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Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch

0715
2015
978-3-7720-5570-6
978-3-7720-8570-3
A. Francke Verlag 
Anne Smets

In Bezug auf Gerichtsvorstellungen ist die Endzeitrede der wohl wirkmächtigste biblische Text. Die interdisziplinär angelegte Arbeit untersucht diesen als Rede Jesu stilisierten Text aus narratologischer und intertextueller Perspektive. In einem zweiten Schritt wird die Rezeption ihrer Gerichtsvorstellungen in Liedern des Evangelischen Gesangbuchs untersucht: Wie werden sie in den Liedtexten gedeutet, welche Aspekte werden betont, welche werden ignoriert oder verfälscht? Dafür werden zunächst theologische und anthropologische Aspekte gottesdienstlichen Singens erörtert und das Gerichtsthema in das Kirchenjahr eingeordnet. Nach einem rubrikengeschichtlichen Überblick werden sieben Lieder ebenfalls aus narratologischer und intertextueller Perspektive analysiert. In diesen Analysen kommt auch die Veränderungsgeschichte der Lieder und ihre Wirkpotentiale im Gottesdienst und im Kirchenjahr in den Blick. Die Arbeit verbindet somit neutestamentliche, hymnologische und praktisch-theologische Perspektiven und ist für Wissenschaft und kirchliche Praxis gleichermaßen relevant.

<?page no="0"?> Mainzer Hymnologische udien Mainzer Hymno Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch Anne Smets <?page no="1"?> MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN Band 27 · 2015 Herausgegeben von Hermann Kurzke in Verbindung mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis Gesangbuchforschung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie <?page no="3"?> Anne Smets Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Lucas Cranach der Ältere, Das jüngste Gericht (1529) (Ausschnitt). Melodie: Martin Luther (1529). Text: Bartholomäus Ringwaldt, Es ist gewisslich an der Zeit (1582). Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Printed in Germany ISSN 1862-2658 ISBN 978-3-7720-8570-3 <?page no="5"?> 5 Inhalt Vorwort .............................................................................................................. 11 Erster Teil: Prolegomena 1 Einleitung .................................................................................................... 15 1.1 Der Gerichtsgedanke in Theologie und Frömmigkeit ............... 15 1.2 Die Relevanz und die bleibende Aktualität des Gerichtsgedankens....................................................................... 18 1.2.1 Angstszenarien ......................................................................... 18 1.2.2 Bewertung und Beurteilung von Menschen ......................... 19 1.2.3 Über-Ethisierung, Über-Moralisierung und gegenseitiges Verurteilen................................................................................. 20 1.2.4 Unheilbarkeit, Unversöhnbarkeit........................................... 21 1.2.5 Verübtes Unrecht...................................................................... 22 1.2.6 Sterben, Tod und Jenseits ........................................................ 23 1.2.7 Fazit ............................................................................................ 23 1.3 Forschungsmotivation ...................................................................... 24 1.4 Forschungsüberblick und Forschungsdesiderat ......................... 26 1.4.1 Neues Testament ...................................................................... 26 1.4.2 Hymnologie............................................................................... 30 1.5 Fragestellung und Vorgehen ........................................................... 32 2 Methodik ..................................................................................................... 37 2.1 Grundlegendes ................................................................................... 37 2.1.1 Einleitung .................................................................................. 37 2.1.2 Texte als „offene Kunstwerke“ ............................................... 37 2.1.3 Wirkungsgeschichte ................................................................. 38 2.1.4 Die Endzeitrede ........................................................................ 38 2.1.5 Die Gleichnisse.......................................................................... 40 2.1.6 Die Kirchenlieder...................................................................... 44 2.2 Das Kommunikationsmodell........................................................... 46 2.2.1 Einführung ................................................................................ 46 2.2.2 Erzählstimme und Erzähladressat_innen ............................. 46 2.2.3 Modell-Autor_in und Modell-Leser_innen........................... 49 2.3 Narratologie ........................................................................................ 56 2.3.1 Einführung ................................................................................ 56 2.3.2 Die Geschichte........................................................................... 57 <?page no="6"?> 6 2.3.3 Die Erzählung ........................................................................... 63 2.3.4 Das Erzählen ............................................................................. 66 2.4 Intertextualität .................................................................................... 70 2.4.1 Einführung ................................................................................ 70 2.4.2 Methodik.................................................................................... 71 4.2.3 Funktionalisierung ................................................................... 75 2.4.4 Inter- und Intratextualität im Matthäusevangelium............ 76 2.4.5 Liedtexte und Intertextualität ................................................. 76 Zweiter Teil: Gerichtsvorstellungen in der Endzeitrede 1 Rahmenerzählung und Struktur der Endzeitrede ....................... 81 1.1 Die Rahmenerzählung (Mt 24,1-4a) ............................................... 81 1.2 Die Struktur der Rede ....................................................................... 83 2 Analyse ......................................................................................................... 85 2.1 Der Beginn der Rede (Mt 24,4b-28) ................................................ 85 2.2 Das Kommen des Menschensohnes (Mt 24,29-31)...................... 87 2.2.1 Einleitung .................................................................................. 87 2.2.2 Mt 24,29-31: Analyse und Intertexte ...................................... 88 2.2.3 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ ........................ 104 2.3 Die Mahnung zur Wachsamkeit (Mt 24,32-44 ) ......................... 106 2.3.1 Einleitung ................................................................................ 106 2.3.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 106 2.3.3 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ ....................... 122 2.4. Das Gleichnis vom treuen und vom schlechten Sklaven (Mt 24,45-51) ................................................................................ 123 2.4.1 Einleitung ................................................................................ 123 2.4.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 124 2.4.3 Der bildspendende Bereich ................................................... 134 2.4.4 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ ........................ 136 2.5 Das Gleichnis von den zehn jungen Frauen (Mt 25,1-13)........ 140 2.5.1 Einleitung ................................................................................ 140 2.5.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 140 2.5.3 Der bildspendende Bereich ................................................... 152 2.5.4 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ ........................ 155 2.6 Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14-30) . 161 2.6.1 Einleitung ................................................................................ 161 2.6.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 161 2.6.3 Der bildspendende Bereich ................................................... 173 2.6.4 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ ........................ 173 <?page no="7"?> 7 2.7 Das Endgericht (Mt 25,31-46) ........................................................ 182 2.7.1 Einleitung ................................................................................ 182 2.7.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 183 2.7.3 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ ........................ 202 3 Ergebnis ...................................................................................................... 207 3.1 Zur Methodik .................................................................................... 207 3.2 Die Funktion der Erzählfiguren innerhalb der Endzeitrede .. 208 3.3 Die Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede ............................... 210 Dritter Teil: Die Rezeption der Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede in Liedern des Evangelischen Gesangbuchs und deren gottesdienstlicher Gebrauch 1 Funktionen und Wirkpotentiale des gottesdienstlichen Singens: Theologische und anthropologische Aspekte ........... 215 1.1 Einleitung........................................................................................... 215 1.2 Singen als Sprachschule .................................................................. 215 1.3 Seelsorgliche Aspekte des Singens ............................................... 216 1.4 Singen als Gemeinschaftsstiftung und Transzendenzeröffnung............................................................ 220 1.5 Singen und Verkündigung............................................................. 222 1.6 Fazit und Ausblick ........................................................................... 226 2 Mt 24-25 und das Thema „Gericht“ im Gottesdienst und im Kirchenjahr ................................................................................ 227 2.1 Einleitung........................................................................................... 227 2.2 Der Ort der Lieder im Gottesdienst ............................................. 227 2.3 Zum Kirchenjahr .............................................................................. 228 2.4 Mt 24-25 und das Gerichtsthema im Kirchenjahr ..................... 230 2.4.1 Das Ende des Kirchenjahres .................................................. 230 2.4.2 Die Adventszeit ...................................................................... 234 2.4.3 Das übrige Kirchenjahr .......................................................... 237 2.4.4 Fazit .......................................................................................... 240 3 Die Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede im Evangelischen Gesangbuch - ein Überblick über seine Rubriken und deren Entwicklung ........................................ 241 3.1 Einleitung........................................................................................... 241 <?page no="8"?> 8 3.2 Das EG und seine Funktionen ....................................................... 242 3.3 Die Vorgänger des EG: *Stuttgart 1854, *DEG 1915 und das *EKG ...................................................................................... 243 3.4 Die unterschiedliche Aufteilung der Rubriken ......................... 244 3.5 Die Rubrik „Advent“....................................................................... 245 3.5.1 Die Rubrik „Advent“ im EG ................................................. 245 5.3.2 Die Entwicklung der Rubrik „Advent“ ............................... 249 3.6 Die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ ......................................... 251 3.6.1 Die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ im EG ..................... 251 3.6.2 Die Entwicklung der Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ ... 251 3.7 Das übrige EG ................................................................................... 254 3.7.1 Zum übrigen EG ..................................................................... 254 3.7.2 Das Thema „Hoffnung und Gewissheit“ ............................ 255 3.7.3 Das Thema „Gericht und Glaube, Gericht und Werke“.... 258 3.7.4 Bitten im Hinblick auf das Gericht....................................... 260 3.7.5 Eigene Wege des 20. Jahrhunderts ....................................... 263 3.8 Fazit..................................................................................................... 265 4 Analysen ausgewählter Lieder ......................................................... 267 4.1 EG 5 Gottes Sohn ist kommen ....................................................... 267 4.1.1 Einleitung ................................................................................ 267 4.1.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 269 4.1.3 Zum Gericht ............................................................................ 273 4.1.4 Wirkungsgeschichte ............................................................... 274 4.1.5 Das Lied im Gottesdienst ...................................................... 278 4.2 EG 9 Nun jauchzet, all ihr Frommen ........................................... 281 4.2.1 Einleitung ................................................................................ 281 4.2.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 282 4.2.3 Zum Gericht ............................................................................ 288 4.2.4 Wirkungsgeschichte ............................................................... 289 4.2.5 Das Lied im Gottesdienst ...................................................... 293 4.3 EG 147 „Wachet auf“, ruft uns die Stimme ................................ 296 4.3.1 Einleitung ................................................................................ 296 4.3.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 297 4.3.3 Zum Gericht ............................................................................ 303 4.3.4 Wirkungsgeschichte ............................................................... 305 4.3.5 Das Lied im Gottesdienst ...................................................... 309 4.4 EG 149 Es ist gewisslich an der Zeit............................................. 312 4.4.1 Einleitung ................................................................................ 312 4.4.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 313 4.4.3 Zum Gericht ............................................................................ 319 <?page no="9"?> 9 4.4.4 Wirkungsgeschichte ............................................................... 319 4.4.5 Das Lied im Gottesdienst ...................................................... 322 4.5 EG 151 Ermuntert euch, ihr Frommen ........................................ 325 4.5.1 Einleitung ................................................................................ 325 4.5.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 327 4.5.3 Zum Gericht ............................................................................ 334 4.5.4 Wirkungsgeschichte ............................................................... 335 4.5.5 Das Lied im Gottesdienst ...................................................... 338 4.6 EG 387 Mache dich, mein Geist, bereit ........................................ 341 4.6.1 Einleitung ................................................................................ 341 4.6.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 343 4.6.3 Zum Gericht ............................................................................ 348 4.6.4 Wirkungsgeschichte ............................................................... 350 4.6.5 Das Lied im Gottesdienst ...................................................... 354 4.7 EG 412 So jemand spricht: „Ich liebe Gott“ ................................ 358 4.7.1 Einleitung ................................................................................ 358 4.7.2 Analyse und Intertexte .......................................................... 359 4.7.3 Zum Gericht ............................................................................ 364 4.7.4 Wirkungsgeschichte ............................................................... 365 4.7.5 Das Lied im Gottesdienst ...................................................... 369 5 Ergebnis ...................................................................................................... 371 Anhang Literaturverzeichnis .................................................................................... 387 Sach- und Begriffsregister ......................................................................... 413 Stellenregister (Auswahl) .......................................................................... 417 Liedregister (EG) .......................................................................................... 420 <?page no="11"?> 11 Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2014 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Dissertationsschrift angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Mein Dank gilt Prof. Dr. Christine Gerber, die diese Arbeit betreut und das Erstgutachten erstellt hat, für die vielen anregenden, konstruktiven und ermutigenden Gespräche und dafür, dass mir neben meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Neues Testament in Hamburg genug Raum für meine eigene Forschung blieb. Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann hat das Zweitgutachten erstellt und die Entstehung der Arbeit von Anfang an mit Gesprächen begleitet, denen ich zahlreiche Impulse aus praktisch-theologischer Perspektive und nicht zuletzt bleibenden Enthusiasmus für mein Vorhaben verdanke. Der ehemaligen Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche danke ich für ein Stipendium, das mir im Anschluss an meine universitäre Tätigkeit ein Jahr konzentrierte Arbeit ermöglicht hat. Auch danke ich für die Möglichkeit, bei den Forschungskolloquien Neues Testament und Praktische Theologie an der Universität Hamburg, beim Treffen der Norddeutschen Neutestamentler_innen in Güstrow sowie beim Seminar Kirchenlied in Sulz am Neckar Teile meiner Arbeit vorzustellen und zu diskutieren. Zu danken habe ich außerdem für die kompetente Unterstützung und herzliche Aufnahme, die ich während meines einwöchigen Forschungsaufenthaltes im Gesangbucharchiv der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz erfahren habe. Sehr dankbar bin ich Andrea Ackermann, Dr. Christiane Krause, Dorothee Lohmann und Miriam Löhr, die Korrektur gelesen haben. Prof. Dr. Hermann Kurzke danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Mainzer Hymnologische Studien“, dem Narr Francke Attempto Verlag für die gute Zusammenarbeit und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland für den Zuschuss zu den Druckkosten. Bad Bramstedt, im Mai 2015 Anne Smets <?page no="13"?> Erster Teil: Prolegomena <?page no="15"?> 15 1 Einleitung 1.1 Der Gerichtsgedanke in Theologie und Frömmigkeit „Der richtende Gott ist in der gegenwärtigen Frömmigkeit abwesend.“ 1 So lautet die Diagnose M. Zeindlers. Zwar hat das Gerichtsthema in gegenwärtigen theologischen Diskursen eine gewisse Renaissance erfahren - verschiedene Publikationen und Tagungen zeugen davon. 2 In Gemeinde und Gottesdienst ist es jedoch, zumindest im volkskirchlichen Bereich, kaum noch ein Thema. 3 Dafür gibt es Gründe. Über Generationen hinweg wurde die Vorstellung eines zornigen, richtenden Gottes zur Disziplinierung missbraucht. Ein stark anthropomorphes Gottesbild, das Gott und/ oder Jesus in die Nähe eines Vaters oder Pädagogen rückt, diente auch zur Rechtfertigung von Gewalt. 4 Auch Kirchenlieder, die biblische Gerichtsvorstellungen auf ihren moralischen Gehalt und ihr Drohpotential verengen, haben zu solch einem bedrohlichen, Angst erzeugenden Gottesbild beigetragen. 5 Gleiches gilt für Gerichtsdarstellungen v.a. in der mittelalterlichen Kunst, die den Fokus nicht auf die himmlischen Freuden der Seligen richten, sondern auf 1 Zeindler, Gott, 10. Zur Definition des Gerichtsbegriffs vgl. u. unter 5. 2 Tagungen: Z.B. „... und das Leben der zukünftigen Welt - Auferstehung und Jüngstes Gericht“ (Tagung der Gesellschaft für Evangelische Theologie, Wittenberg 2007; vgl. den gleichnamigen Tagungsband, hg. v. Heinrich Bedford-Strohm); „Die dunklen Seiten Gottes“ (Symposion zum Geburtstag von Jörg Jeremias, Hamburg 2009); „Wir müssen alle offenbar werden.“ Heute vom Gericht singen? (18. interdisziplinäres Seminar zum Kirchenlied, Kloster Kirchberg/ Sulz am Neckar 2012). Zeitschriften: Themenheft „Gericht und Zorn Gottes“ (ZNT 9 (2002)), Themenheft „Das Jüngste Gericht“ (BiKi 63 (2008)), zu den Monographien s.u. 3 Diese Beobachtung spiegelt sich auch in einem Votum der EKD bzgl. der Rede vom Gericht wider: „Aus der Sorge heraus, Beschreibungen der Zukunft und des Jenseits könnten wörtlich genommen und damit missverstanden werden, verzichten viele Predigten und theologische Voten auf Beschreibungen des Lebens nach dem Tode. Unterrichtsentwürfe für den Religions- und Konfirmandenunterricht behandeln zwar ausführlich die Sterbe- und Trauerbegleitung, sie schweigen aber zu der Frage, was nach dem Tode auf den Menschen wartet. So ist theologisch ein Vakuum entstanden. Es besteht offenkundig eine Differenz zwischen elementaren religiösen Fragen und kirchlichen Antworten.“ (EKD, Hoffnung, 24). 4 Vgl. Dietrich/ Link, Seiten 1, 172; dort zitiert aus EKG 296,7: Kinder, die der Vater soll / ziehn zu allem Guten, die geraten selten wohl / ohne Zucht und Ruten; EKG 305,3: Leiden bringt empörte Glieder endlich zum Gehorsam wieder, macht sie Christo untertan; EKG 106,3: ... denn des Vaters liebe Rut’ ist uns alle Wege gut. 5 Auch T. Moser beschreibt in seinem viel zitierten Buch „Gottesvergiftung“ aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, laut Klappentext ein „Buch gegen den als Religion getarnten oder für Religion gehaltenen Mißbrauch menschlicher Gefühle“, auf eindrückliche Weise die verängstigende Wirkung solcher Lieder. Vgl. zum Singen und zur Liedfrömmigkeit ebd. 53-98; v.a. 53-61.64-67.93f. <?page no="16"?> 16 die Höllenqualen der Verdammten. Die Emanzipation von einem solchen Gottesbild ist ein wichtiger und notwendiger biographischer Schritt vieler Christ_innen. 6 Jedoch geht mit einer solchen Emanzipation häufig das gänzliche Verschwinden der Vorstellung eines göttlichen Gerichts einher. Geistes- und theologiegeschichtliche Faktoren haben dies begünstigt. Zum einen ist die reformatorische Rechtfertigungslehre zu nennen, die, falsch verstanden, zu der Annahme verleiten kann, dass der Gerichtsgedanke durch sie relativiert würde und somit seine Funktion verlöre. 7 Das Gegenteil ist der Fall: Die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben durch die Gnade setzt den Gerichtsgedanken voraus und wird ohne ihn letztlich bedeutungslos. 8 Ein weiterer Grund für die Zurückdrängung des Gerichtsgedankens ist in der Theologie der Aufklärungszeit zu suchen. Sie verstand die Gerichtsvorstellung als Teil eines als überholt angesehenen, apokalyptischen Weltbildes, reduzierte sie auf ihren ethischen Gehalt und verlegte sie ins Diesseits: Schillers Gedichtzeile „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ 9 ist ein pointiertes Beispiel für ein solches präsentisches Gerichtsverständnis, dem sich auch die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts anschloss. Auch die von der Aufklärungstheologie beeinflusste existentiale Auslegung der biblischen Gerichtsaussagen durch R. Bultmann und seine Schule reduzierte diese weitgehend auf ihre ethische Funktion. 10 Mit der präsentischen Deutung des Gerichts geht eine generelle Diesseitsorientierung einher. Die Prägung vieler Exeget_innen durch die genannten theologischen Strömungen hat vielfach zu einer exegetisch-methodischen Ausgrenzung von Gerichtsaussagen geführt. So werden neutestamentliche Gerichtsaussagen entschärft, indem sie der alttestamentlichen und frühjüdischen Tradition zugeordnet und somit hermeneutisch von der Botschaft des NT distanziert werden. 11 Auch wurde vielfach das „Gericht“ als Gegenpol zum „Heil“ betrachtet und die Gerichtsverkündigung allein Johannes dem Täufer zugeschrieben, Jesus dagegen die Heilsverkündigung. 12 6 Vgl. Butting, Gott, 210. 7 Völlig zutreffend fragt Wendebourg, Tag, 6, „ob eine derartige Relativierung der Gerichtsthematik nicht zuletzt auch zu einem defizitären Verständnis der paulinischen Botschaft von Rechtfertigung und Gnade führt, ist doch Gnade und Rechtfertigung per se nur in einem Gerichtshorizont sinnvoll aussagbar“. 8 Vgl. dazu auch Lohse, Theologie, 345. Dies entbindet jedoch nicht von der Aufgabe, die Botschaft von der Rechtfertigung und ihr Verhältnis zum Gerichtsgedanken immer wieder neu und unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen zu bestimmen. Vgl. dazu Körtner, Theologie, bes. 27-49. 9 Schiller, Resignation, zit. n. ders., Gedichte, 329. 10 Vgl. Wendebourg, Tag, 6f. 11 Vgl. dazu Wendebourg, Tag, 4-13; Rölver, Existenz, 31f., Reiser, Gerichtspredigt, 188f., Riniker, Gerichtsverkündigung, 15-17. 12 So z.B. Merklein, Gericht, 72-80. Zu weiteren Gründen für den geringen Stellenwert des Gerichtsgedankens in der älteren Exegese vgl. den Forschungsüberblick bei Rini- <?page no="17"?> 17 Für die kirchliche Praxis hatte diese Entwicklung zur Folge, dass die Vorstellung des richtenden Gottes weitgehend verabschiedet worden ist. Die biblischen Gerichtstexte verschwinden zusehends aus der Perikopenordnung, die verbleibenden werden in der Verkündigung zum Teil ignoriert oder umgedeutet. Es besteht die Tendenz, einen ausschließlich „lieben“ Gott zu verkündigen, der „Geborgenheit“ gibt, einen Christus, „der‘s Leben kennt und mich versteht“. 13 Ein solches Gottesbild ist zwar nicht per se falsch, entspricht in seiner Eindimensionalität jedoch weder dem biblischen Zeugnis noch hat es nachhaltige Anknüpfungspunkte in der menschlichen Lebensrealität. Ein ausschließlich „lieber“ Gott läuft Gefahr, harmlos und damit banal zu werden. Ein Gott, der angesichts der Spannungen und Härten des menschlichen Lebens als passiv und nicht ansprechbar erlebt wird, wird unglaubwürdig und bedeutungslos. 14 Zudem ist es fraglich, ob die Gerichtsvorstellung als Widerspruch zu diesem liebenden Gott aufgefasst werden muss, ob Liebe und Gericht sich gegenseitig ausschließen, oder ob das Gericht nicht vielmehr Ausdruck göttlicher Liebe ist und damit Gegenstand der Hoffnung. 15 In diesem Spannungsfeld bewegen sich die folgenden Überlegungen zu Anknüpfungspunkten des Gerichtsgedankens in der Lebensrealität der Gegenwart. ker, Gerichtsverkündigung, 15-47, sowie Wendebourg, Tag, 3-7, und Rölver, Existenz, 31f. 13 Vgl. die Neuen Geistlichen Lieder „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (zit. n. *Paderborn 2011) und „Ich möcht’, daß einer mit mir geht“ (zit. n. *Düsseldorf 1994). 14 Vgl. Bedford-Strohm, Auferstehung, 7; Zeindler, Gott, 18-21, sowie Schoberth, Gott, 60: „Bleibt der auf Nähe und Zuwendung beschränkte Gott … nur noch zuständig für die guten Zeiten des Lebens, dann wird der bloß ‚liebe Gott’ unglaubwürdig und der Bezug auf ihn trostlos, sobald die heile Welt sich als Illusion erweist.“ Dabei soll jedoch keinesfalls bezweifelt werden, dass gerade vor dem skizzierten frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund die Betonung des liebenden Gottes die richtige Option ist. Mit Rölver, Existenz, 16, ist vielmehr zu betonen: „Die Theologie hat zur Marginalisierung des Gerichtsbegriffs durch die hermeneutische Grundentscheidung beigetragen, die Botschaft von der Liebe und dem Erbarmen Gottes in den Mittelpunkt jedweden Redens über Gott zu stellen. Diese Entscheidung ist biblisch begründet und theologisch richtig. Sie platziert die befreiende Kraft des Evangeliums im Zentrum christlicher Verkündigung und überwindet auf diese Weise jene Form der ‚Gottesfurcht‘, die zur nackten Angst vor dem Allherrscher wurde.“ 15 Vgl. dazu Zeindler, Gott, 18-21. <?page no="18"?> 18 1.2 Die Relevanz und die bleibende Aktualität des Gerichtsgedankens Der Gerichtsgedanke ist in theologischer und seelsorgerlicher Hinsicht von bleibender Relevanz. 16 Dies ist der Fall, obwohl sich eschatologisches Hoffen spätmoderner Menschen, soweit überhaupt vorhanden, nicht in erster Linie auf das Bestehen im Gericht und das Eingehen in den Himmel richtet. Trotzdem finden sich in der gegenwärtigen Gesellschaft phänomenologisch betrachtet zahlreiche anthropologische Anknüpfungspunkte für dieses Thema, die im Folgenden skizziert werden sollen. Festzuhalten ist dabei, dass die Rede vom Gericht, wie eschatologische Rede überhaupt, notwendig Rede in Bildern und Metaphern ist. Der bildspendende Bereich 17 der Metapher „Gericht“ sind dabei jeweils alttestamentlich-jüdische oder römische Vorstellungen von Gerichtsbarkeit, 18 aber auch Erzählungen oder Motive, die der alltäglichen Lebenswelt entstammen, z.B. in den Gleichnissen. Den bildempfangenden Bereich bilden unterschiedliche Vorstellungen des eschatologischen Vergeltungshandelns Gottes an den Menschen. Mit der Bestimmung der Rede vom Gericht als metaphorische Rede ist zugleich auf die Grenzen menschlichen Erkennens hinsichtlich der „letzten Dinge“ verwiesen: „Wie Gott handelt oder letztendlich handeln wird, entzieht sich unserem Erkenntnisvermögen.“ 19 1.2.1 Angstszenarien Der erste Anknüpfungspunkt sind Angstszenarien wie Kriege oder Naturkatastrophen, mit denen Menschen konfrontiert werden, sei es in ihrer kon- 16 Die folgenden Ausführungen decken sich weitgehend mit der systematischtheologischen Debatte zum Thema. So hat das Thema „Gericht“ seinen Platz in den systematisch-theologischen Entwürfen und Kompendien behalten. Seinen primären Anknüpfungspunkt hat es als Teil der Eschatologie in der Soteriologie, in der Antizipation der Vollendung des Reiches Gottes, mit der die Vorläufigkeit des Irdischen einhergeht (vgl. Härle, Dogmatik, 609). Zur seelsorgerlichen Relevanz der Apokalyptik vgl. Körtner, Weltangst, 307-316, der „Trost und Paränese“ als die seelsorgerliche Funktion von Apokalyptik ansieht; vgl. ebd., 313. 17 Vgl. dazu Weinrich, Sprache, 284, der die Begriffe „bildspendendes Feld“ und „bildempfangendes Feld“ verwendet. Mit Gerber, Paulus, 86, werden sie hier als „Bereiche“ bezeichnet. Die Bestimmung dieser Bereiche ist, so Gerber ebd., 87, bereits ein Akt der Interpretation und mithin im Rezeptionsgeschehen verortet. Generell gilt, dass eine Metapher „nicht nur eine Frage von Sprache ist, also von Worten allein“, sondern „die menschlichen Denkprozesse weitgehend metaphorisch ablaufen“. (Lakoff/ Johnson, Leben, 14, Hervorhebung getilgt.) 18 Vgl. dazu Wolter, Recht, 209. 19 Sommer, Gericht, 409. Ähnlich Müller, Gott, 33.44-48, dessen Frage „wofür der Begriff ‚Gericht‘ Gottes eine Metapher ist“, jedoch auf ein nicht mehr zeitgemäßes Metaphernverständnis schließen lässt (Hervorhebung ebd.). <?page no="19"?> 19 kreten Realität oder - häufiger - durch die Medien vermittelt. Solche und andere Katastrophen lösen Endzeitängste aus; sei es die Pest im Spätmittelalter, der Dreißigjährige Krieg, die atomare Hochrüstung in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts oder die auf einen Tsunami folgende Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011. Die letzteren beiden Geschehnisse verweisen zudem auf eine grundlegende Veränderung in der Realität der Bedrohung: Die Menschheit kann sich inzwischen selbst vernichten, so dass das eigene Lebensende mit dem Ende allen Lebens zusammenzufallen droht. 20 Solche apokalyptischen Angstbilder werden auch in biblischen Gerichtsszenarien vor Augen gestellt. Hier sind Angsterfahrungen wie die oben genannten versprachlicht. Dies ermöglicht den Hörer_innen dieser Texte, ihre Angst ein Stück weit auf Distanz zu bringen und in einem weiteren Schritt Gegenbilder der Rettung aufzurufen, die ebenfalls in den Texten zum Ausdruck kommen. 21 So wird „[i]m Kampf zwischen den Bildern der Angst und der Rettung ... Entlastung erfahrbar. Der Glaube an Gottes Rettung bleibt verwickelt in diese Auseinandersetzung, denn die Bedrängnisse des Lebens verschwinden nicht grundsätzlich, sondern müssen immer neu bewältigt werden.“ 22 1.2.2 Bewertung und Beurteilung von Menschen Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die gegenseitige Bewertung und Beurteilung von Menschen. Menschen bewerten und werden bewertet - vom ersten Schulzeugnis an, bei Prüfungen, bei der Arbeitssuche, bei der Partnerwahl oder im Sport. Es sind Anforderungen zu erfüllen, Leistungen zu erbringen - mit dem Risiko, ausgemustert zu werden: Nicht schnell genug, nicht klug genug, nicht schön genug, nicht erfolgreich genug. Menschen gestehen anderen Menschen ein Urteil über sich zu und laufen Gefahr, es zu verabsolutieren. Und zu den Bewertungen von außen kommt der innere Druck, das Urteil des eigenen Gewissens, Schuld- und Schamgefühle. Dabei bleibt die Instanz, von der Menschen sich beurteilt wissen, häufig diffus. 23 20 Vgl. Körtner, Endzeitängste, 3.7; vgl. zu diesem Themenkomplex auch ders., Weltangst. 21 Eine solche Bewegung ist vielfach für die Psalmen, insbesondere für Rachepsalmen, beschrieben worden; vgl. Baldermann, Weinen, v.a. 61-79, sowie im Anschluss daran Klessmann, Seelsorge, 228. 22 So Klessmann, Seelsorge, 228, mit Bezug auf die Psalmen. 23 So hat es Pöhlmann, Abriss, 382, zutreffend formuliert: „Der Richterstuhl, vor dem der moderne Mensch zittert, wird ständig anders besetzt und so oft umbesetzt, dass er für ihn letztlich leer ist. Das Superego, vor dem er sich verantwortet, hat so viele Namen, dass es namenlos bleibt. Das Wovor seiner Verantwortung versteckt sich hinter profanvordergründigen, unauffälligen Phänomenen. Er empfindet nicht Furcht vor Gott, aber <?page no="20"?> 20 Auch sind solche Beurteilungsmechanismen nicht nur negativ konnotiert: Sich beurteilt wissen heißt auch Aufmerksamkeit zu genießen von der beurteilenden Instanz. Es bedeutet, in den eigenen Leistungen, im eigenen Talent und Können oder auch im eigenen So-Sein gewürdigt zu werden. 24 In all dem liegen Anknüpfungspunkte für den Gerichtsgedanken. Die Vorstellung des Gerichts beinhaltet, dass der Mensch im Fokus der Aufmerksamkeit steht, dass sein Leben und Tun angesehen und gewürdigt werden. Ebenso wird in der Rede vom Gericht aber deutlich, dass menschliches Urteilen notwendig begrenzt und fehlbar ist. 25 Sie lässt hoffen auf einen Gott, der nicht willkürlich oder fremdbestimmt urteilt, sondern von dem gesagt wird, dass er ein gerechter Richter sei (Ps 7,12; 50,6 u.ö.), gerechter als jede menschliche Beurteilungsinstanz. Auch lässt sie hoffen auf einen Gott, der nicht einzelne Taten und Leistungen überbewertet, sondern ein menschliches Leben als Ganzes zu würdigen weiß. 1.2.3 Über-Ethisierung, Über-Moralisierung und gegenseitiges Verurteilen Insofern kann der Gerichtsgedanke also eine entlastende Funktion haben. Dies gilt auch für einen weiteren Anknüpfungspunkt, die häufig zu beobachtende Über-Ethisierung und -Moralisierung der Gegenwart, resultierend aus der oben angedeuteten Diesseitsorientierung. Mit ihr geht häufig gegenseitiges Verurteilen und das ständige Austragen von Konflikten vor Gericht einher. 26 Letzteres liegt zunächst in dem menschlichen Bedürfnis doch Angst vor einem X, er hat kein eschatologisches Bewusstsein, aber doch ein eschatologisches Unterbewusstsein...“ (vgl. auch ebd., 379, und für literarische Belege aus dem 20. Jh. 380-382). 24 Dass viele Menschen Situationen, in denen sie beurteilt werden und dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, gezielt suchen, davon zeugen Sendeformate wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s next Topmodel“. Die Teilnehmenden werden von einer aus mehr oder minder bekannten Prominenten bestehenden Jury begutachtet und bewertet, der ein unanfechtbares Urteil über ihr Aussehen, Auftreten bzw. ihre künstlerischen Leistungen zugestanden wird. Dabei bekommt die Verkündung ihres Urteils in den Sendungen großes Gewicht, die Spannung wird ins Unermessliche gesteigert. Blamagen und Beschämung auf Seiten der Teilnehmenden sind vorprogrammiert. Wer jedoch gewinnt, wird - zumindest für einige Wochen - zum gefeierten Star, dem buchstäblich alle Türen offen stehen. Zu DSDS schreibt H. Schroeter-Wittke, singen, 19, treffend, dabei gehe es „um die hymnologische Vorwegnahme und das Erleben des Jüngsten Gerichts. ... Seit der liebe Gott nicht mehr alles sieht, entwickeln wir eben andere kulturelle Formen des Beobachtetwerdens - zumeist nicht minder grausam“. 25 Ähnlich Beintker, Schuld, 225. 26 Dazu schreibt Fuchs, Hoffnung, 202f.: „Mit dem Abhandenkommen des Glaubens an Gottes Gericht explodieren die gegenseitigen Verurteilungen genauso wie die Abwehr dieser Verurteilungen durch die ‚Kunst, es nicht gewesen zu sein’, mit permanenten Entschuldigungen und Selbstrechtfertigungen, die wiederum bei der Beschuldigung <?page no="21"?> 21 begründet, mit den eigenen Anliegen und Überzeugungen wahr- und ernstgenommen zu werden und für erlittenes Unrecht einen Ausgleich zu erhalten. Rechnet der Mensch jedoch nicht mehr mit einer letzten Instanz, die alles zurechtbringen wird, wird er selbst zum absoluten Ankläger und absoluten Angeklagten - und er ist dieser Rolle nicht gewachsen, weil er im Gegensatz zu Gott nicht gnädig sein kann und so selbst zum Richter und Vollstrecker wird. 27 Wenn also „das Jüngste Gericht ausfällt, muß folgerichtig die Menschheitsgeschichte zum Gericht avancieren“. 28 Jedoch kann Bedürfnis nach Gerechtigkeit durch irdische Gerichte oft nicht befriedigt werden. Es werden Sündenböcke gesucht und gefunden, schlimmstenfalls entsteht ein Teufelskreis aus Rache und Gewalt. So ist die Vorstellung eines letzten Gerichts hilfreich und notwendig zur Unterbrechung des Teufelskreises nicht nur der Rache, 29 sondern auch gegenseitiger Anschuldigungen und Verurteilungen. 1.2.4 Unheilbarkeit, Unversöhnbarkeit Mit dem genannten Punkt ist ein weiterer Anknüpfungspunkt des Gerichtsgedankens eng verknüpft. Es geht um geschehenes Unrecht, um Verletzungen, die nicht zu heilen sind, um Konfliktparteien, die sich unversöhnbar gegenüberstehen. So sehnen sich z.B. Menschen, die Opfer physischer oder psychischer Gewalt geworden sind, häufig nach Gerechtigkeit, nach Rehabilitation, die jedoch in der Gegenwart häufig nicht erreicht werden kann, auch nicht durch irdische Gerichtsinstanzen. Bei Gerichtsverfahren kommen zudem fast ausschließlich die Täter_innen mit ihren Taten und ihrer Biographie in den Blick. Ob sie Reue zeigen oder ihre Opfer verhöhnen, ob sie die Höchststrafe erhalten oder mildernde Umstände geltend gemacht werden - ihre Opfer bleiben allein, wenn ihre Verletzungen durch nichts zu heilen, ihr Verlangen nach Gerechtigkeit und Genugtuung durch nichts zu stillen sind. Anders stellt sich dies bei biblischen Gerichtsvorstellungen dar: Hier kommen die Opfer in den Blick, 30 all jene, „die wohl die Mehrheit der Menschheit ausmachen, die kein ‚sattes Leben‘ führen konnten..., deren Leben im Elend stattfindet und deren Leben gewaltsam abgeschnitten wird“ 31 - sie sind nicht vergessen, ihr Leben erhält vor Gott ewige Bedeutung. der anderen landet und so den Teufelskreis der Verurteilungen wieder von der anderen Seite her schließt. Dass fast alle Konflikte nur noch über Rechtsanwalt und Gericht angegangen werden, ist ein erschreckender Ausdruck dieser Gerichtsmanie, der permanenten Angst, zu kurz zu kommen, und der verlorenen Fähigkeit, Gott zumindest das letzte Gericht und das letzte Wort zu überlassen.“ 27 Vgl. Beintker, Schuld, 227. 28 Beintker, Schuld, 227. 29 Vgl. Dahlgrün, Leere, 184. 30 Vgl. dazu Sommer, Gericht, 411. 31 Fuchs, Hoffnung, 200. <?page no="22"?> 22 Bei der biblischen Rede vom göttlichen Gericht geht es daher nicht primär darum, dass Gott die doch einigermaßen gute Welt vernichtet, sondern um die Hoffnung, dass Gott richtigstellt, was in der Welt eben nicht gut ist - und da „die Vollendung der Geschichte innerhalb der Geschichte mit der Aufrichtung der Gerechtigkeit für alle nicht gelingen kann, bleibt der Gedanke des Gerichts elementarer Bestandteil einer Theologie, die auf Seiten der Opfer der Geschichte steht“. 32 Es geht dabei nicht um eine billige Vertröstung und auch nicht um eine Versöhnung, die geschehenes Unrecht bemäntelt, als wäre nichts geschehen. Es geht vielmehr um die Gerechtigkeit Gottes, die durch sein Gericht end- und letztgültig hergestellt wird. 33 1.2.5 Verübtes Unrecht An dieser Stelle führt der Blick zurück auf die Täter_innen. Die biblischen Gerichtsvorstellungen lassen keine einseitige Fixierung auf einen „lieben Gott“ zu, der blind vergibt. Mit Blick auf die Täter_innen ist vielmehr zu sagen, dass der Gerichtsgedanke eine klare Positionierung Gottes gegen das Unrecht, das sie getan haben, impliziert, dass Gott diesem Unrecht nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern zornig wird. 34 Indem das Unrecht im Gericht aufgedeckt und benannt wird, werden die Täter_innen damit konfrontiert, sie können es nicht mehr leugnen. Sie werden beschämt, was bereits als Strafe aufgefasst werden kann. 35 Zu betonen ist dabei v.a. die reinigende Funktion des Gerichts, in dem Gott selbst Position bezieht und in dem das Böse keinen Bestand hat. Festzuhalten ist jedoch, dass Opfer und Täter_innen nicht zu trennen sind. Nimmt man die Vorstellung, dass im Gericht das ganze menschliche Leben gewürdigt wird, ernst, wird deutlich, dass auch hier der Gedanke des simul iustus et peccator unaufgebbar ist. Kein Mensch ist ausschließlich Täter_in oder ausschließlich Opfer. 36 Dies gilt umso mehr im Blick auf strukturelles Unrecht, in das der einzelne Mensch ohne eigenes Zutun verstrickt ist - ein Beispiel dafür ist das hier nur anzudeutende Dilemma, dass der Großteil der hier im Westen verkauften Konsumgüter für viele nur deshalb erschwinglich ist, weil ihr Preis durch Produktionsweisen und Marktmechanismen gedrückt wird, durch die wiederum Menschen ausgebeutet werden. Sich dem Konsum dieser Güter zu entziehen, ist jedoch nur bedingt möglich 32 Rölver, Existenz, 28f, Zitat und Hervorhebung ebd. 33 Vgl. Fuchs, Hoffnung, 202. 34 Der „Verzicht auf die Gerichtshoffnung“, so Butting, Gott, 213, „gefährdet gerade die Liebe Gottes. Gottes Liebe ist nicht mehr ein brennendes Interesse an der ganzen Erde, sondern ein Privileg der Frommen. Die Überwindung von Gewalt als Hoffnung für diese Erde verschwindet aus dem Blickfeld“. 35 Ähnlich Dahlgrün, Leere, 182f., die die Beschämung als wesentliches Moment der Gerichtsstrafe deutet. 36 Ebenso Moltmann, Sonne, 127f. <?page no="23"?> 23 und erfordert neben radikalem Umdenken und Verzicht häufig auch finanzielle Mittel, die nicht jedem und jeder zur Verfügung stehen. Im Blick auf den Gerichtsgedanken bedeuten diese Überlegungen, dass jeder Mensch zwar aus der Opferperspektive das Gericht Gottes herbeiwünschen kann, dass es aber nie nur den anderen gilt. Vielmehr kann sich hierin jede_r als Gerechte_r und Sündige_r zugleich erkennen. 37 Daran knüpft wiederum der Gedanke an, dass menschliches Richten immer begrenzt und fehlbar ist. Das Gericht steht dann als die Hoffnung vor Augen, dass Menschen in ihm eine ehrliche Bilanz ziehen, dass sie sich „gegenseitig anschauen und einander entdecken, worin sie sich gegenseitig getragen und geliebt oder gehasst und zerstört haben“. 38 1.2.6 Sterben, Tod und Jenseits Ein dezidiert seelsorglicher Anknüpfungspunkt ist schließlich die Frage nach Tod und Sterben bzw. einem Jenseits, die Menschen immer wieder stellen. Die Verunsicherung bezüglich dieses Themas ist groß: 39 Obwohl es in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, bleibt doch die damit verbundene Frage danach, was nach dem Tod geschieht, zumeist ausgeklammert - so auch z.B. die häufig gestellte Frage nach einem Wiedersehen nach dem Tod. Hinsichtlich dieser Frage kann im Blick auf das Gericht die Vorstellung formuliert werden, dass v.a. eine Begegnung von ganz neuer Qualität möglich ist. Nach dem Gericht werden die Konfliktgeschichten vergessen und die Verletzungen geheilt sein, so dass auch Feinde aufeinander zugehen können. 40 Auch im Rückblick auf schwierige Biographien - sei es die eigene oder die verstorbener Angehöriger - kann die Gerichtsvorstellung entlastend wirken. 1.2.7 Fazit Insgesamt wird deutlich, dass sich in der gegenwärtigen Gesellschaft zahlreiche Strukturanalogien und Anknüpfungspunkte zu Vorstellungen des göttlichen Gerichts beobachten lassen. Hier hat die Gerichtsvorstellung in erster Linie eine entlastende Funktion. Hinter dieser Funktion tritt jedoch die traditionell betonte Verantwortlichkeit des Menschen nicht zurück. Hierin liegt eine deutliche Mahnung. Gleichzeitig wird der Mensch durch die 37 Ebenso Butting, Gott, 210. 38 Fuchs, Hoffnung, 203. 39 Vgl. dazu das bei Sommer, Gericht, 400f., zitierte qualitative Material zur IV. EKD- Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. 40 Vgl. Beintker, Schuld, 29. <?page no="24"?> 24 ihm zugesprochene Verantwortlichkeit als Geschöpf gewürdigt, 41 und zwar in seiner Freiheit, Entscheidungen zu treffen und sein Leben selbst zu gestalten. 42 1.3 Forschungsmotivation Aus der dargelegten bleibenden Relevanz biblischer Gerichtsvorstellungen ergibt sich die Frage, wie Menschen gegenwärtig überhaupt mit diesen in Berührung kommen: Durch die Lektüre biblischer Texte, durch den Kontakt mit Literatur, Poesie, Filmen, bildender Kunst oder Musik, die deren Wirkungsgeschichte zuzuordnen sind, und durch ihre Rezeption in der gottesdienstlichen Liturgie und Predigt sowie in den hier gesungenen Liedern. Das Gerichtsthema ist in der Bibel im Alten wie im Neuen Testament präsent - sei es in den Psalmen oder im Jesajabuch, in den Evangelien, bei Paulus oder in der Offenbarung - und es ist keineswegs marginal. 43 Zwar unterscheiden sich die Vorstellungen vom Gericht, seinem Ablauf und seinen Kriterien, jedoch ist im AT wie im NT von einem liebenden, zugewandten ebenso wie von einem zornigen, richtenden Gott die Rede. 44 Im Neuen Testament ist der Gerichtsgedanke besonders im Matthäusevangelium präsent. Sehr bild- und metaphernreich, sehr plastisch wird das Gericht hier geschildert, immer wieder wird darauf in unterschiedlicher Weise Bezug genommen. Die Endzeitrede bündelt die unterschiedlichen Gerichtsvorstellungen und variiert sie. Sie ist somit für eine Beschäftigung mit der Gerichtsthematik sehr ergiebig. Zudem ist sie einer der in diesem 41 Vgl. Dahlgrün, Leere, 182. Damit wird m.E. jedoch nicht, wie Moltmann, Sonne, 124, konstatiert, menschliche Willensfreiheit an die Stelle des Gottesglaubens gestellt und damit der Mensch zum Herrn seines eigenen Schicksals gemacht. Zu betonen ist vielmehr die Ungewissheit, mit der der Mensch dem Ausgang des Gerichts gegenübersteht und die ein Ringen um verantwortliches Handeln nach sich zieht. 42 Dass eine solche Autonomie ein Ideal darstellt, das oft nicht mit der Realität übereinstimmt, steht dabei außer Frage. 43 Dies wird an dieser Stelle betont, weil in der neutestamentlichen Forschung lange und zum Teil bis heute die Tendenz auszumachen ist, den Gerichtsgedanken Bereichen zuzuordnen, die viele gern als von Jesus überholt sähen, wie die Apokalyptik, das Alte Testament oder das Judentum, oder diesen Gedanken auf verschiedene Weise auszublenden: „Entweder werden die Gerichtsvorstellungen theologisch abqualifiziert, indem von einem ‚Kanon im Kanon‘ ausgegangen wird, der heilmachende und befreiende Aspekte in den Vordergrund gerückt und die apokalyptischen Passagen in die Ethik oder Metaphorik abgeschoben werden. Oder die Gerichtsaussagen werden in etwas subtilerer Weise schon vorher methodisch ausgesondert.“ (Rölver, Existenz, 31, Hervorhebungen ebd.) 44 Vgl. dazu auch Dietrich/ Link, Seiten 1, 148. <?page no="25"?> 25 Zusammenhang meistrezipierten und damit wirkmächtigsten Texte 45 und bietet sich daher für eine Untersuchung des Gerichtsthemas in intertextueller Perspektive besonders an. Spitzt man die oben gestellte Frage nach gegenwärtigen Berührungspunkten mit dem Gerichtsthema auf das gottesdienstliche Geschehen zu, fallen zunächst die Textlesungen ins Auge. Die Perikopenordnung sieht mehrere Perikopen, die das Gericht zum Thema haben, als Epistel- oder Evangelienlesung sowie als Predigttexte vor. Ihre Anzahl wurde jedoch mit der letzten Perikopenrevision dezimiert. 46 Diese Tatsache deckt sich mit der Beobachtung, dass das Gerichtsthema in der Verkündigung weitgehend abwesend ist und nur mit der oben bereits problematisierten Zögerlichkeit thematisiert wird - ungeachtet der Renaissance, die es in der gegenwärtigen Forschung erfährt. Weiterhin präsent ist das Thema jedoch in Liedern des Evangelischen Gesangbuchs, die im Gottesdienst gesungen werden. In ihnen wird die Gerichtsthematik, wie sie in der matthäischen Endzeitrede vorzufinden ist, rezipiert. Sie geben Zeugnis von verschiedenen Epochen dieser Rezeption und sind bis heute im Gottesdienst im Gebrauch, d.h. in ihnen kommt die Gerichtsthematik in der Gegenwart öffentlich zur Sprache. 47 Sie bilden den Liedfundus, aus dem diejenigen schöpfen, die den Gottesdienst in evangelischen Landeskirchen in Deutschland gestalten. Insbesondere die Institution des Wochenliedes gewährleistet den zumindest jährlichen Gebrauch auch einiger „sperrig“ erscheinender Lieder. Denjenigen Liedtexten im EG, die als Intertexte der matthäischen Endzeitrede aufzufassen sind, soll neben der Endzeitrede selbst im Folgenden die Aufmerksamkeit gelten. Diese Arbeit ist daher interdisziplinär angelegt und in den Fächern Neues Testament und Praktische Theologie verortet. 45 Vgl. auf Seiten der bildenden Kunst exemplarisch den von P. Jezler herausgegebenen Bildband „Himmel - Hölle - Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter“ sowie auf Seiten der Kirchenmusik die zahlreichen Requiem-Vertonungen. 46 Vgl. dazu C. Dahlgrüns Studie „Ethik statt Eschaton? Überlegungen zur Reduktion der Worte von Apokalypse und Jüngstem Gericht in der Perikopenordnung“, v.a. 432-437. 47 Überhaupt ist Kirchenmusik vielfach der einzige Ort, in dem bestimmte theologische Themen noch zum Ausdruck kommen, wie Wulf, Berufsbild, 71, zutreffend festgestellt hat: „Manche Texte und biblische Themen sind meines Erachtens fast nur noch durch die Kirchenmusik einer breiteren Öffentlichkeit präsent, da die zeitgenössische Theologie diese kaum oder zumindest nicht flächendeckend im Blick hat. Wo sonst wird noch die ganze Passionsgeschichte zu Gehör gebracht? Wo spielt die Thematik Tod, Ewiges Leben, Jüngstes Gericht eine Rolle? “ <?page no="26"?> 26 1.4 Forschungsüberblick und Forschungsdesiderat 1.4.1 Neues Testament Auf Seiten der neutestamentlichen Forschung kann diese Arbeit auf umfangreiche Literatur zurückgreifen, die zudem in zahlreichen Forschungsüberblicken dargestellt ist. 48 Deshalb soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand genügen mit für diese Arbeit relevanten Themen, mit Erkenntnissen, an die sie anknüpft, sowie mit bestehenden Forschungslücken. Wichtige Themen sind in der - vorwiegend auf den deutschen Sprachraum konzentrierten - Debatte die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Gerichtskonzeptionen als Reaktion auf eine bis dato sehr pauschale und undifferenzierte Rede vom Gericht Gottes bzw. Jesu, das Verhältnis neutestamentlicher Gerichtsaussagen zu alttestamentlichen und frühjüdischen Gerichtsvorstellungen, das Verhältnis der Gerichtspredigt Jesu zu der Johannes des Täufers sowie das Verhältnis von Gerichts- und Heilsaussagen. Begonnen wurde die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Gerichtskonzeptionen im Frühjudentum und Urchristentum von Egon Brandenburger. Er unterscheidet fünf Gerichtstypen: „Zorn Gottes“, 49 „Erlösungs- und Heilsgericht“, „Vernichtungsgericht“, „Rechtsverfahren vor dem Thron der Herrlichkeit“ und für das NT zusätzlich „universales Weltgericht“. 50 Diese Konzeptionen sind jedoch, so stellt Brandenburger selbst fest, in den Texten häufig miteinander vermischt. 51 Seine Einteilung ist breit rezipiert und mehrfach kritisiert und weiterentwickelt worden. So verwehrt sich Karlheinz Müller zu Recht gegen die Trennung von Erlösungsbzw. Heils- und Vernichtungsgericht, da diese zwei Seiten derselben Vorstellung darstellen. Müller plädiert dafür, bei den drei Kategorien „Vernichtungsgericht“, die das „Erlösungs- und Heilsgericht“ einschließt, „Rechtsverfahren“ und „universales Weltgericht“ zu bleiben. 52 Marius Reiser unterscheidet zwei Kategorien: Straf-/ Vernichtungsgericht und Scheidungs-/ forensisches Gericht. In Aufnahme von Brandenburger und Müller ordnet er die Gerichtsverkündigung Jesu in ihren religionsgeschichtlichen Kontext ein und zeigt in seiner Untersuchung der Gerichtskonzeptionen in frühjüdischen Schriften, der Rede vom Gericht bei Johannes dem Täufer und vor diesem Hintergrund der Eigenart der Ge- 48 Vgl. v.a. die ausführlichen forschungsgeschichtlichen Überblicke bei Zager, Gottesherrschaft, 11-44, und Rölver, Existenz, 32-68. 49 Der „Zorn Gottes“ begegnet jedoch, wie er selbst anmerkt, auch in allen übrigen Konzeptionen. Er stellt daher m.E. schwerlich eine eigene Kategorie dar (ebenso Konradt, Gericht, 12). 50 Vgl. Brandenburger, Gerichtskonzeptionen, 307-314. 51 Vgl. Brandenburger, Gerichtskonzeptionen, 310-314. 52 Vgl. Müller, Gott, 40f. <?page no="27"?> 27 richtsverkündigung Jesu, dass die Gerichtserwartung nicht nur das wichtigste Element der frühjüdischen Eschatologie darstellt, 53 sondern auch, dass Jesus diese Erwartung teilt und das Gericht als „unumgängliche Voraussetzung für das endgültige Heil des Reiches Gottes“ 54 ansieht. Christian Riniker weist in seiner Analyse von Gerichtstexten der Logienquelle und des matthäischen und lukanischen Sondergutes nach, dass die Verkündigung des Gerichts ein zentraler Bestandteil der Verkündigung des historischen Jesus war. Um zu zeigen, dass die von ihm behandelten Gerichtstexte auf den historischen Jesus zurückgehen, führt Riniker traditionsgeschichtliche Analysen durch. Er betont zudem die Verwurzelung der Gerichtsverkündigung Jesu im apokalyptischen Denken. 55 Auch Matthias Konradt rekurriert in seiner mit paulinischen Gerichtsaussagen befassten Arbeit auf Brandenburgers Differenzierungen, unterscheidet aber zu Recht lediglich Strafbzw. Vernichtungsgericht und Rechtsverfahren, da das „universale Weltgericht“ eine neue Kategorie, nämlich Universalität, einführe. 56 Trotzdem ist auch diese Kategorie bei der Untersuchung von Gerichtsvorstellungen m.E. im Blick zu behalten und somit die Frage zu stellen, ob es sich um ein universales oder ein individuelles Gericht handelt und an welche Gruppen es sich ggf. richtet. Konradt schlägt zudem eine produktive Differenzierung zwischen Gerichtsaussagen, die sich einseitig auf die Sünder_innen beziehen und solchen, die einen doppelten Ausgang ausmalen, also Sünder_innen und Gerechte gleichermaßen in den Blick nehmen, vor. Im letztgenannten Fall können unterschiedliche Folgen (Heil/ Unheil) oder auch verschiedene Klassen von Gerechten bzw. Ungerechten und damit auch deren Ergehen unterschieden werden; letzteres nennt Konradt „Beurteilungsgericht“. Auch fragt er nach den Kriterien einer solchen Beurteilung („welches Gericht nach welchen Werken? “). 57 In ihrer motivgeschichtlich angelegten Dissertation zum „Tag des Herrn“ untersucht Nicola Wendebourg dieses Motiv flächendeckend im Alten Testament, Frühjudentum und im Neuen Testament. Dabei arbeitet sie zwei für die h`me,ra -Aussagen charakteristische Konstanten heraus: Die Prägung des „Tages“ durch Gott bzw. Christus, d.h. seine „personale“ Dimension, sowie 53 Vgl. Reiser, Gerichtspredigt, 293. 54 Reiser, Gerichtspredigt, 307. 55 Vgl. Riniker, Gerichtspredigt, 460, ebenso Zager, Gottesherrschaft, 317, der sich auf Texte des Markusevangeliums konzentriert. 56 Vgl. Konradt, Gericht, 13. 57 Konradt, Gericht, 19, Hervorhebungen ebd. Auch Wolter, „Gericht“, 42f., unterscheidet nur Straf-/ Vernichtungsgericht und Scheidungs-/ forensisches Gericht. Stettler, Gericht, 272, dagegen lehnt es ab, überhaupt von verschiedenen, einander ausschließenden Gerichtskonzeptionen zu sprechen, sondern sieht diese als „unterschiedlichste(n) Variationen des einen Themas, der Durchsetzung der Gottesherrschaft“ an und betont: „Das Gericht JHWHs ist … immer Beurteilungsgericht.“ Insbesondere spricht er sich gegen die ausschließlich negativ konnotierte Konzeption eines „Strafgerichts“ aus. <?page no="28"?> 28 die Funktion der Aussagen als „Zeitansage“. 58 Sie zeigt in einer dieser groß angelegten Studie angemessenen Kürze, dass das Motiv des „Tages“ innerhalb der matthäischen Endzeitrede „zunächst als reine Zeitangabe“ dient und fest mit der Vorstellung des in do,xa kommenden Menschensohnes verbunden ist, die wiederum an die alttestamentliche, theozentrische Jom- Jhwh-Tradition anknüpft. 59 Ein wichtiges Ergebnis dieser Arbeit ist die Beobachtung, dass die Gerichtserwartung in der Zeit bis zum NT universalisiert und eschatologisiert wird. Michael Wolter hat in seinem Aufsatz „‘Gericht‘ und ‚Heil‘ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer“ betont, dass die Kategorien „Gericht“ und „Heil“, anhand derer die Unterschiede zwischen Jesus und dem Täufer häufig beschrieben werden, nicht in Opposition zueinander stehen; 60 „Gericht“ sei semantisch nicht automatisch mit „Unheil“ gleichzusetzen. So sei den beiden Typen „Vernichtungsgericht“ und „forensisch ausgerichtetes Verfahren vor dem Thron des Richters“ gemeinsam, dass „Gottes Gerichtshandeln immer als integraler Bestandteil seines Heilshandelns verstanden“ werde, welches darin zum Ausdruck komme, „dass es über die Feinde Gottes und seines Volkes sowie über die Sünder und Frevler Unheil und Vernichtung“ 61 bringe. Auf diese Weise werden „die Verlorenheit des Heilsvolkes und der Gerechten in Heil transformiert“ 62 und Gottes Schöpfungsordnung durchgesetzt und aufgerichtet. Daher gilt: „Gottes Gerichtshandeln ist Heilshandeln.“ 63 Olaf Rölver untersucht im Hinblick auf „Christliche Existenz zwischen den Gerichten Gottes“ 64 Mt 21-23 nach narratologischen, semantischen und pragmatischen Gesichtspunkten, da er diesen Textabschnitt im Hinblick auf die Gerichtsvorstellung für zentral erachtet. Seine semantischen, nicht aber seine narratologischen Analysen weitet er auf Mt 24-25 aus. Rölver profiliert in seiner Arbeit die These, dass die Perspektive der Leser_innen des Matthäusevangeliums eine Perspektive „zwischen den Gerichten Gottes“ 65 sei - zwischen der bereits erlebten Zerstörung des Tempels und dem für die Zukunft erwarteten endzeitlichen Gericht. Christian Stettler weist in einem Vierschritt AT - Frühjudentum - Täufer - Jesus die tiefe Verwurzelung der eschatologischen Erwartungen Jesu im apokalyptischen Denken sowie die Kontinuität der Gerichtsverkündigung 58 Vgl. Wendebourg, Tag, 356-377. 59 Vgl. Wendebourg, Tag, 263-265. 60 Wolter, „Gericht“, 38. 61 Wolter, „Gericht“, 42f.; Hervorhebungen ebd. 62 Wolter, „Gericht“, 43. 63 Wolter, „Gericht“, 43, Hervorhebung ebd. Bereits im Alten Orient gab es die Idee der „rettenden Gerechtigkeit“ einer Gottheit bzw. des Königs, die sich „für ein neues Verständnis der biblischen und nachbiblischen Rede von der ‚Gerechtigkeit Gottes‘ fruchtbar machen“ lassen; vgl. Assmann u.a., Richten, 221. 64 So lautet der Titel seiner Dissertationsschrift von 2010. 65 Rölver, Existenz, 94. <?page no="29"?> 29 von den Schriftpropheten über die Apokalyptik bis ins Neue Testament nach. 66 Neu an Jesus sei jedoch die Zwei-Stufen-Eschatologie: Jesus übt seine Vollmacht zunächst in Niedrigkeit und Schwachheit aus, durch Predigten und Heilungen, durch seine Lehre eines der Gottesherrschaft entsprechenden Verhaltens. Durch sein Wirken, durch die Entscheidung der Menschen für oder gegen ihn und seine Botschaft ereignen sich Heil und Gericht, so Stettler, „im Vorgriff auf das Endgericht“ 67 bereits jetzt. Den genannten Autor_innen ist gemeinsam, dass sie Textstellen oder Perikopen heranziehen, die sie unter thematischen Gesichtspunkten (so z.B. Wendebourg) bzw. nach dem Kriterium der „Echtheit“ (z.B. Reiser) auswählen. Notwendig ist aber m.E. auch die Untersuchung längerer Textzusammenhänge, und zwar um nicht ihre Redaktions- und Kompositionsgeschichte in den Blick zu nehmen, sondern ihre Endgestalt und die aus ihr erwachsenden Rezeptionspotentiale, denn in dieser Endgestalt werden sie in den meisten Fällen rezipiert und entfalten so neue, intra- und intertextuelle Verständnismöglichkeiten. 68 Auch die unterschiedlichen Gerichtskonzeptionen an der matthäischen Endzeitrede als Ganzer zu überprüfen, steht noch aus. Gleiches gilt für eine fortlaufende narratologische Analyse dieses Textes. Diese ist notwendig, um seine Gerichtsaussagen adäquat erfassen zu können, da sie sich nicht nur in der Semantik, sondern auch in den Handlungsverläufen der einzelnen Perikopen, v.a. der Gleichnisse (Mt 24,45- 25,30) und der Endgerichtsszene (25,31-46), manifestieren. Die Erkenntnis, dass das Gericht ein zentrales Moment der Verkündigung Jesu darstellt und nicht etwa die „Kehrseite“ des Heils ist, sondern mit ihm zusammenfällt, hat auch für die Praktische Theologie Konsequenzen, denn auch hieran macht sich die bleibende Relevanz des Gerichtsthemas fest. Somit ist zu fragen, ob und auf welche Weise es in der kirchlichen Praxis, insbesondere im Gottesdienst, zum Thema wird bzw. werden kann. Diese Frage wird in dieser Arbeit auf die Frage nach dem gottesdienstlichen Gesang vom Gericht zugespitzt. Deshalb stehen Lieder des EG im Fokus und damit die Hymnologie, der sich der zweite Teil des Forschungsüberblicks widmet. 66 Vgl. Stettler, Gericht, 3f., Zitat S.3. 67 Stettler, Gericht, 268. 68 Ein rezeptionsorientierter Zugang zum Matthäusevangelium wird von M. Mayordomo-Marín in seiner Dissertation „Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2“ methodisch reflektiert und auf Mt 1-2 angewandt. Von H. Frankemölle liegt zudem ein rezeptionsästhetisch und zudem intertextuell orientierter Matthäus-Kommentar vor, der insbesondere die Bezüge zum AT in den Blick nimmt und reflektiert (vgl. dazu Frankemölle, Mt 1, 52-73). <?page no="30"?> 30 1.4.2 Hymnologie Anders als im neutestamentlichen Teil kann im Bereich der Hymnologie auf keinerlei Forschungsliteratur zum Thema Gerichtsvorstellungen im Kirchenlied bzw. im Evangelischen Gesangbuch zurückgegriffen werden. Vorhanden sind Kommentare zu den einzelnen Liedern, von denen diese Arbeit profitiert. Methodisch kann eine Untersuchung des Gerichtsthemas im Kirchenlied zudem auf hymnologische Arbeiten zurückgreifen, die nicht mehr (nur) historisch-kritisch, sondern mit literatur-, sprach- und auch sozialwissenschaftlichen Methoden arbeiten und somit den Paradigmenwechsel widerspiegeln, den nicht nur die exegetische Wissenschaft, sondern auch die Hymnologie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Teilen vollzogen hat. In seiner Dissertation „Gemeindelieder“ fragt Ulrich Lieberknecht nach Wesen und Funktion von Gemeindeliedern, nach Kriterien zu ihrer Beurteilung und nach ihrem situationsgerechten Gebrauch. Er geht von der Grundthese aus, dass es für den Gebrauch eines Gemeindeliedes förderlich sei, seine „Lebensgeschichte“ zu erhellen. Das bedeutet, seine Entstehung und die Prägung durch den Autoren in den Blick zu nehmen sowie die verschiedenen Bewährungs-Situationen, denen es dadurch ausgesetzt ist, dass es beurteilt, ausgewählt, gesammelt (z.B. in einem Gesangbuch) und bestimmten Funktionen gezielt zugeordnet wird. 69 Mit Ph. Harnoncourt, der „Singen und Gesänge als Erscheinungen der kirchlichen Praxis begreift“, betreibt Lieberknecht Hymnologie als Praktische Theologie unter der Fragestellung „Wie singt die Kirche, und wie sollte sie singen? “ 70 So gelten ihm Gemeindelieder zu Recht als Repräsentanten kirchlicher Wirklichkeit. 71 Als solche sollen Lieder daher auch in dieser Arbeit in den Blick kommen. Einen literatur-, sprach- und sozialwissenschaftlichen Ansatz verfolgt Britta Martini, die in ihrer Dissertationsschrift „Sprache und Rezeption des Kirchenliedes“ das Tauflied „Kind, du bist uns anvertraut“ untersucht. Auf der Suche nach Kriterien zur Beurteilung von Kirchenliedern unterzieht sie den Liedtext zunächst einer semantischen und pragmatischen Analyse und zeigt seine Superstrukturen auf. In einem zweiten Schritt wertet sie qualitative Interviews aus, die sie mit Rezipient_innen des Liedes geführt hat, und reflektiert schließlich über Kirchenliedtexte als lyrische Texte und Gebrauchstexte. Nicht zu überzeugen vermag jedoch ihre intertextuelle Analyse, da sie als Intertexte lediglich Lieder des EG heranzieht, nicht aber bibli- 69 Vgl. Lieberknecht, Gemeindelieder, 11f. 70 Lieberknecht, Gemeindelieder, 16, Hervorhebungen getilgt. Zu Recht bestimmt Lieberknecht den Standort der Hymnologie als „Wissenschaft zwischen den Wissenschaften“ mit Anknüpfungspunkten zur Ästhetik, Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaft, Zeichentheorie, Sprachwissenschaft, Anthropologie, Musikwissenschaft sowie Ethnologie und Soziologie (vgl. ebd., 20). 71 Vgl. Lieberknecht, Gemeindelieder, 66. <?page no="31"?> 31 sche oder theologische Prätexte. 72 Jedoch ist hier ansonsten der Versuch geglückt, ein Kirchenlied sowohl sprach- und literaturwissenschaftlich zu analysieren als auch seine Wirkungen empirisch zu untersuchen. 73 Der „Wirkungsmächtigkeit des gesungenen Wortes“ 74 geht Johannes Block in seiner Studie „Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie“ nach, indem er einen Ansatz der „hermeneutischen Hymnologie“ entwickelt; u.a. im Anschluss an die Arbeiten Christa Reichs. 75 Er betrachtet ein Lied nicht mehr nur als ein zu untersuchendes Objekt, sondern als Subjekt mit einer Botschaft, die es immer wieder neu im Akt des Singens zu Gehör bringen will. Dazu gehört auch, das Lied mit seinen Wirkungspotentialen in Augenschein zu nehmen. 76 Als Beitrag zu einer solchen „hermeneutischen Hymnologie“ untersucht Matthias Neufeld „Das Bild der Kirche im Singen der Gemeinde“. 77 Neufeld fragt nach dem Selbstverständnis der Kirche (ekklesiologische Perspektive), nach dem Beitrag der - v.a. textgebundenen - Musik hierzu (hymnologische Perspektive) sowie nach dem Selbstverständnis der Kirche im Singen ihrer Lieder (hermeneutische Perspektive). 78 Das Ziel der Arbeit ist es zu überprüfen, inwieweit das EG einen Beitrag zu einer Liedpredigt zum Thema „Kirche“ leistet. 79 Der Untersuchungsgegenstand sind nämlich nicht einzelne Lieder, z.B. einer Epoche, sondern das EG als „Kanon“ pluraler Glaubensaussagen, 80 als „Zeugnis und Medium einer über Jahrhunderte hinweg gewachsenen Frömmigkeit, die um Worte und Bilder der Schrift kreist und sie im gesungenen Wort entfaltet“. 81 Auf die biblischen Bezüge des EG geht Neufeld - der Anlage seiner Arbeit geschuldet - trotzdem nur punktuell ein. 72 Vgl. Martini, Sprache, 39f. Der Erkenntnisgewinn ist entsprechend gering; dass z.B. in mehreren Liedern das Wort „Amen“ vorkommt, liegt auf der Hand. 73 Im Anschluss an Martini bzw. den herrschenden Trend zur Empirie sind in der Folgezeit einige empirische Untersuchungen des gottesdienstlichen Singens erschienen. Genannt seien an dieser Stelle Jochen Kaisers Studie „Religiöses Erleben durch gottesdienstliche Musik“ sowie der im Auftrag der Liturgischen Konferenz von Klaus Danzeglocke, Andreas Heye u.a. herausgegebene Sammelband „Singen im Gottesdienst“, der die „Ergebnisse und Deutungen einer empirischen Untersuchung in evangelischen Gemeinden“ vorstellt. 74 Block, Verstehen, 215. 75 Vgl. v.a. ihren Sammelband „Evangelium: klingendes Wort“, der verschiedene Aufsätze der Autorin zu den Themenbereichen „Evangelium als klingendes Wort“, „Gemeinde als singende Gemeinde“ sowie „Predigt als Singen und Sagen“ enthält. 76 Hinter dem Anliegen Blocks, ein Lied als Ganzes, d.h. seinen Text und seine Melodie wahrzunehmen (vgl. dazu ebd., 7) bleibt die vorliegende Arbeit ein Stück weit zurück, weil sie nicht auf die Melodien eingeht. Dies liegt einerseits in der Anlage der Arbeit begründet und andererseits in der fehlenden Qualifikation der Autorin auf musikwissenschaftlichem und -ästhetischem Gebiet. 77 So lautet der Titel seiner Dissertationsschrift von 2006. 78 Vgl. Neufeld, Bild, 14. 79 Vgl. Neufeld, Bild, 16. 80 Vgl. Neufeld, Bild, 23. 81 Neufeld, Bild, 14. <?page no="32"?> 32 Eine interdisziplinäre, Liturgiewissenschaft, Hymnologie und empirische Theologie 82 verbindende Studie hat Siri Fuhrmann vorgelegt. Unter dem Titel „Der Abend in Lied, Leben und Liturgie“ untersucht sie ausgehend von Abendliedern des 20. Jahrhunderts liturgische Motive und Themen, die sich mit dem Abend verbinden, und erhebt in einem zweiten Schritt empirisch, wie diese in der Gegenwart wahrgenommen werden. In ihren Liedanalysen greift sie v.a. auf das Verfahren der strukturalen Textsemantik zurück 83 und setzt, wie es auch in dieser Arbeit geschehen soll, Lieder und Liturgie miteinander in Beziehung. Die vorliegende Arbeit macht sich Kriterien zur Liedbeurteilung sowie Einsichten einer „hermeneutischen Hymnologie“ zu Eigen, die wiederum Auswirkungen auf die Analyse von Kirchenliedern haben, indem sie z.B. den Blick auf deren Wirkpotentiale lenken. Auch die Anwendung narratologischer und intertextueller Zugänge auf Kirchenlieder wird in dieser Arbeit aus der Forschung übernommen und weiterentwickelt. Neu ist jedoch die explizite biblische Rückbindung und damit die interdisziplinäre Verbindung von exegetischer Forschung und Hymnologie: Die matthäische Endzeitrede und die Kirchenlieder werden als Intertexte untersucht, die sich - obwohl der biblische Text selbstverständlich als zeitlich vorausgehender Prä-Text und dementsprechend die Liedtexte als Post-Texte verstanden werden - potentiell gegenseitig in ihrem Sinn bereichern. Dies schließt nicht aus, nach dem zur Beurteilung von Kirchenliedern häufig aufgestellten Kriterium der „Schriftgemäßheit“ zu fragen. 1.5 Fragestellung und Vorgehen Angesichts der aufgezeigten, bleibenden Relevanz des Gerichtsthemas soll nach Wirkpotentialen der in der matthäischen Endzeitrede exponierten Gerichtsthematik sowie deren Wirkungsgeschichte in Liedern des EG gefragt werden. Dafür ist zunächst zu bestimmen, wonach genau gesucht werden soll, d.h. was mit „Gericht Gottes“ eigentlich gemeint ist. Die quellensprachlichen Begriffe kri,sij und di,kh finden sich nämlich in der Endzeitrede kein einziges Mal. Geht man dennoch davon aus, dass das Gericht hier Thema ist, greift ein enger Gerichtsbegriff, wie ihn z.B. K. Müller einfordert, m.E. zu kurz: Will man den Terminus „Gericht“ ausschließlich dort verwenden, „wo eindeutig im Rahmen von Rechtsvorgängen gedacht und dem Recht entlang Sprache rekrutiert wird - wo es also zweifelsfrei und nachweisbar um Gerichtsszenen im Kontext eines Gerichtshofes mit zugehörigem Gerichtsritual 82 Vgl. dazu Fuhrmann, Abend, 8-10. 83 Vgl. Fuhrmann, Abend, 20f. <?page no="33"?> 33 und Gerichtsinventar geht“, 84 kommen viele matthäische Texte, die sich z.B. durch Stichwortverbindungen eindeutig als der Gerichtsthematik zugehörig erweisen, gar nicht erst in den Blick. Dies ist z.B. bei zahlreichen Gleichnissen der Fall, wie zu zeigen sein wird. Vielmehr ist eine übergreifende Verwendung des Begriffs „Gericht Gottes“ sinnvoll, der sich in der Beschreibungssprache als systematischer Oberbegriff eingebürgert hat. 85 Daher soll unter „Gericht Gottes“ im Folgenden ganz allgemein ein eschatologisches Vergeltungshandeln Gottes bzw. Jesu Christi verstanden werden; 86 der Terminus „Endgericht“ wird synonym hierzu verwendet. In den Texten kommt ein solches Vergeltungshandeln, wie zu zeigen sein wird, auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck; „Jesus“ kündigt es an, er warnt davor, er spricht in Gleichnissen darüber etc. Der Fokus der Analyse von Mt 24-25 soll auf den ausgemalten Gerichtsszenarien liegen, auf ihren Wirk- und Deutungspotentialen. Es soll also, bevor die intertextuellen Relationen der Endzeitrede zu den Liedern wahrgenommen werden, erst einmal die Endzeitrede als solche in den Blick kommen. Dabei wird zu fragen sein, welche Gerichtsvorstellungen sich hier finden und auf welche Weise sie dargestellt werden. Dies geschieht text- und rezeptionsorientiert mit Hilfe narratologischer Methodik. 87 Es wird nach Textstrategien sowie nach Deutungs- und Identifikationspotentialen gefragt, die sich den Lesenden aufgrund dieser Textstrategien bieten. Zentral ist dabei v.a. die Analyse der Handlung sowie der Charakterisierung der Personen. Auch kommen intertextuelle Bezüge in den Blick, da auf diese Weise deutlich wird, welche Gerichtsvorstellungen aus alttestamentlichen und frühjüdischen Prätexten im Post-Text Mt 24-25 vorausgesetzt werden. 88 Statt lediglich auf Einzelperikopen einzugehen, wie es in Untersuchungen zum Thema häufig geschieht, soll die Endzeitrede in ihrer Gesamtheit untersucht werden, wenn auch auf die Gerichtsthematik zugespitzt. Eine solche Untersuchung steht im Blick auf die aktuelle Forschungslage noch aus. 89 84 Vgl. Müller, Gott, 25, Zitat S. 28, Hervorhebungen ebd. 85 Vgl. Brandenburger, Gerichtskonzeptionen, 291; Wendebourg, Tag, 3, Anm. 12. Es gehe vielmehr, so Wendebourg ebd., darum, „die einzelnen Themenkomplexe, die sich unter dem Begriff des ‚Gerichts‘ subsumieren lassen, möglichst differenziert und unter Verzicht auf textfremde Systematisierungen wahrzunehmen“. 86 Auch für Konradt, Gericht, 18, steht eine solche „eschatologische Vergeltung menschlichen Denkens, Redens und Handelns“ im Zentrum des Interesses, wobei auch, anders als in der vorliegenden Arbeit „Texte, die negatives innergeschichtliches Ergehen auf ein Strafhandeln Gottes zurückführen“, eine Rolle spielen (Hervorhebung ebd.). 87 Zur Begründung vgl. 2.1.4-6. 88 Behandelt werden hier vornehmlich Einzeltextreferenzen, also Zitate oder Anspielungen; vgl. dazu 2.4.2.1. 89 Die Notwendigkeit insbesondere der Untersuchung der „Parabelkomposition Mt 24,32-25,30 als Teil der matthäischen Endzeitrede“ hat Münch, Einleitung, 391, aufgezeigt. <?page no="34"?> 34 Durch die Wahrnehmung der Endzeitrede im Kontext des gesamten Matthäusevangeliums sollen zudem intratextuelle Bezüge ganz unterschiedlicher Art in den Blick kommen - und gerade diese bieten Deutungspotentiale des Gerichtsthemas, die sich aus den einzelnen Perikopen nicht erschließen. Die Endzeitrede ist mithin in ihrer Endgestalt, als absichtsvolle Komposition, Gegenstand dieser Untersuchung, in der Gestalt also, in der sie auch die Verfasser der Liedtexte vorfanden, 90 die Gegenstand des zweiten Teiles der Arbeit sind. Hier soll nach der Wirkungsgeschichte der Texte der Endzeitrede und ihrer Gerichtsvorstellungen in Liedern des EG-Stammteils gefragt werden. Ausgewählt werden dabei Liedtexte, die zum einen intertextuelle Bezüge zu Mt 24-25 aufweisen und zum anderen direkt oder indirekt auf die Gerichtsvorstellungen Bezug nehmen, die dort zur Sprache kommen. Dabei ist es wiederum nicht relevant, ob die Begriffe „Gericht“ oder „richten“ im jeweiligen Lied vorkommen, sondern auch hier geht es um Beschreibungssprache. 91 Auch die Liedtexte sollen erst einmal als solche wahrgenommen und einer gründlichen Analyse unterzogen werden. Dabei wird zu fragen sein, welche der unterschiedlichen Facetten der Gerichtsvorstellungen auf welche Weise aufgenommen werden, wie die matthäischen Texte durch die Lieder gedeutet werden, welche ihrer Potentiale ausgeschöpft, welche Aspekte besonders betont, welche überhaupt nicht beachtet und welche verändert oder verfälscht werden. Auch ist die Liedgeschichte, d.h. die Wirkungs- und Veränderungsgeschichte der Liedtexte in einigen rezeptionsleitenden Gesangbüchern durch die Jahrhunderte hindurch zu beleuchten, um ihre Wirkpotentiale im Blick auf die Gerichtsthematik aufzuzeigen und zu belegen. Hierbei spielt auch die Rubrikengeschichte, also die Geschichte der Einordnung eines Liedes in unterschiedliche Gesangbuchrubriken, eine Rolle. Obgleich die Lied- und 90 Auf Bedeutungsverschiebungen, die sich aufgrund der Verwendung der jeweils aktuellen Luther-Bibel statt des griechischen Urtextes ergeben, wird im Rahmen der Liedanalysen eingegangen. Gerade an der Diskrepanz des griechischen und des deutschen Textes lässt sich jedoch zeigen, wie manche durch die Lieder transportierten Deutungstraditionen zustande gekommen sind. 91 An dieser Stelle zeigt sich ein gewisser Überschuss des exegetischen Teiles; nicht alles, was dort erörtert wurde, kann hier wieder aufgenommen werden. Das ist v.a. dem Faktum geschuldet, dass es viel mehr Lieder gibt, die an Mt 25,31-46 anspielen, als an die übrige Endzeitrede. Trotzdem ist die narratologische Analyse der gesamten Endzeitrede notwendig, weil es unsachgemäß wäre, lediglich mit Blick auf die Wortsemantik die Übernahme von Begriffen zu betrachten, zumal dies vermittels der deutschen Bibelausgabe geschehen müsste, die den Autor_innen beim Verfassen ihrer Liedtexte jeweils vorlag. Dies ist jedoch aufgrund der Fülle der Lutherbibel-Ausgaben im 16.-18. Jh. heute kaum mehr nachzuvollziehen. Es soll daher darum gehen, die matthäischen Texte zunächst einmal in ihrem Zusammenhang zu erfassen, auch deshalb, weil intertextuelle Allusionen sich oftmals pars pro toto auf einen größeren Textzusammenhang beziehen. <?page no="35"?> 35 Rubrikengeschichte zumeist aufgrund der Fülle der Quellen nicht erschöpfend behandelt werden kann, handelt es sich hierbei zum Teil um Grundlagenforschung, zumal zu einigen Liedern nur sehr knappe oder veraltete Analysen existieren. Erhoben werden sollen mit Fokus auf Gerichtsvorstellungen insbesondere sogenannte Bestimmtheitsstellen und Leerstellen, die im Laufe der Geschichte eines Liedes verändert wurden. 92 Zwar wurden zahlreiche v.a. in der Aufklärungszeit getätigte Veränderungen in den Liedtexten im Zuge der Restauration im 19. Jh. zurückgenommen und finden sich daher im EG nicht mehr. Jedoch vermögen gerade die veränderten Versionen aufzuzeigen, wo in den Liedern „anstößige“ Stellen zu finden sind, die Änderungen oder Streichungen notwendig erscheinen ließen. Ausgehend von der Motivation, das Vorkommen der Gerichtsthematik im Gottesdienst der Gegenwart in den Blick zu nehmen, stellt sich schließlich die Frage nach dem gottesdienstlichen Gebrauch des jeweiligen Liedes und der damit verbundenen Wirkpotentiale. Im Speziellen soll nach den Rollenangeboten und Identifikationspotentialen eines Liedes für die Singenden sowie nach seinen seelsorglichen, gemeinschaftsstiftenden und transzendenzeröffnenden Wirkpotentialen gefragt werden. 93 Eine solche Analyse geht ebenfalls notwendig textorientiert vor und hat die Potentiale im Blick, die dem Text eingeschrieben sind. Ob diese Potentiale in einem realen Akt des Singens tatsächlich zur Wirkung kommen, müsste in einer breit angelegten empirischen Studie erforscht werden, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Abschließend wird jedoch jeweils nach der Eignung des jeweiligen Liedes für den gottesdienstlichen Gebrauch zu unterschiedlichen Zeiten des Kirchenjahres bzw. zu unterschiedlichen Anlässen gefragt sowie nach seiner Einbettung in den Gesamtzusammenhang des Gottesdienstes, nach dem „Ort“ seines Vorkommens. Resümierend wird dann thetisch zusammengefasst, welche Aspekte der Endzeitrede im EG häufig rezipiert werden und welche wenig oder gar nicht, und welche Aspekte der Gerichtsvorstellungen eine Rolle spielen, z.B. Bedrohung, Angst, Bitte um rechten Glauben und die Kraft, gute Werke zu tun, Hoffnung auf Rettung oder auf die Verurteilung anderer. Tendenzen 92 Vgl. dazu Kurzke, Kirchenlied, 153: „Jeder Text verfügt, rezeptionsästhetisch betrachtet, über Bestimmtheitsstellen, die dem Leser eine bestimmte, feststehende Deutung abverlangen, und Leerstellen, an denen der Leser eigene Deutungen einbringen kann. Das Verhältnis Leerstellen - Bestimmtheitsstellen sollte im Idealfall ausgewogen sein. Es muß genug Bestimmtheit geben, um ein Lied nicht ins Beliebige und Aussagelose verschwimmen zu lassen, aber auch genug Bestimmbarkeit, um Aktivität des Lesers zu ermöglichen. Zuviel Bestimmtheit birgt die Gefahr, daß Lieder veralten. Zuwenig Bestimmtheit birgt die Gefahr, daß sie sich jedem Interesse zur Verfügung stellen.“ 93 Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang die Forderung M. Josuttis‘ an die hymnologische Forschung, zu „differenzieren, welche Rollenerwartungen und auch Rollenzumutungen das Bild christlichen Lebens jeweils geprägt haben“ (Josuttis, Weg, 200). <?page no="36"?> 36 der Wirkungsgeschichte der Lieder sollen abschließend ebenso in den Blick kommen wie ihre Wirkpotentiale und Rollenangebote und ihre Verwendung im Gottesdienst. <?page no="37"?> 37 2 Methodik 2.1 Grundlegendes 2.1.1 Einleitung Die vorliegende Arbeit fragt nach der Darstellungsweise von Gerichtsvorstellungen in der matthäischen Endzeitrede, nach Textstrategien und nach Interpretations- und Anknüpfungs-möglichkeiten. In einem zweiten Schritt fragt sie nach der Wirkungsgeschichte dieser Gerichtsvorstellungen in Liedern des EG. Auch wird nach Wirkpotentialen der Lieder sowie nach Möglichkeiten ihres gottesdienstlichen Gebrauchs gefragt. Eine text- und rezeptionsorientierte Herangehensweise liegt also nahe. Im Folgenden soll zunächst auf das Textverständnis eingegangen werden, das dieser Arbeit zugrunde liegt, sowie auf den Begriff der Wirkungsgeschichte. Dann folgt ein Blick auf den spezifischen Charakter der behandelten Texte - der Endzeitrede und der Lieder - sowie auf die Notwendigkeiten, die sich aus diesen Spezifika für eine Analyse ergeben. Auch soll begründet werden, warum sie als Gegenstand einer narratologischen und intertextuellen Analyse geeignet sind. Die dabei und im gesamten Methodenkapitel gegebenen Beispiele dienen zum einen der Illustration, beinhalten aber auch v.a. für den exegetischen Teil grundlegende Ergebnisse. 2.1.2 Texte als „offene Kunstwerke“ Das den Analysen dieser Arbeit zugrunde liegende Textverständnis ist das eines „offenen Kunstwerks“, das mehrdeutig ist und somit unterschiedliche Interpretationen ermöglicht. 94 Die potentielle Unendlichkeit der Interpretationsmöglichkeiten ist jedoch durch den Text selbst begrenzt. Ihm ist daher besondere Aufmerksamkeit zu schenken - als Mittelweg zwischen Autor_innen- und Leser_innen-zentrierung. 95 Der intentio operis gerecht zu werden und sie in Balance mit der intentio lectoris und der intentio auctoris zu bringen bedeutet, sowohl intraals auch intertextuelle Bezüge des Textes wahrzunehmen, v.a. im Blick auf seine Pragmatik. Dies geschieht im Folgenden v.a. mittels Methoden der Narratologie und der Intertextualitätsforschung. 94 Vgl. Eco, Grenzen, 37. 95 Vgl. Eco, Grenzen, 35-46. <?page no="38"?> 38 2.1.3 Wirkungsgeschichte Der Begriff der Wirkungsgeschichte, also der „Geschichte, Rezeption und Aktualisierung“ eines Textes „in anderen Medien als dem Kommentar“, 96 wurde durch H.-G. Gadamer populär, der ihn von der Rezeptionsbzw. Auslegungsgeschichte abgrenzte. In der Folge ist mehrfach versucht worden, Kriterien einer solchen Abgrenzung zu bestimmen, sei es anhand der Frage, ob mit dem Text auf plausible Weise umgegangen wird, 97 oder anhand der Frage, ob die Konkretisation von Sinn vom Text oder von den Rezipient_innen bedingt ist. 98 Eine klare Abgrenzung hat sich letztlich jedoch als kaum möglich erwiesen, da Rezeption und Wirkung im Verstehen zusammenfließen und daher nicht klar voneinander zu trennen sind. 99 In dieser Arbeit erfolgt deshalb lediglich eine Abgrenzung der Auslegungsgeschichte auf der einen von der Wirkungs-/ Rezeptionsgeschichte auf der anderen Seite. Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zusammen zu halten ist sinnvoll, „um über den hist. Ursprungssinn hinausgehenden Mehr- Sinn zu erfassen und um konkrete Rezeptionsstufen als nicht sachgerecht kritisieren zu können“. 100 Die Wirkungsgeschichte fungiert dann als exegetisches Instrument, mit deren Hilfe Wirkungsstrategien der Texte bei einer sich verändernden Leserschaft, u.a. „Leerstellen …, Textpragmatik und Phänomene der Intertextualität“ 101 untersucht werden. 2.1.4 Die Endzeitrede Die Endzeitrede bildet den zweiten Teil des fünften und letzten der großen Redekomplexe, die für das Mt-Ev. charakteristisch sind. 102 Die Gerichtsthematik kommt in jedem der ersten vier Redekomplexe vor. Besonders auffällig ist, dass jeder von ihnen mit einer Gerichtsansage endet (7,21-27; 10,40-42; 13,49-50; 18,23-35). Geht man von einem konzentrischen Aufbau des Mt-Ev. um Mt 13 als Zentrum aus, 103 lassen sich Mt 23-25 als Entsprechung zur 96 Luz, Mt I, 107; vgl. auch Mayordomo-Marín, Anfang, 349. In seinem Matthäuskommentar verhandelt Luz unter der Wirkungsgeschichte eines Textes jedoch zumeist v.a. seine Auslegungsgeschichte. 97 Vgl. Räisänen, Wirkungsgeschichte, 341. 98 Vgl. Jauß, Erfahrung, 696; vgl. auch Frankemölle, Wirkungsgeschichte, 71-78. 99 Vgl. Mayordomo-Marín, Anfang, 349. 100 Rösel, Wirkungsgeschichte, 1599. 101 Rösel ebd.; zur Intertextualität vgl. 2.4. 102 Kennzeichnend für jeden dieser Redekomplexe ist die Schlussformel Kai. evge,neto o[te evte,lesen o` VIhsou/ j tou.j lo,gouj tou,touj (7,28; 11,1; 13,53; 19,1), die zur nachfolgend weitergehenden Erzählung überleitet. In 26,1 lautet diese Formel abweichend Kai. ev ge, neto o[te evte,lesen o` VIhsou/ j pa,ntaj tou.j lo,gouj tou,touj) Sie kennzeichnet hier das Ende des Wirkens Jesu als Lehrer - was nun folgt, ist seine Passion, sein Tod und seine Auferstehung. 103 Neben dieser hier favorisierten Möglichkeit, das Mt-Ev. zu gliedern, ist auch eine Gliederung in fünf Bücher analog zur Tora oder nach dem markinischen Gliede- <?page no="39"?> 39 Bergpredigt verstehen. 104 Trotzdem ist Mt 23-25 nicht einfach - trotz der sich durchziehenden eschatologischen Thematik - als zusammenhängende Rede aufzufassen, denn zwischen Mt 23 und 24 ist ein deutlicher Bruch auszumachen, der durch einen Orts- und Publikumswechsel gekennzeichnet ist: Jesus verlässt den Tempel, in dem er sich während der Rede über die Pharisäer und Schriftgelehrten aufgehalten hat (21,23), und spricht statt zu Volksmengen und Jüngern (23,1) exklusiv zu letzteren (24,1). Es hat sich daher in der Forschung durchgesetzt, den ersten Teil des Redekomplexes als an Israel gerichtet anzusehen und den zweiten Teil (24-25) an „die Kirche“, d.h., die Christusgläubigen. 105 Mt 24-25 ist als eigenständige Rede stilisiert. Die Worte „Jesu“ richten sich mittels zahlreicher Anreden in der zweiten Person Plural, Imperativen und Amen-Worten explizit an ein Publikum. Solche direkten Anreden haben - ebenso wie Warnungen, Drohungen und performative Verben - eine textpragmatische Funktion, die es in der folgenden Analyse mit zu beachten gilt. Obwohl es sich bei Mt 24-25 also um eine Rede handelt und nicht um eine Erzählung, enthält diese erzählende Abschnitte, nämlich Gleichnisse und Prophezeiungen, die alle Merkmale narrativer Texte aufweisen: Handlung, Erzählfiguren, Erzählperspektive und Umwelt. 106 Zudem ist die Endzeitrede in das Matthäusevangelium eingebettet und damit Teil einer Erzählung; der Erzählung über die Geschichte Jesu Christi (vgl. 1,1), über sein Leben und Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung. 107 Ist das Matthäusevangelium aber - wie die anderen Evangelien auch - ein erzählender Text, ist es mit narratologischer Methodik zu analysieren. Gleiches gilt für die erzählenden Abschnitte der Endzeitrede. Verstehensvoraussetzungen der Rede sind ihre zahlreichen alttestamentlichen und frühjüdischen Intertexte mit ihren geprägten Bildfeldern, mit ihren Gerichtsmotiven und -metaphern. Diese Intertexte sollen deshalb im ersten, exegetischen Teil mit in den Blick genommen werden, sofern sie für die Gerichtsthematik von Belang sind. Gleiches gilt für die intratextuellen Bezüge der Rede innerhalb des Matthäusevangeliums. Intertextuelle Bezüge rungsmodell mit zwei Hauptteilen und einer großen Zäsur zwischen 16,20 und 21 möglich. Zur Diskussion vgl. Luz, Mt I, 23-25; Ebner, Matthäusevangelium, 125-128. 104 Ausführlicher Frankemölle, Mt 2, 361, der feststellt: „Überblickt man alle Reden, so läßt sich feststellen: Parallel zur Dramaturgie in der Abfolge der Erzählungen findet sich eine Dramaturgie mit deutlicher Steigerung in den Reden, wenn diese mit der Gerichtsrede gegen Israel und Kirche als Klimax der Reihe enden“ (ders., Mt 1, 100). 105 Frankemölle, Mt 2, 362f., spricht von der „matthäischen Gemeinde“, was sehr eng gedacht ist. Vgl. zu den „Modell-Lesenden“ des Evangeliums auch 2.2.3.1. 106 Vgl. z.B. Finnern, Narratologie, 47.78f., der mit „Umwelt“ den narratologischen Terminus setting übersetzt, d.h. das Umfeld, in dem die Handlungen der Figuren stattfinden und das Teil der „erzählten Welt“ ist. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass alle vier Merkmale von Erzählungen deren Rezeption auf ihre Weise beeinflussen; vgl. dazu unten. 107 Vgl. dazu Kingsbury, Mt, 106: “Matthew’s Gospel is a unified narrative that tells the story of the conflict that Jesus, Son of God has with Israel, the people of God.” <?page no="40"?> 40 lassen sich jedoch selbstverständlich nicht nur zu Texten ausmachen, die zum Entstehungszeitpunkt des Evangeliums (80-90 n. Chr.) bereits existierten, sondern auch zu später entstandenen wie den Texten von Kirchenliedern. 2.1.5 Die Gleichnisse Gleichnisse sind kurze, narrative Texte, die zwar fiktional, aber auf die ihnen zeitgenössische Realität bezogen sind. Gegenüber anderen Erzähltexten weisen sie die Besonderheit metaphorischer Redeweise auf und fordern Lesende zu eigenständiger Deutung sowie zum Handeln heraus. Sie sind nicht in sich abgeschlossen, sondern auf ihren jeweiligen Kontext bezogen. 108 Bei Gleichnissen als „Redeform …, in der auf eine narrative Form ein metaphorischer Prozeß angewandt wird“, 109 sind nicht einzelne Wörter oder Sätze Träger des Metaphorischen, sondern die gesamte Erzählung. Die Spannung besteht zwischen der narrativen, fiktiven Szenerie und der alltäglichen Lebenswelt bzw. den fundamentalen Möglichkeiten der Existenz. 110 Weil dieser lebensweltliche Kontext sowie die ursprüngliche Kommunikationssituation jedoch im Normalfall nicht mehr zugänglich sind, ist der Text selbst auf Transfersignale und Interaktionsweisen hin zu befragen, 111 die darauf hindeuten, dass er als Gleichnis zu lesen ist, und einen metaphorischen Prozess in Gang setzen. Dies können extravagante Erzählzüge sein wie „verzerrte Alltäglichkeit, übertriebener Realismus, ausgeweitete Konkretheit, eigenartige Nachbarschaften, unvereinbare Elemente“, 112 aber auch 108 Vgl. die von Zimmermann, Gleichnisse, 25-28, aufgezählten Merkmale der von ihm sog. Parabeln. Die Gleichnisforschung hat seit Jülichers Unterscheidung von Gleichnis und Allegorie sowie dem metapherntheoretischen Paradigmenwechsel der 1960er Jahre eine Fülle von Differenzierungen und Neuansätzen erfahren. Viele dieser Ansätze betonen einseitig einen Aspekt der Gleichnisauslegung und widersprechen sich teilweise, stellen aber jeder für sich weiterführendes Instrumentarium zur Gleichnisauslegung bereit. In der neueren Forschung wurden daher mehrfach Modelle entwickelt, die unterschiedliche Ansätze integrieren; vgl. Kähler, Gleichnisse, 46-80; Zimmermann, Spielraum, 14-24. Die vorliegende Arbeit vereint literarische, rezeptionsästhetische und - in geringerem Maße - historische Herangehensweisen. Forschungsüberblicke zur Gleichnisauslegung finden sich u.a. bei Erlemann, Gleichnisauslegung, 11-52; Massa, Verstehensbedingungen, 38-68; Münch, Gleichnisse, 8-56; Kähler, Gleichnisse, 1-17. Zu aktuellen Ansätzen der Gleichnisforschung vgl. zudem den von R. Zimmermann herausgegebenen Sammelband „Hermeneutik der Gleichnisse Jesu“. 109 Ricoeur, Hermeneutik, 298 (Hervorhebungen getilgt). Die Bezeichnung von Gleichnissen als „erweiterte Metaphern“ wurde von Amos N. Wilder eingeführt, der sich damit gegen Jülicher wandte. Vgl. zur Sache auch Weder, Gleichnisse, 61-67. 110 Vgl. Ricoeur, Hermeneutik, 304. 111 Vgl. Zimmermann, Spielraum, 18. 112 Heininger, Metaphorik, 27. Ricoeur, Hermeneutik, 309, spricht noch etwas vage von Elementen der Extravaganz, von der „Präsenz des Außergewöhnlichen innerhalb des <?page no="41"?> 41 konventionalisierte Metaphern sowie explizite Signale wie Gleichnisanfänge und -schlüsse, die eine Übertragung herausfordern. 113 Werden Gleichnisse als Metaphern aufgefasst, sind auch sie eigentliche, unersetzbare Rede. Auch ist ihr Inhalt nicht von ihrer Form zu trennen, 114 da beide eine organische Einheit bilden: „In der Erzählung sind die Ereignisse Teil des Inhalts, und die Art, mit der sie zu einem Erzählgerüst (plot) angeordnet sind, ist Teil der Form. Die Form ist die Struktur des Erzählstoffes.“ 115 Daher ist die Gleichniserzählung selbst mit ihren narrativen Strukturen in den Vordergrund zu stellen mit dem Ziel, ihre metaphorische Bedeutung zu umschreiben, nicht aber zu übersetzen. 116 Wird dies ernst genommen, besteht auch bei einer punktuellen Ausdeutung nicht die Gefahr einer der Struktur und Intention des Textes zuwiderlaufenden Allegorese, die willkürlich Deutungen an ihn heranträgt. 117 Tatsächlich ergibt sich bei vielen Gleichnissen die Pointe aus dem Zusammenwirken sogenannter Einzelzüge, 118 d.h. extravaganter Erzählzüge oder konventionalisierter Metaphern. 119 Um diese traditionell geprägten Bildfelder zu identifizieren und eine unsachgemäße Allegorisierung abzuwenden, ist der Beleg ihrer Existenz anhand von Intertexten aus der Umwelt des NT sowie die Rückbindung an den zeitgenössischen Verstehenskontext notwendig. 120 Auch Kenntnisse der zeitgenössischen Lebenswelt und des sozialgeschichtlichen Kontextes sind zum Verständnis des bildspendenden Bereichs eines Gleichnisses nötig, z.B. Kenntnisse über Hierarchien innerhalb des oi= koj , wie sie von den beiden Gewöhnlichen“, das „eine Unbeständigkeit, ja Widersprüchlichkeit der Struktur nach sich“ zieht. 113 Vgl. hierzu näherhin Theißen/ Merz, Jesus, 297.300; Münch, Gleichnisse, 129-160.249- 290. 114 Vgl. dazu Jüngel, Paulus, 138; Weder, Gleichnisse, 64f., die sich zu Recht gegen Jülichers Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte sowie die Suche nach einem tertium comparationis wenden. 115 Via, Gleichnisse, 77. 116 Vgl. Weder, Gleichnisse, 65; Via, Gleichnisse, 88. Zwar ist Via in dem Punkt zu widersprechen, dass die Gleichnisse allein durch die sprachliche Gestalt - also unabhängig von ihrem historischen Kontext (vgl. Via, Gleichnisse, 30-33) - ihre Botschaft entfalten könnten. Jedoch ist es ein wichtiger Impuls Vias, vom Text selbst auszugehen und ihn einer gründlichen sprachlich-narrativen Analyse zu unterziehen. 117 Vgl. Heininger, Metaphorik, 28. 118 Vgl. Jüngel, Paulus, 137: „Das Gleichnis lebt in allen Einzelzügen von seiner Pointe, aber die Pointe kommt ohne diese Einzelzüge nicht zum Zuge.“ Vgl. hierzu auch Weder, Gleichnisse, 70. 119 Vgl. bereits Linnemann, Gleichnisse, 33, die noch von einem tertium comparationis ausgeht. Heininger integriert in seinen Ansatz feste Metaphorik und extravagante Erzählzüge als gleichberechtigte Größen (vgl. Heininger, Metaphorik, 26). 120 Vgl. Zimmermann, Spielraum, 16f. Zwar ist es laut Zimmermann nicht per se falsch, Gleichnisse allegorisch zu verstehen (vgl. nur in Mk 4,14-20! ), aber dies darf nicht willkürlich geschehen, sondern es sollte „gezeigt werden, dass eine bestimmte bildhafte Übertragung in der Sprachgemeinschaft plausibel war“ (ebd., 17; vgl. auch Chenoweth, Talents, 62). <?page no="42"?> 42 Sklavengleichnissen Mt 24,45-51 und 25,14-30 vorausgesetzt werden. Solches Wissen ermöglicht zudem eine Kritik der kirchlichen Auslegungstradition. 121 Wenn Gleichnisse, wie es in der Endzeitrede der Fall ist, in Reihung auftreten oder durch Stichwortanknüpfungen aufeinander verweisen, gilt es zu ihrer Sinnerhellung, sie nicht isoliert voneinander zu betrachten. 122 Dann gewinnen Einzelzüge durch ihre Wiederholung in den einzelnen Gleichnissen an Bedeutung. Zur Rezeption von Gleichnissen ist zu sagen, dass sie stets einen Überschuss an Sinn aufweisen 123 und daher mehrdeutig sind. Sie laden zur Deutung und Sinnfindung ein, ziehen die Lesenden in ihre Welt hinein, indem sie ihnen Identifikationsfiguren bieten, und „wollen zum Glauben, konkreter, zum Leben aus dem Glauben führen“. 124 Durch ihre Unabgeschlossenheit, ihre Fragen und ihre Aufforderungen zum Vergleichen 125 provozieren Gleichnisse Reaktionen, fordern Mitdenken, Stellungnahme, Aktivität und auch die Umgestaltung des eigenen Lebens und entsprechendes Tun. 126 Im Blick auf die Anlage dieser Arbeit ist zu beachten, dass die Gleichnisforschung sich zum jeweiligen Entstehungszeitpunkt der behandelten Lieder zumeist auf dem Stand vor Jülicher befand, d.h., Gleichnisse wurden methodisch unreflektiert und häufig allegorisch ausgelegt. 127 Auch eine historische Rückbindung fand zumeist nicht statt. Daraus resultiert die Betonung der textorientierten, literarischen Auslegung im exegetischen Teil der Arbeit auch für die Gleichnisse. Aus den gleichen Gründen führt für diese Arbeit Jülichers und Bultmanns Differenzie- 121 Vgl. Schottroff, Gleichnisauslegung, 139f. Die Einbeziehung der historischen Perspektive zielt in dieser Arbeit nicht darauf ab, die Gleichnisse an den historischen Jesus rückzubinden, seine ipsissima vox oder die ursprüngliche narrative Grundstruktur der Gleichnisse zu ermitteln oder ihre Rezeption in den Evangelien nachzuzeichnen. Vielmehr werden die Gleichnisse auf einer Stufe ihrer Wirkungsgeschichte behandelt; in der Matthäus-Fassung, also in der Fassung, in der sie auch in der folgenden Wirkungsgeschichte rezipiert wurden. 122 Ricoeur, Hermeneutik, 310, betont, dass „nicht nur innerhalb eines Gleichnisses (zwischen Erzähltem und Metaphorischem), sondern auch zwischen einzelnen Gleichnissen eine Spannung besteht. Sie sagen nicht alle dasselbe“, aber erhellen sich gegenseitig. 123 Vgl. auch Massa, Verstehensbedingungen, 16: „Die Gleichnisse meinen nicht nur das, was sie sagen. Sie geben mehr zu verstehen, als sie sagen, denn das Erzählte meint noch nicht alles.“ 124 Vgl. Zimmermann, Gleichnisse, 13; Zitat ebd; vgl. auch ders., Medien, 120; ähnlich speziell für das Mt-Ev. Rölver, Existenz, 187. Zu Identifikationsfiguren in narrativen Texten vgl. unten. 125 L. Schottroff plädiert zu Recht dafür, o`moio,w nicht als Aufforderung zur Gleichsetzung, sondern zum Vergleich aufzufassen, so dass die Lesenden aktiv in den Auslegungsprozess einbezogen werden; vgl. Schottroff, Gleichnisauslegung, 144f.; Gleichnisse, 137. Vgl. bereits Bultmann, Theologie, 7f. 126 Vgl. Schottroff, Gleichnisauslegung, 148; Kähler, Gleichnisse, 35. 127 Vgl. Erlemann, Gleichnisauslegung, 12; Kähler, Gleichnis, 1000. <?page no="43"?> 43 rung in „Bildworte“, „Gleichnisse i.e.S.“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“ nicht weiter. Diese ist m.E. ohnehin fragwürdig, weil sie den ntl. Gleichnissen „eine sachfremde Logik“ 128 aufzwingt. Somit wird im Folgenden lediglich der Begriff „Gleichnis“ im Sinne eines übergeordneten Gattungsbegriffs verwendet. 129 Im Matthäusevangelium finden sich Signale, die es ermöglichen, Gleichnisse als eigene Gattung zu erkennen. 130 Da ist zunächst die Bezeichnung parabolai, und die Parabeltheorie (Mt 13,10-17), die über diese Textsorte reflektiert, außerdem formale Aspekte wie die regelmäßig wiederholten Gleichniseinleitungen und -schlüsse und die Komposition von Gleichnisreden innerhalb des Evangeliums. Exemplarische Textbelege In den Gleichniskompositionen sind mehrere Gleichnisse „mit Stichwortbrücken, Strukturentsprechungen, durch parallele Formulierungen, ähnliche Szenen, Personenkonstellationen, Handlungen oder gleiche Milieus intensiv aufeinander bezogen“. 131 Auch sind Gleichnisse mit ihrem thematischen Kontext verknüpft durch ihre Einleitungen und Schlüsse sowie durch Wiederholung von Stichworten und Strukturen aus dem Kontext. 132 Dies wird in dieser Arbeit mit Blick auf die Endzeitrede zu erhellen sein. Festzuhalten ist dabei, dass, obwohl durch die genannten Bezüge eine zweite Sinnebene in ein Gleichnis eingespielt wird, die Gleichniserzählung selbst jedoch gegenüber dieser Ebene ihr eigenes Gewicht behält; sie ist nicht durch das „eigentlich Gemeinte“ ersetzbar. 133 128 Zimmermann, Parabeln, 406, der diese Differenzierung deshalb gänzlich verabschieden will. Ebenso Schulte, Gleichnisse, 44. Kähler, Gleichnis, 1000, behält sie bei, betont aber: „Diese ... vielfach problematisierte Einteilung darf nicht verdecken, daß fließende Übergänge auf ein letztlich einheitliches Phänomen bildhaften aufschlussreichen Sprachgewinns verweisen.“ 129 Synonym zum Begriff „Gleichnis“ verwendet Zimmermann als übergeordneten Gattungsbegriff „Parabel“ im Sinne des quellensprachlichen Begriffs parabolh, . Um Missverständnisse bzgl. einer vermeintlichen Gattungszuweisung zu vermeiden, soll im Folgenden jedoch der Begriff „Gleichnis“ beibehalten werden. 130 Vgl. zum Folgenden Münch, Gleichnisse, 293 u. ders., Einleitung, 385, der autorenorientiert von einem „Gattungsbewusstsein“ bezüglich der Gleichnisse spricht. 131 Münch, Gleichnisse, 294. 132 Vgl. Münch, Gleichnisse, 299; ders., Einleitung, 385-388. 133 Vgl. Münch, Gleichnisse, 297. <?page no="44"?> 44 2.1.6 Die Kirchenlieder Ein Kirchenlied ist das „für den christlichen Gottesdienst geeignete, gebrauchte und approbierte Lied der versammelten Gemeinde“. 134 Charakteristisch für Lieder im Allgemeinen ist neben der Verbindung von Text und Melodie die strophische Form und der Refrain - letzteres ist jedoch nicht zwingend. 135 Im Folgenden sollen ausschließlich die Texte der Lieder in den Blick kommen. Dies liegt in der textorientierten und nicht-musikwissenschaftlichen Anlage der Arbeit begründet. Zwar sind Text und Melodie in der Wirkung von Liedern nicht zu trennen, 136 jedoch ist eine getrennte Betrachtung zum Zwecke ihrer hymnologischen Untersuchung durchaus sinnvoll, 137 zumal die Zuordnung von Texten und Melodien historisch variiert und damit ein eigenes Thema darstellt. Die Liedtexte selbst sind als Gedichte, als Lyrik, d.h., als „relativ kurze, prosodisch überformte - überstrukturierte - Texte“, 138 aufzufassen und werden gemeinhin auch als solche analysiert. Da sie, wie noch zu erläutern sein wird, vieles mit Erzählungen gemeinsam haben, sollen im Folgenden narratologische Methoden auch auf Kirchenliedtexte angewandt werden. Dies liegt in der Gesamtanlage der Arbeit begründet und dient der Kontinuität zwischen dem neutestamentlichen und dem hymnologischen Teil. Der Ansatz, lyrische Texte narratologisch zu untersuchen, stammt aus der Lyrikforschung, ist für die Hymnologie jedoch in dieser methodischen Breite neu. Produktiv ist er, wie sich zeigen wird, nicht zuletzt für einen analogen Blick auf die unterschiedlichen Textsorten, die auf diese Weise ins Gespräch miteinander gebracht werden sollen. Lyrische Texte - und damit auch Liedtexte - gleichen Erzähltexten darin, dass sie zumeist eine Handlung, Erzählfiguren, eine Erzählperspektive und eine Umwelt haben. Die drei noch zu erläuternden Dimensionen Geschichte, Erzählung und Erzählen sind auch für sie konstitutiv. 139 Im Vergleich zu 134 Rößler, Lied, 41. Rößler versteht Kirchenlieder zu Recht als Untergattung des in „Inhalt und Intention auf religiöse Themen und Vorgänge“ bezogenen Geistlichen Liedes, wobei eine klare Abgrenzung schwierig ist, wie er selbst feststellt: „[P]rinzipiell aber sind Wechselwirkungen von der Kirche zu Öffentlichkeit, Schule, Haus und Kämmerlein oder umgekehrt mit einzuschließen“ (ebd.). Dass eine klare Unterscheidung von Kirchenlied und Geistlichem Lied schwer möglich ist, zeigen auch die Darstellungen bei Martini, Sprache, 247-254, und Neufeld, Bild, 38-42. In dieser Arbeit wird der Begriff „Kirchenlied“ verwendet, um zu verdeutlichen, dass die analysierten Lieder für den kirchlichen Gebrauch bestimmt bzw. zumindest geeignet sind. 135 Vgl. Felsner, Arbeitsbuch, 121. Zu den unterschiedlichen Strophenformen vgl. ebd., 80- 132. 136 Vgl. dazu auch 1.1 im dritten Teil. 137 Vgl. dazu Reich, Kirchenlied, 764. 138 Hühn, Lyrik, 59. Vgl. zum Folgenden ebd., 59f. Klang- und Bildfiguren sind dagegen kein spezifisches Charakteristikum der Lyrik, wohl aber ein zentrales Stilmittel vieler Gedichte seit der Antike (vgl. Rudek, Lyrikanalyse, 45). 139 Hühn, Lyrik, 58, bezeichnet die drei Dimensionen als temporale Sequentialität, Medialität und Artikulation; als entscheidendes Kriterium stellen Hühn/ Schönert, Auswer- <?page no="45"?> 45 dramatischen und epischen Texten zeichnen sich lyrische Texte jedoch durch eine oft eingeschränkte oder variierte Nutzung unterschiedlicher Vermittlungsebenen und -modi aus. Die in Gedichten geschilderten Situationen bleiben abstrakt, die Bezugnahmen auf Intertexte und geprägte Bildfelder geschehen nur andeutungsweise. 140 Figuren, Handlungsverläufe und Kommunikationssituationen bleiben unkonkret, Geschichten werden häufig stark gerafft erzählt oder nur angedeutet. Dennoch lassen sich lyrische Texte und mithin auch Kirchenlieder mit der im Folgenden dargestellten narratologischen Methodik gewinnbringend untersuchen. Sie verhilft der Lyrikanalyse zu einer Spezifizierung im Hinblick auf ihre Vermittlungsinstanzen wie z.B. die Erzählstimme sowie ihre temporale Struktur, wie sich im Folgenden zeigen wird. Die herkömmliche sprachlich-rhetorische Lyrikanalyse verliert dabei jedoch nicht an Bedeutung. Sprachliche Merkmale wie Rhythmus, Klangwiederholungen und Tropik lassen sich auf die in der narratologischen Analyse herausgearbeiteten Strukturen beziehen. Wichtig sind hierbei Bildfiguren wie Vergleich, Metapher, Metonymie, Synekdoche, Allegorie und Symbol ebenso wie die Klangfiguren Reim, Assonanz, Alliteration und Lautmalerei. 141 Die narratologische Lyrikanalyse soll also die sprachlich-rhetorische keinesfalls ersetzen, sondern um neue Aspekte ergänzen. Zudem hat letztere auch in der Analyse nicht-lyrischer Texte ihren bleibenden Stellenwert und kommt in dieser Arbeit auch an den biblischen Texten immer wieder zum Einsatz. Die Liedtexte sind Teil der Wirkungsgeschichte biblischer Texte und werden als solche analysiert. Auch haben sie selbst eine Wirkungsgeschichte, die meistens mit einer Veränderungsgeschichte einhergeht: Sie wurden häufig in ihrem Wortlaut und in ihrer Strophenanzahl verändert, beeinflusst durch den Zeitgeschmack und die jeweiligen theologischen Strömungen. Auch diese Veränderungsgeschichte soll im Folgenden nachgezeichnet werden, und zwar zugespitzt auf das Gerichtsthema. tung, 312, „die zeitliche Sequentialität eines Geschehens“ als entscheidendes Kriterium herausgestellt. Diese ist bei sämtlichen in dieser Arbeit analysierten Liedern gegeben. Zum Folgenden vgl. Hühn, Lyrik, 58f. 140 Hühn spricht im Anschluss an kognitionspsychologische und linguistische Ansätze von frames und scripts. 141 Vgl. Rudek, Lyrikanalyse, 46-51. Die Funktionen solcher Bild- und Klangfiguren sind angelehnt an die klassische Rhetorik als delectare - movere - docere zu bestimmen: Sie dienen erstens der Veranschaulichung, sinnlichen Konkretisierung, Vergegenwärtigung, Lebendigkeit und Abwechslung, haben also eine ästhetische Funktion. Zweitens dienen sie der Erzeugung und dem Ausdruck von Stimmungen und Emotionen. Dies geschieht v.a. durch Konnotationen und Assoziationen, die mit der initialen Bedeutung bzw. dem Bildspender verbunden sind. Die dritte Funktion ist die Erkenntnisleitung. Sie beruht auf der klanglichen Verbindung von Wörtern und Gedichtzeilen, die durch Korrespondenzen im Klang semantische Relationen suggerieren bzw. auf der Verbindung zweier semantischer Bereiche (vgl. ebd. 51f.). Zur Erläuterung der einzelnen Bild- und Klangfiguren vgl. exemplarisch Felsner, Arbeitsbuch, 63-73.172-206. <?page no="46"?> 46 2.2 Das Kommunikationsmodell 2.2.1 Einführung Bevor die narratologische und intertextuelle Methodik näher erläutert wird, soll das dem Ansatz der Arbeit zugrunde liegende Kommunikationsmodell dargestellt werden. An ihm werden bereits grundlegende narratologische Unterscheidungen deutlich. Auch für die Rezeptionsästhetik, die v.a. im dritten Teil eine Rolle spielen wird, trägt es Grundlegendes aus. Es beruht auf dem Kommunikationsmodell, das S. Chatman für erzählende Texte entwickelt hat: 142 Real author → [Implied Author → (Narrator) → (Narratee) → Implied Reader] → Real Reader Hier wird zunächst zwischen der textuellen Ebene (hier in eckigen Klammern) und einer extratextuellen Ebene (außerhalb der eckigen Klammern) unterschieden. Die realen Autor_innen und Leser_innen stehen außerhalb der Texte. Sie sind damit kein Gegenstand einer narratologischen Analyse. Indirekt sind sie jedoch in Gestalt der impliziten Autor_innen und Leser_innen (implied authors/ readers) in den Texten präsent, auf die noch unter der Bezeichnung „Modell-Autor_innen“ und „Modell-Leser_innen“ näher eingegangen werden soll. Auf der textuellen Ebene korrespondiert eine Erzählstimme (narrator) den Erzähl-adressat_innen (narratees), die Gegenstand der Erzählanalyse sind und im Folgenden näher bestimmt werden sollen. 2.2.2 Erzählstimme und Erzähladressat_innen 2.2.2.1 Die Begriffe Unter die Kategorie der Erzählstimme fallen alle Aspekte, die den Akt des Erzählens betreffen: Die „Person“ der Erzähler_in, die in narrativen Texten mehr oder weniger greifbar sein kann, das Verhältnis von Erzähler_in und Erzähltem, d.h. seine Darstellung, sowie das Verhältnis von Erzähler_in und Leser_innen. Dabei ist zu betonen, dass Erzähler_in und Erzählen bei fiktionalen Erzählungen Fiktionen darstellen, d.h. sie sind im Gegensatz zu realen Autor_innen nicht an einen realen raum-zeitlichen Zusammenhang gebunden. 143 142 Vgl. Chatman, Story, 151, der sich v.a. in seiner Konstruktion des implied author auf W. Booth bezieht. Im Folgenden wurde das Modell verschiedentlich ausgebaut (vgl. Wenzel, Modellen, 6-14), was für komplexere Texte als die vorliegenden, nicht aber für diese selbst notwendig erscheint. 143 Vgl. Martinez/ Scheffel, Einführung, 68; Hartenstein, Charakterisierung, 32f. Letztere Feststellung ist selbstverständlich nicht generell auf die biblischen Texte zu übertragen, aber hilfreich, um die narrative Ebene von der historischen zu unterscheiden. <?page no="47"?> 47 Der Begriff der Erzählstimme soll im Folgenden bei der Analyse der biblischen Texte, aber auch der Kirchenliedtexte verwendet werden, um den narrativen Charakter derselben zu unterstreichen. Der Begriff ersetzt hier das landläufig gebrauchte, inzwischen in der Forschung aber umstrittene „lyrische Ich“. 144 Die Erzählstimme steht meist prototypisch für den einzelnen Menschen bzw. die Gemeinde vor Gott und ist als solche ebenfalls zeit- und kontextübergreifend. Mit der Frage nach der Erzählstimme verbindet sich die Frage nach den Ebenen des Erzählens, also danach, ob die Erzählstimme Teil der erzählten Welt ist. Ist dies der Fall, ist die Erzählstimme diegetisch und damit gleichzeitig eine Erzählfigur. Steht sie dagegen außerhalb der erzählten Welt, ist sie extradiegetisch. 145 Die extradiegetische Erzählstimme erzählt dabei meistens in der dritten Person oder als anonymes Ich und lässt sich über die Rahmenerzählung identifizieren. 146 Erzählt sie, dass erzählt wird, spricht man von intradiegetischem Erzählen (erzähltes Erzählen). 147 Zu einer intradiegetischen Erzählstimme gehören intradiegetische Erzähladressat_innen, ebenso wie mit einer extradiegetischen Erzählstimme extradiegetische Erzähladressat_innen korrespondieren. So ist es auch im Matthäusevangelium der Fall, wie im Folgenden deutlich werden wird. 2.2.2.2 Erzählstimme und Erzähladressat_innen der Endzeitrede Im gesamten Matthäusevangelium bleibt die extradiegetische Erzählstimme ebenso wie die extradiegetischen Erzähladressat_innen anonym, d.h. beide werden nicht explizit genannt 148 - Anliegen des Einleitungssatzes ist es vielmehr, das Folgende als „Geschichte Jesu Christi“ (Mt 1,1) zu kennzeichnen. 144 Vgl. zur Entwicklung dieses Begriffs und zur Debatte innerhalb der Lyrikforschung Müller, Ich, 56-58. Hühn, Lyrik und Hühn/ Schönert, Auswertung, verwenden „Sprecher“ bzw. häufig auch „Sprecher/ Erzähler“, was aber weder gut klingt noch geschlechtergerecht ist. 145 Vgl. Genette, Erzählung, 162-167. 146 Vgl. Eisen, Poetik, 76. 147 In vielen Erzählungen lassen sich mehrere diegetische Ebenen unterscheiden, wobei die diegetische Ebene eines erzählten Ereignisses im Verhältnis zu dem narrativen Akt, der die Erzählung hervorbringt, jeweils die nächsthöhere ist. Man spricht dann als Steigerungsform des intradiegetischen Erzählens von metadiegetischem Erzählen, metametadiegetischem Erzählen usw.; vgl. das Schema bei Martinez/ Scheffel, Einführung, 76. Ein Beispiel für metadiegetisches Erzählen findet sich im Gleichnis von den Talenten (25,14-30), und zwar der Bericht, den der mit einem Talent ausgestattete Sklave seinem Besitzer erstattet (V.24f.). 148 Anders ist dies z.B. im Falle des Lukasevangeliums, das als Erzähladressaten einen Theophilus nennt. Die Erzählstimme bleibt zwar auch weitgehend anonym, macht sich eingangs jedoch selbst zum Thema. (Lk 1,3) Dies soll die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit des Erzählten untermauern. Vgl. Eisen, Poetik, 92-95. <?page no="48"?> 48 Er ist das Thema der folgenden Erzählung - und teilweise erzählt er diese selbst: Er wird zur intradiegetischen Erzählstimme. So ist es auch bei der Endzeitrede der Fall: „Jesus“ 149 wird als intradiegetische Erzählstimme installiert, indem er von der extradiegetischen Erzählstimme als derjenige, der auf dem Ölberg eine Rede hält, vorgestellt wird (24,3f.). Die intradiegetischen Adressat_innen dieser Rede sind die Jünger, 150 die der Rede Jesu zuhören. Sie spielen v.a. in der Rahmenhandlung (24,1-4a) eine zentrale Rolle und sind durch ihr Fragen und das Antworten Jesu als Lernende, 151 als Schüler Jesu charakterisiert. Ihre Frage (V.3) gibt aus textinterner Perspektive nicht nur den Anlass für die folgende Rede Jesu, sondern zeigt auch ihr eigenständiges Denken: Sie setzen den Zeitpunkt der Tempelzerstörung mit dem Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu und der Vollendung des Zeitalters gleich; eine Deutung, die von Jesus nicht eingeführt wird, sondern die sie selbst tätigen. Als Lernende sind sie auch dadurch charakterisiert, dass sie sich im Folgenden nicht mehr äußern, den Monolog „Jesu“ also nicht unterbrechen. Dieser spricht sie u.a. mittels Imperativen (24,4.42 u.ö.) direkt an, so dass sie auch weiterhin als Adressaten der Rede kenntlich gemacht werden. 2.2.2.3 Erzählstimme und Erzähladressat_innen der Lieder Das Verhältnis von Erzählstimme und Erzähladressat_innen ist je nach Lied unterschiedlich. Einige Tendenzen lassen sich jedoch aufzeigen. So ist bei den meisten Liedern die extradiegetische Erzählstimme anonym, wird also nicht explizit genannt und spricht in der dritten Person oder als anonymes Ich. Häufiger werden Erzähladressat_innen benannt, jedoch zumeist als großer, nicht näher umrissener Personenkreis, wie z.B. die Frommen (EG 9; EG 151) oder der Mensch an sich (EG 405). Manchmal ist auch die eigene Seele bzw. der eigene Geist angesprochen (EG 387) oder ein fiktives, anonymes Gegenüber (EG 56). Auch Gott bzw. Jesus Christus sind häufig Adressaten (EG 11). Oft wechseln die Adressat_innen innerhalb eines Liedes: So richten sich Str. 4f. von Nun jauchzet, all ihr Frommen (EG 9) nicht mehr an 149 „Jesus“ als intradiegetische Erzählstimme wird im Folgenden in Anführungszeichen gesetzt, um diese Erzählstimme nicht automatisch mit dem historischen Jesus gleichzusetzen. Vgl. dazu Frankemölle, Mt 1, 94f. 150 Bei Mt bezieht sich die Bezeichnung maqhtai, auf den Zwölferkreis, der in Mt 10,1 vorausgesetzt ist. Nicht bestritten werden soll damit, dass es historisch gesehen noch weitere Jünger_innen gegeben hat, die Jesus nachgefolgt sind. Vgl. dazu Poplutz, Volk, 111-113; Konradt, Israel, 371. 151 Ebenso Luz, Mt I, 45. Der Begriff des Lehrens ist bei Mt, so Rölver, Existenz, 411, kein ausschließlich kognitiver, sondern primär ein relationaler Begriff, der an die Nachfolge Jesu gekoppelt ist. Diese ist durch die Orientierung am Willen Gottes gekennzeichnet, der durch Jesus aktualisiert wird, und hat soteriologische Relevanz, da sie angesichts der gegenwärtigen eschatologischen Krise Rettung ermöglicht. <?page no="49"?> 49 diese, sondern an die Mächtigen auf Erden bzw. die Armen und Elenden, und die ersten beiden Strophen von „Gott, heilger Schöpfer aller Stern“ (EG 3) wenden sich an Gott, die folgenden beiden erzählen ohne explizit genannte Adressat_innen von Christus, der wiederum der Adressat der fünften Strophe ist, bevor das Lied mit einer an den dreieinigen Gott gerichteten Doxologie abschließt. Häufig richtet sich auch die letzte Strophe eines ansonsten nicht explizit auf einen oder mehrere Erzähladressat_innen ausgerichteten Liedes in einer abschließenden Bitte an Gott oder Christus (EG 5; EG 151; EG 405 u.ö.). 2.2.3 Modell-Autor_in und Modell-Leser_innen 2.2.3.1 Die Begriffe und ihre Anwendung Über die Erzähladressat_innen hinaus lassen sich aus Texten Modell- Autor_innen (im Folgenden MA) und Modell-Leser_innen (im Folgenden ML) erheben. Diese Begriffe wurden von U. Eco eingeführt, der das Konzept des impliziten Autors bzw. Lesers von S. Chatman und W. Iser übernommen hat. Dahinter steht der Gedanke, dass Texte als solche unvollständig seien und von den realen Leser_innen im Akt des Lesens aktualisiert werden wollen und können. Diese Aktualisierung erfordert grammatikalische und enzyklopädische Kompetenz und geschieht durch das Ausfüllen von Zwischenräumen im Text, sogenannten Leerstellen. Dadurch wird dem Text ein Mehrwert an Sinn verliehen. Bei ihrer Mitwirkung am Text werden die Lesenden durch die sogenannte Textstrategie vom Text selbst gelenkt. 152 Ein Teil der Textstrategie erzählender Texte können Informationen zu ihren Autor_innen sein. Diese stimmen jedoch nicht zwingend mit der Realität überein; sie beziehen sich nicht unbedingt auf eine_n reale_n Autor_in, sondern eine_n dem Text inhärenten MA. Diese_r MA hat im Text keine eigene Stimme, kommuniziert also selbst nicht, kann aber von den realen Leser_innen aus dem Text rekonstruiert werden. 153 Jedoch trägt bei anonym verfassten Schriften wie den Evangelien die Unterscheidung zwischen realer Autorin und MA wenig aus, da Informationen über den realen Autor nur aus dem Text selbst, also über den MA, zu ermitteln sind. 154 Umgekehrt sind im Falle der Lieder Informationen über die realen Autoren über externe Quellen zugänglich. Jedoch hat die Beschäftigung mit ihren MA aufgrund der Kürze der Liedtexte keinen großen heuristischen Wert. 152 Vgl. Eco, Lector, 61-65; zum Begriff der Leerstelle vgl. auch Iser, Akt, 284-301; ders., Appellstruktur, 235.241. 153 Vgl. Eco, Lector, 76f. Ein solcher hypothetischer Entwurf geschieht, das sei an dieser Stelle noch einmal betont, unabhängig von der Intention des realen Autors (vgl. ebd., 78). 154 Vgl. Mayordomo-Marín, Anfang, 96. <?page no="50"?> 50 Nicht verzichtbar ist jedoch das Pendant zum MA, die ML. 155 Auch hierbei handelt es sich nicht um reale Größen, sondern um das Publikum, das von der Erzählung selbst vorausgesetzt wird. 156 Seine Rolle ist ebenfalls als ein Teil der Textstrategie in den Text eingeschrieben. So sind die ML der Endzeitrede zeitgenössische Christusgläubige 157 und darüber hinaus Christusgläubige bis in die Gegenwart hinein. Obwohl sich die Endzeitrede nämlich explizit an die Jünger als intradiegetische Erzähladressaten richtet, nimmt sie dennoch an keiner Stelle direkt auf deren spezifische Situation Bezug. 158 Vielmehr spiegelt sie die allgemeine Situation der Menschen in Judäa wider (vgl. v.a. 24,16-20). Auch wendet sie sich mittels zahlreicher Imperative sowie der Metalepse o` avnaginw,skwn noei,tw 159 direkt an die ML. Die Jünger fungieren als Identifikationsfiguren, in deren Gestalt die ML selbst in der Jesusgeschichte präsent sind 160 und die auch die Rezeptionshaltung vorgeben, nämlich eine Haltung von aufmerksam Zuhörenden und Lernenden. 161 Zudem befinden sie sich auf einer gedachten Zeitachse noch vor Jesu Tod und Auferstehung und vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, wohingegen die ML auf diese Ereignisse zurückblicken. Beide 155 So die Bezeichnung Ecos. Chatman verwendet analog zum „implied author” den Begriff „implied reader”. Dass die in seinem Modell konstatierte Entsprechung zwischen implizitem Autor und impliziten Leser_innen nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist, wird an der Pluralität der Modelle zu ihrer Beschreibung deutlich (vgl. Hartenstein, Charakterisierung, 32, mit Verweis auf die Auflistung bei Rimmon-Kenan, Narrative, 118f.). Hartenstein schreibt dazu: „M.E. erklärt sich diese Asymmetrie durch die Notwendigkeit von empirischen LeserInnen für das Lesen und Verstehen eines Textes. Während die realen Autor_innen für die Lektüre irrelevant sind und die impliziten aus dem Text allein erhoben werden können, lässt sich bei den LeserInnen die Trennung nicht so scharf vornehmen - auch die theoretischste Lektüre kommt nicht ohne reales Lesen und d.h. reale LeserInnen aus“ (ebd.). Bereits Iser zählt verschiedene Lesertypen auf: Konstruktionen wie der „ideale Leser“, der „zeitgenössische Leser“, der „Archileser“ (Riffaterre), der „informierte Leser“ (Fish) sowie der „intendierte Leser“ (Wolff) dienen laut Iser in der Regel der Formulierung von Erkenntniszielen; vgl. dazu Iser, Akt, 51-60. 156 Vgl. Chatman, Story, 149f. 157 Vgl. Kingsbury, Mt, 109. “More prosaically, the time of the messianic woes would seem to refer to the latter part of the first century and the intended readers of Matthew’s Gospel to Greek-speaking Christians of Jewish or gentile origin who were perhaps at home in Antioch of Syria.” (ebd., 147f.). 