur letztendlich auch noch zu einer Art „pulp incarnation of Orpheus“. 91 Alphaville ist einer der wenigen Filme Godards mit einem tatsächlich positiven Ende, das durch die Anspielung auf eine weitere Filmtradition, auf das Konzept der romantischen Liebe und das happy-end der tradierten love story, zusätzlich aufgeladen wird. Die letzte Szene zeigt ein close-up von Natashas Gesicht, als es ihr endlich gelingt, ihrer Liebe zu Caution sprachlich Ausdruck zu verleihen: „Je … vous … aime“ (01: 34: 35) bringt sie schließlich unter Schwierigkeiten hervor. Dies indiziert die Rückgewinnung ihrer Individualität, den Sieg der Emotionen über die gefühlskalte Welt der Technik wie der Zahlen und suggeriert mit dem offenen Ende des Films einen möglichen utopischen Neuanfang. Letztlich ist Alphaville dabei auch ein Film über, wie eine Hommage an das Kino und offenbart über das Prinzip des Dystopischen eine Utopie der Ästhetik. Abb. 8: Natasha 91 Darke, Alphaville, S. 19. Darke deutet hier an, dass man dies zudem als ironischen Seitenhieb auf die seiner Schauspielkarriere vorausgehende Laufbahn Eddie Constantines als Sänger an der Seite von Edith Piaf in den 1930er und 1940er Jahren lesen könnte. <?page no="187"?> 187 Filmographie Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution. Produktion: André Michelin, Frankreich/ Italien, 1965. Regie: Jean-Luc Godard. Drehbuch: Jean-Luc Godard. Kamera: Raoul Coutard. Musik: Paul Misraki. Darsteller: Eddie Constantine (Lemmy Caution), Anna Karina (Natasha von Braun), Akim Tamiroff (Henri Dickson), Howard Vernon (Professor Léonard Nosferatu/ von Braun), Laszlo Szabo (Chefingenieur). The Big Sleep. Produktion: Howard Hawks, USA, 1946. Regie: Howard Hawks. Drehbuch: William Faulkner, Leigh Brackett, Jules Furthman (nach Raymond Chandler). Kamera: Sid Hickox. Musik: Max Steiner. Darsteller: Humphrey Bogart (Philip Marlowe), Lauren Bacall (Vivian Sternwood Rutledge), John Ridgely (Eddie Mars), Martha Vickers (Carmen Sternwood). Bibliographie Anshen, David, „Alphaville: A Neorealist, Science Fiction Fable about Hollywood“. In: Italian Neoralism and Global Cinema. Hg. v. Laura E. Ruberto u. Kristi M. Wilson. Detroit, MI 2007, S. 91-110. Atwood, Margaret, The Handmaid’s Tale [1985]. London 1990. Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen [1959]. 3 Bde. Frankfurt/ M. 1998. Borges, Jorge Luis, „Historia de la Eternidad“. In: Ders.: Obras Completas 1923-1949. Bd. 1. 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Er schrieb Gedichte, Romane, Literaturkritiken, zeichnete, drehte Filme und war der unbestrittene Star der Intellektuellen-Szene. Der umstrittene Linke im ständigen Konflikt mit der kommunistischen Partei, der Religiöse, der für die katholische Kirche durch seine Angriffe auf den Papst und seine offen gelebte Homosexualität ein Dorn im Auge war, ein streitlustiger, weltbekannter Künstler, der spät zum Film kam, aber dort definitiv seine Bestimmung fand. Eins ist mit Sicherheit zu sagen: Pasolini ist ein Meister darin gewesen, nirgendwo dazu zu gehören. Das war sein Leid, ermöglichte ihm andererseits aber eine distanzierte Betrachtung der Gegebenheiten. Das filmische Schaffen von Pasolini kann man grob in drei Phasen einteilen: eine neorealistische (Accatone 1961, Mamma Roma 1962), eine unkonsumierbare (Teorema 1968, Edipo Re 1967, Porcile 1969 und Medea 1969) und eine kommerzielle (Decameron 1971, Canterbury Tales 1972, Arabien Nights 1974). In diesem Aufsatz werde ich den Film Medea vorstellen, der zeitlich und ideengeschichtlich in der Phase des unkonsumierbaren Films zu verorten ist. 1 Pasolini ist einer der großen Filmregisseure des europäischen Kinos, der gegen die Vereinheitlichung der Sehgewohnheit und der Zuschauergeschmäcker durch die großen Filmstudios, die allein am finanziellen Erfolg eines Streifens orientiert sind, aktiv mit seinem Schaffen vorging. Er kämpfte mit unzähligen Artikeln, seinen Romanen, seinen Filmen und nicht zuletzt mit theoretischen Schriften gegen die Haltung des begierigen, nie enden wollenden Konsumismus, der durch die einheitlichen Konsumgüter die kulturellen und sozialen Differenzen austilgte und der, in seinen Augen, gerade zu seiner Zeit dabei war, die ganze Welt mit unnötigen Waren zu überziehen, zu denen der Film ebenfalls gehörte. Dazu äußert sich Pasolini wie folgt: 1 Hier folge ich teilweise: Syrimis, „Pasolini’s Erotic Gaze from Medea to Salò“, S. 510-532. Pier Paolo Pasolini, Medea I. Ein Maestro im Dazwischen II. Medea als Kritik an der Massenkultur <?page no="190"?> Julia Koloda 190 Die Krise des Marxismus (datiert von ihm auf den Tod Togliattis 1964, Anm. der Verfasserin) hat mich sehr allein gelassen, und mein Film ist während dieser Zeit gereift. In meinen ersten Filmen habe ich mich in einer einfachen, epischen Sprache ausgedrückt, weil ich mich - mit Gramsci - auf ein national-populäres Bewußtsein beziehen wollte. Aber ich muß wirklich befürchten daß dieses Volk im gramscianischen Sinne nicht mehr existiert, weil die Gesellschaft des Massenkonsums alles zerstört. Das ist der Grund, warum ich begonnen habe, Filme zu drehen, die auf einer Fabel, auf einer Allegorie aufbauen, mit einer Problematik, die dadurch - dessen bin ich mir wohl bewußt - Gefahr läuft, dunkler, schwerer verständlich zu werden. Aber mir bleibt nichts anderes übrig: nur so kann ich versuchen, dem Kreislauf der Massenkultur, des Konsumprodukts zu entgehen. 2 Dieser Konsumismus steht in Verbindung mit dem Hauptproblem der italienischen Gesellschaft, dem Verlust der Werte, den Pasolini als Folge einer immer weiter voran schreitenden Industrialisierung verurteilte. In den 50er Jahren galt die pasolinische Aufmerksamkeit den süditalienischen Bauern als Leidtragenden dieser Entwicklung. Seit den 60ern befürchtete er, dass die wirtschaftliche Globalisierung, die er mit dem rationalen und technifizierten Denken in Verbindung brachte, Länder der sog. Dritten Welt zu ihren Opfern machen würde. Der Rückgriff auf den Mythos ist also zum einen ein Versuch, der Massenkultur zu entgehen. Der Mythos Medea bot Pasolini überdies die Möglichkeit, auf allegorische Art und Weise die Katastrophe der sog. Dritten Welt darzustellen, dazu jedoch später. Drei Filme Pasolinis sind Adaptionen von griechischen Tragödien: Edipo Re, Medea und die nicht realisierte afrikanische Orestie. Pasolini vereint in seiner antiken Trilogie die drei bekanntesten Tragödien der drei Tragödien-Klassiker Sophokles, Euripides und Aischylos und stellt sich mit dem Plan einer Trilogie bewusst in die Tradition des alten Tragödienwettbewerbs, vermutlich um an die Funktion der öffentlichen, mutigen und dennoch subtilen Gesellschaftskritik der griechischen Tragödie anzuknüpfen. Um die gleiche Zeit gibt es ein ähnliches Projekt von Michael Kakojannis, der eine Trilogie des Euripides mit Elektra (1961), Troerinnen (1971) und Iphigenie (1976) verfilmt. Pasolini möchte seine Tragödie als künstliches Produkt begreifen, er ist davon überzeugt, dass auch das griechische Theater, mit seinen Masken und den wenigen Schauspieler, nie einen realistischen Eindruck beanspruchte. Im Kampf gegen die massentauglichen, realitätsgetreuen Darstellungen der Hollywoodstudios setzt Pasolini sein Konzept der Verfremdung ein, das jedoch anders als im antiken Theater und anders als im Schaffen von Bert Brecht, theoretisch durch die Nähe des Films zum Traum und der Erinnerung begründet, und technisch, im Freudschen Sinne, durch das Prinzip der Verdichtung strukturiert wird. Diesen Gedanken vertieft Pasolini in seinem Essay Kino der Poesie von 1965, in dem er die Verwandtschaft des Films mit den Erinnerungen und Träumen herausarbeitet. Analog zur Bezeichnung ‚Linzeichen‘ für ein Wort als kleinste Einheit in einem 2 Pasolini, Lichter der Vorstädte, S. 127. III. Medea als projizierter Kollektivtraum <?page no="191"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 191 sprachlichen Zeichensystem in der Linguistik, benutzt er den Begriff des ‚Imzeichen‘, um das Bild als die kleinste Einheit des bildlichen Zeichensystems, an dem alle Menschen partizipieren, zu bestimmen. Pasolini präzisiert, dass es zwei eigene Bereiche im Menschen gibt, die besonders stark durch die Bilder, also Imzeichen geprägt sind: Erinnerungen und Träume. Dabei stellt er folgendes fest: Jeder Rekonstruktionsversuch der Erinnerung ist eine ‚Folge von Imzeichen‘, das heißt im ursprünglichen Sinne eine Filmsequenz. […] Und so ist jeder Traum eine Folge von Imzeichen, die alle Merkmale von Filmsequenzen haben: Großaufnahmen, Halbtotalen, Details etc. etc. 3 Mit dieser Nähe des Traums und der Erinnerung zu den technischen Möglichkeiten des Films, entdeckt Pasolini die irrationale, traumhafte Dimension des Films, die über den Bereich des Bewussten hinausgeht. Seiner Auffassung nach entstammen die Bilder, die ein Regisseur kreiert, einem Bildersystem, das sich ein Kollektiv unbewusst teilt, und die nirgendwo, in keinem Bilderlexikon vollständig aufgezeichnet sind: Der Filmautor besitzt kein Wörterbuch, sondern unendlich viele Möglichkeiten. Er nimmt seine Zeichen (Imzeichen) nicht aus der Schachtel, dem Gepäck, dem Koffer, sondern aus dem Chaos, wo sie nur als pure Möglichkeiten oder als Schatten mechanischer und onirischer Kommunikation existieren. 4 Diese Kommunikation ist nach Pasolini vorgrammatikalisch und vormorphologisch. Diesen Bildern, die der Filmautor nun wahrnimmt, verleiht er in einem zweiten Schritt seine individuelle Prägung. So entsteht der Prozess des filmischen Schaffens. Diese traumhafte, irrationale Dimension des Films verbindet den Film auch mit dem Mythos, der nach der Vorstellung von C.G. Jung, die Pasolini in seine Theorie integriert, die symbolische, bildliche Repräsentation der überzeitlichen Strukturen des menschlichen kollektiven Unbewussten ist. Die Zuwendung zum Mythos scheint aus dieser Warte als eine konsequente Wahl des Stoffes für das Medium Film, welches ebenfalls die Fähigkeit besitzt, dem kollektiven Unbewussten einen Ausdruck zu geben. Diese theoretisch dargelegte Nähe des Films zum Traum befreit Pasolini von der Notwendigkeit der filmischen mimesis der Wirklichkeit. Der Film wird dadurch eben nicht als die Nachahmung, Abbildung der Wirklichkeit, sondern als eine autonome Form der Wirklichkeit bestimmt. Und zwar eine Form, die wie Erinnerungen und Träume ebenfalls von der Notwendigkeit eines logischen und rationalen Erzählens befreit ist. Der Fluss dieses ohnehin verstörenden Erzählens, wird überdies oft gestört durch die vermeintlichen Schnittfehler oder die zitternde Hand-Kamera, durch unregelmäßige Schwenks oder harte Schnitte. Darüber hinaus erzielt der Film die Bewusstheit der ZuschauerInnen darüber, dass der Film ein ästhetisches Produkt ist, durch die Spannung zwischen Vertrautem und Fremden, die bereits durch die Rollenbesetzung, (dazu in Punkt VI mehr) erzeugt wird. Diese Spannung bestimmt Medea als ein Strukturelement. Beispielsweise sehen wir das uns vertraute Gesicht der 3 Pasolini, „Das Kino der Poesie“, S. 51. 4 Ebd., S. 52. <?page no="192"?> Julia Koloda 192 Callas in einer eigenartigen Kluft und Umgebung, erkennen die Landschaft von Kappadokien, die, obwohl von christlichen Fresken geschmückt, zur Wohnstätte von einem unbekannten Volk wird. Der Ritus des Menschenopfers erinnert an das Geschehen um Christus. Figuren und Bilder beinhalten Elemente aus der christlichen Ikonographie und sind doch anders. Ich würde diese Technik Pasolinis analog zum Prinzip der Verdichtung, die Freud in der Traumanalyse als eines der wichtigsten Mechanismen des Traums ausmacht, als filmische Verdichtungstechnik bestimmen. Das Vorhaben Pasolinis, in Italien einen andersartigen, unkonsumierbaren, traumartigen Antikfilm, der die globale Wirtschaft und die Massenkultur kritisiert, zu produzieren, ist eine Provokation, die durch die enge Beziehung Italiens zum Antikfilm besonders erschütternd wirkt. Das wird klarer, wenn wir die filmhistorische Situation Italiens betrachten. Italien war die erste Nation, die den Antikfilm mit großem Erfolg produzierte und auch noch dann als Hollywood auch in diesem Bereich seine Hegemonialstellung behaupten konnte, war er für Italien mit semantisch wichtigen kulturellen Codes belegt. Als wichtige und stilbildende italienische Produktionen der Anfangszeit wären Stummfilm-Produktionen wie Quo Vadis von Enrico Guazzoni (1912) und Cabiria von Giovanni Pastrone (1914) zu nennen. In Italien dienten Antikfilme zur Vergewisserung der nationalen Identität, zur Verfestigung der gemeinsamen Werte, zur Evokation des Wir-Gefühls, zur Alltagsflucht und Identifikation. Die Antike wurde in den 50er und 60er Jahren vollständig entpolitisiert (ein Punkt den Pasolini bewusst durch die von ihm vorgegebene Interpretation Medeas, die später vorgestellt wird, unterläuft). Man idealisierte sie und stellte sie als eine vergangene, jedoch sehr vertraute Welt dar. Die Beliebtheit dieser sogenannten Sandalenfilme in Italien blieb trotz der Hollywood-Hegemonie ungebrochen bestehen. Es gab eine Flut von italienischen Herakles-Filmen, Trojafilmen sowie Filmen aus dem Kreis der römischen (um Julius Cäsar) und ägyptischen Geschichte (meist im Verbund mit der römischen Geschichte, zum Beispiel um Kleopatra). In Hollywood, das viel mehr Mittel für die Produktion als die europäischen Länder hatte, bildeten sich Konventionen heraus, an die sich ein Regisseur zu halten hatte. Ein Antikfilm hatte monumental zu sein, was die Kosten für die Dekorationen, für die Gagen der Schauspieler, den Aufwand für die Kostüme, Kulisse, Anzahl der Mitwirkenden, Schlachtszenen, pompöse musikalische Ausgestaltung mit vielen Streichern, Farbenpracht usw. betraf. Ebenfalls war der narrative Rahmen vorgegeben: Zu Anfang leitete eine angenehme männliche Stimme die sog. voice-of-god die ZuschauerInnen in das Geschehen ein, am Ende zog diese ein Fazit und verabschiedete die ZuschauerInnen. Der etwas raue, aber mutige und starke Held geht mit der Heldin, die oft eine schutzbedürftige Herrscherin ist, eine Liebesbeziehung ein. Die geschlechtsspezifischen Normen wurden durch die ikonische Darstellung zementiert, die exotischen, halbnackten Schönheiten sollten infolge ihrer antiken Fremdheit die harte IV. Medea als Provokation. Italien und Antikfilm <?page no="193"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 193 Zensur der Kirche umgehen helfen. 5 Weibliche Heldinnen, wenn sie denn im Titel der Filme vorkamen, waren bevorzugt: Helena, Messalina und Kleopatra. Das Erotische an diesen Charakteren machte sie zu beliebten Projektions- und Identifikationsfiguren für die Phantasien des Publikums. Eine Figur wie Elektra dagegen, die man nur schwer in einen erotischen Kontext rücken konnte, wurde erst 1962 filmisch aufgegriffen. Medea ist erst durch Pasolini 1969 in den filmischen Diskurs eingetreten.In den 60/ 70er Jahren können wir beobachten, dass sich die Funktion und die Beschaffenheit des Rückgriffes auf die Antike vor allem im europäischen Autorenfilm grundlegend ändert. Nicht die vertraute Antike, die eine positive Identifikation mit den Helden evozieren soll, wird gezeigt, sondern es wird eine fremde, bizarre und andersartige Antike inszeniert, in der sich ein gesellschaftskritischer Gestus artikuliert. Pasolini ist ein Hauptakteur dieses Zeitgeistes. Als scharfer Kritiker der italienischen Gesellschaft und der westlichen Konsumpolitik bietet er den Zuschauern zwar eine Identifikationsfigur, die jedoch weniger schmeichelhaft ist als vorausgegangene Helden. Jason wird zu einem gedankenlosen Kolonialisten, Medea zum Symbol der Dritten Welt. Pasolini zwingt die ZuschauerInnen zu einem Identifikationsbruch mit dem antiken Helden und gibt denen eine Stimme, die die Leidtragenden der ökonomischen und kulturellen Globalisierung sind. Diese politische Interpretation des Filmes gibt Pasolini selbst vor. Im Weiteren werden die problematischen Punkte dieser Interpretation herausgearbeitet, doch zunächst werfen wir einen Blick auf die ideengeschichtliche Kontextualisierung der pasolinischen Medea. Mit Medea schreibt Pasolini eine Tradition der Kulturtheorie fort, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts archaische Gesellschaften untersucht und von einem speziellen Modell im archaischen Denken ausgeht. Dieses Modell besagt, dass die archaischen Völker ihre Welt in zwei Kategorien einteilen: in das Heilige und das Profane. Von großer Bedeutung für diese Ansicht waren das epochale Werk des Sir James Frazer The Golden Bough von 1890, Émile Durkheims Les formes élémentaires de la vie réligieuse von 1912, Arbeiten von Marcel Mauss und Mircea Eliades Werke zur Religionswissenschaft. Die Beschäftigung mit den sogenannten Primitiven führte dazu, dass man in ihnen, wie in einem Spiegelbild, sich selbst erkannte. Auch im Leben des modernen Menschen postulierte man eine Zweiteilung in das Heilige und das Profane, in zwei Dimensionen, die jedoch nicht immer in einem Gleichgewicht zu stehen schienen. Je mehr die Welt rational entzaubert wurde, je schneller die Mechanisierung, die Industrialisierung voranschritten, desto dringender wurde die Frage danach, was dem Menschen wesentlich ist und bei vielen Autoren, Künstlern und Philosophen erwuchs die Sehnsucht nach dem Sakralen, nach dem Rausch, Exzess und nach der 5 Siehe dazu Eigler, Bewegte Antike. V. Medea als Spiegel der gesellschaftlichen und individualpsychologischen Situation. Das Heilige und das Profane <?page no="194"?> Julia Koloda 194 Transzendierung des Rationalen, das man oft, und das halte ich für eine Schwierigkeit, für alle Übel der Welt verantwortlich machte. Auf der Folie der mannigfaltigen literarischen und filmischen Beschreibungen der archaischen Kulturen aus aller Welt wurde es Pasolini möglich die Kolchis, welche bereits in den antiken Quellen als die Fremde, das Ende der Welt, das Andere bestimmt wurde, bezüglich der Kostüme und der Riten in einer synkretistischen Art als einen Archetyp der archaischen Gesellschaft in Szene zu setzen. Unter anderem stammte das Wissen über die funktionale Bedeutung der Opfer, auch der Menschenopfer, für manche archaischen Stämme, aus seinen umfangreichen religionswissenschaftlichen Studien. Des Weiteren gaben u.a. die obengenannten Arbeiten den Impuls, die antithetische Struktur von ‚heilig‘ auf Seiten der Kolcher und ‚profan‘ auf Seiten der Griechen in der Tragödie um Medea zu beziehen. Durch das Aufeinandertreffen der beiden Vertreter des Heiligen und Profanen, Jason und Medea, möchte Pasolini einerseits das zur Katastrophe führende Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten darstellen und darüber hinaus den Zuschauern den Spiegel ihrer eigenen antithetischen psychologischen Struktur des Rationalen und Irrationalen, des Heiligen und Profanen vor Augen führen. Inge Stephan führt vier Gründe auf, die zum internationalen Erfolg des Films, der jedoch nicht monetärer Art war, führten. Erstens: Maria Callas. Zweitens: die exzessive und schockierende Inszenierung von Gewalthandlungen, drittens die grandiosen Landschaftsbilder und viertens die umstrittene Persönlichkeit des Regisseurs der […] als enfant terrible immer wieder für Skandale in der Öffentlichkeit sorgte. 6 Im Folgenden werden die ersten drei angeführten Punkte näher betrachtet: Mit der Besetzung der Rolle der Medea durch Maria Callas veranstaltete Pasolini ein unerhörtes Spiel mit den Erwartungen des Publikums. In der medialen Wahrnehmung der Callas, der größten Opernsängerin unserer Zeit, galt diese griechischamerikanische Tragödin als eine der unmöglichsten und skandalösesten Prominenten. Dafür gab es einerseits professionelle und andererseits private Gründe, die die Öffentlichkeit genauso nachvollziehen konnte wie die professionellen. Denn mit Maria Callas trat ein neuer Typ der Opernsängerin in Erscheinung: ein Star, der sich wie ein Filmstar präsentierte und dessen Privatleben genauso oft wie bei diesen zum Mittelpunkt der Medienaufmerksamkeit wurde. Seit 1953, als Callas die Oper Medea von Luigi Cherubini (1797) an der Scala in Mailand wieder zum Leben erweckte und zu ihrer Glanzrolle machte, setzte die Öffentlichkeit die Figur der Medea mit ihrer Darstellerin gleich. Die medial aufgeputschten Skandale um die Tigerin - so der Beiname der Callas - die zwar eine göttergleiche Stimme besitzt, jedoch launenhaft, unberechenbar sei und zur Hysterieanfällen neigt, sind fest zu einem Bild von einer exotischen, also barbarischen, irrationalen, unfassbaren, gehassten und geliebten 6 Stephan, Medea, S. 212. VI. Medea ist Maria Callas <?page no="195"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 195 Ikone im medialen Gedächtnis des Publikums verschmolzen. Die private Beziehungstragödie um die Trennung von Onassis zementierte dieses Bild, hatte doch das private Leben der Callas der Medea ähnliche Züge. Wie diese, fand sich Maria Callas als eine vom geliebten Mann verlassene, nicht mehr junge Ausländerin, mit der besonderen Gabe ausgestattet, jedoch für eine aufrichtige Zuneigung der Öffentlichkeit zu fremdartig und unbequem, wieder. Als die Öffentlichkeit erfuhr, dass Callas den Vorschlag Medea zu spielen annahm - zahlreiche andere Rollen waren ihr angeboten worden, aber diese Rolle war die einzige, die sie annahm -, hatte das Publikum ein ganz bestimmtes Konzept davon, wie Medea, von Callas gespielt, sein würde. Diese Erwartungen wurden auch durch die Werbung für den Film geschürt. Auf einem der englischsprachigen Werbeplakate stand: „It’s a movie about a woman who beheads her brother, stabs her children and sends her lover’s wife up in flames. For Maria Callas, it’s natural. Medea. Maria Callas‘ first dramatic movie. Directed by Pier Paolo Pasolini.“ 7 Die Doppeldeutigkeit dieser Werbung zeigt sehr gut das öffentliche Bild der Callas. Die Erwartungen des Publikums wurden unterlaufen. Medea erscheint als große, stumme, dunkle Muttergottheit der archaischen Zeit, sparsam in ihrer Mimik, schwer deutbar und bis auf die letzte Szene kaum mit dem durch Euripides und Seneca geprägten Bild der Medea als einer wütenden, aggressiven, rachsüchtigen, gefährlichen und halbgöttlichen Frau, die in ihrer Raserei ihre Kinder ermordet und im Schlangenwagen davon fliegt, zu vergleichen. Und doch ist die Medea Pasolinis auch unverkennbar Callas, die durch ihre von der Bühne bekannte, artifizielle, oft mit dem Stummfilm verglichene Gestik und Mimik, in ihrer Fremdheit auf der Leinwand umso verstörender wirkt, je weniger expressiv sie ist. Die ikonische Erhabenheit ihrer Haltung und Erscheinung, und die Fähigkeit widersprüchlichste Gefühle auf der Oberfläche ihres Gesichts abzubilden, machen ihre Darstellung dieser anderen Medea genauso unvergesslich wie die des Cherubini. Maria Callas entstammt der Sphäre der Musik, der Oper, einem Bereich der tiefen Emotionen. Anders bei der Besetzung für Jason. Giuseppe Gentile, kein professioneller Schauspieler, sondern ein Sportler, Bronzemedaillengewinner im Dreisprung bei den Olympischen Spielen in Mexiko im Jahr 1968, wurde von Pasolini für die Rolle des Jason angeworben und nahm diese an. Sein Gesicht war in Italien zu der Zeit mindestens genauso bekannt wie das der Callas. Die Besetzung der Rollen ist bereits eine Botschaft: die Kunst gegen den Leistungssport, die tiefen Emotionen gegen eine rational eingesetzte Effizienz. Mit diesen zwei kontrastierenden Dimensionen werden wir bereits im Prolog des Films konfrontiert. Die irrationale, mythologische Sicht des Kindes Jasons einerseits und die rationale Sicht auf die Welt als er erwachsen ist, andererseits. Diese, im Kapitel V beschriebene Struktur, wird nun in den nächsten Kapiteln auf ihre filmische Umsetzung hin betrachtet. Dabei sollen die stereotypen Attribuierungen aufgespürt werden. 7 Poskin, Real Life is Elsewhere, o. S. <?page no="196"?> Julia Koloda 196 Der Prolog führt die ZuschauerInnen in die Welt des Jason ein. Dabei können wir das Erwachsenwerden und den damit einhergehenden dreiteiligen Rationalisierungsprozess Jasons verfolgen. Die Figur des Kentaur führt uns vom Mythos des Goldenen Vlieses über die hymnische Erörterung der Heiligkeit der Natur in den logos vom Tod des Gottes und damit in die Entmystifizierung des Lebens. Die Pferdehälfte des Kentaur im dritten Abschnitt des gerafften Erwachsenwerdens Jasons, ist verschwunden. Kentaur ist der Erzieher von Jason und derjenige, der den Zuschauern gleichzeitig einen Interpretationsrahmen für die Geschehnisse liefert. Er unterstreicht seine außergewöhnliche Rolle mit direkten Blicken in die Kamera. Die ZuschauerInnen sollten also jetzt nicht einschlafen wie der kleine Jason, der müde geworden ist von den mythisch-epischen Ausführungen über seine Herkunft. Was nun kommt, ist, da Jason bereits erwachsen ist, nicht mehr eine epische Erzählung, sondern eher eine religionswissenschaftliche Abhandlung, die dem erwachsenen Jason angemessen ist. Hier haben wir zum ersten Mal die Zuordnung ‚Mythos - Kind‘, ‚logos - Erwachsensein‘. Eine Mythostheorie wird dargelegt, nach der der Mythos für den antiken Menschen untrennbar mit dem Kult und Ritual verbunden ist und damit immer wieder erfahrbar. Der moderne Mensch führt der Nicht-Mehr-Kentaur weiter aus, erfährt zwar auch diese mythologische, heilige Dimension der Natur, aber in einer anderen Form. Sie ist noch präsent als eine sehr persönliche seelische Erfahrung. Der moderne Mensch hat demnach ebenfalls einen Zugang zu einer besonderen, sakralen Wahrnehmung der Welt, jedoch bei Weitem nicht in dieser Unmittelbarkeit wie der antike Mensch, der durch die landwirtschaftlichen Rituale und Mythen die Heiligkeit der Welt immer wieder in der Gemeinschaft durch die Riten bestätigt und erfährt. Das Leben dieser Menschen wird als realistica bezeichnet, was zunächst vielleicht überrascht. Sind wir es nicht gewohnt, die Mythen in die Sphäre der Phantasie einzuordnen? Der Begriff der Realität meint hier das Leben in der Unmittelbarkeit der Erfahrung. Das Gegenteil wäre das Leben der modernen Menschen, das Leben in Gedanken, in Konzepten über die Realität, in Signifikanten, die kein Signifikat haben, sondern nur aufeinander verweisen. Die Wahrheit der Wiedergeburt, des Zusammenhangs des Todes mit dem Leben, das Ur-Signifikat, das für die archaischen Menschen in jedem Zeichen präsent und erfahrbar ist, hat Jason, der exemplarisch für den modernen Mensch steht, verabschiedet: es gibt keinen Gott, sagt sein Erzieher und unser Erzähler. 8 Das Dilemma des modernen Menschen besteht jedoch nicht darin, dass er die mythologische Seinsweise vergessen hat, sondern, dass er sie nicht völlig hinter sich lassen kann und sie nicht mehr zurückgewinnen kann. Deshalb muss Medea in dieser Spannung enden, doch dazu später mehr. An der Erscheinung und Veränderung der Figur des Kentaur, wird deutlich, dass sich nicht die objektive Welt für Jason von der Heiligen zur Profanen verändert hat, sondern, dass sich die psychische Wahrnehmung dieser Welt von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter veränderte. Der erwachsene Jason sieht nicht mehr den Kentauren, sondern den Menschen in seinem Erzieher. Er nimmt die Natur als eine zu 8 Pasolini, Medea, 00: 07: 41 (non c’è nessun Dio). V I. Prolog. Stufen der Bewusstseinsentwicklung I <?page no="197"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 197 unterwerfende Materie wahr, nicht mehr als heilig. Ein Symbol dafür ist das Feuer, das im Ofen eingeschlossen ist und hinter Jason brennt. 9 Das Feuer wird immer wieder in seiner sowohl domestizierten als auch unkontrollierten Natur gezeigt. Das von Medea am Ende des Films geschürte und ausgebrochene Feuer, wird zum Symbol der Schattenseite der mythologischen Seinsweise, die entfesselte Emotionalität, die in der gerade erwähnten Einstellung bezähmt ist. Jason, der in seiner Kindheit die mythologische Sicht der Natur und die Erfahrung des Göttlichen mit dem antiken Menschen geteilt hat, ist als erwachsener und moderner Mensch davon ausgeschlossen. Hier werden, bleiben wir im Deutungsschema von Pasolini, die kindliche Wahrnehmungsstufe der Welt mit dem Mythos, das Erwachsensein mit dem logos verknüpft. Der zweite Prolog, wie ich es mit Bernhard Zimmermann 10 nennen möchte, zeigt den Zuschauern fast ausschließlich ohne den Einsatz der Sprache das, was durch den übermäßig eingesetzten logos des Erzählers im ersten Prolog dargelegt wurde. Die Sprachlosigkeit der langen, im dokumentarisch-ethnologisch anmutenden Stil gehaltenen Sequenzen, in denen die Welt der Medea gezeigt wird, wirkt auf die ZuschauerInnen beunruhigend und fremd. Das ist nicht die Welt des logos, die uns vertraut ist, die Welt der Sprach- und Denkbilder, sondern die des Mythos, der Erfahrung und des Handelns. Medea ist der exemplarische antike Mensch, von dem der Erzähler sprach. Durch diese Verknüpfung der Kolcherwelt mit dem Mythos und die gleichzeitige Referenz auf das Kind Jason, für welches der Mythos die adäquate Form der Vermittlung der Wirklichkeit war, scheint Pasolini klare Einteilungen vorzunehmen, die in der Religionswissenschaft keineswegs neu sind. Die Kindlichkeit eines Bewusstseins wird mit Mythos, Sakralität, Natur und Natürlichkeit, dem Kollektiven, der Ganzheit, dem Weiblichen und dem kulturell Anderen verknüpft. Die semantische Aufladung der ikonischen Ebene mit diesen Bedeutungen wird vor allem in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Menschen, Tieren und der Landschaft, der Gestaltung der Kostüme (Symbole) und in der Inszenierung des blutigen Rituals (als eine ‚natürliche‘, gewaltsame, kollektive Spiritualität) nachvollziehbar. Von der ersten Einstellung an ist das spracharme harmonische Nebeneinander von Menschen und Tieren offensichtlich. Die ZuschauerInnen sehen als erstes Ziegen und dann die Menschen, die von ihnen umgeben sind. Die Welt der Kolcher wird in die Landschaft von Kappadokien verlegt, in die sie sich völlig harmonisch einfügt. Die Tufftürme mit ihrer Kegelform, die in der kulturellen symbolischen Wahrnehmung für das Weibliche steht, wurden ausgehöhlt und bewohnbar gemacht. Diese Anpassung an die Natur wird durch die weiteren zahlreichen Bildkompositionen verdeutlicht. Wie hier am Bild der beiden Kolcher zu sehen ist, die mit ihrer Umgebung zu verfließen scheinen. 9 Pasolini, Medea, 00: 05: 45. 10 Zimmermann, „Fremde Antike? “, S. 55-66. VI I. Kolchis: die Welt des Mythos und des Heiligen I <?page no="198"?> Julia Koloda 198 Abb. 1 Das Kostüm der Medea weist diese als Priesterin der Gesellschaft der Kolcher aus. Der aufwendige Schmuck Medeas und ihrer Familie geben einen Hinweis auf das religiöse Weltverständnis dieses Volkes, das im Paradigma der Naturverbundenheit und der Ganzheitlichkeit situiert ist. Abb. 2 Medea trägt Halsketten, die aus goldenen Kugeln bestehen. Die Kugel steht, wie der Kreis, für die zyklische Wiederkehr, für eine vollkommene kosmische Ordnung, die weder einen Anfang noch ein Ende kennt sowie für Ganzheit und Harmonie. Die Gestaltung der Medea erinnert an die berühmte Statue der Artemis aus Ephesos, die mit vielen Kugeln um den Körper (wahrscheinlich Stierhoden), die göttliche Fruchtbarkeit und die göttliche Ordnung repräsentiert. Die Mutter der Medea trägt jedenfalls Symbole des Kreises als Kopfbedeckung und als Ornament an ihrem Kleid. Der Vater und der Bruder tragen, neben den runden Symbolen, explizite Stierkopfnachbildungen als Halsschmuck. Der Vater trägt Hörner als Kopfbedeckung, was seine Rolle als König, der für die Fruchtbarkeit des Landes sorgt, unterstreicht. Medeas Funktion als Priesterin und ihre Erscheinung, die sie zunächst sehr distanziert zeichnet, wird mit der Rolle der Mutter des Volkes angereichert. ‚Weiblichkeit‘ wird hier mit der Spiritualität und der Mütterlichkeit verknüpft. Sie wird in Anlehnung an die christliche Ikonographie als Maria, Mutter Gottes, inszeniert. <?page no="199"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 199 Abb. 3 Die ZuschauerInnen werden des Weiteren mit unheimlich vielen Symbolen, die meistens mit einem Kreis und Stiernachbildungen und Stierattributen ausgestattet sind, die für die Fruchtbarkeit stehen, konfrontiert. Manchmal passiert dies so schnell, dass das Auge nicht bewusst wahrnehmen kann, was genau gezeigt wurde. Das soll vermutlich den traumhaften Eindruck der Bilder verstärken. Wichtig für die agrarische Gesellschaft der Kolcher ist ihre Spiritualität, die den ZuschauerInnen durch das Ritual, das durch seine offen gezeigte Blut- und Gewaltdarstellung noch 50 Jahre nach der Ausstrahlung des Films schockierend wirkt, näher gebracht wird. Im Ritual und Kult wird der Mythos von der Wiederkehr des Lebens für die Kolcher unmittelbar erfahrbar; es verbindet das Leben mit dem Tod und festigt das Kollektiv. In der Szene des Rituals können wir deutlich die Elemente des bereits 1890 von Sir James Frazer in seinem epochalen Werk The Golden Bough konstruierten archaischen Ur-Mythos um den sterbenden und auferstehenden Gott erkennen. 11 Frazers heute umstrittene Theorie besagt, dass die archaischen Gesellschaften durch rituelle Menschenopfer die Fruchtbarkeit der Erde zu erhalten versuchten. Das konkrete menschliche Opfer symbolisierte die Gottheit, die getötet, in Stücke gerissen und der Erde einverleibt wird. Das Auferstehen des Gottes wurde im frischen Getreidekorn gefeiert. Nach Frazer haben der Mythos vom trakischen Dionysos-Zagreus, der kleinasiatische Adonis-Mythos und der ägyptische Osiris-Mythos ihren Sinn in diesen vorzeitlichen magischen Vorstellungen davon, dass die Fruchtbarkeit der Erde so aufrechterhalten werden kann und muss. 12 Der junge, mit einem Getreidekranz geschmückte Mann, der durch den Kranz und den Tötungspfahl an Jesus erinnert, steht für den Gott, der gewaltsam sterben wird. Sein Tod und die Auferstehung im Getreide werden durch die liturgischen Worte Medeas erklärt: „gib Leben dem Samen und werde wiedergeboren mit dem Samen.“ 13 Medea ist die Priesterin der Sonne, sie setzt nach dem Tod des Opfers das Rad, das die Verbindung des Lebens mit dem Tod und die Sonne gleichzeitig symbolisiert, in Bewegung. Auffällig ist die Re- 11 Pasolini, Medea, 00: 13: 31-00: 21: 43. 12 Frazer, James, The Golden Bough. 13 Pasolini, Medea, 00: 21: 34. <?page no="200"?> Julia Koloda 200 gungslosigkeit sowohl seitens des Volkes als auch der Königsfamilie angesichts des Tötens des Opfers. Allein der Prinz signalisiert mit seinem Blick eine liebevolle, homoerotische Verbundenheit mit dem Opfer. Die Fruchtbarkeit und die Homosexualität gehören in Pasolinis Darstellung zum sakralen Weltbild der Kolcher. Der Tod gehört im archaischen Bewusstsein der Kolcher zum Leben, ja, er ermöglicht erst das Leben. Die an die Opferung und Verteilung des Blutes und der Eingeweide auf die Felder anschließende Feier, die an römische Saturnalien und an Karneval erinnert, erlaubt dem Volk einen zeitweiligen Austritt aus der sozialen hierarchischen Ordnung. 14 Die Priesterkaste wird bespuckt, die Hohepriesterin als Opfer inszeniert. Mit der Beendigung des Ausbruchs in das Chaos wird die bestehende Ordnung durch eine Inszenierung bekräftigt, die stark an eine katholische Messe erinnert. Abb. 4: Medea und ihre Familie werden von der Gemeinschaft angebetet Um die archaische und sakrale, für den modernen Menschen fremde Welt der Kolcher zu inszenieren, werden verschiedene technische und stilistische Mittel gebraucht. Der Musik kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Sie wurde von Elsa Morante in Auftrag von Pasolini aus unterschiedlichen, dem Westen nicht vertrauten Traditionen, z.B. aus der iranischen oder auch japanischen, zusammengestellt. Ihr Einsatz ist für diesen Film so bedeutend, dass wir von einem Gesamtkunstwerk sprechen können, in dem die Musik neben der Architektur, Farbgebung und Landschaft, eine gleichberechtigte Rolle spielt. Sie erfüllt wie Hans-Klaus Jungheinrich treffend bemerkte: dramaturgisch hier vielleicht eine ähnliche Funktion [...] wie der griechische Chor, indem sie zu den Gefühlen und Schicksalen der Einzelakteure den raunenden und trommelnden ‚Kommentar‘ des Kollektivs beisteuert. 15 Durch die langsamen Kamera-Fahrten oder durch langsame Schwenks bekommen die ZuschauerInnen das Bild von dieser kargen und bizarren Landschaft in der Totalen. Als stilistische Mittel für die Herstellung einer sakralen Atmosphäre muss man noch die Dreieckskomposition, die in der Renaissance sehr beliebt war, und die frontalen Aufnahmen hervorheben. Beide Stilmittel dienen dem transtextuellen Be- 14 Vgl. M. Bachtins Karnevalsmodell. 15 Jungheinrich, „Überhöhung und Zurücknahme“, S. 45. <?page no="201"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 201 zug zu den Heiligenbildern des Christentums. Pasolini nennt die frontale filmische Technik deshalb sakral. 16 Er isoliert den Gegenstand in einem längerem close-up aus seinen Bezügen heraus und lässt dem Zuschauer gar keine andere Wahl als sich dem Gesicht oder der Gestalt bewusst zuzuwenden und nach den Spuren des inneren Erlebens zu suchen. In diese Welt der Harmonie, des ‚Weiblich-Natürlich-Ganzheitlich-Spirituellen‘, bricht im Filmverlauf das destruktive Chaos des ‚Männlich-Machbar-Materiellen‘ ein. Der klassische Argonautenmythos folgt in seinem Ursprung einem einfachen narratologischen Märchenschema: ein Held bekommt eine Aufgabe, sammelt um sich andere Helden, entdeckt das exotische Land, holt sich mit Hilfe der Zauberin das, was ihm zusteht, und beweist durch diese Tat seine Ausnahmestellung. Die Reise des Jason und seiner Gefährten erinnert in der pasolinischen Version eher an einen Raubzug eines nicht unsympathischen Haufens eigentlich kindlich-junger Männer, für die das freche Plündern und Stehlen zu ihrem überlegenen Selbstverständnis gehört und nicht einmal von ihnen selbst hinterfragt wird. In der griechischen Mythologie unterstreicht der Raub eines Besitzes durch den Helden, der meist sehr schwer auszuführen ist und besondere Fähigkeiten verlangt, die Exponiertheit des halbgöttlichen Mannes. Unsere Argonauten verleiben sich dagegen spielerisch leicht, aber entschlossen die fremde Welt ein. Als Jason im Tempelraum der Medea in ihrer Vision erscheint, scheint es fast so als ob genau diese Unbeschwertheit und Leichtigkeit ihr Begehren entfacht. Bleiben wir im vorgegebenen Interpretationsparadigma, so lässt sich diese Szene politisch lesen: Die Argonauten werden zum Symbol des kolonialistischen Konsum-Imperialismus unserer Zeit, der mit Versprechungen des Wohlstands, Leichtigkeit und Überlegenheit das Begehren der Nichthabenden weckt. Die Attraktivität, die dieser Konsumkapitalismus auf die Völker der Dritten Welt ausübt, wird nach dieser Lesart im Begehren der Medea sichtbar. Nach der Vision, in der sich die Zukunft offenbart, blickt sie unverständlich das höchste Heiligtum ihres Volkes, das Vlies an. Dann, in einer großartigen mimischen Leistung, zeigt sie, dass sie verstanden hat, dass das Vlies für den Fremdling nichts ist, was heilig ist, sondern etwas, was man begehren und besitzen kann. 17 Mit Antonio Gramsci (der Pasolini nachweislich beeinflusste) gelesen, zeigt die Szene wie der Konsumkapitalismus seine Opfer zu den willigen Mittätern an ihrer Ausbeutung macht, indem er ihre Werte erodiert und sie dadurch verändert. Der Abgrund, der sich aufmacht, wird nun größer, als Medea im Akt der zunehmenden rationalen Pragmatik ihren eigenen Bruder tötet und damit die sakrale Handlung der Opferdarbringung entsakralisiert. Die Phase der endgültigen Verwirrung und Entwurzelung stellt die großartige Szene dar, in der Medea versucht, ihre Identität, die in der Beziehung zur göttlichen Natur Bestand hatte, erfolglos zu be- 16 Mehr dazu: Steimatsky, Italian Locations. 17 Pasolini, Medea, 00: 33: 00-00: 35: 00. IX. Medeas Transgression <?page no="202"?> Julia Koloda 202 schwören. 18 Sie tut dies in einer Sprache, die die Argonauten nicht verstehen. Für sie, als Vertreter des modernen Bewusstseins, klingen Medeas Worte wie Poesie. Orpheus setzt an, ihre Worte mit der Leier zu begleiten. Dabei beklagt Medea verzweifelt den Verlust des Zentrums, das für den archaischen Menschen so wichtig ist. 19 Sie beklagt die Fragmentierung des Lebens durch den modernen Menschen und seinen Versuch, die Stelle des Ur-Signifikats einzunehmen und ausschließlich selbst sinnstiftend wirken zu wollen. Medea verliert mit dem räumlichen Übergang ebenfalls ihr Zentrum und ihren Halt, indem sie sich von ihrem Land entfernt; so wie das Vlies keine objektiven Zauberkräfte hat, sondern (nach Auskunft Jasons gegenüber dem Pelias) nur dort funktioniert, wo es her kommt. Die Veränderung der Medea, ihre Einpassung in die patriarchal-rationale Ordnung, schreitet durch die Annahme der neuen Kleidung und eines neuen Kultobjektes, des jasonischen Körpers, fort und erreicht in der Szene des Beischlafs mit Jason, die den ersten Teil des Filmes beschließt, ihren Höhepunkt. Durch die Ankleidung von Töchtern des Pelias wird in einem performativen Akt die sichtbare Fremdheit Medeas getilgt. Sie wird den Töchtern des Pelias durch ein identisches Gewand angeglichen, den naßäugigen Gestalten, die um ihren Vater herumsitzen und ihre bedingungslose Abhängigkeit von ihm mit wimmernden Lauten bestätigen. Mit dem Gewand wird also auch eine bestimmte Frauenrolle an Medea herangetragen, eine Rolle, die von einer völligen Abhängigkeit von einem männlichen Pendant bestimmt wird. Den Abschluss der Transformation der Medea finden wir in der bereits angesprochenen Szene im Zelt. Die Nacktheit der Medea und ihr langer Blick, der auf dem Körper Jasons umherwandert, deuten auf das hingebungsvolle Ausgeliefertsein und auf die neue Ordnung hin. Mit diesem Blick löst sie sich aus der ganzheitlichen kosmologischen Ordnung als Götterpriesterin heraus und erhebt ihn, einen menschlichen Partner, einen profanen Mann, zu ihrem spirituellen Zentrum. Dieser Blick wiederholt die Verbindung von Begehren und Sakralität, die der Zuschauer bereits aus Medeas Blick auf das menschliche Opfer und das Goldene Vlies kennt. 20 Nach dieser Szene, die mit der freiwilligen Unterwerfung der Medea unter Jason endet, beginnt der klassische Teil des Films, der auf die Tragödie des Euripides zurückgreift und diese auf eine eigenwillige Weise adaptiert. Die ZuschauerInnen werden nun eingeführt in eine Welt, die semantisch mit Begriffen der Kultur, des Rationalen und Patriarchalen belegt ist. Es sind über zehn Jahre vergangen und wir befinden uns in Korinth. Die Landschaft Korinths wird nach außen durch die massive, geometrisch streng gebaute, abweisende Festung von Aleppo repräsentiert und im Inneren der Festung erkennen wir Camposanto Monumentale, den Friedhof in Pisa, der zusam- 18 Pasolini, Medea, 00: 48: 50-00: 52: 49. 19 Vgl. Iliade, Das Heilige und Profane. 20 Dazu: Ryan-Scheutz, Sex, the self, and the sacred. X. Korinth: die Welt des Profanen <?page no="203"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 203 men mit dem schiefen Turm von Pisa (der allerdings nicht gezeigt wird), dem Baptisterium und Dom, den Piazzo dei Miracoli schmückt. Abb. 5 Streng geometrische Formen, ein gepflegter Rasen, die Abwesenheit der Tiere und entsakralisierter Tanz, fallen als Gegenstücke zur Welt in Kolchis auf. Auch die Anordnung der Figuren im Raum ist eine diametral gegenteilige. Medea, die in Kolchis über der Stadt wohnte und am höchsten räumlichen Punkt, im Heiligtum, ihre Funktion hatte, wohnt vor den Toren der Stadt unterhalb der Festung. Männer der Stadt, Kreon und Jason, befinden sich in der Bildkomposition immer in einer höheren Position als sie. Diese Anordnung wird sich erst in der letzten Szene ändern, wenn Medea vom Dach des brennenden Gebäudes zum unten stehenden Jason spricht. Gleich am Anfang dieses zweiten Teils trifft Jason im Traum den zweigeteilten Erzähler des Prologs, der sich als zwei Konstituenten der Psyche Jasons zu erkennen gibt. Der sprechende und deutende Mensch ist der rationale Teil, der halbtierische stumme Kentaur, ist der ursprünglichere, tierische und emotionale Teil seiner Psyche. Der rationale Teil gibt Jason und den Zuschauern die theoretische Erklärung der Lage: die beiden Teile, die für das Profane und das Heilige stehen, existieren im modernen Menschen. 21 Der irrationale Teil der Psyche, der in der Kindheit wahrnehmungsdominant ist, bleibt bestehen, auch wenn sich die Rationalität ausgebildet hat. Es ist eben nicht so, wie der erste Prolog suggerierte, dass der tierische Teil verschwindet, er wird aber auch nicht integriert, er bleibt für sich bestehen. Der menschliche Erzähler erklärt Jason und den Zuschauern aus seiner Warte mit süffisantem Lächeln, dass Medea eine etwas altmodische Frau ist, die die Orientierung verloren hatte, was aber nicht bedeutet, dass Jason sie nicht liebe. Jason, der das Geschehen als Traum identifiziert, ist erschüttert von dem Bewusstsein, dass das Rationale das Irrationale nicht ganz verdrängen kann und dass er Liebe für Medea empfindet. Der Erzähler, der Verstand, gibt den Zuschauern hier wieder eine theoretische Deutungshilfe bezüglich der Geschehnisse und bezüglich der Zuschauer selbst. Die Existenz des Irrationalen, des Archaischen, des Spirituellen, des Kindlichen, des Weiblichen und des Anderen bedeutet in diesem Kontext nicht ihre In- 21 Pasolini, Der Traum des Centaur, S. 91. <?page no="204"?> Julia Koloda 204 tegration in ein Ganzes, sondern einen unauflösbaren Konflikt, auf den der Film ab jetzt unaufhaltsam hinstrebt. Durch den Verlust Jasons verliert Medea zum zweiten Mal ihr Zentrum. Sie wird dadurch so geschwächt, dass sie ihr Leben zu verlieren droht. Von den dienenden Frauen angesprochen, die hier wie in der euripideischen Tragödie die Partei für die Herrin ergreifen, bestätigt sie ihre Verwandlung von einer Priesterin des Volkes, die in einem größeren, kosmologischen und gesellschaftlichen Zusammenhang stand und eine gesellschaftsstiftende Funktion hatte, in eine orientierungslose, schwache Frau. Dieser Tiefpunkt erweist sich als Peripetie des Geschehens. In einer Vision, die als solche mit einem schwachen Bild der korinthisch gekleideten Medea markiert ist, stellt sie wieder ihre halbgöttliche Identität her, szenisch gestaltet durch die priesterliche Kleidung, eine wiedergewonnene aufrechte Haltung und die Rückkehr der Fähigkeiten mit den Naturelementen zu sprechen, hier mit der Sonne, ihrem Großvater. Abb. 6 Die fast identische Wiederholung der Szene des Todes der Kreusa wirkt wie ein Déjà-vu und verwirrt die ZuschauerInnen. Wir vermuten erst einen Defekt am Film, wenn wir uns nicht an die ‚Unlogik‘ des Films als einem traumähnlichen Geschehens erinnern. In diesen zwei fast identischen Szenen werden verschiedene Perspektiven auf die gleichen Ereignisse dargestellt. Einmal aus der Perspektive des archaischen Bewusstseins Medeas, welche die Zukunft sehen kann, weil die lineare Zeit für sie nicht von Belang ist und einmal aus der modernen Perspektive des Jason und der ZuschauerInnen in der Gegenwart. 22 Durch eine List lässt Medea ihrer kindlichen und unschuldigen Rivalin Kreusa tödliche Geschenke bringen. In der Wahrnehmung des magisch-archaischen Bewusstseins Medeas nehmen die Geschenke durch ihr Gift Kreusa das Leben. In der Wiederholung der Szene, die für die rationale, profane Wahrnehmung steht, stirbt Kreusa nicht am Zauber, sondern begeht Selbstmord aus 22 Pasolini, Medea, Medeas Wahrnehmung: 01: 07: 59-01: 19: 38; ‚moderne‘ Wahrnehmung: bis 01: 37: 24. X . Das enttäuschte und überwältigte Erwachen I <?page no="205"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 205 einer depressiven Verstimmung heraus. Den Tod der Kreusa bewirkt ihr eigenes Spiegelbild, das ihr durch das Kleid der Medea verdeutlicht, dass sie einer anderen Frau ihre Existenz geraubt hat, denn ihr Vater will Medea in die Verbannung schicken und damit dem Tod ausliefern. Der Mord an ihren Kindern ist Eingeständnis der Unmöglichkeit der Koexistenz der beiden Bewusstseinsarten. Medea ‚regrediert‘ in der Krise auf die magische Bewusstseinsstufe. Diese bietet tödliche Handlungsmuster, die den Anschein des Sakralen bewahren, für die Befreiung Medeas aus der gegebenen Situation. Die szenische Anordnung der rituellen Waschung der Kinder und das Legen des Feuers durch Medea verweisen auf die Sakralität der Handlungen, auf die Rückkehr Medeas und ihrer Kinder in die Welt des Helios aus Medeas Perspektive. Abb. 7 Abb. 8 Anders als bei den ersten beiden Tötungsszenen, ist hier kaum Gewalt vorhanden. Liebevoll, zu einem archetypischen Bild der Mutter Gottes verwandelt, hält Medea ihre Jungen im Arm, die mit ihren caravaggiotypischen Häuptern sowohl mit dem ersten Opfer in Kolchis als auch mit Medeas Bruder korrespondieren. Medea ist inszeniert wie eine Mutter Gottes, die sich das patriarchale Recht das Kind zu töten zurücknimmt und durch ihre Zugehörigkeit zum Geschlecht der Sonne um ihre wahre Unsterblichkeit im Kreislauf des Lebens weiß. Die Schlussszene offenbart die nichtmythologische Sicht auf die Situation der Medea: den Hass auf Jason und ihre absolute Verzweiflung, da sie hier anders als in der Tragödie des Euripides keinen Ausweg geplant hat. Das Erschütternde für die ZuschauerInnen, die um das Ende der euripideischen Tragödie wissen, ist der abrupte Schluss, der eher an einen Filmriss erinnert als an einen Filmschluss und ein eklatantes Gegenstück zu den langen Prologen bildet. 23 Es kommt kein Drachenwagen, es gibt keine Erhöhung Medeas in den Stand des göttlichen Geschöpfes und keine damit einhergehende Möglichkeit zur Distanzierung durch die ZuschauerInnen. Wir können uns nicht wie die antiken ZuschauerInnen von der halbgöttlichen Protagonistin im respektvollen Wissen um die Unbegreiflichkeit des Göttlichen abwenden. Es ist wie ein Filmriss oder ein Erwachen aus einem Traum, plötzlich und unwiderruflich. Medea ist keine Göttin und keine Halbgöttin, der Zauber und die Gespräche mit Göttern sind Konstruktionen ihres archaischen Bewusstseins. Der Mord an den Kindern ist aus Rache und aus einer masochistischen Hingabe an das Leiden geschehen. Für die ZuschauerInnen rückt sie damit in die Sphäre des lebensverneinenden 23 Michelakis, Greek tragedy on screen. <?page no="206"?> Julia Koloda 206 und nur menschlichen Wahnsinns, der nun als Kehrseite des naturverbundenen, spirituellen, matriarchalen Bewusstseins aufscheint. „Niente è più possibile, ormai“, - ‚nichts ist mehr möglich‘ - ist der letzte Satz der Medea. Ein harter Schnitt, es folgt das Bild der Sonne, die mit ihrem Auftauchen auf die Ambivalenz des Irrationalen (einerseits wärmende, andererseits verbrennende Seite) hinweist. Am Ende steht eine Unversöhnlichkeit zwischen der Rationalität und Irrationalität im Individuum, zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, der westlichen Gesellschaft und der Dritten Welt. Ihre zeitweise Koexistenz führte zu einer Katastrophe. Die stereotypen Attribuierungen, die Pasolini hier vornimmt, stellen den Film in die Tradition des weißen, männlichen Blicks auf das geschlechtlich und kulturell Andere mit sowohl positiven (Fruchtbarkeit, Naturnähe, Spiritualität) als auch negativen Projektionen und Zuschreibungen. Der Mythos ‚Medea‘ wird für die Kritik an der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung Italiens genutzt, aber auch als Spiegel einer individuellen Entwicklung. Die Sympathielenkung auf Medea, die Annäherung an ihre Welt, die durch das Verdichtungsprinzip auch als Teil der sakralen Dimension der ZuschauerInnen inszeniert wird, verknüpft mit der gleichzeitigen ambivalenten Identifikation der ZuschauerInnen mit Jason, machen die dramatische Spannung in diesem bildgewaltigen filmischen Traumexperiment aus. Das Ende enttäuscht wieder die Erwartungen des Publikums: es bietet keine Möglichkeit zur Integration der aufgemachten Felder, aber auch nicht zu einem kritischen Hinterfragen der traditionellen Stereotypen. Die ZuschauerInnen werden zu Zeugen der bleibenden, unaufgelösten Spannung im Zeichen der fehlgeschlagenen kulturellen Hybridität und einer ebensolchen innerhalb der psychischen individuellen Prozesse. Nichtsdestotrotz bleibt dieses Stück der filmischen Kunst nach ästhetischen Kriterien eines der schönsten der Filmgeschichte. <?page no="207"?> Pier Paolo Pasolini, Medea 207 Filmographie Medea. Produktion: Janus Film und Fernsehen/ Les Films Number One/ San Marco, Deutschland/ Frankreich/ Italien, 1969. Regie: Pier Paolo Pasolini. Drehbuch: Pier Paolo Pasolini nach Euripides. Kamera: Sergio Salvati. Musik: Elsa Morante, Carlo Tarchi. Darsteller: Maria Callas (Medea), Giuseppe Gentile (Jason), Laurent Terzieff (Kentaur), Paul Jabara (Pelias), Massimo Girotti (Kreon), Margareth Clémenti (Glauke/ Kreusa). Bibliographie Eigler, Ulrich, Bewegte Antike. Antike Themen im modernen Film. Stuttgart 2002. Frazer, James, The Golden Bough. London 1976. Iliade, Mircea, Das Heilige und Profane. Vom Wesen des Religiosen. Frankfurt/ M. 1984. Jungheinrich, Hans-Klaus, „Überhöhung und Zurücknahme. Musik in den Filmen Pasolinis“. In: Pier Paolo Pasolini. Hg. v. Hans-Klaus Jungheinrich. München 1983, S. 35-49. Michelakis, Pantelis, Greek tragedy on screen. Oxford 2013. Pasolini, Pier Paolo, „Das Kino der Poesie“. In: Pier Paolo Pasolini. Hg. v. Hans-Klaus Jungheinrich. München 1983. ---, Der Traum des Centaur. Dialoge 1968-1975. Berlin u. St. Petersburg 2002. Pasolini, Pier Paolo u. Franca Faldini, Lichter der Vorstädte. Die abenteuerliche Geschichte seiner Filme. Hofheim 1986. Poskin, Candy, Real Life is Elsewhere (http: / / reallifeiselsewhere.blogspot.de/ 2013/ 06/ iconmaria-callas.html, Stand: 09.08.2014). Ryan-Scheutz, Colleen, Sex, the self, and the sacred. Women in the cinema of Pier Paolo Pasolini. Toronto 2007. Steimatsky, Noa, Italian Locations. Reinhabiting the Past in Postwar Cinema. Minneapolis, MN 2008. Stephan, Inge, Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln 2006. Syrimis, Michael, „Pasolini’s Erotic Gaze from Medea to Salò“. In: Italica, 89.4 (2012), S. 510- 532. Zimmermann, Bernd, „Fremde Antike? - P.P. Pasolinis Medea“. In: Bewegte Antike. Antike Themen im modernen Film. Hg. v. Ulrich Eigler. Stuttgart 2002, S. 55-66. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Pasolini, Medea, 00: 08: 35 Abb. 2: Pasolini, Medea, 00: 23: 15 Abb. 3: Pasolini, Medea, 00: 28: 11 Abb. 4: Pasolini, Medea, 00: 23: 14 Abb. 5: Pasolini, Medea, 01: 01: 03 Abb. 6: Pasolini, Medea, 01: 07: 45 Abb. 7: Pasolini, Medea, 01: 40: 02 Abb. 8: Pasolini, Medea, 01: 43: 52 <?page no="209"?> Hanno Ehrlicher Als Francisco Franco Bahamonde, der ‚Caudillo‘, der Spanien seit dem Ende des Bürgerkriegs als oberste Staatsautorität geführt hatte, nach einer monatelangen, von den Massenmedien intensiv begleiteten Agonie, am 20. November 1975 schließlich starb, erwachte das Land aus einer regelrechten Schockstarre und geriet wieder in Bewegung. Es trat in eine äußerst dynamische Phase des gesellschaftlichen Systemwandels ein, die weg von der autoritären Diktatur, hin zur Demokratie führte. Die sogenannte Transición begann. Schon in diesem Begriff vom Übergang steckt die Behauptung, Geschichte als eine zielgerichtete Bewegung begreifen zu können. Im Rückblick auf diese bewegte Zeitspanne ist die Frage nach den entscheidenden Akteuren des politischen Wandels nach wie vor umstritten, kaum aber die Bewertung des politischen Erfolgs der Transición. Trotz sich häufender kritischer Stimmen wird die Transición immer noch mehrheitlich als eine Erfolgsgeschichte erzählt, als die gelungene „Wiedergeburt“ Spaniens „in einem demokratischen Europa“ 1 und als heroischer Gründungsakt für ein modernes, pluralistisches Staatswesen, das spätestens ein Jahrzehnt nach den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1992 mit der Austragung der Expo in Sevilla und den Olympischen Spielen in Barcelona stolz seine Modernität der ganzen Welt zur Schau stellen konnte. Wenn die Transición den politischen Aspekt der Gesellschaftsentwicklung Spaniens in den Jahren zwischen 1975 und 1982 bezeichnet, dann stellt die Movida den damit korrespondierenden Begriff für die Ereignisse im Bereich der Kultur dar. Anders als im Falle der Transición bezeichnet der Terminus, der ursprünglich aus der Umgangssprache stammt, inzwischen aber auch im offiziellen Wörterbuch der Real Academia Española lexikalisiert ist, 2 eine intransitive, nicht gerichtete Bewegung. Wäh- 1 So beispielsweise Mauersberger, „Blutiger Morgen“, S. 19. Zur Geschichte der Transition gibt es inzwischen eine kaum überschaubare Forschungsliteratur, auch in deutscher Sprache. Exemplarisch sei hier nur verwiesen auf die Studien von Bernecker/ Collado Seidel, Spanien nach Franco, sowie Haubrich, Spaniens schwieriger Weg in die Freiheit. 2 Movida ist das weibliche Partizip Perfekt des Verbs ‚mover‘, wurde aber wohl schon in den ausgehenden 1970ern als ein Nomen mit eigener Semantik verwendet, um den Ereignischarakter eines bestimmten Vorfalls hervorzuheben, wobei es sich sowohl um eine unwillentliche, irritierende Störung bzw. ein Durcheinander handeln kann („qué movida“) als auch um bewusst organisierte außergewöhnliche Begebenheiten wie z.B. das Beschaffen von Rauschmitteln und deren anschließender Konsum („Vamos a hacernos una movida“). Zur Begriffsklärung vgl. Nolte, Madrid bewegt, S. 49-54. Julia Nolte hat den ersten systematischen Versuch einer Geschichte der Movida in deutscher Sprache vorgelegt. Daneben ist für ein adäquates Verständnis nach wie vor die als Polyphonie von Interviews mit den Zeitzeugen konzipierte Monographie Iván Zulueta, Arrebato I. Eine Gesellschaft in Bewegung: Transición und Movida in Spanien <?page no="210"?> Hanno Ehrlicher 210 rend die Transición ihre Bedeutung aus der Veränderung von einem Zustand in einen davon radikal unterschiedenen anderen Zustand gewinnt, ist mit der Movida der Zustand des Bewegtseins an sich gemeint und eine Ereignishaftigkeit bezeichnet, die als selbstständiger Eigenwert behandelt wird und keine zusätzliche Bestimmung verlangt. Das Korrespondenzverhältnis zwischen politischer Transición und kultureller Movida erweist sich also schon sprachlich als ein durchaus spannungsvolles. Während die Handlungslogik des Politischen nach dem Transitus Francos vom Leben zum Tod auf einen Progress zielte - den Fortschritt zur Demokratie - berauschte sich der Teil der Kulturszene, den man seit Anfang der 1980er Jahre vor allem in Madrid als die Movida zu bezeichnen begann, im Kontext politischer Instabilität an seiner eigenen Ausdrucksfähigkeit und feierte sich selbst. Die Künstler der Subkultur, die ihre individuellen und kaum mehrheitsfähigen ästhetischen Vorlieben vor dem Tod Francos schon aus Zensurgründen nur klandestin und passiv in ihrer geschützten Privatsphäre entwickeln konnten, zeigten sich nun einer breiten Öffentlichkeit bzw. drängten mit Macht in diese Öffentlichkeit. Genau in dieser ostentativen, schamlosexhibitionistischen Selbstdarstellung lag die Provokation. Eine doppelte Provokation, denn der subkulturelle Habitus der Movida, der sich aus den unterschiedlichsten Einflüssen der internationalen Sub- und Gegenkulturen der 1970er speiste (mit deutlichen Schwerpunkten in London und New York), brach nicht nur mit den Konventionen der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch mit der Tradition direkt politisch engagierter Kunst, die im franquistischen Spanien als ein Akt des Widerstands gegen das Regime bis zuletzt eine wesentliche Rolle gespielt hatten. In Mitteleuropa, England und den USA war die sozialutopische revolutionäre Emphase von 1968 schon längst verebbt und der optimistische Kommunitarismus der Hippie-Bewegung war Proteststilen wie Punk, New Wave oder Glam-Rock gewichen, die sich eher in Posen narzisstischer Selbstbezüglichkeit und einem ausgeprägten Körperkult mit Hang zum Exhibitionismus und zur Transgression tradierter Genderrollen gefielen. Diese neuesten Entwicklungen der Gegenkultur setzten in Spanien nun mit Verspätung ein und erzeugten im gleichzeitigen Zusammenfluss dabei aber eine besonders komplexe und unberechenbare Stilmischung. Die Heterogenität dieser neuen subkulturellen Lebensstile, deren Pluralität man schon nach wenigen Jahren des Experimentierens Anfang der 1980er unter dem Etikett La movida erfolgreich als ein singuläres Spektakel und neues Label für Madrid zu vermarkten begann, ist schon deshalb nicht wirklich auf den Begriff zu bringen, weil der Ereignischarakter der frühen movidas sich ihrer systematischen Dokumentation und retrospektiven Analyse entgegenstellt. Wie jede Subkultur wird auch die Movida für Einblicke von außen erst greifbar, als sie sich bereits erfolgreich öffentlich in Szene gesetzt hatte und damit aber auch schon jene Dynamik ihrer gesellschaftlichen Institutionalisierung einsetzte, die am Ende dazu führte, dass die Geschichte der Movida seit der Jahrtausendwende immer stärker für museale Rückschauen und nostalgische Verklärungen einer vermeintlich von Gallero, Sólo se vive una vez, zu empfehlen. Eine gelungene Gesamtdarstellung der Movida bietet außerdem Dumousseau-Lesquer, La Movida. <?page no="211"?> Iván Zulueta, Arrebato 211 besseren Zeit instrumentalisiert werden kann. 3 Eine Instrumentalisierung, der sich die meisten der noch lebenden ehemaligen Akteure zwar aktiv zu entziehen versuchen, der sie aber gleichzeitig auch den Boden bereitet haben, indem sie sich als Zeitzeugen den Medien immer wieder zur Verfügung stellten und weiterhin noch stellen. Das gilt insbesondere für Pedro Almodóvar, dessen Verhältnis zur eigenen Movida durchaus ambivalent ist, da er sich einerseits der Reduktion seiner Person zum lebenden Mythos der Subkultur immer wieder explizit entgegenstellt, 4 andererseits aber die Konservierung der Movida im kulturellen Gedächtnis nicht zuletzt auch sein eigenes Werk ist bzw. der Effekt seiner frühen Spielfilme, allen voran Pepi Luci Bom y otras chicas del montón von 1980, in denen das Ambiente der Madrider Movida ja tatsächlich in Teilen fast dokumentarisch direkt dargestellt ist. Der Widerstand, den Pedro Almodóvar gegen die Verklärung des von ihm selbst mitbegründeten Movida- Stereotyps leistet, zeigt sich dabei weniger in Interviews und anderen Verlautbarungen, als vielmehr in einigen Filmen seines späten Werks, in denen er den Gestus des schrill überzogenen, karnevalesken Transvestierens, der seine frühe Produktion besonders kennzeichnete, kritisch hinterfragt und wesentlich pessimistischeren Reflexionen über Sex und Gender Raum gibt - was besonders deutlich in La mala educación (Schlechte Erziehung, 2004) und La piel que habito (Die Haut in der ich wohne, 2011) zu sehen war. Trotz allem bleiben die frühen Filme Almodóvars natürlich weiterhin gültige Referenzwerke für jede Beschäftigung mit der Movida. Nur sollte man darüber nicht die Vielseitigkeit der spanischen Subkultur in der frühen Phase des Postfranquismus vergessen und darf Almodóvars ebenso spielerische wie hedonistischexzentrische erste Filme nicht für das Ganze nehmen. Die Geschichte des Kinos der spanischen Movida(s) ist reichhaltiger und umfasst neben dem Frühwerk Pedro Almodóvars auch deutlich gemäßigtere, aber nicht weniger zeittypische Produktionen wie z.B. Fernando Colomos Tigres de papel von 1977 und ¿Qué hace una chica como tú en un sitio como éste? aus dem Jahr 1978. 5 Sie umfasst jedoch auch weit radikalere Produktionen. Iván Zuluetas 1979 produzierter und 1980 (im Cine Azul in Madrid) erstaufgeführter Film Arrebato ist ein solcher radikaler Film, weil er die kulturelle Aufbruchslogik der Movida ins Extrem treibt und auf einen äußersten Fluchtpunkt der Darstellung hin orientiert, einen Fluchtpunkt, von dem der Film handelt und aus dem es offenbar für Zulueta selbst kein Zurück mehr gab. Anders als die Karriere 3 Eine kritische Analyse dieser Tendenzen liefert Nichols, „From Counter-Culture to National Heritage“. 4 In Interviews stellte sich der Regisseur immer wieder gegen eine zu oberflächliche und vorschnelle Subsumierung seines Schaffens unter das Etikett der Movida. Stellvertretend sei nur folgende Aussage angeführt: „Con la palabra ‚movida‘ no sé bien a qué se refieren. Es un término que nosotros nunca aceptamos. Es difícil hablar de ello, porque nunca nos hemos reconocido en su definición. Lo de la ‚movida‘ es una creación de los medios de información” - „Ich weiß nicht genau worauf sich alle mit dem Ausdruck ‚Movida‘ beziehen. Das ist eine Bezeichnung, die wir nie akzeptiert haben. Es ist schwierig, darüber zu sprechen, weil wir uns nie mit dieser Definition identifiziert haben. Das mit der ‚Movida‘ ist eine Erfindung der Informationsmedien“; Vidal, El cine de Pedro Almodóvar, S. 39; eigene Übersetzung. 5 Bei Nolte, Madrid bewegt, werden Produktions- und Erscheinungsjahr nicht unterschieden, sodass auch das Erscheinen Arrebatos fälschlich auf 1979 datiert wird. <?page no="212"?> Hanno Ehrlicher 212 Pedro Almodóvars, der als Regisseur mit der Movida groß wurde und von der Integration von Elementen der Subkultur in den gesellschaftlichen Mainstream profitieren konnte, endete Zuluetas Schaffen beinahe völlig mit diesem zweiten Film im Spielfilmformat (der Erstling Un, dos, tres, al escondite inglés erschien bereits 1969). Für lange Zeit blieb es sein letztes Werk und ein Film, den nur sehr wenige Eingeweihte in einigen Großstadtkinos gesehen hatten. Erst mit zwei kleineren Fernsehproduktionen ließ Zulueta sich dann Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er kurz wieder sehen. 6 Und erst seitdem der Film nach Beginn des neuen Jahrtausends auch auf DVD vertrieben wird und damit leicht zugänglich ist, 7 stellt Arrebato keinen Geheimtipp mehr dar, sondern ist zu einem Film avanciert, der inzwischen unumstritten einen kanonischen Platz in der Geschichte des spanischen Films einnimmt. 8 Iván Zulueta 9 in Bezug zu Pedro Almodóvar zu setzen, ist angesichts der Zeitgenossenschaft der beiden Filmschaffenden, deren Werke und Lebensläufe sich in der Phase der Movida mehrfach kreuzten, nicht besonders originell. In der Forschung findet sich dabei ebenso die Behauptung vom Einfluss Zuluetas auf Almodóvar wie umgekehrt der Versuch, beide Regisseure geradezu als Antipoden zu behandeln. 10 Weder das eine noch das andere scheint mir jedoch ganz richtig, denn für wirklich nachhaltige Abhängigkeiten, ob positiver oder negativer Art, waren die Kontakte der zwei Künstler zueinander dann doch zu punktuell und vermittelt. Zwar ist es richtig, dass Zulueta in seiner Rolle als Graphiker und Filmplakatgestalter auch nach seinem vorläufigen Ende als Regisseur noch mehrfach für Almodóvar tätig war, 11 aber daraus muss sich noch keine größere Affinität in ästhetischer Hinsicht ableiten. Schließ- 6 1989 erschien „Párpados“ als ein Kapitel der von TVE produzierten Serie Delirios de amor, 1991 „Ritesti“ in der ebenfalls von TVE produzierten Reihe Crónicas del mal. Zur Filmographie Zuluetas vgl. Heredero, Iván Zulueta, S. 279-284, und Gómez Tarín, Guía para ver y analizar, S. 112f. 7 Der Film erschien zunächst 2004 als DVD in der zweiten Reihe der von der spanischen Tageszeitung El País als Beilage organisierten Sammlung „Un país del cine“. Seit 2010 wird der Film auch mit deutschen und englischen Untertiteln durch den Verleih Bildstörung vertrieben. 8 Neben der schon erwähnten Aufnahme des Films in die Reihe “Un país del cine“, zeigt sich der neue Status auch in der Tatsache, dass 2001 eine Abhandlung zu Arrebato in der Reihe Guía para ver y analizar erschien, wo vor allem kanonische Werke des Films zu finden sind. 9 Der volle bürgerliche Name des 1949 geborenen und 2009 verstorbenen baskischen Künstlers ist Juan Ricardo Miguel Zulueta Vergarajauregui. 10 Juan José Mendy beispielsweise reduziert Almodóvar in einem Interview darauf, „eine schlampige und entkoffeinierte Version von Zulueta“ zu sein (zitiert in Heredero, Iván Zulueta, S. 32). Als Antipoden werden beide gerne angesichts ihres ungleichen öffentlichen Erfolgs behandelt. Als ein Beispiel von vielen vgl. Losada, „Iván Zuluetas Cinephilia“. 11 Vgl. die Plakate zu Laberinto de Pasiones (1982), Entre tinieblas (1983) und ¿Qué he hecho yo para merecer esto? (1984). Zu Zulueta als Plakatgestalter vgl. Gómez Tarín, Guía para ver y analizar, S. 119-123 sowie Heredero, Iván Zulueta, S. 243-257 und S. 286f. II. Filmische Gegenkultur(en): Almodóvar und Zulueta als zwei ungleiche Stimm(ung)en der Movida <?page no="213"?> Iván Zulueta, Arrebato 213 lich war Zulueta als Plakatgestalter für eine ganze Reihe von Regisseuren tätig und entwickelte dabei unabhängig von der Bildsprache der illustrierten Filme seine eigene gestalterische Konzeption. Interessanter ist es dagegen, sich den kurzen Auftritt zu vergegenwärtigen, den Zulueta Almodóvar im Film Arrebato gewährt. Es ist ein bemerkenswerter Auftritt, weil Almodóvar dabei ganz auf seine Stimme beschränkt bleibt, die zur Synchronisierung der Rolle einer Freundin des Protagonisten Pedro P. eingesetzt wird. Pedro P. ist zu diesem Zeitpunkt bereits stark von der obsessiven Beschäftigung mit Filmexperimenten, die auf seine eigene Person bezogen sind, gezeichnet, er erscheint körperlich ausgemergelt und auch seine Stimme hat sich verändert und ist zunehmend heiser geworden. Bevor die filmischen Selbstexperimente Pedros aber ihr spektakuläres Ende erreichen, über das noch ausführlicher zu sprechen sein wird, kommt es zu einer kurzen retardierenden Szene durch den Auftritt einer ehemaligen Freundin, Gloria, die von Helena Fernán-Gómez gespielt, aber von Pedro Almodóvar gesprochen wird. 12 Iván Zulueta hatte Pedro Almodóvar bereits einige Jahre zuvor kennengelernt, zu einer Zeit, in der beide völlig abseits der kommerziellen Filmindustrie mit Super-8-Filmen experimentierten und in diesem Medium ihr je eigenes Imaginäres entfalteten und in narrative Formen brachten. 1975 führte der Baske beispielsweise die Kamera für den Kurzfilm El sueño, o la estrella, in dem Almodóvar selbst den Protagonisten darstellt, der davon träumt Billie Holliday zu sein. Schon hier dürfte Almodóvars Talent zur hysterisch überzogenen Travestierung tradierter Geschlechterrollen zum Zuge gekommen sein, das er - folgt man den Inhaltsbeschreibungen dieser heute praktisch nicht mehr zugänglichen Filme - in den meisten seiner Super-8-Produktionen ausspielte 13 und das er dann im Duett mit Fabio „Fanny“ McNamara Anfang der 1980er Jahre auch in musikalischen Auftritten zur Geltung brachte, bei denen er nachlässig im Bademantel und mit Netzstrümpfen bekleidet auf der Bühne des legendären Madrider Clubs Rock-Ola die hysterische Hausfrau mimte. 14 Ganz auf eine parodistische Übererfüllung von Weiblichkeit durch Übertreibung und Hysterisierung ist auch die Synchronisierung angelegt, für die Zulueta Almodóvar in Arrebato einsetzt. Gloria ist eine Figur aus der Vergangenheit, die, nicht zuletzt auch dank dieser stimmlichen Transvestierung, mit einer Movida-typischen Ästhetik des Camp verbunden wird. 15 Den Worten Susan 12 Zulueta, Arrebato, 01: 16: 28-01: 25: 46, bzw. Sequenzen 24 und 25 nach dem ursprünglichen Drehbuch von Zulueta, Guión cinematográfico, S. 81-88. 13 Ebenso wenig wie die Super-8-Kurzfilme des Regisseurs ist der erste, noch vor Pepi, Luci y Bom entstandene Langfilm Folle, folle, folleme, Tin von 1979, heute allgemein zugänglich. Kurze Inhaltszusammenfassungen bietet beispielsweise Kalt, „Pretty a Premier“. Zu Almodóvars Frühwerk vgl. außerdem die Artikel von Zurian, „Los inicios de Pedro Almodóvar”, und Seguin, „Pedro Almodóvar y la transición”. 14 Einige Auftritte des Duos lassen sich inzwischen auf Youtube problemlos besichtigen. Für eine Analyse einiger der Darbietungen vgl. Nolte, Madrid bewegt, S. 86f., S. 96-98, S. 149-151 u.ö. 15 Gloria stellt zugleich „eine der am stärksten herabgewürdigten Frauengestalten” dar und ist damit symptomatisch für die generell sehr negative Darstellung weiblicher Figuren in Arrebato, wie besonders Ciller, „Hacia una nueva interpretación de Arrebato”, angemerkt hat (Zitat S. 91). Dass eine Kritik des Films aus gendertheoretischer Perspektive nicht schon vorher geleistet wurde, ist aber vielleicht doch nicht unbedingt einer Verdrängung dieses Themas zuzuschreiben, wie die Interpretin vermutet, sondern eher der Tatsache, dass der misogyne Zug des <?page no="214"?> Hanno Ehrlicher 214 Sontags zufolge zeichnet sie sich vor allem durch „Liebe zum Übertriebenen, zum ‚Übergeschnappten‘, zum ‚alles-ist-was-es-nicht-ist‘“ aus, wozu auch „eine Vorliebe für die Übertreibung sexueller Merkmale und individueller Manierismen“ gehöre. 16 Die Sequenz vom nächtlichen Ausflug Glorias und Pedros, die den Protagonisten von seinem eigentlichen ‚Schicksal‘ kurzzeitig abbringt, 17 ist von Zulueta durch einen sehr harten, diegetisch nicht motivierten Schnitt eingeleitet und stellt nicht nur durch die musikalische Untermalung und das urbane Setting, das mit den sonst dominierenden Interieurs bricht, sondern insgesamt aufgrund der gesamten campigen Machart einen Fremdkörper dar. 18 Pedro Almodóvar hat diese Sequenz deshalb rückblickend in einem Interview als ästhetisch minderwertig abqualifiziert. 19 Zugleich handelt es sich jedoch auch um diejenige Filmsequenz, die dank seiner direkten persönlichen Beteiligung den eigenen Movida-Filmen ästhetisch am ähnlichsten ist. Unabhängig vom Geschmacksurteil Almodóvars, in dem auch ein Stück Einflussangst stecken mag, ist die Szene aber gerade dadurch interessant, dass sie wie ein Kontrastmittel wirkt, das beweist, dass der ästhetische Weg, den Zulueta mit Arrebato beschritten hatte, sich deutlich von der spielerisch-exaltierten Übertreibung der Camp-Ästhetik entfernte, die heute unser Bild der Movida weitgehend bestimmt. Susan Sontag hat in ihren „Anmerkungen zu Camp“ darauf hingewiesen, dass der Camp „sowohl die Harmonien der traditionellen Ernsthaftigkeit als auch die Risiken der rückhaltlosen Identifizierung mit extremen Gefühlslagen“ ablehne. 20 Zulueta selbst legt es mit Arrebato aber genau auf eine solche rückhaltlose Identifizierung mit dem Extremen an. Während der Exkurs mit Gloria, der einen Ausflug in die Welt sexueller Ausschweifung und Enthemmung darstellt, in der Inszenierung der Frau als männerverschlingendem ‚Vamp‘ kulminiert (Abb. 1), ist die Apparatur der Kamera, die Pedro quasi das Leben aussaugt, nur metaphorisch-strukturell ein Vampir. Genau im Verzicht auf theatralische Kostümierung und artifizielle Übertreibung liegt aber die eindringliche Wirksamkeit des Schreckens, den das von Zulueta nicht parodistisch behandelte Phantastische auslöst. Weil Zulueta sich mit dem Protagonisten Pedro P. und dessen extremen Gefühlen tatsächlich identifizieren konnte, leiht er diesem alter ego, der im Film von Will More gespielt und in Teilen auch gesprochen Films so offensichtlich ist, dass man nicht notwendig das Instrumentarium der Gendertheorie benötigt, um ihn zu erkennen. Umgekehrt wird es dem Film aber kaum gerecht, ihn ganz auf seine misogynen Aspekte zu reduzieren. 