158 Vgl. hierzu Beare, Gospel, 14, sowie Kingsbury, Mt, 107: “Indeed … the whole oft he speech envisages a different situation owing to the fact that it is prophetic in character and foretells the future (24: 3).” 159 Vgl. zum Begriff der Metalepse Genette, Erzählung, 167-174. An dieser Stelle wird deutlich, dass die impliziten Leser_innen - wenn auch m.E. nicht notwendig ausschließlich - männlich gedacht werden; vgl. Mayordomo-Marín, Anfang, 144. 160 Vgl. Luz, Mt I, 45. 161 Ähnliches stellt Eisen, Poetik, 94, bzgl. des Lukasevangeliums fest: Mit der Anrede Lk 1,3f werde „eine Rezeptionshaltung vorgegeben, die den Erzähladressat_innen in gleicher Weise wie den Lesenden gilt. Er und mit ihm die Lesenden sollen das Wort Gottes und diese Erzählung als ‚zuverlässig‘ erkennen“. <?page no="51"?> 51 teilen jedoch die Perspektive der noch ausstehenden Parusie. Auch können die im ersten Teil der Rede angesagten „Endzeitwehen“ auf die jeweilige Gegenwart gedeutet werden: Christusgläubige werden verfolgt, „Pseudopropheten“ treten auf, viele fallen vom Glauben an Christus ab etc. (vgl. Mt 24,4-28). Der Kreis der ML lässt sich daher ohne große Schwierigkeiten auf Christusgläubige bis in die Gegenwart hinein ausweiten. Im Folgenden sollen die ML biblischer Texte zugunsten einer besseren Lesbarkeit als „Lesende“ bezeichnet werden. 162 Die ML der Lieder sind zum Teil explizit genannt: ihr Frommen (EG 9, EG 151) oder mein Geist als Anrede an das gläubige Individuum (EG 387). Die Lieder nehmen auf ihre Situation als Glaubende, teilweise auch als Zweifelnde und Angefochtene Bezug, die sich in der Erwartung des kommenden Gerichts befinden - bzw. gerade nicht, weshalb viele der Lieder zur Wachsamkeit angesichts des nahen Endes auffordern. Teilweise spiegeln sich auch Nöte der jeweiligen Entstehungszeit wider. Diese werden jedoch nicht konkret ausgeführt, so dass das jeweilige Lied nicht nur vor dem Hintergrund einer bestimmten Epoche verstanden werden kann, sondern in ganz unterschiedlichen Situationen treffend ist (z.B. ... zu dieser bösen Zeit; EG 9,5). Da sich der Akt des Singens in einigen Punkten gravierend vom Akt des Lesens unterscheidet - inwiefern, wird an späterer Stelle zu erläutern sein - sollen die Modell-Lesenden der Lieder, d.h. die „Modell-Singenden“, im Folgenden als „Singende“ bezeichnet werden. 2.2.3.2 Die Enzyklopädie 2.2.3.2.1 Kognitive Kompetenzen Die ML sind mit bestimmten Kompetenzen (Codes) ausgestattet, die auch der Text enthält, der sogenannten Enzyklopädie. Dieser Begriff bezieht sich nach Eco auf kulturell konventionalisiertes Wissen. 163 Hierzu zählen neben einem „grundlegenden Wörterbuch“ sowie semantischer und grammatikalischer Kompetenz Kenntnisse der rhetorischen Tradition, historische Kompetenz, Gattungskompetenz, Weltwissen, intertextuelle Kompetenz sowie ideologische Kompetenz. Jedoch beruht ein Text nicht allein auf den genannten Kompetenzen, sondern trägt auch zu ihrer Erzeugung bei. Mit der Enzyklopädie ist die erste außertextliche Bedingung textueller Mitarbeit genannt. Die zweite ist die Bestimmung von Aussageumfeldern (Kontext und Ko-Text). Beide Bedingungen gewähren Zugang zur Intertex- 162 Zu Recht hat Finnern, Narratologie, 192, darauf hingewiesen, dass es neben Leser_innen auch und vor allem Hörer_innen biblischer Texte gegeben hat (vgl. dazu auch Mayordomo-Marín, Anfang, 166-170). Eine Untersuchung, „inwieweit das MtEv speziell für das Zuhören konzipiert ist“ (Finnern ebd.), steht noch aus und kann in dieser Arbeit nicht geleistet werden, weshalb der Fokus auf dem Lesen verbleiben soll. 163 Vgl. zum Folgenden Eco, Lector, 67f.76.94-106. <?page no="52"?> 52 tualität und sind auch für das Verständnis von Metaphern und Gleichnissen bedeutsam. Generell sind außertextliche Referenzen gerade für biblische Texte von entscheidender Bedeutung, und zwar wegen des großen zeitlichen und räumlichen Abstands der Texte zu heutigen Leser_innen, der gravierende Unterschiede der jeweiligen Enzyklopädien bedingt. 164 Zu den außertextlichen Referenzen zählen Intertexte, geprägte Bildfelder sowie die räumlichgegenständliche, zeitliche und soziokulturelle Umwelt der jeweiligen Erzählung. 165 Zu den von der Endzeitrede vorausgesetzten enzyklopädischen Kompetenzen zählen neben Sprachkenntnissen ein gutes Gedächtnis, um Zusammenhänge innerhalb des Evangeliums erkennen zu können, 166 sowie intertextuelle Kompetenz, insbesondere die Kenntnis der LXX, um z B. geprägte Wendungen, Motive und Metaphern als solche identifizieren zu können. 167 Auch die Kenntnis der Jesusüberlieferungen, der Geschichte Israels und der jüdischen Gesetze und Bräuche sowie der sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Institutionen sind vorausgesetzt. 168 So setzt z.B. das Gleichnis von den zehn jungen Frauen (Mt 25,1-13) voraus, dass der intertextuelle Bezug auf Mt 7,21-27 erkannt wird, sowie die Kenntnis der zeitgenössischen Hochzeitsbräuche. Zur Enzyklopädie der ML der Lieder zählt v.a. das jeweilige theologische, soziale, politische und geistige Umfeld. Aufgrund der Quellenlage ist dieses leichter zugänglich als im Falle der biblischen Texte: Weitere Werke und biographische Daten der jeweiligen Autoren sowie andere zeitgenössische Dokumente liegen vor, aus deren Fülle in dieser Arbeit nur eine kleine Auswahl berücksichtigt werden kann. So wird zum Verständnis der Lieder auch intertextuelle Kompetenz benötigt, zumal um die oftmals sehr knapp gehaltenen Bezüge auf die biblische Tradition identifizieren zu können - so bezieht sich z.B. Macht eure Lampen fertig (EG 151,2) auf Mt 25,7. Auch müssen die ML die Gattung „Kirchenlied“ erkennen, damit sie z.B. metaphorische Aussagen wie Hier ist die Stadt der Freuden, Jerusalem, der Ort, wo die Erlösten weiden... (EG 151) richtig einzuordnen wissen. 164 Mit Köhlmoos, Auge, 36. 165 Vgl. Finnern, Narratologie, 78f., der wie Hühn dem cognitive turn folgend die Begriffe frames und scripts verwendet. 166 Vgl. Luz, Mt I, 43f. 167 Vgl. Rölver, Existenz, 89f. Hebel, Romaninterpretation, 99, spricht in diesem Zusammenhang in Annäherung an den impliziten Leser von einem „textarchäologisch kompetenten Leser“. 168 Vgl. Luz, Mt I, 43f. Laut Powell, Approaches, 65f., ist zudem “the system of beliefs and values espoused in the narrative” vorausgesetzt, z.B. “believing that the world is ruled by God ... and that the world is infested with demons who serve Satan“ sowie gesellschaftliche Werte und Normen. <?page no="53"?> 53 2.2.3.2.2 Affektive Kompetenzen Der Begriff der Enzyklopädie ist inzwischen über die bei Eco aufgezählten kognitiven Fähigkeiten und Kenntnisse hinaus um affektive Kompetenzen erweitert worden. 169 Diese werden für die Arbeit eine wichtige Rolle spielen und werden daher im Folgenden etwas ausführlicher erläutert. Zu den affektiven Kompetenzen 170 zählt das Emotionswissen, d.h. die Fähigkeit, die im Text geschilderten Gefühle zu verstehen und nachzuempfinden. Es ist für das Verständnis sowohl der Endzeitrede als auch der Lieder besonders notwendig, weil Schilderungen von Emotionen sehr kurz gehalten sind und oft nur andeutungsweise erfolgen - sei es in der Ansage „und dann werden wehklagen alle Stämme der Erde...“ (Mt 24,30), in der Äußerung des Sklaven „ich fürchtete mich“ (25,25), in Bezug auf Angst und Leid der Armen und Elenden (EG 9,5) oder in der Andeutung des Eschatons als Ort der ewigen Freuden (EG 5,9). Über das Emotionswissen hinaus ist emotionale Kompetenz gefragt, d.h. „die Bereitschaft ..., sich selbst vom Text bzw. dem darin erzählten Geschehen affizieren zu lassen“. 171 Hierzu zählt auch und vor allem die Fähigkeit und Bereitschaft zur Identifikation mit den Erzählfiguren. Texte eröffnen Identifikationsangebote mit einer Heldenfigur, aber auch mit anderen Erzählfiguren oder mit einer paradigmatischen Situation, 172 z.B. durch Charakterisierung. 173 Mit W. Jauß lässt sich zwischen verschiedenen Interaktionsmustern der Identifikation unterscheiden, die auch für biblische Texte anschlussfähig sind. 174 Sie sollen in dieser Arbeit nicht nur auf diese angewandt werden, sondern auch dazu dienen, Ansätze einer hermeneutischen Hymnologie, die oft nur in aller Kürze auf den Aspekt der Identifkation eingehen, mit einer Texttheorie zu verbinden. 169 Kognitive und affektive Textteilnahme, so betont Mayordomo-Marín, Anfang, 164, im Anschluss an die antike Rhetorik, sind jedoch nicht zu trennen: „Vielmehr sind Affekte als ein wichtiges Element der Persuasion auch Teil der kognitiven Texterfassung.“ 170 Vgl. zum Folgenden Mayordomo-Marín, Anfang, 163-165, und Dieckmann, Segen, 121f., die sich mit ihrer Forderung, bei rezeptionsorientierten Ansätzen affektive Kompetenzen einzubeziehen, auf J. Culler berufen. 171 Dieckmann, Segen, 122, vgl. Mayordomo-Marín, Anfang, 165. 172 Vgl. Jauß, Erfahrung, 245. Mit Powell, Approaches, 50, konstatieren zu wollen, dass die Lesenden häufig Sympathie bzw. Antipathie für Charaktere empfinden, für die auch der Protagonist der Geschichte Sympathie bzw. Antipathie empfindet, ist jedoch voreilig, da Protagonisten nicht automatisch selbst Identifikationsfiguren sind. 173 Vgl. dazu 2.3.2.3.2. 174 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Raguse, Raum, 96. Ein anderes, stärker leser_innenorientiertes Modell findet sich bei Powell, Approaches, 50, der drei Identifikationsarten unterscheidet: “empathy (the reader identifies with the character - realistically or idealistically - and experiences the story from that character's point of view); sympathy (the reader may or may not identify with the character, but feels favorably disposed toward the character); and antipathy (the reader may or may not identify with the character, but feels unfavorably disposed toward the character).” <?page no="54"?> 54 Das erste Interaktionsmuster ist die assoziative Identifikation. Sie meint die „Entäußerung des Subjekts in die neue Identität einer Rolle“ sei es in einer Kulthandlung, in einem Festzeremoniell oder in einem Spiel, in dem „alle mitspielen und … damit das Gegenüber von Werk und Betrachter, Schauspielern und Zuschauern aufgehoben ist“ 175 . Vor allem Kirchenlieder sind häufig auf die Identifikation mit einer Rolle angelegt; der Rolle der Erzählstimme (Ich singe dir mit Herz und Mund; EG 324) oder einer Erzählfigur (O weh dem Menschen, welcher hat nach großem Gut getrachtet...; EG 149,4). Sie motivieren dazu, sich in biblische Szenen hineinzuversetzen (Er kommt zu uns geritten auf einem Eselein…; EG 9,2), zu beten (O Jesu, hilf zur selben Zeit... dass ich im Buch der Seligkeit werd angezeichnet funden; EG 149,5) oder in den eschatologischen Chor einzustimmen (Des bin ich froh, io, io, ewig in dulci jubilo; EG 147,3; Originalversion). Diese Rollenangebote können in sozialer, existenzieller und heilsgeschichtlich-theologischer Hinsicht eine Erweiterung der individuellen Identität bewirken, 176 und zwar so, dass sich ihnen sowohl ein neues Selbstverständnis als auch eine neue Sicht auf die Dinge im Licht des Evangeliums vermitteln kann. 177 Die singende Person ist somit zugleich verstehendes Subjekt und ausgelegtes Objekt. 178 Die übrigen Interaktionsmuster zielen v.a. auf die Identifikation mit Erzählfiguren ab. So meint admirative Identifikation die Identifikation mit einem in heroischer, religiöser oder ethischer Hinsicht vollkommenen Helden, z.B. einem Heiligen oder Weisen. Diese Figur kann Zustimmung hervorrufen und zum Vorbild werden, aber auch Ablehnung und Widerstand provozieren. In den Evangelienerzählungen stellt Jesus eine solche Heldenfigur dar, 179 aber auch andere Figuren oder Gruppen: So gibt es in den 175 Jauß, Erfahrung, 248. Die reinste Form dieses Interaktionsmusters sieht Jauß im geistlichen Spiel des Mittelalters verwirklicht. Ganz ähnlich beschreibt es Reich, Überlegungen, 19, im Blick auf das (reale) Singen von Kirchenliedern: „Im Singen werde ich mit anderen in ein Geschehen hineingenommen, das umso intensiver ist, je engagierter jeder sich ganz und gar hineingibt. Es ist ein merkwürdiges Ineinander von Tun und Erfaßt-Werden. Bin ich ganz bei der Sache, kann die Sache mich ganz hinnehmen.“ Das Singen liegt m.E. zwischen den beiden von Jauß, Erfahrung, 249, unterschiedenen Partizipationsebenen; der kultischen Partizipation in der Liturgie und der assoziativen Identifikation in Spiel und Feier. Vgl. auch 1.4 im zweiten Teil zum Singen als Gemeinschaftsstiftung und Transzendenzeröffnung. 176 Zu letzterem vgl. Josuttis, Weg, 199f. Ob damit immer auch „mindestens punktuell eine Verhaltensmodifikation angestrebt wird“, ist jedoch fraglich. 177 Dabei ist zu betonen, dass es sich bei den Identifikationsangeboten um Rezeptionspotentiale handelt. Im Akt des Singens können sie bei den „realen Singenden“ ebenso Widerspruch und Ablehnung hervorrufen oder - insbesondere im raschen Verlauf des Gottesdienstes - einfach nicht beachtet werden (vgl. Josuttis, Weg, 200, sowie ders., Noten, 12). 178 Vgl. Neufeld, Bild, 57. 179 Vgl. Raguse, Raum, 95. <?page no="55"?> 55 Gleichnissen 180 der Endzeitrede zumeist eine Figur oder Figurengruppe, die innerhalb der erzählten Situation vollkommen ist, weil sie sich vollkommen richtig verhält. Damit bieten sie - und nicht der jeweilige Handlungssouverän, der oft eher abstrakt bleibt - sich den Lesenden zur admirativen Identifikation an. Jedoch kann auch der Handlungssouverän selbst in seinem Agieren und Urteilen über andere Erzählfiguren Gegenstand der admirativen Identifikation sein. Die sympathetische Identifikation erfolgt mit einem unvollkommenen, alltäglichen Helden, der bei den Lesenden Mitleid hervorruft. Es handelt sich um den „Affekt des Sich-Einfühlens in das fremde Ich ..., der die bewundernde Distanz aufhebt und den Zuschauer oder Leser durch seine Rührung hindurch zur Solidarisierung mit dem leidenden Helden führen kann“. 181 In ihm erkennen sich die Lesenden selbst wieder und solidarisieren sich mit ihm. Innerhalb der Evangelienerzählungen lassen sich die Jünger als Figuren der sympathetischen Identifikation auffassen, 182 aber auch z.B. Erzählfiguren der Gleichnisse, die damit zu Mitleid und solidarischen Affekten herausfordern. Auf unvollkommene Held_innen zielt auch die kathartische Identifikation ab, und zwar auf solche, die leiden oder in Bedrängnis sind. Dieses Interaktionsmuster ruft bei den Lesenden tragische Erschütterung oder den Impuls des Mitlachens hervor und bewirkt eine Befreiung des eigenen Gemüts, 183 aber auch einen Impuls zur Veränderung. 184 Zu einer solchen Identifikation bieten sich wiederum die Jünger an, und zwar in ihrem Scheitern, 185 und ebenso diejenigen Erzählfiguren der Gleichnisse, die scheitern und hart bestraft werden. Die letzte Interaktionsform ist die ironische Identifikation: Das Identifikationsangebot wird den Lesenden lediglich vorgespielt, dann aber ironisiert oder verweigert. Die Heldenfigur wird somit zum Antihelden, die Illusionen, die sich die Lesenden über ihre Heldenhaftigkeit gemacht haben, werden zerstört. Dadurch werden die Lesenden u.a. zur ästhetischen und 180 Bereits Gehring, Schriftprinzip, 284, hat auf die Anschlussfähigkeit der Jauß'schen Interaktionsmuster für die neutestamentlichen Gleichnisse, insbesondere der Gleichniserzählungen, hingewiesen, und zwar im Anschluss an Harnischs Verständnis der Gleichnisse als „Bühnenstücke“ und sein (bzw. Sellins) Modell des „dramatischen Dreiecks“: Der „szenische Aufbau der Gleichnisse, ihr dialogischer Charakter, die zur Identifikation anreizenden Figuren“ machen dies aus. Dabei betont Gehring, dass „keinesfalls nur die dramatische Hauptperson Träger von Identifikationsprozessen sein“ muss (ebd., Anm. 943). Außerdem besteht im Rezeptionsprozess die Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln und „sich bald mit der einen, bald mit der anderen Figur zu identifizieren“ (ebd., 290). 181 Jauß, Erfahrung, 271, mit Zitat von Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück (Hervorhebung desselben ebd.). 182 Vgl. Raguse, Raum, 95. 183 Vgl. Jauß, Erfahrung, 277. 184 Vgl. Raguse, Raum, 96. 185 Vgl. Raguse, Raum, 95f. <?page no="56"?> 56 moralischen Reflexion sowie zu alternativen Deutungsmöglichkeiten angeregt. 186 Ein Beispiel ist der Sklavenbesitzer im Gleichnis Mt 25,14-30: Geben die Lesenden dem dritten Sklaven in seinem Urteil über seinen Besitzer Recht, ist dieser als Held demontiert. 187 Insgesamt ist zu beachten, dass dieses Modell nicht hierarchisch zu verstehen ist, sondern man von jeder Identifikationsebene zu jeder anderen gelangen kann. 188 Auch haben die genannten Interaktionsmuster eine pragmatische Funktion; sie können dazu dienen, den Lesenden „Verhaltensmuster wirkungsvoller zu vermitteln und über das Exemplarische menschlichen Handelns und Leidens seine Tatbereitschaft herbeizuführen“. 189 2.3 Narratologie 2.3.1 Einführung In der Literaturwissenschaft und auch in der exegetischen Forschung hat sich der narratologische Zugriff auf Texte etabliert - nicht aber eine einheitliche Begrifflichkeit und Methodik. 190 Im Folgenden wird daher lediglich in die für Mt 24-25 und die Lieder relevante und hilfreiche Methodik sowie die entsprechenden Begriffe, die hier Verwendung finden, eingeführt. Sie wird vorwiegend an Beispielen aus Mt 24-25 erläutert, später aber ebenso in den Liedanalysen angewandt. 186 Vgl. Jauß, Erfahrung, 283. 187 Ein solches Interaktionsmuster identifiziert Raguse, Raum, 96, im Johannesevangelium: „Immer wieder handelt es scheinbar von Brot, von Wein oder von anderen irdischen Gütern. Doch wenn sich der Leser darauf einläßt, merkt er wenig später, daß es darum nicht geht, jedenfalls nicht im üblichen Sinne, sondern um himmlische Gaben, die sich in Jesus verkörpert haben.“ 188 Vgl. Jauß, Erfahrung, 247: „Kultische Partizipation kann in die assoziative Identifikation des Spiels übergehen, aber auch durch Ironie aufgelöst und zum Gegenstand einer rein ästhetischen Einstellung gemacht werden; die bewundernde Identifikation mit einem Helden kann durch Mitleid durchbrochen, die sympathetische Identifikation durch eine kathartische Befreiung des Gemüts aufgehoben, die ästhetische Reflexion wiederum durch einen Appell zur moralischen Identifikation in Frage gestellt werden usf.“ 189 Jauß, Erfahrung, 244. Jedoch, so Jauß ebd., ist Identifikation auch immer ein „Schwebezustand, der in ein Zuviel oder Zuwenig an Distanz - in ein uninteressiertes Abrücken von der dargestellten Figur oder in ein emotionales Verschmelzen mit ihr - umkippen kann.“ Auch haben alle Interaktionsmuster regressive Kehrseiten: So kann das moralische Interesse der sympathetischen Identifikation in Rührseligkeit umschlagen, die Solidarität in Selbstbestätigung, oder das „uninteressierte Interesse“ der kathartischen Identifikation in Schaulust. 190 Vgl. Martinez/ Scheffel, Einleitung, 7. Zur Forschungsgeschichte vgl. Eisen, Poetik, 45- 49; Finnern, Narratologie, 23-46. <?page no="57"?> 57 Die Grundunterscheidung der Narratologie ist die Unterscheidung von story (Geschichte; das „Was“ der Erzählung) und discourse (das „Wie“). 191 Der discourse ist dabei gemeinhin in Erzählung (text) und Erzählen (narration) aufgegliedert. 192 Die Erzählung erzählt die Geschichte auf eine bestimmte Weise und ist selbst greifbar und lesbar vorhanden. Das Erzählen lässt sich auch als Akt des Erzählens bezeichnen und kann aus der Erzählung erhoben werden. Die Analyse der Geschichte befasst sich mit der Abfolge von Ereignissen (events). Die Erzählung wird durch die Analyse der zeitlichen Anordnung und des Erzählmodus näher beleuchtet. Bei der Untersuchung des Erzählens kommt die Erzählstimme und ihre Position im und zum Erzählten in den Blick. 2.3.2 Die Geschichte Die Analyse der Geschichte geschieht auf zwei Ebenen: Die Oberflächenstruktur zeigt auf abstrakte Weise die Organisation eines beobachtbaren Satzes; sie ist syntagmatisch. 193 Die Analyse der Oberflächenstruktur einer Geschichte erfordert ihre Zerlegung in kleinste Einheiten. Diese werden als Ereignisse bezeichnet, eine chronologische Folge von Ereignissen als Geschehen. Eine Geschichte (story) besteht aus mehreren Geschehnissen, die aufeinander und auseinander folgen; ein Geschehen wird zur Geschichte, wenn die Veränderungen motiviert sind. 194 Aus der Geschichte wird schließlich ein Handlungsschema (plot) 195 abstrahiert. 196 Dies geschieht in der Analyse der Tiefenstruktur der Geschichte. Die Tiefenstruktur ist paradigmatisch; sie basiert auf statischen, logischen Relationen und ist selbst nicht narrativ, sondern wird von der Geschichte abstrahiert. 197 Ziel kann es dabei sein, gattungsbezogene Handlungsmuster herauszukristallisieren oder eine Universalstruktur aller Geschichten aus- 191 Vgl. Chatman, Story, 19; Martinez/ Scheffel, Einführung, 20; Eisen, Poetik, 49. Zwei Ebenen (fabula und sjuzet) unterscheidet bereits der russische Formalist B. Tomashevskij (vgl. Eisen, Poetik, 49; zur weiteren Begriffsgeschichte vgl. ebd.). 192 Vgl. zum Folgenden Rimmon-Kenan, Fiction, 3f., im Anschluss an Genettes Unterscheidung von histoire/ Geschichte, récit/ Erzählung und narration/ Narration (vgl. Genette, Erzählung, 16). Übersetzungen nach Hartenstein, Charakterisierung, 30. 193 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 10. 194 Vgl. Martinez/ Scheffel, Einführung, 109f.; Busse, Analyse, 24. 195 Im Folgenden verwende ich den Begriff „Handlungsschema“, weil der Plotbegriff in der Erzähltheorie in unzähligen Bedeutungsvarianten verwendet wird und daher beinahe zwangsläufig zu Missverständnissen führen muss. Vgl. zu dieser Problematik Eisen, Poetik, 126. 196 Vgl. Busse, Analyse, 24; Martinez/ Scheffel, Einführung, 25. 197 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 10. <?page no="58"?> 58 zumachen. 198 Bei der Anwendung solcher Handlungstypologien bleibt die Frage nach dem Erkenntnisgewinn allerdings ebenso offen wie Frage nach der genauen Anwendung eines solchen Modells auf die einzelne Erzählung. 199 Daher sollen in dieser Arbeit keine bereits vorhandenen Handlungstypologien angewandt werden, sondern es soll ein Spezifikum der Tiefenstruktur der Erzählungen in Mt 24-25 gelenkt in den Blick kommen, nämlich ihre Mehrsträngigkeit. Aus diesem Merkmal kann eine Handlungstypologie speziell für die matthäischen Gerichtserzählungen erwachsen. Sie beansprucht keine Universalität, ist aber durch ihre Wiederholung in den Erzählungen der Endzeitrede als Teil ihrer Textstrategie von Bedeutung. Damit verbunden soll auch eine Analyse von Figurenkonstellationen erfolgen, die ebenfalls der Untersuchung der Tiefenstruktur dient. 2.3.2.1 Die Analyse der Handlung Zur Analyse der Oberflächenstruktur der Handlung bietet sich das Modell zur Struktur des Handlungsverlaufs von R. Barthes und S. Chatman 200 an. Es geht von Ereignissen als kleinste Einheiten einer Geschichte aus, die an ihrer Wichtigkeit für den Verlauf der Handlung erkennbar sind. Ereignisse im engeren Sinne werden als Funktionen bezeichnet. Diese bestehen aus Kernen, den entscheidenden Punkten der Handlung, die Alternativen eröffnen, und Satelliten, die die Handlung nicht weiterführen. Je weniger solcher Satelliten also in einer Handlung vorkommen, desto höher ist die Handlungsintensität. Neben die Funktionen, die dynamischen Aussagen einer Geschichte, treten statische Aussagen, sogenannte Indizien. Dabei beinhalten sogenannte eigentliche Indizien genauere Angaben über Charakter und Gefühle der Figuren, das setting und die Umstände der Handlung. Davon werden Informationen unterschieden; diese bilden den Hintergrund und rufen bei den Lesenden v.a. eine Realitätsillusion hervor. Die Unterscheidung dieser Elemente ist dabei keineswegs trennscharf und objektiv, zumal häufig ist erst in der Rückschau am Ende der Lektüre 198 Ersteres taten im Anschluss an V. Propps Analysen russischer Zaubermärchen z.B. U. Eco für James Bond-Romane oder G. Theißen für neutestamentliche Wundergeschichten, letzteres v.a. Erzählforscher des Strukturalismus und des Formalismus wie C. Lévi-Strauss (Fünferschema), A. Greimas (semiotisches Viereck) und J. Lotman (Raumsemantik). Vgl. dazu die Überblicksdarstellungen bei Busse, Analyse, 37-41, und Finnern, Narratologie, 99-107. 199 Vgl. das Resümee bei Finnern, Narratologie, 307f. Bereits Chatman, Story, 93f., weist auf die Gefahr der Reduktion komplexer Handlungen auf ein einfaches Schema hin. 200 Chatman, Story, 53-56, im Anschluss an Barthes, der teilweise eigene Begrifflichkeiten verwendet; vgl. die Darstellungen bei Finnern, Narratologie, 91-93 und Busse, Analyse, 28-33. <?page no="59"?> 59 erkennbar wird, welche Elemente tatsächlich wichtig für die Handlung sind. Auch fehlen bisher weitergehende Kriterien zur klaren Unterscheidung von Kern und Satellit bzw. Indiz und Information. 201 Trotzdem ist diese Methode m.E. ein hilfreiches Instrument der Erzähltextanalyse, insbesondere für handlungsintensive Texte wie Gleichnisse, denn hier fällt jedes für die Handlung unwichtige Element sofort auf und kann dann häufig in seiner eigentlichen Funktion - z.B. als Transfersignal - identifiziert werden. Dies wird die Analyse der Gleichnisse zeigen. Allgemein verhilft die Methode zu einer Strukturierung der jeweiligen Geschichte und ist zudem Voraussetzung für die Analyse sowohl der Handlungsverläufe als auch der Handlungsstränge. 2.3.2.2 Die Analyse der Handlungsstränge Eine Methode zur Analyse der Tiefenstruktur ist die Analyse der unterschiedlichen Handlungsstränge einer Geschichte. 202 Eine Handlung kann einsträngig sein, sich aber auch aus verschiedenen Strängen zusammensetzen. Die Selbständigkeit eines Handlungsstranges ist gegeben, wenn er sich von den anderen Handlungssträngen in mindestens einem der Kriterien verschiedene Personen, verschiedener Ort oder verschiedene Zeit unterscheidet. 203 Dominiert die übergeordnete Handlung stark, spricht man von Ergänzungssträngen oder Episoden, dominieren dagegen die Handlungsstränge selbst, spricht man von der übergeordneten Handlung als Rahmenhandlung. Die übergeordnete Handlung und die eingelagerten Handlungen stehen dabei in einem Vorzeitigkeitsverhältnis. Die eingelagerten Handlungsstränge können gleichzeitig, aber auch zeitlich gestaffelt verlaufen. 204 U. Busse unterscheidet einsträngige, mehrsträngige und episodische Handlungen. 205 Im Falle der Einsträngigkeit schreitet die Handlung von Kern zu Kern fort und konzentriert sich häufig auf eine einzige Hauptperson. Bei episodischen Handlungen sind dagegen einzelne Episoden hintereinandergestellt, aber nicht kausal miteinander verknüpft. Für mehrsträngige Handlungen sind mit Busse unterschiedliche Modelle der Verknüpfung von Handlungssträngen zu unterscheiden: 206 201 Finnern, Narratologie, 298, hält die Methode daher für nicht allzu ertragreich. 202 Vgl. hierzu Nischik, Einsträngigkeit, 19-63; Rimmon-Kenan 16.23; Pfister, Drama, 286- 294; Lämmert, Bauformen, 43-67; Busse 43-48; Marguerat/ Bourquin, Bible, 52-57; für biblische Beispiele vgl. Finnern, Narratologie, 116-118. 203 Vgl. Nischik, Einsträngigkeit, 66-96; ähnlich Lämmert, Bauformen, 44. Nischik nennt neben diesen „Fundamentalvariablen“ noch die „Begleitvariablen“ Umfang, Thematik, Erzählperspektive, Anordnung und Erzähltechnik (vgl. ebd. 74-96). 204 Vgl. Lämmert, Bauformen, 44. 205 Vgl. zum Folgenden Busse, Analyse, 45-47. 206 Vgl. hierzu auch Nischik, Einsträngigkeit, 150-175. <?page no="60"?> 60 1. Mehrere gleichberechtigte Handlungsstränge berühren sich nach einem gemeinsamen Anfang im Fortgang der Erzählung kaum und werden am Schluss wieder zusammengeführt. 2. Mehrere Handlungsstränge beginnen unabhängig voneinander und vereinigen sich dann zu einem einzigen. 3. Mehrere Handlungsstränge gliedern sich aus dem Hauptstrang aus und gehen einem separaten Ende zu. 4. Nebenstränge gliedern sich aus dem Hauptstrang aus und vereinigen sich später wieder mit ihm. 5. Nebenstränge stehen in keinerlei direkter Verbindung mit dem Hauptstrang, sondern kommentieren und kontrastieren ihn. Auch Mischformen sind möglich. Solche komplexen Handlungen haben unterschiedliche Funktionen: 207 Sie können der Abwechslung und Fülle dienen, und zwar sowohl als Selbstzweck zur Unterhaltung als auch zur Erweiterung der Erfahrungsbreite und -tiefe. Die ästhetisch-integrative Funktion zielt dagegen auf die Syntheseleistung der Lesenden ab, die sich das Werk erschließen und es im Idealfall als organische Einheit erfahren, was zur ästhetischen Befriedigung führt. Ebenfalls möglich ist die Funktion der Spiegelung: Zur wechselseitigen Verdeutlichung oder Relativierung werden thematische Parallelen oder Kontraste geschaffen. Komplexe Handlungen dienen auch der Spannungserzeugung und -intensivierung: Dies geschieht, indem eine Handlungssequenz - häufig kurz vor dem antizipierten Höhepunkt der Handlung - durch eine andere Handlungssequenz unterbrochen wird. Die Wiederholung eines Elementes innerhalb der Geschichte dient häufig auch der Emphase; das Element wird hervorgehoben und gewinnt an Bedeutsamkeit. Ebenso kann es der Generalisierung dienen: Erscheint eine einsträngige Handlung leicht als Ausnahmefall, bekommt sie durch einen oder mehrere vergleichbare Handlungsstränge innerhalb der Erzählung allgemeine Bedeutung. 2.3.2.3 Die Analyse der Erzählfiguren Die Analyse der Erzählfiguren geschieht wie die Analyse der Handlung häufig mit Hilfe von Modellen, die Universalität beanspruchen. 208 Sinnvoller erscheint es hinsichtlich der Fragestellung dieser Arbeit, den Fokus auf die Figurenkonstellationen der matthäischen Gerichtstexte im Speziellen zu richten. Weiterhin ist die Charakterisierung der Erzählfiguren von großer 207 Vgl. zum Folgenden Pfister, Drama, 290-294; ebenso Nischik, Einsträngigkeit, 176-185; Busse, Analyse, 47. 208 Das bekannteste ist Greimas' Aktantenmodell, das allerdings diesen Anspruch nicht einzulösen vermag, weil es auf viele Figurenkonstellationen nicht anwendbar ist. Vgl. aber die Anwendung des Modells in den Liedanalysen zu Von guten Mächten treu und still umgeben und Bleib bei mir, Herr bei Fuhrmann, Abend, 181-188.220-225. <?page no="61"?> 61 Bedeutung, weil in der Endzeitrede wie auch in den Liedern immer wieder von der Beurteilung von Erzählfiguren die Rede ist. So kann die Analyse direkter und indirekter Charakterisierungen über die Gründe für solche Beurteilungen Aufschluss geben. Speziell für die Endzeitrede sind dabei die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der Figurenkonstellationen und Charakterisierungen mit einzubeziehen, da diese stets auf Hierarchien beruhen, die zur Zeit der matthäischen Gemeinde existierten. 209 2.3.2.3.1 Figurenkonstellationen Zur Analyse der Figurenkonstellationen einer Geschichte eignet sich das speziell für Gleichnisse entwickelte Aktantenmodell G. Sellins, das sogenannte dramatische Dreieck. Dieses besteht aus einem Handlungssouverän, der eine Autoritätsfigur darstellt und ruhendes Gegenüber eines „Zwillingspaares“ ist. Die „Zwillinge“ sind vom Status her gleich und dem Handlungssouverän unterlegen, von der Funktion her aber gegensätzlich. 210 Der Handlungssouverän ist die dramatische Hauptfigur (HS). 211 Er initiiert die Handlung und verhängt am Schluss Sanktionen. Das Zwillingspaar reagiert auf gegensätzliche Weise auf die von ihm initiierte Situation. Dabei sind die beiden Zwillingspartner in ihrer dramatischen Funktion nur selten ebenbürtig. Vielmehr findet sich zumeist eine dramatische Hauptfigur (dHF), deren Ergehen im Mittelpunkt des erzählerischen Interesses steht, und eine dramatische Nebenfigur (dNF). Alle anderen Erzählfiguren treten als Statisten in den Hintergrund. Zu unterscheiden ist zwischen Fällen, in denen der Handlungssouverän in der Exposition zuerst genannt wird, und Fällen, in denen das Zwillingspaar erstgenannt ist. Im ersten Fall kommuniziert der HS mit beiden Opponenten (z.B. 25,14-30), im zweiten Fall nur mit einem von ihnen (z.B. 25,1-13). 212 Dieses Modell wurde für Parabeln - als Untergattung des Gleichnisses im Sinne Bultmanns verstanden - entwickelt. Es wird aber zu zeigen sein, dass es sowohl für 24,45-51 („Gleichnis i. e. S.“) als auch für andere, nicht gleichnishafte Texte der Endzeitrede passend ist. 209 Hier kommt die Enzyklopädie zum Tragen; vgl. dazu 2.2.3.2.2. 210 Vgl. Sellin, Lk, 180. Als Grundmodell für das dramatische Dreieck nennt Sellin Lk 7,41- 43: Der Gläubiger ist der Handlungssouverän, die beiden Schuldner das antithetische Zwillingspaar: Dem einen ist viel, dem anderen wenig vergeben. Vgl. zum dramatischen Dreieck auch Harnisch, Gleichniserzählungen, 73-84, sowie zu charakteristischen Figurenkonstellationen Münch, Gleichnisse, 294. 211 Vgl. zum Folgenden Harnisch, Gleichniserzählungen, 76-78. 212 Vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 80f. <?page no="62"?> 62 2.3.2.3.2 Charakterisierung Grundlegend für die Figurencharakterisierung ist S. Rimmon-Kenans Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Charakterisierungen. 213 Unter direkten Charakterisierungen sind Eigenschaften zu verstehen, die einer Erzählfigur von der Erzählstimme selbst zugeschrieben werden. 214 Indirekte Charakterisierungen drücken solche Eigenschaften dagegen auf andere Weise aus; durch Handlungen, Sprache, äußeres Erscheinungsbild oder Umgebung der Erzählfiguren. Charakterisierungen sind daher auch Teil der Textstrategie und betreffen ebenso die Ebene des „Textes“. 215 Indirekte Charakterisierungen können also Handlungen 216 sein, und zwar zum einen einmalige Handlungen, die den dynamischen Aspekt einer Erzählfigur bzw. Gruppe betonen und häufig am Wendepunkt einer Erzählung zum Einsatz kommen, und zum anderen gewohnheitsmäßige Handlungen, die unveränderliche oder statische Aspekte einer Figur bzw. Gruppe betonen. Indirekte Charakterisierung einer Erzählfigur durch Sprache 217 geschieht durch ihre verbalen Äußerungen oder durch ihre Gedanken bzw. Selbstgespräche. Eine weitere Möglichkeit der indirekten Charakterisierung ist die Charakterisierung durch die Umgebung. 218 Sie kann durch die Beschreibung der Landschaft, Straße, Wohnung o.ä., in der sich die Figur bzw. Gruppe aufhält, ebenso erfolgen wie durch die Erwähnung der Familie, der sozialen Schicht etc. Neben direkten und indirekten Charakterisierungen gibt es zudem die Möglichkeit der Verstärkung durch Analogie. 219 So können z.B. Namen, 220 Landschaften oder Charaktere in Analogie oder auch im Gegensatz zueinander stehen. 213 Rimmon-Kenan, Fiction, 60, unterscheidet zwischen direct definition und indirect presentation. 214 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 60. Zu unterscheiden ist dabei, ob die Charakterisierung durch die Erzählstimme (auktorial) oder durch Erzählfiguren (figural) erfolgt (vgl. auch Eisen, Poetik, 136). 215 Charakterisierung betrifft die Ebenen „Text“ und „Geschichte“ gleichermaßen (ebenso Hartenstein, Charakterisierung, 34). Dass ich Charakterisierung unter „Geschichte“ abhandle, hat den pragmatischen Grund, dass ich auf diese Weise die Figurenanalyse in einem Stück abhandeln kann. 216 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 61-63. Sie unterscheidet zudem von den Charakteren tatsächlich vollzogene Handlungen (act of commission), unterlassene Handlungen (act of omission) und geplante bzw. intendierte Handlungen (act of contemplation). 217 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 63-65. 218 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 65f. Rimmon-Kenan nennt als weitere Möglichkeit die Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes, die jedoch in den in dieser Arbeit behandelten Texten keine Rolle spielt. 219 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 67-71. 220 Rimmon-Kenan unterscheidet visuelle, akustische, artikulatorische und morphologische Analogien wie bei “Moshe, Jehoshua, Jeshua” (Fiction, 68). Die analoge Namensgebung ist auch ein Mittel der intertextuellen Markierung; vgl. dazu exemplarisch Petersen, Brot, 83. <?page no="63"?> 63 Für biblische Texte gilt, dass sie mit Informationen über die Eigenschaften ihrer Figuren oft sparsam sind und diese häufig im Dienste der erzählten Handlung stehen. 221 Auch handeln biblische Texte weniger von „Charakteren“ (round characters), also Figuren mit einer gewissen Originalität, sondern arbeiten mit „Typen“ (flat characters), also klischeehaften, auf wenige Eigenschaften reduzierten Figuren. Sie haben einen hohen Wiedererkennungswert und erleichtern bzw. ermöglichen somit die Einordnung in ein vorhandenes Wertesystem. 222 Auch bieten sie in hohem Maße Identifikationsmöglichkeiten (vgl. dazu oben). 2.3.3 Die Erzählung 2.3.3.1 Die Zeit Grundlegend für die Analyse der Zeit ist die Unterscheidung zwischen erzählter Zeit (der Zeit der Geschichte) und Erzählzeit (der Zeit der Erzählung), 223 die sich hinsichtlich ihrer Ordnung, Dauer und Frequenz unterscheiden. Die Untersuchung der Frequenz widmet sich der Frage, wie oft ein Ereignis, das sich wiederholt oder nicht wiederholt, innerhalb der Erzählung dargestellt wird. Sie kann im Blick auf Mt 24-25 sowie auf die untersuchten Lieder vernachlässigt werden, da hier zumeist singulativ erzählt wird. Ordnung und Dauer sollen dagegen im Folgenden näher erläutert werden. 2.3.3.1.1 Die Ordnung Hierbei geht es um die Frage, in welcher Reihenfolge die Ereignisse erzählt werden, ob die Abfolge eines Geschehens und die Abfolge seiner Darstellung übereinstimmen oder ob sich Anachronien, d.h. Umstellungen der chronologischen Reihenfolge, finden. Zu unterscheiden sind die Reichweite und der Umfang einer Anachronie: 224 Die Reichweite bezeichnet den zeitlichen Abstand zwischen der Zeit, auf die sich der Einschub bezieht, und dem gegenwärtigen Augenblick der Geschichte. 225 Der Umfang dagegen meint die mehr oder weniger lange Dauer der Geschichte, die im Rahmen des entsprechenden Einschubs erfasst wird. Anachronien treten in Form von Analepsen (Rückwendungen) oder Prolepsen (Vorausdeutungen) auf. 226 Das Merkmal der Reichweite erlaubt eine weitere Differenzierung zwischen interner und externer Analepse bzw. in- 221 Vgl. Poplutz, Leute, 66. 222 Vgl. Poplutz, Leute, 72, Rimmon-Kenan, Fiction, 41f. 223 Vgl. Genette, Erzählung, 21. 224 Vgl. Genette, Erzählung, 31f.; vgl. Martinez/ Scheffel, Einführung, 35. 225 Vgl. Martinez/ Scheffel, Einführung, 35. 226 Vgl. Genette, Erzählung, 31.32-54. <?page no="64"?> 64 terner und externer Prolepse: Als intern werden sie bezeichnet, wenn das in ihnen behandelte Geschehen in dem zeitlichen Rahmen liegt, den die Hauptgeschichte umfasst. Geht es darüber hinaus, handelt es sich um eine externe Anachronie. Externe Anachronien fungieren als Ergänzung der Basiserzählung und klären die Lesenden über frühere Ereignisse auf (externe Analepse) bzw. nehmen Zukünftiges vorweg (externe Prolepse). Interne Anachronien 227 können sich dagegen zeitlich mit der Basiserzählung überschneiden und daher auch mit ihr kollidieren oder Redundanz bewirken. 2.3.3.1.2 Die Dauer Ein zweiter Schritt ist die Analyse der Erzähldauer im Hinblick auf das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit. Zu unterscheiden sind dabei zeitraffendes, zeitdeckendes und zeitdehnendes Erzählen. 228 Genette unterscheidet vier narrative Tempi: 229 Beim summarischen Erzählen ist die Erzählzeit höher als die erzählte Zeit; es handelt sich also um zeitraffendes Erzählen. Die gesteigerte Form hiervon ist die Ellipse (Zeitsprung), eine Aussparung von Erzählzeit. Unterschieden wird näherhin zwischen expliziten (bestimmten) Ellipsen, die den ausgesparten Zeitraum angeben, und impliziten (unbestimmten) Ellipsen, die diesen Zeitraum offen lassen und nur aus der chronologischen Lücke, die sie hinterlassen, oder der unterbrochenen narrativen Kontinuität erschlossen werden können. Das Gegenteil der Ellipse ist die Pause, eine rein deskriptive Passage, bei der die erzählte Zeit stillsteht. Hierbei handelt es sich um die Extremform zeitdehnenden Erzählens. Bei einer Szene dagegen sind Erzählzeit und erzählte Zeit gleich; es handelt sich also um zeitdeckendes Erzählen. 230 Hierbei dominiert meistens die Dialogform. Ein fünftes, von Genette nicht erwähntes narratives Tempus ist das zeitdehnende Erzählen als Gegenstück zum summarischen Erzählen: Hierbei ist die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit. 231 227 Vgl. Genette, Erzählung, 33-36.48. 228 Vgl. Lämmert, Bauformen, 83f. 229 Vgl. Genette, Erzählung, 67-114; vgl. auch die noch differenzierteren Ausführungen bei Lämmert, Bauformen, 83-94. 230 Sowohl Lämmert als auch Genette betonen zu Recht, dass es zeitdeckendes Erzählen im eigentlichen Sinne nicht gibt: Lämmert, Bauformen, 84, versteht die Zeitdeckung als „Näherungswert“, der „nicht als exaktes Gleichmaß“ verstanden werden darf. Auch laut Genette, Erzählung, 62, kommt eine Erzählung nicht ohne Anisochronien aus. Martinez/ Scheffel, Einführung, 39, halten zeitdeckendes Erzählen höchstens bei szenischen Darstellungen für möglich. 231 Vgl. Lämmert, Bauformen, 84f.; Martinez/ Scheffel, Einführung, 43f. <?page no="65"?> 65 2.3.3.2 Der Modus Die Frage nach dem Modus des Erzählens ist die Frage nach der Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit des Erzählens. In der Narratologie wird hierbei gemeinhin zwischen einem narrativen und einem dramatischen Modus unterschieden. 232 Im narrativen Modus ist die Erzählstimme deutlich präsent; er vermittelt Distanz zum Erzählten. Der dramatische Modus erweckt hingegen den Eindruck, dass keine Erzählstimme zwischen Erzählfiguren und Lesenden steht, sondern dass die Lesenden dem Geschehen unmittelbar und ohne Distanz beiwohnen. 233 Die Distanz der Lesenden zum Erzählten wird mit Genette näher bestimmt im Blick auf die Erzählung von Ereignissen, Worten und Gedanken, 234 wobei die Erzählung von Ereignissen die narrativste und damit distanzierteste Form darstellt. Der Modus der Erzählung von Worten in berichteter bzw. zitierter, direkter Rede ist dramatischer. Gleiches gilt für die Erzählung von Gedanken der Erzählfiguren: Vor allem der innere Monolog ermöglicht auf direkte, unvermittelte Weise Einblicke in die Gedanken-, Wahrnehmungs- und Gefühlswelt einer Figur. 235 Die zweite Näherbestimmung ist die Fokalisierung, d.h. die Perspektive, der Blickwinkel auf ein erzähltes Geschehen. 236 Ein externer focalizor blickt aus einer Außensicht auf das erzählte Geschehen. 237 Seine Wahrnehmung kann sich auf verschiedene Orte gleichzeitig sowie auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstrecken, also auf mehr, als die Erzählfiguren wahrnehmen können. 238 Verfügt der focalizor dagegen über eine Mitsicht, sieht also nicht mehr als die Figuren, sondern nimmt die Perspektive einer oder mehrerer von ihnen ein, handelt es sich um interne Fokalisierung. 232 Vgl. Genette, Erzählung, 115-120; Rimmon-Kenan, Fiction, 106-109; Martinez/ Scheffel, Einführung, 47-49. 233 Vgl. Eisen, Poetik, 110. 234 Vgl. zu diesem in erzähltheoretischen Ansätzen zumeist ausführlich behandelten, für diese Arbeit aber wenig ergiebigen Punkt Genette, Erzählung, 115-132.221-234; Martinez/ Scheffel, Einführung, 47-63; Eisen, Poetik, 110-121. 235 Zur Einleitung von inneren Monologen dienen neben verba declarandi, dicendi und credendi auch Wendungen wie „zu sich selbst“ und „in ihrem Herzen sprechen“ (vgl. Eisen, Poetik, 120). 236 Bal, Narratology, 149, definiert: “Focalization ist the relationship between the ‘vision’, the agent that sees, and that which is seen.” 237 Genette, Erzählung, 134-149; 241-244, unterscheidet genauer zwischen Nullfokalisierung (uneingeschränkter Übersicht) und externer Fokalisierung (neutraler Außensicht). In Aufnahme von Bal argumentiert Rimmon-Kenan, Fiction, 156, jedoch zutreffend: “Genette’s classification is based on two different criteria: while the distinction between non-focalized and internally focalized refers to the position of the perceiver (the focalizer), that between internally focalized and externally focalized refers to the perceived object (the focalized).” So unterscheiden Bal, Narratology, 160-163, und Rimmon-Kenan, Fiction, 75, lediglich externe und interne Fokalisierung. 238 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 78-80, mit Bezug auf Uspenskij. <?page no="66"?> 66 2.3.4 Das Erzählen Dieser Analyseschritt bezieht sich in erster Linie auf die Erzählstimme und ihr Verhältnis zu dem von ihr Erzählten. Als Beispiel für die folgenden Ausführungen dient „Jesus“ als Erzählstimme der Endzeitrede. Dadurch sollen über eine Einführung hinaus gleichzeitig einige grundsätzliche und für die Arbeit relevante Merkmale der Erzählstimme der Endzeitrede erläutert werden. 2.3.4.1 Der Zeitpunkt des Erzählens Die Frage nach dem Zeitpunkt des Erzählens ist die Frage nach der zeitlichen Relation der Erzählstimme zum Erzählten. Genette unterscheidet die spätere, die frühere und die gleichzeitige Narration. 239 Die Mehrzahl der Erzählungen werden von einem späteren Zeitpunkt aus erzählt; erkennbar wird dies an Vergangenheitstempora. Späteres Erzählen, also das Erzählen von etwas Zukünftigem, findet sich im biblischen Kontext v.a. in Form von Prophetie. Im gleichzeitigen Erzählen fallen die Geschichte und das Erzählen zeitlich zusammen, was sich in der Präsensform ausdrückt. Die Erzählstimme des Matthäusevangeliums blickt auf die Zeit des Lebens und Redens Jesu zurück. Durch die in der Rahmenhandlung (24,1-4a und 26,1) vorherrschenden Verbformen im Aorist ist dies noch nicht bewiesen, wohl aber anhand der Formulierung me,cri th/ j sh,meron Îh`me,rajÐ (28,15) - denn dieser Tag liegt außerhalb der Erzählung. Der Erzählrahmen wird demnach im Verhältnis zur erzählten Zeit von einem späteren Zeitpunkt aus erzählt. „Jesus“ erzählt die Passagen, die in den zeitlichen Verlauf der in der Rede angesagten Endzeitereignisse eingeordnet sind, im Verhältnis zur erzählten Zeit von einem früheren Zeitpunkt aus (24,4b-31; 25,31-46), was v.a. durch weissagende Prolepsen (V.5.7.9-14.21f.24) deutlich wird. Im zweiten Hauptteil der Rede, der von Gleichnissen, Vergleichen und Logien geprägt ist, finden sich dagegen alle drei Varianten: Frühere (V.34f.37-39c-40-42.44- 51; 25,1), gleichzeitige (V.32f.36.45) und spätere Narration (V.38f.; 25,1b- 12.14-30). 2.3.4.2 Die Beteiligung der Erzählstimme am Geschehen Von der Frage nach den Erzählebenen zu unterscheiden ist die Frage nach der Beteiligung der Erzählstimme am erzählten Geschehen. Genette unterscheidet zwischen homodiegetischen und heterodiegetischen Erzählstim- 239 Vgl. Genette, Erzählung, 154-162, vgl. auch Martinez/ Scheffel, Einführung, 69-75. Als vierte Kategorie nennt Genette die eingeschobene Narration, die v.a. in Briefromanen vorliegt und im Hinblick auf das Matthäusevangelium zu vernachlässigen ist. <?page no="67"?> 67 men. Homodiegetisch ist eine Erzählstimme, wenn sie in der Geschichte, die sie erzählt, vorkommt, heterodiegetisch ist sie, wenn dies nicht der Fall ist. 240 Heterodiegetischen Erzählstimmen kommen im Vergleich zu homodiegetischen einige Privilegien zu: Allwissenheit, d.h. Kenntnis der Gedanken und Gefühle der Erzählfiguren, Omnitemporalität, d.h. Kenntnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und Omnipräsenz, d.h. Anwesenheit auch an Orten, an denen die Erzählfiguren sich allein aufhalten. 241 Die Partizipation homodiegetischer Erzählstimmen dagegen variiert: Die Erzählstimme kann gleichzeitig die Hauptperson ihrer Erzählung sein (autodiegetische Erzählstimme), 242 eine Hauptperson unter mehreren, eine Nebenfigur oder eine an der Handlung beteiligte oder unbeteiligte Beobachterin. 243 Die Erzählstimme des Matthäusevangeliums ist heterodiegetisch, 244 d.h. am Geschehen unbeteiligt und so zurückgenommen, dass sie sich in keiner Weise als Erzählinstanz thematisiert. Vielmehr ist das Evangelium von Anfang an ausschließlich auf seinen Erzählgegenstand ausgerichtet. 245 Jesus ist die Hauptfigur des Evangeliums, es erzählt seine Geschichte. Weil „Jesus“ aber selbst auch erzählt, z.B. Gleichnisse, wird das Evangelium zugleich eine Erzählung Jesu, so dass Jesus als „erzählter Erzähler“ 246 bezeichnet werden kann. Als mithin homodiegetische Erzählstimme der Endzeitrede besitzt „Jesus“ jedoch einige Eigenschaften einer heterodiegetischen Erzählstimme: Er kennt Gedanken und Gefühle seiner Erzählfiguren, z.B. die Gedanken des Sklaven im Gleichnis ( croni,zei mou o` ku, rioj ; 24,48), und kann in die Zukunft blicken (Omnitemporalität). 247 Obwohl „Jesus“ in seinen Erzählungen zunächst als unbeteiligter Beobachter erscheint und diese nicht explizit von ihm handeln, ist er doch indirekt an dem von ihm in Prophezeiungen und Gleichnissen erzählten Geschehen beteiligt: Der irdische, vorösterliche „Jesus“ referiert in der Endzeitrede auf sich selbst - genauer gesagt, auf den Auferstandenen, Wiederkommenden. Dies geschieht in unterschiedlicher Form und nicht immer eindeutig, v.a. durch die Verwendung sogenannter Hoheitstitel wie ui` `o.j tou/ 240 Vgl. Genette, Erzählung, 175. 241 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 96; Eisen, Poetik, 77f. 242 Vgl. Genette, Erzählung, 176. 243 Vgl. Martinez/ Scheffel, Einführung, 82, mit Bezug auf Lanser und Jahn/ Nünning. 244 Vgl. hierzu Martinez/ Scheffel, 81f., die von der homodiegetischen die heterodiegetische Erzählstimme als Figur der erzählten Welt unterscheiden; jedoch nicht dichotomisch, sondern graduell auf folgender Skala: Unbeteiligter Erzähler - Unbeteiligter Beobachter - Beteiligter Beobachter - Nebenfigur - Eine der Hauptfiguren - Die Hauptfigur. 245 Dies verdeutlichen bereits die einleitenden Worte Bi,bloj gene,sewj VIhsou/ Cristou/ … (Mt 1,1). Vgl. zu Mt 1,1 Mayordomo-Marín, Anfang, 206-217. 246 Vgl. Poplutz, Leute, 74, Anm. 85; vgl. auch Eisen, Poetik, 80f. 247 Vgl. für das Lukasevangelium ebenso Eisen, Poetik, 79. <?page no="68"?> 68 avnqrw,pou , ku, rioj und basileu,j . Damit wird er, wie noch deutlich werden wird, zur indirekten Hauptfigur der Rede. 2.3.4.3 Die Zuverlässigkeit der Erzählstimme Die Frage nach der Zuverlässigkeit der Erzählstimme ist die Frage nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen im Bezug auf die erzählte Welt. 248 Sie soll im Folgenden im Blick auf „Jesus“ als Erzählstimme grundlegend erörtert werden und deshalb etwas mehr Raum einnehmen. 2.3.4.3.1 Unzuverlässigkeit und Beglaubigung Zur Ermittlung der Zuverlässigkeit solcher fiktiver Rede ist zunächst zu unterscheiden zwischen der Rede der heterodiegetischen Erzählstimme und der Rede der Erzählfiguren: 249 Erstere ist logisch privilegiert, weil sie im Rahmen der erzählten Welt notwendig wahr ist. Jedoch kann es auch logisch privilegierte Figurenrede geben, z.B. bei Figuren, die als Medium einer übernatürlichen Instanz autorisiert sind. Der unbedingte Geltungsanspruch der Erzählstimme ist in solchen Fällen auf diese Figuren ausgedehnt. Ansonsten sind die Aussagen von Figuren jedoch nur in dem Maße zuverlässig, in dem die Erzählstimme sie bestätigt bzw. widerlegt. Auch Erzählstimmen können unzuverlässig sein, wenn ihr Wissen begrenzt ist, sie persönlich involviert sind oder ein fragwürdiges Wertesystem haben. 250 Vor allem aber tritt Unzuverlässigkeit bei aktorial fokalisierten Erzählungen auf, z.B. bei Zukunftsträumen, Weissagungen, Mutmaßungen, Beschlüssen, Befehlen und Plänen. 251 Sie bedürfen daher der Beglaubigung. 252 Dies kann in bestimmten literarischen Gattungen wie religiöser Dichtung, Legenden oder Märchen durch die Art der Verkündigung geschehen, nämlich dann, wenn diese Verkündi- 248 Es geht hierbei also nicht um den Wahrheitsgehalt in Bezug auf unsere gegenwärtige Welt, selbst dann, wenn die erzählte Welt der eigenen Lebenswelt ähnelt; vgl. Martinez/ Scheffel, Einführung, 95.97. 249 Vgl. zum Folgenden Martinez/ Scheffel, Einführung, 96f.; Lämmert, Bauformen, 142- 175, der sich speziell zu Vorausdeutungen (Prolepsen) äußert. Dieser Sachverhalt gehört zur Ebene der Erzählung, wird aber aus Gründen der Übersichtlichkeit an dieser Stelle mit verhandelt. Zum unreliable narrator vgl. auch Chatman, Story, 228-237. 250 Vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 101-104. 251 Vgl. Lämmert, Bauformen, 143, der hierfür den Terminus „zukunftsungewisse Vorausdeutungen“ verwendet. Jedoch treffen Lämmerts folgende Ausführungen (vgl. ebd., 175-194) in großen Teilen auch auf Schilderungen der Vergangenheit und der Gegenwart zu, deren Wahrheitsgehalt von den Lesenden nicht unmittelbar nachzuvollziehen ist. Ich spreche deshalb im Folgenden im Anschluss an Chatman und Martinez/ Scheffel weiterhin von „Unzuverlässigkeit“. 252 Vgl. hierzu Lämmert, Bauformen, 179-164. <?page no="69"?> 69 gung von göttlichen, mythischen oder dämonischen Mächten getätigt wird. 253 Auch durch die Umstände der Verkündigung kann eine Beglaubigung erfolgen: 254 So stärkt das wiederholte Auftreten eigentlich unzuverlässiger Aussagen bzw. die mehrfache Aussage desselben Sachverhaltes das Vertrauen der Lesenden genauso wie die Kombination einer bedeutungsschweren, unzuverlässigen Aussage mit einer unbedeutenderen, die aber demonstrativ eintrifft. Schließlich kann die Beglaubigung durch den Eingriff der Erzählstimme 255 geschehen, also durch die Koppelung einer unzuverlässigen mit einer zuverlässigen Aussage. 2.3.4.3.2 Die Zuverlässigkeit der Erzählstimme „Jesus“ „Jesus“ ist als homodiegetische Erzählstimme, die zugleich als Erzählfigur fungiert, per se eine unzuverlässige Erzählstimme. Jedoch verfolgt der MA unterschiedliche Strategien, um seine Zuverlässigkeit zu beglaubigen: Im Matthäusevangelium wird „Jesus“ von Anfang an als religiöse Autorität eingeführt. 256 Glaubwürdigkeit bewirkt auch seine wiederholte Ansage desselben Ereignisses, nämlich des Gerichts, 257 so dass die Gerichtsansagen der Endzeitrede als solche nicht neu sind. Auch die Kopplung seiner Voraussage der Endzeitereignisse mit seiner Ansage der Tempelzerstörung (24,2) trägt zur Beglaubigung „Jesu“ bei: Auf der Ebene der Erzählung ist sie zwar genauso zukunftsungewiss wie die Ansage der Endzeitereignisse. Weil aber die Lesenden, die über das Wissen der Entstehungszeit des Mt-Ev. verfügen, wissen, dass die Tempelzerstörung tatsächlich geschehen ist, werden auf diese Weise auch die endzeitlichen Voraussagen „Jesu“ beglaubigt. Trotzdem bleibt es bis zum Schluss des Evangeliums ungewiss, ob das Vorhergesagte tatsächlich eintreten wird. Es bleibt nicht nur für die Jünger, sondern auch für die Lesenden weiterhin zukünftig und damit letztlich ungewiss. Dies wiederum forciert ihre Identifikation mit den Jüngern als Erzähladressaten; deren „Zukunftsspannung“ 258 soll sich augenscheinlich auf sie übertragen und sie empfänglich machen für die immer wieder auftau- 253 Vgl. Lämmert, Bauformen, 179-182. 254 Vgl. Lämmert, Bauformen, 182f. 255 Vgl. Lämmert, Bauformen, 183f. 256 Dies geschieht durch seine Bezeichnung als Sohn Davids (1,1), Immanuel (1,23) und Sohn Gottes (1,25). Die heterodiegetische Erzählstimme des Evangeliums betont diese Gottessohnschaft z.B. durch die erzählte Rede der Himmelsstimme bei seiner Taufe (1,17) und Verklärung (17,5). Auch wird „Jesus“ als Prophet stilisiert, indem ihm in der Endzeitrede Zitate aus und Anspielungen an prophetische Texte (Jes 13; 34, Joel 2; 4) in den Mund gelegt werden. Gleiches bewirkt die im Vorfeld der Rede skizzierte Haltung der Jünger ihm gegenüber: Sie stellen ihm eine die Zukunft betreffende Frage (V.3) und unterbrechen seinen Monolog, mit dem er hierauf reagiert, nicht, so dass er als befugt und in der Lage erscheint, über Endzeitfragen Auskunft zu geben. 257 Mt 7,12-25; 13, 41-43.49-51, 16,27f., 19,23-30 etc. 258 Lämmert, Bauformen, 176. <?page no="70"?> 70 chenden Imperative zu wachen, bereit zu sein und angemessen auf das Kommen des Menschensohnes zu reagieren. 2.4 Intertextualität 2.4.1 Einführung Die Theorie Intertextualität, in die im Folgenden eingeführt werden soll, geht davon aus, dass Texte nicht nur für sich, sondern auf vielerlei Weise in Beziehung zueinander stehen. Der Begriff „Intertextualität“ wurde von J. Kristeva eingeführt, die im Rückgriff auf M. Bachtins Dialogizitäts-Ästhetik definiert: tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d'un autre texte. 259 Kristeva sieht Texte in Abgrenzung zum französischen Strukturalismus nicht als geschlossene Strukturen an, die objektiv beschreibbar wären, sondern als relationale Größen, die in Beziehung zu anderen Texten und zu dem einen „allgemeinen Text“, der Kultur, stehen. 260 Ihr sehr weites Verständnis von Intertextualität nimmt sämtliche Bezüge zwischen den Texten in den Blick. Die Intertextualitätsforschung teilte sich im Folgenden in zwei Strömungen auf, von denen eine den weiten Intertextualitätsbegriff Kristevas aufnahm, die andere ihn enger fasste und an der Methodisierung der Überlegungen Kristevas für literaturwissenschaftliche Untersuchungen arbeitete. 261 Mit dieser Methodisierung verkomplizierte sich die Begriffsbildung erheblich. Vor allem aber wurden Differenzierungen entwickelt, die auch für die exegetische Arbeit von Belang sind und die im Folgenden erläutert werden. 259 Kristeva, Bakhtine, 146. 260 Vgl. Alkier, Intertextualität, 6f. 261 Zur ersten Strömung zählen R. Barthes, J. Derrida, H. Bloom, V. Leitch, M. Worton und J. Sill, zur zweiten Strömung G. Genette, M. Riffaterre, R. Lachmann, U. Broich, M. Pfister, S. Holthuis und J. Helbig (nach Alkier, Intertextualität, 10f.). Zur Übersicht über die Entwicklung der Intertextualitätsforschung und ihre ganz unterschiedlichen Begriffsbildungen vgl. Pfister, Konzepte, 1-24; Holthuis, Intertextualität, 12-28; Alkier, Bibel, 2-5; ders., Intertextualität, 1-26; Merz, Selbstauslegung, 5-22, Petersen, Brot, 62- 84. Neuerdings wird Intertextualität im Zuge der kognitiven Wende teilweise schon wieder verabschiedet und durch das Konzept von frames und scripts ersetzt (vgl. dazu Finnern, Narratologie, 36-45), aber auch nach wie vor rezipiert und weiterentwickelt (vgl. dazu exemplarisch den von M. Köhlmoos und M. Wriedt herausgegebenen Band „Wahrheit und Positionalität“, insbesondere den hier enthaltenen Aufsatz Köhlmoos′ „‘Woran erinnert dich dieser Fisch? ‘ - Intertextualität und Dialogizität“). <?page no="71"?> 71 Eine Verbindung beider Strömungen strebt das Konzept von U. Broich und M. Pfister an, auf das noch verschiedentlich zurückzukommen sein wird. 262 Die Grundfrage der Intertextualität bleibt, inwiefern sich zwei miteinander in Beziehung stehende Texte gegenseitig in ihrem Sinn bereichern. 263 Dabei wird unter „Prätext“ der jeweils frühere Text verstanden, unter „Posttext“ der spätere, unabhängig vom Modus der Rezeption. 264 Dass dabei ein Prätext einen Posttext um Sinn bereichert, ist evident. Gleichzeitig ist ein Posttext Teil der Wirkungsgeschichte seines Prätextes und speist somit wiederum Sinnpotential genauer in diesen ein. 265 2.4.2 Methodik Jenseits der wenig differenzierten und zudem kaum trennscharf möglichen Unterscheidung, ob es sich bei einer intertextuellen Allusion um ein Zitat oder eine Anspielung handelt, 266 existieren in der Intertextualitätsforschung eine Vielzahl von Kategorien zur näheren Bestimmung intertextueller Relationen. Besonders hilfreich für das Forschungsvorhaben dieser Arbeit sind die Unterscheidung von Einzeltext- und Systemreferenz, die qualitativen und quantitativen Kriterien der Intertextualität sowie die Untersuchung der Funktionen von Intertextualität. Diese Herangehensweisen sollen im Folgenden näher erläutert werden. 2.4.2.1 Einzeltext- und Systemreferenz U. Broich und M. Pfister unterscheiden Einzeltext- und Systemreferenz, die zwar voneinander trennbar sind, aber bei der Konstitution eines Textes zusammenwirken. 267 Im Falle einer Einzeltextreferenz bezieht sich „ein Text auf einen bestimmten, individuellen Prätext“. 268 Dabei ist zu unterscheiden, ob mehrere Prätex- 262 Entgrenzte und begrenzte Intertextualität kombiniert auch das Enzyklopädiekonzept U. Ecos. Es kann in seiner Weite alle intertextuellen Phänomene erfassen, erlaubt in seiner Konkretheit gleichzeitig eine Methodisierung für die Textinterpretation und lässt außerdem die historische Verortung von Intertextualität nicht nur zu, sondern verlangt sie (vgl. Alkier, Intertextualität, 25, mit Bezug auf Eco, Lector, 88ff.). 263 Vgl. Alkier, Bibel, 8. 264 Vgl. Wischmeyer, Hermeneutik, 188, Anm.1. „Die Septuagintabücher als Prätexte bilden zusammen den Intertext der späteren neutestamentlichen Schriften, der Posttexte“ (ebd., 190). Gleichzeitig sind erst- und neutestamentliche Schriften, also auch das Mt-Ev., Prätexte im Verhältnis zu den auf sie rekurrierenden Liedern, die demnach Posttexte dieser Schriften sind. 265 Vgl. Alkier, Bibel, 8. 266 So noch Genette, Palimpseste, 10; vgl. dazu Helbig, Intertextualität, 30-36; Petersen, Brot, 81. 267 Vgl. Broich, Einzeltextreferenz, 52. <?page no="72"?> 72 te gleichermaßen im Text präsent sind oder ob ein Prätext dominiert. Auch ist zu beachten, dass Prätexte sich häufig ihrerseits auf Prätexte beziehen, die sich auf weitere Prätexte beziehen und so fort, so dass ganze Textketten in einem Posttext präsent sind. Steht dagegen kein individueller Prätext im Hintergrund, sondern textbildende Systeme wie Strukturähnlichkeiten, Diskurstypen oder Gattungen, handelt es sich um eine Systemreferenz. 269 Mit Ausnahme von Strukturähnlichkeiten werden den Analysen dieser Arbeit in erster Linie Einzeltextreferenzen eine Rolle spielen. 2.4.2.2 Qualitative Kriterien für die Intensität intertextueller Verweise Die folgenden Kriterien dienen der qualitativen Differenzierung intertextueller Verweise 270 und suchen das weite, poststrukturalistische wie das engere, strukturalistische und hermeneutische Intertextualitätskonzept zu integrieren. 271 Allein das Zusammenspiel verschiedener Kriterien erlaubt dabei ein Gesamturteil zur Intensität der intertextuellen Beziehung. Zudem können Aspekte, die in der Exegese traditionell hochgeschätzt werden, wie wörtliche Übereinstimmungen oder Zitationsformeln, fehlen, und die intertextuelle Beziehung kann trotzdem intensiv sein. 272 Im Folgenden sollen die Kriterien vorgestellt und an einigen wichtigen Punkten um differenziertere methodische Unterscheidungen ergänzt werden. Von Bedeutung für diese 268 Broich, Einzeltextreferenz, 48. Vgl. zum Folgenden ebd., 50f. 269 Vgl. dazu Pfister, Systemreferenz, 52-58. 270 Vgl. zum Folgenden Pfister, Konzepte, 26-29. Merz, Selbstauslegung, 105-110, weist nach, dass alle diese Kriterien Entsprechungen in der etablierten exegetischen Methodik aufweisen. „Sie eröffnen aber aufgrund ihrer Abstraktheit den Blick für weitere, bisher unberücksichtigte Aspekte und ermöglichen so eine Ausdifferenzierung bewährter Verfahren. Wichtig ist vor allem die weitgehende Unabhängigkeit der sechs Dimensionen voneinander. Jede intertextuelle Beziehung kann bezüglich ihrer Intensität auf jedem der sechs Kriterien eingestuft werden. ... Im Zusammenspiel aller Kriterien lassen sich dann klarere Aussagen über den Intensitätsgrad machen. Von mathematischer Genauigkeit ist man natürlich weit entfernt, doch ergibt sich mit Sicherheit ein strukturierteres Bild als ohne die Zugrundelegung dieser unabhängigen Kriterien.“ (Merz, Selbstauslegung, 109f.). 271 Vgl. Pfister, Konzepte, 25, der zu Recht betont, dass intertextuelle Intensität nicht im mathematischen Sinne zu messen sei; seine Kriterien versteht er vielmehr „als heuristische Konstrukte zur typologischen Differenzierung unterschiedlicher intertextueller Bezüge“ (ebd., 30). Auch R. Hays hat für die paulinischen Briefe vergleichbare Kriterien herausgearbeitet, die sich teilweise mit denen Pfisters überschneiden. Er unterscheidet Verfügbarkeit, Umfang, Wiederkehr, Thematische Kohärenz, Historische Plausibilität, Auslegungsgeschichte und Zufriedenstellung (vgl. Hays, Echoes, 29-32, Übersetzungen nach Mayordomo-Marín, Anfang, 159). M.E. ist vor allem letzteres Kriterium jedoch eher subjektiv, und auch die Historische Plausibilität ist ein Kriterium, das zur Spekulation verführen kann. 272 Vgl. Merz, Selbstauslegung, 113. <?page no="73"?> 73 Arbeit sind insbesondere die Kriterien der Referentialität, Kommunikativität, Strukturalität, Selektivität, 273 die im Folgenden erläutert werden sollen. Das erste Kriterium, die Referentialität, zielt darauf ab, in welchem Maße Worte, linguistische Strukturen, Texte oder Diskurstypen in einem Posttext 274 lediglich verwendet werden, sie sich also nahtlos in ihn einfügen (engl. to mention; geringe Intensität) oder explizit auf sie verwiesen wird (engl. to refer to; hohe Intensität). Höchste Intensität kommt der Metatextualität zu, d.h. die Kommentierung, Perspektivierung und Interpretation des Prätextes, so dass deutlich wird, ob der Posttext an ihn anknüpft oder sich von ihm distanziert. Bei dem zweiten Kriterium, der Kommunikativität, geht es um den Grad, in dem der intertextuelle Bezug des Textes Autor_in und Leser_innen bewusst ist, also nicht mehr um den Text selbst, sondern seine Pragmatik. Dabei ist die Intentionalität und Deutlichkeit der Markierung des intertextuellen Bezuges im Text von Bedeutung. 275 Finden sich keine linguistischen und/ oder graphemischen Signale für Intertextualität und sind Zitatsegment und Kontext sprachlich und stilistisch kongruent, handelt es sich um unmarkierte Intertextualität. Die Kommunikativität ist in diesem Fall sehr gering, so dass die Intertextualität u.U. beim Lesen nicht erkannt wird. 276 Eine Markierung liegt vor, wenn eine intertextuelle Spur durch emphatischen Gebrauch verstärkt wird oder das Auftreten der Spur in ihrem neuen Kontext eine linguistische und/ oder graphemische Interferenz bedingt oder die Spur durch sprachliche Informationen eindeutig als intertextuelle Referenz offengelegt wird. 277 Im Falle einer impliziten Markierung 278 sind Signale für intertextuelle Bezüge polyvalent. Ob sie erkannt werden, hängt von dem Bekanntheitsgrad des Referenztextes und der aus ihm übernommenen Spur (Titel oder andere Textteile) ab, davon, inwiefern diese Spur verändert wurde (Zitat vs. Paraphrase), sowie vom zusätzlichen Gebrauch intensivierender Maßnahmen wie Wiederholung oder Positionierung am Anfang oder am Schluss eines Textes. 279 Eine explizite Markierung 280 verstärkt dagegen die Deutlichkeit 273 Darüber hinaus nennt Pfister das Kriterium der „Autoreflexivität“. 274 Pfister selbst verwendet den Begriff „Posttext“ nicht, sondern unterscheidet zwischen „Text“ und „Prätext“; vgl. Pfister, Konzepte, 11. 275 Vgl. zum Folgenden Helbig, Intertextualität, 87-90. 276 Dies kann intendiert sein, z.B. bei Plagiaten, aber auch unbewusste Bezugnahmen der Autorin auf andere Texte sind möglich. 277 Vgl. Helbig, Intertextualität, 93f. 278 Vgl. zum Folgenden Helbig, Intertextualität, 95-111. 279 Das Problem, dass die Kompetenz, Allusionen an die Bibel in Liedern zu erkennen, nicht selbstverständlich ist, bringt bereits N. L. Graf von Zinzendorf in einem Brief an König Friedrich Wilhelm I. von Preußen zur Sprache: „Weil ich fast verbotenus [wörtlich] Biblisch zu reden pflege; so nehme ich alle Historien, Gleichniße, Figuren der heiligen Schrifft, vor bekannt an, und bringe, ohne dran zu dencken, offt so viele dergleichen in ein Lied, daß wer mich nicht gewohnt ist, es nicht verstehet.“ (zit. n. Rößler, Jahrhundert, 182). <?page no="74"?> 74 und die Transparenz einer intertextuellen Referenz. Explizite Markierungsverfahren sind onomastische Markierungen, 281 linguistische Codewechsel und graphemische Interferenzen wie Anführungszeichen oder Kursivdruck. Noch deutlicher ist die Verweiskraft der thematisierten Intertextualität. 282 Sie geschieht z.B. durch meta-kommunikative Verben (lesen, zitieren, interpretieren, übersetzen etc.) oder durch die Hinweise auf Autor_innen, Erscheinungszeitraum, Gattung oder Inhalt des Intertextes. Das Kriterium der Strukturalität thematisiert, inwiefern die Prätexte syntagmatisch in den Text integriert sind, ob sie also nur beiläufig anzitiert werden oder im anderen Extrem zur strukturellen Folie des ganzen Textes werden. Mit M. Lindner kann weiter differenziert werden zwischen kontaminatorischer Relation, d.h. „die Übernahme von Einzelelementen aus verschiedenen Prätexten (bzw. Gattungssystemen), wobei die einzelnen Elemente aus ihrem ursprünglichen strukturellen und funktionalen Zusammenhang herausgelöst und zu einem neuen Text kombiniert werden“, 283 und anagrammatischer Relation, d.h. dem mehrfachen Bezug auf denselben Prätext oder Abschnitte desselben. Diese Bezüge verteilen sich über den Text und „ergeben dabei eine in sich kohärente isotope Struktur, wie sie im Prätext vorhanden ist“. 284 Sodann ist nach der Selektivität zu fragen; der Prägnanz der intertextuellen Verweisung. Hierbei geht es darum, in welchem Maße pointiert auf ein Element des Prätextes Bezug genommen wird. Höchste Intensität kommt einem wörtlichen Zitat zu; weniger hohe einer Anspielung, die sich pauschal auf den ganzen Prätext oder auf einen übergreifenden Aspekt desselben bezieht, wie z.B. die Erwähnung einer seiner Erzählfiguren. Je selektiver die Relation jedoch ist, desto mehr ist es die Funktion des eingespielten Details, pars pro toto den Gesamtkontext, aus dem es stammt, in den neuen Text einzuspielen. 285 Das letzte Kriterium, die Dialogizität, befasst sich mit der semantischen und ideologischen Spannung, in der Prä- und Posttext zueinander stehen - je höher diese ist, z.B. wenn der Prätext ironisch relativiert wird, desto höher ist auch die Intensität der Intertextualität. Das andere Extrem stellen Über- 280 Vgl. zum Folgenden Helbig, Intertextualität, 111-131. 281 „Namen sind häufig von hoher intertextueller Verweiskraft, jedoch von geringerer Selektivität als allusive Verweise, d.h. sie rufen eher größere Textzusammenhänge auf als spezifisch ausgewählte Textelemente.“ (Merz, Selbstauslegung, 23). 282 Vgl. zum Folgenden Helbig, Intertextualität, 131-137. Beispiele für thematisierte Intertextualität finden sich in EG 149,1 ... wie Petrus davon schreibet sowie in EG 30,2 ... davon Jesaja sagt. 283 Lindner, Integrationsformen, 121. 284 Lindner, Integrationsformen, 122. 285 Im Blick auf Kirchenliedtexte betont bereits Köhler, Quellen, 19, dass sie i. d. R. nicht einfach wie Mosaike aus Einzelbezügen zusammengesetzt sind, sondern dass zu ihrem Verständnis die biblischen Zusammenhänge pars pro toto mit aufgerufen sind. <?page no="75"?> 75 setzungen und Umsetzungen in ein anderes Zeichensystem dar, wie z.B. Filme, Dramen und Opern. Neben den qualitativen Kriterien sind noch zwei quantitative Faktoren zu nennen: Zum einen die Dichte und Häufigkeit der intertextuellen Bezüge in einem Text, zum anderen die Anzahl und Streubreite der Prätexte, die hier alludiert werden. 286 4.2.3 Funktionalisierung Abschließend stellt sich die Frage nach der Funktion intertextueller Verweise, und zwar nicht nur für den Posttext. Auch dem Prätext werden durch intertextuelle Relationen neue Bedeutungen hinzugefügt, die in seiner Rezeptionsgeschichte häufig mit ihm verbunden bleiben. 287 Dies ist insbesondere für Erzählungen der Endzeitrede wie z.B. das Gleichnis von den zehn jungen Frauen relevant, das beispielsweise als Prätext des Liedes „Wachet auf“, ruft uns die Stimme durch dieses eine besondere wirkungsgeschichtliche Prägung erfahren hat. Hebel unterscheidet zunächst drei Formen intratextueller Funktionalisierung, 288 wobei mehrere Funktionen gleichzeitig zutreffen können. So kann das Einspielen von Intertexten der Figurencharakterisierung dienen: Welche Erzählfigur welche Intertexte wo und in welchem Zusammenhang liest, erwähnt oder kommentiert, gibt Aufschlüsse über die Figur selbst. Eine zweite Funktion ist die Themaillustration: Durch das Einspielen von Intertexten wird das Thema des Textes reflektiert, illustriert oder mit einem solchen Intertext parallelisiert. Schließlich kann das Einspielen von Intertexten als Struktur- oder Kompositionsstütze dienen und hat als solche vorausdeutende oder rückverweisende Wirkung, unterstützt die Evokation des setting, illustriert die Figurenkonstellation oder motiviert die Handlung. Von der intratextuellen Funktionalisierung unterscheidet Helbig die metatextuelle Funktionalisierung. Mit Genette versteht er unter Metatextualität die Kommentierung, Perspektivierung und Interpretation eines Prätextes durch einen Posttext. 289 Darüber hinaus kann eine positive, negative oder neutrale Bewertung des Prätextes erfolgen. 290 286 Vgl. Pfister, Konzepte, 30. 287 Vgl. Hebel, Romaninterpretation, 99, der diese Funktionen als neunten und letzten Aspekt zur Deskripition der von ihm sogenannten Allusionslexie behandelt. Beispiele in biblischen Texten hierfür sind Erfüllungszitate und typologische Interpretationen (vgl. Merz, Selbstauslegung, 59). 288 Vgl. zum Folgenden Hebel, Romaninterpretation, 98-106. 289 Vgl. Genette, Palimpseste, 10; vgl. auch Pfisters Kriterium der Referentialität. 290 Hebel, Romaninterpretation, 109, nennt darüber hinaus die „Relationierung mit anderen Bezugspunkten“, „rezeptionsgeschichtlich relevante Aussagen im linearen Kotext“ sowie „metatextuell wirksame Modifikationen“ (vgl. ebd., 106), die jedoch für die vorliegende Fragestellung zweitrangig sind. <?page no="76"?> 76 2.4.4 Inter- und Intratextualität im Matthäusevangelium Im Matthäusevangelium finden sich zahlreiche intertextuelle Allusionen an das AT bzw. die Septuaginta und frühjüdische Schriften, die als Rezeptionspotentiale in den Text eingeschrieben sind. Um diese Intertexte sowie geprägte Metaphern, Wendungen und Motive identifizieren zu können, bedarf es auf Seiten der Lesenden einer profunden enzyklopädischen Kompetenz. Im Blick auf die Gerichtsaussagen in der Endzeitrede sind v.a. Texte des Jesaja- und des Joelbuches sowie des 4. Esrabuches als Intertexte zu nennen. Diese intertextuellen Relationen werden im Laufe der Arbeit in den Blick kommen. Für die Endzeitrede als Teil des Matthäusevangeliums sind zudem intratextuelle Relationen von Bedeutung, also Relationen innerhalb des Evangeliums. 291 Diese sind v.a. durch Stichwortanknüpfungen markiert oder durch formelhafte Wendungen wie z.B. Gleichnisschlüsse. 2.4.5 Liedtexte und Intertextualität Die Endzeitrede kommt in der vorliegenden Arbeit nicht nur als Posttext alttestamentlicher und frühjüdischer Schriften in den Blick, sondern als Prätext der untersuchten Liedtexte. Weitere Prätexte von Kirchenliedern sind andere biblische Texte sowie andere religiöse oder säkulare Texte. Auch die Lebenswirklichkeit der Menschen der jeweiligen Zeit, die sich heute anhand zeitgenössischer Quellen erschließen lässt, spielt eine Rolle, da die Liedtexte diese Wirklichkeit aus biblischer Perspektive deuten. 292 Diese Liedtexte verarbeiten Elemente der Endzeitrede, kombinieren sie mit anderen Texten und Motiven und speisen somit neues Sinnpotential in sie ein. Generell gibt es vielfältige Arten der Verwendung biblischer Texte in Kirchenliedern: „Die Möglichkeiten reichen von der sorgfältigen Paraphrase bis zur verdeckten Anspielung, von der lehrmäßigen Auslegung bis zum einfühlenden Zuspruch, vom sentenzhaften Zitat bis zur thematischen Meditation.“ 293 Auch bezieht sich ein Liedtext selten nur auf einen einzigen biblischen Text, sondern enthält häufig eine Vielzahl biblischer Zitate und Anspielun- 291 Vgl. zu dieser Differenzierung Petersen, Brot, 80f. 292 Vgl. Franz, Aufgabe, 376f. Solche außerbiblischen Texte können in dieser Arbeit jedoch nur in sehr begrenztem Umfang behandelt werden. 293 Vgl. Henkys, Lieder, 14-17, Zitat 17. In der Verarbeitung biblischer Texte sieht Henkys, ebd., ein Kriterium, das ein Lied überhaupt zu einem gottesdienstlichen Lied macht: „Zwar kann man nicht sagen, daß die Qualität des Liedes sich am Maß der Aufnahme biblischer Wendungen und Motive erweist. Wohl aber gilt umgekehrt: Wo es sich so verselbständigt, daß sein Bibelverhältnis nicht mehr erkennbar ist, hat es seine spezifische Qualität als gottesdienstliches Lied eingebüßt.“ Ähnlich Franz, Aufgabe, 379. <?page no="77"?> 77 gen, zumeist in verdichteter Form. Angesichts der unüberschaubaren Fülle biblischer Bezüge hat R. Köhler eine Systematisierung versucht: Er unterscheidet die biblische „Mitte“ eines Liedes 294 sowie Haupt- und Nebenassoziationen, wobei die Grenzen häufig fließend sind. Zu beobachten sei jedoch, dass disparat erscheinende biblische Bezüge in einem gemeinsamen „Mittelpunkt“ zu einem großen Ganzen integriert werden. 295 Bezieht sich ein Liedtext auf biblische Texte, lässt sich fragen, wie er sich zu seiner biblischen Vorlage verhält, ob er sich innerhalb der „Grenzen der Interpretation“ befindet: Zwar sind Texte generell offen für unterschiedliche Deutungen, aber dieser Offenheit setzt der Text selbst Grenzen. 296 Und schließlich sind Lieder nicht nur Post-, sondern auch Prätexte. Sie haben selbst häufig eine Wirkungsgeschichte. An dieser werden „Widerstandsstellen“ eines Liedes erkennbar; Textstellen, die starke Reaktionen, ja Protest hervorrufen. 297 Die Redaktor_innen änderten oder tilgten, was ihnen unzumutbar erschien. Häufig handelt es sich hierbei um theologisch „anstößige“ Aussagen wie Gerichtsaussagen. Durch die Redaktion werden diese abgemildert, aber auch konkretisiert, verschärft oder entmetaphorisiert. Häufig handelt es sich bei solchen Widerstandsstellen auch um sogenannte „Bestimmheitsstellen, die dem Leser eine bestimmte, feststehende Deutung abverlangen“ 298 und ihm wenig Spielraum für eigene Deutungsaktivität ermöglichen. Dem stehen die oben bereits erwähnten Leerstellen gegenüber, „an denen der Leser eigene Deutungen einbringen kann“. Sie bergen allerdings die Gefahr, Lieder „ins Beliebige und Aussagelose 294 Diese biblische „Mitte“ lässt sich, so Köhler, häufig mit einem Blick in die literarischen Quellen bestimmen, da hier in später nicht mehr überlieferten Liedüberschriften die „Mitte“ explizit genannt ist (vgl. Köhler, Quellen, 15-20). Dies gilt v.a. für die sogenannten Evangelienlieder. Ein Beispiel ist Nicolais „Wachet auf“, ruft uns die Stimme: In der Quelle des Liedes, dem „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ ist in der Liedüberschrift Ein anders [Brautlied] von der Stimm zu Mitternacht / vnd von den klugen Jungfrauwen / die ihrem himmlischen Bräutigam begegnen / Matth. 25 explizit das Gleichnis Mt 25,1- 13 als Intertext markiert. 295 Teilweise, so Köhler, Quellen, 9, seien die Bezüge jedoch lediglich auf den Reim- und Verszwang zurückzuführen. Ähnlich formuliert Rößler, Lied, 46, für die Lieder seit Luther: „Aus der Kenntnis der ganzen Schrift assoziiert der Dichter die Fülle der Schrift - eine poetische Form von scriptura sui interpres! Das Lied zielt in strenger Bibelgemäßheit auf die Mitte der Schrift, die Summa, das Evangelium.“ Die Existenz einer solchen „Mitte der Schrift“ ist jedoch m.E. fragwürdig und wird in der Forschung auch zunehmend angezweifelt. 296 Vgl. Eco, Streit, 51, sowie im Blick auf Kirchenlieder Lieberknecht, Gemeindelieder, 92. 297 Vgl. dazu Kurzke/ Schäfer, Lebenswenden, v.a. 73f. 298 Kurzke, Kirchenlied, 153, der als Beispiel das Lutherlied Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort anführt: Die zweite Zeile lautete ursprünglich und steur des Papsts und Türken Mord. Im 18. Jh. setzte sich allmählich die Fassung und steure deiner Feinde Mord durch. Dadurch wird „das Wort Feinde zur Leerstelle …. Das Lied paßt nun auf alles. Es kann nach Bedarf gegen Katholiken oder Kommunisten, gegen Atheisten oder Faschisten gesungen werden. Die Bekennende Kirche sang es gegen die Deutschen Christen, und die Deutschen Christen sangen es gegen die Bekennende Kirche“ (ebd., 154). <?page no="78"?> 78 verschwimmen zu lassen, aber auch ..., daß sie sich jedem Interesse zur Verfügung stellen“. 299 Beide, Bestimmtheitsstellen wie Leerstellen eines Liedes, werden in den Liedanalysen durch den Blick auf seine Veränderungsgeschichte aufzuzeigen sein. 299 Kurzke, Kirchenlied, 153. <?page no="79"?> Zweiter Teil: Gerichtsvorstellungen in der Endzeitrede <?page no="81"?> 81 1 Rahmenerzählung und Struktur der Endzeitrede 1.1 Die Rahmenerzählung (Mt 24,1-4a) Bevor im zweiten Teil des ersten Hauptteiles die Endzeitrede eingehender analysiert wird, folgen nun zunächst allgemeinere narratologische Beobachtungen zur Rahmenerzählung der Endzeitrede (Mt 24,1-4a) sowie Bemerkungen zu ihrer Struktur. Die Rahmenerzählung dient zum einen der Abgrenzung der Endzeitrede und enthält zum anderen zwei Fragen, die das Thema und die Struktur der Rede mit vorgeben, wie im Folgenden deutlich werden wird. Auch die Rezeptionshaltung der Lesenden wird hier vorgegeben. Die Eigenständigkeit der Rede Mt 24-25 innerhalb des Redekomplexes Mt 23-25 ist deutlich durch den Wechsel des Ortes und der Erzähladressat_innen sowie durch einen Zeitsprung markiert: Jesus verlässt den Tempel, in dem er gerade gesprochen hat (vgl. 21,23; 23,1), und lässt dort die Volksmengen ( o; cloi ) zurück. Bei ihm befinden sich jetzt nur noch seine Jünger (V.1). Auch markiert die Zerstörung des Tempels, die er daraufhin ankündigt (V.2), eine deutliche Zäsur. 1 Es folgt eine unbestimmte Ellipse: Jesus und die Jünger befinden sich nach einer Zeitspanne von unbestimmter Dauer auf dem Ölberg, der sich wenige hundert Meter 2 vom Tempel entfernt befindet. Der Ölberg ist der Ort, an dem traditionell der Anbruch des Endgerichts erwartet wird. 3 Hier steht Jesus, den das Matthäusevangelium als Messias stilisiert, und hält eine weitere Rede. Sie ist durch zwei Fragen der Jünger motiviert (V.3b): 4 1 Das Verlassen des Tempels und die Ankündigung seiner Zerstörung fasst Konradt, Israel, 253, aus der Sicht der Erzählung zu Recht als tiefgreifende Veränderung für Israel auf: „Da Jesus der Immanuel ist, symbolisiert Jesu Weggang, dass Gott sich aus dem Tempel, der unter den Autoritäten eine Räuberhöhle bleibt, zurückgezogen hat, womit der Tempel der Zerstörung preisgegeben ist. Die Ankündigung von 23,38 findet so durch 24,1f. ihre Entfaltung.“ (Vgl. auch Frankemölle, Mt 2, 393.) Jedoch, so Konradt, ebd., 254, bedeutet dies nicht das Ende Israels. Vielmehr „hat sich die heilsgeschichtliche Situation nicht nur für die Völker, sondern auch für Israel grundlegend verändert. Das Heil ist durch Jesus gewirkt und allein bei ihm zu finden. Die alten Autoritäten haben ihre Führungsrolle verloren. Die Zerstörung Jerusalems und besonders des Tempels dient Matthäus als Beweis dafür. Wenn die ‚verlorenen Schafe des Hauses Israel‘ daraus die richtige Lehre ziehen, müssen sie sich zur Jüngergemeinde halten.“ 2 Vgl. Beare, Mt, 463. 3 Vgl. Sach 14,3f.: Der Ölberg ist der Ort, an dem Jhwh am „Tag der Schlacht“ gegen die Völker stehen wird. 4 Vgl. hierzu und zu den folgenden Analysen auch Smets, Fromme, 39-56. <?page no="82"?> 82 eivpe. h`mi/ n( po,te tau/ ta e; stai kai. ti, to. shmei/ on th/ j sh/ j parousi,aj kai. suntelei,aj tou/ aivw/ nojÈ Diese Fragen werden von den Jüngern gestellt und geben das Thema der Rede, aber auch die Rezeptionshaltung der Lesenden vor: Lässt sich die erste Frage auf die von Jesus angekündigte Tempelzerstörung beziehen, bringt die zweite Frage ohne zunächst erkennbaren Anlass ein neues Thema auf: Die Wiederkehr ( parousi,a ) Jesu und die Vollendung des Zeitalters, für deren Anbruch es ihrer Auffassung nach ein Zeichen geben muss. Das Substantiv parousi,a bezeichnet im paganen Raum „die Selbstbekundung von Gottheiten und - da von religiöser Aura umgeben - die Ankunft von Herrschern; entsprechend kann es für die Selbstoffenbarung des biblischen Gottes gebraucht werden (Jos. Ant 3,80.203; 9,55), folglich auch für das erhoffte Kommen des Erhöhten (vgl. bereits 1 Thess 2,19 u.ö.)“. 5 Parousi,a referiert also auf die Wiederkehr Jesu bzw. des Menschensohnes, 6 mit der seine endgültige Selbstoffenbarung einhergeht. Beide Aspekte umfasst der Begriff „Parusie“, der im Folgenden verwendet werden soll. 7 Das Ereignis der Parusie verbinden die Jünger in ihrer Frage eigenständig mit der suntelei,a tou/ aivw/ noj , der Vollendung am Ende der geschichtlichen Zeit. Diese Vollendung bringt, so wissen es die Lesenden bereits aus der allegorischen Auslegung des Gleichnisses vom Unkraut des Ackers, das Gericht des Menschensohnes mit sich (vgl. 13,39-43). Und es zeigt sich, dass die zuhörenden Jünger Jesus mit diesem Menschensohn identifizieren. Sie wissen, dass seine Wiederkehr, seine Selbstoffenbarung am Ende der Zeiten, eine Wiederkehr zum Gericht sein wird. Deshalb fragen sie nach einem Zeichen, das diese Wiederkehr ankündigen wird. Inwiefern diese zweite Frage mit der ersten in Verbindung steht, ist umstritten. M.E. sind beide Fragen eng zusammen zu denken 8 und endgeschichtlich zu deuten. Zwar liegt syntaktisch nahe, tau/ ta auf die von Jesus angekündigte Tempelzerstörung, also auf ein innergeschichtliches Ereignis, zu beziehen, so dass die erste Frage deutlich von der zweiten, endgeschichtlich orientierten Frage zu unterscheiden wäre. 9 Mit Blick auf die unter- 5 Fiedler, Mt, 363, Anm. 82; ähnlich Beare, Mt, 463. 6 Im Folgenden spricht „Jesus“ selbst nur noch von der parousi,a des Menschensohnes, wodurch Jesus und der Menschensohn erzählstrategisch in eins gesetzt werden. 7 „Die ‚Parusie des Menschensohnes‘ dient … im Kontext der matthäischen eschatologischen Rede als Metapher für das in naher Zukunft erwartete Ende der gegenwärtigen eschatologischen Entscheidungszeit. Sie ist das universale Offenbarwerden des Machtanspruchs Jesu als des kommenden Menschensohnes. ... Der aus einem hellenistischen Kontext bekannte Begriff wird … in den neutestamentlichen Schriften als terminus technicus für das Kommen Jesu am Ende der Zeit verwendet, ohne dass damit größere theologische Konnotationen verbunden werden.“ (Rölver, Existenz, 475f., Hervorhebung ebd.) 8 So z.B. Beare, Mt, 463; Heil, Parables, 178; Davies/ Allison, Mt 3, 337. 9 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 391; Luz, Mt 3, 419. <?page no="83"?> 83 schiedlichen Zeitperspektiven der intradiegetischen und der extradiegetischen Adressat_innen der Rahmenerzählung stellt sich jedoch heraus, dass sie auf ganz unterschiedliche Weise von der Frage nach der Tempelzerstörung betroffen sind: Die Jünger als intradiegetische, an der Erzählung beteiligte Figuren befinden sich zeitlich vor der Tempelzerstörung; ihnen stellt sich die Frage tatsächlich. Die extradiegetischen Adressat_innen - und mit ihnen die Lesenden - blicken dagegen auf die Zerstörung des Tempels zurück 10 und kennen daher ihren Zeitpunkt bereits. Dem entsprechend wird in der folgenden Rede der Schwerpunkt auf die zweite Frage gelegt, 11 die auch für die Gegenwart der Lesenden relevant ist. Zwar werden hier auch immer wieder „Zeitfragen“ verhandelt, aber stets in relativer Chronologie und nicht explizit auf die Tempelzerstörung bezogen. 12 In der Rahmenerzählung ist auch die Rezeptionshaltung, mit der die Rede zu hören ist, vorgegeben. Sie ergibt sich aus der Rolle der Jünger als Identifikationsfiguren der Lesenden. Indem sie Jesus die beiden Fragen stellen, wird er erzählstrategisch als Autoritätsfigur beglaubigt: Da die Lesenden wissen, dass die Zerstörung des Tempels, die Jesus hier ansagt, tatsächlich geschehen wird, erscheint auch alles, was er im Folgenden zum Thema seiner Wiederkunft und der Endzeit sagt, als glaubwürdig. 13 Die Jünger nehmen ihrerseits wie häufig im Evangelium die Rolle der Hörenden und Lernenden ein, wodurch Jesus wiederum als Lehrer auch für die Lesenden charakterisiert ist. 1.2 Die Struktur der Rede Auch die Struktur der Rede erschließt sich größtenteils aus den Fragen der Rahmenerzählung. Im Folgenden wird die Struktur thesenartig dargestellt. Die Erläuterung und Begründung der Thesen erfolgt im Laufe des exegetischen Teiles der Arbeit. Der erste Teil der Rede (24,4b-31) reagiert primär auf die Frage nach dem Zeichen der Parusie. In Form einer externen Prolepse spricht „Jesus“ implizit über die Zukunft, über die Zeit nach seiner Auferstehung, also über ein 10 Ebenso Frankemölle, Mt 2, 394; Rölver, Existenz, 473. 11 Vgl. Gundry, Mt, 476, sowie Frankemölle, Mt 2, 394, der betont: „Für die ersten Leser wird weiterhin hier die für sie relevante Frage nach der theologischen Interpretation der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem erneut beantwortet.“ (Hervorhebung A.S.) 12 Auch die zweite Frage wird in der Rede jedoch nicht präzise beantwortet, wie sich noch zeigen wird (vgl. Luz, Mt 3, 420). 13 Dies ist notwendig, weil „Jesus“ im Folgenden in externen Prolepsen Ereignisse vorhersagt, die jenseits der erzählten Zeit des Evangeliums liegen. Ob sie tatsächlich eintreten, kann von den Lesenden nicht überprüft werden. Dadurch wird die Glaubwürdigkeit „Jesu“ als Erzählstimme in Frage gestellt. <?page no="84"?> 84 Geschehen, das jenseits des zeitlichen Rahmens des Evangeliums liegt. 14 Die Zeichen, die er ankündigt, werden nicht unmittelbar auf die Parusie hindeuten. Für sie kann es nämlich im Voraus keine Zeichen geben, weil der Menschensohn ganz plötzlich kommen wird. So wird die Frage nach der Zeit hier nur durch relative Zeitangaben der Tempelzerstörung und der Parusie beantwortet. Die Begründung hierfür liefert der folgende Abschnitt (V.32-41), der den zweiten Hauptteil der Rede (24,32-25,30) einleitet und den bisherigen Handlungsstrang unterbricht. Hier werden Zeichen unmittelbar vor der Parusie angekündigt. In erster Linie wird jedoch betont, dass die Parusie bald und plötzlich kommen wird. Ihren genauen Zeitpunkt kennt jedoch nur der Vater, so dass „Jesus“ keine absoluten Zeitangaben machen kann und auch die Reichweite und der Umfang der Prolepse des ersten Hauptteils unbestimmt bleiben. Der zweite Hauptteil ist deutlich aus der zeitlichen Abfolge des ersten Hauptteiles herausgelöst, auch strukturierende Zeitangaben wie das charakteristische to,te fehlen beinahe ganz. 15 Er kommentiert und kontrastiert ihn durch Vergleiche und Gleichnisse. 16 Angesichts des nahen Endes geht es nicht darum, Zeitpunkt und Zeichen zu kennen, so wird es hier deutlich, sondern um Wachsamkeit und Vorbereitung angesichts des Gerichts, das mit ihm einhergehen wird. Das Thema der Wachsamkeit und Vorbereitung (V.42-44) wird durch drei zum Teil aufeinander bezogene Gleichnisse (V.45-25,30) illustriert. 17 Sie sind u.a. aufgrund der Scheidungs-, Belohnungs- und Bestrafungsmotive als Gerichtsgleichnisse erkennbar. Im dritten Teil der Rede (25,31-46) wird der erste, proleptische Handlungsstrang wieder aufgenommen. Hier erfolgt die Schilderung des Endgerichts als Höhepunkt und Ende aller Reden „Jesu“ im Matthäusevangelium, die wiederum enge Verbindungen zu den vorhergehenden Gleichnissen aufweist. 14 So auch Kingsbury, Mt, 107: “Indeed, in one case, Jesus’ eschatological discourse (chaps. 24-25), the whole of the speech envisages a different situation owing to the fact that it is prophetic in character and foretells the future (24: 3).” 15 In der Forschung ist es umstritten, ob die Zäsur nach dem ersten Teil nach V.31, 35, 36 oder 41 anzusetzen ist. Für Belege vgl. Luz, Mt 3, 403, zur Begründung meiner Entscheidung vgl. 2.3.1. 16 Vgl. das Modell 5 nach Nischik (2.3.2.2 im ersten Teil). 17 Vgl. Gnilka, Mt 2, 309. <?page no="85"?> 85 2 Analyse 2.1 Der Beginn der Rede (Mt 24,4b-28) Zu Beginn der Rede nimmt „Jesus“ auf die Zeit vor der Parusie Bezug sowie indirekt auf die Relevanz dieser Zeit für das Ergehen im Gericht. Dies geschieht im Rückgriff auf die Gerichtsankündigungen seiner bisherigen Reden, die eingeflochten sind in einen kontinuierlichen Zeitablauf 18 eschatologischer Ereignisse, die überwiegend der Bildwelt der Apokalyptik entstammen. Ein direkter Bezug auf das Gericht ist jedoch nicht gegeben, weshalb dieser Teil der Rede in der folgenden Analyse in relativer Kürze abgehandelt werden kann. Da „Jesus“ auf die Fragen der Jünger hin das Wort ergreift, wäre nun zu erwarten, dass er diese Fragen beantwortet. Stattdessen reagiert er mit einer Mahnung: ble,pete mh, tij u`ma/ j planh,sh| (V.4). Diese Mahnung erscheint angesichts der kommenden Endzeit, die in den Fragen angesprochen wurde, zunächst relevanter als Zeiten und Zeichen. „Jesus“ begründet seine Mahnung im Folgenden, indem er die Zeit vor der Parusie schildert (V.4-28). Er kündigt eine Reihe von Gefährdungen an, die noch nicht unmittelbar auf die Parusie hindeuten werden, sondern erst auf den Anfang der endzeitlichen „Wehen“: Das Auftreten falscher Christusse (V.5), Kriege, Hungersnöte und Erdbeben (V.6f.). 19 Auch die Christusgläubigen werden in Bedrängnis kommen und Bedrohungen von außen wie von innen ausgesetzt sein (V.9-12). Wie bereits in der zweiten Frage wird hier auf die Gleichnisrede Mt 13 angespielt: Im Gleichnis vom Sämann (Mt 13,18-23) wird ein Mensch, bei dem „auf das Steinige gesät ist“ (V.20) als jemand bezeichnet, der zwar „das Wort hört und es sogleich mit Freuden aufnimmt, jedoch, wenn Bedrängnis entsteht ( genome,nhj de. qli,yewj ) oder er um des Wortes Willen verfolgt wird, er sogleich Anstoß nimmt“ ( skandali,zetai ; V.21b; vgl. 24,9f.). Es geht jedoch darum, das Wort nicht nur zu hören, sondern es auch zu verstehen und Frucht zu bringen (13,23). Genau dies wird aber, so ist 24,9-12 zu verstehen, in der 18 Dieser Zeitablauf ist durch wiederholtes to,te markiert (V.9.10.14) sowie durch die fortschreitenden Zeitangaben „das ist noch nicht das Ende“ bzw. „dann wird das Ende kommen“ (V.13.14). Die Schilderung der Ereignisse erfolgt dennoch nicht streng chronologisch (vgl. z.B. V.9). 19 Bereits an dieser Stelle erfolgen Anspielungen auf das alttestamentliche Motiv des Tages Jhwhs, v.a. durch intertextuelle Bezüge auf Jes 13, wie sie in V.29-31 in besonders ausgeprägtem Maße auftreten. Bereits hier findet sich das Motiv des shmei/ on (V.2) ebenso wie das Motiv des Krieges (V.4-6.15-18; vgl. Mt 24,6f.), des Kommens aus den vier Himmelsrichtungen (V.5; vgl. Mt 24,31) sowie die Verwendung von Geburtsmetaphorik zur Schilderung der Bedrängnisse (V.8.19 sowie Jes 26,17f.; äthHen 62,4; 4 Esr u.ö.). <?page no="86"?> 86 Endzeit gerade nicht der Fall sein, sondern innerhalb der Gemeinschaft der Christusgläubigen werden viele wegen der Bedrängnisse Anstoß nehmen. Solche Bedrohungen von außen gehören jedoch zum Jüngersein dazu, das wissen die Lesenden aus der Aussendungsrede an die Zwölf (Mt 10,21- 23), die in V.9-11.13 zitiert wird. Bereits hier wird das te,loj mit dem Kommen des Menschensohnes zusammengedacht und denjenigen, die beharrlich sind und die Angriffe aushalten, endzeitliche Rettung und Heil 20 verheißen. In beiden hier aufgerufenen Intratexten spielt der lo,goj th/ j basilei,aj (13,19; vgl. 10,7) eine zentrale Rolle. Die Jünger sind ausgesandt, um ihn zu verkündigen (10,7), denn das Wort zu hören, zu verstehen und zu tun, d.h., Frucht zu bringen, ist heilsrelevant (13,23; vgl. auch 7,24; 9,37). Von hier aus ist auch V.14 zu verstehen: Erst wenn das Evangelium, d.h. die Botschaft von der basilei,a , in der ganzen oiv koume, nh , der ganzen bewohnten Welt, verkündigt worden ist, wird das Ende kommen, also erst dann, wenn alle e; qnh dieses Wort gehört haben werden und damit Gelegenheit gehabt haben werden, sich zu ihm zu verhalten, d.h., es anzunehmen oder abzulehnen. Die in Dan 9,27; 11,31; 12,11 geschilderten „Gräuel der Verwüstung“ deutet „Jesus“ auf die Tempelzerstörung. 21 Damit beantwortet er nicht die Frage nach ihrem Zeitpunkt, sondern setzt wiederum einen eigenen Schwerpunkt, sagt, was für die Menschen in Judäa zu tun sein wird, wenn sie eingetreten ist: Die Flucht in die Berge anzutreten (V.16), und zwar unverzüglich (V.17f.), weil die Bedrängnis ( qli/ yij ) schwerer sein wird als alles bisher Bekannte (V.19-21). Damit ist auch gesagt, dass mit der Zerstörung des Tempels die Geschichte nicht an ihr Ende kommen wird. 22 Sie ist vielmehr als Vorzeichen des Gerichts zu verstehen. 23 Schon an dieser Stelle gibt es einen Hinweis auf die eschatologische Unterscheidung zwischen den Menschen, nämlich den Verweis auf die Auserwählten. Um ihretwillen werden die Tage der Bedrängnis abgekürzt werden, so dass noch die Chance auf Rettung besteht (V.22). Wer die Auserwählten sind, wird erst in V.31 deutlicher. Hier warnt „Jesus“ lediglich vor falschen Christussen und falschen Propheten, die die Auserwählten 20 Swthri,a wird im NT zumeist in dieser Bedeutung gebraucht; vgl. Schelkle, swthri,a , 785. 21 Das Danielbuch rekurriert an dieser Stelle auf die Schändung des Tempels 167 v. Chr. durch Antiochus IV. Epiphanes; vgl. Fiedler, Mt, 364; Frankemölle, Mt 2, 400, anders Davies/ Allison, Mt 3, 345f. 22 Bzw. aus der Sicht der Lesenden: gekommen ist. 23 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 395. Vgl. auch die zentrale These Rölvers: Die Glieder der matthäischen Gemeinde - sie bestimmt Rölver als m.E. recht eng gefassten Adressat_innenkreis des Matthäusevangeliums - stehen „zwischen den Gerichten“: Sie blicken auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels zurück und fassen diese „traumatische Verlusterfahrung“ als Gottes innergeschichtliches Gericht über sein Volk auf. Von diesem Gericht unterscheiden sie das Gericht des Menschensohnes am Ende des Äons, das sie in naher Zukunft erwarten (vgl. Rölver, Existenz, 554). <?page no="87"?> 87 durch ihre Worte und Taten verführen könnten (V.24-26; vgl. 7,15-20). Der Verweis auf sie ist eine erste indirekte Antwort auf die Frage der Jünger nach Zeichen der Parusie: Die Wunder, die die Pseudopropheten tun und die Hinweise, die sie geben, weisen nicht auf die Parusie hin. Vielmehr kommt der Menschensohn, so sagt „Jesus“ es an, wie ein Blitz vom Himmel (V.27); er kommt plötzlich und universal sichtbar. Dann muss niemand mehr darüber spekulieren, wo der Menschensohn sich befindet, wie die Pseudopropheten es tun. 24 Denn obwohl die Parusie unerwartet kommt und ihr Eintreten unberechenbar ist, wird ihr Kommen letztlich eindeutig und unmissverständlich sein. 25 Weil es aber nicht rechtzeitig vorher Zeichen geben wird, ist die Zeit vor dem Ende so wichtig. Die Schilderung dieser Zeit wirkt zudem als retardierendes Moment, das Spannung aufbaut und die Lesenden motiviert, den Bezug auf ihre jeweilige Gegenwart herzustellen. Dann sprechen auch die Mahnungen „Jesu“ zur Vorsicht und zum Durchhalten (V.4.13.16-18.23.26) noch einmal deutlicher über den Kreis der Jünger hinaus. Der explizite Bezug auf das Gericht erfolgt im ersten Teil der Rede erst ganz am Schluss. Er zieht sich durch die ganze folgende Rede. Daher werden die nun folgenden Perikopen gründlicher zu analysieren und auf ihre Gerichtsvorstellungen hin zu befragen sein. Besonderer Wert wird dabei auf narratologische Analysen gelegt, die Textstrategien und damit Rezeptionspotentiale aufzeigen sollen. Zentral ist dabei v.a. die Analyse der Handlung sowie der Charakterisierung der Personen. Auch intertextuelle Bezüge zu alttestamentlichen und frühjüdischen Texten spielen, soweit sie für das Gerichtsthema relevant sind, eine Rolle. Gleiches gilt für intratextuelle Bezüge innerhalb des Matthäusevangeliums. 2.2 Das Kommen des Menschensohnes (Mt 24,29-31) 2.2.1 Einleitung V.29-31 sind als indirekte Antwort auf die Frage der Jünger nach dem shmei/ on th/ j sh/ j parousi,aj (V.3) zu verstehen. Indem „Jesus“ diese Frage mit der Ankündigung des shmei/ on tou/ ui`ou/ / tou/ avnqrw,pou (V.30) beantwortet, 24 Ebenso Heil, Parables, 183. 25 Vgl. Hahn, Rede, 119; Müller, Aas, 238. Die Unübersehbarkeit wird m.E. auch durch den folgenden, in der Forschung vielfach diskutierten V.28 unterstützt. Als Vergleich mit der Tierwelt (vgl. auch Hiob 39,26-30) entspricht er alltäglichen Erfahrungen der Lesenden: „Wie den Geiern ein Kadaver nicht verborgen bleibt, den Menschen kein den Himmel erhellender Blitz, so wird auch die Ankunft des Menschensohnes unübersehbar sein.“ (Frankemölle, Mt 2, 403). Aber auch die Deutung Hahns, dass alle Menschen sich - wie die Geier um das Aas - versammeln werden, ist m.E. nicht unmöglich (vgl. Hahn, Rede, 119). Zu weiteren Deutungen des Verses vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 355f. <?page no="88"?> 88 werden Jesus und der Menschensohn zudem erzählstrategisch identifiziert (vgl. auch Mt 16,13.16). 26 Die Parusieschilderung setzt sich aus Zitaten prophetischer und apokalyptischer Texte zusammen. Diese alttestamentlichen und frühjüdischen Intertexte haben sämtlich Gerichtsvorstellungen zum Thema und spielen diese in die Endzeitrede ein. Sie sind das an dieser Stelle abgerufene enzyklopädische Wissen der Lesenden und damit Verstehensvoraussetzung für V.29-31. Das Hauptinteresse gilt im Folgenden der Frage, welche Gerichtsvorstellungen in den Mt-Text eingespielt werden und auf welche Weise sie dort sinnbereichernd wirken, d.h., welche Funktionen sie einnehmen. Zwischen V.28 und 29 ist eine deutliche formale und inhaltliche Zäsur auszumachen: Die Zeitangabe Euvqe,wj de. meta .... (V.29) signalisiert gegenüber der vorherigen Schilderung einen Neueinsatz. Dieser ist auch sprachlich markiert: Dominierten bisher hypotaktische Satzstrukturen, finden sich hier parataktische, durch kai, koordinierte Hauptsätze im Futur, die zunehmend länger werden. Was nun angesagt wird, wird unmittelbar im Anschluss 27 an die geschilderten Bedrängnisse eintreten. Unter dem Begriff der qli/ yij werden hier alle in V.4-28 vorausgesagten Ereignisse subsumiert. 28 Durch das völlige Fehlen von Imperativen - im Gegensatz zur bisherigen Rede - wird deutlich, dass die in V.29-31 vorhergesagten Ereignisse von menschlicher Seite in keinerlei Weise beeinflussbar sein werden, weil nun göttliches Handeln folgen wird 29 - die Passivformen sind als passivum divinum zu verstehen. 2.2.2 Mt 24,29-31: Analyse und Intertexte 2.2.2.1 Analyse der Handlung und der Struktur Bei dem angesagten Geschehen handelt es sich um kosmische Veränderungen: die Verfinsterung von Sonne und Mond, das Fallen der Sterne, die Erschütterung der Kräfte des Himmels (V.29), und daran anschließend das Erscheinen des shmei/ on tou/ ui`ou/ / tou/ avnqrw,pou , bei dem die Stämme der Erde trauern werden (V.30). Bei all diesen Handlungsfunktionen handelt es sich aus narratologischer Perspektive um „Satelliten“. Sie bringen die Handlung nicht im eigentlichen Sinne voran, sondern bereiten die nun folgenden drei Handlungskerne vor: Die Stämme werden den Menschensohn kommen 26 Vgl. auch Rölver, Existenz, 475. Bereits V.27 - hier wird die Parusie des Menschensohnes in Opposition zu den Zeichen und Wundern der Pseudopropheten mit einem Blitz verglichen - kann als indirekte Antwort auf die Frage der Jünger verstanden werden. 27 Mit Luz, Mt 3, 432, Anm. 15; Frankemölle, Mt 2, 403. 28 Ebenso Garbe, Hirte, 158. 29 Ebenso Luz, Mt 3, 432f. Auch wird durch die fünfmalige Verwendung des Substantivs ouv rano, j betont, dass sich das Geschehen nicht wie die qli/ yij auf der Erde unter den Menschen ereignen wird, sondern am Himmel. <?page no="89"?> 89 sehen, er wird seine Engel aussenden, und diese werden die Auserwählten von den Enden der Erde versammeln (V.30). Die statischen Elemente, die Indizien, illustrieren diese Handlungskerne und dienen v.a. der Charakterisierung des Menschensohnes als machtvolle Gestalt von universaler Bedeutsamkeit: 30 Er wird auf den Wolken des Himmels mit du,namij und do,xa kommen (V.30) und seine Engel mit Trompetenschall aussenden (V.31). Die genannten Handlungselemente sollen im Folgenden einer genaueren Analyse unterzogen werden, v.a. auch in ihren intertextuellen Bezügen. 2.2.2.2 Die kosmischen Veränderungen (Mt 24,29) Euvqe,wj de. meta. th.n qli/ yin tw/ n h`merw/ n evkei,nwn o` h[lioj skotisqh,setai( kai. h` selh,nh ouv dw,sei to. fe,ggoj auvth/ j( kai. oi` avste,rej pesou/ ntai avpo. tou/ ouvranou/ ( kai. ai` duna,meij tw/ n ouvranw/ n saleuqh,sontaiÅ Die Ansage der Parusie des Menschensohnes beginnt mit der Ankündigung kosmischer Veränderungen; der Verdunkelung von Sonne und Mond, dem Fallen der Sterne und der Erschütterung der Himmelskräfte. Ihre universale Sichtbarkeit wird durch die externe Fokalisierung betont. Die summarischen, stark gerafften Ansagen werden durch Intertexte mit Inhalt gefüllt, die erstmals das Thema „Gericht“ in die Endzeitrede einspielen. Der Vers weist Einzeltextreferenzen auf mehrere Prätexte und zudem auf verschiedene Textstellen derselben auf; es handelt sich also um eine kontaminatorische Relation. Aus der Fülle dieser Intertexte werden im Folgenden nur diejenigen näher behandelt, deren Relation zu Mt 24,29 die größte intertextuelle Intensität zukommt: Jes 13,10; 31 34,4 und Joel 3,15 LXX. Sie alle haben die Ansage des Tages Jhwhs zum Thema, spielen jedoch jeweils eigene Schwerpunkte in den Mt-Text ein. Die Parusie des Menschensohnes wird somit als Tag Jhwhs stilisiert. 30 Ebenso Davies/ Allison, Mt 3, 362: “Mt raises the divine majesty of the Son of Man to the greatest heights possible.” 31 Wie gesehen, bezieht sich Mt 24 anagrammatisch, also mehrfach, auf Jes 13, so dass eine hohe Strukturalität vorliegt. Diese Bezüge sind jedoch sehr schwach markiert und zudem mehrdeutig. <?page no="90"?> 90 Jes 13,10 LXX ooi` ga.r aavste,rej t tou/ ouvranou/ kai. o` VWri,wn kai. pa/ j o` ko,smoj tou/ ouvranou/ to. fw/ j ouv dw,sousin kai. skotisqh,setai tou/ h`li,ou avnate,llontoj kai. h` selh,nh ouv dw,sei tto. fw/ j a auvth/ j) Mt 24,29 Euvqe,wj de. meta. th.n qli/ yin tw/ n h`merw/ n evkei,nwn o` h[lioj s skotisqh,setai( kai. h` selh,nh ouv dw,sei to. fe,ggoj a auvth/ j( kai. oi` avste, rej pesou/ ntai avpo. tou/ oouvranou/ / ) Der intertextuelle Bezug von V.29b-d auf Jes 13,10 LXX ist implizit durch zahlreiche Stichworte sowie durch ihre syntaktische Ähnlichkeit markiert: Beide Verse enthalten kurze, parataktische, durch kai, koordinierte Hauptsätze, wobei auf kai, , jeweils direkt und dadurch betont das Subjekt, nämlich der jeweilige Himmelskörper, folgt. In beiden Texten wird ein Szenario der Verfinsterung entworfen. Reihenfolge und Rolle der einzelnen Himmelskörper differieren jedoch. 32 Durch die pointierten Allusionen auf V.10 ist die Selektivität des Bezuges auf Jes 13 hoch. Der Kontext, der aufgrund dessen mit einzubeziehen ist, ist die Ansage des Tages Jhwhs (V.6.9). Sie wird als Vision Jesajas gegen Babylon eingeführt (V.1) und auch teilweise durch die Schilderung von Kriegshandlungen gegen die Babylonier und die Verwüstung des Landes als eine solche entfaltet (13,17-14,23). Hinzu kommt jedoch die Ansage, dass die ganze oivkoume,nh durch Krieg zerstört (V.5) und unbewohnbar gemacht werden wird und dass die Sünder_innen aus ihr ausgerottet werden (V.9). Die intertextuelle Relation zu Jes 13,10 fungiert in Mt 24,29 als Themaillustration: Durch sie wird die Zeit nach der qli/ yij als Anbruch des Tages Jhwhs stilisiert. 33 Diese traditionelle Vorstellung hat eine Unheils- und eine Heilsdimension; in Jes 13 überwiegt jedoch die Unheilsdimension, 34 die damit auch für Mt 24 die größte Rolle spielt. Das bei Jes ausgemalte Vernichtungsgericht wird plötzlich und in naher Zukunft hereinbrechen (V.6.22). Dies verstärkt bei Mt den Eindruck der Unausweichlichkeit und der Machtlosigkeit des Menschen diesem Gesche- 32 Spricht „Jesaja“ von den Sternen des Himmels, dem Orion, dem Kosmos des Himmels, die kein Licht geben werden, und erst dann von Sonne und Mond, beginnt „Jesus“ mit Sonne und Mond, spricht dann von den Sternen - und schließlich von den Himmelskräften (V.29e). Auffallend ist die Steigerung gegenüber Jes: Auch die Sonne wird verfinstert werden. 33 Ebenso du Toit, Herr, 223. 34 Vgl. zu den im Folgenden genannten Kennzeichen dieser Unheilsdimension von Tag- Jhwhs-Darstellungen Wendebourg, Tag, 63-69, die hierfür jedoch die Bezeichnung „Gerichtsdimension“ verwendet. Dies impliziert m.E., „Gericht“ und „Heil“ als zwei entgegengesetzte Kategorien zu betrachten. Das Gegenteil ist der Fall: Das Heil, das der Tag Jhwhs bringt, hat das Gericht zur Voraussetzung (vgl. die oben zitierte These bei Wolter, „Gericht“, 42f.). <?page no="91"?> 91 hen gegenüber, der bereits durch die erwähnten sprachlichen Mittel wie dem Fehlen von Imperativen erweckt wird. Zu den in V.29 zitierten kosmischen Erscheinungen kommen weitere hinzu (V.10.13), so dass der Eindruck der „unwiderstehliche[n] Macht Jhwhs“ sowie „das Element … der Lebendigkeit, Dynamik, ja, Leidenschaft Jhwhs“ noch stärker zum Tragen kommt. 35 Das Szenario weist sowohl partikulare als auch universalistische Züge auf. Einerseits wird konkret die Verwüstung Babylons angesagt (V.17-22), andererseits die Zerstörung der ganzen oivkoume,nh (V.5.9-11.13). 36 Beide Perspektiven erhalten ihren „inneren Zusammenhang ... durch ihre Bezogenheit auf Jhwh: Zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Frontstellungen artikulieren sie alle die Erwartung, daß er seine Herrschaft an seinem Tag endgültig zur Geltung bringen werde“. 37 Bei Mt tritt die partikulare Perspektive in den Hintergrund. Der u.a. durch die allgemeine Sichtbarkeit der Ereignisse hervorgerufene Eindruck der Universalität des angesagten Bedrohungsszenarios wird dagegen durch den Intertext noch verstärkt. Die kosmischen Veränderungen, die bei Jes als ein integraler Teil des Tages Jhwhs angekündigt werden, sind hier nur seine Vorboten. 38 Auch der Zusammenhang zwischen gegenwärtigem Tun und zukünftigem Ergehen wird bei Jes thematisiert und spielt damit bereits an dieser Stelle der Endzeitrede Aspekte eines Beurteilungsgerichtes ein: Die Sünder_innen werden ausgerottet (V.9), ebenso die Sünden ( a`marti,ai ) 39 der Gottlosen und die Überheblichkeit ( u[brij ) 40 der Gesetzlosen und Hochmütigen (V.11). 41 35 Jeremias, Theophanie, 163f. Die genannten Züge sind typisch für Schilderungen des Tages Jhwhs als Gerichtstag, aber auch für Theophanieschilderungen. 36 Die Unverbundenheit beider Dimensionen lässt sich mit Jeremias literarkritisch erklären; demzufolge „sprechen wichtige Gründe für die Annahme, dass in Jes 13 ein genereller Völkertext mit universaler Ausrichtung (V 2-16) sekundär für eine Untergangsankündigung des Erzfeindes Babel (V. 1.17-22) genutzt worden ist. Diese Sicht impliziert allerdings, ... dass Jes 13* von vornherein nicht als eigenständiger, in sich abgeschlossener Text konzipiert war, sondern als programmatische Einleitung einer Sammlung von Völkersprüchen (Jes 13-23*) dienen sollte“ (Jeremias, Tag, 133). Da der Text aber vom Verfasser und von den ersten Leser_innen des Matthäusevangeliums wahrscheinlich bereits in dieser Zusammenstellung vorgefunden wurde, berührt dieses Problem die Frage nach Intertexten nur am Rande. 37 Wendebourg, Tag, 74. 38 Vgl. du Toit, Herr, 223. 39 „ a``marti,a bedeutet zunächst das irrtümliche oder/ und schuldhafte Verfehlen (eines Zieles) im weitesten Sinn, sowohl als Tat wie auch als ihre Beschaffenheit. … [I]n LXX … ist das religiöse Moment maßgebend: ‚Sünde’ als Schuldigwerden/ -sein vor Gott und den Mitmenschen.“ (Fiedler, a``marti,a , 158). 40 Die Erniedrigung der Hochmütigen ist bei Protojesaja ein zentraler Gerichtstopos, der darin begründet liegt, dass nur Jhwh Hoheit und Erhabenheit zukommt; vgl. u.a. Jes 2,9-22 (vgl. Beuken, Jesaja 13-27, 72f.). 41 Auch in Mt 13,41f. stehen beide Aspekte, die Vernichtung des Anstößigen, zum Abfall Verführenden ( ska,ndala ) und die Vernichtung derer, die Unrecht tun, nebeneinander. <?page no="92"?> 92 Gemeinsam ist ihnen auch die Vorstellung einer Gruppe, die von den Ereignissen verschont wird. Die „Übriggebliebenen“ jedoch werden orientierungslos umherirren, weil niemand sie sammelt ( suna,gw ; Jes 13,12.14), während die „Auserwählten“ von den Engeln des Menschensohnes gesammelt werden ( evpisuna,gw ; Mt 24,31). Sie sind vom Gericht ausgenommen - so wie das Volk Israel (Jes 14,1), dem durch das Gericht ein Neuanfang ermöglicht wird. Es handelt sich bei Jes 13 somit um die Ansage eines innerweltlichen Gerichts, in dessen Folge die Welt weiter bestehen wird und sich die Machtverhältnisse zugunsten Israels verkehren werden (V.11.19; 14,2.5f.). In der Endzeitrede wird dagegen die „Vollendung des Zeitalters“ bzw. das „Ende“ angesagt, 42 was auf eine eschatologische Gerichtsvorstellung hindeutet. Mit der Veränderung der Machtverhältnisse ist bereits die Heilsdimension 43 des Tages Jhwhs angesprochen. Er wird für das Volk Gottes als Ausgangspunkt einer erneuerten Gottesbeziehung verheißen: Jhwh wird sich erbarmen, Israel erneut erwählen und in sein Land zurückkehren lassen (14,1f.). Diese Heilsdimension ist bei Mt aufgrund der Endzeitlichkeit der hier ausgemalten Gerichtsvorstellung anders gelagert und wird erst in der Endgerichtsszene 25,31-46 deutlicher - durch den Intertext wird diese Dimension jedoch bereits angedeutet. Im Mittelpunkt der intertextuellen Relation zwischen Jes und Mt stehen durch die explizite Bezugnahme auf die Verfinsterungstopik jedoch die grundlegenden kosmischen Veränderungen. Das eingespielte Szenario dient auch der Figurencharakterisierung: Die Machtposition des Menschensohnes wird per Analogie zu Jhwh, dessen machtvolles Handeln in Jes 13 dargestellt ist, verstärkt. Eine weitere Analogie besteht zwischen den Erzählstimmen „Jesus“ und „Jesaja“, aufgrund derer „Jesus“ hier ebenfalls als Prophet des Gerichts erscheint. Der gravierende Unterschied ist dabei jedoch, dass er nicht vom Handeln Jhwhs als eines anderen spricht, sondern sich selbst mit dem kommenden Menschensohn erzählstrategisch parallelisiert. Seine indirekte Charakterisierung als Prophet wird dadurch verstärkt, dass auch die weiteren in Mt 24,29 alludierten Intertexte aus der LXX prophetische Texte sind. Hierbei handelt es sich um Jes 34,4 und Joel 3,51 LXX, die ebenfalls Ansagen des Tages Jhwhs zum Thema haben. Zwar ist die Intensität ihrer intertextuellen Relation zu Mt 24,29 insgesamt geringer als die von Jes 13,10, aber sie spielen über Jes 13 hinaus weitere Aspekte in den Text ein, die im Folgenden zur Sprache kommen werden. 42 Gnilka Mt 2, 329, hat die zutreffende Beobachtung gemacht, dass die kosmischen Begleitumstände in den atl. Texten als Metaphern gebraucht sind, dass hier die Weltordnung nicht zusammenbricht, in der Apokalyptik wie auch in der Endzeitrede jedoch genau dies der Fall ist. 43 Vgl. zur Heilsdimension der Tag-Jhwhs-Vorstellung Wendebourg, Tag, 69f. <?page no="93"?> 93 Jes 34,4 LXX kai. e`ligh,setai o o` ouvrano.j w`j bibli,on kai. pa,ntat ta. a; stra p pesei/ tai w`j fu,lla evx avmpe,lou kai. w`j pi,ptei fu,lla aavpo. sukh/ j) Mt 24,29 ... kai. ooi` avste,rej p pesou/ ntai avpo. ttou/ ouvranou/ ( kai. ai` duna,meij tw/ n ouvranw/ n saleuqh,sontaiÅ Mt 24,32 VApo. de. th/ j s sukh/ j ma, qete th. n parabolh,n ... Die Erwähnung der vom Himmel fallenden Sterne stellt eine implizite Markierung der intertextuellen Relation zu Jes 34,4 dar. Hier ist nicht wie in Mt 24,29 und Jes 13,10 von oi` avste,rej (die einzelnen Sterne), sondern von ta. a; stra (die Gestirne/ Sternbilder) die Rede. 44 Die Selektivität der intertextuellen Relation ist ähnlich hoch wie bei Jes 13, und auch der damit eingespielte Kontext (Jes 34) ist vergleichbar: Es handelt sich um eine Ansage des Grimms ( qumo,j ) und Zornes ( ovrgh, ) Jhwhs, der über alle Völker ( pa,nta ta. e; qnh ) kommen wird (vgl. Mt 25,32), um sie zu vernichten und zum Schlachten auszuliefern (V.2). Bestandteil dieser Ansage sind wiederum die erwähnten kosmischen Veränderungen (V.4). Somit dient die intertextuelle Relation wiederum der Themaillustration: Einige typische Merkmale der Tag-Jhwhs-Vorstellung bewirken die Verbindung mit dieser. Im Vordergrund steht wiederum Kriegsmetaphorik (V.2.3.5), die sich im Vergleich zu Jes 13 mehr auf Jhwh selbst fokussiert: Jhwh beauftragt keine Völker mit der Zerstörung des Landes (vgl. 13,4f.), sondern sein eigenes Schwert wird auf Edom herabfahren. 45 Neben die universale Ausrichtung (V.2) tritt also eine partikulare Perspektive. Erst in dieser Perspektive ist explizit vom Gericht ( kri,sij ) die Rede (V.5). Es vollzieht sich in Gestalt einer Schlacht, die auf ein Opferfest anspielend geschildert wird (V.2.6-8) - ein weiteres Merkmal der Tag-Jhwhs-Vorstellung. 46 Hier ist jedoch nicht vom Tag Jhwhs die Rede, sondern spezifischer von der h`me,ra ))) kri,sewj kuri,ou (V.8). Dieses Gericht ist als innerweltliches Vernichtungsgericht gedacht, das radikaler und brutaler ausgemalt wird als bei Jes 13 44 To. a; stron kann allerdings auch einen einzelnen Stern bezeichnen; der Bedeutungsunterschied ist also nicht sehr groß, vgl. Bauer/ Aland, Wörterbuch, 237. 45 Die Ankündigung des Schwertgebrauchs ist mit einem kurzzeitigen Subjektwechsel verbunden: Jhwh selbst kündigt an, dass er mit dem Schwert kämpfen wird. Der Gebrauch des Schwertes durch Jhwh ist mithin als Metapher für das Vernichtungsgericht Jhwhs zu verstehen. Das Volk Edom, über Jahrhunderte Israels Erzfeind, steht in Jes 34 für alle Völker, die sich jetzt oder zukünftig gegen Jhwh auflehnen und entwickelt sich daher „zu einer Chiffre für alle tyrannischen Mächte, die sich Jhwh am Zion widersetzen“ (Beuken, Jesaja 28-39, 306, Hervorhebung ebd.). 46 Vgl. Wendebourg, Tag, 35.64. <?page no="94"?> 94 (V.3.6f.9f.): die Vernichtung von Land und Menschen ist total, die Möglichkeit der Rettung Einzelner besteht nicht. Israel jedoch wird nicht betroffen sein. Vielmehr erscheint die Rache ( avntapo,dosij ) 47 für den Zion als Motivation für das Gericht Jhwhs (V.8), das für Israel demnach wiederum eine Heilsperspektive bedeutet: Das Gericht über die Völker bedeutet Rettung für Israel (V.4), das sich sammeln und zum Zion zurückkehren wird zur ewigen Freude (V.10; vgl. Mt 25,21.23) - hier verbindet sich mit der innerweltlichen Perspektive eine endzeitliche. 48 Mit diesem Mit- und Ineinander von Heils- und Unheilsperspektive im Intertext Jes 34 geht eine ambivalente Charakterisierung Jhwhs einher: einerseits verschafft er Israel Recht und sammelt es, andererseits vernichtet er die Völker, liefert sie zum Schlachten aus und macht das Land öde. Diese Ambivalenz wird durch die intertextuelle Relation auf den Menschensohn übertragen und lässt sein Gerichtshandeln als nicht zu überschätzende Gefahr für die Völker erscheinen. Joel 3,15 LXX oo` h[lioj kai. h` selh,nh suskota,sousin kai. ooi` avste,rej du,sousin f fe, ggoj auvtw/ n Mt 24,29 … o` h[lioj skotisqh, setai( kai. h` selh,nh ouv dw,seito. f fe, ggoj auvth/ j( kai. o oi` avste, rej pesou/ ntai avpo. tou/ ouvranou/ … Die Reihenfolge, in der die Gestirne aufgezählt werden, verweist auf einen weiteren Intertext: Joel 3,15 LXX 49 formuliert wie Mt Sonne - Mond - Sterne, 47 „Der Ursprung des Begriffs ‚Rache‘ liegt in der Rechtssphäre, wird jedoch anders als in unserer Kultur verstanden. Es handelt sich um eine Handlung, die die Wiedergutmachung schweren Unrechts intendiert. Desweiteren geht es um eine Strafmaßnahme anderer für ein Verbrechen, dass (sic! ) Personen begangen haben, die nicht im juristischen oder tatsächlichen Einflussbereich des Benachteiligten stehen, sodass dieser nicht eigenhändig für die Wiederherstellung des Rechts eintreten kann. Aus diesem Grund ereignet sich ‚Rache’ zwischen Gemeinschaften, die (noch) keine gemeinsame richterliche Instanz haben. … Vor diesem Hintergrund ist das Motiv der ‚Rache’ JHWHs gegen die Feinde Israels verständlich. Es handelt sich um ein übermächtiges Eingreifen JHWHs, das durch sein Bemühen um Gerechtigkeit und seine Verbundenheit mit seinem Volk motiviert ist, wodurch er die gestörte Rechtsordnung der Völker untereinander wiederherstellt … Somit ist auch der zusammengesetzte Begriff ‚ein Tag der Rache’ … eine nähere Auslegung des häufiger belegten Begriffs ‚der Tag JHWHs’ … Es handelt sich bei dieser Zeitangabe um die Erwartung von Gottes Intervention in die Geschichte, die ... in nachexilischer Zeit ... der Intention geschuldet ist, sein Volk zu retten.“ (Beuken, Jesaja 28-39, 318). 48 Vgl. Beaton, Isaiah, 75. 49 Das Motiv erscheint zudem in beinahe identischer Form in Joel 2,10 (vgl. auch 2,31), wo es jedoch ta. a; stra statt oi` avste,rej heißt. Häufig wird literarkritisch zwischen Joel 1f. und 3 differenziert; zum Gewachsensein des Joelbuches vgl. Beck, Tag, 199-201. Die Diskussion, ob der Einfluss der Jesaja- oder der Joelstellen größer ist (vgl. die Darstellung der Kontroverse bei Reichhardt, Kommen, 92f.), ist m.E. zweitrangig und wird zudem dadurch relativiert, dass Joel u.a. an dieser Stelle nachweislich literarisch <?page no="95"?> 95 fe,ggoj statt wie Jes fw/ j und o` h[ lioj im Nominativ. Auch hier ist der Kontext wegen der hohen Selektivität mit einzubeziehen. Es handelt sich bei Joel 3 um eine Gerichtsansage Jhwhs über alle Völker ( pa,nta ta. e; qnh ; V.12) im Tal Joschaphat, 50 dem Tal des Gerichts ( koila,di th/ j di,khj ; V.14). Dieses Gericht hängt zeitlich zusammen mit den Tagen, wenn Jhwh „die Gefangenschaft Judas und Jerusalems zurückführen“ wird (4,1). Seine Schilderung dient in Mt 24,29 der Themaillustration: Jhwh wird die Völker zum Gericht sammeln ( suna,gw ; V.2). Das Gericht wird sich gegen die Völker, die sich an Israel und dem Tempel vergangen haben, richten, und zwar zur Zeit der Rückführung Israels aus der Gefangenschaft und Zerstreuung (V.3.5f.). Obwohl diese Völker einmal mit Namen genannt werden: Tu,roj kai. Sidw.n kai. pa/ sa Galilai,a avllofu,lwn (V.4), ist das angesagte Geschehen doch als ein universales zu verstehen - alle Völker (V.1.12) werden versammelt werden. Es handelt sich wiederum um eine Ankündigung des Tages Jhwhs (V.14) mit kosmischen Erscheinungen (V.15), Kriegs- und Erntemetaphorik (V.9-11.13) sowie der Umkehrung der Verhältnisse zugunsten der Israelit_innen: Sie, die von den Völkern an die Griechen verkauft worden waren, werden nun ihrerseits die Angehörigen der Völker verkaufen (V.6-8), denn Jhwh wird sie beim Gericht über die Völker verschonen und stärken (V.16), das Land fruchtbar machen, Ägypten und Edom aber verwüsten (V.18) und auf dem Zion wohnen (V.21). 51 Auch hier handelt es sich also um ein innergeschichtliches Gericht, jedoch mit eschatologischer Perspektive, das über die Völker ergeht und für Israel Heil bedeutet. Jedoch kennt das Joelbuch auch eine Tag-Jhwhs-Vorstellung, die sich neben der Völkerwelt auch gegen Israel richtet, auf die sich Mt 24,29 ebenfalls intertextuell bezieht (Joel 2,10 LXX). In sehr ähnlicher Motivik wird in Joel 2 ein Bedrohungsszenario entworfen, das in der rhetorischen Frage gipfelt, wer für den Tag Jhwhs tauglich sein wird (V.11) - sie impliziert die Antwort „niemand“. 52 Daher ergeht im Folgenden an Israel die Aufforderung zur Umkehr, zum Fasten, Weinen und Wehklagen (V.12), zu Fasten und Gottesdienst (V.15) während der bis zum Anbruch des „Tages“ noch verbleibenden Zeit. Abschließend wird das Eifern Jhwhs um sein Land und die Verschonung seines Volkes ( tou/ laou/ auvtou/ ; V.18) geschildert sowie eine umfangreiche Heilsansage (V.19-29). Die durchgehende Verwendung des Terminus lao, j impliziert, dass nicht nur diese Heilsansage an Israel ( tou/ laou/ auvtou/ ) gerichtet ist, sondern dass es auch von der Unheilsansage mitbetrofvon Jes abhängig ist (Vgl. Jeremias‚ Tag, 130f.). Zu den Übereinstimmungen von Jes 13 und Joel 1f. vgl. Müller, Zukunft, 79-91. 