16 Sontag, „Anmerkungen zu ‚Camp‘“, S. 326f. 17 Vgl. Pedros Kommentar der Situation: „de nuevo me alejaba de mi destino“ - „erneut entfernte ich mich von meinem Schicksal“; Zulueta, Arrebato, 01: 21: 54-01: 21: 56, bzw. Zulueta, Guión cinematográfico, S. 87, und eigene Übersetzung. 18 Zulueta, Arrebato, 01: 21: 57-01: 25: 46. 19 Im Dokumentarfilm Arrebatados von 2010, der zunächst im Fernsehen lief und inzwischen auch auf youtube zu besichtigen ist, äußert Almodóvar sich folgendermaßen: „La parte cuando el personaje de Will More decide disfrutar de los placeres urbanos, esta parte es la que menos le gustaba a Iván; y también creo que es la parte que se conserva un poco peor“ - „Der Teil, in dem Will More sich entscheidet, die Lüste der Großstadt zu genießen, dieser Teil gefiel Iván am wenigsten; und auch ich glaube, dass es der Teil ist, der sich am schlechtesten gehalten hat“: vgl. http: / / www.youtube.com/ watch? v=urBq6JL2U0w, letzter Aufruf am 15.07.2014. 20 Sontag, „Anmerkungen zu ‚Camp‘“, S. 335. <?page no="215"?> Iván Zulueta, Arrebato 215 wird, auch die eigene Stimme, als dieser sich immer mehr in Selbstexperimente hineinsteigert, die schließlich tödlich enden werden. Diese fremde Stimme kommt in doppelter Hinsicht tatsächlich von anderswo, denn sie ist physisch die Stimme eines anderen Körpers (Zuluetas), aber auch metaphysisch die Stimme des Anderen, das nicht direkt repräsentiert werden kann und das Zulueta deshalb im nur indirekt erschließbaren Fluchtpunkt des Filmischen aufsuchen möchte. Seine eigene, auf den Effekt des Unheimlichen angelegte Synchronisierung der Rolle könnte mit der pa rodistischen, auf Gendertravestie angelegten Synchronisierung der Gloria durch Almodóvar also kaum deutlicher kontrastieren. Abb. 1: Pedros Freundin Gloria als männerverschlingender ‚Vamp‘ Dass Zulueta der Technik des Synchronisierens, die im Spanischen doblaje heißt und damit schon sprachlich als eine Form der Verdoppelung gekennzeichnet ist, enorme Bedeutsamkeit zumaß, wird auch dadurch deutlich, dass dieses Thema mehrfach explizit angesprochen wird. Zum ersten Mal in komischer Form im Gespräch, das die Tante von Marta (Carmen, gespielt von Carmen Giralt) mit José Sirgado führt (neben Pedro P. der zweite Filmschaffende im Film und ein weiterer Protagonist, gespielt von Eusebio Poncela); 21 ein zweites Mal und ernsthafter dann im Gespräch Josés mit seiner Freundin Ana Turner (gespielt von Cecilia Roth), wenn sich diese darüber beschwert, dass sie in Josés Film synchronisiert werden soll. 22 Gerade an diesen Stellen lässt sich im Vergleich zwischen Filmversion und Drehbuch, in dem die Synchronisierungsthematik noch nicht so ausgearbeitet war, 23 zeigen, wie intensiv Zulueta in seinem Film Leitmotive verdichtet. Über das Thema der filmischen doblaje wird das Thema der unheimlichen Selbstverdoppelung, das den Film als ganzen durchzieht, gespiegelt, und zwar konsequenterweise in zwei parallelen Szenen, die nicht nur von der Verdoppelung handeln, sondern auch gleichzeitig filmintern ein thematisches Doppel bilden, und zwar ein jeweils in sich gespaltenes oder ambivalentes Doppel. Im ersten Fall kontrastiert die komische Verwunderung der etwas 21 Zulueta, Arrebato, 00: 25: 20-00: 25: 50. 22 Ebd., 00: 46: 00-00: 46: 20. 23 In der ersten der beiden Sequenzen (Sequenz 8, im Hause Pedros) ist im Drehbuch zwar auch schon die Thematik der anderen Stimme präsent, aber nicht so deutlich wie in der Endfassung. In Sequenz 17 (im Auto) wurde die Synchronisierungsproblematik ganz neu hinzugefügt. Vgl. Zulueta, Guión cinematográfico, S. 43-49, sowie S. 64f. - <?page no="216"?> Hanno Ehrlicher 216 bizarren Tante von Marta nämlich mit dem unheimlichen Auftauchen von Pedro, dem José zum ersten Mal intensiv durch dessen Spiegelbild begegnet, das sich als Reflex auf dem Bildschirm des Fernsehens zeigt. Im zweiten Fall wiederum stellt die Szene selbst - eine Autofahrt Josés mit seiner Freundin Ana aufs Land, um dort Dreharbeiten zu realisieren - eine variierende Wiederholung der ersten Autofahrt mit Marta dar. Die Vermutung Josés, dass Ana wegen der Synchronisierung ihrer eigenen Stimme narzisstisch gekränkt sein könnte und um ihre Einzigartigkeit besorgt ist, erhält durch die Tatsache, dass Ana für den Zuschauer ja tatsächlich in gleicher Position wie zuvor Marta zu sehen ist und so als deren Ersatz erscheint, einen hintergründigen doppelten Boden. Es ist diese Art, zentrale Motiv- und Bildkomponenten intensiv zu wiederholen und so zu einem regelrechten Komplex zu verdichten, die dem Film seinen besonderen Charakter verleiht und ihn für viele seiner Zuschauer so faszinierend macht. Über den Umweg der Stimme haben wir uns schon der Struktur des Films genähert, die mit der Problematik der Selbstverdoppelung auf ein Thema verweist, das in der Gattung des Phantastischen eine zentrale Rolle spielt. 24 Das Phantastische ist nun aber ein weites Feld. Um den Film noch präziser einem Genre zuzuordnen, hat man vor allem die Gattung des Vampirfilms vorgeschlagen. 25 Einen Grund dafür bietet die Tatsache, dass der Filmemacher José Sirgado, mit dessen Schaffenskrise der Film in der ersten Sequenz der Haupthandlung einsetzt (nach dem kurzen Prolog, der Pedro P. beim Verschicken seines letzten Päckchens zeigt und der später noch einmal fast identisch wiederholt werden wird), gerade an einem solchen Vampirfilm arbeitet. 26 Er sitzt im Schneideraum, wo auch ein Filmplakat seines ersten Spielfilms - „La maldición del hombre lobo“ - zu sehen ist, und streitet mit seinem Cutter über die richtige Montage des Films. Während der Regisseur die letzte Einstellung des Films genau an der Stelle enden lassen will, als der weibliche Vampir direkt in die Kamera blickt (Abb. 2), hält der Cutter ein solches Bild für wertlos, weil es seiner Auffassung nach gegen die Regeln der Wahrscheinlichkeit verstößt. Zulueta schreibt seinen eigenen Film so von Anfang an in eine Genreschablone ein, allerdings auf eine Art und Weise, die diese Schablone zugleich problematisiert und überschreitet. 24 Todorov, Introduction, S. 121-123. 25 Vgl. dazu Mira, „The Dark Heart of the Movida“. Der Autor erkennt allerdings neben dem Genre der Vampirgeschichten noch eine „second referential matrix“ des Films im Märchen von Peter Pan (S. 162). 26 Zulueta, Arrebato, 00: 02: 11-00: 05: 34, bzw. Guión cinematográfico, Sequenz 1, S. 27-31. III. Arrebato als ein unheimlicher Film jenseits der Genrekonventionen <?page no="217"?> Iván Zulueta, Arrebato 217 Abb. 2: Der ‚falsche‘ Blick der Vampirin in José Sirgados Film Denn trotz aller Abweichung von den Voraussetzungen empirischer Wirklichkeit, die beim Vampirfilm selbstverständlich nicht gültig sind, bleibt der ‚normale‘ Vampirfilm dennoch den im industriellen Hollywoodkino etablierten und perfektionierten erzählerischen Konventionen des Realismus treu. Dazu gehört natürlich auch die Berücksichtigung der unsichtbaren ‚vierten Wand‘, deren Aufrechterhaltung für den Illusionscharakter der Fiktion zentral ist. Da der Rollencharakter der Rolle verborgen bleiben muss, gilt es auch, Direktadressierungen an das Publikum und nicht diegetisch motivierte direkte Blicke in die Kamera zu vermeiden. Der Cutter kennt und respektiert diese Regeln, während Regisseur José Sirgado sie bewusst durchbricht, um zu einer Formensprache zurückzukehren, die vor der Etablierung des Hollywoodkinos zur Zeit des Stummfilms noch durchaus prominent war, beispielsweise in Fritz Langs Nosferatu, an dessen Ästhetik sich die kurze Sequenz von Sirgados Vampirfilm im Film recht deutlich orientiert. Sirgado arbeitet sich also offenbar an den Konventionen des industriellen Kinos ab, in dessen Rahmen er allerdings grundsätzlich arbeitet - weshalb er für sein Erstlingswerk denn auch Änderungen des Titels oder eben die Synchronisierung der Schauspielerin in Kauf nehmen musste, wie wir später erfahren. 27 Einen Weg aus der Krise weist Sirgado jedoch erst ein anderer - eben Pedro P., der ein Amateurfilmer ist, der im Super-8-Format ganz außerhalb des industriellen Kinos produziert und dabei auf der Suche nach dem richtigen Rhythmus bzw. der optimalen Funktion der Pause ist. José Sirgado wird von diesem anderen Filmemacher nun aber immer mehr an- und dann fortgezogen, wie es auch schon die Bedeutung seines Nachnamens (span. sirgar = ‚treideln‘) nahelegt. Der Vorname Sirgados wiederum - José - verweist auf die Ähnlichkeiten zu Pedro P., der seine letzte Sendung an José lediglich mit „P. P.“ firmiert, also mit den beiden Buchstaben, die einer beliebten spanischen Volksetymologie zufolge für die Abkür- 27 Um das Erstlingswerk von José Sirgado als ‚B-Movie‘ qualifizieren zu können, wie in der Forschung bisweilen zu lesen ist, werden zu wenig Informationen darüber geliefert. Klar ist aber, dass zwischen den von Sirgado erhobenen künstlerischen Ansprüchen und den ökonomischen Interessen der Produzenten offenbar Differenzen herrschen. In diesem Punkt unterscheiden sich allerdings ‚A-Movie‘ und ‚B-Movie‘ nicht notwendigerweise. <?page no="218"?> Hanno Ehrlicher 218 zung von José (=Joseph) als Pepe verantwortlich sind. 28 Auch Pedro spielt also quasi nur eine delegierte Rolle und kann natürlich nicht der eigentliche Schöpfer des Films sein. Iván Zulueta als dieser eigentliche Schöpfer hat wiederum seine sehr persönliche Filmästhetik nicht im Leben einer der beiden Protagonisten mimetisch als Rollenspiel repräsentiert, sondern sie im Verhältnis von Pedro P. und José Sirgado ausgedrückt, die sich, als zwei sich ähnliche Doppel ihres Schöpfers, gegenseitig spiegeln. Deshalb hält sich die Unheimlichkeit, die Arrebato bestimmt, auch nicht an die Grenzen eines bestimmten Genres, sondern überschreitet die Genrelogik. Sie ist struktureller Natur und verweist auf die grundsätzliche Problematik des Simulakrums. Der ‚einfach‘ fantastische Vampirfilm José Sirgados ist nur ein Element des komplexer fantastischen Vampirfilms von Iván Zulueta, in dem die Kamera am Ende wunderbarerweise zu einem eigenständigen Lebewesen wird, das menschliches Leben vernichten und in sich aufzunehmen vermag. Die Apparatur steht dabei wiederum für die vampirhafte Qualität, die dem Film generell als einem Medium zu eigen ist, das Lebendigkeit nur deshalb zu simulieren vermag, weil es von echter Darstellung getragen ist - dies zumindest ist die These eines Films, bei dem Zulueta alles aufbot, was ihm an Energie und Imaginationsfähigkeit zur Verfügung stand. Das avantgardistisch-experimentelle Filmschaffen Pedro Ps. und der Genrefilm des im Filmgeschäft tätigen José Sirgado verschränken sich also zu einem Komplex aufeinander verweisender ähnlicher Bilder. Die Dynamik ergibt sich dabei aus der sich bei beiden Figuren steigernden und bis zur Abhängigkeit führenden Identifikation mit dem jeweils anderen. Pedro P. wirkt dabei als die antreibende Kraft, die José Sirgado seine intimen Bilderwelten eröffnet und ihn am Ende mit Hilfe des Sogs dieser Bilder zu einer völligen Selbstaufgabe treibt. Durch den Prolog des Films und seine Rolle als erzählerische Leitfigur ist Pedro P. von Anfang an präsent und bestimmt paradoxerweise durch sein eigenes Ende das ganze Geschehen. Seine Kommentare aus dem Off erklären sich handlungslogisch als die Tonbandaufnahmen, die José Sirgado zusammen mit Pedros letztem Super-8-Film als Paket erhalten hat. Sie strukturieren die gesamte Diegese des Films, der die erzählte Zeit nicht chronologisch-linear abschnurren lässt, sondern im ständigen Wechsel zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsebene seine Handlung eher spiralförmig entfaltet. Da eine genaue narratologisch-formale Analyse des Films die Grenzen dieses Beitrags sprengen würde und auch schon vorliegt, 29 soll lediglich mit einer schematischen Darstellung der Sequenzen und ihrer zeitlogischen Zuordnung die grundsätzliche Erzählstruktur des Films verdeutlicht werden (vgl. Anhang). Die Dynamik der Handlung ergibt sich aus der immer intensiver werdenden Beziehung der beiden Protagonisten, die zwar (homo-)sexuell konnotiert ist, aber nie konkret körperlich gezeigt wird, sondern stets eine medial durch Bilder vermittelte Intimität bleibt. Pedro P. ist dabei nicht nur als entscheidender Bilderlieferant akti- 28 Joseph war bekanntlich nicht der leibliche, sondern nur der soziale Vater Jesus, also lateinisch der pater putativus, oder auch abgekürzt p. p., was in spanischer Aussprache dann ‚Pepe‘ ergibt. Dass diese Volksetymologie nicht wissenschaftlich korrekt ist, schmälert nicht die Wirksamkeit ihrer Funktion für den Film. 29 Gómez Tarín, Guía para ver y analizar, S. 25-27. <?page no="219"?> Iván Zulueta, Arrebato 219 ver, sondern auch ungleich ambivalenter als José Sirgado. Zunächst erscheint er kindlich-unschuldig, solipsistisch, asexuell und geradezu infantil-abhängig. Er hat trotz seines fortgeschrittenen Alters offenbar kaum soziale Kontakte und wohnt noch im Hause seiner Tante; und auch in seinen technischen Möglichkeiten als Filmkünstler erweist er sich als äußerst limitiert. Umso größer ist seine Begeisterung, als er mit Hilfe des Timers, den ihm José Sirgado schenkt, eine Apparatur an die Hand bekommt, mit der er nun endlich konsequent seine Rhythmusstudien kontrollieren kann. Aufgrund der kindlich-naiven Züge der Figur hat die Forschung das Namenskürzel Pedro P. auch als eine Anspielung auf den ewig jungenhaften Peter Pan gedeutet. 30 Auf der anderen Seite verfügt Pedro P. aber über unheimlich-magische Kräfte, sexuelle Triebenergie und entwickelt eine geradezu diabolische Verführungskraft. Das zeigt sich vor allem dann, wenn er mit seinen Puppen agiert. So zieht er in seiner ersten Begegnung José in seinen Bann, als er mit Hilfe einer Spielzeugpuppe offenbar den Fluss der Fernsehbilder beschleunigt, die dieser auf dem Bildschirm sieht. 31 Zu einer damit korrespondierenden Puppenszene kommt es auch beim zweiten Zusammentreffen zwischen Pedro und José, der diesmal in Begleitung Ana Turners ins Haus auf dem Lande kommt. Pedro reagiert zunächst skeptisch auf das Paar, dem er vorwirft, alt und unfähig für „arrebatos“ zu sein. 32 Diese Vermutung wird allerdings widerlegt, als Ana unbeweglich auf einem Stuhl vor einer Betty-Boo- Puppe sitzen bleibt und offenbar für mehrere Stunden regelrecht aus der Zeit gerissen wird. 33 Ähnlich wie in der ersten Puppenszene wird auch hier das kinematographische Dispositiv (José auf der Couch gegenüber des Fernsehbildschirms bzw. Ana, die einer Puppe gegenübersitzt, die vor der weißen Wand postiert ist und dank eines Lichtstrahls hell beschienen wird) mit veränderter Zeitwahrnehmung verschränkt. ‚Kino‘ ist für Pedro P. ganz offenbar keine Reproduktionsmaschinerie zur mimetisch-illusionistischen Wiedergabe von Wirklichkeit, sondern ein Instrument magischer Wahrnehmungsveränderung - ganz im Sinne der Aussage Martas, die ihren Bericht über das merkwürdige Filmschaffen ihres Cousins mit dem Wortspiel resümiert, für diesen sei „cine“ eben „alucine“, also halluzinogen. 34 Schon hier ist ausgesprochen, was der Film im weiteren Verlauf in aller Konsequenz zu demonstrieren versucht: kinematographische Bilder vermögen eine derart starke emotive und psychische Wirkung zu entfalten, dass sexuelle Extase und selbst härteste Drogen wie Heroin dagegen nur schwache Substitute darstellen. 30 Vgl. insbesondere Mira, „The Dark Heart of the Movida“. 31 Zulueta, Arrebato, 00: 25: 50-26: 57, bzw. die Beschreibung im Guión cinematográfico, S. 47. 32 Ebd., 00: 51: 47-00: 51: 54, Zulueta, Guión cinematográfico, S. 66: „no estáis para apuros y arrebatos... un poco cascados“. In der tatsächlichen Filmfassung dagegen lautet der Dialog etwas anders: „no estáis para pausas y arrebatos“ - „Ihr seid nicht mehr bereit für Pausen oder Freudentaumel“ (so die deutsche Untertitelung). 33 Zulueta, Arrebato, 00: 53: 54-00: 55: 01. 34 „Para Pedro el cine es eso... alucine“; Zulueta, Arrebato, 00: 19: 45-00: 19: 53. Leider entgeht dieser signifikante Witz der deutschen Untertitelung, die übersetzt “Für meinen Cousin ist Film... eben F I L M“. <?page no="220"?> Hanno Ehrlicher 220 Gert Mattenklott hat in einem sehr schönen kulturanthropologischen Essay schon vor längerem das Phänomen des ‚gefräßigen Auges‘ beschrieben, das zeigt, das unter der unseren Alltag dominierenden disziplinierten Praxis des Sehens auch noch tief verwurzelte Wünsche nach Einverleibung herrschen, die sich in den optischen Ekstasen eines nicht mehr streng kontrollierten, faszinierten und gleichsam oralisierten Sehens Bahn brechen können: Es gibt ein Bedürfnis nach Einverleibung, dessen originäres Organ die Augen sind. Essen, Trinken, Sexualität können dieses Bedürfnis nur ins Uneigentliche verschoben befriedigen, allenfalls vertretend, nie buchstäblich [...]. In der Denkform der Psychologie gesprochen: das Auge ist hier einmal nicht das symbolische Zeichen für Vagina, Anus oder Mund, sondern diese sind hier Symbole des Auges bzw. eines Triebs nach Einverleibung, der genuin nur visuell, also durch Bilder befriedigt werden kann. 35 Zuluetas Film zeigt dieses Phänomen mit einer selten erreichten Radikalität, eben dadurch, dass er den Ersatzcharakter der Lust, die aus körperlicher Sexualität und aus der Wahrnehmungserweiterung durch Drogen gewonnen werden kann, im Vergleich zu diesem primären und durchaus übersinnlichen Bildertrieb mit aller Direktheit behauptet und eine sich steigernde Bildersucht inszeniert, die bis ins Extrem rückhaltloser Selbstaufgabe führt. Die Steigerung lässt sich an drei Schlüsselsequenzen verdeutlichen, die jeweils die Wirkung filmischer Bilder ins Zentrum stellen. Dem ersten gemeinsamen Bildergenuss, an dem Pedro José teilhaben lässt, geht der gemeinsame Konsum von Kokain voraus. 36 Nachdem José schon zuvor mit Marta Kokain geschnupft hat, verwendet nun auch Pedro diese Droge, um den Kontakt zu José herzustellen und diesen an sein eigentliches Ziel - die Bilder - heranzuführen, wobei das Zeigen von Alben mit Klebebildchen, die den Abenteuerfilm Solomon’s Mines illustrieren, nur die Vorstufe zur Vorführung seiner eigenen Filmproduktion ist. Die lässige Distanziertheit, die Pedro den Drogen gegenüber aufbringt (er nimmt weniger Kokain als ihm angeboten wird und bezeichnet das Pulver später ausdrücklich als „Scheiße“ 37 ), kontrastiert mit seiner Distanzlosigkeit gegenüber den Bildern, die ihn regelrecht in Konvulsionen versetzen. Der von Pedro zuvor als gemeinsame Kindheitserinnerung evozierte ekstatische „arrebato“, der durch das Betrachten der Klebebildchen ausgelöst wurde, wird nun direkt in seinen körperlichen Konsequenzen gezeigt. Wir werden als Zuschauer zusammen mit José Zeugen einer Szene, die durchaus Anklänge an das Phänomen der mystischen Ekstase durch innere Visionen 35 Mattenklott, „Das gefräßige Auge“, S. 230. Zur visuellen Inszenierung des gefräßigen Auges vgl. Schmidt-Burkhardt, Sehende Bilder, S. 185-194. 36 Zulueta, Guión cinematográfico, Sequenz 11, S. 56-58. 37 „Lo que yo acabo de hacer es igualar nuestros ritmos. Mi ritmo de ahora mismo, el de este instante, es casi igual al tuyo - por culpa de esta mierda que hemos tomado - (señala los polvos), y a pesar de eso“; „Ich habe gerade unsere Rhythmen angeglichen. Wegen und trotz der Scheiße, die wir genommen haben (er zeigt auf die Pulverreste) ist mein Rhythmus jetzt, in diesem Augenblick, gleich dem deinen“; Zulueta, Guión cinematográfico, S. 54, und eigene Übersetzung. IV. Bildertrieb und Kinematographie: der Fluchtpunkt des Films <?page no="221"?> Iván Zulueta, Arrebato 221 hat, wie sie so eindrucksvoll von Santa Teresa in ihrem autobiographischen Lebensbericht beschrieben und dann von Bernini in einer Statue plastisch umgesetzt wurde. Was Santa Teresa von ihrer eigenen Ekstase bzw. dem raptus 38 anlässlich der Vision eines sie mit der Lanze penetrierenden Engels behauptet, nämlich dass dabei lustvolle Schmerzen ausgelöst würden, die nicht körperlicher Natur seien, sondern geistiger, obgleich der Körper daran einen entscheidenden Anteil habe, 39 lässt sich wohl auch für die kinematographisch bedingte körperliche Verzückung Pedros sagen. Im Kommentar zur Szene bezeichnet er seine Lust an den eigenen Filmen als einen sexuellen Orgasmus, der jedoch wiederum im Vergleich zu den späteren optischen Ekstasen, die ihn ja ganz wörtlich aus dem eigenen Körper reißen werden, nur eine schale Ersatzlust gewesen sei. 40 Dass Zulueta selbst in derartigen Analogien dachte, wird im Übrigen auch durch den Bericht gestützt, dass er seinen Film zunächst nach dem berühmten Villancico der Heiligen Teresa von Ávila Vivo sin vivir en mi (Ich lebe, doch nicht mehr in mir) titulieren wollte, womit derartige Anklänge an die Mystik ganz explizit geworden wären. 41 Auch bei der zweiten Filmvorführung, die Pedro P. beim Besuch Josés mit Ana gibt, werden wir Zeugen des „arrebatos“, in den die Bilder Pedro versetzen, wobei diesmal ganz explizit der Wunsch nach Einverleibung als Antrieb seiner Ekstase deutlich gemacht wird, wenn Pedro wie ein berauschter Bacchus mit weit aufgerissenen Augen und mit wilder Mähne Weintrauben in sich schlingt. 42 Während wir als Zuschauer in diesen beiden Szenen der Filmvorführung im Film aber noch weitge- 38 Dem lateinischen Ausdruck für das Phänomen des raptus entspricht im Spanischen entweder der Terminus arrobamiento oder eben arrebato. Zur gnoseologischen Analyse der mystischen Körperekstase, die von Thomas von Aquin ausführlich theologisch behandelt wurde, vgl. den Kommentar von Téllez, „Introducción“. 39 „In den Händen des mir erschienen Engels sah ich einen langen goldenen Wurfpfeil, und an der Spitze des Eisens schien mir ein wenig Feuer zu sein. Es kam mir vor, als durchbohre er mit dem Pfeile einigemal mein Herz bis aufs Innerste, und wenn er ihn wieder herauszog, war es mir, als zöge er diesen innersten Herzteil mit heraus. Als er mich verließ, war ich ganz entzündet von feuriger Liebe zu Gott. […] Es ist dies kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz, wiewohl auch der Leib, und zwar nicht im geringen Maße, an ihm teilnimmt“ (Das Leben der heiligen Theresia von Jesu, S. 281). 40 „Toda mi vida, por aquel entonces, era como una gran paja, sin corrida... aunque yo, en el fondo, creía que correrse era aquello” - „Mein ganzes Leben war damals wie eine große Wichserei ohne zu kommen... obwohl ich im Grunde glaubte, dass ‚zu kommen‘ genau das bedeutete”; Zulueta, Guión cinematográfico, S. 58 und eigene Übersetzung. 41 Ich entnehme diese Information einer Aussage von Marta Fernández Muro aus dem Dokumentarfilm zur Entstehung des Films, Arrebatos, der in der DVD-Version von Arrebato als Bonusmaterial beigegeben ist, hier 00: 42: 47-00: 43: 15 Zum Gedicht der Heiligen Theresia vgl. García Mateo/ Tietz, „Teresa de Avila: Vivo sin vivir en mí“. 42 Vgl. Sequenz 18. Das Verhalten Pedros beschreibt das Drehbuch wie folgt: „Babea de placer, hasta que por fin devuelve todo lo que acaba de ingerir. Con la projección cada vez más cerca, se entrega a un paroxismo que, al acabar la película, lo deja totalmente descompuesto... pero feliz“ - „Er sabbert vor Lust, bis er am Ende wieder ausspuckt was er zuvor geschluckt hat. Immer näher an der Filmprojektion, gibt er sich einem Anfall hin, der ihn nach Beendigung des Films total fertig hinterlässt... aber glücklich“; Zulueta, Guión cinematográfico, S. 69, und eigene Übersetzung. <?page no="222"?> Hanno Ehrlicher 222 hend auf Distanz zu den kinematographischen Bildern selbst bleiben, die nur in sehr kurzen Fragmenten und meist in größerer Entfernung (durch long shots) zu sehen, und durch die diegetische Handlung eingerahmt sind, kommt es überraschenderweise erst nach dem Abschluss der zweiten Filmvorführung zu einer regelrechten medialen Mise en abyme des Filmischen. Immer noch in voller Verzückung, kündigt Pedro nach der Beendigung seines Films die Weiterführung seiner Experimente an und eine zukünftige Reise, die alle Pforten des Unbekannten öffnen soll: Der Spiegel wird seine Pforten öffnen und wir werden... das... (er nießt) das... das... DAS ANDERE erblicken. Also haltet alle inne... Welt, halte inne. Welt, halte inne, ich komme! 43 Unmittelbar darauf setzt nun aber ein Bilderfluss ein, dem wir nun plötzlich ganz distanzlos ausgesetzt sind und der meist einzelne Details in grobkörnigen Großaufnahmen bzw. close ups zeigt. 44 Durch eine treibende, durch Perkussionsinstrumente bestimmte musikalische Untermalung, wird die Wirkung des sich ständig wandelnden Bildkontinuums 45 gesteigert und entfaltet so einen regelrechten Sog, bis dieser durch abruptes Aussetzen von Bild und Ton dann plötzlich zwei Mal in kurzer Folge unterbrochen wird. Diese Unterbrechungen stören unvermittelt auch die Wahrnehmung des Zuschauers, denn dieser kann sich im ersten Augenblick den Grund der ‚Blackouts‘ nicht erklären und zweifelt zunächst an der Zuverlässigkeit des Filmmaterials oder des Projektionsapparats. Ohne permanenten Fluss von Bild und Ton kann der Film - unabhängig von den dabei dargestellten diegetischen Inhalten - seine Illusionskraft nicht entfalten und ist eben kein Film, wie wir als Betrachter zwei Mal unsanft selbst erfahren müssen. Was man im ersten Moment, sobald das eigene Nachdenken einsetzt, als technisch-unfreiwillige Störung bzw. als einen Fehler der Bildmontage zu erklären versucht ist, wird allerdings gleich nach der Störung beim Wiedereinsetzen der filmischen Diegese rückwirkend motiviert: gezeigt wird nun José, der in seiner Wohnung in einem Sessel sitzt und offenbar aus seiner tiefen Versunkenheit aufschreckt, während Ana im Hintergrund die Nadel des Plattenspielers manipuliert. Der vorangegangene Bilderfluss kann nun interpretiert werden als Abbildung der inneren psychischen Bilder Josés, der träumte oder unter der Wirkung eines seiner Herointrips steht. 46 Der Film im Film, der im Übrigen eine direkte filmische Weiterverarbeitung von Materialien aus den privaten Super-8-Produktionen des Regisseurs darstellt, leistet so die Verbindung zwischen der Ebene der Vergangenheit 43 “El espejo abrirá sus puertas y veremos el...el...estornuda...¡LO OTRO! Asi es que...¡QUIETOS TODOS! ... ¡QUIETO MUNDO! ¡que voy! “; Zulueta, Arrebato, 00: 58: 44-00: 58: 59, bzw. Guión cinematográfico, S. 70. 44 Sequenz 19, 00: 59: 00-01: 00: 09. 45 Der Film, der Pedros Reise ‚dokumentiert‘, zeigt keine nachvollziehbare Handlung, sondern ist als kontinuierliche Metamorphose von Formen gestaltet, wobei die einzelnen wahrnehmbaren Formen aber gegenständlicher Natur sind und vom Zuschauer leicht identifiziert werden können, weil sie „berühmten Punkten der internationalen Geographie des Tourismus“ entsprechen, wie das Drehbuch formuliert (Zulueta, Guión cinematográfico, S. 70). 46 Den Heroinkonsum Josés dokumentiert Zulueta mit akribischer Genauigkeit in Sequenz 4, Arrebato, 00: 14: 19-00: 16: 00. <?page no="223"?> Iván Zulueta, Arrebato 223 und der Gegenwart der Diegese und überschreitet dabei zugleich eine lineare Logik von Zeitlichkeit. Er kann als beides zugleich interpretiert werden, als die filmische Abbildung der Reise, die Pedro für die Zukunft angekündigt hatte, und als die Abbildung der Halluzinationen, die José während einer Trance oder eines Drogen-Trips erlebt. Und weil er beides zugleich sein kann, aber nicht eindeutig nur eines ist, bildet der Film zugleich eine ganz eigene Wirklichkeit jenseits der Diegese aus. Die vorangegangene komische Unterbrechung der Rede des enthusiasmiert-berauschten Pedros durch einen Schluckauf korrespondiert so mit einer für den Zuschauer wesentlich unangenehmeren kinematographischen Störung, die uns Einsicht in den Charakter filmischer Bilder als täuschende Simulakren verschafft. Meiner Ansicht nach ist Arrebato genau an dieser Stelle, in der konsequenten Mise en abyme des Filmischen, auch an seinem eigentlichen Höhepunkt angelangt, bzw. an dem Punkt, den Pedro einmal als den anzustrebenden „Fluchtpunkt“ („punto de fuga“) seiner Filme bezeichnet und mit der „Pause“ identifiziert. 47 Schon mit der Sequenz im Montagestudio hatte Zulueta ausdrücklich auf die technische Grundlage der Kinematographie verwiesen und dabei gezeigt, dass der Schnittpunkt eine genau lokalisierbare Stelle ist, an der das Bildmaterial geschnitten wird, um dann mit anderen geschnitten Bildern wieder zusammengesetzt werden zu können. Der Fluchtpunkt dagegen, der den Schneideprozess quasi ideell bestimmt, ist als Fachterminus der Kinematographie definiert durch das, was sich nicht direkt materiell verorten lässt, weil es sich zwischen den Bildern befindet. 48 Genau dieses ‚Zwischen‘, das auch eine geradezu metaphysische, jedenfalls aber die Logik einer realistischen Diegese sprengende Verbindung zwischen Pedro und José schafft, wird im Film im Film als Unterbrechung und Leere für den Zuschauer wahrnehmbar. José Sirgado hatte bei seinem Film den Fluchtpunkt in dem gesucht, was sich zwischen dem Blick der Vampirin und dem Zuschauer ereignet. Dieses Schlussbild greift Arrebato mit dem eigenen Schlussbild wieder auf, wenn er uns das verbundene Gesicht José Sirgados erst als einfaches Bild zeigt, dann aber abschließend als ein projiziertes Filmbild kenntlich macht, und damit die Medialität der Bilder noch eimal hervorhebt (Abb. 3 u. 4). Abb. 3 und 4: José Sirgado wird von der Kamera ‚erschossen‘ und zum Bild 47 Zulueta, Guión cinematográfico, S. 53. 48 Ich greife hierbei auf die Definition Valentin Fernández-Tubaus zurück, El cine en definiciones, Barcelona 1965, S. 137: „el punto de fuga es lo que estaría (o lo que no estaría) entre dos planos“. Das Zitat ist entnommen aus Vilarós, El mono del desencanto, S. 259. <?page no="224"?> Hanno Ehrlicher 224 Es ist dies eine abschließende Verbindung ähnlicher, aufeinander verweisender Bilder, die weder eine zirkuläre Rückkehr zum Anfang bedeutet noch eine logische Entwicklung zum Abschluss bringt, sondern die sich eher in einem heillosen und haltlosen Prozess sich immer neu erzeugender Simulakren befindet. Zwischen dem formalen Anfang des Films und seinem formalen Schluss wurde zwar eine phantastische Geschichte entfaltet, in welcher der Hunger nach anderen Bildern (Pedro) bzw. nach den Bildern des Anderen (José) als Suche und als Sucht inszeniert wird, bei der beide Protagonisten letztlich zu Opfern werden. Pedro wird in einer phantastischen Anthropomorphisierung der unbelegten Apparatur von der Kamera leibhaftig ‚aufgenommen‘, und José wiederum wird in einer weiteren Verwörtlichung filmtechnischer Metaphorik Opfer der ‚Schüsse‘ der Kamera. Es konnte dies aber kein wirklich befriedigender Schluss sein für Iván Zulueta, denn ihm ging es gerade um die Dynamik des Bildertriebs, der strukturell nicht ans Ende kommen kann, weil seine Befriedigung immer nur vorläufiger Natur ist. Allen Berichten zufolge hätte der Regisseur die Arbeit an der Montage des Films nach dem Drehen dementsprechend am liebsten auch noch viel weiter ausgedehnt als man es ihm zugestand. Was Sucht ist und dass sie sich nicht leicht befriedigen lässt, wusste Zulueta selbst zu diesem Zeitpunkt nur allzu gut. Seine eigene Heroinabhängigkeit, die wohl schon während der Dreharbeiten zu Arrebato eingesetzt hatte, führte zu einer krankhaften Sucht, die erst durch ein langjähriges Methadonprogramm überwunden wurde und auch nicht ohne Folgen blieb. Es gehört zwar zum ‚Kult‘ um den Kultfilm Arrebato, das Ende des (bzw. der beiden) fiktionalen Protagonisten mit dem Leben Zuluetas in Verbindung zu bringen, der als Regisseur nach seinem zweiten Spielfilm ja quasi ‚gestorben‘ sei, aber derartige Dramatisierungen durch unnötige Kurzschlüsse zwischen Autobiographie und Fiktion hat der Film an sich nicht nötig. Sie verdecken eher den in Arrebato eingeschriebenen Komplex der Simulakren als ihn zu erklären. Die beiden cinephilen Helden des Films sterben ja nicht einmal innerhalb der Fiktion ‚wirklich‘, sondern werden als regelrechte Bild-Opfer umgekehrt zu einem integralen Bestandteil des Mediums, das eben nie Wirklichkeit sein, sondern nur deren Schein erzeugen kann. Sie überleben im und als Schein. Zum anderen blieb Zulueta als Mensch und Künstler auch nach Drehschluss weiterhin sehr lebendig (was in den Zeiten von AIDS und massivem Drogenkonsum in den 1980ern unter den Künstlern der Movida ja auch keine Selbstverständlichkeit war). Dass sein Schaffen einige Jahre lang nur wenig öffentliche Resonanz erzielte, ist sicher bedauerlich, aber auch keine Tragödie und nicht ungewöhnlich für experimentellere Filmschaffende, die dem Mainstream nicht zu folgen bereit waren. 49 Arrebato bleibt jedenfalls auch unabhängig von der Biographie seines Regisseurs bemerkenswert durch die Radikalität der in ihm erprobten Filmsprache. Sie reicht an die Wurzeln der medialen Bedingungen des Films und der anthropologischen Gründe unserer menschlichen Bildersucht gleichermaßen. 49 Heredero, Iván Zulueta, S. 211-215, hat Recht, wenn er den ‚Fall‘ Zulueta entdramatisiert und betont, dass der Regisseur wie viele andere Vertreter eines marginalen Kinos während der Transición kurze Zeit am Rande des kommerziellen Filmbetriebs zu gewisser Prominenz gelangte, dann aber in eine Krise geriet und aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand. Zuluetas Weg war also keineswegs einzigartig, sondern eher symptomatisch für seine Zeit. <?page no="225"?> Iván Zulueta, Arrebato 225 Filmographie Arrebato. Produktion: Nicolás Astiárraga P.C., Spanien, 1979. Erstaufführung Cine Azul, Madrid, 9 Juni 1980. Regie: Iván Zulueta. Drehbuch: Iván Zulueta. Kamera: Àngel Luis Fernández. Musik: Negativo, Iván Zulueta. Darsteller: Eusebio Poncela (José Sirgado), Cecilia Roth (Ana), Will More (Pedro P.), Marta Fernández-Muro (Marta), Carmen Giralt (Tante Carmen), Helena Fernán-Gómez (Gloria), Antonio Gasset (Cutter), Max Madero (Stricher), Javier Ulacia (Angestellter des Fotoladens), Rosa Crespo (Vampir), Luis Ciges (Pförtner). DVD (spanisches Original mit deutschen und englischen Untertiteln und Bonusmaterial): Bildstörung 2010. Bibliographie Bernecker, Walter L. u. Carlos Collado Seidel (Hrsg.), Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie. München 1993. Ciller, Carmen, „Hacia una nueva interpretación de Arrebato (Iván Zulueta, 1980): hacer visible lo invisible“. In: El cine y la transición política en España (1975-1982). Hg. v. Manuel Palacio. Madrid 2011, S. 86-102. Dumousseau-Lesquer, Magali, La Movida. Au nom du père, des fils, et du ‘todo vale’. Marseille 2012. Gallero, José Luis, Sólo se vive una vez. Esplendor y ruina de la movida madrileña. Madrid 1991. 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Im Hintergrund sind Kirchenglocken bis in die Eingangshalle des Kinos hinein hörbar, verleihen dem am Nachmittag menschenleeren Raum eine sakrale und zugleich morbide Atmosphäre. Jacek wendet sich ab und geht. Der Kinobesuch - eine verpasste Chance. In dreierlei Hinsicht darf diese Eingangsszene als programmatisch gewertet werden: Der Kinobesuch Jaceks spielt mit der Erwartungshaltung der Zuschauer. Der Protagonist findet sich im Vorraum zum Kinosaal. Die gedehnte Antwort der Kassiererin deutet auf die gedehnte, physisch fordernde Zeit des folgenden Geschehens im Film voraus. Dies betrifft insbesondere die gewalttätigen Szenen von Mord und Hinrichtung. Gewalt im Film ist ja eigentlich attraktiv 1 - Jacek möchte einen Krimi und keinen Liebesfilm sehen. Doch Gewalt im Film steht andererseits in einem komplexen Verhältnis zu realer Gewalt, bildet diese keinesfalls spiegelbildlich ab oder fordert gar zu einer Wiederholung auf. Ein Mörder sieht vor der Tat keinen Krimi. Die Eingangsszene des im Kino abgewiesenen Jaceks lässt vielmehr Raum für die spekulative Frage: Wäre Jacek auch zum Mörder geworden, wenn ihm vom Kinobesuch nicht abgeraten worden wäre? Zweitens liefert die Begegnung der beiden Personen hier wichtige Charakteristika für die Figurenanalyse des gesamten Films: Der Mörder ist eine fremdbestimmte, unmündig agierende Person, die trotz des eigenen Interesses am Film sich rasch abweisen lässt und die Meinung der Kassiererin kritiklos übernimmt. Zugleich findet eine wirkliche Begegnung zwischen beiden nicht statt, es gibt kaum Blickkontakt, Kassiererin und Kinobesucher treten als Isolierte und Einsame auf. Für Kieślowski ist das Kino in seinen Interviews aber ganz im Gegenteil ein Ort der Gemeinschaft. 2 1 Röser geht von der „metaphorischen Beziehung zu den sozialen Konflikten und Interessenkonstellationen“ aus, die Zuschauer in medialer Gewalt wiederfinden könnten. Röser, Fernsehgewalt, S. 51. So gesehen bedeutet Jaceks Abwendung vom Kinofilm eine gezielte Unterwanderung des Deutungsschemas, mediale Gewalt stifte zu realer Gewalt an. Das Gegenteil ist hier der Fall. 2 Vgl. Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 281. Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten I. Ein Mörder geht ins Kino <?page no="230"?