50 Hierbei handelt es sich um eine Bezeichnung für Jerusalem; vgl. Wendebourg, Tag, 72. 51 Zur Zionstheologie des Joelbuches vgl. Beck, Tag, 194-196. 52 Ebenso Müller, Zukunft, 91f.97. <?page no="96"?> 96 fen ist (V.6). Somit wird Israel zwar eine Heilshoffnung vor Augen gestellt, aber keine Rettungsgewissheit. 53 2.2.2.3 Das Zeichen des Menschensohnes (Mt 24,30) kai. to,te fanh,setai to. shmei/ on tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pou evn ouvranw/ |( kai. to,te ko,yontai pa/ sai ai` fulai. th/ j gh/ j kai. o; yontai to.n ui`o.n tou/ avnqrw,pou evrco,menon evpi. tw/ n nefelw/ n tou/ ouvranou/ meta. duna,mewj kai. do,xhj pollh/ j\ V.30 schließt mit seinem parataktischen Satzbau stilistisch an V.29 - und damit an Jes 13,10 und 34,4 - an. Durch die zweimalige Verwendung von to,te wird ein fortschreitender Zeitablauf signalisiert. 2.2.2.3.1 Das Zeichen Durch die Ankündigung eines shmei/ on tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pou wird die Frage der Jünger nach dem „Zeichen deiner Parusie“ aufgegriffen, jedoch nicht abschließend beantwortet, denn dieses shmei/ on ist in hohem Maße bedeutungsoffen. 54 Es ist als Leerstelle aufzufassen; worum es sich bei diesem shmei/ on genau handelt, ist bewusst offen gelassen und lässt sich aus dem Text und seinen Intertexten nicht erschließen. Dies betrifft v.a. die altkirchliche Deutung des shmei/ on auf das Kreuz, 55 die durch nichts im Text belegt ist, aber auch näher liegende Deutungsversuche z.B. als ein Licht, einen Stern oder einen Kometen. 56 Schwer möglich ist es auch, tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pou als genitivus epexegeticus zu verstehen und das shmei/ on mit dem Menschensohn selbst bzw. seinem Kommen zu identifizieren. 57 Auch wenn „Jesus“ kurz zuvor davor gewarnt hat, sich von den shmei/ a der Pseudopropheten verführen zu lassen (V.24) und „die Parusie selbst eindeutig ist - allen sichtbar wie der Blitz“ 58 (V.27) und deshalb keines Zeichens bedürfte, ist diese Lösung aufgrund der textinternen Logik und Reihenfolge problematisch: Erst nachdem dieses 53 Die Rettung steht vielmehr, so Müller, Zukunft, 97, „unter der Conditio der Umkehr, weiß diese aber begründet und ermöglicht wiederum in JHWHs ‚Selbstbeherrschung’ und unbedingtem Gemeinschaftswillen. Es ist eine Gottesgewissheit, die auf dem Bekenntnis zu JHWHs Fähigkeit beruht, sich das Unheil, und sei es noch so ‚gerecht’, leid sein zu lassen (2,13).“ 54 Entsprechend legen sich die meisten Ausleger_innen an dieser Stelle nicht von vornherein fest, sondern zeigen verschiedene Deutungsvarianten auf. Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 359f.; Gnilka, Mt 2, 329; Luz, Mt 3, 434; bes. letzterer bietet zahlreiche Belegstellen zu den unterschiedlichen Deutungen. 55 Vgl. z.B. Did 16,6. 56 Vgl. z.B. Beare, Mt, 471. 57 So Beare, Mt, 471; Luz, Mt 3, 434f.; Fiedler, Mt, 368; für weitere Belege vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 359, Anm. 213. 58 Luz, Mt 3, 435. <?page no="97"?> 97 Zeichen sichtbar wird, werden die Stämme der Erde trauern, und erst im Anschluss daran werden sie den Menschensohn kommen sehen. to,te signalisiert eine implizite Ellipse, die zwar von sehr kurzer Dauer sein kann, aber trotzdem verdeutlicht, dass das Sichtbarwerden des Zeichens und das Kommen des Menschensohnes selbst zwei klar voneinander unterschiedene Ereignisse sind. 59 Auch Jes 13 als am stärksten markierter Intertext des vorigen Verses spricht vom shmei/ on (V.2). Es wird häufig als das den Beginn der Kriegshandlungen am Tag Jhwhs signalisierende „Feldzeichen“, „Panier“ oder „Banner“ gedeutet. 60 Daher liegt es für die Lesenden nahe, das wie auch immer beschaffene shmei/ on des Menschensohnes in V.30 parallel zum shmei/ on Jhwhs als Beginn des Tages Jhwhs, als Beginn des Gerichts, zu deuten. M.E. ist es dabei die Strategie des Textes, bewusst offen zu lassen, worum es sich bei diesem Zeichen handelt. 61 Die Frage der Jünger wird daher auch hier nur teilweise beantwortet - „Jesus“ sagt an (in relativer Zeitangabe), wann das Zeichen kommen wird, aber er sagt nicht, was es sein wird. 62 Damit steht dieses Zeichen in deutlichem Gegensatz zu den Zeichen und Wundern der Pseudopropheten (V.24): Zwar wird es in der Tat ein Zeichen geben, das das Kommen des Menschensohnes anzeigt, aber niemand wird darauf hinweisen müssen, weil es für alle sichtbar und unverkennbar nicht auf der Erde, sondern am Himmel erscheinen wird. Die Menschen werden es sehen, wie sie auch den Menschensohn selbst sehen werden. Beide Ereignisse werden zeitlich so dicht aufeinander folgen, dass keine Zeit mehr sein wird, die Ankunft des Menschensohnes zu berechnen, wenn das Zeichen erscheint. 63 Somit fungieren die V.29.30a prägenden „Satelliten“ als indirekte Warnung vor dem unverhofften Kommen des Menschensohnes. 2.2.2.3.2 Das Wehklagen der Stämme Dieser Eindruck wird verstärkt durch einen weiteren „Satelliten“ der Handlung: Die Ankündigung des Wehklagens der Stämme der Erde. Durch das Homoioteleuton kai. to,te ko,yontai - kai. o; yontai wird betont, dass das Wehklagen der Stämme und ihr Schauen des Menschensohnes zeitlich eng zusammenhängt, während to,te dieses Geschehen deutlich von dem zuvor geschilderten Sichtbarwerden des Zeichens abgrenzt. 59 Vgl. auch Davies/ Allison, Mt 3, 359, Anm. 213; Gnilka, Mt 2, 329. 60 Ähnlich u.a. Gnilka, Mt 2, 330. 61 Ähnlich Frankemölle, Mt 2, 406. 62 Auch der Zeitpunkt wird selbstverständlich nicht explizit, sondern nur relativ benannt (vgl. hierzu V.36). Anders Hahn, Rede, 118, der die Frage nach dem shmei/ on mit V.30 als beantwortet ansieht. 63 Vgl. Gnilka, Mt 2, 330f., der allerdings davon ausgeht, dass das Zeichen und die Parusie tatsächlich zeitlich zusammenfallen. <?page no="98"?> 98 Der Blick der Lesenden wird auf die emotionale Reaktion der fulai, gelenkt, mehr noch: Durch den Wechsel zur internen Fokalisierung „sehen“ die Lesenden aus der Sicht der fulai, den Menschensohn kommen und vollziehen ihre Furcht und ihr Erschrecken angesichts der Bedrohung unmittelbar nach. 64 Dabei bleibt der genaue Grund ihres Trauerns aufgrund des fehlenden Objekts zu ko,yontai ungeklärt. Die Antwort ist m.E. nicht in dem am stärksten markierten Intertext dieser Stelle, Sach 12,10-14 LXX, zu suchen, 65 sondern im Text selbst: Es ist als Reaktion auf die Verfinsterung, die kosmischen Erscheinungen und das Zeichen des Menschensohnes zu verstehen. Anhand dieser Erscheinungen werden die fulai, erkennen, dass der Tag Jhwhs gekommen ist. Dem Gericht, das dieser Tag bringt, kann sich niemand entziehen. 66 Vielmehr sind sie alle potentiell aufgrund ihrer Gott- und Gesetzlosigkeit, ihrer Sündhaftigkeit und ihres Hochmuts (Jes 13,11) von der Vernichtung durch das Gericht des Menschensohnes bedroht. 67 Aber welche Gruppe ist mit pa/ sai ai` fulai, genau gemeint - und wie verhält sie sich zu pa,nta ta. e; qnh (Mt 24,9.14)? Auch zur Klärung dieser Frage trägt Sach 12,10-14 wenig bei, denn hier stehen beide in klarer Opposition; „das Land“ ist das Land Israel, denn die dort wohnenden fulai, werden deutlich als die zwölf Stämme Israels benannt (V.12f.). Aus Sach 12,10 ergibt sich also gerade nicht, dass alle Völker der ganzen Erde gerichtet werden. 68 Trotzdem sind die fulai, im matthäischen Kontext nicht nur auf Israel zu beziehen, weil dann die Adressat_innen der Endzeitrede, die ja im Folgenden fortwährend zur Wachsamkeit ermahnt werden, nicht alle von der Ankündigung des Gerichts betroffen wären. Durch die Formulierung pa/ sai ai` fulai. th/ j gh/ j wird hier vielmehr auf Gen 12,3 und Gen 28,14 LXX angespielt, die die Formulierung universal gebrauchen. 69 Im Matthäusevangelium selbst ist fulai, nur noch in 19,28 belegt, und hier wird betont, dass es sich exklusiv um die zwölf Stämme Israels handelt - das ist in 24,30 jedoch nicht der Fall, im Gegenteil. Die fulai, als „alle Menschen der Erde“ zu verstehen ergibt auch mit Blick auf das 64 Ähnlich auch Gnilka, Mt 2, 330. 65 Sach 12,10-14 LXX enthält die Stichworte ko,yontai und fulai, jeweils zwei Mal. Zur Themaillustration, also zu der Frage, worüber die fulai, trauern werden, trägt er jedoch wenig bei, denn genau dies ist ein Auslegungsproblem des Textes, das durch die LXX- Übersetzung noch verschärft wird. Möglicherweise trauern die Stämme über das Haus Davids, wie LXX.D es in einer Fußnote vorschlägt, oder über einen Gefallenen, denn im MT ist von einem Durchbohrten die Rede. LXX liest statt dqr (durchbohren) rqd (hüpfen); vgl. Willi-Plein, Sach, 201, Anm. 66. Dass hier, wie Ebner, Plädoyer, 224, Anm. 36, vermutet, „auf Sach 12,12 angespielt wird, aber die Bezüge evtl. ganz bewusst verändert werden“, ist dagegen ein wenig belastbares Argument. 66 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 405. 67 „Sie sehen jetzt mit der Erscheinung des Menschensohnes, was sie an den Gerechten und Auserwählten mit ihren Verfolgungen getan haben.“ (Luck, Mt, 263). 68 Gegen Luz, Mt 3, 433. 69 Vgl. Garbe, Hirte, 178. <?page no="99"?> 99 Verb o; yontai Sinn: Erscheint etwas am Himmel, ist es auf der ganzen Erde sichtbar. Vor diesem Hintergrund ist die Deutung von pa/ sai ai` fulai, auf alle Stämme der Erde einschließlich Israels am naheliegendsten. 70 Auch die Jünger sind mit eingeschlossen, denn „Jesus“ spricht sie direkt an mit „wenn ihr dies alles seht ( i; dhte )“ (V.33) - und zwar das, was die fulai, sehen werden (V.30). 2.2.2.3.3 Das Kommen des Menschensohnes in do,xa Sehen werden sie den Menschensohn, der auf den Wolken kommt meta. duna,mewj kai. do,xhj pollh/ j . Dabei löst seine du,namij , d.h. die Kraft Gottes, die nun dem Menschensohn zukommt (vgl. 22,29; 26,64), die erschütterten Kräfte des Kosmos ab. Die do,xa des Menschensohnes verweist auf mehrere Intratexte: Der Menschensohn wurde im Matthäusevangelium bereits als Richter angekündigt, der in der do,xa seines Vaters kommen und auf dem Thron zu Gericht sitzen wird (13,41-43; 16,27f.; 19,28; vgl. 25,31). Diese Ansagen stehen zumeist in direktem Zusammenhang mit dem endzeitlichen Geschick der jeweiligen Erzähladressat_innen (16,28a; 19,28); sei es, dass sie die Parusie noch erleben werden, sei es, dass sie selbst richten werden. Mit do,xa ist aber auch ein Theophanie-Motiv der LXX aufgegriffen: Die do,xa Jhwhs erscheint Israel in der Wüste in einer Wolke (Ex 16,10; vgl. 24,15- 18), wobei Jhwh selbst, wie es bei atl. Theophanien die Regel ist, nicht zu sehen ist. Gleiches gilt für die Verklärung Jesu, als die Stimme aus der Wolke ihn als „mein geliebter Sohn“ proklamiert (Mt 17,5). Somit ist auch das Kommen des Menschensohnes in do,xa auf den Wolken als Theophanie stilisiert - mit dem Unterschied, dass er im Gegensatz zu Jhwh tatsächlich sichtbar sein wird. Die Beschreibung des Kommens des Menschensohnes - hierbei handelt es sich um eine onomastische Markierung - auf den Wolken des Himmels in do,xa ist zudem eine deutliche Anspielung auf Dan 7,13f.: Dan 7,13f. LXX evqew,roun evn o`ra,mati th/ j nukto.j kai. ivdou. eev pi. tw/ n nefelw/ n tou/ ouvranou/ w`j u ui`o.j avnqrw,pou h; rceto kai. w`j palaio.j h`merw/ n parh/ n kai. oi` paresthko,tej parh/ san auvtw/ | Mt 24,30 … kai. o; yontai to.n ui`o.n tou/ avnqrw,pou ev rco,menon ev pi. tw/ n nefelw/ n tou/ ouvranou/ meta. duna,mewj kai. d do,xhj pollh/ j\ 70 Mit Garbe, Hirte, 179; anders Ebner, Plädoyer, 225, Anm. 36. <?page no="100"?> 100 kai. evdo,qh auvtw/ | evxousi,a kai. p pa,nta ta. e; qnh th/ j gh/ j kata. ge,nh kai. pa/ sa ddo,xa aauvtw/ | latreu,ousa kai. h` evxousi,a auvtou/ evxousi,a aivw,nioj h[tij ouv mh. avrqh/ | kai. h` basilei,a auvtou/ h[tij ouv mh. fqarh/ | Mt 25,31f. {Otan de. e e; lqh| o o` ui`o.j tou/ avnqrw,pou evn th/ | d do,xh| aauvtou/ kai. pa,ntej oi` a; ggeloi metV auvtou/ ( to,te kaqi,sei ev pi. q qro,nou do,xhj auvtou/ \ kai. sunacqh,sontai e; mprosqen auvtou/ pa,nta ta. e; qnh Wörtlich zitiert wird evpi. tw/ n nefelw/ n tou/ ouvranou/ . ui`o.j avnqrw,pou ist dagegen bei Dan undeterminiert, und die erscheinende Gestalt wird mit einem Menschensohn lediglich verglichen ( w` ` j ). 71 Diese Gestalt wurde, so wird es in der Vision beschrieben, zu dem „Alten an Tagen“ gebracht. Ihm wurde ewige Vollmacht verliehen, alle Völker dienten ihm und seine Königsherrschaft wird nicht vernichtet (V.14). Soweit der Kontext, der aufgrund der hohen Selektivität mit einzubeziehen ist und der Themaillustration dient: Die Schilderung steht im Kontext der Vision des Sehers von den vier Tieren, die als vier Könige (V.17) bzw. Königreiche (V.23) gedeutet werden, und dem „Alten an Tagen“ auf dem Thron. Von ihm geht ein Feuerstrom aus, der, als sich die Gerichtsversammlung ( krith,rion ) gesetzt hat und die Bücher geöffnet worden sind, das vierte Tier tötet (V.10f.). Die anschließende Deutung bezieht die Aussage über die ewige basilei,a sowohl auf die Heiligen des Höchsten (V.18.22) als auch das Volk der Heiligen des Höchsten (V.27). Hier ergibt sich eine Deutungsoffenheit des Menschensohn-Konzepts: Man kann „sowohl eine individuelle als auch eine korporative Deutung von Daniel herleiten und auch auf die Engel als die Heiligen verweisen (vor allem 8,15; 10,18, wo Gabriel von seiner Erscheinung her wie ein Mensch erscheint)“. 72 Jedoch wird der Menschensohn hier nicht als Richter vorgestellt; die Gerichtsversammlung hat bei seinem Erscheinen vielmehr bereits getagt (V.10.22) bzw. das Gericht ( kri,sij ) steht noch aus (V.26). Mt verweist zwar auf die danielische Vorstellung, setzt ihr aber ein eigenes Menschensohnkonzept entgegen: Zwar wird auch der matthäische Menschensohn als ein auf den Wolken den Himmels Kommender gedacht, aber es kommt ihm eine weit aktivere Rolle zu als der Menschensohngestalt im Danielbuch, wie V.31 - und auch 25,31-46 - zeigt. Zudem werden dem Menschensohn laut Dan 7 von dem „Alten an Tagen“ evxousi,a , do,xa und die basilei,a verliehen. Bei Mt sind ihm du,namij und do,xa schon eigen, und er tritt mit seinem Kommen an die Stelle Jhwhs bzw. des „Alten an Tagen“. 71 Vgl. auch 4 Esr 13,3. Im 4. Esrabuch erscheint der Menschensohn als Krieger, der vom Zion aus die Völker vernichtet; die Kriegstopik rückt ihn wiederum in die Nähe des am Tag Jhwhs erscheinenden Jhwh. 72 Müller, Aspekte, 135f., Anm.17. <?page no="101"?> 101 Ein weiterer wichtiger Bezugstext sind die Bilderreden des Henoch, die „sich auch nach wechselvoller Diskussion als eine der wichtigsten Quellen für die ntl. Rede vom MS zu behaupten“ 73 vermögen. Die Relation zwischen den Bilderreden und der Endzeitrede sind in hohem Maße anagrammatisch, so dass die einzelnen Belegstellen in diesem Rahmen nicht vollständig erläutert werden können. Die höchste intertextuelle Intensität zu Mt 24,29-31 weist äthHen 62,2-16 74 auf. V.a. die Strukturalität ist hoch, denn auch hier handelt es sich um eine anagrammatische Relation. Der Menschensohn erscheint als Richter auf dem Thron seiner Herrlichkeit (V.2; vgl. Mt 25,31); als solchen werden ihn der König, die Mächtigen und die Hohen sehen (V.3). Der Schmerz, der sie dabei ergreifen wird, wird durch Geburtsmetaphorik illustriert (V.4; vgl. Mt 24,8). Obwohl sie den Menschensohn anbeten und um Barmherzigkeit anflehen werden (V.9), wird der Herr der Geister sie „den Strafengeln ausliefern, damit sie Vergeltung an ihnen üben (dafür), daß sie seine Kinder und Auserwählten unterdrückt haben“ (V.11). Eine Umkehr ist daher nicht mehr möglich. Das Urteil steht vielmehr schon vorher fest; das Gericht verfolgt den Zweck, Heil und Unheil zuzuweisen. 75 Obwohl hier an die Motive des Zornes Jhwhs und das Trunkenwerden seines Schwerts angespielt wird (V.12; vgl. Jes 34,5), handelt es sich bei dieser Gerichtsvorstellung nicht um ein Vernichtungssondern ausschließlich um ein Scheidungsgericht, um ein forensisch ausgerichtetes Gerichtsverfahren. Auch werden hier nicht die Völker verurteilt, die Israel unterdrücken, sondern die Herrschenden im Allgemeinen; es ist also eine weitere Universalisierung des Gerichtsgedankens zu verzeichnen. Die „Gegenpartei“ ist die Gruppe der „Auserwählten“ (häufig als Wortpaar mit den „Gerechten“ genannt), die „an jenem Tage vor ihm stehen“ werden (V.8). Um ihretwillen werden die Herrschenden vernichtet werden, sie dagegen werden gerettet werden (V.13) und fortan in einer neuen Welt leben (V.14-16). Deutlich wird die Trostfunktion der Gerichtsansage für sie: Sie soll sie „in ihrer Haltung bestärken durch die Zusage, daß ihnen einst gegenüber ihren Widersachern Recht verschafft werden wird, und zwar von 73 Böttrich, Konturen, 89, der den entscheidenden „Impuls, die Wendung o`` ui`o.j tou/ avnqrw,pou durch Jesus und die nachfolgenden Generationen mit neuer Bedeutung zu füllen“ in „der Offenheit und Anschlussfähigkeit der MS-Gestalt“ (ebd., 90) sieht. Der Menschensohn, so Müller, erscheint in den Bilderreden insgesamt als „ein Individuum, eine himmlische, präexistente Gestalt (48,2-3), die den Auserwählten himmlische Geheimnisse offenbart (46,2; 48,7), die am Ende der Zeit als Richter kommt (45,3; 62,2-16; 69,27-29), um die neue Welt heraufzuführen und die Auserwählten werden mit ihm sein. In 48,10; 52,4 wird der Menschensohn ausdrücklich mit dem Messias identifiziert.“ (Müller, Aspekte, 135, Anm. 16). 74 Die Bilderreden sind gegenwärtig nur noch in ihrer äthiopischen Übersetzung (äth- Hen) zugänglich. Der Textvergleich erfolgt daher anhand der deutschen Übersetzung von Uhlig, Henochbuch, 613-615. 75 Vgl. Wolter, „Gericht“, 42. <?page no="102"?> 102 einer Instanz, die im Blick auf Reichtum und Macht unbestechlich ist“. 76 Im äthHen sind die „Gerechten, Auserwählten und Heiligen“ nicht über den Bund oder die Tora definiert, sondern über ihr Bekenntnis zum „Herrn der Geister“ und dem von ihm offenbarten Menschensohn 77 (vgl. auch Mt 10,32). Die Dialogizität der Intertexte ist zum einen an der Scheidung der Gruppen festzumachen, die von vornherein geschieht; der Schmerz ergreift nur diejenigen, die am Ende tatsächlich Strafe und Vernichtung erfahren. Auch die Aufgabe der Engel ist eine andere als bei Mt: Statt die Auserwählten zu sammeln, üben sie Vergeltung an den Herrschenden. Dies veranlasst der „Herr der Geister“ und nicht der Menschensohn - ersterer steht im äthHen während des ganzen Geschehens im Hintergrund. Der Menschensohn ist zwar selbst Richter, aber er wird vom „Herrn der Geister“ bewahrt und schließlich offenbart (V.7). Bei Mt tritt Gott, der Vater, dagegen fast völlig in den Hintergrund (vgl. aber Mt 24,36) und die Theophaniemotive beziehen sich auf das Kommen des Menschensohnes, der Inhaber der Vollmacht ist und die Engel befehligt. So hat der Intertext äthHen 62 für Mt 24,30f. nicht nur die Funktion der Themaillustration, sondern auch der Charakterisierung der Menschensohnfigur sowie der Auserwählten. 2.2.2.4 Die Engel (Mt 24,31) kai. avpostelei/ tou.j avgge,louj auvtou/ meta. sa,lpiggoj mega,lhj( kai. evpisuna,xousin tou.j evklektou.j auvtou/ evk tw/ n tessa,rwn avne,mwn avpV a; krwn ouvranw/ n e[wj Îtw/ nÐ a; krwn auvtw/ nÅ Die vom Menschensohn ausgesandten a; ggeloi werden im Matthäusevangelium bereits in den Deutungen der Gleichnisse vom Unkraut und vom Fischnetz als Gerichtshelfer eingeführt: Sie sind die Schnitter bei der „Ernte“ (13,39), die diejenigen, die Ärgernisse (σκάνδαλα) und die, die Gesetzloses tun, zusammenlesen (13,41). Sie werden die Bösen aus der Mitte der Gerechten aussondern und sie in den Feuerofen werfen (13,49f.). 78 Durch die Erwähnung der Engel und im Anschluss an die zahlreichen Allusionen an Tag-Jhwhs- und andere Gerichtstexte wird die Erwartung geweckt, dass nun eine Gerichtsansage folgt. Diese Erwartung wird durch die Ansage, dass die Engel meta. sa,lpiggoj mega,lhj ausgesandt werden, noch verstärkt: Der Schall der Trompete (hebr. Schofar) trägt nicht nur zu dem Eindruck bei, dass das Geschehen universal ist, dass die Parusie des Men- 76 Wendebourg, Tag, 98. 77 Vgl. Böttrich, Konturen, 81; vgl. äthHen 38,2; 41,2; 45,1.2; 46,7; 48,10; 62,9-12; 63,1-12; 67,8. 78 Vgl. auch die „Strafengel“ in äthHen 62,11. <?page no="103"?> 103 schensohnes nicht nur von allen gesehen, sondern auch gehört werden wird. 79 Es signalisiert auch den Beginn des Tages Jhwhs als Gerichtstag. 80 Bei Mt erscheinen die Engel als Gefolge des in do,xa zum Gericht kommenden Menschensohnes, und auch als solche sind sie bereits eingeführt (Mt 16,27). Jedoch fungieren sie hier nicht als Gerichtsgehilfen, im Gegenteil: Sie werden vom Menschensohn ausgesandt, um die Auserwählten einzusammeln. Dabei klingt die Hoffnung der endzeitlichen Sammlung Israels aus der Diaspora (Dtn 30,3f.; Jes 11,11; 27,12f. u.ö.) an. 81 Um die Auserwählten vor Verführung zu schützen wird die Zeit der endzeitlichen „Wehen“ verkürzt werden (Mt 24,22.24). Ob die Auserwählten vom Gericht ausgenommen sind oder ob sie im Gericht „zur Rechten gestellt“ werden (25,33), bleibt im Folgenden offen. Der Schall der Trompete ist v.a. als Theophaniesignal zu verstehen, das das machtvolle Handeln Jhwhs ankündigt (Ex 19,16; Jes 27,12). Aber wer sind die Auserwählten, wer wird zu ihnen gehören? Trotz der Anspielung auf die Sammlung aus der Diaspora ist es kaum denkbar, dass hier allein das Volk Israel gemeint sein sollte - darauf weist schon die Ansage des Trauerns aller Volksstämme, d.h. einschließlich Israels, beim Erscheinen des Menschensohnes hin. 82 Wäre den Israelit_innen die Rettung gewiss, bräuchten sie nicht mit Trauer auf die Parusie zu reagieren - im Gegenteil. Ebenfalls zu kurz greift es, bei den „Auserwählten“ an alle Christusgläubigen zu denken, denn diese sind ein corpus mixtum (vgl. 20,16; 22,14). Auch liefe in diesem Fall der folgende, paränetische zweite Hauptteil der Rede ins Leere. 83 Festzuhalten ist aber, dass die Adressat_innen anstreben können und sollen, zu den Auserwählten zu gehören - indem sie bis zum Ende ausharren (V.13) 84 und, in der Metaphorik des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl (22,11-14) gesprochen, der Einladung der Boten folgen und sich ihr entsprechend verhalten. 85 Wie aber dieses Ausharren, dieses Verhalten im Einzelnen auszusehen hat, wer also zu den Auserwählten zählen wird, lässt der Text offen - und gerade hierin liegt seine Pointe: Niemand kann sicher sein, am Ende dazuzugehören. 86 79 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 362f.; Garbe, Hirte, 168; vgl. auch Jes 27,13. 80 Vgl. Joel 2,1; Sach 9,14; Zef 1,14.16. Vgl. Näheres zur Trompete bei Beare, Mt, 471f. 81 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 364. Rölver, Existenz, 445, will dagegen aus der Ankündigung des Sammelns aus den „vier Winden“ einen universalen Anspruch ableiten. 82 Vgl. Garbe, Hirte, 182. 83 Vgl. Luz, Mt 3, 531. 84 Vgl. Luck, Mt, 263. 85 Vgl. Garbe, Hirte, 183, der dies als klare Verhaltensregel für die Lesenden ansieht: „[D]ie Bedingungen sind bekannt, ... und die Leser werden aufgefordert, diese Bedingungen zu erfüllen, nicht jedoch in sektiererischer Sicherheit eines unumstößlichen Erwählungsbewusstseins bestärkt.“ 86 Vgl. Garbe, Hirte, 169.182. <?page no="104"?> 104 2.2.3 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ Die Schilderung kosmischer Erscheinungen spielt durch ihre intertextuellen Allusionen bereits Gerichtsvorstellungen in die Endzeitrede ein, bevor sie explizit zum Thema werden. Bei dem Motiv des Bebens und der Verdunkelung handelt es sich um Theophaniemotive, die in den genannten Texten stets Ankündigungen des Tages Jhwhs illustrieren. 87 Als integraler Bestandteil der Tag-Jhwhs-Schilderungen 88 verdeutlichen alttestamentliche Theophanie-schilderungen Jhwhs machtvolles Handeln und die Durchsetzung seiner Königsherrschaft. Hierbei erscheint Jhwh jedoch nicht selbst, 89 während „Jesus“ die Sichtbarkeit des Menschensohnes bei seiner Parusie voraussagt (Mt 24,30). Gleichwohl wird seine Parusie durch die Allusionen an Jes und Joel in Mt 24,29 als Tag Jhwhs stilisiert, der das Gericht bringt. Dabei dominiert die Vorstellung eines Vernichtungsgerichtes, in Jes 13 begegnet jedoch auch der Gedanke eines Scheidungsgerichtes. Unscharf bleibt häufig, ob es sich um ein innergeschichtliches oder ein endzeitliches Gericht handelt, 90 wobei erstere Vorstellung überwiegt. Anders Mt; hier ist das Gericht eindeutig endzeitlich gedacht und damit als endgültiges, die Weltzeit beendendes Geschehen (Mt 24,3). Damit geht die Universalität der matthäischen Gerichtsvorstellung einher. Eine genuin partikulare Perspektive gibt es hier, wie bei Joel und anders als bei Jes, nicht; es werden keine bestimmten Völker als Adressaten des Gerichts genannt. Durch diese „Universalisierung“ des Gerichts sind auch mögliche Kriterien bei Mt allgemeiner gefasst: 91 Konkrete historische Konstellationen verfeindeter Völker (z.B. Edom vs. Israel; Jes 34) sind nicht im Blick und damit auch keine konkreten Vergehen, die einer bestimmten Volksgruppe angelastet würden, wie das Unrecht, das Israel zugefügt wur- 87 J. Jeremias hat die gegenseitige Beeinflussung der Tag-Jhwhs- und der Theophanietradition nachgewiesen und das Motiv des Bebens von Bergen, Himmel und Erde zu Recht den Theophanieschilderungen zugeordnet, obwohl es siebenmal in Tag-Jhwhs- Texten erscheint (vgl. Jeremias, Theophanie, 100). So scheine auch das „Motiv des dunklen Gewölks“ (Jes 13,10) „von Haus aus sowohl zu den Theophanieschilderungen als auch zur Tradition vom ‚Tage Jahwes’ zu gehören“ (Jeremias, ebd.) - beide Traditionen durchdringen sich, schließen sich aber nicht gegenseitig aus. Brandenburger, Apokalyptik, 58, und mit ihm Reichardt, Kommen, 97f., sehen hier (d.h. in der Mk- Parallele) dagegen vornehmlich Theophanietraditionen verarbeitet, so dass der Tag der Parusie in erster Linie als Tag des Heils zu verstehen sei. Dies bringt m.E. eine Tendenz zur Verharmlosung mit sich und „verfehlt den Text vollkommen“ (du Toit, Herr, 221f., Anm. 140, vgl. auch Pesch, Naherwartungen, 166f.). 88 Sogar im Kontext von Hab 3,10f., der keine Tag-Jhwhs-Ansage ist, wird Unheil als Strafe für Unrecht angekündigt. 89 Dies ist bei den meisten Theophanieschilderungen der Fall; vgl. die Belege bei Jeremias, Theophanie, 1; Gnilka, Mt 2, 328. 90 Vgl. dazu Wendebourg, Tag, 79.84f. 91 Vgl. aber bereits Jes 13,11. <?page no="105"?> 105 de (Jes 34; Joel 3). Umso mehr können sich die Adressat_innen durch das Gericht bedroht sehen. Auch der Heilsaspekt des Gerichts ist bei Mt weniger konkret auf eine bestimmte Gruppe bezogen: Das Heil gilt - neben der Gruppe der Auserwählten - all denen, die Unterdrückung erleiden, so wie es bei Jes und Joel für das Volk Israel geschildert ist. Zu betonen ist dabei, dass Heil und Gericht nicht voneinander zu trennen und auch nicht „Kehrseiten derselben Medaille“ sind: Jhwh schafft Heil, indem er richtet, und „Israel resp. die Gruppe der Frommen und Gerechten bzw. die Gruppe derjenigen, die dieses Gericht beschreiben, sehnen sich nach diesem Gericht, weil es ihnen nichts als Rettung und Befreiung von Unterdrückung und Verfolgung bringt“. 92 Es bewirkt die Wiederherstellung der Schöpfungsordnung und die Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes. 93 Die Richterfigur ist bei Mt jedoch nicht Jhwh, sondern der Menschensohn (vgl. auch Dan 7,13f.; äthHen 62). Liest man Mt 24,29-31 mit seinen Intertexten zusammen, wird klarer, warum „Jesus“ im Folgenden zur Wachsamkeit mahnt. Die Intertexte füllen die Ansagen kosmischer Veränderungen, das Wehklagen der Stämme und das Kommen des Menschensohnes mit Inhalt: Sind sie als enzyklopädisches Wissen präsent, ist den Lesenden klar, dass mit diesen Ansagen bereits das Gericht angekündigt wird. 94 Bilder der Gewalt stehen dabei im Hintergrund, die den Zorn und den Eifer Gottes ausdrücken, aber auch die Perspektive des Heils; die Hoffnung, zu den Auserwählten zu gehören, die Hoffnung, im Gericht bestehen zu können. Die Erzählung der Endereignisse ist kurz vor ihrem Spannungshöhepunkt angekommen; die Lesenden erwarten nun aufgrund der Intertexte, die alttestamentliche Gerichtsprophetie in die Rede einspielen, eine Gerichtsschilderung. Stattdessen bricht die proleptische Erzählung der Endereignisse an dieser Stelle ab, 95 der Haupthandlungsstrang wird unterbrochen. Ein Nebenstrang wird eingefügt, der die Haupthandlung auf unterschiedliche Weise spiegelt und einige ihrer Aspekte, wie z.B. den unbekannten Zeitpunkt der Parusie, emphatisch hervorhebt (24,32-25,30). 24,4b-31 und 25,31- 46, d.h. der erste und der dritte Hauptteil der Endzeitrede, gehören demnach zusammen und bilden ihre Haupterzählung. Diese These wird durch die anagrammatischen Relationen sämtlicher genannter Intertexte von 24,29-31 zur Endzeitrede gestützt: Auf sie bezieht sich zumeist auch 25,31-46, wie bereits deutlich wurde und weiterhin zu zeigen sein wird. 92 Wolter, „Gericht“, 42. 93 Vgl. Wolter, „Gericht“, 42. 94 Möglicherweise verweist das Wehklagen auch auf die Erkenntnis der eigenen Schuld angesichts des kommenden Menschensohnes; vgl. Hahn, Rede, 120. 95 Garbe, Hirte, 169.172. <?page no="106"?> 106 2.3 Die Mahnung zur Wachsamkeit (Mt 24,32-44 ) 2.3.1 Einleitung Mit dem Gleichnis vom Feigenbaum (Mt 24,32f.) beginnt der zweite Hauptteil der Endzeitrede (24,32-25,30). Die Schilderung der eschatologischen Ereignisse ist an dieser Stelle unterbrochen und wird erst in 25,31 wieder aufgegriffen. Es folgen nun Erläuterungen zur Parusie des Menschensohnes, die wiederum zur Beantwortung der Jüngerfrage (24,3) beitragen: Diente der erste Hauptteil in erster Linie der Beantwortung der Frage nach dem „Zeichen deiner Parusie“, wird im zweiten Hauptteil v.a. die Frage nach dem Zeitpunkt erörtert. Es geht dabei jedoch nicht um den Zeitpunkt der Tempelzerstörung, sondern um den Zeitpunkt der Parusie sowie um Reaktionen auf sie. Diese Aspekte werden in V.32-44 von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und bewirken einen sukzessiven Erkenntnisfortschritt der Lesenden. Sie dienen sowohl als Erläuterung der Parusieszene als auch als Überleitung zu den drei folgenden Gerichtsgleichnissen 24,45-25,30, deren Thematik sie in Kurzform vorwegnehmen und deren Tiefenstruktur sie bereits andeuten (vgl. v.a. V.40f.). Mt 24,32-44 wird damit in mehrfacher Hinsicht zu einer Schaltstelle der Rede: Es erfolgt der Übergang zwischen der Vorstellung eines Vernichtungsgerichtes, die im ersten Teil der Rede v.a. durch prophetische Intertexte in die Rede eingespielt wurde, und der Vorstellung eines Scheidungsgerichtes, die v.a. im dritten Teil der Rede, aber indirekt auch in den Gerichtsgleichnissen, zum Ausdruck kommt. 2.3.2 Analyse und Intertexte 2.3.2.1 Das Gleichnis vom Feigenbaum (Mt 24,32f.) Nach der allgemein gehaltenen, futurisch erzählten Parusieszene wendet sich „Jesus“ mittels des Imperativs ma,qete 96 wieder direkt an seine Adressat_innen: Es gilt von einem Feigenbaum etwas zu lernen, das sich auf die Parusieszene (V.29-31) bezieht - durch de, wird der Bezug zu ihr hergestellt - und zwar eine parabolh" ein Gleichnis. Dieses Gleichnis besteht aus einem einzigen hypotaktischen, mit o[ tan eingeleiteten Temporalsatz, der von dem folgenden, mit dem Imperativ ginw,skete 97 eingeleiteten Hauptsatz abhängig ist - wieder wird deutlich, dass 96 Dieser Imperativ unterstreicht noch einmal die Charakterisierung der zuhörenden Jünger ( maqhtai, ; V.1) als Lernende; vgl. Dormeyer, Feigenbaum, 367. Bereits Jülicher, Gleichnisreden, 3, spricht vom „Feigenbaum als Lehrer“. 97 Ginw,skete kann hier als Imperativ, aber auch als Indikativ aufgefasst werden; deutlich wird diese Unklarheit auch durch die textkritischen Varianten. Eine Aufforderung daraus abzuleiten und sich damit für den Imperativ zu entscheiden, legt sich jedoch vom <?page no="107"?> 107 es hier etwas zu lernen gibt. Die Deutung des Gleichnisses (V.33) ist parallel zu diesem strukturiert: 32 VApo. de. th/ j sukh/ j ma,qete th.n parabolh,n\ o[tan h; dh o` kla,doj auvth/ j ge,nhtai a`palo.j kai. ta. fu,lla evkfu,h|( ginw,skete o[ti evggu.j to. qe,roj\ 33 ou[twj kai. u`mei/ j( o[tan i; dhte pa,nta tau/ ta( ginw,skete o[ti evggu,j evstin evpi. qu,raijÅ Durch die elliptischen Formulierungen - in V.32 fehlt die Kopula, die in V.33 folgt, in V.33 fehlt hingegen das Subjekt - werden beide Verse eng verbunden. Das Subjekt in V.33 kann jedoch, wie es syntaktisch folgerichtig wäre, nicht der Sommer sein, weil das Gleichnis an dieser Stelle bereits abgeschlossen ist, wie die Wendung ou[twj kai. u``mei/ j deutlich macht. Worauf sich die Kopula evstin bezieht, muss daher zunächst offen bleiben. Damit legt sich auch nahe, dass sich pa,nta tau/ ta ebenfalls nicht mehr auf das Gleichnis, d.h. die Veränderungen des Feigenbaumes im Laufe des Jahres, bezieht. Die Einleitung der Deutung mit ou[twj kai. u` `mei/ j und die wiederkehrenden Imperative legen den Lesenden vielmehr nahe, den Vergleich zwischen der Veränderung des Feigenbaumes und ihrem eigenen, zukünftigen Erleben mitzuvollziehen. Damit ist es auch ihnen überlassen, den bildempfangenden Bereich des Gleichnisses in der Deutung selbst zu ergänzen und die Verbindung zum bisher Geschilderten herzustellen. Der Feigenbaum ist als Anschauungsobjekt bereits eingeführt (Mt 21,19- 21). 98 Zur Enzyklopädie der Lesenden zählt das Wissen um seine besondere Eigenart: Er ist im Gegensatz zu vielen anderen Pflanzen Palästinas nicht immergrün, sondern wirft im Herbst seine Blätter ab und treibt im Frühling neue. Dies ist ein Zeichen des nahen Sommers 99 - allgemein sicht- und unverkennbar und jedes Jahr wiederkehrend. Als Vertreter der für Palästina typischen Vegetation 100 verweist der Feigenbaum auch auf den Ölberg, der für seine Feigenbäume bekannt war. Hier befinden sich Jesus und die Jünger, die seiner Endzeitrede zuhören, und zwar während der Pessachzeit, der Zeit, in der die Feigenbäume zu knospen beginnen. 101 Somit könnten sich die Lesenden sogar vorstellen, dass Kontext her nahe. Nicht zu entscheiden vermögen dies ebenfalls Gnilka, Mt 2, 335 und Davies/ Allison, Mt 3, 366; letztere tendieren ebenfalls zum Imperativ. 98 Beim Stichwort sukh, werden sich die Lesenden an die Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaums (21,19-22) erinnern, an dem nur Blätter wuchsen und der daraufhin von dem hungrigen Jesus verflucht wurde, so dass er verdorrte. Hier jedoch steht der Feigenbaum unter keinerlei Einfluss, sondern dient in seinem natürlichen Wuchs als Anschauungsobjekt. 99 Vgl. für Details Böttrich, Feigenbaum, 338f. Ebenso Sand, Mt, 496; Frankemölle, Mt 2, 406; Luz, Mt 3, 442; Dormeyer, Feigenbaum, 368. 100 Vgl. Böttrich, Feigenbaum, 342; Neumann-Gorsolke, Feige, 350. 101 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 365. <?page no="108"?> 108 Jesus sich beim Erzählen des Gleichnisses eines in der Nähe stehenden Feigenbaumes als Anschauungsobjekt bedient. Wichtiger als diese Mutmaßung ist aber, dass durch den indirekten Rückverweis auf das setting auch auf die Rahmenerzählung der Endzeitrede Bezug genommen wird und damit auch auf die Frage nach Zeichen für die Parusie (V.3). Hier ist also im Gegensatz zu 24,6 hinsichtlich der Zeit eine positive Bestimmung zu erwarten. Diese Erwartung wird unterstützt durch Intertexte, die das Bild des Feigenbaumes, das im AT zumeist als „Metapher überfließenden Wohlergehens, für Segen und somit als Bild für die Heilszeit“ 102 fungiert, in einen eschatologischen Kontext stellen. Bei Jes 34,4 dient der Verweis auf den Feigenbaum direkt im Anschluss an die Schilderung der kosmischen Veränderungen deren Veranschaulichung: Alle Sterne werden am Tag des Gerichts Jhwhs vom Himmel fallen wie Blätter von einem Weinstock und von einem Feigenbaum. Auch in Jer 8,13 wird das Abfallen der Blätter des Feigenbaumes für die Zeit des Gerichts angesagt, und zwar als Zeichen der Vernichtung des Baumes. 103 Beiden Texten ist gemeinsam, dass sie von der Zeit sprechen, in der das Gericht bzw. der Tag Jhwhs bereits angebrochen ist und in der die Blätter bereits abgefallen sind. „Jesus“ dagegen spricht vom Sprießen der Feigenbäume, das den Sommer ankündigt, also die Zeit der Ernte 104 - und „Ernte“ als Endgerichtsmetapher ist den Lesenden nicht nur aus Joel 1,19; 4,13, sondern auch aus Mt 13,39 bereits bekannt. „Jesus“ benennt aber ein Zeichen, das bereits vor Beginn des Sommers, also im Frühjahr, sichtbar sein wird: Wenn der Feigenbaum sprießt, also vor der Erntezeit und vor dem Abfallen der Blätter, wird noch Zeit sein, sich auf das Kommende einzustellen - vorausgesetzt, man weiß das Zeichen richtig zu deuten. 105 Auch veranschaulicht der Feigenbaum durch seine zuverlässige Fruchtbarkeit „den unbeirrbaren Ablauf der Geschichte Gottes“ und wird so „zum Zeichen der nahen Endzeit“. 106 Der endzeitliche Bezug wird auch durch evggu,j (V.32c.33c) hergestellt: Nahe ist - so Jes 13,6 und Joel 1,15; 2,1 - der Tag Jhwhs, dessen Kommen von denselben Erscheinungen begleitet wird wie die zuvor geschilderte Parusie des Menschensohnes (V.29-31). An diesem Tag findet die Ernte, d.h. das Gericht, statt. Somit ist auch evggu,j ein Hinweis für die Deutung von V.33, die im Folgenden in den Blick kommen soll. 102 Böttrich, Feigenbaum, 343; so v.a. in Dtn 8,8; Joel 2,22; Mi 4,4 u.ö. Dagegen ist, so Böttrich, der Feigenbaum kein Bild für Israel; zu erwägen ist diese Deutung höchstens für Joel 1,7. Auch zur Zeit Jesu ist der Feigenbaum keine feste, stehende Metapher, durch die reiche und zuverlässige Fruchtbarkeit ist jedoch auch hier ein enger Bezug zur künftigen Heilszeit gegeben (vgl. ebd. 345). 103 Vgl. Neumann-Gorsolke, Feige, 351. 104 Vgl. Bornkamm, Enderwartung, 11; Sand, Mt, 496; vgl. auch Jes 24,13; Offb 14,15f. 105 Die Zeichen werden nämlich nicht so deutlich sein, wie die Falschpropheten es vorgaukeln (V.24) - der Menschensohn wird vielmehr „wie ein Blitz“ (V.27) kommen (vgl. dazu oben sowie Erlemann, Naherwartung, 142). 106 Böttrich, Feigenbaum, 344; vgl. auch von Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 151-156. <?page no="109"?> 109 Die Deutung des Gleichnisses beginnt, wie schon erwähnt, mit einer Hinwendung „Jesu“ zu seinen Adressat_innen: sie sollen, wenn sie „dies alles“ ( pa,nta tau/ ta ) sehen, die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Dass „dies alles“ aber nicht, wie es häufig konstatiert wird, 107 auf die zuvor geschilderte und mit dem Gleichnis eng verbundene Parusie selbst referiert, sondern auf die Geschehnisse in ihrem Vorfeld, legt der Intertext 4 Esr 8,63-9,4 nahe. 108 63 Siehe, Herr, jetzt hast du mir eine Menge von Zeichen kundgetan, die du in der letzten Zeit tun willst; aber du hast mir nicht kundgetan, zu welcher Zeit. IX 1 Er antwortete mir und sagte: Das mußt du in dir selber ermessen. Wenn du siehst, daß ein Teil der vorausgesagten Zeichen vorüber ist, 2 dann wirst du erkennen, daß dies die Zeit ist, in der der Höchste die Welt, die von ihm geschaffen ist, heimsuchen will. 3 Wenn in der Welt erscheinen Erschütterungen an (verschiedenen) Orten, Verwirrung unter den Völkern, Anschläge unter den Nationen, Unruhen unter den Führern, Verwirrung unter den Fürsten, 4 dann wirst du erkennen, daß der Höchste darüber gesprochen hat seit den Tagen, die zuvor im Anfang gewesen sind. Dieser Text lässt sich als eine Beschreibung des Kenntnisstandes der Jünger an dieser Stelle der Rede lesen: Viele Zeichen sind ihnen offenbart worden (24,4b-28), die denen in 4 Esr 9,3 in etwa entsprechen. Der Zeitpunkt dieses Geschehens bleibt jedoch nach wie vor unklar (8,63; vgl. Mt 24,36) - auch die jeweilige Erzählstimme kennt ihn nicht. Ihr Wissen ist, was diesen Punkt betrifft, begrenzt - ebenso wie das Wissen des jeweiligen Autors und aller Menschen von der Entstehungszeit der Texte bis heute. Somit sind alle aufgefordert: „Das mußt du in dir selber ermessen“, und das wird möglich sein, wenn die angekündigten Ereignisse eintreffen. Somit ist pa,nta tau/ ta auf die in 24,4b-28 geschilderten „Wehen“ und „Bedrängnisse“ zu deuten, 109 die auf die im Anschluss geschilderte Parusie (V.29-31) hinweisen. Welches jedoch das Subjekt zu der Kopula evstin ist, ist nicht eindeutig zu entscheiden: 110 Stehen die Endzeitereignisse „nahe vor der Tür“ oder der Menschensohn? Grammatikalisch ist beides möglich. „Nahe vor der Tür“ bezieht sich auf die zeitliche und die räumliche Dimension von „Nähe“ 111 107 Vgl. die Belege bei Erlemann, Naherwartung, 138, der sich selbst ebenfalls für die Deutung von pa,nta tau/ ta auf alle eschatologischen Ereignisse einschließlich der Parusie ausspricht. 108 Auch Davies/ Allison, Mt 3, 366, und Gnilka, Mt 2, 335, verweisen auf diese Stelle. Übersetzung aus Schreiner, Buch, 370f. 109 Mit Beare, Mt, 471, Gnilka, Mt 2, 336; Heil, Parables, 186; Davies/ Allison, Mt 3, 366; Luz, Mt 3, 443; Fiedler, Mt, 368; Frankemölle, Mt 2, 406f.; gut denkbar ist m.E., dass die Lesenden pa,nta tau/ ta als „Rückbezug auf eben diese Wendung in 2 und 8 verstehen können“ (ebd.). Damit ist der Bezug zum Tempel und zum „Anfang der Wehen“ hergestellt. Davies/ Allison, Mt 3, 364, Anm. 254, ziehen auch die wie V.33 mit o[tan i; dhte eingeleiteten VV.15ff. in Betracht. 110 Mit Dormeyer, Feigenbaum, 368; Luz, Mt 3, 443. 111 Vgl. Erlemann, Naherwartung, 141. <?page no="110"?> 110 und somit auf die kosmischen Umwälzungen und das Kommen des Menschensohnes zum Gericht (V.29-31) 112 und damit auch auf die basilei,a . 113 Damit ist V.32f., wie gesehen, eine weitere Reaktion - wenn auch keine direkte Antwort 114 - „Jesu“ auf die Frage der Jünger nach dem Zeichen (V.3) sowie auf die Thematik des Zeitpunktes: Dass der Zeitpunkt gekommen ist, wird an einem Zeichen erkennbar sein, 115 und da sie nun vorgewarnt sind, werden sie es erkennen und richtig verstehen können. 116 Vom Feigenbaum zu lernen bedeutet dann, „das rechte Maß für die Zeit zu entwickeln, die Gegenwart als Zeit kurz vor dem Ende zu verstehen und die Worte Jesu (24,35) als fundamentum inconcussum in den momentanen Endzeitwirren und der kommenden Krise des Kosmos als einzige verlässliche Konstante wahrzunehmen“. 117 Das Kommen des Menschensohnes wird, wie im vorherigen Kapitel gesehen, als Tag Jhwhs stilisiert. Jedoch fehlt hier die z.B. bei Jes 13,6 und Joel 1,15; 2,1 zum Ausdruck kommende extreme Naherwartung: Der Tag ist nahe, heißt es hier, während bei Mt die Einleitung mit o[ tan abschwächend wirkt: Wenn ihr das alles seht, dann ist der Tag nahe. Damit ist V.32f. auch im Hinblick auf die Zeit ein deutendes und weiterführendes Fazit der Endzeitbeschreibungen. Gleiches gilt für die folgenden Verse: 2.3.2.2 Der Zeitpunkt (Mt 24,34-36 ) 34 avmh.n le,gw u``mi/ n o[ti ouv mh. pare,lqh| h` genea. au[th e[wj a'n pa,nta tau/ ta ge,nhtaiÅ 35 o` ouvrano.j kai. h` gh/ pareleu,setai( oi` de. lo,goi mou ouv mh. pare,lqwsinÅ 36 Peri. de. th/ j h`me,raj evkei,nhj kai. w[raj ouvdei.j oi=den( ouvde. oi` a; ggeloi tw/ n ouvranw/ n ouvde. o` ui`o,j( eiv mh. o` path.r mo,nojÅ Direkt an das Gleichnis und seine Deutung schließen sich V.34f. durch erneutes ge,nhtai und pa,nta tau/ ta an. Mit der Formel avmh.n le,gw u``mi/ n …, die der „Bekräftigung der eigenen Rede“ 118 dient, wendet sich „Jesus“ wiederum explizit an die lernende Adressat_innenschaft. Deren Aufmerksamkeit wird durch e[wj und die dreimalige Wiederholung von pare,rcomai auf die Zeit 112 Mit Davies/ Allison, Mt 3, 364. 113 Mt 3,2; 4,1; 10,17. Vgl. Dormeyer, Feigenbaum, 368 für die Parallelstelle Mk 13,28f: „Der Evangelist hält den Raum der möglichen Übertragungen im Sinne des irdischen Jesus offen.“ (Vgl. auch 370f.) 114 So aber Beare, Mt, 472. 115 Ebenso Frankemölle, Mt 2, 406. 116 Ebenso Hahn, Rede, 120. 117 Rölver, Existenz, 411; Hervorhebung ebd. 118 Berger, Formen, 307. <?page no="111"?> 111 gerichtet: Bis „dies alles“ geschehen sei, werde „diese Generation“ nicht vergehen (vgl. 16,28). h` genea. au[th referiert nicht auf ein konkretes Kollektiv, ein „Geschlecht“, 119 sondern ist temporal zu verstehen. Zwar legt es sich auf der Ebene des Textes scheinbar nahe, unter genea, die „Generation“ der Jesusnachfolger_innen zu verstehen. 120 Dies weist auf einen absehbaren Beginn des Geschehens hin, wenn auch nicht auf eine unmittelbare Naherwartung. Allerdings rechnete man für eine Generation etwa 30-40 Jahre. 121 Geht man also von der Entstehung des Matthäusevangeliums um 80 n. Chr. aus, ist es unwahrscheinlich, dass zu dieser Zeit noch Menschen aus der Generation Jesu am Leben waren. 122 Daher wird genea, zu Recht häufig in einem weiteren, kollektiv erweiterten Sinne als „Generation der Endzeit“ verstanden, 123 u.a. mit dem Hinweis darauf, dass den Zeitpunkt nur der Vater kenne (V.36). 124 Ist die Referenz von genea, also semantisch mehrdeutig, ist vor diesem Hintergrund im Blick auf seine Pragmatik jedoch festzuhalten: Auch wenn Tag und Stunde nicht vorausberechnet werden können, liegt der Zeitpunkt nicht irgendwann in ferner Zukunft. Vielmehr ist die jeweils lebende Generation mit dem Gesagten gemeint und wird von ihm betroffen sein - nicht nur von den Vorzeichen der Parusie, sondern auch vom Kommen des Menschensohnes selbst; jede Generation ist also die potentielle Generation der Endzeit. pa,nta tau/ ta schließt demnach im Gegensatz zu V.33 die Parusieschilderung V.29-31 mit ein. 125 Parallelisiert wird durch die doppelte Verneinung ouv mh, auch das Nicht- Vergehen „dieser Generation“ (V.34) und „meiner Worte“, d.h., der Worte „Jesu“ (V.35). Letzteres steht zudem in Antithese zum Vergehen des Himmels und der Erde. Durch die emphatische Verneinung verleiht „Jesus“ seinen Worten und Reden im Allgemeinen (vgl. 26,1) und der Endzeitrede im Besonderen gro- 119 Mit Luz, Mt 3, 443. Zu den unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten von genea, als das jüdische Volk, die Kirche oder die Menschheit als Ganzes; vgl. ebd. 444 und Davies/ Allison, Mt 3, 367. 120 So zuerst Reimarus, der die Naherwartung Jesu erkannte und gleichzeitig feststellte, dass Jesus sich darin täuschte (vgl. Luz, Mt 3, 444). 121 Vgl. Gnilka, Mt 2, 336; Luz, Mt 3, 443, Anm. 11. 122 Daher müsste eine Generation mehr als 50 Jahre umfassen (vgl. Fiedler, Mt, 368; Konradt, Israel, 262) - Konradt erwägt deshalb doch eine negative Qualifizierung des Begriffs genea, als Kollektivbezeichnung (vgl. ebd.). Davies/ Allison, Mt 3, 368, und Luz, Mt 3, 443, halten es dagegen für möglich, dass einige Augenzeugen Jesu zur Zeit des Mt noch lebten. Daher gelte: “when Matthew wrote … he did not have the problem we do.” (Davies/ Allison ebd.) 123 Vgl. Erlemann, Naherwartung, 140. Die Tradierung über die Jesusgeneration hinaus werde, so Erlemann ebd., erst durch die semantische Unschärfe von h` genea. au[th möglich. 124 Vgl. Dormeyer, Hausherrn, 375. 125 Vgl. Gnilka, Mt 2, 336; Davies/ Allison, Mt 3, 367; Fiedler, Mt, 368; vorsichtiger Luz, Mt 3, 443. <?page no="112"?> 112 ßes Gewicht und betont die Glaubwürdigkeit seiner Worte in einem doppelten Sinne: Er beansprucht Glaubwürdigkeit als Erzählstimme, die die endzeitlichen Ereignisse voraussagt, und ebenso als Erzählfigur, als Menschensohn und König, mit dem er erzählstrategisch parallelisiert wird und der im letzten Gericht das Urteil sprechen wird (25,31-46). Durch das Gericht wird er die basilei,a aufrichten 126 - in diesem Sinne werden seine Worte nicht vergehen. Es folgt nun ein Neueinsatz, signalisiert durch das adversative de, und dadurch, dass „Jesus“ nicht mehr von sich selbst in der 1. Person, sondern vom „Sohn“ in der 3. Person spricht. Allein stilistisch sticht dieser Satz hervor: Auf die Themaangabe folgt ein Mittelteil, der durch eine Anapher gekennzeichnet ist: 36 Peri. de. th/ j h`me,raj evkei,nhj kai. w[raj ouvdei.j oi=den( ouvde. oi` a; ggeloi tw/ n ouvranw/ n ouvde. o` ui`o,j Umso stärker tritt das Ende des Satzes als Antithese zu der vorherigen klimaktischen Aufzählung (niemand - nicht die Engel - nicht der Sohn) hervor: eiv mh. o` path.r mo,nojÅ Hier wird die im Folgenden häufiger gebrauchte Wendung „Tag und Stunde“ als Bezeichnung für den Zeitpunkt der Parusie eingeführt, wodurch der Vers gleichsam zu einer Überschrift der folgenden Paränesen wird. 127 Der Ausdruck h`me,ra evkei,nh verweist wiederum auf den Tag Jhwhs. Bei w[ra handelt es sich dagegen um eine Spezifikation, die im Endeffekt synonym ist. 128 Statt ginw, skw (V.32f.), das auf den Erwerb von Wissen referiert, steht hier oi=da ; es geht also um den theoretischen Besitz von Wissen 129 und nicht um etwas, das es anhand von Beobachtung zu erkennen gilt. Dieses Wissen ist exklusiv ( mo, noj ) dem Vater vorbehalten. Selbst der Sohn, der zu ihm in einer kaum enger zu denkenden Beziehung steht - die innerhalb der Rede einmalige Verwendung von Familienmetaphorik betont dies - hat dieses Wissen nicht. Zwar wird Jesus als o` ui`o,j mou o` avgaphto,j( als Gottes geliebter Sohn, präsentiert (3,17, vgl. auch 2,15; 17,5), der weiß, dass ihm alles vom Vater 126 Zur Illustration und Verdeutlichung dieses Sachverhalts trägt Jes 51,6 bei: Wenn Himmel und Erde samt ihrer Bewohner_innen vergehen, bleiben das Heil und die Gerechtigkeit Gottes ewig bestehen. 127 So Sand, Mt, 497; Davies/ Allison, Mt 3, 374, sowie Frankemölle, Mt 2, 408f.: Dieser Eindruck vermittelte sich vermutlich auch den ersten Leser_innen, auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen: „Die notvollen Bedrängnisse im jüdischrömischen Krieg können nicht als das Ende der Welt interpretiert werden, da sie bereits zurückliegen und lebend überstanden wurden.“ 128 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 378. 129 Vgl. Horstmann, oi=da , 1207; vgl. auch Rölver, Existenz, 401. <?page no="113"?> 113 übergeben ist. Niemand außer ihm, dem Sohn, steht in einer derart engen Beziehung zum Vater, niemand kennt ( evpiginw,skei ) ihn besser (11,27). Trotzdem weiß er nicht alles, was der Vater weiß. Vielmehr bezieht sich seine Kenntnis „auf die Aufgabe, die Gott seinem Sohn, dem Messias Jesus übertragen, wozu er ihn bevollmächtigt hat“. 130 Zwischen 11,27 und 24,36 besteht damit kein Widerspruch. 131 An dieser Stelle wird nun auch deutlich, warum „Jesus“ auf die klare Jüngerfrage nach dem Zeitpunkt keine klare und vollständige Antwort gibt: 132 Er kennt ihn nicht, ebenso wenig wie die bereits als Gerichtshelfer eingeführten a; ggeloi - und damit alle führenden Charaktere im eschatologischen Szenario 133 - oder irgendjemand anders - nur der Vater, der an dieser Stelle innerhalb der Endzeitrede zum ersten und letzten Mal erwähnt wird. Dies ist ein Überraschungsmoment für die Lesenden, gerade vor dem Kontrast von V.35: Auch „Jesus“, dessen Worte Himmel und Erde überdauern werden, kennt den Zeitpunkt nicht. Trotz der Vollmacht, die ihm der Vater verliehen hat (vgl. V.30; 11,27), ist dieser jedoch immer noch „allein Herr über die Zeit“. 134 Zur Nähe des Zeitpunktes gehört daher untrennbar seine Ungewissheit, denn nur beides zusammen führt zur Wachsamkeit. 135 V.36 interpretiert daher V.34 und schränkt die hier ausgesagte Naherwartung ein. Somit wird auch die pragmatische Funktion des Verses deutlich: Wenn die Engel und der Sohn den Zeitpunkt des Endes nicht kennen, sollten die Menschen auch nicht darüber spekulieren, 136 denn das Ende datieren zu wollen ist unmöglich und damit auch müßig. 137 130 Fiedler, Mt, 245. 131 Vgl. Fiedler, Mt, 369. Zu den dogmatischen Schwierigkeiten, die der Vers seinen Ausleger_innen immer wieder bereitet, vgl. Luz, Mt 3, 448f. 132 Ähnlich Erlemann, Naherwartung, 142. 133 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 378; auch das Nichtwissen der Engel ist alttestamentlich belegt, vgl. ebd. 134 Luz, Mt 3, 448. 135 Dies bewirkt zweierlei: „Das Wissen um die Nähe der Parusie bewahrt die Aussagen über die Ungewissheit ihres Zeitpunktes davor, zum Ausdruck einer letztlich das Leben nicht mehr bestimmenden Fernerwartung zu werden; umgekehrt bewahrt das Nichtwissen über ihren Zeitpunkt die Gemeindeglieder davor, über Gottes Heilsplan Bescheid wissen zu wollen.“ (Luz, Mt 3, 448). 136 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 378. Gleichzeitig eröffnet das Zusammenspiel von V.34 und 36 eine weitere Deutungsmöglichkeit: h` genea. au[th kann enger gefasst werden als oben vorgeschlagen und tatsächlich auf die Generation der Augenzeugen bezogen werden, so dass von einer Naherwartung Jesu auszugehen wäre. Dass das Ende aber zum Zeitpunkt der Lektüre immer noch nicht vorauszusehen bzw. eingetreten ist, erklärt sich mit V.36 so, dass Jesus sich - „wahrhaft menschlich“ - in seiner Naherwartung irrte, weil auch ihm Tag und Stunde nicht bekannt waren (vgl. Luz, Mt 3, 445). 137 Vgl. Rölver, Existenz, 555. <?page no="114"?> 114 2.3.2.3 Die Tage Noahs (Mt 24,37-39) 37 {Wsper ga.r ai` h`me,rai tou/ Nw/ e( ou[twj e; stai h` parousi,a tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pouÅ 38 w`j ga.r h=san evn tai/ j h`me,raij Îevkei,naijÐ tai/ j pro. tou/ kataklusmou/ trw,gontej kai. pi,nontej( gamou/ ntej kai. gami,zontej( a; cri h-j h`me,raj eivsh/ lqen Nw/ e eivj th.n kibwto,n( 39 kai. ouvk e; gnwsan e[wj h=lqen o` kataklusmo.j kai. h=ren a[pantaj( ou[twj e; stai Îkai.Ð h` parousi,a tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pouÅ Der genaue Zeitpunkt der Parusie des Menschensohnes ist, wie gesehen, nicht bekannt (V.36), und auch ein Zeichen dafür wird es erst geben, wenn sie ganz kurz bevorsteht. Als Illustration und Begründung dieser „negativen“ Aussagen erfolgt nun eine „positive“ Aussage: „Jesus“ vergleicht die Parusie mit den Tagen Noahs. 138 Dabei wird eine kurze, zugespitzte Paraphrase des Sintflutgeschehens von einem Demonstrativsatz (V.37b.39b; vgl. V.27c) gerahmt, 139 der verdeutlicht, womit die Lesenden die Tage Noahs vergleichen sollen: die Parusie des Menschensohnes. Dieser Vergleich fungiert als weitere Antwort auf beide Fragen der Jünger_innen, thematisiert aber darüber hinaus einen weiteren wichtigen Aspekt: Das plötzliche, unerwartete Kommen der Parusie. Wichtigster Intertext ist hier ganz offensichtlich - markiert durch den Namen „Noah“ - die Sintfluterzählung Gen 6-9. Aufgrund der geringen Selektivität, die onomastischen Markierungen eigen ist, kann die kurze Sequenz ai` h`me,rai tou/ Nw/ e bei den Lesenden das gesamte Sintflutgeschehen aufrufen. Der Name selbst weckt die Assoziation des verschonten Gerechten; in der Rezeption von Gen 6-9 erscheinen zudem häufig noch andere mit Noah, die ebenfalls verschont werden. 140 Wer nach welchen Kriterien verschont wird, steht an dieser Stelle jedoch nicht im Mittelpunkt, auch nicht, aus welchen Gründen die Flut über die Menschheit kommt. 141 Vielmehr geht es um diejenigen, die nicht verschont werden. 142 138 Dazu Davies/ Allison, Mt 3, 380: “As it was in the beginning, so shall it be in the end.” 139 Während w[sper semantisch eindeutig auf einen Vergleich abzielt und w[sper ga,r bei Matthäus häufiger erläuternd an Aussagen oder Thesen anknüpft, die unmittelbar vorangehen (vgl. Mt 12,40; 24,27.37), muss ou[twj nicht unbedingt eine Gleichsetzung meinen, sondern kann die Adressat_innen vielmehr zu eigenen Erwägungen, Einsichten und Urteilen anregen (vgl. Münch, Gleichnisse, 136f.). 140 In Ez 14,14 werden für den Fall einer neuerlichen Sintflut Daniel und Hiob namentlich genannt, 1 Petr 3,20 und 2 Petr 2,5 sprechen von „acht Seelen“, die verschont werden. 141 Ebenso Luz, Mt 3, 450. 142 Der Noahbund, der der Menschheit eigentlich Schutz vor derlei Universalkatastrophen verspricht, kommt hier nicht in den Blick. Die Frage Rinikers, ob der Bund, den Gott mit Noah und damit auch mit Israel geschlossen hat, nicht mehr gilt (vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 157), ist daher im Text nicht angelegt. <?page no="115"?> 115 Dies wird durch die folgende Erklärung (V.38f.), die durch ga,r auf den Vergleich bezogen ist, deutlich: Die Flut hat - ebenso wie die Parusie es tun wird - die alltäglichen und lebensstrukturierenden Aktivitäten der Familie unterbrochen: essen, trinken, heiraten und verheiratet werden. 143 Jedoch geht es um mehr als das: Die Erwähnung der Eheschließung verweist möglicherweise auf den Wunsch, die Generationenfolge fortzusetzen, 144 Essen und Trinken dienen der Lebenserhaltung - und ein solcher selbstgewirkter Erhalt des eigenen Lebens wird bei Einbruch der Parusie nicht mehr möglich sein. Umso mehr erscheinen die Tage vor der Sintflut als letzte Entscheidungszeit, die die Flutgeneration aber nicht genutzt hat. 145 Dabei geht es keinesfalls darum, das Verhalten, die Verderbtheit der Sintflutgeneration anzuprangern, wie es in der frühjüdischen Rezeption der Sintfluterzählung häufig geschieht. 146 Auch um den „Stumpfsinn“ des alltäglichen Lebens, 147 in dem die Bedrohung nicht bemerkt wird, also um einen verdeckten Vorwurf an die Flutgeneration, geht es nicht. 148 Jedoch greift auch das andere Extrem der Deutung von V.38f. zu kurz: Es gehe hier, so Luz, allein um das unerwartete Kommen der Parusie wie der Sintflut, weil weder ein Grund für ihr Kommen noch Reaktionsmöglichkeiten genannt würden. 149 Der Grund für das Kommen der Sintflut, d.h. das Verhalten der Sintflutgeneration, liegt zwar m.E. tatsächlich nicht im Fokus des Textes, 150 pragmatisch ist hier aber sehr wohl eine Aufforderung an die Adressat_innen impliziert: Zunächst werden die Menschen der Flutgeneration dadurch, dass sie gerade nicht als verfehlt Lebende dargestellt sind, sondern als Menschen, die gewöhnliche Alltagstätigkeiten verrichten, für die Lesenden zu Identifikationsfiguren. In der geschilderten Lebensführung können sie ihr eigenes Leben wiedererkennen und damit auch die hier explizierte Gefährdung auf sich beziehen, so dass es sich in erster Linie um eine kathartische Identifikation handeln dürfte, die eine tragische Erschütterung hervorruft: Auch ihnen hätte es geschehen können, dass sie wie die Menschen zur Zeit der Sintflut den Gang Noahs in die Arche nicht bemerkt 143 Ersteres gilt für Männer, letzteres für Frauen, oder es wird aktivisch als „verheiraten“ verstanden - dann kommen die Frauen gar nicht in den Blick; vgl. Luz, Mt 3, 450. So oder so ist hier ein patriarchalisches Eheverständnis vorausgesetzt: „Junge Männer nehmen sich eine Frau; Väter verheiraten ihre Töchter“ (Fiedler, Mt, 369, Anm. 10; vgl. auch Schottroff, Schwestern, 233). 144 Vgl. Fiedler, Mt, 369, Anm. 110. 145 Vgl. Gnilka, Mt 2, 337. 146 Belege bei Strack/ Billerbeck, Kommentar I, 961-964. Vgl. Beare, Mt, 474, sowie Luz, Mt 3, 450, der beobachtet, dass generell häufig eine subtile Abwertung in den Text hineingetragen werde, der aus der Wirkungsgeschichte der Sintfluterzählung selbst resultiert. 147 So Gnilka, Mt 2, 337. 148 Gegen Riniker, Gerichtsverkündigung, 182. 149 Vgl. Luz, Mt 3, 450. 150 Ebenso Riniker, Gerichtsverkündigung, 154; Luz, Mt 3, 450. <?page no="116"?> 116 hätten (V.39). Sie bemerkten es nicht ( ouvk e; gnwsan ) - dieser kurze Nebensatz steht in Antithese zu ginw,skete (V.32f.) und damit zu der Aufforderung, an den Zeichen der Zeit zu erkennen, dass die Parusie nahe ist. Durch diese Antithese wird eine Leerstelle des elliptischen V.39a gefüllt: was die Menschen der Flutgeneration nicht erkannten bzw. zu deuten wussten, waren die Zeichen der Zeit: der Gang Noahs in die Arche. 151 Dieser Gang hätte für die Menschen Vorbildfunktion gehabt. Wären auch sie in die Arche gegangen bzw. hätten sich selbst eine Arche gebaut, hätten sie die Flut überlebt. Der Gang in die Arche ist also nicht nur als Zeichen für die nahe Sintflut zu verstehen, sondern auch als indirekte Handlungsanweisung, als Vorbild. So wird hier wiederum bestätigt, dass es Vorzeichen für die Parusie geben wird, wie schon durch das Gleichnis vom Feigenbaum deutlich geworden ist. Diese Zeichen gilt es zu beachten und auf sie zu reagieren. Jedoch - und das ist gegenüber V.32f. neu - gilt es, sie überhaupt zu erkennen, weil sie uneindeutig sein werden und daher der Deutung bedürfen. Werden die Zeichen dagegen ignoriert, wird die Parusie völlig unerwartet hereinbrechen, und dann wird es zur angemessenen Vorbereitung zu spät sein. Dies ist fatal, denn sie kommt unaufhaltsam: Bereits zum zweiten Mal wird das Kommen des Menschensohnes mit einem Wetterphänomen verglichen. Der im parallel zu V.38 formulierten V.27 beschriebene Blitz vom Himmel verdeutlicht ebenso wie das Sintflutgeschehen, dass die Parusie plötzlich und unerwartet kommen wird und dass sie universal und katastrophal sein wird. 152 So werden beide Phänomene zu Metaphern für ein universales, alle Menschen betreffendes Vernichtungsgericht. 153 Daher fordert der Text auch nicht zur Umkehr auf und beinhaltet keinerlei direkte Paränese. 154 Angesichts der Unausweichlichkeit des Gerichts und der Plötzlichkeit seines Eintretens reagiert er vielmehr auf die fatale Ahnungslosigkeit der Menschen. Er mahnt sie indirekt, Warnzeichen nicht zu ignorieren, um sie vor einer bösen Überraschung zu bewahren. 155 Wie allerdings angemessen auf diese Zeichen zu reagieren ist, wird erst im Folgenden erläutert. Auch erschöpft sich das Verständnis des Sintflutgeschehens, wie es in Gen 6-9 geschildert ist, nicht in der mit ihm einhergehenden Vernichtung, 151 Rölver will Noah an dieser Stelle darüber hinaus als „Wissensträger“ verstanden wissen, dem „eine Gruppe Unwissender gegenübergestellt“ wird (Rölver, Existenz, 474). Die Arche deutet Rölver allegorisch auf die „Worte Jesu als soteriologisches Unterpfand“ (vgl. V.35; ebd., 475) - und eivse,rcomai auf „in die basileia hineingehen“ (vgl. ebd. 513). Eine solche Deutung auf das Gerichtsgeschehen selbst ist m.E. jedoch schwer möglich, weil der Gang Noahs in die Arche erfolgt, bevor die Sintflut anbricht. Auch liegt das Handeln Noahs nicht im Fokus, sondern wird nur in einem kurzen Nebensatz geschildert, so dass es schwerlich als positives Beispiel, etwa als „Vorsorge“, taugt. 152 Vgl. Hahn, Rede, 121; Luz, Mt 3, 450. 153 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 154f.; Wendebourg, Tag, 264. 154 Vgl. Müller, Jesus, 118. 155 Mit Riniker, Gerichtsverkündigung, 159. <?page no="117"?> 117 sondern mit ihm verbindet sich auch eine Heilsperspektive: Der Neuanfang Gottes mit den Menschen. Unheils- und Heilsperspektive gehören bei der Sintflut wie auch bei der Parusie unmittelbar zusammen. 156 Dieser Aspekt wird im Folgenden zum Thema. 2.3.2.4 Zwei werden angenommen, zwei zurückgelassen werden (Mt 24,40f.) 40 to,te du,o e; sontai evn tw/ | avgrw/ |( ei-j paralamba,netai kai. ei-j avfi,etai\ 41 du,o avlh,qousai evn tw/ | mu,lw|( mi,a paralamba,netai kai. mi,a avfi,etaiÅ Die beiden parallel formulierten Sätze (V.40f.) schließen durch to,te direkt an den vorherigen Vers an. Sie illustrieren das hier thematisierte plötzliche Eintreten der Parusie und die Ahnungslosigkeit der Menschen und fügen einen neuen, im Folgenden wichtigen Aspekt hinzu: Die Scheidung zwischen den Menschen. Durch Verben im passivum divinum ( paralamba,netai( avfi,etai ), die in der Parallelität der Sätze ein Homoioteleuton bilden, wird betont, was mit den Menschen jeweils geschehen wird. Auf diese Weise werden jeweils zwei Handlungsstränge angedeutet, die konträr zueinander verlaufen. Hier findet sich bereits die narrative Grundstruktur der in 24,45-25,14 folgenden Gleichnisse: Die Figurenkonstellation kann - bezieht man eine göttliche Instanz (i.e. der Menschensohn bzw. seine Engel/ Boten) ein, für die das passivum divinum steht - als dramatisches Dreieck beschrieben werden: Die göttliche Instanz ist der Handlungssouverän, der jeweils einem „Zwillingspaar“ von Männern (V.40) bzw. Frauen (V.41) gegenübersteht und eine Person mitnimmt und eine zurücklässt. Diese Konstellation begegnet bereits im Gleichnis vom Hausbau (Mt 7,24-27), wo das Achtergewicht auf dem Scheitern liegt. Von diesem Gleichnis unterscheidet V.40f. jedoch zum einen, dass die Personen vollkommen ebenbürtig erscheinen, und zum anderen, dass keine ihrer Reaktionen oder Handlungsweisen geschildert werden - weder vor noch nach dem Eingreifen der göttlichen Instanz. Somit ist es an den Lesenden zu deuten, was es bedeutet, mitgenommen bzw. zurückgelassen zu werden und aus welchen Gründen dies geschieht. paralamba,nw lässt an das Sammeln der Auserwählten denken (V.31), das somit als die positive Option angesehen werden kann. Das Gegenteil ist das Zurückbleiben ( avfi,emai ); es bedeutet, im Bild des Noah-Vergleichs gesprochen, in den Fluten umzukommen (V.39; vgl. auch 23,38), d.h. der Vernichtung preisgegeben zu sein - im Gegensatz zu den Auserwählten, die von der 156 Vgl. Hahn, Rede, 121, der jedoch im Dualismus „Gericht“ und „Heil“ verbleibt. <?page no="118"?> 118 Erde entrückt und auf diese Weise vor der Katastrophe des Gerichts bewahrt werden. 157 Bei den Erzählfiguren handelt es sich um Personen in einer ländlichen Umgebung bei alltäglichen Arbeiten. Sie handeln nicht situativ, nicht außergewöhnlich, sondern tun das Notwendige für ihren Lebensunterhalt. Männer wie Frauen verrichten die für sie typischen Arbeiten, die notwendig und in keiner Weise ehrenrührig sind. Auch zwischen den unterschiedlichen Tätigkeiten besteht kein Unterschied bzgl. der Wertigkeit bzw. der Konsequenzen. Durch den Parallelismus wird dies zusätzlich betont. Somit geht es hier nicht um Schuldzuweisungen oder gar um eine Paränese gegen Reiche und Privilegierte, denn hier ist von „kleinen Leuten“ die Rede. 158 Außer ihren Tätigkeiten wird nichts über sie berichtet, so dass keine möglichen Kriterien für das Angenommenbzw. Zurückgelassenwerden zum Vorschein kommen. Beide Figuren sind flat characters, die offen für die sympathetische und auch kathartische Identifikation der Lesenden mit ihnen sind. Aus welchem Grund die einen angenommen werden und die anderen nicht, ist nicht nachvollziehbar; der Fokus liegt auf der Ungewissheit. So können sich auch die Lesenden dem ungewissen Ausgang des Gerichts auch für sie selbst nicht entziehen: Vorher war es möglich, sich selbst zu den Auserwählten zu zählen (V.31) und sich, wissend, dass die Sintflut zu Noahs Zeiten eingetreten ist, auch von den Menschen dieser Zeit zu distanzieren. 159 Nun aber wird deutlich, dass es im Vorhinein völlig offen ist, wer angenommen und wer zurückgelassen werden wird. Es bedeutet aber auch, dass niemand bereits letztgültig verurteilt ist. 160 So bleibt auch hier indirekt die Aufforderung, wachsam zu sein, d.h., sich nicht von der plötzlich hereinbrechenden Parusie überraschen zu lassen. 161 Was dieses Wachen, das im folgenden Vers angemahnt wird, konkret bedeutet, wird in den anschließenden Gleichnissen erläutert. 162 V.40f. nimmt 157 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 69; Luz, Mt 3, 450; Gnilka, Mt 2, 337. Beare, Mt, 474, sieht es dagegen als unklar an, welches der beiden Verben auf ein gutes Ergehen referiert. 158 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 73. 159 Vgl. Luz, Mt 3, 451. Hier widerspricht Luz sich jedoch selbst, wenn er konstatiert, dass sich die Lesenden „bei V 37-39 von den bösen Menschen zur Zeit Noachs distanzierten“, denn in seiner Deutung dieser Verse hatte er noch festgestellt, dass hier „nicht eine versteckte Anklage“ formuliert werde (ebd. 450). 160 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 73. 161 Vgl. Gnilka, Mt 2, 338. 162 Die Beobachtung Rinikers, Gerichtsverkündigung, 63, dass Jesus „seinen Zuhörern das Gericht ohne Wenn und Aber auf den Kopf zusagen konnte, ohne eine Begründung dafür zu geben, und ohne irgendeinen ‚Ausweg‘ aufzuzeigen“, trifft daher in diesem Sinne nicht zu und rührt wohl daher, dass Riniker V.40f. als einzelnes Jesuslogion behandelt und damit aus dem Kontext herausreißt, in den es bei Mt gestellt ist. Dies ist seiner am historischen Jesus orientierten Fragestellung geschuldet, die von der meinen abweicht. <?page no="119"?> 119 deren Struktur, wie gesehen, in kürzester Form bereits vorweg. Somit deutet sich an dieser Stelle zum ersten Mal die Vorstellung eines Scheidungsgerichtes an, die im Folgenden eine große Rolle spielen wird. V.40f. kann daher als Schnittstelle zwischen den unterschiedlichen Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede angesehen werden: Ging es bisher primär um ein Vernichtungsgericht, aus dem es nur für die Auserwählten eine Rettungsperspektive gibt, wird das Gericht im Folgenden als Beurteilungs- und Scheidungsgericht ausgemalt - in V.40f. sind gleichsam beide Perspektiven enthalten. 2.3.2.5 „Seid wachsam! “ (Mt 24,42-44) 42 Grhgorei/ te ou=n( o[ti ouvk oi; date poi,a| h`me,ra| o` ku,rioj u`mw/ n e; rcetaiÅ 43 VEkei/ no de. ginw,skete o[ti eiv h; |dei o` oivkodespo,thj poi,a| fulakh/ | o` kle,pthj e; rcetai( evgrhgo,rhsen a'n kai. ouvk a'n ei; asen diorucqh/ nai th.n oivki,an auvtou/ Å 44 dia. tou/ to kai. u`mei/ j gi,nesqe e[toimoi( o[ti h- | ouv dokei/ te w[ra| o` ui`o.j tou/ avnqrw,pou e; rcetaiÅ V.42 resümiert, was angesichts der in V.37-41 angesagten Ereignisse zu tun ist, und schließt damit an die Aussage zum unbekannten Zeitpunkt (V.36) an: Weder der Tag noch die Stunde (V.44) sind bekannt. Gleichzeitig fungiert er als Überschrift der folgenden Gleichnisse V.43.45-51 und 25,1-13 und bildet mit V.44 den Rahmen des kurzen Gleichnisses vom Dieb. Mittels dreier Imperative ( grhgorei/ te( ginw,skete( gi,nesqe e[toimoi ) wendet sich „Jesus“ zum ersten Mal seit der Deutung des Feigenbaumgleichnisses (V.33) direkt an die Adressat_innen. Er konfrontiert sie mit der gebotenen Wachsamkeit angesichts ihres Unwissens: Sie kennen weder den Tag, an dem der ku, rioj kommt (V.42) noch die Stunde, in der der ui``o.j tou/ avnqrw,pou kommt (V.44). Ebenso wenig kannte der Hausherr des Gleichnisses die Nachtwache, 163 in der der Dieb kam, der deshalb in sein Haus einbrechen konnte (V.43). Um den Zusammenhang zu verdeutlichen, nimmt der Vers die Verben grhgore,w und oi=da aus V.42 in Form des Irrealis der Vergangenheit wieder auf. Auf diese Weise wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem an die Adressat_innen gerichteten Imperativ sowie der Feststellung ihrer Unkenntnis und der potentiellen, aber nicht realen Kenntnis des Hausherrn und seinem daraus resultierenden potentiellen, ebenfalls nicht realen Verhalten: 164 Hätte er gewusst, wann der Dieb einbricht, hätte er gewacht und ihn am Einbrechen gehindert. Die Einleitung VEkei/ no de. ginw,skete verdeutlicht jedoch, dass der Zusammenhang zwischen Gleichnis und Überschrift einen Denk- und 163 Eine Nacht teilt sich in der jüdischen Tradition in drei Nachtwachen; vgl. Gnilka, Mt 2, 338. 164 Vgl. Labahn, Menschensohn, 154. <?page no="120"?> 120 Erkenntnisprozess erfordert, der von den Adressat_innen selbst zu leisten ist. 165 Dass sich das Gleichnis nämlich tatsächlich direkt an die Lesenden richtet, verdeutlicht die Begründung dia. tou/ to kai. u`mei/ j (V.44), die das Gleichnis nun auf das Kommen des Menschensohnes bezieht: Wann dieser kommt, wissen die Lesenden nicht. Durch diese Formulierung werden zudem ku, rioj und ui``o.j tou/ avnqrw,pou parallelisiert: Alle drei Verse 42-44 beginnen mit einer imperativischen Formulierung, gefolgt von einem o[ ti -Satz, der mit e; rcetai endet (Epipher). Auf dem Kommen liegt daher die Betonung. Die Figur des Hausherrn als Handlungssouverän ist im Matthäusevangelium bereits durch mehrere Gleichnisse eingeführt (13,22.52; 20,1.11; 21,33). An dieser Stelle fungiert er jedoch nicht als despotische Erzählfigur, die die Befehlsgewalt über andere hat, sondern als Figur der kathartischen Identifikation für die Lesenden. Dies wird dadurch ermöglicht, dass er nur in einem einzigen Punkt charakterisiert wird, und dieser verbindet ihn mit den Lesenden: Beide sind hinsichtlich des Zeitpunkts ahnungslos. Ansonsten bleibt der oivkodespo,thj ein flat character; über seine Charaktereigenschaften, seine Macht und seinen Einfluss o.ä. wird nichts bekannt, wodurch er sich als Identifikationsfigur umso mehr anbietet. Die Erzählfigur, die mit dem ku, rioj bzw. dem ui`o.j tou/ avnqrw,pou verglichen werden soll - so legt es die parallele Formulierung nahe (vgl. auch 1 Thess 5,1) - ist dagegen schon durch seine Bezeichnung als Dieb und sein Handeln charakterisiert: Er bricht in das Haus ein, und einen Dieb gilt es zu fürchten als „eine existenzbedrohende Realität der antiken Welt“. 166 Diebe eignen sich damit auch nicht zu narrativen Helden und Identifikationsfiguren. Für das Gleichnis ist vielmehr ihre Eigenschaft von Bedeutung, grundsätzlich unangekündigt und überraschend zu Werke zu gehen. Der Zeitpunkt ihres Kommens lässt sich daher zwar nicht voraussehen, aber da diese grundlegende Eigenschaft bekannt ist, ist es dennoch nötig, auf ein solches unliebsames Kommen vorbereitet zu sein. 167 Dies ist, so wird es hier suggeriert, nur durch Wachsamkeit möglich. Auf den ersten Blick erscheint das Gleichnis logisch und nachvollziehbar: Den eigenen Besitz gilt es vor Dieben zu schützen. 168 So wie der Hausherr gehandelt hätte - vorausgesetzt, er hätte den Zeitpunkt gekannt - hätte wohl jede_r gehandelt. 169 Der Irrealis legt jedoch nahe, dass es sich um einen hypothetischen Fall handelt: Der Hausherr hätte gar nicht wissen können, wann 165 Vgl. Labahn, Menschensohn, 154. 166 Labahn, Menschensohn, 156. Gleichwohl können „sie als Produkt der sozialen Verhältnisse Palästinas unter römischer Herrschaft verstanden werden (…), die ihren sozialen Ursprung in der verbreiteten Armut unter anderem aufgrund der Abgabenlast, aber auch von Hungersnot und anderen Krisensituationen haben“ (ebd.). 167 Vgl. Labahn, Menschensohn, 157. 168 Vgl. Labahn, Menschensohn, 154. 169 Riniker, Gerichtsverkündigung, 203. <?page no="121"?> 121 der Dieb kommen wird. Deshalb hätte er sich auch nicht darauf einstellen können, denn jede Nacht die ganze Nachtwache lang zu wachen, ist unmöglich. 170 Es geht dem Gleichnis also in erster Linie um den unbekannten Zeitpunkt und damit um das überraschende Kommen zur Unzeit. 171 Dass es aber lediglich eine Illustration von V.36 sein sollte, ist wegen der wiederholten, an die Adressat_innen gerichteten, zur Wachsamkeit und zur Reflexion auffordernden Imperative nicht naheliegend. Eine weitergehende Deutung des Gleichnisses stößt allerdings auf einige Schwierigkeiten: Der Dieb ist eine vollkommen negativ konnotierte Figur, deren Kommen es zu vermeiden gilt. Mit dem Kommen des Menschensohnes zum Gericht ist jedoch auch die Durchsetzung der basilei,a verbunden, es ist also zumindest ambivalent. 172 Auch kann ein Dieb an seinem Tun gehindert werden - Wachsamkeit ist dabei vorausgesetzt. Die Parusie kann jedoch durch nichts aufgehalten werden, auch nicht von den Wachsamen. Daher ist die Deutung Jülichers weiterführend, dass hier in erster Linie die möglichen negativen Folgen der Parusie des Menschensohnes, also ihr Bedrohungsaspekt und damit die Warnung vor dem Gericht, im Fokus stehen 173 - wie schon in V.37-41. Diese, und nicht die Parusie als solche, gilt es durch stetige Wachsamkeit abzuwenden. Damit ist die Aufforderung zur Wachsamkeit und Bereitschaft noch nicht inhaltlich gefüllt, dies leisten die folgenden Gleichnisse. Dieses Gleichnis verdeutlicht vielmehr die Problematik des Sachverhalts: der Zeitpunkt der Parusie ist unbekannt, sie kommt überraschend und ist nicht aufzuhalten. Es gibt jedoch die Möglichkeit, sich auf ihr Kommen vorzubereiten, so dass sie nicht zerstörerisch wirkt wie der Einbruch eines Diebes. 174 170 Ebenso Frankemölle, Mt 2, 412. 171 Ebenso Erlemann, Naherwartung, 154; ähnlich Labahn, Menschensohn, 155; Luz, Mt 3, 455. 172 Ähnlich Labahn, Menschensohn, 155, der allerdings herausstellt, dass man das Kommen des Menschensohnes im Gegensatz zum Dieb nicht vermeiden wolle - im Gegenteil. Das ist m.E. nur bedingt zutreffend: Dass sein Kommen eine explizit bedrohliche Komponente hat, wird nicht zuletzt durch die wiederholte Mahnung zur Wachsamkeit mehr als deutlich. So konstatiert Riniker, Gerichtsverkündigung, 200, zu Recht, dass die Parusie nicht einfach negativ oder positiv ist, sondern es darauf ankommt, ob jemand auf sie vorbereitet ist. 173 Vgl. Jülicher, Gleichnisreden, 142f.; ebenso Gnilka, Mt 2, 338; anders Labahn, Menschensohn, 158. 174 Ähnlich Riniker, Gerichtsverkündigung, 200. <?page no="122"?> 122 2.3.3 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ Mt 24,32-44 fungiert, wie gesehen, als Erläuterung der endzeitlichen Ereignisse und Überleitung zu den Gleichnissen 24,45-25,30 sowie der Endgerichtsszene. V.32-36 setzen sich mit dem Zeitpunkt der Parusie auseinander: Mittels des Gleichnisses vom Feigenbaum wird ein erkennbares Zeichen angekündigt, das auf ihre Nähe hinweisen wird. Die Parusie steht nicht unmittelbar bevor, aber auch nicht in unbestimmter Ferne - jedoch kennt nur der Vater, nicht aber der Sohn den Tag und die Stunde. Sie kommt für die Menschen daher plötzlich und unerwartet und bedeutet Unheil und Vernichtung für diejenigen, die die Zeichen der Zeit verkennen und sich nicht entsprechend vorbereiten (V.37-39). Wer jedoch gerettet wird und wer zurückbleibt, ist letztlich ungewiss (V.40f.). An dieser Stelle zeigt sich eine wichtige Schnittstelle der Rede: Die Parusie kommt plötzlich und unerwartet und hat universale Konsequenzen („Vernichtungsgericht“), bringt aber auch eine Unterscheidung zwischen Menschen mit sich, die sich im Vorhinein nicht voraussehen lässt („Scheidungsgericht“). Darum gilt es wachsam und vorbereitet zu sein, auch wenn dies beinahe unmöglich erscheint (V.42-44). Was solche Wachsamkeit angesichts des kommenden Gerichts bedeutet, ist das Thema der folgenden Gleichnisse. <?page no="123"?> 123 2.4. Das Gleichnis vom treuen und vom schlechten Sklaven (Mt 24,45-51) 2.4.1 Einleitung Die einleitende, an die Adressat_innen gerichtete Frage „Jesu“, wer o`` pisto.j dou/ loj kai. fro,nimoj sei, markiert im Anschluss an die Mahnung zur Wachsamkeit (V.42-44) einen abrupten Themenwechsel. Durch die konsekutive Konjunktion a; ra wird jedoch deutlich, dass sich das Gleichnis V.45-51 auf diese Mahnung bezieht - es ist, wie die folgenden Gleichnisse auch, als Illustration dieser Mahnung zu lesen. 175 Im Folgenden lotet es zwei entgegengesetzte Verhaltensmöglichkeiten und deren Konsequenzen für einen Sklaven aus, der für die Zeit der Abwesenheit seines Besitzers einen bestimmten Auftrag von diesem erhalten hat. 176 Vorausgesetzt ist hierbei die Annahme, dass es sich um dieselbe Person handelt. 177 Diese Schilderung lässt sich in zwei Teile gliedern, die zwei mögliche Ereignisabläufe skizzieren: 178 V.46f. und V.48-51. Sie bilden zwei Handlungsstränge, die sich nacheinander aus dem Hauptstrang ausgliedern und ihn zu einem separaten Ende führen. 179 Zunächst wird jeweils das Handeln des Sklaven geschildert und danach die Konsequenzen, die sein Besitzer aus dem Verhalten des Sklaven ziehen wird, wenn er zurückkommt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem zweiten, ausführlicher geschilderten Handlungsstrang. Die beiden Teile sind jedoch, wie zu zeigen sein wird, keine Handlungsstränge derselben Erzählung, sondern Alternativen: unterschiedliche Hand- 175 24,45-51 ist das erste der drei sog. Wachsamkeitsgleichnisse. Diese haben „nicht nur den Termin der Ankunft, sondern ausführlich das Verhalten in der Zwischenzeit im Auge, und sie enthalten den Gedanken an ein langes Fortbleiben des Herrn (24,48; 25,12.19)“ (Weiser, Knechtsgleichnisse, 215). 176 o` dou/ loj wird mit bestimmtem Artikel eingeführt, obwohl im Text bisher noch kein Sklave erwähnt wurde. Somit zeigt sich, dass es sich hier nicht um eine bereits bekannte Erzählfigur, sondern um einen prototypischen Charakter handelt. Auch das einleitend geschilderte Szenario - der Auftrag eines Sklavenbesitzers an seinen Sklaven während seiner Abwesenheit - ist sehr allgemein gehalten und fordert die Lesenden zur eigenen Verortung auf. 177 Auch denkbar wäre, dass es sich um zwei verschiedene Sklaven handelt (z.B. Luz, Mt 3, 459, scheint unentschlossen zu sein). M.E. verweist o`` kako.j dou/ loj evkei/ noj (V.48) auf den in den vorherigen Versen beschriebenen Sklaven zurück, so dass es sich um denselben Sklaven handelt (ebenso z.B. Weiser, Knechtsgleichnisse, 188; Gnilka, Mt 2, 342; Köhnlein, Manager, 188). Einige Ausleger_innen denken das Geschehen als zeitliche Abfolge, als „Aufstieg und Fall“ des Sklaven (z.B. Bovon, Lk 2, 336, zur Lk-Parallele); aufgrund fehlender Zeitangaben legt sich jedoch nahe, dass es sich um Handlungsalternativen handelt (vgl. Gerber, Zeit, 162). 178 Vgl. Münch, Gleichnisse, 171. 179 Hierbei handelt es sich um das dritte Modell nach Nischik; vgl. 2.3.2.2 im ersten Teil. <?page no="124"?> 124 lungsoptionen, 180 mit denen ein Sklave auf denselben Befehl seines Herrn reagieren kann. Die Figuren und der Ort - der Haushalt - sind daher dieselben, ebenso die Erzählperspektive. Es sind zwei gleichberechtigte Haupthandlungen, die die Funktion haben, innerhalb der Erzählung richtiges und falsches Handeln und die jeweiligen Konsequenzen aufzuzeigen. Diese Konsequenzen - Lohn und Strafe - weisen in ihrer Drastik als „extravagante Einzelzüge“ über die Erzählung hinaus. Sie sind neben dem Kontext des Gleichnisses die wichtigsten Transfersignale für eine Deutung auf das Gericht. 2.4.2 Analyse und Intertexte 2.4.2.1 Der treue und kluge Sklave (Mt 24,45-47) 45 Ti,j a; ra evsti.n o` pisto.j dou/ loj kai. fro,nimoj o]n kate,sthsen o` ku,rioj evpi. th/ j oivketei,aj auvtou/ tou/ dou/ nai auvtoi/ j th.n trofh.n evn kairw/ |È 46 maka,rioj o` dou/ loj evkei/ noj o]n evlqw.n o` ku,rioj auvtou/ eu`rh,sei ou[twj poiou/ nta\ 47 avmh.n le,gw u`mi/ n o[ti evpi. pa/ sin toi/ j u`pa,rcousin auvtou/ katasth,sei auvto,nÅ In der folgenden Analyse soll das Gleichnis zunächst für sich und im Kontext seiner Intra- und Intertexte betrachtet werden sowie vor seinem sozialgeschichtlichen Hintergrund. 2.4.2.1.1 Die Frage Die Perikope wird mit der Frage nach den Voraussetzungen einer positiven Beurteilung eines Sklaven eingeleitet. Dazu wird in einem kurzen, analeptischen Summarium die Ausgangssituation skizziert; die Aufgabe, die der Hausherr seinem Sklaven gestellt hat. Mit dem Eingangsvers ist nach einer direkten Charakterisierung gefragt: Welcher Sklave, dem eine bestimmte Aufgabe gestellt wird, ist pisto, j und fro,nimoj ? Für pisto, j legt sich in diesem Kontext zunächst die Bedeutung „treu“ nahe, da hier die Beziehung eines Sklaven zu seinem Besitzer thematisiert wird. Daneben kann pisto, j auch „gläubig“ bedeuten 181 und so die Assoziation wecken, dass der Glaube hilft und rettet. 182 Da das Thema der endzeitlichen Gefahr durch den Kontext gegeben ist, legt sich dies nahe. 180 Ähnlich Gerber, Zeit, 163. 181 Den Aspekt der Treue und des gläubigen Vertrauens betont Fiedler, Mt, 370; ähnlich Donahue, Gospel, 99. 182 Vgl. z.B. Mt 9,22; 1 Thess 1,9f. <?page no="125"?> 125 fro,nimoj zielt dagegen auf „eine für Mt typische Form ‚praktischer Vernunft’, die in der Durchführung einer Aufgabe … zum Ausdruck kommt“. 183 Die gestellte Frage wird nicht beantwortet. Es obliegt vielmehr den Lesenden, die Antwort aus den im Folgenden durchgespielten verschiedenen Möglichkeiten zu erschließen. Die Frage lädt zudem zur Identifikation mit dem treuen und klugen Sklaven ein 184 bzw. evoziert bei den Lesenden die Frage, auf welcher Seite sie selbst stehen. 2.4.2.1.2 Der ku, rioj Dass o` ku, rioj auf einen Sklavenbesitzer referiert, ist auf der Bildebene evident. In V.42 bezieht sich o`` ku,rioj u``mw/ n auf den wiederkommenden Menschensohn. Verdeutlicht wird die Referenz erst im folgenden Vers: o` ku, rioj auvtou/ bezieht sich hier eindeutig auf den Herrn des Sklaven 185 und betont seine Verantwortlichkeit seinem Herrn gegenüber. Somit legt es sich hier nahe, den ku, rioj von Anfang an mit dem Menschensohn zusammenzudenken, zumal von beiden als Kommenden ( ev rco, menon (V.30), e; rcetai (V.42), evlqw,n (V.46)) die Rede ist. 2.4.2.1.3 Die Aufgabe Der als ku, rioj bezeichnete Hausherr hat dem Sklaven die Aufgabe übertragen, die Mahlzeiten für alle Angehörigen des Haushalts auszugeben. Für die Zeit der Abwesenheit seines Besitzers bekleidet der Sklave also das Amt eines Verwaltungssklaven (s.u.). Bei tou/ dou/ nai auvtoi/ j th.n trofh.n evn kairw/ | (V.45c) handelt es sich um ein Zitat aus Ps 103,27 LXX. Hier ist Gott derjenige, der allen Geschöpfen ihre Speise zur rechten Zeit gibt (vgl. auch Ps 144,15 LXX). Dies ist lebensnotwendig für sie und damit eine verantwortungsvolle Aufgabe. Daraus, dass in den Psalmen Gott der Speisende ist, können die Lesenden schlussfolgern, dass die Tätigkeit des Sklaven nicht nur die ihm von seinem Herrn zugeteilte Aufgabe, sondern auch im Sinne Gottes ist; sie zu erfüllen bedeutet, in seinem Auftrag, gleichsam stellvertretend für ihn, zu handeln. 183 Mayordomo, Mädchen, 498. 184 Vgl. z.B. Heil, Parables, 190; Köhnlein, Manager, 188, sowie Luz, Mt 3, 459, der einschränkend bemerkt: „Die Eingangsfrage... bleibt inhaltlich unvollständig, weil man noch gar nicht erfährt, warum der Sklave zuverlässig und vernünftig ist, so daß man sich gar nicht mit ihm identifizieren könnte.“ 185 Ebenso verhält es sich im o.g. Gleichnis Mt 18,23-35; eine Ausnahme bildet lediglich V.25. <?page no="126"?> 126 2.4.2.1.4 Die erste Handlungsoption und ihre Folgen Die Darstellung der ersten Handlungsoption wird mit einem Makarismus (V.46a) eingeleitet, der als Nominalsatz stilistisch hervorsticht. Auffällig ist, dass hier keine finiten Verben zur Beschreibung des Tuns des Sklaven verwendet werden, sondern lediglich das Partizip poiou/ nta , ein an sich inhaltsleeres Pro-Verb. ou[twj poiou/ nta bezieht sich auf den Auftrag, den der Sklave im Moment seiner Ankunft erfüllt. In diesem Satzteil ist der Sklavenbesitzer das Subjekt, somit der eigentlich Handelnde und zum einzigen Mal in diesem Gleichnis auch der focalizor - ansonsten ist der erste Teil extern fokalisiert. Es kommt also, das wird durch die interne Fokalisierung deutlich, darauf an, was der Sklavenbesitzer bei seiner Wiederkunft sieht. Was der Sklave während der augenscheinlichen Abwesenheit seines Herrn tatsächlich tut, wird dagegen gar nicht geschildert, denn zwischen dem in V.45 und V.46 Erzählten findet sich ein Zeitsprung, eine implizite Ellipse. Theoretisch hätte er sich z.B. so verhalten können, wie es im zweiten Teil der Erzählung geschildert ist. Durch den Makarismus preist „Jesus“ also denjenigen Sklaven selig, den sein Herr bei dem Tun antreffen wird, das er ihm befohlen hat. Dieser Makarismus ist eine intratextuelle Allusion an die Makarismen der Bergpredigt (5,3-11). „Jesus“ prophezeit dort Wohlergehen in diesseitiger, aber v.a. auch eschatologischer Perspektive für diejenigen Menschen, die es am wenigsten erwarten. Sie werden dafür oder trotz dem selig gepriesen, was sie sind, auch wenn dies von ihrer Umgebung als defizitär angesehen wird, für ihre Leiden, aber auch für ihr Tun. 186 Die Seligpreisung des Sklaven weist somit potentiell über den konkreten Zusammenhang des Gleichnisses hinaus auf eschatologischen Lohn hin. 187 Auch beantwortet der Makarismus bereits indirekt die eingangs gestellte Frage. Es wird deutlich: die Charakterisierung, die Bewertung des Sklaven aufgrund seines Handelns beim Kommen seines Besitzers ist ein zentrales Thema dieses Gleichnisses und entscheidet letztlich über sein Schicksal. Auffallend ist, dass die Seligpreisung nicht durch den Hausherrn selbst geschieht, der das Ergehen des Sklaven in der Hand hat, sondern durch die Erzählstimme. Die Bewertung wird gleichsam von außen an die Erzählung herangetragen - und weil es sich bei der Erzählstimme um „Jesus“ handelt, ist sie glaubwürdig. Eine Bewertung des Handelns des Besitzers erfolgt dagegen nicht. Die Ankündigung seines Tuns wird durch die Amen-Formel (V.47) hervorgehoben. Hatte der Besitzer seinen Sklaven vorher bereits über seinen 186 Andere Makarismen im Mt-Ev beziehen sich eher auf das Hören, Sehen und Verstehen des Evangeliums, auf Offenbarung, die den Seliggepriesenen zuteil wird, anderen aber nicht: Seliggepriesen werden Einzelne wie Petrus (16,17) oder Gruppen wie die Jünger_innen des Johannes (11,6) bzw. die Jünger_innen Jesu (13,16). 187 Ebenso Heil, Parables, 191; Donahue, Gospel, 98; vorsichtiger formuliert Gnilka, Mt 2, 343. <?page no="127"?> 127 Haushalt gestellt, wird er ihn nun über seinen gesamten Besitz stellen. Beide Vorgänge - der Auftrag (V.45) wie auch der Lohn (V.47) - sind durch kaqi,sthmi evpi, ausgedrückt, das somit den Rahmen des ersten Teils des Gleichnisses bildet. So wird betont, dass beide unmittelbar zusammengehören. 2.4.2.1.5 Der Statusgewinn Josefs, des Verwaltungssklaven: Gen 39-41 als Intertext „Prototyp“ 188 der Figur des treuen Verwalters, wie er hier vorgestellt wird, ist Josef in Ägypten. Gen 39-41 LXX ist somit ein wichtiger Intertext. Auch Josef wird von seinem Herrn, Potifar, über sein Haus gesetzt und mit der Verwaltung von allem, was ihm gehört, betraut. 189 Dies geschieht, weil sein ku, rioj (i.e. Potifar) wusste, dass der ku, rioj (Jhwh) mit Josef ist und dieser Erfolg hat mit dem, was er tut (V.3). 190 Auch hier wird im Laufe der Erzählung das Fortgehen des Hausherrn vorausgesetzt. Als er wiederkommt, wird ihm ein (vermeintliches) Vergehen seines Verwalters berichtet (V.16). So lässt er Josef in die königliche Festung werfen (V.20), obwohl er sich nicht durch die Abwesenheit seines Herrn zu Verfehlungen verführen lassen hat - ebenso wie höchstwahrscheinlich der „erste“ Sklave des Gleichnisses, nicht aber der „zweite“. Schließlich aber wird Josef, nachdem er sich durch die Deutung des Traumes des Potifar bewährt hat, rehabilitiert, als fronimw,teroj bezeichnet 191 und wie im Gleichnis als Verwalter über noch mehr eingesetzt als vorher (41,39f.): Über ganz Ägypten (V.43), also über alles, was dem Potifar gehört. Im Blick auf die genannten Teile der Josefsgeschichte ist also nicht nur von referentieller, sondern auch von typologischer Intertextualität zu sprechen. Beide Erzählungen zeigen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, zwei Verhaltensmöglichkeiten für einen Verwalter während der Abwesenheit seines Herrn auf, wobei das Negativverhalten jeweils hypothetisch bleibt. Das Gleichnis deutet dies durch eva.n de, und den Konjunktiv ei; ph| (V.48) an; in der Josefsgeschichte wissen die Lesenden - nicht aber der Potifar - dass Josef nicht so gehandelt hat, wie ihm vorgeworfen wird. Deutlich wird hier auch, 188 Vgl. Gnilka, Mt 2, 343; ähnlich Fiedler, Mt, 370. Zum Folgenden vgl. auch Weiser, Knechtsgleichnisse, 184f. 189 Gen 39,4c.d LXX (vgl. Mt 24,45): ... kate,sthsen auvto.n evpi. tou/ oi; kou auvtou/ kai. pa,nta o[sa h=n auvtw/ | e; dwken dia. ceiro.j Iwshf . Vgl. auch 39,6.8. 190 An dieser Stelle fällt auf, dass der Pharao ( o` ku,rioj auvtou/ ) und Jhwh in ein und demselben Vers als ku,rioj bezeichnet werden. 191 Gen 41,39f. (vgl. Mt 24,45.47): ei=pen de. Faraw tw/ | Iwshf evpeidh. e; deixen o` qeo,j soi pa,nta tau/ ta ouvk e; stin a; nqrwpoj fronimw,teroj kai. sunetw,tero,j sou su. e; sh| evpi. tw/ | oi; kw| mou kai. evpi. tw/ | sto,mati, sou u`pakou,setai pa/ j o` lao,j mou plh.n to.n qro,non u`pere,xw sou evgw, (Hervorhebungen A. S.). <?page no="128"?> 128 dass die Übertragung von mehr Verantwortung durch die Erzählstimme ausschließlich positiv, nämlich als Statusgewinn, bewertet wird. 2.4.2.1.6 Statusgewinn als Lohn Dies ist im Gleichnis ebenfalls der Fall. Der ku, rioj wird hier als Haushaltsvorstand mit absoluter Entscheidungsbefugnis und Verfügungsgewalt dargestellt: Er hat die Macht über seine Sklav_innen, er kann sie nach eigenem Gutdünken großzügig belohnen und, wie es im Folgenden erzählt wird, auch grausam bestrafen. Jedoch erfolgt keine direkte Charakterisierung des ku, rioj als z.B. besonders despotisch oder grausam. Lohn und Strafe werden vielmehr als ganz normal dargestellt. Dabei ist festzuhalten, dass auch der Lohn im Interesse des Hausherrn ist, der sich augenscheinlich des Öfteren fernab seines Besitzes aufhält und nur gelegentlich erscheint, um seine Sklav_innen zu kontrollieren und möglicherweise auch, um die Gewinne abzuschöpfen: 192 Wenn er seinem „gehorsamen“ Sklaven mehr Verantwortung und Handlungsspielraum gibt, wird er in Zukunft selbst weniger Verantwortung zu tragen haben. Dies kann er tun, weil der dou/ loj seine Interessen verinnerlicht hat: Die Moral, die für den Sklaven gilt, wird hier mit den Interessen seines Herrn identifiziert. 193 Auch die Erzählstimme stimmt, wie gesehen, durch die Charakterisierungen, den Makarismus und das Amen-Wort dieser Moral indirekt zu. Dadurch wird der Sklave, der auf die geschilderte Weise handelt, zu einer Figur admirativer Identifikation für die Lesenden, zu einer Figur des vollkommenen Helden. Mit der Ansage seines „Lohnes“ endet der erste Handlungsstrang. Der treue und kluge Sklave spielt im Folgenden keine Rolle mehr. Die Perikope könnte hier auch beendet sein: Die anfangs gestellte Frage ist beantwortet, die Erzählung abgeschlossen. 2.4.2.2 Der schlechte Sklave (Mt 24,48-51) 48 eva.n de. ei; ph| o` kako.j dou/ loj evkei/ noj evn th/ | kardi,a| auvtou/ \ croni,zei mou o` ku,rioj( 49 kai. a; rxhtai tu,ptein tou.j sundou,louj auvtou/ ( evsqi,h| de. kai. pi,nh| meta. tw/ n mequo,ntwn( 50 h[xei o` ku,rioj tou/ dou,lou evkei,nou evn h`me,ra| h-| ouv prosdoka/ | kai, evn w[ra| h-| ouv ginw,skei( 51 kai. dicotomh,sei auvto.n kai. to. me,roj auvtou/ meta. tw/ n u`pokritw/ n qh,sei\ evkei/ e; stai o` klauqmo.j kai. o` brugmo.j tw/ n ovdo,ntwnÅ 192 So Köhnlein, Manager, 191. 193 Vgl. Glancy, Slavery, 115. <?page no="129"?> 129 Dem geschilderten Tun des Sklaven wird jedoch im zweiten Teil eine konditional formulierte Alternative gegenübergestellt. Dieser Teil besteht aus einem Eventualis (V.48f.), der einen Neueinsatz markiert, und einem bedingten Satz im Futur (V.50f.), in dem proleptische, zukunftsgewisse Voraussagen getroffen werden. Der Sklave wird als kako, j charakterisiert, in direkter Opposition zu o` ` pisto.j dou/ loj kai. fro,nimoj, nach dem zu Beginn (V.45) gefragt wurde. Die Lesenden erwarten also hier ein Verhalten, das dem eben geschilderten Handeln entgegengesetzt ist und damit der Anweisung des ku, rioj nicht entspricht - die Vernachlässigung seiner Pflichten, vielleicht Passivität. 2.4.2.2.1 Die Selbsttäuschung des Sklaven Erzählt wird jedoch zunächst von dem Gedanken des Sklaven, dass sein Herr sich verspäte (V.48). Dieser Gedanke ist für den weiteren Handlungsverlauf zentral und wird schon allein dadurch betont, dass er als Gedankenrede wörtlich zitiert wird, während ansonsten jegliche wörtliche oder indirekte Rede fehlt. Der Sklave wird hier zum internen focalizor; seine eigene Sicht der Dinge kommt für einen kurzen Moment in den Blick. „In seinem Herzen sprechen“ steht im AT häufig für eine Selbsttäuschung (Dtn 8,17; 9,4; Ps 13,1 LXX), auf die auch das Gericht Gottes folgen kann (z.B. Jes 47,8-11). So erweist sich im Folgenden auch die Annahme des Sklaven, dass sein Herr sich mit dem Zurückkommen Zeit lasse, als Täuschung. 194 Dass der Sklave in diesem Punkt irrt, können die Lesenden auch daher erahnen, dass in den kurzen Vergleichen und Gleichnissen zuvor die Katastrophe plötzlich und unerwartet hereinbrach - und nicht zuletzt auch aufgrund seiner Charakterisierung als kako, j . 2.4.2.2.2 Das Verhalten des Sklaven Tatsächlich motiviert sein Gedanke den Sklaven zu dem im Folgenden geschilderten Verhalten. Der Sklave ist handelndes Subjekt des gesamten Konditionalsatzes; sein mögliches Tun wird ausführlich geschildert ( a; rxhtai tu,ptein( evsqi,h( pi,nh (V.49). Hierdurch sowie durch den häufigen Gebrauch von Konjunktionen (v.a. kai, ) entsteht im Gegensatz zum ersten Teil, der eher statisch und fast wie eine Zustandsbeschreibung wirkt, eine dynamische Erzählung. Im Fokus stehen die eigenen Gedanken und Interessen des Skla- 194 Für die Übersetzung „Mein Herr kommt nicht mehr“ gibt es im Kontext der Erzählung und auch im Zusammenhang mit 25,5 m.E. keinen Anhaltspunkt (mit Weiser, Knechtsgleichnisse, 190). Weiser ist auch darin zuzustimmen, croni, zein nicht von vornherein auf der „Sachebene“ zu verorten und damit auf die „Parusieverzögerung“ deuten zu wollen (ebenso Jones, Parables, 436-438). Zur Diskussion vgl. ebd.; Weiser, Knechtsgleichnisse, 188-193, und zusammenfassend Hübner, croni,zw , 1169f. <?page no="130"?> 130 ven: Statt seine Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen könnte er diejenigen schlagen, die davon profitieren sollen, und selbst essen, statt zu arbeiten, könnte er mit den Betrunkenen trinken 195 - kurz: er könnte sich wie ein Herr verhalten, nicht wie ein Sklave 196 und denen schaden, für die er eigentlich sorgen sollte. 197 Das Partizip mequ,ontej rekurriert auf alttestamentliche Intertexte: Betrunkene sind nicht wach für die Bedrohung durch das Gericht (Joel 1,5), sie sind von Stolz und Übermut verblendet, vom Wein bezwungen (Jes 28,1), und ihre „stolze Krone“ ist der direkte Gegensatz zu der herrlichen Krone, die Jhwh für den Überrest seines Volkes sein wird (Jes 28,5). Auch in 1 Thess 5,4-11 wird die Heilsrelevanz der Nüchternheit am Tage im Gegenüber zum Betrunkensein in der Nacht deutlich (vgl. auch 1 Kor 6,10) - und wiederum ist durch diese Allusionen ein eschatologischer Horizont eröffnet. 2.4.2.2.3 Der unbekannte Zeitpunkt der Rückkehr Der Fokus liegt im zweiten Teil des Gleichnisses - wie schon im ersten Teil - auf dem Resultat, das der Sklave durch sein Handeln hervorgebracht hat, und damit auf der Rückkehr des Besitzers) Zu deren Schilderung verwendet der erste Teil das Verb e; rcomai im Aorist (V.46), im zweiten Teil dagegen das eschatologisch konnotierte h``,kw 198 im Futur (V.50). Beide Aussagen sind parallel konstruiert: 46 maka,rioj o` dou/ loj evkei/ noj o]n evlqw.n o` ku,rioj auvtou/ eu`rh,sei ou[twj poiou/ nta ... 50 h[xei o` ku,rioj tou/ dou,lou evkei,nou evn h`me,ra| h- | ouv prosdoka/ | ... Es fällt auf, dass im Gegensatz zum ersten Teil hier zwar das Handeln des Sklaven während der Abwesenheit ausführlich geschildert wird, nicht aber, bei welchem Tun sein Herr ihn antrifft. Betont wird dagegen, dass der Herr zu einem dem Sklaven unbekannten Zeitpunkt zurückkommen wird (V.50; vgl. V.42.44). Die Sinnlinie „Zeit“ durchzieht das ganze Gleichnis ( evn kairw| / (V.45), croni,zein (V.48), evn h`me,ra))) kai. evn w[ra| (V.50)) und verbindet es mit seinem Kontext, da sie bereits in V.36 mit dem Verweis auf den Tag und die Stunde beginnt (vgl. auch V.30). Seine Unkenntnis des Zeitpunkts stellt den Sklaven mit der Menschheit insgesamt in eine Reihe, mit den Jüngern und allen Adressat_innen der Rede und letztendlich auch mit Jesus, dem „Sohn“, selbst: Alle kennen sie den Tag und die Stunde nicht. Auch außerhalb des 195 Letztlich bleibt es unklar, ob er tatsächlich keine Mahlzeiten ausgibt - dies und sein Verhalten schließen sich streng genommen nicht aus. Ersteres steht hier jedoch im Fokus. 196 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 389; Gerber, Zeit, 163. 197 Vgl. Weiser, Knechtsgleichnisse, 193. 198 Vgl. Mt 8,11; 24,14; Hebr 11,37. <?page no="131"?> 131 Matthäusevangeliums bezieht sich „Tag und Stunde“ in dieser Kombination mehrfach auf das Eintreten des Eschatons (vgl. z.B. Offb 9,15.). Auch wird die Sinnlinie „Zeit“ im Kontext der Endzeitrede zu einem wichtigen Transfersignal des Gleichnisses, das den ku, rioj mit dem ui`o.j tou/ avnqrw,pou identifiziert: 199 Wie der Sklave den Tag der Ankunft seines Herrn nicht voraussieht ( ouv prosdoka| / ; V.50), kennen die Lesenden die Stunde nicht, in der der Menschensohn kommt ( ouv dokei/ te ; V.44) - und auch das Erkennen seiner nahen Ankunft, zu dem sie wiederholt aufgefordert werden ( ginw,skete ; V.32f.43), leistet der Sklave in Bezug auf seinen Herrn nicht ( ouv ginw,skei ; V.50). Er war vielmehr fälschlich davon ausgegangen, dass sich sein Herr Zeit lasse. Diese Illusion vollziehen die Lesenden mit. Da der zweite Teil des Gleichnisses intern fokalisiert ist und sie nur die Gedanken- und Erfahrungswelt des Sklaven kennen, sind auch sie hinsichtlich des Zeitpunktes ahnungslos. 2.4.2.2.4 Die Strafe Im Gegensatz zum Sklaven erfahren die Lesenden in proleptischer Form - also bevor es auch für sie zu spät sein könnte - nicht nur vom unerwarteten Wiederkommen des Hausherrn, sondern auch von seiner Reaktion. Diese Schilderung der Strafe (V.51) nimmt im Verhältnis zu den eher knappen Schilderungen v.a. des ersten Teiles verhältnismäßig viel Raum ein: Der Herr wird den Sklaven entzweischneiden, also grausam töten. In der gesamten Bibel findet sich dicotome,w 200 abgesehen von der Lk-Parallele nur in Ex 29,17 LXX im Zusammenhang der Anweisungen für Stieropfer. Das Töten von Sklaven ist jedoch von der Halakha verboten. Trotzdem kam es in Palästina vor, auch für Vergehen, die aus heutiger Sicht vergleichsweise gering erscheinen. 201 Insofern erscheint das Töten von Sklaven bis zu einem gewissen Grad als Normalität und kommt daher auch als bildspendender Bereich rabbinischer Gleichnisse vor. 202 Auch die körperliche Bestrafung von Sklaven war an der Tagesordnung: Ein Sklavenhalter konnte professionelle Folterer beauftragen, den Sklaven töten oder auch fortjagen. 203 Vor diesem Hin- 199 Der Kontext im Allgemeinen und „der Überleitungspartikel ‚also‘“ (Sand, Mt, 501) allein reichen für eine solche Gleichsetzung jedoch nicht aus. 200 Eine nahe Parallele ist GrBar 16,2f.; vgl. äthHen 98,12. Infolge der allegorischen Gleichnisdeutung wurde das Verb in der Auslegungstradition selten wörtlich verstanden; dies wurde auch durch die Übersetzung mit dem vieldeutigen Verb dividere verhindert. Luz benennt zwei Hauptdeutungsrichtungen: Origines, Cyrill u. v.a. sprechen von der „‘Abtrennung‘ des göttlichen Geistes von Körper und Seele des bösen Knechtes, die dann in die Hölle kamen“, Hieronymus u.a. dagegen von der „‘Abtrennung‘ des bösen Knechts von der wahren Gemeinschaft der Gläubigen“ (Luz, Mt 3, 464, Anm. 30). 201 Belege bei Strack/ Billerbeck, Kommentar IV,2, 737-739. 202 Vgl. Weiser, Knechtsgleichnisse, 198f. 203 Vgl. Glancy, Slaves, 72. Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund vgl. auch 2.4.3.1. <?page no="132"?> 132 tergrund erscheint die im Gleichnis geschilderte Strafe nicht als ungewöhnlich. Somit stellt noch nicht diese in heutiger Wahrnehmung unverhältnismäßig erscheinende Strafe selbst einen semantischen Bruch dar, sondern vielmehr die Aneinanderreihung unterschiedlicher Strafen: Den Sklaven, der meta. tw/ n mequo,ntwn gegessen und getrunken hat, wird sein Besitzer nun - so ist es hier wiederum als Parallelismus formuliert - meta. tw/ n u`pokritw/ n (V.51) festsetzen, also augenscheinlich nach seinem Tod. Hierbei handelt es sich „um eine von Gott verhängte und den Rahmen des Bildes überschreitende Strafe“. 204 Vor dem Hintergrund von Jes 28,7 und Mt 23 wird das Festsetzen mit den Heuchler_innen verständlicher: Den religiösen Autoritäten, wird vorgeworfen, betrunken zu sein, auch beim Weissagen und Rechtsprechen - und wer für „Jesus“ u`pokritai, sind, wissen die Lesenden seit den Weherufen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23,13-33) - nämlich jene. 205 Noch weiterführender erscheint hier jedoch der Blick auf Mt 6,2.5.16: Als u`pokritai, wird hier nicht eine bestimmte Gruppe bezeichnet, sondern alle, die auf die Wirkung ihres Tuns auf andere Menschen mehr bedacht sind als darauf, dass sie tatsächlich das Gute und Richtige tun. Sie haben „ihren Lohn dahin“, während der Sklave im ersten Fall (V.47) seinen Lohn erhält. Die Ansage, dass der Sklave mit den Heuchler_innen festgesetzt werden wird, charakterisiert ihn selbst indirekt als einen Heuchler, wenn er die zweite Möglichkeit wählt: Diese besteht nicht in einer offenen Rebellion seinem Besitzer gegenüber, sondern in Verhaltensweisen, die aus seiner Fehleinschätzung, was die Ankunftszeit des Besitzers angeht, resultieren. Es ist demnach im Anschluss an V.43 wahrscheinlich, dass er, wenn er gewusst hätte, wann sein Herr wiederkommt, rechtzeitig mit dem Schlagen der Mitsklav_innen und dem Essen und Trinken aufgehört und stattdessen Mahlzeiten ausgeteilt hätte, wie ihm befohlen war. Es ginge ihm dann um den Eindruck, den sein ku, rioj von seinem Tun bekommt, nicht um die Integrität seines Tuns selbst. Die Ansage, dass bei den Heuchlern „Weinen und Zähneklappern“ sein wird, hat mit dem bildspendenden Bereich der Sklaverei nichts mehr zu tun. 206 Es handelt sich vielmehr um eine Wendung, die im Matthäusevangelium bereits mehrfach im Anschluss an Gerichtsgleichnisse verwendet wurde 207 und die somit auch hier auf das eschatologische Gerichtshandeln des Menschensohnku,rioj verweist. Zum Heulen werden bereits in Joel 1,5.13 die Betrunkenen (vgl. V.49) und die Priester angesichts des nahen Tages Jhwhs 204 Weiser, Knechtsgleichnisse, 200, ebenso Donahue, Gospel, 100: “It also makes little sense when … the servant is sent off to be with hypocrites where there will be weeping and gnashing of teeth - a strange image if one part of his body is severed from the other.” 205 Vgl. Luz, Mt 3, 464. 206 Ähnlich Weiser, Knechtsgleichnisse, 215. 207 Mt 8,11; 13,42.50; 22,13; 25,40; vgl. äthHen 108,3.5; slav Hen 40,12. <?page no="133"?> 133 aufgefordert. Bei Mt selbst bezieht sich klauqmo, j in 2,18, wo es zum einzigen Mal außerhalb der genannten Formel vorkommt, als Zitat aus Jer 38,15 LXX 208 auf die Totenklage Ramas über ihre Kinder. bru,cw dagegen ist in der LXX „im Sinne einer hasserfüllten, aber zugleich machtlos verzweifelten Gesinnung zu verstehen“ 209 und bezieht sich meist auf Frevler_innen. 210 Bei Mt illustriert es die Vorstellung der eschatologischen Gottesferne und Verlorenheit, die nicht nur die jeweils „Anderen“, sondern auch die Lesenden selbst betreffen kann. 211 Die Ansage wird durch die Schlussstellung betont - und damit auch die Ansage der Todesstrafe für den Sklaven, wenn er auf die beschriebene Weise handelt. Mit dieser Ansage ist die Erzählung abgeschlossen. Dennoch bleiben für die Lesenden Fragen offen. Zwar ließ die Konstellation des Gleichnisses, die Zweiteilung und das „positive“ Ende des ersten Teiles ein „negatives“ Ende erwarten, aber doch erscheint die Strafe überraschend hart - so stellt sich die Frage ihrer Verhältnismäßigkeit. Ebenso ist der Ort der „äußersten Finsternis“ nur ansatzweise beschrieben, steht aber durch die Schlussstellung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dennoch bleibt offen, was den Sklaven dort genau erwartet. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Eingangsfrage (V.45) eine rhetorische Frage war, die nun durch das Gleichnis beantwortet worden ist. Der Schluss geht insofern über die Fragestellung des Anfangs hinaus, als lediglich gefragt war, welcher Sklave als treu und klug anzusehen sei, und nicht, was mit ihm geschieht. Nicht nur durch die Schlussstellung allein, sondern auch durch diesen Überschuss wird das vorausgesagte Ergehen des Sklaven betont. All dies sowie die Charakterisierung als kako, j bestätigt noch einmal den Eindruck, dass das im ersten Teil geschilderte Verhalten des Sklaven zur Nachahmung taugt, keinesfalls aber dieses. 2.4.2.2.5 Unterschiedliche Identifikationspotentiale Wird also der Sklave, wenn er sich so verhält wie eingangs geschildert, vornehmlich admirative Identifikation hervorrufen, birgt die zweite Möglichkeit Potential zur kathartischen wie auch zur sympathetischen Identifikation: Bei den Lesenden kann sowohl der Impuls geweckt werden, das geschilderte Verhalten zu vermeiden als auch Mitleid mit dem sehr hart, vielleicht sogar ungerecht bestraften Sklaven zu empfinden. Die Lesenden stehen damit selbst mitten in dem Konflikt, den die Erzählung aufwirft: Gemeinsam mit dem Sklaven als ihrer Identifikationsfigur befinden sie sich gewissermaßen in der Gegenwart: Die Eingangsfrage (V.45) enthält eine 208 Und nicht Jer 31,15, wie NA 27 es fehlerhaft aufführt. 209 Rölver, Existenz, 533; vgl. auch Gnilka, Mt 1, 304; Luz, Mt 3, 464. 210 Vgl. Ps 34,16; 36,12; 111,10; Klgl 2,16. 211 Vgl. Rölver, Existenz, 534f. <?page no="134"?> 134 Analepse, nämlich den Rückblick auf den Auftrag des Hausherrn. Die Ansagen des Lohnes bzw. der Strafe für den Sklaven sind dagegen Prolepsen, genauer gesagt zukunftsgewisse Vorausdeutungen. Sie geschehen durch die heterodiegetische Erzählstimme „Jesus“, die außerhalb der Handlungsgegenwart steht, aber in dem, was sie ansagt, glaubwürdig ist. 212 Dagegen befindet sich der Sklave und mit ihm die Lesenden in der Gegenwart der Handlung, gleichsam zwischen Vergangenheit und Zukunft. 213 Der Auftrag des ku, rioj liegt in der Vergangenheit, die Verhaltensmöglichkeiten und ihre Konsequenzen liegen in der Zukunft. Dabei geht diese Gegenwart über die Gegenwart der erzählten Zeit hinaus, denn diese bleibt vollkommen unbestimmt und die Lesenden können sich umso leichter in ihr wiederfinden. Der Auftrag an sie ist erteilt: das eigene Leben am Anspruch Jesu auszurichten 214 (vgl. Mt 7,24-27). Die (Nicht-)Erfüllung ist aber noch nicht erfolgt und damit auch die Konsequenzen noch unbekannt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Schluss: Das Gleichnis endet wie andere seiner Art „mit dem Ausblick auf ein zukünftiges, noch ausstehendes Geschehen …, das anvisiert oder angeordnet, aber nicht mehr erzählt wird“. 215 Es wird also auch hier wiederum sowohl die Frage nach dem Zeitpunkt als auch die Frage nach dem Zeichen der Parusie (24,3) anders beantwortet als erwartet, nämlich in Korrelation zum eigenen Tun in der Zeit „vorher“. Somit trägt das Gleichnis einiges zum Verständnis des endzeitlichen Geschehens bei, wie noch deutlich werden wird. 2.4.3 Der bildspendende Bereich 2.4.3.1 Sozialgeschichte: oi; koj und Sklaverei Der bildspendende Bereich oi; koj( der Haushalt „mit allen dort lebenden Personen, die dem pater familias / kyrios untergeordnet sind, mitsamt den Wohn- und Wirtschaftsräumen sowie dem übrigen Besitz“ 216 ist in der Endzeitrede bereits eingeführt durch die Rede vom oivkodespo,thj (V.43) im Rahmen des Gleichnisses vom Dieb. Mit diesem ist der ku,rioj (V.45) inhaltlich vergleichbar; bei beiden handelt es sich um eine männliche Person, die dem Haushalt vorsteht. Mit dem Bezeichnungswechsel geht eine Erweiterung der Rolle einher: der Haushaltsvorstand ist auch ein Sklavenbesitzer. Bildspendender Bereich ist mithin nicht der Haushalt im Allgemeinen, vielmehr rückt die hier stattfindende Sklaverei in den Fokus. Diese war im Römischen Reich alltäglich, und auch in Galiläa, Judäa, Syrien und Kleinasi- 212 Vgl. dazu 2.3.4.3 im ersten Teil. 213 Vgl. dazu auch Gerber, Zeit, 164. 214 Vgl. Rölver, Existenz, 534f. 215 Münch, Gleichnisse, 173; für weitere Belegstellen vgl. dort. 216 Maier/ Lehmeier, Familie, 131, Hervorhebungen ebd. <?page no="135"?> 135 en gab es Hunderttausende Sklav_innen. 217 Von ihnen wurden die meisten als niedrig angesehenen Arbeiten jeglicher Art verrichtet. 218 Die matthäischen Gleichnisse setzen das hierarchische Konzept der Sklaverei voraus und kritisieren es nicht. Auch wenn der Sklave in Mt 24,45 eine verantwortungsvolle Aufgabe angetragen bekommt, ist er doch als Sklave anzusehen - er personifiziert einen typischen Verwaltungssklaven des ersten Jahrhunderts. 219 Im alten Orient wurden Sklav_innen mit Nahrungsmitteln bezahlt, d.h., wenn der Sklave des Gleichnisses Speise an seine Mitsklaven verteilt, entlohnt er sie. Das bedeutet nicht nur, dass sein Besitzer ihm vertraut, sondern auch, dass die anderen Sklav_innen ein Stück weit von ihm abhängig sind. 220 Trotz ihrer Position blieben solche Verwaltungssklav_innen jedoch auf Lebenszeit unfrei. Egal, wie viel Macht und Einfluss sie besaßen, konnten sie zu jeder Zeit von ihren Besitzer_innen misshandelt oder auch verkauft werden. 221 So ist loyales Verhalten von Sklav_innen ihren Besitzer_innen gegenüber von zentraler Bedeutung. Regelmäßig musste Rechenschaft abgelegt werden, und ein System von Belohnung und Bestrafung garantierte, dass gestellte Aufgaben einwandfrei erledigt wurden. 222 Eine wohl häufige Art der Belohnung schildert das Gleichnis: die Erweiterung des Verantwortungsbereiches. Diese kommt jedoch letztlich auch dem Sklavenbesitzer zugute, der Verantwortung abgeben kann und somit selbst weniger leisten muss. 223 2.4.3.2 Sklave/ Sklavin als Metapher Die Metapher vom Menschen als Sklave bzw. Sklavin Gottes 224 begegnet v.a. im Judentum, in der nichtjüdischen Umwelt ist sie selten. Der Mensch steht immer auf der Seite der Sklav_innen, die Verwendungsweisen der Metapher sind jedoch unterschiedlich: So werden Israel, Abraham, David und andere herausgehobene Menschen, v.a. Prophet_innen, als Sklav_innen Gottes bezeichnet; auch als Selbstbezeichnung begegnet die Metapher. Im NT findet sie sich in auf Christus bezogener Form Form („Sklave/ Sklavin Christi“) 217 Vgl. Martin, Blick, 256. 218 Vgl. Martin, Blick, 257. „Neben den Massen der Sklaven, die körperliche Arbeit verrichteten, arbeitete eine große Anzahl im häuslichen Bereich als Geschäftsführer, Sekretäre, Händler, Hausmeister, Krankenpfleger oder Kinderfrau, als Privatlehrer, Sänftenträger oder auch als Barbiere, Hausdiener, Wäscherinnen, Näherinnen, Badewärter oder Ammen.“ (ebd., 258). 219 Vgl. Glancy, Slaves, 113f., die solche Sklaven als managerial slaves bezeichnet. 220 Vgl. Gnilka, Mt 2, 343. 221 Vgl. Glancy, Slaves, 113f. 222 Vgl. Glancy, Slaves, 70; Gerber, Zeit, 165. 223 Insofern ist die von Gnilka, Mt 2, 342, konstatierte „große Belohnung“ im Gegensatz zur „große(n) Bestrafung“ relativ. 224 Vgl. zum Folgenden Münch, Gleichnisse, 201-205; Gerber, Zeit, 166f.; zu Stellenangaben und weiterer Literatur vgl. dort. <?page no="136"?> 136 ebenfalls als Selbstbezeichnung in Briefpräskripten sowie als Bezeichnung für Funktionsträger_innen und für Christusanhänger_innen im Allgemeinen (Röm 1,1; 1 Kor 7,21f.; Gal 1,10 u.ö. ). In den sogenannten eschatologischen Knechtsgleichnissen 225 wird die Metapher narrativ entfaltet. Sie verdeutlicht die unbedingte Loyalität und die Verpflichtung des Menschen Gott bzw. Christus gegenüber sowie die duale Beziehung zu ihm, aber auch die Reputation, die Menschen als Sklav_innen eines Hochstehenden genießen. Die Metapher beinhaltet jedoch nicht per se eine Überordnung eines Menschen über andere und ist damit auch nicht von vornherein stehende Metapher für Funktionsträger in der christlichen Gemeinde. Ebenso wenig ist sie aber per se „eine antithetische Metapher zur Realität der Sklaverei im Römischen Reich“. 226 Festzuhalten ist, dass im vorliegenden Gleichnis eine hierarchische Beziehung vorausgesetzt ist, in der eine_r befugt ist, Anweisungen zu erteilen, zu belohnen und zu bestrafen. 2.4.4 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ 2.4.4.1 Hierarchische Beziehungen In der im letzten Abschnitt benannten hierarchischen Beziehung liegt ein Schlüssel zur Deutung des Gleichnisses. Vor dem Hintergrund der gesamten Endzeitrede legt sich keine ekklesiologische, 227 sondern eine eschatologische Deutung nahe und damit eine Deutung auf das Gericht. Fraglich bleibt dabei jedoch die Deutung der im Gleichnis vor Augen gestellten Momentaufnahme des Verhaltens des Sklaven. Die Deutung des Gleichnisses auf das Gericht legt sich durch seinen typologischen Intratext, das Gleichnis vom Hausbau Mt 7,24-27, nahe, in dem ebenfalls die direkte Charakterisierung fro, nimoj vorkommt. Auch hier werden für dieselbe Person jeweils zwei diametral entgegengesetzte Verhaltensmöglichkeiten ausgelotet, die die entsprechenden Konsequenzen nach sich ziehen. Das Achtergewicht und damit der Schwerpunkt liegen auf der 225 Weiser Knechtsgleichnisse, 123f., nennt hier Mk 13,33-37; Lk 12,35-38; Mt 24,45-51 par.; Mt 25,14-30 par., die folgende Merkmale verbinden: „Sie handeln alle von einem Herrn, der fortgeht und seinen Knechten Aufgaben überträgt, die sie bis zu seiner Wiederkehr zu erfüllen haben. Die Abwesenheit wird zur Zeit der Bewährung für sie: sei es, daß von ihnen Wachsamkeit gefordert ist, weil der Zeitpunkt der Rückkehr des Herrn ungewiß ist…; sei es, daß sie die ihnen anvertrauten Ämter (Mt 24,45-51par Lk) bzw. Güter (Mt 25,14-30 par Lk) in der Zwischenzeit gut zu verwalten haben. Bei der Rückkehr des Herrn wird es sich zeigen, ob sie Lohn oder Strafe verdienen. Dabei kann entweder die Ankunft selbst zum Gericht für sie werden (… Mt 24,45-51par Lk) oder eine in aller Form gehaltene Abrechnung stattfinden (Mt 25,14-30 par Lk).“ (ebd., 123). 226 So aber Schottroff, Gleichnisse, 234. 227 So aber z.B. Donahue, Gospel, 110f.; Gnilka, Mt 2, 345f.; zur Diskussion vgl. Luz, Mt 3, 464f. <?page no="137"?> 137 als negativ bewerteten Option, die drastische Folgen hat. Auch die „Metaphorik der Hausordnung“ 228 ist beiden Texten gemeinsam und zieht sich durch das ganze Evangelium: Wird hier am Schluss der Bergpredigt der Mensch, der das Wort hört, mit einem Hausbauer verglichen, schließt die Gemeinderede mit dem Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven (18,23-35), der seinem Besitzer, dem König, Rechenschaft ablegt. In der Perikope wird die Herrschaftsbeziehung zwischen Sklavenbesitzer und Sklave weder problematisiert noch kritisiert, wohl aber interpretiert: Der Sklave ist nicht nur seinem Besitzer gegenüber verantwortlich, sondern ebenso seinen Mitmenschen gegenüber, 229 die denselben Status wie er bzw. einen geringeren Status haben. So wird der Sklave auch nicht nur für seine Einstellung dem Hausherrn gegenüber bestraft, sondern auch für sein unfaires, seinen Mitsklav_innen schadendes Verhalten. Dies deutet darauf hin, dass das Gericht nicht unabhängig ist von menschlichen Beziehungen (vgl. Mt 25,31-46). 230 Ebenso wenig ist es aber unabhängig von der „Beziehung zum erwarteten Herrn“, 231 denn es ist der ku,rioj , der den Auftrag gegeben hat, wie Gott „Speise zur rechten Zeit“ (Ps 103,27 LXX) auszugeben. Dass diese Beauftragung nur für Amtsträger gelten sollte, dass das Gleichnis also ekklesiologisch und damit rein diesseitig zu deuten sei, ist nicht schlüssig zu belegen. Vielmehr weisen die zahlreichen Transfersignale sowie der Kontext, der sich auf unterschiedliche Weise im Gleichnis abbildet, auf einen eschatologischen Zusammenhang hin. Bereits die Eingangsfrage ist, wie gesehen, ein Transfersignal. Gleiches gilt für die Bezeichnung des Sklavenbesitzers als ku,rioj . 232 Besonders die Ankündigung seines Wiederkommens und Vorfindens des als maka, rioj titulierten Sklaven (V.46d) lässt sich als „Anspielung auf Gottes richtendes Handeln“ 233 verstehen. Maßstab seines Gerichts ist dann die Erfüllung der gestellten Aufgabe, das Wahrnehmen der eigenen Verantwortung den Mitmenschen gegenüber. Diese Erfüllung ist als eine Konkretion des im Intratext 7,27-24 geforderten Hörens und Tuns zu verstehen, das dort mit einem „felsenfest stehenden“ Haus und hier mit mehr Verantwortung und Einfluss, mit Statusgewinn, belohnt wird. 234 Die andere mögliche, in V.49 geschilderte Verhaltensweise des Sklaven zieht eine Strafe nach sich. Dass es sich hierbei um eine eschatologische Strafe handelt, wird noch vor der Schilderung der Konfrontation mit dem Sklavenbesitzer durch die genannten Intertexte in den Text eingespielt. Erst in 228 Vgl. Rölver, Existenz, 403. 229 Vgl. Gerber, Zeit, 169. 230 Vgl. Wilson, Things, 232. 231 Riniker, Gerichtsverkündigung, 211. 232 Gegen Schottroff, Gleichnisauslegung, 140. 233 Gerber, Zeit, 164. 234 Im Griechischen sind hinsichtlich des „Lohnes“ jedoch keine Stichwortverbindungen festzustellen. <?page no="138"?> 138 diesem zweiten Textteil spielt das Thema „Zeit“ eine Rolle. Insbesondere die Formulierung „Tag und Stunde“ in V.50 stellt die Verbindung mit dem Kontext und damit mit der Parusieerwartung her. Dass sich die Parusie verzögert, ist hiermit zwar angesprochen, aber nicht das Hauptthema des Gleichnisses. 235 Es geht vielmehr um die eigene Haltung zur Parusie und das entsprechende Verhalten - konkret ihre fortwährende Erwartung. 236 Dass sich die Parusie mit dem Gericht verbindet, wissen die Lesenden bereits durch die in 24,29-31 eingespielten alttestamentlichen Intertexte. Hier wird dies durch den teilweise formelhaft gestalteten Schluss deutlich, der die grausame Bestrafung desjenigen Sklaven ansagt, der die nahe Wiederkunft seines Besitzers ignoriert. Dieser Schluss verdeutlicht die Dringlichkeit, mit der die Menschen in Erwartung des Wiederkommens des Menschensohnes vor Aufgaben und Entscheidungen gestellt sind. Das Gleichnis bietet eine solche Momentaufnahme menschlichen Lebens aus Sklavenperspektive. Die Sklaverei als gesellschaftliches Phänomen wird durch das Gleichnis weder befürwortet noch kritisiert, sondern als selbstverständlich hingenommen. In Kombination mit der Strafschilderung macht dies das Gleichnis für die Ohren vieler heutiger Leser_innen schwer erträglich und hat, wie aus der Auslegungsgeschichte deutlich wird, nicht nur kathartische, sondern auch sympathetische Identifikationen mit der Figur des bestraften Sklaven ausgelöst. Umdeutungen, die von der hermeneutischen Vorentscheidung ausgehen, dass ein despotisch agierender Sklavenbesitzer per se nicht mit Gott bzw. Jesus, dem Menschensohn, identifiziert werden könne, 237 haben jedoch in diesem Gleichnis kaum Anhaltspunkte. Trotzdem sind diese Überlegungen notwendig, weil sie wichtige Anfragen formulieren, die auch in der Auslegung der Endzeitrede immer wieder zu stellen sind. 235 Mit Sand, Mt, 502; zur Diskussion vgl. Weiser, Knechtsgleichnisse, 118f. 236 Erlemann, Naherwartung, 154 spricht daher von „impliziter Naherwartung“, die sich in dem Gleichnis ausdrückt. 237 So z.B. Schottroff, Gleichnisauslegung, 140; Köhnlein, Manager, 186f. Köhnlein geht, statt den Hausherrn mit Gott zu identifizieren, von einer „Mitte der Schrift“ aus, die sich auf die Bergpredigt sowie auf Gedanken Luthers und des Römerbriefes stützt. Von dort aus kritisiert er das Gleichnis und überlegt, dass Jesus vielleicht die Zuhörenden den Schluss (V.51a.b) teilweise selbst erzählen ließ, weil er selbst so etwas nie befürwortet hätte. Der übrige Schluss (V.51c) sei von Matthäus hinzugefügt, der ihn als Mahner angesichts evtl. verfallender Sitten und schwindender Naherwartung in seiner Gemeinde formulierte. Eine solche Betrachtungsweise ist sehr spekulativ, und gerade die Bergpredigt kann gewiss nicht als „Mitte der Schrift“ im Sinne Köhnleins in Anspruch genommen werden; vgl. nur ihren Schluss 7,24-27. <?page no="139"?> 139 2.4.4.2 Konfrontation und Verantwortung Eine solche Anfrage ist, ob der Sklave des Gleichnisses zwingend als individueller Mensch verstanden werden muss. Er ist als flat character sehr reduziert und ohne ausgeformten Charakter dargestellt und bietet daher für die Deutung vielerlei Anknüpfungspunkte. Auch die skizzierten Verhaltensweisen sind als Möglichkeiten zu verstehen, für die sich Menschen entscheiden. Die Anfrage liegt konkret in der Beobachtung, dass das menschliche Leben vielschichtiger ist, als das Gleichnis andeutet. Die externe Fokalisierung und die Charakterisierungen suggerieren, dass von vornherein evident wäre, welche Möglichkeit vorzuziehen ist. Dies ist jedoch im wirklichen Leben nicht immer der Fall. So steht jeder Mensch immer wieder vor Entscheidungen und trifft sie manchmal zum Guten, irrt sich aber auch immer wieder auf fatale Weise und verursacht so negative Folgen für sich und andere, weil er diese Folgen nicht absehen kann oder will. Das Gleichnis kann somit auch als Illustration verschiedener Aspekte und Handlungsmöglichkeiten verstanden werden, die einen Menschen ausmachen, statt eine Momentaufnahme eines menschlichen Lebens als maßgeblich für das Ergehen dieses Menschen im Gericht darzustellen. So kann das Gleichnis dahingehend weitergedacht werden, dass sich das Gericht des Menschensohnes, das ja der Durchsetzung des Heils dient und von diesem nicht zu trennen ist, nicht als Vernichtung von Menschen (und Nicht-Vernichtung anderer) äußern könnte, sondern als Vernichtung von Eigenschaften wie Egoismus, Passivität und Ignoranz. Diese Eigenschaften führen zu Entscheidungen, die einer Person und ihren Mitmenschen Schaden zufügen und werden daher in der basilei,a keinen Bestand haben (vgl. 13,41). Ein wichtiger Aspekt einer solchen Gerichtsvorstellung ist jedoch die im Gleichnis - und in den folgenden ebenfalls - angedeutete Konfrontation mit dem eigenen, vergangenen Tun. Diese Konfrontation geschieht bei der Wiederkunft des Rechenschaft fordernden ku, rioj , die den Spannungshöhepunkt des Gleichnisses darstellt. Dagegen werden die Konsequenzen, Lohn und Strafe, eher kurz und formelhaft angesagt. Nicht auf ihnen liegt der Fokus, sondern auf der Rechenschaft, dem Sich-Verantworten-Müssen. Die Konsequenzen als solche liegen jedoch in der Zukunft; niemand kennt sie genau. Dringend geboten ist daher Wachsamkeit und Bereitschaft (24,42.44) - was das bedeutet, illustriert das Gleichnis: „Es sind Verhaltensweisen von Gemeindemitgliedern unter einander, aber auch nach außen gerichtete, die über Annahme oder Zurückweisung durch den Menschensohn-Richter entscheiden.“ 238 Ihm - und dadurch auch ihren Mitmenschen gegenüber - sind sie verantwortlich und werden über ihr Tun Rechenschaft ablegen müssen. 238 Fiedler, Mt, 370. Dabei, so Fiedler weiter, „übersteigt der von ihm im Gericht angelegte Maßstab grundsätzlich die Grenzen der Gemeinde“. <?page no="140"?> 140 2.5 Das Gleichnis von den zehn jungen Frauen (Mt 25,1-13) 2.5.1 Einleitung Dieses traditionell als „Gleichnis von den zehn Jungfrauen“ bezeichnete Gleichnis hat eine kaum zu überblickende, höchst unterschiedliche Wirkungsgeschichte zu verzeichnen. Dies ist nicht verwunderlich, denn das Gleichnis trägt eine Vielzahl von Textstrategien und Wirkungspotentialen in sich. Von Interesse wird im Folgenden v.a. die Deutung auf das Gericht sein, die eine, aber nicht die einzig mögliche Lesart des Gleichnisses ist. Seine Struktur ist dem vorherigen Gleichnis vergleichbar: Wiederum werden zwei Handlungsstränge aus dem Hauptstrang ausgegliedert und zu einem separaten Ende geführt. Wiederum werden zwei entgegengesetzte Handlungsoptionen samt ihrer Konsequenzen vorgeführt. In einem „dramatischen Dreieck“ stehen sich - wie bereits in 24,40f. - ein Handlungssouverän und ein „antithetisches Zwillingspaar“ gegenüber. Hierbei handelt es sich zwar um Personengruppen, jedoch treten diese wie eine einzige Person auf, d.h. es sind innerhalb der Gruppen keine individuell unterschiedlichen Erzählfiguren auszumachen. 2.5.2 Analyse und Intertexte 2.5.2.1 Die basilei,a und die Frauen (Mt 25,1) To,te o`moiwqh,setai h` basilei,a tw/ n ouvranw/ n de,ka parqe,noij( ai[tinej labou/ sai ta.j lampa,daj e`autw/ n evxh/ lqon eivj u`pa,nthsin tou/ numfi,ouÅ Dieser einleitende Vers gehört noch nicht zur eigentlichen Gleichniserzählung, sondern fungiert als proleptische Themaangabe. 239 Er führt in summarischer Form in die Handlung ein und stellt die Erzählfiguren vor. Durch den Bezug auf die basilei,a tw/ n ouvranw/ n wird das Gleichnis von Beginn an in einen eschatologischen Zusammenhang gestellt. Gleichwohl lässt die futurische Verbform o``moiwqh,setai nicht zwingend an die Aufrichtung der basilei,a am Ende der Zeiten denken, wie häufig behauptet wird. 240 Sie fungiert in erster Linie als Themenangabe und Gattungssignal. 241 Die de,ka parqe,noi stehen als Dativobjekt von o``moiwqh,setai betont voran und werden bereits an dieser Stelle als die handelnden Subjekte der Erzählung benannt. Es handelt sich um junge, unverheiratete Frauen. Ob sie im eigentlichen Sinne „jungfräulich“ sind, bleibt offen; die Aussage des Gleich- 239 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 159; ähnlich Münch, Gleichnisse, 145; Luz, Mt 3, 467. 240 Vgl. Lambrecht, treasure, 199; Frankemölle, Mt 2, 416; Gnilka, Mt 2, 349. Carson, Word, 281, deutet die Futurform auf ein nur futurisches Himmelreich im Gegensatz zum Aorist, der das schon präsente, in der Mission Jesu schon angebrochene Reich ausdrücke. 241 Vgl. Münch, Gleichnisse, 144f. <?page no="141"?> 141 nisses hängt davon aber auch nicht ab. 242 Ihnen kommt vielmehr eine bestimmte Rolle im Hochzeitsritus zu, so dass als narratives Ziel der Erzählung das Zusammentreffen mit dem Bräutigam genannt wird und nicht die Teilnahme am Hochzeitsfest. 243 So stellt sich die Frage, ob die basilei,a tatsächlich wie zehn Frauen sein wird, die sich für die Begegnung mit dem Bräutigam vorbereiten. Es ist inzwischen weithin Konsens, dass es hier wie auch bei auf vergleichbare Weise eingeleiteten Gleichnissen (Mt 7,24.26; 13,45; 20,1; 22,2) nicht um eine Gleichsetzung gehen kann, sondern dass es sich um einen Vergleich handelt: Das im Folgenden Erzählte wird mit der basilei,a in Beziehung gesetzt. 244 Auf diese Weise drückt sich auch die Schwierigkeit aus, vom endzeitlichen Geschehen angemessen zu reden. 245 Es bleibt offen, wie dieses Verhältnis konkret zu denken ist. Damit sind die Lesenden angefragt, aktiv mitzudenken und auf das Gelesene zu reagieren. 246 2.5.2.2 Einführung in die Situation und Charakterisierungen (Mt 25,2-5) 2 pe,nte de. evx auvtw/ n h=san mwrai. kai. pe,nte fro,nimoiÅ 3 ai` ga.r mwrai. labou/ sai ta.j lampa,daj auvtw/ n ouvk e; labon meqV e`autw/ n e; laionÅ 4 ai` de. fro,nimoi e; labon e; laion evn toi/ j avggei,oij meta. tw/ n lampa,dwn e`autw/ nÅ 5 croni,zontoj de. tou/ numfi,ou evnu,staxan pa/ sai kai. evka,qeudonÅ Im Anschluss an die summarische Themaangabe und noch vor Beginn der eigentlichen Erzählung hält die erzählte Zeit an (V.2) und es entsteht eine Pause. 247 Sie dient der näheren Erläuterung der Ausgangssituation sowie der Einteilung der Frauen in die zwei entgegengesetzten Gruppen, als die sie sich später gegenüberstehen werden. Verschiedene Deutungsmöglichkeiten ergeben sich aus V.5: Die Verspätung des Bräutigams und das Einschlafen 242 Vgl. Fitzmeyer, parqe,noj , 93f. 243 So wird es betont von Mayordomo, Mädchen, 489; ähnlich Zimmermann, Hochzeitsritual, 52. 244 Vgl. Haufe, o``moio,w , 1251f.; Münch, Gleichnisse, 141; Jeremias, Gleichnisse, 100f.; Linnemann, Gleichnisse, 26. Carson, Word, 279, dagegen übersetzt “will be like”. Durch die einleitende Formel wird zudem ein intratextueller Bezug zu Mt 7,24.26 hergestellt - nur hier findet sich dieses Verb noch im Futur Passiv. Die basilei,a wird hier jedoch nicht erwähnt, sie ist nicht das zu vergleichende Element. Vielmehr liegt das, was miteinander in Beziehung gesetzt wird, auf einer Ebene: Ein Mensch, der sein Haus baut, wird mit einem Menschen verglichen werden, der die Worte Jesu hört (7,24). Das Thema „Hineinkommen in die basilei,a “ ist jedoch bereits eingeführt (7,21). 245 Vgl. Haufe, o``moio,w , 1252. 246 Vgl. hierzu Schottroff, Gleichnisse, 116f. Mit Donahue, Gospel, 101, ist festzuhalten: “the coming of the kingdom is compared not simply to the ten maidens but to the whole situation.” 247 Mayordomo, Mädchen, 489, zählt auch V.3-5 zu dieser Pause, was kaum nachvollziehbar ist, da die Handlung hier bereits beginnt. <?page no="142"?> 142 der Frauen kann als „Kern“ oder als „Satellit“ der Handlung verstanden werden, als Element, das den Ausgang der Handlung, d.h. den Erfolg oder das Scheitern der Frauen, entscheidend mit bestimmt, oder lediglich als retardierendes Moment, das die Spannung erhöht, wie im Folgenden deutlich werden wird. 2.5.2.2.1 Die Charakterisierung der Frauen Die Frauen werden direkt als mwrai, (dumm) bzw. fro,nimoi (klug; V.2, vgl. V.8) charakterisiert. Auffällig ist die Reihenfolge: die „Dummen“ werden zuerst genannt; auf ihnen liegt der Akzent. 248 Bevor also die eigentliche Erzählung beginnt, ist die Teilung der zunächst homogenen Gruppe in einen durch die Erzählstimme positiv und einen negativ bewerteten Teil festgeschrieben. Die Begründung dieser Charakterisierung erfolgt in Form eines Chiasmus (V.3f.) mit Rückbezug auf V.1. Auf diese Weise wird verdeutlicht, dass zunächst nicht der erwartete Bräutigam im Fokus der Erzählung steht, sondern das Öl: Aufgrund des mitgebrachten Öls erfolgt die Charakterisierung als mwrai, (V.3) bzw. fro,nimoi (V.4). Sie ist antithetisch, lässt keine Zwischentöne zu und verhindert somit die Identifikation der Lesenden mit den „dummen“ Frauen. 249 Die Charakterisierungen nehmen dem Gleichnis einen Teil seiner Spannung: 250 Die Lesenden können bereits an dieser Stelle erahnen, dass die Geschichte für die „dummen“ Frauen kein gutes Ende nehmen wird und dass dies mit dem fehlenden Öl zusammenhängt. Was genau die Dummheit bzw. Klugheit der Frauen ausmacht, wird sich jedoch erst im Verlauf der Erzählung klären. 2.5.2.2.2 Die Verspätung des Bräutigams und das Einschlafen der Frauen Bevor dies geschieht, wird eine Komplikation geschildert (V.5), die im Verlauf der Hochzeitsfeierlichkeiten augenscheinlich nicht vorgesehen ist: Der Bräutigam verspätet sich und die wartenden Frauen schlafen ein. Dabei wird weder erwähnt, wo sich die Frauen befinden - auf der Straße oder im Haus der Brauteltern 251 - noch wo sich die Braut aufhält, 252 noch der Grund 248 Vgl. Gnilka, Mt 2, 347. 249 Vgl. Luz, Mt 3, 467; positiv formuliert bei Sand, Mt, 505. 250 So auch z.B. Weder, Gleichnisse, 239 und Schenk, Auferweckung, 287, der hieraus auf eine Allegorisierung schließt. Anders Gnilka, Mt 2, 347.349: Durch die „Markierung töricht/ weise“ werde die Spannung erst erzeugt, weil die Lesenden nun wissen wollen, worin sich Torheit und Klugheit zeigen. 251 Luz, Mt 3, 472, hält ersteres für sehr unwahrscheinlich und plädiert - auch in seiner Rekonstruktion des Hochzeitsritus - für die zweite Möglichkeit. <?page no="143"?> 143 für die Verspätung des Bräutigams. All dies ist für den Fortgang der Erzählung nicht relevant. Deshalb ist an diesem Punkt auch nicht festzumachen, dass der Bräutigam nicht als Identifikationsfigur tauge, weil er die Frauen ungehöriger Weise warten lässt. 253 Der Bräutigam ist vielmehr an dieser Stelle überhaupt nicht im Fokus der Erzählung und damit auch nicht als mögliche Identifikationsfigur angelegt. Trotzdem ist er die Erzählfigur, auf die sich die Erwartungen der jungen Frauen richten. Somit werden die Lesenden an dieser Stelle erwarten, dass das Einschlafen der Frauen negative Folgen haben könnte, dass sie die Ankunft des Bräutigams verpassen könnten. Schlaf wird zudem traditionell oft mit Tod 254 oder „welthafter Existenz“ 255 assoziiert und ist daher negativ konnotiert. Allerdings schlafen alle Frauen ein, nicht nur diejenigen, die kein Öl mitgebracht haben, 256 so dass eine pauschal negative Bewertung des Schlafens fragwürdig wird. 2.5.2.2.3 Die lampa,dej Die Bewertung des Schlafens hängt davon ab, ob unter lampa,dej Öllampen oder Fackeln zu verstehen sind. 257 Stellt man sich unter lampa,dej nämlich Öllampen vor, liegt der Gedanke nahe, dass diese während des Wartens bereits brennen. Erst durch die Verspätung des Bräutigams kommt es dazu, dass sie ausbrennen und Ersatzöl benötigt wird. Wäre der Bräutigam also früher erschienen, wäre das Problem nicht entstanden, und hätten die Frauen nicht geschlafen, hätten sie bemerkt, dass ihre Lampen verlöschen und diejenigen, die kein Ersatzöl mitgebracht haben, hätten sich rechtzeitig um neues Öl bemühen können. So gedeutet kann der „Fehler“ tatsächlich wenigstens teilweise im Einschlafen der Frauen gesucht werden, auch wenn dieses nur für einen Teil von ihnen negative Folgen hat. Inzwischen ist es in der Forschung jedoch zu Recht Konsens geworden, die lampa,dej als Fackeln zu verstehen, da erwiesenermaßen Fackeln und nicht Lampen zu einer Hochzeitsprozession gehörten. 258 Es handelte sich 252 Obwohl vielfach spekuliert worden ist, wo sich die Braut befindet, ist m.E. einzig sicher, dass die Erzählung an der Braut nicht interessiert ist. Sie bietet vielmehr eine Randszene der Hochzeitsfeierlichkeiten und nimmt Frauen in den Blick, die zwar beim Hochzeitsritual eine gewisse Rolle spielen, es aber nicht entscheidend prägen. Die Feier fungiert lediglich als Setting dieser Randerzählung. 253 So z.B. Blickenstaff, bridegroom, 97. 254 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 397, Anm. 164; ebenso Schenk, Auferweckung, 278. 255 Luz, Mt 3, 473; vgl. 1 Thess 5,6; Eph 5,14. 256 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 417. 257 Traditionell wurden die lampa,dej mit „Öllampen“ übersetzt und ikonographisch auch so dargestellt. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Luz, Mt 3, 471. 258 Vgl. z.B. Zimmermann, Hochzeitsritual, 63; Mayordomo, Mädchen, 403f.; Luz, Mt 3, 469. Dabei ist hier jedoch wahrscheinlich nicht an Fackeln zu denken, um deren Hälse ölgetränkte Lappen gewickelt wurden, wie z.B. von Jeremias, LAMPADES , 198, konstatiert, weil Stoff teuer und die rußende Flamme gefährlich ist. <?page no="144"?> 144 dabei wahrscheinlich um Gefäßfackeln mit einem aufgesteckten Feuergefäß. 259 Solche Fackeln brennen maximal zwei Stunden lang, viel kürzer also als Öllampen, und können nicht wie diese auf dem Boden abgestellt werden. 260 Deshalb hätten die Frauen sie während der Wartezeit gelöscht oder - wahrscheinlicher - überhaupt erst bei Erscheinen des Bräutigams Öl in die Fackeln gefüllt und sie entzündet. Dazu ist neues Öl notwendig. Die „dummen“ Frauen hätten ihre Fackeln deshalb keinesfalls zum Brennen gebracht, 261 unabhängig davon, ob sich der Bräutigam verspätet hätte oder nicht. 2.5.2.2.4 Fazit Die Verspätung des Bräutigams und das Einschlafen der Frauen ist für den Fortgang der Erzählung letztlich irrelevant. 262 Die ganze Szene ist vielmehr als retardierendes, Spannung erzeugendes Moment 263 zu verstehen und daher auch nur vermeintlich als Komplikation. Das tatsächlich den Konflikt erregende Moment folgt erst noch und ist in der Einleitung (V.1-5) bereits angelegt: Weil Öl fehlt, steht für einen Teil der Frauen die Begegnung mit dem Bräutigam auf dem Spiel. 259 Solche Gefäßfackeln sind für Hochzeitszüge breit belegt; als Vasendarstellungen und ikonographisch, auch auf den ältesten Darstellungen von Mt 25,1-13; vgl. Zimmermann, Hochzeitsritual, 63f. 260 Vgl. zum Folgenden auch Luz, Mt 3, 471. 261 Vgl. Mayordomo, Mädchen, 494. 262 Eine gegenteilige Deutung findet sich bei Weder, Gleichnisse, 244, der den Fehler der Frauen darin sieht, dass sie glauben zu wissen, wann der Bräutigam kommt, nämlich zum Zeitpunkt ihrer eigenen Ankunft am Treffpunkt, dass sie gewissermaßen über sein Kommen verfügen können. Deshalb haben sie kein Ersatzöl für ihre Lampen (! ) mitgenommen. 263 Ähnlich Riniker, Gerichtsverkündigung, 264; Luz, Mt 3, 472. <?page no="145"?> 145 2.5.2.3 „Siehe, der Bräutigam! “ (Mt 25,6f.) 264 6 me,shj de. nukto.j kraugh. ge,gonen\ ivdou. o` numfi,oj( evxe,rcesqe eivj avpa,nthsin Îauvtou/ ÐÅ 7 to,te hvge,rqhsan pa/ sai ai` parqe,noi evkei/ nai kai. evko,smhsan ta.j lampa,daj e`autw/ nÅ Nachdem der Bräutigam sich verspätet hatte, wird nun mit Geschrei verkündet, dass er eingetroffen sei: Auf die Schilderung des Einschlafens der Frauen folgt eine implizite Ellipse, die vielleicht eine oder mehrere Stunden umfasst. Die unterbrochene erzählte Zeit läuft weiter, als die Frauen mitten in der Nacht wegen des Geschreis aufwachen (V.6). Dass me,shj de. nukto,j exakt die mitternächtliche Stunde bezeichnet, ist möglich, aber nicht zwingend und für die Erzählung auch nicht unmittelbar relevant. 265 kraugh, bzw. kra,zw begegnen bei Matthäus meistens negativ konnotiert, häufig in Situationen der Angst (Mt 8,29; 14,26.30) oder Verzweiflung (15,22f.; 20,30f.). Es handelt sich also nicht um erwartungsvolles, freudiges Geschrei, wie es für die Ankunft des Bräutigams bei einer Hochzeitsfeier zu erwarten wäre. 266 Vielmehr deutet kra, zw an, dass die Begegnung mit ihm existenziell ist. Wer hier ruft, bleibt offen; möglicherweise andere Menschen, die den Bräutigam zuerst bemerkten. 267 Schenk ist der Ansicht, V.5f. lasse bei den Lesenden die Überraschung erwarten, dass alle bereit sind und Anteil bekommen - diese Überraschung bleibe jedoch aus und werde von der Gegenüberraschung überspielt, dass die Differenz trotz der Gemeinschaft weitergeführt wird. 268 M.E. ist das Gegenteil der Fall: Die Überraschung besteht darin, dass das Einschlafen nicht die Teilnahme der Frauen am Fest verhindert, denn dies wäre bei Ausbleiben des Weckrufes leicht möglich gewesen. Es wird nun die Spannung erhöht, worin die eigentliche Komplikation besteht und was die anfangs ausführlich eingeführte Trennung und Charakterisierung zu bedeuten hat. Die ab hier mehrfach auftretende zitierte Rede bewirkt dabei einen dramatischeren, weniger distanzierten Erzählmodus als zuvor. Auffällig sind 264 In ihren Gliederungsvorschlägen sind sich die meisten Exeget_innen darin einig, V1-5 als Prolog anzusehen. Dieser wird tw. noch auf unterschiedliche Weise unterteilt, was aber nicht als zwingend erscheint. Aufgrund der Zeitsprünge (Ellipsen) wird dann gemeinhin vor V.6 (Hauptstück) und V.11 (Epilog) untergliedert sowie vor V.13 (Schlussparänese); vgl. z.B. Davies/ Allison, Mt 3, 391f.; Gnilka, Mt 2, 347; Zimmermann, Hochzeitsritual, 50, der V.10 bereits der Schlussszene und damit der von ihm sog. Katastrophe zurechnet. 265 Vgl. Gnilka, Mt 2, 351; Mayordomo, Mädchen, 498. 266 Ähnlich Blickenstaff, bridegroom, 100. Balabanski, Eschatology, 35, konstatiert, dass es “not a cry of distress, nor primarily a cry of joy, but a cry of announcement and summons” sei. 267 Vgl. Gnilka, Mt 2, 351. Dass, wie Rosenblatt, Party, 185, feststellt, durch diesen anonymen Weckruf die Passivität der Frauen unterstrichen werde, weil jemand für sie gewacht habe, vermag ich dem Text jedoch nicht zu entnehmen. 268 Vgl. Schenk, Auferweckung, 288. <?page no="146"?> 146 v.a. die zahlreichen Imperative: Wer spricht, fordert andere zum Handeln auf; sei es der Weckruf, die Frauen, die Öl verlangen (V.8), ihre Mitfrauen, die sie wegschicken, um welches zu kaufen (V.9), oder die zurückkommenden Frauen, die den Bräutigam um Einlass bitten (V.11). 2.5.2.4 Die nächtliche Diskussion (Mt 25,8f.) 8 ai` de. mwrai. tai/ j froni,moij ei=pan\ do,te h`mi/ n evk tou/ evlai,ou u`mw/ n( o[ti ai` lampa,dej h`mw/ n sbe,nnuntaiÅ 9 avpekri,qhsan de. ai` fro,nimoi le,gousai\ mh,pote ouv mh. avrke,sh| h`mi/ n kai. u`mi/ n\ poreu,esqe ma/ llon pro.j tou.j pwlou/ ntaj kai. avgora,sate e`autai/ jÅ 2.5.2.4.1 Die Diskussion Die zu Beginn der Erzählung erzeugte Erwartung, dass die als mwrai, Charakterisierten wegen des fehlenden Öls vom Fest ausgeschlossen oder zumindest unangenehm auffallen werden, wird nun von neuem durch die Diskussion zwischen den beiden Gruppen genährt. Diese Diskussion nimmt in dem ansonsten knapp gehaltenen Gleichnis relativ viel Raum ein und lässt im Endeffekt die Identifikationsangebote des Gleichnisses weniger eindeutig sein als es zunächst den Anschein hatte. Zunächst werden die Frauen erneut als die beiden Gruppen erkennbar, als die sie eingeführt wurden (V.2f.). Auch ihre direkte Charakterisierung als mwrai, und fro,nimoi wird wiederholt (V.8f.) und leitet jeweils die zitierte Rede ein. So scheint das Identifikationsangebot an dieser Stelle von vornherein determiniert zu sein. Die „dummen“ Frauen bitten die „klugen“, ihnen Öl abzugeben. Diese fordern sie auf, für sich selbst 269 bei den Händlern Öl zu kaufen, weil es sonst auf keinen Fall für alle reiche. Dabei sind die Frauen als Gruppe, nicht als Einzelpersonen im Blick; ob das Öl für z.B. sieben der zehn gereicht hätte, wird nicht thematisiert. Entscheidend ist, dass es nicht für die ganze Gruppe ausreichend ist. 270 2.5.2.4.2 Klugheit oder Konkurrenz? Dabei stößt die Tatsache, dass die „klugen“ Frauen ihr Öl nicht teilen, bei den Ausleger_innen häufig nicht nur auf Verständnis, sondern auch auf Kritik: Diese Frauen seien keinesfalls weise, sondern unsolidarisch, es gebe 269 e`autai/ j ; vgl. V3: Die „Klugen“ haben nämlich im Gegensatz dazu Öl „für sich selbst“ mitgebracht. 270 Ähnlich Puig i Tàrrech, Parabole, 43. <?page no="147"?> 147 keine Entschuldigung für ihre Weigerung zu teilen und sie treten durch ihr Verhalten in Konkurrenz zu ihren Mitfrauen. 271 Worin diese Konkurrenz bestehen sollte, wird jedoch aus der Erzählung nicht ersichtlich - für einen Hochzeitszug erscheint es besser, mehr Fackelträgerinnen zu haben als weniger. Auch verlangen die „Klugen“ nichts Unmögliches, wenn sie ihre Mitfrauen auffordern, sich selbst Öl zu kaufen - die Möglichkeit, dass diese dann nicht zum Fest zugelassen werden, kündigt sich an dieser Stelle der Erzählung in keiner Weise an. 272 Die Klugheit der „Klugen“ besteht vielmehr nicht nur darin, dass sie vorsorgen, sondern dass sie auch vorausschauend genug sind, um zu wissen, dass das Öl nicht für alle reichen wird, wenn sie teilen. Dementsprechend besteht die Dummheit der „Dummen“ nicht nur in ihrem Versäumnis, Öl mitzunehmen, sondern auch in ihrer irrigen Erwartung, dass ihre Mitfrauen ihren Mangel an Vorbereitung auf das gemeinsame Ziel, dem Bräutigam zu begegnen, kompensieren können. 273 Dass dieses Abwälzen von Verantwortung nicht funktioniert, zeigt der Fortgang der Erzählung. 2.5.2.5 Die Trennung (Mt 25,10) avpercome,nwn de. auvtw/ n avgora,sai h=lqen o` nu,mfioj( kai. ai` e[toimoi eivsh/ lqon metV auvtou/ eivj tou.j ga,mouj kai. evklei,sqh h` qu,raÅ Die „dummen“ Frauen tun, wie ihnen geheißen, und gehen zu den Händlern, um Öl zu kaufen. Während ihrer Abwesenheit kommt der lang erwartete Bräutigam und geht mit den „Klugen“ und „Bereiten“ in den Hochzeitssaal hinein. Bereits mit dem Weggang der „Dummen“ teilt sich die Geschichte in zwei Handlungsstränge, die das weitere Ergehen der beiden Gruppen berichten. Die Trennung ist durch die einleitende Charakterisierung (V.2) bereits vorbereitet 274 und vollzieht sich erzähltechnisch durch den Ortswechsel beider Gruppen. Angezeigt wird dieser durch das Wortfeld „gehen“, insbe- 271 So z.B. Blickenstaff, bridegroom, 103. Blickenstaff versucht eine kritische, subversive Lesart des Gleichnisses, die m.E. aus feministischer Sicht notwendig ist, zum Verständnis des Gleichnisses aber letztlich wenig beiträgt. Auch sie selbst stellt fest: “The parable consequently resists the subversive reading and reverts to an allegorical reading. But then again, that’s how good parables function: they disrupt, unsettle, and ultimately leave us with no definite answers.” (ebd., 108). 272 Es wurde viel darüber diskutiert, ob es nachts möglich ist, Öl zu kaufen, d.h. ob die Läden geöffnet sind. Das Argument, dass bei einer Hochzeit ohnehin das ganze Dorf auf den Beinen sei, leuchtet ein (vgl. Schweizer, Mt, 305 bei Weder, Gleichnisse, 242). Dass die „dummen“ Frauen evtl. Ausgestoßene der Gesellschaft waren, weil sie nicht einfach z.B. Nachbarinnen um Öl bitten konnten (vgl. Rosenblatt, Party, 184), ist dagegen durch nichts belegt. 273 Vgl. Heil, Parables, 194. 274 Vgl. dazu auch das Schema bei Puig i Tàrrech, Parabole, 42. <?page no="148"?> 148 sondere durch Komposita von e; rcomai : 275 Die „Klugen“ gehen wohl dem Bräutigam entgegen, folgen also der Aufforderung des Weckrufes ( evxe,rcesqe ; V.6, vgl. V.1) und gehen, als der Bräutigam kommt ( h=lqen ; V.9), mit ihm hinein ( eivsh/ lqon ; ebd.). Die „Dummen“ folgen der Aufforderung der „Klugen“, Öl zu kaufen ( poreu,esqe ; ebd.), gehen davon ( avpercome, nwn ; V.10) und kommen erst später zu den Feierlichkeiten ( e; rcontai ; V.11). Der Fokus der Erzählung verbleibt dagegen zunächst am Ort des ursprünglichen Geschehens: Wohin die Frauen gehen, um Öl zu kaufen, was sie dort erleben, ob der Kauf gelingt etc., kommt nicht in den Blick und scheint damit irrelevant. Auch ob sie mit dem vorher so vermissten Öl wiederkommen, wird nicht erwähnt. Erzählt wird nur, dass während ihrer Abwesenheit der erwartete Bräutigam gekommen ist. Die beiden Gruppen werden hier weniger wertend als e[toimoi (V.10) und loipai, (V.11) charakterisiert. Unklar bleibt, ob sich e[ toimoi auf das mitgebrachte Öl bezieht oder auf die Anwesenheit dieser Frauen zum richtigen Zeitpunkt. M.E. trifft beides zu: In der Rückschau auf 24,42-44 erscheint letzteres wahrscheinlicher, da es hier um das Bereitsein zur rechten Zeit angesichts des kommenden Diebes geht (s.u.). Gleichzeitig wird durch den Wechsel der Charakterisierung von „klug“ (wegen der Mitnahme von Fackeln und Öl) zu „bereit“ deutlich, dass die Klugheit im Bereitsein, im Vorbereitetsein für die Aufgabe, nämlich das Geleiten des Bräutigams mit Fackeln, besteht. 276 Die erneute Charakterisierung hat ihre Entsprechung im Fortgang der Erzählung: Nur die „bereite“ Gruppe geht mit dem Bräutigam in die ga, moi hinein (V.10). Damit kommt der die „Klugen“ betreffende Handlungsstrang zu einem Abschluss; ihr Hineingehen und das Schließen der Tür ist eine Transformation, die für sie die Lösung des Konflikts darstellt, denn sie sind nun von ihren Mitfrauen räumlich getrennt. Der Fokus des Erzählens vollzieht den Ortswechsel der „klugen“ Frauen mit, jedoch nur bis vor die Tür des Hauses, wo er bis zum Ende bleibt. Was sich hinter dieser Tür abspielt, liegt außerhalb des Interesses der Erzählung. Aus der Außenperspektive ist lediglich wahrzunehmen, dass die Tür verschlossen wird. Dies lässt den Fortgang der Erzählung bereits erahnen und ist ein Moment der letzten Spannung: Werden die anderen fünf Frauen ebenfalls hineinkommen? 275 Hierin deutet sich die Tragödie an, vgl. Mayordomo, Mädchen, 489. Vgl. auch die Darstellung bei Puig i Tàrrech, Parabole, 40. 276 Vgl. Mayordomo, Mädchen, 498f. <?page no="149"?> 149 2.5.2.6 Vor der Tür (Mt 25,11f.) 11 u[steron de. e; rcontai kai. ai` loipai. parqe,noi le,gousai\ ku,rie ku,rie( a; noixon h`mi/ nÅ 12 o` de. avpokriqei.j ei=pen\ avmh.n le,gw u`mi/ n( ouvk oi=da u`ma/ jÅ Es erfolgt nun ein erneuter Zeitsprung, eine implizite Ellipse, die durch das Adverb u[steron gekennzeichnet ist. Eine Zeitspanne von unbestimmter Dauer ist vergangen, 277 als die Frauen von den Händlern zurückkommen. Der sie betreffende Handlungsstrang wird wieder aufgenommen, die präsentische Formulierung zeigt den dramatischen Höhepunkt an. 278 Trotz verschlossener Tür bekommen die Frauen Gelegenheit, den Bräutigam persönlich um Einlass zu bitten, 279 und tun dies mit den Worten ku,rie ku,rie( a; noixon h`mi/ n . Hierin liegt das Moment der letzten Spannung der Erzählung: Werden die Frauen trotz ihrer Verspätung hereingelassen? Dass dies nicht der Fall ist, gibt den Lesenden wiederum Anlass zur eigenen Positionierung gegenüber den Frauen, die unterschiedlich ausfallen kann, wie im Folgenden deutlich werden wird. 2.5.2.6.1 Der Bräutigam Der von den Frauen angesprochene Bräutigam tritt erst an dieser Stelle als Handlungssouverän - und überhaupt als Satzsubjekt - auf (V.12). In der übrigen Erzählung bleibt er als Charakter unterbestimmt. Trotzdem ist die gesamte Handlung durch ihn motiviert: 280 Sie findet ihre Einheit in seiner Person als Erwarteter (V.2-5), Kommender (V.6-9) und Angekommener (V.10-12). 281 Als Angekommener antwortet er den Frauen vor der Tür und weist sie ab. Somit wird der Gruppe der „dummen“ Frauen zum zweiten Mal etwas verweigert: 282 Nicht nur Öl von ihren Mitfrauen, sondern auch Einlass vom Bräutigam, der behauptet, sie nicht zu kennen. Die Anrede ku,rie (V.11) verwenden bei Matthäus ansonsten nur Jünger und Glaubende, 283 und zwar ausschließlich an Jesus gerichtet - so auch in 7,21f., wo Jesus als zukünftiger Richter spricht. Er kündigt an, was in 25,11f. auf der Bildebene geschieht: 284 Um in die basilei,a hineinzukommen, wird es für diejenigen nicht genügen, ku, rie ku, rie zu rufen, die den Willen des Vaters 277 Die Zeitangabe u[steron betont mehr als das sonst häufig verwendete to,te , dass tatsächlich einige Zeit vergangen ist 278 Vgl. Gnilka, Mt 2, 352, mit Schenk, Auferweckung, 286. 279 An dieser Stelle bleibt unklar, warum ihnen der Bräutigam persönlich öffnet und nicht ein Wächter oder Bediensteter bzw. ob die Frauen durch die geschlossene Tür rufen. 280 Ebenso Puig i Tàrrech, Parabole, 39. 281 Vgl. Weder, Gleichnisse, 243. 282 Vgl. Rosenblatt, Party, 183. 283 Mt 8,2.6.8.21.25; 9,28; 11,25; 13,27; 14,28.30; 15,22.25 u.ö..; vgl. Frankemölle, Mt 2, 416. 284 Zimmermann, Hochzeitsgleichnis, 69, hält es für möglich, die ku,rie -Anrede gänzlich auf der Bildebene zu belassen; diese Möglichkeit ist aber m.E. aufgrund des Bezugs zu Mt 7 nicht sehr plausibel. <?page no="150"?> 150 nicht tun. Obwohl sie anderes bewirkt haben (Weissagen, Dämonenaustreibungen, Wunderwerke), kündigt „Jesus“ an, sie abzuweisen. Ebenso ergeht es den Frauen, die mit ihrem neu gekauften Öl vor der Tür des Bräutigams stehen und mit ku,rie -Rufen um Einlass bitten: Der Bräutigam lässt sie nicht hinein. 2.5.2.6.2 „Ich kenne euch nicht! “ In diesem doppelten Abgewiesenwerden liegt das tragische Moment der Erzählung: 285 Obwohl die Frauen versucht haben, ihr Versäumnis, kein Öl mitzubringen, auszugleichen, und auf die abweisenden Worte der „Bereiten“ gehört haben, verpassen sie den entscheidenden Moment, in dem der Bräutigam erscheint. Dieser räumt ihnen keine zweite Chance ein - er behauptet gar, sie nicht zu kennen. Obwohl sie samt ihrem Öl am richtigen Ort sind, ist es zu spät für sie. 286 Sie scheinen mit ihren Fackeln nicht zu fehlen bzw. beim Geleit des Bräutigams gefehlt zu haben. 287 Dies ist für die Lesenden eine Irritation, die nicht aufgelöst wird. Es stellt sich zudem die Frage, ob die Frauen auch ohne Öl hineingekommen wären, was sich aber aus der Erzählung heraus nicht beantworten lässt. Es scheint vielmehr eine Rolle zu spielen, ob der Bräutigam die Frauen kennt ( oi=da ), ob sie also in einer personalen Beziehung zu ihm stehen. 288 Seine abweisenden Worte ouv k oi= da u`ma/ j (25,12) sind zwar gegenüber dem bis in die Vergangenheit zurückweisenden ouvde,pote e; gnwn u`ma/ j\ avpocwrei/ te avpV evmou/ oi` evrgazo,menoi th.n avnomi,an (7,23) etwas abgeschwächt, aber auch hier gilt: Die Bitte um Einlass wird nicht erhört, die Tür bleibt verschlossen. 2.5.2.6.3 Der erste Schluss An dieser Stelle erfolgt die Schlussgebung auf der Ebene der Geschichte: Der Hauptkonflikt um das Öl und das Hineinkommen in die ga, moi ist aufgelöst, die „Klugen“ befinden sich am Ziel, die „Dummen“ bleiben vor der Tür. Beide, vor allem aber die Abgewiesenen, haben gelernt, dass es ein „zu spät“ gibt. Hervorzuheben ist dabei die Parallelität von Anfang und Ende: Die 285 Auch Gnilka bemerkt, dass die Geschichte durch den Epilog den „Anstrich des Tragischen“ erhält (Mt 2, 352). 286 Vgl. Rosenblatt, Party, 186; auch die „klugen“ Frauen könnten ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr helfen. wenn sie es wollten. 287 Vgl. Rosenblatt, Party, 187. 288 Vgl. Sand, Mt, 505, der für V.13 konstatiert: „Nicht zu guten Werken oder dergleichen wird also die Gemeinde in der Parabel und im abschließenden Imperativ aufgefordert, sondern zu der einsichtigen Bereitschaft, zu dem Herrn der Gemeinde schon jetzt eine personale Beziehung zu haben, die dann in der Vollendung der Himmelsherrschaft ihre letzte Erfüllung finden wird.“ <?page no="151"?> 151 schon am Anfang als dumm Charakterisierten scheitern am Ende tatsächlich, und nur die als klug Charakterisierten gelangen zu ihrem Ziel. So war dieser Schluss von vornherein erwartbar. Die negativen Reaktionen des Bräutigams und der „klugen“ Frauen auf die Bitten dürfte bei den Lesenden jedoch unterschiedliche Reaktionen hervorrufen: Hier herrscht Härte statt Großzügigkeit und Solidarität, so dass die Frauen, die draußen bleiben müssen, Mitleid erregen und damit Anlass geben zur sympathetischen Identifikation. Auch stellt sich den einzelnen Lesenden die Frage, auf welcher Seite sie stünden, ob auch sie hineinkämen oder draußen bleiben müssten, und inwiefern es hierbei um die Teilhabe an der basilei,a geht, wie es die Einleitung des Gleichnisses nahe legt. 2.5.2.7 Die Schlussparänese (Mt 25,13) grhgorei/ te ou=n( o[ti ouvk oi; date th.n h`me,ran ouvde. th.n w[ranÅ Diese Überlegungen werden durch den Schlussvers genährt, der nicht mehr zur eigentlichen Geschichte gehört, aber nun auch die Erzählung beendet. Hier wendet sich „Jesus“ direkt an die Adressat_innen und zieht ein Fazit, das das Gleichnis in den Gesamtzusammenhang der Rede einordnet: Es soll verdeutlichen, dass angesichts der Ungewissheit von Tag und Stunde Wachsamkeit gefordert ist (vgl. 24,36.42.44.50). 289 Damit ist nicht nur die Bewertung der unterschiedlichen Handlungsoptionen der Frauen vorgegeben, sondern auch die Lehren, die die Lesenden aus diesem Gleichnis ziehen sollen: Sie sollen, da sie nicht von vornherein auf Seiten der „Klugen“ stehen, wegen ihrer Unkenntnis von Tag und Stunde wachsam sein, und das bedeutet Vorbereitung. Diese Aufforderung fungiert schon deshalb als Transfersignal, weil sie den zeitlich möglichen Bereich der Ankunft erheblich ausweitet: Die Frauen der Erzählung kennen von vornherein den Tag der Ankunft des Bräutigams, wenn auch nicht die Stunde. Erst an dieser Stelle wird die Funktion des Verzögerungsmotivs (V.6) deutlich; es zielt weiterhin nicht auf die Ermahnung, nicht zu schlafen, sondern darauf, vorbereitet zu sein und die Zeit, die zur Vorbereitung bleibt, sinnvoll zu nutzen. Dies ist ein erster Hinweis, auf welche Weise Erzählung und basilei,a in Beziehung stehen (vgl. V.1): Die Lesenden kennen den Zeitpunkt der Ankunft der basilei,a nicht. Im Gegensatz zum letztlich nicht hilfreichen Rat der „Klugen“ an die „Dummen“ ist der Rat des glaubwürdigen Erzählers „Jesus“, aus der Erzäh- 289 Ähnlich Gnilka, Mt 2, 347: „V 13 ist der die Paränese der eschatologischen Rede leitmotivisch durchziehende Imperativ.“ Schottroff, Schwestern, 239, grenzt „die Wachsamkeit derer, die nicht wissen, wann ihre Präsenz gefordert sein wird“, zu Recht von der Parusieverzögerung ab. <?page no="152"?> 152 lung über sie zu lernen, wachsam und vorbereitet zu sein, sinnvoll. Seine Aufforderung wirkt wie ein Weckruf; er formuliert sie nicht mehr als heterodiegetische Erzählstimme an die Frauen der Erzählung gerichtet, mit denen sich die Lesenden längst identifiziert haben, sondern noch einmal explizit homodiegetisch auf der Ebene der Rede, quasi um sicherzugehen, dass die Adressat_innen es verstanden haben. Um jedoch das Wachen, das Vorbereitetsein mit Inhalt zu füllen und zudem die Vorstellung von der Ankunft der basilei,a besser zu verstehen, müssen die Lesenden auch die Transfersignale der Erzählung zu deuten wissen. Diesen Transfersignalen widmet sich der übernächste Abschnitt - der nächste widmet sich den sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der Erzählung. 2.5.3 Der bildspendende Bereich 2.5.3.1 Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund Die zahlreichen Probleme, die der Text offen lässt - z.B. die Abwesenheit der Braut und das Verschließen der Tür bei einer Hochzeitsfeier, bei der normalerweise das ganze Dorf mitfeiert 290 - werden häufig als Brüche im Text betrachtet und somit die gesamte Erzählung als konstruierte Fiktion, die allegorisch zu verstehen sei. 291 Eine andere Forschungsrichtung versucht, diese Probleme aus der Sozialgeschichte heraus zu erklären und sie - ohne den religiösen Sinn des Gleichnisses zu ignorieren - in den antiken Hochzeitsritus einzuordnen. 292 Die verschiedenen Rekonstruktionsversuche des Brautritus kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen und zeigen daher, dass eine solche Rekonstruktion aus heutiger Sicht nicht zweifelsfrei möglich ist. Dass aber eine Einordnung in den historischen Kontext grundsätzlich möglich ist, wird zunehmend Konsens. 293 Konsensfähig ist auch, dass die im Gleichnis geschilderte Szene zur Hochzeitsfeier im engeren Sinn gehört, nicht zur Vor- oder Nachfeier im Rahmen der oft mehrtägigen Feierlichkeiten. 294 Diese Hochzeitsfeier beinhaltete eine nächtliche Prozession mit Fackeln zu den ga,mouj . Wenn ga, moj jedoch den Ort im Haus des Bräutigams bezeichnet, an dem die Hochzeitsfeier stattfindet, wie es der jüdische Hochzeitsritus vorsieht, ist die verschlossene Tür nicht zu erklären. 290 Vgl. Luz, Mt 3, 473. 291 So z.B. Bornkamm, Verzögerung, 51: „Man darf … gar nicht den Versuch machen die Einzelheiten der Parabel mit zeitgenössischen Hochzeitssitten in Einklang zu bringen.“ 292 Vgl. dazu v.a. Zimmermann, Hochzeitsritual, 49. 293 Vgl. Luz, Mt 3, 469; Mayordomo, Mädchen, 404. 294 Vgl. die Übersicht bei Mayordomo, Mädchen, 403f., mit Verweis auf die Rekonstruktionen von Jülicher, Luz und Zimmermann. <?page no="153"?> 153 Mit Zimmermann ist zunächst festzuhalten, dass es zur Zeit Jesu nicht den Hochzeitsritus gab, so wie es auch nicht das Judentum gab. Vielmehr haben sich jüdische und hellenistische Hochzeitsbräuche vermischt. 295 Zimmermann geht davon aus, dass ga, moj auf das Brautgemach im Haus des Bräutigams referiert, in dem der erste Beischlaf der Brautleute stattfand. Bei den parqe,noi handle es sich dann um Brautjungfern oder Mägde, die den Bräutigam in das Gemach hinein begleiteten. Das erkläre auch die verschlossene Tür. 296 Jedoch ist eine solche Begleitung wenig belegt. 297 Zudem wäre zu fragen, warum die verspäteten Frauen anklopfen, obwohl sie wissen müssten, dass sie die Hochzeitsnacht stören, 298 und warum der Bräutigam persönlich antwortet und nicht ein Wächter o.ä. Auch bleibt unklar, warum dieses Begleiten - des Bräutigams und nicht der Braut! - für die Frauen dann so erstrebenswert ist. Handelt es sich dagegen bei ga, moi wie im jüdischen Ritus tatsächlich um den Ort, an dem die Hochzeitsfeier stattfindet, erklärt das sowohl den Plural 299 als auch den dringlichen Wunsch der Frauen, in die ga, moi hineinzukommen. Sie sind dann als ein Ort der Freude zu verstehen, ein Ort des Feierns, des Essen und Trinkens und der Gemeinschaft. Nicht zu erklären wäre jedoch die verschlossene Tür, die somit als Extravaganz und damit als allegorischer Zug zu werten wäre. 300 Vor dem Hintergrund von Mt 22,1-14 scheint dies wahrscheinlich, weil ga, moj hier eindeutig Hochzeitsfeierlichkeiten bezeichnet und zudem auch hier eine Hochzeitsszene so verfremdet wird, dass auch sie aus der Sozialgeschichte heraus schwerlich zu erklären ist. Für das vorliegende Gleichnis wird hier trotzdem davon ausgegangen, dass außer der Extravaganz der verschlossenen Tür alle Probleme entweder erzählstrategisch oder sozialgeschichtlich erklärt werden können, so dass eine vorschnelle allegorische Auslegung unangebracht bleibt. Es finden sich jedoch zahlreiche Transfersignale, die im Folgenden beleuchtet werden sollen. 295 Vgl. Zimmermann, Hochzeitsritual, 53. 296 Vgl. Zimmermann, Hochzeitsritual, 67f. 297 Vgl. Zimmermann, Hochzeitsritual, 69, nennt als Belegstelle den spätantiken Liebesroman „Daphnis und Chloe“ (IV, 40) des sophistischen Rhetors Longos, wo eine Begleitung der Brautleute in das Brautgemach ( qa,lamon ) mit Flöten und großen Fackeln ( da/ |daj mega,laj ) geschildert wird. 298 Vgl. Mayordomo, Mädchen, 403. 299 Wegen der Pluralform tendiert auch Mayordomo, Mädchen, 499, zu „Brautgemach“, was m.E. jedoch als Begründung allein nicht ausreicht. 300 Vgl. Luz, Mt 3, 473 und Schenk, Auferweckung, 286. <?page no="154"?> 154 2.5.3.2 Das Bildfeld „Hochzeit“ Die Selbstbezeichnung Jesu als Bräutigam ist den Lesenden bereits aus Mt 9,15 bekannt. Die Bräutigam-Figur der Erzählung hat also von vornherein ein Deutungspotential auf Jesus hin, und zwar im Blick auf sein zukünftiges Geschick: Der Bräutigam „Jesus“ wird, nachdem er durch seinen Tod von den Jüngern getrennt ist, wie es in 9,15 angesagt ist, wieder zu ihnen zurückkehren. 301 Auf dieser Zeitstufe der Trennung von ihm befinden sich auch die Lesenden. Auch das Motiv der Ehe an sich spielt traditionell eine Rolle: Seit Hos 1-3 steht das Bild der Ehe für den Bund zwischen Jhwh als Bräutigam und Israel als Braut, die ihrem Bräutigam untreu geworden ist und den Bund gebrochen hat (vgl. Jes 50,1; 54,4-6; Ez 16,7-14). 302 In Bezug auf die Endzeit ist die Vorstellung der Ehe bzw. Hochzeit ambivalent: Es findet sich sowohl die Verheißung der Wiederherstellung des Bundes, über die Jhwh sich freuen wird wie ein Bräutigam über seine Braut (Jes 62,4f.), als auch die Drohung, dass das Gericht Gottes den Jubel der Brautleute beendet (Jer 7,34; 16,9; 25,10; Bar 2,23). 303 Eindeutiger ist der Bezug zum Gleichnis vom Hochzeitsmahl (Mt 22,1- 14) durch das Bildfeld der Hochzeit, nicht der Ehe, und vor allem durch die Stichwortanknüpfungen o` moiou/ n (hier im Aor Pass.; V.2), e[ toimoj (hier allerdings weiter gefasst; alles ist für die Hochzeit vorbereitet; V.4), und ga, moj (V.2.3.4.8.9.10.11.12). Dass der bildempfangende Bereich das Gericht ist, wird in diesem Gleichnis spätestens durch die Anweisung des Königs, einen von der Straße weg eingeladenen Hochzeitsgast, der kein hochzeitliches Gewand trägt, in die äußerste Finsternis zu werfen, wo Weinen und Zähneklappern sein wird (V.13), deutlich. Er war zwar beim Fest grundsätzlich erwünscht, wurde sogar als Gast gebraucht - denn was wäre eine Hochzeit ohne Gäste! - aber ist nicht angemessen vorbereitet, d.h. gekleidet. 304 Allein deshalb wird er mit Tod und Verdammnis bestraft. Vor dem Hintergrund dieses Gleichnisses werden die Lesenden von Mt 25,1-13 von Anfang an erahnen, dass die Hochzeitsszenerie mit zureichend 301 Ähnlich Heil, Parables, 193. 302 Vgl. Weder, Gleichnisse, 244; ebenso Münch, Gleichnisse, 195. Im rabbinischen Schrifttum findet sich die Vorstellung vom Sinaibund als Hochzeit, auch in Gleichnissen, woraus sich die eschatologische Metaphorik entwickelt habe und auch tw. eine Verschiebung der Hochzeit von der Zeit des Exodus, der dann als Verlobung gilt, in die messianische Zeit; vgl. Zimmermann, Geschlechtermetaphorik, 208-214. 303 Weil diese Vorstellungen jedoch nicht sehr breit belegt sind, ist z.B. Luz, Mt 3, 239, vorsichtig mit einer eschatologischen Deutung des Bildes von Israel als der Braut Gottes. 304 An dieser Stelle dürfte sich bei den Lesenden Widerstand regen: Warum muss ein Mann, der von der Straße geholt wird, ein besonderes Hochzeitsgewand tragen, zumal dies in der Antike gar nicht zwingend war? Warum überprüft der Vater des Bräutigams die Kleidung seiner Gäste? Hier legt sich eine metaphorische Deutung nahe (mit Luz, Mt 3, 244). <?page no="155"?> 155 und unzureichend vorbereiteten Teilnehmer_innen in ein Szenario des Gerichts und der Scheidung münden wird - von den Hinweisen im Text selbst einmal abgesehen. Der Zusammenhang der Hochzeitsthematik mit der Parusie des Menschensohnes wird wiederum durch den Sintflut-Vergleich (24,37-39) hergestellt: auch hier heiraten die Menschen bzw. werden geheiratet ( gamou/ ntej kai. gami,zontej ; V.38), gehen ihren alltäglichen Beschäftigungen nach - und völlig unerwartet bricht die Katastrophe, das Vernichtungsgericht Gottes, über sie herein, so dass sie alle umkommen. Vernichtungs- und mehr noch Scheidungsgericht sind mithin Vorstellungen, die auch hinter dem Gleichnis Mt 25,1-13 stehen. Über Kriterien des Gerichts sagen die benannten Intra- und Intertexte jedoch wenig aus. Dies leistet der von dem Gleichnis am stärksten alludierte Text, Mt 7,21-27, der noch gesondert in den Blick kommen soll. 2.5.4 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ Laut seiner Einleitung (V.1) hat das Gleichnis die basilei,a zum Thema, deren noch ausstehendes Kommen mittels der Erzählung von den zehn Frauen näher bestimmt wird. Auf welche Weise das Verhältnis der Erzählung zur basilei,a zu denken ist, hängt wesentlich mit den Transfersignalen des Gleichnisses zusammen, von denen die Einleitung und der Schluss die eindeutigsten, aber bei weitem nicht die einzigen sind. Sie verweisen auf Intratexte, auf die im Vorfeld einer eigentlichen Deutung eingegangen werden soll. 2.5.4.1 Intratextuelle Bezüge innerhalb der Endzeitrede Mit dem Gleichnis vom guten und vom schlechten Sklaven (24,45-51) verbindet das Gleichnis zunächst die Teilung der Gruppe der Hauptpersonen in zwei von vornherein unterschiedlich beurteilte Parteien, von denen die positiv bewertete als fro, nimoj bezeichnet wird. 305 Für diese Partei nimmt die Erzählung jeweils ein gutes Ende, sie wird belohnt. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit liegt jedoch jeweils auf der anderen, negativ beurteilten Partei (in 24,45-51 dem „schlechten Sklaven“). Damit sind beide Gleichnisse einander nicht nur Struktur- und Kompositionsstützen, sondern illustrieren auch beide das Grundmotiv dieser Struktur, die mit dem dramatischen Dreieck einhergeht: „eine_r wird genommen, eine_r gelassen“ (Mt 24,40f.; vgl. auch Mt 24,37-39). Dieses Zurückgelassen- 305 Ähnlich wie im vorigen Gleichnis erfolgt die Begründung der Charakterisierung, die dort allerdings als Frage formuliert ist (24,45), erst im Anschluss. <?page no="156"?> 156 werden - auch dort mit Achtergewicht - wird durch das Tür-Motiv auf eindrückliche Weise illustriert. 2.5.4.2 Mt 7,21-27 als Intratext Am Ende der Bergpredigt (7,21-27) spricht „Jesus“ über das Tun des Willens des Vaters als Voraussetzung dafür, in die basilei,a hineinzukommen, 306 und illustriert und verdeutlicht diese Aussage mittels des Gleichnisses vom Hausbau. Dieser Text stellt aufgrund zahlreicher Stichwortanknüpfungen eine wichtige Bezugsgröße für Mt 25,1-13 dar. Hier findet sich ebenfalls der Ruf ku,rie ku,rie (V.21f.), jedoch im Mund derer, die um Einlass in die basilei,a bitten. Ein einfaches Lippenbekenntnis genügt jedoch nicht, all ihre Weissagungen und Wunderwerke werden ihnen dann nichts nützen, sondern nur diejenigen, die den Willen des Vaters tun, werden eingelassen. Die anderen wird „Jesus“ abweisen mit ganz ähnlichen, aber noch schärferen Worten, mit denen auch der Bräutigam die „dummen“ Frauen abweist: „Ich habe euch niemals gekannt“ ( ouvde,pote e; gnwn u`ma/ j ), verbunden mit der Beschimpfung als Übeltäter bzw. Gesetzesübertreter ( oi` evrgazo,menoi th.n avnomi,an ; V.23). 307 Das Gleichnis vom Hausbau fungiert als Strukturbzw. Kompositionsstütze, und zwar sowohl mit vorausdeutender Wirkung, als auch als Illustration der Figurenkonstellation: Zwei Parteien werden zunächst als klug bzw. dumm charakterisiert, dann wird nacheinander ihr gegensätzliches Handeln und die hieraus resultierenden Konsequenzen in zwei getrennten Handlungssträngen geschildert: Wer die Worte Jesu hört und auch danach handelt, wird mit einem klugen Menschen verglichen, 308 der sein Haus auf Fels baut. Dieses Haus hielt den Stürmen stand. Dagegen wird, wer die Worte Jesu zwar hört, aber nicht tut, mit einem dummen Menschen verglichen, der sein Haus auf Sand gebaut hat - und dieses Haus hielt den Stürmen nicht stand. In Mt 7 werden, das dürfte deutlich sein, der Gerichtsbezug und die Gerichtskriterien sehr viel deutlicher formuliert; auf das Hören und Tun der Worte Jesu kommt es an. Durch die intratextuellen Bezüge werden sie auch in Mt 25,1-13 eingespielt und sind daher bei der Auslegung des Gleichnisses mit zu bedenken. 306 Generell wird von der basilei,a im Matthäusevangelium häufig in räumlichen Metaphern gesprochen. 307 Vgl. dazu auch die Gerichtsszene 13,41f., wo angekündigt wird, dass diejenigen, die Unrecht ( avnomi,an ) tun, in den Feuerofen geworfen werden, wo Weinen und Zähneknirschen sein wird (vgl. 24,51; 25,30). 308 o`moiwqh,setai avndri. froni,mw| ; vgl. dazu oben. <?page no="157"?> 157 2.5.4.3 Die Klugheit der „klugen“ Frauen - der Fehler der „dummen“ Frauen Im vorliegenden Gleichnis wie in Mt 7,24-27 wird deutlich, dass die Charakterisierung als dumm bzw. klug nicht in erster Linie auf intellektuelle Fähigkeiten abhebt, 309 sondern auf Entscheidungen und auf Handlungen, zu denen diese Entscheidungen führen. Sie sind in beiden Fällen ganz praktischer Art: einen geeigneten Untergrund für den Hausbau zu wählen bzw. Öl mitzunehmen oder dies nicht zu tun. Einleitend (7,24) hat „Jesus“ klar benannt, wofür die „kluge“ Entscheidung steht: Nicht nur für das Hören, sondern für das Hören und Tun der Worte Jesu. 310 Damit ist die Deutung des Gleichnisses von vornherein vorgegeben. Aufgrund der intratextuellen Bezüge lässt sich das Hören und Tun des Wortes auch als Kriterium für das Hineinkommen in den Hochzeitssaal und damit für die Teilhabe an der basilei,a in Mt 25,1-13 verstehen. 311 Dabei muss beides, Hören und Tun, zusammenkommen, eines allein reicht nicht aus. Der Zusammenhang zwischen dem Licht und guten Werken wird zudem bereits in 5,14-16 hergestellt: Für die Jünger Jesu gilt es, gute Taten zu vollbringen, um durch sie zu „leuchten“, 312 so dass sie für alle sichtbar werden (vgl. auch 13,43). Der Fehler, den die „dummen“ Frauen begehen, ist demnach, wie gesehen, nicht das Einschlafen, denn alle Frauen schlafen ein, nicht nur sie. Der Schlaf hat vielmehr die Funktion eines retardierenden Moments und ist die Folge der Verspätung des Bräutigams, durch die das Fehlen des Öls erst zu Tage tritt. Der Fehler der „dummen“ Frauen ist es vielmehr, sich angesichts der Verspätung des Handlungssouveräns auf andere zu verlassen - ebenso wie der „schlechte“ Sklave (24,48): 313 Er verlässt sich darauf, dass sein Herr später kommt und ihn nicht bei seinem verbotenen Tun finden wird, die Frauen verlassen sich darauf, dass ihre Schwestern ihnen aushelfen werden 314 und nutzen die Zeit nicht, die ihnen bleibt, um sich mit Öl zu versorgen. Nur an diese Partei richtet der jeweilige Handlungssouverän bei seiner Ankunft das Wort. 315 Ihr Schicksal wird besonders betont, indem es mit Achtergewicht am Schluss des Gleichnisses erzählt wird. So erwarten die 309 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 396. 310 Vgl. Mayordomo, Mädchen, 500. 311 In einer solchen allegorischen Deutung stünde dann das Mitnehmen des Öls und nicht nur der Fackeln für eine angemessene Vorbereitung der Frauen auf den Hochzeitsritus. Aufgrund dieses deutlichen intratextuellen Bezugs ist die reformatorische Deutung zu verabschieden, das Öl stünde für den Glauben, denn dies ist durch nichts belegt (vgl. die Belegstellen bei Luz, Mt 3, 483f.). 312 Vgl. Luz, Mt 3, 477. 313 Durch die unterschiedliche Fokalisierung wird jedoch ein nicht geringer Unterschied deutlich: Der Sklave denkt nur, dass sein Herr sich verspätet (interne Fokalisierung; 24,48), der Bräutigam verspätet sich dagegen tatsächlich (externe Fokalisierung). 314 Vgl. Heil, Parables, 194. 315 Jedoch richten die Frauen zuvor selbst das Wort an den Bräutigam, während vom Sklaven keine direkte Rede zitiert wird. <?page no="158"?> 158 Lesenden für die „dummen“ Frauen eine ähnlich harte Strafe wie für den „schlechten“ Sklaven, die u.a. mit der Wendung evkei/ e; stai o` klauqmo. j kai. o` brugmo.j tw/ n ovdo,ntwn umschrieben wird - ein Hinweis auf die Gerichtsvorstellung, die damit auch in das Gleichnis von den zehn Frauen eingespielt wird. Auf diese Weise wird der extravagante Zug der verschlossenen Tür metaphorisch aufgeladen und rückt in die Nähe der Vorstellung eines Scheidungsgerichtes, das endgültig „Gute“ und „Schlechte“, „Kluge“ und „Dumme“ voneinander trennt. 2.5.4.4 Der Zusammenhang von Charakterisierung und „doppeltem Ausgang“ Auch in Mt 7,24.26 findet sich das Gegensatzpaar fro, nimoj und mwro,j , das der Charakterisierung der handelnden Personen dient: des Menschen, der sein Haus auf felsigen Grund baute und dessen, der es auf Sand baut. Das Scheitern der „Dummen“ wird hier wie dort durch das Achtergewicht der Schilderung am Ende betont - in Mt 7 beschließt diese Schilderung des „großen Sturzes“ des Hauses die Bergpredigt als ganze. Das Bild des Regens und v.a. des Sturmes erinnert zudem an Schilderungen des Tages Jhwhs (z.B. Jes 13,13; vgl. Mt 24,29). Ein scheinbarer Widerspruch besteht zwischen dem nicht erhörten Überzeugungsversuch (7,22) und der Verheißung Jesu „Klopft an, und es wird euch geöffnet werden“ (7,7). 316 Der Aussagezusammenhang bezieht sich jedoch offensichtlich auf die Gegenwart der Lesenden, nicht auf den Zeitpunkt, an dem Jesus, der Richter über ihre Teilhabe an der basilei,a entscheiden wird. So wird aus der Dialogizität dieser Allusion umso deutlicher: Zum Zeitpunkt des Hörens bzw. Lesens der Bergpredigt und auch der Endzeitrede ist es noch möglich anzuklopfen, zu bitten und zu suchen, aber es wird einen Zeitpunkt geben, an dem es zu spät sein wird. Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren vermeintlichen Widerspruch: Wer jemanden mwro,j nennt, soll in die Gehenna geworfen werden, sagt „Jesus“ (5,22) - und er selbst nennt die handelnden Personen seiner Gleichnisse (7,26; 25,2.3.8) wie auch die Pharisäer (23,15.17) mwro,j . Dies wiederum lenkt den Blick auf eine wichtige Unterscheidung, die „Jesus“ dem eschatologischen Ausblick der Bergpredigt voranstellt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (7,1). Dies ist möglicherweise ein Grund dafür, dass die Charakterisierung klug/ dumm bzw. gut/ schlecht für bestimmte Charaktere auf der Ebene von Gleichnissen geschieht. Somit sind diese Zuweisungen in ihrer Übertragung auf lebende Menschen nie eindeutig und bedürfen immer der Reflexion. Wer die Gleichnisse liest, kann zu ergründen versuchen, auf welcher Seite 316 Diesen Widerspruch sieht Mayordomo, Mädchen, 500, wenn er fragt „warum die Verheißung aus Mt 7,7f. in diesem Szenario nicht mehr gültig ist“. <?page no="159"?> 159 sie/ er steht - und das ist oft schwierig genug -, aber andere auf diese Weise zu beurteilen, ihre Teilhabe an der basilei,a aufgrund ihres Lebenswandels vorauszusagen und damit über sie zu richten, ist unmöglich, und der Versuch ist nicht erlaubt, denn das Richten ist dem Menschensohn-Richter Jesus vorbehalten. Und „Jesus“ ist es auch, der zur Wachsamkeit mahnt, solange noch Zeit ist. 2.5.4.5 Der Bräutigamku, rioj Zahlreiche Bezüge deuten darauf hin, dass der Bräutigam der Erzählung auf den wiederkommenden Menschensohn-Richter gedeutet werden kann. Das Motiv des unbekannten Zeitpunktes der Ankunft des Erwarteten wird im Zusammenhang der gesamten Rede nicht nur durch die Wiederaufnahme von croni,zein betont, sondern auch durch die Verortung der Erzählung in der Nacht: Zu nächtlicher Stunde kommt auch der Dieb (24,43). Dieses kurze Gleichnis wird von der Mahnung gerahmt, wachsam zu sein, weil Tag und Stunde unbekannt sind (24,42.44), die in 25,13 fast wörtlich aufgenommen wird (vgl. auch 24,36.50). Hier wird klar benannt, wer erwartet wird: o`` ku,rioj u``mw/ n . Auf diese Weise wird auch der Bräutigam in Mt 25 mit diesem ku, rioj erzählstrategisch parallelisiert. In diesem Zusammenhang ist auch auf das für die Rede Jesu typische Amen-Wort einzugehen, wie es insgesamt sechs Mal in der gesamten Endzeitrede erscheint. Zunächst von „Jesus“ direkt an die Erzähladressat_innen gerichtet (24,2.34.47), begegnet es hier im Munde des Bräutigams (V.12) - und in der die Rede abschließenden Gerichtsszene im Munde des basileu,j (25,40.45). Dadurch werden die Worte „Jesu“ mit den Worten dieser Figuren parallelisiert. Durch diese Transfersignale wird den Lesenden nahegelegt, den als ku, rioj angeredeten Bräutigam auf Jesus zu deuten, zumal „Jesus“ bereits in 9,15 für sich selbst die Bräutigam-Metapher verwendet. Sein Abweisen der „dummen“ Frauen und der Kontext des Gleichnisses verweisen somit auf den Menschensohn-Richter. 2.5.4.6 „Wacht also! “ Die Frauen des Gleichnisses stellen admirative wie auch kathartische Identifikationsfiguren für die Lesenden dar. Sie können die basilei,a wie eine Hochzeitsfeier erwarten. 317 Für diese Hochzeit sind jedoch Vorbereitungen nötig - im Gleichnis gesprochen: die Bevorratung mit Öl. Diese Vorbereitungen müssen zu einem Zeitpunkt abgeschlossen sein, der nicht vorher- 317 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 617. <?page no="160"?> 160 sehbar ist. 318 Jede_r einzelne muss sie treffen und kann dabei nicht von anderen vertreten werden. Sie bestehen im Hören und Tun der Worte Jesu. Es ist notwendig, sich vorzubereiten, weil es zum einen einer Hochzeit angemessen ist und zum anderen, weil die Möglichkeit besteht, nicht zum Fest hineingelassen zu werden. Der Zugang nämlich „führt durch das Gericht, durch eine Tür die sich einmal unwiderruflich schliesst“. 319 Das Gleichnis erzählt nicht von der basilei,a , sondern von der Zeit ihres Anbruchs, zu der auch das letzte Gericht gehört 320 als die Scheidung derer, die hineinkommen, von denen, die nicht hineinkommen, 321 durch Jesus, den Richter. Wie er entscheiden wird, wissen die Lesenden nicht im Voraus. So, wie es aber unwahrscheinlich für Frauen ist, die als Fackelträgerinnen zu einer Hochzeit gehen, dass sie kein Öl mitnehmen, so ist es auch für die Lesenden möglich, sich angemessen vorzubereiten, weil sie ja nun durch dieses Gleichnis informiert und gewarnt sind. 322 Zwei in dieser Arbeit noch zu untersuchende Kirchenlieder (EG 147; EG 151) nehmen daher die Perspektive der „klugen“ Frauen ein und gehen davon aus, dass alle am Fest der basilei, a teilnehmen dürfen. Jedoch wird von dem Gleichnis auch die Perspektive des Scheiterns deutlich vor Augen geführt: Nicht umsonst endet die Erzählung mit den vor der Tür stehen gelassenen Frauen. 323 Die aus dieser Szene erwachsende Mahnung grhgorei/ te bezieht sich dabei nicht auf den Schlaf der Frauen, sondern auf die erwähnte angemessene Vorbereitung. Es betont die Verantwortung für das eigene Tun (und Hören! ) und hindert daran, sich in falschen Sicherheiten zu wiegen. Aber der, der zum Gericht kommen wird, ist derselbe, der vor diesem Gericht warnt: Jesus. 318 Häufig ist das Gleichnis als Hinweis auf die Parusieverzögerung gedeutet worden. Dass aber die Tatsache, dass sich die Naherwartung nicht erfüllte, das frühe Christentum in eine Krise stürzte und dass die Gleichnisse der Endzeitrede ein Beleg dafür seien, wird in der Forschung zunehmend bezweifelt (vgl. Rosenau, Parusie II, 964). 319 Riniker, Gerichtsverkündigung, 263. 320 Ähnlich Carson, Word, 280. 321 Nicht ganz zutreffend erscheint dagegen die Deutung von Lambrecht, treasure, 212: “the kingdom of heaven must be compared to the separation of the good people and the evil.” 322 Diese Deutung wäre jedoch überstrapaziert, wenn man mit Weder behauptete: „Die Parabel gibt dem Hörer schon jetzt Teil am endzeitlichen Heil, sofern sie ihm eine Einstellung ermöglicht, die ihn Gott gewiß nicht verpassen läßt. So wendet sie das Gericht, das auf die berechnende Erwartung folgt, ab und verhilft dem Menschen zum Heil“, weshalb das Gleichnis auch kein krisis-Gleichnis sei (Gleichnisse, 247). 323 Auf die Deutung Blickenstaffs, dass es bei Mt an sich nichts Schlechtes sei, draußen zu sein, weil die Taufe Jesu sowie Speisungswunder, Heilungen und Lehre draußen stattfinde, es also sogar besser sein könne, beim Fest draußen zu bleiben (vgl. Blickenstaff, bridegroom, 105f.), deutet im Text nichts hin. Auch vor dem Hintergrund des Intertextes Mt 7, der in Vielem klarer in seinen Zuweisungen und Wertungen ist als Mt 25,1-13, funktioniert eine solche Deutung nicht. <?page no="161"?> 161 2.6 Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14-30) 2.6.1 Einleitung Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten ist eine der umstrittensten und m.E. auch schwierigsten Perikopen der Endzeitrede Mt 24-25. Analog zu Mt 24,45-51 und 25,1-13 kann es als Gerichtsgleichnis verstanden werden: Eine Aufgabe ist gestellt, mehrere Parteien erfüllen sie auf unterschiedliche Weise, ein als ku, rioj bezeichneter Handlungssouverän beurteilt ihre unterschiedlichen Handlungsweisen und entscheidet über das weitere Schicksal dieser von seinem Urteil abhängigen Erzählfiguren. 324 Jedoch wird die Analyse dieses Gleichnisses zeigen, dass eine solche Deutung zwar möglich ist, aber wichtige Fragen offen lässt: Die gestellte Aufgabe ist unklar, die Identifikationsangebote mit den Erzählfiguren sind ambivalent. Zudem reagiert nur in diesem Gleichnis eine Erzählfigur auf das Urteil des Handlungssouveräns und tritt mit diesem in einen Dialog, was ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden darf. Deshalb soll im Anschluss an die Analyse u.a. eine Alternative zur „klassischen“ Deutung versucht werden, die vor allem die automatische Identifikation des Sklavenbesitzers mit dem wiederkommenden Menschensohn in Frage stellt. 2.6.2 Analyse und Intertexte 2.6.2.1 Die Einleitung (Mt 25,14-15a.b) 14 {Wsper ga.r a; nqrwpoj avpodhmw/ n evka,lesen tou.j ivdi,ouj dou,louj kai. pare,dwken auvtoi/ j ta. u`pa,rconta auvtou/ ( 15 kai. w-| me.n e; dwken pe,nte ta,lanta( w- | de. du,o( w-| de. e[n( e`ka,stw| kata. th.n ivdi,an du,namin( kai. avpedh,mhsen) Das Gleichnis wird mit w[sper eingeleitet, was semantisch auf einen Vergleich abzielt und bei Matthäus häufig erläuternd an Aussagen oder Thesen anknüpft, die unmittelbar vorausgehen (vgl. 12,40; 24,27.37). Jedoch handelt 324 Die Geschichte teilt sich ebenso wie die genannten Gleichnisse im Anschluss an die Einleitung (V.14-15a.b.) in unterschiedliche Handlungsstränge; hier sind es allerdings drei, die alternierend erzählt werden: Das Tun des ersten Sklaven, die Abrechnung mit ihm und sein Lohn (V.16.20f.), das Tun des zweiten Sklaven, die Abrechnung mit ihm und sein Lohn (V.17.22f.) und das Tun des dritten Sklaven, die Abrechnung mit ihm und seine Strafe (V.18.23-30). Alle drei Handlungsstränge werden, ähnlich wie in den Gleichnissen zuvor, zu einem separaten Ende geführt, der Schwerpunkt liegt auch hier auf dem Schluss. <?page no="162"?> 162 es sich bei dem einleitenden Satz um ein Anakoluth, d.h. es fehlt der Hinweis, womit verglichen werden soll. 325 Daher legt es sich nahe, w[sper ga,r auf 25,13 zurück zu beziehen. 326 Jedoch ist das Gleichnis nicht als direkte Erläuterung der Mahnung zur Wachsamkeit zu verstehen, 327 sondern es entfaltet einen weiterführenden Gedanken. 328 Jedenfalls geht es hier im Sinne von 25,1 ebenfalls um die kommende basilei,a , mit der die folgende Erzählung in Bezug gesetzt werden soll. 329 Durch das Figureninventar ist bereits hier die Verbindung zum ersten Sklavengleichnis 24,45-51 gegeben - die folgende Erzählung gibt möglicherweise eine weitere Antwort auf die Frage, wer der „treue und kluge Sklave“ (24,45) sei. 330 Hier ist also wiederum - und mehr denn je - die Aktivität und das Mitdenken der Lesenden gefragt. Die beiden einleitenden Verse führen in summarischer Form in die Ausgangssituation ein und stellen die Erzählfiguren vor: Einen Mann, der über Besitz verfügt und im Begriff ist zu verreisen, 331 und seine drei Sklaven. Gerahmt wird dieses Summarium durch das Verb avpodhme, w , 332 wodurch ein nicht näher definierter Zeitraum der Reisevorbereitungen bis zur Abreise markiert wird. Der Mann übergibt seinen Sklaven ein großes Vermögen 333 zur Verwaltung und stellt sie damit vor eine Bewährungsprobe. Dabei wird durch die parallel formulierten Angaben, wie viele Talente die einzelnen Sklaven bekommen, sowie durch die elliptischen Satzkonstruktionen betont, dass die Anzahl der anvertrauten Talente unterschiedlich ist (V.15). Die den Sklaven eigene du,namij (V.15), d.h. nicht nur ihre jeweilige Kraft und Leistungsfähigkeit, sondern v.a. ihre Machtfülle und ihre augenscheinlich unter- 325 Vgl. Jülicher, Gleichnisreden, 472; Gnilka, Mt 2, 356; Luz, Mt 3, 507; Jones, Parables, 463; vgl. auch BDR §482.2. Dass sich der Vers auf 24,37 bezieht (vgl. Jones, Parables, 464), liegt m.E. nicht nahe, auch Jones selbst ist hier unentschlossen. 326 Ebenso Heil, Parables, 196; Münch, Gleichnisse, 136; Jones, Parables, 464; Luz, Mt 3, 494; Sand, Mt, 510; Frankemölle, Mt 2, 418 . 327 So aber Frankemölle, Mt 2, 418; Davies/ Allison, Mt 3, 405. 328 Ebenso Münch, Gleichnisse, 137. 329 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 404; Luz, Mt 3, 494, und v.a. Locker, Parable, 164: “Therefore, these parables call upon their listeners and readers to see, hear and relate to one another in new ways.” 330 So Locker, Parable, 163. 331 Es bleibt offen, woher dieser Mensch seinen Besitz hat. „Gerade die Anonymität macht ihn zu einem typischen Wirtschaftssubjekt.“ (Füssel, Lehrstücke, 338). 332 In V.14 im Partizip Präsens (er ist im Begriff zu verreisen; vorbereitend), in V.15 im Indikativ Aorist (kennzeichnet den Zeitpunkt seiner Abreise). 333 Ein Talent als größte Gewichtseinheit ist etwa so viel, wie ein Mensch tragen kann (ca. 30-40 kg) und mit unserem Zentner vergleichbar (vgl. Luthers Übersetzung von 25,15- 28). Es handelt sich also um eine große, kaum fassbare Menge. „Talent“ diente jedoch auch zur Bezeichnung von Geldmengen: Ein Talent hat den Gegenwert von 6000 Drachmen, ist also ein für den Großteil der Bevölkerung riesiges Vermögen: Ein ungelernter Arbeiter in Palästina verdiente etwa eine Drachme am Tag (vgl. Münch, Gewinnen, 244). <?page no="163"?> 163 schiedlichen Befugnisse im Haushalt des Besitzers 334 sind der Maßstab dafür, wie viele Talente ihnen jeweils anvertraut werden. Dies kommt einer indirekten Charakterisierung gleich, die - so ist es nach der Lektüre der beiden anderen Gleichnisse zu erwarten - den Fortgang der Erzählung mit determiniert. Aufgrund des großen Vermögens, das bereits ein Talent darstellt, wird deutlich, dass der Sklavenbesitzer jedem seiner Sklaven Vertrauen entgegenbringt - damit sind sie jedoch noch nicht als objektiv vertrauenswürdig charakterisiert. 335 Auch deutet sich durch den Begriff du,namij noch nicht an, wie die Sklaven im Folgenden verfahren sollen, dass sie nämlich ihre Talente vermehren sollen. 336 Der Sklavenbesitzer gibt bei der Übergabe keinerlei Anweisungen, was die Sklaven mit den Talenten tun sollen, 337 so dass die Lesenden nicht erfahren, zu welchem Zweck er seinen Sklaven die Talente anvertraut hat - dies wird erst bei seiner Rückkehr deutlich werden. 2.6.2.2 Das unterschiedliche Vorgehen der Sklaven (Mt 25,15c-18) euvqe,wj 16 poreuqei.j o` ta. pe,nte ta,lanta labw.n hvrga,sato evn auvtoi/ j kai. evke,rdhsen a; lla pe,nte\ 17 w`sau,twj o` ta. du,o ev ke,rdhsen a; lla du,oÅ 18 o` de. to. e]n labw.n avpelqw.n w; ruxen gh/ n kai. e; kruyen to. avrgu,rion tou/ kuri,ou auvtou/ Å Nachdem der Sklavenbesitzer abgereist ist, rückt das Geschehen während seiner Abwesenheit in den Fokus der Erzählung. Obwohl der Sklavenbesitzer durch die Übergabe der Talente das Handeln seiner Sklaven initiiert hat, obliegt der tatsächliche, im Folgenden geschilderte Umgang mit den Talenten den Sklaven selbst, und zwar eigenverantwortlich. 334 Vgl. die Verwendung des Begriffs im Mt-Ev.: Hier bezeichnet er menschliche Macht (20,25), aber auch die Macht Gottes (22,29) oder des Menschensohnes (24,30). Hier also wie Heil, Parables, 196 und Sand, Mt, 507, ausschließlich an “ability” bzw. „Kraft und Leistungsfähigkeit“ zu denken, greift zu kurz. Gnilka, Mt 2, 359, übersetzt mit Luther 1984 „Tüchtigkeit“. 335 Gegen Locker, Parables, 166: Auch in dem in 24,45-51 durchgespielten zweiten Fall hatte der Besitzer dem Sklaven von Anfang an vertraut. 336 Gegen Sand, Mt, 507. 337 Ebenso Davies/ Allison, Mt 3, 405. <?page no="164"?> 164 2.6.2.2.1 Das Vorgehen des ersten und des zweiten Sklaven Das Handeln der ersten beiden Sklaven wird knapp, elliptisch und beinahe wortgleich erzählt. Sie beginnen sogleich ( euvqe,wj ) mit ihrer Arbeit. Das Ergebnis ist jeweils die Verdopplung der Talente. Wie dieser hohe Gewinn zustande gekommen ist, wird dabei nicht explizit erwähnt 338 und erscheint im Blick auf das antike Wirtschaftssystem rätselhaft: Neben Land- und Viehwirtschaft waren v.a. Handwerk und Handel mögliche Erwerbsarten. 339 Zu schnellem Geld verhalfen v.a. der Handel mit Waren sowie Spekulation. Jedoch lassen sich auch hiermit keine Gewinne von hundert Prozent des Kapitals erwirtschaften. 340 Auch zur damaligen Zeit waren derart exorbitante Erträge unüblich, die Rückgabe anvertrauten Vermögens ohne Zinsen dagegen normal. 341 Somit scheint das Vorgehen der ersten beiden Sklaven ambivalent: Selbstverständlich ist es in diesem Kontext zunächst positiv zu bewerten, durch Geschäfte Gewinn zu erzielen. Auch lässt evrga,zomai die Lesenden nicht nur an „Geld verdienen“ denken, sondern auch an die „Arbeit“ der von Jesus ausgesandten Jünger (9,37f.; 10,10; 20,1-2.8). 342 Auch kerdai,nw ermöglicht nicht nur materielle Konnotationen (vgl. 26,16), sondern kann auch im metaphorischen Sinne für „jemanden für das Gottesreich gewinnen“ stehen (18,15; 1 Kor 9,19-22). 343 Jedoch fallen solche Übertragungen im vorliegenden Gleichnis nicht leicht. Wegen der hier geschilderten immensen Gewinne spricht nämlich einiges dafür, dass diese auf Kosten anderer erzielt wurden, z.B. durch Wucherei oder andere ungerechte oder ausbeuterische Erwerbsmethoden 344 wie Zinsnahme, Spekulation mit Nahrungsmitteln, rigorose Durchsetzung der Schuldknechtschaft, Geldwechseln oder Zollpachten. 345 Daher eignen sich die beiden ersten Sklaven an dieser Stelle auch nur bedingt als Vorbilder und Figuren admirativer Identifikation. 338 Ebenso Davies/ Allison, Mt 3, 406. 339 Vgl. die Erläuterungen bei Herz, Erwerbsmöglichkeiten, 190-197, der als Erwerbsfelder Textilgewerbe, Lebensmittelproduktion, Bankwesen und Märkte nennt. 340 So Luz, Mt 3, 500, der allerdings einschränkend bemerkt, dass unklar ist, in welchem Zeitraum der Gewinn erwirtschaftet wurde. 341 Frankemölle, Mt 2, 419; vgl. Kähler, Gleichnisse, 170. 342 Vgl. Heil, Parables, 197; Luz, Mt 3, 507. 343 Vgl. Balz, kerdai,nw , 700. 344 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 240; Münch, Gewinnen, 241; Luz, Mt 3, 500. 345 Vgl. Füssel, Lehrstücke, 339, der davon ausgeht, dass die Sklaven beim Erzielen ihrer Gewinne auf jeden Fall gegen die Tora verstießen. <?page no="165"?> 165 2.6.2.2.2 Das Vorgehen des dritten Sklaven Das Vorgehen des dritten Sklaven erscheint ebenfalls ambivalent: Im Gegensatz zu den anderen beiden hat er keinen Gewinn erzielt, sondern das ihm anvertraute Talent in der Erde vergraben. Er hat keine unlauteren Geschäfte gemacht, 346 sondern ist „auf Nummer sicher“ gegangen - möglicherweise aus Angst, das Geld zu verlieren. 347 So hat er einen Totalverlust vermieden: Etwas in der Erde zu vergraben galt als sicheres Mittel gegen Diebstahl. 348 Somit ist die admirative Identifikation der Lesenden mit ihm an dieser Stelle keineswegs abwegig. 349 Erst am Ende der Schilderung des Handelns des dritten Sklaven wird der Sklavenbesitzer als ku, rioj bezeichnet (V.18). Durch das Personalpronomen auvtou/ wird betont, dass es sich um den Herrn des Sklaven handelt. Auch wird auf diese Weise daran erinnert, dass das Talent nicht dem Sklaven selbst gehört, er also auch nicht für sich selbst wirtschaftet, sondern für seinen Herrn, dem gegenüber er verantwortlich ist. 350 Diese Verantwortlichkeit korreliert mit dem Wissen der Lesenden aus den vorherigen Gleichnissen, dass auf die Abwesenheit des Handlungssouveräns immer eine Bewertung des Tuns der von ihm Abhängigen während seiner Abwesenheit erfolgt (24,46.50; 25,12). Durch die ambivalente Darstellung der Sklaven wird hier jedoch zusätzliche Spannung aufgebaut; die Lesenden werden nicht von vornherein durch direkte Charakterisierungen und eindeutig positiv oder negativ konnotiertes Handeln (vgl. 24,45-51) in ihrer Parteinahme beeinflusst. Somit werden sie die nun folgende Abrechnung mit umso mehr Spannung erwarten. 346 Vgl. Füssel, Lehrstücke, 339. 347 Vgl. Münch, Gewinnen, 241. 348 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 407; Füssel, Lehrstücke, 339; Luz, Mt 3, 500f.; Sand, Mt, 508. Kähler, Gleichnisse, 172, sieht das Verhalten des Sklaven als „über jeden Zweifel erhaben“ an, „da er das Geld sicher verwahrte, mindestens aber unangetastet zurückgibt“. 349 Auch Münch, Gewinnen, 241, vermutet mit Bezug auf Riniker, Gerichtsverkündigung, 241f., zu Recht, dass sich die Lesenden “aufgrund des erzählerischen Arrangements im Geiste zunächst an die Seite des Sklaven stellen“ dürften. 350 Ebenso Heil, Parables, 197. <?page no="166"?> 166 2.6.2.3 Die Abrechnung mit den ersten beiden Sklaven (Mt 25,19-23) 19 meta. de. polu.n cro,non e; rcetai o` ku,rioj tw/ n dou,lwn evkei,nwn kai. sunai,rei lo,gon metV auvtw/ nÅ 20 kai. proselqw.n o` ta. pe,nte ta,lanta labw.n prosh,negken a; lla pe,nte ta,lanta le,gwn\ ku,rie( pe,nte ta,lanta, moi pare,dwkaj\ i; de a; lla pe,nte ta,lanta evke,rdhsaÅ 21 e; fh auvtw/ | o` ku,rioj auvtou/ \ eu=( dou/ le avgaqe. kai. piste,( evpi. ovli,ga h=j pisto,j( evpi. pollw/ n se katasth,sw\ ei; selqe eivj th.n cara.n tou/ kuri,ou souÅ 22 proselqw.n Îde.Ð kai. o` ta. du,o ta,lanta ei=pen\ ku,rie( du,o ta,lanta, moi pare,dwkaj\ i; de a; lla du,o ta,lanta evke,rdhsaÅ 23 e; fh auvtw/ | o` ku,rioj auvtou/ \ eu=( dou/ le avgaqe. kai. piste,( evpi. ovli,ga h=j pisto,j( evpi. pollw/ n se katasth,sw\ ei; selqe eivj th.n cara.n tou/ kuri,ou souÅ Die nun folgende Szene ist deutlich umfangreicher als das vorherige Summarium. Die formelhafte Sprache der Dialoge und das zeitdeckende, teilweise noch langsamere Erzähltempo deuten darauf hin, dass es auf diese Gespräche ankommt. Durch Stichwort- und Motivanknüpfungen werden vermehrt Verbindungen zu den vorhergehenden beiden Gleichnissen sowie zur gesamten Endzeitrede geknüpft, die im Folgenden beleuchtet werden sollen. 2.6.2.3.1 Das Thema „Zeit“ Die durch meta. de. polu.n cro,non (V.19) gekennzeichnete implizite Ellipse bewirkt eine zeitliche und inhaltliche Zäsur: Nach langer Zeit, die von unbestimmter Dauer ist, kommt der verreiste ku, rioj zurück. Das lange Ausbleiben des Handlungssouveräns ist also auch hier ein Thema, spielt aber für die Handlung keine große Rolle. 351 Sie bewirkt keine Verhaltensänderung bei den Sklaven wie in 24,48f. und auch keine Veränderung der Situation wie in 25,5.8, wo das Öl der „dummen“ Frauen nicht bis zur Ankunft des spät erscheinenden Bräutigams ausreicht. 351 Ebenso Sand, Mt, 508. Mt verweise vielmehr „auf die Zeit ‚dazwischen‘, d.h. zwischen dem Fortgehen des Herrn und seiner Rückkehr“. <?page no="167"?> 167 2.6.2.3.2 Die Abrechnung Der ku, rioj kommt zurück und rechnet mit seinen Sklaven ab ( sunai,rein ; vgl. 18,23f.). Durch die Formulierung o` ku,rioj tw/ n dou,lwn evkei,nwn wird dabei noch einmal betont, dass die Sklaven - hier nun alle - diesem Herrn verantwortlich sind. Die ersten beiden Dialoge sind parallel strukturiert und laufen zweimal fast wortgleich ab, wodurch das Augenmerk der Lesenden auf den Gewinn gelenkt wird. 352 Um die Höhe dieses Gewinns geht es hier, nicht darum, bei welcher Tätigkeit der ku, rioj seine Sklaven vorfindet (vgl. 24,46). Vielmehr legen die Sklaven selbst Rechenschaft über ihr Tun in der Vergangenheit ab. Der Besitzer lobt die ersten beiden Sklaven gleichermaßen und charakterisiert sie direkt als avgaqo,j und pisto, j (vgl. 24,45). Tatsächlich waren sie ihrem Herrn und seinen Interessen gegenüber „treu“. Dies wird in seiner Antwort jeweils durch einen gleichlautenden, klimaktischen Parallelismus betont, der ihr Handeln direkt mit der Belohnung hierfür korreliert (V.21.23). 2.6.2.3.3 Die Belohnung Bei dieser Belohnung handelt es sich, wie schon im vorhergehenden Sklavengleichnis 24,45-51, um einen beruflichen Aufstieg, um mehr Verantwortung, 353 die auch dem Besitzer nützt. Den hier wie dort als pisto, j charakterisierten Sklaven werden mehr Besitztümer anvertraut ( kaqi,sthmi ) als vorher. Darüber hinaus werden sie eingeladen, in die „Freude ihres Herrn“ hineinzugehen (V.21.23). Es handelt sich hierbei um einen perlokutionären Sprechakt, der das Ausgesagte tatsächlich bewirkt. Diese Formulierung als zweiter Teil der angekündigten Belohnung weckt beinahe automatisch eschatologische Konnotationen: Zwar wird eivse,rcomai bei Mt auch in nichteschatologischen Kontexten verwendet (z.B. 9,18.25; 10,12), bezieht sich aber häufig auf das Hineingehen in die basilei,a (5,20; 7,21; 18,3; 19,23f.). 354 Dies ist an Bedingungen geknüpft (vgl. 5,20), so dass vielfach vor der Möglichkeit gewarnt wird, nicht in die basilei,a hineinzukommen. Positiv vom Hineinkommen in die basilei,a wird dagegen meistens metaphorisch gesprochen, z.B. vom Hineingehen in das „Leben“ ( zwh, ; 18,8.9; 19,17), zur „Hochzeit“ (25,10) oder eben in die „Freude“ (V.21.23). 355 Schon mit 5,20 und allen weiteren genannten Stellen sind die Lesenden vor die Frage gestellt, was die „bessere Gerechtigkeit“, die “Treue des Sklaven“ etc. sei, wobei die im Mat- 352 Vgl. Luz, Mt 3, 494. In der Einführung des zweiten Dialoges (V.22) werden einzelne Elemente ausgelassen, wodurch die Erzählung wieder etwas an Tempo gewinnt und wiederum Spannung erzeugt wird. 353 Ebenso Gnilka, Mt 2, 360. 354 Vgl. zum Folgenden Rölver, Existenz, 513-515. 355 Auch cara, steht hier für die „Zueignung des eschatologischen Heilsgutes und daher parallel zu ‚Reich Gottes‘“ (Berger, cara, , 1090); vgl. Röm 14,17. <?page no="168"?> 168 thäusevangelium erzählte Jesusgeschichte einen Verstehenshorizont bereitstellt, der sich aber nicht in dieser erschöpft. Die basilei,a wird dabei als ein virtueller, rettender Raum gedacht, der durch die Person Jesu repräsentiert wird. Als Metapher hierfür erscheint in V.21.23 das Substantiv cara, , (vgl. 2,10; 13,20.44; 28,8): Die basilei,a ist ein Ort der Freude, wie es auch die Beschreibung als eschatologisches Freudenmahl bzw. als Hochzeitsfest (25,1- 13) insinuiert. 356 Durch die Belobigung der ersten beiden Sklaven - jedoch, wie gesehen, nicht schon durch ihr Verfahren mit den anvertrauten Talenten - werden diese hier letztlich doch zu möglichen Identifikationsfiguren für die Lesenden: Wer handelt wie sie, wird vom ku, rioj belohnt, und die Art der Belohnung weist über das Gleichnis hinaus auf einen eschatologischen Zusammenhang hin. 2.6.2.3.4 Der ku, rioj Jedoch fällt - auch im Gegensatz zu den vorhergehenden Gleichnissen - auf, dass die Belohnung nicht von „Jesus“, d.h. der Erzählstimme, angekündigt wird (vgl. 24,47; 25,10), sondern vom ku, rioj selbst. Auch spricht der Sklavenbesitzerku, rioj vom ku, rioj in der dritten Person (V.21.23). Damit erscheint eine Deutung des Sklavenbesitzerku, rioj auf den Menschensohn nicht so selbstverständlich wie in den anderen Gleichnissen. Dafür spricht zwar, dass auch Jesus im Matthäusevangelium über den Menschensohn in der dritten Person zukunftsgewisse Vorausdeutungen trifft (z.B. Mt 17,12). Allerdings rekurriert bereits in Gen 39,3 ku, rioj im selben Satz auf den Potifar als Vorgesetzten des Josef und auf Jhwh, 357 so dass eine Deutung des Besitzers auf den Menschensohn auch im vorliegenden Gleichnis nicht zwingend erscheint. Die Aussage des Sklavenbesitzers ist dann so zu verstehen, dass er augenscheinlich beansprucht, nicht nur über den irdischen, sondern auch über den eschatologischen Lohn seiner Sklaven zu entscheiden. Nicht nur diese Beobachtung, sondern auch das Lob des ku, rioj für Sklaven, die augenscheinlich unlautere Geschäfte gemacht haben - auch die ersten Leser_innen selbst waren wohl eher Opfer solcher Geschäfte als Gewinner_innen 358 - schränkt seine Glaubwürdigkeit ein. Damit dürfte auch die admirative Identifikation mit der „gelobten“ Partei den Lesenden insgesamt nicht so leicht fallen wie in den Gleichnissen zuvor. 356 Vgl. Bauer/ Aland, Wörterbuch, 1747f.; Davies/ Allison, Mt 3, 408; Gnilka, Mt 2, 360; Luz, Mt 3, 508; Rölver, Existenz, 476. Münch, Gewinnen, 251, spricht vorsichtiger von eschatologischem Lohn. 357 Vgl. zu diesem Intertext 2.4.2.1.4. 358 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 241. <?page no="169"?> 169 2.6.2.4 Die Abrechnung mit dem dritten Sklaven (Mt 25,24-26) 24 proselqw.n de. kai. o` to. e]n ta,lanton eivlhfw.j ei=pen\ ku,rie( e; gnwn se o[ti sklhro.j ei= a; nqrwpoj( qeri,zwn o[pou ouvk e; speiraj kai. suna,gwn o[qen ouv diesko,rpisaj( 25 kai. fobhqei.j avpelqw.n e; kruya to. ta,lanto,n sou evn th/ | gh/ |\ i; de e; ceij to. so,nÅ 26 avpokriqei.j de. o` ku,rioj auvtou/ ei=pen auvtw/ |\ ponhre. dou/ le kai. ovknhre,( h; |deij o[ti qeri,zw o[pou ouvk e; speira kai. suna,gw o[qen ouv diesko,rpisaÈ 27 e; dei se ou=n balei/ n ta. avrgu,ria, mou toi/ j trapezi,taij( kai. evlqw.n evgw. evkomisa,mhn a'n to. evmo.n su.n to,kw|Å Der Dialog zwischen dem dritten Sklaven und seinem Besitzer ist gegenüber den vorhergehenden Gleichnissen eine Besonderheit; er kommt unerwartet und kann daher nicht einfach außer Acht gelassen werden zugunsten einer Deutung nach dem Muster der anderen Gleichnisse. 359 Vielmehr ist er eine Schlüsselstelle des Gleichnisses, an der sich Deutungen, v.a. aber Identifikationsprozesse, entscheiden. 2.6.2.4.1 Die Rechenschaft des Sklaven Der dritte Sklave beginnt seine Anrede an seinen Herrn wie die anderen mit der Anrede ku,rie , führt das Gespräch dann aber in eine andere Richtung. Er wird hier nicht nur wie die anderen zum Objekt des Interesses der Erzählung, als zum focalized, sondern auch zum focalizer. 360 Seine eigene Sicht der Dinge kommt in den Blick, seine Wahrnehmung des ku, rioj , mit der er auch seinen Umgang mit dem ihm anvertrauten Talent begründet (V.26): Er hat es vergraben. Dabei bezeichnet er den ku, rioj als einziger der drei Sklaven so, wie er eingeführt wurde, nämlich als a; nqrwpoj) Er charakterisiert ihn als sklhro, j 361 und hält ihm vor, zu ernten, wo er nicht gesät hat und zu sammeln, wo er nicht ausgestreut hat. Aus Angst vor seinem Besitzer hat der Sklave das Talent daher vergraben (V.25). 362 Er hat anders gehandelt als die anderen beiden Sklaven, er hat sein Talent nicht vermehrt und sich zu- 359 Vgl. auch Donahue, Gospel, 106: “Since the dialogue between the master and this servant is the most extensive and most interesting of the three, the central thrust of the parable is to be sought here.” 360 Dies gilt jedoch lediglich für die Vergangenheit, denn die Verben der Wahrnehmung mit ihm als Subjekt fallen im Rahmen der erzählten Rede (V24.26), in der er von der Vergangenheit berichtet. 361 „Hart“; hier ohne religiöse Bedeutung; vgl. Fiedler, sklhrokardi,a , 608. 362 Dazu zutreffend Luz, Mt 3, 501: „Die Rede des Sklaven wirkt unausgeglichen; sie schwankt zwischen Trotz, Protest und Furcht. Man weiß nicht so recht, wie man sie einordnen soll.“ <?page no="170"?> 170 dem kritisch seinem Besitzer gegenüber geäußert. Somit liegt hier auch der Spannungshöhepunkt: Wie wird der Besitzer reagieren? 2.6.2.4.2 Die Reaktion des ku, rioj Der ku, rioj wird erwartungsgemäß zornig und charakterisiert den Sklaven als böse und untätig 363 (V.26; vgl. 7,17-19; 18,32), also genau gegenteilig zu den anderen beiden Sklaven (V.21.23). Ebenso wie der ku,rioj deren Lob mit kurzen Analepsen begründet hat, nimmt er nun die Analepse seines Sklaven auf und begründet so sein Urteil (V.26f.). Er lässt die Erklärung, den Entschuldigungsversuch seines Sklaven nicht gelten, begründet dies jedoch ebenso wie dieser und in beinahe identischer Formulierung mit seiner eigenen Wesensart und seinem Verhalten. Er kritisiert nicht das Bild, das der Sklave von ihm hat, sondern dass der Sklave nicht diesem Bild entsprechend gehandelt hat. 364 Sein eigenes Wesen und Verhalten stellt der Besitzer dagegen nicht in Frage. Dass er erntet, was er nicht gesät hat etc., scheint er in Ordnung zu finden. Auch die Angst des Sklaven vor ihm berührt ihn anscheinend nicht. Vielmehr belehrt er ihn, was mit dem Talent zu tun gewesen wäre: Der Sklave hätte es zumindest zu den Wechslern 365 bringen sollen, damit es Zinsen einbringt. Dies verwundert angesichts des im Judentum geltenden Zinsverbotes (vgl. Ex 22,24; Lev 25,36f.; Dtn 23,20f.). 366 Auch wenn die Mächtigen in Palästina oft Nichtjuden waren, denen die Erhebung von Zinsen nicht verboten war, 367 und Zinsen hier nur eine Notlösung darstellen angesichts der zuvor gelobten Tätigkeiten der anderen Sklaven, 368 trägt die Forderung des ku, rioj zumindest in den Augen „judenchristlicher“ Leser_innen nicht dazu bei, ihn moralisch integer erscheinen zu lassen. Für ihn zählt, so wird es hier deutlich, eine andere Logik als für den Sklaven, nämlich die des Gewinns. Der Sklave dagegen hat nach der Logik des Bewahrens gehandelt, was verwunderlich ist, weil er durch seine Aussage deutlich macht, dass er 363 Nicht „faul“. Der Sklave hat im matthäischen Sinne keine Frucht gebracht (13,22f.; 21,43 u.ö.); vgl. Münch, Gewinnen, 251. Luz, Mt 3, 501, übersetzt bereits wertend „ängstlich“. 364 Vgl. Weiser, Knechtsgleichnisse, 265. 365 Häufig werden die trapezi/ tai einfach mit der „Bank“ identifiziert (vgl. z.B. Davies/ Allison, Mt 3, 410). Hier ist aber wohl tatsächlich an Geldwechsler zu denken, die verschiedene Währungen umtauschten oder einfach Geld wechselten; vgl. Herz, Erwerbsmöglichkeiten, 196. 366 Vgl. den ausführlichen Exkurs zum Zinsverbot bei Kähler, Gleichnisse, 174-179, der trotz einiger Ausnahmen die weitgehende Einhaltung des Zinsverbotes in Palästina betont. Anders Gnilka, Mt 2, 359. 367 Vgl. Kähler, Gleichnisse, 170.179; Luz, Mt 3, 502. 368 Vgl. Luz, Mt 3, 502, Anm. 54. <?page no="171"?> 171 die Logik seines Besitzers kennt. 369 Wer von beiden - Besitzer oder Sklave - nun als glaubwürdig gelten kann, wird noch zu klären sein. 2.6.2.5 Die Strafe des Sklavenbesitzers (Mt 25,28-30) 28 a; rate ou=n avpV auvtou/ to. ta,lanton kai. do,te tw/ | e; conti ta. de,ka ta,lanta\ 29 tw/ | ga.r e; conti panti. doqh,setai kai. perisseuqh,setai( tou/ de. mh. e; contoj kai. o] e; cei avrqh,setai avpV auvtou/ Å 30 kai. to.n avcrei/ on dou/ lon evkba,lete eivj to. sko,toj to. evxw,teron\ evkei/ e; stai o` klauqmo.j kai. o` brugmo.j tw/ n ovdo,ntwnÅ 2.6.2.5.1 Die Wegnahme des Talentes und dessen Begründung Die Rede des Sklavenbesitzers endet mit drei Imperativen (V.28.30), die er an nicht näher bezeichnete Adressat_innen richtet, 370 und die durch eine weisheitliche Aussage (V.29) unterbrochen werden. 371 Dem Sklaven soll im Gegensatz zu der Belohnung der anderen Sklaven sein Talent weggenommen werden, er soll also bestraft werden. Aus der Sicht des Besitzers handelt es sich tatsächlich um eine Strafe, denn der Sklave kann nun nicht mehr mit dessen Geld wirtschaften, sich nicht bewähren und erhält somit auch nicht mehr Verantwortung und Macht 372 - im Gegenteil: „Er sinkt wieder zurück in die Bedeutungslosigkeit.“ 373 Für den Sklaven bedeutet diese erste Strafe jedoch auch eine Entlastung von der Verantwortung, die er für „sein“ Talent getragen hat. 374 Die Aussage in V.29 verallgemeinert die Wegnahme des Talentes in dem Sinne, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. 375 Es geht also um eine „Erfahrung, die man etwa im wirtschaftlichen Kontext machen kann ..., die im biblischen Traditionsraum aber auch für das Verstehen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und des Gerichtshandelns 369 Vgl. Münch, Gewinnen, 242. 370 Evtl. handelt es sich hier ebenfalls um Untergebene bzw. Sklaven. 371 Ob es sich hierbei tatsächlich um Weisheit handelt, ist umstritten. Frankemölle, Mt 2, 420 merkt an, dass es sich um eine weisheitliche, auch biblisch vorgegebene Erkenntnis handelt (Spr 9,9; vgl. Mt 10,39; 13,12; 16,25), die die Lesenden dazu animiert, ihre Alltagserfahrungen „mit der metaphorisch-theologischen Wirklichkeit“ zu korrelieren. 372 Dies gilt auch vor dem Hintergrund anderer biblischer Verwalter-Geschichten wie Gen 39 und Mt 24,45-51 (vgl. 2.4.2.1.4). 373 Gnilka, Mt 2, 361. 374 Vgl. Münch, Gewinnen, 242. 375 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 235, Anm. 176; Münch, Gewinnen, 242; Bindemann, Herr, 140. Nicht nachvollziehbar erscheint allerdings die Schlussfolgerung von Bindemann ebd., dass der Grund für das Versagen und die Strafe des dritten Sklaven darin liege, dass er diese immer wieder bestätigte Erfahrung nicht beachtet habe. <?page no="172"?> 172 Gottes herangezogen wurde“. 376 Im Rahmen des Gleichnisses ergibt sie jedoch nur Sinn, wenn mit „jeder, der hat“ „jeder, der sein(e) Talent(e) vermehrt hat“, gemeint ist. 377 Es geht um das Ergebnis, denn das Talent gehört dem Sklaven ohnehin nicht, und er hat es außerdem wohl bereits zurückgegeben. 378 Ansonsten ist die Aussage paradox: Wer nichts hat, dem kann nichts weggenommen werden. Unklar ist dabei, ob hier weiterhin der Sklavenbesitzer spricht. Dann würde er die Richtigkeit seiner Aussage durch allgemeines Erfahrungswissen untermauern. 379 Handelt es sich jedoch um einen Kommentar der Erzählstimme, um eine Parenthese, kann diese als Anmerkung der Erzählstimme angesehen werden, die durchaus kritisch gewertet werden kann. 2.6.2.5.2 Die eigentliche Strafe Der Schlusssatz (V.30) macht deutlich, dass der Sklave tatsächlich bestraft werden soll. Der Satz kehrt zwar zur imperativischen Form und damit zur direkten Rede des Sklavenbesitzers zurück, verlässt aber die Ebene des Gleichnisses und rekurriert auf eine direkte Gerichtsschilderung: 380 Bereits in Mt 8,11; 13,42.50; 22,13; 24,51 schließt diese Formulierung Gerichtsansagen ab. 381 Somit ist diese Strafart an sich für die Lesenden nicht überraschend, wohl aber ihre Härte im Vergleich zum „Vergehen“ des Sklaven. Durch diese Strafe und die Charakterisierung des Sklaven als nutzbzw. wertlos ( avcrei/ oj ) bestätigt der ku, rioj indirekt, dass er tatsächlich so ist, wie der Sklave ihn charakterisiert hat (V.24f.): hartherzig und angsteinflößend. Trotzdem werden die Lesenden durch die Strafe zunächst dahingehend gelenkt, sich mit den beiden in den Augen ihres ku, rioj erfolgreichen Sklaven zu identifizieren. 382 Sie haben trotz fehlender Anweisung gewusst, was mit den ihnen anvertrauten Talenten zu tun ist, und werden für ihr - evtl. rücksichtsloses - Wirtschaften belohnt. Der dritte Sklave hat dagegen - und darin liegt das tragische Moment der Erzählung - trotz bester Absichten und moralischer Integrität den Willen seines Besitzers verfehlt und wird dafür mit größtmöglicher Härte bestraft. Auf dieser Strafe, diesem negativen Urteil liegt, wie bereits in den Gleichnissen zuvor, der Schwerpunkt - auch hier ist 376 Münch, Gewinnen, 242. Schon in Mt 13,12 begegnet diese Formulierung: e; cw bezieht sich hier auf die „Geheimnisse der basilei,a “, die zu wissen den Jüngern, aber nicht jedem Menschen gegeben ist. 377 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 411. 378 Vgl. Füssel, Lehrstücke, 338. 379 Vgl. Münch, Gewinnen, 242. 380 Vgl. Luz, Mt 3, 508. 381 Zur Formel selbst vgl. 4.2.2. 382 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 418. Keine Identifikationsschwierigkeiten bereitet dagegen das Gleichnis vom unbarmherzigen Sklaven (18,21-35), das hier von den Lesenden assoziiert werden kann. <?page no="173"?> 173 dies durch die ausführliche Darstellung des Dialogs und der Strafe angedeutet. 383 2.6.3 Der bildspendende Bereich Die Analyse des bildspendenden Bereichs kann auf die Überlegungen zu Mt 24,45-51 zurückgreifen. Auch in Mt 25,14-30 geht es um sogenannte Verwaltungssklaven, die von ihren Besitzern mit verantwortungsvollen ökonomischen Aufgaben betraut und mit Statusgewinn entlohnt werden. Allerdings weist das Gleichnis über den Bereich des oi= koj hinaus. Dies wird in erster Linie durch die Sinnlinie „Besitz/ Finanzwelt“ 384 deutlich, die das gesamte Gleichnis prägt. Die Sklaven sind in diese Welt eingebunden; ihnen kommt also noch mehr ökonomische Verantwortung zu als solchen, die sich ausschließlich innerhalb des Haushalts ihres Besitzers bewegen. 2.6.4 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ 2.6.4.1 Einleitung Das Gleichnis ist als Gerichtsgleichnis aufzufassen. Seine Handlungsstruktur und Figurenkonstellation, die bereits anhand der vorherigen Gleichnisse ausführlich behandelt wurden, sowie die noch näher zu erläuternde Erntemetaphorik legen dies nahe. Gleiches gilt für die Abrechnungsszene (vgl. 18,23.35; 21,41) und den Schluss (V.30; vgl. 8,12; 13,42.50; 22,13; 24,51). Ob es jedoch den Gleichnissen zuvor lediglich einen weiteren Aspekt hinzufügt oder antithetisch zu diesen zu deuten ist, hängt im Wesentlichen von zwei Fragen ab. Zum einen, welche der Sklaven sich für die Lesenden als Identifikationsfiguren anbieten; die ersten beiden, die die ihnen anvertrauten Talente vermehrt haben und von ihrem Besitzer dafür reich belohnt werden? Oder der dritte, der dies nicht getan hat und seinen Herrn kritisiert - hat er mit seiner Kritik Recht? Ist sein Herr ein geldgieriger, grausamer Despot? Oder ist sein Reden „frech und ungerecht“, 385 und trägt dazu bei, ihn als „Antihelden“ anzusehen gemäß dem geringeren Vertrauen, das der ku, rioj von vornherein in ihn gesetzt hat? Damit verbindet sich die Frage, ob der ku, rioj in seinem Agieren und Urteilen glaubwürdig ist und damit verbunden die Frage, ob er auf den rich- 383 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 420; Luz, Mt 3, 494. 384 Mit Ausnahme von V.30 finden sich in jedem Vers Begriffe, die auf die Welt des Besitzes und der Finanzen verweisen: ta. u`pa,rconta (V.14), to, ta,lanton (V.15f.20-22.24f.28), evrga,zomai (V.16), kerdai,nw (V.16f.20.22), to. avrgu,rion (V.18.27), sunai,rw lo,gon (V.19), ovli,ga( pollw/ n (V.21.23), qeri,zw( spei,rw( suna,gw( diaskorpi,zw (V.24.26), oi` trapezi,tai( komi,zw( o` ` to,koj (V.27), e; cw (V.28f.). 385 So Luz, Mt 3, 508. <?page no="174"?> 174 tenden Menschensohn gedeutet werden kann oder nicht. Das Gleichnis lässt sich m.E. in beide Richtungen deuten; für jede Richtung gibt es gute Argumente, wie zu zeigen sein wird. 2.6.4.2 Die Deutung des ku, rioj auf den Menschensohn Die Deutung des ku, rioj auf den Menschensohn, der zum Gericht kommt, wird von einem Großteil der Untersuchungen dieses Gleichnisses unterstützt, obwohl viele die o.g. Fragen durchaus stellen. 386 Sie steht in enger Verbindung mit der im Gleichnis erscheinenden Erntemetaphorik, die die Assoziation des Gerichts aufruft (vgl. z.B. Joel 4,13). Als Figuren admirativer Identifikation fungieren dann die ersten beiden Sklaven. 2.6.4.2.1 Erntemetaphorik im Intratext Mt 13 Wichtige Intratexte sind diesbezüglich das Gleichnis vom Taumellolch im Weizen (13,24-30) und seine Deutung (13,37-43). Hier geht es ebenfalls um einen a; nqrwpoj (V.24), der später als oivkodespo,thj und ku, rioj bezeichnet wird und mehrere Sklaven besitzt (V.27). Er hat guten Samen auf seine Felder gesät (V.24), aber die Ernte und das Einsammeln ( suna,gw ; V.30) des Getreides stehen noch aus. Die Deutung 13,37-43 bezieht das Gleichnis auf das Gericht und deutet es allegorisch. Indirekt trägt sie auch zur Deutung von 25,14-30 bei: 387 Da die Ernte, wie hier festgehalten wird, für die Vollendung des Zeitalters (13,39; vgl. 24,3) steht, weckt diese Metapher auch in 25,24 Assoziationen des Gerichts. Damit lässt sich der ku, rioj auf den richtenden Menschensohn deuten - vorausgesetzt, die Aussage des dritten Sklaven über seinen Besitzer ist unglaubwürdig. Tatsächlich kann sie parallel zu 24,45-51 als Selbsttäuschung des negativ bewerteten Sklaven aufgefasst werden, die am Ende tatsächlich zu unerwünschtem Verhalten führt: Im ersten Fall bewegt die Annahme „mein Herr verspätet sich“ (24,48) den Sklaven dazu, seine Mitsklaven zu schlagen, selbst zu essen und sich zu betrinken; im zweiten Fall ist es die - evtl. auch nur vorgeschobene - Furcht, die den Sklaven bewogen hat, sein Talent zu vergraben. Seine Aussage, sein Herr ernte, wo er nicht gesät hat, trifft nämlich in diesem Sinne nicht zu: Tatsächlich hat der ku, rioj „gesät“, indem er seinen Sklaven Talente anvertraut hat. Insofern ist er auch 386 Vgl. Heil, Parables, 196 sowie den Überblick bei Luz, Mt 3, 503-505, der selbst die Deutung des ku,rioj auf den Menschensohn für die einzig mögliche hält. Anders Kähler, Gleichnisse, 181; Füssel, Lehrstücke, 341; Schottroff, Gleichnisse, 292. 387 Es ist allerdings festzuhalten, dass in 25,24 die Saat- und Erntemetaphorik generell anders verwendet wird: Bildempfänger sind hier nicht die „Söhne und Töchter des Reiches“ bzw. „des Bösen“ (13,38, vgl. auch V.23) und das Gericht über sie, sondern das Wirtschaften mit Kapital und das Einstreichen des Gewinns. <?page no="175"?> 175 zur „Ernte“ berechtigt, zum Einstreichen des Gewinns. Die Sklaven, die zur Vermehrung seines Vermögens beigetragen haben, werden - zumindest in der Logik des Systems der Sklaverei - angemessen entlohnt. Insofern scheint der Sklavenbesitzer in diesem Fall trotz seiner Härte moralisch integer. Auch lässt er sich auf den Menschensohn deuten, der den guten Samen sät (13,37) und seine Engel zum Gericht aussenden wird (V.41f.). 2.6.4.2.2 Die Deutung von Mt 25,14-30 als Gericht des Menschensohnes Vor dem Hintergrund von Mt 13 legt es sich nahe, auch das im Gleichnis von den Talenten geschilderte Verhältnis von Sklaven zu ihrem Herrn auf das Verhältnis von Menschen 388 zum wiederkommenden Menschensohn zu deuten. Diese Deutung betont die enge Verbindung zu den bisherigen Gleichnissen: Mit 24,45-51 ist ihm die Sklaverei als bildspendender Bereich gemeinsam sowie die antithetisch handelnden Sklaven, die am Ende ihr Besitzer nach seinen eigenen Maßstäben beurteilt. Mit 25,1-13 erfolgt die negative Beurteilung und abschließende Bestrafung in erster Linie für Inaktivität. 389 Das Gewicht liegt dann wiederum auf der nötigen Entscheidung und Vorbereitung während der Zeit, die bis zur Parusie des Menschensohnes verbleibt. 390 Jedoch enthält das Gleichnis über die vorhergehenden hinaus Aspekte, die ebenfalls der Deutung bedürfen und die im Folgenden gesondert betrachtet werden sollen. 2.6.4.2.3 Die ersten beiden Sklaven als Identifikationsfiguren Wie gesehen, bleiben die Identifikationsangebote des Gleichnisses aufgrund fehlender direkter Charakterisierungen und der fehlenden Aufgabenstellung zunächst offener als bei den Gleichnissen zuvor. Trotzdem bietet auch dieses Gleichnis die zuerst genannte Gruppe als Figuren admirativer Identifikation an, wie zu zeigen sein wird. Da die Sklaven allein durch die unterschiedliche Anzahl der ihnen übergebenen Talente indirekt charakterisiert sind, fällt bei diesem Gleichnis die fehlende Aufgabenstellung umso schwerer ins Gewicht. Ist der Sklave in 24,45 ausdrücklich mit der Versorgung des Haushaltes betraut, und wissen 388 Die ebenfalls verbreitete polemische Deutung des Gleichnisses gegen die Schriftgelehrten (vgl. dazu Luz, Mt 3, 504) hat m.E. im Kontext der anderen „Wachsamkeitsgleichnisse“ keinen Anhaltspunkt. Auch betrifft das Gleichnis alle, nicht nur Führungs- und Autoritätspersonen, denn jede_r unterliegt der Gefahr des Scheiterns (vgl. Jones, Parables, 721). 389 Vgl. Donahue, “Parable”, 109, der daraus zutreffend schließt: “The time before the return of Jesus is, for Matthew, a time that must be used responsibly. The end of history will be a revelation of who has used the time well.” 390 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 374; Frankemölle, Mt 2, 420. <?page no="176"?> 176 die jungen Frauen aufgrund gesellschaftlicher Konventionen genau, was sie bei der Hochzeit zu tun haben, bleibt die Aufgabe hier unklar. 391 Erst bei der Rückkehr des ku, rioj verdeutlicht dieser, auf welche Weise zu verfahren gewesen wäre: Talente sind zu vermehren - auf welche Weise, spielt keine Rolle. Es geht um den „Mut, die Risikobereitschaft, das Schauen auf den möglichen Ertrag“. 392 Oder positiv formuliert: Der ku, rioj hat so viel Vertrauen in seine Sklaven, dass er ihnen große Verantwortung überträgt, die Entscheidungen erfordert, aber ihnen auch die Freiheit lässt, selbstbestimmt zu entscheiden. Dem entsprechend bedarf es ebenfalls der Deutung, was genau der dritte Sklave in den Augen seines Besitzers versäumt hat: War er zu zögerlich, ängstlich und passiv, weil er die Strafe seines Herrn fürchtete? 393 Oder war er faul, 394 war seine Furcht nur vorgeschoben? 395 Hat er nur mit seiner Zunge „Herr, Herr“ gesagt, aber nicht mit seinen Taten (7,21-23)? 396 Was zählt, ist jedenfalls das Ergebnis: Wer sich wie dieser Sklave verhält, bringt keine Früchte und verfällt dem Gericht. Daher ist auch nicht der dritte Sklave die admirative Identifikationsfigur für die Lesenden, sondern die ersten beiden. Ihr positiv bewertetes Verhalten legt dies nahe. Es ist damit nicht nur die Negativfolie, die Antithese zum Verhalten des dritten Sklaven. Vielmehr wird dadurch, dass es zwei Mal berichtet wird, deutlich, dass es für die Erzählung keinesfalls gleichgültig ist. Die Wiederholung hat vielmehr die Funktion auszudrücken, dass es nicht auf die Quantität des Anvertrauten ankommt, sondern auf den erzielten Gewinn: In beiden Fällen die Verdopplung der Talente. Das Vermehren der Talente 397 dient den Lesenden als Vorbild für ihre jeweilige Gegenwart. Diese Gegenwart ist die Zeit der Abwesenheit des 391 Mit Gnilka, Mt 2, 359; anders Füssel, Lehrstücke, 339. 392 So Luz, Mt 3, 505, der als „Kommentar und Schlüssel zur Parabel“ den Erzähler Jesus sieht - nur so ist der „Punkt, auf den es ihr ankommt, richtig einordnen“. Ähnlich Münch, Gewinnen, 250. 393 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 243.245f.; Münch, Gewinnen, 248. Bindemann, Herr, 134, spricht in diesem Zusammenhang von „Gesetzlichkeit und Angst“, die Kreativität verhindern und „den Menschen eng machen“. 394 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 406. Heil, Parables, 200, hält beide Möglichkeiten für denkbar. 395 Diese Möglichkeit zieht u.a. Luz, Mt 3, 502, in Betracht. 396 Davies/ Allison, Mt 3, 409. 397 In der Deutung des Gleichnisses auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch sind die „Talente“ sehr unterschiedlich gedeutet worden; zumeist als Güter und Begabungen, die den Menschen gegeben sind und aus denen sie etwas machen sollen, z.B. spirituelle Fähigkeiten (vgl. z.B. Dodd, Parables, 116f.), Hören oder Verständnis. Mit Mt 13,11f. lassen sich die „Talente“ zudem auf die „Geheimnisse der basilei,a “ deuten. Münch hat jedoch zu Recht festgehalten, dass die übergebenen Talente Gaben Gottes sind und damit sehr unterschiedlich, so dass hier eine Engführung nicht angebracht sei, sondern im Gegenteil der „Text ... hier eine sehr interpretationsfähige Leerstelle“ <?page no="177"?> 177 Menschensohnes, die Zeit vor „Gottes Gericht, der grossen Abrechnung“. 398 In dieser Zeit sind sie zur Entscheidung und Vorbereitung aufgefordert, zur Bewährung, zum verantwortungsvollen Umgang mit dem, was ihnen anvertraut ist, zum engagierten Tun. 399 I hre Lebensführung und ihr Handeln sind es, die im Gericht zur Geltung kommen werden. 400 So verbinden sich erhaltene Gaben - je größer, desto mehr - immer mit dem Anspruch, sie zu vermehren, mit ihnen zu arbeiten und Neues aus ihnen entstehen zu lassen statt sie ängstlich zu bewahren und passiv für sich zu behalten. 2.6.4.3 Deutung des ku, rioj auf den Menschensohn? Ein Gegenentwurf Der skizzierte „klassische“ Deutungsansatz, der im Kontext der Endzeitrede nur folgerichtig erscheint, wirft trotz kleinerer Modifikationen durch die gegenwärtige Exegese einige Probleme auf, die sich durchaus auf der Ebene der Hermeneutik, aber auch der inhaltlichen Stringenz bewegen. Das Grundproblem der Sklavengleichnisse, nämlich dass Sklaverei als Teil der natürlichen Weltordnung dargestellt wird und damit zugleich der Status des Menschen vor Gott der eines Sklaven ist, 401 betrifft wohl mehr heutige Leser_innen. Dass die moralischen Standards der basilei,a mit denen dieser Welt bzw. des Römischen Reiches gleichgesetzt werden, 402 ist für sie schwer zu akzeptieren. Jedoch setzen viele jesuanische und auch rabbinische Gleichnisse kritiklos irdische soziale Rangordnungen voraus und sind in sozialer Hinsicht nicht subversiv. 403 2.6.4.3.1 Deutung des ku, rioj auf den Menschensohn? Im Blick auf das vorliegende Gleichnis kommt jedoch ein Zweites hinzu: Die Deutung der Figur des ku, rioj auf den Menschensohn liegt weniger nahe als bei den anderen Gleichnissen. Dies hat formale, aber auch inhaltliche und sozialgeschichtliche Gründe, wie im Folgenden deutlich werden wird. Formal spricht bei diesem Gleichnis im Gegensatz zu den vorherigen einiges dagegen, den ku, rioj auf den Menschensohn zu deuten: Wo immer der ku, rioj erwähnt ist, machen Personalpronomina (V.18.21.23) oder direkte Anreden (V.20.22.24) deutlich, dass der ku,rioj der Sklaven gemeint ist. Zudem fehlen Amen-Worte oder ku,rie ku,rie - Anreden. Dieses Gleichnis eraufweise (Münch, Gewinnen, 252; vgl. auch Davies/ Allison, Mt 3, 405; Jones, Parables, 470f.). 398 Riniker, Gerichtsverkündigung, 243. 399 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 374; Frankemölle, Mt 2, 420. 400 Vgl. Münch, Gewinnen, 248. 401 Vgl. Glancy, Slavery, 121. 402 Vgl. Glancy, Slavery, 66; Locker, Parable, 166. 403 Vgl. Luz, Mt 3, 503. <?page no="178"?> 178 laubt also mehr Freiheit bezüglich der Deutung des ku, rioj als die Gleichnisse zuvor. Auch fällt auf, dass der ku,rioj nicht nur wie die anderen unverhältnismäßig harte Strafen verhängt, sondern unlautere Methoden zur Gewinnmaximierung, die auch die Übertretung der Tora einschließen, fördert. 404 Das Verhalten und v.a. das Urteil dieses Besitzenden duldet nicht nur die bestehenden Verhältnisse, nämlich die Sklaverei, sondern es trägt noch zu ihrer Verschlimmerung bei, denn es macht in der Konsequenz die Reichen reicher und die Armen ärmer - so, wie es in V.29 formuliert ist. Die Deutung des ku, rioj auf den Menschensohn ist nicht zwingend notwendig, sondern er ist zunächst als der anzusehen, als der er hier dargestellt wird: Ein geldgieriger Sklavenbesitzer. 405 Für diese Deutung ist die Kritik des dritten Sklaven von Bedeutung, die daher im Folgenden erneut überprüft werden soll. 2.6.4.3.2 Der dritte Sklave als Identifikationsfigur Die oben skizzierte Deutung hat zur Voraussetzung, dass der dritte Sklave unzuverlässig ist, dass er mit seinen Äußerungen über seinen Herrn Unrecht hat bzw. diese Äußerungen als falsche Entschuldigung für sein Handeln gebraucht. Jedoch ist es gut möglich, seine Äußerungen als glaubwürdig zu erachten, und zwar aus mehreren Gründen. Der Sklave spricht nicht „in seinem Herzen“ (vs. 24,48), was im AT häufig für Selbsttäuschung steht (vgl. 2.4.2.2.1), sondern artikuliert seine Gedanken laut und demjenigen gegenüber, den sie betreffen. 406 Auch ist er deswegen zuverlässig, weil aus dem Gleichnis selbst ersichtlich ist, dass seine Kritik an seinem Besitzer zutrifft: 407 Dieser hat von der ungerechten, ausbeuterischen Weise des Gewinnmachens der ersten beiden Sklaven profitiert und ihn selbst indirekt dazu aufgefordert, das Zinsverbot und damit die 404 Luz, Mt 3, 499 bringt es auf den Punkt: „Wenn die Rafferei eines Kapitalisten und die vermutlich wenig erfreulichen Methoden seiner Agenten, um zu fünf- oder zehnfachem Gewinn zu kommen, zum Gleichnis für das Gottesreich werden, so kann die Folge sein, daß diese Methoden und das dahinterstehende Profitdenken verharmlost und gerechtfertigt werden, denn sie sind ja Bild für das Handeln Gottes. Gott wird so zu einem Gott der Reichen und der Tüchtigen, denn er macht es ja wie sie.“ 405 Beinahe untertrieben, aber doch zutreffend ist daher die Feststellung von Münch, Gewinnen, 245, dass weder das erzählerische Arrangement noch sozialgeschichtliche Überlegungen den ku,rioj „als eine uneingeschränkt positive Figur erscheinen [lassen], die ohne weiteres an Gott oder Christus denken lässt“. 406 Anders Jones, Parables, 471, mit Bezug auf Mt 18,35: “In a typically Matthean way the characterization, fairly or unfairly, understands the servant's heart by what he says. He reacts in the wrong way because his attitudes are wrong.” 407 Ebenso Kähler, Gleichnisse, 173. <?page no="179"?> 179 Tora zu übertreten. 408 Der Sklave benennt also, wer hier falsch, nämlich unmoralisch, handelt. Er selbst hat trotz seiner Furcht moralisch gehandelt, indem er den Besitz seines ku, rioj geschützt und das Zinsverbot eingehalten hat. 409 Dieses kollidiert natürlich mit den Interessen seines Besitzers, der ihn folgerichtig hart bestraft. Damit bestätigt er indirekt auch seine Charakterisierung durch den Sklaven als sklhro, j . Zudem lässt sich sagen, dass der ku, rioj , indem er verreist ist, statt selbst zur Vermehrung seines Vermögens beizutragen, tatsächlich nicht „gesät“ hat und trotzdem bei seiner Rückkehr die „Ernte“, d.h. den Gewinn, einstreicht - so, wie es der Sklave ihm nun vorwirft. Diese Rückkehr wird im Präsens erzählt, tritt also in der erzählten Gegenwart ein und nicht erst in der Zukunft. Im Gleichnis vom Taumellolch liegt die Ernte dagegen in der erzählten Zukunft, und auch die Aussendung der Engel durch den Menschensohn wird in der Deutung erst für die Zukunft angesagt. Der Sämann des Gleichnisses wehrt vielmehr das Einsammeln des Lolches ab (V.29), weil mit ihm auch das Getreide ausgerissen werden könnte. Dies ist als Abwehr menschlicher Anmaßung, bereits in der Gegenwart über andere richten zu wollen, zu verstehen (vgl. auch Mt 7,1). Vielmehr steht das Gericht allein dem Menschensohn zu, und zwar in der Zukunft. 410 Da der Sklavenbesitzerku, rioj jedoch bereits in der erzählten Gegenwart „geerntet“ hat und über seinen Sklaven richtet, ist er nicht mit dem Menschensohn zu identifizieren, sondern ist vielmehr sein Gegenbild. Sein Maßstab ist die Gewinnmaximierung, was auch die weisheitliche Aussage V.29 - zumal, wenn sie nicht als Erzählerkommentar, sondern als erzählte Rede des ku, rioj gedeutet wird - nahe legt: Wer hat, dem wird gegeben werden, und wer nicht hat, dem wird das, was er hat, genommen werden. Dieser Satz und die darauffolgende Strafanordnung lassen den o.g. Deutungsansatz, Herausforderungen und Möglichkeiten mutig anzunehmen, in Freiheit Entscheidungen zu treffen und nicht ängstlich am status quo festzuhalten, beinahe zynisch erscheinen: Funktioniert nämlich das Reich Gottes und damit auch das Gericht nach Marktmechanismen, wird Angst (V.25) und nicht Mut leitend für das eigene Tun sein. 408 Vgl. Füssel, Lehrstücke, 337; vgl. bereits Jeremias, Gleichnisse, 60, und ihm zustimmend Locker, Parable, 161. Zweifelhaft scheint diese indirekte Aufforderung auch vor dem Hintergrund der sog. Tempelreinigung Mt 21,12, bei der Jesus die Tische der Geldwechsler ( ta.j trape,zaj tw/ n kollubistw/ n ) umstößt: „Sollte sich Matthäus vier Kapitel später einen so völlig anderen, das zeitgenössische Geldsystem als produktives religiöses Paradigma nutzenden Jesus mit Unternehmer-Geist vorgestellt haben? “ (Füssel, Lehrstücke, 337). Auch wenn hier nicht gegen das Bankwesen an sich polemisiert wird, sondern gegen sein Stattfinden im Hause Gottes, ist Füssels Anfrage mehr als berechtigt. 409 Ähnlich Füssel, Lehrstücke, 339f. 410 Vgl. Fiedler, Mt, 264.266. <?page no="180"?> 180 2.6.4.3.3 Das Gleichnis als Gegenentwurf zu 25,31-46 Aber: das Gleichnis ist in der Tat im Kontext nicht nur der vorhergehenden Gleichnisse, sondern auch der folgenden Endgerichtsszene 25,31-46 zu lesen, 411 die die Leerstelle des richtigen Tuns füllen wird: 412 Der Maßstab ist die Behandlung der Notleidenden. Das auf das Wirtschaftssystem rekurrierende Gleichnis ist dann nicht „als vorweggenommene Reportage“ des Gerichts, sondern als „höchst präsentische Kritik an der schon damals ruinösen Welt-Wirtschaft“ 413 zu lesen und damit als Einspruch gegen die Verallgemeinerung und Eschatologisierung dessen, was in dieser Welt als gültig erachtetet wird. Von einer solchen Deutung aus spricht einiges dafür, das de, in V.31 nicht nur als Rückbezug auf das Gleichnis zu verstehen, sondern adversativ. 414 Die hierauf folgende Gerichtsszene ist dann ein Gegenentwurf zu diesem Gleichnis. Das Gleichnis selbst ist damit in der Tat antithetisch zu lesen: 415 Die hier geschilderte Szenerie ist mit der basilei,a verglichen worden (vgl. 25,1), und das Ergebnis dieses Vergleiches ist, dass sie das genaue Gegenteil darstellt. Bestehen bleibt damit trotzdem die Gerichtsvorstellung, die durch die Erntemetaphorik V.24 implizit und durch die Formulierung der Strafe V.30 explizit in den Text hineingetragen wird. So drastisch wie hier - nämlich auf der Erzählebene im Munde des Handlungssouveräns - wird sie jedoch bei Mt sonst nicht eingeführt. 416 Nicht das Gericht als solches steht hier also zur Diskussion, sondern die in ihm angelegten Maßstäbe. Diese waren in den Gleichnissen zuvor zumindest auf der Erzählebene recht eindeutig und erhielten ihre vorläufige inhaltliche Füllung v.a. durch matthäische Intratexte. Liest man 25,14-30 jedoch als weitere Antwort auf die Frage aus 24,45, wird deutlich, dass es doch so klar nicht ist, wer von den Sklaven tatsächlich pisto, j ist und wem gegenüber. 417 Nicht umsonst erfolgt die Charakterisierung hier nicht wie in 24,45f.48; 25,2-4.8 durch die Erzählstimme „Jesus“, sondern durch den Sklavenbesitzer. Wer tatsächlich im Gericht bestehen wird, lässt sich aus der Perspektive der erzählten Gegenwart nicht vorherbestimmen. 411 So richtig Locker, Parable, 166f.173. 412 Frankemölle, Mt 2, 421; ebenso Füssel, Lehrstücke, 334. 413 Füssel, Lehrstücke, 335. 414 Zum adversativen Gebrauch von de, vgl. BDR §447.1a). 415 Vgl. Kreuzer/ Schottroff, Sklaverei, 528. 416 Eine Ausnahme stellt der Befehl des Königs im Gleichnis vom Hochzeitsmahl dar (vgl. Mt 22,13). 417 Wichtiges hat Kähler, Gleichnisse, 173, Anm. 677, hierzu beobachtet: „Sieht man ... genauer hin, was in 24,45-51 als Typos und Antitypos geschildert wird, dann ist es dort gerade nicht der monetäre Geschäftssinn für den Herrn, sondern die ordentliche Verwaltung einer Hauswirtschaft. ... Beides ist ... für antikes Bewußtsein weit auseinanderzuhalten.“ <?page no="181"?> 181 2.6.4.3.4 Das Gleichnis als Mahnung zur Wachsamkeit Die Mahnung zur Wachsamkeit (25,13), die durch das Gleichnis ja illustriert wird, lässt sich dann auch so lesen, dass nicht nur der Tag und die Stunde unbekannt sind, sondern auch Wachsamkeit geboten ist angesichts der Übertragung menschlicher Maßstäbe auf das göttliche Gericht und die basilei,a . Insofern ist das Gleichnis auch im Zusammenhang der die Endzeitrede einleitenden Warnung „Jesu“ zu lesen: ble,pete mh, tij u`ma/ j planh,sh| (24,4). Das Gleichnis und insbesondere der Sklavenbesitzer werden dann zum Negativbeispiel, wie die Maßstäbe des herrschenden Systems, das Unrecht, das er durch seine Sklaven tut oder tun will, zum vermeintlichen Maßstab des Gerichts werden können. Bereits sein Lob der in seinem Sinne wirtschaftenden Sklaven wird zur Anmaßung, schon jetzt wissen zu können, wer in die „Freude seines Herrn“ (V.21.23) eingehen, also im Gericht bestehen wird. Endgültig als falscher ku, rioj entlarvt wird der Sklavenbesitzer durch den dritten Sklaven vor dem Hintergrund von Mt 13: Er hat eben nicht wie der Menschensohn gesät, was er erntet, und doch glaubt er, bereits in der Gegenwart ernten zu können - und den Sklaven, der nicht zu seiner Ernte beiträgt, bestrafen zu können wie der richtende Menschensohn in der Zukunft. Dies rückt den ku, rioj jedoch nicht in dessen Nähe, sondern im Gegenteil in die Nähe der falschen Propheten und Christusse, vor denen in Mt 24,4b- 28 gewarnt wird (V.5.11.24.26): So, wie diese behaupten, der Christus zu sein bzw. falsche Aussagen darüber machen, wo er sich aufhalte, und darin sehr glaubwürdig wirken, 418 kann es auch Menschen geben, die sich anmaßen, schon jetzt zu richten wie der zukünftige Menschensohn, und zwar nach den Maßstäben der gegenwärtigen Welt. Als Warnung vor solchen menschlichen Richtern im Sinne von Mt 7,1 lässt sich das Gleichnis verstehen, wenn die Lesenden - aus guten Gründen, wie gesehen - davon Abstand nehmen, den Sklavenbesitzer des Gleichnisses mit dem Menschensohn-Richter zu identifizieren. 418 Die Lesenden, die sich mit den ersten beiden Sklaven identifizieren, folgen also der Logik eines ku,rioj , den sie für den Menschensohn halten, quasi eines Pseudo- Menschensohnes, der sich zum Richter aufspielt, aber nach den Wertmaßstäben des Marktes richtet. <?page no="182"?> 182 2.7 Das Endgericht (Mt 25,31-46) 2.7.1 Einleitung Die Endgerichtsszene nimmt den nach Mt 24,31 unterbrochenen Haupterzählstrang der Endzeitrede, in dem das plötzliche Kommen des Menschensohnes angesagt wird, wieder auf. Deutlich wird dies durch die Wiederaufnahme des Motivs des Menschensohnes, der mit seinen Engeln in do,xa kommt (25,31). Auch dominieren hier wie im ersten Teil der Rede erzählende Futura, die dagegen im zweiten Teil fast nur in 24,37-39 auftreten. 419 Die Ansage der Endzeitereignisse wird zu einem Ende geführt, ohne dass auf die Fragen der Jünger noch einmal Bezug genommen würde. Vielmehr kulminiert die Rede nun in der Gerichtsszene Mt 25,31-46. Diese ist ähnlich strukturiert wie die vorherigen Gleichnisse. Ihre Gattung erschließt sich jedoch nicht auf Anhieb. Es handelt sich bei Mt 25,31-46 nicht um ein Gleichnis, 420 obwohl die Perikope eines enthält (V.32c-33). Von der Gattungsbestimmung hängt jedoch nicht unwesentlich ihre Funktion ab: Fungiert die Beschreibung des Endgerichts als Warnung oder als Trost? Diese Frage nach der Funktion spielt in der folgenden Analyse daher eine wesentliche Rolle. Weithin durchgesetzt hat sich die Gattungsbestimmung als apokalyptische Offenbarungsrede. 421 Diese Bestimmung betont einerseits die Aufnahme apokalyptischen Gedankenguts, die in der Endzeitrede als Ganzer deutlich sichtbar ist, und andererseits die Einbettung von 25,31-46 in die Gesamtheit der Rede. Auch ist hier, wie sonst in apokalyptischer Literatur, kein einheitliches endzeitliches Szenario entworfen, sondern es existieren unterschiedliche Bilder nebeneinander. Die Sprache ist nicht beschreibend, sondern beschwörend und aufrüttelnd, 422 u.a. durch die viermalige Wiederholung des Leidenskataloges. Apokalyptische Schriften haben gemeinhin eine Trostfunktion für das marginalisierte oder bedrängte Volk Gottes. Sie vermitteln die Hoffnung, dass ihm, wenn schon nicht in der Gegenwart, doch am Ende der Zeiten Gerechtigkeit widerfahren wird. 423 Inwieweit eine solche Funktion hier gegeben ist, hängt nicht zuletzt von der Deutung von pa,nta ta. e; qnh (V.32) und 419 Vgl. Luz, Mt 3, 402f. 420 So übereinstimmend Gnilka, Mt 2, 367, der seine Entscheidung mit dem seiner Ansicht nach dürftigen Inhalt sowie der futurischen Zeitform begründet, Davies/ Allison, Mt 3, 418; Luz, Mt 3, 418 u.a. Jeremias dagegen hat die Perikope in sein Buch „Die Gleichnisse Jesu“ aufgenommen. 421 Vgl. Brandenburger, Recht, 58; Gnilka, Mt 2, 367; Riniker, Gerichtsverkündigung, 445; ähnlich Stanton, Mt, 208. Auch Berger, Formen, 353, rechnet die Perikope wie auch Mt 24,1-25,13 zu den apokalyptischen Gattungen. Während er letztere neben Mk 13 und Lk 21 zu den synoptischen Apokalypsen rechnet, bezeichnet er Mt 25,31-46 mit Offb 21,11-15 als „szenisch ausgestaltete Schilderungen des Gerichts“. 422 Vgl. Donahue, “Parable”, 11. 423 Für eine solche Funktion von Mt 25,31-46 votiert Stanton, Mt, 208. <?page no="183"?> 183 tw/ n evlaci,stwn (V.40.45) ab. In der Zusammenschau der gesamten Rede, v.a. im Blick auf die vorhergehenden, paränetisch ausgerichteten Gleichnisse, ist die primäre Trostfunktion von Mt 25,31-46 jedenfalls fragwürdig. Naheliegender ist es, die Perikope als Teil und Abschluss der Gerichtsparänese zu verstehen. Diese prägt die den zweiten Teil der Endzeitrede ab 24,37. 424 Zwar finden sich hier, wie in einer Paränese zu erwarten wäre, keine direkten Anreden an die Lesenden, jedoch solche, die sich an die Jünger richten (24,42.44; 25,13), die von Anfang an als Identifikationsfiguren der Lesenden fungieren. Die Frage „Warnung oder Trost? “ ist hiermit noch nicht gelöst, sondern bleibt bei der folgenden Analyse im Hintergrund. 2.7.2 Analyse und Intertexte 2.7.2.1 Erscheinen des Menschensohnes, Sammlung und Scheidung (Mt 25,31.32a.b) 31 {Otan de. e; lqh| o` ui`o.j tou/ avnqrw,pou evn th/ | do,xh| auvtou/ kai. pa,ntej oi` a; ggeloi metV auvtou/ ( to,te kaqi,sei evpi. qro,nou do,xhj auvtou/ \ 32 kai. sunacqh,sontai e; mprosqen auvtou pa,nta ta. e; qnh kai. avfori,sei auvtou.j avpV avllh,lwn Die Perikope beginnt mit der Schilderung des zukünftigen Kommens des Menschensohnes. Durch die externe Fokalisierung wird ein Gesamtblick auf die Szene vermittelt, die als ebenfalls externe Prolepse in der Zukunft liegt. Der Menschensohn wird als Machtsouverän, als Inhaber göttlicher Vollmacht und Stärke präsentiert, der im Mittelpunkt dieser Szene steht. Betont wird dies durch das wiederholte auvtou/ : Sein ist die do,xa 425 und der Thron der do,xa , auf dem er Platz nehmen wird. Die Engel werden ihn begleiten und alle Völker werden vor ihm versammelt werden (V.31f.). Wer sie versammelt - der Menschensohn, die Engel 426 oder Gott 427 - bleibt dabei offen. 428 424 Vgl. Brandenburger, Recht, 109f. 425 Aufgrund der zahlreichen LXX-Bezüge erschließt sich die Bedeutung dieses Begriffs hier vom hebräischen kābôd her: „Die ganze atl. Bedeutungsbreite von kābôd ist in das griech. Äquivalent . übergegangen. So bedeutet kābôd das Gewicht von Ansehen und Ehre, das ein Mensch hat, bes. etwa der Könige (1 Kön 3,13), grundsätzlich aber auch jeder Mensch...; vor allem wird es auf die Gottheit bezogen als Ausdruck für ihre Manifestation in ihrem herrscherlichen Walten in Natur und Geschichte: einerseits in der machtvollen Lichtgestalt der Gottheit in Theophanien, mehr noch in ihrer nur dem Auge des Glaubens sichtbaren Majestät ihres geschichtlichen Heils- und Gerichtshandelns.“ (Hegermann, do,xa , 834). 426 Laut 24,31 sammeln sie die Auserwählten; vgl. auch 13,41.49. 427 Laut Joel 4,2; Sach 14,2; Jes 66,18 LXX versammelt Gott die Völker zum Gericht. 428 Die Singularform des Verbs in 13,2; 22,34 wird gemeinhin medial übersetzt. <?page no="184"?