> Franz Fromholzer 230 Die Abweisung an der Kinokasse impliziert folglich einen gesellschaftlichen Ausschluss. Und schließlich unterstreicht der unternommene Versuch eines Kinobesuchs den hohen Reflexionsgrad, mit dem im Film über das Medium Film nachgedacht wird - mit dem Medienkritik betrieben wird, aber auch die Möglichkeiten eines sozial engagierten Kinos ausgelotet werden. Filmplakate, Fotographien, Schlagertexte, Kirchenglocken: Die mediale Inszenierung eines Mordes und die Artifizialität des Geschehens sind über den moralischen Appell des fünften Gebots hinaus implizites Thema in Kieślowskis Werk von Anfang an. Drei Personen bestimmen Kieślowskis Dekalog 5, der zugleich in einer Langversion für das Kino unter dem Titel Ein kurzer Film über das Töten 1988/ 89 produziert wurde. Es sind dies der Mörder Jacek, der Taxifahrer Waldemar und der Rechtsanwalt Piotr. Der angehende Rechtsanwalt Piotr befindet sich zu Beginn des Films unmittelbar vor seinen letzten Examensprüfungen. Nicht er selbst wird von der Kamera als erstes eingefangen, es ist ein Spiegel, den die Kamera erfasst und in dem der Jurist nun in einer Nahaufnahme sichtbar wird. Abb. 1 Den Spiegel umfasst ein goldener Rahmen, er gibt dabei aber nur den Oberkörper Piotrs wieder. Das gesamte Spiegelbild wird von Schwärze dominiert, Gesicht und Hände des Anwalts sind allerdings gut ausgeleuchtet. Aus dem Off ist seine Stimme vernehmbar, er macht sich Gedanken über Strafe und Recht. Als Piotr ausführt, dass Strafe Rache sei, sehen wir sein Spiegelbild, das sich an den Hals fasst. Bereits hier werden Vorausdeutungen auf den weiteren Verlauf der Handlung getroffen. Piotrs Name wird dann aufgerufen, er tritt in den Prüfungsraum ein. Es folgt die Einführung des Taxifahrers und zukünftigen Opfers. Der Taxifahrer tritt durch eine Drehtür, deren Glasscheiben sein Spiegelbild zeigen. Das Spiegelbild ist in der Kamera-Aufnahme zugleich so platziert, dass der schwarze Balken der Drehtür auf die dunkle Augenhöhle des Protagonisten zuführt. Im Hintergrund leuchten gelblich die Fenster der Wohnbausiedlung mit ihrer potentiellen, unsichtbaren Beobachterschaft. <?page no="231"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 231 Abb. 2 Allein Augen, Nase und Mund sind im spiegelnden Glas vor dem dunklen Drehkreuz klar erkennbar. In der Türdrehung wird dieses Spiegelbild jedoch rasch verzerrt, die Tür öffnet sich ganz, das Spiegelbild ist verschwunden - und der Taxifahrer tritt auf. Jemand wirft mit einem Putzlappen nach ihm, der Lappen verfehlt ihn jedoch knapp. Verfahren der Vorstellung des ersten Protagonisten werden beim Taxifahrer in gewisser Weise wiederholt, aber auch variiert. Sowohl der Rechtsanwalt als auch der Taxifahrer erscheinen zuerst als Spiegelbild vor der Kamera, das allerdings ausschnitthaft auf Gesichtszüge und Körper beschränkt ist. Sehen wir uns als Drittes die erste Einstellung an, mit der Jacek den Film betritt. Abb. 3 Jacek ist doppelt zu sehen. Seine dunklen Umrisse spiegeln sich im Schaukastenglas des Kinos, seine Gesichtszüge sind nicht zu erkennen. Gut zu erkennen ist jedoch ein Filmplakat, bei dem eine Frau ihren Blick auf Jacek und sein Spiegelbild zu richten scheint. Geradezu ein Spiel mit Spiegelbildern, 3 wie häufig im Werk von Kieślowski festgestellt: Jaceks Silhouette fügt sich harmonisch in die körperlichen Konturen der abgebildeten Schauspielerin. Diese auffällige Dominanz von Spiegelungen und Spiegelbildern in der Einführung der Protagonisten kann nicht allein als demonstrative Markierung gewertet werden, dass die im Film vorgeführte Wirklich- 3 Vgl. Dalla Rosa, La fascination, S. 18. <?page no="232"?> Franz Fromholzer 232 keit als eine medial vermittelte, eine reflektierte und gezielt selektierte zu begreifen sei. 4 Mit der durchgängigen Verwendung von Spiegelungen im Film rekurriert Kieślowski natürlich auch auf religiöse Deutungsmuster, die durch die zehn Gebote als fester Rahmen des Zyklus vorgegeben sind. Die sichtbare Welt, so die Vorstellung in metaphysischen Weltbildern bei Platon oder auch bei christlichen Denkern, sei lediglich Spiegel der unsichtbaren, göttlichen Wirklichkeit. Während das unsichtbare Göttliche selbst nicht wahrgenommen werden könne, sei es doch in der Welt als seinem Spiegelbild für den Menschen sichtbar. Diese starke Betonung der Bedeutung von Spiegelbildern für das menschliche Erkennen wandelt sich jedoch bereits im 18. und 19. Jahrhundert stark. Zusehends werden in Spiegelbildern Ich- Projektionen erkannt, reduziert sich das Erkenntnispotential des Spiegels auf Selbsterkenntnis und Individualität. Gerade im 20. Jahrhundert kann das Fragmentarische und Verzerrende des Spiegelbildes das Krisenhafte eines sich selbst problematisch gewordenen Subjekts symbolisieren, worauf Almut-Barbara Renger hingewiesen hat. 5 Für Kieślowskis Film gilt dies in besonderer Weise: Handelt es sich doch um eine Produktion aus dem Polen der 80er Jahre, das von starker ökonomischer, gesellschaftlicher und religiöser Verunsicherung geprägt ist. 6 An die platonische Tradition anknüpfend hat Anna Melon-Regulska allerdings auch angesichts der Dominanz der Spiegelbilder von einer Todessymbolik gesprochen, da diese auf eine Trennung von Körper und Seele vorausweisen würde. 7 Die Handlung des Films ist schnell erzählt: Der 21-jährige Jacek tötet im Warschau des Jahres 1988 einen Taxifahrer ohne erkennbare Motivation und wird dafür zum Tod verurteilt. Der junge Rechtsanwalt Piotr setzt sich als Gegner der Todesstrafe engagiert für ihn ein, kann aber die Hinrichtung nicht verhindern. Soweit der Plot. Zugleich liefert der Film aber auch das Porträt einer Gesellschaft in der Krise. Das Spannungsverhältnis von gesellschaftlicher Stagnation und als ziellos wahrgenommener Veränderung ist in Dekalog 5 in fast jeder Szene spürbar. Ziellos streift Jacek durch Warschau, „an anti-social and dangerous loner“, 8 erst in der langen Mordszene gerät sein Sich-Treiben-Lassen zum Stillstand. Dem stehen die zielgerichteten, geradlinigen Bewegungen der Beamten, Wärter und Henker in den endlos langen Gängen des Gefängnisses gegenüber. Diese Zielgerichtetheit ist das herausragendste Charakteristikum der Geschlossenen Anstalt ‚Gefängnis‘, sie korreliert auf 4 „As in Kieślowski’s previous work, glass serves to self-consciously foreground the act of looking.“ Insdorf, Double Lives, S. 91. 5 Vgl. Renger, „Spiegel“, S. 358. 6 Gerade von polnischer Seite wurde Kieślowskis Gestaltungswille später, als er im Westen große Erfolge feierte, als manieristisch disqualifiziert: „Häufig wurde ihm der Hang zu Kunstgewerbe und Manierismus vorgeworfen hinsichtlich der Bildkomposition (Gebrauch starker Filter; häufige Spiegelungseffekte; Rahmung der Bilder durch Aufnahmen durch Fenster und Türen; Lichteffekte durch Nahaufnahmen von gläsernen Requisiten), der pathetischen Filmmusik (insbesondere in BLAU) sowie der allzu häufigen Wiederholung zentraler Motive.“ Klejsa, Ästhetische Diskurse, S. 427. 7 Vgl. Melon-Regulska, „Dostrzec niewidzialne“, S. 124. 8 Insdorf, Double Lives, S. 94. <?page no="233"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 233 seltsame Weise mit den ziellosen Bewegungen Jaceks und des Taxifahrers im städtischen Raum. Kieślowski hat die den Film überschattende triste Stimmung durch schwarzen Humor erträglicher zu machen versucht: Fröhliche Kinder winken Jacek und Waldemar zu, als sie zum Mordschauplatz fahren. Amerikanische Firmenwerbung von Marlboro bis Viking leuchtet dem Filmbetrachter im Taxiinneren allgegenwärtig entgegen. Sie sorgt so für kapitalistische Reizsignale während der brutalen Mordszenen. Schließlich lehnt Jacek Filterzigaretten vor der Hinrichtung ab und plädiert für den wahren Genuss - also ohne Filter. 9 Die Bedeutung des comic reliefs für den Film ist kaum zu überschätzen. Denn das ernste, engagierte Anliegen droht als mit moralisch erhobenem Zeigefinger vorgetragene Anklage der Todesstrafe die Qualitäten des Films ganz zu verdecken. Die Todesstrafe wurde in Polen erst 1989 suspendiert. Im Folgenden soll zunächst Dekalog 5 vor dem Hintergrund des Dekalog-Zyklus verständlich gemacht werden, um das Spannungsverhältnis von biblischen Geboten und filmischer Umsetzung präziser fassen zu können. Die Dreharbeiten für die Dekalog-Reihe dauerten vom März 1987 bis zum Juni 1988 insgesamt 16 Monate. 10 Jede Folge wurde also in etwa 20 Tagen abgedreht. Das Drehbuch hatte Kieślowski gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Krzysztof Piesiewicz verfasst. Piesiewicz war in einem Warschauer Museum auf einen gotischen Altar gestoßen, auf dem die zehn Gebote in szenischen Bildern dargestellt waren. Die symmetrische Anordnung faszinierte Piesiewicz und er schlug Kieślowski eine filmische Umsetzung der Gebote für das Polen der Gegenwart vor. „Alles, was in den Bibliotheken zu finden war, haben wir gelesen - eine Unmenge von Interpretationen der Zehn Gebote, Abhandlungen und Kommentare“, behauptet Kieślowski. Und er fährt fort: „um dann rasch zu entscheiden, dieses ganze Wissen beiseite zu lassen.“ 11 Schon früh waren damit Formen moralischer Belehrung und religiöser Unterweisung für das Gesamtkonzept der Reihe ad acta gelegt. Die Lebenswirklichkeit im Polen der 1980er Jahre, die Kieślowski in Interviews als chaotisch und für den Einzelnen als undurchschaubar und unberechenbar beschreibt, 12 bilden die Hintergrundfolie, vor der nach der Relevanz der uralten menschlichen Gebote gefragt wird. Von großer Bedeutung für die kritische Rezeption des Werkes in Polen war gerade, dass sich die beiden Autoren dazu entschlossen, der konkreten Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart des Landes aus dem Weg zu gehen. Kieślowski bemerkt hier- 9 Hierbei handelt es sich auch um eine ironische Anspielung auf die Kameraführung, denn es ist allein die Hinrichtungsszene, die ohne Farbfilter gefilmt wurde. Vgl. Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 296. 10 Vgl. hierzu Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 273. 11 Kieślowski/ Piesiewicz, Dekalog, S. 12. 12 Vgl. Chervel, „Gegen den Tod“. II. Die Dekalog-Reihe: Altes Testament und Dilemma-Situationen im Polen der 1980er Jahre <?page no="234"?> Franz Fromholzer 234 zu lakonisch: „Wenn alles ringsum zerfällt, lohnt es sich, zu den grundlegenden Fragen zurückzukehren. Übrigens, es ist immer ein guter Zeitpunkt für die Erinnerung an den Dekalog. Diese Anweisungen existieren seit ungefähr 6000 Jahren, niemand hat sie jemals in Frage gestellt, und gleichzeitig brechen wir alle diese Gebote tagtäglich seit Tausenden von Jahren.“ 13 Die zehn Gebote als Titel der Filmreihe legen eine Rezeptionserwartung und Rezeptionslenkung fest, die als eine Art intellektuelles Spiel verstanden werden kann. Denn die einzelnen filmischen Umsetzungen der Gebote stehen überwiegend lediglich in assoziativer Verbindung mit den alttestamentarischen Vorschriften. Visualisiert werden in erster Linie Dilemma-Situationen, die den Zuschauer zur selbständigen Reflexion herausfordern. In Dekalog 2 erwartet eine Frau ein Kind von ihrem Liebhaber - während ihr Mann von Krankheit gezeichnet im Sterben liegt. Sie entscheidet sich, dass Kind abtreiben zu lassen, sollte ihr Mann gesund werden. Falls ihr Mann jedoch stirbt, will sie das Kind zur Welt bringen. Das zweite Gebot lautet bekanntlich: ‚Du sollst den Namen Deines Herrn nicht missbrauchen.‘ Sowohl die von der Frau eigenverantwortlich vorgenommene Entscheidung, als auch die Gott gleiche Position des behandelnden Arztes, werden mit dem zweiten Gebot in herausfordernder Weise in Verbindung gebracht. Dekalog 3, um ein weiteres Beispiel zu nennen, beginnt mit einem Telefonanruf an Heiligabend. Janusz, liebevoller Familienvater und Ehemann, erhält einen Anruf seiner früheren Geliebten Ewa, die vorgibt, dass ihr Mann verschwunden sei. Janusz lässt seine Familie unterm Weihnachtsbaum zurück und unternimmt mit Ewa eine Suche durch das nächtliche und fast menschenleere Warschau, von der Notaufnahme des Krankenhauses bis zur Ausnüchterungszelle. Am Ende der vergeblichen Suche erzählt Ewa, dass sie von ihrem Mann schon vor Jahren verlassen worden sei und am Heiligabend die Einsamkeit nicht mehr ausgehalten habe. Das dritte Gebot, ‚Du sollst den Feiertag heiligen‘, wird als Gebot der Sonntagsruhe und Sonntagsfrömmigkeit in den Kontext einer modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft versetzt, die vor allem durch Einsamkeit und Bindungslosigkeit gekennzeichnet ist. Der Fokus richtet sich auf individuelle Schicksale, ihre Schwierigkeiten und Dilemma-Situationen. Das Herz-Stück bildet jedoch zweifelsohne Dekalog 5, bei dem jene assoziative Verbindung mit dem fünften Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ nicht gegeben ist. Žižek hat in seinem Kieślowski-Buch The Fright of Real Tears aus psychoanalytischer Perspektive luzide darauf hingewiesen, dass zwischen negierendem Gebot und folgender Imagination ein Zusammenhang bestehe. Die imaginative Reaktion auf das Verbot bestehe gerade in der Negation jenes Verbots. Eine filmische Umsetzung des fünften Gebots „Thou shalt not kill“ könne deshalb folglich nur „Kill! “ bedeuten. 14 Gemeinsam ist all diesen Episoden der Schauplatz, die Warschauer Trabantensiedlung Ursynów, die erst Ende der 1970er Jahre gebaut worden war und zur damaligen Zeit als vorbildlich galt. 15 Piesiewicz und Kieślowski hatten zunächst überlegt, am Anfang jedes Films ein einzelnes Gesicht aus einer Masse heraus zu zoomen, sei 13 Zit. nach: Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 266. 14 Vgl. Žižek, The Fright of Real Tears, S. 112. 15 Kieślowski hierzu: „It’s the most beautiful housing estate in Warsaw, which is why I chose it.“ Kieślowski, Kieślowski on Kieślowski, S. 146. <?page no="235"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 235 es etwa in einem vollbesetzten Fußballstadion oder in einer gedrängten Einkaufspassage. Sie entschlossen sich dann jedoch für die Ansicht eines Siedlungsblocks mit seinen unübersichtlich vielen Fenstern, hinter denen sich in den Wohnungen die Lebensläufe der Protagonisten abspielen. Eine Serie als „Feldforschung der Bewusstseinsstrukturen“ 16 in einer solchen Trabantenstadt anzusiedeln, ist für das polnische Fernsehen dabei keineswegs eine originelle Idee. Bereits in den 1960er Jahren spielten Fernsehserien und komödiantische Produktionen in den neu gebauten Wohnkomplexen. Damals jedoch standen derartige Siedlungen für gesellschaftlichen Fortschritt und allgemeinen Wohlstand. Protagonisten aller Teile des Dekalog-Zyklus wohnen hier. In Dekalog 5 poliert vor Ort bekanntlich der spießige Taxifahrer sein Auto für den kommenden Mord auf Hochglanz. Die in den einzelnen Folgen der Reihe als Protagonisten erscheinenden Figuren verschwinden in den weiteren Teilen aber auch nicht ganz, sie tauchen als Neben- oder Randfiguren auf, leben in der Nachbarschaft oder werden im Hintergrund von der Kamera erfasst. Ein in den Drehbüchern als junger Mann bezeichneter Darsteller jedoch erscheint in fast allen Teilen. In Dekalog 5 ist sein Gesicht zur Hälfte von einem dunklen Schatten überzogen. Abb. 4 Er wurde von Interpreten als Engel des Schicksals, als dämonische Figur oder als Verkörperung einer abstrakten Idee aufgefasst. In Dekalog 5 begegnet er Jacek und dem Taxifahrer in dem Moment, in dem beide vor der entscheidenden Abzweigung Richtung Kainsfeld an der Ampel warten. Der junge Mann - in diesem Fall als Landvermesser oder Bauarbeiter tätig, der die 5 für den Zuschauer gut sichtbar auf dem Mess-Stab zeigt - fixiert mit seinem warnenden Blick Jacek auf der Rückbank des Taxis. Jacek hingegen weicht dem Blick aus, sein Entschluss zum Mord steht unausweichlich fest. 17 Im Gefängnis taucht der junge Mann wiederum als Maler auf, 16 Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 276. 17 Intrapersonales Gewissen und die Beobachtung durch andere stehen in dieser Figur zweifelsohne in einem Spannungsverhältnis. Kieślowski hat die kommunistischen Gesellschaftsverhältnisse zur Zeit der Dreharbeiten wie folgt beschrieben: „You’re always watched by others - if not in the newspapers then by your neighbours, family, loved ones, friends, acquaintancees or even by strangers in the street. But, at the same time, there’s something like a barometer in <?page no="236"?> Franz Fromholzer 236 der in weißer Kleidung, mit Eimer und Leiter ausgerüstet, durch die kalten Gänge streift. Sowohl in der Figur des Landvermessers als auch des malenden Handwerkers, der im Gefängnis weiß gekleidet lässig mit einer Leiter unterwegs ist, bietet diese Figur in Dekalog 5 zahlreiche Deutungsmöglichkeiten. Sie reichen von der geradezu mathematisch berechenbaren Vorhersage der Tat bis hin zu einer grundsätzlichen Willensfreiheit des Menschen, der selbst in ausweglosen Situationen noch sein Schicksal in Händen hält. 18 Wichtig erscheint vor allem, dass der junge Mann eine Beobachterposition markiert, eine Figur, die weder in direktem Bezug zur Handlung steht noch in die Handlung eingreift. Die Implementierung einer Beobachter-Figur, die in den entscheidenden Momenten im Leben der Personen diese wahrnimmt, sie mit stummen Blicken warnt oder anklagt, 19 bringt Kieślowski natürlich unter Metaphysik-Verdacht. Die rätselhafte Figur des jungen Mannes könnte dabei auch lediglich das im Menschen vorhandene Bewusstsein markieren, für die eigenen Taten und Handlungen auch vor anderen verantwortlich zu sein und selbst in den Situationen äußerster Einsamkeit und Isolation von anderen wahrgenommen zu werden. Der junge Mann wird allerdings immer dann in Szene gesetzt, wenn die Dilemma- Situation in ihrer ganzen Komplexität entfaltet ist und so der stumme Zeuge zugleich mit seinen Blicken zu signalisieren scheint, über das Innenleben des Protagonisten umfassend informiert zu sein. Die stumme Rolle affirmiert dabei zweifellos die Bedeutung einer Zeugenschaft, die kein Leben ungesehen und unbeachtet verlöschen lässt und so am Wert des individuellen Lebens gegenüber der kalten, abweisenden und auf Anonymität angelegten Umwelt festhält. Die Umwelt in Dekalog 5 ist bei einem ersten, unbedarften Blick durch eine realistische Sichtweise auf das industriell verschmutzte Polen der 1980er Jahre gekennzeichnet, das zugleich in einem fortwährenden ökonomischen Überlebenskampf festgefahren scheint. Eine genauere Analyse zeigt jedoch den großen ästhetischen Formwillen, mit dem in Dekalog 5 Schmutz, Verfall und ökologische Katastrophe von der Kamera eingefangen werden. Hier öffnet sich ein Spannungsfeld des Dekalog-Films, das unmittelbar auf die künstlerische Entwicklung Kieślowskis verweist. Für ein adäquates Verständnis von Dekalog 5 soll dieser im folgenden Kapitel vor dem Hintergrund der Prägung Kieślowskis durch die intellektuelle Szene sowie das polnische Filmschaffen der 1960er und 1970er Jahre gedeutet werden. each of us. At least, I feel it very dinstinctly; in all the compromises I make, in all the wrong decisions I take, I have a very clear limit as to what I mustn’t do, and I try not to do it.“ Kieślowski, Kieślowski on Kieślowski, S. 149. 18 Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 271. 19 „There’s this guy who wanders around in all the films. I don’t know who he is; just a guy who comes and watches. He watches us, our lives. He’s not very pleased with us.“ Kieślowski, Kieślowski on Kieślowski, S. 158. <?page no="237"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 237 Seit seinem Studium an der renommierten Filmhochschule in Łódź drehte Kieślowski während der 1970er Jahre kontinuierlich Dokumentarfilme. Sprechende Filmtitel Kieślowskis aus jener Zeit wie Die Straßenbahn, Das Amt, Wunschkonzert oder Die Fabrik dokumentieren vor allem Alltag, Arbeitsbedingungen und Lebenswirklichkeit, aber eben auch die Proben eines Orchesters. 20 Diese Filme sind keineswegs so eintönig, wie ihre Titel vermuten lassen. Kieślowskis schwarzer Humor ist häufig nicht zu verkennen: In Refrain von 1972 etwa wird die bürokratische Tätigkeit eines Bestattungsbetriebs dokumentiert. Die frühzeitige Bewerbung um einen Grabliegeplatz und die nur mit großer Geduld zu erreichende erfolgreiche Antragsannahme gehen dabei über das Dokumentarische hinaus und lassen metaphorisch auf den gesellschaftlichen Zustand des Landes schließen. Der Dokumentarfilm besaß in Polen einen hohen Stellenwert, ihm stand vor jeder Filmvorführung im Kino eine feste Sendezeit zur Verfügung - statt Werbung und Eiskaufen wie im kapitalistischen Westen wurden im kommunistischen Polen also über die soziale Wirklichkeit informierende Dokumentarfilme gezeigt. Kieślowskis filmisches Werk ist dabei von Anfang an von der sogenannten ‚Jungen Kultur‘ geprägt, die seit dem Jahr 1968 eine Beschreibung der alltäglichen Wirklichkeit der Volksrepublik Polen einforderte. 21 Diese Beschreibung der realen Bedingungen sollte der Wirklichkeit der Parteitage und Fußballspiele, der Feriencamps und Friedensfahrten gegenübergestellt werden und als Voraussetzung einer sozialkritischen Reflexion dienen. Misstrauen gegenüber den vorgegebenen Konventionen sowie Medienkritik, vor allem als Abwehr medial inszenierter propagandistischer Indoktrination, waren weitere wichtige Pfeiler der ‚Jungen Kultur‘. In Tschechien gehörte jener Bewegung etwa Miloš Forman an, der mit dokumentarischen Mitteln das groteske Leben in der Provinz schilderte. Forman, der für Einer flog über das Kuckucksnest den Oscar erhielt, setzte sich jedoch bereits in den 1970er Jahren in den Westen ab, bzw. wurde in die Emigration gezwungen. Kieślowski hingegen galt spätestens Ende der 1970er Jahre als Galionsfigur des sogenannten ‚Kinos der moralischen Unruhe‘, eine griffige und sehr erfolgreiche Formulierung, die von Janusz Kijowski ausgedacht worden war. 22 Im angloamerikanischen Raum wurde abweichend von ‚Cinema of Distrust‘, aber auch von ‚Cinema of moral unrest‘ im Hinblick auf Polen gesprochen. 23 Auch Andrzej Wajda und Agnieska Holland werden diesem ‚Kino der moralischen Unruhe‘ zugerechnet. Kieślowski selbst hielt die Formulierung für missverständlich, er hat sich dennoch nicht von diesem Etikett distanziert und hierbei eine „Unruhe über den Verlust ethischer Ideale, eine Furcht vor der Auflösung moralischer Normen“ 24 diagnostiziert. 20 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Haltof, The cinema of Krzysztof Kieślowski, S. 1-23. 21 Vgl. hierzu Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 112-117. 22 Vgl. hierzu Hasecke, Die Wahrheit des Sehens, S. 45-52. 23 Vgl. Haltof, Polish National Cinema, S. 146; Witkowska, „Kieślowski, Krzysztof“, S. 130. 24 Zit. nach: Hasenberg, „Politik“, S. 10. III. Dokumentarfilm oder Spielfilm? Kieślowski und das ‚Kino der moralischen Unruhe‘ <?page no="238"?> Franz Fromholzer 238 Das Dilemma vieler Filmemacher im kommunistischen Polen war, dass sie sich zum einen als Oppositionelle verstanden, die in ungebrochenem Widerstand zur Macht verharrten. Andererseits war es jedoch jene Macht, die mit staatlichen Mitteln ihre kritischen Filme finanzierte, diese zensierte, aber auch häufig öffentlich vorführen ließ - die kritischen Oppositionellen wurden so an der Leine der staatlichen Filmfinanzierung geführt und von dieser abhängig. 25 Als sprechendes Beispiel kann hier Kieślowskis Meisterwerk Der Filmamateur (Amator) aus dem Jahr 1979 dienen. Hierin beginnt ein Industriearbeiter eine steile Karriere als Dokumentarfilmer, indem er naiv alles filmt, was ihm vor die Kamera kommt: Funktionäre und Schlagersänger auf der Betriebsfeier, alkoholisierte Besucher des Stillen Örtchens, turtelnde Tauben und Honorarstreitigkeiten. Als er jedoch auch vergammelte Hinterhöfe und Bauruinen dokumentiert, führt die Sendung des Films gerade zur Entlassung des Kulturfunktionärs, der ihn protegiert hatte. Das berühmte Schlussbild des Filmamateurs zeigt Filip Mosz (alias Jerzy Stuhr), wie er die Kamera resignativ gegen sich selbst richtet. Abb. 5 Die verzweifelte, suizidale Situation lässt auf die Situation der Dokumentarfilmer im Polen Ende der 1970er Jahre schließen, die jegliche Hoffnung verloren hatten, durch ihre Kunst die soziale Wirklichkeit zu verändern. 26 Der Film wurde von der Zensur keineswegs beanstandet. Im Gegenteil: Auf dem Internationalen Filmfestival in Moskau erhielt er die Goldene Medaille, da die Resignation des Filmamateurs als Plädoyer für eine Politik der kleinen Schritte verstanden wurde - ganz im Sinne des Staatsapparats, der den Film auch finanziert hatte. 27 Von einer zwangsläufigen Gleichsetzung „film art and dissident defiance“ 28 kann also nicht gesprochen werden, ohne unzulässige ideologische Vereinfachungen vorzunehmen. Die Dokumentation der hässlichen Wirklichkeit und der niedergedrückten Stimmung der Bevölkerung, wie sie auch in Dekalog 5 präsentiert wird, führte gerade dazu, dass die Filme des ‚Kinos der moralischen Unruhe‘ auf jene Schauplätze und 25 Zu Kieślowskis künstlerischer Verarbeitung dieser Rahmenbedingungen vgl., Haltof, Polish National Cinema, S. 148f. 26 Vgl. hierzu auch Kornatowska, „Metafizyczne tajemnice“, S. 79. 27 Vgl. Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 187-189. 28 Imre, „east european cinemas“, S.XII. <?page no="239"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 239 Erzählstrukturen zurückgriffen, die aus dem staatsnahen sozialrealistischem Film vertraut waren. Fabrikanlagen und Neubausiedlungen, die Lebenswelten der Werktätigen und Funktionäre werden auch in Dekalog 5 zu Schauplätzen und handlungstragenden Erzählmustern ausgebaut. Kieślowski hat im Rückblick kritisch den Verdacht geäußert, dass es sich hierbei lediglich um eine spiegelbildliche Verkehrung sozialrealistischer Konventionen handle, die selbst keinen Anspruch auf schöpferische Originalität erheben könne. 29 Auf weitere wichtige Reminiszenzen an den polnischen Dokumentarfilm der 1960er und 1970er Jahre soll ferner hingewiesen werden. Jaceks zielloses Streifen durch die Stadt wird geradezu dokumentarisch in der Kamerabegleitung festgehalten. Wojciech Kuczok hat darin eine idée fixe bei Kieślowski erkannt, „sich diesem ‚natürlichen Drehbuch‘ grenzenlos hinzugeben.“ 30 Indem die Kamera scheinbar allgegenwärtig Jaceks Wegen folgt, entstehe allerdings auch der Eindruck einer überwachten Welt, so Kuczok weiter. Im Hinblick auf Kieślowskis künstlerische Entwicklung folgte dem Konzept eines ‚natürlichen Drehbuchs‘ eine Auseinandersetzung und Reflexion auf den Zufall als Bedingungsrahmen menschlichen Handelns. „Momente der Koinzidenz, der Kontingenz und der Komplexität“ 31 stehen in Dekalog 5 im Spannungsverhältnis zum planvollen Zusammentreffen der Lebensläufe der Protagonisten. Hier hat Kieślowski seine dokumentarischen Wurzel weit hinter sich gelassen.Eine zweite Reminiszenz an den Dokumentarfilm soll nicht unerwähnt bleiben. Es handelt sich um die einführenden Bemerkungen aus dem Off, die der junge Rechtsanwalt dem Zuschauer mit auf den Weg gibt: Das Gesetz soll nicht die Natur nachahmen, es soll sie erneuern. Das Gesetz hat den Sinn, die Beziehungen der Menschen untereinander zu regeln. Je nachdem, wie wir das Gesetz beachten oder es verletzen, daraus ergibt sich unser Sein und wie wir leben. Der Mensch ist frei. Seine Freiheit wird nur durch das Recht auf Freiheit eines anderen Menschen begrenzt. Strafe? Strafe ist Rache, insbesondere wenn sie auf Zufügung eines Unrechts hinausläuft und nicht einer Gewalttat vorbeugt. In wessen Namen eigentlich rächt sich das Gesetz? Wirklich im Namen der Unschuldigen? Sind die wahrhaft Unschuldigen die Vertreter des Rechts? 32 Hier greift Kieślowski mit Piotrs Ausführungen auf ein Verfahren zurück, das bereits seine frühen filmischen Lehrmeister Kazimierz Karabasz und Jerzy Bossak anwandten. Vor allem Karabasz hatte in seinen Dokumentarfilmen über polnische Hooligans und Kriminalität in der kommunistischen Volksrepublik die Filme mit auktorialen Kommentaren aus dem Off begonnen, die sich gegen die offizielle Propaganda einer heilen sozialistischen Welt wandten und sofort eine emotionale Reaktion des Zuschauers provozierten. 33 In Dekalog 5 wird der Zuschauer ebenfalls sofort mit der kritischen Perspektive des Rechtsanwalts konfrontiert und zu einer zustim- 29 Vgl. Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 164. 30 Kuczok, Höllisches Kino, S. 29f. 31 Engell, „Filmgeschichte“, S. 57. 32 Kieślowski, Dekalog 5, 00: 00: 41-00: 01: 09. 33 Vgl. Haltof, The cinema of Krzysztof Kieślowski, S. 3-5. <?page no="240"?> Franz Fromholzer 240 menden Reaktion verleitet. Kieślowski hat in Interviews darauf hingewiesen, dass er Protagonisten bevorzugt, die seinen persönlichen Ansichten nahe stehen. 34 Insbesondere die direkt an die Zuschauer gerichteten Apostrophen „In wessen Namen rächt sich das Gesetz? “ oder „Sind die wahrhaft Unschuldigen die Vertreter des Rechts? “ hinterfragen nicht nur subversiv die Machthaber, die keinesfalls als die Unschuldigen bezeichnet werden können. Auch den Zuschauern selbst wird die Unschuld genommen. Erfolgt das Todesurteil nicht ‚im Namen des Volkes‘ und damit auch im Namen der dieser Filmvorführung Beiwohnenden? Die Gleichgültigkeit, die in Dekalog 5 von Passanten und Stadtbewohner ausgeht, wird einer harschen Kritik unterzogen. 35 Spätestens in diesem Moment ist der Zuschauer kein Zuschauer mehr, er ist Teil jener Autorität, die verurteilen und hinrichten lassen kann. In entscheidender Hinsicht hat sich Kieślowski aber mit Dekalog 5 auch vom Dokumentarfilm weg bewegt. Dies liegt vor allem am extensiven Gebrauch von Farbfiltern, die der Kameramann S ƚ awomir Idziak verwendete. Rund 600 Farbfilter, überwiegend in Grün- und Gelbtönen, aber auch in Sepiabraun und körnigem Grau, und von Idziak selbst handkoloriert, nutzte dieser sowohl für die close-ups der Hauptdarsteller als auch die Totalen auf das Warschau der 1980er Jahre. Abb. 6 Die Halbtotale auf der Abbildung wurde aus dem Taxi, in dem gerade der Mord abläuft, aufgenommen. Der Gelbfilter ist beim Blick auf die Landschaft mit Zug gut erkennbar. Zugleich erhält die Perspektive ihre Raffinesse dadurch, dass die grüne Sonnenblende der Windschutzscheibe das Bild teilt. 36 Als optische Täuschung scheint der Strommast die grüne Sonnenblende zu durchstoßen, er durchbricht die 34 „Ich würde auch sagen, daß ich meine Gedanken über eine neue und komplizierte Wirklichkeit nur über einen Hauptdarsteller, der mit mehr und mehr Bewußtsein ausgestattet ist, äußern kann.“ Magala/ Göldenboog, „Gespräch mit Krzysztof Kieślowski“, S. 43. 35 Kieślowski bitter über die polnische Gesellschaft der 1980er Jahre: „I sensed mutual indifference behind polite smiles and had the overwhelming impression that, more and more frequently, I was watching people who didn’t really know why they were living.“ Kieślowski, Kieślowski on Kieślowski, S. 143. 36 […] if you put a green filter on the camera, the world becomes much crueler, duller and emptier. ”Kieślowski, Kieślowski on Kieślowski, S. 161. “ <?page no="241"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 241 Kontrastierung der Grün- und Gelbtöne. Ein weiteres eindrückliches Beispiel zeigt eine Fotoserie von Erstkommunionkindern in einem Schaufenster. Abb. 7 Das Weiß der Kleider leuchtet seriell in einem schmutzigen, vergilbten Gelb, keine aktuellen Bilder scheint das Fotogeschäft zu zeigen, sondern Dokumente aus einer längst vergangenen Zeit. Von einer Desakralisierung der Bilder in Kieślowskis Filmen wurde in der Forschung zu Recht gesprochen. 37 Die extreme Untersicht auf die Hinrichtung wiederum taucht die baumelnden, schwarz in das Bild ragenden Füße des Getöteten sowie das nach oben blickende Gesicht des Henkers in bedrohlich leuchtende Gelbtöne. Die Zuschauer werden gefordert, sich auch visuell selbst über das Geschehen zu orientieren. Die verstörende Perspektive verunmöglicht ganz gezielt eine eindeutige Sichtweise auf die Hinrichtung. Abb. 8 Häufig enthalten diese Farbfilter noch zusätzlich leichte Kratzspuren. Idziaks geniale Umsetzung ging noch weiter: An den Rändern werden die Bilder durch Blenden und Unschärfen abgedunkelt, so dass der Blick des Zuschauers ganz auf die handelnden Menschen gelenkt ist, die von einer Art schmutzigen Aureole umgeben sind. Dekalog 5 ist damit von einem großen ästhetischen Formwillen geprägt. Im taz-Interview 37 Vgl. Dalla Rosa, La fascination, S. 43f. <?page no="242"?> Franz Fromholzer 242 cachiert Kieślowski gerade die ambitionierte ästhetische Inszenierung des Schmutzigen und gibt sie als dokumentarisch aus. 38 Doch wie ist dies vor dem Hintergrund der Tötungsszenen zu deuten? Im taz-Interview betont Kieślowski ferner süffisant die Mordszene am Taxifahrer. Mit ihr, so gibt er nicht uneitel zu, habe er vielleicht die längste Mordszene der Filmgeschichte vorgelegt. 39 Der Zeit, die verstreicht, bis der Taxifahrer getötet ist, kommt in der Tat eine wesentliche Bedeutung für die anstrengende Rezeption des Films zu. Nach Hroß kann darauf verwiesen werden, dass in Filmen eben keine Gewaltsteigerung intendiert ist, sondern gesteigert wird konträr dazu „die Inszenierung filmischer Gewalt“ 40 . Dies soll zum Anlass genommen werden, die Mordszene einer genaueren Handlungsanalyse zu unterziehen. Gelegentlich liegen schriftliche Materialen und Texte bereits in Printform vor, die für eine Handlungsanalyse von zentralem Interesse sein können. Da Kieślowski keine Literaturverfilmung unternommen hat, kann nicht mit einer genuin literarischen Vorlage, einer Kurzgeschichte, einem Roman oder einem Comic gerechnet werden. Kieślowski und Piesiewcz haben allerdings bereits 1990 eine schriftliche Fassung zur Dekalog-Reihe vorgelegt. 41 Schon beim ersten Blick in dieses Werk fällt auf, dass das Dekalog-Buch literarisch gestaltet und überarbeitet wurde. Filmisches und literarisches Erzählen divergieren hierbei nicht unerheblich. Das Buch ist für eine breitere Leserschaft gedacht, zur Nachbereitung oder auch zum tieferen Verständnis der Reihe - aber für Dekalog- Filmanalytiker nicht zu gebrauchen. Ein Drehbuch in publizierter Form liegt nicht vor. Das Drehbuch zur Dekalog-Reihe wäre als eine Vorstufe zum Film anzusehen und natürlich nicht mit dem Film selbst gleichzusetzen. Das Transitorische des Films wird folglich in schriftlicher Form fixiert, auf das Medium der Schrift reduziert, eine möglichst exakte und detaillierte Transkription des Films vorgenommen. Beabsichtigt wird die „Erarbeitung einer zitierfähigen Basis für die wissenschaftliche Behandlung“. 42 Es handelt sich hierbei um ein Filmprotokoll, das jede Kameraeinstellung genau dokumentiert. Eine so genaue Dokumentation des Films stellt ein Hilfsinstrument dar, das ein enormes Potential für die Interpretation des Films bietet. 43 Die Einstellung als kleinste Einheit des Films dient als Grundbaustein des Protokolls. Das vorgeschlagene Filmprotokoll (vgl. Tabelle 1) enthält tabellarisch fünf Spalten: die Durchnummerierung der Filmeinstellungen (hier von Nr. 178 bis 185), eine möglichst objektiv gehaltene Beschreibung der Handlung, die Kameraeinstel- 38 Vgl. Chervel, „Gegen den Tod“. 39 Ebd. 40 Hroß, „Die Funktion von Gewalt“, S. 145. 41 Vgl. Kieślowski/ Piesiewicz, Dekalog, S. 131-164. 42 Kanzog, Filmphilologie, S. 11. 43 Vgl. hierzu Faulstich, Grundkurs Filmanalyse, S. 66-85 und Philips, Film, S. 67f. IV. Handlungsanalyse: Die Mordszene - Drehbuch, Filmprotokoll, Sequenzprotokoll <?page no="243"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 243 lung, die hörbare Musik bzw. die hörbaren Geräuschen sowie die Zeit, die während der Handlung verstrichen ist. Tab. 1: Filmprotokoll Dieses gezeigte Beispiel macht es etwas leichter, da sich Jacek mit dem Taxifahrer nicht unterhält. Für Filmdialoge wäre also eine weitere Spalte zur Notation des Gesprochenen zweifelsohne sinnvoll. Das vorliegende Filmprotokoll ist nun für die Analyse der Mordszene sehr hilfreich. Wir können erkennen, dass die Ermordung des Taxifahrers in einem langwierigen Prozess fortschreitet. Die Kameraeinstellungen sind ineinander verschachtelt. Nach dem Blick auf den Taxifahrer radelt ein rüstiger Mann zielstrebig auf dem Damm von links nach rechts. Gegenüber der vorhergehenden Einstellung fungiert das Würgegeräusch des Opfers als akustische Klammer. Es handelt sich also nicht um einen jump-cut. Der Radfahrer übersetzt die vergehende Zeit für den Zuschauer sichtbar in eine zurückgelegte Wegstrecke. Nun sehen wir den sich aus dem Schuh drehenden Fuß des Taxifahrers. Der Taxifahrer ist auf seinem Sitz durch das mehrfach um die Kopfstütze gewickelte Seil fixiert, allein sein rechter Fuß kann eine leichte, zitternde Zirkelbewegung vollziehen. Die folgende Einstellung filmt den davon fahrenden Radfahrer. Nun zeigt die Kameraeinstellung wiederum die schmerzverzerrten Gesichtszüge des Taxifahrers. Diese Einstellung entspricht der Nr. 178, beide Einstellungen wären austauschbar. Die Ermordung ist scheinbar noch nicht fortgeschritten - allein die höhere Tonlage der Würgegeräusche lässt darauf schließen. Dann sind Jaceks verbissene Gesichtszüge zu sehen. Die angespannten Gesichtsmuskeln bilden um den geöffneten Mund mit den glänzenden Zähnen einen geschlossenen Kreis. Jacek wird nicht zusammen mit dem Kopf des Taxifahrers erfasst. Es gibt nur die Alternative in der Ansicht zwischen <?page no="244"?