> 184 2.7.2.1.1 Dan 7,13f. und äthHen 61f. als Intertexte Das in V.31f. dargestellte Szenario weist enge intertextuelle Relationen zu Theophanie- und Gerichtsszenen des AT und frühjüdischer Schriften auf, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Dass es sich dabei um dieselben Intertexte wie in 24,29-31 handelt, verstärkt den Eindruck, dass die nach V.31 unterbrochene Parusieszene hier weitergeführt wird. Bereits in Dan 7,13f. LXX findet sich die Vorstellung eines Menschensohnes, dem alle Völker ( pa,nta ta. e; qnh ) und alle Herrlichkeit ( pa/ sa do,xa ) dienen werden und dessen basilei,a nicht vernichtet werden wird. Dem Menschensohn ist Vollmacht gegeben von dem „Alten an Tagen“, der auf dem Thron zu Gericht sitzt (V.9), während in Mt 25,31-46 der Menschensohn selbst als Richter dargestellt ist. Dan 7 fungiert hier jedoch dahingehend als Themaillustration, dass hier bereits ein Scheidungsgericht angedeutet wird: Eine Gruppe wird die basilei,a übernehmen ( paralh,yontai ; V.18), die andere wird vernichtet werden (V.26). In äthHen 61f. 429 werden von vornherein mehrere Gerichte unterschieden: Das Gericht über die Gerechten (61,1-13) und das Gericht über die Könige, Mächtigen, Hohen und die, welche die Erde besitzen (62,1-16). Die Werke der Gerechten, Heiligen werden von dem Erwählten, den der Herr der Geister auf den Thron der Herrlichkeit gesetzt hat, oben im Himmel gerichtet und gewogen werden (61,8). Der Gedanke der Bevollmächtigung wird also ebenso explizit herausgestellt wie die Bedeutung der Werke, die hier allerdings im Gegensatz zu Mt 25 nicht präzisiert werden. Erneut wird die Inthronisation des Erwählten beim Gericht über die Könige, die Mächtigen etc. erwähnt (62,2) sowie seine Sichtbarkeit und Erkennbarkeit als der, der auf dem Thron seiner Herrlichkeit selbst zu Gericht sitzt (V.3.5), dem Thron, der ansonsten Jhwh vorbehalten ist. Im Gegensatz zu alttestamentlichen Theophanien kann der Menschensohn also unmittelbar geschaut werden, während Jhwh nur an seinen Attributen erkannt werden kann, die denen des kommenden Menschensohnes sehr ähnlich sind. 430 Dieser entscheidende Unterschied 431 trifft jedoch nur auf den intradiegetischen Zusammenhang zu. Den Lesenden des Matthäusevangeliums bleibt dagegen die Schau Jhwhs wie auch die Schau des Menschensohnes gleichermaßen verborgen. Die Attribute erlauben ihnen lediglich eine Vorahnung des als externe Prolepse geschilderten Ereignisses. Gleichwohl betonen die Attribute in den frühjüdischen Intertexten wie auch in Mt 25,31f. die „Göttlichkeit“ des Menschensohnes. Nicht nur an dieser Stelle ist die Perikope daher „ein hervorragendes Beispiel für die wesentliche inhaltliche Kontinuität zwischen Judentum, Jesus und dem Urchristentum“. 432 429 Vgl. die deutsche Übersetzung von Uhlig, Henochbuch, 610-615. 430 Vgl. z.B. den zum Gericht auf dem Thron sitzenden Jhwh in Ps 9,5.8. 431 Vgl. Gnilka, Mt 2, 370. 432 Riniker, Gerichtsverkündigung, 445. Weitere Parallelen zwischen äthHen 61f. und der gesamten Perikope Mt 25,31-46 sind die Illustration des „ewigen Lebens“ und der Ver- <?page no="185"?> 185 2.7.2.1.2 Der richtende Menschensohn im Matthäusevangelium Innerhalb des Mt-Ev. ist das Bild des Menschensohnes, der in seiner machtvollen Herrlichkeit von Engeln umgeben erscheint und auf seinem Thron Platz nimmt, um die versammelten Völker voneinander zu scheiden, nicht neu, sondern wird mehrfach in summarischer Form vorweggenommen (13,41f.49; 16,27; 19,28), bevor es in Mt 25,31f. entfaltet wird. Bereits zu Beginn des Wirkens Jesu, wie es bei Mt geschildert wird, kommen, nachdem er in der Wüste der Versuchung durch den Teufel ( dia,boloj ) widerstanden hat, Engel ( a; ggeloi ), um ihm zu dienen (4,11). Somit sind sie als Gefolge Jesu zu seinen Lebzeiten bereits installiert, ebenso wie der Teufel als sein Gegenprinzip (vgl. 2.7.2.5.1). Eine Verbindung von Engeln und Menschensohn beim Kommen desselben - erstmals in 10,23 angekündigt - stellt „Jesus“ in seiner bereits erwähnten Deutung des Gleichnisses vom Taumellolch (13,37-43) her: Der Menschensohn wird seine Engel aussenden ( avpostelei/ ; V.41; vgl. 24,31), damit sie aus der basilei,a alles, was zum Abfall verführt ( ska,ndala ) 433 und die, die Unrecht tun, sammeln ( sulle,getai ), und in den Feuerofen werfen, wo Heulen und Zähneklappern sein wird (V.42; vgl. 25,30). Die Gerechten (V.43; vgl. 25,37.46) dagegen werden in der basilei,a ihres Vaters wie die Sonne leuchten. Vor dem Hintergrund dieses Intratextes wird bereits deutlich, dass das Erscheinen des Menschensohnes eine Scheidung nach sich zieht - hier jedoch nicht nur als Scheidung von Menschen verstanden, sondern auch als Aussondern von allem, was sie zum Abfall und Unglauben verführt, aus der basilei,a . Durch das Stichwort avfori,zw wird ein weiteres „Gerichtssummarium“ aus Mt 13 aufgerufen, nämlich die Deutung der Gleichnisse vom Schatz im Acker, von der kostbaren Perle und vom Fischnetz (13,49f.): In der Vollendung des Zeitalters (vgl. 24,3) werden die Engel hinausgehen und die Bösen ( ponhrou,j ) aus der Mitte der Gerechten ( dikai,wn ) aussondern ( avforiou/ sin ) und sie in den Feuerofen werfen, wo Weinen und Zähneknirschen sein wird. Das Verb, das bei Mt nur an diesen beiden Stellen vorkommt, ruft hier auf diese Weise ein Gerichtsszenario auf, in dem zwischen Bösen und Gerechten unterschieden werden wird. Wie diese Ansagen richtet sich auch die nächste Ankündigung des Menschensohnes zum Gericht (16,27f.) exklusiv an die Jünger (vgl. 3,36; 16,24): Sie dient der Begründung der Aufforderung zur Nachfolge und ist gegenüber Mt 13 um das Element der do,xa tou/ patro,j erweitert. So wird der Menschensohn mit seinen Engeln kommen und jedem nach seinem Tun ( pra/ xij ) vergelten (vgl. Ps 62,13; Spr 24,12). Die beiden Optionen des Tuns sind hier gehen der „Ungerechten“ sowie die Zuweisung von Heil und Unheil im Anschluss an ein Urteil, das bereits feststeht. 433 Dieser Begriff bezieht sich in der LXX immer auf Sachen (z.B. Ps 140,9), wird aber hier tw. personifiziert verstanden (vgl. Giesen, ska,ndalon , 594.) <?page no="186"?> 186 bereits genannt: sich selbst verleugnen, sein Kreuz auf sich nehmen und Jesus nachfolgen oder sein eigenes Leben erhalten wollen (16,24-26). An die zwölf Jünger 434 richtet sich auch die Ankündigung, dass sie, wenn der Menschensohn auf dem Thron - hier wird er erstmals erwähnt - seiner do,xa sitzen wird, selbst auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden (19,28). Dies ist der im Mt-Ev. einmalige Gedanke, dass die Jünger nicht nur im Gericht beurteilt werden, sondern selbst zu richtenden Instanzen werden und selbst als Lohn für die Nachfolge das ewige Leben erben. Jedoch erfährt diese Ansage eine Einschränkung durch das Wort „aber viele, die die Ersten sind, werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein“(V.30). 435 Durch das in der Einleitung ausgemalte Kommen des Menschensohnes in do,xa mit seinen Engeln, der sich auf seinen Thron setzt, vor dem sich die Völker versammeln, wird also vor dem Hintergrund der genannten Textstellen von vornherein deutlich, dass nun ein Gerichtsszenario folgt. Der Menschensohn kommt als Richter, wie im übrigen Evangelium ausschließlich von Jesus selbst angekündigt. Zudem ist festzuhalten, dass sich die Rede „Jesu“ vom Menschensohn bei Mt nicht in Bildern der Souveränität und Machtfülle erschöpft. Erst die Zusammenschau mit der Ankündigung seiner Leiden (16,21; vgl. vgl. 2.7.2.4) gibt ein vollständiges Bild ab. 2.7.2.1.3 Zu pa,nta ta. e; qnh : Universales oder partikulares Gericht? Viel ist bereits über die Referenz von pa,nta ta. e; qnh diskutiert worden: Umfassen sie alle sogenannten Heiden oder die ganze Menschheit inklusive der Christusgläubigen, also alle Völker? Ist Israel mitgemeint? Handelt es sich also um ein partikulares oder ein universales Gericht? Die Endzeitrede selbst scheint die partikulare Variante nahe zu legen, das Gericht über die „Heiden“. pa,nta ta. e; qnh werden, so Mt 24,9.14, die Christusgläubigen hassen, und bevor das Ende kommt, wird das Evangelium in der ganzen Welt ihnen zum Zeugnis verkündigt werden. Nicht nur hier, sondern auch mit Blick auf den Missionsbefehl (28,19) erscheinen sie also in Opposition zu den Christusgläubigen. Eine partikulare Deutung ist jedoch mit den oben erwähnten matthäischen Gerichtssummarien nicht in Einklang zu bringen: Weder in 13,37-43 noch in 16,27 wird zwischen Christusgläubigen und Nicht-Christusgläubigen unterschieden. 436 Auch sind diejenigen, die laut 19,29 ewiges Le- 434 Mit Konradt, Israel, 279, anders z.B. Luz, Mt 3, 128f. 435 Hierbei bleibt unklar, ob sich das Wort auf die Jünger oder auf die von ihnen Gerichteten bezieht und v.a., wer die Ersten bzw. Letzten am Ende sein werden. Diese Unklarheit ist laut Luz, Mt 3, 130, gewollt, denn die Lesenden sollen „mit eben dieser offenen Frage zum nächsten Textabschnitt übergehen“. 436 Vgl. Luz, Mt 3, 532; Donahue, “Parable”, 15; Ebner, Plädoyer, 225f. <?page no="187"?> 187 ben erben werden (vgl. 25,34.46), definitiv Jesusnachfolger_innen, die um seinetwillen ihre Häuser, Familien und Äcker verlassen haben. Ob Israel von dem Gericht über pa,nta ta. e; qnh mitbetroffen ist oder nicht, liegt nicht im Fokus des Textes und wird von ihm nicht beantwortet. 437 Es ist gut möglich, dass der Begriff auch in 25,32 Israel mit einschließt, wie sich schon der „Tag Jhwhs“ auch gegen Israel richten kann. 438 Eine Lösung des Problems bietet die Textstrategie der Endzeitrede selbst, aufgrund derer ich mit einem Großteil der Forschung zur universalen Deutung tendiere. 439 Adressat_innen der Rede und Identifikationsfiguren für die Lesenden sind die Jünger. An sie richten sich damit auch die vorigen Gleichnisse. Deren Erzählfiguren - die Sklaven bzw. die jungen Frauen - fordern die Lesenden ebenfalls zur Identifikation bzw. Distanzierung heraus und wirken somit paränetisch. Richtete sich aber die Endgerichtsszene nur an die Nationen, liefe diese Paränese ins Leere. 440 Auch fänden die Lesenden in dieser Szene keine Identifikationsfiguren, denn die „geringsten Geschwister“ eignen sich hierzu nicht, wie ich noch an anderer Stelle verdeutlichen werde. Zudem ist eine an Jesusnachfolger_innen gerichtete Trostrede in Form der Ankündigung der Strafe für die, die sie ablehnen, als Abschluss der paränetisch geprägten Endzeitrede, v.a. der vorhergehenden Gleichnisse, unwahrscheinlich. 441 Auch innerhalb der Perikope spricht einiges dafür, dass Christusgläubige in pa,nta ta. e; qnh inbegriffen sind: Die Beurteilten sprechen den König mit ku,rie an, was bei Mt sonst nur Jesusnachfolger_innen tun. Auch ist der Notlagenkatalog nicht spezifisch jüdisch bzw. christlich, was ebenfalls auf eine universale Lesart hindeutet. 442 Lediglich diejenigen, die laut 24,30 zu den Auserwählten zählen werden und von den Engeln gesammelt werden, sind vom Gericht ausgenommen, 443 wie 24,40f. es nahe legen - letztlich lässt der Text jedoch offen, ob die Auserwählten nicht doch vor dem Gericht erscheinen müssen und dort „zur Rechten gestellt“ werden. Mit der universalen Deutung von pa,nta ta. e; qnh bleibt jedoch die Frage nach der Spannung zu 24,9.14 und ebenso zum Missionsbefehl (28,19f.). Hier 437 Vgl. Luz, Mt 3, 532; ähnlich Stanton, Mt, 208: “Israel may or may not be included.” 438 Joel 2,1-11; Am 5,16-20; Zef 1,2-18 etc.; vgl. Rölver, Existenz, 230 und für Details den Exkurs zu den e; qnh ebd., 229-232. Zum Verhältnis von Israel und den Völkern vgl. auch Konradt, Israel, im Bezug auf Mt 25,32 v.a. 335-337. 439 Vgl. die Übersichten bei Friedrich, Gott, 180-189 und Davies/ Allison, Mt 3, 422. Ebenso Konradt, Israel, 336f.; Backhaus, Himmelsherrschaft, 95f.; Ebner, Plädoyer, 228; anders Garbe, Hirte, 181f. 440 Vgl. Luz, Mt 3, 531; Ebner, Plädoyer, 223. 441 Vgl. Donahue, “Parable”, 13. 442 Vgl. Frankemölle, Mt 2, 426. 443 Ebenso Konradt, Israel, 336. <?page no="188"?> 188 ist ein Blick auf die gedachte Zeitachse der Erzählung aufschlussreich: 444 Die Schilderung des endzeitlichen Geschehens ist eine externe Prolepse, ein Vorgriff auf die Zukunft jenseits der Evangelienerzählung. Der Imperativ, alle Völker zu Jünger_innen zu machen, ergeht jedoch in der Gegenwart der Lesenden. Das Ende dagegen wird erst in der Zukunft kommen, und zwar dann, wenn allen Völkern das Evangelium verkündet worden ist (24,14). Ob sie es alle angenommen haben werden, lässt der Text offen. Es ist aber zumindest möglich, dass der Unterschied zwischen Christusgläubigen und Nicht-Christusgläubigen dann nicht mehr bestehen wird. 445 Damit stellt sich die häufig an den Text herangetragene Frage nach der Rettung derer, die nie vom Evangelium gehört haben, für Mt nicht. 446 Vielmehr werden alle, die zum Gericht versammelt werden, zuvor von Jesu Leben und Lehre Kenntnis erlangt haben, d.h. auch von dem Imperativ, Gottes Wort zu hören und zu tun (7,21). 2.7.2.2 Das Gleichnis (Mt 25,32c.33) w[sper o` poimh.n avfori,zei ta. pro,bata avpo. tw/ n evri,fwn( kai. sth,sei ta. me.n pro,bata evk dexiw/ n auvtou/ ( ta. de. evri,fia evx euvwnu,mwnÅ Mit dem kurzen Gleichnis vom Hirten, der seine Tiere voneinander scheidet, illustriert „Jesus“ die Scheidung der Völker durch den Menschensohn. Bildspendender Bereich ist die Praxis der Kleinviehhaltung, was an die Lebenswelt der Modell-Leser_innen anknüpft wie z.B. schon die Erwähnung von Feldarbeit (24,18.40) und Getreidemahlen (24,41). Darüber hinaus nimmt das Gleichnis nicht nur die Scheidung zweier Gruppen, sondern auch deren Bewertung im Gericht und damit verbunden auch ihr weiteres Ergehen vorweg, wie zu zeigen sein wird. 2.7.2.2.1 Die Hirtenmetaphorik Der Vergleich des Menschensohnes mit einem Hirten spielt auf die Davidssohnschaft Jesu, des königlichen Messias, an (Mt 21,15). Durch ihn wendet sich Gott seinem heilsbedürftigen Volk zu. 447 So spielt die Hirtenmetaphorik 444 Ebner, Plädoyer, 221-226.228, stellt auf vergleichbare Weise die semantische Ausweitung des e; qnh -Begriffs im Laufe des narrativen und theologischen Prozesses fest, den das Matthäusevangelium durchläuft. 445 Stanton, Mt, 212f., ist hinsichtlich dieser Möglichkeit sehr skeptisch wegen der im Evangelium mehrfach erwähnten Ablehnung und Verfolgung der Christusgläubigen (vgl. v.a. 10,22; 24,9). 446 Vgl. Donahue, “Parable”, 14. 447 Vgl. Konradt, Israel, 51. <?page no="189"?> 189 hier zunächst ein weiteres Gottesbild ein, das das Bild von dem als so machtvoll dargestellten Menschensohn ergänzt: Das eines fürsorglichen Hirten, der seine Herde schützt und ernährt, der sich v.a. um die schwachen Lämmer kümmert und die zerstreute Herde (d.i. Israel) sammelt. 448 Der Davidssohn Jesus wird Israel hüten (Mt 2,6) mit dem Ziel, das Volk von den Sünden zu erretten (Mt 1,21). Durch den Intertext Ez 34,17-31 wird die Hirtenmetaphorik jedoch ambivalent: Die Schafe erscheinen als Opfer, die von schlechten Hirten geweidet wurden, aber auch als Täter, die schwache Schafe wegdrängen etc. So wird Jhwh zwischen Schaf und Schaf unterscheiden ( diakrinw/ ; V.17.20) und David als ihren neuen Hirten einsetzen (V.23f.). Jhwh selbst ist es jedoch, der die bösen Tiere aus dem Land austilgen wird (V.25). Er schützt und rettet also die Herde als ganze, aber nicht jedes einzelne Tier - dass auch bei Mt die Geschiedenen potentiell von Strafe bedroht sind, stellt der Intertext Ez 34,17- 31 vor Augen. 449 2.7.2.2.2 Die Trennung der pro,bata und der e; rifoi In sozialgeschichtlicher Hinsicht ist der Vorgang der Trennung von pro,bata und e; rifoi ein viel diskutiertes Problem: Welche Tierarten sind gemeint, und nach welchem Kriterium werden sie voneinander getrennt? 450 Mit K. Wengst 448 Vgl. Ps 23; Jes 40,11; Jer 31,10. 449 Die bei Mt entworfene Gesamtszenerie hat zudem eine Entsprechung in äthHen 90,17- 27: Hier sitzt der Herr der Schafe auf dem Thron. Er hält Gericht über die Schafe, die Israel repräsentieren, und wirft die verblendeten unter ihnen in den Feuerpfuhl. Dieser souveräne Richter wird jedoch nicht wie bei Mt mit der Figur eines Hirten in Verbindung gebracht, entbehrt also der rettenden und schützenden Komponente. 450 Traditionell und bis in die Bibelübersetzungen der Gegenwart hinein wird gemeinhin mit „Schafen und Böcken“ übersetzt. Es handelt sich dann um die Trennung der weiblichen von den männlichen Tieren zum Melken (vgl. z.B. Friedrich, Gott, 139; Gnilka, Mt 2, 372). In der exegetischen Forschung hält sich jedoch tw. bis heute die Ansicht, dass es sich um Schafe und Ziegen handle. Zur Begründung wird entweder auf die Farbe der Tiere verwiesen - das Weiß der Schafe sei positiv konnotiert, die dunkle Farbe der Ziegen dagegen negativ - oder darauf, dass Schafe wirtschaftlich gesehen wertvoller seien (vgl. z.B. Jeremias, Gleichnisse, 204; ebenso Davies/ Allison, Mt 3, 423). Schafe und Ziegen wurden, so Jeremias, in Palästina nachts getrennt, weil Ziegen die Wärme des Stalls benötigen, Schafe aber nicht (vgl. Jeremias, Gleichnisse, 204). Bildspendender Bereich des Gleichnisses wäre dann lediglich das Trennen der Schafe und Ziegen, weil letztere mehr Wärme brauchen. Die idyllische Hirtenszene dieser Deutung hat, so Wengst, zur Verdrängung des Gerichts beigetragen (vgl. Wengst, Böcken, 499). Eine solche Deutung ergibt zudem m.E. deshalb wenig Sinn, weil ja gerade die Ziegen zur Linken des Menschensohnes zu stehen kommen und am Ende bestraft werden. Die These beruht jedoch letztlich auf einem Abschreibfehler, wie K. Wengst gezeigt hat: Jeremias belegt seine These mit einem Verweis auf Dalman, Arbeit und Sitte VI, 276, der seinerseits Wilson, Peasant Life, 181, ungenau zitiert. Dalmans eigene Beobachtungen legen nämlich das Gegenteil nahe: Die Nacht wurde meist im Freien, auf <?page no="190"?> 190 ist davon auszugehen, dass die pro,bata nicht im engen Sinne als „Schafe“ aufzufassen sind. Es handelt sich vielmehr um einen Oberbegriff, der „Kleinvieh“ bedeuten und auch die weiblichen Tiere allein meinen kann. 451 e; rifoi bezeichnet dagegen Jungtiere - dann gibt auch der Diminutiv evri,fia (V.33) Sinn - und kann sowohl „Ziegenböckchen“ als auch „Schafböckchen“ bedeuten - also männliche Tiere. 452 Häufig jedoch steht die Bezeichnung gemeinsam mit a; rnej , was junge Schafe bezeichnet, so dass e; rifoi am ehesten als junge Ziegen aufzufassen sind, wie sich noch zeigen wird. Sie werden, so Wengst, zur Schlachtung von der Herde getrennt, weil es nicht sinnvoll wäre, sie, die keine Milch geben, großzuziehen, da zur Zeugung von Nachkommen in der Herde nur ein einziger Bock benötigt werde. 453 Belege für diese These bringt Wengst allerdings nicht vor. Trotzdem ist sie mit Blick auf die LXX recht wahrscheinlich: Wo immer e; rifoi dort vorkommen, werden sie geschlachtet, gegessen oder geopfert. 454 So soll z.B. das Passatier in Ex 12,5 ein vollkommenes, männliches, einjähriges pro,baton sein, das von den Lämmern ( avrnw/ n ) und Kitzen ( evri,fwn ) genommen werden soll. Auch das Brandopfer in Lev 1,10 soll avpo, te tw/ n avrnw/ n kai. tw/ n evri,fwn genommen werden (vgl. auch Ez 43,22.25; 45,23). Vor diesem Hintergrund können die Lesenden e; rifoi mit zur Schlachtung bestimmten Tieren - tendenziell jungen Ziegen - assoziieren. In Jer 28,36-40 LXX erscheint die Vorstellung des Schlachtens zudem im Rahmen der Ankündigung der Zerstörung Babylons, die als Gerichtsszene gestaltet ist. 455 Hier ist es Jhwh, der ankündigt, Israels Gegner zu richten ( kri,nw ; V.36), zu bestrafen und „wie Lämmer ( a; rnej ) zur Schlachtung“ hinunterzuführen „und wie Widder mit Kitzen“ ( e; rifoi ; V.40). Die Möglichkeit, „geschlachtet“ zu werden - und zwar nicht nur durch Menschen, sondern auch durch den richtenden Jhwh - schwingt also in e; rifoi bereits mit. In der Scheidung von pro, bata und e; rifoi wird bei Mt also erzählstrategisch nicht nur deren Trennung voneinander vollzogen, sondern auch bereits ihr jeweiliges weiteres Geschick vorweggenommen. offenem Felde oder in Höhlen verbracht - mit der ganzen Herde, da es meist keine Möglichkeit gab, sie zu trennen (vgl. Wengst, Böcken, 278.282). Tatsächlich ist bei Dalman beschrieben, dass Schafe und Ziegen nur in Ausnahmefällen, nämlich nur in der Küstenebene des Toten Meeres im Winter, nachts getrennt wurden. Daher ist es unwahrscheinlich, dass bei Mt 25,32 an diesen Vorgang zu denken ist, und ebenso unwahrscheinlich ist die Bedeutung „Schafe“ und „Ziegen“. 451 Wengst, Böcken, 498; vgl. Friedrich, Gott, 137f. 452 Belege bei Friedrich, Gott, 138. 453 Vgl. Wengst, Böcken, 499. 454 Vgl. Luz, Mt 3, 534, Anm. 123. 455 Im Vorfeld dieser Ansage finden sich Merkmale einer Theophanie, wie sie auch in Mt 24,27.30f. auftreten: Das Zeichen und das Blasen der Trompete. <?page no="191"?> 191 2.7.2.2.3 Nach rechts und links gestellt Dadurch, dass die Tiere nach rechts und links gestellt werden, wird dieses Geschick lediglich bestätigt. 456 Mit V.33 löst sich die Erzählung etwas aus dem Gleichnis, was durch den Übergang vom Präsens (V.32), das hier ein gewohnheitsmäßiges Handeln andeutet, zurück ins Futur der Eingangsverse signalisiert ist. Die nach rechts und links gestellten Tiere sind nun Metaphern für die voneinander getrennten Menschen. 457 Deutlich wird, dass beide Parteien von Anfang an keine Möglichkeit mehr haben, selbst zu handeln, wie es in den Gleichnissen vorher ständig der Fall und auch gefordert ist, sondern fremdbestimmt sind: Der Menschensohn-König entscheidet durchgängig über ihren Standort. Sie werden zunächst gesammelt und dann vom Menschensohn-Hirten voneinander geschieden (V.32). Er stellt sie zur Rechten und zur Linken (V.33) und weist ihnen als König schließlich ihre endgültigen Plätze zu: bei ihm ( deu/ te ; V.34) bzw. weit weg von ihm ( poreu,esqe avpV evmou/ ; V.41) Die auf diese Weise Platzierten haben lediglich die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Dieses Verfahren signalisiert die Souveränität des Menschensohnes, der in V.31-34 beinahe durchgängig Satzsubjekt ist: Er hat es nicht nötig, wie ein weltlicher Richter die Wahrheit durch ein Verhör herauszufinden, sondern kann wie ein Hirte auf Anhieb eindeutig erkennen, wer auf welche Seite gehört. 458 Damit ist das Gleichnis eine Schaltstelle in der gesamten Perikope: Durch die Scheidung ist das Urteil faktisch bereits gefällt; 459 im Folgenden wird es lediglich ausgesprochen und begründet. Dies allerdings geschieht in einer Ausführlichkeit, die den Fokus von der Scheidung weg auf diese Urteilsbegründung und die folgenden Dialoge lenkt. Die Geschichte teilt sich im Anschluss - wie die Gleichnisse vor ihr auch - in zwei Handlungsstränge, die nacheinander ablaufen und parallel strukturiert sind: Auf das Urteil und seine Begründung folgt die Rückfrage der Beurteilten und die Antwort des richtenden Königs. Die folgende Übersicht soll dies verdeutlichen. 456 Rechts ist traditionell die „gute“ Seite (vgl. z.B. Ps 45,10; 110,1). Allerdings wird „rechts“ und „links“ bei Mt auch neutral verwendet: So erbittet sich die Mutter der Söhne des Zebedäus (Mt 20,20f.) für diese die Plätze zur Rechten und zur Linken Jesu in der basilei,a . Möglicherweise sind diese beiden Begriffe gar nicht so sehr wertend konnotiert; durch die Festlegung der pro,bata und e; rifoi ist dies für den Fortgang der Erzählung auch nicht oder nur als Verstärkung notwendig. 457 Vgl. Fiedler, Mt, 378. 458 Vgl. Luz, Mt 3, 533; Davies/ Allison, Mt 3, 423. 459 Vgl. Fiedler, Mt, 378. <?page no="192"?> 192 34 to,te evrei/ o o` basileu.j toi/ j eev k dexiw/ n auvtou/ \ deu/ te oi` euvloghme,noi tou/ patro,j mou( kklhronomh,sate th.n h`toimasme,nhn u`mi/ n basilei,an avpo. katabolh/ j ko,smouÅ 35 ev pei,nasa ga.r kai. evdw,kate, moi fagei/ n( ev di,yhsa kai. evpoti,sate, me( xe, noj h; mhn kai. sunhga,gete, me( 36 gumno.j kai. perieba, lete, me( hvsqe, nhsa kai. evpeske,yasqe, me( ev n fulakh/ | h; mhn kai. h; lqate pro,j meÅ 37 to,te avpokriqh,sontai auvtw/ | oi` di,kaioi le,gontej\ ku,rie( po,te se ei; domen p peinw/ nta kai. evqre,yamen( h' diyw/ nta kai. evpoti,samenÈ 38 po, te de, se ei; domen xxe,non kai. sunhga,gomen( h' gumno.n kai. perieba,lomenÈ 39 po, te de, se ei; domen aavsqenou/ nta h' ev n fulakh/ | kai. h; lqomen pro,j seÈ 40 kai. avpokriqei.j o` basileu.j ev rei/ auvtoi/ j\ avmh.n le,gw u`mi/ n( evfV o[son evpoih,sate e`ni. tou,twn ttw/ n avdelfw/ n mou tw/ n evlaci,stwn( evmoi. evpoih,sateÅ 41 to,te evrei/ kai. toi/ j eev x euvwnu,mwn\ poreu,esqe avpV ev mou/ Îoi`Ð kathrame,noi eivj to. pu/ r to. aivw,nion to. h`toimasme, non tw/ | diabo,lw| kai. toi/ j avgge, loij auvtou/ Å 42 ev pei,nasa ga.r kai. oouvk evdw,kate, moi fagei/ n( ev di,yhsa kai. oouvk evpoti,sate, me( 43 xe, noj h; mhn kai. oouv sunhga, gete, me( gumno.j kai. oouv perieba, lete, me( avsqenh.j kai. ev n fulakh/ | kai. oouvk evpeske, yasqe, meÅ 44 to,te avpokriqh,sontai kai. aauvtoi. le,gontej\ ku,rie( po,te se ei; domen p peinw/ nta h' diyw/ nta h' xe, non h' gumno.n h' avsqenh/ h' ev n fulakh/ | kai. oouv d dihkonh,same, n soiÈ 45 to,te avpokriqh,setai auvtoi/ j lle, gwn\ avmh.n le,gw u`mi/ n( evfV o[son ouvk evpoih,sate e`ni. tou,twn tw/ n ev laci,stwn( ouvde. evmoi. evpoih,sateÅ 2.7.2.3 Das Urteil über die zur Rechten und seine Begründung (Mt 25,34-36) Das Bild der Kleinviehherde ist nun verlassen; Thema sind die Menschen, an denen die in dem kurzen Gleichnis thematisierte Scheidung vollzogen wird. Einen Neueinsatz markiert auch die Bezeichnung des Handlungssouveräns als basileu,j statt wie bisher als Menschensohn. Dadurch wird die Figur des Richters mit weiteren christologischen Facetten versehen, wie sich im Folgenden zeigen wird. 2.7.2.3.1 Der König Im Mt-Ev. spielt die traditionell messianisch konnotierte Königsmetapher von Anfang an eine Rolle: Bereits im ersten Satz des Evangeliums wird Jesu <?page no="193"?> 193 Abstammung von David betont (1,1), 460 und schon kurz nach seiner Geburt wird Jesus von den Weisen aus dem Morgenland als König bezeichnet (2,2). Beides verbindet ihn mit der alttestamentlichen Königsideologie: Der König wird von Gott, der ein Gott der Gerechtigkeit ist, eingesetzt, um diese Gerechtigkeit durchzusetzen (Jes 9,6; 11,3-5; Jer 22,15f.). Zunächst waren es die Könige Israels, später wurde die Königsideologie auf den messianischen König transferiert. 461 Dieser wird von David verkörpert, der von Gott als Hirte über Israel eingesetzt ist (Ez 34,23f.; 37,24). Mit der Königsideologie ist auch das Richteramt verbunden; durch das Gericht des von Gott eingesetzten Königs soll Gottes Gerechtigkeit verwirklicht werden (vgl. Ps 72 u.ö.). Im Mt-Ev. wird Jesus als heilender Davidssohn präsentiert, der von zwei Blinden (9,27; 20,30) und der Mutter einer besessenen Tochter (15,22) um Hilfe angefleht wird (vgl. auch 12,22f.). 462 Für die Gerichtsthematik ist v.a. der Einzug Jesu nach Jerusalem bedeutsam. Hier, auf dem Ölberg (24,3), hält Jesus seine Endzeitrede, und hier findet nach traditioneller Vorstellung das Gericht selbst statt. Jesus zieht als sanftmütiger basileu,j Jerusalems auf einem Eselsfohlen in die Stadt ein (21,5; vgl. Sach 9,9) und wird als Sohn Davids bejubelt (21,9.15). Dieses vorösterliche Auftreten Jesu als König ist mitzudenken bei der Schilderung seiner endzeitlichen Wiederkehr als königlicher Richter. 463 Somit ist mit der Königsmetapher anderes verbunden als Herrschertum oder Statussymbole. Auf dem Thron sitzt zudem nicht der basileu,j , sondern der erhöhte Menschensohn (25,31). Dieser kommt in der Funktion eines unköniglichen Königs, der heilt, eines Richters, der durch sein Gericht die Gerechtigkeit wiederherstellt. 464 460 Vgl. auch 1,20. Petersen, Brot, 85-87, hat die Bedeutung der Evangelienanfänge als Markierungen für Intertexte betont: So wird in Mt 1,1 durch die Formulierung biblo,j gene, sewj Gen 5,1 aufgerufen und damit die Genealogie am Anfang des Evangeliums mit der ersten Genealogie der Genesis verbunden. Auch entsteht durch die bekannten Namen, die hier genannt werden, eine Interfiguralität, die eine starke Verbindung zur jüdischen Bibel erzeugt. 461 Vgl. Donahue, “Parable”, 21f. 462 Vgl. Donahue, “Parable”, 21: “The expression ‘Son of David, have mercy on me’ is almost a prayer in Matthew.” Zum heilenden Davidssohn vgl. Konradt, Israel, 41-52. 463 Rölver, Existenz, 117, bezeichnet den Einzug in Jerusalem daher zu Recht als „eschatologische Theophanie“. Zur Zweistufenchristologie des Mt-Ev. vgl. Konradt, Israel u. ders., Sendung. Er betont, dass es sich hierbei nicht um „zwei Phasen der Identität Jesu selbst, sondern zwei Phasen ihrer Entfaltung“ handle (Konradt, Sendung, 424). 464 Vgl. Donahue, “Parable”, 30. Der Menschensohn, so Etzelmüller, Bedeutung, 91, gehört, wie durch seine Begleitung durch Engel und seine Platzierung deutlich wird, „als wahrer Mensch zugleich ganz auf die Seite Gottes. Indem er Gottes Recht durchsetzt, schafft er wahrhaft menschliche Gerechtigkeit“. <?page no="194"?> 194 2.7.2.3.2 Das Urteil über die zur Rechten Der basileu,j ergreift nun das Wort. Er wird zur intradiegetischen Erzählstimme, d.h. „Jesus“ spricht das zukünftige Urteil und dessen Begründung nicht selbst, lässt es den König sprechen. Dieser richtet das Wort zunächst an die Gruppe zu seiner Rechten, die er zu Erben der basilei,a einsetzt. Pragmatisch wirkt dieses „Urteil“ wie eine Verheißung für die Lesenden. Sie ist jedoch mit einem Anspruch verbunden. Dies zeigt sich auch durch die bisher zu wenig beachtete intertextuelle Relation zu Dtn 30,15-20 LXX. Der König bezeichnet die zur Rechten als „Gesegnete meines Vaters“. Gesegnet bzw. gelobt ( euvloge,w ) wird Gott von den Menschen traditionell ebenso wie Menschen von Gott. 465 So wird auch Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem vom Volk „gesegnet“ (Mt 21,9, vgl. 23,39), und hier übermittelt er denen zur Rechten, dass sie vom Vater gesegnet und gelobt sind. Er lädt sie ein, die vom Anfang der Welt an für sie bestimmte basilei,a zu ererben. Mit diesem perlokutiven Sprechakt bewirkt der König, was er sagt: Die zur Rechten sind nun Erben der basilei,a und damit ein Teil von ihr. Dtn 30,15-20 ist ein typologischer Intertext hierzu. Kurz vor dem Tod Moses bei der Einsetzung Josuas zu seinem Nachfolger, d.h. am Ende des Pentateuch, kündigt Mose an, dass Gott die Israeliten segnen wird ( euvlogh,sei ), so dass sie, wenn sie sich nicht zum Götzendienst verführen lassen ( planhqh/ nai ; vgl. Mt 24,4), das verheißene Land in Besitz nehmen werden ( klhronomh/ sai ). Ebenso kündigt der König hier, am Ende der fünf Reden und vor der Passion, dem Tod und der Auferstehung Jesu an, dass die Gesegneten seines Vaters, nämlich die, die seinen Willen tun, die basilei,a erben werden. Betont wird in Dtn 30 die Zeitangabe „heute“: Mose kündigt all dies heute an; noch ist also Zeit zu wählen zwischen Segen und Fluch, Leben und Tod, dazwischen, Gott zu lieben, auf seinen Wegen zu gehen, seine Gebote zu halten, oder sich abzuwenden, nicht zu gehorchen, sich verführen zu lassen und anderen Göttern zu dienen. Vor dieser Wahl stehen auch die Lesenden. Hier wird wieder einmal deutlich: es gibt zwei Alternativen, und noch haben sie die Möglichkeit, das Gebotene zu tun und die von Anfang an für sie bestimmte basilei,a tatsächlich in Besitz zu nehmen wie Israel das verheißene Land. Dies wird ermöglicht durch den Blick in die Zukunft, in die Zeit des kommenden Menschensohnes, den die Perikope als externe Prolepse bietet. 465 Auf eindrückliche Weise deutlich wird diese Gegenseitigkeit, die häufig durch unterschiedliche Übersetzung (Gott - Mensch: segnen, Mensch - Gott: preisen, danken) verschleiert wird, in Eph 1,3. <?page no="195"?> 195 2.7.2.3.3 Die Begründung des Urteils Die Begründung für die Einladung, die basilei,a zu erben, lenkt den Fokus der Erzählung dagegen in die Vergangenheit: Das Tempus der erzählten Rede ist der Aorist. Externe Analepsen eröffnen den Blick auf das vergangene Tun und Unterlassen der Beurteilten. Quantitativ nehmen die Dialoge, die im Gegensatz zu den Summarien der Rahmenerzählung zeitdeckend erzählt werden, in der Perikope den größten Raum ein. Die Begründung besteht aus sechs parataktischen, weitgehend parallel gestalteten Sätzen. In kürzester, summarischer Form und betont am Satzanfang werden zunächst sechs Notlagen angedeutet: Hunger, Durst, Fremdheit, Nacktheit, Krankheit, Gefangenschaft. Auf diese folgt jeweils eine ähnlich knappe Andeutung der Reaktion der Angesprochenen auf die jeweilige Notlage: Sie haben in adäquater Weise geholfen. Diese Aufzählung dient der Begründung des Urteils. Die ganze Szene ist also nicht mit einer Gerichtsverhandlung zu verwechseln, 466 deren Ziel es wäre, erst zu einem Urteil zu kommen. Die Werke als solche sind in unterschiedlicher Zusammenstellung in der Hebräischen Bibel sowie v.a. in der rabbinischen Literatur präsent. 467 In ihrer offenen Formulierung stehen sie für das von jedem Menschen Geforderte. Wunder werden nicht erwartet: Die Kranken und Gefangenen sollen besucht werden und nicht geheilt bzw. befreit werden. 468 Die aufgezählten Werke stehen aber auch exemplarisch für das Tun der Worte Jesu nach Mt 7,24. Sie illustrieren damit auch das im Mt-Ev. entfaltete Gesetzesverständnis, wie es in der Goldenen Regel (7,12) und im Gottes- und Nächstenliebegebot (22,36-40) formuliert ist. Durch ihre offene und allgemeine Formulierung fungieren sie als Beispiele für Möglichkeiten gerechten Handelns. Sie charakterisieren die hier Angesprochenen indirekt als gerechte, hilfsbereite Menschen. Dadurch wird ihre Lebensführung gewürdigt. Ihre guten Taten sind nicht vergessen, sondern werden noch einmal öffentlich zur Sprache gebracht. Den Lesenden bieten sie sich damit zur admirativen Identifikation an, als Vorbilder, denen es nachzueifern gilt. Das Urteil ist zudem im Plural formuliert; es ergeht nicht über Einzelne, sondern über Gruppen. Somit können die Lesenden hier nicht nur ihr individuelles Tun und Unterlassen eintragen, sondern auch ungerechte, unter- 466 Vgl. auch Luz, Mt 3, 533. 467 So enthält auch die in Midr Ps 118 § 17 (243b,15; vgl. Strack/ Billerbeck, Kommentar IV,2, 1212) geschilderte Gerichtsszene einen ähnlichen Katalog im Dialogstil: Der Mensch, der sich zu rechtfertigen hat, gibt an, Hungernde gespeist, Durstende getränkt und Nackte gekleidet zu haben. Dann folgt noch in geraffter Form, dass er Waisenkinder aufgezogen, Almosen gegeben und Liebeswerke geübt hat. Hier jedoch zählen die Beurteilten nicht selbst ihre Taten auf, sondern der König. 468 Darauf hat bereits Johannes Chrysostomus aufmerksam gemacht; vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 427. <?page no="196"?> 196 drückende Strukturen, 469 die dazu beitragen, dass Menschen hungrig, krank und hilfsbedürftig werden. Überraschend für die Lesenden ist dabei die Formulierung der Notlagen in der ersten Person Singular: 470 Der König wird dadurch indirekt als hilfsbedürftig charakterisiert. Durch die zitierte Rede und den Wechsel zur internen Fokalisierung mit dem König selbst als focalizor wird auch der Modus der Erzählung dramatischer: Der richtende König weiß nicht nur über das vergangene Tun der Beurteilten Bescheid, sondern war selbst dabei, war selbst Opfer von Hunger, Krankheit etc. Er, der soeben kraft eigener Machtvollkommenheit denen zur Rechten das Erbe der basilei,a zugesprochen hat, hat selbst Not gelitten. Seine Vergangenheit erscheint damit als das genaue Gegenteil der Machtfülle, die einen König normalerweise auszeichnet. 2.7.2.4 Die Frage derer zur Rechten und die Antwort des Königs (Mt 25,37-40) Die Antwort derer, die diese guten Taten getan haben sollen, deckt sich mit der bei den Lesenden zu vermutenden Verwunderung: 471 Sie fragen zurück, wann sie dem König geholfen haben sollen. 472 Ebenfalls als Parallelismus formuliert, setzen sie dreimal mit po,te ( de, ) se ei; domen... (V.37-39) ein und wiederholen, zu Zweiergruppen zusammengefügt und durch „oder“ verbunden, alle Notlagen und Taten beinahe wörtlich. In der Redeeinleitung werden sie als Gerechte ( di,kaioi ) charakterisiert. Dies deckt sich mit dem alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriff (sedaka), der kein ontologisches, sondern ein relationales Konzept darstellt: Gerecht ist, wer sich heilvoll und heilbringend für sein Gegenüber verhält und auch so handelt. 473 Die Frage der „Gerechten“ ermöglicht eine ebenso gewichtige wie überraschende Aussage des königlichen Richters, die entsprechend mit der Formel „Amen, ich sage euch“ (vgl. 25,12) eingeleitet wird: Er identifiziert sich mit seinen „geringsten Geschwistern“ (V.40). 474 Damit ergreift er Partei für die Opfer von Armut, Krankheit und Staatsgewalt. 475 469 Vgl. Etzelmüller, Bedeutung, 93. 470 Die Identifikation, so Gnilka, Mt 2, 366, sei das „Raffinierteste“ der Erzählung. 471 Die Überraschung der Fragenden illustriert, so Gnilka, Mt 2, 366, dass dieser Gedanke neu ist. 472 Dabei identifiziert ihre ku,rie -Anrede ku,rioj und König. Damit wird der König auch mit dem zum Gericht wiederkommenden Jesus in eins gesetzt, denn in 7,21 wird erzählt, dass auch dieser als ku,rioj angesprochen werden wird. 473 Vgl. Grünwaldt, dikaiosu,nh , 732. Bereits in Mt 5,20 fordert „Jesus“ die „bessere Gerechtigkeit“ als Voraussetzung, um in das Reich der Himmel hineinzukommen, und in Mt 13,49 ist von der Aussonderung der/ des Bösen aus der Mitte der Gerechten die Rede. 474 Jedoch ist es m.E. hier nicht evident, dass zum Verdienst der „Gerechten“ gehört, durch ihr Tun nicht auf einen Lohn spekuliert, nicht kalkuliert zu haben, wie Luz, Mt 3, 536f., es konstatiert. Den Modell-Lesenden, an die der Text sich richtet, wird es nicht <?page no="197"?> 197 Glaubwürdig wird die Behauptung des Königs, weil Jesus all diese Leiden in der Passion tatsächlich erleidet und ihm niemand zu Hilfe kommt. Seine Aussage deckt sich mit der Erzählung, die nach Beendigung der Rede „Jesu“, die ja eine externe Prolepse innerhalb der Ordnung der Erzählung darstellt, weitergeführt wird. Watson nennt den mit Galle vermischten Wein, den Jesus nicht trinken konnte, das Verteilen und Verlosen seiner Kleider (Mt 27,34f.) und seine Behandlung als Fremden. 476 Darüber hinaus ist auf seine Gefangennahme (26,50) bzw. seinen Zustand als Gefangener (27,17) zu verweisen sowie auf seine Geißelung (27,26), die ihn krank zurücklässt. Hunger leidet Jesus bereits bei seiner Versuchung in der Wüste (4,2; vgl. auch 21,28). Alle sechs der aufgezählten Leiden hat Jesus laut der Erzählung also selbst erlitten, bevor er als richtender Menschensohn-König wiederkommt. 2.7.2.5 Das Urteil über die zur Linken und seine Begründung (Mt 25,41-45) Die Dialoge des Königs mit denen zur Rechten und denen zur Linken sind parallel strukturiert und stehen in weiten Teilen in inhaltlicher Opposition zueinander, wodurch der Gegensatz zwischen den beiden Gruppen betont wird. 2.7.2.5.1 Der Urteilsspruch Auch der zweite Dialog beginnt mit einem Urteilsspruch des Königs (V.41), der jedoch im Kontrast zum ersten (V.34) die Trennung betont: „geht weg mehr möglich sein, derart unvoreingenommen Gutes zu tun, nachdem sie ihn gelesen haben, denn nun wissen sie ja, dass auf das Tun des Guten möglicherweise ein eschatologischer Lohn folgt. Es mag für Mt ein Ideal sein, nicht um die eigenen guten Taten zu wissen - im Sinne von Mt 6,3 soll beim Almosengeben die Rechte nicht wissen, was die Linke tut -, aber darum geht es dem Text letztlich nicht (mit Riniker, Gerichtsverkündigung, 455). Der Gegensatz wird zwischen Tun und nicht Tun aufgebaut, nicht zwischen „Tun und nicht Wissen“ und „Tun und Wissen“. 475 Dass die Gründe für ihre Leiden nicht genannt werden, verhindert, dass die Lesenden ihnen selbst die Schuld für ihre Lage geben könnten; ähnlich Etzelmüller, Bedeutung, 97. 476 Vgl. Watson, Reader, 77. Er verweist jeweils auf Ps 22, den er auch über die genannten Stellen hinaus als Intertext zu Mt 25 in Betracht zieht. Dies führt m.E. in diesem Fall aber zu weit, um die Möglichkeit des Wiedererkennens der Leiden Jesu innerhalb des Evangeliums aufzuzeigen, was ja Watsons Ziel ist. Überzeugender ist dagegen sein Gedanke, dass sich in Jesu Erfahrung der Gottverlassenheit (27,46) sich die verschiedenen Unterdrückungserfahrungen vereinigen und damit seine Solidarität auch mit Opfern anderer Arten von Unterdrückung möglich wird (vgl. ebd., 78). <?page no="198"?> 198 von mir“ ( poreu,esqe avpV evmou/ ) heißt es hier. 477 Diese Opposition setzt sich fort in den PPP-Konstruktionen ( euvloghme,noi ; V.34, kathrame,noi, h` toimasme, non ; V.41), die verdeutlichen, dass das Urteil bereits von vornherein feststeht. Allerdings ist hier nicht davon die Rede, dass die basilei,a von vornherein nur für den Personenkreis bereitet war, der sie nun erben soll, d.h. von Prädestination. 478 Die Formulierung ist nämlich nicht parallel zu V.34 gestaltet, wie es zu erwarten wäre. Die basilei,a ist seit dem Beginn des Kosmos für die Gesegneten des Vaters bestimmt. Das ewige Feuer ist dagegen nicht seit Beginn des Kosmos für die Verfluchten bestimmt, sondern für den Teufel und seine Engel bereitet. Durch die Erwähnung der Engel steht der Teufel in direkter Opposition zum Menschensohn, der auch von Engeln begleitet wird (V.31). Diese Beobachtung deckt sich mit der Versuchungsgeschichte Mt 4,1-11, wo der Teufel als Widersacher und Versucher Jesu eingeführt wird - erst, als dieser ihm widerstanden hat, kommen Engel, um ihm zu dienen. 479 Diese Konstellation verdeutlicht, dass das ewige Feuer eigentlich nicht für die Verfluchten bestimmt ist, sondern für den Teufel und seine Engel. Eigentlich war auch für die zur Linken ein Platz in der basilei,a beim Menschensohn-König und dessen Engeln vorgesehen. 480 Aus den im Folgenden genannten Gründen - den unterlassenen Werken der Barmherzigkeit - werden sie jedoch abgewiesen. 2.7.2.5.2 Die Begründung des Urteils über die zur Linken Wieder wird in der Begründung des Urteils die Liste der Notlagen (V.35f.) beinahe wörtlich wiederholt (V.42f.). So wird auf eindrückliche Weise verdeutlicht, dass das Verhalten derer zur Linken im genauen Gegensatz zum Tun derer zur Rechten stand. 481 Sie haben nichts im eigentlichen Sinne Fal- 477 Auf ähnliche Weise weist Jesus die, die „Herr, Herr“ rufen, ab, und zwar als solche, die Böses tun; sie haben geweissagt und Geister ausgetrieben, aber nicht den Willen des Vaters getan (7,23, vgl. 25,11f.). 478 Mit Fiedler, Mt, 379; anders Luz, Mt 3, 534f. (Belege vgl. dort). 479 Wieder einmal werden auf diese Weise der Menschensohn und Jesus erzählstrategisch in eins gesetzt. 480 Dies deckt sich mit der biblisch-jüdischen Überzeugung, dass Gott eindeutig auf der Seite der Menschen ist; vgl. Fiedler, Mt, 379, Anm. 143. 481 Ein typologischer Intertext, in dem wie hier eine Positivliste einer Negativliste gegenübergestellt wird - jedoch in umgekehrter Reihenfolge - ist Ez 34: V.4 zählt auf, was die Hirten an den Schafen zu tun versäumt haben (das Schwache nicht gestärkt, das in schlechter Verfassung nicht zu Kräften kommen gelassen, das Verletzte nicht verbunden, das Verirrte nicht zurückgebracht, das Verlorene nicht gesucht, das Starke durch harte Arbeit erschöpft). Ihnen gegenüber steht Jhwh. V.16 zählt auf, was Jhwh im Gegensatz zu den Hirten an den Schafen tun wird: das Verlorene suchen, das Verirrte zurückführen, das Verletzte verbinden, das Magere stärken und das Kräftige bewachen. Die Dialogizität zu Mt besteht darin, dass die Listen in der Schafmetaphorik bleiben <?page no="199"?> 199 sches getan, aber sie sind untätig geblieben, 482 als der König - der sich, wie die Lesenden jetzt schon wissen, mit den notleidenden „Geringsten“ identifiziert - ihre Hilfe benötigte. Somit werden sie indirekt als Ungerechte charakterisiert. Im Gericht werden auch sie mit ihrer Lebensführung konfrontiert; ihr eigenes Unterlassen wird ihnen bewusst gemacht. Somit bieten sie sich den Lesenden zur kathartischen Identifikation an: So wie sie möchte wohl niemand beurteilt werden. 2.7.2.6 Die Frage derer zur Linken und die Antwort des Königs (Mt 25,44f.) Die zur Linken stellen dieselbe Frage wie die zur Rechten; sie wundern sich, wann sie den König in einer Notlage angetroffen haben. In der Redeeinleitung, nachdem die Begründung des Urteils ausgesprochen ist, werden sie jedoch nicht anders bezeichnet als vorher; das Urteil über sie wird den Lesenden überlassen (vgl. aber 13,49). Ihre Frage selbst wiederholt zum vierten Mal den Katalog der sechs Notlagen, subsumiert aber sämtliche Reaktionen unter ouv dihkonh,same,n soi (V44). 483 Durch dieses zunehmende Subsumieren einzelner Elemente wird die Erzählung immer schneller, die Spannung immer mehr gesteigert: wie wird es denen zur Linken und auch denen zur Rechten am Ende ergehen? Die Antwort des Königs auf die Frage ist vorauszusehen und wird als beinahe wörtliche Wiederholung, 484 aber Negation seiner Antwort den „Gerechten“ gegenüber angesagt (V.45). An dieser Stelle stellt sich die zweite zentrale Frage nach einer Referenz innerhalb der Perikope: Wer sind die „geringsten Geschwister“ (V.40) bzw., wie später verkürzt formuliert wird, die „Geringsten“ (V.45)? 485 Ist hierbei im Allgemeinen an Menschen mit geringem Status und Ansehen, die sich in und sich so auch die Notlagen auf Schafe beziehen. Auch werden hier aktive Fehlhandlungen aufgezählt. 482 Vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 431; Fiedler, Mt, 380: Ebenso wie in 25,1-13.14.30 zieht hier das Unterlassen des Guten Strafe nach sich, wohingegen in 24,48f. das Tun des Bösen angeprangert wird. 483 Möglicherweise ist diese Zusammenfassung der Werke ein Indiz dafür, dass sie exemplarisch für den Dienst an Christus stehen; vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 431. Dazu müssten sie jedoch nicht vier Mal wiederholt werden. 484 tw/ n avdelfw/ n mou ist hier weggelassen, kann aber von den Lesenden dazu gedacht werden; vgl. Luz, Mt 3, 540. 485 Dass diejenigen, denen nicht geholfen wurde, nicht avdelfoi, genannt werden, hat m.E. keine inhaltliche Relevanz, sondern ist der generellen Verkürzungstendenz zum Ende hin geschuldet, die rezeptionsästhetisch „als erwarteter Lerneffekt“ (Ebner, Plädoyer, 221) zu erklären ist. <?page no="200"?> 200 einer Notlage befinden, 486 oder ausschließlich an Christusgläubige zu denken - oder noch spezieller an Jünger oder Missionar_innen? 487 Ein Blick auf das Mt-Ev. insgesamt legt die letztere Variante nahe. In seiner Aussendungsrede formuliert „Jesus“ auf ganz ähnliche Weise und klar auf Missionar_innen bezogen (10,40-44): Wer sie bei sich aufnimmt, nimmt Jesus auf, wer einem von ihnen zu trinken gibt, wird belohnt werden. 488 Auch steht avdelfoi, bei Mt 18 Mal für Nachfolger_innen Jesu. So geht ein Großteil der Exeget_innen von einer exklusiven Deutung aus und sieht die avdelfoi, als verfolgte Christusgläubige an. 489 Wer jedoch tatsächlich seine Geschwister 490 sind, präzisiert Jesus in 12,50: Nicht seine leiblichen Brüder und Schwestern, sondern alle, die den Willen seines Vaters tun. 491 Dies ist auch das Kriterium seines Gerichts (vgl. 7,21). Wenn also pa,nta ta. e; qnh nach diesem Kriterium gerichtet werden und nicht danach, ob sie christusgläubig oder getauft sind, könnte auch der Kreis der avdelfoi, größer sein als der Kreis der Christusgläubigen. 492 Diese Annahme muss jedoch hypothetisch bleiben, da der Text keine weiteren Spezifizierungen bezüglich der Identität der Hilfsbedürftigen vornimmt. 493 Möglicherweise hat der Autor selbst die „Geringsten“ im partikularen Sinn verstanden und daher die „Geschwister“, wenn auch nicht sehr deutlich, als Christusgläubige eingeführt. Die Autorintention bietet zwar 486 Vgl. zur Semantik Ebner, Plädoyer, 220f. 487 Vgl. die Übersicht bei Davies/ Allison, Mt 3, 428f.: Sie unterscheiden genauer zwischen allen Christen bzw. Jüngern, Judenchristen, christlichen Missionaren und Gemeindeleitern und Christen, die keine Missionare oder Gemeindeleiter sind. 488 Vgl. Watson, Reader, 64. 489 Luz, Mt 3, 539f., deutet sie als „Wanderradikale“ und evtl. auch andere Christ_innen. Auch diese seien keine Sondergruppe, sondern jede_r sei gerufen, sich ihnen anzuschließen und nach Vollkommenheit zu streben. Zu den unterschiedlichen Deutungen vgl. Davies/ Allison, Mt 3, 428f. 490 Die maskuline Form wird im Griechischen auch verwendet, wenn beide Geschlechter gemeint sind. So sollte avdelfoi, als Anrede an eine Gemeinschaft, die aus Männern und Frauen bestand (vgl. Donahue, “Parable”, 8f., Anm. 25), mit „Brüder und Schwestern“ oder kürzer „Geschwister“ übersetzt werden. Es ist daher nicht gerechtfertigt, dass Watson, Reader, 67 die Sprache der Parabel als “naively androcentric” bezeichnet. Er will hier wegen Mt 12,50 nur „Brüder“ übersetzen. M.E. wird in 12,50 jedoch lediglich betont, dass es sich um Brüder und Schwestern handelt, weil Familienbeziehungen hier das Thema sind. 491 Die „Frontstellung“ ist hier jedoch eine andere: Es geht um leibliche Geschwisterschaft vs. Geschwisterschaft innerhalb der Gemeinde. Ebner, Plädoyer, 220, sieht die Geschwisterschaft jedoch zu Recht „nicht über die physische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe definiert, sondern über einen Sachbezug, an dem man die Schüler Jesu als dessen Geschwister erkennt: Wer den Willen des Vaters tut, der ist Jesu Bruder, Schwester und Mutter (vgl. Mt 12,50)“. 492 Ebner, Plädoyer, 219f., bejaht dies und führt als Aufweis einer semantischen Ausweitung des Begriffs innerhalb des Mt-Ev. 5,47 an, was aber nicht völlig zu überzeugen vermag. 493 Ähnlich Watson, Reader, 69: “All we know is that they are … all victims of deprivation and injustice; no other distinguishing characteristic is given, and no other is needed.” <?page no="201"?> 201 wichtige Einsichten in die Gruppe der Christusgläubigen. Soll sie aber repräsentieren, was der Text „wirklich“ bedeutet, wird ihre Kompetenz überschritten. 494 Die Perikope selbst nämlich legt auch hier die universale Lesart nahe: Zum einen erscheint es unwahrscheinlich, dass alle Völker mindestens einmal im Leben die Gelegenheit bekommen, einem bzw. einer Christusgläubigen zu helfen. Zum anderen wird nur diese Lesart der Darstellung der „Geringsten“ als Opfer von Hunger, Krankheit etc. in der Perikope gerecht: Die Zuwendung zu ihnen wird zum Kriterium des Gerichts, die Scheidung der Völker wird zur Metapher der Parteinahme des Richters für sie. Sie sind damit keine Almosenempfänger_innen, sondern haben ein Recht auf Fürsorge. Ihre Notlagen werden in der Perikope insgesamt vier Mal wiederholt - diese sind es, die sie charakterisieren, nicht ihre Identität, ihr Glaube an Jesus Christus oder gar ihre missionarische Tätigkeit, denn eine solche wird hier mit keinem Wort erwähnt. Es handelt sich hier also gewissermaßen um einen Testfall, ob eine text- und leser_innenorientierte Exegese wirklich bereit ist, den Text gegen die angenommene Intention des Autors auszudeuten. 495 Eine exklusive Deutung, soviel sei festgehalten, nimmt der Perikope jedenfalls ihre Spitze und einen Großteil ihrer ethischen Relevanz. 2.7.2.7 Der Ausgang des Gerichts (Mt 25,46) kai. avpeleu,sontai ou-toi eivj ko,lasin aivw,nion( oi` de. di,kaioi eivj zwh.n aivw,nionÅ An dieser Stelle ist der Dialog zwischen dem König und den Beurteilten beendet, „Jesus“ hat wieder das Wort. Er führt beide Erzählstränge wieder zusammen und kündigt das weitere Schicksal der Beurteilten an. Subjekt sind hier die beiden Parteien - der Fokus liegt nun auf ihnen, nicht mehr auf dem Menschensohn-König. Die zur Linken gehen in die ewige Strafe ( eivj ko,lasin aivw,nion ; bei Mt nur hier; vgl. 1 Joh 4,18), die zur Rechten in das ewige Leben ( eivj zwh.n aivw,nion ; vgl. 19,16.29). Ein solcher doppelter Ausgang ist aus Mt bereits bekannt und wird hier sachlicher gefasst im Unterschied zu den bildreicheren Formulierungen wie „Hölle des Feuers“ (5,22; 18,9; ) oder „Weinen und Zähneknirschen“ in der Finsternis (8,12; 22,13; 25,30), im Feuerofen (13,42.50) bzw. bei 494 Vgl. auch Watson, Reader, 64f. 495 Schon Gnilka, Mt 2, 375, formuliert, dass es möglich sei, „daß der Brudername zwar hier zunächst auf die christlichen Brüder trifft, darüber hinaus aber alle Notleidenden miteinschließt“, weil die Identifizierung Jesu mit ihnen „auf die geschichtlichen Erfahrungen, die man mit Jesus von Nazareth gemacht hat, der in die Nachfolge rief und zu einer ähnlichen Selbstlosigkeit ermunterte“ zurückgehe. <?page no="202"?> 202 den Heuchlern (24,51). All diese Formulierungen können aber von den Lesenden hier hineingetragen werden. Liest man, wie oben vorgeschlagen, die Identifikation Jesu bzw. des Königs mit den Geringsten mit der Passionsgeschichte zusammen, lässt sich eine Korrelation feststellen zwischen der so bildreich aufgeladenen „ewigen Strafe“ und der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz. Eine solche Erfahrung der Gottverlassenheit wird im Gericht denen zuteil, die eine Verlassenheitserfahrung bei ihren Mitmenschen verursachen, indem sie angesichts ihrer Leiden und Nöte untätig bleiben. Bei all diesen gewichtigen paränetischen Anteilen der Perikope geraten jedoch auch die positiv Beurteilten nicht aus dem Blick. Ihr Geschick hat das letzte Wort und rahmt damit die Schilderung des Ergehens der „anderen“, 496 so dass eine Hoffnungsperspektive die Perikope und damit die gesamte Rede abschließt. 2.7.3 Deutungspotentiale zum Thema „Gericht“ 2.7.3.1 Die Endgerichtsszene als Höhepunkt In der Endgerichtsszene laufen, wie gesehen, sämtliche Fäden der gesamten Endzeitrede ebenso zusammen wie die Gerichtsvorstellungen des gesamten Matthäusevangeliums. Der nach 24,31 unterbrochene Erzählstrang wird weiter- und zu einem Ende geführt, die Struktur der Wachsamkeitsgleichnisse wiederholt sich ein weiteres Mal: Die sich bereits in 24,40f. andeutende und in den folgenden Gleichnissen verschiedentlich realisierte Struktur des „dramatischen Dreiecks“ tritt hier erneut auf. Das „antithetische Zwillingspaar“ entsteht in dieser Szene durch die „Scheidung“ zweier Gruppen. Ihm gemäß teilt sich die Erzählung wiederum in zwei Stränge und kulminiert, wie die Gleichnisse vorher, in einer entgültigen Trennung beider Parteien. Somit wird der enge Zusammenhang dieser Gleichnisse mit der Endgerichtsszene deutlich, was ihre Deutung als Gerichtsgleichnisse bestätigt. Gleiches gilt für die Dialogszene, in der der Menschensohn-König wie der Handlungssouverän der Gleichnisse als ku, rioj angeredet wird. Allerdings urteilt dieser hier aufgrund des Verhaltens in der Vergangenheit, nicht aufgrund des Tuns, bei dem jemand angetroffen wird (treuer und schlechter Sklave) oder aufgrund der Anbzw. Abwesenheit zum entscheidenden Zeitpunkt (junge Frauen). Welche Rolle dies für die Deutung dieser Szene spielt, wird sich noch zeigen. 496 Hierin steht sie im Gegensatz zu dem ansonsten sehr ähnlichen antithetischen Parallelismus in Dan 12,2f. LXX (vgl. Jon 5,29), bei dem eivj zwh.n aivw,nion am Anfang, der negative Ausgang aber am Ende steht. <?page no="203"?> 203 2.7.3.2 Die doppelte Rolle Jesu Der vorösterliche „Jesus“ als extradiegetische Erzählstimme interpretiert den Willen Gottes, bereitet seine Jünger auf das Gericht vor und ermahnt sie, nach seinen Geboten zu leben. 497 Als Protagonist, als nachösterlicher, richtender Menschensohn und König, ist er in seinen geringsten Geschwistern präsent. Er verwirklicht, was durch seine Namensgebung bereits versprochen war (Mt 1,21f.): „Er wird sein Volk von den Sünden erretten“, das bedeutet der Name Jesus, und Jesus ist der Immanuel, der „Gott mit uns“. 498 Als solcher identifiziert er, der selbst am Kreuz gelitten hat und gestorben ist, sich mit den Notleidenden. Als solcher ist er auch der Kommende, der Gottes Gerechtigkeit durchsetzt. Die Beziehung zu Jesus ist mit der Beziehung zu den Menschen unmittelbar und unlösbar verbunden, denn ihn zu verehren bedeutet, nach seinen Geboten, v.a. dem Liebesgebot, zu handeln. 499 Die Frage nach der Zuwendung des „Immanuel“ zu denen, die vor dem Gericht des Menschensohnes scheitern, bleibt jedoch offen, hier bleibt eine Spannung. 500 Es gibt ein „zu spät“, das führt der Text deutlich vor Augen. Obwohl das höllische Feuer nicht wie das ewige Leben für die Menschen bestimmt ist, bleibt es für sie doch eine reale Bedrohung. Andererseits hören die Lesenden von Jesus, dem Lehrer, rechtzeitig vom Gericht, bevor es zu spät ist, auf das Gehörte angemessen zu reagieren. Denn diese Reaktion, das Tun, das mitmenschliche Handeln, in dem sich das Verhältnis zu Jesus zeigt, ist letztlich von Bedeutung. 2.7.3.3 Die Auswirkungen des Gerichts: Gerechtigkeit, Konfrontation und Würdigung Durch das Gericht wird die Gerechtigkeit Gottes hergestellt und durchgesetzt. Hier erfahren Menschen Konfrontation und Würdigung. Der Fokus der Perikope liegt auf den Dialogen, die sich um die Erfüllung elementarer Grundbedürfnisse drehen. Bei dieser Erfüllung handelt es sich nicht um Almosen, sondern um ein Grundrecht. Durch das Gericht werden daher alle, deren Grundrechte nicht geachtet wurden, wieder ins Recht gesetzt. 501 Somit wird durch das Gericht die Gerechtigkeit Gottes hergestellt und durchgesetzt. 497 Vgl. Luz, Jesusgeschichte, 131. 498 Vgl. Watson, Reader, 75. 499 Mit Luz, Mt 3, 540f. Ähnlich und ebenso zutreffend formuliert diesen Sachverhalt Riniker, Gerichtsverkündigung, 456: „In der Identifikation des Richters mit den Geringsten findet eine Vermittlung statt zwischen dem Gericht nach Werken der Barmherzigkeit und nach der Stellung zu Jesus, die sich hier im Hören auf sein Wort zeigt.“ Vgl. auch Fiedler, Mt, 379f. 500 Ebenso Luz, Gericht, 253. 501 Vgl. Etzelmüller, Bedeutung, 94f. <?page no="204"?> 204 Auch erscheint das Gericht in dieser Szene als „Begegnungs- und Konfrontationsgeschehen“: 502 Die Beurteilten werden mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, und zwar sowohl mit dem, was gelungen ist als auch mit dem, wo sie schuldig geworden und gescheitert sind. Auf dieser Konfrontation, die sich in den Dialogen ausdrückt, liegt der Fokus der Perikope. Die Beurteilten werden jedoch nicht nur mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert, sondern dadurch auch mit den Notleidenden, denen sie nicht geholfen haben. 503 Durch die Konfrontation werden diese Opfer sichtbar gemacht; sie erfahren eine Würdigung in ihrem Leiden und dadurch, dass der Menschensohn- Richter sich mit ihnen identifiziert. Allein durch diese Konfrontation, also noch bevor die eigentliche Bestrafung erfolgt, werden die „zur Linken“ beschämt und sich ihres Unterlassens schmerzlich bewusst. Würdigung erfahren dagegen auch die Menschen „zur Rechten“: Ihre Taten der Gerechtigkeit fallen nicht einfach der Vergessenheit anheim, sondern werden noch einmal benannt. 2.7.3.4 Die Bedeutung der Scheidung An der im Text beschriebenen Scheidung zwischen Menschen ist bereits mehrfach Sachkritik angemeldet worden: Sie sei der „Mitte“ des Evangeliums nicht gemäß, nach der das Heil allen Menschen gelte. 504 Eine solche Trennung der Menschheit in Gut und Böse sei per se unmöglich, da jede_r teils auf die eine, teils auf die andere Seite gehöre. Jedoch sehe die matthäische Anthropologie keine Unterscheidung von Sünder und Sünde, von Personen und Taten vor. 505 Bei aller Schwierigkeit, die mit der Aufteilung von Menschen in Gute und Böse einhergeht, ist jedoch festzuhalten, dass mit den Bösen auch das Böse aus der Welt verschwindet - und dies ist die Voraussetzung für die neue Welt Gottes. Niemand wird der Täter mehr gedenken, auch die Opfer nicht. Sie müssen die Täter fortan nicht mehr sehen und sind damit auch nicht gezwungen, ihnen zu verzeihen. 506 Noch wichtiger erscheint aber die Beobachtung, dass es weder in den Gerichtsdialogen noch in den vorhergehenden Gleichnissen um die Bilanz 502 Sommer, Gericht, 410f. 503 Mit Etzelmüller, Bedeutung, 96, könnte man von einer „sekundären Viktimisierung“ sprechen: Menschen, die bereits Opfer sind, z.B. von Ungerechtigkeit oder Krankheit, werden dadurch, dass ihnen nicht geholfen wird, ein zweites Mal zu Opfern. Im Text ist diese Lesart jedoch m.E. nicht angelegt. 504 Vgl. Rölver, Existenz, 569f. 505 Luz, Gericht, 258. 506 Vgl. Etzelmüller, Bedeutung, 98f., der herausstellt: „Es gibt Beziehungen, die nur geheilt werden können, wenn sie geschieden werden.“ Sommer, Gericht, 412, betont in Aufnahme dessen jedoch, dass gerade das Gedenken an geschehenes Unrecht dazu dient, Gerechtigkeit zu verwirklichen. <?page no="205"?> 205 eines ganzen Lebens geht, sondern immer um Momentaufnahmen, um eine konkrete Situation, die bewertet wird. So wird deutlich, dass sich die Welt in der Tat nicht pauschal in Täter und Opfer einteilen lässt. 507 Es wird hierdurch die Deutung zumindest ermöglicht, dass jede_r Täter_in und Opfer zugleich ist. Und das wiederum hieße zum einen, dass eine Scheidung innerhalb des Einzelnen als Deutung zumindest in Betracht gezogen werden muss, 508 so dass niemand ganz vernichtet würde, aber eben doch zerstörerische Anteile der jeweiligen Person - und diese Anteile können beträchtlich sein. Nicht außer Acht zu lassen ist außerdem, dass die Scheidung zwischen Gruppen geschieht. Somit geht es, wie bereits festgestellt, nicht nur um das individuelle Tun oder Unterlassen der Gerechtigkeit, sondern auch um die Teilhabe an ungerechten Strukturen. 509 Dass gerade dies jedoch häufig unwissentlich und unbeabsichtigt geschieht, stellt die Perikope vor Augen. Somit erscheint eine Scheidung zwischen Individuen einerseits noch unwahrscheinlicher, andererseits löst aber gerade diese Erkenntnis Erschrecken aus: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen...? “ 2.7.3.4 Warnung oder Trost? Das ausgemalte Szenario lässt sich zuallererst als eine dringende Warnung angesichts des kommenden Gerichts deuten. Dafür spricht die deutliche und endgültige Trennung der „Gerechten“ von den anderen, die ausführliche Begründung dieser Trennung sowie die Andeutung der Strafe. Aber auch die Trostperspektive kommt deutlich zum Tragen; mit der Ansage des ewigen Lebens für die Gerechten endet die Perikope und damit die gesamte Endzeitrede. Damit ist die Ankündigung des Gerichts auch ein Trost, insbesondere für alle, die unter Not und Unterdrückung leiden. Die beiden genannten Perspektiven gehen einher mit den unterschiedlichen Identifikationsmöglichkeiten, die der Text zur Verfügung stellt: 510 Die Identifikation mit pa,nta ta. e; qnh , die er, wie gesehen, am nächsten liegt, aber auch die Identifikation mit den Notleidenden, die zwar im Text nicht explizit angelegt, aber durchaus möglich ist. Die Trostperspektive gilt jedoch nicht nur für diese, sondern auch für die e; qnh . Sie liegt in der Person des Richters begründet: Es ist Jesus, der als 507 Vgl. Etzelmüller, Bedeutung, 100. 508 Vgl. dazu auch die Deutung zu Mt 24,45-51 in 2.4.4.2. 509 Anders Watson in seiner Kritik der Perikope: “Secondly, the parable is compatible with an individualizing, personalistic view of ‘charitiy’ which abstracts both giver and receiver from the social context which in fact assigns them their respective roles. In such a construction, wealth and poverty are naturalized, and there is no recognition of the interdependence of wealth and poverty, the ways in which the enrichment of the few is achieved at the expense of the impoverishment of the many.” (Watson, Reader, 67). 510 Vgl. auch Luz, Mt 3, 530, der von einer „doppelten Identifikation“ spricht. <?page no="206"?> 206 Mensch zu den Menschen kommt. Gott wirkt und richtet in menschlicher Gestalt. Somit besteht die Hoffnung, dass auch das Gericht menschlich sein wird und hier nichts Übermenschliches gefordert werden wird. 511 511 Vgl. Etzelmüller, Bedeutung, 91. <?page no="207"?> 207 3 Ergebnis Im exegetischen Hauptteil wurde die matthäische Endzeitrede im Hinblick auf ihre Gerichtsvorstellungen in narratologischer und intertextueller Hinsicht untersucht. Abschließend sollen nun zentrale Ergebnisse festgehalten werden. Den Anfang bilden einige methodische Überlegungen. Sodann sollen die Erzählfiguren der Endzeitrede als entscheidendes Mittel der Leser_innenlenkung in den Blick kommen. Abschließend sollen die Ergebnisse unter der Fragestellung gebündelt werden, welche Gerichtsvorstellungen in der Endzeitrede auf welche Weise zum Ausdruck kommen. 3.1 Zur Methodik Im Folgenden soll exemplarisch der Ertrag einiger Methoden reflektiert werden, die sich für den exegetischen Hauptteil dieser Arbeit als wichtig erwiesen haben. Auch soll jeweils ein kurzer Ausblick auf das weitere methodische Verfahren im zweiten Hauptteil erfolgen. In narratologischer Hinsicht hat sich insbesondere Nischiks Methode zur Analyse der Handlungsstränge als hilfreich erwiesen, die bisher in der exegetischen Forschung wenig rezipiert worden ist. Mittels dieser Methode lässt sich die strukturelle Kontinuität innerhalb der Endzeitrede nicht nur mit Hilfe des in der Gleichnisforschung entwickelten „dramatischen Dreiecks“, also mit Blick auf die Personenkonstellationen, erfassen, sondern auch mit Blick auf die Handlung selbst. Virulent wird diese Möglichkeit u.a. in der Analyse derjenigen Gleichnisse, in denen nicht zwei Individuen oder Gruppen einander gegenüberstehen, sondern gegensätzliche Handlungsoptionen ausgelotet werden. Hierfür bietet das Modell der Handlungsstränge ein differenzierteres Instrumentarium. Auch für die Liedanalysen wird es sich als hilfreich erweisen. Eine weitere an dieser Stelle hervorzuhebende Methode ist die Analyse der Figuren. Das Herausarbeiten ihrer Charakterisierungen erlaubt in der Endzeitrede häufig Rückschlüsse auf die Kriterien des Gerichts, da Charakterisierungen oft im Vorfeld von Beurteilungen erfolgen. Das häufige Vorkommen von flat characters innerhalb der Erzählungen der Endzeitrede begünstigt zudem die Identifikation der Lesenden mit den Erzählfiguren. Für eine genauere Analyse dieser Identifikationspotentiale haben sich die von Jauß herausgearbeiteten Interaktionsmuster der Identifikation bewährt. Sie werden in den Liedanalysen eine noch größere Rolle spielen, da Liedtexte, wie zu zeigen sein wird, eine noch weiter gehende Identifikation begünstigen, insbesondere im Akt des Singens. <?page no="208"?> 208 Als ein weiterer Aspekt des erweiterten Enzyklopädie-Konzepts hat sich neben den zum affektiven Bereich zählenden Interaktionsmustern der Identifikation auf kognitiver Seite der Blick auf die Sozialgeschichte bewährt. Insbesondere für das Verständnis des bildspendenden Bereichs der Gleichnisse hat sich dieser Zugriff als eminent wichtig herausgestellt, da er u.a. davor bewahrt, ein modernes Verständnis z.B. von Hochzeit oder Sklaverei in die Texte hineinzutragen. Dabei war festzustellen, dass die bestehenden Verhältnisse von den Texten zumeist nicht kritisiert werden; weder die gesellschaftliche Institution der Sklaverei noch für heutige Ohren archaisch anmutende Hochzeitsbräuche werden in Frage gestellt. In den Hintergrund getreten ist gegenüber den genannten Methoden die Untersuchung des Erzählmodus‘, insbesondere der Fokalisierung, da diese für die Endzeitrede meist wenig austrägt. Für die Untersuchung der Intertextualität haben sich die Kriterien zur Bestimmung der Intensität intertextueller Verweise als hilfreich erwiesen, jedoch v.a. im Dienste einer Sensibilisierung für intertextuelle Phänomene. Da nämlich diese Art der Analyse in ihrer Kleinschrittigkeit als solche nicht immer ergiebig ist, wird in den Liedanalysen in dieser Hinsicht weniger kleinschrittig vorgegangen werden. 3.2 Die Funktion der Erzählfiguren innerhalb der Endzeitrede In der Endzeitrede erfolgt die Lenkung der Lesenden vornehmlich durch die Darstellung der Erzählfiguren. Durch Charakterisierungen, z.B. die der jungen Frauen als mwrai, bzw. fro,nimoi (25,2.8), werden den Lesenden deutliche Identifikationsangebote und damit indirekt auch Kriterien der Beurteilung im Gericht vermittelt. Sind diese Charakterisierungen in den Gleichnissen 24,45-51 und 25,1-13 recht eindeutig, ergibt sich für 25,14-30 ein diffuseres Bild, das die Lesenden umso mehr zu Reflexion und eigenständiger Deutung anregt. Ebenso wirkungsvoll ist, dass es sich bei den Erzählfiguren durchweg um wenig komplex dargestellte Charaktere (flat characters) handelt, die häufig durch lediglich eine Eigenschaft oder eine Momentaufnahme ihres Lebens charakterisiert werden. Dadurch sind sie in hohem Maße anschlussfähig für unterschiedliche Arten der Identifikation. So bieten sich Erzählfiguren, die in ihrem Tun nach dem Willen des jeweiligen Handlungssouveräns verfahren - die „treuen“ Sklaven (24,46f.; 25,21.23), die „klugen“ Frauen (25,2-4) und diejenigen, die den „geringsten Geschwistern“ zu Hilfe gekommen sind (25,34-36), den Lesenden zur admirativen Identifikation an. Ihr Handeln erscheint vollkommen - zumindest aus der Perspektive des Handlungssouveräns - und damit erscheinen die <?page no="209"?> 209 Figuren selbst als bewunderungswürdig. Diese Art der Identifikation hängt jedoch wesentlich von der Glaubwürdigkeit des Handlungssouveräns ab, und um diese ist es, wie gesehen, durchaus unterschiedlich bestellt. Eindeutiger ist das Angebot zur kathartischen Identifikation mit denjenigen Erzählfiguren, denen Unglück widerfährt, seien es die Menschen, die in den Wassern der Sintflut umkamen (24,38f.), die Landarbeiter_innen, die zurückgelassen werden (24,40f.), die Sklaven, die harte Strafen erleiden (24,51; 25,30) oder die Frauen, die draußen bleiben müssen (25,12) - und schließlich diejenigen, die den „Geringsten“ nicht geholfen haben und auf die nun die „ewige Strafe“ wartet (25,46). Sie dienen als warnendes Beispiel und können daher einen Impuls zur Veränderung bewirken, einen Impuls zur Reflexion des eigenen Lebens und Tuns. Die Erzählfiguren, die Unglück bzw. Strafe erfahren, sind jedoch ebenso offen für eine sympathetische Identifikation, für Mitgefühl und Solidarisierung. Dies kann mit einer ironischen Identifikation mit dem jeweiligen Handlungssouverän einhergehen, wenn dieser in seiner Grausamkeit als unglaubwürdig und damit nicht mehr als Heldenfigur wahrgenommen wird - so ist es in den drei Gleichnissen 24,45-25,30 durchaus möglich. Anders verhält es sich jedoch in der Endgerichtsszene. Sie fordert die Lesenden zu einer erneuten Reflexion über die Deutung der Gleichnisse und ihre Identifikationspotentiale heraus. Dem Handlungssouverän dieser Szene kommt dadurch, dass verschiedene Textsignale eine Deutung auf Jesus und damit auch auf die Erzählstimme „Jesus“ nahe legen, eine hohe Glaubwürdigkeit zu: „Jesus“ beantwortet die Frage der Jünger nach dem shmei/ on th/ j sh/ j parousi,aj (V.3), indem er die parousi,a tou/ ui` `ou/ tou/ avnqrw,pou (V.27.37.39) vorhersagt und das Erscheinen des shmei/ on tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pou (V.30) ankündigt. Auf diese Weise wird ein Verständnis des Menschensohn-Titels als „eine bestimmte Weise, wie Jesus von sich selbst redet“ 512 nahe gelegt. Gleiches gilt für den Titel ku,rioj) Er steht im Mt-Ev. zunächst als Übersetzung des Jhwh-Namens (1,20; 21,9 u.ö.), jedoch auch für Jesus, der sich als ku, rioj angeredet weiß (7,21f.) und auch als solcher angeredet wird (8,2.6.8.21.25 u.ö.), In der Endzeitrede parallelisiert „Jesus“ den ku, rioj mit dem Menschensohn (24,42-44), so dass die Lesenden auch ku, rioj als Referenz auf „Jesus“ verstehen können, zumal er vom ku,rioj u``mw/ n spricht (V.42; vgl. auch 12,8). In den folgenden drei Gleichnissen (24,45-25,30) fungiert die Bezeichnung somit - mit den o.g. Einschränkungen - als Transfersignal. In der Endgerichtsszene (25,31-46) verbindet „Jesus“ beide Titel endgültig miteinander und mit der Bezeichnung basileu,j : Die Versammelten reden den zuvor als ui` `o.j tou/ avnqrw,pou und basileu,j Betitelten als ku, rioj an (V.37.44). Dieser antwortet - wie zuvor der Bräutigam (V.12) - mit Amen- Worten (V.40.45), die ansonsten nur „Jesus“ selbst verwendet (24,2.34.47). Dadurch werden Herr, Menschensohn, König und Jesus erzählstrategisch 512 Luz, Jesusgeschichte, 128. <?page no="210"?> 210 zusammengeführt und endgültig als Transfersignale identifizierbar, die eine Deutung der mit den genannten Titeln bezeichneten Erzählfiguren auf Jesus nahe legen. Gleichzeitig wird auf diese Weise der nachösterliche Jesus als Erzählfigur, dessen Wiederkunft als Menschensohn-Richter vorausgesagt wird, mit dem vorösterlichen „Jesus“ als Erzählstimme, der seinen Jüngern das Gericht ankündigt, in eins gesetzt. Als „erzählter Erzähler“ schärft er ihnen ein, wie wichtig es ist, sein Wort nicht nur zu hören, sondern danach zu leben - der immer wieder alludierte Intratext 7,21-27 macht dies deutlich - und stellt ihnen damit gleichzeitig eine Hoffnungsperspektive, die basilei,a mit ihrer Gerechtigkeit, vor Augen. In der Rolle der Jünger verbleiben auch die Lesenden bis zum Schluss, d.h. in der Rolle von Lernenden, Fragenden und Suchenden, deren Wissensstand sich durch die Rede zwar erweitert, aber dennoch begrenzt bleibt und immer neues Fragen, immer neue Reflexion notwendig macht. 3.3 Die Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede Die Endzeitrede ist, wie gesehen, erzählstrategisch durch die Fragen der Jünger nach dem Zeitpunkt der Tempelzerstörung und den Zeichen der Parusie und der Vollendung des Zeitalters (24,3) motiviert. Mit der Antwort „Jesu“ beginnt ein fortlaufender Handlungsstrang (24,4b-31; 25,31-46), der durch Beispielerzählungen und Gleichnisse unterbrochen wird (24,32-25,30). Durch diese werden die in der Haupthandlung erzählten Ereignisse gespiegelt, kommentiert und mit weiter gehenden Deutungspotentialen angereichert. „Jesu“ Antwort auf die Frage der Jünger besteht zunächst in überwiegend negativen Bestimmungen. Es gelte, sich nicht verführen und nicht von falschen Zeichen täuschen zu lassen, da es auf das nahe Ende keinerlei Hinweise geben werde. Der Gerichtsgedanke wird erstmals in Mt 24,29-31 durch intertextuelle Allusionen an Jes 13; 34 LXX und an das Joelbuch in die Endzeitrede eingespielt. Damit steht an dieser Stelle die Vorstellung eines Vernichtungsgerichtes im Vordergrund. Es wird häufig innergeschichtlich und partikular gedacht, so dass auf Szenarien wie Naturkatastrophen und Kriege, die oft nur eine bestimmte Gruppe betreffen, Heil und Erlösung für ein vormals unterdrücktes Volk, i.e. Israel, folgen. Jedoch kommen auch endgeschichtliche sowie universale Vorstellungen des Gerichts vor. Die Parusie des Menschensohnes wird durch seine Allusionen an die genannten Texte als Tag Jhwhs stilisiert. Im Gegensatz zu seinen Intertexten stellt Mt 24,29-31 jedoch eine endzeitliche, universale Gerichtsvorstellung vor Augen. <?page no="211"?> 211 Diese wird im Folgenden als Vorstellung eines Scheidungsgerichts entfaltet, erstmals andeutungsweise in 24,40f.: Hier erscheint erstmals die Figurenkonstellation des dramatischen Dreiecks mit einem Handlungssouverän, dessen Existenz sich durch das passivum divinum ausdrückt, und zwei Erzählfiguren, denen ein gegensätzliches Schicksal widerfährt. In diesem „Übergangsteil“ 24,32-44 spielen beide Aspekte, die Universalität des Vernichtungsgerichts und der ungewisse Ausgang des Scheidungsgerichts, eine Rolle. Daher ist dieser Teil von deutlichen Warnungen und Mahnungen zur Wachsamkeit geprägt angesichts der plötzlich und unerwartet eintretenden Parusie, die das Gericht mit sich bringt. Inhaltlich gefüllt werden diese Mahnungen durch die folgenden drei Gleichnisse 24,45-25,30. Ihre Deutung auf das Gericht wird jedoch nicht in erster Linie durch jedes einzelne Gleichnis evident - deren Deutungsoffenheit zeigt sich in der Auslegungsgeschichte, die in dieser Arbeit nur in Ansätzen skizziert werden konnte - sondern durch ihr Zusammenwirken, durch ihre immer wiederkehrende Grundstruktur: Es gibt jeweils eine formale Hauptfigur, den Handlungssouverän, und ein u.U. kollektives, nicht individualisiertes antithetisches Zwillingspaar: Die Sklaven bzw. Frauen. Sie sind die eigentlich Handelnden, die eine Aufgabe zu erfüllen haben. Innerhalb der drei Gleichnisse lässt sich bezüglich der Eigenständigkeit des geforderten Handelns ein Fortschritt ausmachen: Ist es die Aufgabe des Sklaven, auf Anweisung zu handeln, sollen die jungen Frauen, ohne dass es ihnen explizit gesagt würde, konventionsgemäß handeln, indem sie ihre Lampen bereithalten - und von den Sklaven, denen Talente anvertraut sind, wird eigenständiges, verantwortliches Handeln zu ihrer Vermehrung erwartet, ohne dass dies vorher kommuniziert worden wäre. Der jeweilige Handlungssouverän ist abwesend, während die Erzählfiguren handeln. Am Ende kehrt er zurück, beurteilt ihr jeweiliges Vorgehen und entscheidet über ihr weiteres Schicksal, über Lohn oder Strafe. Dabei werden immer zwei mögliche Extremlösungen durchgespielt und damit einhergehend zwei entgegengesetzte Reaktionen des Handlungssouveräns. Der Fokus liegt dabei auf dem negativ bewerteten Handeln, wie sich auch durch die ausführliche Darstellung der Strafe - und zumeist auch ihrer Begründung, die häufig in Dialogen zwischen Handlungssouverän und Beurteilten zum Ausdruck kommt - zeigt. Je öfter sich diese Grundstruktur wiederholt, desto mehr wird sie zum Transfersignal. Die Elemente dieser Struktur werden damit als Einzelzüge herausgestellt, die eine Deutung der einzelnen Gleichnisse als Gerichtsgleichnisse nahe legen. Hierbei kommt besonders die Vorstellung eines Scheidungsgerichtes zum Tragen. 513 Eine solche Deutung begünstigen neben der genannten Grundstruktur auch zahlreiche Stichwortverknüpfungen, die den intratextuellen Bezug der Gleichnisse aufeinander verdeutlichen bzw. verstärken. Ebenso sind sie auf 513 Vgl. auch Ebner, Plädoyer, 224. <?page no="212"?> 212 diese Weise mit ihrem literarischen Kontext und weiteren Textstellen, die ein Scheidungsgericht zum Thema haben - insbesondere Mt 7,21-28 und 13,37-43 - verknüpft und damit auch vor diesem Hintergrund zu deuten. Das wichtigste Stichwort ist die wiederkehrende Bezeichnung ku, rioj für den jeweiligen Handlungssouverän. Dieser handelt machtvoll, aber häufig auch hart und grausam. Daher hat seine Deutung auf den richtenden Jesus in der jüngeren Auslegungsgeschichte Widerstand ausgelöst. Alternative Deutungen sind jedoch zumeist nur möglich, wenn die Gleichnisse aus ihrem literarischen Kontext herausgelöst werden - eine Ausnahme bildet, wie sich gezeigt hat, 25,14-30. Jedoch erfolgt die Rezeption der Gleichnisse zumeist in ihrem literarischen Kontext, wie sich auch in den Liedanalysen zeigen wird. Die Endgerichtsszene (25,31-46), in die die Rede schließlich mündet, nimmt den nach 24,31 unterbrochenen Handlungsstrang wieder auf; die Schilderung der Parusie des Menschensohnes wird fortgeführt. Strukturell und inhaltlich ist sie den vorhergehenden Gleichnissen vergleichbar: 514 Durch die vom Menschensohn vollzogene Scheidung entstehen zwei Gruppen, deren vergangenes Tun und Unterlassen nun beurteilt wird. Anschließend erfolgt ihre Bestrafung; der Eingang in das ewige Feuer, oder Belohnung; die Teilhabe am ewigen Leben. Im Fokus steht jedoch nicht in erster Linie dieser „doppelte Ausgang“, sondern das ausführlich referierte Tun und Unterlassen der Vergangenheit: Hierauf kommt es an. In diesem Gericht geht es um eine Konfrontation mit der Vergangenheit, mit Gelungenem und mit dem eigenen Scheitern, den eigenen Verfehlungen. Belohnung und Strafe sind dagegen lediglich angedeutet. Dies und die als flat characters holzschnittartig gezeichneten Erzählfiguren lassen die Überlegung zu, dass es sich nicht zwingend um ein Urteil handelt, das zwischen Personen unterscheidet, sondern vielmehr zwischen guten und schlechten Taten, zwischen Tun und Unterlassen. Festzuhalten ist schließlich die doppelte Funktion der Endgerichtsszene: Sie ist eine deutliche Warnung vor dem Gericht und fungiert gleichermaßen als Trost für Leidende und Unterdrückte. 514 Ähnlich formuliert es Münch, Gleichnisse, 166: „Die Gleichnisse sind kraft ihres erzählenden Charakters ein Mittel, die Jesusgeschichte auf Vergangenheit und Zukunft der Geschichte Gottes mit den Menschen hin zu öffnen. Strukturell vergleichbar sind sie darin den prophetischen Erzählungen wie 8,11f., 24,4-31 und 25,31-46.“ <?page no="213"?> Dritter Teil: Die Rezeption der Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede in Liedern des Evangelischen Gesangbuchs und deren gottesdienstlicher Gebrauch <?page no="215"?> 215 1 Funktionen und Wirkpotentiale des gottesdienstlichen Singens: Theologische und anthropologische Aspekte 1.1 Einleitung Liedtexte sind in dieser Arbeit bisher als poetische und narrative Texte in den Blick gekommen. Nun kommt ein weiterer Aspekt zur Sprache: Ihre Wirkpotentiale und Funktionen im Akt des gottesdienstlichen Singens. Diese Rezeptionsform ist um einiges aktiver als der Akt des stillen Lesens: Der Text kommt verbaliter zur Sprache, der ganze Körper ist beteiligt. Das Lied steht nicht nur abgedruckt auf dem Papier, sondern es entsteht erst im gemeinsamen Erklingen von Text und Melodie. 1 Im folgenden Kapitel soll es um diesen „Sitz im Leben“ von Gesangbuchliedern, das gottesdienstliche Singen, gehen. Es ist neben privaten Andachten, Chorproben o.Ä. ein Ort, an dem Menschen mit Gesangbuchliedern in Berührung kommen - und häufig der einzige Ort. Die Funktionen und Wirkpotentiale des gottesdienstlichen Singens sind in den Liedtexten teilweise angelegt und sollen daher in den Liedanalysen dieses zweiten Hauptteiles berücksichtigt werden. 1.2 Singen als Sprachschule Kirchenlieder haben das Lob Gottes ebenso zum Thema wie Bitte und Klage, Freude, Trauer und Wut. Sie sind Gebet, Jubel und Provokation. Sie enthalten Glaubensaussagen, die dem eigenen Glauben - gerade in Zeiten der Anfechtung - u.U. weit voraus sind. 2 Auch bereits bekannte und bewährte Lieder können sich dem Einzelnen in jeweils veränderten Situationen wieder neu und anders erschließen und auf diese Situationen übertragen werden. 3 Wer singt, leiht sich Sprache und ist damit nicht mehr auf eigenes, zuweilen dürftig erscheinendes Sprechen angewiesen. Lieder geben Formulierungshilfen für Themen, die Singende selbst nicht formulieren können oder nicht zu artikulieren wagen. Sie sind Trost und Widerspruch zugleich. Wer singt, singt auf Hoffnung hin und nimmt damit „den Mund immer zu voll“. 4 1 Vgl. dazu Reich, Überlegungen, 13. 2 So betont von Reich, Überlegungen, 20: „Ich kann mich in diese Worte, die mein Mund zum Klingen bringt, mit meinem jämmerlichen kleinen Glauben hineingeben und bereithalten dafür, daß im Singen Glauben wachsen kann.“ 3 Vgl. Lieberknecht, Gemeindelieder, 91. 4 Leube, Singen, 18. <?page no="216"?> 216 Auch können Lieder eigene Sprache freisetzen, 5 die eigene Sprache schulen und zur Sprache für Bereiche verhelfen, für die die Singenden selbst vielleicht keine Sprache mehr haben - z.B. die „letzten Dinge“. 6 Im Singen nehmen Menschen probehalber Worte in den Mund, die nicht ihre eigenen sind, sie probieren die Sprache von Glaubenden aus. 7 Durch ein gemeinsam gesungenes Lied wird der gottesdienstlichen Gemeinde zu einer gemeinsamen Sprache verholfen: Auf dem Wege symbolischer Repräsentation stellt es Übereinstimmung her zu dem, was die einzelnen Christen in persönlicher Tiefe schon erfahren haben oder zu erfahren hoffen. Es verleiht ihnen und der ganzen Gemeinde, in der sie sich zusammenfinden, Stimme und Sprache, damit sie gemeinschaftlich ausdrücken können, was sie hält und bewegt. 8 Das gesungene Wort tritt dabei unmittelbar an die Singenden heran. Es kann beunruhigen, aufrütteln und zur Reflexion des eigenen Lebens und Tuns anregen, es kann trösten und verwandeln. „Es wirkt, was es sagt“, 9 es vermag Glauben zu wecken und Trost zu spenden. Damit ist auch bereits die seelsorgerliche Dimension des Singens angesprochen, die im nächsten Abschnitt zum Thema werden soll. 1.3 Seelsorgliche Aspekte des Singens Um die umfassende seelsorgliche Wirkung des Singens wusste bereits Martin Luther 10 ebenso wie Gerhard Tersteegen, der sie folgendermaßen beschreibt: 5 Vgl. Reich, Kirchenlied, 765, sowie Ratzmann, Kirchenmusik, 140, der auf die Gefahr aufmerksam macht, dass dies nicht geschieht, weil die Sprachmuster „im Netz der schönen ästhetischen Form gefangen“ bleiben. „Deshalb ist es gut, wenn sich die Kirchenmusik nicht nur isoliert als Gottesdienst versteht, sondern wenn sie sich als Dimension von Gottesdienst und Gemeinde versteht, wo im Prozess des Einübens, in oder nach Aufführungen immer wieder Wege gesucht werden können, um die Wahrheit in der überlieferten alten Sprache zu suchen und von ihr her unser eigenes Sprechen zu schulen.“ 6 Kurzke, Vorwort, 10, spricht vom „Schatz des schon Formulierten, schon in Verse und Melodien Gegossenen, Zitierbaren..., deren Kunstcharakter überdies vielen Menschen Schutz bietet, denen ein legitimes Bedürfnis nach religiöser Diskretion kein lautes Bekenntnis mehr gestattet“. 7 Vgl. Kurzke, Vorwort, 10. 8 Henkys, Lieder, 16. 9 Reich, Überlegungen, 20. 10 Vgl. dazu Reymaier, Musik, 1620. <?page no="217"?> 217 Das gläubige und andächtige Singen hat auch in Wahrheit etwas englisches [engelhaftes] an sich und schaffet nicht weniger vielen Nutzen, wenn es vom göttlichen Segen begleitet wird. Es besänftiget und stillet die Affekte und unruhigen Gemüthsbewegungen, es vertreibet manches Mal die Trägheit, Traurigkeit und Bekümmerniß des Herzens, es ermuntert, stärket und erquicket den Geist, es zieht den Sinn unvermerkt, ab von den äußern Vorwürfen [Bildern], sammelt und erhebet das Gemüth zur Heiterkeit und Andacht und machet uns demnach geschickter zum wahren Dienste Gottes im Geiste... 11 Singen kann, so wird es hier deutlich, beruhigend und ausgleichend wirken, aufmunternd und stärkend, sammelnd und öffnend. Gerichtslieder jedoch, die u.U. auch Drohpotential enthalten, werden solcherlei Wirkung nur schwerlich erzielen; Aussagen wie …und die Bösen kommen dorthin, wo sie müssen ihr Untugend büßen (EG 5) können vielmehr Angst und Abwehr erzeugen. 12 Daher gilt es, solche Lieder mit Vorsicht einzusetzen. Es kann sogar notwendig sein, sie überhaupt nicht im Gottesdienst singen zu lassen, wenn z.B. die Gefahr besteht, dass sie missbräuchlich Menschen zwingen, unterwerfen, beherrschen oder manipulieren - zum Beispiel durch den übermäßigen Gebrauch von Höllenbildern. 13 In der Verkündigung des Gerichts - und auch Lieder sind, wie noch deutlich werden wird, Verkündigung - sollte weder gedroht 14 noch moralisiert 15 werden. Vielmehr sollte es 11 Gerhard Tersteegen, Traktat 1736/ 1752, zit. n. Rößler, Jahrhundert, 185. Dass solche Effekte jedoch bei der Mehrzahl der Singenden nicht auftreten, weiß und beklagt auch Tersteegen: „Ach! es wird die Langmuth und Geduld des lieben Gottes wohl nirgend mehr auf die Probe gesetzet und verspottet, als bei dem Beten und Singen der heutigen Namchristen. Der Mund spricht von Buße und das Herz stehet nicht in der Buße und begehret nicht Buße, ja weiß oft nicht, was Buße sei...“ (ebd.). 12 Allgemein kann anstatt - wie bisher vorausgesetzt - einer identifikatorischen bzw. ernsthaften Rezeptionshaltung auch eine sogenannte distanzierte Rezeptionshaltung eingenommen werden (vgl. dazu Vollmer Mateus, Pfarrer, 21; Martini, Sprache, 273- 281; vgl. auch Reich, Kirchenlied, 764). Sie ist z.B. auf die historische Distanz der Singenden zu einem Lied zurückzuführen, die sich an seiner Sprache, Poetik und Ästhetik ebenso festmachen kann wie an dem Gesellschaftssystem, dem Menschen-, Welt- oder Gottesbild oder der Theologie und Christologie, die sich in ihm widerspiegeln - also Faktoren, die aus heutiger Sicht möglicherweise nicht mehr „stimmen“, den eigenen Erfahrungen oder dem eigenen Glauben nicht entsprechen (vgl. Martini, Distanz, 201f.). Diese Distanz kann bewirken, dass das jeweilige Lied entweder gar nicht mitgesungen wird - oder mit einer distanzierten Rezeptionshaltung, in der seine Rollenangebote nicht angenommen werden und in der es als fiktionaler Text wahrgenommen wird. 13 Vgl. Dahlgrün, Leere, 672f., in Bezug auf Predigten zum Gericht. 14 Vgl. Dahlgrün, Leere, 679f. Dahlgrüns Begründung, dies widerspreche dem Geist des Evangeliums, bleibt etwas im Ungefähren. Zuzustimmen ist ihr dagegen darin, dass zwar mit dem Gericht nicht gedroht, wohl aber auf die Möglichkeit eines letzten Verlorengehens hingewiesen werden darf. Dadurch werden Menschen auf ihre Verantwortung angesprochen und zur Umkehr aufgefordert. Vor allem aber sollte, so Dahlgrün, nicht mit einladenden Hinweisen auf den „Himmel“ gespart werden. <?page no="218"?> 218 das Ziel nicht nur von Predigten, sondern auch von Liedern sein, die biblischen Gerichtsbilder „so in unsere Zeit hinein zu vermitteln, dass sie keine unangemessenen Ängste erzeugen, wohl aber menschliches Leben und Handeln in Frage stellen, Unrecht und Schuld aufdecken und dazu befähigen, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen“. 16 Richtig eingesetzt, können nämlich auch und gerade Lieder, die das Gericht thematisieren, seelsorglich wirken: Sie können der Konfliktbearbeitung dienen. In Gerichtsliedern findet Zorn ebenso wie Rache- und Vergeltungsphantasien Platz, in ihnen drückt sich das Leiden an einer als ungerecht empfundenen Welt, an einem als passiv erlebten Gott aus. 17 Damit könnten sie ein ähnliches Wirkpotential enthalten, wie es E. Zenger für die biblischen Rachepsalmen herausgearbeitet hat: Der Ruf nach Rache ist nie, so Zenger, für einen ganzen Psalm bestimmend, sondern immer eingebettet in Klage und Bitte um Rettung. Auch handelt es sich hierbei nicht um dogmatische Lehrsätze, sondern um poetische, emotionale Sprache, die Ängste, Aggressionen, Verletzungen und Sehnsucht nach besseren Umständen ausdrücken, die es nicht zu verdrängen, sondern zuzulassen, auszudrücken und im Gebet vor Gott zu bringen gelte, „damit sie nicht urplötzlich die eigenen Hände zur Tat treiben! “ 18 Vielmehr verzichten die Betenden darauf, selbst Vergeltung zu üben, indem sie Gericht und Vergeltung Gott übertragen. Auch sind Rachepsalmen im Kontext des Psalmenbuches und der gesamten Bibel zu betrachten, so dass sie sich „als eine Stimme in dem vielstimmigen Chor der komplexen Rede von und zu Gott“ 19 zeigen. Im Anschluss an Zenger und I. Baldermann hat P. Bukowski 20 das dezidiert seelsorgliche Potential der Rachepsalmen aufgezeigt: Sie können einem Menschen, der aufgewühlt ist, helfen, Wut und böse Worte über andere auszudrücken, so dass er nicht von vornherein dazu verpflichtet ist, die Situation objektiv und von allen Seiten zu betrachten. Er darf Ärger, Zorn und Wut aussprechen und austragen und muss sie nicht von vornherein kontrollieren, er darf sie im Gebet vor Gott tragen - und unterstellt sich damit gleichzeitig Gottes Urteil. Gerade wenn die Formulierungen des Bösen übertrieben sind, hat ein solches Gebet reinigende Kraft, wenn es auch letztlich das Austragen des Konflikts nicht ersetzt. Auch Gerichtslieder werden im Folgenden daraufhin zu untersuchen sein, ob sie solche Wirkpotentiale enthalten oder eher blockieren. Letzteres 15 Dies, so Schoberth, Gott, 64f., verharmlose die Gottesrede, so dass das Gericht nicht mehr als Gericht Gottes deutlich werde. Ebenso wehrt sie eine Dramatisierung ab, da eine solche Individualisierung der Gerichtsvorstellung ebenfalls zur autoritären Moralisierung würde. 16 Sommer, Gericht, 404; vgl. auch Schoberth, Gott, 62. 17 Ähnlich Josuttis, Einführung, 121. 18 Zenger, Mauern, 17. 19 Zenger, Rache, 172f. 20 Vgl. zum Folgenden Bukowski, Bibel, 70-76. Zur Bedeutung von Bibel und religiöser Sprache für die Seelsorge vgl. auch Josuttis, Einführung, 125-130. <?page no="219"?> 219 kann z.B. der Fall sein, wenn die Gerichtsvorstellungen vorschnell mit dem Rechtfertigungsgedanken in Korrelation gebracht werden und daher als solche gar nicht zum Tragen kommen können, oder wenn sie vorschnell Trost spenden, wenn der Angst noch kein Raum gegeben wurde. Mit Scharfenberg/ Kämpfer ist festzuhalten, dass Menschen religiöse Symbole der Tradition zur Bearbeitung von Konflikten benötigen. Symbole können Zugang zu einem tief liegenden, verdrängten Konflikt oder einem traumatischen Ereignis verschaffen, so dass es bearbeitet werden kann. 21 Ein solches Symbol ist die Vorstellung des Gerichts, und deshalb behält sie auch und gerade in Form des gesungenen Wortes ihre Bedeutung. Lieder, die das Gericht thematisieren, können mithin als religiöse Sprache 22 zu einem Prozess beitragen, wie ihn M. Josuttis für Seelsorgesituationen beschreibt: Im Anschluss an Luthers commercium-Gedanken beschreibt er eine „doppelte Fließbewegung“, eine Bewegung des Austauschs, des Abfließens des Alten, Belastenden und des Einfließens des Neuen und Heilsamen: Auf der einen Seite kann ein Abfluß passieren. Ängste werden verbalisiert, traumatische Szenen werden erinnert und überwunden, tiefverwurzelte negative Lebensskripte werden entziffert und neu geschrieben. Das Alte vergeht, das Niederdrückende, das Vergiftete, das Böse kann abgeführt werden, wenn in der Nähe jemand ist, der aktiv zuhört, der aufnimmt und wegnimmt und die schrecklichen Stoffe entsorgt. Auf der anderen Seite kann auch ein Einfluß geschehen. Neue Lebenskraft wird vermittelt, die Szenen der Heilsgeschichte lösen die schrecklichen Erfahrungen ab, die Christusmacht wird präsent, die ein neues Leben ermöglicht. 23 Ein solcher Reinigungs- und Transformationsprozess kann durch das gottesdienstliche Singen befördert werden, durch das Hörbar-Machen des Wortes, das damit noch unmittelbarer an die singende Person herantritt. Mit dieser Schlussfolgerung übereinstimmend spricht Josuttis dem Singen im Gottesdienst eine reinigende Funktion zu: 24 Er beschreibt die traditionellen drei Teile des Gottesdienstes (Gebets-, Wort- und Sakramentsgottesdienst) mit dem mystischen Dreischritt purificatio (Reinigung), illuminatio 21 Vgl. Scharfenberg/ Kämpfer, Symbolen, 46ff. 22 Vgl. dazu Josuttis, Einführung, 125f., der betont: „Die religiöse Sprache redet … nicht nur in archaischer Form von psychischen Gegebenheiten, die wir heute anders bezeichnen. Die religiöse Sprache redet von einer Macht, die man mindestens in religiöser Praxis ernst nehmen muß; denn Religion ist nichts anderes als menschliche Arbeit im Wirkungsfeld dieser Macht.“ (ebd., 126). 23 Josuttis, Einführung, 133. Josuttis verweist zur Erläuterung auf die letzte Strophe aus J. Francks Jesu, meine Freude (EG 396), die genau diesen Prozess beschreibt: Weicht, ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister Jesus tritt herein... 24 Vgl. zum Folgenden Josuttis, Weg, 162f. <?page no="220"?> 220 (Erleuchtung) und unio (Vereinigung). Die Reinigung besteht in der Befreiung von Selbstbezogenheit und Weltverfallenheit, von Ängsten und Sorgen, indem diese vor Gott getragen werden. Sie geschieht durch Lieder, Gebete, Anrufungen und Bekenntnisse. Darauf folgt die Erleuchtung durch das in Schriftlesung und Predigt verkündigte Wort Gottes sowie die Vereinigung im Sakrament des Abendmahls. Generell geht es, so Josuttis, im Gottesdienst darum, dass Menschen „für ihr beschädigtes Leben Heil, Segen und Glück finden können“. 25 Dazu trägt das Singen bei, insbesondere das Singen in gottesdienstlicher Gemeinschaft. Der nächste Abschnitt soll daher über das individuelle Singen hinaus das gemeinschaftsstiftende und transzendenzeröffnende Potential des Gemeindegesangs in den Blick nehmen. 1.4 Singen als Gemeinschaftsstiftung und Transzendenzeröffnung Singen heißt Überschreiten. Wer singt, überschreitet die Grenzen der eigenen Befindlichkeit. 26 Singen ist Darstellung des Selbst, ist Ausdruck von Freude, Trauer, Angst und Schmerz, aber es führt auch über dieses Selbst hinaus in die Gemeinschaft. Im gottesdienstlichen Singen konstituiert sich Gemeinde: „Mit dem ersten gemeinsam gesungenen Lied wird die Gemeinde für alle Beteiligten sinnlich-körperlich evident.“ 27 Stiftet das Singen aber Gemeinschaft, hat es auch eine politische Dimension: Es verstärkt Emotionen einer Gruppe und kann Solidarität und ethisch verantwortungsvolles Handeln hervorrufen. 28 Singen als Gemeinschaftserfahrung kann es aber auch Missbrauch und Manipulation bewirken, es kann Menschen bedrängen. 29 25 Josuttis, Weg, 10. Daran anschließend charakterisiert Zeindler den Gottesdienst als „Feier des Übergangs“, Die Struktur des Übergangs drückt sich sowohl im Gesamtablauf des Gottesdienstes als auch in vielen seiner Elemente aus. Der Übergang bzw. die Umkehr gliedert sich in den Akt der Abkehr und den Akt der Hinkehr und bildet sich in der Konfrontation mit dem Wort als Gesetz und Evangelium ab. Hierin zeigt sich das richtende und rettende Handeln Gottes, das untrennbar zusammengehört und den Übergang von einem alten in einen neuen Lebenszusammenhang ermöglicht. Dieser Übergang ist jedoch immer unabgeschlossen, er bedarf der Wiederholung und geschieht auf Hoffnung hin. So zeigt sich seine eschatologische Dimension, das Schon- Jetzt und Noch-Nicht des Reiches Gottes als eschatologische Vollendung (vgl. Zeindler, Gott, 27-36). 26 Vgl. Leube, Singen, 15. 27 Plüss, Gottesdienst, 259; vgl. auch 220. 28 Vgl. Reymaier, Musik, 1624; vgl. auch Bubmann, Musik, 129. 29 Vgl. Reymaier, Musik, 1624; Plüss, Gottesdienst, 220. Vgl. dazu 1.1 in der Einleitung dieses Buches. <?page no="221"?> 221 Singen stellt Gemeinschaft mit der anwesenden Gemeinde her, 30 aber auch mit den Abwesenden. Die unterschiedlichen Gemeinden sind im Singen derselben Lieder verbunden, sie treten dadurch indirekt in Kommunikation miteinander. Gleiches gilt für die verschiedenen Kirchen und Konfessionen. Der Gemeindegesang hat daher eine ökumenische Dimension. 31 Mehr noch: Der singende Mensch verbindet sich mit Singenden zu allen Zeiten und an allen Orten. 32 Singen bedeutet Teilhabe „an der Freuden- und Leidensgeschichte der Menschen mit Gott“, 33 an der Verletzlichkeit und Angefochtenheit menschlichen Lebens zu allen Zeiten. Im Singen wird die Gegenwart überschritten, der begrenzte Blick auf menschliches Bemühen und Leiden erweitert auf die Vergangenheit und die Zukunft hin. Lieder drücken Gewissheit aus, indem sie die Heilsgeschichte, die rettenden Taten Gottes, vergegenwärtigen, und die Sehnsucht, dass auch in der Gegenwart der Ruf nach Rettung und Heil gehört wird. 34 Singen hat auch eine kosmologische Dimension. Der singende Mensch verbindet sich mit den Engeln und himmlischen Heerscharen. 35 Eine solche Erfahrung beschreibt H. Sundén auf eindrückliche Weise: So erlebte ich es, als der Chor bei der Erinnerungsfeier für Henri Bergson in der Aula der Sorbonne das Requiem von Faurés (sic! ) sang. Es war, als ob sich die Stimmen der Menschen mit denen der himmlischen Heerscharen vermischten und in mir erklängen die Worte des 73. Psalms: ‚Du leitest mich nach deinem Rat Und nimmst mich am Ende mit Ehren an‘ (Vers 24). Als der Gott und Herr des Psalmisten, der Gott und Herr Bergsons aus dem Erlebbaren hervortrat und vor einem bebenden Menschen als sein ‚Herr‘ Gestalt annahm, da war es nicht länger ein ‚Als-ob‘. 36 30 Reich, Kirchenlied, 772, hat betont, dass das Erleben der Gemeinsamkeit nicht „vom gemeinsamen Denken und Empfinden der Beteiligten“ abhängt, sondern nur davon, dass sie in ein gegebenes Lied einstimmen. Die große Bedeutung des Gemeinschaftserlebnisses für die Gottesdienstbesucher_innen beim Gemeindegesang hat J. Kaiser in seiner Studie auch empirisch belegt. Vgl. Kaiser, Erleben, 278. 31 Vgl. dazu Lieberknecht, Gemeindelieder, 44; Neufeld, Bild, 14f.; Reich, Kirchenlied, 771f. 32 Diesem Gedanken verleiht EG 266 Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen Ausdruck: Denn unermüdlich, wie der Schimmer des Morgens um die Erde geht, ist immer ein Gebet und immer ein Loblied wach, das vor dir steht. Vgl. zur universalen Dimension des Singens auch Bubmann, Musik, 130. 33 Schroeter-Wittke, Halleluja, 153. 34 Vgl. Josuttis, Weg, 204. 35 Dies drückt sich v.a. im Sanctus (vgl. Jes 6,3) aus; vgl. Schroeter-Wittke, Halleluja, 202; Josuttis, Weg, 201f. 36 Sundén, Gott, 41. Sundén kommentiert: „Wir können uns beim Lesen dieses Psalms in diese Rolle einleben und die Fragen und Reflexionen des Psalmisten zu unseren eigenen Fragen und Reflexionen machen. Wir können aber auch sagen, daß wir, jeder einzelne, die Rolle des Psalmisten übernehmen“ (ebd., 40). <?page no="222"?> 222 In dieser Hörerfahrung drückt sich eine wichtige Dimension auch des Singens aus: Die Erfahrung von Einheit und Ekstase. Der Rezipient identifiziert sich mit einer Rolle und geht darin auf. Durch die Musikrezeption wird eine Transzendenzerfahrung ermöglicht, die Musik wirkte präparativ dafür. Auch der Gemeindegesang hat eine präparative Funktion, er kann öffnend wirken für die Begegnung mit dem Heiligen. 37 Speziell das Eingangslied verhilft gemeinsam mit dem (Orgel)vorspiel zur Überschreitung der „Schwelle zwischen Alltag und Gottesdienst, Individualität und Gemeinschaft, Selbst- und Gottesbezug“ und bereitet einen „Möglichkeitsraum für religiöse Erfahrungen“ 38 vor. In den Liedern selbst werden Gottesbegegnungen inszeniert, 39 in denen die Singenden unterschiedliche Rollen einnehmen. 40 Im Singen erinnern und vergegenwärtigen sie gemeinsam Gottes Taten und antworten auf sie. Damit ist auf eine weitere Dimension gottesdienstlichen Singens verwiesen: Die Verkündigung. 1.5 Singen und Verkündigung Also ist nu im newen Testament ein besser Gotts dienst, dauon hie der Psalm sagt, Singet dem HERRN ein newes lied, Singet dem HERRN alle welt. Denn Gott hat unser hertz und mut frölich gemacht, durch seinen lieben Son, welchen er für uns gegeben hat zur erlösung von sunden, tod und Teuffel. Wer solchs mit ernst gleubet, der kans nicht lassen, er mus frölich und mit lust dauon singen und sagen, das es andere auch hören und herzu komen. 41 Gottesdienstliches Singen ist Verkündigung, ist „Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln“ 42 und geht gleichzeitig weit darüber hinaus. Im Singen antwortet die Gemeinde auf die Predigt, im geistlichen Lied wird „genau so wie in der Predigt und wie im Sakrament, nur nun eben als Antwort der Gemeinde, das Wort Gottes verkündigt und gehört“, 43 so hat es K. Barth 37 Vgl. Josuttis, Weg, 204. 38 Plüss, Gottesdienst, 219. 39 Vgl. Plüss, Gottesdienst, 221. 40 Diese Rollenübernahme hat immer den Charakter des Ausprobierens, das Gesungene ruft potentiell immer auch den Widerspruch der Singenden hervor. Dann erfolgt das Singen mit Unbehagen oder wird ganz eingestellt, die Singende wird zur Zuschauerin, sie fällt gewissermaßen aus der Rolle, ihre Identifikation mit der singenden Gemeinschaft ist dahin. Laut Jauß, Erfahrung, 248, ist eine solche Identifikation ohnehin zwiespältig, denn sie kann „sowohl positiven Falls zum Genuß freien Daseins gelangen als auch negativen Falls ín die Unfreiheit kollektiver Identifikation mit archaischen Ritualen zurückfallen“. 41 Luther, Vorrede zum Babstschen Gesangbuch von 1545, 477. 42 Plüss, Gottesdienst, 221, dort kursiv. 43 Barth, Dogmatik 1,2, 279. Die Kritik der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung an der dialektischen Theologie trifft daher nur bedingt den Kern, wenn sie anmerkt, <?page no="223"?> 223 formuliert. Singen hat demnach einen responsiven und gleichzeitig einen kerygmatischen Charakter, es ist Verkündigung, Bekenntnis und Zeugnis. Im Gesang übt die Gemeinde das Priestertum aller Glaubenden aus und partizipiert auf ihre Weise aktiv am Gottesdienst. 44 Sie ergreift selbst das Wort und übt „ihre Mündigkeit in der Mündlichkeit“ 45 aus, wird öffentlichkeitswirksam und vergewissert sich ihres eigenen Glaubens: Kirchenlieder wirken als Sprachrohr des Glaubens in die Öffentlichkeit hinein. In gottesdienstlicher Musik wird die kirchenjahreszeitliche Prägung durch entsprechende Lieder und Musikwerke erfahrbar, oder es wird die eigene konfessionelle Identität in Bekenntnisliedern und konfessionsspezifischem Liedgut gestärkt. 46 Im Singen der Gemeinde gewinnt das Wort Gestalt, wird hörbar und erfahrbar für Singende und Zuhörende. 47 Das Singen eröffnet Zugänge zur biblischen Botschaft und nimmt Singende wie Zuhörende in diese Botschaft mit hinein. 48 Im Gegenüber zu Schriftlesung und Predigt ist das Kirchenlied pointierter, es spitzt Glaubensinhalte zu, macht sie memorierbar. Es bietet, wenn es im Gottesdienst gesungen wird, „ein Substrat aus diesem für den Gottesdienst des Lebens“. 49 In dieser Eigenschaft liegt m.E. auch der Grund dafür, dass bereits die Reformatoren seine katechetische Funktion betonten. 50 Jedoch ist der Gemeindegesang nicht auf seine kerygmatische und katechetische Funktion zu reduzieren. 51 Eine solche Reduktion stellt eine Verzweckung des Singens dar, eine Funktionalisierung, die mit der von Luther im obigen Zitat betonten Freude über die Taten Gottes, aus der der Gesang dass Singen selbst Verkündigung und nicht nur Antwort sei. Vgl. zur Sache Kennel, Musik, 85f. 44 Vgl. Bubmann, Musik, 130; Leube, Singen, 16, Rößler, Lied, 46. 45 Rößler, Lied, 46. 46 Bubmann, Musik, 130. 47 Vgl. Reich, Überlegungen, 17. 48 Vgl. Eibach/ Eibach-Danzeglocke, Kirchenmusik, 157. 49 Rößler, Lied, 46. 50 Vgl. dazu Plüss, Gottesdienst, 221. Die katechetische und kerygmatische Funktion geistlicher Lieder betont auch N. L. Graf von Zinzendorf. Er ist der Überzeugung, dass die in der Brüdergemeine abgehaltenen Singstunden „nach dem Heiligen Abendmahl das Wichtigste sind und allen Lehrstunden weit vorgehen“, und zwar deshalb, weil die „Gemeine... die Schriftwahrheiten durchsingen und sie dadurch lebhaft machen kann“ (Zinzendorf, Synode 18.11.1750, zit. n. Rößler, Jahrhundert, 183). An anderer Stelle verdeutlicht Zinzendorf, dass die Singstunden von größerer Bedeutung seien als die Predigt: „Und wenn der Geist zusammentrifft, so sind die Singstunden und Liturgien allen Reden und übrigen Gemein-Gelegenheiten vorzuziehen, und solange noch die Singstunden in einer Gemeine frequent [häufig] sind, wenn auch allenfalls den Bänken gepredigt würde, so ist der Geist noch nicht weg...“ (Jüngerhaus-Diarium 11.9.1758, 224f., zit. n. Rößler, Jahrhundert, 183). 51 Vgl. Plüss, Gottesdienst, 221. <?page no="224"?> 224 erwächst, nur noch wenig zu tun hat. Ein gutes Beispiel einer solchen Funktionalisierung findet sich im Vorbericht zum Württembergischen Gesangbuch von 1791, das von der Aufklärung geprägt ist. Geistliche Lieder seien, so heißt es dort, ein leichtes und sehr wirksames Mittel, die Religion auszubreiten und zu erhalten, und christliche Einsichten und Kenntnisse, christliche Empfindungen, Entschlüsse, Tröstungen, Hoffnungen und Freuden zu befördern. … Sie dienen, die Glut der Andacht zu verstärken, und den Geist der christlichen Eintracht und der Bruderliebe zu nähren. Sie können die Gemeine jedesmal zu aufmerksamer und nüzlicher Anhörung der Predigt, und zur Empfindung der Würde, Kraft und Wohlthätigkeit der göttlichen Lehren stimmen, und die Gemüther hinauf zu Gott erheben... 52 Wird das Singen derartig als Mittel zum Zweck angesehen, besteht die Gefahr, dass es seinen Eigenwert verliert, denn Singen ist eigentlich zweckfrei und geht über jede Funktionalisierung hinaus. Aber dies ist nicht das einzig Problematische an der Bestimmung des Singens als Verkündigung und Katechese. Der Begriff der Verkündigung - und mit ihm auch der Begriff der Katechese, was aber hier nicht geleistet werden soll, da es mir vornehmlich um den Gottesdienst zu tun ist - ist vielmehr als solcher zu problematisieren, denn er impliziert eine Mitteilung in eine Richtung, die von einer aktiven Senderin an passive Empfänger gerichtet wird. Genau dies ist im Gemeindegesang jedoch nicht der Fall: Niemandem, auch nicht der Predigerin, kommt eine herausgehobene Rolle zu, sondern alle singen (im Idealfall) gemeinsam. Jede_r einzelne nimmt gleichzeitig die Rolle der Erzählstimme und der Erzähladressat_innen ein, d.h. die Rolle der Verkündigerin und der Empfänger_innen der Verkündigung. Das Singen und Sagen des/ der Einzelnen geht mit dem Hören einher. Nicht nur die Predigt, sondern auch der Gemeindegesang ist daher mit E. Langes Begriff der „Kommunikation des Evangeliums“ zutreffender umschrieben, weil er die wechselseitige Vermittlung betont. 53 Auch wenn das jeweils gesungene Lied in der Regel vorgegeben ist und damit eventuell bestimmte Zwecke verfolgt werden - z.B. die Einstimmung auf den Gottesdienst oder die Vermittlung bestimmter Inhalte - liegt das Singen selbst in der Verantwortung der gesamten Gemeinde; sein Klang, seine Lautstärke, ob es überhaupt zu Stande kommt: Ohne Gemeinde kein Gemeindegesang. Wird der Gemeindegesang also als Verkündigung mit eigenen Mitteln bezeichnet, liegt genau in diesen „Mitteln“, nämlich dem Wesen des Gesangs selbst, die Pointe: Im Singen liegt Reziprozität, in der sich das Gegenüber von Verkündigerin und Verkündigungsempfängern auflöst. Im Singen 52 Hier nach der zweiten Auflage *Stuttgart 1792 zit. n. Rößler, Jahrhundert, 204. 53 Mit Kennel, Musik, 85. <?page no="225"?> 225 werden sie zur Gemeinde und damit zum Gegenüber Gottes, auf dessen Wort sie mit Gesang antworten und es dadurch wiederum verkündigen. 54 Dies tun sie mit Worten, die ihnen möglicherweise bekannt und vielleicht angeeignet, aber doch immer geliehen sind und den Singenden mit einer gewissen Fremdheit gegenüberstehen. Es ist keine Alltagssprache, in der hier kommuniziert wird, sondern poetische Sprache. Daher bedarf der Begriff der „Kommunikation des Evangeliums“ im Hinblick auf das Singen einer Erweiterung. Eine solche hat M. Meyer-Blanck im Anschluss an E. Lange und F. Schleiermacher für die Gesamtheit des Gottesdienstes formuliert: Gottesdienst ist „Dialog mit Gott im Medium menschlicher Mitteilung und Darstellung“. 55 Evangelium wird im Singen nicht nur kommuniziert, sondern inszeniert - in poetischer Sprache und im Klang, in der Gemeinsamkeit des Singens und im Zusammenspiel von Singen und Hören, von Mitteilen und Empfangen. So lässt sich auch der Gemeindegesang als eine Form solcher Mitteilung und Darstellung auffassen, als eine Form gemeinsamen Handelns, in dem sich Menschen die Botschaft des Evangeliums gemeinsam aneignen und sich ihrer vergewissern. 56 Im Gottesdienst greifen anabatische und katabatische Züge ineinander: Der „Abstieg“, die Zuwendung Gottes zu den Menschen, und der „Aufstieg“, die menschliche Zuwendung zu Gott. In der Zuwendung zu Gott erfahren Menschen Gottes Zuwendung zu ihnen. 57 Im Singen wenden sie sich an Gott mit Worten, die seine Zuwendung zu den Menschen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft thematisieren. Diese Worte sind nicht ihre eigenen, sie sind ihrem Leben und Erleben vorgängig, werden aber im Singen mit diesem in Beziehung gesetzt und somit angeeignet. Insofern lässt sich mit J. Block das gesungene Wort als „Gabe, die an Liturg und Gemeinde handelt“, 58 verstehen. 54 Ähnlich Lieberknecht, Gemeindelieder, 49, der in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Zeitgemäßheit betont. 55 Vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 25, Hervorhebung ebd. In seinem Gottesdienstverständnis verbindet Meyer-Blanck die Ansätze F. Schleiermachers (Gottesdienst als „mitteilende Darstellung“), E. Langes (Gottesdienst als „Kommunikation des Evangeliums“) und M. Luthers (vgl. dazu Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 26-40). 56 Das Evangelium von der „umfassenden Befreiung des Menschen“ versteht Meyer- Blanck als „die Wirklichkeit …, die dem gemeinsamen Verstehen zugleich vorausliegt und sich jeweils neu daraus ergibt“, d.h. die Wirklichkeit, die durch die gemeinsame Mitteilung und Darstellung jeweils neu entsteht (vgl. Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, 38.40). 57 Vgl. Meyer-Blanck, Liturgie, 42; ders., Gottesdienstlehre, 123. 58 Block, Verstehen, 187. <?page no="226"?> 226 1.6 Fazit und Ausblick Das gesungene und das gesprochene Wort weisen Gemeinsamkeiten, aber auch fundamentale Unterschiede auf - dies hat sich v.a. in dem Abschnitt „Lieder als Sprachschule“ gezeigt. Welche Wirkpotentiale das gesungene Wort auf Seiten der Singenden hat, sollte in diesem Kapitel aufgezeigt werden. Die Überlegungen zum Singen als Gemeinschaftsstiftung und Transzendenzeröffnung stellen eine Erweiterung der Jaußschen Interaktionsmuster der Identifikation dar, die auch für die Liedanalysen eine entscheidende Rolle spielen werden. Wichtig werden für die Analysen auch die aufgezeigten seelsorglichen Aspekte sein, die sich häufig konkret an einzelnen Liedern zeigen lassen. Gleiches gilt für den Aspekt der Verkündigung, der in vielen Liedern angelegt ist, und zwar als Form gemeinsamen Handelns der Singenden, die gleichzeitig Gebende und Empfangende sind. <?page no="227"?> 227 2 Mt 24-25 und das Thema „Gericht“ im Gottesdienst und im Kirchenjahr 2.1 Einleitung Das folgende Kapitel widmet sich der Verwendung der Lieder im Gottesdienst sowie ihrer Einordnung in das Kirchenjahr. Zu diesem Zweck soll zunächst der Ort der Lieder im Ablauf des Gottesdienstes im Allgemeinen sowie im Blick auf das Gerichtsthema bestimmt werden. Diese Bestimmung ist grundlegend für Aspekte „liturgischer Intertextualität“, die in den Liedanalysen zum Tragen kommen sollen, d.h. das Zusammenwirken eines Liedes mit den anderen gottesdienstlichen Stücken, wodurch es zu einer gegenseitigen Auslegung und Sinnbereicherung kommt. 59 Es folgen allgemeine Überlegungen zum Kirchenjahr sowie eine Einordnung des Gerichtsthemas in dasselbe. Eine besondere Rolle spielen hierbei das Ende des Kirchenjahres und die Adventszeit als „Hauptzeiten“ des Gerichtsthemas im Kirchenjahr, zu denen die Perikopenordnung 60 zahlreiche, v.a. matthäische Texte zu diesem Thema vorsieht. Weil diese Zeiten jedoch von einer Vielzahl theologischer und lebensweltlicher Themen geprägt sind, die teilweise in Konkurrenz stehen, sollen auch Möglichkeiten in den Blick kommen, das Thema „Gericht“ zu anderen Zeiten des Kirchenjahres zu verorten. Die Überlegungen zum Kirchenjahr eröffnen die Möglichkeit, für die in den folgenden Kapiteln analysierten Lieder Wirkpotentiale aufzuzeigen, die sich durch ihren Gebrauch während der unterschiedlichen Zeiten des Kirchenjahres abzeichnen. Sie bilden außerdem die Grundlage für die Frage, für welche Zeiten im Kirchenjahr die nachfolgend analysierten Lieder geeignet oder gerade nicht geeignet sind. 2.2 Der Ort der Lieder im Gottesdienst Im Wesentlichen sind es vier Orte, an denen Lieder im Gottesdienst vorkommen: Das Eingangslied, das Hauptbzw. Wochenlied, das Predigtlied und das Schlusslied. Das Eingangslied dient der Einstimmung und Hinfüh- 59 Vgl. zur liturgischen bzw. gottesdienstlichen Intertextualität Körtner, Gestalten, 176; Melzl, Schriftlesung, 308-339. 60 Wohl wissend, dass sich eine erneuerte Perikopenordnung in der Erarbeitungsbzw. Erprobungsphase befindet, nimmt diese Arbeit Bezug auf die momentan in der EKD gültige Ordnung von 1977/ 78, wie sie auch im Evangelischen Gottesdienstbuch (EGb) verzeichnet ist. <?page no="228"?> 228 rung, das Schlusslied leitet zur Sendung und zum Segen über. 61 Weder für das eine noch für das andere eignen sich Lieder mit theologisch anspruchsvollen und teilweise anstößigen Themen wie dem Gericht. Anders das zwischen Epistel und Evangelium platzierte Hauptlied. 62 Es ist in den Verkündigungs- und Bekenntnisteil eingebettet, 63 in dem die heiligen Schriften, die Bekenntnisse und auch die Lieder selbst von früheren Gotteserfahrungen berichten. Sie zeugen somit von der Suche der Vorfahren nach ihrem Ursprung, schaffen Verbundenheit mit ihnen und öffnen durch ihre Verheißungen den Blick für die Zukunft. Und schließlich schafft beides, der Blick auf den Ursprung und der Blick auf die Zukunft, Distanz zur Gegenwart. Wünschenswert ist es, wenn an dieser Stelle das jeweilige Wochenlied gesungen wird, das Epistel und Evangelium verbindet und jährlich wiederholt wird. Ein weiterer möglicher Ort für anspruchsvollere Lieder ist das Predigtlied, in dem die Gemeinde in Form von Dank, Bitte oder Bekenntnis auf die Predigt antwortet und das Bezug auf die Predigt bzw. ihren Kerngedanken nimmt. 64 2.3 Zum Kirchenjahr Das Kirchenjahr ist strukturiert: Zum einen durch die Sonntage, zum anderen durch die Festzeiten. Beides hat unterschiedliche Auswirkungen, die im Folgenden kurz dargelegt werden sollen. Die Sonntage stellen eine rhythmische Unterbrechung des linearen Alltags dar. Theologisch sind sie durch die Feier der Auferstehung und des erwarteten Kommens Gottes gekennzeichnet. 65 Geprägt sind die einzelnen Sonntage des Kirchenjahres durch die jeweiligen Evangelien- und Episteltex- 61 Vgl. Rößler, Lied, 51f.; zum Eingangslied vgl. auch Plüss, Gottesdienst, 219. Vorausgesetzt ist dabei eine vierteilige Grundstruktur des Gottesdienstes, wie sie auch das EGb vorsieht: A: Eröffnung und Anrufung, B: Verkündigung und Bekenntnis, C: Abendmahl, D: Sendung und Segen (vgl. auch die Erläuterungen in EGb, 32-35). Meyer- Blanck, Inszenierung, 51, interpretiert die vier Schritte des Gottesdienstes anthropologisch als „Reflexion des Ursprungs, Geschichtlichkeit, Sozialität und Verantwortung des Menschen“. Josuttis, Weg, 160-163, plädiert dagegen für eine dreiteilige Struktur, die seiner Interpretation des Gottesdienstes als Weggeschehen zugrunde liegt. 62 Rößler, Lied, 52 bezeichnet das Wochenbzw. Graduallied so, „weil hier zentrale, schwergewichtige, geschichtsträchtige Kirchenlieder im Gebrauch und im Bewußtsein der Gemeinde erhalten werden sollen. Die grundsätzliche Bindung des Liedes an Bibel, Verkündigung und Bekenntnis wird an dieser Stelle gottesdienstlich evident; die regelmäßige Wiederholung wirkt traditionsbildend und stabilisierend.“ 63 Vgl. zum Folgenden Meyer-Blanck, Inszenierung, 49. 64 Vgl. Rößler, Lied, 52. 65 Vgl. Gutmann, Zerstörung, 5. <?page no="229"?> 229 te. 66 Auch sind ihnen Wochenlieder zugeordnet. Diese sind nicht nur „erinnerungsgesättigt“ 67 sind, sondern bergen auch die Chance, dass vermeintlich unpopuläre, nicht dem jeweiligen Zeitgeist entsprechende Lieder nicht in Vergessenheit geraten und. Somit kann bei der Liedauswahl eine Vielfalt an stilistischen Epochen und theologischen Inhalten gewahrt bleiben, anstatt lediglich z.B. eingängig erscheinende Lieder zu verwenden. In der gegenwärtigen Diskussion gibt es die Tendenz, das Kirchenjahr nicht primär aus seiner linearen, an den Sonntagen orientierten Struktur heraus zu verstehen, sondern es nach seinen Festzeiten zu strukturieren. Das Kirchenjahr wird demnach in vier Festkreise gegliedert. 68 Diese Überlegungen tragen u.a. dem Phänomen Rechnung, dass nicht mehr der regelmäßige Besuch der Sonntagsgottesdienste die Regel ist, sondern der Gottesdienstbesuch zu den Festtagen. 69 Dieser hat seine eigene, oft auch individuelle Regelmäßigkeit und betrifft neben Weihnachten und Ostern z.B. auch Gottesdienste zum Jahreswechsel, Erntedankfest und Toten-/ Ewigkeitssonntag. Als Reaktion hierauf sind die Bestrebungen zu verstehen, das Kirchenjahr stärker mit dem Jahreskreis zu verbinden und deutlicher auf gelebte Jahresrhythmen und Übergänge zu beziehen. 70 Mit der Strukturierung nach Festzeiten korrespondiert die Beobachtung, dass Kirchenlieder zuweilen als „Erkennungsmelodien“ bestimmter Kirchenjahreszeiten fungieren. Über den innerkirchlichen Kreis hinaus sind dies v.a. Advents- und Weihnachtslieder. 71 Die evangelischen Kirchenlieder lassen sich somit als „eine (sic! ) der stärksten Zeitzeichen des Kirchenjahres“ 72 bezeichnen. Ob das Kirchenjahr nach Sonntagen oder nach Festzeiten strukturiert wird: Seine Symbolik enthält elementare Lebensthemen wie „Leid und Tod, Schuld und Identität, Gemeinschaft und Trennung, Erwartung und Erfül- 66 Vgl. zur Entwicklung der Leseordnungen Bieritz, Kirchenjahr, 74-76 sowie Friedrichs, Glauben, 2f. 67 Vgl. Meyer-Blanck, Inszenierung, 85, der betont: „Der langfristigen Erinnerung sollte man ruhig mehr zutrauen als dem eigenen Einfallsreichtum.“ 68 Hierbei handelt es sich um den Weihnachtsfestkreis (Advent bis Epiphanias), den Osterfestkreis (Passionszeit bis Himmelfahrt), Pfingsten (Pfingstfest bis Johannis) und die „Späte Zeit des Kirchenjahres“ (Michaelis bis Toten-/ Ewigkeitssonntag); vgl. Liturgische Konferenz, Kirchenjahr, 48; Fechtner, Rhythmus, 58-60; Rödding, Kirchenjahr, 17. 69 Nachdem die praktisch-theologische Wissenschaft Festtagskirchgänger_innen lange Zeit geschmäht hat, ist das Phänomen inzwischen zu Recht rehabilitiert worden; vgl. Fechtner, Rhythmus, 48; ebenso Cornehl, Zeit, 282. 70 Neben dem 1. Advent und dem Jahreswechsel werden hier z.B. Urlaub und Schuljahresbeginn genannt; vgl. Fechtner, Rhythmus, 60; Liturgische Konferenz, Kirchenjahr, 49. Es gelte, „das Kirchenjahr in seinen Grundzügen transparent werden zu lassen für diejenigen, die punktuell daran teilhaben, und das Kirchenjahr darauf hin auszulegen und auszugestalten, dass es immer wieder unterschiedlichen Anlass gibt, Gottesdienst mitzufeiern“ (ebd., 58). 71 Vgl. Fechtner, Rhythmus, 44. 72 Fechtner, Rhythmus, 45. <?page no="230"?> 230 lung“, 73 die sich in seinen unterschiedlichen Themen und Zeiten, Texten und Liedern widerspiegeln. Dies soll im Folgenden in Bezug auf das Gerichtsthema näher in den Blick genommen werden. 2.4 Mt 24-25 und das Gerichtsthema im Kirchenjahr 2.4.1 Das Ende des Kirchenjahres 2.4.1.1 Zum Ende des Kirchenjahres Das Thema der letzten drei Sonntage des Kirchenjahres ist die Besinnung auf das Ende aller Dinge: Den Tod und die Hoffnung auf das Reich Gottes (drittletzter Sonntag), das letzte Gericht (vorletzter Sonntag) und das ewige Leben (letzter Sonntag). Zur Sprache kommt neben dem Tod, dem Protest gegen ihn und die Erinnerung an die Verstorbenen auch die Mahnung und die Forderung von Verantwortung sowie die Verheißung einer Zukunft im Kommen Jesu Christi. 74 Zu Recht wird vielfach angeregt, das Ende des Kirchenjahres bewusst zu gestalten und als Einheit anzusehen. So empfiehlt die Liturgische Konferenz, die „späte Zeit des Kirchenjahres von Erntedank (Michaelis) bis Toten-/ Ewigkeitssonntag … als thematischen Zusammenhang zu komponieren, der die Ambivalenz des Lebens austrägt und integriert“. 75 Auch P. Cornehl weist auf den Zusammenhang von Volkstrauertag, Buß- und Bettag und Totensonntag hin, deren Gehalt - „Tod und Sterben, kollektive und private Trauer, der Aufruf zur Umkehr und das Engagement für den Frieden“ - nicht nur innerkirchlich, sondern allgemein bedacht werden sollen, da sie „öffentliche Dimensionen gelebten Glaubens“ 76 darstellen. Von besonderer Relevanz für das Gerichtsthema sind der vorletzte und der letzte Sonntag des Kirchenjahres, die im Folgenden genauer in den Blick kommen sollen. Der drittletzte Sonntag, der ihnen vorausgeht, führt bereits durch die im Evangelium Lk 17,20-24 vermittelte Frage nach dem Zeitpunkt der Parusie in die Gerichtsthematik ein. Auch der Buß- und Bettag spielt mit seinem Ruf zur Buße und Umkehr in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle, wenn auch mit anderem Schwerpunkt. 73 Liturgische Konferenz, Kirchenjahr, 56. 74 Vgl. Rödding, Kirchenjahr, 18.92. 75 Liturgische Konferenz, Kirchenjahr, 48. 76 Cornehl, Zustimmung, 302. <?page no="231"?> 231 2.4.1.2 Der vorletzte Sonntag des Kirchenjahres / Volkstrauertrag Thema dieses Sonntags ist das Weltgericht, wie es im Sonntagsevangelium Mt 25,31-46 angesagt ist. Bereits der Wochenspruch 2 Kor 5,10 verdeutlicht die wichtigsten thematischen Aspekte des Sonntags: Es geht um Jesus als Weltenrichter und damit um die Verantwortung der Menschen. 77 Die Hoffnung, die sich mit der Parusie für die seufzende Schöpfung verbindet, ist das Thema der Epistel Röm 8,18-23. Den Ablauf der Endzeitereignisse, wie sie im Matthäusevangelium geschildert werden, führt auch das Wochenlied EG 149 Es ist gewisslich an der Zeit vor Augen. Der vorletzte Sonntag ist also der „Gerichtssonntag par excellence“ mit mahnenden, aber auch hoffnungsvollen Aspekten. Auf denselben Sonntag fällt der Volkstrauertag. In den 20er Jahren als Feiertag zum Heldengedenken am Sonntag Invokavit eingeführt, wurde er während der NS-Zeit aus dem Kirchenjahr herausgenommen und 1952 in der BRD als staatlicher Feiertag am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres wieder eingeführt. 78 Er wird mit dem Besuch von Ehrenmälern für gefallene Soldaten begangen, häufig aber auch als Friedenssonntag zur Erinnerung an Opfer von Krieg und Gewalt sowie als Mahnung zum Frieden und zur Versöhnung. Auch der Volkstrauertag besitzt also einen mahnenden Charakter. 79 Daher wird vielfach und auf verschiedene Weise die thematische Verbindung von Weltgerichtssonntag und Volkstrauertag versucht. So betont z.B. R. Wieloch, „dass es beim geschichtlich erinnernden Rückblick auf die Opfer immer auch den Blick auf die Täter geben muss; und die sind mitten unter uns, u.U. ist sogar in jedem von uns ein Stück weit ‚Täter‘ zu finden“. 80 Also gelte: „Am Volkstrauertag ist nicht nur der Opfer zu gedenken, sondern auch derer, die zu Tätern/ Verantwortlichen wurden bzw. werden. Längst nicht alle sind sich ihrer Täterschaft/ Verantwortlichkeit bewusst. Weder in der Geschichte, noch in der Gegenwart.“ 81 Umso deutlicher sei der Wochenspruch zu hören, dass am Ende alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen (2 Kor 5,10). Eine andere Perspektive beleuchtet A. Obert: Sie sieht die Verbindung zwischen Volkstrauertag und der Endgerichtsszene Mt 25,31-46 im Thema „Krieg“: Krieg, so Obert, sei die Hölle, die auch heimkehrende Soldaten nicht loswerden. In dieser Hölle könne aber auch Barmherzigkeit aufleuchten in der Zuwendung zu den „Geringsten“. 82 Eine Verbindung des Gerichtsmit dem Volkstrauertagsaspekt ist mit Blick auf diese Überlegungen nicht nur möglich, sondern auch wünschens- 77 Vgl. Rödding, Kirchenjahr, 91. 78 Zur Entwicklung des Volkstrauertages vgl. ausführlich Kapust, Beitrag. 79 Vgl. Ruddat, Feste, 137; Rödding, Kirchenjahr, 91. 80 Wieloch, Volkstrauertag, 125. 81 Wieloch, Volkstrauertag, 127. 82 Obert, Volkstrauertag, 126. <?page no="232"?> 232 wert. Durch die Auswahl der Texte der Perikopenordnung eignet sich kaum ein Sonntag so gut für die Thematisierung des Gerichts wie der vorletzte des Kirchenjahres. Auch bewahrt der Gerichtsaspekt im Zusammenhang der Begehung des Volkstrauertages vor einer einseitigen Heldenverehrung und kann hilfreich sein, die Phänomene Krieg und Gewalt in ihrem ganzen Ausmaß in den Blick zu nehmen. 2.4.1.3 Der letzte Sonntag des Kirchenjahres: Ewigkeitssonntag / Totensonntag Der letzte Sonntag wird traditionell als Ewigkeitssonntag begangen, so dass das Kirchenjahr mit dem Ausblick auf das Eschaton endet. Es geht um die Vision der Ewigkeit, des eschatologischen Festmahls, des neuen Himmels und der neuen Erde, wie sie in der Epistel Offb 21,1-17 ausgemalt wird. Das Evangelium von den zehn jungen Frauen (Mt 25,1-13), das auch vom Wochenlied EG 147 „Wachet auf“, ruft uns die Stimme aufgenommen wird, hat einen unübersehbaren Gerichtsaspekt: Den Frauen, die in den Hochzeitsaal hineingelassen werden, stehen diejenigen gegenüber, denen der Zugang verwehrt wird, zu denen der Bräutigam sagt „Ich kenne euch nicht.“ Gleiches gilt für die Predigttexte Lk 12,42-48 (Vom treuen und vom schlechten Sklaven), Mk 13,31-37 (Mahnung zur Wachsamkeit) und 2 Petr 3,(3-7)8-13 (Gewissheit und Erwartung der Wiederkunft Christi). Die Zusammenstellung dieser Texte verdeutlicht, dass „Gericht“ und „Ewiges Leben“ nicht zu trennen sind, sondern das Gericht als Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit vielmehr Voraussetzung des Reiches Gottes ist. Hat der Gerichtsgedanke aber einen solchen Stellenwert, sollte er auch an diesem letzten Sonntag des Kirchenjahres thematisiert werden - zumindest durch die Auswahl der Lieder. Der Ewigkeitssonntag selbst steht jedoch gewissermaßen in Konkurrenz zu einem weiteren Feiertag: 1816 führte König Friedrich Wilhelm III. von Preußen per Kabinettsordre ein „Totenfest“ ein, das mit der Preußischen Agende von 1822/ 23 auf den letzten Sonntag des Kirchenjahres gelegt wurde. 83 Im Folgenden konnten Proteste und Gegenvorschläge 84 nicht verhindern, dass sich das Totengedenken an diesem Tag durchgesetzt hat 85 und als sogenannter Totensonntag auf überzeugende Weise liturgisch ausgestaltet wird: Die Namen der im Laufe des Kirchenjahres Verstorbenen werden verlesen, für jede_n wird eine Kerze angezündet. Für viele Teilnehmende hat ein solcher Totensonntagsgottesdienst einen ähnlichen Stellenwert wie Erntedank oder Karfreitag. 86 Deswegen gilt: Die inzwischen gewachsene 83 Vgl. Zimmermann, Gottesdienst, 456; Cornehl, Zeit, 280f. 84 Vgl. für das 20. Jh. z.B. Knolle/ Stählin, Kirchenjahr, 84; Schütz, Kirchenjahr, 55. 85 Zur Entwicklung vgl. Zimmermann, Gottesdienst, 456f. 86 Vgl. Fechtner, Rhythmus, 142. <?page no="233"?> 233 Tradition des Totengedenkens aufzugeben, wäre in der Tat ein „problematischer antivolkskirchlicher Rigorismus“. 87 Gleichwohl leuchtet der häufig vorgebrachte Einwand ein, das Kirchenjahr sei mit einem eschatologischen Ausblick sinnvoller beendet als mit dem Gedenken der Toten 88 - zumal ein solcher Ausblick die Verbindung zum Advent knüpft (vgl. 2.4.2.1). Wo die Kapazitäten vorhanden sind, sind also zwei getrennte Gottesdienste denkbar. Sinnvoller ist aber die Verbindung beider Aspekte, wie sie auch vielfach praktiziert wird. 89 Eine solche Verbindung muss selbstverständlich mit Vorsicht im Blick auf die anwesenden Trauernden geschehen - aber gerade diese haben oft existenzielle Fragen, mit denen sie in einem „herkömmlichen“ Totensonntagsgottesdienst häufig allein gelassen werden. So geht auch P. Zimmermann, die sich für die rituelle Begehung des Totensonntags stark macht, auf den Zusammenhang zwischen Toten- und Ewigkeitssonntag ein: 90 Es geht ihr um die Vermittlung zwischen Todes- und Trauererfahrungen einerseits und christlicher Verheißung und eschatologischen Vorstellungen andererseits. Eine solche Vermittlung reagiere auf Fragen nach dem Verbleib der Toten und der Verbindung zu ihnen sowie nach einem möglichen Wiedersehen, die Trauernde oft bewegen. Trotzdem, so betont Zimmermann, bleibe die Spannung beider Horizonte bestehen. 91 Speziell der Gerichtsgedanke kann - bei aller seelsorglicher Vorsicht - hilfreich und tröstlich sein im Rückblick auf „schwierige“ Biographien Verstorbener, und zwar nicht in seiner paränetischen, sondern in seiner 87 Cornehl, Zeit, 281. 88 Die Abwehr einer Verdrängung des Ewigkeitsdurch den Totensonntag spiegelt sich auch in dem im Jahr 2000 erschienenen EGb wider. Hier heißt es zum letzten Sonntag des Kirchenjahres: „Wo es üblich ist, an diesem Sonntag der Entschlafenen zu gedenken, sollte der hierauf bezogene Gottesdienst als zusätzlicher Früh-, Predigt- oder Vespergottesdienst (gegebenenfalls am Vortage) gehalten werden. Mit seinen Texten … soll er die Texte des Ewigkeitssonntags im Sonntagsgottesdienst nicht verdrängen.“ (EGb, 406). 89 Vgl. Zimmermann, Gottesdienst, 457, sowie Riese, Ewigkeitssonntag, 151: „In den letzten Jahrzehnten ist der eschatologische Charakter dieses Sonntages in den Vordergrund gestellt worden, in dem das Totengedenken nicht nur einen sehr passenden Ort finden kann, sondern in eine Perspektive gestellt wird, die über gegenwärtiges Fühlen und Erleben hinausgreift.“ 90 Vgl. zum Folgenden Zimmermann, Totensonntag, 213. 91 Vgl. dazu auch Zimmermanns Fazit einer ausführlicheren Darstellung der Thematik: „Es gibt offensichtlich eine große protestantische Scheu, diese Fragen anzusprechen, es gibt theologische Vorbehalte und viel Sprachlosigkeit. Es bleibt den Leuten selbst überlassen, die Verknüpfung zwischen diesen Fragen und ihren persönlichen Gewißheiten auf der einen und den Sprachwelten explizit christlicher Eschatologie auf der anderen Seite herzustellen. Die Interviews zeigen, daß die Verbindung im subjektiven Bewußtsein der Trauernden durchaus gelingen kann und daß sie offenbar dort am ehesten möglich wird, wo in den Gottesdiensten über eine sorgfältige liturgische Gestaltung und eine rituelle Handlung zum Gedenken an die Verstorbenen der Erfahrungsraum weit und mehrdimensional gehalten wird“ (Zimmermann, Gottesdienst, 467). <?page no="234"?> 234 Hoffnungsperspektive: Es dürfen Fragen offen, Dinge ungesagt und ungetan bleiben, wenn das gelebte Leben noch einmal angeschaut und gewürdigt, zurechtgebracht und versöhnt wird. 92 Mit einem solchen Fokus ist die Verbindung von Toten- und Ewigkeitssonntag gut denkbar. Sie kann dem Totensonntagsritual eine Tiefe verleihen, die über ein reines Totengedenken hinausgeht und damit auch der Dimension des Ewigkeitssonntags Rechnung trägt. 2.4.2 Die Adventszeit 2.4.2.1 Zur Adventszeit In der Adventszeit bereiten Menschen sich vor. Sie ist geprägt von der Erwartung, von einer „Religiosität der Sehnsucht“, 93 die z.B. in der Sinnlichkeit und Nostalgie der Weihnachtsmärkte zum Ausdruck kommt. Es ist die Ankunft Jesu Christi, die die Adventszeit theologisch ausmacht, die Erwartung der Feier seiner Geburt, aber auch die Erwartung seines Wiederkommens und des endgültigen Kommens des Reiches Gottes. Was diese Erwartung, eigentlich beinhaltet, gilt es dabei zu erinnern und immer wieder neu zu entwickeln. Die biblischen Gerichtsvorstellungen sind hierbei eine Unterstützung, es gilt, sich auch mit ihnen in Bezug auf diese Erwartung auseinander zu setzen. Durch diese Erwartung ist die Adventszeit thematisch mit dem Ende des Kirchenjahres verknüpft, das damit gleichsam zum „‘Präludium‘ des ganzen Kirchenjahres“ 94 wird. Die Reich-Gottes- und Gerichtsthematik ist hierbei das verbindende Element. Sie wehrt einer Vereinseitigung und Verkitschung der Adventszeit, 95 die „in vielfältiger Weise eine Zeit der Erinnerung 92 Eine solche hoffnungsvolle Vision entwirft Frettlöh, Fest, 11, in ihrer Betrachtung zu EG 258 Zieht in Frieden eure Pfade: „Die Toten sollen im Lebensraum der Gnade des groß(zügig)en Gottes Leben zur Genüge haben: Wo Scheitern war, wird Gelingen sein. Verkehrtes wird zurecht gerückt. Was versäumt wurde, kann nachgeholt werden. Abgebrochenes wird wieder aufgenommen. Fragmentarisches wird ganz. Schulden werden beglichen, Schuld vergeben. Verletzungen heilen. Angefangenes kommt zu einem guten Ziel. Die Verstorbenen werden in einem umfassenden Sinne von Gott nach dem Tod zurecht/ zu ihrem Recht gebracht. Ihnen widerfährt Genugtuung. Gott hat eine eigene Geschichte mit ihnen.“ 93 Fechtner, Rhythmus, 73; im Original kursiv. 94 Schütz, Kirchenjahr, 47, der betont: „Das in Jesus verkündete, mit ihm hereinbrechende und eschatologisch sich vollendende Reich mit seinem Heil und seiner Entscheidung umfaßt das ganze Kerygma des ‚Neuen Testaments‘, ist das ‚Präludium‘ des ganzen Kirchenjahres.“ 95 So Zerfaß, Heiden, 40: „Wo zwischen Glühwein und Geschenkekauf überhaupt noch religiöse Gefühle aufkommen, drehen sich diese meist ausschließlich um den ‚lieben‘ Advent, der in direkter Linie zum ‚holden Knab im lockigen Haar‘ führt.“ Zerfaß macht in Bezug auf den genannten Hymnus eine m.E. generell zutreffende Beobachtung zum grundlegenden Wandel des Weihnachtsverständnisses. Damit sei die Verle- <?page no="235"?> 235 und der Erwartung, der Bereitung und der Buße“ 96 ist und somit mehr umfasst als die Erinnerung des historischen Ereignisses der Geburt Jesu. Thematisch mit dem Ende des Kirchenjahres verbunden sind v.a. die ersten beiden Adventssonntage. 2.4.2.2 Der erste Sonntag im Advent Thema des ersten Adventssonntags ist die Erwartung der Ankunft Jesu „als Richter und Erlöser zugleich“. 97 So erzählt das Sonntagsevangelium Mt 21,1- 9 vom Einzug Jesu in Jerusalem als sanftmütiger König - am Ölberg, dem Ort der Gerichtserwartung, an dem Jesus später im Mt-Ev. seine Endzeitrede halten wird, bereitet er diesen Einzug vor (V.1f.). Das Evangelium vom Einzug in Jerusalem kommt am Palmsonntag noch einmal in der Johannes- Version vor. Auf diese Weise bildet sich im Kirchenjahr ab, dass die Wiederkunft Jesu im Zentrum der christlichen Botschaft steht und jederzeit erwartet wird. 98 Von der Wiederkunft spricht auch die Epistel Röm 13,8-12(13.14): „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen“. Der „Tag“ rekurriert dabei - wie der Ölberg - auf den Tag Jhwhs, den Gerichtstag. Das Wochenlied EG 16 Die Nacht ist vorgedrungen greift in seiner ersten Strophe die Epistel auf. V.a. in seiner letzten Strophe verbindet es den Geburtsmit dem Gerichtsaspekt: Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. / Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt. Die universale Bedeutung des Kommens Jesu für alle Welt thematisiert das alternative Wochenlied EG 4 Nun komm, der Heiden Heiland. gung des Hymnus von Weihnachten in den Advent im 9. Jh. begründet: „Die Kommensbitte musste man dann nicht mehr, zumindest nicht in erster Linie, eschatologisch verstehen, sondern konnte sie auf das bevorstehende Weihnachtsfest beziehen. Weihnachten war somit vom Träger der Erwartung zu ihrem Gegenstand geworden. Das Fest der Erfüllung in Erwartung und der Erwartung aus Erfüllung erscheint nur mehr als reines Fest der Erfüllung. Hatte Ambrosius mit Weihnachten noch zugleich die heilbringende Ankunft in der Krippe von Betlehem und die natürlich als definitiv befreiend erhoffte, aber doch auch - nicht zuletzt vom Gerichtsgedanken her - ambivalente und potentiell sogar bedrohliche Parusie verbunden, machte eine einseitige Konzentration auf die erste Ankunft den Weg frei zum ‚lieben Advent‘.“ Von daher regt Zerfaß an, die in der Liturgie, in Lesungen Gesängen und Gebeten immer noch bewahrte, im allgemeinen Bewusstsein inner- und außerhalb der Kirche aber kaum mehr wahrgenommene eschatologische Dimension des Advents wiederzuentdecken: „Ambrosius könnte uns lehren, auch und gerade an Weihnachten die Spannung von Verheißung und Erfüllung auszuhalten. Dadurch würde der weihnachtlichen Freude kein Abbruch getan - im Gegenteil: Sie erhielte ein ehrlicheres Fundament, das tiefer in der Erfahrung unserer Lebenswirklichkeit verankert wäre.“ (ebd., 55). 96 Bieritz, Kirchenjahr, 183. 97 Rödding, Kirchenjahr, 92. 98 Vgl. Rödding, Kirchenjahr, 98. <?page no="236"?> 236 2.4.2.3 Der zweite Sonntag im Advent Dieser Sonntag hat die Wiederkunft Christi und das Gericht zum Thema. 99 Das Evangelium Lk 21,25-33 (par. Mt 24,29-31) thematisiert die Zeichen der Parusie und das Weltende. Jedoch stehen am Ende nicht Zerstörung und Untergang, sondern das Kommen des Menschensohnes. Ihm können die Christ_innen erhobenen Hauptes entgegen gehen (Lk 21,28; dieser Vers ist auch der Wochenspruch). 100 So wird sein Kommen nicht primär als Bedrohung, sondern als Erlösung verstanden, wie es auch die Epistel Jak 5,7-8 nahe legt, die zur Geduld bis zum Kommen des Herrn mahnt. Sein Kommen ist Anlass zur Freude, so ist es im Wochenlied EG 6 formuliert: Ihr lieben Christen, freut euch nun, bald wird erscheinen Gottes Sohn. Die letzte Strophe äußert die dringende Bitte Ach lieber Herr, eil zum Gericht! / Lass sehn dein herrlich Angesicht, / das Wesen der Dreifaltigkeit. / Das helf uns Gott in Ewigkeit. Hier wird der Ungeduld und der Vorfreude auf den jüngsten Tag Ausdruck verliehen. Die agendarisch vorgegebenen Texte für die Adventszeit lassen sich, so beobachtet es K. Fechtner, oft „nur schwer in lebensweltliche Erfahrungen übersetzen. Gleichwohl sind die biblischen und gottesdienstlichen Texte nicht nur abständig und z. T. unzugänglich. Vielmehr verknüpfen sie auf ihre Art vorweihnachtliche und adventliche Aspekte in den Leitmotiven von Erwartung und Sehnsucht, von tätiger Vorbereitung und Empfänglichkeit.“ 101 Darin liegt m.E. eine Chance, die Adventszeit gegenüber der Weihnachtszeit als eigenständige, mit dem Ende des Kirchenjahres in Beziehung stehende Zeit der Erwartung zu profilieren. Impulse hierfür kommen zudem von Weihnachten her. Das Weihnachtsfest hat, wie P. Cornehl deutlich macht, zwei Perspektiven: 102 Zum einen die messianische, die durch die Verheißung des Messias, der Heilszeit und des endzeitlichen Schalom gekennzeichnet ist und damit einen herrschaftskritischen und utopischen Zug aufweist. Diese Perspektive ist von den alttestamentlichen Verheißungen her begründet und kann vor einer falschen Spiritualisierung und Verkitschung des Weihnachtsfestes bewahren. Die andere Perspektive ist die inkarnatorische: Gott manifestiert sich in Christus, und zwar umfassend und abschließend. Von ihm geht die eschatologische Initiative zur Rettung der Menschheit und zur Versöhnung der Welt aus. Gott wird Mensch und sagt Ja zum Leben, also können wir Menschen es auch. Beide Perspektiven, so betont Cornehl, schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich und verschmelzen zum Teil miteinander. 103 99 Vgl. Bieritz, Kirchenjahr, 184. 100 Vgl. Rödding, Kirchenjahr, 98. In Zeiten zerbrochener Sicherheiten wird dieses Thema, so Rödding, viele Menschen nachdenklich stimmen. 101 Fechtner, Rhythmus, 42. 102 Vgl. zum Folgenden Cornehl, Zustimmung, 297-299. 103 Ebenso gehören, so Cornehl, Zustimmung, 301, im Weihnachtsfest Liebe und Frieden untrennbar zusammen, und damit auch „das Familiäre und das Politische, die Zartheit <?page no="237"?> 237 Gleiches gilt für die Adventszeit: Die Perspektive der Menschwerdung Gottes, der Geburt Jesu, ist ein Aspekt dieser Zeit, aber eben nur einer: Die Erwartung, die Hoffnung dieser Zeit umfasst auch seine Wiederkunft als Richter. 2.4.3 Das übrige Kirchenjahr 2.4.3.1 Zum übrigen Kirchenjahr Während das Weihnachtsfest, das Geburtsfest Christi, mit einem festen Datum verbunden ist, ist die Thematisierung der Reich-Gottes-Vorstellung an keinen Termin gebunden und damit auch an unterschiedlichen Stellen des Kirchenjahres verortet. 104 Gleiches gilt für die Gerichtsvorstellung, zumal sie auch in der Lebenswelt potentiell immer Anknüpfungspunkte hat: Beispiele sind Bewertungen in der Schule, im Beruf oder in den Medien 105 oder die Frage nach Gerechtigkeit im Hinblick auf spektakuläre, medial stark thematisierte Verbrechen. Die Bedeutung des Gerichtsthemas beschränkt sich also nicht auf das Ende des Kirchenjahres und die Adventszeit. Vielmehr ist die Thematisierung des Gerichts im Gottesdienst auch auf kirchenjahreszeitlich „neutralem“ Boden denkbar und wünschenswert. Weiterführend ist im Hinblick auf diese Überlegungen das von der Liturgischen Konferenz der VELKD im Jahr 2006 herausgegebene Impulspapier „Kirchenjahr erneuern“. Hier wird, wie bereits erwähnt, vorgeschlagen, sich bei einer liturgischen Erneuerung des Kirchenjahres an den Festzeiten zu orientieren, statt das Kirchenjahr vollständig Sonntag für Sonntag durchzustrukturieren. Damit entstünden Zeiträume, die entweder zur gemeindeorientierten, regionalen Gestaltung oder für biblische und religiöse Themenreihen genutzt werden könnten. Der längste dieser Zeiträume liegt zwischen Johannis- und Michaelistag, also in der Trinitatiszeit. 106 Das Trinitatisfest, das dieser Zeit ihren Namen gibt, erinnert am Sonntag nach Pfingsten an den Glauben an die Trinität. Im Mittelalter, vermutlich zur Zeit Leos I., eingeführt und im Jahr 1334 für die ganze Kirche verbindlich gemacht, 107 blieb es bisher ein eher farbloses Dogmenfest. 108 Die Trinitatiszeit als solche ist nicht durch Kirchenfeste gegliedert wie die Weihnachts- und die Osterzeit; sie ist die sogenannte „festlose“ Zeit. Infolge dessen wurden in der Perikopenordnung den Sonntagen nach Trinitatis Evangelientexte der zwischenmenschlichen Beziehungen und die Universalität des auf Gerechtigkeit gegründeten Friedens der messianischen Heilszeit“. 104 Vgl. Rödding, Kirchenjahr, 96. 105 Vgl. dazu die Überlegungen in Kapitel A.I.2.2. 106 Vgl. Liturgische Konferenz, Kirchenjahr, 48f. 107 Vgl. Merkel, Feste, 122; Bieritz, Kirchenjahr, 144. 108 Vgl. Ruddat, Feste, 137. <?page no="238"?> 238 zugeordnet, die unentbehrlich erschienen. Der Charakter der Sonntage erscheint daher eher willkürlich. 109 Die Trinitatiszeit bietet so Gelegenheit zur Beschäftigung mit dem Gerichtsthema auf „neutralem“ Boden, ohne den Sonntag mit einem anderen, ebenso wichtigen und volkskirchlich verankerteren Thema teilen zu müssen wie am Volkstrauertag, am Totensonntag oder in der Adventszeit. Dabei ist nicht unbedingt eine thematische Umwidmung eines Sonntags, wie es z.B. mit dem 10. Sonntag nach Trinitatis zum Israelsonntag geschehen ist, notwendig. Die folgenden Überlegungen sollen vielmehr anregen, das Gerichtsthema, das ja vielen ein heikles, schwer vermittelbares Thema zu sein scheint und wohl auch ist, 110 das aber inner- und außerkirchlich immer wieder nachgefragt wird, in einer Kirchenjahreszeit zu bedenken, die nicht durch andere Themen „vorbelastet“ und daher seitens der Gemeinde mit bestimmten Erwartungen verbunden ist. Besonders geeignet für eine solche gottesdienstliche Auseinandersetzung scheint v.a. wegen seines Evangeliums der 9. Sonntag nach Trinitatis. 2.4.3.2 Der 9. Sonntag nach Trinitatis Dieser Sonntag fällt zumeist in die Sommerferien (Mitte Juli bis Mitte August), für viele also in die Urlaubszeit, die Abstand zum Alltag und damit auch Zeit zum Überdenken des eigenen Lebens bietet. Die Zeugniszeit ist gerade vorbei, es gibt eine Pause von den Bewertungen in Schule, Ausbildung und Beruf, eine Pause von Leistungsdruck und Verantwortung. Im Urlaub verändernd sich evtl. die eigenen Bewertungen anderer durch die Begegnung mit fremden Kulturen und Religionen. Das Thema „Gericht“ ist durch das Evangelium Mt 25,14-30 (Das Gleichnis von den Talenten) gegeben, die Epistel Phil 3,7-14 (Gerechtigkeit nicht aus dem Gesetz, sondern durch den Glauben) bildet den Kontrast dazu. In der Kombination dieser beiden Texte zeigt sich genau das Spannungsfeld, in dem sich das Gerichtsthema v.a. in der lutherischen Theologie bewegt: Das bei Matthäus betonte Gericht nach Werken einerseits im Verhältnis zum bei Paulus zentralen Gedanken der Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben andererseits. Ebenso wenig wie dieser Gedanke bei Paulus den Gedanken des Gerichts nach Werken ausschließt (vgl. nur 2 Kor 5,10! ) dür- 109 Vgl. Rödding, Kirchenjahr, 17. 110 Dafür steht beispielhaft folgendes Zitat einer Arbeitshilfe zu Mt 7,24-27 als Predigttext: „In den Hintergrund stellen, d.h., eigentlich gar nicht beachten möchte ich den Gerichtsgedanken, der bei Matthäus zwar eine wesentliche Rolle spielt, der mir heute aber vielen Menschen kaum mehr vermittelbar zu sein scheint.“ (Herrmann, Sonntag, 152). <?page no="239"?> 239 fen in einem Gottesdienst die beiden genannten Texte gegeneinander ausgespielt werden. 111 Berufung, Anvertrautsein und der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten ist das Thema der alttestamentlichen Lesung Jer 1,4-10. Ihre Auswahl reagiert wohl auf die „klassische“ Deutung von Mt 25,14-30, die dieses Gleichnis als Mahnung zum rechten „Wuchern“ mit den gottgegebenen Talenten versteht. Darauf deutet auch die Auswahl des Wochenliedes EG 497 Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun hin. Die matthäischen Predigttexte bringen umso stärker den Aspekt des Gerichts (Mt 7,24-27) und das Verhalten in Bezug auf das Reich Gottes (Mt 13,44-46) ein. Die Themen Endzeiterwartung und Verwaltung der gottgegebenen Gaben und Charismen verbindet 1 Petr 4,7-11 sowie der Wochenspruch „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern“ (Lk 12,48). Über diese Texte hinaus bietet es sich jedoch an, das Gerichtsthema in seiner ganzen Breite zu thematisieren. Wegweisend hierfür könnte der Schluss des Evangelientextes sein: Durch die Stichworte „Weinen und Zähneknirschen“ werden mehrere Gerichtsgleichnisse als Intertexte aufgerufen, die auf diese Weise enden und die unterschiedliche Aspekte des Gerichtsthemas aufgreifen. Umgekehrt ist der Aspekt zu berücksichtigen, unter dem sich die Perikope Mt 25,14-30 in die Trinitatiszeit einfügt: Viele Evangelientexte dieser Zeit haben die Reden und Taten Jesu zum Thema. Somit lässt sich auch das Thema für den 9. Sonntag nach Trinitatis spezifizieren: Nicht das Gericht am Ende der Zeiten als solches, wie es in Mt 25,31-46 ausgemalt und in Liedern wie EG 149 besungen wird, nicht Apokalyptik und Parusievorstellungen sollten hier das Hauptthema sein - dazu ist es am Ende des Kirchenjahres gewisslich an der Zeit. Der Schwerpunkt sollte vielmehr auf Jesus als Gerichtsprediger liegen, der zur Gerichtsankündigung und -paränese metaphorische Redeformen wie Parabeln wählt - so berichten es die Evangelien. Speziell die Reden des Matthäusevangeliums richten sich nicht nur an die jeweiligen, konkret genannten Erzähladressat_innen, i.e. die Jünger oder das Volk, sondern über diese hinaus an alle, die die Reden lesen bzw. hören. Daher kommt ihnen zur jeweiligen Jetztzeit Relevanz zu, die es in Wort und Gesang zu verkündigen gilt und die zur persönlichen Aneignung herausfordert, zur eigenen Verortung. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Person dessen, der das Gericht ankündigt, mit der Person des erwarteten Richters identisch ist. 111 Josuttis, Licht, 236, bringt das Problem auf den Punkt: „Was gerade im protestantischen Milieu die Übernahme von Gerichtsaussagen in die persönliche Lebensgestaltung erschwert, ist die weit verbreitete Flucht in eine falsch verstandene Rechtfertigungslehre. Das Evangelium von der Gnade Gottes will uns von der Angst befreien, aber nicht in unserer Tatkraft lähmen.“ <?page no="240"?> 240 2.4.4 Fazit Ziel dieses Kapitels war es, die Verortung des Gerichtsthemas im Gottesdienst und im Kirchenjahr aufzuzeigen, und zwar mit besonderem Blick auf Kirchenlieder, die intertextuelle Bezüge zur matthäischen Endzeitrede aufweisen. Es hat sich gezeigt, dass diese Lieder mit Bedacht im Gottesdienst einzusetzen sind, dass sie aber gleichwohl einen festen Ort innerhalb des Kirchenjahres haben, nämlich am Ende des Kirchenjahres und in der Adventszeit. Darüber hinaus hat es sich als sinnvoll herausgestellt, auch außerhalb dieser sehr geprägten Zeiten im Kirchenjahr Gerichtsvorstellungen im Gottesdienst zu thematisieren. <?page no="241"?> 241 3 Die Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede im Evangelischen Gesangbuch - ein Überblick über seine Rubriken und deren Entwicklung 3.1 Einleitung Im Kapitel zum Kirchenjahr ist deutlich geworden, dass das Gerichtsthema vorwiegend am Anfang und am Ende des Kirchenjahres seinen Ort hat. Tatsächlich finden sich im EG in den Rubriken „Advent“ und „Ende des Kirchenjahres“ auch die meisten Lieder, die sich auf die matthäischen Gerichtsvorstellungen beziehen. Auf die „letzten Dinge“, weniger aber auf die Gerichtsvorstellung selbst, gehen zudem viele Lieder der Rubrik „Sterben und ewiges Leben“ ein, die den Stammteil des Buches abschließt. Bevor auf die Lieder im Einzelnen eingegangen wird, sollen im Folgenden die Rubriken „Advent“ und „Ende des Kirchenjahres“ vorgestellt und ihre Entwicklung in den letzten gut 150 Jahren nachgezeichnet werden. Darauf folgt eine thematisch geordnete Übersicht über Lieder außerhalb der genannten EG-Rubriken, die matthäische Gerichtsvorstellungen zum Thema haben. Dieser Überblick dient einerseits der Bestandsaufnahme und soll andererseits zeigen, ob sich die Tendenz des zunehmenden Verschwindens des Gerichtsgedankens aus der kirchlichen Verkündigung auch im Liedbestand der Gesangbücher widerspiegelt. Zuvor jedoch soll das EG mit seinen unterschiedlichen Funktionen kurz vorgestellt werden. Ein weiterer Abschnitt bietet eine kurze Einführung in die anderen drei Gesangbücher, die für die rubrikengeschichtlichen Ausführungen herangezogen werden. Ihre Auswahl ist dadurch bedingt, dass sie im Gegensatz zu den meisten früher und zeitgleich erschienenen Gesangbüchern überregional und landeskirchenübergreifend konzipiert sind (*Stuttgart 1854, *DEG 1915). 112 Damit haben sie den Weg zu einem ersten deutschsprachigen Einheitsgesangbuch (*EKG) geebnet, dessen Nachfolger das EG ist. 112 In den Jahren und Jahrhunderten zuvor ist die Gesangbuchentwicklung so komplex und vielschichtig, dass es einer eigenen rubrikengeschichtlichen Untersuchung bedürfte. <?page no="242"?> 242 3.2 Das EG und seine Funktionen Das EG ist das Gesangbuch der EKD-Mitgliedskirchen sowie der evangelischen Kirchen in Österreich, im Elsass und in Lothringen. Zwischen 1993 und 1995 wurde es eingeführt. 113 Wie Gesangbücher im Allgemeinen 114 hat es eine Vielzahl von Funktionen. Drei von ihnen sind für das Thema dieser Arbeit besonders relevant: Die Funktion des EG als Liedfundus, als Laienagende und als Kanon. 115 Als Liedfundus, als „Reservoir potentieller Lieder“ 116 stellt das EG Lieder in gedruckter Form zur Auswahl bereit, die jedoch erst aktuell werden, indem sie gesungen werden. Seine Funktion als Liedfundus erfüllt ein Gesangbuch nur, wenn es eine Vielzahl, eine Fülle an Liedern bietet, die tatsächlich auch über einen längeren Zeitraum eine immer neue sowie gruppen- und situationsgerechte Auswahl ermöglichen. Dabei variiert naturgemäß die Häufigkeit, mit der einzelne Lieder ausgewählt werden - und allein die Tatsache, dass ein Lied im Gesangbuch kodifiziert ist, lässt noch nicht darauf schließen, dass es in einer Gemeinde tatsächlich gesungen wird. Weiterhin ist das EG als Laienagende zu verstehen. Es weist in die Rolle einer Teilnehmerin am Gottesdienst ein, die diesen Gottesdienst mitvollzieht. Dieser Charakter des EG wird auch durch die Beigabe liturgischer Stücke und Gottesdienstordnungen deutlich. Diese und die abgedruckten Lieder werden wiederum erst im Vollzug des Gottesdienstes zum Leben erweckt. Durch die Funktion des Gesangbuchs als Laienagende sind auch bis zu einem gewissen Maß sprachliche und musikalische Änderungen an den überlieferten Liedern gerechtfertigt, wenn sie den gottesdienstlichen Mitvollzug befördern. Denn in dieser Perspektive dient das Gesangbuch dazu, das Geschehen im Gottesdienst transparent zu machen und somit der Gemeinde eine bewusste Teilnahme an seinem Kommunikationsgeschehen zu ermöglichen. Schließlich fungiert das Gesangbuch als Kanon, in dem idealerweise alle christlichen Glaubensinhalte repräsentiert sind. Hierin zeigt sich seine Be- 113 Zur Entstehung des EG vgl. näherhin Neufeld, Bild, 28-37. 114 Die im Folgenden genannten Funktionen erfüllt das EG und ebenso zahlreiche andere Gesangbücher der Geschichte und Gegenwart, nicht aber z.B. viele schlichter gestaltete und theologisch oft einseitige Jugend- und Kirchentagsliederbücher. Über die genannten, gottesdienstlichen Funktionen hinaus will das EG „auch Aufgaben eines christlichen Haus- und Gemeindebuches wahrnehmen“ (EG Norddeutschland, 15), was sich an der Aufnahme von Gebeten, Katechismustexten u.a. zeigt. 115 Vgl. zum Folgenden Lieberknecht, Gemeindelieder, 173-184 (Reservoir potentieller Lieder, gottesdienst-liches Rollenbuch, Kanon christlicher Glaubensinhalte), sowie Neufeld, Bild, 19-27 (gesungene Bibel, Laienagende, tönender Katechismus) im Anschluss an Rößler, Lied, 45-50 (gesungene Bibel, klingendes Kirchenjahr, tönender Katechismus, emotionale Andacht, lebendiges Kulturgut, ökumenische Realität). Zur Diskussion der Begriffe vgl. ebd. 116 Lieberknecht, Gemeindelieder, 169. <?page no="243"?> 243 deutung für den Glauben, v.a. auch für diejenigen - und das ist ein großer Teil der Gottesdienstbesucher_innen v.a. der Kasualgottesdienste -, denen der Glaube wenig vertraut ist. Damit hat es eine ähnliche Funktion wie die Bibel und das Credo. Mehr noch: Es kann selbst als Bekenntnis der Kirche verstanden werden. Mit dem Gesangbuch bekommt der Mensch somit „ein Instrument zur Hand, das ihm in der Vielfalt der lebenslang auftretenden Situationen der Bewährung eine zuverlässige und durch die lange Bewährungsgeschichte abgesicherte Hilfe bieten soll, einen Kanon von Antworten auf die Fragen des Lebens“. 117 Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein. Er hat auch zur Folge, dass der einem Gesangbuch enthaltene Liedfundus zeitgemäß sein muss, d.h. auch neueres Liedgut nicht ausschließen darf. Generell ist diese Funktion des Gesangbuchs wie auch die Fundus- Funktion gerade im Blick auf Gerichtslieder instruktiv: Behält die Gerichtsvorstellung ihren Platz und ihre Relevanz als christlicher Glaubensinhalt, muss sie auch im Gesangbuch in Form entsprechender Lieder repräsentiert sein: Als Teil des für Gottesdienste zur Auswahl stehenden Liedfundus sowie als Teil des Kanons der Glaubensinhalte, die im EG enthalten sind. 3.3 Die Vorgänger des EG: *Stuttgart 1854, *DEG 1915 und das *EKG Das älteste für die folgenden rubrikengeschichtlichen Ausführungen herangezogene Gesangbuch soll das Deutsche Evangelische Kirchengesangbuch in 150 Kernliedern (*Stuttgart 1854) sein, das den ersten Versuch eines einheitlichen deutschen Gesangbuchs darstellt. Es enthält 150 sogenannte Kernlieder, die bei der ersten Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz 1852 in Eisenach von einer Kommission als „Gemeingut“ der evangelischen Kirche in Deutschland ermittelt wurden. 118 Die Idee, dass dieses Gesangbuch in den Landeskirchen zusätzlich zu den regionalen Gesangbüchern gebraucht würde, wurde jedoch nicht umgesetzt, „da die landeskirchlich-provinzielle Tradition stärker als der Wunsch nach einem Einheitsgesangbuch war“. 119 Das erste gesamtdeutsche Gesangbuch, das auch tatsächlich rezipiert wurde, ist ein Auslandsgesangbuch: 120 Das Deutsche Evangelische Gesangbuch für die Schutzgebiete und das Ausland, das 1915 erstmals erschien. Mit insgesamt 342 Liedern plus 44 im Anhang ist es um einiges umfangreicher als *Stuttgart 1854. Als Deutsches Evangelisches Gesangbuch (*DEG 1926) wurde es zwischen 1927 und 1931 in die Stammteile zahlreicher Gesangbücher der 117 Lieberknecht, Gemeindelieder, 181. 118 Vgl. Wüstenberg, Jahrhundert, 246. 119 Völker, Gesangbuch, 558, vgl. auch Bieritz, Liturgik, 150. 120 Vgl. Völker, Gesangbuch I, 768. <?page no="244"?> 244 Landeskirchen aufgenommen. 121 Der 394 Lieder umfassende Stammteil des Evangelischen Kirchengesangbuches (*EKG), erschien 1950. Dieses erste gesamtdeutsche Einheitsgesangbuch wurde jeweils mit landeskirchlichen Regionalteilen versehen. 122 1994 wurde es durch das Evangelische Gesangbuch (EG) abgelöst, dessen Stammteil 535 Lieder und Gesänge enthält, davon 310 aus dem *EKG übernommene. 3.4 Die unterschiedliche Aufteilung der Rubriken Im Vergleich dieser vier Gesangbücher fällt nicht nur eine unterschiedliche Liedauswahl auf, sondern auch die sich verändernde Rubrikenaufteilung. Alle vier Gesangbücher beginnen mit der Rubrik „Advent“. Die Ordnung der Lieder nach dem Kirchenjahr reicht in *Stuttgart 1854 und *DEG 1915 jedoch nur bis Trinitatis, dann folgen Rubriken zum Thema „Kirche und Sakramente“ resp. „Die Kirche und die Gnadenmittel“. Erst am Schluss beider Gesangbücher findet sich jeweils eine umfangreiche Rubrik „Die letzten Dinge“ 123 bzw. „Tod, Gericht und ewiges Leben“, die Sterbelieder und Lieder zum Gericht und ewigen Leben beinhaltet. Das *EKG geht in der Aufteilung der Rubriken einen anderen Weg: Der Durchgang durch das Kirchenjahr wird bis zum Ende durchgeführt. Die Rubrik „Advent“ steht somit nach wie vor am Anfang, am Ende aber findet sich eine neue, vier Lieder umfassende Rubrik „Ende des Kirchenjahres“. Gleichzeitig wird die das Buch abschließende Rubrik zu den „letzten Dingen“ beibehalten; sie heißt nun „Tod und Ewigkeit“. Das Thema des Gerichts verlagert sich zum größeren Teil in die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“, wobei die Abgrenzung beider Rubriken letztlich unklar bleibt. Im EG wiederum wird der Durchgang durch das Kirchenjahr und damit die Aufteilung der vormaligen Rubrik der „letzten Dinge“ beibehalten, jedoch trennschärfer vollzogen: Die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ bleibt bestehen und wird und um einige Lieder erweitert, die im *EKG unter „Tod und Ewigkeit“ verzeichnet waren (vgl. 3.6.2). Die Rubrik am Ende des Buches heißt nun „Sterben und ewiges Leben. Bestattung“ und enthält fast ausschließlich Lieder, die das Sterben und den individuellen Tod thematisieren, während das Thema des universalen Gerichts und des Weltendes - vom Advent abgesehen - der Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ vorbehalten bleibt. Das Vorkommen des Gerichtsthemas in den einzelnen Rubriken und 121 Vgl. Völker, Gesangbuch, 558, Henkys, Kirchenlied, 629. 122 Vgl. Völker, Gesangbuch I, 769. 123 Die Rubrik „Die letzten Dinge“ ist in *Stuttgart 1854 und im *DEG 1915 in zwei Teile untergliedert: Teil A trägt den Titel Tod (Sterbelieder) und enthält zehn Lieder zu diesem Thema. Teil B, Wiederkunft des Herrn zum Gericht, Auferstehung der Todten, ewiges Leben, enthält ebenfalls zehn Lieder. Ähnlich stellt es sich auch in früheren Gesangbüchern häufig dar, die Unterteilungen sind jedoch oft noch detaillierter. <?page no="245"?> 245 die Entwicklung desselben in den vier genannten Gesangbüchern soll im Folgenden überblicksartig dargestellt werden. 3.5 Die Rubrik „Advent“ 3.5.1 Die Rubrik „Advent“ im EG In dieser Rubrik finden sich im EG mehrere Lieder, die das Kommen Jesu zum Gericht als einen Aspekt seines Kommens in die Welt thematisieren und somit die Erwartung seiner Ankunft mit der Erwartung seiner Wiederkunft korrelieren. Ein erstes Beispiel hierfür ist Thomas Müntzers Verdeutschung des Hymnus Conditor alme siderum, EG 3 Gott, heilger Schöpfer aller Stern. Str. 3- 5 vollziehen das Kommen Jesu Christi in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach. Bereits in der Schilderung seiner Sendung, seinem Hervorkommen aus seiner Mutter Kämmerlein am Abend der Welt, „schwingt … die Gerichtsmetaphorik des Weltendes mit“. 124 Durch seine Bezeichnung als Bräut‘gam Christus ist u.a. ein Bezug auf das Gleichnis von den zehn jungen Frauen und seine Deutung auf den wiederkommenden Jesus Christus hergestellt. Der als Richter Erwartete (Mt 25,31f.) wird in der Gegenwart als Lehrer angeredet (Str. 5): Wir bitten dich, o heilger Christ, der du zukünftig Richter bist, lehr uns zuvor dein‘ Willen tun und an dem Glauben nehmen zu. In diesem Sinne ist das Verhältnis zwischen dem in die Welt gekommenen und dem zukünftig wiederkommenden Christus auch im Mt-Ev. dargestellt: In der erzählten Gegenwart des Evangeliums tritt Jesus als Lehrer auf. Die Reden, die er hält, zielen nicht zuletzt darauf ab, die Menschen zu lehren, Gottes Wort und seine eigenen Worte zu hören und zu tun. V.a. die Sklavengleichnisse der Endzeitrede (Mt 24,45-51; 25,14-30) verweisen darauf, dass es auf das eigene Tun und Unterlassen, auf die Treue ( pi,stij ) dem ku, rioj gegenüber ankommt, und zwar bevor er wiederkommt. Der Erzählstimme ist bereits bekannt, dass die richtige Vorbereitung auf sein Gericht im Hören und Tun der Worte Jesu (Mt 7,24), der zukünftig Richter ist, liegt. Auch weiß es, dass die Worte Jesu immer neu gehört werden müssen und sein Wille immer wieder getan werden muss - dies und die Zunahme an dem Glauben bewirkt Jesu Lehre. Ebenfalls mit dem Kommen Jesu in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befasst sich EG 5 Gottes Sohn ist kommen. EG 9 Nun jauchzet, all ihr 124 Vgl. Gerhards, Gott, 48. <?page no="246"?> 246 Frommen vergegenwärtigt den Einzug Jesu in Jerusalem und setzt ihn mit seiner Wiederkunft zum Gericht in Verbindung. Beide Lieder gehen ausführlicher auf matthäische Gerichtsvorstellungen ein und sollen deshalb in den folgenden Kapiteln analysiert werden. Auch EG 6 Ihr lieben Christen, freut euch nun steht ganz im Zeichen der Erwartung der Wiederkunft Jesu (Str. 2): Der Jüngste Tag ist nun nicht fern. Komm, Jesu Christe, lieber Herr! Kein Tag vergeht, wir warten dein und wollten gern bald bei dir sein. Jesus, der als Richter erwartet wird, ist unser Bruder worden (Str. 1) und wird daher als lieber Herr und lieber Immanuel (Str. 2f.) bezeichnet. Betont wird hier also wiederum die Einheit des gekommenen und des wiederkommenden Jesus: Weil der Gekommene ein Vertrauter, ein Bruder und lieber Herr ist, wird auch dem Wiederkommenden mit Vertrauen und Hoffnung entgegengesehen, wird das Gericht jeden Tag freudig erwartet als endgültige Offenbarung des dreieinigen Gottes (Str. 5): Ach lieber Herr, eil zum Gericht! Lass sehn dein herrlich Angesicht, das Wesen der Dreifaltigkeit. Das helf uns Gott in Ewigkeit. Diese sehnsüchtige Erwartung liegt auch in den zuvor angedeuteten bedrohlichen Erfahrungen der erzählten Gegenwart begründet, der Bedrohung durch den Teufel (Str. 4). Gegen die als Teufel und Drachen personifizierten Chaosmächte wird die Wiederkunft Jesu zum Gericht als Perspektive der Rettung vor Augen gestellt: Wo sich der dreieinige Gott offenbart, müssen die Mächte des Bösen weichen. Deshalb wird das Gericht so sehnsüchtig erwartet. Wegen der Betonung der Vorfreude ist das Lied der Rubrik „Advent“ zugeordnet worden. Alternativ ist die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ vorgesehen. 125 Den verheißungsvollen Aspekt der Gerichtsvorstellung stellen auch zwei andere Lieder der Rubrik „Advent“ heraus: Paul Gerhardts EG 11 Wie soll 125 Das achtzehnstrophige Original, in dem das Gerichtsthema noch viel stärker zum Tragen kommt, ist im EG mit nur fünf Strophen abgedruckt. Vgl. dazu kritisch Bill, Christen, 37: „So wurde ein Lied, das von der herbeigesehnten und täglich erwarteten Erlösung der Gemeinde durch das Gericht am Ende der Tage redet, durch radikale Kürzung (18→5) und durch Zuordnung einer kindlich-harmlosen Melodie zu einem Adventslied umgewandelt, das zwar davon spricht, dass kein Tag verginge, an dem die Gemeinde nicht auf das Ende der Zeit wartet, aber doch wohl im Ernst niemand daran glaubt.“ <?page no="247"?> 247 ich dich empfangen verbindet wie EG 9 den Einzug Jesu in Jerusalem (Str. 2) mit seiner erwarteten Wiederkunft zum Gericht. Str. 1-5 thematisieren die Bedeutung seines Kommens für den individuellen Menschen: Die Erzählstimme schildert die Erfahrung von Trost und Freud im Leiden und in der Anfechtung durch das Kommen Jesu in der Vergangenheit und Gegenwart, so dass es das zukünftig erwartete Kommen Jesu als Trost- und Hoffnungsperspektive weitergeben kann an das hochbetrübte Heer (Str. 6-9). Auch in diesem zweiten Teil des Liedes ist das Verb „kommen“ zentral; in Str. 7-9 wird durch die präsentisch formulierte Epanalepse Er kommt, er kommt betont, dass Jesus ganz sicher und in naher Zukunft wiederkommen wird (vgl. auch Str. 6), um all Angst und Not zu stillen (Str. 7) und die Feind zu zerstreuen (Str. 9). Bereits hier ist die Gerichtsperspektive als Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes angelegt. In Str. 10 kommt sie explizit zur Sprache (Str. 10): Er kommt zum Weltgerichte: zum Fluch dem, der ihm flucht, mit Gnad und süßem Lichte dem, der ihn liebt und sucht. Ach komm, ach komm, o Sonne, und hol uns allzumal zum ewgen Licht und Wonne in deinen Freudensaal. Der Bezug auf Mt 25,31.34 ist klar erkennbar, obwohl hier als Kriterium der Scheidung nicht das Tun an den geringsten Geschwistern, mit denen sich der richtende Jesus identifiziert, benannt wird, sondern direkter als bei Mt die Haltung ihm gegenüber. 126 Die figura etymologica zum Fluch dem, der ihm flucht stellt dabei eine Zuspitzung und Verstärkung des matthäischen „Was ihr diesen Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir auch nicht getan“ (25,45) dar. Wie bei Matthäus kommt jedoch dem positiven Ausgang des Gerichts das Achtergewicht zu und dieser wird als Hoffnungsperspektive weiter ausgemalt. Der Schluss des Liedes besteht - im Gegensatz zum individuellen Duktus des Anfangs und des verkündigungsartigen Mittelteiles - in einer Bitte an den richtenden Jesus, in die sich die Erzählstimme mit einbezieht und damit beide Teile zusammenfasst: Die Bitte darum, dass er nun kommen möge und sie alle in den Freudensaal, das Reich Gottes, holen möge. Die Lichtmetaphorik verbindet die letzte mit der ersten Strophe: Jesus selbst, die Sonne, muss den Menschen erleuchten, ihm die Fackel beisetzen, damit er 126 Die Melodik der Vokale betont den Gegensatz bei der Scheidung im Gericht: „Hier steht nicht nur das unheildrohende ‚u‘ gegen das leuchtende ‚i‘, sondern auch das sausende ‚fl‘ des göttlichen Zorns gegen das linde ‚l‘ der Erlösung.“ (Nitschke, empfangen, 138). <?page no="248"?> 248 weiß, wie er ihn empfangen soll. 127 Zu solcher Erkenntnis trägt auch das Lied bei, das die Haltung dem kommenden Jesus gegenüber immer neu via negationis formuliert (seid unverzagt (Str. 6), Ihr dürft euch nicht bemühen noch sorgen (Str. 7), Auch dürft ihr nicht erschrecken (Str. 8)). Der Gerichtsausblick der letzten Strophe schließlich formuliert positiv: Jesus wird recht empfangen durch den, der ihn liebt und sucht. Ihm schenkt die Sonne Jesus das süße Licht der Ewigkeit. Ein solcher Anspruch wird im nächsten Lied, das sich auf Mt 24-25 bezieht, nicht formuliert. Es ist das von J. Henkys aus dem Niederländischen übersetzte EG 20 Das Volk, das noch im Finstern wandelt, das im EG nicht nur als Adventslied, sondern auch für die Rubriken „Ende des Kirchenjahres“, „Weitere biblische Lieder und Gesänge“ sowie „Erhaltung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit“ vorgesehen ist. Es handelt sich um eine Bereimung von Jes 9,1-6, die diese Verheißung in das von Kriegen erschütterte 20. Jh. transportiert und mit dem Kommen Jesu verknüpft. Die letzte Strophe bietet ein endzeitliches Szenario: Dann stehen Mensch und Mensch zusammen vor eines Herren Angesicht, und alle, alle schaun ins Licht, und er kennt jedermann mit Namen. Hier ist kaum mehr eine Verbindung zu Jes 9 erkennbar. 128 Die Strophe ist vielmehr als eine Anspielung an, teilweise auch als Gegenbild zu den Gerichtsvorstellungen der matthäischen Endzeitrede zu lesen: Das geschilderte Zusammenstehen der Menschen vor eines Herren Angesicht erinnert an Mt 25,31f. Die Liedzeile …und alle, alle schaun ins Licht bezieht sich antithetisch auf das bei Mt mehrfach verwendete Motiv, das auch in Mt 25,30 erscheint: „…Und den unnützen Sklaven werft hinaus in die äußere Finsternis; da wird das Weinen und das Zähneknirschen sein.“ Gegen diese Vorstellung formuliert der Liedtext die Hoffnung, dass alle „zur Rechten“ stehen werden. Ähnliches bewirkt seine letzte Zeile: …und er kennt jedermann mit Namen als Antithese zu Mt 25,12: Hier sagt der Bräutigam zu den „dummen“ Frauen „Amen, ich sage euch, ich kenne euch nicht“. Dass aber der endzeitliche Richter alle Menschen kennen und niemanden abweisen wird, dass alle „ins Licht“ schauen werden, von dieser Hoffnung spricht dieses Lied. 127 Vgl. Nitschke, empfangen, 138. Dazu schreibt Deichgräber, Mut, 89, treffend: „In unserer Grammatik unterscheiden wir Aktiv und Passiv, Tat- und Leideform. Aber über dieser Unterscheidung geht leicht verloren, dass es noch jene dritte Dimension gibt, die so eigenartig zwischen Tun und Getanwerden liegt, eben das Empfangen. Dabei ist sie die grundlegende Dimension, mit der immer wieder alles seinen Anfang nimmt.“ 128 Manche Ausleger_innen entdecken hier Anspielungen an Röm 8,18ff und Offb 21,1.24 oder Joh 17 (vgl. Fischer, Volk, 19), die m.E. jedoch die Bedeutung dieser Strophe nicht erschließen. <?page no="249"?> 249 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Adventslieder des EG zwar auf Texte der Endzeitrede Bezug nehmen, jedoch vorwiegend mit Blick auf den „positiven Ausgang“ des Gerichts, der Teilhabe am ewigen Leben. Ihr gilt die Hoffnung, die sich mit dem erwarteten Gottessohn Jesus verknüpft. Ansonsten liegt im Advent der thematische Schwerpunkt auf dem Kommen Jesu in die Welt. Mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf ein Zurechtbringen der Welt, auf die fundamentale Veränderung der gegenwärtigen, als leidvoll erfahrenen Verhältnisse. Diese Hoffnung ist immer auch eine eschatologische; sie erfüllt sich im Kommen Jesu in die Welt immer nur partiell und „auf Hoffnung hin“. Die Frage, ob sich der skizzierte Schwerpunkt gegenüber den „Advents“- Rubriken der Vorgängergesangbücher des EG fundamental geändert hat und ob in ihnen das Gerichtsthema als solches eine größere Rolle gespielt hat, ist das Thema des nächsten Abschnitts. 5.3.2 Die Entwicklung der Rubrik „Advent“ Der große Fundus an Adventsliedern im EG hat sich im Blick auf seine Vorgänger erst allmählich entwickelt. So enthält die Rubrik „Advent“ in *Stuttgart 1854 lediglich acht Lieder. 129 Neben Wie soll ich dich empfangen und Nun jauchzet, all ihr Frommen findet sich hier das ebenfalls im EG enthaltene Gott sei Dank durch alle Welt. Das *DEG 1915 übernimmt in seine neun Lieder umfassende Rubrik „Advent“ sechs aus *Stuttgart 1854, darunter die drei genannten. 130 Diese drei und vier weitere 131 werden auch vom *EKG übernommen, das eine auf 14 Lieder erweiterte Rubrik „Advent“ enthält. Über *Stuttgart 1854 und *DEG 1915 hinaus sind hier u.a. zwei für das Gerichtsthema relevante Lieder hinzugekommen: Gottes Sohn ist kommen und Ihr lieben Christen, freut euch nun. Beide sind auch im EG enthalten und wurden oben bereits kurz vorgestellt. Das EG hat mit 22 Liedern im Vergleich zu seinen Vorgängern die mit Abstand umfangreichste Rubrik „Advent“. Aus dem *EKG sind hier mit 129 Bei solchen statistischen Angaben ist zu beachten, dass das *DEG 1915 insgesamt mehr als doppelt so umfangreich ist wie *Stuttgart 1854, wie oben bereits erwähnt wurde. 130 Bei den drei neu aufgenommenen Liedern handelt es sich um Kommst du, kommst du, Licht der Heiden, Hosianna, Davids Sohn kommt in Zion und Dein König kommt in niedern Hüllen. Letzteres wurde in das *EKG und in das EG übernommen, die beiden anderen nicht. 131 Übernommen wurden Macht hoch die Tür, Auf, auf, ihr Reichsgenossen, Mit Ernst, o Menschenkinder, Dein König kommt in niedern Hüllen; weggefallen sind die beiden erst im *DEG 1915 hinzugekommenen Lieder Kommst du, kommst du, Licht der Heiden sowie Hosianna, Davids Sohn kommt in Zion. <?page no="250"?> 250 Ausnahme von Auf, auf, ihr Reichsgenossen 132 sämtliche Adventslieder übernommen worden. Darüber hinaus sind neun Lieder neu dazugekommen: Aus der Tradition wiederentdeckt Gott, heilger Schöpfer aller Stern. F. H. Rankes Tochter Zion fand über zahlreiche Anhänge und Regionalteile schließlich Eingang in den Stammteil. Die anderen sieben neu hinzugekommenen Lieder (EG 2.17-22) sind sämtlich im 20. Jh. entweder entstanden oder aus anderen Sprachen übertragen worden, so auch EG 20 Das Volk, das noch im Finstern wandelt. Für die Rubrik „Advent“ lässt sich also nicht generell sagen, dass das Thema Gericht getilgt wurde, im Gegenteil: Mehrere gerichtsrelevante Lieder kamen hinzu. Diese behandeln das Gericht jedoch oft nicht explizit, sondern nur seinen „positiven Ausgang“. Jedoch lässt sich bereits hier an einem Beispiel die Tendenz feststellen, dass Strophen, die das Gericht thematisieren, gestrichen werden: Heinrich Helds 1658 entstandenes EG 12 Gott sei Dank durch alle Welt. In *Stuttgart 1854 und *DEG 1915 ist es mit neun Strophen enthalten, im *EKG mit sieben. Die jeweils letzte Strophe bezieht sich auf Mt 25,6.31.46: Daß, wenn du, du Lebensfürst, prächtig wiederkommen wirst, ich dir mög entgegen gehn und vor dir gerecht bestehn. Das Erscheinen des Menschensohnes in seiner Herrlichkeit wird hier ebenso angesprochen wie die Hoffnung, im Gericht als gerecht beurteilt zu werden und somit am ewigen Leben teilzuhaben. Wie es auf die Ankunft des Lebensfürsten zu reagieren gilt, wird in der Endgerichtsszene nicht thematisiert. Diese Leerstelle füllt das Lied mit einer Anspielung auf das Gleichnis von den zehn jungen Frauen, die dem ankommenden Bräutigam beim Hochzeitszeremoniell entgegen gehn. Das EG enthält nur noch die ersten vier Strophen dieses Liedes, auch die genannte Schlussstrophe ist weggefallen. Nicht nur der Gerichtsbezug ist somit getilgt, sondern auch jeglicher Verweis auf die im Advent ebenfalls erwartete Wiederkunft Jesu und sein Zurechtbringen der Welt. Was bleibt, ist ein freudiges Willkommenheißen des Kommenden, das mit der Bitte abschließt: Richte du auch eine Bahn / dir in meinem Herzen an. Solche Strophenstreichungen werden im Laufe der folgenden Analysen noch mehrfach zum Thema werden. Zunächst aber soll ein Überblick über die andere Rubrik, die mehrere Lieder zu matthäischen Gerichtsvorstellungen enthält, erfolgen. 132 Dieses Lied findet sich in überarbeiteter Form unter dem Titel Auf, auf, ihr Christen alle u.a. im Regionalteil der EG-Ausgabe für Norddeutschland. <?page no="251"?> 251 3.6 Die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ 3.6.1 Die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ im EG In dieser Rubrik finden sich Lieder, deren hauptsächliches Thema die Erwartung der Wiederkunft Jesu und teilweise auch das Gericht ist. Das Leitlied dieser Rubrik ist Philipp Nicolais EG 147 „Wachet auf“, ruft uns die Stimme. Es bezieht sich auf das Gleichnis Mt 25,1-13, ebenso das in der gleichen Rubrik anzutreffende EG 151 Ermuntert euch, ihr Frommen. Am stärksten auf die Gerichtsvorstellung nach Mt 25,31-46 bezieht sich EG 149 Es ist gewisslich an der Zeit. Sie alle können laut EG alternativ auch im „Advent“ verwendet werden - deutlich wird dadurch die enge Verbindung des Endes mit dem Beginn des Kirchenjahres unter dem Aspekt der Erwartung der Ankunft und Wiederkunft Jesu Christi. Die drei genannten Lieder werden noch genauer zu analysieren sein, weshalb an dieser Stelle nicht näher auf sie eingegangen wird. 3.6.2 Die Entwicklung der Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ Ist die Rubrik „Advent“ des EG im Vergleich zu seinen Vorgängern um mehr als das Doppelte angewachsen, so ist im Blick auf die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ die umgekehrte Tendenz zu verzeichnen. Auch hat sich diese Rubrik als solche erst allmählich entwickelt, wie unter 4. erläutert wurde. Die Rubrik „Die letzten Dinge“ in *Stuttgart 1854, die in ihrer thematischen Ausrichtung der EG-Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ am nächsten kommt, enthält 20 Lieder. Für das Thema dieser Arbeit ist v.a. ihr zweiter, zehn Lieder umfassender Teil, „Wiederkunft des Herrn zum Gericht…“ von Interesse. Hier finden sich bereits die auch im EG enthaltenen Lieder „Wachet auf“, ruft uns die Stimme, eine frühere Version von Es ist gewisslich an der Zeit, Jerusalem, du hochgebaute Stadt sowie das im EG unter „Sterben und ewiges Leben“ verzeichnete Mitten wir im Leben sind. Im *DEG 1915 findet sich statt einer Rubrik „Die letzten Dinge“ die 39 (! ) Lieder umfassende Rubrik „Tod, Gericht und ewiges Leben“. 133 Außer Es ist gewisslich an der Zeit und dem Sterbelied Machs mit mir, Gott, nach deiner Güt sind hier alle Kernlieder von 1854 aus der Rubrik „Die letzten Dinge“ enthalten. Darüber hinaus finden sich Ermuntert euch, ihr Frommen sowie Ich bin ein Gast auf Erden (vgl. v.a. Str. 5.11), die auch im EG verzeichnet sind - letzteres unter „Sterben und ewiges Leben“. 133 Im Anhang finden sich unter derselben Rubrikenbezeichnung weitere fünf Lieder. Eine Erklärung für diese Fülle ist im zeitgeschichtlichen Hintergrund des Gesangbuchs zu suchen: Der Erste Weltkrieg bedingte nicht nur eine apokalyptische Grundstimmung, sondern auch einen großen Bedarf an Sterbeliedern. <?page no="252"?> 252 Das *EKG bietet erstmals eine Aufteilung der vormaligen Rubrik „Die letzten Dinge“ resp. „Tod, Gericht und ewiges Leben“: Am Ende des Buches, unter „Psalmen, Bitt- und Lobgesänge für jede Zeit“ findet sich nun die 24 Lieder umfassende Rubrik „Tod und Ewigkeit“ und unter „Der Gottesdienst“ eine nur zwei Lieder beinhaltende Rubrik „Die Bestattung“. Recht klein ist auch die dritte neue Rubrik, „Ende des Kirchenjahres“: Sie umfasst lediglich die Lieder Es ist gewisslich an der Zeit, „Wachet auf“, ruft uns die Stimme, Ermuntert euch, ihr Frommen und Wir warten dein, o Gottes Sohn. Diese vier Lieder wurden sämtlich in die gleichnamige Rubrik des EG übernommen. Weitere vier wurden hinzugefügt, zwei davon, EG 148 Herzlich tut mich erfreuen und EG 150 Jerusalem, du hochgebaute Stadt entstammen der *EKG-Rubrik „Tod und Ewigkeit“, zwei weitere, EG 153 Der Himmel, der ist und EG 154 Herr, mach uns stark im Mut, der dich bekennt sind erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Auch die Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ ist im EG also ausgebaut, ja in ihrer Liedanzahl verdoppelt worden. Im Vergleich zur Rubrik „Advent“, der im EG acht neue Lieder hinzugefügt wurden, ist der Zuwachs jedoch gering. Auch ist in keinem der hinzugefügten Lieder das Gericht ein Thema, sondern die Erwartung endzeitlichen Heils. Im Hinblick auf das Gerichtsthema ist jedoch von noch größerem Interesse, welche Lieder bzw. Liedstrophen nicht in das EG übernommen wurden. 134 Es fehlt das Sterbelied O Jesu Christ, meins Lebens Licht von Martin Behm (1610), das im *EKG, nicht aber im *DEG 1915 und *Stuttgart 1854 enthalten ist. Seine achte Strophe bezieht sich auf die Gerichtsszene Mt 25,31-46: Am Jüngsten Tag erweck den Leib, hilf, dass ich dir zur Rechten bleib, dass mich nicht treffe dein Gericht, das aller Welt ihr Urteil spricht. 134 Zu den Ausschlusskriterien vgl. Rößler, Profil, 12: „Behutsam ausgefiltert sind jene Lieder, die sich im Gemeindegebrauch nicht nachhaltig eingesungen hatten oder mehr und mehr als beschwerlich empfunden wurden. Vergrößert wird das traditionelle Liedgut durch etwa 100 Lieder, die in den 14 Regionalteilen des EKG schon eine längerfristige Breitenwirkung gewonnen hatten. Das Bewährte ist bewahrt oder wiedergewonnen, und so erfüllt das EG ohne Bruch, aber auch ohne manchen toten Ballast seine Aufgabe, Überlieferungsträger des Erbes und Anthologie der geistlichen Stimmen aus der Vergangenheit zu sein. … Es fehlen einige oberdeutsche und böhmische Kernlieder wegen sprachlicher Schwierigkeiten wie etwa altertümlicher Silbenverkürzung und holpernder Versbetonung, außerdem Strophen mit militant kämpferischer Wortwahl, kindlich-verniedlichenden Diminutivformen und gar zu bildhaft ausmalenden Hölle- und Teufel-Vorstellungen.“ Zur Frage der Liedauswahl für das EG vgl. auch Lippold, Leitlinien, 54-64. <?page no="253"?> 253 Obwohl dieses Lied mit einer deutlichen Hoffnungsperspektive endet, 135 stellt es doch den Ernst des Gerichts und die Möglichkeit des Scheiterns in ihm vor Augen. Auch wenn Jesus, der hier angeredet ist, selbst der Richter sein wird, ist es doch nicht selbstverständlich, vor seinem Gericht bestehen zu können. Deshalb bittet ihn die Erzählstimme, ihr die Himmelstür weit auf zu tun (Str. 7), so dass sie mit der Auserwählten Schar auf ewig Jesu Antlitz klar schauen kann (Str. 10; vgl. Mt 24,31; 25,31.46). Ob die achte Liedstrophe der Grund war, auf dieses Lied zu verzichten, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Sie hebt es jedenfalls von vielen anderen Sterbeliedern ab, die unhinterfragt das Vertrauen darauf aussprechen, in das ewige Leben einzugehen, ohne das Gericht überhaupt zu thematisieren, 136 wodurch jedoch die biblische Botschaft verkürzt und in ihrem Ernst nicht wahrgenommen wird. Nachvollziehbarer erscheint in dieser Hinsicht die Überlieferungsgeschichte des Liedes O Ewigkeit, du Donnerwort von Johann Rist. Es entwirft ein Bedrohungsszenario, das vor allem Erschrecken und Angst erzeugt. 137 Somit erstaunt es nicht, dass die Strophenzahl, mit der es abgedruckt wurde, immer weiter abnahm: In *Stuttgart 1854 ist es mit acht Strophen enthalten, 138 im *DEG 1915 sind deren Str. 3 und 4, die betonen, dass der Verdammten große Qual tatsächlich ewig währt, ausgeschieden und eine weitere Strophe hinzugefügt, die wiederum betont, dass nichts so schrecklich als die Ewigkeit sei. Das *EKG behält diese Strophe bei, streicht aber die 5., stark paränetisch ausgerichtete Strophe der *DEG 1915 -Fassung, 139 so dass es auf insgesamt fünf Strophen kommt. Die vorletzte Strophe nimmt auf das Gleichnis Mt 25,26.30 Bezug und entwirft folgendes Bedrohungsszenario: 135 Vgl. die letzten beiden Strophen: 9. Alsdann mein‘ Leib erneure ganz, / dass er leucht wie der Sonne Glanz / und ähnlich sei deim klaren Leib, / auch gleich den lieben Engeln bleib. 10. Wie werd ich dann so fröhlich sein, / werd singen mit den Engelein / und mit der Auserwählten Schar / auf ewig schaun dein Antlitz klar. 136 Vgl. z.B. EG 529 Ich bin ein Gast auf Erden, wo es in der elften Strophe heißt: Du aber, meine Freude, / du meines Lebens Licht, / du ziehst mich, wenn ich scheide, / hin vor dein Angesicht / ins Haus der ewgen Wonne… 137 So bemerkt Kornemann, Ewigkeit, 371, mit Blick auf die Pragmatik des Liedes zu Recht, dass „der Dichter selbst sein eigenes Erschrecken vorbildhaft versteht, um das Erschrecken derer zu provozieren, die er bewegen will“. In dieser Einseitigkeit hat das Lied jedoch Widerspruch provoziert: Bereits wenige Jahrzehnte nach seiner Entstehung stellte Kaspar Heunisch ihm als Gegenentwurf (vielleicht auch als Parodie gedacht, vgl. Kornemann, Ewigkeit, 372; ders., Freudenwort, 373-375) O Ewigkeit, du Freudenwort entgegen. In vielen Gesangbüchern ist es direkt im Anschluss an O Ewigkeit, du Donnerwort abgedruckt, so auch im *EKG (Nr. 324 und 325). So wird eine eindrucksvolle Wechselwirkung dieser beiden Intertexte in Bezug auf die unterschiedlichen Aspekte der Ewigkeitsperspektive erzeugt. 138 Das Original hat 16 Strophen. 139 Sie lautet: Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf; / ermuntre dich, verlornes Schaf, / und bessre bald dein Leben! / Wach auf, es ist doch hohe Zeit, / es kommt heran die Ewigkeit / dir deinen Lohn zu geben. / Vielleicht ist heut der letzte Tag; / wer weiß, wie man noch sterben mag! (zit. n. *DEG 1915). <?page no="254"?> 254 Ach Gott, wie bist du so gerecht, wie strafst du einen bösen Knecht so hart im Pfuhl der Schmerzen; auf kurze Sünden dieser Welt hast du so lange Pein bestellt. Ach nimm dies wohl zu Herzen; Betracht es oft, o Menschenkind: kurz ist die Zeit, der Tod geschwind. Nicht umsonst weiß die Erzählstimme vor lauter Traurigkeit nicht, wo ich mich hinwende und wendet sich daher in einer abschließenden Bitte an Jesus: Nimm du mich, wenn es dir gefällt, Herr Jesu, in dein Freudenzelt. Damit konstruiert das Lied einen Gegensatz zwischen dem aus Gerechtigkeit strafenden Gott und dem rettenden Jesus und verfehlt damit die biblische Pointe, dass Jesus die Rolle des Retters und des Richters in sich vereint. In der abnehmenden Strophenzahl und seinem Wegfall im EG spiegelt sich somit das Unbehagen und der Widerspruch, den dieses Lied in seiner Einseitigkeit als „Bußpredigt“ 140 erzeugt. 3.7 Das übrige EG 3.7.1 Zum übrigen EG Anspielungen und Zitate matthäischer Gerichtsvorstellungen kommen auch im übrigen EG unter ganz unterschiedlichen Rubriken vor, und zwar sowohl in der übrigen Oberrubrik „Kirchenjahr“ als auch in den Oberrubriken „Gottesdienst“ und „Glaube - Liebe - Hoffnung“, nicht aber in der Rubrik „Biblische Gesänge“. Da aber das hauptsächliche Thema der meisten Lieder ein anderes ist als das Gericht, ist auch ihre jeweilige Zuordnung zu einer Rubrik nicht durch das Gerichtsthema bestimmt. Deshalb ist es wenig sinnvoll, hier weiterhin nach Rubriken vorzugehen, zumal diese ebenfalls keinen Rückhalt im Kirchenjahr haben. Vielmehr zeichnen sich bei der Durchsicht bestimmte Themenbereiche ab, unter denen die matthäischen Gerichtsvorstellungen zur Sprache kommen. Die im Folgenden vorgestellten Liedauszüge sind deshalb nicht mehr nach Rubriken, sondern thematisch geordnet. 140 Kornemann, Ewigkeit, 372. <?page no="255"?> 255 3.7.2 Das Thema „Hoffnung und Gewissheit“ In einem weit überwiegenden Teil dieser Lieder drückt sich die Gewissheit, zumindest aber die Hoffnung aus, im Gericht bestehen zu können und am ewigen Leben teilzuhaben. Diese Hoffnungsperspektive ist als Reaktion auf die Angst vor Gericht und Verdammnis zu verstehen sowie vor dem Hintergrund der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade durch den Glauben. Die im Folgenden genannten Lieder lassen sich auch als Vermittlungsversuche zwischen der Rechtfertigungslehre und der matthäischen Gerichtsvorstellung verstehen. Ein erstes Beispiel für diese Thematik ist Luthers 141 Weihnachtslied EG 23 Gelobet seist du, Jesu Christ. Es rezipiert das matthäische Gerichtsszenario ausschließlich unter dem Aspekt der hoffnungsvollen Erwartung der Endzeit. Im Anschluss an die direkt an Jesus Christus gerichtete, einführende erste Strophe wird die Geschichte seiner Geburt und deren Bedeutung für die Christenheit (Str. 7) nacherzählt. Eine große Rolle spielen dabei semantische Oppositionen, die den Gegensatz zwischen dem Kommen Jesu in Niedrigkeit als Kind und dessen universaler, heilvoller Bedeutung illustrieren (Str. 2.3.6). In diesem Zusammenhang kommt auch die endzeitliche Hoffnung als Gegenüber zur als leidvoll erfahrenen Gegenwart zur Sprache (Str. 5): Der Sohn des Vaters, Gott von Art, ein Gast in der Welt hier ward und führt uns aus dem Jammertal, macht uns zu Erben in seim Saal. Kyrieleis. Die Perspektive, von Jesus, dem Richter, zu Erben der basilei,a erklärt zu werden (Mt 25,34) oder, auf der Gleichnisebene gesprochen, in den Saal der Hochzeitsfeier hineingelassen zu werden (25,10), ist hier als Indikativ formuliert. Das Scheitern im Gericht ist, anders als in den Gerichtsszenarien der genannten Perikopen, keine Option. Auch in vielen Passionsliedern haben der Gerichtsgedanke und die Anspielungen an Mt 24-25 v.a. die Funktion der Versicherung und Vergewisserung, dass durch den Tod Jesu am Kreuz die Rettung des Menschen im Gericht und seine Teilhabe am ewigen Leben erwirkt sei. So ist es z.B. in der Schlussstrophe von Paul Gerhardts Passionslied EG 83 Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld aus dem Jahr 1647. Weil das Lämmlein die Sünden aller Sünder gebüßt hat durch Sterben und durch Bluten (Str. 1f.), drückt die Erzählstimme ihre Hoffnung aus, in die „Freude“ (Mt 25,21.23) einzugehen, die mittels Brautmetaphorik ausgemalt wird (Str. 7): 141 Str. 1 ist eine volkssprachliche Strophe, deren frühester schriftlicher Beleg aus dem Jahr 1380 stammt, Str. 2-7 gehen auf Luther zurück (vgl. EG). <?page no="256"?> 256 Wenn endlich ich soll treten ein in deines Reiches Freuden, so soll dein Blut mein Purpur sein, ich will mich darein kleiden; es soll sein meines Hauptes Kron, in welcher ich will vor den Thron des höchsten Vaters gehen und dir, dem er mich anvertraut, als eine wohlgeschmückte Braut an deiner Seite stehen. Diese uns erworbene „Freude“ (Mt 25,21.23), das „ewige Leben“ (Mt 25,46) thematisiert auf viel nüchternere Weise die Nachdichtung eines ungarischen Liedes EG 96 Du schöner Lebensbaum des Paradieses von Dieter Trautwein aus dem Jahr 1974. In seiner doxologisch anmutenden Schlussstrophe wird das Reich Gottes nicht als zukünftiges, vor dem Thron des Höchsten stattfindendes Hochzeitsfest imaginiert, als örtlich und zeitlich fixiertes Ereignis also. Es ist hier vielmehr als Zustand gedacht, der gekennzeichnet ist durch Frieden ohne Ende und ewige Freude, also durch etwas, das in der gegenwärtigen Welt schmerzlich fehlt - ein Zustand, der bereits innerweltlich eintreten kann und bereits partiell eingetreten ist, dessen endgültige Erfüllung aber noch aussteht. Das Osterlied EG 111 Frühmorgens, da die Sonn aufgeht, 1630 von Johann Heermann verfasst, verbindet das Thema der Auferstehung mit dem der Wiederkunft: In der erzählten Gegenwart ist noch nicht ganz kundgemacht (Str. 8), was Kreuz und Auferstehung Jesu Christi bewirkt haben. Erst der Jüngste Tag wird’s zeigen an, / was er für Taten hat getan - und nicht die Menschen: Er hat der Schlangen Kopf zerknickt,/ die Höll zerstört, den Tod erdrückt (Str. 9). Auch hier formuliert die Erzählstimme die Gewissheit: Da werd ich Christi Herrlichkeit / anschauen ewig voller Freud. (Mt 25,21.23). Dabei wird augenscheinlich kein Widerspruch empfunden zwischen der Aussage, dass Jesus die Höll zerstört habe, und der Ansage der Erzählstimme ich werde sehn, wie alle Feind / zur Höllenpein gestürzet seind (Str. 10). Auch jenseits der Passions- und Osterlieder findet sich der Gedanke, dass die Hingabe Jesu ans Kreuz aus dem Gericht rettet. So ist es z.B. in Paul Gerhardts EG 325 Sollt ich meinem Gott nicht singen? aus der Rubrik „Loben und Danken“ (Str. 3) formuliert: Sein Sohn ist ihm nicht zu teuer, nein, er gibt ihn für mich hin, dass er mich vom ewgen Feuer durch sein teures Blut gewinn. … Der Mensch hätte das ewge Feuer (Mt 25,41), so ist es hier suggeriert, verdient. Durch die Hingabe des Sohnes wird er - unverdient - davor bewahrt. <?page no="257"?> 257 Somit hat die Erzählstimme Grund zu der Hoffnung, mit dem hellen Glaubenslicht erfüllt zu werden, das des Todes Macht zerbricht / und die Hölle selbst macht stille. Diese Hoffnung, dass Gottes Liebe trotz seines zu erwartenden Gerichts die Zeiten überdauert und bis in die Ewigkeit hinein trägt, ist der Erzählstimme größer als jede Gerichtsangst Die Hoffnung, im Gericht bestehen zu können, ist auch in EG 405 Halt im Gedächtnis Jesus Christ aus der Rubrik „Geborgen in Gottes Liebe“ formuliert. Das Lied bezieht sich primär auf den zweiten Artikel des Nizänums sowie 2 Tim 2,8. Die vorletzte Strophe spricht von Jesus Christus, der einst wird wiederkommen / und sich, was tot und lebend ist, / zu richten vorgenommen. Diese Ansage richtet sich wie das gesamte Lied an einen als o Mensch angeredeten Erzähladressaten. Dadurch entsteht der Predigtcharakter des Liedes. Es richtet sich jedoch auch immer an die Singenden selbst als eine Art Seelenrede. So ist auch die angemahnte Haltung dem kommenden Gericht gegenüber zu verstehen: o denke, dass du da bestehst / und mit ihm in sein Reich eingehst! Diese Hoffnung, die sich der Mensch vor Augen halten soll, sieht die Erzählstimme wiederum begründet in Jesu Kreuzestod, durch den er hat bestritten Welt, Sünde, Teufel, Höll und Tod (Str. 2). So steht am Schluss (Str. 6) die Hoffnung, am Ende zu Jesus ins Leben dringen zu dürfen. Damit ist auch hier das Gericht nicht bedeutungslos geworden, jedoch besteht die berechtigte Hoffnung, in ihm bestehen zu können. Auf ganz ähnliche Weise setzt das 1937 von R. A. Schröder verfasste Credolied EG 184 Wir glauben Gott im höchsten Thron den Ernst des kommenden Gerichts und die Gewissheit, darin zu bestehen und das ewige Leben zu erlangen, in Beziehung. Es kündigt die Wiederkunft Jesu Christi zum Gericht im Anschluss an seine Höllenfahrt, Auferstehung und Himmelfahrt an (Str. 4): Der niederfuhr und auferstand, erhöht zu Gottes rechter Hand, und kommt am Tag, vorherbestimmt, da alle Welt ihr Urteil nimmt. Das in Mt 25,31 angesagte Gericht über alle Völker ist hier eindeutig universal gedeutet und noch weiter gefasst: alle Welt empfängt ihr Urteil, und zwar am Tag der Parusie, den nur der Vater kennt (Mt 24,36). In der folgenden letzten Strophe erfolgt eine Fokussierung auf den Horizont der Kirche, die bestehen wird, bis wir, von Sünd und Fehl befreit, / ihn selber schaun in Ewigkeit. Diese Strophe thematisiert in erster Linie das ewige Leben, lässt aber die Deutung zu, dass die hier imaginierte Schau Gottes das Gericht als Läuterung und Befreiung von Sünd und Fehl voraussetzt. In einem so gedachten Gericht werden nicht Menschen vernichtet, sondern von dem befreit, was sie von Gott und ihren Mitmenschen trennt. Die Hoffnung auf Teilhabe am ewigen Leben wird häufig auch in Sterbeliedern formuliert. In ihnen werden Sterbeszenarien ausgemalt und die <?page no="258"?> 258 Ängste, die der Mensch im Sterben durchleidet, seine Schuld, die ihm bewusst wird und damit einhergehend die Angst vor dem Gericht vor Augen geführt. Diese Lieder enden häufig mit dem vertrauensvollen Ausblick, dass dem Sterbenden das ewige Leben zuteilwerden wird, oder der Bitte darum. Ersteres ist im Lied EG 522 Wenn mein Stündlein vorhanden ist der Fall (Str. 5): So fahr ich hin zu Jesus Christ, mein‘ Arm tu ich ausstrecken; so schlaf ich ein und ruhe fein; kein Mensch kann mich aufwecken denn Jesus Christus, Gottes Sohn; der wird die Himmelstür auftun, uns führn zum ewgen Leben. Der Gerichtsgedanke ist hier vollkommen ausgeblendet zugunsten des bei Mt jeweils „positiv“ endenden Handlungsstranges des Gleichnisses von den zehn jungen Frauen und der Endgerichtsszene: Jesus selbst wird die Tür zum Himmel öffnen, sie bleibt nicht verschlossen wie für die „dummen“ Frauen (vgl. Mt 25,10-12), und er wird zum ewigen Leben und nicht in die ewige Strafe führen (vgl. Mt 25,46) - dieses Vertrauen wird hier deutlich. Insgesamt lässt sich sagen, dass in den genannten Liedern die Hoffnung, ja die Gewissheit auf die Teilhabe am Reich Gottes Ausdruck findet. Diese Hoffnung dient zumeist dem Trost angesichts des eigenen Todes. Sie wird häufig explizit mit dem Kreuzestod Jesu „für“ die Menschen begründet. 3.7.3 Das Thema „Gericht und Glaube, Gericht und Werke“ In Liedern des EG wird mehrfach thematisiert, wie und wodurch es möglich ist, im Gericht zu bestehen. Häufig hat der Glaube diesen Stellenwert, z.B. in der Te deum laudamus-Nachdichtung EG 331 Großer Gott, wir loben dich, 142 die sich in der Rubrik „Loben und Danken“ findet (Str. 7): Durch dich steht das Himmelstor allen, welche glauben, offen; du stellst uns dem Vater vor, wenn wir kindlich auf dich hoffen; du wirst kommen zum Gericht, wenn der letzte Tag anbricht. Im Hintergrund steht hier die Zusage Jesu, dass er sich vor dem Vater zu denen bekennen werde, die sich vor den Menschen zu ihm bekennen (Mt 142 Im *EKG wurde Str. 5 im Sinne des interkonfessionellen Dialogs verändert. Str. 6-8 fehlen. <?page no="259"?> 259 10,32). Die Ankündigung des Gerichts, die im Lied als solche nicht weiter ausgeführt wird, dient dazu, den Ernst dieses Bekenntnisses zu verdeutlichen. Häufig aber wird das Gericht gar nicht explizit thematisiert, trotzdem aber auf Gerichtstexte der Endzeitrede angespielt. So ist es in der Schlussstrophe von Paul Gerhardts EG 447 Lobet den Herren alle, die ihn ehren der Fall, das im EG in die Rubrik „Morgen“ eingeordnet ist: Herr, du wirst kommen und all deine Frommen, die sich bekehren, gnädig dahin bringen, da alle Engel ewig, ewig singen: »Lobet den Herren! « Das Lied lässt zwar auch das Tun nicht außer Acht, bringt es jedoch nicht direkt mit eschatologischen Konsequenzen in Verbindung (Str. 8f.): Treib unsern Willen, dein Wort zu erfüllen; hilf uns gehorsam wirken deine Werke; und wo wir schwach sind, da gib du uns Stärke. Lobet den Herren! Richt unsre Herzen, daß wir ja nicht scherzen mit deinen Strafen, sondern fromm zu werden vor deiner Zukunft uns bemühn auf Erden. Lobet den Herren! Wichtig ist hierbei die Bedeutung des Adjektivs „fromm“, die im damaligen Sprachgebrauch über „gläubig“ hinausging - darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Wie bereits in EG 11 wird auch hier die Bedeutsamkeit von Glauben und Tun für das Gericht herausgestellt, wobei der Glaube - mit Luther und dessen Paulusverständnis - immer den Primat besitzt: Die Glaubenden haben in Jesus einen Fürsprecher im Gericht. Einige Lieder mahnen jedoch ganz explizit die in der Endzeitrede geforderte Wachsamkeit und Bereitschaft an sowie entsprechendes Tun. So ist es der Fall in EG 387 Mache dich, mein Geist, bereit, das sich in seinen Ausführungen der Aufforderung wache, fleh und bete auf Gleichnisse der Endzeitrede (Mt 24,42-51; 25,1-13) bezieht. In Ch. F. Gellerts EG 412 So jemand spricht: „Ich liebe Gott“ werden dagegen in Anlehnung an Mt 25,31-46 und Jak 2,13-16 Taten der Barmherzigkeit angemahnt, auf deren Unterlassen ein unbarmherziges Gericht folgt. Auf diese beiden Lieder wird noch näher einzugehen sein. <?page no="260"?> 260 3.7.4 Bitten im Hinblick auf das Gericht Angesichts solcher Anforderungen, denen ein Mensch nicht genügen kann, und angesichts der aus dieser Erkenntnis resultierenden Gerichtsangst ist in vielen Liedern die Bitte um das Vertrauen formuliert, im Gericht bestehen zu können, oder die Bitte um den Willen und das Vermögen, gottgefällig zu leben. So wird es z.B. in Justus Gesenius‘ 1646 entstandenem EG 82 Wenn meine Sünd' mich kränken deutlich, das sich auf Luthers Erklärung zum 2. Artikel im Kleinen Katechismus bezieht. Es handelt sich um ein an Jesus gerichtetes Gebetslied, das eben das bewirken will, was seine erste Strophe aussagt: Das Bedenken des Todes Jesu, der am Kreuz die Schuldenlast des Menschen auf sich genommen hat, so dass er nicht mehr darf fürchten der Hölle Qual und Glut (Str. 3). Aus Dankbarkeit dafür will die Erzählstimme die sündliche Begier meiden (Str. 5) und das eigene Kreuz geduldig tragen (Str. 6). Es folgt die Bitte um Nächstenliebe (Str. 7): Lass mich an andern üben, was du an mir getan; und meinen Nächsten lieben, gern dienen jedermann ohn Eigennutz und Heuchelschein und, wie du mir erwiesen, aus reiner Lieb allein. Hier wird die Pointe der Gerichtsszene Mt 25,31-46 gleichsam umgedreht: Die Liebe, die Jesus an ihr geübt hat, will die Erzählstimme an die Menschen weitergeben - nicht aus Berechnung, sondern aus reiner Lieb allein. Auf das Bestehen im Gericht, das Angenommenwerden (Mt 25,34), kann sich die Erzählstimme aufgrund des eigenen Glaubens und Vertrauens verlassen. So bittet sie um Trost und Vertrauen auch im Sterben (Str. 8): Lass endlich deine Wunden mich trösten kräftiglich in meiner letzten Stunden und des versichern mich: weil ich auf dein Verdienst nur trau, du werdest mich annehmen, dass ich dich ewig schau. Die Funktion dieses Liedes ist evident: Es soll Trost spenden angesichts des eigenen Sterbens und der Ungewissheit des eigenen postmortalen Ergehens Gewissheit vermitteln, dass nicht das Verderben, sondern das Eingehen in Gottes Herrlichkeit die eigene Bestimmung ist. <?page no="261"?> 261 Eine weitere Vertrauensbitte ist in der letzten Strophe von EG 158 O Christe, Morgensterne formuliert: O Jesu, Lob und Ehre sing ich dir allezeit; den Glauben in mir mehre, dass ich nach dieser Zeit mit dir eingeh zur Freud. Die Bezugnahme auf Mt 25,21.23 und die endzeitliche Deutung dieses Sklavengleichnisses dürfte deutlich sein: Die Erzählstimme bittet Jesus darum, dass ihr die Belohnung des ersten und zweiten Sklaven zuteilwerden möge, die durch die Zeitangabe auf das endzeitliche Heil gedeutet wird. Die Bitte den Glauben in mir mehre ist jedoch zweideutig: Das folgende dass kann auch final aufgefasst werden, so dass es sich um eine Bitte um Glauben handelt, der letztlich dazu führt, mit Jesus zur Freud eingehen zu dürfen. Die beiden Pfingstlieder EG 133 Zieh ein zu deinen Toren und EG 134 Komm, o komm, du Geist des Lebens formulieren jeweils in ihrer letzten Strophe je einen der beiden genannten Aspekte: In ersterem wird das tatsächliche [E]rerben / des ewgen Lebens Haus erbeten, während in letzterem die Bitte formuliert wird, im eigenen Sterben die Gewissheit zu haben, zu des Himmelreiches Erben gezählt zu werden, also zuversichtlich und voller Hoffnung zu sein. Der Gerichtsgedanke ist in diesen Liedern nicht explizit formuliert, steht jedoch im Hintergrund, da Formulierungen wie die letztgenannte einen intertextuellen Bezug zur Endzeitrede (hier Mt 25,34) herstellen. Anders verhält es sich in Phillip Spittas EG 358 Es kennt der Herr die Seinen (Str. 6): So hilf uns, Herr, zum Glauben und halt uns fest dabei; lass nichts die Hoffnung rauben; die Liebe herzlich sei! und wird der Tag erscheinen, da dich die Welt wird sehn, so lass uns als die Deinen zu deiner Rechten stehn. Bei dieser Bitte um Glauben und Hoffnung ist der Bezug auf die Endzeitrede explizit: Der Tag, an dem die Welt den Menschensohn sehn wird (Mt 24,36f.) ist der Tag seines Gerichts, an dem die Gerechten zu seiner Rechten gestellt werden (25,33). <?page no="262"?> 262 Auch bei den Strophen 7-10 des Morgenliedes EG 451 Mein erst Gefühl sei Preis und Dank handelt es sich um Bitten, jedoch nicht um den Glauben, sondern um ein zuversichtliches, weises Herz (Str. 7), das zum rechten Lebenswandel verhilft, dazu (Str. 8), dass ich als ein getreuer Knecht nach deinem Reiche strebe, gottselig, züchtig und gerecht durch deine Gnade lebe; Die Erzählstimme identifiziert sich mit der Rolle der ersten beiden Sklaven des genannten Gleichnisses (vgl. Mt 25,21.23), deren Tätigkeit - das Vermehren der Talente - hier als für das Gericht relevanter Lebenswandel gedeutet wird. Ein weiteres Exempel ethisch erwünschten Tuns schöpft das Lied aus den in der Gerichtsszene Mt 25,31-46 geschilderten Werken der Barmherzigkeit (Str. 9): dass ich, dem Nächsten beizustehn, nie Fleiß und Arbeit scheue, mich gern an andrer Wohlergehn und ihrer Tugend freue; Trotzdem ist sich die Erzählstimme nicht gewiss, durch das eigene Tun das Reich Gottes verdienen zu können. Das Urteil überlässt sie dem eschatologischen Richter, an den sie die abschließende Bitte richtet (Str. 10): dass ich das Glück der Lebenszeit in deiner Furcht genieße und meinen Lauf mit Freudigkeit, wenn du es willst, beschließe. Die hier nur andeutungsweise und indirekt formulierte Bitte darum, im Gericht zu bestehen und am ewigen Leben teilzuhaben, ist getragen von der Hoffnung, dass Jesus selbst aus dem Gericht rettet. Eine solche Bitte findet sich in dem Abendlied EG 478 Nun sich der Tag geendet hat: Obwohl das lyrische Ich sich durch der Sünden Schuld bei Gott angeklagt weiß, weiß es auch um die Genugtuung, die seines Sohnes Huld für ihn geleistet hat (Str. 4). Deshalb will es den Sohn beim letzten Gericht zum Bürgen einsetzen (Str. 5) - ganz weltlich ist dieses Gericht gedacht - denn es weiß: ich kann ja nicht verloren sein in solcher Zuversicht. Diese Zuversicht wird auch in der Bitte deutlich, die den eschatologischen Ausblick abschließt: …führ mich, Herr, in’ Himmel ein zur Auserwählten Zahl (Str. 8; vgl. Mt 24,31). Wie sich hier die Erzählstimme gegen die drohenden Ängste der Nacht Trost zuspricht, so wird in dem Lutherlied EG 518 Mitten wir im Leben sind Gott um Hilfe und Erbarmen in der Anfechtung durch den drohenden Tod <?page no="263"?> 263 angerufen. Tatsächlich sieht sich der Mensch, so wird es hier beschrieben, ständig mit dem Tod konfrontiert, ständig vom Tod bedroht und der Hölle Rachen gegenüber. Gerichtsszenarien wie das in Mt 25,31-46 ausgemalte erzeugen die Angst, auf das Gericht nicht genügend vorbereitet zu sein - sie wird im Lied deutlich durch das wiederholte Sündenbekenntnis. Gegen diese Angst wendet sich das kollektive lyrische Ich an Christus, erinnert ihn an dessen Taten und stimmt dann in den Kehrvers Heiliger Herre Gott… ein, die Rettung aus Todes- und Höllenangst im Leben wie im Tod erfleht. Ein weiteres, Ende des 19. Jahrhunderts in Siebenbürgen entstandenes Sterbelied, EG 531 Noch kann ich es nicht fassen, hat weniger die Angst vor Tod und Hölle im Blick als die Hoffnung auf das ewige Leben. Die in der dritten Strophe geäußerte Bitte führ mich zum Himmelsthron; / führ mich zu Freud und Wonne / der Seligen im Licht bezieht sich wiederum auf den positiven, mit dem Eingang in die Freude (Mt 25,21.23) endenden Ausgang des Gerichts vor dem Thron des Menschensohnes (25,31). Zu hören sind die genannten Texte immer vor dem Hintergrund einer im Leben wie im Sterben auftretenden bzw. bei den Singenden vorausgesetzten Gerichtsangst, der durch die Bitten etwas entgegen gesetzt werden soll. Ihre Funktion ist daher in erster Linie, im Hinblick auf das eigene Sterben Trost und Zuversicht zu vermitteln. 3.7.5 Eigene Wege des 20. Jahrhunderts In Liedern des 19. und 20. Jahrhunderts artikuliert sich das Gerichtsthema häufig auf ganz eigene Weise. Hier steht nicht mehr das Bestehen oder Scheitern im Vordergrund, die Teilhabe am ewigen Leben oder das Ausgeschlossensein von ihm, sondern Aspekte des Gerichtsgedankens, die darüber hinausgehen. Das 1963 von Dieter Trautwein verfasste Weihnachtslied EG 56 Weil Gott in tiefster Nacht erschienen thematisiert die Bedeutung des Kommens Jesu in die als unheilvoll erfahrene Welt. Der in allen Strophen wiederkehrende Kehrvers Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht traurig sein vereinigt mehrere Bedeutungsebenen: Die nächtliche Geburt Jesu ist die Erscheinung Gottes und sein Kommen in die Welt. 143 Die tiefste Nacht konnotiert aber auch Traurigkeit und Verzweiflung. In einen solchen Zustand den hinein ist Gott erschienen. Auch wenn jene Nacht weit zurückliegt, wirkt sie doch in die zum Zeitpunkt des Singens gegenwärtige Christnacht und alle trostlosen, verzweifelten „Nächte“ des kollektiven lyrischen Ichs hinein, und zwar kontrafaktisch: Zwar ist der eigene Zustand und der Zu- 143 Diese trinitätstheologische Pointe steht hier im Mittelpunkt: Jesus Christus, der präexistente lo, goj , der sich als Mensch den Menschen darstellt (Str. 1) und alles kennt und sieht (Str. 2), ist niemand anders als Gott selbst. <?page no="264"?> 264 stand der Welt ein „nächtlicher“, aber trotzdem wird in dieser „Nacht“ in der Vergegenwärtigung der Erscheinung Gottes Hoffnung erfahren. Auf welche Weise dies geschieht, thematisieren die einzelnen Strophen. Explizite Anspielungen auf matthäische Gerichtsvorstellungen finden sich hier nicht. Jedoch wird jenseits der Frage nach dem Bestehen im Gericht ein Aspekt thematisiert, der auch in der Endgerichtsszene Mt 25,31-46 von zentraler Bedeutung ist (Str. 3): Er sieht dein Leben unverhüllt, zeigt dir zugleich dein neues Bild. Es ist der Aspekt der Betrachtung und Würdigung des individuellen Lebens. In der matthäischen Endgerichtsszene geschieht dies in der ausführlichen und mehrfach wiederholten Aufzählung des Tuns und Unterlassens der Beurteilten. Ihr gelebtes Leben tritt unverhüllt zu Tage (vgl. auch 2 Kor 5,10), auch Aspekte, die ihnen vorher nicht bewusst waren („was ihr diesen geringsten…“), und zwar retrospektiv. Das Lied dagegen betont, dass Gott bereits in seinem gegenwärtigen Kommen in die Welt alles kennt und sieht (Str. 2). So lässt sich Str. 3 als Beschreibung einer Rezeptionshaltung Mt 25,31-46 gegenüber lesen: In dem Wissen, dass das eigene Leben unverhüllt zutage treten und an den aufgezählten Taten gemessen werden wird, wird es kritisch überprüft. Gleichzeitig wird den Singenden durch diese Konfrontation ihr neues Bild vor Augen geführt, so, wie Gott sie gemeint hat. 144 Dieser ethische Impetus, den die matthäische Endgerichtsszene zweifellos mit sich bringt, ist in der folgenden vierten Strophe in veränderter Form aufgenommen: Nimm an des Christus Freundlichkeit, trag seinen Frieden in die Zeit. Sich seine Freundlichkeit gefallen zu lassen und sie weiterzugeben, darin liegt die doppelte Botschaft dieser Strophe. 145 Der Frieden, der in der Weihnachtsnacht von den Engeln verkündigt wird (Lk 2,14), ist mit Christus in die Welt gekommen, muss aber von den Menschen gelebt werden - untereinander und zuallererst den „geringsten Geschwistern“ gegenüber. Auch in dem von J. Henkys aus dem Englischen übertragenen EG 431 Gott, unser Ursprung, Herr des Raums spiegelt sich die Mentalität und die speziellen Problemstellungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Das Lied findet sich unter der Rubrik „Erhaltung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit“ und thematisiert den katastrophalen Umgang der Menschen mit der von Gott geschaffenen Erde. Dabei wird das Wortfeld „Feuer“ 144 Auch Stalmann, Gott, 74, liest diese Strophe als Rekurs auf Gott als Richter und Retter. 145 Vgl. Stalmann, Gott, 74f. <?page no="265"?> 265 auf verschiedenste Weise verwendet, auch metaphorisch. So lautet die dritte und letzte Strophe: Wir preisen dich, du Herr des Lichts! Geblendet noch und schuldbedroht sehn wir nur Feuer des Gerichts, nicht deine Liebe, die da loht. Zeig uns, was neuen Frieden schafft. Für ihn zu leiden gib uns Kraft. Der Zustand der Welt wird von dem kollektiven lyrischen Ich als Gericht Gottes gedeutet, als Strafe für das schuldhafte Versagen der Menschen im Diesseits (vgl. Mt 25,41-43). Gleichzeitig wird diese Wahrnehmung als Zustand der Verblendung erkannt: 146 Das „Feuer“ Gottes ist kein vernichtendes, sondern eines, das vor Liebe loht. Gott - von Jesus Christus ist im ganzen Lied keine Rede - ist in dieser Situation nicht der strafende, richtende Gott, sondern derjenige, der den Menschen aus dem von ihnen selbst verschuldeten Unglück heraushelfen kann. So ergeht abschließend die Bitte an ihn, aus dem Zustand der Verblendung heraus- und zum friedensfördernden Handeln zu verhelfen. 3.8 Fazit Der Überblick zum EG hat gezeigt, dass sich dort relativ wenige Lieder finden, die Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede zum primären Thema haben - diese Lieder werden im Folgenden noch gesondert analysiert. Es wurde vielmehr deutlich, dass Gerichtsvorstellungen oft als ein Aspekt der übergeordneten Thematik in wenigen oder nur einer Liedstrophe vorkommen - z.B. als Aspekt des im Advent erwarteten Kommens und Wiederkommens Jesu. Auch fungieren Gerichtsvorstellungen oft als Negativfolie in Liedern, die Hoffnung und Trost vermitteln wollen, z.B. Sterbelieder. In solchen Liedern ist das Gericht häufig nicht explizit thematisiert. Weil sie aber Anspielungen an Gerichtsperikopen der Endzeitrede enthalten und die Modell-Lesenden diese kennen, spielt die Gerichtsthematik immer implizit eine Rolle und ist mit zu bedenken. In der Entwicklung des Liedbestandes des EG im Vergleich mit *Stuttgart 1854, dem *DEG 1915 und dem *EKG spiegelt sich einerseits die Tendenz wider, dass der Gerichtsgedanke in zunehmendem Maße aus der 146 Dieser Zustand ist mit der in EG 518 Mitten wir im Leben sind geschilderten Anfechtungssituation und der Reflexion hierüber vergleichbar (Str. 2): Mitten in dem Tod anficht uns der Hölle Rachen. Wer will uns aus solcher Not frei und ledig machen? Das tust du, Herr, alleine… <?page no="266"?> 266 kirchlichen Verkündigung verschwindet. Andererseits lässt sich gerade im EG eine umgekehrte Tendenz beobachten: Zum einen sind dort Lieder wiederentdeckt und aufgenommen, die in den vorherigen Gesangbüchern fehlten, zum anderen enthält es einige Lieder des 20. Jahrhunderts, die den Gerichtsgedanken auf ganz neue Weise thematisieren. <?page no="267"?> 267 4 Analysen ausgewählter Lieder 4.1 EG 5 Gottes Sohn ist kommen 1. Gottes Sohn ist kommen uns allen zu Frommen hier auf diese Erden in armen Gebärden, dass er uns von Sünde freie und entbinde. 6. Denn bald und behände kommt ihr letztes Ende; da wird er vom Bösen ihre Seel erlösen und sie mit sich führen zu der Engel Chören. 2. Er kommt auch noch heute und lehret die Leute, wie sie sich von Sünden zur Buß sollen wenden, von Irrtum und Torheit treten zu der Wahrheit. 7. Wird von dannen kommen, wie dann wird vernommen, wenn die Toten werden erstehn von der Erden und zu seinen Füßen sich darstellen müssen. 3. Die sich sein nicht schämen und sein’ Dienst annehmen durch ein’ rechten Glauben mit ganzem Vertrauen, denen wird er eben ihre Sünd vergeben. 8. Da wird er sie scheiden: seines Reiches Freuden erben dann die Frommen; doch die Bösen kommen dahin, wo sie müssen ihr Untugend büßen. 4. Denn er tut ihn’ schenken in den Sakramenten sich selber zur Speisen, sein Lieb zu beweisen, dass sie sein genießen in ihrem Gewissen. 9. Ei nun, Herre Jesu, richte unsre Herzen zu, dass wir, alle Stunden recht gläubig erfunden, darinnen verscheiden zur ewigen Freuden. 5. Die also fest glauben und beständig bleiben, dem Herren in allem trachten zu gefallen, die werden mit Freuden auch von hinnen scheiden. 4.1.1 Einleitung Das Adventslied Gottes Sohn ist kommen ist erstmals in der 1544 von Johann Horn herausgegebenen zweiten Auflage des deutschsprachigen Gesangbu- <?page no="268"?> 268 ches der Böhmischen Brüder nachweisbar. 147 Heute wird es zumeist Michael Weiße, dem Herausgeber der ersten Auflage desselben Gesangbuches aus dem Jahr 1531, zugeschrieben. 148 Es handelt sich um eine Kurzfassung des bereits in Weißes Gesangbuch aufgenommenen Liedes Menschenkind, merck eben, das sich bei Horn direkt vor Gottes Sohn ist kommen findet. 149 Einige Spezifika der Brüdertheologie spiegeln sich in Gottes Sohn ist kommen wider, v.a. das Abendmahlsverständnis. Auch lässt sich der predigthafte Charakter 150 des Liedes auf die Verfolgungssituation, in der sich die Brüdergemeine befand und in der die Gesangbücher häufig Glaubenslehre und Volkspredigt ersetzten, 151 zurückführen. Das Lied hat das dreifache Kommen Jesu in die Welt zum Thema, das bereits in der zeitlichen Struktur des Liedtextes zu erkennen ist. Diese Struktur ist durch drei zentrale Handlungskerne markiert: Gottes Sohn ist kommen (Str. 1; Vergangenheit), Er kommt auch noch heute (Str. 2; Gegenwart) und Wird von dannen kommen (Str. 7; Zukunft). 152 Der Liedtext zeichnet somit das Kommen des Gottessohnes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 153 nach sowie die Bedeutung dieses Kommens für die Menschen. Erzählstimme und Erzähladressat_innen der Strophen 1 und 9 sind homodiegetisch und erscheinen somit als unmittelbar betroffen vom Kommen Jesu, was durch das abschließende Gebet noch betont wird. Diese Strophen bilden den Rahmen der Schilderung des gegenwärtigen und zukünftigen Kommens Jesu (Str. 2-8). Diese Schilderung erfolgt in einem weit narrativeren, distanzierteren Modus: Eine heterodiegetische Erzählstimme formuliert 147 Johann Horn war der Vorsteher der böhmischen Brüderunität Jungbunzlau und verstarb dort 1547. In den späteren Ausgaben des Brüdergesangbuches von 1566, 1580 und 1606 ist Gottes Sohn ist kommen nicht mehr enthalten (vgl. Fischer, Kirchenlieder- Lexikon, 222.448). 148 Vgl. Blankenburg, Musik, 405; Nitschke, Sohn, 121; Meyer, Sohn, 4. Michael Weiße (~1488-1534) war Gemeindeleiter und später Priester der Brüderunität. Das von ihm erstellte o.g. Gesangbuch von 1531 war das erste deutschsprachige Brüdergesangbuch (vgl. Krieg, Weiße, 342f.). 149 Beide Lieder wurden auch in der Folgezeit häufig gemeinsam abgedruckt, jedoch mit abnehmender Tendenz. *Freylinghausen 1704 enthält m.W. erstmals nur Gottes Sohn ist kommen, *Freylinghausen 1741 aber wieder beide Lieder. In *Porst 1748 und den folgenden Ausgaben ist das Vorgängerlied nicht enthalten. Zum letzten Mal erscheint es m.W. in *Dresden 1785. 150 Vgl. Nitschke, Sohn, 121. 151 Vgl. Machilek, Brüder, 4. 152 Vgl. zu diesem dreigeteilten Aufbau auch Nitschke, Sohn, 121; Köhler, Quellen, 27-29; Thust, Lieder, 15. 153 In einigen Gesangbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts ist diese Dreiteilung in Form von Zwischenüberschriften hervorgehoben: Dreyfache Zukunft Christi. 1. (Zukunft ins Fleisch.) 2. (Geistliche Zukunft.) 7. (Zukunft zum Gerichte.) (*Breslau 1772); Der dreyfache Advent. 1. (Zukunft ins Fleisch.) 2. (Geistliche Ankunft.) 7. (Zukunft zum Gericht.) (*Dresden 1785); Christi dreifache Zukunft. [1. Ins Fleisch.] [2. In das Herz.] [3. Zum Gericht.] (*Königsberg 1815). <?page no="269"?> 269 in der dritten Person die Zusage und den Anspruch, die das Kommen des Gottessohnes für die Menschen in der erzählten Gegenwart darstellt. Beides, Zuspruch und Anspruch, lässt sich an den Handlungskernen der hier erzählten Geschichte vom Kommen Jesu festmachen: Gottes Sohn, das ist die Zusage, kommt … noch heute und lehret die Leute (Str. 2), vergibt ihre Sünden (Str. 3), schenkt sich ihnen in den Sakramenten (Str. 4) und wird nach ihrem Tod die Seelen der Glaubenden erlösen (Str. 6), einst wiederkommen (Str. 7) und die Frommen und die Bösen voneinander scheiden (Str. 8). Die Menschen, so der Anspruch, sollen auf sein Kommen mit Umkehr und Buß reagieren (Str. 2), in sein‘ Dienst treten und ihm vertrauen (Str. 3), ihn in den Sakramenten geistlich empfangen (Str. 4), im Glauben beständig bleiben und dem Herren in allem trachten zu gefallen (Str. 5). An dieser Stelle ist die Formulierung des Anspruchs abgeschlossen: Wer so handelt, wird mit Freuden auch von hinnen scheiden. Im Folgenden treten die Leute (Str. 2) nicht mehr als handelnde Subjekte auf: Wenn der Gottessohn als Richter wiederkommt, besteht keine Möglichkeit mehr zum Handeln und zur Umkehr. Im Unterschied zu den bereits zitierten Adventsliedern wird hier die Wiederkunft zum Gericht explizit und ausführlich als ein Aspekt des im Advent erwarteten Kommens Jesu thematisiert. Hierbei spielen in erster Linie matthäische Vorstellungen eine Rolle, wie nach einer eingehenderen Analyse des Liedes zu zeigen sein wird. 4.1.2 Analyse und Intertexte Die erste Strophe verweist auf die Vergangenheit, auf den hier auf diese Erden gekommenen Gottessohn und die Bedeutung seines Kommens für uns. Sie fasst die adventliche Botschaft in kürzester Form zusammen (vgl. Mt 1,21; 1 Tim 1,15): Der von Gott bevollmächtigte Sohn (Mt 3,17; 11,27) ist in niedriger, menschlicher Gestalt, in armen Gebärden (Phil 2,7), in Demut bis zur Selbsthingabe, 154 gekommen. Der Sinn und der Nutzen, das Frommen 155 seines Kommens, ist im Lied aller weiteren Erläuterung betont vorangestellt: Es ist die Befreiung von Sünde (vgl. Mt 1,21), die „fesselt“ und unfrei macht. Str. 1 fungiert somit als Überschrift des gesamten Liedtextes, der verhandelt, wie die Befreiung von der Sünde vonstattengeht. Handelndes Subjekt bleibt dabei vorwiegend der Gottessohn; bis einschließlich Str. 4 wird ausschließlich mittels Personalpronomina auf ihn Bezug genommen. 154 Vgl. Meyer, Sohn, 6; Thust, Lieder, 15. 155 Das Verb „frommen“ leitet sich wohl von dem Adjektiv „fromm“ in der Bedeutung „nützlich, gut“ (DWB 4, 246f.) ab. Uns allen zu Frommen bedeutet dann „uns zu Nutzen, um uns zu helfen, uns zugut“ (Meyer, Sohn, 6). In der Aufklärungszeit wird die zweite Liedzeile bisweilen verändert. Vielleicht wurde das Verb „frommen“ nicht mehr verstanden, jedenfalls wurde als direkte Reaktion auf die Aussage Gottes Sohn ist kommen eine Aufforderung, ihn bzw. sein Kommen zu loben, eingefügt; sei es rühmet es, ihr Frommen (*Zwickau 1778) oder Dankt ihm, seine Frommen (*Braunschweig 1779). <?page no="270"?> 270 Auf sein Kommen heute beziehen sich die Strophen 2-6. Gottes Sohn kommt im Wort (Str. 2) und im Sakrament (Str. 4) in die Welt. Er tritt als Lehrer der Leute auf, 156 der neben dem Zuspruch der Befreiung von der Sünde (Str. 1) auch seinen Anspruch formuliert (Strophe 2), sich von Sünden, von Irrtum und Torheit abzuwenden und umzukehren zur Buß und zur Wahrheit (vgl. Mt 4,17b; Joh 18,37; Apg 3,19; 1 Tim 2,4) - die durch Enjambements verbundenen Gegensatzpaare veranschaulichen diese Umkehrforderung. Mit Strophe 3 beginnt ein eigener Handlungsstrang, der das Verhältnis der Umgekehrten, recht Glaubenden zu Jesus sowie ihr Ergehen nach ihrem Tod zum Thema hat. Ihre Umkehr besteht darin, durch den Glauben in Jesu Dienst zu treten, 157 ihm Vertrauen zu schenken und sich seiner nicht zu schämen. Dies sind die Voraussetzungen für die Sündenvergebung, die zum einen durch den Gottessohn gelehrt (Str. 2) und zum anderen durch das zusehends paränetischer werdende Lied selbst vermittelt werden. Auf die Formulierung des Anspruchs folgt die Zusage, dass sich der Gottessohn den Glaubenden in den Sakramenten schenkt (Strophe 4). Thematisiert wird an dieser Stelle vornehmlich das Abendmahl, in dem sich Jesus sich selber zur Speisen zum Beweis seiner Liebe gibt. Deutlich wird dabei das Abendmahlsverständnis der böhmischen Brüder, die den geistigen Empfang der Eucharistie betonten 158 und die Präsenz Christi im Sakrament des Abendmahles entgegen der symbolischen Abendmahlsauffassung Zwinglis einerseits und der lutherischen Ubiquitätslehre andererseits als „geistliche Präsenz“ bestimmten. Christus zu „speisen“ bedeutet also, ihn nicht leiblich, sondern im Gewissen zu genießen - und dieses „Geschenk“ Christi führt wiederum zum Glauben. So entsteht eine Wechselwirkung zwischen dem Kommen Jesu Christi im Wort und Sakrament und der Reaktion der Menschen, in denen Glaube und Vertrauen geweckt und bestärkt werden. Die Strophen 2-4 haben also nicht nur eine paränetische, sondern auch eine vergewissernde und nicht zuletzt eine katechetische Funktion. Zusammengefasst und auf das individuelle Lebensende zugespitzt werden diese Aussagen in Strophe 5. Sie thematisiert die zum Heil wesentlichen Dinge, die die böhmischen Brüder in von 1 Kor 13,13 und der augustinischen Tradition abweichender Reihenfolge mit Glaube - Liebe - Hoffnung bezeichneten. Hierin zeigt sich ihre eschatologische Ausrichtung. 159 Die Hoffnung auf ein getrostes und freudiges Sterben speist sich aus einem fes- 156 Ebenso Nitschke, Sohn, 122; Thust, Lieder, 15. 157 Sein' Dienst annehmen ist, so ist es mit Köhler, Quellen, 28, festzuhalten, „nicht passivisch zu verstehen (‚sich gefallen lassen‘), sondern in damaliger Sprache = ‚in seinen Dienst treten‘“. 158 Vgl. Machilek, Brüder, 1; Thust, Lieder, 16. 159 Vgl. Machilek, Brüder, 2, der diese Grundeinstellung wiederum auf hussitische Traditionen zurückführt. <?page no="271"?> 271 ten, beständigen Glauben 160 (vgl. Mt 24,13). Die Gnade Gottes und sein Wirken für das Heil der Menschen sollen - dies ist ebenfalls ein spezifischer theologischer Zug der Böhmischen Brüder - „im menschlichen Gehorsam gegen den Willen Gottes ihre Antwort finden“. 161 Durch die Aufzählung in Z. 1-4, die sich wie eine Liste zur Überprüfung des eigenen Lebens liest, wird wiederum Zuspruch wie auch Anspruch vermittelt. Ein solches Leben wird aber erst durch das Kommen und die Lehre Jesu ermöglicht. 162 Mit dieser Aufzählung endet auch die Betrachtung der Gegenwart, das gleichzeitige Erzählen, und es folgt eine externe Prolepse, die bis zum Ende des Liedes andauert. Es geht nun um das individuelle Sterben (Str. 5), das Geschick der Toten (Str. 6) und die eschatologische Wiederkunft des Gottessohnes zum Gericht (Str. 7-8). Strophe 6 verbleibt im Handlungsstrang derer, die fest glauben, auf die also die Charakterisierung der 5. Strophe zutrifft, und geht auf deren letztes Ende ein. Jesus Christus wird die Seelen der Glaubenden von allem Übel erlösen und sie in sein himmlisches Reich retten (2 Tim 4,18a). Sie werden zu den Auserwählten zählen, die von den Engeln des Menschensohnes aus allen vier Winden versammelt werden (Mt 24,31). Wann dies sein wird, bleibt aufgrund der impliziten zeitlichen Ellipse zwischen Str. 5 und 6 offen; mitgeteilt wird lediglich, dass es bald und behände eintreten wird. Hier spiegelt sich bereits die altprotestantische Jenseitsvorstellung, nach der sich die Seelen der Frommen nach ihrem Tod in einem Zwischenzustand in manu Dei befinden, bevor sie bei der Wiederkunft Jesu Christi zum Gericht endgültig der Seligkeit zugeführt werden. 163 Einen Ausblick auf das Endgericht bietet die folgende Strophe 7. Der Handlungsstrang der „Glaubenden“ ist nun beendet, und es geht nun um die universale Auswirkung der Wiederkunft Jesu in der Zukunft. Die externe Prolepse Wird von dannen kommen spielt auf das Glaubensbekenntnis an, wie es einige Jahre später im Katechismus der Böhmischen Brüder notiert ist: „Von dannen er kommen wird zu richten; die lebendigen vnd die todten.“ 164 Im Lied finden jedoch ausschließlich die Toten Erwähnung. Wie 160 Im Original heißt es die also bekleyben, d.h. wurzeln, anwachsen; vgl. DWB 1, 1420. In *Königsberg 1859 ist die Formulierung ersetzt durch die mehr auf das Tun abzielende Formulierung Die sein Werk recht treiben (Str. 5). Mehr dem Original angenähert, aber gleichzeitig verständlicher als das nicht mehr gebräuchliche Verb bekleyben ist diese Zeile in *Berlin 1886 Die an ihn fest gläuben bzw. *Königsberg 1899 Die also fest gläuben. Diese Version hat sich im Folgenden durchgesetzt; vgl. *Bayern 1938, *EKG; im EG heißt es glauben. 161 Funda, Brüder-Unität, 1790. 162 Ähnlich Meyer, Sohn, 5. 163 Vgl. Hütter, Compendium, XXIX 1,6. Entsprechend befinden sich nach dieser Vorstellung die Verdammten an einem Ort der Qualen, bevor sie im Anschluss an das Gericht endgültig der Hölle übergeben werden. 164 Katechismus der Böhmischen Brüder von 1554, 259. Der Originaltext, Von dannen er kommen, kommt dem Wortlaut des Katechismus noch näher als die EG-Version. <?page no="272"?> 272 dann wird vernommen bezieht sich möglicherweise auf den unbekannten Zeitpunkt der Parusie: Erst wenn sie eintritt, wird sie von den Lebenden wahrgenommen, und zwar dann, wenn die Toten auferstehen (Joh 5,28f.). Evident ist im Folgenden der intertextuelle Bezug auf die Endgerichtsszene Mt 25,31-46. 165 Die Toten müssen vor dem Thron des richtenden Menschensohnes (25,31f.) erscheinen - also zu dessen Füßen. Fokalisiert sind hier die Beurteilten, und zwar sowohl in räumlicher (zu Füßen des Richters) als auch in emotionaler Hinsicht: Sie werden sich darstellen müssen, d.h., alles, ihre Taten, Worte, Geheimnisse und Gedanken werden offenbar werden. 166 Dann wird Richter zwei Gruppen voneinander scheiden (Strophe 8; vgl. Mt 25,32). Die Kriterien hierfür sind bereits aus Str. 2-5 bekannt. „Fromm“ meint dabei nicht den Glauben allein (vgl. v.a. Str. 5), sondern übersetzt das matthäische di,kaioj (Mt 25,37.46) und konnotiert damit auch das (aus dem Glauben resultierende) Tun der Gerechtigkeit. 167 Damit bekommt der Begriff eine relationale Dimension; er schließt nicht nur die Beziehung einer Einzelperson zu Gott, sondern auch die Beziehung zu den Mitmenschen mit ein. Ermöglicht wird das Frommsein der Frommen jedoch erst durch das Kommen des Sohnes Gottes auf die Erde, uns allen zu Frommen. Auch wenn mancher in dem Lied „einen leicht gesetzlichen Klang“ 168 auszumachen vermag, ist umso mehr zu betonen, dass es der Richter und Gottessohn selbst ist, der dieses Frommsein durch sein Kommen in die Welt ermöglicht. Die Frommen erben das Reich (Mt 25,34), oder, wie es im Gleichnis von den Talenten formuliert ist, gehen „hinein in die Freude“ (Mt 25,21.23). 169 Ihre Gegenpartei sind, wie es auch durch die chiastische Formulierung betont wird, die Bösen. Im gesamten Lied, und auch an dieser Stelle, sind sie nicht eingehender charakterisiert, wird nicht ausgeführt, was sie zu Bösen macht. Diese Leerstelle ist aus der Endzeitrede heraus zu füllen: Als ponhro,j wird jeweils derjenige Sklave bezeichnet, der dem Willen seines Besitzers nicht entsprochen hat (24,48; 25,26) und dementsprechend bestraft wird (vgl. auch 13,49). So lassen sich im Lied mit Str. 5 die Bösen als diejenigen verstehen, die dem Herren nicht in allem trachten zu gefallen bzw. mit der Endgerichtsszene als diejenigen, die dem mit den geringsten Geschwistern identifizierten König in der Not nicht beigestanden haben (25,42f.). Die Umschreibung solchen Unterlassens als Untugend stellt jedoch eine Verkürzung dar, die den relationalen Aspekt des hier mit „fromm“ übersetzen Begriffs di,kaioj nicht wiedergibt. 165 Vgl. Meyer, Sohn, 6, der zudem auf Joh 5,28f. und Hebr 9,28 verweist. Ein Bezug auf letzteren Text ist m.E. in der genannten Strophe nicht auszumachen. 166 So heißt es auch im Katechismus der Böhmischen Brüder, 259: „...alle menschen von allen jren wercken, auch für alle vnnütze wort rechenschafft geben müssen, Da er offenbar machen wird, alle heimligkeit des hertzens, vnd gedancken aller menschen...“ 167 Auch im AT werden „Fromme“ und „Gerechte“ häufig in einem Atemzug genannt; vgl. z.B. Ps 32,11; 33,1. 168 Vgl. Nitschke, Sohn, 122. 169 Vgl. zu dieser Formulierung die Analyse unter 2.6.2.3 im zweiten Teil. <?page no="273"?> 273 An dieser Stelle des Liedes ist im EG die einzige gravierende Änderung am Originaltext vorgenommen worden. Ursprünglich hieß es: Da wird er sie scheyden, die frommen zur freuden, die bösen zur hellen in peinliche stellen, wo sie ewig müssen ir untugend büssen. 170 Die veränderte Formulierung ist einerseits weniger konkret und wirkt entschärfend auch gegenüber Mt 25,46, wo von einer „ewigen“ Strafe die Rede ist. Andererseits belässt die EG-Version die Vorstellung der „ewigen Strafe“ ebenso wie Mt im Ungefähren, während der Originaltext durch die Verwendung des Wortes hellen sämtliche Assoziationen mittelalterlicher Höllendarstellungen wachrufen kann, die in ihrer Konkretheit über die biblischen Vorstellungen weit hinausgehen. Mit Strophe 8 endet die Prolepse, der Ausblick auf das zukünftige Kommen Jesu. Strophe 9 zieht ein als Gebet formuliertes Fazit. Es ist wie die erste Strophe in der ersten Person Plural formuliert und richtet sich explizit an Jesus - so wird er hier zum ersten Mal bezeichnet. Dieses Schlussgebet macht deutlich, dass es, obwohl das Lied als Ganzes den Fokus mehr auf die Frommen als auf die Bösen lenkt, keinesfalls selbstverständlich ist, am Ende als recht gläubig erfunden zu werden. 171 Dazu bedarf es alle Stunden der Hilfe des gekommenen und kommenden Gottessohnes. Der Zuspruch und der Anspruch, der mit seinem Kommen einhergeht, wird im Gebet noch einmal in Form einer Kurzfassung der fünften Strophe aufgegriffen: Jederzeit gläubig erfunden zu werden schließt somit auch Beständigkeit im Glauben und das Bemühen ein, dem Herren in allem ... zu gefallen, d.h. die Liebe. Mit dieser Bitte um Glauben und Liebe wird gleichzeitig die Hoffnung formuliert, darinnen zu verscheiden zur ewigen Freuden (Mt 25,21.23). 172 Das Lied schließt also wie die Endzeitrede mit einer Hoffnungsperspektive (Mt 25,46). Diese stellt die Verbindung zum Anfang des Liedes her, zu der Verheißung der Befreiung von der Sünde, die mit dem Kommen des Gottessohnes einhergeht. 4.1.3 Zum Gericht Das Lied schildert das Kommen des Gottessohnes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Kind, Lehrer, Gekreuzigter und Richter - uns allen zu Frommen - und bindet die matthäische Vorstellung des Gerichts in diese Erzählung mit ein. Über diese Vorstellung hinaus hat es jedoch den individuellen Tod im Blick und schildert einen Zwischenzustand, in dem sich die Seelen der Verstorbenen bis zum Gericht befinden. Die Lebenden, d.h. alle Völker, die sich laut Mt 25,31 vor dem Thron des Menschensohnes versammeln, sind im Lied nicht im Blick, sondern die zum Gericht auferstandenen 170 Vgl. *Brüder 1544. Zur Veränderungsgeschichte dieser Stelle vgl. unten. 171 So z.B. in *Bayern 1938, *EKG, EG; im Original heißt es rechtgläubig. 172 Darinnen bezieht sich auf das Verbleiben im Glauben auch im Sterben, wie es auch in *Breslau 1772 verändert wurde: im Glauben verscheiden. <?page no="274"?> 274 Toten; eine Vorstellung, die bei Mt nicht begegnet, sondern aus Joh 5,29 übernommen ist. Auf diese Weise zeigt sich, dass die Naherwartung der Parusie im Lied nicht im Blick ist, wohl aber der Gerichtsgedanke als solcher: In der siebten und achten Liedstrophe ist, wie in der Analyse deutlich wurde, die matthäische Vorstellung eines Scheidungsgerichtes mit doppeltem Ausgang verarbeitet. Die strukturelle Vorlage dieser Strophen ist Mt 25,31-46, insbesondere V.31f.34.41. Die ganze Szene ist stark gerafft wiedergegeben, eines Großteiles ihrer Metaphorik beraubt und auf das Wesentliche reduziert. Auf die Urteilsbegründung wird keinerlei Bezug genommen. Geschildert ist lediglich die Aufteilung in „Fromme“ und „Böse“; über die Kriterien dieser Charakterisierung geben jedoch, wie gesehen, Str. 2-5 Aufschluss. Der Gerichtsgedanke fungiert in diesem Lied als Motivation, am Glauben festzuhalten und nach Gottes Willen zu leben, d.h. umzukehren. Hierin liegt die Aufgabe angesichts der Gabe, 173 die das Kommen Jesu bedeutet. 4.1.4 Wirkungsgeschichte Das Lied wurde bis weit in das 18. Jh. hinein weitgehend ohne gravierende Veränderungen überliefert. In einigen Gesangbüchern 174 sind jedoch u.a. Str. 6-8 ausgelassen, so dass der eschatologische Aspekt des Liedes und damit das Gerichtsthema vollkommen herausfallen. Damit wird die an das dreifache Kommen Christi angelehnte Struktur des Liedes zerstört. Es wird zu einem ausschließlichen, unanstößigen Adventslied, das lediglich das vergangene und gegenwärtige Kommen Jesu sowie den Tod des Einzelnen in den Blick nimmt. Auch gibt die abschließende Bitte richte unsere Herzen zu (Str. 9), wenn sie direkt an Str. 5 anschließt, keinen rechten Sinn mehr und wirkt redundant. Zur Zeit der Aufklärung 175 entstanden jedoch einige stark veränderte Versionen sowie Nachdichtungen des Liedes, in denen auch die das Gericht betreffenden Strophen 7 und 8 sowie die Schlussstrophe 9 umgestaltet sind. So ist in der in *Zwickau 1778 befindlichen Version die Anspielung auf das Credo (Von dannen er kommen; Str. 7) durch die Formulierung Endlich wird er kommen, freuet euch, ihr Frommen ersetzt. Sie bringt den im Original nicht erwähnten Zeitaspekt der Parusie ein. Der Schwerpunkt dieser Version liegt auf der freudigen Erwartung auch der Wiederkunft Jesu, noch mehr aber auf der Ethik: Bereits in der genannten Str. 7 wird der Rückbezug auf das Kommen Jesu uns allen zu Frommen (Str. 1) hergestellt, nun jedoch nicht 173 Vgl. Meyer, Sohn, 4. 174 Z.B. *Barby 1783, *Nürnberg 1855, *Bayern 1938. 175 Zu Liedbearbeitungen der Aufklärungszeit und zur kritischen Auseinandersetzung mit ihnen vgl. Kurzke, Aufklärung, 124-135; ders., Kirchenlied, 154-158; Steiger, Gesangbuch-Revision, 214-226. <?page no="275"?> 275 mehr unter dem Aspekt der Gabe, sondern der Aufgabe: Zwar wird hier auch die Wiederkunft Jesu zum Gericht Gegenstand freudiger Erwartung, jedoch nur für die Frommen. Dieses in Str. 8 genannte Kriterium der Scheidung ist in dieser Version bereits vorweggenommen. Da wird er sie scheiden, unnennbare Freuden schenken allen Frommen; aber Böse kommen dahin, wo sie müssen ihr' Untugend büßen. Der zweite Teil dieser Strophe bildet die Vorlage für die *EKG- und EG- Version, die auf die Erwähnung der hellen als Strafort verzichtet und sich mit ihrer Umschreibung als Ort der Buße begnügt. Mehr Wert wird auf die Erläuterung der Reich-Gottes-Vorstellung gelegt, die hier als Zustand unnennbarer Freuden umschrieben wird. Auch das Kriterium des Frommseins wird erläutert und bekommt durch seine nochmalige Wiederholung in Str. 9 den Charakter eines Leitmotivs: Ey nun, Jesu, leite uns, weil es noch heute, daß wir stets auf Erden fromm erfunden werden, wachen, beten, ringen, einst ins Leben dringen. Hier geht es um die Bewährung im täglichen Leben auf Erden, für das die Leitung Jesu erbeten wird. Der umfassendere Begriff fromm ersetzt die Formulierung rechtgläubig des Originals. Er wird u.a. in Anspielung auf das in der Endzeitrede wiederkehrende Motiv des Wachens (24,42; 25,13) inhaltlich gefüllt und impliziert neben dem Glauben, der sich im Beten äußert, auch das Tun, das Ringen. Wer also so verstanden als fromm erfunden wird, darf hoffen, einst ins Leben zu dringen. Dies ist wiederum ein Präzisierungsversuch des im Original beschriebenen Verscheidens zur ewigen Freuden (vgl. Mt 25,21.23.46), der gleichzeitig eine Entmetaphorisierung darstellt. Die Tendenz weg von der Perspektive des Scheiterns im Gericht und hin zur Betonung der Hoffnungsperspektive, aber auch der Ethik lässt sich ebenso in der Version feststellen, die sich in *Braunschweig 1779 findet. Es handelt sich um ein ganz neues Lied mit anderer Strophenform, aber gleichem Initium und zahlreichen Anspielungen auf Weißes Text. Es hat den Charakter eines Dankliedes, das auf das Kommen des Gottessohnes reagiert, aber auch den Gerichtsgedanken stärker betont zusammen mit der Hoffnung, im Gericht zu bestehen (Str. 5): <?page no="276"?> 276 Auf dem richterthrone Werden wir im sohne Unsern bruder schaun. Heil und ewigs leben Wird er allen geben, Die noch dann ihm traun. Er ward hier Versucht, wie wir: Ueberschwenglich wird er lohnen, Und der Schwachheit schonen. Hier werden die unterschiedlichen Aspekte des Kommens Jesu zusammen gedacht: Er kommt als Richter, bleibt aber als solcher immer noch Sohn Gottes und Bruder 176 der Menschen und wird als solcher denen, die ihm vertrauen, Heil und ewigs leben geben (vgl. Mt 25,46). Soweit die Verheißung, die es jedoch mit nichts Geringerem zu beantworten gilt als dem Streben nach Vollkommenheit im gegenwärtigen Leben (Str. 6): Eilet, eilt ihr Sünder! Werdet gottes Kinder! Werdet seiner werth! Eilet, eilt, ihr frommen! Seyd, wie er, vollkommen! Bleibet seiner werth! Preiset ihn, Daß er erschien, Daß er sich für euch gegeben, Durch ein göttlich leben! Das wiederholte Eilet, eilt drückt die Dringlichkeit aus, Gott gleich und damit vollkommen zu werden. Gerichtsmetaphorik spielt hier jedoch keine Rolle mehr und kann höchstens durch die hier ausgedrückte Dringlichkeit assoziiert werden. Die genannte Tendenz zur Entmetaphorisierung einerseits und zur Hinwendung zu dem hoffnungsvollen Aspekt der Gerichtsvorstellung andererseits setzt sich auch nach der Zeit der Aufklärung noch in einigen Versionen durch. So ist in *Königsberg 1859 in der sechsten Strophe ist nicht nur der Verweis auf die Engelchöre durch die abstraktere Formulierung zum ew'gen Leben (Mt 25,46) ersetzt, sondern auch die dritte Person Plural zur ersten Person Plural geändert: 176 In *Wittenberg 1792, das beide Versionen (*Zwickau 1778 und *Braunschweig 1779) leicht verändert abdruckt, heißt es an dieser Stelle …unsern Retter schaun. Heil und ewig Leben wird er allen geben, die ihm hier vertraun. (Hervorhebungen A.S.) <?page no="277"?> 277 Denn bald und behende kommt ja unser Ende, da wird er vom Bösen uns're Seel' erlösen, und zum ew'gen Leben selig uns erheben. Durch diese Änderung ändert sich auch die Rolle der Singenden: Sie sind nun nicht mehr nur Predigende, sondern in der Rolle der unmittelbar Betroffenen, derer, die tatsächlich sein Werk recht treiben. Die folgende Parusie-Strophe verbleibt dagegen in der dritten Person und rückt wiederum die Wiederkunft Jesu in unbestimmte Ferne: Wenn der HErr wird kommen einst zum Trost der Frommen… (Str. 7). Diesen Trost der Frommen betont auch die Gerichtsstrophe (Str. 8) mehr als das Original: Dann wird er sie scheiden; zu des Himmels Freuden führt er dann die Frommen, aller Angst entnommen, wenn die Bösen müssen ihre Sünden büßen. Die Angst, die die Frommen gegenwärtig noch haben - vor dem Gericht und trotz der trostvollen Worte der vorhergehenden Strophe - wird in des Himmels Freuden nicht mehr sein. Weniger beängstigend als das Original wirkt auch die achte Strophe selbst: Hier ist nicht mehr von einem Strafort die Rede, an dem die Bösen ewig verbleiben, sondern lediglich davon, dass sie für ihre Sünden büßen müssen. Auch wenn hier weiterhin Mt 25,31-46 als Prätext im Hintergrund steht, ist die hier dargestellte Gerichtsvorstellung doch eine abgeschwächte. Die Schlussstrophe richtet sich wiederum an Jesus. Statt auf die Rechtgläubigkeit zu verweisen, zu der er die Herzen bereiten soll, 177 wird er hier um Hilfe gebeten, alle Zeit treu erfunden zu werden. Hier ist ein Bezug auf die Gleichnisse Mt 24,45-51 und 25,14-30 auszumachen: Hier impliziert die Treue in erster Linie das rechte Tun, das Erfüllen der vom Hausherrn anvertrauten Aufgaben - mit der ebenfalls geänderten Str. 5 gesagt: Die sein Werk recht treiben. Auch in der 9. Strophe findet sich die Anrede HErr! an denjenigen, der die Treue letztlich beurteilt. Somit ist auch in der Version in *Königsberg 1859 eine Schwerpunktverlagerung vom Glauben zum Tun einerseits und von der Gerichtsdrohung zur freudigen Erwartung des Gerichts andererseits zu verzeichnen. Von den erwähnten Versionen und einigen kleineren sprachlichen Änderungen abgesehen, wurde das Lied in den meisten Gesangbüchern zu allen 177 Vgl. dazu auch *Breslau 1772, wo der Wunsch nach einem Sterben im Glauben durch die geänderte Formulierung im Glauben verscheiden (statt darinnen) explizit betont wird. <?page no="278"?> 278 Zeiten zumeist unverändert überliefert. Auch im EG finden sich alle neun Strophen des Originals, die nur in geringem Umfang v.a. sprachlich angepasst wurden. 178 Den größten Eingriff stellt dabei die Änderung der achten Strophe dar: Wie schon in den genannten Versionen ist auch hier die Erwähnung der „Hölle“ vermieden und stattdessen die beiden Ausgangsmöglichkeiten des Gerichts quantitativ gleich verteilt. Damit geht eine Tendenz zur Betonung des hoffnungsvollen Aspektes des Gerichts einher, v.a. der Hoffnung, am ewigen Leben teilzuhaben. 4.1.5 Das Lied im Gottesdienst Abschließend sollen nun Aspekte benannt werden, die mit dem gottesdienstlichen Gebrauch des Liedes einhergehen. Dabei geht es zunächst um Identifikationspotentiale und Rollen-angebote, dann aber auch um gottesdienstliche Intertextualität, um das Zusammenwirken des Liedes mit den anderen gottesdienstlichen Stücken. Die - mögliche und tatsächliche - Einordnung in das Kirchenjahr geschieht zum einen anhand der Rubrikenzuordnung, die in den unterschiedlichen Gesangbüchern unterschiedlich sein kann, und zum anderen anhand des Evangelischen Gottesdienstbuches (EGb), in dem die gegenwärtig geltende Perikopenordnung und damit auch die Wochenlieder verzeichnet sind. 4.1.5.1 Rollenangebote und Identifikationspotentiale Der Text enthält ein klares Rollenangebot: Die Rolle der Menschen, denen das Kommen des Gottessohnes gilt, nämlich der Glaubenden zu allen Zeiten und an allen Orten, die auf Befreiung hoffen von ihrer Verstrickung in Sünde. Sie hören die Botschaft vom Kommen des Gottessohnes in die Welt und antworten darauf mit einem Gebet, mit der Bitte um Glauben und um die Teilhabe am ewigen Leben. In den übrigen, predigtartigen Strophen kommt ihnen die Rolle der hörenden Gemeinde zu. Die Botschaft vom Kommen Jesu tritt in ihr Leben ein und verursacht eine Veränderung - die hoffnungsvolle Hinwendung zu Jesus, die Applikation der Botschaft auf ihr eigenes Leben, der Wunsch, dass Jesus ihre Herzen zurichten und verwandeln möge. Durch den Predigtcharakter der 2. bis 8. Strophe ist jedoch ein zweites Rollenangebot noch dominanter: Das der Predigerin, des Predigers. Durch die Formulierung in der dritten Person sind die Singenden nicht in erster Linie selbst angesprochen, dies schafft eher Distanz. Vielmehr nehmen sie im Singen die Rolle der Verkündigenden ein. Das Kommen Jesu, von dem sie singen, gilt nicht nur ihnen selbst, sondern allen Menschen. Gleiches gilt 178 Vgl. bereits *EKG. <?page no="279"?