> Franz Fromholzer 244 beiden, Taxifahrer oder Jacek. Hier wird mit einem Schuss-Gegenschuss-Filmschnitt gearbeitet. Der Aufnahme des Taxifahrers folgt unmittelbar die Aufnahme Jaceks. Dann wird die Ansicht des runden Lenkrads gezeigt, nur langsam bewegt sich die flächig geöffnete linke Hand des Taxifahrers auf die Hupe zu. Ein zweites Hupen erfolgt. Dann ist ein Pferd zu sehen, dass sich unter Hupgeräuschen in einer Halbkreisbewegung nach links langsam scheinbar dem Mordschauplatz zuwendet, sich dabei auf den Zuschauer hin zurückdreht. Die kurze Beschreibung der Einstellungen sollte das Spannungsfeld zwischen voranschreitender Zeit und den sich im Kreis bewegenden Mordhandlungen, die nicht vorwärts schreiten, deutlich machen. Die Kameraeinstellungen im Taxi erfassen Zirkelbewegungen: den sich drehenden Fuß, das mehrfach um die Kopfstütze gewundene Seil, das runde und zugleich unbewegte Lenkrad. Dagegen veranschaulichen die Perspektiven auf das Umfeld des feststeckenden Taxis im Radfahrer die linear fortschreitende Zeit. Ob Kieślowski hier mit schwarzem Humor zugleich ein frühes Plädoyer für die polnische Umweltbewegung vorgelegt hat, darf zumindest vermutet werden. Das Pferd, das sich zurückwendet, kann nicht nur als retardierendes Moment aufgefasst werden. Das Pferd befindet sich selbst im Stillstand, blickt aber auf Mordschauplatz und Zuschauer zurück. Vor dem Hintergrund einer verfallenden Industrielandschaft und der menschlichen Grausamkeit blickt das Tier bereits auf den in Zirkeln verstrickten Menschen zurück, hat ihn - geschichtsphilosophisch gesprochen - bereits hinter sich gelassen. Dieser Eindruck wird durch die Bauchsicht der Kameraperspektive verstärkt, der Zuschauer blickt von unten zum Pferd hinauf. So wären erste Vorschläge für eine Interpretation des gezeigten Ausschnitts. In der nun folgenden Einstellung wendet Jacek das Seil weitere Male um die Kopfstütze. Wir müssten nun mit der Dokumentation der Einstellungen im Filmprotokoll fortfahren, um diese ersten Befunde erhärten zu können und das Spannungsverhältnis von zirkulären Bewegungen und voranschreitenden Bewegungen weiter untersuchen. Eine unverzichtbare Aufgabe für die weitere Interpretation ist nun die Erstellung eines Sequenzprotokolls. Hier wird die Filmhandlung weiter in Szenen oder Sequenzen segmentiert. Die Einteilung in Sequenzen richtet sich vor allem nach dem Wechsel von Schauplätzen, dem Zeitwechsel (z.B. von Tag zur Nacht), dem Auftreten neuer Figuren oder Figurenkonstellationen. Auf dem folgenden Sequenzprotokoll hat sich Jan Ulrich Hasecke für eine sehr hohe Anzahl von Sequenzen entschieden, er teilt Dekalog 5 in 92 Sequenzen ein. Der Film umfasst dabei 325 Kameraeinstellungen (vgl. Tabelle 2). <?page no="245"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 245 Tab. 2: Sequenzprotokoll nach Hasecke Haseckes erstelltes Sequenzprotokoll ist nicht nur problematisch, weil die Sequenzen relativ engmaschig unterteilt sind, sie orientieren sich in der Einteilung auch vor allem an der Filmschnitt-Technik sowie den Kameraeinstellungen. Auf den Schuss- Gegenschuss-Filmschnitt, der zunächst Jacek, dann den Taxifahrer zeigt, folgt eine nächste Sequenz, bei der die Einteilung durch objektive oder subjektive Kamera getroffen wurde. D.h. nun scheint es für Hasecke wichtig zu sein, ob die Kamera dem Zuschauer die Sicht des Taxifahrers oder Jaceks aufzwingt oder eine objektive Perspektive einnimmt. Der Wechsel zwischen objektiven Einstellungen und der subjektiven Perspektive vor allem in den Großaufnahmen ist in der Tat wichtig. Dennoch unternimmt Hasecke hier in der Spalte eine unglückliche Vermischung von Analysekategorien. Schauplatz, Zeitwechsel und Auftreten des Radfahrers bzw. später der Lokomotive dagegen spielen für Hasecke keine Rolle. Die unternommene Einteilung der Handlung liefert uns aber weitere wichtige Indizien für die Machart der Mordszene. Immer wiederkehrende Detaileinstellungen - auf die sich drehenden Reifen, auf die Kopfstütze, auf die Füße des Taxifahrers, auf die Hupe - wechseln mit Einstellungen in der Halbtotale auf linear fortschreitende Bewegungen ab. Während die objektiven Einstellungen aus der Halbtotalen eine fortschreitende Zeit zu zeigen scheinen, geben die Detailaufnahmen dagegen eine sich im Kreis bewegende Handlung wieder. Nach dem Radfahrer, der sich von links nach rechts bewegte, wird ein Zug gezeigt, der hupend von rechts nach links am Taxi vorbeifährt. Zugleich aber fährt der Zug in die Richtung, aus der der Radfahrer kam. Fortschritt und Zirkelbewegung sind auf komplexe Weise ineinander verschachtelt. Die inszenierte filmische Gewalt ist, mit Hausmanninger argumentiert, weniger provokant als es zunächst den Anschein hat, folglich als „Kulturleistung“ 44 zu bezeichnen und bei 44 Hausmanninger, „Funktionen der Filmgewalt“, S. 268. <?page no="246"?> Franz Fromholzer 246 Kieślowski in den Kontext einer kulturell-gesellschaftlichen „Gewaltdomestikation“ 45 zu rücken. Gewalt im Film kann folglich vor allem unter dem Aspekt einer „recreation“ gefasst werden, wie dies aus historischer Perspektive James Kendrick unternommen hat. 46 Gewaltaffirmative Komponenten lassen sich bei Kieślowski allein auf der Seite der Sozialisierung des Täters Jacek ausmachen. 47 Auf dem Sequenzprotokoll von Hasecke ist in der letzten Zeile zu erkennen, dass es dem Taxifahrer endlich gelingt, sich von der Fixierung an der Kopfstütze zu befreien. Die Mordhandlung kann langsam vorwärts schreiten. Das Sequenzprotokoll erlaubt also einen ersten Zugriff auf das Organisationsprinzip des Films, sowohl für die genauere Analyse einer einzelnen Sequenz als auch für den gesamten Film. Hilfreich ist dies vor allem auch, um einzelne Sequenzen oder Sequenzfolgen miteinander vergleichen zu können. Für Dekalog 5 ist dies natürlich von besonderem Interesse, da der Film gleich zwei Mal in aller Ausführlichkeit zeigt, wie ein Mensch ums Leben gebracht wird. Im nächsten Schritt soll versucht werden, die filmische Umsetzung der Hinrichtung Jaceks mit der Ermordung des Taxifahrers zu vergleichen. Die These lautet dabei: Die staatliche Hinrichtung des Mörders stellt - trotz ihrer bürokratisch geplanten Sachlichkeit und institutionellen Verankerung im Staat - die Wiederholung der Ermordung des Taxifahrers dar. Kieślowskis Werk ist geprägt von der Faszination an der Wiederholung. In Der Zufall möglicherweise (Przypadek) von 1981, hetzt der Protagonist drei Mal in den Bahnhof und versucht den Zug nach Warschau zu erreichen. Drei Mal die gleiche Szene als Ausgangspunkt für ganz unterschiedliche Lebensläufe, die sich nach den Umständen richten, unter denen der Protagonist den Zug im Bahnhof erreicht oder nicht. In dem Film Die zwei Leben der Veronika von 1991 dagegen variiert Kieślowski die Konstellation von Identität und Wiederholung. Die französische Véronique und die polnische Weronika sind laut Filmtitel eine Person, die in Ost und West Parallelbiographien lebt. Beide streben eine Karriere als Sängerin an. Durch eine zufällige Begegnung beider trifft die französische Véronique eine Entscheidung gegen die Karriere als Künstlerin. Sie wiederholt damit nicht den Entschluss der polnischen Weronika, die sich für ihre Sängerlaufbahn aufopfert und daran letztlich stirbt. Die Denkfigur der Wiederholung nimmt hier sichtlich eine bedrohliche Dimension ein, denn eine konsequente Wiederholung der polnischen Biographie würde auch für die 45 Ebd. 46 Vgl. Kendrick, Film Violence, S. 32-68. 47 So z.B. wenn nach dem Mord das Kinderlied von einem kleinen Löwen aus dem Radio tönt, von dem ein Löwenherz erwartet wird. Die Kontrastierung von Tat und Kinderwelt setzt hier ein, am Ende erhalten die Zuschauer Jaceks Bericht seiner Biographie, die von frühem Alkoholkonsum und dem Tod seiner Schwester geprägt ist. V. Die Wiederholung: Die Hinrichtung <?page no="247"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 247 junge Französin den Tod bedeuten. Welche Funktion kommt einer als Wiederholung begriffenen Hinrichtung in Dekalog 5 zu? Zunächst einmal drängen sich die äußeren Parallelen zwischen der Ermordung des Taxifahrers und der Hinrichtung geradezu auf: Beide Tötungen werden lange vorbereitet, beide Male stirbt das Opfer durch Seil bzw. Strang, beide Male erscheinen die zu Tötenden ihres Antlitzes beraubt, indem der gesamte Kopf oder die Augen verhüllt werden. Nach dem Tod fängt in der Kinofassung Ein kurzer Film über das Töten die Kamera beim Taxifahrer die durch die Decke sickernden Blutstropfen ein, während nach der Hinrichtung Jaceks die in die Auffangwanne fallenden Kot- oder Urintropfen gezeigt werden. Von einem „harten, peinigenden Naturalismus“ 48 wurde in der Filmkritik zu Recht gesprochen. Hier hat Kieślowski offensichtlich Parallelen zwischen dem Tod des Taxifahrers und dem Tod Jaceks gezogen: Beide werden anonymisiert und zugleich in ihrer Körperlichkeit als Leid empfindende Individuen gezeigt. „Immer wird sich ein Zuschauer in ein Opfer einfühlen können“, 49 konstatiert Gerhard Hroß nüchtern und fast allgemeingültig. Die Rezeptionslenkung ist damit festgelegt. Das Ineinander von zyklischen und linearen Zeitauffassungen konnte bereits anhand der Analyse der Mordszene veranschaulicht werden. Zyklische Zeitauffassungen - das Drehen der Autoräder auf der Stelle, das sich x-Mal um den Taxifahrer windende Seil - legen eine Wiederkehr des immer Gleichen nahe, eine pessimistische, wenn nicht gar nihilistische Sicht auf die Zivilisationsgeschichte der Menschheit, die immer weiter töten wird. In diesem Sinn scheint auch in der Schluss-Szene des Films der Rechtsanwalt zu argumentieren: „Ich verabscheue das, ich verabscheue das. Ich verabscheue das“ 50 , wiederholt Piotr geradezu besessen. Kieślowski setzt den Anwalt in dieser Szene in eine blühende, sich eben zyklisch erneuernde Natur, die grünen Blätter leuchten im Hintergrund in der Sonne. Piotr ist gerade Vater geworden. Piotr konnte andererseits eine persönliche Beziehung zum Mörder Jacek aufbauen, die sozialen Verhaltensmuster von Gleichgültigkeit und Kälte werden durchbrochen. Als „verstellte Verheißung“ 51 ließe sich das Schlussbild also auch deuten. Und doch befindet er sich auf eben jener Wiese, auf der Jaceks Schwester ums Leben kam. Gerade von jenen Zyklen des Sterbens und Sich-Erneuerns also scheint Piotr angeekelt zu sein. Die Wiederholung des Tötungsakts wäre demnach ein fatalistisch hinzunehmender Teufelskreis, der keinen Ausweg kennt. An diesen zyklischen Strukturen partizipiert der Staat - und Piotr - im Namen des Volkes. Und: „Der Staat garantiert mit seiner Gewalt die soziale Ordnung.“ 52 In diesem Sinn hat Kieślowski Dekalog 5 als Anklage staatlicher Gewalt verstanden wissen wollen, denn die Engführung von mörderischer Gewalt und staatlicher Gewalt scheint ihm 48 Zinsmaier, „Krótki Film o Zabijaniu“, S. 362. 49 Hroß, „Die Funktion von Gewalt“, S. 138. 50 Kieślowski, Dekalog 5, 00: 55: 11-00: 55: 26. 51 Ruster, „Dekalog, Fünf“, S. 78. 52 Mikos, „Ästhetik der Gewalt“, S. 18. <?page no="248"?> Franz Fromholzer 248 offensichtlich: „In this way, we link violence and capital punishment and the film is against capital punishment as a form of violence.“ 53 Die Wiederholung ist philosophiegeschichtlich allerdings auch als dialektische Denkfigur begriffen worden. Dies hat wohl niemand so luzide aufzuzeigen versucht, wie Sören Kierkegaard dies getan hat. Kierkegaard führt in seinem Werk Die Wiederholung aus: „Die Dialektik der Wiederholung ist leicht, denn was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen.“ 54 Für Kierkegaard gibt es also die Logik der Gegensätzlichkeit von Vergangenheit und Gegenwart der Wiederholung nicht. Der Übergang bewegt sich nicht von einem zum anderen, im Sinne einer Abfolge, sondern das eine lädt dem anderen gleichsam etwas auf, wie Samuel Weber dies in seiner Kierkegaard-Lesart beschrieben hat. 55 In der Wiederholung handelt es sich um eine Spaltung der Gegenwart durch die Rückkehr des Gewesenen. Die Gegenwart wird dadurch zwar durch die Vergangenheit besetzt, doch in der Gegenwart verwandelt sich damit auch die Vergangenheit. In der Wiederholung ist das Vergangene zu etwas anderem und zu etwas Neuem geworden. Was bedeutet dies für Kieślowskis Dekalog 5? Kieślowski mutet dem Zuschauer sowohl die Ermordung des Taxifahrers in ihrer ganzen Grausamkeit zu als auch die Hinrichtung Jaceks zu. Es handelt sich dabei jedoch keineswegs um eine schlichte zeitliche Abfolge beider Tötungen. Die Hinrichtung Jaceks ist mit der ganzen Schwere der Schuld des Täters beladen, der Zuschauer ist dazu gezwungen, die Tat nochmals zu erinnern, um überhaupt eine Wertung der Todesstrafe vornehmen zu können. Es wird „etwas vom möglichen Strafaspekt der Wiederholung“ 56 erkennbar, dem nach Villwock grundsätzlich Unfreiheit und Zwanghaftigkeit zugewiesen werden können. Erinnert wird die Tat unter Kieślowskis Regie vor allem, weil sich nun das Geschehen einer Tötung wiederholt. Die Wiederholung zielt auf Intensivierung der Wahrnehmung und fordert zugleich die Unterscheidungsfähigkeit der Zuschauer. 57 Ausgeschlossen ist von diesem filmischen Geschehen - man denke im Gegensatz dazu an die Eingangsszene mit der abweisenden Kinokassierin - kein Betrachter. Indem im scheinbar Neuen, der humanen Tötungsart eines modernen Staates, aber die Wiederholung des Alten erkannt wird, das sinnlose Töten, kann dieses Töten jedoch auch überwunden werden. Die staatliche Inszenierung des Tötens, markiert von einem Vorhang, der den Rahmen des Geschehens bilden soll, scheitert. Der Vorhang klemmt, der Tötungsakt bedarf entgegen der Anweisungen der Vollstrecker der Improvisation und des individuellen, entschlossenen Handelns. 58 Wenn sich in der Todesstrafe das Gewesene wiederholt, so die Schlussfolgerung, gehört eben jene Todesstrafe auch der Vergangenheit an. Es wäre im Sinne Kier - 53 Kieślowski, Kieślowski on Kieślowski, S. 166. 54 Kierkegaard, Die Wiederholung, S. 22. 55 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Weber, „Gleichheit“, S. 96f. 56 Villwock, „Wiederholung und Wende“, S. 14. 57 Vgl. Wach, Krzysztof Kieślowski, S. 282. 58 Insdorf spricht von „malfunction“ bei der Tötungsinszenierung. Dies lässt sich zweifelsohne auch auf die gesellschaftliche Funktion der Todesstrafe übertragen, wie sie das Ende des Films nahelegt. Insdorf, Double Lives, S. 90. ke <?page no="249"?> Krzysztof Kieślowski, Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten 249 gaards die ermutigende, freilich auch sprunghafte Deutung des Wiederholungsgeschehens. Diese Erkenntnis mutet Kieślowski seinen Zusehern nicht nur zu, er fordert sie in Dekalog 5 geradezu ein. 59 Filmographie La double vie de Véronique bzw. Podwójne Życie Weroniki. Produktion: Sidéral Productions/ Zespol Filmowy „Tor“, Frankreich und Polen 1990. Drehbuch: Krzysztof Piesiewicz, Krzysztof Kieślowski. Kamera: Sławomir Idzak. Musik: Zbigniew Preisner. Darsteller: Irene Jacob (Veronika/ Véronique), Philippe Volter (Alexandre), Louis Ducreux (Professor), Aleksander Bardini (Dirigent), Gilles Gaston-Dreyfus (Jean-Pierre). Krótki film o zabijaniu/ Dekalogu V. Produktion: Ryszard Chutkowski/ Zespol Filmowy „Tor“, Polen 1988. Drehbuch: Krzysztof Piesiewicz, Krzysztof Kieślowski. Kamera: Sławomir Idzak. Musik: Zbigniew Preisner. Darsteller: Mirosław Baka (Jacek Lazar), Krzysztof Globisz (Piotr Balicki), Jan Tesarz (Waldemar Rekowski), Zbigniew Zapasiewicz (Przewodniczacy Komisji), Barbara Dziekan (Kassiererin). Przypadek. Produktion: Zespol Filmowy „Tor“, Polen 1981. Drehbuch: Krzysztof Kieślowski. Kamera: Krzysztof Pakulski. Musik: Wojciech Kilar. Darsteller: Bogusław Linda (Witek Dlugosz), Tadeusz Łomnicki (Werner), Zbigniew Zapasiewicz (Adam). Amator. Produktion: Zespol Filmowy „Tor“, Polen 1979. Drehbuch: Krzysztof Kieślowski. Kamera: Jacek Petrycki. Musik: Krzysztof Knittel. Darsteller: Jerzy Stuhr (Filip Mosz), Jerzy Nowak (Osuch), Malgorzata Zabkowska (Filips Frau), Ewa Pokas (Ania Wlodarcyk), Stefan Czyzewski (Direktor), Tadeusz Bradecki (Witek), Marek Litewka (Piotrek Krawczyk). Bibliographie Chervel, Thierry, „Gegen den Tod. 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Žižek, Slavoj, The Fright of Real Tears: Krzystof Kieślowski Between Theory and Post-Theory. London 2001. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kieślowski, Dekalog 5, 00: 50: 00 Abb. 2: Kieślowski, Dekalog 5, 00: 01: 23 Abb. 3: Kieślowski, Dekalog 5, 00: 02: 02 Abb. 4: Kieślowski, Dekalog 5, 00: 20: 09 Abb. 5: Kieślowski, Der Filmamateur, 01: 45: 03 Abb. 6: Kieślowski, Dekalog 5, 00: 23: 51 Abb. 7: Kieślowski, Dekalog 5, 00: 10: 37 Abb. 8: Kieślowski, Dekalog 5, 00: 53: 29 Tab. 1: Filmprotokoll [F.F.] Tab. 2: Hasecke, Die Wahrheit des Sehens, S. 205 <?page no="253"?> David Kerler „Dick Laurent is dead“ 1 - mit diesen Worten beginnt und endet zugleich David Lynchs höchst kryptischer Film Lost Highway, der den Zuschauer wohl genauso wie den Protagonisten Fred Madison verzweifeln lässt angesichts des Zusammenbruchs vermeintlich vertrauter (Film-)Welten. Stark verkürzt und rein chronologisch, wie es sich dem Zuschauer darbietet, ließen sich die wesentlichen Handlungsmomente des Films wie folgt wiedergeben: Der von Eifersucht zerfressene Jazzmusiker Fred Madison lebt in einer dysfunktionalen Ehe und glaubt, dass seine Frau Renée ihn betrügt. Eines Tages erhält das Ehepaar mysteriöse Videobänder, die zunächst Aufnahmen ihres Hauses sowie des Schlafzimmers zeigen. Auf dem letzten Videoband, das die Madisons am dritten Tag erhalten, ist schließlich zu sehen, wie Fred seine Frau zerstückelt. Fred wird daraufhin zum Tode verurteilt. In der Todeszelle durchläuft er auf einmal eine Metamorphose zum jüngeren Automechaniker Pete Dayton, der, aufgrund der offensichtlich falschen Identität, wieder freigelassen wird. Es folgt ein Einblick in Petes Alltag und wir sehen, wie er eine Affäre mit der erblondeten Renée eingeht, die auf dieser Handlungsebene Alice Wakefield heißt. Alice ist jedoch zugleich die Geliebte eines Gangsters und Pornoproduzenten namens Mr. Eddy, der auch als Dick Laurent bekannt ist. Als dieser zunehmend die Affäre zwischen den beiden wittert, sieht Alice den Ausweg in einem Raubüberfall: Sie stiftet Pete dazu an, mit ihr gemeinsam in das Haus von Laurents Mitarbeiter Andy einzubrechen, um mit Hilfe des Diebesgutes die Stadt verlassen zu können. Bei ihrem Treffen mit einem Hehler in der Wüste verschwindet Alice jedoch auf einmal und Pete verwandelt sich zurück in Fred. Der vermeintliche Hehler - ein namenloser Mann, der im Abspann lediglich als ‚Mystery Man‘ aufgeführt wird - entpuppt sich dabei als eine mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattete Figur, die schon zuvor im Film vereinzelt aufgetreten ist und sich jenseits raumzeitlicher Begrenzungen zu bewegen vermag. Mit dessen Hilfe entführt und tötet Fred schließlich den besagten Dick Laurent/ Mr. Eddy. Danach fährt er zu sich nach Hause und überbringt sich selbst die Nachricht des Filmbeginns, wonach Dick Laurent tot sei. Der Film endet mit Freds Flucht vor der Polizei den dunklen Highway entlang und der Andeutung einer erneuten Metamorphose. Diese, von diversen Doppelungen gekennzeichneten Handlungsstränge werfen unweigerlich Fragen nach der Kausalität des Gezeigten und nach der Identität seiner 1 Lynch, Lost Highway, 00: 03: 49 und 02: 03: 12. Alle nachfolgenden Zeitangaben beziehen sich auf die im Jahr 2000 von der Universum Film GmbH veröffentlichte deutsche DVD des Films. David Lynch, Lost Highway I. Einleitung <?page no="254"?> David Kerler 254 Protagonisten auf: Ist Pete nur eine Wunschvorstellung bzw. ein Traum Freds? Sind Renée und Alice ein und dieselbe Person? Wie kann der Film damit enden, dass er zum Anfang zurückkehrt und dadurch die gesamte Handlungslogik ad absurdum führt? Wer ist der Mystery Man und wie ist dieser zu deuten? Fragen, denen man sich in einem ersten Schritt mit einem kurzen Blick auf das Œuvre des US- Amerikaners David Lynch (* 20.1.46) anzunähern vermag. Neben seinen Spielfilmen ist Lynch vor allem aufgrund seiner Serie Twin Peaks (1990-1991) bekannt geworden, der auch ein abendfüllender Spielfilm folgte (Twin Peaks: Fire Walk With Me, 1992). Lynch versucht sich ferner auch in anderen Filmgenres, wie etwa Musikvideos (z.B. Chris Isaaks erstes Video zu „Wicked Game“), diversen Werbefilmen für namhafte Markenprodukte sowie Kurzfilmen. Schließlich ist David Lynch in der Malerei und bildenden Kunst mit zahlreichen Ausstellungen vertreten und veröffentlicht auch Musikalben (so etwa Crazy Clown Time, 2011 oder The Big Dream, 2013), die dem surreal-psychedelischen Charakter seiner Filme in nichts nachstehen. Bereits diese künstlerische Bandbreite lässt vermuten, dass Musik und Raumdarstellung/ Architektur eine zentrale, bedeutungstragende Rolle in Lynchs Filmen einnehmen und bei der Interpretation besonders zu beachten sind. 2 Lost Highway, dessen Drehbuch er zusammen mit dem Schriftsteller Barry Gifford verfasst hat, kann dabei insofern als paradigmatisch für sein filmisches Gesamtwerk gewertet werden, als Lynch hier diverse Themen und Motive früherer Filme aufgreift und ihnen eine neue Form gibt, welche für die darauf folgenden Filme stilprägend ist. So finden wir in Lost Highway zum einen vertraute Elemente und Erzählstrategien, wie beispielsweise das überraschende Einbrechen des Phantastischen (z.B. Twin Peaks), das Spiel mit Traum und Realität oder Materialisierungen des Unbewussten und seiner Abgründe (z.B. Blue Velvet, 1986). Zum anderen spielen hier die Doppelung von Frauenrollen, das Spiel mit Mise-en-abyme-Strukturen sowie die verstärkte Auseinandersetzung mit (dem Bildinventar) der Hollywood Filmindustrie erstmals eine deutlich tragende Rolle. Gerade die höchst wirkungsvolle Verbindung dieser Elemente ist gleichermaßen bestimmend für die folgenden Filme Mulholland Drive (2001) und Inland Empire (2006), in denen die Beschäftigung mit der Hollywood-Industrie sowie deren Generierung von (Trug-)Bildern und Identitäten im Zentrum steht. Angesichts der genannten Charakteristika wird schnell klar, dass Lost Highway inmitten des Diskurses der Postmoderne und ihrer Ästhetik zu verorten ist. So finden nicht nur die dargestellten fragmentierten Identitäten ihre formale Entsprechung im Bruch mit linear-konventionellen Erzähltraditionen, sondern auch das Medium Film selbst und dessen Sinnstiftungen werden über das selbstreflexive Spiel mit In- 2 Vgl. hierzu exemplarisch Nielands Kapitel zur Architektur in Lost Highway oder Georg Seeßlens Anmerkung hinsichtlich der Malerei und Musik in Lynchs Filmen: „Lynchs Arbeiten enthalten immer auch Elemente des Malerischen. Nicht die Geschlossenheit einer Erzählung ist das Ziel, sondern die Erzeugung einer Stimmung, in der die Kontraste erst wirklich zur Geltung kommen. Das Malerische, das dem Raum im Film die Ordnung gibt, und das Musikalische, das die Zeit strukturiert, begegnen sich in Lynchs Filmen in einer neuen Form“ (David Lynch, S. 227). Diese hochgradig semantisch aufgeladene Verbindung von Bild, Raum und Ton/ Musik entspringt wohl auch Lynchs Arbeiten an Kurzfilmen, Musikvideos und Werbevideos, deren charakteristische Kürze gleichsam eine starke semantische Verdichtung erfordert. <?page no="255"?> David Lynch, Lost Highway 255 tertexten und einem hohen Grad an Metafiktionalität kritisch beleuchtet. Zentral ist dabei die grundsätzliche Auflösung binärer Oppositionen (etwa Innen/ Außen, Bewusstes/ Unbewusstes, Realität/ Fiktion oder Bild/ Trugbild), was sich insgesamt in zahlreichen erzähllogischen und ästhetischen Paradoxien niederschlägt. 3 Lost Highway problematisiert also nicht nur die krankhaft-verzerrte Perspektive seines Protagonisten, sondern auch die ihn strukturierende ontologische Ebene: Der Film verhandelt die Problematik einer stabilen Realität und Identität sowie die Unmöglichkeit einer unverzerrten Abbildbarkeit derselben; darüber hinaus zeigt er eindrucksvoll, wie das Abbild - zum Beispiel der (Kamera-)Blick und die Fiktion, die wir vom Anderen haben - eine wirklichkeitskonstituierende Funktion einnehmen kann, die mitunter als zutiefst phantasmatisch einzustufen ist. Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist die Auflösung scheinbarer Oppositionen und unterschiedlicher Ebenen sowohl auf der Handlungsals auch auf der formalästhetischen Ebene ein wichtiges, den Film strukturierendes Element, das zu einem vertieften Verständnis desselben beizutragen vermag. Hierzu werde ich die Nivellierung unterschiedlicher Ebenen von einer immer weitergehenden Abstraktionsstufe aus betrachten: Ausgehend von der Möbiusbandstruktur der Handlungsebene, werde ich in einem weiteren Schritt den Film psychoanalytisch lesen und zeigen, wie das Innen und Außen (d.h. Bewusstes und Unbewusstes sowie Handlungsebene und formalästhetische Ebene/ Raumdarstellung) sich unablässig durchdringt und so einen weiteren Einblick in die Psyche Fred Madisons erlaubt. Abschließend soll der Film selbst als schizophrene Konstruktion gelesen werden, in welcher außerfilmische Realität/ Fiktion, Figur/ Zuschauer sowie Beobachter/ Beobachteter unentwegt die Rollen tauschen. Obgleich Lost Highway auf den ersten Blick chaotisch und höchst widersprüchlich erscheint, so folgt dessen Struktur durchaus einer gewissen Logik. Kritiker und David Lynch selbst haben darauf hingewiesen, dass dem Film das Strukturprinzip der Möbiusschleife zugrunde liegt. 4 Das Konzept des Möbiusbandes geht zurück auf die Arbeiten des deutschen Mathematikers August Ferdinand Möbius (1790-1868). Dieser entdeckte - stark vereinfacht gesagt - eine Oberfläche, die nicht orientierbar ist; d.h. eine Fläche, in welcher die (sich normalerweise gegenseitig ausschließenden) Ebenen von Oben/ Unten bzw. Innen/ Außen zusammenfallen, da beide jeweils zu der einen selben Seite gehören. Vorstellen lässt sich dies als ein flaches rechteckiges Band, das an einer Stelle um 180 Grad gedreht wird und dessen Enden dann zusammenklebt werden, sodass eine gewundene Schleife entsteht. 5 Außerhalb der Mathematik erreichte das Möbiusband vor allem in der Kunst eine große Popularität, wie etwa die Zeichnungen M.C. Eschers (vgl. Abb. 1) eindrucksvoll dokumentieren. 3 Zum postmodernen Film im Allgemeinen siehe exemplarisch Eder, „Postmoderne“. 4 Vgl. etwa Seeßlen, David Lynch, S. 153ff. oder Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 239f. 5 Vgl. Biggs, „Development“, S. 108f., Stewart, „Möbius’s Legacy“, S. 122f. sowie für eine genauere mathematische Beschreibung Dieck, Topologie, S. 58. II. Seltsame Schleifen <?page no="256"?> David Kerler 256 Der Physiker Douglas R. Hofstadter zählt in seinem höchst lesenswerten Buch Gödel, Escher, Bach: Ein endloses geflochtenes Band das Möbiusband ferner zu den sogenannten ‚Seltsamen Schleifen‘: Er beschreibt damit Strukturen, in denen man nach dem Durchgang mehrerer hierarchischer Ebenen kurioserweise wieder an den Anfangspunkt gelangt. 6 Am Beispiel von Eschers Zeichnung bedeutet dies, dass die Ameisen sich nur auf den ersten Blick auf unterschiedlichen inneren und äußeren Ebenen befinden; nach dem Durchlaufen der Schleife zeigt sich jedoch, dass beide derselben Ebene angehören. Abb. 1: Escher, Möbiusband II Dieses Strukturprinzip ist gleichermaßen auf Lost Highway übertragbar. So sind sowohl die Handlungsebene als auch die audiovisuelle Ebene von diversen Doppelungen durchzogen, welche das Verhältnis von Innen/ Außen, Oben/ Unten, Realität/ Phantasie sowie von Ursache und Wirkung nivellieren. Eine Rekonstruktion dieser eigenwilligen Logik liefert dabei einen ersten Schlüssel für ein vertieftes Verständnis des Films. Hierfür muss der Film zunächst in drei Handlungsteile gegliedert werden: (1) der Handlungsstrang um Fred und Renée, (2) die an den film noir angelehnte Dreiecksbeziehung zwischen Pete, Alice und Mr. Eddy bzw. Dick Laurent und schließlich (3) die erneute Metamorphose zu Fred mit dem anschließenden Mord an Dick Laurent. Teil 1 und 2 lassen sich als invertierte Spiegelungen des jeweils anderen Teils lesen. Während der erste Teil hauptsächlich im Haus der Madisons spielt und dort die problematische Beziehung Renées und Freds in dunklen sowie bedrohlichen Bildern gestaltet, wird der zweite Teil um Pete und Alice in helleren Farben, vermehrten Außenaufnahmen sowie häufigeren Ortswechseln dargestellt. Renée und Alice (beide gespielt von Patricia Arquette) sowie Fred und Pete können dabei als Doppelgängerfiguren gelesen werden: Die brünette und introvertierte Renée findet ihr invertiertes Pendant in der blonden und manipulativextrovertierten Alice; der sexuell erfolglose Fred, der (womöglich) von seiner Frau 6 Vgl. Hofstadter, Gödel, hier S. 12-17. <?page no="257"?> David Lynch, Lost Highway 257 betrogen wird, findet hingegen im jüngeren und sexuell erfolgreicheren Pete seine Entsprechung. Dieser nimmt hier selbst die Rolle des Betrügers ein, da er eine Affäre mit Alice, d.h. der Geliebten von Mr. Eddy eingeht. Interessant in diesem Zusammenhang ist ferner der Aufschub der jeweiligen Rivalen: Im ersten Teil ist Andy der Rivale von Fred, den er erst als Pete im zweiten Teil besiegen kann; im zweiten Teil hingegen ist Mr. Eddy der Rivale, den Fred schließlich im dritten Teil (welcher wiederum eng mit dem ersten Teil verknüpft ist) beseitigt. Kurz: Der erste Teil ließe sich als das Beziehungsdrama eines entfremdeten Ehepaars lesen, welches im zweiten Teil zunächst eine Idealisierung mit invertierten Rollen erfährt. Diese scheitert jedoch gleichermaßen und kehrt im dritten Teil wieder zum Anfangspunkt zurück. Innerhalb dieser Handlungsstränge durchdringen sich Realität und Phantasie dabei mehrfach gegenseitig, sodass eine klare Unterscheidung sich als zunehmend schwierig erweist. Das zeigt sich vor allem an diversen Doppelungen von Dialogen, Handlungselementen sowie Musikstücken. So läuft beispielsweise Freds Saxophonsolo im Radio von Petes Werkstatt; während Renée bei Fred nur andeutet, dass sie Andy bei ‚Moke’s‘ kennenlernte und er ihr einen nicht näher bestimmten ‚Job‘ angeboten habe, expliziert Alice diese Geschichte als ein Pornocasting bei Mr. Eddy; der Sex zwischen Fred und Renée sowie zwischen Alice und Pete wird in beiden Sequenzen vom selben Musikstück untermalt. 7 Besonders signifikant sind zudem Freds und Petes ‚erste‘ Begegnungen mit dem Mystery Man, die durch eine parallele Dialoggestaltung gekennzeichnet sind: MM: We’ve met before, haven’t we? MM: We’ve met before, haven’t we? Fred: I don’t think so, where was it you think Pete: I don’t think so…where is we’ve met? it you think we’ve met? MM: At your house, don’t you remember? MM: At your house, don’t you remember? Fred: No, no I don t…are you sure? Pete: No, no I don t… 8 Angesichts der zirkulären Struktur des Films, in welcher Anfang und Ende zusammenfallen, und der Möglichkeit, dass das ‚Haus‘ auch metaphorisch als Freds/ Petes Psyche gedeutet werden kann, verdeutlichen diese sich wiederholenden Dialoge zusätzlich die problematische Unterscheidung der verschiedenen Ebenen. Zum einen ist es möglich, dass der Mystery Man damit sein vorheriges (flüchtiges) Erscheinen in Renées Gesicht meint; zum anderen kann er auch auf das erste ‚richtige‘ Zu- 7 Neben den genannten Beispielen lassen sich diese Doppelungen bis in die Mikrostruktur des Films nachweisen. So weist etwa Justus Nieland darauf hin, dass die Innenarchitektur des Hauses der Madisons gleichsam die äußere Architektur spiegelt. Ferner lässt sich die Inneneinrichtung auch auf die Gesamtstruktur des Films beziehen, wie etwa am Beispiel des elliptischen Wohnzimmertisches, der die Möbiusbandstruktur des Films spiegelt (vgl. Nieland, David Lynch, S. 53f. und 56f.). 8 Lynch, Lost Highway, 00: 28: 00 und 01: 35: 17. ’ ’ <?page no="258"?> David Kerler 258 sammentreffen im zweiten und dritten Teil des Films anspielen. In diesem Fall lägen der zweite und dritte Teil chronologisch vor dem ersten. Das wird jedoch wieder insofern subvertiert, als Pete den Mystery Man gleichermaßen bereits getroffen hat, was für die ursprüngliche Chronologie spräche. Hieraus ergibt sich insgesamt ein - analog zu M.C. Eschers Bild Zeichnen (vgl. Abb. 2), in welchem unterschiedliche hierarchische Ebenen nivelliert werden - erzähllogisches Paradoxon: Ist Petes Affäre mit Alice nur die Vorgeschichte von Fred und Renée oder vice versa? Imaginiert sich Fred als Pete oder Pete als Fred? Entspringt die Fiktion der Realität oder die Realität der Fiktion? Oder liegt beides gar auf derselben Ebene? Abb. 2: Escher, Zeichnen In der erneuten Metamorphose zu Fred kehrt der dritte Teil wieder zum ersten Teil zurück. Auch hier treten diverse Doppelungen auf. Zunächst ist Petes Vision in Andys Haus anzuführen, in welcher er sich auf einmal im Lost Highway Hotel befindet und dort im Zimmer 26 Renée beim Sex sieht. Dies ist dabei genau jener Ort, an welchem Dick Laurent mit Renée Sex hat, bevor er von Fred gegen Ende des Films gewaltsam entführt wird (beide Sequenzen werden ferner durch den Song „Rammstein“ der gleichnamigen Musikgruppe begleitet, was erneut auf diese Doppelung hindeutet). Nachdem Fred, mit Hilfe des Mystery Man, Dick Laurent umbringt, überbringt er sich schließlich selbst die Nachricht, dass Laurent tot sei. An diesem Punkt lässt sich sagen, dass die Möbiusschleife einmal komplett durchlaufen wurde: das Ende des Films ist zugleich der Anfang; die Ursache ist die Wirkung und die Wirkung zugleich die Ursache. In der darauffolgenden letzten Sequenz des Films sehen wir schließlich, wie Fred eine erneute Metamorphose zu durchlaufen scheint und den dunklen ‚Lost Highway‘ entlang fährt. Diese, zum Filmbeginn analog gestaltete Fahrt wird dabei durch David Bowies „I’m Deranged“ untermalt - d.h. exakt jenem Song, der den Film, in einer leicht abgewandelten Form, zuvor eingeleitet hat. Die audiovisuelle Rahmung lässt sich hier insofern metafiktional auf das Filmganze be ziehen, als es die Nivellierung von Innen und Außen offenlegt: Genauso wie Bowies verschiedene Versionen des Songs eine Wiederholung mit Differenzen darstellen, sind die drei Teile des Films gleichsam möbiusbandartige Wiederholungen mit Differenzen; die formalästhetische Ebene sowie die Inhaltsebene spiegeln demnach einander und legen dadurch das Konstruktionsprinzip des Films offen. - <?page no="259"?> David Lynch, Lost Highway 259 Die vorangegangenen Überlegungen zur Möbiusbandstruktur des Films lassen sich, in einem weiteren Schritt, mit einer psychoanalytischen Lesart verbinden, wonach sich Freds Innen- und Außenwelten in vielfacher Art und Weise verschränken und dadurch die Leerstelle seines obsessiven Begehrens offenlegen. Hierfür muss zunächst ein Blick auf den ersten Teil von Lost Highway geworfen werden, der eine eindringliche psychologische Studie eines zutiefst voneinander entfremdeten Ehepaares darstellt. Fred und Renées Beziehung ist durch Misstrauen, extrem reduzierte Kommunikation und dunkle Geheimnisse charakterisiert - Innenwelten, die durch die Außenwelt des gemeinsamen Hauses metaphorisch gespiegelt werden. So zeichnet sich dessen eigenwillige Architektur insbesondere durch ein bedrohliches Spiel mit Licht und - vorwiegend - Schatten/ Dunkelheit, äußerst schmale Fenster sowie verwinkelte Gänge aus, aus denen die Figuren wie aus dem Nichts hervorzutreten und auch zu verschwinden scheinen. 9 Anknüpfend an die zuvor explizierte Möbiusbandstruktur des Films lässt sich feststellen, dass die Bewegung der Figuren durch diese Außenräume zugleich auch einer Bewegung durch ihre unbewussten Innenräume entspricht. Untermalt wird die bedrohliche Raumdarstellung schließlich durch ein gelegentlich auftretendes monotones Rauschen, das nicht nur an frühere Filme wie etwa Eraserhead oder Twin Peaks erinnert, sondern von einigen Kritikern auch als kosmisches, uterales Rauschen gelesen wird. 10 Letzteres kann dabei als eine Vorausdeutung auf die später folgende ‚Kopfgeburt‘ Petes nach Renées Ermordung gedeutet werden. Vor dem Hintergrund des Gesagten verwundert es nicht, dass das Ehebett - der Ort ihrer sexuellen Entfremdung und auch des später folgenden Mordes - in schwarze Bettwäsche gehüllt ist, die symbolisch das diffuse Gefühl von Bedrohung und Tod konnotiert. Überhaupt nimmt das Ehebett in diesem ersten Teil des Films insofern eine zentrale Stellung ein, als es Freds Begehren sowie dessen Scheitern bzw. Unerfüllbarkeit versinnbildlicht: In seiner Obsession mit Renée strebt Fred einerseits nach Idealisierung und Totalität, 11 die andererseits (notwendigerweise) scheitert und sich in seinem sexuellen Versagen, der Absenz einer jouissance, manifestiert (vgl. Abb. 3). Das verstärkt jedoch umso mehr Renées mysteriöse und furchteinflößende Aura. Denn es ist das rätselhafte Begehren des Anderen, welches Fred zu verstehen bzw. besitzen trachtet und ihn dadurch selbst als begehrendes Subjekt konstituiert. Demnach kann auch die prekäre Kommunikation zwischen den beiden als Freds (vergebliches) Bemühen gewertet werden, hinter Renées ‚Geheimnis‘ zu 9 Vgl. Fischer, David Lynch, S. 274f. zur Spiegelung psychischer Innenräumen in der Architektur des Hauses sowie McGowan, „Finding Ourselves“, S. 56 zur prekären Kommunikation zwischen den beiden Ehepartnern. 