> 279 für seine Lehre, die sie durch das Lied in geraffter Form wiedergeben. Die schlichte, klare Sprache, in der dies geschieht, erinnert - nicht nur in Str. 7 - in ihrer Lehrhaftigkeit an Katechismussprache. Sie beansprucht Allgemeingültigkeit, enthält Hoffnungsfrohes, aber auch klare Appelle: Wer nicht in der Gegenwart umkehrt und Buße tut (Str. 2), wird im Gericht büßen müssen (Str. 8). Das Lied lässt sich jedoch nicht nur als Predigt auffassen, sondern als Inszenierung einer gottesdienstlichen Situation, beginnend mit dem Evangelium (Str. 1), der frohen Botschaft, die zu Gehör gebracht wird und derer sich die Gemeinde gegenseitig vergewissert: Gottes Sohn ist kommen, uns allen zu Frommen. Str. 2-8 repräsentieren die Predigt dieses Evangeliums, seine Auslegung und Applikation auf das Heute. Str. 9 steht dann für das Gebet, in dem die Gemeinde auf das Wort antwortet und die aus dem Hören erwachsenden Hoffnungen und Bitten formuliert: Ei nun, Herre Jesu, richte unsre Herzen zu, dass wir… verscheiden zur ewigen Freuden. Gerade diese letzte Strophe bietet sich den Singenden zur assoziativen Identifikation an, indem sie stellvertretend für diese eine Reaktion auf das Gehörte formuliert. Insgesamt dient das Lied der Vergegenwärtigung des dreifachen Kommens Jesu, das nicht etwas Abgeschlossenes ist, sondern gegenwärtig geschieht und dessen Vollendung noch aussteht. Es tritt als Zuspruch und Anspruch in die Gegenwart ein und verändert sie - auf Hoffnung hin und mit der Perspektive des endzeitlichen Gerichts, in dem Bestehen, aber auch Scheitern möglich ist. Wer besteht und wer scheitert, wird zwar durch die genannten Intertexte konkretisiert, bleibt aber dennoch im Ungefähren. So kann die Figur der Bösen einerseits der kathartischen Identifikation dienen, die Singenden zur Reflexion über ihr eigenes Leben und damit - wie es das Lied intendiert - zu Veränderung und Umkehr bewegen. Die Rede von den Bösen in der dritten Person schafft jedoch auch Distanz. Sie eröffnet damit eine Hoffnungsperspektive für diejenigen, die in unter Ungerechtigkeit leiden, die Hoffnung, dass es auch ihnen Frommen wird, wenn der Gottessohn von dannen kommen und die Welt zurechtbringen wird. 4.1.5.2 Das Lied im Kirchenjahr Traditionell wird Gottes Sohn ist kommen in Gesangbüchern überwiegend der Rubrik Advent zugeordnet bzw. äquivalenten Rubriken wie Von der Menschwerdung Jesu Christi (*Barby 1783 u.a.) oder Von der Zukunft Christi ins Fleisch (*Freylinghausen 1704 u.a.). 179 Dies ist m.E. vor allem seiner ersten 179 Eine Ausnahme ist in dieser Hinsicht *Leipzig 1614: Hier steht das Lied in der Rubrik „Vom Christlichen leben vnd Wandel“. In *Darmstadt 1815 steht es unter „Werke und Wohlthaten Gottes“, in *Nürnberg 1855 in einer stark verkürzten Version (nur Str. 1 und 9) unter „Weihnachtslieder“. <?page no="280"?> 280 Strophe geschuldet, die die Menschwerdung Jesu thematisiert. Vor allem die letzten drei Strophen, die die endzeitliche Wiederkunft Jesu und die Hoffnung auf das ewige Leben thematisieren, legen jedoch ebenso eine Verwendung am Ende des Kirchenjahres nahe. Durch das Thema des dreifachen Kommens Jesu verbindet das Lied zentrale Aspekte des Kirchenjahresanfangs und -endes. Dem trägt das EG Rechnung, indem es das Lied unter Advent einordnet, aber als alternative Zuordnung das Ende des Kirchenjahres vorsieht. In Adventsgottesdienste bringt es einen in der Adventszeit häufig vernachlässigten Aspekt ein: Das Kommen Jesu ist nicht in erster Linie Vergangenheit - nicht umsonst wird dieser Aspekt in diesem Lied in einer Strophe abgehandelt - sondern Gegenwart und Zukunft, es geschieht in der Gegenwart und steht in seiner Vollendung noch aus. Am Ende des Kirchenjahres verhilft das Lied dazu, den Gedanken des Gerichts in dem Kontext wahrzunehmen, in den er gehört: Der zum Gericht wiederkommende Jesus ist derselbe, der in armen Gebärden Mensch geworden ist und noch heute zu Umkehr und Glauben einlädt. Im Kirchenjahr hat es zudem einen Platz gefunden, der den adventlichen wie den eschatologischen Aspekt des Kommens Jesu zur Geltung bringt: Als Wochenlied am zweiten Sonntag nach Epiphanias. Hier bietet es einen Rückblick auf die Advents- und Weihnachtszeit (Gottes Sohn ist kommen) und deutet die Weihnachtsbotschaft für die Jetztzeit (Er kommt auch noch heute) und im Vorausblick auf die Zukunft (Wird von dannen kommen), auf das Gericht, und damit auch auf das Ende des Kirchenjahres. Die Advents- und Weihnachtszeit wird somit nicht als etwas Abgeschlossenes wahrgenommen, sondern als zukunftsweisend. Gott wird Mensch - am Weihnachtsfest steht sein Kommen in Niedrigkeit im Mittelpunkt, am Epiphaniasfest dagegen seine Machtfülle, Herrlichkeit und Vollmacht. 180 Auf letzteres nimmt das Evangelium des 2. Sonntags nach Epiphanias von der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11) ebenso Bezug wie der Eingangspsalm 105, der die machtvollen Taten Gottes unter den Menschen erinnert (vgl. V.7! ). Die alttestamentliche Lesung Ex 33,17b-23 hat die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes zum Thema, die so machtvoll ist, dass Mose sie nur von hinten sehen kann. Die Vollmacht Gottes ist auch der Hintergrund für Gemeindeethik, wie sie in der Epistel Röm 12,9-16 formuliert ist: Weil Gott selbst Rache und Vergeltung übt, sollen die Gemeindeglieder sich nicht selbst rächen (V.16). Von „Gott, dem Richter über alle“ spricht auch auch der Predigttext der VI. Perikopenreihe für diesen Sonntag, Hebr 12,1-25a (V.23). Somit ist das Kommen Gottes in die Welt in seiner Machtfülle und die Veränderung, die dadurch eintritt, 181 das zentrale Thema dieses Sonntags 180 Vgl. Bieritz, Gottesdienst, 688.690. 181 Bieritz, Gottesdienst, 690, spricht zu Recht von „Verwandlung“ als Zentralthema dieses Sonntags. Vgl. auch das zweite vorgeschlagene Tagesgebet: „Gott der Barmherzigkeit, du hast Jesus, deinen Sohn, in die Welt gesandt, damit er durch sein Licht die <?page no="281"?> 281 und auch des Wochenliedes Gottes Sohn ist kommen. Es verbindet dieses Thema mit dem Rückblick auf die Feier der Ankunft Jesu in Niedrigkeit sowie dem Vorausblick auf die Wiederkunft Jesu in seiner Herrlichkeit und Macht (Mt 24,30; 25,31). 4.2 EG 9 Nun jauchzet, all ihr Frommen 1. Nun jauchzet, all ihr Frommen, zu dieser Gnadenzeit, weil unser Heil ist kommen, der Herr der Herrlichkeit, zwar ohne stolze Pracht, doch mächtig, zu verheeren und gänzlich zu zerstören des Teufels Reich und Macht. 4. Ihr Mächtigen auf Erden, nehmt diesen König an, wollt ihr beraten werden und gehn die rechte Bahn, die zu dem Himmel führt; sonst, wo ihr ihn verachtet und nur nach Hoheit trachtet, des Höchsten Zorn euch rührt. 2. Er kommt zu uns geritten auf einem Eselein und stellt sich in die Mitten für uns zum Opfer ein. Er bringt kein zeitlich Gut, er will allein erwerben durch seinen Tod und Sterben, was ewig währen tut. 5. Ihr Armen und Elenden zu dieser bösen Zeit, die ihr an allen Enden müßt haben Angst und Leid, seid dennoch wohlgemut, laßt eure Lieder klingen, dem König Lob zu singen, der ist eu'r höchstes Gut. 3. Kein Zepter, keine Krone sucht er auf dieser Welt; im hohen Himmelsthrone ist ihm sein Reich bestellt. Er will hier seine Macht und Majestät verhüllen, bis er des Vaters Willen im Leiden hat vollbracht. 6. Er wird nun bald erscheinen in seiner Herrlichkeit und all eu'r Klag und Weinen verwandeln ganz in Freud. Er ist's, der helfen kann; halt' eure Lampen fertig und seid stets sein gewärtig, er ist schon auf der Bahn. 4.2.1 Einleitung Bei Nun jauchzet, all ihr Frommen handelt es sich um ein Evangelienlied 182 zu der Perikope vom Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21,1-9). Verfasst wurde es im Jahre 1640 von Michael Schirmer (1607-1673), der im vom Dreißigjährigen Krieg und der Pest schwer getroffenen Berlin als Konrektor am Gymna- Dunkelheit vertreibe. Wandle unseren Mangel in Fülle und unsere Klagen in Lobgesang über deine Hilfe. Durch ihn, unsern Herrn Jesus Christus, unsern Heiland und Erlöser“ (EGb, 277). 182 Vgl. zu dieser Gattung Köhler, Bibel, 60. <?page no="282"?> 282 sium zum Grauen Kloster sowie als kaiserlicher Poet wirkte. 183 In dem im selben Jahr von Johann Crüger herausgegebenen Gesangbuch (*Crüger 1640) wurde es erstmals abgedruckt. Auch dieses Lied handelt vom dreifachen Kommen Jesu, des Herrn der Herrlichkeit: 184 Er ist kommen (Str.1), er kommt in die Gegenwart als Verborgener (Str.2-5) und wird bald, in naher Zukunft, wiederkommen und erscheinen (Str. 6). Damit sind bereits die drei wichtigsten Handlungskerne genannt. Zur Deutung des Kommens Jesu tragen Handlungssatelliten (z.B. und stellt sich in die Mitten für uns zum Opfer ein; Str. 2) und -informationen (z.B. im hohen Himmelsthrone ist ihm sein Reich bestellt; Str. 3) bei. Die Ansage seines Kommens richtet eine anonyme, homodiegetische Erzählstimme 185 zunächst an die Frommen. Str. 4 und 5 richten sich an näher spezifizierte Adressat_innen, die Mächtigen auf Erden sowie die Armen und Elenden, Str. 6 wiederum an eine größere Adressat_innenschaft. Die Gerichtsbezüge dieses Liedes sind, wie sich zeigen wird, weniger deutlich als in EG 5. Das Gericht erscheint vielmehr als ein Aspekt des Kommens Jesu. Seine Auswirkungen beleuchtet das Lied anhand unterschiedlicher, einander gegenüberstehender Gruppen. In der Wirkungsgeschichte wurden die Gerichtsbezüge tw. noch weiter abgeschwächt, aber auch präzisiert, wie sich im Folgenden zeigen wird. 4.2.2 Analyse und Intertexte Der Strophe 1 einleitende Imperativ Nun jauchzet spielt auf die Ankündigung des Königs und Friedensbringers aus Sach 9,9a an. 186 Das Jauchzen ist dabei nicht nur als Gefühlsäußerung zu verstehen, sondern birgt die Kraft der Befreiung, 187 wie noch deutlich werden wird. Das im Folgenden Beschriebene wird bereits durch die Anspielung an Sach 9,9a in Jerusalem verortet, dem Ort des Einzugs Jesu laut Mt 21,1-9, wo die Erfüllung der Verheißung aus Sach 9,9b erzählt und diese auch zitiert wird (V.5). 183 Vgl. Krieg, Schirmer, 274 sowie Koch, Geschichte, 8f.: „Bei Schirmer ist der Aufruf: ‚Nun jauchzet, all ihr Frommen! ‘ aus der Tiefe des Herzens im Kreuze gekommen. Die Zeit, in der dies Lied ihm zu Theil wurde, war eine ‚böse Zeit‘ V. 5. Die Mark Brandenburg war ausgesaugt, von der Pest aufs grauenhafteste verwüstet, von den Schweden feindlich überzogen und gebrandschatzt.“ 184 Vgl. Thust, Lieder, 23, sowie Meyer, Sohn, 4 (vgl. 1.1. zu EG 5). 185 Sie spricht von unserem Heil (1), das zu uns geritten kommt (2). Trotzdem kommen ihr Eigenschaften heterodiegetischer Erzählstimmen zu: Sie ist allwissend und damit v.a. omnitemporal, denn sie trifft nicht nur Aussagen über die Gegenwart, sondern auch Voraussagen für die Zukunft (6). 186 Thust, Lieder, 23, verweist an dieser Stelle auch auf Phil 4,4f., dessen intertextuelle Intensität aber weit weniger stark ist. 187 Vgl. Reich, Frommen, 12. <?page no="283"?> 283 In Mt 21,1-9, dem Evangelium des ersten Sonntags im Advent, wird der Einzug Jesu in Jerusalem als eschatologische Theophanie stilisiert. 188 Auch das Lied ist durch die auch im Folgenden wiederkehrenden Anspielungen auf diesen Einzug in der Adventszeit verortet. Die Adventszeit ist die Gegenwart, in die hinein das Nun jauchzet hineingesprochen wird, sie ist die Zeit, in der das Gekommensein, das Kommen und die Wiederkunft Jesu bedacht werden. Für die Frommen 189 bietet sein dreifaches Kommen Anlass zu großer Freude, zum Jauchzen. Jesus selbst, der Herr der Herrlichkeit, wird als unser personifiziertes Heil bezeichnet, betont durch die Alliteration (Herr - Herrlichkeit - Heil). Sein Gekommensein qualifiziert die Gegenwart als Gnadenzeit. Der Grund hierfür ist in den Assoziationen zu suchen, die sich mit dem Titel Herr der Herrlichkeit verbinden: Er verweist zum einen auf die erste Strophe des Adventsliedes EG 1 Macht hoch die Tür (entstanden 1623/ 1642), 190 das sich wiederum auf Ps 24,7-10 bezieht. Hier geht es um den Einzug Jhwhs als König, der „stark und mächtig“ ist, „mächtig im Streit“ (V.8). Der Psalm wird seit der Alten Kirche mit dem Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21,1-9) in Verbindung gebracht. 191 Zum anderen verweist der Titel auf 1 Kor 2,8: Hier geht es um die Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit durch die Obersten der Welt, die die verborgene Weisheit Gottes nicht erkannt haben. Im Titel Herr der Herrlichkeit ist also bereits beides enthalten: das Erleiden des Kreuzestodes und die Macht des königlichen Richters - auf beides läuft der Einzug in Jerusalem hinaus. Somit ist das Kommen des Menschensohnes in Herrlichkeit ( do,xa ; Mt 24,30; 25,31) eine weitere bedeutende Assoziation, zumal in der ersten Liedstrophe der Aspekt der Macht im Vordergrund steht. Dass seine Macht nicht mit der Macht menschlicher Machthaber zu verwechseln ist, ist durch die Einschränkung ohne stolze Pracht verdeutlicht. Seine Macht ist kein Selbstzweck und dient nicht der Herrschaft über Menschen, sondern richtet sich gegen des Teufels Reich und Macht (vgl. 1 Joh 188 Vgl. Rölver, Existenz, 117: Geschildert wird hier das Erbeben der personifizierten Stadt Jerusalem (21,10). Sei,w „stammt aus dem semantischen Feld der Theophanieerscheinungen und findet insbesondere im Kontext des endzeitlichen Kommens Gottes Verwendung“ - so z.B. auch in Jes 13,13 und Joel 2,10; 4,16LXX. 189 Vgl. dazu die Analyse von EG 5. 190 Im Vergleich beider Lieder wird deutlich, dass der König in Macht hoch die Tür eine „Lichtgestalt“ ist, die „durch nichts Feindliches bedrängt“ ist und Freude und Trost bringt, während hier sein Kommen in Niedrigkeit, „zur Passion“, im Vordergrund steht, das „gesellschaftliche Bedeutung“ hat und „Veränderung“ bedeutet (Reich, Frommen, 11). 191 So z.B. bei Origenes; vgl. Reich, Tür, 53; Kähler, Studien, 60. Ps 24 wurde seit der Alten Kirche christologisch interpretiert: In der Griechischen Kirche wurde er auf den Abstieg (descensus) Christi auf die Erde und seine Höllenfahrt gedeutet; die Pforten der Hölle öffnen sich dem Herrn der Herrlichkeit. Im Abendland las man den Psalm dagegen auf die triumphale Himmelfahrt Christi (ascensus) und die Pforten der zukünftigen Welt hin; vgl. Kulp, Lieder, 20, sowie die Erläuterungen bei Kähler, Studien, 45-64. <?page no="284"?> 284 3,8). 192 Der Herr der Herrlichkeit ist mächtig genug, um es gänzlich zu verheeren und zu zerstören - so wird es mittels der parallel formulierten Zeilen 6 und 7 mit den genannten Binnenreimen betont. Bereits in der ersten Strophe werden also Niedrigkeit und Hoheit des Gekommenen und Kommenden als scheinbares Paradox gegeneinandergestellt 193 und so der Bogen von der Geburt Jesu bzw. der Inkarnation des lo,goj zum Eschaton geschlagen. 194 Die Strophen 2-3 haben die Art und Weise zum Thema, wie der Herr der Herrlichkeit in die Welt kommt. Zunächst wird das in Mt 21,1-9 von einem späteren Zeitpunkt aus erzählte Geschehen in stark geraffter Form und gleichzeitig erzählt. Der Einzug nach Jerusalem wird im Lied zum Einzug zu uns. Durch die Gleichzeitigkeit wird er von den Singenden vergegenwärtigt und mitvollzogen: Zu uns kommt Jesus geritten auf einem Eselein. Dieser Diminutiv ist nicht matthäisch, sondern aus der Parallele Joh 12,14f entnommen, dem Evangelium am Palmsonntag. 195 Hierdurch ist somit bereits der Bezug zum Leiden und Tod Jesu hergestellt, der im Folgenden eine Rolle spielt: Er will hier, nämlich auf dieser Welt, sein Königtum verhüllen bis zu seiner Passion und seinem Tod für uns (vgl. Hebr 9,11-16), auf den das Lied bereits vorausblickt. Es folgt im zweiten Teil der zweiten sowie in der dritten Strophe eine Reflexion des In-der-Welt-Seins und v.a. des Leidens und Sterbens Jesu. Auf dieser Zeitstufe, zwischen Geburt und Tod Jesu, befindet sich die Erzählstimme. Obwohl sie homodiegetisch, also an der Erzählung beteiligt ist, kommt ihr das Privileg der Allwissenheit zu, das sich in der Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken (vgl. auch Str. 6) und die Passion und den Tod Jesu zu antizipieren, äußert. Beglaubigt werden diese eigentlich unzuverlässigen Vorausdeutungen durch das Wissen der Singenden, die sich zeitlich nach dem Tod Jesu befinden und wissen, dass diese Voraussage wahr ist, weil sie eingetreten ist. Auch an dieser Stelle illustrieren zahlreiche Negationen und Antithesen wirkungsvoll das paradoxe Ineinander von Hoheit und Niedrigkeit, von Macht und Machtlosigkeit des Herrn der Herrlichkeit. Er bringt kein zeitliches, sondern ewiges Gut (Str. 2), seine Königsherrschaft ist nicht auf dieser Welt, sondern im hohen Himmelsthrone verortet; seine Macht und Majestät ist auf der Welt verhüllt, weshalb er hier auch kein Zepter und keine Krone sucht. 192 Bei dem Wortpaar Reich und Macht handelt es sich um eine sogenannte Zwillingsformel. Die Zwillings-formel („Leib und Seele“, „Herz und Hand“ o.ä.) ist ein charakteristisches Stilmerkmal von Kirchenliedern und stammt aus dem Mittelhochdeutschen (vgl. Stutz, Fortleben, 238-252). In beinahe jeder Strophe von EG 9 finden sich solche Zwillingsformeln: Reich und Macht (1), Tod und Sterben (2), Macht und Majestät (3; hier durch die Alliteration besonders hervorgehoben), Armen und Elenden (5), Angst und Leid (5), Klag und Weinen (6) (vgl. auch Thust, Lieder, 24). 193 So für das gesamte Lied auch Köhler, Quellen, 35; Thust, Lieder, 23. 194 Vgl. auch Seibt, Schleiermacher, 91. 195 Ebenso Reich, Frommen, 11. <?page no="285"?> 285 Vielmehr wird angekündigt, dass er leiden wird, um des Vaters Willen zu vollbringen. Bevor der Königstitel in Str. 4 explizit für den Herrn der Herrlichkeit verwendet wird, werden in Str. 3 durch das Wortfeld „Königtum“ (Zepter, Krone, Himmelsthron, Reich, Macht, Majestät) Aspekte des Lebens und der Passion Jesu evoziert. Bereits in den Geburtserzählungen wird er als König Israels eingeführt, und bereits hier wird auch die Spannung zwischen dem „neugeborenen König der Juden“ und weltlichen Königen, insbesondere Herodes, deutlich (Mt 2,2-22). Für die Schilderung des Lebens und Wirkens Jesu spielt der Königstitel dagegen keine Rolle, 196 wohl aber im Bezug auf sein Leiden: In den Passionserzählungen wird die Auseinandersetzung um Jesu Status als „König der Juden“ bzw. Israels deutlich (vgl. Mt 27,11.29.37.42parr). Erst wenn er des Vaters Willen im Leiden hat vollbracht (vgl. Joh 19,30), wird sein Königtum offenbar werden, denn es ist „nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36), sondern im hohen Himmelsthrone verortet. Und dieser König ist der Richter, der auf dem Thron zu Gericht sitzen (25,31.34) und die basilei,a aufrichten wird. Str. 4 und 5 handeln von der angemessenen Reaktion auf das Kommen des Königs, der erst jetzt explizit als solcher bezeichnet wird. Sie beginnen jeweils mit der Anrede „Ihr“, die sich an unterschiedliche Gruppen richtet und jeweils einen eingeschobenen, proleptischen Handlungsstrang markiert. Dadurch wird die Ambivalenz des kommenden Königs deutlich. Waren bisher pauschal die Frommen angesprochen, wird nun zwischen den Mächtigen auf Erden und den Armen und Elenden differenziert. Die Anrede Ihr Mächtigen auf Erden (Strophe 4) ist gegenüber der ursprünglichen Formulierung Ihr großen Potentaten! 197 offener gehalten. Zwar mag C. Reich mit der Beobachtung Recht haben, dass es sich bei Potentaten um „eine viel plastischere Anrede“ handelt, „die, zumindest im heutigen Sprachgebrauch, etwas von aufgeblasener Selbstherrlichkeit der Angeredeten andeutet“. 198 M.E. klingt sie jedoch in heutigen Ohren fast parodistisch und beschränkt die Anrede auf diejenigen, die tatsächlich eine herausgehobene (politische) Machtposition innehaben. Mächtige ist dagegen ein relationaler Begriff, der alle umfasst, die Macht über andere Menschen haben, und sei es nur eine geringe, z.B. im beruflichen oder familiären Bereich. Auch steht die Formulierung Ihr Mächtigen auf Erden in deutlicherer semantischer Opposition zu dem König, der seine Macht auf Erden verhüllen will (Str. 3), aber mächtig genug ist, des Teufels Reich und Macht zu zerstören (Str. 1). Die Mächtigen auf Erden (Str. 4) haben daher mit ihm zu rechnen. Für sie hat sein 196 Kein Zepter, keine Krone sucht er auf dieser Welt... Er will hier seine Macht und Majestät verhüllen… 197 Die Formulierung Ihr mächtigen auf erden findet sich m.W. erstmals in *Leipzig 1761, außerdem in *Weimar 1778, *Hannover 1781, *Stuttgart 1842, *Basel 1854 und setzt sich im Folgenden immer mehr durch. Eine Ausnahme bildet u.a. *Porst 1892. 198 Reich, Frommen, 11. <?page no="286"?> 286 Kommen eine bedrohliche Komponente, weshalb auf die Anrede an sie sofort der Imperativ folgt, diesen König anzunehmen (vgl. Ps 2,10-12). Im Folgenden wird ein Gerichtsszenario im Sinne von Mt 25,31-46 evoziert (vgl. auch 24,40f.45-25,30): Zwei Handlungsalternativen samt ihrer Folgen sind einander gegenüber-gestellt. Kriterium ist dabei, ob die Mächtigen den Kommenden als ihren König annehmen oder ob sie ihn verachten und an der Vermehrung ihrer eigenen Macht und Hoheit arbeiten. Dem entsprechen die angekündigten Folgen: Der Rat, die rechte Bahn zu gehen, spielt auf den „breiten und den schmalen Weg“ (Mt 7,13f.) an. Die rechte Bahn ist dann der schmale Weg, der zum „Leben“ (Mt 7,14) führt - im Lied gibt die Formulierung Himmel einen deutlich eschatologischeren Impetus. Auch der Zorn des Höchsten bezieht sich auf das eschatologische Gericht (vgl. Mt 3,7), kann aber auch als innerweltliches Eingreifen Gottes verstanden werden. 199 In jedem Fall wird die Macht der Mächtigen, so sehr sie auch nach Hoheit streben, von der Macht des Höchsten überboten, der auf die Verachtung des kommenden Königs mit Zorn reagiert. Hier lässt sich das Logion „Niemand kann zwei Herren dienen“ (Mt 6,24) assoziieren, aber auch die Mahnung Jesu, niemanden von den „Kleinen“ zu verachten (Mt 18,10) und in Verbindung damit das Urteil des richtenden Königs: „Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan“ (Mt 25,45; vgl. auch die Leidensankündigung Mk 9,12). Jesus, den König, zu verachten und nur nach Hoheit zu trachten bedeutet, auch die „geringsten Geschwister“ zu verachten. In dieser an die Mächtigen gerichteten indirekten Mahnung, sich nicht nur mit dem Erhalt und Ausbau ihrer Macht zu befassen, sondern der Sache des kommenden Königs zu dienen, liegt das sozialkritische Potential dieser Strophe. Dabei ist festzuhalten, dass es sich um eine ernste Anfrage handelt, jedoch nicht um eine Vorverurteilung oder gar Verwerfung. Der König ist im Kommen, aber noch ist Zeit, um die Haltung ihm gegenüber zu verändern, ihn anzunehmen. Und das bedeutet, die eigene Macht - und sei sie noch so klein - verantwortungsvoll zu gebrauchen. Die „geringsten Geschwister“ werden von den Armen und Elenden verkörpert, an die sich die fünfte Strophe wendet. Diese Gruppe steht antithetisch zu den Mächtigen - zu erwarten ist nun auch eine gegenteilige Ansprache an sie. Die Beschreibung ihrer gegenwärtigen, leidvollen Situation nimmt in dem sehr summarisch erzählenden Lied relativ viel Raum ein. Auf diese Weise, und zwar ausschließlich auf diese Weise, werden die Armen und Elenden charakterisiert. 200 Sie bleiben ebenfalls flat characters und sind damit nicht an eine bestimmte Situation gebunden. 199 Seibt, Schleiermacher, 92, versteht diese Warnung vor dem Zorn als Aufruf zur Buße auch angesichts des Dreißigjährigen Krieges, also als direkten Bezug auf die lebensweltliche Gegenwart Schirmers. 200 Gut möglich ist m.E. die Verbindung, die Thust, Lieder, 23, von den Elenden zu der „alten Wortbedeutung von ‚aliland‘ (‚anderes Land‘)“ zieht, so dass hier an die „Außenseiter und Randgruppen“ gedacht sei. <?page no="287"?> 287 Ihre leidvolle Situation wird ernst genommen als die Situation, in die hinein das Kommen des Königs angekündigt wird, und mit diesem Kommen korreliert: Trotz Angst und Leid sollen die Angesprochenen wohlgemut sein und dem König Lob singen. 201 Die Jetztzeit wird als böse Zeit (vgl. Ps 27,5; Eph 5,16) wahrgenommen. Ihre Bezeichnung als Gnadenzeit (Str. 1) ist damit kontrafaktisch und geschieht auf Hoffnung hin. Das erwartete Kommen des Königs qualifiziert sie als solche, lenkt den Blick über die subjektive Wahrnehmung der Gegenwart als böse, von Angst und Leid geprägte Zeit hinaus und führt damit von der Klage zum Lob. Das Lied beschreibt damit eine ähnliche Bewegung wie viele Psalmen. Dieser Strophe am nächsten kommt, wie bisher noch zu wenig beachtet wurde, Ps 27,5f. 202 Der Grund für dieses Lob liegt in der Ankündigung des Königs als eu'r höchstes Gut. Er, der kein zeitlich Gut bringt, sondern erwerben will, was ewig währen tut (Str. 2), tut dies pro nobis 203 - und zuallererst für die Armen und Elenden. Für sie ist das Kommen des Königs eine Trost- und Hoffnungsperspektive: Sein Kommen in Niedrigkeit, sein Leiden und Sterben und nicht zuletzt seine Wiederkunft als Richter bringt eine grundlegende, für verschiedene Menschen unterschiedlich ausfallende Veränderung und hat somit eine „grundsätzlich gesellschaftliche Bedeutung“. 204 Mit der sechsten Strophe kehrt die Handlung zum Haupthandlungsstrang zurück 205 und richtet sich wieder allgemein an die Frommen (Str. 1). 206 Unter ihnen sind sowohl die Mächtigen als auch die Armen und Elenden subsumiert, denn die Strophe enthält sowohl tröstliche als auch paränetische Anklänge. Die Strophe ist somit stark mit der 1. Strophe verklammert. 207 Es geht nun um das tatsächliche Erscheinen des Königs - in der 1. Str. als Herr der Herrlichkeit bezeichnet - in seiner Herrlichkeit. Wurde am Anfang des Liedes mittels einer externen Analepse über die Erzählzeit hinaus auf den gekommenen Herrn der Herrlichkeit zurückgeblickt, so endet es nun mit einer externen Prolepse auf seine Wiederkunft. Dabei signalisiert nun bald die Naher- 201 Im Original lautet diese Zeile: Und thut dem König singen. 202 In der Lutherbibel von 1545 lauten diese Verse: „Denn er deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit, / er verbirget mich heimlich in seinem Gezelt / und erhöhet mich auf einem Felsen; / und wird nun erhöhen mein Haupt über meine Feinde, die um mich sind; / so will ich in seiner Hütte Lob opfern, / ich will singen und lobsagen dem HErrn“ (Hervorhebungen A.S.; vgl. auch Ps 40,13.17). 203 Vgl. Seibt, Schleiermacher, 92. 204 Reich, Frommen, 11. 205 Hierbei handelt es sich um das vierte Modell nach Nischik (vgl. dazu 2.3.2.2 im ersten Teil). 206 Es wäre auch möglich, die Strophe aufgrund des thematischen Anschlusses Klag und Weinen stärker mit der fünften Strophe zusammenzudenken, jedoch erscheint ein solches Verbleiben im zweiten, erst spät begonnenen Handlungsstrang für eine abschließende Strophe unwahrscheinlich. 207 Ebenso Thust, Lieder, 24. <?page no="288"?> 288 wartung, verbleibt aber in der Unbestimmtheit des Tages und der Stunde (Mt 24,36). Die dreimalige Verwendung des Pronomens er signalisiert, dass bei seinem Erscheinen der König selbst handeln wird, nicht mehr die Menschen. Er, der helfen kann, wird Klag und Weinen in Freud verwandeln. Auf diese Trost- und Heilsdimension der Parusie folgt jedoch auch eine paränetische Dimension. Die Singenden finden sich in der Rolle der zehn jungen Frauen des Gleichnisses Mt 25,1-13 wieder. Die an sie gerichtete Mahnung bezieht sich auf die abschließende Paränese des Gleichnisses („Wacht! “) und geht dabei über das Gleichnis selbst hinaus: 208 Es gilt, nicht nur Öl dabei zu haben und die Lampen erst nach dem Aufwachen fertig zu machen, wie auch die „klugen“ Frauen es tun. Es geht vielmehr darum, stetig zu wachen und bereit zu sein, immer die Lampen fertig zu halten und des wiederkommenden Königs stets gewärtig zu sein. Das Gleichnis mit seiner Schlussparänese steht hier also erst einmal für sich. Es geht um das stetige Wachen und Bereitsein (vgl. auch Mt 24,42-51). Hierbei ist jedoch die Perspektive des Scheiterns jeweils mitgedacht und damit eine Gerichtsperspektive: Durch die Allusion der matthäischen Gleichnisse wird auch ihr paränetischer Impetus aufgenommen. Gerade in der Gerichtsperspektive liegt jedoch auch ein tröstendes Moment, wie noch deutlich werden wird. 4.2.3 Zum Gericht Ist die Parusie eines der dominierenden Themen des Liedes, so spielt die Vorstellung des damit verbundenen Gerichts eher eine untergeordnete Rolle. Diese Vorstellung beschränkt sich jedoch nicht auf die letzte Strophe, sondern klingt an unterschiedlichen Stellen an: Der Himmelsthron des Königs (Str. 3) rekurriert nicht nur auf den „Thron der Herrlichkeit“ (Mt 25,31; vgl. 19,28), auf dem der Menschensohn-König zu Gericht sitzen wird. Auch die Alternative Himmel und Zorn des Höchsten als endzeitliche Perspektiven für die Mächtigen (Str. 4) verweist - zumal in Verbindung mit den oben beschriebenen gegenläufigen Handlungssträngen - auf die Vorstellung eines Scheidungsgerichtes. Die Gerichtsvorstellung fungiert im Gesamtaufriss des Liedes nicht nur als Mahnung für die Mächtigen, sondern auch als Trost für die Armen und Elenden, die hoffen dürfen, dass die Macht der Mächtigen, die nur nach der Vermehrung ihrer Macht streben, nicht von ewiger Dauer sein wird, so dass auch denen, die unter diesem Machtmissbrauch leiden, Gerechtigkeit widerfahren wird. 208 Die Mahnung lediglich auf den Weckruf Mt 25,6 zu beziehen wie Schlunk, Wort, 258, greift daher zu kurz. <?page no="289"?> 289 Auch kommt die Zeitperspektive des kommenden Gerichts in den Blick: Um die rechte Bahn, die zu dem Himmel führt, zu gehen, ist es nötig, in der Gegenwart - und nicht erst irgendwann später - den König anzunehmen (Str. 4) und für sein Kommen bereit zu sein, denn er kommt bald; er ist schon auf der Bahn (Str. 6). Die Schilderung seines Erscheinens in seiner Herrlichkeit ist eine deutliche Anspielung auf die Gerichtsszene (Mt 25,31). Das Motiv des Verwandelns der Klage und des Leidens in Freude erinnert an die alttestamtentlichen Tag- Jhwhs-Intertexte von Mt 24,29-31, die die Umkehrung der Verhältnisse zugunsten des zuvor unterdrückten Volkes Israel ankündigen (Jes 14,1-8; 35,1- 10). Auch mit dem Intertext Mt 25,1-13 verbindet sich eine Vorstellung des Gerichts, mit der Anspielung auf ihn verbindet sich die Perspektive des möglichen Scheiterns, des Nicht-Vorbereitetseins. Sie wird zwar an dieser Stelle nicht explizit thematisiert, ergibt sich aber aus der Mahnung, die Lampen fertig zu halten. Mit dem Gleichnis ist sie als Mahnung zur Wachsamkeit angesichts des zum Gericht kommenden Menschensohnes zu verstehen. Diese Anspielungen auf das Gericht dienen der Illustration der Hoheit und Herrlichkeit Jesu. Hierin drückt sich seine Macht aus, die die Macht der Mächtigen übertrifft und damit Trost bedeutet: Für die Armen und Elenden, aber auch für alle Frommen angesichts der als heillos erscheinenden gegenwärtigen Welt. 209 Diese Gegenwart wird im adventlichen Warten mit der Zeit des in Niedrigkeit und Machtlosigkeit auf Erden erscheinenden Jesus in eins gesetzt. Seine Niedrigkeit „wird zum Passionsgeschehen hin verdichtet“, 210 das, wie das eschatologische Geschehen einschließlich des Gerichts auch, als Geschehen pro nobis gedeutet wird und damit ebenfalls die Funktion des Trostes hat. 4.2.4 Wirkungsgeschichte Das Lied wurde bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein zumeist in seiner Originalfassung oder lediglich mit geringen Änderungen tradiert. Danach wurde häufig die zweite Strophe gestrichen 211 - die hier zum Ausdruck kommende Ambivalenz, die Hoheit und Niedrigkeit des kommenden Herrn 209 Gegen Seibt, Schleiermacher, 92, die eine Scheinalternative formuliert, die auch, wie bereits erwähnt, in der neutestamentlichen Forschung eine lange Tradition hat: „Der Ausblick auf die eschatologische Wiederkunft wird hier nicht mit dem Gericht, sondern mit Trost und Erfüllung verbunden.“ 210 Seibt, Schleiermacher, 91. 211 *Stuttgart 1842, *Basel 1854, *Marienwerder 1854, *Stuttgart 1854, *Nürnberg 1855, *Darmstadt 1881, *Schleswig 1884, *Berlin 1886, *Basel 1891, *Dortmund 1893, *Königsberg 1899, *Wiesbaden 1900, *Frankfurt 1907, *Stuttgart 1912, *DEG 1915, *DEG 1926, *Halle 1933, *Bayern 1938, *Hamburg 1939, *DC 1941. <?page no="290"?> 290 der Herrlichkeit erregte anscheinend ebenso Anstoß wie die Bildlichkeit der Strophe und der Opfergedanke. Das EG hat diese für das Lied gerade in seinem kirchenjahreszeitlichen Kontext zentrale Strophe jedoch beibehalten. In der Wirkungsgeschichte des Liedes erweist sich Gottes zoren (Str. 4 in *Crüger 1640; im EG heißt es des Höchsten Zorn) als die deutlichste „Unbestimmtheitsstelle“ bezüglich des Gerichtsgedankens. Der Zorn lässt sich zum einen als strafendes Eingreifen Gottes in das Geschick des Menschen zu seinen Lebzeiten verstehen. Auf eine solche Deutung lassen Formulierungen wie Weil dem, der ihn verachtet, … Der Höchste widersteht (*Basel 1854) oder Sonst, wo ihr ihn verachtet, … Euch Gottes ungnad rührt (*Tübingen 1743) schließen. Die Variante …euch Gottes Strafe rührt (*Weimar 1778) lässt dagegen auch ein Verständnis des Zornes Gottes als endzeitliches Gericht zu. Noch stärker ist dieser Aspekt in der Formulierung …Ist nah das Strafgericht (*Stuttgart 1842) 212 herausgestellt. In letzterer Variante spiegelt sich weiterhin das Problem, dass in einem Lied, das vom Kommen Jesu Christi als König (und damit auch als Richter, vgl. Mt 25,31-46) handelt, auf den Zorn Gottes verwiesen wird. Dem entsprechend findet sich im 19. Jh. als weitere Variante des Herren Zorn euch rührt, 213 die eine Deutung sowohl auf Gott als auch auf Jesus Christus zulässt. Die EG-Variante, des Höchsten Zorn euch rührt, 214 legt die Deutung auf Gott nahe und nähert sich damit wieder dem Original an, bildet aber in rhetorischer Hinsicht einen gelungenen Gegensatz zum menschlichen Trachten nach Hoheit. Eine rationalistische Bearbeitung des Liedes findet sich in *Zwickau 1778. 215 Hier lautet die vierte Strophe: Bewohner dieser Erden! nehmt diesen König an, wenn ihr wollt selig werden, und geht die rechte Bahn, die zu dem Himmel führt; weil der, der ihn verachtet, nach seinem Heil nicht trachtet, die Seligkeit verliert. Statt an eine bestimmte Gruppe, die Mächtigen, richtet sich diese Strophe an die gesamte Menschheit. Der Appell zur Annahme des Königs wird damit 212 Ihr Mächtigen auf Erden, / Nehmt diesen König an! / Soll euch geholfen werden, / So geht die rechte Bahn, / Die führt zum Himmelslicht; / Sonst wo ihr ihn verachtet, / Und nur nach Hoheit trachtet, / Ist nah das Strafgericht. 213 *Marienwerder 1854, *Stuttgart 1854, *Straßburg 1899. 214 Vgl. bereits *Nürnberg 1855; ebenso *EKG. 215 Vgl. auch *Wittenberg 1792. Diese beiden Gesangbücher enthalten auch erheblich veränderte Versionen von EG 5 (vgl. dort). <?page no="291"?> 291 so allgemein, dass sich alle - in Machtpositionen oder nicht - angesprochen sehen, er aber keine Assoziationen konkreter Situationen, z.B. des Machtmissbrauchs, mehr hervorruft. Das sozialkritische Potential dieser Strophe ist damit getilgt, das Augenmerk wird auf das eigene Heil gelenkt: Seligkeit, so wird es hier suggeriert, kann durch eigenes Streben erworben werden. Die Metapher vom Zorn Gottes ist getilgt zugunsten einer vagen Vorstellung des individuellen Heils, das zu erlangen der Mensch allein verantwortlich ist. Während die folgende Strophe in *Zwickau 1778 beinahe unverändert ist, die Armen und Elenden also gewissermaßen als Untergruppe der Bewohner dieser Erden dargestellt sind, ist in der Version in *Wittenberg 1792 216 auch diese Unterscheidung nivelliert zugunsten einer kollektive Anrede Jesu: Drum wollest du uns leiten, o M i t t l e r, Jesu Christ! Wer deiner Seligkeiten Besitzer worden ist, ist immer wohlgemuth, und bleibt getrosten Herzens, auch in der Zeit des Schmerzens; du bist sein höchstes Gut. Diejenigen, die gegenwärtig nach dem Heil Jesu streben, sind - ebenfalls bereits in der Gegenwart - Besitzer seiner Seligkeiten geworden. Dass Menschen gleichwohl und trotz dieser Zusage Angst und Leid zu ertragen haben, ist in dieser Fassung ausgeblendet; beides, Leid und Verheißung, steht in keinerlei Relation. Die Verheißung ist gewissermaßen schon erfüllt in der Annahme des Königs, die aus eigener Kraft geschieht. Nicht umsonst wird sein zukünftiges Kommen in weite Ferne gerückt (Str. 6): 217 Einst, einst wird er erscheinen in seiner Herrlichkeit, und alles unser Weinen verkehr'n in ew'ge Freud. Er ist’s, der helfen kann; drum laßt uns seyn stets fertig, und seiner stets gewärtig auf unsrer Lebensbahn. 216 Hervorhebung ebd. 217 Die Version in *Wittenberg 1792 verbleibt in der Anredeform: Einst, einst wirst du erscheinen in deiner Herrlichkeit…, hat den Wortlaut der Zwickauer Fassung aber ansonsten übernommen. <?page no="292"?> 292 Wiederum mit dem Verweis auf das eigene Tun, die eigene Lebensbahn, endet die Strophe und ist damit weit entfernt von der hoffnungsvollen eschatologischen Erwartung, die im Original formuliert ist. Auch die Allusion an das Gleichnis Mt 25,1-13 ist getilgt und damit der Assoziationsreichtum, der sich aus der Formulierung halt‘ eure Lampen fertig ergibt. Damit geht - von dem moralisierenden Impetus des zweiten Strophenteils einmal abgesehen - die vollkommene Trennung von Diesseits und Jenseits einher. Sie wird in der Thematisierung des Weinens deutlich, das der König nicht in Freud verwandeln sondern in ew’ge Freud verkehr’n wird. Diese jenseitige Freude hat mit dem gegenwärtigen Leid nichts zu tun, es wird vielmehr, wie gesehen, negiert. Somit macht diese Version des Liedes eine echte eschatologische Erwartung, die in die Gegenwart hineinwirkt, unmöglich. 218 Abgesehen von den dargestellten rationalistischen Bearbeitungen hat es in zwei ganz unterschiedlichen Epochen Versionen des Liedes gegeben, die zentrale Inhalte herausstreichen, so dass sich der Charakter des Liedes jeweils vollständig verändert. Dies ist zum einen im Gesangbuch der Brüdergemeine von 1749 der Fall. Hier sind die zweite Hälfte der ersten Strophe und die erste Hälfte der zweiten Strophe zur ersten Strophe zusammengefügt. 219 Str. 3 und 4 sind ganz gestrichen. Somit sind zwar die Armen und Elenden, nicht aber die grossen Potentaten angesprochen und sämtliche Verweise auf die Möglichkeit eines Scheiterns im Gericht getilgt, so dass das Lied in dieser Fassung zu einem reinen Trostlied wird. Im Gesangbuch der Deutschen Christen (*DC 1941) ist neben der zweiten auch die vierte sowie die Hälfte der fünften Strophe weggekürzt. Die Mahnung an die Mächtigen auf Erden, den König anzunehmen, ist somit entfallen, ebenso jegliche Trostperspektive für die Armen und Elenden. Der zweite Teil der fünften Strophe wird vielmehr mit der sechsten kombiniert, so dass das Lied mit der Aufforderung zum Lob des Königs endet: Er wird nun bald erscheinen in seiner Herrlichkeit, der all eur Klag und Weinen verwandeln wird in Freud. Seid froh und wohlgemut, laßt eure Lieder klingen, dem König Lob zu singen, er ist eur höchstes Gut. 218 Zu einem ähnlichen Urteil kommt Seibt, Schleiermacher, 94-99, in ihrer Analyse einer Neufassung des Liedes, die sich unter dem Titel Erhebt den Herrn, ihr Frommen im *Mylius 1780 findet und keinerlei Bezüge zu Mt 21,1-9 mehr enthält. In der überarbeiteten Version dieser Fassung in *Berlin 1829 ist zudem der Gerichtsgedanke vollkommen getilgt zugunsten der Ausrichtung auf den gegenwärtigen Menschen. 219 Nun jauchzet, all ihr frommen! in dieser gnaden=zeit, weil unser Heil ist kommen, der HErr der herrlichkeit: Er will hier seine macht und majestät verhüllen… <?page no="293"?> 293 Hier ist nicht nur sämtliche Metaphorik getilgt, sondern auch die eschatologische Erwartungshaltung spielt keine Rolle mehr - warum auch? Mit dem Kommen Jesu verbindet sich in dieser Liedfassung - wohl der NS-Ideologie geschuldet - weder kritisches Potential den Mächtigen gegenüber noch der Anspruch, ihn auf angemessene Weise, nämlich „mit brennenden Lampen“, zu empfangen. Vielmehr werden die vielfältigen Aussagen der Originalfassung auf ihre Trostdimension und die Aufforderung zum Lob Gottes reduziert. Das EG hat sich gegenüber den genannten Veränderungen wieder weitgehend auf das Original besonnen und wird als solches in der Gegenwart rezipiert. In der Liedgeschichte zeigt sich, dass v.a. der Verweis auf Gottes Zorn vielfach präzisiert wurde, und zwar sowohl im Hinblick auf das Subjekt dieses Zorns als auch auf seine Deutung als endzeitliches Gericht. Auch ist die Anrede an spezielle Adressat_innen, die Mächtigen und die Armen und Elenden, mehrfach durch eine allgemeine Anrede ersetzt worden. Damit geht sowohl ein wichtiger Aspekt des im Lied mitklingenden Gerichtsgedankens verloren als auch ein großer Teil seines Identifikationspotentials, das im Folgenden zum Thema werden soll. 4.2.5 Das Lied im Gottesdienst 4.2.5.1 Rollenangebote und Identifikationspotentiale Das Lied inszeniert, wie gesehen, den Einzug in Jerusalem, das Kommen des Herrn der Herrlichkeit zu uns. Das Rollenangebot an die Singenden ist das der homodiegetischen Erzählstimme und damit das der Bewohner_innen Jerusalems, die Jesus mit Palmzweigen und „Hosianna“-Rufen willkommen heißen. Gleichzeitig kennen die Singenden die Jesusgeschichte bereits bis zum Ende. Sie befinden sich nicht wie die Bewohner_innen Jerusalems auf der Zeitstufe vor, sondern nach seinem Tod. Sie wissen bereits, dass sein Weg nach Jerusalem ans Kreuz führt, so dass sie in der Lage sind, den Einzug des Herrn der Herrlichkeit zu deuten. Sie nehmen proleptisch vorweg, wozu er nach Jerusalem kommt (Str. 2-3) und verkündigen daraufhin, was dieser Einzug bedeutet: für die Mächtigen (Str. 4), für die Armen und Elenden (Str. 5) und für alle Frommen (Str. 6). Das Rollenangebot ist also ein doppeltes; es umfasst Teilhabe und Deutung. Dieses doppelte Rollenangebot bedingt auch, dass die jeweilige Gegenwart als Gnadenzeit wahrgenommen werden kann, auch wenn dies dem Augenschein widerspricht: Das Kommen Jesu wird vergegenwärtigt und als heilvolles Geschehen gedeutet - auch und gerade angesichts der Gegenwart, in der Leid und Unrecht geschehen. Unter diesem Blickwinkel lassen sich Str. 4 und 5 als Anrede an potentielle Täter und an Opfer wie auch immer gearteten Unrechts verstehen. Beide Strophen sind so allgemein formuliert, dass sich hier im Akt des Singens <?page no="294"?> 294 eine Vielzahl unterschiedlicher Lebenssituationen eintragen lassen. Die Singenden übernehmen dabei einerseits die Rolle der mahnenden und tröstenden Erzählstimme, können sich jedoch auch selbst als Adressat_innen verstehen und sich im Sinne einer kathartischen Identifikation in diese Rolle hineinversetzen. So kann die Anrede an die Mächtigen als Anfrage an die eigene Lebensweise, die eigenen Lebensziele gehört werden sowie als Anfrage an das eigene Verhältnis zum kommenden König. Die (sympathetische) Identifikation mit den Armen und Elenden impliziert dagegen eine Trostperspektive. Das eigene Leiden wird in so allgemeiner Form thematisiert, dass ein Bezug zur Entstehungszeit des Liedes, also zum Dreißigjährigen Krieg und zu den Pestepidemien, hergestellt werden kann, aber auch ganz unterschiedliche, je eigene Nöte dort eingetragen werden können. Dagegen wird das Kommen des Königs als Hoffnungsperspektive gesetzt, die bereits die Gegenwart verändert. Er ist es, der durch sein Kommen die Klage in Freude verwandelt, der dafür sorgt, dass die Mächtigen nicht über die Armen und Elenden triumphieren, sondern der vielmehr die Mächtigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhöht (Lk 1,46-55). Auf diese Weise wird das in Str. 1-3 geschilderte Heilsgeschehen zu der jeweiligen Gegenwart der Singenden in Relation gesetzt, die eine Zeit der „Abwesenheit des Herrn“ zwischen seiner Himmelfahrt und Wiederkunft ist. Str. 6 unterstützt noch einmal die Identifikation mit beiden Parteien, indem sie Zuspruch und Anspruch gleichermaßen formuliert: Der König kommt um zu helfen, und doch gilt es auf sein Kommen vorbereitet zu sein, ihn mit brennenden Lampen zu erwarten. Damit werden die Singenden zu guter Letzt in die Rolle der zehn jungen Frauen des Gleichnisses versetzt. Mit ihnen verbindet sie die Zeitstufe, auf der sie sich befinden: Es ist die Zeit vor dem Kommen des Menschensohn-Bräutigams, die Zeit, in der er erwartet wird, in der sein Kommen nahe bevorsteht: er ist schon auf der Bahn - in jeder Adventszeit von neuem, und endgültig doch erst am Ende der Zeiten. 4.2.5.2 Das Lied im Kirchenjahr Als Evangelienlied zu Mt 21,1-9 ist Nun jauchzet, all ihr Frommen ein eindeutiges Adventslied. Seine Einordnung in die Rubrik „Advent“ resp. „Von der Zukunft Christi im Fleisch“ (*Freylinghausen 1704) o.ä. ist traditionell und m.W. nie anders vorgenommen worden. Durch seine Besonderheit, die eschatologische Pointe, hat es Entscheidendes zu den Gottesdiensten an allen vier Adventssonntagen beizutragen, nicht nur zum vierten, an dem es als Wochenlied vorgesehen ist. Auf den ersten Blick passt es besser zum ersten Sonntag im Advent, wo es zur Vergegenwärtigung und Deutung des Evangeliums dieses Sonntags, Mt 21,1-9, beitragen kann. 220 Mit dem Evangelium 220 Für den 1. Adventssonntag gäbe es jedoch viele gute Wochenlieder, und die Auswahl im revidierten Wochenliedplan (Nun komm, der Heiden Heiland, nebst Alternative Die <?page no="295"?> 295 des zweiten Adventssonntags, Lk 21,25-33 (par. Mt 24,29-35), hat es die Parusieankündigung gemeinsam und trägt zu deren Verknüpfung mit dem Adventsgeschehen bei. Aber auch am 4. Sonntag im Advent ist das Lied sinnvoll platziert. Zwar hat C. Reich zu Recht angemerkt: „Dieses Lied will nicht auf die Geburt des Krippenkindes vorbereiten. Es reißt den Horizont viel weiter auf.“ 221 Aber gerade deshalb ist es hilfreich, um diese Geburt, die ja nichts anderes ist als das Kommen Gottes in die Welt, richtig einzuordnen: Gott kommt in Niedrigkeit - darauf liegt ein Schwerpunkt dieses Sonntags - aber auch in Hoheit. Sein Kommen ist relevant, es bringt Veränderung und lässt die Machtverhältnisse nicht, wie sie sind. Hierin liegt die Verbindung des Liedes zum Evangelium dieses Sonntags, dem Magnificat der Maria (Lk 1,46-55), das genau diese grundlegende Veränderung thematisiert: „...er stößt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen, die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen…“. Auch ist dieser Sonntag von der Nähe der Ankunft des Gottessohnes geprägt, wie sie in der Epistel Phil 4,4-7 („Freuet euch im Herrn allewege... der Herr ist nahe! “) formuliert ist. Gemeinsam mit dieser Epistel ruft das Lied zur Freude auf und betont, dass es bei dieser Naherwartung nicht nur um die Erwartung der Geburt, der Inkarnation Gottes in Niedrigkeit geht, sondern ebenso um die Erwartung seiner Wiederkunft in … Herrlichkeit: Darauf bezieht sich v.a. die letzte Liedstrophe mit ihrem Ausblick auf den „Herrlichkeitsadvent“. 222 Nacht ist vorgedrungen) ist m.E. gut begründet. Zur Begründung vgl. Drömann, Wochenliedplan, 189. 221 Reich, Frommen, 14. 222 Köhler, Quellen, 35. <?page no="296"?> 296 4.3 EG 147 „Wachet auf“, ruft uns die Stimme 1. „Wachet auf“, ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne, „wach auf, du Stadt Jerusalem! Mitternacht heißt diese Stunde“; sie rufen uns mit hellem Munde: „Wo seid ihr klugen Jungfrauen? Wohlauf, der Bräut'gam kommt, steht auf, die Lampen nehmt! Halleluja! Macht euch bereit zu der Hochzeit, ihr müsset ihm entgegengehn! “ 3. Gloria sei dir gesungen mit Menschen- und mit Engelzungen, mit Harfen und mit Zimbeln schön. Von zwölf Perlen sind die Tore an deiner Stadt; wir stehn im Chore der Engel hoch um deinen Thron. Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat mehr gehört solche Freude. Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für. 2. Zion hört die Wächter singen, das Herz tut ihr vor Freude springen, sie wachet und steht eilend auf. Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig, von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig, ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf. Nun komm, du werte Kron, Herr Jesu, Gottes Sohn! Hosianna! Wir folgen all zum Freudensaal und halten mit das Abendmahl. 4.3.1 Einleitung „Wachet auf“, ruft uns die Stimme ist ein Evangelienlied zu Mt 25,1-13. Es entstammt Philipp Nicolais „Freudenspiegel des Ewigen Lebens“ aus dem Jahr 1599 und steht dort unter der Überschrift „Ein anders [Brautlied] von der Stimm zu Mitternacht / vnd von den klugen Jungfrauwen / die ihrem himmlischen Bräutigam begegnen / Matth. 25.“ Diese Perikope ist auch im EG als Intertext der ersten Strophe markiert. Das Lied besteht im Original aus drei Strophen, ebenso die EG-Fassung, die gegenüber dem Original nur leicht verändert wurde. Die erste Strophe ist ein Weckruf angesichts des ankommenden Bräutigams, die zweite Strophe schildert die Reaktion Zions auf den kommenden Jesus und die dritte Strophe ist der an den Gekommen gerichtete Lobpreis der himmlischen Chöre. 223 Zu den Entstehungsumständen des Liedes äußert sich Nicolai in seiner Vorrede zum „Freudenspiegel“: In Unna, wo er seit 1596 eine lutherische Pfarrstelle bekleidete, 224 wütete im Jahr 1597 die Pest. Über 1400 Einwohner 223 Vgl. auch Bruppacher, Herr, 414, der folgendermaßen gliedert: V.1 Die harrende Gemeinde, V.2 Der kommende Herr, V.3 Die vollendete Gemeinde. 224 Vgl. zu Nicolais Biographie v. Eltz-Hoffmann, Gott, 36. <?page no="297"?> 297 waren erkrankt, und auch die nicht Betroffenen gingen „meistes theils mit verzagtem Gemüht / vnd erschrockenen Hertzen / als erstarret vnnd halb todt daher...“. Auch Nicolai selbst verlor Verwandte und Freunde. Trost findet er in seinem Glauben, in der „Betrachtung deß edlen hohē Artickels vom ewigen leben / durch Christus Blut erworben“. Solche Betrachtungen des ewigen Lebens - Nicolai bezeichnet sie als meditationes - in immer neuen, herrlichen Bildern finden sich im „Freudenspiegel“. Sie dienen dem Trost der „betrübten Christen (denen ihre Freunde abgestorben / vnd in dem Herren entschlaffen sind) zum seligen Trost / vnnd zur Linderung ihrer Trauwrigkeit“. 225 Zu trösten galt es mithin nicht nur die Traurigkeit angesichts des Verlustes geliebter Menschen oder die Angst um das eigene Leben in der Pestzeit. Für jede_n einzelne_n stand auf dem Spiel, vom Tod und vom Jüngsten Gericht überrascht zu werden und unvorbereitet zu sein. Gegen diese Angst stellt der „Freudenspiegel“ Bilder des ewigen Lebens vor Augen. Diese „trostreichen Namen“ des ewigen Lebens findet Nicolai in der Schrift: „Paradeiß“, „Hochzeit“, „Gottes Reich“, „Frewde die Fülle“ etc. Sie dienen dazu, „daß wir mitten in unserm Glauben / vnd mitten in vnser Hoffnung / zu hertzlicher Frewde v Frolockung auffgemuntert vnd vermahnet werden“. Es handelt sich um Bilder aus dem menschlichen Erfahrungsschatz, die Lust machen auf das ewige Leben: „Was beliebet jungen Leuten / jungen Gesellen vnd Jungfrauwen mehr / als Hochzeitliche Frewde / Brautliebe vnd eheliche Verbündtnuß? “ 226 Kurz vor dem Schluss seines Erbauungsbuches hat Nicolai zwei Lieder samt Noten eingefügt; Wie schön leuchtet der Morgenstern und „Wachet auf“, ruft uns die Stimme. Sie können als poetisch-musikalische Zusammenfassung der im „Freudenspiegel“ ausgeführten Trostthematik gelesen werden. 227 Beide sind in ihrer Verbindung von Text und Melodie im Sinne der „Figurenlehre“ klassische Vertreter des barocken (Kirchen)liedes. 228 4.3.2 Analyse und Intertexte Das Lied beginnt mit dem Imperativ Wachet auf. Erst durch den folgenden Nebensatz ruft uns die Stimme wird deutlich, dass sich dieser Weckruf an uns, die intradiegetischen Erzähladressat_innen, richtet. Die Strophe enthält überwiegend direkte Rede, die lediglich von zwei kurzen Beschreibungen unterbrochen ist: Es sind die Wächter sehr hoch auf der Zinne, die mit hellem 225 Nicolai, Freudenspiegel, 318. 226 Nicolai, Freudenspiegel, 12f. 227 Vgl. Walter, Stimme, 249. 228 „Bestimmte Textinhalte, -haltungen und -stimmungen werden durch bestimmte melodische oder rhythmische ... Formeln ‚in die Music übersetzet’ (Heinrich Schütz).“ (Jenny, Kirchenlied, 620). <?page no="298"?> 298 Munde rufen, deren Stimme hier zu hören ist. Durch das Enjambement und den unreinen Reim Stimme - Zinne wird dies betont. Eindrücklich ist die Dominanz des Wortfeldes „wachen“ und damit verbunden der häufige Gebrauch des Konsonanten w. Das trägt zum dramatischen Modus der Strophe ebenso bei wie ihre überwiegende Gestaltung als direkte Rede. Durch den Ruf der Wächter wird die Szene in Jerusalem verortet (Wach auf, du Stadt Jerusalem; vgl. Jes 51,17a). Erst durch die Zeitangabe (Mitternacht heißt diese Stunde; vgl. Mt 25,6 229 ) und die Anrede als ihr klugen Jungfrauen (Mt 25,2.4.9) wird deutlich, dass es die Szenerie des Gleichnisses von den zehn jungen Frauen ist, die hier vor Augen gestellt ist. Mehrere Leerstellen des Gleichnisses werden dabei durch den Liedtext gefüllt: Der Ort des Geschehens, der im Gleichnis offen bleibt, wird im Lied nach Jerusalem verlegt. Auch werden die Urheber_innen des Geschreis, die im Gleichnis anonym bleiben, mit den Wächtern Jerusalems identifiziert. Das Geschrei ( kraugh, ) selbst ist jedoch im Lied schon allein durch seine Bezeichnung als Rufen mit hellem Munde anders qualifiziert als bei Mt: Assoziiert kraugh, eher aufgeregtes und angstvolles Rufen, ist der Ruf der Wächter Jerusalems als Ankündigung eines freudigen Ereignisses zu verstehen: Sowohl mit Jes 52,8 - hier kündigt das Rufen der Wächter die Rückkehr Jhwhs auf den Zion als fried- und heilvolle Perspektive an 230 - als auch mit Str. 2, wo vom Gesang der Wächter die Rede ist, auf den Zion mit Freude reagiert. Auch dadurch, dass im Lied nur nach den klugen Jungfrauen gerufen wird, ist sein Fokus auf dem Heil bereits determiniert: Nur der positive Ausgang des Gleichnisses ist im Blick. Der folgende Ruf Wohlauf, der Bräut'gam kommt ist fast wörtlich aus dem Gleichnis übernommen. Auch die folgende, parallel formulierte Aufforderung Steht auf, die Lampen nehmt gibt wieder, was im Gleichnis geschildert wird: die Jungfrauen, und zwar alle, nehmen ihre Lampen bzw. bringen diese in Ordnung (V.7), machen sich also bereit zur Hochzeit. 231 Auch die Aufforderung, dem Bräutigam entgegenzugehen, ist eng an die Formulierung des Gleichnisses (V.6) angelehnt. Indem das im Gleichnis Erzählte im Lied als direkte Rede wiedergegeben wird, wird es „zur dramatischen Szene ausgestaltet“. 232 Hauptpersonen sind wie dort die jungen Frauen, die über 229 Bei Mt ist, wie gesehen, nicht zwingend die mitternächtliche Stunde gemeint, sondern ein Zeitpunkt mitten in der Nacht (vgl. 2.5.2.3 im zweiten Teil). 230 Das Wächter-Motiv ist auch im ursprünglich weltlichen Tagelied verbreitet. Hier kommt dem Wächter die Aufgabe zu, zwei heimlich Liebende vor Anbruch des Tages zu wecken. In der geistlichen Variante weckt der Wächter vom „Sündenschlaf“; der Weckruf ist ein Ruf zur Buße. (Vgl. Franz, Stimme, 159; vgl. auch Bruppacher, Herr, 415; Thust, Lieder, 258). 231 Gemäß traditioneller Auslegung, die sich in Luthers Übersetzung wie auch in den meisten heutigen Übersetzungen widerspiegelt, ist hier von „Lampen“ und nicht von „Fackeln“ die Rede. Vgl. dazu 2.5.2.2.3 im zweiten Teil. 232 Stalmann, Wachet, o.S. <?page no="299"?> 299 dem Warten auf den Bräutigam eingeschlafen sind und nun vom „Geschrei“ geweckt werden. Im Unterschied zum Gleichnis sind sie sämtlich als ihr klugen Jungfrauen angesprochen. Dass dort auch von „dummen“ Frauen die Rede ist, die kein Öl mitgebracht haben und daher nicht ihre brennenden „Lampen“ nehmen können, spielt im Lied keine Rolle. 233 Es lotet keine Alternative aus zum angemessenen Empfangen des Bräutigams, es fordert auf, wach und bereit zu sein und den Bräutigam nicht nur zu erwarten, sondern ihm aktiv entgegenzugehen. Die Gefahr, nicht vorbereitet zu sein, zu spät zu kommen und vom Bräutigam abgewiesen zu werden, wird hingegen ausgeblendet. Damit fallen auch die Transfersignale des Gleichnisses, die eine Deutung des Bräutigams auf Jesus nahe legen, 234 in der ersten Liedstrophe weg - abgesehen davon, dass es die Kenntnis des Gleichnisses voraussetzt. Das Lied legt diese Deutung auf andere Weise nahe: durch die Lokalisierung in Jerusalem wird die Erzählung vom kommenden Bräutigam mit der Stadt verbunden, in die laut der Evangelienerzählungen Jesus kommt, mit Jubel empfangen, dann gekreuzigt wird und nach drei Tagen aufersteht. Auch die Wiederkunft des Messias zum Gericht wird traditionell in Jerusalem erwartet. 235 Zudem liegt der Ort, an dem „Jesus“ die Endzeitrede hält, der Ölberg (Mt 24,3), in Jerusalem in Sichtweite des Zion (vgl. auch V.1f.). Die zweite Strophe ist von der Freude angesichts des kommenden Bräutigams bestimmt. Sie beschreibt die Reaktion Zions auf den Gesang der Wächter. Geschah die Schilderung des Weckrufs aus der Sicht der Jungfrauen, d.h. intern fokalisiert, wird die Reaktion Zions aus der Außensicht, d.h. extern fokalisiert, beschrieben. Erst hier beginnt die eigentliche Erzählung: Während in Str. 1 lediglich die Motivation zu dieser Handlung beschrieben ist, bringen hier zwei „Kerne“, das Aufstehen Zions und das Kommen ihres Freundes vom Himmel, die Handlung voran. Durch das Pronomen sie und die Beschreibung ihres Hörens und Handelns wird deutlich, dass der Zion nicht einfach mit den klugen Jungfrauen, die dem Bräutigam das Geleit geben, identisch ist. Zion, der Tempelberg, ist hier vielmehr personifiziert als die Braut des kommenden Bräutigams (vgl. bereits Jes 62,5b), die wachet und … eilend aufsteht. Zion steht hier also zunächst pars pro toto für die Gottesstadt Jerusalem und nicht zuletzt für das Gottesvolk, 236 gleichzeitig aber auch für alle, die singend zwar an ihrer Freude partizipieren, aber auch von ihr unterschieden bleiben - die ganze Szene bleibt ein Stück weit Fiktion, ja Zukunftsvision. 233 Ebenso Stalmann, Stimme, 84; Walter, Stimme, 253, Thust, Lieder, 258. 234 Hierbei handelt es sich um die Anrede des Bräutigams als ku,rioj sowie seine mit „Amen, ich sage euch...“ eingeleitete Antwort „Ich kenne euch nicht“ (vgl. dazu 2.5.2.6.2 im zweiten Teil). 235 Vgl. dazu 1.1 im zweiten Teil. 236 Vgl. Stalmann, Wachet, o.S. <?page no="300"?> 300 Die Attribute des vom Himmel kommenden Freundes verweisen auf die Parusieszene der Endzeitrede (25,31, vgl. Dan 7,13f.): Er kommt vom Himmel mit Pracht ( do,xa ), seine Stärke wird demonstriert. Die Attribute stark und mächtig verweisen auf Ps 24, 237 der in der kirchlichen Tradition mit dem ersten Adventssonntag verbunden ist, und damit mit dem „König der Ehre“, dem es „die Tore weit und die Türen in der Welt hoch“ zu machen gilt (V.7). Konkrektisiert und auf den fleischgewordenen lo, goj gedeutet werden diese Attribute mittels der näheren Bestimmung durch die Substantive „Gnade“ und „Wahrheit“ (Joh 1,14.17). 238 Das aufleuchtende Licht verweist auf die erste Strophe zurück: Die Stadt Jerusalem, bzw. Zion in der Rolle der klugen Jungfrauen hat den Ruf der Wächter befolgt und die Lampen entzündet. 239 Ihr Stern geht auf verbleibt im Wortfeld „Licht“ und rekurriert gleichzeitig auf die Selbstbezeichnung Jesu als „heller Morgenstern“ (Offb 22,16f.), woraufhin „der Geist und die Braut sprechen: Komm! “ Mit der Bezeichnung dieses Kommenden als Freund ist auf die allegorisch-mystische Hohelied-Rezeption angespielt (vgl. v.a. Hld 5,2.5). 240 Zion ist damit nicht nur eine Personifikation der wartenden Frauen aus Mt 25,1- 13 bzw. des Volkes Gottes, sondern auch der Braut selbst: Im übrigen „Freudenspiegel“ wird die Begegnung von Braut und Bräutigam allegorisch auf die Begegnung der auserwählten Seele mit Jesus Christus gedeutet. 241 Im Lied steht die „Braut“ Zion jedoch auch für ein Kollektiv. 242 Bei der Begegnung mit ihrem himmlischen Bräutigam klagt die Braut ihm alles, was sie auf der Welt um seinetwillen erleiden musste: O Jesu / du Krone meines Hauptes / v mein einziger Trost / mein herzliche Freude vnd Wonne : O nun müssestu hochgepreist / hochgelobt / vnd hochgeehret seyn / du Wurzel Jesse / du heller Morgensterne v König deß 237 Ebenso Thust, Lieder, 259. 238 Ähnlich Franz, Stimme, 160; Thust, Lieder, 259. 239 Der Bezug auf Jes 60,1, den Franz, Stimme, 160, hier vorschlägt, legt sich m.E. nicht zwingend nahe. 240 Stalmann, Stimme, 84, fasst die Grundgedanken dieser Mystik-Rezeptionslinie treffend zusammen: „‘Eschatologie‘, das ist: Naherwartung der Endzeit, hat auch hier die Erlebnisgestalt der Jesusliebe angenommen. Anders gesagt: Nicolai greift erneut auf diese besondere Spiritualität der Alten Kirche und des Mittelalters zurück, die sich aus der allegorischen Exegese des alttestamentlichen Hoheliedes entwickelte. Sie wurde vom Luthertum modifiziert übernommen, als Zuspitzung der Predigt des pro me, des mir ganz persönlich zugewendeten Erbarmens Gottes in Christus.“ 241 Vgl. Nicolai, Freudenspiegel, 342-345. 242 Das Neben- und Ineinander von Gemeinde und Individuum in der Deutung der Brautmystik ist für die Barockzeit typisch. Ein Beispiel unter vielen ist die Predigt von Johann Michael Dilherr Am Andern Sonntag nach der heiligen drey Könige, der die Braut Christi allegorisch auf die „christliche Kirche“, aber auch auf „jede gläubige Seele darinnen“ deutet (Dilherr, Hertz- und Seelen=Speise, 167). <?page no="301"?> 301 ewigen Lebens: Hosianna / du Sohn Dauid / wie haben mich die Gottlosen Leute auff Erden / vmb deines Namens willen / so feindtlich gekränckt / gemartert / vnd geplaget? […] O Jesu / wie lang wiltu deine Ehre schänden lassen? Wie lang richtestu vnd rechtest nicht das Blut / das vmb deinetwillen vergossen wirdt? 243 Diese Klage mag auch in der folgenden invocatio mitschwingen. Sie ist der Ruf der Trostbedürftigen, denen auf Erden Unrecht und Leiden widerfährt und die auf das Kommen Jesu als Richter und Retter hoffen. 244 Der Ruf Hosianna ist wie das Halleluja der ersten Strophe ein Reimwaise - beide Jubelrufe werden auf diese Weise hervorgehoben. Hosianna verweist auf den Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21,1-9) und somit wiederum auf den ersten Sonntag im Advent, auf den „König der Ehre“ - also auf den königlichen Richter aus Mt 25,31-46. Auch kennzeichnet der Ruf den Übergang von der Kommensbitte zurück in die Gleichniserzählung, in der das Kommen des Bräutigams bereits Gegenwart geworden ist. Ihm folgen die klugen Jungfrauen hinein zum Ort der Hochzeitsfeier. Im Lied ist dieser Ort als eschatologischer Freudenort gedeutet; dies impliziert das Kompositum Freudensaal. So bezeichnet das Abendmahl das als Hochzeitsfest vorgestellte eschatologische Festmahl. 245 Im „Freudenspiegel“ ist eine solche Hochzeit als Bild des himmlischen Paradieses, des Freudenortes, näherhin ausgemalt: Wo aber der Hochzeiten vnd hochzeitlichen Ehren gedacht wirdt / da verstehet man durch solche Wort eigentlich anders nichts / als den grossen Ehren Tag eines Breutigams mit seiner Braut / wie auch die fröliche Gesellschafft vnd Zusammenkunfft ehrlicher vnnd schönbekleideter Leute / welche mit Braut vnnd Breutigam sich frölich erzeigen / essen / trincken / singen / vnd haben eytel fröliche Gemühter. 246 Solche Bilder aus der Lebenswelt sollen Lust machen auf das ewige Leben, so heißt es in Nicolais Vorrede. Sind die Singenden bereits durch den in direkter Rede formulierten Ruf Nun komm... wieder unmittelbar in das Geschehen einbezogen, vollziehen sie auch den Einzug in den Freudensaal mit: Wir folgen all, heißt es hier. Niemand muss draußen bleiben. Damit ist nur die erste Hälfte des matthäischen Gleichnisses für das Lied von Bedeutung, jeglicher Blick auf die „dummen Frauen“ wird ausgeblendet. Die Frage nach der tatsächlichen Teilhabe des jeweiligen Individuums am ewigen Leben ist kein Thema - auch im übrigen „Freudenspiegel“ nicht: Hier werden sämtli- 243 Nicolai, Freudenspiegel, 346, Hervorhebungen A. S. 244 Dieselbe Hoffnung drückt sich auch im Morgenstern-Lied aus; hier ist der stärkste Bezug dazu: Wie schön leuchtet der Morgenstern … die süße Wurzel Jesse. Du Sohn Davids aus Jakobs Stamm, mein König und mein Bräutigam... 245 Vgl. Mt 22,2-14 par. Lk 14,16-24; 22,15f.; Offb 19,7.9. Ebenso Stalmann, Wachet, o.S. 246 Nicolai, Freudenspiegel, 312. <?page no="302"?> 302 che Adressat_innen mit den „Auserwählten“ identifiziert. Was diese Auserwählten im Einzelnen qualifiziert, wird kaum spezifiziert,: Als Auserwählte werden diejenigen bezeichnet, „die Tag und Nacht zu ihm ruffen“ 247 oder „die selig in dem Herrn entschlaffen sind“; 248 ansonsten findet sich häufig die Formulierung „auserwählte Seelen“ 249 oder „außerwehlte Christen“. 250 Wichtig scheint v.a., dass sich alle Adressat_innen des „Freudenspiegels“ und des Liedes zu den Auserwählten, die all zum Freudensaal folgen, zählen können. Mit der dritten Strophe ist das Wortfeld „Hochzeit“ endgültig verlassen. Die Strophe verbleibt im Modus der Anrede und ist ein Lobgesang an den wiedergekommenen Jesus mit Anspielungen auf Offb 21,21 (im EG als Intertext markiert), Offb 19,6-7 und 1 Kor 2,9. Die Singenden reihen sich in den eschatologischen Chor der Engel 251 ein. „Auffordern und Bitten, Erzählen und Reflektieren münden ein in den weihnachtlichen Engelsgesang ‚Gloria‘, das in kleiner und großer Form Grundbestand jeder Liturgie ist.“ 252 Auf diese Weise wird der Freudensaal mit dem Reich Gottes in eins gesetzt, einem Ort unermesslicher Schönheit (Von zwölf Perlen sind die Tore), erfüllt vom Gesang des Chores. Damit füllt das Lied eine weitere Leerstelle des Gleichnisses: Die dort dargestellte Szene endet „vor der Haustür“; die Lesenden können in ihrer Lektüre den „klugen“ Frauen nicht hinein zum Hochzeitsfest folgen - was dort geschieht, wird ihrer Phantasie überlassen. Insgesamt verkörpert diese Strophe den Lobgesang des eschatologischen Chores, 253 in dem auch wir, die intradiegetischen Adressat_innen, stehen und singen und somit proleptisch am eschatologischen Geschehen teilhaben. Für die Adressat_innen des Liedes ist das Gericht gut ausgegangen, sie stehen nun um den Thron Gottes in unermesslicher Freude (vgl. Mt 25,21.23). 254 Dafür loben sie Gott mit Singen und Musizieren - das Wortfeld „Musik“ bestimmt diese Liedstrophe. Das EG hat diesen Aspekt gegenüber der Originalfassung abgeschwächt. Während hier lediglich beschrieben wird, dass 247 Nicolai, Freudenspiegel, 2. 248 Nicolai, Freudenspiegel, 311. 249 Nicolai, Freudenspiegel, 311 u.ö. 250 Nicolai, Freudenspiegel, 5 u.ö. 251 Zu Recht bemerkt Stalmann, Stimme, 87, dass der Originaltext „englische Zungen“ heute missverständlich wäre. 252 Thust, Lieder, 259. 253 Unverständlich ist auch das ursprüngliche Wir sind Consorten, das im EG durch Wir stehn im Chore ersetzt ist und die Vorstellung eines eschatologischen Chores - der sich bereits im Singen dieses Liedes vorläufig verwirklicht - verstärkt. Allerdings wird durch Consorten ausgedrückt, dass wir tatsächlich Mitglieder des Engelchores sind und nicht nur dabeistehen. 254 Wiederum findet sich an dieser Stelle der Strophe ein Reimwaise - statt der Halleluja- und Hosianna-Rufe steht an dieser betonten Stelle nun einfach solche Freude. <?page no="303"?> 303 wir jauchzen und singen, 255 wird im Original tatsächlich gejauchzt und der eigenen Freude unmittelbar Ausdruck verliehen: Deß sind wir fro / jo / jo / Ewig in dulci iubilo. Mit der Anspielung auf das gleichnamige Weihnachtslied ist der Bogen zur Geburt Jesu gespannt, zum Kommen des menschgewordenen Gottes, das gleichermaßen Grund des Jubels ist wie sein endzeitliches Wiederkommen, das im Lied zur Gegenwart wird. Diese Verbindung ist in der EG- Version leider verloren gegangen. 256 4.3.3 Zum Gericht Die Gerichtsthematik kommt in der Originalfassung des Liedes nicht explizit vor, wird aber durch den Intertext Mt 25,1-13 eingespielt. 257 Wie die Überschrift des Liedes im „Freudenspiegel“ bereits andeutet, befasst sich das nicht mit dem gesamten Gleichnis, sondern ausschließlich mit den klugen Jungfrauen. 258 Nur „ihren“ Handlungsstrang verfolgt das Lied weiter und reichert ihn mit eschatologischen Motiven sowie mit Brautmystik an. Ersteres bietet sich von der Einleitung des Gleichnisses (Mt 25,1) her an, die im Futur steht und zum Vergleich der folgenden Erzählung mit der basilei,a anregt. Der Liedtext setzt damit nicht nur die Schilderungen der Erzählung in Imperative um und stellt sie damit als vorbildlich dar, er füllt auch, wie gesehen, die Leerstelle des Geschehens bei der „Hochzeit“ im Freudensaal (Str. 2f.): Hier feiern alle das Abendmahl (Str. 2,12) und singen im himmlischen Chor der Engel mit. Die Perspektive der „dummen“ Frauen kommt im Lied dagegen überhaupt nicht in den Blick und damit auch nicht die Perspektive der Scheidung und des möglichen Scheiterns im Gericht. Zwar rufen die Wächter zum Aufwachen und Bereitmachen auf, aber im Lied ist impliziert, dass die Adressat_innen des Rufes dies tun und auch dazu in der Lage sind - das im Gleichnis so zentrale Fehlen des Öls ist hier kein Thema. Selbstverständlich schwingt die Perspektive des Scheiterns im Lied trotzdem mit - schon aus der Dringlichkeit der Imperative der ersten Strophe heraus - aber seine Wirkpotential ist trotzdem zunächst ein anderes: Die Vermittlung von Trost und Heilsgewissheit. Die Singenden vermitteln sich gegenseitig die Zuver- 255 Ebenso Franz Stimme, 165; Walter, Stimme, 262; Thust, Lieder, 260; Kurzke, Remetaphorisierung, 231. 256 Bruppacher, Herr, 415, befürwortet die Änderung, anders Franz, Stimme, 165. Die EG- Fassung ist erstmals in *Basel 1831 nachweisbar; zu weiteren Varianten der dritten Strophe vgl. Franz, Stimme, 164. 257 Die im Gleichnis von den zehn jungen Frauen geschilderte Hochzeit deutet Nicolai an anderer Stelle im Freudenspiegel als „Namen“ für das „Paradeiß Leben“, in das Christus „von diesem Jammerthal abfordert alle / die seiner Zukunfft mit glaubigem Hertzen / gleich als mit brennenden Lampen erwarten“ (Nicolai, Freudenspiegel, 311). 258 Ebenso Franz, Stimme, 160. <?page no="304"?> 304 sicht, dass sie zu denjenigen gehören werden, die in den Freudensaal hineingehen, die im Gericht bestehen werden. Dies entspricht reformatorischer Rechtfertigungstheologie, die Nicolai im Bezug auf das Eschaton bereits in der Vorrede des „Freudenspiegels“ entfaltet: Gott hat uns zum ewigen Leben erschaffen. Wegen unserer Sünden waren wir verdammt und verloren, aber Gott hat uns allein aus Liebe und Barmherzigkeit durch seinen Sohn von Tod, Teufel und Hölle zum ewigen Leben erlöst. Er schenkt uns seinen Heiligen Geist und rüstet uns in seinem Wort zum ewigen Leben. 259 So steht der Gerichtsgedanke zwar als „Negativfolie“ im Hintergrund, wird aber im „Freudenspiegel“ fast völlig ausgeblendet. Der Grund hierfür liegt in der dominierenden Trostperspektive. Er wird vielmehr, das wird an einigen Stellen deutlich, als selbstverständlich vorausgesetzt. So heißt es zum Erkennen der Freunde im ewigen Leben, dass Christus einem jeden das seine wider zustellen wirdt / vnd wir gewißlich einander für dē RichtStuel deß Herrn sehē / daß eines auch das ander kennen wirdt. 260 Um das Offenbarwerden geht es, nicht eigentlich um das Gericht selbst, um eschatologische Vergeltung. Dies wird auch anhand des an anderer Stelle verwendeten Bildes des Läuterungsfeuers (1 Kor 3,12-15; vgl. 1 Kor 15,52) deutlich: Wenn aber die Mennige der Außerwehlten erfüllet / vnnd Christus der Richter alles Fleisches / mit seiner frölichen Zukunfft in Wolcken erscheinen / vnnd alle Lebendige im letzten Feuwer in einem Augenblick verwandeln / vnnd durch die letzte Posaunen alle Todten erwecken wirdt / da wird das Wesen dieser Welt vergehen 261 - und dann werden alle bei Jesus und in ewiger Freundschaft und Gemeinschaft beieinander sein. Die Betrachtungen, die meditationes, dienen zwar zuerst, aber nicht allein dem Trost: Es geht auch um die Vorbereitung zum ewigen Leben, also mit Mt 25,1-13 gesprochen, um Wachsamkeit, um Vorbereitung: So lang ein Christ auff Erden lebet / soll er sich nur bekümmern mit dem Reich deß Glaubens / halten sich zu dem geoffenbahrten Wort Gottes / hören fleissig die Predigt deß Euangelii / gehen zum Abendmahl / thun Busse / gläubē / betten / v führen einen Christlichen Wandel. Das soll er antreiben biß in den Todt / vnd denn nicht zweiffeln / die Seele fahre auß diesem 259 Vgl. Nicolai, Freudenspiegel, Vorrede (o.S.). 260 Nicolai, Freudenspiegel, 400. 261 Nicolai, Freudenspiegel, 407. <?page no="305"?> 305 Leben vnnd auß dem Reich deß Glaubens / in daz Reich deß Schawens / v was er hie von seiner Seeligkeit auß dē gepredigten Euangelio offtmal gehöret vnd geglaubt hat / das sehe er dort für Augen / vnd habe dort sichtbare Gemeinschafft in ewiger Freuwde und Herrligkeit … 262 Genau dieses Ziel verfolgt auch das Lied. In seiner Wirkungsgeschichte ist ihm jedoch die Gerichtsdimension mehrfach hinzugefügt worden, wie im Folgenden deutlich werden soll. 4.3.4 Wirkungsgeschichte Der Text blickt auf eine breite Wirkungsgeschichte zurück, in der das Gerichtsthema eine weitaus größere Rolle spielt als im Original und in der EG- Fassung. Insgesamt wurde nicht nur stark in den Text eingegriffen, sondern es gab auch verschiedenste Nachdichtungen, die den Geschmack und die theologischen Problemstellungen der jeweiligen Zeit abbilden. So haben zu Zeiten, in denen diese akute Bedrohungssituation durch Pest und Krieg nicht mehr gegeben war, Bearbeiter des Liedes mehrfach die Gerichtsdimension augenscheinlich vermisst. So die Version von F. G. Klopstock, die keinerlei Allusionen an Mt 25,1-13 mehr enthält, sondern von Beginn an explizit den Jüngsten Tag zum Thema hat (Str.1f.): 263 ... Der Gräber Todesnacht Ist nun nicht mehr! erwacht! Halleluja! Macht euch bereit Zur Ewigkeit! Sein Tag, sein grosser Tag ist da! Sion hört die Wächter singen, Des Weltgerichts Posaunen klingen! Zum neuen Leben steht sie auf! Ihr Versöhner kömmt voll Klarheit, Durch Gnade mächtig, stark durch Wahrheit! ... Dieser Tag ist hier explizit der Tag des Weltgerichts, der als Versöhnungstag für Zion gedacht ist und mit Posaunenbzw. Trompetenschall eingeläutet wird (Mt 24,31). Für die Singenden ist jedoch auch die Heilsperspektive nicht aufgegeben (Str. 3), sondern sie stimmen in einen zwar nicht mehr jauchzenden, aber doch lobsingenden eschatologischen Chor mit ein. 264 Die Version Klopstocks hat während der Zeit der Aufklärung eine breite Wirkungs- und weitere Veränderungsgeschichte erfahren. Besonders eindrücklich bezüglich ihrer Gerichtsvorstellungen ist eine Version, die sich 262 Nicolai, Freudenspiegel, 383. 263 Zit. n. Klopstock, Lieder, 246-248. 264 Ewigs Lob sey dir gesungen! / Wir sind ins Leben durchgedrungen! / Am Ziel sind wir beym grossen Lohn! / Heil! es strömt der Gottheit Fülle / Auf uns! wir schaun ihn ohne Hülle, / Heil uns! die Liebe, Gottes Sohn! / Kein Auge sahe sie, / Dem Ohr erscholl sie nie / Diese Wonne! / Von Ewigkeit, / Zu Ewigkeit, / Sey Dank, und Preis, und Ehre dir! <?page no="306"?> 306 sechs Jahre nach dem Erscheinen von Klopstocks in *Braunschweig 1779 findet. 265 Die ersten beiden Strophen lauten: Wachet auf! so ruft die stimme Einst nach der zeit, der engel stimme, Verlaßt das grab, verlaßt die gruft, Wachet auf, erlöste sünder! Versammlet euch, ihr gotteskinder! Der welten herr ists, der euch ruft. Des todes stille nacht Ist nun vorbey! erwacht! Hallelujah! Macht euch bereit Zur ewigkeit! Sein tag, sein großer tag ist da. Erd und meer und hölle beben, Die frommen stehen auf zum leben, Zum neuen leben stehn sie auf! Ihr versöhner kommt voll klarheit; Vor ihm ist gnade, treu und wahrheit! Der tugend lohn krönt ihren lauf! Licht ist um deinen thron, Und leben, gottes sohn! Hosianna! Erlöser, dir, Dir folgen wir Zu deines vaters herrlichkeit. Hier ist die im Singen als unmittelbar erfahrene Gegenwart des Weckrufes, die sich auch in Klopstocks Version erhalten hat, in unbestimmte Zukunft gerückt - Einst nach der Zeit ruft die Stimme, 266 und zwar nicht uns, d.h. alle Singenden, sondern die gotteskinder, die bei dieser Gelegenheit gleich an ihre Existenz als - dermaleinst erlöste - sünder erinnert werden. Hieß es bei Klopstock noch gleich zweimal Wach auf, wach auf, Jerusalem! , ist in dieser Version jeglicher Verweis auf das neue Jerusalem getilgt. Dafür erinnern die kosmischen Umwälzungen an die Parusieschilderung Mt 24,29 - sie sind als Ausgestaltung der Klopstock’schen Posaunen zu verstehen. Wie bei Klopstock ist der kommende Jesus zudem nicht der Freund des Hoheliedes, sondern der versöhner und Erlöser (Str. 2), vor dessen Thron die frommen stehen, diejenigen, die nun der tugend lohn empfangen. Um die Tugendhaftigkeit der Adressat_innen ist es vielen aufklärerischen Versionen dieses Liedes zu tun und auch vielen Gesangbuchschaffenden. So enthält das Gesangbuch für Wittenberg aus dem Jahr 1792 gleich zwei Versionen des Liedes: In der Rubrik „Vom zukünftigen Leben“ findet sich die o.g. Version aus dem Gesangbuch für *Braunschweig 1779 mit kleinen Änderungen. In der Rubrik „Von der Buße und Besserung“ findet sich eine weitere Version, die das Gericht ganz explizit thematisiert und deshalb hier in Gänze zitiert werden soll: Wachet auf! ruft euch die Stimme des Sohns, des Weltversöhners Stimme: wacht, Seelen, wacht vom Schlummer auf! Todt seyd ihr, todt durch Verbrechen. Hört endlich meine Donner sprechen, 265 Vgl. auch die ganz ähnliche Version in *Wittenberg 1792 und *Hamburg 1862. 266 Vgl. auch das ebenfalls an Klopstocks Version angelehnte Wachet auf! ruft einst die Stimme in *Jauer 1813. <?page no="307"?> 307 und kommt aus eurem Grab herauf! Belastet vom Gericht, lagt ihr, vernahmt mich nicht, todte Seelen! Erwacht! Erwacht! Des Fluches Macht, Gericht und Höll ergreift euch sonst. Die Bildwelt des Gleichnisses Mt 25,1-13 ist hier verlassen; anstelle der klugen Jungfrauen ist von der Auferstehung der Frommen die Rede. Die Hohelied-Mystik (Freund) ist getilgt zugunsten einer „funktionalen“ Heilsperspektive (Versöhner, Erlöser). Ebenso getilgt ist der Bezug auf Ps 24 und damit auf den ersten Sonntag im Advent - auch der Bezug auf Joh 1 ist durch das eingefügte Treu kaum noch auszumachen. Der Fokus verschiebt sich zugunsten der Eschatologie, Menschwerdung und Wiederkunft Jesu werden nicht mehr zusammen gedacht. Das Gericht wird hier in eindeutig paränetischer Absicht thematisiert. Dies wird bereits anhand der ersten beiden Zeilen deutlich: Die Erzählstimme bezieht sich selbst nicht mit ein, sondern der Ruf richtet sich an euch, an die schlafenden Seelen und ist Jesus, dem Sohn und Weltversöhner in den Mund gelegt. Er selbst ruft die Seelen aus dem Grab herauf. Es geht hier jedoch nicht um die Auferweckung der toten Seelen zum Gericht, sondern diese wird zur Metapher: Der Weckruf richtet sich an Adressat_innen der Jetztzeit bzw. deren Seelen; an sie ergeht die Gerichtsdrohung, die ihr Erwachen, ihre Umkehr intendiert. So ist es auch im Anschluss an die Antwort der Seelen auf den Ruf „Jesu“ 267 als conclusio formuliert (Str. 3): Daß der Sünder sich bekehre, das willst du, Heiland; Preis und Ehre sey dir, Begnadiger, dafür! Laß uns eilen, noch auf Erden dein heilig Eigenthum zu werden, dir nur zu leben, Jesu, dir! Laß unsre Herzen rein, ach laß uns standhaft seyn! Wir sind Erde! Daß nicht auch wir vergehn vor dir, wenn du zum Weltgerichte kömmst. 267 Auf diese Drohung folgt die erneute Antwort der Seelen: Ach, wir hören deine Stimme, / Barmherziger! der Liebe Stimme, / die uns ins neue Leben ruft. / Angstvoll liegen wir, und schauen / auf unsern Tod zurück mit Grauen. / Entreiß uns, Herr, ganz unsrer Gruft. / Schau her. Noch beben wir, / noch zagen wir vor dir. / Welche Liebe! / Du starbst; dein Blut / floß uns zu gut. / O welch ein Dank gebühret dir! <?page no="308"?> 308 In dieser Version von „Wachet auf“, ruft uns die Stimme finden sich keinerlei direkte Anspielungen auf Mt 25,1-13. Als Ganze ist sie jedoch als Ausgestaltung des Weckrufes an die jungen Frauen, deren Rolle hier die Seelen einnehmen, zu verstehen. Dieser Weckruf ist nicht wie in Nicolais Lied als freudiger, sondern wie im Gleichnis als bedrohlicher Ruf ( kraugh, ) gestaltet. In dieser Version spiegelt sich hier der Versuch, die Metaphorik des Gleichnisses zu übersetzen, auf ihren Wortsinn und ihren paränetischen Impetus zu reduzieren. Der Fokus liegt dabei nicht wie in Nicolais Lied auf den „klugen“ Frauen, die zur Hochzeit hineingelassen werden, sondern auf den Frauen, denen die Tür verschlossen bleibt - gedeutet auf das Endgericht, in dem diejenigen zu vergehn drohen, die nicht „erwachen“ und umkehren. In dieser Fassung wird die Tendenz der Änderungen, die Nicolais Lied zur Zeit der Aufklärung erfahren hat, deutlich: Weg vom Gleichnishaften und Mystischen, hin zur konkreten Botschaft, zur Ethik, zur Paränese. Auch lässt sich die Tendenz feststellen, den im Gleichnis angelegten Gerichtsgedanken auch explizit zu thematisieren und mit der ursprünglichen tröstlich konnotierten endzeitlichen Botschaft in Beziehung zu setzen. Eine letzte grundlegend veränderte Version des Liedes, die unter dem Einfluss einer ganz anderen Zeit, nämlich der NS-Zeit, entstand, geht auf den 1888 geborenen Herrmann Ohland zurück und ist im Gesangbuch der Deutschen Christen (*DC 1941) abgedruckt. Wachet auf, ruft uns die Stunde, sie rufet uns mit hellem Munde: Wach auf, wach auf, du deutsches Land! Sieh, die Nacht hielt dich gefangen, dein Morgen kommt herauf mit Prangen; der Freiheit großer Tag bricht an. Wohlauf zum harten Gang! Steht auf! Der Sturmgesang grüßt die Erde. Der Feinde Krieg ist unser Sieg. Dein Wort ist Sturm, Herr, und Gericht. Auch hier ist der intertextuelle Bezug auf das Gleichnis Mt 25,1-13 vollkommen getilgt. Stattdessen ist das Lied Wach auf, wach auf du deutsches Land zitiert, das sich in seiner Bedeutungsoffenheit ebenfalls im Sinne des Zeitinteresses gebzw. missbrauchen lässt. Beibehalten ist aus dem Gleichnis lediglich das Motiv der Nacht. Es wird mit dem großen Tag der Freiheit kontrastiert, an dem mit martialischer Metaphorik zum Kampf aufgerufen wird. Insgesamt wird hier in erster Linie der völkischen Idee gehuldigt. Gott selbst erscheint dabei als Kriegsherr, dessen Wort Sturm und Gericht ist und wohl zum Kampf anstacheln soll. So heißt es auch am Ende der dritten Strophe: <?page no="309"?> 309 ...Tragt die Zeichen / aus dem Gericht / ins hohe Licht! / Steht still vor Gottes Angesicht! Das auf vier Strophen erweiterte Lied findet sich unter der Rubrik „Heilig Vaterland. Volk vor Gott“. Unter der Rubrik „In der Stille. Heimkehr“ folgt noch die letzte Nikolai-Strophe in der Version, die sich auch im EG findet. Diese Beispiele der unüberschaubar breiten Wirkungsgeschichte dieses Liedes zeigen seine große Anschlussfähigkeit. Weil es selbst v.a. biblische Szenen vor Augen stellt, diese aber wenig Deutung und Anwendung auf die Gegenwart enthält, ist ein Bezug zur jeweiligen Zeit umso mehr von den Bearbeiter_innen hergestellt worden. Die Tendenz zur paränetischen Akzentuierung des Liedes, v.a. in der Aufklärungszeit, zeigt sich besonders in der Neubestimmung der Rollen der Rufenden und Gerufenen im Interesse einer deutlicheren Mahnung zur Wachsamkeit angesichts des kommenden Gerichts. 4.3.5 Das Lied im Gottesdienst 4.3.5.1 Rollenangebote und Identifikationspotentiale Es sind vor allem die Rollenangebote, die dieses Lied so interessant und auch anschlussfähig machen. Sie sollen im Folgenden erläutert werden. Zunächst befinden sich die Singenden in der Rolle der rufenden Wächter. Bereits zu Beginn der ersten Strophe wird jedoch deutlich, dass es sich bei dem Weckruf Wachet auf um direkte Rede handelt; die Wächter rufen uns. Es entsteht eine Gegenseitigkeit des Weckens und Gewecktwerdens, die Singenden sind von Anfang an gleichermaßen Rufende und Angerufenene. Das durchgehende Präsens ermöglicht einen unmittelbaren Mitvollzug der geschilderten Ereignisse; jede_r einzelne Singende ist von Anfang an unmittelbar betroffen und in die Ereignisse eingebunden. Erst mit der Verortung der Szene in Jerusalem, der Stadt, in die hier das Gleichnis von den zehn jungen Frauen verlegt wird, wird auch das eigentliche Rollenangebot für die Singenden deutlich. Es ist die Rolle der Hauptpersonen des Gleichnisses, der Frauen, die über dem Warten auf den Bräutigam eingeschlafen sind. Gerufen sind jedoch nur diejenigen unter ihnen, die bereits im Gleichnis zur admirativen Identifikation auffordern: die klugen Jungfrauen. Ihnen gilt der Ruf, der die Ankunft des Bräutigams ankündigt. Die Singenden sind in diese Aufbruchssituation versetzt, die durch die folgende Strophe auf die Braut Zion übertragen wird. Hier befinden sich die Singenden in einer Beobachterrolle, die das Kommen des Freundes aus der Außenperspektive mitverfolgen. Die folgende invocatio ist eine Reaktion auf das Gesehene, in der die Rollen nicht mehr klar voneinander zu trennen sind: Einerseits ist der Wunsch formuliert, dass Jesus, auf den die Figur des Bräutigams gedeutet wird, nun <?page no="310"?> 310 tatsächlich kommen möge, und zwar zur wartenden Gemeinde. Andererseits verbleiben die Singenden in der Rolle der klugen Jungfrauen, die in den Freudensaal zur Hochzeit folgen. Die Grenzen zwischen ihnen und der singenden Gemeinde sind in der folgenden Strophe völlig aufgehoben. Die Singenden stimmen mit dem Chor der Engel, die um den Thron des Höchsten versammelt sind, in den ewigen Lobgesang ein. Hierin liegt das Potential des Liedes nicht nur zur Gemeinschaftsstiftung - im Gottesdienst stimmt die ganze Gemeinde in diesen Lobgesang ein - sondern auch zur Transzendenzeröffnung, wenn die Singenden in dieser eschatologische Szene gleichsam einen Vorgeschmack des ewigen Lebens erfahren. Vor allem aber wird die Perspektive der Teilhabe am ewigen Leben im Lied nahezu eingeschärft - sie fungiert als Trostperspektive vor dem Hintergrund des Leidens in der Welt. Hier sei an die Pestzeit als Entstehungshintergrund des Liedes erinnert, in der die Angst vor einem unvorbereiteten Sterben und vor dem Jüngsten Gericht noch einmal virulenter wurde als zu anderen Zeiten. Aufgrund der Anschlussfähigkeit des Liedes lässt sich diese Hoffnung jedoch bis in die Gegenwart transportieren - am Ende des Kirchenjahres hat sie ihren Ort. 4.3.5.2 Das Lied im Kirchenjahr Im EG findet sich das Lied unter der Rubrik „Ende des Kirchenjahres“, als deren „charakteristisches Leitlied“ es fungiert. 268 Es kann jedoch auch zur Rubrik „Advent“ gezählt werden, der Rubrik, unter der es im katholischen *GL 1975 269 steht. Letztere Einordnung legt v.a. der ursprüngliche, jedoch auch im GL veränderte Schluss nahe sowie die Anspielungen auf Ps 24 und Mt 21,1-9 in Str. 2. Die doppelte Zuordnung entspricht der unterschiedlichen Einordnung des Liedes in der Gesangbuchgeschichte: Es findet sich von Anfang an sowohl in der Rubrik „Advents=Lieder“ (*PPM 1703) als auch in der Rubrik der „letzten Dinge“: In *Freylinghausen 1704 ist es unter „Von der Zukunft Christi zum Gericht“ eingeordnet, in *Straßburg 1763 gar unter „Vom jüngsten Gericht und der Verdammniß“. Die Einordung in Rubriken wie „Tod, Gericht und ewiges Leben“ 270 bzw. „Auferstehung, Gericht und ewiges Leben“ 271 setzt sich schließlich im 20. Jh. auf evangelischer Seite durch. Mit diesen unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen auch unterschiedliche Adressat_innen und Deutungen des Liedes zu konstatieren, 268 Vgl. hierzu die Erläuterungen „Zum Gebrauch dieses Buches“ im EG, 7. 269 Das jüngst erschienene *GL 2013 gruppiert das Lied unter der bisher nicht vorhandenen Rubrik „Die himmlische Stadt“ ein. 270 *DEG 1915, *Halle 1933, *Hamburg 1939 u.ö. 271 *Bayern 1938; zur Rubrikengeschichte auf katholischer Seite vgl. Franz, Stimme, 165. <?page no="311"?> 311 wie A. Franz es tut, 272 legt sich jedoch nur bedingt nahe: Dass sich das Lied, wird es evangelisch als Endzeitlied verstanden, nur an die Entschlafenen richte, als adventliches Lied dagegen als Weckruf an „Sündenschlafende“, als Mahnung, auf den kommenden Herrn vorbereitet zu sein, lässt sich nicht in dieser Ausschließlichkeit sagen. Seine Pointe ist vielmehr, dass es zwischen Diesseits und Eschaton, zwischen Weckruf und Trostperspektive changiert und damit ein gelungenes Beispiel für die Verbindung endzeitlicher und adventlicher Aspekte ist. 273 Somit passt das Lied gut als Wochenlied für den Ewigkeitssonntag. Zwar deutet es das Evangelium dieses Sonntags, das Gleichnis von den zehn jungen Frauen, auf eine bestimmte Weise, indem es nur einen seiner Handlungsstränge zur Geltung kommen lässt. Weil aber das Evangelium im Gottesdienst verlesen wird, wird diese Einseitigkeit ein Stück weit aufgehoben und das Gerichtsthema kommt zumindest durch diese Lesung zur Sprache. Auch kann es durch die anderen Stücke des Gottesdienstes, v.a. die Predigt, wieder hereingeholt werden, zumal einige Predigttexte diesen Aspekt durchaus thematisieren; sei es Lk 12,42-48 (par Mt 24,45-51), Mk 13,31-37 (par Mt 24,37) oder 2 Petr 3,(3-7)8-13. Ansonsten reiht sich das Lied in die Fülle eschatologischer Szenarien ein, die diesen Gottesdienst prägen: Ps 126, die alttestamentliche Lesung Jes 65,17-25 und die Epistel Offb 21,1-7. Auf diese Weise wird deutlich, dass diese Szenarien nicht ontologisch zu verstehen sind, dass nicht die eine Vorstellung des Eschatons gibt, sondern dass sie als metaphorische Rede zu verstehen sind von etwas eigentlich Unsagbarem, das kein Aug… je gespürt und kein Ohr… je gehört hat. Gut denkbar ist das Lied auch als Abendmahlslied (Str. 2). 274 Es stellt das Abendmahl in einen eschatologischen Horizont, indem es dessen Feier mit der Feier des Abendmahls im Freudensaal verknüpft - und die Singenden halten es mit, sie partizipieren schon jetzt daran. Auch für Beerdigungen eignet sich das Lied (v.a. Str. 3), 275 um Trauernden Sprache zu leihen für eine Hoffnung, die viele nicht mehr selbst formulieren können: Die Hoffnung auf das ewige Leben, das hier nicht abstrakt, sondern in konkreten Bildern der Freude vor Augen gestellt ist. 272 Vgl. Franz, Stimme, 165f. 273 Ähnlich Bruppacher, Herr, 416: „Mit seinem Ausblick auf die kommende Gottesstadt gehört der Choral nicht bloß vor, sondern auch in den Advent und in die Nähe der Gräber.“ 274 Vgl. Thust, Lieder, 261. 275 Vgl. Thust, Lieder, 261. <?page no="312"?> 312 4.4 EG 149 Es ist gewisslich an der Zeit 1. Es ist gewisslich an der Zeit, dass Gottes Sohn wird kommen in seiner großen Herrlichkeit, zu richten Bös und Fromme. Da wird das Lachen werden teu'r, wenn alles wird vergehn im Feu'r, wie Petrus davon schreibet. 5. O Jesu, hilf zur selben Zeit von wegen deiner Wunden, daß ich im Buch der Seligkeit werd angezeichnet funden. Daran ich denn auch zweifle nicht, denn du hast ja den Feind gericht' und meine Schuld bezahlet. 2. Posaunen wird man hören gehn an aller Welten Ende, darauf bald werden auferstehn die Toten all behende; die aber noch das Leben han, die wird der Herr von Stunde an verwandeln und erneuen. 6. Derhalben mein Fürsprecher sei, wenn du nun wirst erscheinen, und lies mich aus dem Buche frei, darinnen stehn die Deinen, auf dass ich samt den Brüdern mein mit dir geh in den Himmel ein, den du uns hast erworben. 3. Danach wird man ablesen bald ein Buch, darin geschrieben, was alle Menschen, jung und alt, auf Erden je getrieben; da denn gewiß ein jedermann wird hören, was er hat getan in seinem ganzen Leben. 7. O Jesu Christ, du machst es lang mit deinem Jüngsten Tage; den Menschen wird auf Erden bang von wegen vieler Plage. Komm doch, komm doch, du Richter groß, und mach uns bald in Gnaden los von allem Übel. Amen. 4. O weh dem Menschen, welcher hat des Herren Wort verachtet und nur auf Erden früh und spat nach großem Gut getrachtet! Er wird fürwahr gar schlecht bestehn und mit dem Satan müssen gehn von Christus in die Hölle. 4.4.1 Einleitung Der Text stammt von Bartholomäus Ringwaldt, einem lutherischen Pfarrer aus der Gegend um Frankfurt/ Oder, der durch seine dichterische und schriftstellerische Tätigkeit die rechte Glaubenslehre zu verbreiten suchte. 276 Er schrieb diesen Text 1582 nach der Vorlage eines deutschen Liedes gleichen Anfangs von einem unbekannten Verfasser, das seinerseits auf der Sequenz Dies irae, dies illa beruht. 277 Die hier zu untersuchende Version wurde erstmals in Ringwaldts „Handbuechlein: Geistliche Lieder und Gebetlin“ (*Frankfurt 1586) veröffentlicht. 276 Block, Ringwaldt, 256f. 277 Beide Versionen wurden erstmals auf einem Zweiliederblatt von 1556 bzw. 1565 gemeinsam abgedruckt (vgl. Stalmann, Zeit, 439f.). Auch in einigen Gesangbüchern finden sich beide Versionen, z.B. *PPM 1674, *Marburg 1716, oder eine Mischform, z.B. *Lindau 1745. <?page no="313"?> 313 Das Lied besteht aus sieben Lutherstrophen und ist in zwei Teile gegliedert. Str. 1-4 lassen sich als Offenbarungsrede verstehen: Sie sind im Futur gehalten, temporale Konjunktionen gliedern die chronologische Ansage des endzeitlichen Geschehens. Bei Str. 5-7 handelt es sich dagegen um ein Gebet, in dem sich die Erzählstimme auf ihr eigenes Geschick beim Gericht bezieht und Jesus, den Richter, als Fürsprecher anruft. Die Parusieszene Mt 24,29-31 und v.a. die Endgerichtsszene Mt 25,31-46 sind die Struktur- und Kompositionsstütze des Liedes. Von ihnen aus - und nicht aus dem Dies irae - erschließt sich der Ablauf der geschilderten endzeitlichen Ereignisse. 278 Anderes suggeriert das EG, das relativ willkürlich einige Intertexte markiert und andere nicht. Auf die im vorliegenden Lied markierten Intertexte spielt dieses zwar tatsächlich an, aber sie füllen, wie zu zeigen sein wird, Leerstellen des Matthäustextes. Die matthäische Gerichtsvorstellung des „doppelten Ausgangs“ kommt jedoch im Lied in aller Deutlichkeit zur Sprache. 4.4.2 Analyse und Intertexte Die erste Strophe beginnt mit einer Ansage, die sich auf die jeweilige Gegenwart der Singenden und Hörenden bezieht: Es ist gewisslich an der Zeit, dass Gottes Sohn wird kommen. In dieser unmittelbaren Naherwartung des Kommens und Wiederkommens Jesu Christi unterscheidet sich das Lied von der Perikope Mt 25,31-46, die mit einem unbestimmten „Wenn aber der Menschensohn kommt...“ beginnt. Auch die lateinische Vorlage belässt den Zeitpunkt des Tages des Zorns (dies irae) im Ungefähren (dies illa) und rückt ihn als „irgendwann einmal“ weiter von den Singenden weg. 279 Insgesamt nimmt die erste Strophe das im Folgenden geschilderte endzeitliche Geschehen summarisch vorweg, ähnlich wie die Gerichtssummarien bei Mt selbst (vgl. v.a. 16,27). Z.2f rekurriert auf Mt 24,30 ebenso wie auf Mt 25,31 und schildert noch knapper als dort das Kommen des Menschensohnes in Herrlichkeit. Seine Bezeichnung als Gottes Sohn verbindet seine Funktion als Richter mit seiner Bevollmächtigung durch Gott, seinem Leiden und Sterben sowie mit dem Immanuelmotiv; diese onomastische Markierung verweist also über die Endgerichtsszene hinaus. Der Halbsatz zu richten Bös und Fromme fasst das ganze matthäische Gerichtsszenario samt Urteil und Dialogen zusammen. Auch im Lied steht das Urteil bereits fest: Die beiden Seiten werden von vornherein als „böse“ bzw. 278 Vgl. Köhler, Quellen, 217: „Tatsächlich steht Mt. 25,31-46 hinter dem g a n z e n Lied; die es von Str. 2 an überlagernden Bezüge, unter denen besonders Off. 20,12.15 stark hervortritt, sind nur Auslegung (Scriptura sui ipsius interpres).“ (Hervorhebungen ebd.) Ebenso Wennemuth, Zeit, 94; anders Stalmann, Zeit, 439f. 279 Vgl. Stalmann, Zeit, 440. <?page no="314"?> 314 „fromm“ bezeichnet, dies muss durch das Gericht nicht erst festgestellt werden. 280 Es folgt nun die Applikation auf die Situation der Menschen, wenn das Vorhergesagte eintritt: Das Lachen wird teu‘r, 281 d.h. selten werden, wenn alles im Feuer vergehen wird. Sie bereitet den abschließend angedeuteten negativen Ausgang des Gerichts vor und spielt an das „ewige Feuer“ (Mt 25,41; vgl. 13,42) an. Als Intertexte sind jedoch explizit die Petrusbriefe markiert. Tatsächlich kommt alles wird vergehn im Feu'r 2 Petr 3,7 am nächsten. Die Ankündigung der Parusie des Menschensohnes ist hier mit der Vorstellung vom Weltenbrand verbunden, dessen vernichtende Kraft - analog zum Sintflutgeschehen - in erster Linie den Gottlosen gilt. 282 Wie in Mt 24,29-31 wird auch hier die Vorstellung eines Vernichtungsgerichtes eingespielt. Sie wird zwar im Folgenden nicht weiter aufgegriffen, 283 wirkt aber zusätzlich dramatisierend und bedrohlich. Am Beginn des Liedes steht demnach die Warnung vor dem für die nächste Zukunft erwarteten Gericht im Vordergrund. Die folgenden beiden Strophen schildern den Ablauf des endzeitlichen Geschehens: Den Schall der Posaunen, die Auferstehung der Toten und die Verwandlung der Lebenden, das Gericht und dessen negativen Ausgang. Die Zusammengehörigkeit der einzelnen kurzen Darstellungen ist dabei durch Enjambements betont. Der Verweis am Anfang der zweiten Strophe auf den Schall der Posaunen, die an aller Welten Ende zu hören sein werden, rekurriert auf Mt 24,31. Der Fokus liegt hier jedoch nicht auf dem Menschensohn, der seine Engel in die „vier Winde“ aussendet, sondern auf der universalen Hörbarkeit der Posaunen: Alle werden von diesem Geschehen betroffen sein; sei es zu Lebzeiten, sei es nach dem Tod. Dies betont auch die folgende Schilderung, die mit 1 Kor 15,52 zwischen Lebenden und Toten differenziert und somit eine Leerstelle der matthäischen Szenerie füllt: Die Frage nach dem Ergehen derer, die bei der Parusie des Menschensohnes schon verstorben sein werden. Das Geschehen wird in einem Dreischritt ausgemalt: Auf den Posaunenschall folgt die Auferstehung der Toten und die Verwandlung der Lebenden. Dann werden alle, so 280 Vgl. die Erläuterungen zu Frommen und Bösen in der Analyse zu EG 5. 281 Thust, Lieder, 265, denkt hierbei zu Recht an den Weheruf Lk 6,25. 282 Vgl. Vögtle, Petr, 228. 283 Auch ist der Rekurs von wenn alles wird vergehn im Feuer auf den 2 Petr nicht eindeutig: In der deutschen Vorlage des Liedes wird durch ...wie Paulus davon zeuget (vgl. z.B. *Marburg 1716), 1 Kor 3,13-15 als Intertext markiert. Hier wiederum ist das Feuer des Gerichts als Läuterungsfeuer gedacht, in dem die schlechten Werke verbrannt werden. (Vgl. Stalmann, Zeit, 440). Auch 2 Thess 1,7-9 ist ein Intertext des Gesamtzusammenhanges, jedoch mit geringer Kommunikativität. Der Mehrdeutigleit des intertextuellen Bezuges tragen einige Bearbeitungen der Strophe Rechnung: So heißt es z.B. in *Zwickau 1778 wie es die Schrift beschreibet und in *Berlin 1886, *Dortmund 1893 und *Stuttgart 1912 sowie im Gesangbuch der *Methodisten 1926 wie Gottes Wort bezeuget. <?page no="315"?> 315 heißt es auch im Dies irae, alle vor dem Thron zusammengerufen (vgl. Mt 25,31). 284 Die dritte Strophe setzt mit der Zeitangabe danach ein und wird auf diese Weise in den zeitlichen Ablauf des Endzeitgeschehens eingeordnet. Sie füllt eine weitere Leerstelle des Matthäustextes: Wie kommt es, dass der Richter über die Taten der Gerichteten informiert ist? Bei Mt scheint er es einfach zu wissen und kann daher so souverän zwischen den Menschen unterscheiden. Erst gegen Ende wird deutlich, dass er Bescheid weiß, weil er von ihrem Tun und Unterlassen unmittelbar betroffen gewesen ist. Im Lied ist jedoch eine vielleicht „handfestere“ und von den Singenden besser nachvollziehbare Vorstellung gewählt: Die des „Buches des Lebens“, in dem das Tun aller Menschen auf Erden aufgeschrieben ist und das zum Gericht über die Toten geöffnet wird. Sie entstammt Offb 20,12.15. Was in diesem Buch geschrieben steht, nämlich was alle Menschen, jung und alt, auf Erden je getrieben, lässt sich durch die Aufzählung der Werke der Barmherzigkeit (Mt 25,35f.42f.) inhaltlich füllen. So wird ein jedermann ... hören, was er hat getan in seinem ganzen Leben - hier kommt die universale Bedeutung des Gerichts zum Tragen. Gemeinsam ist beiden Texten die Vorstellung, dass das Tun der Menschen zu ihren Lebzeiten, das vorher verborgen war (vgl. auch Röm 2,16; 1 Kor 4,5; 2 Kor 5,10) 285 - teilweise selbst ihrem eigenen Erinnerungsvermögen (vgl. Mt 25,38f.44) - am Ende offenbar wird, aber auch gewürdigt. Im Unterschied zur matthäischen Endgerichtsszene kommen im Lied jedoch die Taten des ganzen Lebens zum Tragen; es wird nicht mehr nur ein Ausschnitt exemplarisch vor Augen gestellt, sondern tatsächlich die Beurteilung und Würdigung sämtlicher Taten. In der vierten Strophe wird die Erzählung zunächst durch eine exclamatio unterbrochen, 286 einen Weheruf gegen einen Menschen, auf dessen Vergangenheit das Lied hier in Form einer externe Analepse zurückblickt: Er hat des Herren Wort verachtet und nur nach großem Gut getrachtet, wie es als Parallelismus formuliert ist, und zwar anders als im übrigen Lied im Singular. Es geht - anders als in Mt 25,31-46 (vgl. aber 24,45-51; 25,14-30) und Offb 20,12-15 - um Einzelpersonen, nicht um Gruppen, die beurteilt werden. Auf diese Weise wird Verantwortlichkeit des/ der Einzelnen betont. 284 Die Schilderung des Trompetenschalles, auf den hin die Toten auferstehen werden, findet sich auch in 1 Thess 4,16f - nicht jedoch die Verwandlung der noch Lebendigen; hier wird vielmehr ihre Entrückung auf den Wolken gemeinsam mit den Auferstandenen geschildert. 285 …sol nichts verborgen bleiben heißt auch Z.4 im deutschen Vorgängerlied und bleibt damit nahe beim dies irae: Quidquid latet, apparebit, nil inultum remanebit. In sprachlicher Hinsicht ist Ringwaldts Version jedoch schon allein wegen des Reimes vorzuziehen. 286 Der Stil von Str. 3 wird jedoch weitergeführt: Auch hier finden sich mehrere Enjambements (Z.1.3.6) sowie am Ende der 3. Zeile eine Zwillingsformel (vgl. dazu 2.2., Anm. 1008) früh und spat (vgl. Str. 3: groß und klein), die der Illustration und Universalisierung dient. <?page no="316"?> 316 Dass beide beschriebenen Handlungsweisen nichts Gutes verheißen, wird nicht nur durch diesen Weheruf deutlich. Auch der Intertext Joh 12,48 kündigt allen, die Jesus verachten und seine Worte nicht annehmen, an, dass sie am Jüngsten Tag durch sein Wort gerichtet werden. In Spr 1,11-16 wird angemahnt, nicht mit Verführern mitzugehen, die rauben und morden um an kostbares Gut (V.13) zu gelangen. Auch an das Motiv des Egoismus und des Geizes ist hier zu denken: „Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und siehet seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu: wie bleibet die Liebe Gottes in ihm? “ (1 Joh 3,17). Aber auch Mt 7,24 steht hinter dem Weheruf, denn aus matthäischer Sicht ist das Hören und Tun der Worte Jesu die einzige Art, sie nicht zu verachten. Mitgedacht werden kann auch Mt 6,33, die Aufforderung, zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten, gefolgt von der Zusage, dass dann alles andere umsonst gegeben werde. Die genannten Intertexte unterstützen die Stilisierung des Menschen als absolutes Negativbeispiel und stellen ihn als warnendes Beispiel vor Augen. Die letzten drei Zeilen führen die unterbrochene futurische Erzählung weiter. Wie durch Weheruf und Intertexte zu erwarten ist, wird der erwähnte Mensch im Gericht gar schlecht 287 bestehen (vgl. Ps 1,5; Offb 6,17). Das Bild, das hier von seinem Schicksal entworfen wird, entspricht größtenteils dem matthäischen: Denjenigen, die nicht die basilei,a erben werden, befiehlt der Menschensohn-König, von ihm wegzugehen in das ewige, eigentlich für den Teufel bestimmte Feuer (Mt 25,41). Für diesen Ort wird auch der Ausdruck ge,enna verwendet (z.B. 5,29f.). Herausgestellt wird jedenfalls, dass die Hölle ein Ort des absoluten Getrenntseins von Christus ist: „Hier gibt es weder Gebet noch Fürsprache, da der Kontakt zu Christus abgebrochen worden ist.“ 288 Die Strophe stellt also ein absolut bedrohliches Szenario vor Augen. Ringwaldt hat diese Strophe nachweislich selbst ganz neu gedichtet und in das ihm vorliegende Lied eingefügt - auch im Dies irae hat sie keine Entsprechung. 289 Die Strophe wirkt einerseits als Unterbrechung des Zusammenhangs von Str. 3 und 5, in denen es um das Buch des Lebens geht, das hier nicht erwähnt ist. Andererseits ergänzt sie das Lied um den Handlungsstrang des Schicksals der Bösen (vgl. Str.1), der ansonsten ausgeklammert bliebe zugunsten des Schicksals der Frommen, dem die nächsten drei Strophen zumindest indirekt gewidmet sind. Auch korrespondiert die ergänzte Strophe mit dem Anfang des Liedes, der auf die drängende Naherwartung aufmerksam macht - Warnung und Mahnung dürfen angesichts dessen augenscheinlich nicht zu kurz kommen. Die fünfte Strophe beginnt mit einer invocatio an Jesus, den Gekreuzigten. An ihn wendet sich die Erzählstimme in der Angst vor dem Gericht und bittet ihn um seine Fürsprache. Diese Anrufung Jesu, des Richters, als Retter 287 In der Originalfassung heißt es statt schlecht kalt; vgl. dazu unten unter 4.4.4. 288 Wennemuth, Zeit, 94. 289 Vgl. Stalmann, Zeit, 441. <?page no="317"?> 317 in der Angst vor der Verdammnis findet sich schon im „dies irae“: Auf die verzweifelte Frage quem patronum rogaturus? folgt bald die dringliche Bitte salva me, fons pietatis! 290 Schon durch die Hinwendung und durch die Vertrauensaussage daran ich denn auch zweifle nicht wird die Erzählstimme indirekt als „fromm“ charakterisiert und steht damit im Gegensatz zu dem in Str. 4 vorgestellten, von Christus getrennten Menschen. Die Bitte, von wegen deiner Wunden … im Buch der Seligkeit 291 gefunden zu werden, schließt ebenso wie die Zeitangabe zur selben Zeit direkt an Str. 3 an, ist aber nur vor dem Hintergrund von Offb 20,15 verständlich. Hier ist ausgedrückt, was im Lied stillschweigend vorausgesetzt wird: Es sind dort eben nicht alle Menschen verzeichnet, wie Str. 3 suggeriert. 292 Diejenigen, die dort nicht angezeichnet funden werden, werden in den „feurigen Pfuhl“ geworfen werden bzw. müssen gehn von Christus in die Hölle (Str. 4). Diese Prophezeiung der vollkommenen Trennung von Christus im Gegensatz zu Str. 5 in der dritten Person, also gewissermaßen über Dritte, berichtet und ermöglicht eine Distanzierung von dieser Perspektive. Die in Str. 5 folgende Vertrauensaussage (Daran ich denn auch zweifle nicht...) ist wiederum in der Ich-Form formuliert und steht im Präsens, bezieht sich also auf die jeweilige Gegenwart der Singenden. In dieser Gegenwart gilt es die geschilderten Heilstaten Jesu (vgl. Joh 16,11; Mk 10,45) gläubig anzunehmen. Dies ist - gut reformatorisch gedacht - die Voraussetzung, um im Gericht bestehen zu können. Ein solches Vertrauen setzt jedoch voraus, des Herren Wort gehört und nicht verachtet zu haben und daher auch zu wissen, dass es nicht darum gehen kann, nach großem Gut zu trachten (Str. 4). Aus dem Hören des Wortes, aus den Zusagen Jesu gewinnt die Erzählstimme daher die Hoffnung, dass Jesus nicht sein Ankläger und Richter, sondern sein Fürsprecher sein möge, wie es in der folgenden sechsten Strophe geschildert wird. Sie verbleibt im Duktus des Gebetes, beginnt wie Str. 5 mit einem Imperativ und endet wie diese mit der Nennung der vergangenen und damit gegenwärtig wirksamen Heilstaten Jesu. Die Erzählstimme verbleibt zunächst in der 1. Person Singular und erbittet die Fürsprache Jesu nur für sich selbst. Die temporale Partikel nun verstärkt dabei den Eindruck der unmittelbaren Naherwartung seines Erscheinens. Auch das Buch ist bereits geschrieben, denn, so ist es im Präsens formuliert, darinnen stehn die Deinen - aber eben nicht alle Menschen. 290 Vgl. Stalmann, Zeit, 441. 291 Das Motiv des Buches spielt hier insgesamt eine viel größere Rolle als in der Sequenz Dies irae; vgl. Stalmann, Zeit, 441. 292 Möglicherweise ist auch an zwei unterschiedliche Bücher gedacht; das Verzeichnis der Taten aller Menschen (Str. 3) sowie das Buch der Seligkeit (Str. 5), in dem nur die Frommen verzeichnet sind. <?page no="318"?> 318 Die Strophe bleibt somit zunächst im Motivzusammenhang von Offb 20,12- 15: Jesus ist derjenige, der in dem zum Gericht aufgeschlagenen Buch lesen wird. Durch sein Gebet bekennt sich die Erzählstimme zu Jesus und wird somit indirekt als einer der Deinen charakterisiert, die im Buch verzeichnet sind: Zu ihnen, die ihn vor den Menschen bekennen, wird sich Jesus auch vor dem Vater bekennen (Mt 10,32; vgl. Offb 3,5). Genau das geschieht im Singen von Str. 5f.: Vor und mit der ganzen Gemeinde wird Jesus laut - singend nämlich - im Gebet angerufen, seine Heilstaten aufgezählt und das Vertrauen auf die eigene Rettung bekundet. Dabei wird der Horizont zusehends erweitert: Die Erzählstimme bittet nicht nur für sich selbst, sondern darum, samt den Brüdern mein mit Jesus in den Himmel einzugehen - so, wie es bei Mt den „Gerechten“ zugesagt ist (25,34). Die Bitte wird somit zu Fürbitte. Die Die Hoffnung, die hier explizit wird, speist sich wiederum aus dem Hören des Wortes, aus den Zusagen Jesu. Vom Tun der Gerechtigkeit, das bei Mt 25,31-46 eine so große Rolle spielt, ist hier jedoch keine Rede. Die letzte Strophe beginnt wiederum mit einer invocatio. Sie klingt fast vorwurfsvoll und macht gleichzeitig deutlich: Obwohl es gewisslich an der Zeit ist, kennt nur Gott, der Vater, den genauen Zeitpunkt 293 (vgl. Mt 24,36). Der Horizont ist hier noch weiter geworden: vom Ich über die Brüder zu den Menschen, denen auf Erden bang wird. Die Erzählstimme erscheint nicht mehr als Einzelperson vor Jesus, die zuversichtlich ist bezüglich ihres Bestehens im Gericht, sondern als Teil der Menschheit. Und die Menschheit ist nicht so sehr von Gerichtsangst, sondern in ihrem Leben auf Erden bedroht und geplagt. 294 Wichtig ist dabei: Das Kommen Jesu zum Gericht wird in dieser Schlussstrophe nicht mehr als Bedrohung, sondern als Erlösung gedacht. Dies wird durch die Epanalepse Komm doch, komm doch betont, die sich an Jesus, den Richter groß richtet und nicht etwa an den Fürsprecher und Retter. Viel mehr sind alle diese Funktionen Jesu in die Bitte mach uns bald in Gnaden los von allem Übel eingeschlossen. 295 Als Gottes Sohn (Str. 1) ist Jesus nicht nur zum Richten bevollmächtigt, sondern auch Immanuel und Fürsprecher - und als dieser wird er angesichts der Bedrohung durch das Gericht angerufen. So endet das Lied wie die matthäische Endgerichtsszene mit einer Hoffnungsperspektive. 293 Vgl. Wennemuth, Zeit, 94. 294 Diese Aussage steht in Opposition zu ihrem Intertext Lk 21,25f. (vgl. par. Mt 24,29-31): Den Völkern auf Erden wird bange aufgrund der Zeichen am Himmel, die das Kommen des Menschensohnes ankündigen, hier sind es dagegen Plagen auf der Erde. 295 Vgl. Stalmann, Zeit, 442. Die Bitte erinnert zudem an die letzte Vaterunserbitte (Mt 6,13b; vgl. auch 2 Tim 4,18; vgl. Thust, Lieder, 265). <?page no="319"?> 319 4.4.3 Zum Gericht Das Gerichtsthema dominiert, wie gesehen, das gesamte Lied. Es beschreibt einen Weg vom Bedrohtsein durch das Gericht zur Erlösungshoffnung, „von Angst und Verzweiflung zu Trost und Hoffnung“, 296 von der Unheilszur Heilsperspektive. Durch die Parusie- und Endgerichtsszene und den „doppelten Ausgang“ der letzteren inspiriert, füllt es deren Leerstellen mit Anspielungen an andere biblische Texte und legt somit die Schrift mit der Schrift aus. Vom dies irae unterscheidet es sich durch das Bild des Richters, der gleichzeitig Fürsprecher und Erlöser ist, 297 aber auch durch die Naherwartung seines Kommens zum Gericht. Vor allem letztere spiegelt sich in Ringwaldts Gesamtwerk wider. Bereits die Fülle der von ihm verfassten Liedtexte zum Thema 298 belegt die zentrale Rolle, die das nahende Gericht in Ringwaldts theologischem Denken spielt. Tatsächlich hatte er als Resultat seiner Beschäftigung mit apokalyptischer Literatur dessen Kommen auf das Jahr 1584 berechnet. 299 Diese Naherwartung kommt bereits im Titel des Liedes deutlich zum Ausdruck. Hierin ist der Grund zu suchen, warum es den „doppelten Ausgang“ des matthäischen Scheidungsgerichtes so deutlich vor Augen führt, also auch die Perspektive des Scheiterns und die Ängste, die sie auslöst. Das Lied bleibt jedoch nicht bei dieser Angst stehen, sondern setzt eine Hoffnungsperspektive dagegen, die sich mit der Richterfigur verbindet - denn dieser Richter ist Jesus selbst. 4.4.4 Wirkungsgeschichte Die unmittelbare Naherwartung, die bereits anhand des Initiums Es ist gewisslich an der Zeit ersichtlich wird, wurde in der Wirkungsgeschichte präziser formuliert und damit verschärft (Es ist gewißlich bald die Zeit, z.B. *Barby 1783), aber auch relativiert (Es ist gewißlich eine Zeit, z.B. *Brüdergemeine 1749, *Zwickau 1778). Auch lassen sich im Lied einige Unbestimmtheitsstellen bezüglich der Gerichtsvorstellung selbst herauskristallisieren. Insbesondere das Negativbeispiel (Str. 4) hat Anlass zur Präzisierung gegeben: Die meisten Versionen übernehmen des Herren Wort verachtet, der zweite Punkt, das Trachten nach großem Gut, wird dagegen bereits in *Hannover 1646 konkretisiert zu nach Geld und Lust getrachtet. Eine spätere Ausgabe (*Hannover 1781) ergänzt ein 296 Thust, Lieder, 265. 297 Vgl. Wennemuth, Zeit, 94f. 298 Vgl. nur die bei Wackernagel, Kirchenlied 5, abgedruckten Lieder „Ein fein Lied vom Jüngsten Tage“ (989f.); „Ein Lied, darinnen die Christenheit zur Buß vermanet wird“ (995-997); „Morale“ (1021f.) sowie das 67strophige „Von dem Process des Jüngsten Gerichts“ (1022-1025). 299 Vgl. Block, Ringwaldt, 257 <?page no="320"?> 320 weiteres Gut und formuliert nach lust, geld, ehr getrachtet. Das Gesangbuch der Brüdergemeine von 1749 fasst das große Gut dagegen ganz allgemein; hier heißt es einfach nach irdischem getrachtet. Schlicht unverständlich schien dagegen wohl die Formulierung Er wird fürwahr gar kalt bestehn, 300 die das Scheitern im Gericht umschreibt. 301 Bereits *PPM 1674 ersetzt kalt durch kahl 302 und setzt sich mit dieser Änderung in der Folgezeit weitgehend durch. *Hannover 1781 bringt erstmals die Formulierung schlecht auf, die sich im Folgenden allmählich durchsetzt 303 und sich auch im *EKG und im EG findet. Die abschließende Bitte (Str. 7) und mach uns in der Gnaden loß wird ebenfalls bereits sehr früh noch dringlicher formuliert: und mach uns bald in gnaden los heißt es in *Hannover 1646. 304 Auch *EKG und EG haben diese Fassung übernommen. Im Bewusstsein, dass die Bitte um das baldige Kommen nicht nur die Gesamtheit der Glaubenden umtreibt, sondern auch jede_n einzelne_n im Hinblick auf den eigenen Tod, ist in *Hannover 1646 der Ringwaldtschen Schlussstrophe eine individuelle Variante zugesellt. Sie wird mit der Anmerkung „Wer will / kan das letzte Gesetz zum Seuffzer vmb ein seliges Ende / in diesem Thon oder : Ach Gott vom Himmel / rc. Also gebrauchen“ eingeleitet und lautet: O Jesu Christe / machs nicht lang mit meinem jüngsten Tage: Mir armen wird auff Erden bang Von wegen Sünd und Plage. Kom doch / kom doch, du Richter groß / Vnd mach mich bald in Gnaden loß Von allem Ubel / Amen. Dass hier eine alternative Melodie vorgeschlagen wird, verdeutlicht umso mehr den seelsorglichen Impetus dieser Variante. Stellvertretend für die Rezipient_innen ist hier eine Reaktion auf das Gehörte formuliert: Angesichts des drohend vor Augen stehenden künftigen Gerichts kann nicht nur die Plage des irdischen Lebens bewusst werden, sondern auch die eigene 300 Kalt bezieht sich hier, wie es auch die übrige Strophe nahe legt, auf Gefühlskälte; vgl. zu dieser Bedeutungsvariante DWB 11, 81f.). 301 Vgl. neben *Essen 1614 z.B. *Hannover 1646 und *PPM 1653. Auch *Porst 1892 übernimmt diese Formulierung vermutlich aus Gründen der Originaltreue im Zuge der restaurativen Tendenzen der Gesangbuchentwicklung. 302 Beide Attribute wurden häufig synonym gebraucht; vgl. DWB 11, 82. 303 Vgl. *Hannover 1781, *Dortmund 1893, *Königsberg 1899, *Stuttgart 1912. Nicht durchzusetzen vermochte sich dagegen schlimm (vgl. *Berlin 1886). 304 Ebenso *Hannover 1781, *Berlin 1886, *Königsberg 1899, *Stuttgart 1912, *Methodisten 1926. <?page no="321"?> 321 Sünd. So ist auch die vorwurfsvoll anmutende Feststellung, dass Jesus sich mit seinem Kommen Zeit lässt, in eine weitere Bitte umformuliert. Diese Variante ist m.W. nicht weiter rezipiert worden. Jedoch ist in der rationalistischen Bearbeitung des Liedes im Gesangbuch für *Zwickau 1778 die letzte Strophe ebenfalls in der Ich-Form gestaltet: O Jesu! so erfreue mich mit deinem jüngsten Tage; denn hier auf Erden leide ich noch Sünde, Angst und Plage. Komm doch, komm doch, die Noth ist groß! und mach uns hier im Glauben los von allem Uebel! Amen. Deutlich wird hier die Tendenz zur Entmetaphorisierung: Von Jesus als Richter, von dem Gnade erhofft wird, ist keine Rede mehr. Das Augenmerk liegt vielmehr auf dem irdischen Leiden, aus dem sich die Erzählstimme Erlösung im Glauben erhofft. Auch in den Strophen zuvor ist diese Tendenz zu beobachten. Die Vorstellung des Feuers, in dem alles vergehen wird (Str. 1), ist durch den Gedanken ersetzt, dass das Verborgene im Gericht offenbar werden wird: Da wird der Spötter müssen sehn, was er nie wollte eingestehn… Auch steht anstelle der Metapher des Freilesens aus dem Buch des Lebens der Versuch, sie zu übersetzen (Str. 6): Derhalben mein Erbarmer sei, wenn du nun wirst erscheinen, sprich du mich selbst aus Gnaden frey, zähl mich auch zu den Deinen; auf daß ich möge würdig seyn zu gehen in den Himmel ein, den du uns selbst erworben. Dem entsprechend wird Jesus als Erbarmer, nicht als Fürsprecher angerufen. 305 Auch hier ist eine Tendenz zur Individualisierung zu verzeichnen; der Wunsch, samt den Brüdern in den Himmel einzugehen, ist getilgt. In der Liedgeschichte zeigt sich, das ist deutlich geworden, vor allem der Bedarf zur Präzisierung einzelner Formulierungen sowie die Tendenz zur Entmetaphorisierung und Individualisierung in der Aufklärungszeit. Die Aussagen des Liedes werden jedoch kaum entschärft, auch nicht durch Strophenstreichungen. 306 Auch im EG ist es in einer nur in geringem Maße veränderten Version abgedruckt. Hier ist es dasjenige Lied, das die Gerichts- 305 Diese Änderung findet sich bereits in *Hannover 1646. 306 Eine Ausnahme bildet *Barby 1783, wo aber generell häufig gekürzte Versionen abgedruckt sind. <?page no="322"?> 322 szene Mt 25,31-46 am detailreichsten und am wenigsten geschönt wiedergibt. 4.4.5 Das Lied im Gottesdienst 4.4.5.1 Rollenangebote und Identifikationspotentiale Dieses Lied lebt durch seine Rollenangebote. Das primäre Rollenangebot für die Singenden ist die Rolle der anonymen, heterodiegetischen Erzählstimme, die zunächst den endzeitlichen Ablauf in geraffter und distanzierter Weise nacherzählt. Somit ist es primär eine Verkündigungsrolle, die die Singenden hier einnehmen. Sie vergegenwärtigt die biblischen Endzeitvorstellungen und konfrontiert mit dem Gedanken, dass im Gericht auch Scheitern möglich ist. Das Innehalten der Erzählstimme an dieser Stelle und der Ausruf O weh (Str. 4) antizipiert die Reaktion der Singenden angesichts der Möglichkeit, von Christus in die Hölle gehen zu müssen, von ihm getrennt und damit hilf- und heillos zu sein. Dieser Weheruf lässt sich auch als Kommentierung der bisherigen Schilderung verstehen, als Warnung. Die Figur des Menschen, der auf die beschriebene Weise gehandelt hat, ist offen für zwei unterschiedliche Arten der Identifikation: Zum einen kann eine sympathetische Identifikation eintreten, d.h. Mitgefühl mit dieser Figur. Sie kann mit einer gleichzeitigen Distanzierung einhergehen, indem insgeheim ausgeschlossen wird, dass ihr Schicksal auch mir selbst drohen kann. Eine kathartische Identifikation lässt dagegen keine solche Distanzierung zu. Sie kann vielmehr durch den Schrecken, den sie hervorruft, zum Nachdenken über das eigene Tun und damit zur Veränderung anregen. Auf das durch eine solche kathartische Identifikation hervorgerufene Erschrecken reagiert auch die folgende Strophe. Angesichts der Möglichkeit, im Gericht zu scheitern, erfolgt eine Hinwendung zu Jesus, ein Hilferuf an ihn. Damit ändert sich die kommunikative Gesamtkonstellation: Die Erzählstimme spricht nicht mehr zu einem unbestimmten Publikum, sondern hat nun ein Gegenüber, Jesus, den sie als Helfer und Fürsprecher anruft. Hierin liegt ein neuerliches Rollenangebot: Das einer_s Betenden im Gegenüber zu Jesus, der als zukünftiger Richter in der Gegenwart ansprechbar ist. Durch dieses Gegenüber wird es möglich, der Bedrohung des Scheiterns im Gericht Hoffnungsbilder gegenüberzustellen: Die Hoffnung, im Buch der Seligkeit verzeichnet zu sein, aus diesem freigelesen zu werden und mit Jesus in den Himmel einzugehen. Diese Hoffnung verwandelt schließlich die gesamte Haltung, mit der das Kommen Jesu zum Gericht wird: Wurde es zu Beginn des Liedes als Bedrohungsszenario ausgemalt, bei dem das Lachen … teu’r werden wird, ist es nun zu einem herbeigesehnten Ereignis geworden. Erstmals wird hier der Fokus weg von der Zukunft auf die erzählte Gegenwart gelenkt, die von ... <?page no="323"?> 323 vieler Plage geprägt ist. Vor dem historischen Hintergrund des Liedes ist hierbei vor allem an Pest und Hunger zu denken. Die offene Formulierung lässt jedoch jeder singenden Generation Raum, ihre eigenen kollektiven und persönlichen Plagen dort einzutragen. So verleiht das Lied Sprache in der Anfechtung. Es gibt der Angst Raum, für die eigene Lebensführung zur Rechenschaft gezogen zu werden, im Wissen, in einem solchen Gericht keinesfalls bestehen zu können. Das Lied beschönigt nicht, bringt auch keine vorschnellen rechtfertigungstheologischen Relativierungen, sondern geht bis zum Tiefpunkt, bis zum „Abgrund“, zur Hölle. Erst an diesem Punkt, dem absoluten Tiefpunkt, erfolgt die Umkehr, die Hinwendung zu Jesus, die als einziger Ausweg erscheint. Somit erfolgt eine radikale Kehrtwendung: Der als Richter Gefürchtete wird zum Ersehnten, der aus dem Leiden in der Welt herausführen kann und wird. 4.4.5.2 Das Lied im Kirchenjahr Im Laufe der Jahrhunderte war das Lied stets in Rubriken wie „Vom Jüngsten Tag vnd Aufferstehung“ (*Essen 1614) oder „Von der Zukunft Christi zum Gericht“ (*Freylinghausen 1741) verzeichnet. Im EG und *EKG ist es der Rubrik „Ende des Kirchenjahres“ zugeordnet. Dies erscheint naheliegend, zumal es das einzige Lied dieser Rubrik ist, das sich auf Mt bezieht und eine wirkliche Gerichtsansage enthält. Als Wochenlied des vorletzten Sonntags des Kirchenjahres korrespondiert es den Propriumstexten dieses Sonntags, vor allem, wie gesehen, dem Evangelium Mt 25,31-46. Die dritte Liedstrophe korrespondiert dem Wochenspruch 2 Kor 5,10, Ps 50 dem Aspekt, dass der Weltenrichter und der „Hoffnungsträger“ ein und dieselbe Person sind. Die alttestamentliche Lesung und die Epistel lassen sich im Kontext der bereits genannten Propriumstexte als Begründungen verstehen, warum das Gericht herbeigesehnt wird: Jer 8,4-7 handelt vom irregehenden Volk, das von Gottes Recht nichts wissen will, und Röm 8,18-25 thematisiert die nach Erlösung seufzende Schöpfung. Diese Erlösungsbedürftigkeit ist auch in der Schlussstrophe von EG 149 ein Thema. Im Lied werden die in den Propriumstexten genannten Aspekte des Kommens Jesu zum Gericht noch einmal gebündelt. Was eine Predigt zur Gerichtsthematik - sei es zu Mt 25,31-46 oder einem der anderen Predigttexte - auslegt, erklärt, zu vermitteln sucht, spitzt das Lied zu. Jedoch ist der vorletzte Sonntag nicht für das - zugegebenermaßen schwierige - Gerichtsthema quasi reserviert. Er birgt vielmehr eine andere Herausforderung: Seine Begehung als Volkstrauertag, die fest in den örtlichen Traditionen verwurzelt ist. Mit dem Volkstrauertag geht, wie im Kapitel zum Kirchenjahr gesehen, der Konflikt zwischen Heldengedenken und Antikriegsthematik einher. Das Gericht ist ein zweites konfliktträchtiges <?page no="324"?