10 Vgl. Seeßlen, David Lynch , S. 228f. und 238-240. 11 Vgl. O’Connor, „Pitfalls“, S. 17f. und 19. III. Innen- und Außenwelten: Die Leerstelle des Begehrens <?page no="260"?> David Kerler 260 kommen und damit in das Reich ihres Begehrens zu gelangen, d.h. sie vollständig zu genießen und zu besitzen. 12 Abb. 3 Diese Sphäre ist Fred jedoch in schmerzvoller Art und Weise entzogen. Ein Verlust, den auch sein orgiastisches Musizieren in der Luna Lounge nicht zu sublimieren vermag: Zum einen muss er Renée auch hier zwanghaft anrufen; zum anderen beantwortet sie diese Anrufe bezeichnenderweise nicht. In der (womöglich) paranoiden Vorstellung Freds ist dies ein weiteres Indiz ihrer Untreue, d.h. seiner diffusen Befürchtung, dass jemand anderes Renée genießt und ihr geheimes Begehren zu erfüllen vermag. Freds Haus, das zugleich auch metaphorisch sein eigenes, innerstes Ich spiegelt, zeugt damit von der Absenz des begehrten Objekts (Renée) und von seinem Unvermögen, mit ihr eine leidenschaftliche (bzw. seinem idealisierten Begehren entsprechende) Beziehung einzugehen. In seinem vagen Verdacht von Renées Untreue deutet sich dabei bereits die Externalisierung dieses Konflikts an, der im zweiten Teil des Films mit dem Auftreten von Mr.Eddy/ Dick Laurent als ödipaler Rivale konkretisiert wird und auf welche an späterer Stelle noch genauer eingegangen wird. Inmitten von Freds Entfremdung von seiner Frau und seinem zugleich zwanghaften Begehren tauchen schließlich die mysteriösen Videobänder und der nicht weniger geheimnisvolle Mystery Man auf. Dieser erfüllt in Lost Highway eine Vielzahl von Funktionen und wird entsprechend unterschiedlich gedeutet. Im Hinblick auf dessen Funktion im ersten Teil des Films lohnt sich ein genauerer Blick auf sein ‚erstes‘ Treffen mit Fred. Letzterer besucht zusammen mit Renée eine Party eines gewissen Andy. Als Fred ihr einen Drink holen geht, spricht ihn an der Bar ein weiß geschminkter, Mephistopheles-ähnlicher Mann an (vgl. Abb. 4): Mystery Man: We’ve met before, haven’t we? Fred: I don’t think so, where was it you think we met? Mystery Man: At your house, don’t you remember? Fred: No. No, I don’t… are you sure? 12 Vgl. McGowan, „Finding Ourselves“, S. 45-57 und Žižek, Art, S. 24: „Fred desires insofar as desire is the desire of the Other, i.e., he desires, perplexed by Renee’s obscure desire, interpreting it endlessly, trying to fathom what does she want? “ , ‘ ‘ , <?page no="261"?> David Lynch, Lost Highway 261 Mystery Man: Of course. As a matter of fact, I’m there right now. Fred: What do you mean? You’re where right now? Mystery Man: At your house. Fred: That’s fucking crazy, man. Mystery Man: Call Me. Dial your number. Go ahead. Mystery Man: [durch das Telefon] I told you I was here. Fred: How’d you do that? Mystery Man: Ask me. Fred: [in das Telefon hinein] How did you get inside my house? Mystery Man: You invited me. It is not my custom to go where I am not wanted. Fred: Who are you? [Mystery Man lacht teuflisch] Mystery Man: [durch das Telefon] Give me back my phone. Mystery Man: It’s been a pleasure talking to you. 13 Abb. 4 Der Mystery Man lässt sich hier als Doppelgänger Freds deuten, der die mörderische und destruktive Seite seiner Persönlichkeit repräsentiert. Durch seine zunehmende Entfremdung von und gleichzeitige Obsession mit seiner Frau hat Fred das Böse sinnbildlich in sein Haus bzw. seine Psyche eingeladen. Die Videobänder, die der Mystery Man den Madisons schickt, sind demnach Zeugnis von Freds stetig anwachsendem Mordgedanken, der in der dritten Videokassette kulminiert. 14 In diesem Sinne ist der Mystery Man tatsächlich der ‚Regisseur‘ des Mordes, dessen unheimliche Präsenz letzteren maßgeblich vorantreibt. Unterstrichen wird dies ferner durch die Einstellungsperspektive der Videobänder, welche durch eine extreme Aufsicht gekennzeichnet sind, sowie der Tatsache, dass Fred und Renée oftmals einen fragenden Blick nach oben werfen: Beides suggeriert, dass sie Marionetten im teuflischen Spiel des Mystery Man sind, d.h. des destruktiven Unbewussten Freds. 15 Dass der Mystery Man die böse Seite Freds repräsentiert, wird ferner durch die musikalische 13 Lynch, Lost Highway, 00: 28: 00. 14 Vgl. zu dieser Lesart des Mystery Man Seeßlen, David Lynch, S. 169, Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 211, Olson, David Lynch, S. 439f. und 450 sowie Žižek, Art, S. 23, der den Mystery Man als objektiv registrierende, neutrale Projektionsfläche von Freds unbewussten Trieben versteht. 15 Vgl. Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 242-244. <?page no="262"?> David Kerler 262 Untermalung angedeutet. So ist der Titel von Barry Adamsons Instrumentalstück, „Something Wicked This Way Comes“, ein Zitat aus William Shakespeares Macbeth. Mit diesen Worten deutet die zweite Hexe zu Beginn des vierten Aktes die Ankunft Macbeths an, der im Laufe des Stücks zunehmend zum Tyrannen wird und daher das Böse verkörpert. 16 Im Hinblick auf Lost Highway lässt sich diese Referenz zum einen direkt auf Fred beziehen, der bei Andys Party zu Gast ist und später seine Frau ermorden wird; zum anderen kann dies in einem weiteren Sinne auch auf den Mystery Man bezogen werden, d.h. auf das Böse, das Fred in sein Haus eingeladen hat. Mit der dritten Videokassette erreicht Freds Begehren nach Renées Geheimnis, d.h. das idealisierte Wunschobjekt vollständig besitzen zu wollen, schließlich seinen Höhepunkt. 17 Bevor Fred das Videoband abspielt wirft er erneut einen suchenden Blick nach oben, als ob er sich der nun folgenden Tat - oder bereits erfolgten Tat; auch hier werden durch das Film-im-Film-Motiv Ursache und Wirkung kunstvoll invertiert - erneut beim Regisseur (dem Mystery Man) vergewissern wolle. In einer zunehmend schneller werdenden Schnittfrequenz, die zwischen einer in extremer Aufsicht durch die Räume und Flure des Hauses fahrenden Kamera einerseits und dem das Video betrachtenden Fred andererseits changiert, werden wir Zeuge vom Mord an Renée im Schlafzimmer. In einer Reihe von kurzen Schnitten ist dabei ein blutverschmierter Fred inmitten der verstümmelten Körperteile Renées zu sehen. Es scheint, als versuche Fred (vergeblich) Renées Geheimnis nun in ihrem Körper zu finden - ein obsessiv-destruktiver Akt, um an den mysteriösen Kern seines Verlangens zu gelangen oder diesen gar zu zerstören, um das unerfüllbar-schmerzhafte Begehren zu überwinden. 18 Die Sequenz endet schließlich mit einem weiteren Schnitt, der Freds Verhör durch die Polizei zeigt: der Film im Film wurde zur Realität des Films; das Innere wurde zum Äußeren. An dieser Stelle muss kurz auf Freds Metamorphose eingegangen werden, die in vielfacher Art und Weise gedeutet werden kann. 19 Eingeleitet wird diese Sequenz durch ein flimmerndes blaues Licht, das Lynch häufig in seinen Filmen verwendet, so etwa im Red Room bzw. der Black/ White Lodge aus Twin Peaks oder im Club Silencio aus Mulholland Drive. Es indiziert die Präsenz einer Zwischenwelt, in welcher konventionelle raumzeitliche Gesetze aufgehoben sind bzw. jenen neuralgischen Punkt, an welchem sich alternative Welten verschränken, das Übernatürliche einbricht sowie Innen und Außen im besonderen Maße zusammenfallen. Wir sehen, wie zu Beginn des Filmes, eine Fahrt den dunklen Highway entlang und wie Pete wartend am Straßenrand steht. Darauf folgt ein erneuter Schnitt zu Fred, der sich blutend am Boden wälzt und den deformierten Kopf hält. Dieser öffnet sich schließlich, die Kamera zoomt hinein und ein harter Schnitt beendet diese Sequenz. Die Verwandlung in 16 Vgl. Shakespeare, Macbeth, Akt IV, Szene 1. 17 Vgl. Lynch, Lost Highway, 00: 38: 35-00: 40: 15. 18 Vgl. O’Connor, „Pitfalls“, S. 19f. und McGowan, „Finding Ourselves“, S. 59f., die auf Freds vergebliche und destruktive Suche nach diesem Geheimnis in Renées Körper hinweisen. 19 Vgl. Lynch, Lost Highway, 00: 47: 32-00: 49: 00. <?page no="263"?> David Lynch, Lost Highway 263 Pete Dayton ist damit im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚Kopfgeburt‘. 20 Vertreter der vorwiegend realistischen Erklärung deuten die Verwandlung als Folge eines schizophrenen Schubs angesichts der Traumatisierung durch den Mord. Fred kann diesen sowie seine Todesstrafe nicht akzeptieren, verdrängt beides und flüchtet sich in eine neue Identität. 21 Stärker psychoanalytisch gerichtete Lesarten hingegen sehen den Mord nicht als faktisch an, sondern als Ausdruck des inneren, psychischen Konflikts Freds hinsichtlich seiner defizitären Beziehung zu Renée; die folgende Metamorphose zu Pete ist dabei eine Externalisierung des Konflikts, in welchem sich Fred als Pete inmitten der Zwänge eines ödipalen Dreiecks imaginiert. Beides sind demnach Akte der Verschiebung, d.h. nicht der Mord ist das ausschlaggebende Moment, sondern Freds unerfüllbares Verlangen, Renées Geheimnis/ Begehren in einer Reihe von (erfolglosen) imaginären Projektionen zu verstehen bzw. zu besitzen. 22 Diese zweite Interpretationslinie soll nachfolgend weiterverfolgt werden, indem der zweite Teil des Films als eine invertierte Wiederholung der defizitär-prekären Beziehung zwischen Fred und Renée gelesen wird. Auf den ersten Blick scheint Pete tatsächlich ein idealisiertes alter ego Freds zu sein: Die Eltern des Automechanikers sind coole Rocker, er ist jünger und - zunächst - sexuell erfolgreicher als Fred, wie seine Beziehungen zu Sheila und Alice suggerieren. Gleiches gilt für die Raumdarstellung. Während im ersten Teil ein architektonischer Minimalismus und dunkle, nahezu monochromatische Töne dominierten, zeichnet sich der zweite Teil durch satte Farben sowie den vermehrten Einsatz von Totalen und Weitaufnahmen aus, die mit der klaustrophobisch-bedrohlichen Enge des ersten Teils kontrastieren. Entgegen des mysteriösen und dunklen ersten Teils wird Pete damit inmitten einer hellen, vordergründig harmonischen, Hollywood-Ästhetik verortet. 23 Renée erfährt dabei gleichermaßen eine Idealisierung in Form ihrer erblondeten Doppelgängerin Alice: Zwar ist die femme fatale Alice nicht weniger geheimnisvoll als Renée, jedoch geht sie mit Pete eine leidenschaftliche Affäre ein - ein Genießen des geheimnisvollen Wunschobjekts, das Fred zuvor verwehrt war. Diesem Genießen steht jedoch - dem klassischen Muster des ödipalen Dreiecks folgend - ein gewisser Mr. Eddy bzw. Dick Laurent entgegen, der Alice für sich einfordert. Dick Laurent nimmt dabei, wie schon der Vorname suggeriert, die Funktion des Phallus ein. 24 Diese ödipale Konstellation wird bereits durch die Bildgestaltung des ersten Treffens zwischen Pete und Alice angedeutet: 25 Mr. Eddy/ Dick 20 Vgl. zu dieser ‚Kopfgeburt‘ Kaul/ Palmier, David Lynch, S. 99 und Seeßlen, David Lynch, S. 172. Siehe hierzu auch McGowan, „Finding Ourselves“, S. 60, der in dem sich öffnenden Kopf eine vaginale Öffnung zu erkennen meint. 21 Vgl. etwa Kaul/ Palmier, David Lynch, S. 91f., Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 210 oder Olson, David Lynch, S. 445f. 22 Vgl. Žižek, Art, S. 19f., Seeßlen, David Lynch, S. 168 und 171, O’Connor, „Pitfalls“, S. 28 und McGowan, „Finding Ourselves“, S. 60. 23 Vgl. McGowan, „Finding Ourselves“, S. 54 und 62f. zur kontrastierenden Raumdarstellung im Hinblick auf Fred und Pete. 24 Vgl. zum ödipalen Dreiecksverhältnis zwischen Dick Laurent, Alice und Pete exemplarisch Žižek, Art, S. 19f., Seeßlen, David Lynch, S. 172 und McGowan, „Finding Ourselves“, S. 64f. 25 Vgl. Lynch, Lost Highway, 01: 10: 00-01: 11: 55. <?page no="264"?> David Kerler 264 Laurent fährt seinen Cadillac zur Reparatur in Petes Werkstatt. Als dieser aussteigt, sehen wir aus Petes Sicht kurz die Beifahrerin Alice bevor Dick Laurent wieder in das Bild hineintritt. Demnach gibt es in dieser Einstellung drei Bildebenen, in welcher Laurent bezeichnenderweise zwischen Pete und Alice steht (vgl. Abb. 5) und damit das zu überwindende Hindernis repräsentiert. Die dabei einsetzende Tiefenunschärfe, wodurch Alice in den Hintergrund rückt und nur eine nebulöse Erscheinung für Pete bleibt, verdeutlicht nochmals die Dominanz von Dick Laurent. Abb. 5 Neben seinen konkreten Warnungen an Pete, das verbotene Objekt (Alice/ Renée) nicht zu begehren, ist in diesem Zusammenhang auch die sogenannte tailgating- Sequenz hervorzuheben: 26 Laurent unternimmt mit Pete eine kleine Rundfahrt, die durch das zu dichte Auffahren eines Dränglers gestört wird. Daraufhin drängt Laurent den Drängler von der Straße, schlägt ihn mit seiner Pistole ins Gesicht und zitiert Verkehrsstatistiken, wonach zu dichtes Auffahren eines der häufigsten Ursachen von Verkehrsunfällen sei. Diese, auf den ersten Blick grotesk-komisch wirkende Sequenz ist insofern von besonderer Signifikanz, als der cholerische Dick Laurent hier erneut seine Rolle als symbolisches Gesetz und patriarchalische Autorität unterstreicht. So gibt es, nicht nur für das Autofahren, „goddamn rules“, 27 die einzuhalten sind. 28 Mit der Konstruktion dieses ödipalen Dreiecks hat Fred folglich das Innere veräußerlicht, indem er seine eigene Impotenz und Destruktivität auf die Zwänge eines externen Objekts (Mr. Eddy/ Dick Laurent) projiziert, das ihm das Genießen verbietet. 29 Wie Seeßlen hierzu treffend feststellt, ist diese ödipale Identitätskonstruktion insofern zutiefst schizophren, als „der Prinz und der Drache in Wahrheit der selben Person entsprungen sind“, 30 d.h. im ersten Teil ist Fred der Drache, der Renées Untreue nur durch den Mord verhindern kann; im zweiten Teil hingegen ist Pete der 26 Vgl. Lynch, Lost Highway, 00: 58: 35-01: 04: 44. 27 Ebd., 01: 02: 50. 28 Vgl. zu dieser Deutung der tailgating-Sequenz Žižek, Art, S. 22. 29 Vgl. ebd., S. 19f. 30 Seeßlen, David Lynch, S. 172. <?page no="265"?> David Lynch, Lost Highway 265 Prinz, der Alice von Mr.Eddy befreien muss. 31 In anderen Worten: Während Fred das geheimnisvolle Reich von Renées Begehren völlig verschlossen bleibt, kann er sich als Pete zumindest der Phantasie eines partiellen Genießens hingeben, das sein unaushaltbares Begehren zu lindern vermag. Sein Genießen ist dabei als partiell anzusehen, da es mehrfach aufgeschoben ist: Zum einen durch das Verbot Dick Laurents; zum anderen durch Laurents eigenes sexuelles Verhältnis mit Alice. 32 Den eigentlichen Zweck, den diese schizophrene Identitätskonstruktion jedoch letzten Endes erfüllt, ist der Aufschub der Leerstelle des Begehrens. Denn Renée bzw. Alice im Besonderen sind Idealisierungen des begehrenden männlichen Subjekts, die schon von Anfang an eine Absenz bzw. interpretative Leerstelle beschreiben. Diese bringt ihr ‚Geheimnis‘ überhaupt erst hervor und verschleiert im Akt der Sublimation die grundsätzliche Absenz des begehrten Objekts. Kurz: Fred kann Renée nur dann haben, wenn er sie (Alice) in seiner Phantasie als Pete nicht (vollständig) hat, sondern nur aufgeschoben bzw. vermittelt. 33 Das wird an zwei aussagekräftigen Sequenzen besonders deutlich. Erstens in der Wiederholung von Renées Andeutung im ersten Teil, dass sie Andy bei ‚Moke’s‘ kennenlernte und er ihr einen ‚Job‘ anbot. Während dieser ‚Job‘ für Fred im ersten Teil lediglich eine geheimnisvolle Leerstelle ist, expliziert und - vor allem - idealisiert er diese als Pete im zweiten Teil: 34 Alice erzählt von ihrem ersten Treffen mit Mr. Eddy, das Pete mit vordergründiger Ablehnung, jedoch gleichzeitiger voyeuristischer Faszination aufnimmt. In der dazugehörigen Sequenz sehen wir, wie Alice Mr. Eddy in seinem Anwesen besucht und von seinen Leibwächtern in einen großen, barocken Saal geführt wird. Dort muss sie sich - mit einem vorgehaltenen Revolver (d.h. sich dem Phallus unterwerfend) - vor dem in der Mitte des Raumes herrisch sitzenden Mr. Eddy ausziehen. Just in dem Augenblick, in welchem sie sich zwischen Mr. Eddys Beine hinkniet und seine Wange streicheln möchte, wechselt die Kamera wieder zurück zur Erzählgegenwart und zeigt sie bei derselben Geste mit Pete (vgl. Abb. 6 und Abb. 7). Das ist insofern von besonderer Signifikanz, als es - durch die suggerierte Gleichsetzung von Pete und Mr. Eddy - Alices Erzählung als eine Projektion Petes demaskiert (welcher wiederum eine Konstruktion Freds ist und damit auf einen Aufschub mindestens zweiter Ordnung hindeutet). Fred phantasiert sich demnach als Pete, der wiederum sein eigenes (unerfüllbares) Begehren auf das Genießen des Anderen (Mr.Eddy/ Dick Laurent) projiziert und dadurch zumindest ein gewisses Maß an Erfüllung erfährt. 35 31 Vgl. Seeßlen, David Lynch, S. 172. 32 Vgl. hierzu McGowan, „Finding Ourselves“, S. 64f. 33 Vgl. ebd., S. 66f. und, in einem weiteren Sinne, Žižeks Ausführungen (Art, S. 15-20) zur femme fatale. 34 Vgl. Lynch, Lost Highway, 01: 27: 05-01: 30: 37. 35 Vgl. hierzu auch McGowan, The Real Gaze, S. 208. <?page no="266"?> David Kerler 266 Abb. 6 Abb. 7 Der Konstruktcharakter dieser Sequenz wird ferner durch die Raumgestaltung offengelegt, welche durch ihren ausufernden barocken Kitsch auf den pornographischen Charakter dieser imaginären Projektion hinweist; 36 pornographisch auch in dem Sinne, als es sich hier um ein banales Genießen einer visuellen Oberfläche handelt, deren inhaltlicher Kern absent ist. Das heißt, Renées ‚Geheimnis‘, welches von Anfang an eine Leerstelle des Begehrens markiert, kann in Freds/ Petes Phantasie konsequenterweise nur die Form eines reinen oberflächlich-pornographischen Genießens annehmen. Diese, der Sublimation inhärente Absenz des begehrten Objekts wirkt wiederum auf Pete zurück, indem es die Rätselhaftigkeit der femme fatale Alice weiter unterstreicht. In diesem Sinne ist nicht Alice das Opfer der phallischen Macht von Dick Laurent/ Mr. Eddy, sondern vielmehr Pete das Opfer seines eigenen phantasmatischen Begehrens, das er nicht zu kontrollieren vermag - ein Umstand, den die musikalische Untermalung dieser Sequenz durch Marilyn Mansons Coverversion von „I Put a Spell on You“ treffend kommentiert. Eine zweite zentrale Sequenz in diesem Zusammenhang, die zugleich auch einen entscheidenden Wendepunkt in Petes Entwicklung markiert, ist der Raub und anschließende Mord in Andys Haus. 37 Um den Fängen Mr. Eddys entkommen zu können, plant Alice einen Bekannten namens Andy auszurauben, die Ware an einen Hehler in der Wüste zu verkaufen und anschließend die Stadt zu verlassen. Hierfür soll Pete nachts in Andys Haus einbrechen, während sie ihn im Schlafzimmer ablenkt. Die mise-en-scène, die der Zuschauer sieht, als Pete das Haus betritt, erweist sich dabei als hochgradig semantisch aufgeladen: Pete erblickt im Wohnzimmer eine riesige Leinwand, auf welcher ein Pornofilm läuft, der Alice - sichtlich genießend - beim coitus a tergo zeigt (vgl. Abb. 8). Im Hintergrund ist dabei der choralähnliche Anfang von Rammsteins „Heirate mich“ zu hören. Die Leinwand ist hier im doppelten Sinne eine Projektionsfläche, da sie zugleich Petes psychische Prozesse - d.h. den sprichwörtlichen Film, der in seinem Kopf abläuft - wiedergibt. 36 Vgl. zur Raumdarstellung in dieser Sequenz die hervorragende Analyse von Nieland, David Lynch, S. 58f. 37 Vgl. Lynch, Lost Highway, 01: 38: 02-01: 42: 00. <?page no="267"?> David Lynch, Lost Highway 267 Abb. 8 Als er Andy bewusstlos schlägt und die leicht bekleidete Alice ins Wohnzimmer kommt, wird letztere im Rahmen einer extremen Perspektivenverzerrung in höchst suggestiver Weise zusätzlich mit dem Pornofilm verbunden (vgl. Abb. 9). So ist auch hier das Verhältnis von Innen und Außen mehrfach, möbiusbandartig, invertiert: Der auf der Leinwand laufende Pornofilm reflektiert demnach nicht nur Petes abstoßend-fasziniertes Verhältnis zu Alice, sondern auch die (äußere) Handlungsebene, die gleichermaßen Petes (innerer) Imagination entspringt. Abb. 9 Insgesamt zeigt sich, dass Alice ein Phantasma Petes ist, das in letzter Konsequenz nur die Absenz des begehrten Objekts verdeckt, die Leerstelle seines idealisierten Begehrens. In diesem Sinne nimmt auch der bereits erwähnte Song von Rammstein („Heirate mich“), in welchem der nekrophile Sprecher vergeblich versucht seine tote Frau zu besitzen bzw. wiederherzuholen, eine kommentierende Funktion ein: 38 Ist Freds Heraufbeschwörung seiner ermordeten Frau (bzw. des von vornherein absenten Objekts) im Rahmen seiner phantasmatischen Projektionen als Pete nicht gleich- 38 Vgl. hierzu folgende Textauszüge aus dem Song „Heirate mich“ der Gruppe Rammstein: „Man sieht ihn um die Kirche schleichen / / seit einem Jahr ist er allein / / die Trauer nahm ihm alle Sinne / / schläft jede Nacht bei ihrem Stein […] Mit meinen Händen grab ich tief / / zu finden was ich so vermisst / / und als der Mond im schönsten Kleid / / hab deinen kalten Mund geküsst / / Ich nehm dich zärtlich in den Arm / / doch deine Haut reißt wie Papier / / und Teile fallen von dir ab / / zum zweiten Mal entkommst du mir“. <?page no="268"?> David Kerler 268 ermaßen ein zutiefst nekrophiler Akt, in welchem das begehrte Objekt genau dann in seinen Händen zerfällt, wenn er ihm zu nahe kommt? Wenngleich Fred im Rahmen seiner imaginären Projektion(en) als Pete zumindest ein partielles bzw. indirektes Genießen erfährt, so bleibt Renées Mysterium dennoch in ihrer blonden Doppelgängerin weiterhin bestehen. So ist Freds neue Identität als Pete, in welcher er sich in ein ödipales Dreieck phantasiert, bereits in sich höchst widersprüchlich: Einerseits gestattet dies es ihm, wie zuvor ausgeführt, die Möglichkeit eines partiellen bzw. aufgeschobenen Genießens des unerreichbaren und begehrten Objekts; andererseits hindern ihn diese Widerstände (d.h. der Phallus in Gestalt des Dick Laurent/ Mr. Eddy und, in erneut aufgeschobener Form, Andy) an einem vollständigen Genießen des Wunschobjekts, was wiederum Alices Mysterium und Unerreichbarkeit sowie Petes Begehren ins Extreme steigert. So wird Petes leidenschaftliche Affäre mit Alice bereits früh von der Präsenz Mr. Eddys überschattet, der Alice „somewhere“ 39 mitnimmt und sie dadurch an einem geplanten Treffen hindert. In der darauffolgenden Sequenz wird Petes Obsession mit der femme fatale Alice höchst wirkungsvoll inszeniert: 40 Pete sitzt in seinem Zimmer und Alices Kopf schwirrt buchstäblich um seinen eigenen. Im Rahmen eines assoziativen Schnitts wird Alice dabei mit einer die Wanddecke hochlaufenden Schwarzen Witwe gleichgesetzt. Untermalt wird diese Sequenz durch Marilyn Mansons „Apple of Sodom“, dessen eindringlicher und sich mehrmals wiederholender Refrain („I’ve got something you can never eat“) Pete schmerzvoll daran erinnert, dass er das verbotene Objekt Alice nicht vollständig besitzen bzw. genießen kann. Diese, sich zunehmend steigernde Einsicht, kulminiert schließlich nach Andys Mord. 41 Pete entdeckt in dessen Wohnzimmer ein Bild, das sowohl Renée als auch Alice zusammen mit Mr. Eddy/ Dick Laurent und Andy zeigt. Das Bild signalisiert, dass sich Pete der phantasmatischen Verdoppelung des unerreichbaren Objekts zunehmend bewusst wird: Alice ist Renée und das Geheimnis letzterer bleibt auch in der imaginären Projektion weiterhin bestehen, d.h. auch Alice ist Pete von Grund auf entzogen. Angesichts des zunehmenden Zusammenbruchs der Wunschprojektion, bekommt Pete starke Kopfschmerzen und versucht sich torkelnd ins Badezimmer zu schleppen. Dabei transformiert sich der Flur - signifikanterweise begleitet durch ein flackerndes blaues Licht - in jenen des Lost Highway Hotels. Pete öffnet die Türe zum Zimmer 26 und sieht dort, in grellem rotem und das Bild verwaschendem Licht, die kopulierende Renée, die ihn spöttisch-lachend fragt, „Did you wanna talk to me? Did you wanna ask me, why? “ 42 Die Sequenz verdeutlicht, dass sich Freds und Petes Welt erneut verschränken; diesmal muss Pete jedoch erkennen, dass Alice und Renée lediglich zwei Seiten derselben Medaille sind. Die folgende Flucht mit Alice kann dabei als Petes letzter Versuch gewertet werden, am Trugbild des ödipalen Dreiecks festzuhalten. Denn in der Logik des Letzteren können er und Alice sich durch das Ausschalten Andys endlich dem Verbot des Vaters entziehen 39 Lynch, Lost Highway, 01: 18: 28. 40 Vgl. ebd., 01: 18: 59-01: 20: 58. 41 Vgl. ebd., 01: 41: 33-01: 52: 20. 42 Ebd., 01: 43: 08. <?page no="269"?> David Lynch, Lost Highway 269 (bezeichnenderweise hat Pete Mr. Eddy jedoch nur über den Umweg über Andy besiegt, d.h. auch nur in aufgeschobener Art und Weise). Als sie in der Wüste auf den Hehler warten, kommt es zum letzten Mal zum Sex zwischen Pete und Alice. Vor dem gleißenden Scheinwerferlicht lieben sich die beiden begleitet vom „Song to the Siren“, d.h. exakt jenem Musikstück, das bereits im ersten Teil den scheiternden sexuellen Akt von Renée und Fred untermalte. Auch hier endet der Sex unbefriedigend und markiert die Absenz einer jouissance: Kurz vor dem Höhepunkt antwortet Alice auf Petes wiederholtes „I want you“, indem sie ihm „You’ll - never - have - me“ ins Ohr flüstert, 43 aufsteht und in der Hütte des Hehlers verschwindet. Freds Phantasiekonstrukt bricht an dieser Stelle völlig zusammen. So ist genau jener Punkt, an welchem er Alice als Pete am Nächsten ist, zugleich jener Punkt, an welchem Alices Absenz am deutlichsten wird. Nochmals: Pete kann Alice nur über den Umweg der Konstruktion eine ödipalen Dreieckes genießen; werden dessen Widerstände überwunden, so offenbart sich lediglich die bisher aufgeschobene Leerstelle seines phantasmatischen Begehrens. Pete erweist sich also in dieser Hinsicht als genauso impotent wie Fred und verwandelt sich konsequenterweise in diesen zurück. 44 Der dritte Teil des Films steht schließlich ganz unter dem Zeichen des Mystery Man. Fred tötet mit dessen Hilfe Dick Laurent und überbringt sich über die Sprechanlage seines eigenen Hauses - paradoxerweise - selbst die Nachricht, dass Dick Laurent tot sei. Der Mystery Man kann hier zunächst als zutiefst narzisstische Projektion Freds gelesen werden: Er repräsentiert Freds absolut gesetztes Wunschego - d.h. ein extrem idealisiertes alter ego, das in der Lage ist, die sublimatorische Repräsentation/ Phantasie völlig zu kontrollieren und dadurch gewissermaßen als gottähnlicher Regisseur seiner eigenen (Phantasie-)Welt zu fungieren. 45 In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass der Mystery Man oftmals eine Videokamera bei sich hat und raumzeitlichen Beschränkungen nicht unterworfen ist (so etwa bei seiner gleichzeitigen Anwesenheit sowohl bei Andys Party als auch in Freds Haus; oder seiner Präsenz in allen Teilen bzw. Ebenen des Films). Dass der Mystery Man der Regisseur des Gezeigten sein könnte, wird insbesondere am Filmende angedeutet: Zum einen dadurch, dass er von einem Fenster aus beobachtend den Vorhang zur Seite schiebt und damit Freds Entführung von Dick Laurent aus dem Lost Highway Hotel einer Kinoaufführung gleichend rahmt (vgl. Abb. 10); zum anderen durch die Tatsache, dass er Fred nach dem Mord an Laurent eine geheime Nachricht ins Ohr flüstert, die eine Handlungsanweisung suggeriert. Der Mystery Man nimmt damit eine unheimliche Präsenz ein, die sowohl innerhalb der Handlungsebene als auch auf der äußeren, metafikionalen Ebene zu verorten ist. 46 Dennoch ist auch diese Konstruktion einer 43 Lynch, Lost Highway, 01: 51: 05. 44 Vgl. die ähnliche Deutung bei McGowan, „Finding Ourselves“, S. 65-67 und Žižek, Art, S. 18f. 45 Vgl. O’Connor, „Pitfalls“, S. 20-23. 46 Vgl. zur Deutung des Mystery Man als Regisseur/ Puppenspieler Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 241-244, Kaul/ Palmier, David Lynch, S. 93-96 und Michalsky, „David Lynch“, S. 400. <?page no="270"?> David Kerler 270 gottähnlichen Autoreninstanz als gescheitert zu bewerten, wie sowohl die zuvor ausgeführten defizitären Repräsentationen (in welchen Fred es niemals schafft, Renée direkt zu genießen) als auch das Filmende, welches wieder zum Anfangszustand zurückkehrt, insgesamt nahelegen. 47 Abb. 10 In einer alternativen Lesart lässt sich die allwissend-beobachtende Präsenz des Mystery Man gemäß McGowan auch als Instanz des Über-Ichs deuten, welches Freds Begehren zu zensieren versucht. Dies kündigt sich bereits im ersten Teil des Films an (so etwa im Ehebett, als Fred in Renée plötzlich das Gesicht des Mystery Man erblickt) und steigert sich kontinuierlich bis zum dritten Teil: Nach seiner Rückverwandlung zu Fred sucht dieser Alice in der Hütte des Hehlers; hier findet er jedoch nur den Mystery Man vor, der ihn energisch daran erinnert, dass es keine Alice gibt. Psychoanalytisch gedeutet zwingt Freds Über-Ich ihn zu erkennen, dass Alice und Pete lediglich Phantasieobjekte seines Begehrens sind. Nachdem er dies erkannt hat, kann sich Fred nun - mit Hilfe des Mystery Man - auch des Vaters (Dick Laurent/ Mr. Eddy) entledigen; denn dieser gehört gleichermaßen der Ebene der Phantasie an und ist durch die erfolgreiche Internalisierung des Gesetzes des Über-Ichs nicht mehr notwendig. In diesem Zusammenhang lässt sich das ‚Geheimnis‘, das der Mystery Man Fred ins Ohr flüstert, wie folgt lesen: Der Vater hat das Wunschobjekt auch niemals vollständig genossen bzw. besessen, da es lediglich der Phantasie des Sohnes entspringt, um seine Leerstelle des Begehrens zu füllen. In diesem Sinne ist auch der Film, den der Mystery Man dem sterbenden Dick Laurent zeigt, höchst aufschlussreich. Denn er zeigt, wie sich Dick Laurent zusammen mit Andy und Renée einen Pornofilm ansieht, in welchem Letztere mitspielt. Zentral ist hierbei, dass auch Dick Laurent hier nicht über den ersehnten Überschuss an Genießen verfügt, sondern vor allem anderen bzw. Renée bei diesem Genießen zusieht. Dem nach hat auch der vermeintlich genießende Vater das Wunschobjekt lediglich in aufgeschoben-phantasmatischer Form, d.h. als Projektion. Der darauffolgende 47 Vgl. hierzu auch O’Connor, „Pitfalls“, S. 27: „There is no simple representation in the film capable of containing his desire for power over the world itself. Pete, Alice, and the Mystery Man all fail to make Fred’s mastery actual“. - <?page no="271"?> David Lynch, Lost Highway 271 Kopfschuss signalisiert schließlich, dass Fred sein eigenes Begehren zugunsten des Gesetzes des Über-Ichs erfolgreich geopfert hat. 48 Das Opfer ist jedoch nur von kurzer Zeit, wie Freds abschließende Nachricht an sich selbst zeigt: indem er versucht, sich das Geheimnis des Gesetzes selbst mitzuteilen (d.h. dass Dick Laurent nun tot ist bzw. der Vater/ Phallus nicht über das Wunsch objekt verfügt) bevor er sein eigenes Begehren (im dritten Teil des Films) opfert, glaubt er Renée endlich besitzen zu können. 49 Damit öffnet er jedoch wieder die Leerstelle des Begehrens, welche er nur in aufgeschobener Form besitzen kann und weshalb der Film konsequenterweise in einer Schleifenstruktur endet. Angesichts dieses Teufelskreises ergeben auch Freds Nachfrage bei Andys Party, warum Dick Laurent nicht tot sei, und die anschließende Verwirrung angesichts Andys verneinender Antwort retrospektiv einen neuen Sinn: Durch sein obsessives Begehren eines von vornherein absenten Objekts generieren sich der Phallus und das Gesetz in Freds Psyche immer wieder aufs Neue. Der ‚Lost Highway‘, auf dem Fred endlos zu fahren verdammt ist, ist damit nichts anderes als eine verbildlichte Signifikantenkette, auf der er dem von Grund auf absenten Objekt des Begehrens im Rahmen seiner kontinuierlichen Projektionsfiguren vergeblich nachzujagen versucht. In einer nahezu spielerischen Nebenbemerkung gibt der David-Lynch-Experte Georg Seeßlen zu bedenken, dass der Film womöglich selbst schizophren sei: „Genausogut wie ich sagen könnte, dies sei ein Film über einen schizophrenen Mörder, könnte ich sagen, dies sei ein mörderisch schizophrener Film über einen übermüdeten Saxophonspieler“. 50 Diesen Gedanken möchte ich abschließend weiterverfolgen. Nimmt man die eingangs dargestellte Möbiusbandstruktur des Films ernst, so lässt sich diese nicht nur auf die innerfiktionale Ebene beziehen (d.h. auf die Schizophrenie Freds), sondern auch auf das (äußere) Filmganze. So ist Letzteres gleichermaßen durch eine hochgradig ambivalente, nahezu schizophrene, Identität charakterisiert sowie von der Nivellierung vermeintlich unterschiedlicher Ebenen (außerfilmische Realität/ Fiktion; Bild/ Trugbild; Beobachter/ Beobachteter; Autor/ Rezipient) affiziert. Kurz: Der Film handelt nicht nur von den Obsessionen und Projektionen seiner Figuren, sondern auch von denen des Mediums ‚Film‘ und seinen Betrachtern. Das zeigt sich zunächst an dem dichten Netz intertextueller Bezüge, die Lost Highway aufweist. So verweisen Kritiker etwa auf die Ähnlichkeiten zu Alfred Hitchcocks Vertigo (1958) im Hinblick auf die Erzählstruktur und die Doppelgängerfiguren, 51 oder Edgar G. Ulmers film noir-Klassiker Detour (1945), in welchem ein Nachtklubmusiker aufgrund unglücklicher Umstände die Identität eines anderen Mannes an- 48 Vgl. zu dieser Deutung des Mystery Man als Instanz des Über-Ichs die hervorragende Analyse bei McGowan, „Finding Ourselves“, S. 57-59 und 67f. 49 Vgl. ebd., S. 68f. 50 Seeßlen, David Lynch, S. 170. 51 Siehe exemplarisch Michalsky, „David Lynch“, S. 402f. oder Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 239. IV. Fazit: Die Schizophrenie des Films - <?page no="272"?> David Kerler 272 nimmt und dabei von der femme fatale Vera immer weiter in eine Spirale der Schuld gezogen wird. 52 Überhaupt nimmt das Zitieren klassischer Themen und Motive des film noir eine gewichtige, handlungstragende Rolle ein, wie vor allem das zuvor explizierte ödipale Dreieck um die femme fatale Alice und den Gangster Mr. Eddy sowie das klischeehafte Handlungselement des Raubs bei Andy - der dazu dienen soll, der verruchten Welt der Kriminalität zu entfliehen - verdeutlichen. 53 Ferner lassen sich auch bestimmte Handlungsorte auf das Inventar des klassischen film noir rückbeziehen, wie beispielsweise das (Lost Highway) Motel oder die rückwärts brennende Hütte des Mystery Man, welche auf das explodierende Strandhaus in Kiss me Deadly (1955) anspielt. 54 Im Rahmen der für den postmodernen Film kennzeichnenden Gattungshybridität erweitert Lynch dieses Inventar zusätzlich mit Gattungselementen des Horrorfilms und des Phantastischen (beispielsweise der Mystery Man oder die Metamorphosen Freds) sowie um eine Vielzahl an Bezügen zu seinen eigenen Filmen, wodurch Lost Highway in einem komplexen intertextuellen Bedeutungsnetzwerk innerhalb des Lynch schen Universums verortet wird. Ähnlich wie in Eraserhead (1977) - in welchem Henry in der sich im Heizkörper materialisierenden Theaterbühne einen Ausweg aus seinem schmerzhaften Dasein zu sehen meint - flüchtet sich auch Fred mit seiner Metamorphose in eine vermeintlich bessere Welt. 55 Diese neue, scheinbar bessere Identität im zweiten Teil des Films ist jedoch - wie u.a. anhand der Möbiusbandstruktur des Films zuvor gezeigt wurde - nur eine Spiegelung des Horrors des ersten Teils. Darauf wird auch mit einem subtilen Bezug zur Anfangssequenz und zum Ende von Blue Velvet angespielt: Wie Jeffrey Beaumont liegt auch Pete Dayton auf einem Liegestuhl inmitten eines idyllischen Gartens, umrandet von einem weißen Gartenzaun. Dass diese Sicherheit und Harmonie jedoch nur reine Oberfläche ist und darunter die Abgründe der Psyche brodeln, wird dabei in beiden Filmen gleichermaßen mehr als deutlich. In diesem Zusammenhang entspricht auch die ödipale Konstellation in Lost Highway derjenigen aus Blue Velvet (Frank Booth/ Jeffrey Beaumont/ Dorothy), in welcher Frank Booth analog zu Mr. Eddy und Pete ein joyride mit Jeffrey unternimmt (wenngleich mit unterschiedlichem Ausgang). 56 Durch diese zahlreichen intertextuellen Verweise wird das Innen und Außen des Films weiter nivelliert. So suggerieren das selbstreflexive Offenlegen von Genrekonventionen (samt ihres klischeehaften Figureninventars) sowie die Bezüge zu anderen Filmen und insbesondere Lynchs eigenen Werken, dass auch Lost Highway selbst gewissermaßen ein ‚Identitätsproblem‘ hat: Die vermeintlich objektive Darstellung seiner Figuren und Welten sind demnach mehrfach aufgeschobene Simulakren, die den Bezug zur ‚Realität‘ verloren haben und sich stattdessen immer wieder selbst 52 Vgl. Olson, David Lynch, S. 452f. und Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 212. 53 Vgl. hierzu auch Olson, David Lynch, S. 446f., Fischer, David Lynch, S. 283f. und Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 240, der auf die klischeehafte Verwendung dieser Figuren hinweist. 54 Vgl. Sellmann, Hollywoods moderner film noir, S. 238f. 55 Vgl. Olson, David Lynch, S. 442 zu dieser Referenz zu Eraserhead. 56 Vgl. ebd., S. 443, Fischer, David Lynch, S. 284 und Mactaggart, Film, S. 88 zu diesen Referenzen zu Blue Velvet. ‚ <?page no="273"?> David Lynch, Lost Highway 273 perpetuieren. 57 Das heißt, der Film kann gar keine Position außerhalb der Fiktion einnehmen, da er selbst Produkt der Hollywood-Industrie und ihrer Phantasmen ist. Angesichts dieser Hyperrealität im Baudrillard’schen Sinne können die dargestellten Subjekte konsequenterweise nichts anderes sein als Projektionsflächen einer zutiefst medialisierten und entfremdeten Welt. 58 Auf einer weiteren Abstraktionsebene lässt sich in diesem Zusammenhang abschließend feststellen, dass auch die Ebenen von Beobachter und Beobachteten sowie Film und Zuschauer zusammenfallen. Das Zitieren des film noir-Genres mit seinem Beziehungsdreieck um die mysteriöse femme fatale - Archetypen, die schon längst in vielfältiger Art und Weise von der Hollywood-Fiktion in die Realität des kollektiven Unbewussten getreten sind - zeigt, dass der Film selbst dem begehrenden (Zuschauer-)Subjekt entspringt. So können Freds Obsessionen und Idealisierungen gleichermaßen dem Autor/ Regisseur zugesprochen werden, der sich nicht nur in eine lange kinematographische Tradition dieses fetischisierenden Kamerablicks einreiht, sondern ganz bewusst kollektive Rezeptionserwartungen bedient. Freds hochgradig sexualisierter Blick auf den Körper von Renée/ Alice, zu dem beispielsweise die Pornos oder das wiederholte close-up auf ihre Lippen zählen (vgl. Abb. 11), macht uns gewissermaßen selbst zum Voyeur und Komplizen (ein Verfahren, das Lynch bereits mit Jeffrey Beaumonts voyeuristischem Blick aus dem Kleiderschrank in Blue Velvet trickreich einsetzte). Abb. 11 Durch die intertextuelle Tiefenstruktur des Films sowie zahlreiche metafiktionale Elemente, allen voran der Mystery Man in seiner Interpretation als Regisseur des Gezeigten, wird jedoch auch der Blick des Zuschauers entlarvend zurückgespiegelt: Indem Lynch Genrekonventionen überzeichnet und selbstreflexiv thematisiert sowie Freds obsessives Begehren und die daraus hervorgehenden Bilder als Phantasmen entlarvt, legt er nicht nur den Konstruktcharakter des Gezeigten offen, sondern auch die Obsessionen des Rezipienten. Denn auch dessen voyeuristischer Blick und Versuche, dem Gezeigten um die rätselhafte femme fatale Renée/ Alice (und nicht zuletzt 57 Vgl. zur Selbstbezüglichkeit der Bilder bei Lost Highway Seeßlen, David Lynch, S. 153f. und Michalsky, „David Lynch“, S. 403 und 413. 58 Zum Konzept der Hyperrealität siehe Baudrillard, Simulacra and Simulation. <?page no="274"?> David Kerler 274 ihr) einen vereinheitlichenden Sinn zu verleihen, entspringen gleichermaßen dem Begehren, die mysteriösen Leerstellen zu füllen. 59 Durch seine paradoxe Struktur, der Suggestion und gleichzeitigen Unterminierung möglicher Sinnstiftungen sowie durch das selbstreflexiven Spiel mit (mitunter stark sexuell aufgeladenen) Bildern führt Lost Highway dem Zuschauer sein eigenes obsessives Bedürfnis der Sinnkonstruktion und die damit einhergehenden Fetischisierungsprozesse vor Augen: Der namensgebende Lost Highway ist auch die potentiell endlose Fahrt des Interpreten, den Zeichen und sich selbst reproduzierenden (Trug-)Bildern einen kohärentvereinheitlichenden Sinn zu verleihen, den arbiträren Signifkationsprozess zu stoppen und auf den einen Sinn festzulegen. Eine Fahrt, in welcher dieser phantasmatische Sinngebungsprozess durch den Blick der Kamera zu uns zurückgespiegelt wird und wir gewissermaßen selbst beobachtet werden. 60 Filmographie Lost Highway. Produktion: Deepak Nayar, Tom Sternberg, Mary Sweeney, USA/ Frankreich, 1997. Regie: David Lynch. Drehbuch: David Lynch, Barry Gifford. Kamera: Peter Deming. Musik: Angelo Badalamenti, Trent Reznor, Rammstein, Marilyn Manson, David Bowie u.a. Darsteller: Bill Pullmann (Fred Madison), Patricia Arquette (Renée Madison/ Alice Wakefield), Balthazar Getty (Pete Dayton), Robert Blake (Mystery Man), Michael Massee (Andy), Robert Loggia (Mr. Eddy/ Dick Laurent). Bibliographie Adamson, Barry, „Something Wicked This Way Comes“. In: Lost Highway (Soundtrack). Interscope 1997. Baudrillard, Jean, Simulacra and Simulation. Ann Arbor, MI 2001. Biggs, Norman, „The Development of Topology“. In: Möbius and His Band. Mathematics and Astronomy in Nineteenth-Century Germany. Hg. v. 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München 2011. Lacan, Jacques, The Seminar of Jacques Lacan. The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis (Book XI). New York u. London 1998. Mactaggart, Allister, The Film Paintings of David Lynch. Challenging Film Theory. Bristol u. Chicago, IL 2010. Manson, Marilyn, „Apple of Sodom“. In: Lost Highway (Soundtrack). Interscope 1997. ---, „I Put a Spell on You“. In: Lost Highway (Soundtrack). Interscope 1997. McGowan, Todd, „Finding Ourselves on a Lost Highway. David Lynch’s Lesson in Fantasy“. In: Cinema Journal, 39.2 (2000), S. 51-73. ---, The Real Gaze. Film Theory after Lacan. Albany, NY 2007. Michalsky, Tanja, „David Lynch: Lost Highway - Ein filmischer Beitrag zur Medientheorie“. In: Das bewegte Bild. Film und Kunst. Hg. v. Thomas Hensel, Klaus Krüger, u.a. München 2006, S. 397-418. Nieland, Justus, David Lynch. Urbana, IL u.a. 2012. O’Connor, Tom, „The Pitfalls of Media ‚Representations‘. David Lynch’s Lost Highway“. In: Journal of Film and Video, 57.3 (2005), S. 14-30. 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Escher, Graphik, Abb. 40 Abb. 2: Escher, Graphik, Abb. 69 Abb. 3: Lynch, Lost Highway, 00: 15: 48 Abb. 4: Lynch, Lost Highway, 00: 28: 00 Abb. 5: Lynch, Lost Highway, 01: 10: 39 Abb. 6: Lynch, Lost Highway, 01: 30: 27 Abb. 7: Lynch, Lost Highway, 01: 30: 30 Abb. 8: Lynch, Lost Highway, 01: 38: 13 Abb. 9: Lynch, Lost Highway, 01: 41: 24 Abb. 10: Lynch, Lost Highway, 01: 57: 40 Abb. 11: Lynch, 01: 18: 20 Lost Highway, <?page no="277"?> Linda Ledwinka Mein Film Faust ist keine werkgetreue Goethe-Verfilmung. Es ist meine Vision von Faust. Ich muss hinzufügen, dass es unmöglich ist, den Faust zu verfilmen, das Werk ist einfach zu groß. Verglichen mit der Literatur, ist das Kino unterentwickelt. Kino kann sich in dieser Hinsicht nicht mit der Literatur messen. 1 Dieses Statement des russischen Autorenfilmers Alexander Sokurov, geboren 1951 in Irkutsk, macht im ersten Moment etwas stutzig, spielt er doch mit dieser Aussage auf die fortbestehende Debatte um den Stellenwert des Films im Kontext der Kunst an - eine Debatte, die dem Film gerade im Zusammenhang der Literaturverfilmung noch immer einen minderwertigen Status gegenüber der Literatur bzw. der Kunst, verstanden im hochkulturellen Sinne, zuweist. Dass Sokurov hier selbst explizit die konservative Position einnimmt und den Film gegenüber der Literatur abwertet, kann man einerseits als pure Provokation auffassen, die eine Diskussion dieser Wertsetzung anstößt und gerade im Zuge der Literaturverfilmung das Medium Film in seiner Eigenständigkeit und damit in seiner Eigenwertigkeit hervorheben soll. Andererseits sieht Sokurov in der noch verhältnismäßig jungen Kunst des Films ein großes Potenzial, das durch die Adaption und Übersetzung künstlerischer Verfahren der unterschiedlichen Künste weiter ausgeschöpft werden kann. Und in genau diese beiden Diskussionszusammenhänge lässt sich Sokurovs eigenwilliger und nicht werkgetreuer Faust-Film stellen. Denn gerade die filmische Umsetzung von Goethes Faust als ein prominentes Gut der Hochkultur verdeutlicht den unsicheren künstlerischen Status des Films bzw. des Kinofilms, der durch die Frage, ob der Film dem Stoff gerecht werden konnte, immer wieder zutage tritt. So reflektiert Sokurovs Faust das Medium Film im Spannungsfeld von populärbzw. massenkultureller und hochkultureller Zuschreibung, indem er Goethes Faust mittels postmodernem Zitat- und Zeichenspiel verfremdet, und somit einen eigenen, verdichtet und selbstreflexiv angelegten Faust schafft, der bei den Filmfestspielen von Venedig 2011 den Goldenen Löwen gewann. Dieser Preis rief in den Medien kontroverse Reaktionen hervor, wobei institutionalisierte Medienformate und Titel, wie beispielsweise die Zeitungen Zeit, The Guardian, The Independent, oder Deutschlandradio, diesen Film als filmisches Meisterwerk feierten, 2 neuere und eher populärkulturell ausgerichtete Formate hingegen kritisie- 1 Interview mit Alexander Sokurov, geführt von Teresa Corceiro. In: Faust. Bonus. 00: 00: 08-00: 00: 38. 2 Hier wären beispielsweise der Theaterkritiker der Zeit, Peter Kümmel, oder der Deutschlandradio-Filmkritiker Josef Schnelle, zu nennen, die vor allem die künstlerische Bildinszenierung, die sich an die Ästhetik der flämischen Meister anlehnt, und die experimentelle Schnitttechnik, Alexander Sokurov, Faust I. <?page no="278"?> Linda Ledwinka 278 ren Sokurovs Film für seine Opulenz und seinen hochkulturellen Impetus, der als „theatralisch-opernhafte Inszenierung“ aufgefasst wird, der „in expressiven Bildern und Körperwelten [schwelge]“, es aber nicht schaffe, „den spröden Text für jüngere Zuschauer zu erschließen.“ 3 In der bisher übersichtlich anlegten Forschung wird der Faust-Film als Kulminationspunkt in Sokurovs Œuvre aufgefasst. Die Slawistin und Filmwissenschaftlerin Nancy Condee verweist auf die intertextuelle Verbindung zum eigenen filmischen Werk des russischen Regisseurs: The lengthy forest scene after Valentin’s burial intersplices the dialogues of Faust and Margarete with those of Mauricio and Margarete’s mother to suggest the rich correspondences between the pairs. These correspondences are in turn underscored by Sokurov’s own self-citation: Margarete’s mother reproduces verbatim Ewa’s remarks to Hitler (Moloch) on the nature of death. This complex orchestration, both aural and conceptual […], encourages a lateral reading of Sokurov’s work more broadly from film to film. 4 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Sokurov-Experte Jeremi Szaniawski, der zum Kino Alexander Sokurovs die aktuellste Monografie veröffentlicht hat und der den Faust unter anderem als einen Rückblick auf das bisherige Filmschaffen Sokurovs versteht: With Faust, however, his most expensive (and, in many ways, most expansive) project, Sokurov not only crowns the tetralogy and its exploration of the nature of power and the price of the human soul, but also his career itself. Much as it offers a catalogue of human shortcomings throughout its narrative, Faust, in a dream-like fashion evoked above, seems to revisit Sokurov’s entire œuvre: from the fairy tale environment of Mother and Son and late medieval imagery found in Whispering Pages to the apocalyptic considerations of Mournful Insensitivity; from the uncomprehending relationship with the father to the fascination with the military; from the obsession with death and funeral rituals (The Second Circle, Save and Protect) to the difficult, pessimistic celebration of life and beauty (the ‘star child’ from Days of Eclipse) […]. 5 Diese aufgezeigte selbstreflexive Dimension von Sokurovs Faust steht damit in Verbindung mit der bereits angedeuteten Reflexion des Mediums Film im Spannungsfeld von populärbzw. massenkultureller und hochkultureller Zuschreibung, die vor dem Hintergrund der Bearbeitung des Goethe-Stoffs ersichtlich wird. Daher soll im Weiteren untersucht werden, wie das oben erwähnte postmoderne Zitat- und Zeichenspiel angelegt ist, oder einfacher gefragt: Was macht Sokurov eigentlich mit Goethes Faust? Wie bearbeitet er die Vorlage? Der Regisseur verfremdet und entstellt den Goethe-Text, indem er drei Bearbeitungsschritte durchführt. Erstens adaptiert er die in Goethes Werk angelegte Gattungshybridität und erhebt diese zum formalen Konstruktionsprinzip seines Films. Kameraperspektive sowie den Einsatz neuer, bildverzerrender Kameralinsen hervorheben. Siehe Kümmel, „Film ‚Faust‘“, oder Schnelle, „Faust im Kino“. 3 Cinema.de, „Faust“, siehe auch Grozdanovic, „Alexander Sokurov’s Odd, Dense & Bizarre ‚Faust‘“. 4 Condee, „Faust (2011)“. 5 Szaniawski, The Cinema of Alexander Sokurov, S. 252. <?page no="279"?> Alexander Sokurov, Faust 279 Zweitens werden die vereinzelt eingestreuten Goethe-Zitate dekontextualisiert und damit die ursprüngliche Bedeutung innerhalb der Vorlage dekonstruiert. Und drittens wird der somit semantisch verformte Stoff durch die Einbindung dieses Films in eine Tetralogie der Macht 6 rekontextualisiert, so dass auf diese Weise eine neue Bedeutung rekonstruiert und der Stoff reaktualisiert wird. Bevor das oben angesprochene formale Konstruktionsprinzip der Gattungshybridität im Film Sokurovs einer eingehenden Betrachtung unterzogen wird, muss erst einmal rekapituliert werden, wie dieses Verfahren in Goethes Faust angelegt ist. So lässt sich Goethes Faust grundsätzlich in Gelehrtentragödie und in Bürgerliches Trauerspiel unterteilen, wodurch ebenfalls die poetologischen und historischen Implikationen des jeweiligen Genres zum Tragen kommen. Wie Ulrich Gaier hervorhebt, umfasst dieses Werk darüber hinaus weitere literarische Formen vom Spätmittelalter bis zur Weimarer Klassik, wie zum Beispiel den Knittelvers, der die Form von Fausts erstem Monolog bestimmt und auf das 15./ 16. Jahrhundert verweist, oder die Volksliedtravestien in Auerbachs Keller, die auf Herders Volkslieder-Projekt von 1774 bzw. 1778/ 79 anspielen. 7 Somit eröffnet Goethe durch dieses Verfahren einen umfassenden, metapoetischen Diskurs, der die Frage nach der conditio humana in den Verlauf der Geschichte integriert. Auf ähnliche Weise verfährt Sokurov in seinem Faust-Film. Neben Anspielungen auf die Filmgeschichte vom Stummfilm bis zum Digitalfilm sowie Zitaten aus der Literatur, wird auch auf die Malerei und Musik verwiesen. So erinnern vor allem die Filmaufnahmen mit ihrer braun-grün-gelblichen Färbung und Bildkomposition unter anderem an Gemälde der flämischen Meister. Auch die von Andrey Sigle komponierte Filmmusik stellt eine Anspielung sowohl auf klassische Musik des 19. Jahrhunderts als auch auf klassische Filmmusik und ihre Funktionsweise dar. Auf diese Weise wird einerseits die Bedeutung auf der diegetischen Ebene mitgetragen, indem diese Zeichen im Sinne Lotmans in ihrer Eigenschaft als sekundäre Signifikate verwendet werden. Andererseits wird, wie es sich bei Goethe nachvollziehen lässt, somit eine metapoetische Ebene konstruiert, die sich als ein Diskurs über Kunst an sich und den Film in Speziellen verstehen lässt. Dieser metapoetische, selbstreflexive Impetus ist bereits in der Eingangsszene von Sokurovs Faust angelegt. Der Film beginnt, ähnlich Murnaus Faust-Film, mit einem Kameraflug durch den Himmel. Kurz wird ein im Nirgendwo aufgehängter Spiegel, über den ein Tuch hängt, ins Bildzentrum gerückt. Dieses Tuch wird vom Wind heruntergeweht. Die Kamera folgt dem Tuch, sodass eine Landschaft in den Blick kommt, die an Peter 6 Siehe Beumers, „Aleksandr Sokurov: Faust (2011)“: „Sokurov’s Faust is supposed to be the final part of the tetralogy, Moloch (Molokh, 1999), Taurus (Telets, 2001) and The Sun (Solntse, 2005), which showed men (political leaders Hitler, Lenin and Hirohito) obsessed with ideas that were incompatible with the pettiness of everyday life […].“ 7 Vgl. Gaier, „Kommentar, Wort- und Sacherläuterungen“, S. 344-352. II. <?page no="280"?> Linda Ledwinka 280 Jacksons ‚Mittelerde‘ erinnert, wie auf Abb. 1 zu sehen ist, und damit die Erwartungshaltung eines großen Fantasy-Abenteuers präfiguriert, die jedoch so nicht erfüllt wird. Abb. 1 Abb. 2: Albrecht Altdorfer, Alexanderschlacht Auf einen der zentralen Bezüge, der in dieser Anfangssequenz hergestellt wird, verweist der russische Kunst- und Kulturhistoriker Michail Jampolski: 8 das Gemälde Alexanderschlacht (siehe Abb. 2), das der Regensburger Maler Albrecht Altdorfer (ca. 1480-1538) im Auftrag des bayerischen Herzogs Wilhelm IV. 1529 fertiggestellt hat. 9 Wird hier die berühmte Schlacht zwischen Alexander dem Großen und dem persischen Großkönig Darius III. bei Issus gezeigt, die nach Friedrich Schlegel „nicht historisierend, sondern wie ein Ereignis seiner Zeit geschildert [ist]“ 10 , so hat Sokurov die Schlacht entfernt und nur die Landschaft wie auch die Legendentafel in modifizierter Weise übernommen, wobei die Inschrift durch einen Spiegel ersetzt worden ist. Die Referenz auf dieses Gemälde schafft eine Verbindung zwischen Film und Kunst und stößt vor diesem Hintergrund einige Überlegungen an. Mit dem 8 Siehe Meuser, Presseheft Faust. 9 Buchner, Albrecht Altdorfer. Die Alexanderschlacht, S. 3. 10 Goldberg, Albrecht Altdorfer. Meister von Landschaft, Raum, Licht, S. 14. <?page no="281"?> Alexander Sokurov, Faust 281 Verweis auf das Gemälde als Auftragsarbeit wird hier auf die Problematik hingewiesen, dass Kunst bzw. Film finanziert werden muss, und zeigt damit die Abhängigkeit des Films von ökonomischen Bedingungen auf. So plante Sokurov für seine Filme, wie The Russian Ark (2002), Mother and Son (1996), Moscow Elegy (1986) in der Regel immer mit einem kleinen Budget, um sich die größtmögliche Unabhängigkeit für sein Filmschaffen zu bewahren. 11 Anders verhält es sich mit seinem Faust-Film, der von vornherein als ein finanzielles Großprojekt angedacht war: Beispielsweise lehnte die deutsche Filmförderung die Finanzierung dieses Projekts ab. 12 Um den Film doch noch realisieren zu können, wandte sich Sokurov schließlich an den damaligen russischen Ministerpräsidenten Vladimir Putin, der es ermöglichte, dass die russische Filmförderung die benötigten 10 Millionen Euro bereitstellte. 13 Dies hatte zur Folge, dass sich der Regisseur von da an immer wieder von Putin und seiner Politik distanzieren musste und sich darum bemühte, klarzustellen, dass er und sein Faust nicht in einem konkreten parteipolitischen Kontext zu verstehen sind. Damit unterliegt Sokurov einem Rechtfertigungsdruck, wie es der folgende Ausschnitt aus einem Interview mit der britischen Zeitung The Guardians zeigt: 14 Anhand dieser skizzierten Umstände lässt sich sehr gut verdeutlichen, wie schnell der autonome Status von Kunst oder des Films als Kunst bedroht sein, und inwiefern 11 Rollberg, Historical Dictionary of Russian and Soviet Cinema, S. 655. 12 Dies wird vom Filmjournalist Rüdiger Suchsland kulturkritisch kommentiert: „Keine einzige deutsche Förderanstalt wollte diesen Film unterstützen, wo die gleichen Anstalten doch über jede Kinderbuch- und Fantasyverfilmung das Geld gleich gießkannenweise auskübeln. Faust hält man wohl für unzeitgemäß oder einfach für zu hoch fürs dummgeförderte Publikum.“ Siehe Suchsland, „‚Jehova, Jehova, Jehova...‘ - Betrachtungen eines Unpolitischen: Alexander Sokurovs FAUST-Verfilmung hat den Teufel im Leib“. 13 „Er habe den deutschesten Film aller Zeiten gedreht, sagt er […], und er hat sich dazu auf einen faustischen Pakt eingelassen. Sokurow, der in seinem Leben immer wieder mit der russischen Zensurbehörde zu kämpfen hatte, bekam das Geld für seinen Faust mit Wladimir Putins Hilfe zusammen. Das ist erstaunlich, denn Sokurows Faust ist ein Film, der sich allem staatstragenden Optimismus verschließt.“ Siehe Kümmel, „Film ‚Faust‘“. 14 Rose, „Aleksandr Sokurov: Delusions and grandeur“. He was preparing Faust, his most expensive film, just when the economic downturn struck, and couldn’t find funding. But a surprise saviour stepped in: Vladimir Putin. Sokurov met Putin at the Russian PM’s country residence. ‘I told him, if I don’t have this opportunity to make this film, it will never happen. A few days later, I was told that the amount I needed was going to be allocated. How and why it happened I don’t know. Maybe because he has a very clear idea of German culture and history. I don’t think it was because of me. I’ve never demonstrated my loyalty to his party.’ Wouldn’t Putin himself make a good subject? ‘I’ll never make films about people like Putin because they’re not of interest to me.’ Does his association with Putin compromise him? ‘When I met him recently, he asked if I was going to dub Faust into Russian. Reading between the lines, you could see these words as a sort of order. But I wasn’t afraid to say no to him. The money allocated by him was the state’s, not his own. I don’t know whether he has any money. According to his official salary, he shouldn’t have any money. I can only be responsible to my audience, that’s all.’ 14 <?page no="282"?> Linda Ledwinka 282 eine Ökonomisierung der Filmkunst nicht nur eine politische Vereinnahmung derselben mit sich bringen kann, sondern auch den Weg in die Kulturindustrie ebnet, und den Film damit seiner Ansicht nach aus dem Bereich der Kunst enthebt, wie Peter Rollberg kommentiert: Sokurov s understanding of cinema and its aesthetics is related to the great achievements of the other arts, which in his view hold the standard of genuine art. For Sokurov, cinema in principle can achieve the depth of Rembrandt and Johann Sebastian Bach, the grandiosity of Michelangelo and Ludwig van Beethoven, and the refinement of Wolfgang Amadeus Mozart, once it frees itself from the commercial paradigm. 15 Die Befreiung von dem kommerziellen Paradigma kann hier auch ganz eindeutig als eine Abgrenzung vom Massenkino, also dem Hollywood-Kino verstanden werden, welches die Art und Weise, wie der Zuschauer Film wahrnimmt und rezipiert, grundlegend beeinflusst und damit, formalistisch gesprochen, die Wahrnehmung automatisiert. 16 Mit seinem Faust-Film arbeitet Sokurov gegen eine automatisierte Wahrnehmung seiner Filmbilder und -erzählung im Sinne des ostranenie-Konzepts des russischen Formalisten Viktor Schklovski: „Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe […]: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern.“ 17 Sokurovs technische Mittel, diesen Verfremdungseffekt zu erzielen und damit die Sehgewohnheiten des Zuschauers zu unterlaufen, sind die niedrige Schnittfrequenz, die im gesamten Filmwerk Sokurovs auffällig ist und in The Russian Ark mit einer einzigen 90minütigen Kameraeinstellung ihren Höhepunkt findet, sowie endlos lange close-ups 18 , die für den Zuschauer oft nur schwer auszuhalten sind, da es scheint, dass der Blick der Figur die vierte Wand durchbricht und sich direkt auf den Zuschauer heftet, der damit vom Beobachter zum Objekt des Beobachtens, des Ansehens wird. Des Weiteren stellt die Erscheinung der vermeintlichen Ehefrau Maurizius, gespielt von Hanna Schygulla, eine Irritation dar, da sie wie ein Fremdkörper innerhalb der Diegese umherschwirrt. 19 Das wahrscheinlich auffälligste Verfremdungsmittel sind die verzerrten Bilder, die mit Hilfe einer eigens angefertigten Kameralinse inszeniert werden konnten, worauf Peter Kümmel hinweist: „Sokurow manipuliert seine Welt mit ver- 15 Rollberg, Historical Dictionary of Russian and Soviet Cinema, S. 655. 16 Vgl. Thompson, „Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden“, S. 43: „Mein häufiges Anspielen auf das klassische Kino weist darauf hin, daß ich es für den umfassendsten und hilfreichsten Hintergrund für die Analyse der verschiedensten Filme halte. Historisch gesehen ist diese Art des Filmernachens [sic! ], wie sie seit Mitte der zehner Jahre bis heute mit Hollywood in Verbindung gebracht wird, weltweit gesehen und imitiert worden. Die Sehfähigkeiten sehr vieler Zuschauer sind so durch die Rezeption klassischer Hollywood-Filme normiert.“ 17 Zitiert nach Kessler, „Ostranenie“, S. 51 65, hier S. 54. 18 Hier wäre im Besonderen das überbelichtete close-up Margaretes in Fausts Zimmer hervorzuheben, siehe Sokurov, Faust, 01: 40: 00. 19 Siehe zum Beispiel in Sokurov, Faust, 00: 30: 38 00: 37: 04. , - - <?page no="283"?> Alexander Sokurov, Faust 283 zerrenden, bewusst verunreinigten Linsen und Filtern […].“ 20 Mittels dieser schiefen, verzerrten Perspektive wird beispielsweise in der Eingangsszene die angedeutete Orientierungslosigkeit sowie die fehlgeschlagene Suche Fausts nach dem Sinn des Lebens und der menschlichen Seele im Verlauf des Films verdeutlicht. So wird diese Bildeinstellung das erste Mal verwendet, als Faust in die Welt des Pfandleihers eintritt (siehe Abb. 3). Von da ab beginnt die gemeinsame ziellose Reise Maurizius‘ und Fausts, die den Bezug des Rezipienten zum Prätext ins Wanken bringt. Auf diese Weise wird das Filmschauen zu einem angestrengten Beobachten, also zu einem reflektierten Rezeptionsprozess, der sowohl auf die erzähltechnische Dimension des Films verweist, als auch die Rezeptionsebene thematisiert. Abb. 3 Abb. 4 In Verbindung mit dem Spiegel aus der Eingangssequenz wird der Rezipient also gleich zu Beginn aufgefordert, sein eigenes Filmverständnis sowie seinen Wahrnehmungsprozess zu reflektieren, und den Film im Spannungsfeld zwischen seinem Status als Massenprodukt oder Kunst zu hinterfragen. Inwiefern dieser Diskurs über die Autonomie der Kunst für diesen Film relevant ist, lässt sich ebenfalls anhand der Spiegelmetapher eruieren. Kunst habe, folgt man Hamlets Worten im dritten Akt, zweite Szene, „[t]he purpose of playing, whose end, both at the first and now, was and is, to hold, as ‚twere, the mirror up to nature; to show virtue her own feature, scorn her own image, and the very age and body of the time his form and pressure.“ 21 Entsprechend des aristotelischen Mimesis-Konzepts besitzt Kunst einerseits die Funktion, die Wirklichkeit, das Allgemeinmenschliche widerzuspiegeln, und damit bewusst und erfahrbar zu machen. Andererseits ist Kunst damit auch immer ihr Ort der eigenen Selbstreflexion. Als Erkenntnismedium darf der Film nach Sokurov daher nicht auf seinen autonomen Status verzichten. Konkretere Überlegungen zum Film an sich und zu diesem Film im Speziellen, werden durch eine weitere Anspielung angestoßen, die sowohl eine Diskursebene über die Bedingungen des Films als auch eine Präfigurierung der Semantik auf diegetischer Ebene eröffnet: die Anspielung auf Friedrich Wilhelm Murnaus Faust - eine 20 Kümmel, „Film ‚Faust‘“. Rüdiger Suchsland beschreibt die Bilder folgendermaßen: „Die Bilder aber sind langsam und träg, breiig, milchig, so unscharf, wie in den David-Hamilton-Filmen der Spätsiebziger“, o. S. 21 William Shakespeare, Hamlet, Akt III, Szene 2, Verse 21-25. <?page no="284"?> Linda Ledwinka 284 deutsche Volkssage (1926). Auf diese Weise schreibt sich Sokurovs Faust damit grundsätzlich in die Faustfilmtradition ein, wobei Murnaus Faust einen prominenten Anfang beschreibt und Sokurovs Faust erst einmal das vorläufige Ende markiert. Anders als beispielsweise der später erschienene Gründgens Faust-Film orientierte sich Murnau nicht nur an Goethes Faust, sondern berücksichtigte das Faust-Buch von Johann Spieß (1587) und das Drama Christopher Marlowes The Tragicall History of Doctor Faustus (ca. 1588). Als filmtechnisches Meisterwerk der Zeit gefeiert und insgesamt ein Publikumserfolg, wurde Murnaus Faust von einigen Stellen hinsichtlich des zu losen Bezugs zu Goethes Faust, des fehlenden intellektuellen Anspruchs sowie des Hollywood-typischen ‚Happy-Ends‘ kritisiert, was als vertane Chance gewertet wurde, den Film an sich mittels des hochkulturellen Stoffs künstlerisch zu nobilitieren. So wie Murnaus Faustbearbeitung stellt auch Sokurovs Faust eine kreative Faustbearbeitung dar, die den Stoff in einer eigenen Weise reaktualisiert. Aber nicht nur über die bildliche Anspielung wird hier eine Verbindung zu Murnau hergestellt, sondern auch über das Bildformat, also die abgerundeten Rahmenecken sowie das heute eher unübliche 4: 3-Stummfilmformat, sodass auf diese Weise Sokurovs Faust auf die Geschichte der Filmtechnik anspielt. Einen großen Unterschied weisen diese beiden Anfangssequenzen in erzähltechnischer Hinsicht auf: handelt es sich bei Murnau um eine geschlossene Rahmenhandlung, die einen etischen 22 Einstieg in die Handlung gewährleistet und damit dem Zuschauer ein höchstes Maß an Orientierung bietet, wird dieser Rahmen bei Sokurov zwar durch den Himmelflug und den Schwenk durch die Landschaft angedeutet, er erfüllt jedoch nicht die ordnende Funktion wie bei Murnau, sodass der Zuschauer bei der Suche nach Orientierung auf sich gestellt wird. Bei Murnau hingegen werden wir als Zuschauer in die dargestellte Welt durch einen vereinfachten Prolog im Himmel eingeführt und erfahren, dass die Welt kurz vor dem Untergang steht und dass es an Faust liegt, die Welt vor Luzifer, also der Macht des Bösen, zu retten. Dieser Widerstreit von Gut und Böse, der hier klar durch die Begegnung des Erzengels mit Luzifer symbolisiert wird (siehe Abb. 4), kulminiert in der Figur des Faust: Stellt der Erzengel den altehrwürdigen Faust als ein leuchtendes Beispiel des guten, nach Wahrheit strebenden Menschen dar, so beleuchtet Luzifer das Böse in Faust, das sich durch seine Gier nach Reichtum, Wissen und Macht auszeichnet. Somit ist Faust und damit die conditio humana in dieser Exposition deutlich umrissen, so dass ein telos für diese Erzählung definiert ist: Faust muss sich selbst und die Welt vor dem Untergang bewahren, indem er beweist, dass das Gute im Menschen über das Böse siegt. Nachdem Faust Verführter und Verführer geworden ist, und somit dem Untergang entgegensteuert, schafft er es schlussendlich, sich selbst, und damit die Menschheit, zu retten, indem er getrieben von 22 Erzähltheoretischer Begriff, von Roland Harweg geprägt, durch den ein Textbeginn definiert wird, der einen bestehenden Refrenzrahmen der folgenden Handlung voraussetzt. Siehe Fludernik, Einführung in die Erzähltheorie, S. 170: „[…] Unterscheidung zwischen Texten, die beim Texteingang alles ausladend für den Leser erklären und einführen (emischer Textbeginn), und Texten, die solche Erklärungen nicht liefern sondern annehmen, dass der Leser sich bereits im Referenzfeld des Textes auskennt.“ <?page no="285"?> Alexander Sokurov, Faust 285 seiner Liebe zu Gretchen gemeinsam mit ihr in den Tod geht und damit den Opfertod stirbt. Sokurov hingegen beginnt seinen Film nicht mit einer so klaren und Orientierung schaffenden Exposition. Bei ihm gibt es keinen Prolog im Himmel und damit keine die Ausgangssituation erklärenden Instanzen, die so ein klares Wertesystem grundlegen. Der Himmel ist, bis auf den Spiegel, leer: „Bei Sokurow gibt es keinen Deal zwischen Gott und Teufel, der Himmel ist leer, Gott ist tot. Nur ein Spiegel fliegt umher. Wer hineinschaut, sieht nur sich selbst - ein trostloses Fazit, das man am liebsten in Wodka ertränken möchte.“ 23 Damit verweist die Leere des Himmels, so wie der Kommentar Teresa Corceiros auf den ‚Tod Gottes‘ anspielt, nicht nur auf eine prekäre Werteordnung, sondern auch auf den prekären Status von Bedeutung und Sinnstiftung überhaupt, wie anhand der fehlgeschlagenen Sinnsuche Fausts im ersten Viertel des Films verdeutlicht wird. Gegen diese Desorientierung versucht der Zuschauer die Orientierung an Goethes Vorlage entgegen zu setzen, um sich so wenigstens im ins Absurde gehenden Handlungsverlauf zurechtzufinden. Die direkten Faust-Zitate stellen hier einen vermeintlichen Sinnanker dar, der sich jedoch als falsche Spur zu einem hermeneutischen Verständnis dieser Fauststoffbearbeitung erweist. Abb. 5 Dass der Rezipient hier eine diffus strukturierte Wertewelt vorfindet, wird durch den ersten Auftritt des Doktor Faust deutlich. So wie der Himmel leer ist, so wird die Existenz Gottes, des Teufels und der menschlichen Seele bezweifelt - eine Welt, die damit einer übergeordneten Sinnsetzung entbehrt, die auf dem grundlegenden Antagonismus von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ basiert. In dieser Welt wird uns ein Faust präsentiert, der auf der verzweifelten Suche nach Sinn und Bedeutung ist, und mit Hilfe des Pfandleihers Maurizius Müller sich voll und ganz seinem Streben nach Sinnlichem, physisch Erfahrbarem und Macht um jeden Preis verschreibt. Anders aber als Goethes Faust, hat für Sokurovs Faust der Pakt mit dem Teufel keine Bedeutung, da dieser Faust nicht an die Seele glaubt und somit auch nicht um sein Seelenheil fürchten muss. Somit geriert Hybris zur Allmachtphantasie und der Mensch lässt sich nicht nur mit dem Teufel ein, er setzt sich an seine Stelle. Als ihm Maurizius im Ge- 23 Corceiro, „Vision und Traumbild , o. S. “ <?page no="286"?> Linda Ledwinka 286 birge lästig wird, da er ihn für seinen weiteren Weg nicht mehr braucht, zerreißt er den Vertrag und steinigt Maurizius, den er wimmernd im Gebirge, auf dem Weg in eine Eiswüste, zurücklässt. Wie in diesem Film die Umwandlung der Faust-Figur vorangetrieben wird, lässt sich vor allem an Umgang und Funktionalisierung der Zitate aus Goethes Faust I und II des Drehbuchautors Juri Arabov nachvollziehen. Im Folgenden wird daher gezeigt werden, wie diese Zitate aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und in einen neuen Kontext eingebettet werden. Neben den prominenten Zitaten aus Goethes Faust, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen, wurden hier etliche Zitatspuren gelegt, wie zum Beispiel aus Goethes Trauerspiel Clavigo: „Die Unglücklichen sind gefährlich“ 24 , oder der Causae et curae Hildegard von Bingens: „Wein ist das Blut der Erde“ 25 , die in dem neuen Kontext zum einen auf ihren Ursprungstext und seine Bedeutung verweisen, zum anderen aber in ihrer Neukombination semantische Verschiebungen generieren, wie es das folgende Beispiel andeutet: Das Zitat aus einem Beitrag Goethes für das Morgenblatt für gebildete Stände, vom 21. Oktober 1807, zur Eröffnung des Weimarer Theaters („Ein jeder, der sich bescheidet, kann ein Schöpfer seines Glücks im Kleinen sein.“ 26 ), wird für eine der beiden Dialogszenen mit Faust und seinem Vater, der in Anlehnung an Goethes Faust durch Fausts Stimme aus dem Off als „dunkler Ehrenmann“ 27 charakterisiert wird, verwendet. In dieser Szene, in der Faust seinen Vater in dessen ‚Praxis‘ besucht, um diesen um Rat zu fragen und um Geld, beziehungsweise Nahrungsmittel zu bitten, wird die Beziehung des Sohns zu seinem Vater in einem Status der Regression inszeniert. Deutlich wird dies, als Faust neben der Streckbank, an der sein Vater gerade arbeitet, in die Knie geht, sich mit beiden Händen links und rechts vom Gesicht an der Auflagefläche der Streckbank festhält, sein Kinn auf diese Fläche auflegt und wie ein Kind gerade noch über das Gerät schauen kann. Der Vater tritt hinter Faust, der diesem gerade einmal bis zur Hüfte geht, beugt sich von hinten über ihn und fragt, ob er schlecht schlafe, worauf Faust antwortet, dass er gar nicht schlafe. Dieses Bild der elterlichen Fürsorge wird jedoch in dem Moment destruiert, in dem der Vater einen gut gefüllten Essenskorb erhält und den Inhalt nicht mit seinem hungrigen Sohn teilen möchte. Nachdem der Vater 24 Sokurov, Faust, 00: 16: 57. Dieser Satz ist dem Helfer Maurizius‘, Ferdinand, in den Mund gelegt, der jedoch mit der Stimme seines Meisters spricht. Mit diesem intertextuellen Verweis wird somit auf die Sokurovsche Tragödie hingedeutet. Das Zitat aus Clavigo enstammt dem fünften Akt, als Clavigo Marie im Sarg liegen sieht: „Laßt! macht mich nicht rasend! die Unglücklichen sind gefährlich! Ich muss sie sehen! “. Siehe Goethe, „Dramen 1765-1775“, S. 490. 25 Sokurov, Faust, 00: 50: 50. Maurizius deklamiert diese Worte in Auerbachs Keller, bevor er aus einer Wand Wein sprudeln lässt. 26 Ebd., 00: 09: 28-00: 12: 05. 27 Ebd., 00: 08: 20 und Goethe, Faust, Vers 1034. III. <?page no="287"?> Alexander Sokurov, Faust 287 nicht für das leibliche Wohl seines Sohnes zu sorgen gewillt ist, wendet sich Faust mit der Bitte um Rat an seinen Vater: Faust: ‚Wenn ich nur wüsste, dass das, was ich mache, einen Sinn hat.‘ Vater: ‚Nein. Ich geb dir nichts! ‘ Faust: ‚Wieso? Wie meinst du das? ‘ Vater: ‚Du willst doch Geld von mir haben. Ein jeder, der sich bescheidet, kann ein Schöpfer seines Glücks im Kleinen sein.‘ Faust: ‚Ja, ja. Das Glück im Kleinen. Schon tausendmal gehört! ‘ 28 Faust, der hier als kindlich anmutender, verzweifelt Suchender dargestellt wird, erhält von seinem Vater keine Hilfe. Er will und kann seinem Sohn keine Orientierung bieten und lehnt somit seine Funktion als Vorbild ab: „Vater: Was gibt’s da zu sehen? Ich bin doch kein Bild! “ 29 Dass Sokurov dem Vater einige Worte des klassischen Goethe in den Mund legt und ihn zudem eng mit dem Prinzip des ewig Weiblichen verknüpft, so dass er nicht mehr dem männlichen Prinzip des Vorwärtsstrebens verhaftet ist, 30 verweist auf die Instanz Goethes in seiner Rolle als Vorbild oder Orientierungspunkt für diesen Film. Auf diese Weise zeigt der Regisseur, inwiefern sich sein Werk aus einem vermeintlichen infantilen Status der getreuen Stoff-Adaption erhebt, seine eigene Sinnkonstruktion vornimmt und sich von seinem Vorbild distanziert, so, wie Faust im Anschluss an diese Szene seinen Vater verlässt und Maurizius als neuen Orientierungspunkt der Ziellosigkeit wählt. Diese Form der Funktionalisierung von Zitaten, und im Folgenden von Goethes Faust-Zitaten im Speziellen, zeigt hier die Umwandlung von Sokurovs Faust-Figur auf, die im Verlauf des Films eine allmähliche Dekonstruktion des Goethe-Vorbilds und schließlich eine Umwertung vollzieht. Werden die Zitate zu Beginn noch in einem der Vorlage ähnlichen Kontext und ähnlicher Figurenbesetzung verwendet, zerfällt diese Zuordnung ab einem gewissen Zeitpunkt. Es wird sich zum Beispiel zeigen lassen, dass Sokurov die Redeanteile von Faust, Maurizius und Wagner vertauscht. Maurizius übernimmt Redeanteile von Goethes Faust-Figur, Faust übernimmt einiges von Goethes Wagner und Wagner schleicht sich als Fausts Dialogpartner in einige Faust-Monologe der Goethe-Version ein. Ausgangspunkt, an dem die Bezüge zu Goethes Faust ins Wanken geraten, ist das Studierzimmer. Wie bei Goethe denkt Faust über die Übersetzung des Johannesevangeliums nach, mit dem Unterschied, dass er die Übersetzungsproblematik mit Wagner gemeinsam eruiert: Faust: ‚Im Anfang war das Wort.‘ Wagner: ‚Und das Wort war bei Gott.‘ Faust: ‚Verstehst Du wie das gemeint ist? ‘ Wagner: ‚Nein.‘ Faust: ‚Ich auch nicht.‘ Faust: ‚Ich kann das Wort unmöglich so hoch schätzen.‘ Wagner: ‚Sie müssen’s anders übersetzen.‘ 28 Sokurov, Faust, 00: 10: 00-00: 10: 34. 29 Ebd., 00: 08: 40. 30 Vgl. Goethe: „Faust. Kommentare“, S. 817. <?page no="288"?> Linda Ledwinka 288 Faust: ‚Vielleicht der Sinn. Im Anfang war … im Anfang war … im Anfang war der Sinn, der alles wirkt und schafft? ‘ Wagner: ‚Im Anfang war das Ich.‘ Faust: ‚Wessen Ich? ‘ Wagner: ‚Meins! ‘ Faust: ‚Du warst am Anfang? ‘ Wagner: ‚Warum nicht? ‘ Faust: ‚Dann sind wir alle verloren.‘ […] Faust: ‚Am Anfang war das Wort. Wagner! Am Anfang war das Wort.‘ Wagner: ‚Sie irren sich. Am Anfang war ein Ich. Das sagt ihnen ein kleiner, kluger Wagner, der vor Liebe zu seinem Lehrer fast vergeht.‘ 31 Anders als bei Goethe wird der Monolog als Dialog zwischen Lehrer und Schüler arrangiert. Indem Sokurov diesen Monolog auf zwei Sprecher verteilt, wird hier die in Faust angelegte Dualität und spätere Spaltung inszeniert. Ebenso lässt sich eine homologe Beziehung zwischen Goethes Faust und Wagner, sowie Sokurovs Maurizius und Faust nachweisen. In der Badehausszene deklamiert Maurizius vor dem sich unwohl fühlenden Faust: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ 32 , so, wie Faust zu Wagner während des Osterspaziergangs spricht. 33 Steht der Wagner Goethes für den Buchgelehrten, dem das menschliche Treiben suspekt erscheint, ist Sokurovs Wagner ein an der fehlenden Anerkennung seines geliebten Lehrers leidender, verrückter Wissenschaftler, der am liebsten mit seinem Lehrer eins sein möchte. Diese Figurenbzw. Identitätsverwirrung findet schließlich ihren Kulminationspunkt in der Begegnungsszene mit Margarete: Wagner: ‚Glauben sie, er ist Faust? Der ist nicht Faust, ich bin Faust. Er hat alle Ideen mir gestohlen. Er ist ein Usurpator! Ja, ich bin der kleine Wagner, der kleine Wagner. Ich bin der große Wagner, der sehr große Wagner. Ich bin Faust! ‘ [Frau von oben: ] ‚Was für ein Faust? ‘ 34 Diese Identitätsverwirrung kann aber nicht nur als Verwirrung Wagners auf der diegetischen Ebene begriffen werden, mit der Frage der Frau „Was für ein Faust? “ erscheint auch die Stoffgeschichte parodiert, als eine Stoffverwirrungsgeschichte, die dieser Faust-Film mit seinem Zitatspiel selbst vorführt. 31 Sokurov, Faust, 00: 23: 20-00: 24: 40. Vgl. Zitat aus Goethes Faust: „Faust: Mich drängt’s den Grundtext aufzuschlagen,/ Mit redlichem Gefühl einmal/ Das heilige Original/ In mein geliebtes Deutsch zu übertragen./ Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an./ Geschrieben steht: »im Anfang war das Wort! «/ Hier stock’ich schon! Wer hilft mir weiter fort? / Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,/ Ich muß es anders übersetzen,/ Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin./ Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn./ Bedenke wohl die erste Zeile,/ Daß deine Feder sich nicht übereile! / Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? / Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft! / Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,/ Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht/ bleibe./ Mir hilft der Geist! Auf einmal seh‘ ich Rath/ Und schreibe getrost: im Anfang war die That! “ Goethe, Faust, Studierzimmer I, Verse 1224-1238. 32 Sokurov, Faust, 00: 37: 25. 33 Vgl. Goethe, Faust, Osterspaziergang, Vers 940. 34 Sokurov, Faust, 01: 29: 28-01: 30: 00. <?page no="289"?> Alexander Sokurov, Faust 289 Gerät hier also der Bezug auf der Ebene der Figuren beträchtlich ins Wanken, lässt sich dieses Prinzip der Verschiebung am Beispiel der Raumtransformation bzw. der Raumüberblendung im Weiteren verdeutlichen. Erkennt der Rezipient in dem dargestellten Raum, in dem die Übersetzung des Evangeliums verhandelt worden ist, sowohl den Ort als auch die Szene Studierzimmer I, so erfolgt während des Brennnesselfußbades, das Faust im Anschluss an diesen Dialog nimmt, eine schnelle Folge von Raumtransformationen, die durch Fausts Frage nach dem Schierlingssaft und der damit angedeuteten Suizidabsicht initiiert wird. Kaum ordnet der Rezipient den Raum nun der Szene ‚Nacht‘ zu, ruft die Haushälterin Ida, die sich über den Geruch aus dem Studierzimmer beklagt, von unten: „Es stinkt wie in einer Hexenküche! “ 35 Kurz darauf erscheint Maurizius wie aus dem Nichts in diesem Raum, nimmt Notiz von der aufgeschlagenen Bibel, stellt seinen Gehstock, der Knauf stellt einen Pudelkopf dar, und trinkt kurzerhand, zur Bestürzung und zum Ärger Fausts, den Schierlingssaft, der auf diese Weise zugleich auf den Verjüngungs- und Liebestrank hindeutet, den Goethes Faust in der Hexenküche erhält und konsumiert. So, wie Maurizius hier das Trinken des Elixiers für Faust übernimmt, so übernimmt er im Folgenden Fausts Redeanteile, wie zum Beispiel beim Betreten des Badehauses: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ 36 Im Prätext richtet sich Faust auf diese Weise an Wagner. Ein weiterer Tausch der Rede findet statt, während Maurizius und Faust Margarete und ihre Begleiterin verfolgen. Hier spricht, anders als bei Goethe, Maurizius die Begleiterin mit folgendem bekannten Satz an: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen? “ 37 Erst als Maurizius Faust durch den Mord an Margaretes Bruder Valentin vollends in der Hand hat, gratuliert er Faust in der Stadtschmiede zu seinem neuen Lebenslauf. 38 Dass damit der eigentliche Pakt zwischen Maurizius und Faust geschlossen worden ist, wird deutlich, wenn man die entsprechende Szene im Prätext identifiziert, denn hier gratuliert Mephisto Faust am Ende der Szene ‚Studierzimmer II‘ und bevor die beiden Auerbachs Keller betreten, nachdem Faust den Pakt mit seinem Blut besiegelt hat. 39 Ab diesem Punkt sind die Goethe-Zitate wieder entsprechend der Rollenverteilung des Prätextes zugeordnet und der aus den Fugen geratene Bezug zum literarischen Vorbild ist damit erst einmal wieder geordnet, wie es beispielsweise Sokurovs Inszenierung der Gretchenfrage zeigt. 40 Erst nachdem Faust die ersehnte Nacht mit Margarete verbracht hat, für die er kurz vor dem Ende des Films doch noch einen richtigen Vertrag mit Maurizius geschlossen hat, gerät der Bezug zu Goethes Stoffbearbeitung erneut ins Wanken und verkehrt sich in eine semantische Opposition. Als Faust das gemeinsame Bett verlässt, treten Untote, die in ihrer Erscheinungsweise an Zombies erinnern, 35 Sokurov, Faust, 00: 26: 10. 36 Ebd., 00: 37: 25 und vgl. Goethe, Faust, Osterspaziergang, Vers 940. 37 Sokurov, Faust, 00: 43: 34. Vgl. Goethe, Faust, Straße I, Vers 2605. 38 Sokurov, Faust, 00: 53: 23. 39 Vgl. Goethe, Faust, Studierzimmer II, Vers 2072. 40 Siehe Sokurov, Faust, 01: 36: 24-01: 36: 47. Hier einige weitere Beispiele: Maurizius zu Faust: „Sie sind noch nicht der Mann, den Teufel festzuhalten.“ Goethe, Faust, Studierzimmer I, 1509- 1510, und Sokurov, Faust, 01: 21: 27. Das Spinnrad-Lied Gretchens: „Meine Ruh‘ ist hin,/ Mein Herz ist schwer …“, Gretchens Stube, 3374-3375, und Sokurov, Faust, 01: 32: 15. <?page no="290"?> Linda Ledwinka 290 in das Zimmer. Es scheint, dass Faust diese Zombies zwar nicht sieht, aber auf irgendeine Weise wahrnehmen kann: „Hier ist jemand. Die Uhr steht still. Der Zeiger ist gefallen.“ 41 Dieses umformulierte Zitat aus Faust II, das dort Mephisto und dem Chor in den Mund gelegt ist, Mephisto: ‚Die Uhr steht still.‘ Chor: ‚Steht still./ Sie schweigt wie Mitternacht. Der Zeiger fällt.‘ Mephisto: ‚Er fällt, es ist vollbracht.‘ Chor: ‚Es ist vorbei.‘ Mephisto: ‚Vorbei. Ein dummes Wort./ Warum vorbei? / Vorbei und reines Nichts, vollkommenes Einerlei. Was soll uns denn das ewge Schaffen! Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen? Da ists vorbei.‘ Was ist daran zu lesen? Es ist so gut als wär es nicht gewesen, Und treibt sich doch im Kreis als wenn es wäre. Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.‘ 42 steht bei Sokurov in dem skizzierten Kontext für die Verdammung Margaretes, die den Mörder ihres Bruders gedeckt, den Mord an ihrer Mutter zugelassen und sich unzüchtig verhalten hat. Diese Rekontextualisierung des Zitats verkehrt somit die Bedeutung des Zitats des Prätextes in das genaue Gegenteil, da es dort auf die Erlösung Fausts hindeutet. In Verbindung mit Maurizius Klage, während Faust ihn steinigt: „Verweile doch, das ist nicht schön! “ 43 , wird die eigentliche Erlösung von Goethes Faust-Figur, die in ihrem letzten Monolog das ‚Verweile doch‘ ausspricht 44 und darauf im Tod ihre Erlösung findet, vollends subvertiert. Faust, der nicht an die menschliche Seele glaubt, kann somit den Pakt mit dem Teufel auflösen, ohne Konsequenzen zu befürchten. So entledigt er sich des Teufels, als er ihn nicht mehr braucht, so, wie er sich auch Gretchens entledigt und Wagner zurückgelassen hat, und entschwindet, getrieben von einem unbestimmten Drang ohne erkennbares telos, das nur als ein Vorwärts bezeichnet wird, in eine Eiswüste (siehe Abb. 6). Diese erinnert sowohl an Dantes letzten Höllenkreis als auch an den Schluss von Mary Shellys Schauerroman Frankenstein und steht als Bild der Erstarrung und Lebensfeindlichkeit in Opposition zur Frühlingszenerie in Goethes Faust, Vor dem Thore, die mit Fruchtbarkeit, Leben und der symbolhaften Auferstehung Fausts korreliert. 41 Sokurov, Faust, 01: 50: 30. 42 Goethe: „Faust. Texte“, Verse 11593-11603. 43 Sokurov, Faust, 02: 06: 50. 44 Siehe Goethe, Faust II, Verse 11575-11586: „Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,/ Der täglich sie erobern muß./ Und so verbringt, umrungen von Gefahrn/ Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr./ Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,/ Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn./ Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdentagen/ Nicht in Äonen untergehn.-/ Im Vorgefühl von solchem hohen Glück/ Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“ , , <?page no="291"?> Alexander Sokurov, Faust 291 Abb. 6 So findet Sokurovs Faust, anders als bei Goethe oder Murnau, keine Erlösung, sondern steuert einer Verdammung entgegen, die nicht, wie bei Spieß oder Marlowe, durch den Teufel exerziert wird, sondern durch einen sich selbst setzenden (Über)Mensch, der sich von Grundkategorien wie ‚Gut‘ und ‚Böse‘, ‚Gott‘ und ‚Teufel‘ verabschiedet hat, und dem dadurch entstandenen Sinn- und Wertevakuum den eigenen Willen zur Macht entgegensetzt. Besonders interessant erscheint diese Schlusssequenz, vergleicht man sie eingehender mit der Anfangssequenz: Zoomt die Kamera zu Beginn eine fruchtbare und von Zivilisation geprägte Landschaft heran, so zoomt sie am Ende aus einer Eiswüste, einer zivilisatorischen Leere, wieder heraus in die Totale, so dass Faust als eine Rückenfigur im Stile Caspar David Friedrichs in die unwirtliche, erhabene Landschaft eingebettet wird. Ähnlich des Spiegels und seines reflexiven Impetus der Eingangssequenz, der sowohl auf die Instanz des Rezipienten als auch auf die Entstehungsbedingungen dieses Filmes und die Frage nach dem künstlerischen Stellenwert des Kinofilms im Allgemeinen verweist, stellt die Rückenfigur in der Malerei eine Identifikationsfigur für den Betrachter dar, der somit die Bildfläche als Raum wahrnehmen kann: Die Darstellung der Rückenfigur hat ihren Ursprung in der römischen Kunst. […] Dabei liegt ihre grundsätzliche und zugleich bedeutsamste Funktion darin, auf einer zweidimensionalen Bildfläche einen dreidimensionalen Raum darzustellen, also einen Tiefenraum im Bild zu schaffen. Da sich der Betrachter mit einer ins Bild hineinsehenden Rückenfigur identifizieren und somit die Existenz eines Raumes nachempfinden kann, wurde dieses Motiv seit seiner Entstehung in der römischen Antike zu diesem Zweck gebraucht. 45 Damit wird aber nicht in erster Linie eine Identifikation mit der Faust-Figur an sich konstruiert, sondern der Zuschauer soll am Ende dieser Faust-Version als Bildbe- 45 Sugiyama, Wanderer unter dem Regenbogen, S. 4. Die Autorin gibt in der Einleitung einen historischen Abriss zur Deutung der Rückenfigur bei Caspar David Friedrich, die als Identifikationsfigur für den Rezipienten zu verstehen sein kann: ebenso kann diese die Funktion besitzen, als Bezugspunkt zu dienen, um eine Beziehung zwischen Mensch und Natur, Mensch und dem Erhabenen aufzubauen, und dies als Flächenfigur, die zur Aufhebung der Bildgrenzen beiträgt, um dem Rezipienten auf diese Weise eine Identifikation und damit den Prozess der Selbstreflexion nahezulegen. <?page no="292"?> Linda Ledwinka 292 trachter mit der erhabenen Leere dieses Schlusstableaus konfrontiert werden, und auf diese Weise den eigenen Rezeptions- und Wahrnehmungsprozess spiegeln. So werden die verschiedenen Rollen beziehungsweise Rezeptionshaltungen des Zuschauers in den Vordergrund gerückt: Als empathischer Zuschauer, der in die Diegese eintauchen und sich mit dem Helden identifizieren möchte, als distanzierter und kritischer Beobachter und als Zombie, der den Film einfach konsumiert. Wurde gezeigt, inwiefern Sokurov Goethes Faust durch das Spiel der Dekontextualis erung und Rekontextualisierung der Zitate einer Umarbeitung unterzogen hat und damit die Figur des Faust in den Kontext des Übermenschen und als reines Prinzip des Vorwärtsdrängens übersetzt hat, so sperrt sich diese Figur für einen positiven, emphatischen Identifikationsprozess des Rezipienten. Der Rezipient findet eigentlich gar keine Figur in diesem Film, mit der er sich identifizieren möchte. Denn Sokurov zeigt hier mit seinen unsympathischen Figuren eine Welt, die, so formuliert es Ulrich Gaier im Zusammenhang der Gelehrtentragödie in Goethes Faust, 46 geprägt ist von gesellschaftlicher Gleichgültigkeit, wofür die Figur Altmayers als Beispiel anzuführen wäre, da dieser Margarete trotz besseren Wissens nicht rettet, und in der die Menschen ihr Vergnügen auf Kosten anderer ausleben, wie es Faust mit Gretchen und Maurizius mit Faust durchexerziert, ohne die Konsequenzen zu reflektieren. Auf diese Weise bleibt dem Rezipienten das Eintauchen in die diegetische Welt verwehrt. So könnte dem Zuschauer eine distanziert beobachtende Rolle bleiben. Dieser Akt des Beobachtens selbst wird wiederum auf der Ebene der Diegese inszeniert, wie beispielsweise ein Student Wagner und Faust beobachtet während sich Maurizius in der Kirche erleichtert, 47 Altmayer Faust und Margarete beim Waldspaziergang nach der Beerdigung Valentins 48 oder aber die Zombies Faust durch Fenster beobachten, als er Margarete nach der gemeinsamen Nacht verlässt, und damit wird dieser Akt zu einer Beobachtung dritter und vierter Ordnung 49 . Denn dieser beobachtende Zuschauer soll, unterstützt durch das Mittel der ostranenie, eine Distanz zum Filmgeschehen beibehalten, um die Verfasstheit dieser Welt zu reflektieren, die Sokurov als Grundlage dessen begreift, was die Menschheit in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts trieb. Liest und versteht man den Faust-Film als letzten Teil der Macht-Tetralogie Sokurovs, in der drei Machtmenschen des 20. Jahrhunderts jeweils zu einem Zeitpunkt portraitiert werden, an dem ihre Macht bereits im Schwinden begriffen ist, dann stellt Faust hier in seinem grenzlosen Streben einen Archetypen dar, der sich im 20. Jahrhundert durch Hitler, Lenin und Hirohito realisiert und damit für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust, und der Atombom- 46 Siehe Gaier, „Kommentar, Wort- und Sacherläuterungen“, S. 352. 47 Sokurov, Faust, 00: 35: 40. 48 Siehe ebd., 01: 11: 38. 49 Siehe Luhmann, Die Realität der Massenmedien, S. 206-208. IV. i <?page no="293"?> Alexander Sokurov, Faust 293 be steht. 50 Somit lässt sich wiederum in Bezug auf das fehlende Kriegsgeschehen auf dem Gemälde-Zitat Altendorfers fragen, ob der hier getilgte Krieg im Zusammenhang mit dem Ende des Faust-Films eine proleptische Funktion einnimmt und auf den Krieg im 20. Jahrhundert vorausdeutet. Basieren die drei Vorgängerfilme demnach auf historischen Persönlichkeiten, handelt der Abschlussfilm von einer dem Bereich des Fiktionalen zugeordneten Figur. Somit käme Sokurovs Faust innerhalb der Tetralogie die Funktion zu, als dezidierte Fiktion und Kunst, im Sinne Aristoteles, das Allgemeine offenzulegen und dieses auf das historisch Besondere zurückzubeziehen, sodass auf diese Weise eine kulturkritische Funktion dieser Tetralogie identifiziert werden kann, wie sie auch in Goethes Faust angelegt ist, und damit Sokurovs Faust-Film auch zu einem neuen ‚Warndrama‘ macht. Sokurovs Faust auf diese Bedeutungsebene zu reduzieren, widerspräche jedoch dem Bedeutungs- und Zeichenspiel, das für diesen Film aufgezeigt worden ist. Schlussendlich entzieht sich dieser Faust einer einhelligen Deutung, was durch den Zuschauer als Zombie veranschaulicht wird: Wie die Untoten Faust in Zeitlupentempo versuchen einzufangen, als er Margarete in ihrer Kammer zurücklässt, so versucht der Zuschauer-Zombie Faust über eingeübte, also automatisierte Wahrnehmungsprozesse und dumpfes Wissen über den Prätext auf den Leib zu rücken. Allerdings entzieht sich Sokurovs Faust-Figur jedes Mal einer eindeutigen Zuschreibung, sobald der Zuschauer meint, sich endlich wieder im Fauststoff-Universum zurechtzufinden. Dann legen Faust und Maurizius Rüstungen an, reiten wie Don Quijote und Sancho Panza durch eine zerklüftete Landschaft und nehmen den Zuschauer mit auf eine Reise zu einem unbestimmten ‚Dorthin‘, einem ‚Immer-weitervorwärts‘. Filmographie Faust. Produktion: Proline Film mit der Unterstützung von der Stiftung für Film- und Medienförderung, St. Petersburg (Oleg Rudnuw) und der Russischen Filmförderung (Sergej Tolstikow), Russland, 2011. Regie: Alexander Sokurov. Drehbuch: Juri Arabow basierend auf der Tragödie von Johann Wolfgang von Goethe. Kamera: Bruno Delbonnel. Musik: Andrey Sigle. Darsteller: Johannes Zeiler (Faust), Anton Adassinsky (Maurizius), Isolda Dychauk (Margarete), Georg Friedrich (Wagner), Hanna Schygulla (Maurizius Ehefrau). Faust - Eine deutsche Volkssage. Produktion: Universum Film AG (Ufa), Deutschland, 1925. Regie: Friedrich Wilhelm Murnau. Drehbuch: Hans Kyser. Kamera: Carl Hoffmann. Musik: Javier Pérez de Azpeitia (Piano) und Paul Hensel (Orchesterarrangement). Darsteller: Gösta Ekman (Faust), Emil Jannings (Mephisto), Camilla Horn (Gretchen), Frida Richard (Gretchens Mutter), Yvette Guilbert (Marthe Schwerdtlein), Wilhelm Dieterle (Valentin). 50 Diese Deutung des Faust-Films erweist sich im Feuilleton als die am weitesten verbreitete. , <?page no="294"?> Linda Ledwinka 294 Bibliographie Beumers, Birgit, „Faust (2011)“. In: Kinokultura, 34 (2011) (http: / / www.kinokultura.com/ 2011/ 34p-faust.shtml, Stand: 21.08.2013). Buchner, Ernst, Albrecht Altdorfer. Die Alexanderschlacht. Stuttgart 1956. Cinema.de, „Faust“ (http: / / www.cinema.de/ film/ faust,4791942.html, Stand: 15.04.2014). Condee, Nancy, „Faust (2011)“. In: Kinokultura 37 (2012) (http: / / www.kinokultura.com/ 2012/ 37r-faust.shtml, Stand: 21.08.2013). Corceiro, Teresa, „Vision und Traumbild. Alexander Sokurows ‚Faust‘-Film“. In: 3sat Kulturzeit (http: / / www.3sat.de/ page/ ? source=/ kulturzeit/ tips/ 159649/ index.html, Stand: 15.04.2014). Fludernik, Monika, Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006. Gaier, Ulrich, „Kommentar, Wort- und Sacherläuterungen“. In: Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. Erster Theil. Studienausgabe. Hg. u. kommentiert von Ulrich Gaier. Stuttgart 2011. Goethe, Johann Wolfgang, „Dramen 1765-1775“. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. Abteilung I, Bd. 4. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt/ M. 1985. ---, „Faust. Texte“. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. Abteilung I, Bd. 7,1. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/ M. 1994. ---, „Faust. Kommentare“. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände. Abteilung I, Bd. 7,2. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt/ M. 1994. Goldberg, Gisela, Albrecht Altdorfer. Meister von Landschaft, Raum, Licht. München u. Zürich 1988. Grozdanovic, Nikola, „Alexander Sokurov’s Odd, Dense & Bizarre ‚Faust‘“ (http: / / blogs.indiewire.com/ theplaylist/ review-alexander-sokurovs-odd-dense-bizarrefaust-20131115, Stand: 15.04.2014). Kessler, Frank, „Ostranenie. Zum Verfremdungsbegriff von Formalismus und Neoformalismus“. In: montage av. Zeitschrift für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation, 5.2 (1996), S. 51-65. Kümmel, Peter, „Film ‚Faust‘. Immer vorwärts, lebt weiter! Alexander Sokurows monumentaler ‚Faust‘-Film“ (http: / / www.zeit.de/ 2012/ 04/ Film-Faust, Stand: 15.04.2014). Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien. 2. erw. Aufl. Opladen 1996. Meuser, Gisela, Presseheft Faust (http.www.mfa-film.de/ workspace/ upload/ pressematerial/ FAUSTPresseheft.pdf, Stand: 15.04.2014). Rollberg, Peter, Historical Dictionary of Russian and Soviet Cinema. Lanham, MD 2009. Rose, Steve, „Aleksandr Sokurov. Delusions and grandeur“. In: The Guardian, Montag, 14. 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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Sokurov, Faust, 00: 01: 56 Abb. 2: Goldberg, Altdorfer, S. 10 Abb. 3: Sokurov, Faust, 00: 19: 21 Abb. 4: Murnau, Faust, 00: 02: 23 Abb. 5: Sokurov, Faust, 00: 01: 03 Abb. 6: Sokurov, Faust, 02: 08: 16 <?page no="297"?> Günter Butzer ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Kulturelles Erinnern und Vergessen, Kanon und Massenkommunikation, literaturwissenschaftliche Symbolforschung, Theorie der inneren Rede, Medienkulturen des Jenseits. Veröffentlichungen: (Hg., mit Bettina Bannasch) Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, Berlin, New York 2007; Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur, München 2008; (Hg., mit Joachim Jacob) Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, München, Paderborn 2012; (Hg., mit Joachim Jacob) Metzler Lexikon literarischer Symbole, 2., erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2012; (Hg., mit Hubert Zapf) Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. 6, Tübingen, Basel 2013. Hanno Ehrlicher ist seit 2011 Professor für Romanische Literaturwissenschaft (Iberoromania) an der Universität Augsburg, wo er derzeit auch als Geschäftsführender Direktor das Institut für Spanien-, Portugal- und Lateinamerikaforschung leitet. Studium der Neueren Deutschen Literatur, der spanischen und katalanischen Philologie in Würzburg, Salamanca und Berlin. Er promovierte an der Freien Universität Berlin im Fach Komparatistik und habilitierte sich an der Universität Heidelberg in romanischer Literaturwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit, des spanischsprachigen Films (Buñuel, Saura, Almodóvar, u.a.), der Avantgardeliteraturen in Europa und Lateinamerika und der Erforschung von Kulturzeitschriften der Moderne im spanischsprachigen Kulturraum (www.revistas-culturales.de). Bisherige Publikationen (in Auswahl): Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgardebewegungen, Berlin 2001; Zwischen Karneval und Konversion. Pilger und Pícaros in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit, München 2010; (Hg., mit Nanette Rißler- Pipka) Almacenes de un tiempo en fuga. Revistas culturales en la modernidad hispánica, Aachen 2014. Franz Fromholzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Er studierte Germanistik, Geschichte und Hispanistik in Regensburg, Augsburg und Valladolid. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Frühen Neuzeit (insbesondere des 17. Jahrhunderts), Psalmendichtung, interkulturelle Germanistik, Gegenwartsliteratur, Stilistik. Publikationen: Gefangen im Gewissen. Evidenz und Polyphonie der Gewissensentscheidung auf dem deutschsprachigen Theater der Frühen Neuzeit, München 2013 (Dissertation). Mitherausgeber der Tagungsbände Noch nie war das Böse so gut. Die Aktualität einer alten Differenz, Heidelberg 2011 und Polnisch-deutsche Duette. Interkulturelle Begegnungen in Literatur, Film, Journalismus (1990-2012), Dresden 2013. Diverse Aufsätze unter anderem zu Schiller, Die Beiträgerinnen und Beiträger <?page no="298"?> 298 Nietzsche, Brecht und zahlreichen Gegenwartsautorinnen und -autoren (Marcel Beyer, Katharina Hacker, Felicitas Hoppe z.B.). Johanna Hartmann arbeitet seit 2010 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Amerikanistik der Universität Augsburg. Sie studierte Amerikanistik, Englische Sprachwissenschaft und Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und schloss ihr Studium 2009 bzw. 2010 mit dem ersten Staatsexamen für das gymnasiale Lehramt und der Magistra Artium ab. Sie promovierte 2014 mit einer Arbeit zu „Literary Visuality in Siri Hustvedt’s Works“. Im akademischen Jahr 2014/ 15 lehrte und forschte sie an der University of Texas at Austin als Assistant Professor am English Department. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Intermedialitäts- und Ekphrasisforschung, der amerikanischen Gegenwartsliteratur, dem amerikanischen Drama des 20. Jahrhunderts und der Interrelation von Politik und Literatur. Aktuelle Publikationsprojekte sind die Sammelbände Censorship & Exile, Göttingen 2015 (Hg., mit Hubert Zapf), ein Buchprojekt das infolge der gemeinsam mit Hubert Zapf organisierten, gleichnamigen Konferenz entstand, und Zones of Focused Ambiguities in Siri Hustvedt’s Works. Interdisciplinary Essays, Berlin 2015 (Hg., mit Christine Marks und Hubert Zapf) und die Monographie Literary Visuality in Siri Hustvedt s Works, Würzburg 2015. Ingo Kammerer ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Studium und Promotion (2008) zu genrespezifischer Filmdidaktik im Deutschunterricht in Ludwigsburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Mediendidaktik, Film. Publikationen (Auswahl): Literaturverfilmung im Deutschunterricht. Zur filmischen Transformation literarischen Erzählens am Beispiel von „Tonio Kröger“ (2006); Das Exil des Thrillerhelden. Über die auf- und anregende Wirkung von Fremdheit und Fremde im Genrekino (2007); Mediale Sichtweisen auf Literatur (Mhg. 2008); Film - Genre - Werkstatt. Textsortensystematisch fundierte Filmdidaktik im Fach Deutsch (2009); Filmanalyse im Deutschunterricht: Spielfilmklassiker (2012); Dokumentarfilm im Deutschunterricht (Mhg. 2014); Georg Büchner lesen. Lesewege und Lesezeichen zum literarischen Werk (i.V ) David R. Kerler ist Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft. Er studierte Englische Literaturwissenschaft, Spanische Literaturwissenschaft und Angewandte Sprachwissenschaft Spanisch an der Universität Augsburg und an der Universidad de Sevilla; Promotion 2011 an der Universität Augsburg mit dem Thema „Postmoderne Palimpseste. Studien zur (meta-) hermeneutischen Tiefenstruktur intertextueller Erzählverfahren im Gegenwartsroman“. Bisherige Publikationen setzen sich insbesondere mit der postmodernen Literatur auseinander, unter besonderer Berücksichtigung poststrukturalistischer Literaturtheorien sowie der Themenbereiche der Erinnerung und des Traumas. Sein derzeitiges Forschungsinteresse gilt dem Wechselspiel von Melancholie und Archivierungsprozessen in der Lyrik der englischen Romantik. Die Beiträgerinnen und Beiträger ’ . . <?page no="299"?> Die Beiträgerinnen und Beiträger 299 Julia Koloda ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen der Universität Augsburg. Sie studierte Ethik der Textkulturen im Rahmen des Elitenetzwerkes Bayern, Philosophie, Psychologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten Augsburg und Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Antike, Mythos und Mythentheorie, Filmtheorie, Medialität, Medientheorie. Publikationen erfolgten bis jetzt im populärwissenschaftlichen Bereich. Susanna Layh ist Akademische Rätin als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen der Universität Augsburg. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Spanische Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Augsburg und am Queen Mary and Westfield College in London. 2011 promovierte sie im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Utopie-, Anti-Utopie und Dystopie-Forschung, postapokalyptische Literatur, (postapokalyptische) Robinsonaden, Großstadtliteratur, Gegenwartsdramatik. Publikationen: Finstere neue Welten. Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014 (Dissertation). Verschiedene Aufsätze und wissenschaftliche Beiträge im Bereich der Utopie-/ Dystopieforschung wie der (postapokalyptischen) Robinsonaden. Linda Ledwinka ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft/ Europäische Literaturen der Universität Augsburg. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Englische Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft an der Universität Augsburg und der Südböhmischen Universität Budweis. Derzeit Promotion zum Thema Bekenntnisliteratur. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität (Literatur und Film, Fotografie und Literatur, Kunst und Film), Autobiographie und Autofiktion, Theorie des Authentischen, Heldentypologien. Katja Sarkowsky ist seit Oktober 2013 W3-Professorin für American Studies an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie studierte Amerikanistik, Germanistik und Neue Englischsprachige Literaturen sowie Women’s Studies an der Universität Trier, am Trenton State College (New Jersey, USA) und der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2003 wurde sie im Rahmen des Graduiertenkollegs „Geschlechterverhältnisse und Öffentlichkeiten. Dimensionen von Erfahrung“ (Frankfurt/ Kassel) an der Goethe-Universität promoviert, war dann zunächst als Assistentin der Geschäftsführung des Zentrums für Nordamerikaforschung (ZENAF) und als Akademische Rätin in der Frankfurter Amerikanistik tätig, bevor sie 2008 den Ruf auf die Juniorprofessur „Neuere Englischsprachige Literaturen und Kulturwissenschaft“ an der Universität Augsburg erhielt. Forschungsschwerpunkte umfassen indigene Literaturen in den USA und Kanada, life writing, Ethnic Studies, literaturwissenschaftliche Stadtforschung und Kulturtheorie; ihr besonderes Interesse gilt der Verknüpfung von literatur- und kulturwissenschaftlichen mit gesellschaftswissenschaftlichen Fra- <?page no="300"?> 300 gestellungen. Sie ist Autorin zahlreicher Aufsätze zur indigenen und asiatischamerikanischen Literatur und zur literarischen Konstruktion New Yorks sowie der Monographie AlterNative Spaces. Constructions of Space in Native American and First Nations Literatures (2007) und Mitherausgeberin zweier interdisziplinärer Sammelbände zu Migration, Literatur und Politik in Kanada und Europa. Michael Sauter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Amerikanistik der Universität Augsburg und Koordinator des Elitestudiengangs Ethik der Textkulturen. Er studierte Amerikanistik, Angewandte Sprachwissenschaft und Kommunikationswissenschaften an der Universität Augsburg und der University of California, San Diego. Seine Dissertation zu Ethical Aspects in the Novels of Philip Roth erscheint 2015. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der modernen und postmodernen amerikanischen Literatur und der Literaturtheorie, insbesondere Ecocriticism und Ethical Criticism. Er ist Mitglied des DFG-Netzwerks „Environmental Crisis and the Transnational Imagination“ (Universität Augsburg, 2014-2016). Im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Transmedialität forscht er zu Film, Fernsehen und digitalen Medien. Gemeinsam mit Timo Müller ist er Herausgeber des Sammelbandes Literature, Ecology, Ethics. Recent Trends in Ecocriticism. Heike Schwarz ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Amerikanistik und Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Sie studierte Amerikanistik, Politik und Philosophie sowie Staats- und Völkerrecht an der Universität Augsburg und der University of Reading (UK). Forschungsschwerpunkte: neben Komparatistik vor allem amerikanische Literatur, Film und Kunst der Gegenwart, insbesondere die Analyse der Darstellungs- und Wahrnehmungsformen von psychiatrischen Diagnosen und Erkrankungen wie neuro-degenerative Diagnosen (insbesondere Alzheimer) und dissoziative Erkrankungen (z.B. Dissoziative Identitätsstörung). Weitere Schwerpunkte: Ecocriticism und „Ecopsychology“, Ökodystopien, Posthumanismus und Animal Studies. Veröffentlichungen u.a. Beware of the Other Side(s). Multiple Personality Disorder and Dissociative Identity Disorder in American Fiction (American Culture Studies, Bielefeld 2013), Aufsätze zu Woody Allens Blue Jasmine, Siri Hustvedts The Blazing World und zeitgenössischer amerikanischer Literatur. Arbeit an einer Herausgeberschaft zu Madness in the Woods. The Ecological Uncanny in Literature and Film sowie an der Monographie Green Nostalgia Neurosis. Ecopathology in American Fiction. Adina Sorian ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Sie studierte Englische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Amerikanistik an der Universität Augsburg, der Universität Wien und der Queen Mary University of London (Modern Languages und Film). Besondere Schwerpunkte ihrer Forschung: Literatur des 21. Jahrhunderts, Psychoanalyse, Literaturtheorie und Film. Derzeit Arbeit an einer Dissertation über das Lacansche Reale in zeitgenössischer Literatur und Film an der Universität Augsburg. Titel der Arbeit: Reading the Real. Toward a Reevaluation of La- Die Beiträgerinnen und Beiträger <?page no="301"?> Die Beiträgerinnen und Beiträger 301 canian Theory in the Study of Fiction and Film. Neben Zeitschriftenartikeln und Fachbeiträgen in Tagungsbänden in den Bereichen zeitgenössische englische Prosaliteratur und Drama publizierte sie Beiträge zu Wim Wenders für das Filmmuseum der Landeshauptstadt Düsseldorf. <?page no="303"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Günter Butzer / Hubert Zapf (Hrsg.) Große Werke der Literatur XIII 2015, 264 Seiten €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8544-4 Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Die Interpretation der Texte verbindet sich dabei mit der Frage ihres Status im literarischen Kanon, der immer wieder neu zu verhandeln und zu begründen ist. Gerade in einer Zeit intensivierter Kanondebatten und des Aufstiegs neuer Medien stellt sich die Frage nach der ästhetischen, historischen und gesellschaftlichen Relevanz von Texten, die ganz offensichtlich kulturprägende Wirkungen entfalten und der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen. Der Band versammelt Beiträge von Kaspar H. Spinner (Äsop, „Fabeln“), Hanno Ehrlicher (Miguel de Cervantes, „Rinconete y Cortadillo“), Rotraud von Kulessa (Marie Leprince de Beaumont, „Le Magasin des adolescentes“), Helmut Koopmann (Johann Wolfgang von Goethe, „Faust“), Thomas Schmidt (George Gordon Byron, „Written After Swimming from Sestos to Abydos“), Dennis F. Mahoney (Joseph von Eichendorff, „Ahnung und Gegenwart“), Martin Middeke (Emily Brontë, „Wuthering Heights“), Hubert Zapf (Herman Melville, „Bartleby, the Scrivener“), Matthias Mayer (Hugo von Hofmannsthal, „Elektra“), Christoph Henke (James Joyce, „Finnegans Wake“) Hans Vilmar Geppert (Bert Brecht, „Buckower Elegien“), Stephanie Waldow (Ingeborg Bachmann, „Malina“) und Katja Sarkowsky (Chinua Achebe, „Things Fall Apart“). <?page no="304"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Volker Steenblock Philosophieren mit Filmen 2013, 192 Seiten €[D] 19,99/ SFr 27,50 ISBN 978-3-7720-8481-2 Dies vorliegende Buch empfiehlt sich jedem Leser und jeder Leserin für das Vergnügen, Filme noch einmal philosophierend zu betrachten, die wir alle schon einmal gesehen haben oder kennenlernen sollten. Die Filme und die philosophischen Gedanken und Texte, auf die dieses Buch verweist, können aber auch für Seminare und für die Schule genutzt werden. Folgende Filme werden unter anderem behandelt: Blade Runner, Truman Show, Matrix, King Kong, Und täglich grüßt das Murmeltier, Chocolat, Metropolis, Star Trek, Spiel mir das Lied vom Tod. <?page no="305"?> Große Werke des Films 120 Jahre nach den ersten öffentlichen Vorführungen ist der Film längst als eigenständige Kunst anerkannt, die ihre ‚Großen Werke‘ ebenso hervorgebracht hat wie die Literatur, die Musik oder die Bildende Kunst. Über die Epochen- und Genregrenzen hinweg hat sich ein Kanon von Werken herausgebildet, der als Bezugsgröße für die Einordnung und Beurteilung von Filmen fungiert, der aber auch immer wieder aufs Neue befragt und revidiert werden muss. Die Reihe Große Werke des Films, die mit diesem Band startet, will diesen dynamischen Prozess der Kanonbildung, -fortschreibung und -revision mitgestalten, indem sie etablierte Filme neu interpretiert und aktuelle Filme für den Kanon vorschlägt. Der erste Band der Reihe präsentiert Werke von Friedrich Wilhelm Murnau (Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens), Fritz Lang (M - Eine Stadt sucht einen Mörder), Ernst Lubitsch (To Be or Not to Be), John Ford (The Searchers), Alfred Hitchcock (Psycho), Federico Fellini (Otto e mezzo), Stanley Kubrick (Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb), Jean-Luc Godard (Alphaville), Pier Paolo Pasolini (Medea), Iván Zulueta (Arrebato), Krysztof Kieślowski (Dekalog 5 / Ein kurzer Film über das Töten), David Lynch (Lost Highway) und Alexander Sokurov (Faust).