> 324 Thema dieses Sonntags - und somit eines zu viel. Es gilt sich zu entscheiden, und dies wird zumeist zugunsten des Volkstrauertages geschehen. Dann aber sollte das Lied mit Bedacht eingesetzt werden, damit sich im Verlauf des Gottesdienstes nicht mehrere provokante Themen gegenseitig überlagern. Möglich ist es auch, das Lied in der Adventszeit zu singen, für die es im EG alternativ vorgesehen ist - wohl aufgrund des Themas der Ankunft und Wiederkunft Jesu Christi, das beide Kirchenjahreszeiten verbindet. Das Lied selbst bezieht sich zwar - von den ersten beiden Zeilen abgesehen - überwiegend auf die Wiederkunft und nicht auf die Ankunft Jesu, aber es ist durchaus denkbar, in der Adventszeit auch einmal diesen Aspekt deutlich hervorzuheben. Einen guten Ort hat das Lied zudem in allen Gottesdiensten v.a. am Ende des Kirchenjahres, in denen das Gericht ein Thema ist. Hier kann es hilfreich sein, dieses Thema in seinen verschiedenen Facetten zu vergegenwärtigen und zuzuspitzen. <?page no="325"?> 325 4.5 EG 151 Ermuntert euch, ihr Frommen 1. Ermuntert euch, ihr Frommen, zeigt eurer Lampen Schein! Der Abend ist gekommen, die finstre Nacht bricht ein. Es hat sich aufgemachet der Bräutigam mit Pracht. Auf, betet, kämpft und wachet! Bald ist es Mitternacht. 5. Begegnet ihm auf Erden, ihr, die ihr Zion liebt, mit freudigen Gebärden und seid nicht mehr betrübt; es sind die Freudenstunden gekommen, und der Braut wird, weil sie überwunden, die Krone nun vertraut. 2. Macht eure Lampen fertig und füllet sie mit Öl und seid des Heils gewärtig, bereitet Leib und Seel! Die Wächter Zions schreien: „Der Bräutigam ist nah! “ Begegnet ihm im Reigen und singt: Halleluja! 6. Die ihr Geduld getragen und mitgestorben seid, sollt nun nach Kreuz und Klagen in Freuden ohne Leid mitleben und -regieren und vor des Lammes Thron mit Jauchzen triumphieren in eurer Siegeskron. 3. Ihr klugen Jungfraun alle, hebt nun das Haupt empor mit Jauchzen und mit Schalle zum frohen Engelchor! Wohlan, die Tür ist offen, die Hochzeit ist bereit. Erfüllt ist euer Hoffen: der Bräut'gam ist nicht weit. 7. Hier ist die Stadt der Freuden, Jerusalem, der Ort, wo die Erlösten weiden, hier ist die sichre Pfort, hier sind die güldnen Gassen, hier ist das Hochzeitsmahl, hier soll sich niederlassen die Braut im Freudensaal. 4. Er wird nicht lang verziehen, drum schlafet nicht mehr ein; man sieht die Bäume blühen; der schöne Frühlingsschein verheißt Erquickungszeiten; die Abendröte zeigt den schönen Tag von weitem, davor das Dunkle weicht. 8. O Jesu, meine Wonne, komm bald und mach dich auf; geh auf, ersehnte Sonne, und eile deinen Lauf. O Jesu, mach ein Ende und führ uns aus dem Streit; wir heben Haupt und Hände nach der Erlösungszeit. 4.5.1 Einleitung Ermuntert euch, ihr Frommen ist ein Evangelienlied zum Gleichnis von den zehn jungen Frauen Mt 25,1-13. Es entstammt der von Lorenz Lorenzen verfassten Liedersammlung „Evangelia Melodica“ (*Bremen 1700), die Auslegungen der Sonn- und Festtagsevangelien in poetischer Sprache enthält. 307 307 Vgl. dazu auch Schmidt, Ermuntert, 92. <?page no="326"?> 326 Das Lied trägt hier die Überschrift „Am 27. Sonntage nach Trinitatis“, ist also für den letzten Sonntag des Kirchenjahres bestimmt. An diesem Sonntag wird Mt 25,1-13 als Evangelium gelesen, wie es auch über dem Lied vermerkt ist. 308 Lorenz Lorenzen (Laurentius Laurenti, 1660-1722) war Kantor und Musikdirektor am St.-Petri-Dom in Bremen in der Friedenszeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. 309 Durch den ebenfalls am St.-Petri-Dom wirkenden Erweckungsprediger Theodor Undereyk war er pietistisch geprägt. So lässt sich die eindringliche Aufforderung zu Buße und Bekehrung angesichts der nahenden Endzeit, die immer wieder in seinen Liedern zu finden ist, auf den Spenerschen Pietismus zurückführen. 310 Das Lied besteht ursprünglich aus zehn Strophen, von denen acht im EG abgedruckt sind; die ursprünglichen Strophen 5 und 8 fehlen. Mt 25,1-13, insbesondere V.6f., ist der wichtigste Prätext - nicht des gesamten Liedes, sondern der ersten drei Strophen. Hier wechseln sich Imperative, die eine heterodiegetische, anonyme Erzählstimme an die Frommen bzw. die klugen Jungfraun richtet, mit einer präsentischen Dramatisierung der genannten Verse des Gleichnisses ab. Auch Str. 4 und 5 sind von Imperativen geprägt, die - wie bereits in den vorherigen Strophen - den Wächterruf Mt 25,6 variieren. 311 Ab Str. 4 setzt eine teilweise Deutung des Gleichnisses auf das endzeitliche Geschick der Frommen ein, und zwar durch Anspielungen an eschatologische Vorstellungen, die v.a. dem Buch der Offenbarung aber auch Jesaja und 2 Tim 2 entstammen. Die Singenden werden als Akteur_innen in die biblischen Szenen hineinversetzt, und zwar nicht nur in das Gleichnis, sondern auch in eigentlich futurisch erzählte Prophezeiungen, die das Lied jedoch als präsentische, bereits Gegenwart gewordene Ereignisse vor Augen stellt (Str. 6f.). Den Abschluss bildet eine an Jesus gerichtete Bitte um sein baldiges Kommen. Somit ergibt sich eine dreiteilige Gliederung des Liedes: 308 Im EG ist der direkte Bezug zum letzten Sonntag des Kirchenjahres mangels Überschrift nicht mehr ohne weiteres erkennbar. Die Referentialität des Liedes auf Mt 25,1- 13 wird im EG jedoch durch die Markierung als zentraler Intertext verstärkt, indem die Textstelle direkt neben der Liednummer, quasi als Überschrift, notiert (so z.B. im EG Norddeutschland) bzw. direkt unterhalb der Überschrift aufgeführt ist. (so z.B. im EG Bayern/ Thüringen). 309 Vgl. zum Folgenden Wölfel, Lorenzen, 201. 310 Für eine pietistische Prägung spreche, so Wölfel, Lorenzen, 201, auch, dass viele seiner Lieder in das Hallesche „Geistreiche Gesangbuch“ (*Freylinghausen 1704) aufgenommen wurden. Auch Arndal, Lied, 170, verortet Lorenzen im Spenerschen Pietismus. Vorsichtiger Schmidt, Ermuntert, 95, der es zwar für möglich hält, „dass sich Lorenzen in seiner Frömmigkeit und in seiner dichterischen Sprache dem Pietismus verbunden fühlte“ - darauf lasse im Lied auch „die auffällige Verwendung von Bildern aus der Offenbarung Johannis“ schließen - jedoch sei es unwahrscheinlich, „dass sich Lorenzen öffentlich zum Pietismus bekannt hätte … angesichts der Situation am Bremer Dom“, dessen Superintendent D. Gerhard Meier orthodoxer Lutheraner und vehementer Gegner des Pietismus war. 311 Vgl. Stalmann, Frommen, 447. <?page no="327"?> 327 Ermunterung zum Wachen (Str. 1-5), Ausmalung des himmlischen Freudensaales (Str. 6f.) und Abschlussbitte (Str. 8). 312 4.5.2 Analyse und Intertexte Der an die Frommen gerichtete Imperativ Ermuntert euch leitet das Lied ein und benennt gleichzeitig sein zentrales Thema: Die Aufforderung zum Wachen, die im Folgenden variiert und inhaltlich gefüllt wird. Der Imperativ ist semantisch zweideutig und fordert einerseits zum Munterwerden auf, andererseits aber auch dazu, sich gegenseitig zu motivieren und zu „erwecken“. 313 Die folgende Aufforderung an die Frommen, den Schein ihrer Lampen zu zeigen (vgl. Mt 5,16), wird mit dem Hinweis auf die abendliche Stunde und die anbrechende Nacht begründet. Verständlicher wird sie erst durch den Verweis auf den kommenden Bräutigam, der die intertextuelle Relation zu Mt 25,1-13 implizit markiert. Den angesprochenen Frommen kommt dabei die Rolle der jungen Frauen zu, deren Aufgabe es ist, dem Bräutigam zu leuchten. 314 Mit den folgenden Imperativen Auf, betet, kämpft und wachet ist die Gleichnisebene jedoch schon wieder ein Stück weit verlassen. Sie markieren - betont durch den Binnenreim - die angemessene Reaktion auf die Tatsache, dass der Bräutigam sich aufgemachet hat. Offen bleibt dabei, wofür es zu beten, zu kämpfen und zu wachen gilt. Die Aufforderung zu wachen lässt sich als Variation des Weckrufes (25,6) bzw. der abschließenden Mahnung (25,13) verstehen und damit als Hinweis auf die Ungewissheit von Tag und Stunde. Noch deutlicher weisen die Imperative betet und kämpft über die Bildebene des Gleichnisses hinaus auf die Notwendigkeit, gegen die Versuchung (Mt 26,41) durch den „Widersacher, den Teufel“ (1 Petr 5,8) gewappnet zu sein angesichts des kommenden Bräutigamku, rioj des Gleichnisses (vgl. Mt 25,11). Sein Kommen mit Pracht kann als Ausschmückung von Mt 25,6 aufgefasst werden, ist aber auch als Anspielung an Mt 24,30 zu verstehen und damit als Deutung des Bräutigams auf den wiederkommenden Menschensohn. Die Sinnlinie „Abend/ Nacht“, die sich klimaktisch durch die erste Strophe zieht, wird nun wieder aufgenommen: Beginnend mit dem Abend über den Pleonasmus finstre Nacht bis zum Zeitpunkt kurz vor Mitternacht wird hier ein zeitliches Fortschreiten innerhalb des Liedes angedeutet. Auf diese 312 Ähnlich Thust, Lieder, 270. 313 Vgl. zu dieser Bedeutung DWB 3, 917. Laut Stalmann, Frommen , 447, bezieht sich die Formulierung auf die müde gewordenen Christ_innen im Bremen des frühen 18. Jahrhunderts, das nach den Kriegswirren zur Ruhe gekommen ist: „Die Frommen ‚schlafen‘ noch nicht (wie im Evangelium), aber sie sind schläfrig geworden.“ 314 Vgl. 2.5.3.1 im zweiten Teil zum sozialgeschichtlichen Hintergrund des Gleichnisses. <?page no="328"?> 328 Weise wird die Spannung erhöht, wie sie auch an der entsprechenden Stelle des Gleichnisses aufgebaut wird, zu dem Zeitpunkt nämlich, als die Frauen eingeschlafen sind und durch das Geschrei geweckt werden. Die zweite Strophe nimmt das im Gleichnis geschilderte Geschehen - die Frauen machen ihre Fackeln fertig - in imperativischer Form auf; die Frommen sind aufgefordert, ihre Lampen ... mit Öl zu füllen. Mit ihnen sollen sich die Angesprochenen identifizieren, wie es auch das Gleichnis nahe legt. Vollkommen ausgeblendet wird dabei die Perspektive der „dummen“ Frauen, die kein Öl mitgebracht haben und deshalb kein Licht anzünden können. 315 Auch der Konflikt zwischen beiden Gruppen kommt hier und im gesamten Lied nicht in den Blick, ebenso wenig wie die Möglichkeit des Scheiterns. Wegen der hohen Selektivität der intertextuellen Relation verweist die pointierte Allusion an Mt 25,7 jedoch pars pro toto auf das gesamte Gleichnis, so dass diese Möglichkeit mitzudenken ist. Auch die wiederholten und damit dominierenden Imperative betonen die Dringlichkeit des geforderten Tuns. Sie weisen auch im Folgenden immer wieder über die Bildebene des Gleichnisses hinaus: seid des Heils gewärtig, bereitet Leib und Seel ebenso wie singt Halleluja. Das Kommen des Bräutigams ist heilsbedeutsam und es gilt, angemessen darauf zu reagieren. Das Geschrei, das laut Mt 25,6 sein Kommen ankündigt, wird wie im Gleichnis auch hier wörtlich zitiert. Es ist das für das Lied zentrale Element des Gleichnisses und wird v.a. durch die zahlreichen Imperative immer neu variiert. Wie Nicolais „Wachet auf“, ruft uns die Stimme verbindet auch dieses Lied das freudige Geschrei mit dem Wächter-Motiv des Tagelieds 316 und versetzt die im Gleichnis unverortete Szenerie nach Zion, den Ort, an dem die Wiederkunft Jesu erwartet wird - auch diese Ortsbestimmung ist also ein deutendes Element des Liedes im Bezug auf das Gleichnis. In Strophe 3 sind anstatt der Frommen nun explizit die klugen Jungfraun angesprochen. Nur ihr Handlungsstrang, wie er im Gleichnis geschildert ist, wird weiterverfolgt. Über das Gleichnis hinaus geht jedoch der Imperativ hebt nun das Haupt empor mit Jauchzen und mit Schalle. Er führt zum einen die in Str. 2 beginnende Sinnlinie „zujubeln“ weiter und legt damit die Identifikation von Frommen und klugen Jungfraun nahe. Zum anderen spielt hebt nun das Haupt empor auf Lk 21,28 an, auf die Ankündigung des wiederkommenden Menschensohnes (vgl. auch Mt 24,30) und damit der nahenden Erlösung. Schon im Vorfelde, gewissermaßen als Vorgeschmack auf das Reich Gottes, gilt es, in den eschatologischen Chor der Engel einzustimmen. Dieser Zeitpunkt des „kurz vorher“ wird wiederum durch die Anspielung auf das Gleichnis illustriert: Den klugen Jungfraun steht die Tür zur Hochzeit offen, ihr Hoffen ist erfüllt. 315 Ebenso Thust, Lieder, 269. 316 Vgl. zu dieser Liedgattung die Erläuterung in Anm. 1043. <?page no="329"?> 329 In den „Evangelia Melodica“ lautet die zweite Hälfte dieser Strophe: Die Thür ist aufgeschlossen / die Hochzeit ist bereit / Auf auf ihr Reichs=Genossen! Der Bräutgam ist nicht weit. Dies lässt sich als Deutung des Gleichnisses verstehen, d.h., diejenigen, die zur Hochzeitsfeier hineingelassen werden, sind Genossen im Reich Gottes. In der heutigen Zeit weckt dieser Ausdruck jedoch eher politische Assoziationen. Auch bedingt der Wechsel der Anrede von den Jungfraun zu den männlichen Reichsgenossen einen abrupten Wechsel zum bildempfangenden Bereich des Gleichnisses und nimmt damit den Übergang auf die Deutungsebene vorweg. Die EG-Version, Erfüllt ist euer Hoffen, verbindet dagegen den bildspendenden mit dem bildempfangenden Bereich des Gleichnisses, da die Aussage sowohl auf die Hoffnung der Fackelträgerinnen bei einer Hochzeit zu beziehen ist als auch auf den Aufruf an die Frommen. 317 Das Hoffen ist erfüllt - jedoch ist der Bräutigam, anders als im Gleichnis, zum im Lied erzählten Zeitpunkt noch nicht eingetroffen, sondern lediglich nicht weit. Somit wird auch das Hineingehen zum Fest und das Schließen der Tür nicht erwähnt, sondern die erzählte Zeit hält in dem Moment an, als die Frauen vor der Tür stehen, hinter der die Hochzeit stattfindet. 318 An dieser Stelle ist die Bezugnahme auf das Gleichnis weitgehend beendet. Sie bleibt demnach auf den Wächterruf und das Vorbereiten der Lampen beschränkt, auf die erzählte Zeit vom Aufwachen der Frauen bis kurz vor dem Hineingehen der Klugen unter ihnen zur Hochzeit. Das tatsächliche Erscheinen des Bräutigams wird im Lied nicht, jedenfalls nicht auf der Gleichnisebene, thematisiert. Vielmehr erweitert sich der Assoziationsrahmen spätestens an dieser Stelle auf die über das Gleichnis hinausgehende, u.a. in der allegorischen Auslegung des Hohelieds begründete Tradition der Deutung des Bräutigams auf Christus. Die vierte Strophe verlässt die Ebene des Gleichnisses weitgehend und ist nicht mehr in seine zeitliche Abfolge eingebunden. Sie thematisiert mittels anderer biblischer Bilder die hereinbrechende Endzeit und ihre Bedeutung für die Erzähladressat_innen. Die Ansage Er wird nicht lang verziehen (d.h. säumen, zögern) 319 bezieht sich noch auf den Bräutigam, dessen Ankunft vom Standpunkt der Adressat_innen aus gesehen nach wie vor in der Zukunft liegt. Der folgende, ver- 317 Auf der Gleichnisebene verbleibt auch die Variante Festgenossen (*Stuttgart 1842), die sich jedoch nicht durchgesetzt hat. Noch das *EKG enthält die ursprüngliche Formulierung Reichsgenossen. 318 Die Umschreibung als Hochzeit lässt darauf schließen, das Geschehen auch hier wie im Gleichnis als Hochzeitsfeier und nicht als Hochzeitsnacht zu verstehen ist. 319 Vgl. DWB 25, 2595f. <?page no="330"?> 330 neinte Imperativ drum schlafet nicht mehr ein bezieht sich jedoch nicht mehr ausschließlich auf die Situation der klugen Jungfraun vor der Tür, da diese, singend und tanzend, gewiss nicht Gefahr laufen, einzuschlafen. Vielmehr stellt dieser Imperativ eine Bekräftigung des zentralen Elements der ersten drei Strophen, des Weckrufes an die Frommen, dar. Zusätzlich zu diesem Weckruf werden nun Zeichen geschildert, die gegenwärtig zu sehen sind und auf die Nähe der Parusie hindeuten: 320 die blühenden Bäume (Lk 21,29f.; vgl. Mt 24,32), der Frühlingsschein, der Erquickungszeiten (Apg 3,20) 321 verheißt, und die Abendröte (Mt 16,2) die den neuen, schönen Tag erahnen lässt, vor dem das Dunkle weicht. Dieses Weichen der Dunkelheit vor dem Tag bezieht sich antithetisch auf das die erste Strophe dominierende Wortfeld „Nacht“. Gleichzeitig kann es als Gerichtsmetapher aufgefasst werden: Am Tag der Parusie des Menschensohnes, der als Tag Jhwhs vorgestellt wird, muss das „Dunkle“, Negative, das der Schöpfung schadet, weichen und wird vernichtet. 322 Zwischen Nacht und Tag besteht ein fundamentaler qualitativer Unterschied: die Nacht ist die „Jetztzeit“ der Strophen 1-4, während derer es zu beten, zu kämpfen und zu wachen gilt, der Tag ist die Zeit, in der sich das Wachen auszahlt, der erwartete Bräutigam tatsächlich eintrifft und sich die biblischen, endzeitlichen Verheißungen erfüllen. Dieser schöne Tag wird in den Strophen 5-7 ausgemalt. Ausgelassen ist im EG die in den „Evangelia Melodica“ auf Str. 4 folgende Strophe, die den Tag als Gerichtstag ausmalt: Wer wolte denn nun schlaffen / Wer klug ist/ der ist wach/ Gott kommt die Welt zu straffen/ zu üben Grimm und Rach an allen die nicht wachen/ und die des Thieres Bild Anbeten samt dem Drachen/ Drum auf der Löwe brüllt! In der einleitenden, rhetorischen Frage wird das Thema „Schlaf“ (Str. 1.4) wieder aufgenommen: Die Option, angesichts der geschilderten Situation zu schlafen, erscheint absurd. Der bedrohliche Charakter der Strophe wird 320 Ähnlich Schmidt, Frommen, 92. 321 Apg 3,23 zitiert Lev 23,29 und betont, dass alle, die nicht auf den kommenden Propheten hören, aus dem Volk ausgerottet werden, obwohl er gesandt sei, um die „Söhne der Propheten und des Bundes“ von ihren Bosheiten abzuwenden. Gleichwohl sind durch diese Allusion auch im Lied die Erquickungszeiten ambivalent und tragen das Potential des Scheiterns, des Nicht-Genügens in sich. 322 Bereits Luther spricht in seiner Auslegung des zweiten Glaubensartikels von der Scheidung „von der bösen welt, Teuffel, tod, sunde“ am Jüngsten Tage (Gr.Kat., 187). <?page no="331"?> 331 durch die Endreime wach-Rach und wachen-Drachen, die lautmalerisch das Geräusch eines feuerspeienden Drachens imitieren, unterstrichen. Diese im EG fehlende Strophe thematisiert als einzige das Gericht explizit - und verfehlt in ihrer Darstellung des strafenden Gottes eine zentrale Pointe der Endzeitrede und auch zahlreicher alttestamentlicher Gerichtsankündigungen: Gott selbst, heißt es hier, kommt die Welt zu straffen/ zu üben Grimm und Rach. Damit ist Jesus, der Bräutigam, nicht der Richter, sondern ausschließlich der freudig erwartete Erlöser (vgl. Str. 8). Gott dagegen erscheint ausschließlich als strafender, nicht aber als rettender Gott. Damit wird ein Dualismus eröffnet, der von den biblischen Texten her nicht gedeckt ist und der suggeriert, dass Gott ausschließlich richte und Jesus ausschließlich rette. Auch in der übrigen Strophe wird die Dialogizität v.a. zu Mt 25,1-13 deutlich: Wer wach ist, wird als klug bezeichnet und so mit den klugen Jungfern (Str. 3) in Verbindung gebracht. Die Gleichniserzählung legt jedoch, wie gesehen, die direkte Identifikation von „Klugheit“ und „wach bleiben“ nicht nahe, 323 weil hier alle Frauen einschlafen und die „klugen“, obwohl auch sie geschlafen haben, zur Hochzeitsfeier hineingelassen werden. Dass sie geschlafen haben, wird ihnen nicht zur Last gelegt. Der eigentliche Fehler der „dummen“ Frauen war vielmehr, kein Öl mitgebracht zu haben - er wird hier wie im gesamten Lied vollkommen ausgeblendet. 324 Die Strophe legt den Fokus also einseitig auf das Schlafen und vermischt den Weckruf innerhalb des Gleichnisses mit der abschließenden Mahnung, wachsam zu sein (25,13), d.h. bereit zu sein für die Ankunft des Bräutigamku, rioj . Damit wird der Begriff der Wachsamkeit anders gefüllt als bei Matthäus, wo unter Wachsamkeit das Hören und Tun der Worte Jesu zu verstehen ist. In der vorliegenden Strophe wird das „Wachen“ dagegen via negationis mit Bildern aus Offb 13,4.15; 19,20; 20,4 präzisiert: Die Strafe Gottes wird sich gegen diejenigen richten, die des Thieres Bild Anbeten samt dem Drachen. Laut Offb 19,20 wird dies geschehen, bevor ein tausendjähriges Reich errichtet wird, in dem die Märtyrer des Glaubens mit Christus regieren werden. Nach altlutherischer Auffassung ist dieses Reich eine bereits vergangene Epoche in der Geschichte der Kirche, nach pietistischer Auffassung steht es noch bevor, und so erscheint es auch in dieser Strophe. 325 Zwar lassen sich das Tier und der Drache mit einer modernen Deutung der Offb als „totalitäre Machthaber ..., die sich mit göttlichem Gehabe umgeben und unbedingten Gehorsam fordern“ 326 verstehen, jedoch ist auch eine chiliastische Deutung nicht von der Hand zu weisen. Es ist dann die zukünftige Erwartung „eines tausendjährigen Reiches Christi und seiner Heiligen auf Erden vor dem Jüngsten Gericht (…20,4f.) und nach Endigung der tausend Jahre den Einfall 323 Zur Deutungstradition des „Sündenschlafes“ vgl. 2.5.2.2.2 im zweiten Teil. 324 Ähnlich Schmidt, Frommen, 93. 325 Vgl. Arndal, Lied, 170f. 326 Schmidt, Frommen, 93 <?page no="332"?> 332 Gogs und Magogs (Apk 20,8)“ 327 - also nicht des letzten Gerichtes selbst, die Anlass gibt zu der abschließenden Anspielung auf 1 Petr 5,8: Mit einem brüllenden Löwen wird dort der Teufel verglichen, angesichts dessen zum Wachen und zum Nüchternsein aufgefordert wird sowie zur Standhaftigkeit durch den Glauben im Leiden. Im Lied fungiert diese Metapher des brüllenden Löwen als Mahnung, sich nicht verführen zu lassen (vgl. auch Mt 24,4). Die Frommen werden in Strophe 5 als die, die ihr Zion liebt, angesprochen. Hierbei ist an das neue, kommende Jerusalem zu denken, wie es in Offb 21,2 geschildert wird. 328 An sie wird nun kein Imperativ mehr gerichtet, sondern die Verheißung, dass sie ihm, dem Bräutigam, auf Erden begegnen werden. Diese Begegnung ist auch das erklärte Ziel der Frauen des Gleichnisses (vgl. v.a. Mt 25,6c). Die Aufforderung, ihm mit freudigen Gebärden zu begegnen, korreliert mit dem Tanzen und Singen (Str. 2 und 3) und steht, wie die Ermunterung, nicht mehr betrübt zu sein (vgl. Jes 66,10), in Antithese zur Nacht und zum Schlaf. Der Tag ist nun gekommen und mit ihm die Freudenstunden - und nun tritt auch die im Gleichnis fehlende Braut auf: Es ist die „Frau des Lammes“, die mit dem neuen Jerusalem assoziiert wird. 329 Sie hat überwunden, d.h. „der Verführung der Mächtigen und der Gefahr des Abfalls vom Glauben widerstanden“, so dass ihr nun „die Krone (5,8), der Siegeskranz des Lebens beigelegt“ 330 wird. Diese Strophe hat ausschließlich die Heilsperspektive im Blick, die Verheißungen für ausnahmslos alle, die Zion lieben. Die Strophen 6-7 führen die in Str. 4 begonnene Beschreibung der endzeitlichen Freudenstunden weiter und illustrieren sie wiederum mit biblischen Bildern, v.a. aus der Offenbarung. Die Ebene des Gleichnisses ist vollständig verlassen, das Gerichtsthema spielt keine Rolle mehr. Vielmehr sehen sich die Singenden an den Ort des Heiles, den Zion, versetzt, an dem sich die biblischen Verheißung in der erzählten Jetztzeit erfüllen: nun (Str. 6) und hier (Str. 7). Diese Verheißungen gelten, so Strophe 6, den angesprochenen Frommen, die in der Vergangenheit Geduld getragen und Kreuz und Klagen erlitten haben. Im Hintergrund steht die auf Offb 20,4-7 beruhende Vorstellung, dass diejenigen, die des Tieres Bild (Str. 5) nicht angebetet haben, in einem tausendjährigen Reich mit Christus mitleben und -regieren sollen, 331 bevor die anderen Toten zum letzten Gericht auferstehen. Dieses tausendjährige Reich wird hier vergegenwärtigt: Das Jauchzen auf Hoffnung hin (Str. 3) ist nun zu einem Jauchzen angesichts der erfüllten Hoffnung geworden (Offb 2,10; 7,9f.; Tim 2,11f.), die Leiden zur Freude, das Kreuz zur Siegeskron. 327 Wallmann, Pietismus, 411, mit Bezug auf Speners Schrift „Gründliche Beantwortung Pfeiffers und Neumanns“, Frankfurt a.M. 1694, 175ff., vgl. auch ebd., 412. 328 Vgl. Schmidt, Frommen, 93. 329 Zum Motiv der „Hochzeit des Lammes“ vgl. Offb 19,7. 330 Schmidt, Frommen, 93; vgl. auch Offb 2,8-11. 331 Ebenso Arndal, Lied, 171. <?page no="333"?> 333 Die folgende, im EG fehlende Strophe 332 nimmt Zeichen des Heils aus Offb 7,9 ebenso wie das Auferstehungsbild aus Jes 66,14 333 auf. Mit Weizenhalmen kann die Zeit der Ernte, d.h. das anbrechende Gottesreich, assoziiert werden. 334 Strophe 7 beschreibt das neue Jerusalem (vgl. Jes 35,10), das als Ort nicht nur des Friedens (Str. 8), sondern auch der Freude, Sicherheit und Pracht - vgl. die Alliteration güldnen Gassen - ausgemalt wird. Neben Offb 21,2.10 verweisen Hochzeitsmahl und Freudensaal auch auf Mt 25,1-13: Was zu Anfang des Liedes noch als zukünftig vorausgesagt wird - das Hineingehen zum Hochzeitsfest - ist nun Gegenwart geworden und wird mit den Bildern aus Offb 21 ausgeschmückt: Auf sie bezieht sich die Vorstellung der Braut, die, obwohl sie bei einer Hochzeit eine der Hauptpersonen ist, im Gleichnis Mt 25,1-13 nicht erwähnt wird. Ihr Einzug in den Freudensaal bildet den krönenden Abschluss der eschatologischen Freudenbilder, die das Lied vor Augen stellt. 335 Strophe 8 hat die Funktion eines Fazits. Die vorher heterodiegetische Erzählstimme tritt nun homodiegetisch in Erscheinung, indem sie sich selbst in die Reihen der Frommen einordnet. Mittels einer invocatio wendet es sich zwei Mal direkt an Jesus, den es, wie eine Braut ihren Bräutigam, als meine Wonne und ersehnte Sonne (Ps 19,5f.; Mal 4,2) 336 anspricht. Sein Kommen soll die Nacht, in der die Singenden sich noch befinden (Str. 1), durchbrechen und ist als schöner Tag bereits in der Abendröte von weitem sichtbar (Str. 4). Der an ihn gerichtete Wunsch komm bald entspricht dem in die urchristliche Liturgie aufgenommenen Ruf Maranatha (vgl. 1 Kor 16,22; Offb 22,20). 337 Der zweite Teil dieser Strophe erweitert die Perspektive vom Individuum auf die Gruppe der Frommen. Diese antworten gleichsam auf die im Lied 332 Hier sind die Sieges Palmen / Hier ist das weisse Kleid / hier stehn die waitzen Halmen / In Frieden / nach dem Streit / Und nach den Winter=Tagen / Hier grünen die Gebein / Die dort der Tod erschlagen / Hier schenkt man Freuden=Wein. 333 Mit Stalmann, Frommen, 447, gegen Schmidt, Frommen, 93, der von einem Bezug auf Ez 37,1-10 ausgeht. 334 Mt 13,39; Mk 4,29; Offb 14,15; vgl. Schmidt, Frommen, 94. 335 Im Original heißen die letzten beiden Zeilen hie sol sich niederlassen die Braut im rosen=thal. Bereits im Gesangbuch der Brüdergemeine (*Barby 1783) wird in Freudensaal geändert. *Königsberg 1899 nimmt diese Änderung auf, in der Folgezeit setzt sie sich allmählich durch (*Wiesbaden 1900, *DEG 1915, *DEG 1926, *Halle 1933, *Darmstadt 1935). Tatsächlich passt Freudensaal besser in den Duktus des Prätextes Mt 25,1-13. Dem Prätext noch näher und m.E. noch gelungener ist die Variante da wir uns niederlassen Zum ew’gen Hochzeitsmahl (*Basel 1854, *Darmstadt 1881, *Darmstadt 1935), die die im Gleichnis nicht vorkommende Braut eliminiert und stattdessen die Identifikation der Singenden mit den jungen Frauen bzw. den Bewohner_innen des neuen Jerusalems befördert. 336 Die Formulierung des Originals, geh auf verlangte Sonne ist verschiedentlich durch Ausdrücke ersetzt worden, die die Sehnsucht nach dem Jüngsten Tag, nach dem Kommen des Herrn noch deutlicher machen: erwünschte Sonne (*Nürnberg 1855, *EKG) oder ersehnte Sonne (*Basel 1891, *Königsberg 1899, *Darmstadt 1935, EG). 337 Vgl. Bruppacher, Herr, 416f.; Thust, Lieder, 271. <?page no="334"?> 334 geschaute Szenerie, indem sie auf ihre gegenwärtige Situation Bezug nehmen (führ uns aus dem Streit) und ihrer Sehnsucht nach der zukünftigen Erlösungszeit Ausdruck verleihen. Dies geschieht, indem sie, so betont es die Alliteration, Haupt (vgl. Lk 21,28) und Hände erheben - zum Gebet bzw. als Metapher der Ausrichtung sowohl des Verstandes als auch des Handelns auf die ersehnte Erlösung. Wer Haupt und Hände hebt, ist wachsam, verbleibt nicht bei sich selbst, sondern erweitert den eigenen Horizont - und ganz bestimmt schläft er oder sie nicht. Haupt und Hände zu heben erscheint daher als angemessene Reaktion auf das Kommen der Erlösungszeit sowie auf die Aufforderung betet, kämpft und wachet. 4.5.3 Zum Gericht Wie gesehen, ist der zentrale Prätext des Liedes das Gleichnis von den zehn jungen Frauen, v.a. die Verse 6f., die den ersten drei Strophen auch als strukturelle Vorlage dienen. Damit nimmt das Lied nicht gleichermaßen alle Aspekte des Gleichnisses auf, sondern konzentriert sich auf den Handlungsstrang der klugen Jungfraun (Str. 3), der den kommenden Bräutigam, die Begegnung mit ihm sowie das Eingehen zum Hochzeitsfest thematisiert. Der andere Handlungsstrang, die Möglichkeit, draußen vor der Tür bleiben zu müssen und damit auch das im Gleichnis zentrale Thema des nicht mitgebrachten Öls wird dagegen im Lied weitgehend ausgeblendet. Es konzentriert sich auf den Hoffnungsaspekt des Gleichnisses. 338 Der Aspekt des möglichen Scheiterns, des Nichtbestehens im Gericht, steht dabei jedoch im Hintergrund. Dies zeigt zum einen die imperativische Form, in der das Gleichnis hier nacherzählt wird: Die Frommen werden ermuntert, ja aufgefordert, so zu handeln wie die klugen Jungfraun, die am Ende zur Hochzeit hineingehen - um zu vermeiden, dass sie vom Bräutigam abgewiesen werden. Mit dem Gerichtsaspekt des Gleichnisses beschäftigt sich ein weiteres in den „Evangelia Melodica“ enthaltenes Lied Lorenzens, das - mit der Melodie von Es ist gewisslich an der Zeit - den endzeitlichen Ablauf, wie er bei Lk 21/ Mt 24,5-14 erscheint, ausführlich nachzeichnet. Die erste Strophe jedoch bezieht sich ebenfalls auf Mt 25,1-13 und steht in intensiver intertextueller Relation zu der ersten Strophe von Ermuntert euch, ihr Frommen: 338 Ähnlich Stalmann, Frommen, 447f. <?page no="335"?> 335 Der Richter hat sich auffgemacht/ Bereitet euch / ihr Frommen / Steht auff / bald ist es Mitternacht / Der Bräutigam wird kommen / Laßt eure Lampen fertig seyn / Und zeiget euren Glaubens=Schein / Für GOtt und allen Menschen. Hier werden Bräutigam und Richter, Fromme und Jungfrauen deutlich parallelisiert und das Leuchten der Lampen nach reformatorischer Tradition allegorisch auf den Glauben gedeutet. Deutlich wird aus diesem Intertext, dass Lorenzen das Gleichnis Mt 25,1-13 ganz selbstverständlich auf das Gericht des Menschensohnes deutet und damit auch den sehnsüchtig erwarteten Bräutigam auf den wiederkommenden Richter. 4.5.4 Wirkungsgeschichte In Ermuntert euch, ihr Frommen wird in erster Linie der Hoffnungsaspekt, der sich mit dem zum Gericht kommenden Bräutigam verbindet, betont; die Teilhabe am Reich Gottes, das mit Bildern aus Jes und Offb als Stadt der Freuden ausgemalt wird. Vor allem die Hochzeitsmetaphorik wird im Sinne dieser Intertexte weitergeführt und dadurch eine spannungsvolle eschatologische Szenerie vor Augen gestellt (vgl. v.a. Str. 5-9). 339 V.a. durch diese Strophen entstehen unterschiedliche Deutungspotentiale des Liedes. Es ist nämlich nicht ganz eindeutig, ob die … Strophen ein irdisches Gottesreich oder den Zustand im Himmel beschreiben. Auf den ersten Blick scheint das Lied die apokalyptische Motivik in einer traditionell lutherischen Weise zu verwenden; aber eine chiliastische Deutungsmöglichkeit ist nicht ausgeschlossen 339 In der Bearbeitung des Liedes in *Berlin 1829 sind die ersten beiden Strophen miteinander kombiniert und somit fast sämtliche Allusionen an das Gleichnis getilgt: Ermuntert euch, ihr Frommen, / zeigt eurer Lampen Schein! / der Abend ist gekommen, / bald bricht die Nacht herein. / Macht eure Seelen fertig, / der, deß ihr harrt, ist nah, / seyd eures Heils gewärtig, / und singt Hallelujah. Die Veränderungen der verbliebenen Zeilen lassen auf den Versuch schließen, die Aussagen des Gleichnisses in nichtmetaphorische Sprache zu übersetzen: Statt der Lampen gilt es, die Seelen bereit zu machen, der Bräutigam wird zu dem, deß ihr harrt. Der Liedtext ist mit fünf Strophen auf die Hälfte des Originals gekürzt. Der Gedanke des Mitsterbens ist ebenso getilgt wie das Bild des Lammes auf dem Thron und der Freudenstadt Jerusalem. Auch der die letzte Strophe einleitende, sehnsuchtsvolle Seufzer O Jesu, meine Wonne, komm bald… ist durch Beschreibungssprache ersetzt: Hier ist das Land der Wonne; / hier sind die Friedens=Au'n; / hier sinket nie die Sonne, / der Glaube wird zum Schaun. / Mach, Herr, ein fröhlich Ende / und führ uns aus dem Streit! / wir heben Haupt und Hände nach der Erlösungszeit. <?page no="336"?> 336 und scheint bei der Verwendung des Liedes im Rahmen der pietistischen Erweckung mit hineingespielt zu haben. 340 Zu einer chiliastischen Deutung trägt, wie gesehen, in erster Linie die im EG ausgelassene Gerichtsstrophe mit ihrer Allusion an Offb 20 bei. Ist der chiliastische Blickwinkel erst einmal eröffnet, lassen sich auch andere Liedverse auf diese Weise deuten. So lässt sich z.B. der Beginn von Str. 5, Begegnet ihm auf Erden, durchaus als Hinweis auf ein irdisches Reich, in dem Christus mit den Frommen lebt und regiert, deuten. Auch der einleitende Ruf Ermuntert euch, ihr Frommen bekommt dann den Klang der Erweckung. Betet, kämpft und wachet wird zur Aufforderung, bei der Reform der Kirche im Sinne von Speners „Hoffnung besserer Zeiten“ mitzuwirken, die durchaus als chiliastische Vision verstanden werden kann. 341 So lassen sich die Frommen als enger gefasste Gruppe verstehen, die die ecclesiola in ecclesia bilden und das Reich Christi auf Erden errichten. Sieht man dagegen von der ausgelassenen Strophe ab, liegt die chiliastische Deutung nicht mehr auf der Hand. Tatsächlich ist sie die Strophe, die in der Wirkungsgeschichte des Liedes am häufigsten Veränderungen und Streichungen unterworfen war. 342 In zahlreichen Gesangbüchern fehlt sie als einzige Strophe. 343 Zunächst wurde sie zwar lediglich verändert, jedoch in Versionen, die das Original ansonsten wortgetreu übernommen haben. So lautet die veränderte in *Königsberg 1815: Wer wollte denn nun schlafen? Wer klug ist, der ist wach; GOtt kommt, die Welt zu strafen, zu führen seine Sach' an Allen, die nicht wachen, und die des Thieres Bild anbeten, den verlachen, der ewig Sonn' und Schild. 344 340 Arndal, Lied, 171. Im Chiliasmus als Deutungsmöglichkeit sieht Arndal auch die breite Rezeption des Liedes in pietistischen Gesangbüchern begründet. 341 Dass Speners „Hoffnung besserer Zeiten“ durchaus im chiliastischen Sinne als „Hoffnung auf ein herrliches Reich Christi“ zu verstehen ist, hat Wallmann, Pietismus, 406- 410, überzeugend dargelegt. 342 Über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren wurde das Lied weitgehend unverändert überliefert. Dann kam es, insbesondere im 19. Jh., vielfach zu Strophenkürzungen. So sind mit Ausnahme der ersten und der letzten alle Strophen in mindestens einem Gesangbuch nicht verzeichnet. Besonders radikal kürzt *Barby 1783 (Str. 3-5.8), *Berlin 1829 (Str. 2f.5f.8, von Str. 2 und 9 sind jedoch in dieser Nachdichtung einige Verse verwendet) und *Straßburg 1899 (Str. 3.5.8f.). 343 Vgl. z.B. *Basel 1854, *Darmstadt 1881, *Berlin 1886, *Basel 1891, *Dortmund 1893, *Königsberg 1899, *Wiesbaden 1900, *Frankfurt 1907, *DEG 1915, *DEG 1926, *Halle 1933, *Darmstadt 1935, *Bayern 1938, *Hamburg 1939 , *EKG, EG. 344 Hervorhebungen A. S. <?page no="337"?> 337 Diese Version ist als Versuch anzusehen, die Metapher vom Grimm und Rach übenden Gott zu übersetzen. Dies ist zwar generell nicht ohne Sinnverlust möglich, jedoch wird hier ein wichtiger Kerngedanke der biblischen Gerichtsvorstellung auf den Punkt gebracht: Gott kommt, um seine Sach' zu Ende zu führen, um seine Gerechtigkeit durchzusetzen in einer Welt, in der sich viele von ihm, der sie geschaffen hat und erhält, abgewandt haben und ihn verlachen. Die auf den Teufel rekurrierende Metapher des brüllenden Löwen (1 Petr 5,8) ist hier ersetzt durch die Metapher ewig Sonn‘ und Schild, die sich auf Gott bezieht (vgl. Ps 84,12). Statt das Bedrohungszenario fortzuführen, wird hier vor Augen gestellt, wie absurd es ist, dem unvergänglichen, lebenserhaltenden und -schützenden Gott ein Tierbild vorzuziehen. Dieser Absurdität wird in einer weiteren Variante dieser Strophe in *Dresden 1883 - auch hier ist der Text nur an dieser Stelle geändert - Ausdruck verliehen. Hier ist die Vorstellung vom Anbeten des Tierbildes durch eine Bewertung eben dieses Tuns ersetzt: Gottes Grimm und Rach richtet sich gegen alle, …die, von Wahn umhüllt, den fliehen und verlachen, der doch ist Sonn und Schild. Durch diese Änderung ist gleichzeitig der Bezug auf Offb 20,4 getilgt und damit ein mögliches chiliastisches Deutungspotential ausgeräumt. Das erste Gesangbuch, in dem diese Strophe ganz gestrichen ist, ist - abgesehen von den Brüdergesangbüchern - m.W. das bereits erwähnte Gesangbuch *Berlin 1829. Ein Großteil der im Folgenden erschienenen Gesangbücher folgt ihm darin. 345 Dafür gibt es gute Gründe: Während die ersten vier Strophen ebenso wie die folgenden in Bildern des Gleichnisses von den zehn jungen Frauen und anderen biblischen Bildern sprechen, fällt die fünfte Strophe aus diesem Duktus heraus: Sie beginnt nicht mit einer Anrede der Frommen bzw. der klugen Jungfraun, sondern mit einer rhetorischen Frage, an die sich eine in der dritten Person Singular formulierte Ansage des Grimms und der Rache Gottes anschließt. Diese durchbricht die von freudiger Erwartung des kommenden Bräutigams geprägte Szene in sprachlich-rhetorischer ebenso wie in inhaltlicher Hinsicht. Blendet das übrige Lied die Vorstellung, dass der Bräutigam-Jesus auch als Richter wiederkommt, weitgehend aus, ist der Gerichtsgedanke thematisiert in Form der Vorstellung des zornigen, Rache übenden Gottes. Damit ist eine Opposition geschaffen zwischen dem freudig erwarteten Jesus und einem Furcht einflößenden Gott, die den bibli- 345 Vgl. z.B. *Stuttgart 1842, *Berlin 1853, *Basel 1854, *Nürnberg 1855, *Darmstadt 1881, *Berlin 1886, *Basel 1891, *Dortmund 1893, *Königsberg 1899, *Straßburg 1899, *Wiesbaden 1900, *Frankfurt 1907, *Stuttgart 1912, *DEG 1915, *DEG 1926, *Halle 1933, *Darmstadt 1935, *Bayern 1938, *Hamburg 1939 , *EKG, EG. <?page no="338"?> 338 schen Texten und der matthäischen Gerichtsvorstellung im Besonderen widerspricht. Trotzdem ist die fünfte Strophe als ein Deutungsversuch der das Gleichnis Mt 25,1-13 abschließenden Wachsamkeitsmahnung zu verstehen. Sie beseitigt ein Stück weit die Diskrepanz zwischen dem Gleichnis mit seinen zwei entgegengesetzten Handlungssträngen und dem übrigen Lied, das lediglich einen dieser Stränge, den der klugen Jungfraun, in den Blick nimmt. Fehlt diese Strophe, wie es auch im EG der Fall ist, wird das Lied zu einem reinen Hoffnungslied, das ausschließlich von der freudigen Erwartung der Endzeit geprägt ist. 346 Der Grund dieser Freude aber, die Erwartung nämlich, dass Jesus als Richter kommen und Gottes Gerechtigkeit aufrichten, seine Sach‘ führen wird, bleibt ohne die fünfte Strophe weitgehend ausgeblendet. 4.5.5 Das Lied im Gottesdienst 4.5.5.1 Rollenangebote und Identifikationspotentiale Im Akt des gemeindlichen Singens wirkt der Anfang des Liedes wie ein gegenseitiges „Ermuntern“, das sich die Singenden gegenseitig zusprechen. Sie nehmen dabei sowohl die Rolle der Verkündigenden als auch die der Angesprochenen 347 ein; die Rolle der Wächter Zions wie auch die der Frauen des Gleichnisses, die den Bräutigam sehnsüchtig erwarten. 348 Dabei dominiert die Verkündigungsrolle über die Partizipation, die Inszenierung; hier wird nicht Halleluja gesungen und gejauchzt, sondern zu selbigem aufgefordert (Str. 2f.). Die Singenden kommentieren das aus dem Gleichnis bekannte Geschehen. Sie fordern die Erzählfiguren gleichsam dazu auf, so zu agieren, dass die Geschichte im Sinne des „positiven“ Handlungsstranges weitergeht und warnen davor, dass es anders sein könnte und die Frauen nicht zum Hochzeitsfest hineingehen, sondern der göttlichen Strafe anheimfallen. So bieten sich in der im EG gestrichenen fünften Strophe 349 die Erzählfiguren, die nicht wachen, zur kathartischen Identifikation an: Ihnen droht 346 Ähnlich Schmidt, Frommen, 94. Als ein solches stellt es Stalmann, Frommen, 447, dar, der die fünfte, auch im *EKG gestrichene Strophe vollkommen außer Acht lässt: „Das Lied ist … ermunternder Zuspruch an Erschöpfte, nicht Bußruf. Wie im älteren Lied fehlt die Warnung vor dem Beispiel der törichten Jungfrauen. Das Evangelium warnt: ‚Seid auf der Hut! Er kommt plötzlich, und dann ist es für die unerläßlichen Vorbereitungen zu spät.‘ Dagegen ‚Seid unbesorgt! Er kommt bald, und dann hat die lange Wartezeit und Unsicherheit ein Ende‘, tröstet das Lied. Neben dem Zuspruch vernehmen wir den Anspruch des Evangeliums nur noch als Aufruf zur Freude, nicht als Nein zur Lauheit.“ 347 Vgl. Schmidt, Frommen, 92. 348 Vgl. die Analyse der Rollenangebote von „Wachet auf“, ruft uns die Stimme (4.4.5.1). 349 Vgl. 4.5.2 im zweiten Teil. <?page no="339"?> 339 Grimm und Rach Gottes. Daher werden sie in ihrem Anbeten des thieres bild… sammt den drachen zum abschreckenden Beispiel, das zur Reflexion über den eigenen Lebenswandel und dessen Veränderung anregen soll. Im Mittelpunkt steht jedoch die Teilhabe an der Hochzeit, dem endzeitlichen Freudenszenario, das im Folgenden ausgemalt wird. Sie steht im Gegensatz zum Leiden der Frommen: Die Vision der Gottesstadt blickt auf dieses Leiden zurück, für die Singenden ist es die Gegenwart, der sie durch Teilhabe an dieser Szenerie temporär und auf Hoffnung hin entkommen. Hier, im Eintragen des eigenen, individuellen Leidens (vgl. auch Str. 10: führ uns aus dem Streit), liegt eine weitere Identifikationsmöglichkeit des Liedes. Ansonsten verbleibt die Szenerie auch in den folgenden Strophen als Gegenbild. Die abschließende Strophe drückt im Gebet die naheliegende Reaktion der Singenden auf diese freudenvolle Szenerie aus: Die Bitte darum, dass Jesus bald kommen und aus der Mühsal der Welt, dem Streit, herausführen möge. Hier sind die Singenden nicht mehr als Jungfraun angesprochen, sondern sprechen selbst als Gegenüber zum Bräutigam, und zwar sowohl als Kollektiv der Wartenden als auch in der Rolle der Braut, die den Bräutigam Jesus sehnsuchtsvoll als meine Wonne anruft. Vor allem an dieser letzten Strophe wird sowohl das seelsorgliche als auch das gemeinschaftsstiftende Potential dieses Liedes deutlich: Gegen den Streit der Welt steht das Bild der Gottesstadt mit ihrer sichren Pfort. Sie vermittelt Hoffnung „[a]uch für Menschen, die die brennende Naherwartung von Lorenz Lorenzen nicht nachvollziehen können“ 350 und mit ganz anderen Leidenssituationen konfrontiert sind als seine Gemeinde. 351 Die Szenerie entfaltet ihre Kraft als gemeinschaftliche Vision; sie richtet sich mit der Vorstellung des eschatologischen Chores und des Hochzeitsfestes an ein Kollektiv, nicht an Einzelne. Als solche vergegenwärtigt sie das Reich Gottes als Ort der Freude und des Festes. Somit verhilft das Lied zur Sprache angesichts der eschatologischen Erwartung, die häufig abstrakt bleibt und zu schnell moralisch verbrämt wird. Diese Sprache verbleibt, wohl wissend, dass sie eigentlich Unsagbares auszudrücken sucht, nahe an den biblischen Endzeitbildern und -metaphern, die durch das Singen „begehbar“ werden. Sie machen Lust auf das Gottesreich und sind damit vielleicht wirksamer als die im Lied eingangs formulierten Appelle an die Frommen, sich auf das Kommen des Bräutigams an- 350 Schmidt, Frommen, 94. 351 Im Blick auf die Entstehungszeit des Liedes lässt sich mit Stalmann, Frommen, 447, auf die Situation der Gemeinde in Bremen nach dem dreißigjährigen Krieg zurückschließen, die nach vielfältigen Verfolgungen müde geworden ist. Die Formulierung ist aber so offen gehalten, dass in die Leerstelle die je persönliche Lebenssituation bzw. aktuelle politische und gesellschaftliche Themen eingetragen werden können. Auch kann „führ uns aus dem Streit“ als Gerichtsvorstellung aufgefasst werden, in der Streit geschlichtet, die Wahrheit aufgedeckt wird und so zu einer Versöhnung gelangt wird. <?page no="340"?> 340 gemessen vorzubereiten, damit sie ihre Chance, an seiner Feier - dem Gottesreich - teilzuhaben, nicht vertun. 352 4.5.5.2 Das Lied im Kirchenjahr Von Anfang an wird Ermuntert euch, ihr Frommen Rubriken zugeordnet, die die „letzten Dinge“ betreffen. 353 Dies ändert sich auch nicht mit der zunehmenden Streichung der ursprünglichen 5. Strophe, der „Gerichtsstrophe“. So behält *Berlin 1829, das erste Gesangbuch, in der die Strophe fehlt, die bereits in *Porst 1748 zu findende Zuordnung zur Rubrik „Vom ewigen Leben“ bei. *Basel 1854 streicht die Strophe ebenfalls und ordnet das Lied unter „Auferstehung und Gericht“ ein, ebenso *Nürnberg 1855, *Schleswig 1884, *Berlin 1886 und *Bayern 1938 (im letzteren fehlt auch Str. 8), wo es unter „Auferstehung, Gericht und ewiges Leben“ zu finden ist. In *Basel 1891 und *Darmstadt 1935, die die Strophe ebenfalls streichen, erscheint das Lied unter „Lieder über Gericht und Ewigkeit“ bzw. „Gericht und Ewigkeit“, im *DEG 1915 und in *Halle 1933, für die gleiches gilt, unter „Tod, Gericht und ewiges Leben“. Im *EKG ist es der Rubrik „Am Ende des Kirchenjahres“ zugeordnet, ebenso im EG („Ende des Kirchenjahres“). Diese Zuordnung trägt der ursprünglichen Überschrift von Ermuntert euch, ihr Frommen, die das Lied, wie gesehen, dem 27. Sonntag nach Trinitatis zuordnet, Rechnung. Da es sich in erster Linie auf das Gleichnis Mt 25,1-13 bezieht sowie auf die Vision des endzeitlichen Jerusalems, hat es seinen zu bevorzugenden Ort am Ewigkeitssonntag, dem Sonntag also, an dem Mt 25,1-13 das Evangelium ist. Jedoch ist es verschiedentlich auch unter der Rubrik „Adventslieder“ (*Stuttgart 1842) bzw. „Advent“ (*Stuttgart 1912) eingeordnet worden. Auch das EG trägt dem Rechnung, indem es Ermuntert euch, ihr Frommen alternativ als Adventslied vorsieht. Auf den adventlichen Aspekt verweist v.a. die letzte Strophe: O Jesu, meine Wonne, / komm bald und mach dich auf… wir heben Haupt und Hände nach der Erlösungszeit. 352 Ähnlich Schmidt, Frommen, 92. 353 Z.B. „Vom Himmel und himmlischen Jerusalem“ (*PPM 1703, *Freylinghausen 1704/ 1741, *Straßburg 1763), „Von Christi Wiederkunft in der Herrlichkeit zum Gerichte“ (*Görlitz 1731), „Vom jüngsten Gerichte“ (*Breslau 1772) u.a.m. <?page no="341"?> 341 4.6 EG 387 Mache dich, mein Geist, bereit 1. Mache dich, mein Geist, bereit, wache, fleh und bete, damit nicht die böse Zeit unverhofft eintrete; denn es ist Satans List über viele Frommen zur Versuchung kommen. 4. Ja, er will gebeten sein, wenn er was soll geben; er verlanget unser Schrein, wenn wir wollen leben und durch ihn unsern Sinn, Feind, Welt, Fleisch und Sünden kräftig überwinden. 2. Aber wache erst recht auf von dem Sündenschlafe; denn es folget sonst darauf eine lange Strafe, und die Not samt dem Tod möchte dich in Sünden unvermutet finden. 5. Doch wohl gut, es muß uns schon alles glücklich gehen, wenn wir ihn durch seinen Sohn im Gebet anflehen; denn er will uns mit Füll seiner Gunst beschütten, wenn wir gläubig bitten. 3. Bete aber auch dabei mitten in dem Wachen; denn der Herre muß dich frei von dem allen machen, was dich drückt und bestrickt, daß du schläfrig bleibest und sein Werk nicht treibest. 6. Drum so laßt uns immerdar wachen, flehen, beten, weil die Angst, Not und Gefahr immer näher treten; denn die Zeit ist nicht weit, da uns Gott wird richten und die Welt vernichten. 4.6.1 Einleitung Mache dich, mein Geist, bereit wurde von Johann Burchard Freystein (1671- 1718) verfasst, der Hof- und Justizrat bei Kurfürst August dem Starken war. Dieser war ein Anhänger Philipp Jakob Speners. 354 Auch Freystein selbst stand dem Pietismus nahe. Er war selbst mit Spener gut bekannt 355 und von seinem Werk ebenso beeinflusst wie von den Schriften Gottfried Arnolds und August Herrmann Franckes. 356 Das Lied findet sich erstmals in dem 1695 erschienenen Gesangbuch „Geistliche Lieder und Lobgesänge“ und ist mit dem Titel „Über die Worte: Wachet und Betet! “ überschrieben. 354 Vgl. Koch, Geschichte, 558. 355 Freystein wurde wohl durch Speners Einfluss während dessen Zeit als Hofprediger in Dresden 1686-1691 „erweckt“ (vgl. Kulp, Lieder, 410). Spener wurde sein Beichtvater (vgl. Koch, Geschichte, 506) und Lehrer (vgl. Bruppacher, Herr, 329). 356 Vgl. Werner, Freystein, 101. <?page no="342"?> 342 Von den ursprünglichen zehn Strophen enthält das EG noch sechs. 357 Str. 1 und 6/ 10 bilden den Rahmen des Liedes, der das Thema benennt: die Aufforderung zum Wachen, Flehen und Beten angesichts des drohenden Gerichts. An diesem Rahmen wird die Entwicklung des Liedes deutlich: Vom für pietistische Lieder typischen Seelengespräch, in dem sich persönliche Frömmigkeit ausdrückt, hin zur Anrede der ganzen Gemeinde, 358 zu der sich die Erzählstimme hinzurechnet. Mit Ausnahme von Str. 4.5 beginnen alle Strophen mit dem Imperativ, zu wachen bzw. zu beten, auf den die jeweilige Begründung folgt. Str. 2 - und die vier im EG ausgelassenen Strophen - widmen sich dem Wachen, Str. 3-5 dem Beten. Somit greift der häufig formulierte Eindruck, es handle sich bei Mache dich, mein Geist, bereit vornehmlich um ein Gebetslied bzw. um eine Reflexion über das Gebet, 359 zu kurz. Ebenso wichtig ist die Aufforderung zu wachen angesichts der gegenwärtigen Versuchung (Str. 1). Mt 26,41 fungiert zwar als Stichwortgeber, reflektiert wird im Lied aber in erster Linie die sechste Bitte des Vaterunsers („...und führe uns nicht in Versuchung...“), wie sie in Luthers Kleinem Katechismus erläutert wird. 360 Diese sechste Bitte und ihre Reflexion in den genannten Werken ist das Thema des gesamten Liedes und nicht nur der Strophen 4-6.8, wie es häufig konstatiert wird. 361 Über Luthers Katechismus hinaus finden sich im Lied deutliche intertextuelle Bezüge auf Speners Katechismus-Erklärung, die bisher in der Forschung nicht berücksichtigt wurden und noch zu zeigen sein werden. 362 Jedoch geht das Lied auch über diese Bezüge hinaus und verbindet das Thema der Versuchung mit der Erwartung des endzeitlichen Gerichts. Dies geschieht an einigen Stellen explizit, jedoch auch durch den das ganze Lied durchziehenden Imperativ wache. Dieser bezieht sich nämlich nicht nur auf 357 Arfken, Geist, 220 bemerkt zu Recht, dass das Wegfallen dieser Strophen „zwar einen starken Eingriff in die Form [bedeutet], aber auch einen Gewinn an Konzentration und Qualität“. 358 Vgl. Arfken, Geist, 220. Charakteristisch für das pietistische Lied insgesamt ist „das Streben nach Verwesentlichung des Daseins und nach persönlich erfahrenem und entschieden gelebtem Christentum. … Es verband sich oft mit harscher Kritik an der als sündig geltenden Welt und an einer als glaubenslos beurteilten formalen Kirchlichkeit.“ So „schärfen Lieder ein, alles Singen müsse sich aus dem Heiligen Geist und der Erfahrung, aus einer Transzendenz von innen heraus entzünden“ (Brunners, Lieder, 154f.). 359 Vgl. z.B. Arfken, Geist, 220. 360 Vgl. Luther, Kl.Kat., 254. Laut Köhler, Quellen, 405, hat zuerst Nelle auf die Anspielung auf den Kleinen Katechismus hingewiesen. 361 So z.B. Köhler, Quellen, 405. 362 In Dresden veranstaltete Spener Übungen zu Luthers Kleinem Katechismus für Erwachsene und Kinder (vgl. Reventlow, Epochen, 129). Ob der durch Spener generell beeinflusste Freystein an einer solchen teilgenommen hat, ist heute nicht mehr ohne weiteres belegbar. Jedoch wird an diesen Übungen die bleibende Bedeutung des Katechismus für Spener deutlich, der sich trotz einiger abweichender Positionen immer noch als Lutheraner verstand (vgl. ebd., 130). <?page no="343"?> 343 Mt 26,41, sondern auch auf Mt 24,42.44; 25,13, 363 der Aufforderung zum Wachen und zur Bereitschaft angesichts des nahen Gerichts. Der Gerichtsgedanke, besonders die mehrfach deutlich werdende Naherwartung des Gerichts, fungiert im Lied v.a. als Motivationshilfe, zu wachen und sich nicht in Versuchung führen zu lassen, wie im Folgenden deutlich werden wird. 4.6.2 Analyse und Intertexte Der für das Lied zentrale, an den eigenen Geist der Erzählstimme gerichtete Imperativ wache, fleh und bete (Strophe 1) verweist, wie bereits angedeutet, auf mehrere Prätexte: Mt 26,41 ist in der Überschrift des Originals als ein solcher explizit markiert. Jedoch steht das Setting der Gethsemane-Szene in keinerlei Beziehung zum Liedtext, weshalb die Selektivität des intertextuellen Bezuges niedrig ist: Die Passion Jesu, das Ausharren bei ihm ist nicht das Thema des Liedes, sondern die Gefahr der Anfechtung, der Versuchung. 364 Allein auf die Mahnung „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“ bezieht sich das Lied, wenn es den Geist ermahnt, sich bereit zu machen, zu wachen, zu flehen und zu beten. 365 Alle drei Imperative finden sich in umgekehrter Reihenfolge auch im Epheserbrief (Eph 6,18), ebenso der Verweis auf die böse Zeit (Eph 5,16), der sich allerdings auf die erzählte Gegenwart bezieht. Die Aufforderung Wache stellt eine Verbindung zu dem Hinweis auf die böse Zeit, die unverhofft kommt, jedoch auch eine Verbindung zur Thematik des unbekannten Tages und der unbekannten Stunde her, zur Parusie des Menschensohnes (Mt 24,36), die vollkommen überraschend kommt (24,40f.). Das Motiv der Wachsamkeit (24,42.44; 25,13) 366 zielt in diesem Zusammenhang in erster Linie auf die richtige Vorbereitung ab, die im Hören und Tun der Worte Jesu (7,24) besteht. Wer dagegen nicht wacht, wer unvorbereitet ist, dem droht Unheil und er besteht nicht im Gericht (24,45-25,12). Die böse Zeit, die unverhofft eintreten wird, lässt sich somit nicht nur als Zeit der Versuchungen, sondern v.a. auch als Zeit des Gerichts verstehen. 367 363 Köhler, Quellen, 404f., sieht wegen des „starken eschatologischen Zuges“ nicht Mt 26,41 sondern Mk 13,33-37 als primäre biblische Grundlage des Liedes an, das Gleichnis vom Türhüter, das ebenfalls durch die Aufforderung zum Wachen gerahmt ist. 364 Spener, Kat.Erkl., 913, verwendet beide Übersetzungen des griechischen Begriffs peirasmo,j annähernd synonym. 365 Fleh‘ ist, so Liere/ Rindfleisch, Geschichte, 321, zutreffend, „eng mit ‚bete‘ zu verbinden und Beides gleichsam als Ein Ausdruck zu fassen, der das dringende und ernstliche Beten bezeichnet“. 366 Bei der Parallelstelle Mk 13,33 ergänzen wichtige Textzeugen kai proseucesqe ; ebenso heißt es in der Lutherbibel 1545 „Sehet zu / wachet / vnd betet...“ 367 Ebenso Brunners, Lieder, 109. <?page no="344"?> 344 Im Fokus des Liedes steht jedoch nicht der Anbruch dieser Zeit an sich, sondern die erzählte Gegenwart mit ihren Versuchungen, die am rechten Wachen, Flehen und Beten hindern. Der Rekurs auf die Auslegung der sechsten Vaterunserbitte in Luthers Kleinem Katechismus dient dabei im Folgenden der Näherbestimmung der Gefahr, die von der Versuchung ausgeht. Die Versuchung ist, so wird es eingangs und auch im Kleinen Katechismus betont, vom Satan und nicht von Gott bewirkt: Got versucht zwar nyemands, Aber wier bittē in disem gebet das vns got wöll behütten vnd erhaltē auff das vns der teuffel, die welt, vnd vnser flaysch, nit betrieg vnd versier… 368 Von dieser Versuchung sind auch und gerade die Frommen betroffen und laufen daher Gefahr, unvorbereitet zu sein, wenn die böse Zeit beginnt. Mit dieser Warnung endet die erste Strophe. Die nun folgenden Strophen dienen ihrer Erläuterung. Strophe 2 und ebenso die folgenden vier im EG nicht abgedruckten Strophen erläutern die Bedeutung des Wachens. Hierzu wird zunächst die Mahnung zur Wachsamkeit mit einer Deutungstradition von Mt 25,1-13 verbunden, die den Schlaf der jungen Frauen als Sündenschlaf versteht und die Mahnung zur Wachsamkeit auf diesen Schlaf bezieht. 369 Ausgemalt werden nun in einer unbestimmten Prolepse die Folgen für diejenigen, die nicht von dem Sündenschlafe aufwachen: eine lange Strafe. Die Anspielung auf die „ewige Strafe“ (Mt 25,46) als Folge des Gerichts ist evident, auch die Assoziation der in den Sklavengleichnissen geschilderten Strafen (entzwei geteilt und in die äußerste Finsternis hinausgeworfen werden; 24,51; 25,30) liegt nahe. Die folgenden Zeilen bestimmen den Sündenschlaf näher als Zustand des Unvorbereitetseins. Wie der Hausherr seinen Sklaven bei zerstörerischem Tun antrifft (Mt 24,49f.) und die „dummen“ jungen Frauen kein Öl für ihre Fackeln dabei haben, als der Bräutigam kommt (25,8), so besteht auch für die Erzählstimme die Gefahr, von der Not samt dem Tod überrascht zu werden und unvorbereitet, d.h. in Sünden, angetroffen zu werden. Die Not ist dabei als endzeitliche Metapher zu verstehen, da der Anbruch der Endzeit mit allerlei „Wehen“, Kriegen, Katastrophen und falschen Propheten einhergeht (Mt 24,6-12). Der Tod rekurriert dagegen auf das individuelle, plötzliche Sterben, das gefürchtet war aufgrund der Unmöglichkeit, sich angemessen vorzubereiten, z.B. durch das Ablegen der Beichte. Hier spiegelt sich die Vorstellung eines Gerichtes im Anschluss an den eigenen 368 Luther, Kl.Kat, 254 . 369 Vgl. dazu DWB 20, 1153. Eine solche Deutung ist im Gleichnis selbst jedoch nicht angelegt; vgl. 2.5.2.2.2 im zweiten Teil. Liere/ Rindfleisch, Geschichte, 320, deuten die böse Zeit sehr offen auf „die Versuchungen und Anfechtungen des Satans, der Welt, des Fleisches, - der Tod, das Gericht“. <?page no="345"?> 345 Tod wider, die in der matthäischen Endzeitrede keine Rolle spielt, aber zum festen Inventar der Gerichtsvorstellung der frühen Neuzeit gehörte. 370 Die Mahnung zum Aufwachen angesichts der drohenden Versuchung ist auch das Thema der folgenden vier Strophen der Originalfassung (3-6), die im EG nicht abgedruckt sind. 371 Str. 3 spielt auf Eph 5,14-18 an und mahnt, dass unser HErr die Schlafenden nicht erleuchten kann. Die anderen drei Strophen widmen sich jeweils einem der in Luthers Kleinem Katechismus und auch bei Spener genannten Verursacher der von ihm sog. „bösen Versuchung“: Der Satan (Str. 4), die Welt (Str. 5) und das eigene Fleisch (Str. 6), die zu „miszglaubē verzweyfeln vnd ander grosse sünd vnd laster“ verführen wollen. 372 Um diesen Versuchungen nicht zu erliegen, ist Wachsamkeit notwendig; gegenüber Satans List (Str. 4), falschen Brüdern (Str. 5) und der Heuchelei und Schmeichelei des eigenen Fleisches und Hertzens (Str. 6). In der Schärfe der Formulierungen spiegelt sich eine für den Pietismus charakteristische Welt- und Lustfeindlichkeit, die sich nicht nur gegen den Intellekt, sondern auch den Leib und die Mitmenschen richtet. 373 Nach den Ausführungen über das Wachen wird dieser Aspekt in Strophe 3 des EG mit dem zweiten aus Mt 26,41, dem Beten, verbunden. Beides ist nicht zu trennen angesichts der genannten Versuchungen, die, so Spener, den Glauben prüfen, üben und stärken und zum Gebet treiben. Deshalb solle man in Anfechtung und bei Versuchungen „so wol hertzlich in dieser bitte ge=gen dieselbe / oder umb Göttlichen beystand darinen / beten / und sich nicht abhalten lassen…“ 374 370 Erst zum Ende des Liedes hin erfolgt die Öffnung auf das kollektive, eschatologische Gericht (s.u.). 371 3. Wache auf! sonst kan dich nicht unser HErr erleuchten / wache! sonsten wird dein Licht dir noch ferne deuchten : denn GOtt will vor die Füll seiner Gnaden=Gaben offne Augen haben. 4. Wache! daß dich Satans=List nicht im Schlaf antreffe / weil er sonst behende ist / daß er dich beäffe; und GOtt giebt die er liebt / oft in seine straffen / wann sie sicher schlaffen. 5. Wache! daß dich nicht die Welt durch Gewalt bezwinge / oder / wenn sie sich verstellt / wieder an sich bringe; Wach und sieh! damit nie viel von falschen Brüdern unter deinen Gliedern. 6. Wache darzu auch für dich / für dein Fleisch und Hertze! Damit es nicht liederlich Gottes Gnad verschertze; denn es ist voller List / und kan sich bald heucheln / und in Hoffart schmeicheln. 372 Vgl. Luther, Kl.Kat., 254; Spener, Kat.Erkl., 900. 902. 907. 916. In Speners Katechismuserklärung werden sie näher erläutert: Spener spricht vom „Satan“, der „den leuten böses in das hertz gibet / und böse gedancken oder be=gierden erreget“ und „seine werckzeu=ge anreitzet / ander zu verführen“, von der „welt“, d.h. „Alle menschen / die böses thun / … und solche auff diese weise / wann sie andere zu dem bösen zwingen / überreden / lo=cken / oder mit bösen exempeln reitzen“ (914), und von der „versuchung deß eigenen fleisches“, das „uns solches selbst zu dem bösen reizet / und die versuchungen deß teuffels und der welt willig annimmet“ (Kat.Erkl., 915). 373 Vgl. Kemper, Lyrik, 55f. 374 Vgl. Spener, Kat.Erkl., 912f.; Zitat 913. <?page no="346"?> 346 Auch im Lied wird deutlich: Nicht der Mensch befreit sich selbst von seiner Schläfrigkeit und von der Versuchung, sondern der Herre muß dich frei von dem allen machen. Diese Idee der Befreiung durch Christus, den „Herrn“, verweist auf den lutherischen Gedanken des Herrschaftswechsels, wie er in der Erklärung zum zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses im Großen Katechismus formuliert ist: Was ist nu das ‚Ein Herr werden‘? Das ists, das er mich erlöset hat von sunde, vom Teuffel, vom tode und allem unglück. Denn zuvor habe ich keinen herrn noch König gehabt, sondern unter des Teuffels gewalt gefangen, zu dem tod verdampt, ynn der sunde und blindheit verstrickt gewesen. 375 Im Lied klingt dieser Herrschaftswechsel und die mit ihm verbundene Erlösung an. Der Fokus liegt jedoch nicht auf dem Indikativ dieses Herrschaftswechsels, der Befreiung von dem, was drückt und bestrickt, sondern auf der Notwendigkeit, um diese Befreiung zu bitten. Diesen Gedanken bekräftigt die vierte Strophe. Sie stellt in mehrerer Hinsicht einen Neueinsatz dar. So beginnt sie nicht mit einem Imperativ, sondern mit einem das bisher Gesagte bekräftigenden Ja, das mit einem Subjekt- und ein Objektwechsel einhergeht: Der Herr wird nun, wie bereits in Str. 3, zum Subjekt. Er ist derjenige, der den Menschen frei von dem allen machen kann, der aber auch fordert: Keine Taten, aber Bitten (vgl. Mt 7,7.11; Joh 16,23f.) und Schrein. Die Formulierung dieses Anspruchs richtet sich nicht mehr an den eigenen Geist, sondern die Erzählstimme wird homodiegetisch und der Kreis der Adressat_innen wird durch den Wechsel in die 1. Person Plural ausgeweitet auf die Gemeinde der Glaubenden, zu der sich die Erzählstimme hinzuzählt. Die Erkenntnisse, die das Individuum im „Seelengespräch“ gewonnen hat, kommuniziert es nun und macht sie somit fruchtbar für einen größeren Kreis von Menschen. Das Gebet ist die Voraussetzung für die Befreiung von der Versuchung, so wird es auch durch die als beinahe durchgehender Binnenreim gestalteten Bedingungssätze wenn er was soll geben und wenn wir wollen leben betont: Zu leben hat zur Voraussetzung, die Versuchung zu überwinden, und dazu ist es nötig, wachsam zu sein und sich selbst vor ihr zu hüten, aber ebenso für ihre Überwindung zu bitten. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhanges werden nun die Strophen 4-6 mit ihrer Erläuterung der im Kleinen Katechismus aufgeführten Ursachen (Teufel, Welt und eigenes Fleisch) noch einmal zusammengefasst, und zwar in der Reihenfolge der Spenerschen Katechismus-Erklärung (Feind, 375 Luther, Gr.Kat., 186. <?page no="347"?> 347 Fleisch, Welt und Sünden), 376 hinzugefügt wurde noch unsern Sinn. Angesichts dieser Versuchungen gelte es, so Spener, Gott um Stärke und Beistand zu bitten 377 sowie darum, „daß wir in seiner krafft und stärcke die versuchungen überwinden / und den sieg davon tragen mögen“. 378 Er betont, dass es unmöglich sei, sich aus eigener Kraft von der Versuchung zu befreien und es daher umso nötiger sei, Gott um seinen Beistand anzurufen. 379 Eben darum geht es auch in dieser Strophe: Durch ihn, den Herren, wird die Überwindung der Versuchungen letztlich ermöglicht. Von dieser Hoffnung spricht die fünfte Strophe. Sie vermittelt im Anschluss an die vorausgehende Paränese die Zuversicht, dass es uns schon alles glücklich gehen muss, wenn wir Gott durch seinen Sohn im Gebet anflehen. Christus, der Sohn, erscheint hier als Mittler, als Fürsprecher der Betenden vor Gott. Dies ist v.a. für das Verständnis der folgenden letzten Strophe von Belang. Die sechste Strophe nimmt die Leitbegriffe des Liedes, wachen, flehen, beten, aus der ersten Strophe wieder auf und stellt ihnen ein weiteres Trikolon, Angst, Not und Gefahr, an die Seite. Es bezieht sich auf das zum Abschluss des Liedes angekündigte Gericht Gottes und das Ende der Welt: Angst und Not, im AT zumeist in allgemeiner Weise auf menschliche Bedrängnisse bezogen, 380 lassen sich auf die „Wehen der Endzeit“ bzw. deren Beginn (Mt 24,5-21) deuten (vgl. o. zu Str. 2). Gleiches gilt für Gefahr: In 1 Thess 5,2-4 geht es um Bedrohung durch den Tag des Herrn, der wie ein Dieb in der Nacht kommt, auch wenn Menschen denken, dass eivrh,nh kai. avsfa,leia( Friede und Sicherheit, herrschen - und Luther 1545 übersetzt avsfa,leia als „keine Gefahr“. Vor einem solchen Trugschluss will das Lied bewahren, indem es vor der näher kommenden Angst, Not und Gefahr warnt. Eine drängende Naherwartung wird hier deutlich. Was in der bösen Zeit (Str. 1) zu erwarten ist, wird nun beim Namen genannt: Gottes Gericht wird über die Menschen kommen und die Welt vernichten. Damit dies nicht für den Einzelnen unverhofft eintreten möge, ergeht die Aufforderung zum Wachen, 376 Vgl. Spener, Kat.Erkl., 913-916. Liere/ Rindfleisch, Geschichte, 326, wollen die Zusammenfassung dagegen ebenfalls auf Luther zurückführen: „Es scheinen dieselben schon angeführten Feinde, wenn auch in andrer Reihenfolge, zu sein…“ 377 Im Unterschied zu „guten“, gottgewirkten Versuchungen handelt es sich hierbei laut Spener um „böse“ Versuchungen (vgl. Spener, Kat.Erkl., 902, vgl. 900; 907), die zwar nicht gottgewirkt seien, aber von Gott zugelassen werden (vgl. ebd., 908), weil sie den Glauben prüfen, üben und stärken und zum Gebet treiben (vgl. ebd., 912). 378 Spener, Kat.Erkl., 920. 379 Vgl. Spener, Kat.Erkl., 921. Als Belegstellen führt Spener 1 Petr 5,8f. und Eph 6,10f.14- 18 an, die, wie gesehen, auch im Lied verarbeitet sind. 380 Angst und Not bezieht sich in dieser Kombination im AT häufig auf die Unterdrückung durch fremde Völker (vgl. Dtn 26,7; 28,53.55.57; Jer 15,11; 19,9) oder auf andere Bedrängnisse der Gegenwart (Ps 119,143 u.ö.). <?page no="348"?> 348 Flehen und Beten in der Weise, wie es in den vorhergehenden Strophen beschrieben wurde. 381 Die Welt ist in dieser letzten Strophe nicht wie in Str. 5 als Metapher aufzufassen, deren bildempfangender Bereich dort als falsche brüder benannt wird und in Speners Katechismus-Erklärung als „Alle menschen / die böses thun“. 382 Die Welt steht hier vielmehr als Universalbegriff für den ganzen Kosmos, ihre Vernichtung für einen fundamentalen Neuanfang, wie er sich auch in den alttestamentlichen und frühjüdischen, bei Mt 24,29-31 rezipierten Bildern des Vernichtungsgerichts ausdrückt, v.a. der kosmischen Umwälzungen. Die Vorstellung des Gerichts wird im Lied jedoch nicht wie bei Matthäus mit dem Menschensohn in Verbindung gebracht. Gott allein wird als Richter erscheinen, sein Sohn lediglich als Mittler. Damit bleibt das Lied hinter dem differenzierten und vielschichtigen Jesusbild des Matthäusevangeliums zurück. Betont wird in der letzten Strophe zudem die Naherwartung des Gerichts. Sie lässt die Mahnung zum Wachen, Flehen und Beten noch dringlicher erscheinen angesichts eines Gerichts, das ausschließlich als bedrohliche Perspektive vor Augen gestellt wird. 383 4.6.3 Zum Gericht Der Imperativ wache, fleh und bete bezieht sich, wie gesehen, auf Mt 26,41. Hierauf bezieht sich die sechste Bitte des Vaterunsers: „…führe uns nicht in Versuchung“. Die Aufforderung zum Wachen wiederum - in Mt 26,41 angesichts der einschlafenden Jünger ganz wörtlich zu verstehen - ist in den Strophen 2-6 ausgeführt und lässt sich in Anlehnung an die sechste Bitte formulieren: „Lass dich nicht in Versuchung führen! “ Diese Füllung des Imperativs wache stellt auch für die Endzeitrede eine Sinnbereicherung dar. Die wiederholte Aufforderung zum Wachen ist dort als Leerstelle zu verstehen, die durch intratextuelle Bezüge zu füllen ist, v.a. 381 Ebenso erläutert Spener, Kat.Erkl., 684, zum zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses: „Wie soll uns derselbe zum antrieb der gottseligkeit dienen? Daß wir / nicht wissende / wann der HErr kommen wird / allezeit wachen / und uns bereit halten / und die gedächtnuß solches vorste=henden strengen gerichts uns von sünden ab=halten lassen.“ Trotzdem ist das Gericht für Spener ein primär tröstlicher Gedanke, der Anlass zu der Hoffnung gibt, „Daß wir dadurch alles elends / mit welchem wir in der welt uns schleppen müssen / befreyet / völlig erlöset / und unsers leids herzlich sollen ergötzet werden: So dann / daß Christus richter ist / welcher auch unser Heyland / bru=der und vorsprecher ist / daher wir uns daß urtheils der verdamnuß nicht zu befahren / sondern seiner loßsprechung zu getrösten ha=ben“ (Spener, Kat.Erkl., 683). 382 Spener, Kat.Erkl., 914. 383 Eine sich laut Arfken, Geist, 220, in dieser Strophe ausdrückende „Hoffnung auf das baldige Weltende und Jüngste Gericht“ als „im Pietismus beliebter … Grundzug des Liedes“ vermag ich hier dagegen nicht zu entdecken. <?page no="349"?> 349 mit der Aufforderung zum Hören und Tun der Worte Jesu, das in der Sorge für die Geringsten seinen Ausdruck findet. Das Lied mit seiner Aufforderung, sich nicht in Versuchung führen zu lassen, fügt diesem Aspekt die Sorge um den eigenen Geist hinzu, die Wachsamkeit angesichts der Versuchung durch den Satan, die Welt mit ihren falschen Brüdern und das eigene Fleisch und Hertze (Str. 3-6). Diese Strophen wurden in der Wirkungsgeschichte des Liedes - nicht nur in den im nächsten Abschnitt vorzustellenden aufklärerisch geprägten Neufassungen - immer wieder verändert 384 und schließlich ganz gestrichen. Dadurch verschiebt sich der Schwerpunkt zum Gebet hin: Waren ursprünglich vier Strophen dem „Wachen“ gewidmet und drei dem „Beten“, ist in der gekürzten Fassung nur eine Strophe zum „Wachen“ übrig geblieben. Von einem reinen Gebetslied kann deshalb dennoch keine Rede sein. Der Aspekt des „Wachens“, im Sinne der Umkehr gedeutet, bleibt angesichts der im Lied transportierten Naherwartung zentral. Es handelt sich dabei tatsächlich um die „Naherwartung von Weltende und Gericht“; 385 eine chiliastische Weltsicht, in der sich die Naherwartung auf das tausendjährige Reich Christi auf Erden verschiebt, 386 lässt sich hier m.E. nicht ausmachen. 387 Auffällig ist dabei, dass das kommende Gericht ausschließlich als Bedrohungsperspektive verstanden wird - im Gegensatz zur lutherisch-orthodoxen Erwartung des „lieben Jüngsten Tages“ angesichts der Gräuel von Pest und Krieg. Die „Gottseligkeit“ wird nun, während der Zeit des Friedens und des Wiederaufbaus, im Diesseits gesucht und nicht mehr auf das Jenseits verschoben. 388 Die ausschließliche Bedrohlichkeit des Gerichts rührt auch von dem im Lied transportierten Gottes- und Jesusbild her: Die hier angedeutete Rollenverteilung - Gott-Vater als Richter, Gottes Sohn als Mittler des Gebets (Str. 5f.) - verfehlt die Pointe der auf Jesus fokussierten matthäischen Gerichtsvorstellung. Somit fungiert der Gerichtsgedanke in diesem Lied als Drohperspektive. Auch kommt es in seinem Wesen, in seinen Auswirkungen überhaupt nicht in den Blick. Der Verweis auf das Gericht dient vielmehr der Motivation, 384 *Stuttgart 1842, *Basel 1854, *Stuttgart 1854, *Königsberg 1859; *Königsberg 1899 ändert Str. 4-6; *Frankfurt 1907 streicht Str. 4; bereits *Berlin 1853 streicht Str. 3 und 4, im Anhang findet sich zusätzlich die Originalfassung. 385 Brunners, Lieder, 110. 386 Auf diese Weise formuliert Spener seine „Hoffnung beserer Zeiten“ vor dem Jüngsten Tage; vgl. ders., Pia desideria, 43f. 387 Tatsächlich schließen sich Chiliasmus und Naherwartung des Gerichts im Pietismus häufig nicht aus, u.a. deshalb, weil die 1000 Jahre zuweilen nicht im wörtlichen, sondern im symbolischen Sinne als weit kürzerer Zeitraum verstanden wurden. So errechnete z.B. der holsteinische Pfarrer Paul Egard die Dauer des tausendjährigen Reiches auf drei Jahre neun Monate und den Anbruch des Jüngsten Gerichts auf das Jahr 1629 (vgl. Wallmann, Reich, 116). 388 Vgl. Kemper, Lyrik, 42.45. <?page no="350"?> 350 immerdar wachsam zu sein angesichts der ständig präsenten Versuchung durch Satan, Welt und eigenes Fleisch und um Bewahrung vor dieser Versuchung zu bitten. Die Perspektive des eschatologischen Gerichts wirkt somit in die Gegenwart hinein, indem sie die Abkehr von der Versuchung und die Hinwendung zu Gott bewirkt, die Buße und Umkehr. Hierin, und nicht im gerechten Tun, liegt die richtige und notwendige Vorbereitung auf das kommende Gericht. 389 4.6.4 Wirkungsgeschichte Mache dich, mein Geist, bereit ist in seiner Wirkungsgeschichte häufig und tiefgreifend verändert worden, auch in Bezug auf seine Gerichtsvorstellungen. Diese Veränderungen sollen im Folgenden untersucht werden. Die Strophen 1-2 sind in der obigen Analyse in erster Linie eschatologisch verstanden worden. Wie gesehen, ist jedoch nicht nur eine eschatologische, sondern auch eine diesseitige Deutung im Text angelegt, und zwar durch die Anspielungen auf Mt 24 und Mt 26. Für beide Deutungen gibt es in der Wirkungsgeschichte des Liedes Belege. Das EG geht wie bereits das *EKG zum Wortlaut des Originals zurück, jedoch mit einer kleinen Änderung, die eine Bedeutungsverschiebung zugunsten der eschatologischen Deutung bewirkt, wie noch zu zeigen sein wird. Im Original heißt es daß dich nicht die böse Zeit unverhofft betrete! Die böse Zeit ist demnach etwas, das dem/ der Einzelnen geschieht; wie im Folgenden ausgeführt, handelt es sich um die Versuchung. Die böse Zeit lässt sich in der Originalfassung deshalb sowohl als ein innerweltliches als auch als ein endzeitliches Geschehen verstehen. Aus einigen rationalistisch bearbeiteten Fassungen der Aufklärungszeit wird v.a. ein innerweltliches Verständnis ersichtlich. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel findet sich in *Hanau 1779 und *Wiesbaden 1779: Mache dich, mein Geist, bereit, Wachen, Flehn und Beten stärket uns zu jeder Zeit, hilft aus allen Nöten. Satans list kann der Christ, durch Gebet und Wachen leicht zu Schanden machen. 389 Einen solchen Aufruf zu Buße und Umkehr hat auch Spener in einer Predigt zu Mt 25 formuliert: Er charakterisiert die Gegenwart als „die zeit deß gerichtes“. Angesichts dessen dürfe man sich „nicht lassen zur sicherheit einschläffern“ angesichts der „gefahr“, sondern müsse sich „darauff recht schicken und bereiten. Wie aber bereiten? Allein mit wahrer buß“ (Spener, Sonntag, 920f., Hervorhebung getilgt). <?page no="351"?> 351 Hier ist Wachen, Flehn und Beten nicht mehr als notwendige Vorbereitung auf eine zukünftig eintretende böse Zeit dargestellt, sondern als „Allheilmittel“ angesichts unterschiedlicher Nöte der Gegenwart. Auch in *Mylius 1780 und *Kassel 1784 wird die böse Zeit als Versuchungsstunden, die der Einzelne gegenwärtig immer wieder erleidet, gedeutet: ...daß dein Herz zur bösen Zeit nicht von Gott abtrete. Ach schon ist mancher Christ von Versuchungsstunden plötzlich überwunden. Entsprechend wird hier in Str. 2 das Sündenschlaf-Motiv getilgt, das mit dem eschatologisch ausgerichteten Gleichnis von den zehn jungen Frauen in Verbindung steht: Auf dann, und ermuntre dich aus dem sichern Schlafe! Immer, glaub es, zeiget sich bald darauf die Strafe. Der fällt leicht, dem es deucht, daß er sicher stehe auf der Tugend Höhe. Auch die Strafe wird nicht als lang, d.h. als möglicherweise ewig, und damit als etwas Einmaliges verstanden, sondern als etwas, das immer wiederkehren kann, das gewissermaßen einen Erfahrungswert der Erzählstimme darstellt. Hier droht keine endzeitliche Not samt dem Tod, sondern eine irdische Strafe für die hybride Annahme der eigenen Tugendhaftigkeit. In anderen Neufassungen wird die erste Strophe ebenfalls diesseitig, die zweite aber eschatologisch gedeutet und dieser Aspekt noch verstärkt. So lauten z.B. in *Altona 1785 die ersten beiden Strophen folgendermaßen: Mache dich, mein geist, bereit; Wache, bet und strebe, Daß dir GOtt beständigkeit In der tugend gebe; Denn wie leicht Irrt und weicht, Wer sich sicher träumet, Und zu streiten säumet! Sage nicht: noch hab ich zeit; Izt noch darf ich schlafen. Denk an tod und ewigkeit; Denk an ihre strafen. Sieh! der tod, Der dir droht, Kann dich leicht in sünden Unbereitet finden. <?page no="352"?> 352 Die erste Strophe rekurriert auf das für die Zeit der Aufklärung charakteristische Thema der Tugend. Erst die zweite Strophe bringt den Aspekt des eschatologischen Gerichts ein, der strafen, die im Tod und in der Ewigkeit drohen. Gegenüber dem Original wird dieser Aspekt verstärkt. Wiederum ist die Befürchtung formuliert, unvorbereitet zu sterben. Auch klingt hier die matthäische Aufforderung, bereit zu sein für die Ankunft des Menschensohnes (24,44), an. Das Bereitschaftsmotiv ist hier wie bei Mt mit Motiv der Ungewissheit von Tag und Stunde, das eindringlich als zitierte Rede des „Geistes“ gestaltet ist. Die Vermutung ich habe Zeit ist ein ebensolcher Irrtum wie der Gedanke des Sklaven (24,48) und die Gelassenheit, die den schlafenden jungen Frauen in der traditionellen Deutung von Mt 25,1-13 zur Last gelegt wird. Insgesamt wird also in dieser Fassung die diesseitige Gefahr des Irrtums und des Abweichens vom Glauben (Str. 1) mit ihren Konsequenzen für das Endgericht verbunden. Eine weitere, den eschatologischen Aspekt der zweiten Strophe verstärkende Fassung findet sich in *Berlin 1829, deren erste Strophe mit der o.g. Altonaer Fassung übereinstimmt: 390 Säume nicht und wache auf Von dem Sündenschlafe, Sonst ereilt mit schnellem Lauf Dich Gericht und Strafe! Sieh, es droht Dir der Tod; Laß dich nicht in Sünden Unbereitet finden! Die lange Strafe des Originals wird hier explizit als Folge des Gerichts gedeutet, jedoch nicht mit diesem gleichgesetzt. Wiederum klingt die Mahnung aus Mt 24,44 „darum seid auch ihr bereit…“ an. Durch die Umwandlung des Indikativs (vgl. *Altona 1785) in den Imperativ Laß dich nicht… wird die Warnung zu einer dringlichen Mahnung. Das EG hat mit dem *EKG die Originalfassung der zweiten Strophe übernommen, die, wenn auch weniger deutlich als die genannten Varianten, eine Deutung auf das endzeitliche Gericht nahe legt. Die erste Strophe jedoch ist im EG gegenüber dem Original und auch gegenüber dem *EKG leicht verändert: …damit nicht die böse Zeit unverhofft eintrete, heißt es hier. Damit ist es nicht mehr möglich, die böse Zeit als Geschehen zu deuten, das jeden Menschen individuell ereilt - und damit möglicherweise auch innerweltlich. Das Deutungspotential verengt sich vielmehr auf ein universales, kollektiv erfahrenes Ereignis, nämlich die unverhofft eintretende Endzeit, die in Parusie und Gericht mündet. 390 Vgl. auch *Berlin 1853 (im Anhang findet sich zusätzlich die Originalfassung), *Hamburg 1862. <?page no="353"?> 353 Gegenstand zahlreicher Änderungen war auch die letzte Strophe, deren deutliche Gerichtsankündigung häufig verharmlost oder durch eine positive Vorstellung der Endzeit ersetzt wurde. Gute Beispiele hierfür sind zunächst die in den bereits genannten Gesangbüchern enthaltenen Fassungen des Liedes. In *Wiesbaden 1779 steht anstelle der Gerichtsankündigung die Bitte In der Not, in dem Tod laß uns Gnade finden, siegreich überwinden, die wiederum auf alle möglichen Lebenssituationen - aber auch auf die Auferweckungshoffnung - gedeutet werden kann. 391 Die vorher im Lied formulierte Aufforderung zum Gebet wird in dieser Fassung also direkt umgesetzt. Die Fassung in *Hanau 1779 führt demgegenüber die Anrede an den eigenen Geist weiter und formuliert die tröstliche Gewissheit: In der Not, in dem Tod wirst du auf dein Flehen vor dem Herrn bestehen. Im *Mylius 1780 fasst die Erzählstimme solche Gewissheit individuell und bezieht sie auf sich selbst: In der Noth, in dem Tod, werd ich froh bestehen; Gott wird mich erhöhen, heißt es hier. In biblischen Metaphern ist diese Gewissheit in *Kassel 1784 formuliert: 392 … und vermehrt sich die Gefahr Nie von Gott abtreten. Kurze Zeit währt der Streit und welch eine Krone wird mir dann zum Lohne. *Altona 1785 393 führt dagegen die Mahnung zum Wachen, Flehen und Beten weiter: Die erhörung des gebets Kann uns nicht entstehen. Darum, christen! laßt uns stets Wachen, kämpfen, flehen. Euch ist schon Euer lohn Bey dem HErrn bereitet; Wacht nur, betet, streitet. Ebenfalls als Zuspruch formuliert *Heidelberg 1788 die Erlösungsgewissheit: 394 …Drum, je näher die Gefahr und Versuchung treten, desto mehr mußt du fürwahr wachen, flehn und beten. Halt nur an! Denn Gott kann, und Gott will vom Bösen dich gewiß erlösen. 391 Ähnlich heißt es auch 100 Jahre später in *Wiesbaden 1879 Laß uns Hilfe finden, Alles überwinden! sowie in *Straßburg 1891 Laß uns Hilfe finden, Durch dich überwinden! 392 Ähnlich *Darmstadt 1816, *Frankfurt 1824, *Magdeburg 1850. 393 Vgl. auch *Speyer 1825. 394 Ebenso *Frankfurt 1791 und *Stralsund 1836. <?page no="354"?> 354 In den genannten Versionen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Originalfassung des Liedes mit einer unvermittelten Gerichtsankündigung endet und damit in einseitiger Weise eine Drohperspektive eröffnet. Mit den Änderungen wird der gesamte eschatologische Ausblick jedoch entweder ganz getilgt, so dass das Lied in einem reinen Gegenwartsbezug verbleibt, oder individualisiert. Die Fassung von *Berlin 1829 395 stellt demgegenüber eine Wiederannäherung an die Originalfassung dar: …und vermehrt sich die Gefahr, brünst’ger vor ihn treten; denn die Zeit ist nicht weit, da von allem Bösen Gott uns wird erlösen. Die eschatologische Ausrichtung des Originals ist in dieser Fassung übernommen, ihre Grundaussage aber wiederum ins Gegenteil verkehrt: 396 Von dem in naher Zukunft erwarteten Gericht wird nicht der Aspekt der Vernichtung betont, sondern es wird als Erlösung von allem Bösen vor Augen gestellt. Damit wird jedoch die im übrigen Lied so zentrale Mahnung zum Wachen, Flehen und Beten ein Stück weit konterkariert - sie wird eher zur Durchhaltestrategie angesichts des nahen Endes, das die Erlösung bringt. Insgesamt lässt sich in der Wirkungsgeschichte eine große Bereitschaft feststellen, dieses Lied grundlegend zu verändern, insbesondere in der Zeit der Aufklärung. Jedoch ist auch während der Restaurationszeit die Streichung der Strophen 3-6 häufig beibehalten worden, ebenso im *EKG und EG. Der Gerichtsgedanke wird in den überarbeiteten Versionen einerseits präzisiert (vgl. Str. 2), andererseits aber auch häufig in sein Gegenteil verkehrt zugunsten einer Erlösungsgewissheit, die aus dem Wachen, Flehen und Beten resultiert. Sie geht teilweise mit der Tendenz zur Individualisierung einher: Es geht dann nicht mehr um die Vernichtung der Welt, sondern um das Gericht über den Einzelnen. 4.6.5 Das Lied im Gottesdienst 4.6.5.1 Rollenangebote und Identifikationspotentiale In diesem Lied wird keine Geschichte erzählt, an der die Singenden teilhaben könnten. Es gibt auch keine Erzählfiguren zur Identifikation, sondern einzig die Erzählstimme, die sich im Gespräch mit ihrem eigenen Geist, 395 Vgl. auch *Berlin 1853, *Hamburg 1862. 396 Ebenso Liere/ Rindfleisch, Geschichte, 327. <?page no="355"?> 355 ihrem Selbst, befindet. Dieses Zwiegespräch wird gleichsam exemplarisch für ein Gespräch, das - angesichts des drohenden Gerichts - jede_r in sich selbst führen sollte. In ihm spiegelt sich die in Mt 26,41 formulierte Ambivalenz wider („der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“): Die Erzählstimme hat die Notwendigkeit zum Wachen erkannt und ermahnt sich nun gleichsam selbst, dies auch umzusetzen. Intendiert ist bei diesem Seelengespräch, wie gesehen, die Abwendung von der Versuchung und die Hinwendung zu Gott, der von der Versuchung befreien kann. Diese Hinkehr zu Gott ist jedoch ohne Abkehr nicht möglich, und die Abkehr kann erst vollzogen werden, wenn die Versuchungen thematisiert und in Augenschein genommen werden. Dies leisten in extenso die im EG gestrichenen Strophen 3-6, in nuce aber auch die Strophen 1-4 ebenda. Die Versuchungen - Feind, Fleisch, Welt und Sünden - sind als Leerstellen konzipiert, als Unbestimmtheitsstellen. Sie im Akt des Singens individuell zu füllen kommt einer Selbsterforschung gleich, die ebenfalls von diesem Text intendiert ist: Es geht um die Frage nach den Verführungen, denen sich das Individuum in seiner je eigenen Lebenswelt ausgesetzt sieht, wer z.B. die falschen Brüder sind und inwiefern das eigene Herz voller List ist. Feind, Fleisch, Welt und Sünden sind mithin Abstrakta, die der inhaltlichen Konkretion bedürfen. Also solche blicken sie auf eine ambivalente Wirkungsgeschichte zurück, die hier nur angedeutet sei: Der Feind, der Satan, kann als reale Größe statt als Metapher des Gegengöttlichen missverstanden werden, das Überwinden des Fleisches und der Welt konnotiert Leib- und Vergnügungsfeindlichkeit und Sünden (im Plural! ) werden oft im Sinne eines Tatbegriffs missverstanden. Daraus erklärt sich auch die Streichung derjenigen Strophen, die die Versuchung näher ausführen. Durch diese Streichung verlagert sich der Schwerpunkt nicht nur vom Wachen auf das Beten, sondern auch vom individuellen Seelengespräch auf die Verallgemeinerung der hier gewonnenen Erkenntnisse und damit vom Individuum auf die singende und betende Gemeinde. Das Rollenangebot der verbleibenden Strophen des „Seelengesprächs“ erschließt sich jedoch nicht immer eindeutig: Aufgrund der fortwährenden Imperativ-Anrede kann im Akt des Singens bald aus dem Blick geraten, dass es sich um die Anrede an das eigene Selbst, den eigenen Geist handelt. Es ergibt sich dadurch indirekt die Rolle von Predigthörer_innen, die zum Wachen und Beten ermahnt werden. 397 So erscheint das Lied tatsächlich als „Erweckungslied“. Dieses Rollenangebot ändert sich jedoch mit Str. 4: Die Singenden werden nun selbst zu Verkündigenden. Sie formulieren als Bekräftigung der Paränese die Hoffnung, dass Gott auf ihre Gebete antworten und sie mit seiner Gunst beschütten werde. Die beiden Strophen 4 und 5 haben den Cha- 397 Nicht umsonst hat Kulp, Geist, 410, dieses Lied als „Fortsetzung der Predigt mit poetischen Mitteln“ bezeichnet, deren Hauptinhalt die Heiligung ist. <?page no="356"?> 356 rakter des sich gegenseitig Mut Zusingens angesichts der Bedrohung durch Versuchung und Gericht. Umso abrupter und überraschender erscheint das Ende des Liedes mit seiner deutlichen Gerichts- und Vernichtungsansage. Diese hat ein deutliches Achtergewicht, bleibt also nach Verklingen des Liedes im Raum stehen und führt im Anschluss an die Hoffnungsperspektive noch einmal die Dringlichkeit der Mahnungen vor Augen. Sie durchbricht das im übrigen Lied angelegte Schema des Abwendens von der Versuchung und der Hinwendung zu Gott, indem sie die absolute Bedrohlichkeit dieses selben Gottes vor Augen stellt. Dieser Schluss kann erschrecken und Anstoß erregen - nicht umsonst ist er in der Wirkungsgeschichte des Liedes häufig durch eine gegenteilige Aussage ersetzt worden. Jedoch wird mit diesem Schluss auch die Plötzlichkeit, mit der das Gericht eintritt (Mt 24,42.44 u.ö.), nachempfunden; seine Ansage bricht mitten in die vorher skizzierte Hoffnungsperspektive hinein. Damit unterstreicht diese Strophe die Warnungen der ersten und zweiten Strophe, dass das Gericht unverhofft und unvermutet komme, auf dass - mit Spener gesprochen - „nicht … jemand verlohren werde (welches so viel mehrern begegnen würde/ wo er mit seinen gerichten allzuplötzlich einbräche) sondern daß sich jederman zur busse kehre“. 398 4.6.5.2 Das Lied im Kirchenjahr Die primär paränetische Ausrichtung des Liedes spiegelt sich in seiner Rubrikenzuordnung in Geschichte und Gegenwart: In seine unveränderten Fassung findet es sich häufig unter Rubriken, die die Wachsamkeit, das Gebet oder das christliche Leben zum Thema haben. So ist es in *Freylinghausen 1704/ 1742 unter „Von der geistlichen Wachsamkeit“ eingeordnet, in *Leipzig 1736 unter „Vom geistlichen wachen, kampf und sieg“, 399 in *Porst 1748 und *Berlin 1829 unter „Vom Gebet“, 400 in *Breslau 1772 unter „Vom christlichen Wandel“ und in *Wittenberg 1792 unter „Vom christlichen Leben überhaupt“. 401 Später wird es häufig unter „Heiligung“ o.ä. eingruppiert. 402 Im EG findet es sich unter „Umkehr und Nachfolge“, was seinen Kern gut trifft. Den „letzten Dingen“, dem Ende des Kirchenjahres oder gar der Adventszeit wird es m.W. in keinem Gesangbuch zugeordnet. Denkbar ist es am Buß- und Bettag sowie in Zusammenhängen, in denen der Aspekt der Umkehr betont werden soll. Am besten eignet es sich als Predigtlied, als Antwort sowohl des Einzelnen als auch der Gemeinde auf 398 Spener, Sonntag, 921 (Hervorhebungen getilgt). 399 Vgl. auch *Stuttgart 1842, *Marienwerder 1854, *Hamburg 1862. 400 Vgl. auch *Schleswig 1884, *Porst 1892. 401 Vgl. auch *Basel 1891, *Halle 1933, *EKG. 402 Vgl. *Stuttgart 1854, *Nürnberg 1855, *Königsberg 1899, *DEG 1915, *Halle 1933, *Bayern 1938, *Hamburg 1939. <?page no="357"?> 357 eine Predigt zu einer dem Lied verwandten Thematik. So kann es mit seiner „erwecklichen“ Sprache als provozierender Gegenpol zu volkskirchlichen Hör- und Singgewohnheiten fungieren. Problematisch für seine gottesdienstliche Verwendung erscheint jedoch die Kommunikationsstruktur der ersten Strophen, die zwischen Seelengespräch und direkter, paränetischer Anrede schwankt, die genannten Abstrakta, das im Lied vermittelte Gottesbild sowie der unvermittelt am Ende stehenden Gerichtsausblick. Deshalb sollte das Lied im Gottesdienst mit viel Bedacht eingesetzt werden. <?page no="358"?> 358 4.7 EG 412 So jemand spricht: „Ich liebe Gott“ 1. So jemand spricht: „Ich liebe Gott“, und hasst doch seine Brüder, der treibt mit Gottes Wahrheit Spott und reißt sie ganz darnieder. Gott ist die Lieb und will, dass ich den Nächsten liebe gleich als mich. 5. Ein Heil ist unser aller Gut. Ich sollte Brüder hassen, die Gott durch seines Sohnes Blut so hoch erkaufen lassen? Dass Gott mich schuf und mich versühnt, hab ich dies mehr als sie verdient? 2. Wer dieser Erde Güter hat und sieht die Brüder leiden und macht die Hungrigen nicht satt, lässt Nackende nicht kleiden, der ist ein Feind der ersten Pflicht und hat die Liebe Gottes nicht. 6. Vergibst mir täglich so viel Schuld, du Herr von meinen Tagen; ich aber sollte nicht Geduld mit meinen Brüdern tragen, dem nicht verzeihn, dem du vergibst, und den nicht lieben, den du liebst? 3. Wer seines Nächsten Ehre schmäht und gern sie schmähen höret, sich freut, wenn sich sein Feind vergeht, und nichts zum Besten kehret, nicht dem Verleumder widerspricht, der liebt auch seinen Bruder nicht. 7. Was ich den Armen hier getan, dem Kleinsten auch von diesen, das sieht er, mein Erlöser, an, als hätt ich’s ihm erwiesen. Und ich, ich sollt ein Mensch noch sein und Gott in Brüdern nicht erfreun? 4. Wir haben einen Gott und Herrn, sind eines Leibes Glieder, drum diene deinem Nächsten gern, denn wir sind alle Brüder. Gott schuf die Welt nicht bloß für mich, mein Nächster ist sein Kind wie ich. 8. Ein unbarmherziges Gericht wird über den ergehen, der nicht barmherzig ist, der nicht die rettet, die ihn flehen. Drum gib mir, Gott, durch deinen Geist ein Herz, das dich durch Liebe preist. 4.7.1 Einleitung Das letzte näher zu untersuchende Lied, So jemand spricht: „Ich liebe Gott“, entstammt der Zeit der Aufklärung. Sein Verfasser ist Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), einer der wichtigsten Lieder- und Fabeldichter des 18. Jahrhunderts sowie außerordentlicher Professor für Dichtung, Beredsamkeit und Moral an der Universität in Leipzig. 403 Das Lehrgedicht 404 So jemand spricht: „Ich liebe Gott“ entstammt seiner 1757 erschienenen Sammlung „Geistliche Oden und Lieder“. Die in der Sammlung enthaltenen Lieder sollen die christliche Religion dem Verstand und dem Herzen durch „Unterricht“ und „Empfindung“ einprägen und wurden schnell populär. 405 Theologisch ist Gellert der Aufklärung verpflichtet, v.a. ihren Vernunft- und 403 Vgl. Bautz , Gellert, 200. 404 In seiner Vorrede unterscheidet Gellert zwischen „Lehroden“ und „Oden für das Herz“ (Vgl. Gellert, Oden, 108). 405 Vgl. Fleinghaus, Gellert, 107. <?page no="359"?> 359 Moralbegriffen. Daraus resultiert auch seine „Forderung nach tugendhafter Lebensführung aus christlichen Motiven“. 406 Das zentrale Thema des Liedes ist das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. 407 Dieses Thema wird u.a. mittels mehrerer Anspielungen auf Mt 25,31-46 sowie der thematisch verwandten Perikope Jak 2,12-17 ausgestaltet (vgl. v.a. Str. 1-2.13-14 resp. 7-8). Der im EG stark gekürzte Mittelteil des Liedes enthält verschiedene gleichzeitig erzählte, gleichsam zeitlose Beispiele des Umgangs mit den Nächsten, die mindestens zum Teil negativ bewertet werden. Auf diese Weise wird eine differenzierte Betrachtung des Themas der Nächstenliebe ermöglicht. Auch zahlreiche rhetorische Fragen fordern zu einem eigenen moralischen Urteil heraus. Abschließend findet sich die Ankündigung des Gerichts, deren Ausgang vom Praktizieren der Nächstenliebe abhängt. 4.7.2 Analyse und Intertexte 4.7.2.1 Liedanalyse Die erste Strophe umreißt das Thema des Liedes: die Unvereinbarkeit der Liebe zu Gott mit der Lieblosigkeit den Mitmenschen gegenüber, weil Gott die Liebe ist - so ist es mit Rekurs auf 1 Joh 4,16.20 und das Gottes- und Nächstenliebegebot (Mt 22,37-39 parr.) formuliert. Sämtliche Leitwörter des Liedes fallen bereits in dieser Strophe: Liebe/ lieben, Gott, Brüder, Nächster. Die folgenden beiden mit Wer… eingeleitete Strophen illustrieren den geschilderten Sachverhalt mit Negativbeispielen: beide enthalten jeweils drei Mal die Negation nicht. Das Beispiel in Strophe 2 rekurriert nicht nur auf 1 Joh 3,17, sondern auch auf die Urteilsbegründung für die zur Linken Stehenden in der matthäischen Endgerichtsszene (Mt 25,35f.). Aus der Aufzählung der unterlassenen Taten werden die beiden elementarsten menschlichen Bedürfnisse herausgegriffen: Nahrung und Kleidung (vgl. auch Jak 2,15f.). Der Liedtext bezieht sich in seiner gleichzeitigen Erzählweise jedoch nicht auf das Verhalten in der Vergangenheit, das beurteilt wird. Er zielt vielmehr auf die jeweilige Gegenwart der Singenden ab und konfrontiert sie mit der Frage nach dem eigenen Verhalten notleidenden Menschen gegenüber. Die Bewertung des geschilderten Verhaltens folgt nämlich sogleich: Wer so handelt, übertritt das Gebot der Nächstenliebe, das hier in aufklärerischer Manier als die erste Pflicht bezeichnet wird (vgl. auch Röm 13,9f.; Gal 5,13). Die dritte Strophe ist parallel zur zweiten gestaltet und enthält ein weiteres Negativbeispiel, das dem Nächstenliebegebot widerspricht: Üble 406 Fleinghaus, Gellert, 107. 407 Im Original trägt es die Überschrift „Die Liebe des Nächsten“. Zu Recht hat M. Sitzmann das Lied jedoch als „poetische Form des Doppelgebotes der Liebe … (vgl. Mt 7,12; 22,37-39)“ aufgefasst. (Sitzmann, Gott, 76). Vgl. auch Stählin, Lied, 149. <?page no="360"?> 360 Nachrede sowie Schadenfreude einem Feind gegenüber (vgl. Spr 24,17). Die Strophe ist eine Kurzfassung von Luthers Auslegung des achten Gebots im Großen Katechismus. 408 Im Original folgen an dieser Stelle vier weitere Wer-Strophen mit weiteren Negativbeispielen, 409 deren geistiger Hintergrund in der zeitgenössischen Moralphilosophie, v.a. in Gellerts „Moralischen Vorlesungen“ zu suchen ist. 410 Als Nicht-Liebende werden hier diejenigen charakterisiert, die statt aus Gehorsam und Pflichtgefühl aus Stolz, Eigennutz und Weichlichkeit helfen (Str. 4) 411 oder nur auf Bitten der Bedürftigen statt aus eigener Initiative (Str. 5), die diejenigen, denen sie helfen, gleichzeitig beschimpfen und 408 Vgl. u.a. Luther, Gr.Kat., 170: „Denn es ist ein gemeine, schedliche plage, das yderman lieber böses denn guts von dem nehisten höret sagen…“ 409 4. Wer zwar mit Rath, mit Trost und Schutz / Den Nächsten unterstützet, / Doch nur aus Stolz und Eigennutz, / Aus Weichlichkeit ihm nützet; / Nicht aus Gehorsam, nicht aus Pflicht; / Der liebt auch seinen Nächsten nicht. 5. Wer harret, bis ihn anzuflehn, / Ein Dürftger erst erscheinet, / Nicht eilt, dem Frommen beyzustehn, / Der im Verborgnen weinet; / Nicht gütig forscht, obs ihm gebricht; / Der liebt auch seinen Nächsten nicht. 6. Wer andre, wenn er sie beschirmt, / Mit Härt und Vorwurf quälet, / Und ohne Nachsicht straft und stürmt, / So bald sein Nächster fehlet; / Wie bleibt bey seinem Ungestüm / Die Liebe Gottes wohl in ihm? 7. Wer für der Armen Heil und Zucht / Mit Rath und That nicht wachet, / Dem Uebel nicht zu wehren sucht, / Das oft sie dürftig machet; / Nur sorglos ihnen Gaben giebt, / Der hat sie wenig noch geliebt. 8. Wahr ist es, du vermagst es nicht, / Stets durch die That zu lieben. / Doch bist du nur g eneigt, die Pflicht / Getreulich auszuüben, / Und wünschest dir die Kraft dazu, / Und sorgst dafür: so liebest du. 9. Ermattet dieser Trieb in dir: / So such ihn zu beleben. / Sprich oft: Gott ist die Lieb, und mir / Hat er sein Bild gegeben. / Denk oft: Gott, was ich bin, ist dein; / Sollt ich, gleich dir, nicht gütig seyn? 410 Sitzmann, Gott, 77, verweist v.a. auf die 21. Vorlesung, in der Gellert die Themen „Menschenliebe“, „Vertrauen auf Gott“, „Ergebung in seine Schickungen“ und „Eigenschaften des Herzens, ohne die kein wahres Glück Statt finden kann“ verhandelt. Obwohl „die Streichung der angeführten Strophen einer heutigen Rezeptionsmöglichkeit des Gellert-Liedes durchaus entgegen“ komme, so Sitzmann, „verunklart sie damit das Bemühen Gellerts, biblische Aussagen und zeitgenössische moralphilosophische Konzepte zu einem harmonischen Ganzen zu verschmelzen“. 411 Dies verweist auf Kants Interpretation von Mt 25,31-46, die seine Pointe gerade darin sieht, dass die „Gerechten“ nicht gewusst haben, dass sie gottgefällig und sich selbst zum Heil handeln (vgl. dazu Luz, Mt 3, 522). Hintergrund ist die Kantsche Gesinnungsethik. So bemerkt auch Stählin, Lied, 149: „Der Vers ist zweifellos eine Bestätigung dafür, daß Kant der eigentliche Kirchenvater des Protestantismus ist, daß er aber eben kein wirklicher Kirchenvater ist.“ Auch im übrigen Werk Gellerts ist die Gesinnungsethik ein zentrales Thema. Exemplarisch sei hierfür die letztes Strophe seines Gedichtes Der Kampf der Tugend zitiert, wo die Gesinnungsethik eine tröstende Funktion hat: Und endlich, Christ, sey unverzagt, / Wenn dirs nicht immer glücket; / Wenn dich, so viel dein Herz auch wagt, / Stets neue Schwachheit drücket. / Gott sieht nicht auf die That allein, / Er sieht auf deinen Willen. / Ein göttliches Verdienst ist dein! / Dieß muß dein Herze füllen. (Vgl. Gellert, Schriften, 118-121). <?page no="361"?> 361 bestrafen (Str. 6), und schließlich diejenigen, die den Armen Almosen geben statt die Ursachen ihres Elends zu bekämpfen (Str. 7). In zwei weiteren Strophen wendet sich die Erzählstimme an ein fiktives Gegenüber und erläutert die Einsicht, dass niemand ständig durch Taten lieben kann. Trotzdem gelte es, seine Pflicht zu erfüllen, um Kraft dafür zu bitten und sich die eigene Ebenbildlichkeit des liebenden, gütigen Gottes vor Augen zu halten. Die folgenden, wieder im EG enthaltenen Strophen 4 und 5 blicken auf Gottes Heilstaten zurück, die Schöpfung und den Kreuzestod Jesu. Auf diese Weise betont die Erzählstimme ihre Zusammengehörigkeit mit ihren Geschwistern (1 Kor 8,6; 12,12), die es zu lieben und denen es zu dienen gilt (Mt 25,40), 412 weil die Heilstaten ihnen genauso wie ihm selbst galten. So spricht die Erzählstimme von diesem Punkt an nicht mehr in der zweiten Person Singular zu einem fiktiven Gegenüber, das sie ermahnt, oder in der dritten Person Singular über negative Vorbilder in Bezug auf die Gottes- und Nächstenliebe, sondern bezieht sich selbst in die Glaubensaussagen mit ein; sie ist nicht mehr heterosondern homodiegetisch. In Strophe 6 wendet sich die Erzählstimme schließlich im Gebet an Gott. Sie bezieht sich darin auf seine tägliche Vergebung der Schuld in der Gegenwart, 413 aus der wiederum resultieren sollte, auch den von Gott ebenso geliebten Geschwistern zu verzeihen. Die Liebe und Barmherzigkeit ihnen gegenüber ist, so wird es hier deutlich, als menschliche Antwort auf Gottes Liebe verstanden. Diese Aussage wird der folgenden siebten Strophe noch gesteigert, und zwar wiederum mit Rekurs auf Mt 25: Die Bezeichnung der Hilfsbedürftigen als Arme 414 fasst noch einmal den in Str. 2 geschilderten Mangel zusammen; durch die Erwähnung des Kleinsten wiederum wird an die Urteilsbegründung der Endgerichtsszene (Mt 25,40) angespielt. Im Lied kommt ausschließlich die Seite der „Gerechten“ in den Blick, mit denen sich die Erzählstimme identifiziert. Der richtende „König“ wird dabei ganz selbstverständlich mit dem Erlöser gleichgesetzt, so dass zwei zunächst als gegensätzlich erscheinende Gottesbzw. Jesusbilder miteinander verknüpft werden. Damit wird der Blick auf die gesamte Heilsgeschichte geöffnet. Der Gedanke der Identifikation des Richters mit den Geringsten wird jedoch abgeschwächt: Was ich den Armen hier getan / .... / das sieht er, mein Erlöser, an / als hätt ich’s ihm erwiesen. 415 Dieser Jesus ist nicht unmittelbar vom Leiden der 412 Vgl. auch Luther, Gr.Kat., 174: „Die gelieder des leibs, so uns duncken die schwechsten sein, sind die nötigsten, und die uns düncken die unehrlichsten sein, den selbigen legen wir am meisten ehre an, und die uns ubel anstehen, die schmückt man am meisten.“ 413 Im Original lautet der Anfang dieser Strophe Du schenkst mir täglich so viel Schuld… 414 Im Original heißt es den Frommen; durch die Änderung in den Armen im EG erfolgt eine Annäherung an Mt 25,31-46. 415 Hervorhebung A. S. <?page no="362"?> 362 Armen und Geringgeschätzten betroffen. Dieser Erlöser wird nicht radikal Mensch und macht sich damit auch verletzbar, sondern er bezieht erst im Nachhinein Position. In diesem Punkt bleibt das Lied also hinter dem Matthäustext zurück. Der Gedanke der Identifikation des Richters mit den Geringsten dient hier wiederum der Motivation, den Geschwistern zu dienen: So schließt die Strophe wie schon die vorangehenden beiden mit einer rhetorischen Frage, die auf die Motivation abzielt, Gott in Brüdern zu erfreun. Die letzte, achte Strophe blickt proleptisch auf das letzte Gericht. Ihre ersten beiden Zeilen bilden einen Parallelismus mit Binnenreim, der den Zusammenhang zwischen der eigenen Barmherzigkeit in der Gegenwart und dem zukünftigen Ergehen im Gericht verdeutlicht. Der bedrohliche Effekt wird durch die Lautung (Gericht - nicht - nicht) noch verstärkt. So liegt auch hier der Fokus auf denen „zur Linken“, auf einem Menschen, der nicht / die rettet, die ihn flehen. Im Gegensatz zum Schlusssatz Mt 25,46, der die Alternative „ewige Strafe - ewiges Leben“ vor Augen stellt, kommt hier nur die erste Möglichkeit in den Blick. Die zweite ist bereits in Str. 7 indirekt zum Tragen gekommen, so dass Str. 7 und 8 den „doppelten Ausgang“ des Gerichts nach Mt 25,31-46 nachempfinden, wobei ein expliziter Bezug zur Gerichtsthematik, wie gesehen, erst in Str. 8 hergestellt wird. Dieser Bezug kommt überraschend, wirkt als Drohung und damit als abschließende Verstärkung der Motivation zur Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Die Hoffnungsperspektive kommt jedoch in der abschließenden Fürbitte zum Tragen (Lautung: gib - Gott - Geist): Die Erzählstimme bittet um ein Herz, das dich durch Liebe preist. So werden beide Aspekte, Gottesliebe und Liebe den Geschwistern gegenüber, in eins gedacht. Es geht nicht um Taten, um Barmherzigkeit allein, sondern um das Lob Gottes durch das Tun an den Nächsten. 4.7.2.2 Die Gedichte Der thätige Glaube und Betrachtung des Todes als Intertexte Die Ethik ist ein zentrales Anliegen der Aufklärungstheologie, und dazu passt Mt 25,31-46 (zumal in seiner ethischen Auslegung) sehr gut. Gellert betont immer wieder, dass der Glaube Taten der Liebe nach sich ziehen müsse - so auch in seinem Gedicht Der thätige Glaube aus der Sammlung „Geistliche Oden und Lieder“ der Fall (Str. 2): 416 Der Glaube, den sein Wort erzeugt, Muß auch die Liebe zeugen. Je höher dein Erkenntniß steigt, 416 Gellert, Schriften, 134f. <?page no="363"?> 363 Je mehr wird diese steigen. Die Glaub erleuchtet nicht allein; Er stärkt das Herz und macht es rein. Zum Glauben muss jedoch ein Zweites dazukommen, weil gilt (Str. 4): …Ein täglich thätig Christenthum, / Das ist des Glaubens Frucht und Ruhm. Das Fazit des Liedes der Kernaussage von EG 412: Gott ist die Lieb; an seinem Heil / Hat ohne Liebe niemand Theil. Die zuletzt zitierten Verse deuten es bereits an: Auch vor Gottes Gericht ist es der durch die Liebe tätige Glaube, die zählt. So wird es auch in dem ebenfalls in Gellerts Sammlung enthaltenen Gedicht Betrachtung des Todes deutlich (Str. 5-10): 417 Im Gericht kommt alles an das Licht …, was hier verborgen war (Str. 5). Deshalb gilt es den eigenen Glauben zu prüfen, Ob er durch Liebe thätig ist (Str. 6). Es genügt nämlich nicht der Wunsch, durch des Erlösers Tod / Vor Gottes Thron gerecht zu seyn (Str. 7), sondern Ein gläubig Herz, von Lieb erfüllt,/ Dieß ist es, was in Christo gilt (Str. 8). Daher gilt es nach der Heiligung, obwohl sie gottgewirkt ist, zu streben, Als wäre sie ein Werk von dir (Str. 9). Ziel irdischen Strebens ist daher Folgendes (Str. 10): Der Ruf des Lebens, das du lebst, Dein höchstes Ziel, nach dem du strebst, Und deiner Tage Rechenschaft Ist Tugend in des Glaubens Kraft. Das Gericht selbst ist hier individuell gedacht: Es findet nach dem Tod des Einzelnen statt, sein universaler Aspekt spielt keine Rolle, ebenso wenig seine Naherwartung. Betont wird einzig das aus dem Glauben resultierende, moralisch integre Leben in der Gegenwart. In diesem Sinne kann Gellert auch die Sklavengleichnisse der Endzeitrede deuten, wie in seinem Morgengesang 418 (Str. 7f.): Die Erzählstimme bittet um ein weises Herz, das seine Pflicht / erkenn und willig tue: Daß ich, als ein getreuer Knecht, Nach deinem Reiche strebe, Gottselig, züchtig und gerecht Durch deine Gnade lebe. Die Intertexte Mt 25,45-51 und 25,14-30 werden durch das Stichwort getreuer Knecht aufgerufen, Gottselig, züchtig und gerecht stellt bereits eine Deutung des v.a. im ersten Gleichnis beschriebenen Pflichtbewusstseins des ersten Sklaven dar, und zwar im Sinne aufklärerischer Tugendethik. Als Eingehen 417 Gellert, Schriften, 221f. 418 Vgl. Gellert, Schriften, 140f. In EG 451 findet sich unter der Überschrift Mein erst Gefühl sei Preis und Dank eine Vertonung dieses Gedichtes. <?page no="364"?> 364 in das Reich Gottes ist wiederum die jeweilige Belohnung der Sklaven gedeutet, die sie sich durch ihr Handeln verdient haben. Es ist das Abzielen auf eigene Tun, die eigene Tugendhaftigkeit, die die zitierten Gedichte mit So jemand spricht: „Ich liebe Gott“ gemeinsam haben. Zwar wird dieses Tun durch die Gnade Gottes ermöglicht, aber der hieraus erwachsende ethische Anspruch steht deutlich im Mittelpunkt. Der Gedanke des endzeitlichen Gerichts fungiert als Motivationshilfe ethischen Handelns in der Gegenwart. Dies ist eines der Deutungspotentiale des Liedes im Hinblick auf den Gerichtsgedanken, die im Folgenden dargestellt werden sollen. 4.7.3 Zum Gericht Wie gesehen, ist das Gericht und überhaupt Eschatologie nicht das primäre Thema des Liedes. Prägend sind vielmehr die für die Zeit der Aufklärung generell charakteristische ethische Perspektive sowie eine starke Diesseitsorientierung. 419 Das Gerichtsthema wird jedoch durch die zahlreichen Bezüge auf Mt 25,31-46 eingespielt. Explizit zum Thema wird es in der letzten Strophe. Auch ist es in seiner Gesamtheit von Beurteilungen geprägt, die die Erzählstimme über Beispielcharaktere fällt. Das Gericht wird hier zwar noch nicht explizit thematisiert, steht jedoch durch die genannten Anspielungen bereits an dieser Stelle im Hintergrund. In seiner Gesamtheit bleibt das Lied in seinem Aussagegehalt zumeist dicht an den biblischen Texten. Insbesondere Mt 25,31-46 spitzt es zu und konfrontiert auf diese Weise die Singenden mit einer seiner zentralen Aussagen: der eschatologischen Relevanz des eigenen Tuns in der Gegenwart. Nicht nur dadurch wirkt es an vielen Stellen moralisierend. 420 Zwar wird auch in den im EG ausgelassenen Str. 8f der Konflikt formuliert, dass es unmöglich sei, Stets durch die That zu lieben, und mit dem Verweis auf die zur Zeit der Aufklärung so populäre Gesinnungsethik aufgelöst. Jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Erzählstimme letztlich ein Urteil anmaßt, das nur dem eschatologischen Richter zusteht (Str. 13, vgl. Mt 7,1f.). Ein Stück weit relativiert wird dieser Eindruck jedoch durch die abschließende Fürbitte: Der Mensch hat es nicht allein in der Hand, ob er zur Barmherzigkeit in der Lage ist, sondern er muss Gott bitten um ein Herz, das dich durch Liebe preist. Denn um Gottesliebe und um Gottes Liebe geht es letztlich - nur bleibt letztere nicht abstrakt, sondern wird - ebenfalls gut 419 In diesem Sinne wurden, wie sich in den vorhergehenden Liedanalysen gezeigt hat, zur Zeit der Aufklärung auch ältere Liedtexte häufig verändert. 420 In diesem Sinne kritisiert auch Fleinghaus, Gellert, 107f., Gellerts Gesamtwerk: „Bei aller Gewandtheit im Umgang mit Vokabeln, Inhalten und Versmaßen leidet sein eigener Stil … unter Eintrübungen, sei es der Mangel an eigener Erfindungskraft und eigenen Bildern, an Symbolik, der ständig moralisierende Ton, sei es demgegenüber die allzu rührselige Sprache in absichtsvoll aufs Herz gerichteter Poesie. Aber der Leser spürt auch etwas von Ehrlichkeit eines gläubigen Christen.“ <?page no="365"?> 365 biblisch - mit Gottes Gerechtigkeit und Parteinahme für die Armen, Geringen und Hilfebedürftigen zusammengedacht. Hierin liegt die Stärke dieses Liedes. 4.7.4 Wirkungsgeschichte Das Lied entstammt einer Zeit, in der massiv in poetische Texte eingegriffen wurde - und so ist es auch hier der Fall. Dies betrifft Kürzungen, 421 aber auch zahlreiche Änderungen des Originaltextes. Das in der ersten Strophe formulierte Urteil, dass jemand, der von sich selbst zu behauptet, Gott zu lieben, aber seine Geschwister hasst, mit Gottes Wahrheit Spott treibe, ist ein deutliches. Vielen Bearbeitern des Liedes scheint es jedoch nicht deutlich genug gewesen zu sein. So wird ein solcher Mensch als Lügner bezeichnet; liebt' er Gott, so liebt' er auch die Brüder (*Altona 1785), als einer, der noch nicht den wahren Gott kennt (*Leipzig 1796), der Spott treibt mit mit dem Glauben (*Ulm 1797, *Lippstadt 1830), mit Jesu Liebe (*Berlin 1829) oder gar mit Jesu Lehre (*Berlin 1853). Die anschließende Formulierung des Nächstenliebegebotes, in der folgenden Strophe mit Hilfe von Allusionen auf Mt 25 illustriert, mündet in ein weiteres Urteil: Wer dem skizzierten Negativbeispiel folgt, ist ein Feind der ersten Pflicht; d.h., wie es in der Wirkungsgeschichte zusehends deutlicher und tw. drastischer formuliert wird, der haßt des Christen schönste Pflicht (Altona 1785), er übertritt sie (*Kassel 1784), 422 sündigt an ihr (*Speyer 1825, *Hamburg 1862) und ist ihr untreu (*Sibiu 1974). Die erste Pflicht, d.h. das Nächstenliebegebot, zu übertreten bedeutet, so urteilt die Erzählstimme, die Liebe Gottes nicht zu haben, also nicht so zu lieben, wie Gott liebt. Später wurde oft der Umkehrschluss aus dem bisher Gesagten gezogen: Wer behauptet, Gott zu lieben, aber seinen Brüdern nicht beisteht, liebt den Gott der Liebe nicht (*Kassel 1784). Häufiger noch wird an dieser Stelle das Wort direkt an Gott gerichtet, wie es im Original erst in Str. 12 und 14 geschieht: und liebt dich, Gott der Liebe! nicht 421 Vor allem die Strophen 2-9 werden von Anfang an häufig gestrichen (*Berlin 1766, *Zwickau 1778, *Hanau 1779, *Mylius 1780, *Heidelberg 1788, *Leipzig 1796, *Straßburg 1802, *Darmstadt 1815, *Frankfurt 1824, *Stralsund 1836, *Stuttgart 1842, *Hamburg 1843, *Basel 1891, *Straßburg 1891, *Frankfurt 1907, *Halle 1933, *Bayern 1938, *Zürich 1952) oder nur die Strophen 3-9 (*Wiesbaden 1879, *Königsberg 1899, *Straßburg 1899, *Karlsruhe 1973, *Sibiu 1974). Wo Str. 2-9 beibehalten sind, sind sie häufig verändert. Aber auch alle anderen Strophen, mit Ausnahme der ersten und der letzten, werden zuweilen gestrichen. Vollkommen ungekürzt wird das Lied nur selten abgedruckt, und auch dann erfolgen häufig kleinere Änderungen; so in *Braunschweig 1779, *Wiesbaden 1779, *Kassel 1784, *Frankfurt 1791, *Wittenberg 1792, *Königsberg 1815, *Speyer 1825. Die letzte mir bekannte ungekürzte Version findet sich in *Königsberg 1859. 422 Ebenso *Berlin 1829/ 33, *Königsberg 1859, *Königsberg 1899, *Wiesbaden 1900, *Karlsruhe 1973. <?page no="366"?> 366 (*Wiesbaden 1779). 423 Diese zuletzt genannten Änderungen sind naheliegend, da die folgenden Strophen im selben Duktus enden: ...Der liebt auch seinen Bruder nicht (Str. 3); ...Der liebt auch seinen Nächsten nicht (Str. 4.5). All diese Negativbeispiele und Ermahnungen (Str. 3-9), die in der Folgezeit vielfach gekürzt wurden, ohne dass die Kernaussagen des Liedes darunter gelitten hätten, werden schließlich mit positiven Aussagen und rhetorischen Fragen in Str. 10-13 kontrastiert. Str. 13 enthält, wie gesehen, eine deutliche Anspielung auf das Urteil des Menschensohn-Königs über die Gerechten (Mt 25,40), in dem er sich mit den Geringsten identifiziert und das die Gerechten schließlich zur Teilhabe am ewigen Leben führt. Nicht umsonst bezeichnet die an dieser Stelle homodiegetische Erzählstimme diesen König als mein Erlöser und formuliert damit indirekt die Hoffnung, im Gericht bestehen zu können. In der Wirkungsgeschichte wurde zuweilen die Anspielung auf Mt 25,40 präzisiert und dem biblischen Wortlaut angenähert: Bei Mt geht es nicht um Menschen, die durch Glauben bzw. Frömmigkeit charakterisiert sind, 424 sondern um notleidende „geringste Geschwister“. So spiegelt sich in *Kassel 1784 die universale Deutung der matthäischen avdelfoi, auf alle Menschen wider: Was ich den menschen hier gethan, Dem kleinsten auch von diesen… Nach dieser Deutungsrichtung ist es gerade nicht von Bedeutung, wem geholfen wird, sondern dass geholfen wird und dass sich Jesus mit allen, die der Hilfe ihrer Mitmenschen bedürfen, identifiziert. Diese Mit-Menschlichkeit wird in der Kasseler Version betont: Durch die Änderung von Frommen in menschen wird der Fokus auf die Menschlichkeit und damit auf die Ebenbürtigkeit der Erzählstimme mit Dem kleinsten gelenkt. Dies macht auch die rhetorische Frage nach der eigenen Humanität, die häufig verändert wurde (s.u.), in dieser Version stimmiger. Die Version in *Speyer 1825 vermeidet dagegen das Problem der Deutung der Brüder, indem sie sich eingangs am Luthertext orientiert: Was ich den Brüdern hier gethan, auch Niedern und Geringen, das sieht der Herr als Opfer an, das wir ihm selber bringen. Wie könnt ich sein Verehrer sein und ihn in Brüdern nicht erfreun? Problematisch erscheint hier jedoch die Rede vom Opfer, da sie die Pointe des Nächstenliebegebotes verfehlt. Die rhetorische Frage ist hier zugespitzt auf die Beziehung zu Jesus, dem „Herrn“, die etwas unbeholfen als „Verehrung“ charakterisiert ist. Treffender ist die zur Zeit der Aufklärung auf- 423 Ebenso *Frankfurt 1791, *Speyer 1825, *Königsberg 1859, *Wiesbaden 1879. 424 So formuliert es jedoch - neben der Mehrzahl der Gesangbücher, in denen diese Stelle nicht verändert wurde - auch *Altona 1785: Nehm ich mich deiner Frommen an... <?page no="367"?> 367 kommende und bis in das 20. Jh. hinein rezipierte Version Wie könnt ich doch dein Jünger sein (*Altona 1785) 425 bzw. Wie könnt ich Jesu Jünger sein (*Berlin 1829/ 33/ 86) oder das wieder mehr an das Original angenäherte Und ich, ich sollt ein Jünger sein…? (*Sibiu 1974). Letztere Version bezieht sich zudem durch den Strophenanfang Was ich dem Nächsten hier getan auf das Gebot der Nächstenliebe und gleicht die Formulierung statt an Mt 25 an Str. 1 an. Die Formulierung des EG schließlich, Was ich den Armen hier getan, rekurriert stärker als die Originalversion auf die in der Endgerichtsszene geschilderten Notsituationen und ist daher in diesem auf diese Szene Bezug nehmenden Kontext dem Original vorzuziehen. Die 14. Strophe, in der der Gerichtsgedanke explizit formuliert ist, wird m.W. nie weggelassen, manchmal verändert, aber selten entschärft. Der Gerichtsgedanke selbst wird lediglich in einem Fall (*Sibiu 1974) ganz getilgt, indem Str. 12 und 14 kombiniert werden. 426 Die Strophe skizziert die Möglichkeit, im Gericht negativ beurteilt zu werden. Im Gegensatz zu Mt 25,45 sieht die Erzählstimme den Erlöser in diesem Fall nicht mehr als involviert an; Satzsubjekt ist vielmehr das unbarmherzige Gericht selbst, das über die Unbarmherzigen hereinbrechen wird. Die letzte Strophe steht in diesem Punkt in Dialogizität zu Mt 25,31-46. Ohnehin ist die Intensität ihres Bezuges auf Jak 2,13 stärker und implizit durch seinen emphatischen Gebrauch 427 markiert. Aus der Wirkungsgeschichte des Liedes wird jedoch deutlich, dass dieser Bezug des öfteren nicht erkannt oder als nicht wichtig genug empfunden wurde gegenüber dem Ansinnen, den Gerichtsgedanken zu konkretisieren. So heißt es z.B. im Gesangbuch von *Kassel 1784: Ein streng und höchst gerecht gericht Wird über den ergehen, der liebreich seinem nächsten nicht In noth eilt beyzustehen... Durch diese Neuformulierung wird betont, dass das Gericht Gottes in keiner Weise unangemessen oder gar willkürlich sein wird, wie es das Adjektiv unbarmherzig nahe legen könnte. Der Fokus liegt vielmehr auf seiner Gerechtigkeit, so dass diese Version die Assoziation des biblischen Verständnisses des Gerichtes als Geschehen, in dem Gott seine Gerechtigkeit durchsetzt, erlaubt. Dass in einem solchen Gericht streng und mit Bestimmtheit über die Menschen geurteilt wird, ist dabei impliziert. Dennoch und gerade deswegen ist es gerecht, so betont es noch stärker - und auch sprachlich gekonnter - die Fassung in *Speyer 1825: Ein strenges, doch gerecht Gericht... 425 Vgl. *Hamburg 1862: wohl; *Straßburg 1891: noch. 426 Du schenkst mir täglich so viel Schuld … Drum gib mir, Gott, durch deinen Geist... 427 Parallelismus mit Binnenreim; vgl. die Analyse der achten Strophe unter 4.7.2.1. <?page no="368"?> 368 Eine Moralisierung und Verschärfung gegenüber dem Original stellt demgegenüber die Fassung in *Berlin 1829 dar: Ein unerbittliches Gericht wird über den ergehen, der, untreu, seiner Christenpflicht, nicht rettet, die ihn flehen... Hier ist nicht nur der Parallelismus verloren gegangen, sondern mit ihm auch der Bezug auf Jak 2,13 und den hier formulierten Appell an die Barmherzigkeit. Diese wird dort mit dem Hinweis auf die Fürsorge für diejenigen, denen es an Kleidung und Nahrung mangelt, konkretisiert (Jak 2,14) - auch im matthäischen Sinn. Der Begriff der Barmherzigkeit, der zumindest zum Teil auf eine Gefühlsregung rekurriert, das Angerührtsein z.B. durch das Leid anderer, wird ersetzt durch das Abstraktum Christenpflicht. Ihr gilt es treu zu sein, weil ansonsten ein Gericht droht, in dem die richtende Instanz nicht nur unbarmherzig, d.h. emotionslos, richtet, sondern unerbittlich, d.h. auf keinerlei Bitten oder Einsprüche reagierend. Generell hat dieser dritte und vierte Vers der letzten Strophe am meisten Anlass zur Veränderung geboten. Er mag als Widerspruch zur fünften Strophe empfunden worden sein, 428 die in der Formulierung der Gesangbücher *Kassel 1784 und *Altona 1785 anklingt: ...der lieblos seinem Nächsten nicht in Not eilt beizustehen..., heißt es hier. Gott recht zu lieben bedeutet, so ist es in dieser Version impliziert, nicht nur des Nächsten Flehen zu erhören (*Straßburg 1802). Vielmehr gilt es, ungefragt und ungebeten Armen beizustehen (*Heidelberg 1788) - bzw. in der Formulierung von Str. 1 und Mt 25,40, Brüdern beizustehen (*Leipzig 1796, *Speyer 1825). Letztere Versionen rücken den Beziehungsaspekt zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen in den Vordergrund und entschärfen zudem den übersteigert anmutenden Anspruch der Originalfassung, der weder bei Jak noch bei Mt formuliert sind: Es ist nicht darum zu tun, Hilfsbedürftigen aus ihrer Not herauszuhelfen, sie nachhaltig zu retten, sondern - und auch dies ist bereits ein nicht geringer Anspruch - ihnen in akuter Not zur Hilfe zu kommen, ihnen beizustehen. Auch hierbei steht wiederum der Beziehungsaspekt, gewissermaßen die Begegnung auf Augenhöhe, im Vordergrund. Die abschließende, an Gott gerichtete Bitte, die als Fazit des Liedes zu verstehen ist, wird zwar ebenfalls zuweilen umformuliert, bleibt aber stets als Bitte bestehen - als Bitte um den Liebesgeist, der dich, du höchste Liebe, preist (*Ulm 1797) oder ganz im aufklärerischen Geist darum, dass meiner Pflicht ich treu, barmherzig, Gott, und hülfreich sei! (*Altona 1785). Letztere Version stellt eine ausschließlich ethische Deutung der Liebe dar, aber auch eine Zusam- 428 Wer harret, bis ihn anzuflehn, / Ein Dürftger erst erscheinet, / Nicht eilt, dem Frommen beyzustehn, / Der im Verborgnen weinet; / Nicht gütig forscht, obs ihm gebricht: / Der liebt auch seinen Nächsten nicht. <?page no="369"?> 369 menfassung der Kernaussagen des Liedes. Im Original und ebenso im EG dagegen schafft diese letzte Wendung eine Verbindung von dem im Lied breit ausgeführten Nächstenliebegebot zum Gebot der Gottesliebe. Eines ist ohne das andere, so wird es hier deutlich, nicht denkbar. 4.7.5 Das Lied im Gottesdienst 4.7.5.1 Rollenangebote und Identifikationspotentiale In diesem Lied dominiert, wie es schon seine Klassifizierung als „Lehrgedicht“ andeutet, der Predigtstil. Die Singenden nehmen mithin die Rolle einer Predigerin, eines Lehrers ein und sehen sich gleichzeitig mit den gepredigten Inhalten konfrontiert. Potential zur kathartischen Identifikation bietet zunächst einmal die beispielhafte Figur des „Wer…“ (Str. 2f.). Sie soll zum Wiedererkennen eigener Verhaltensmuster und zum Erschrecken hierüber führen und damit zur Reflexion über die eigene Lebensführung und evtl. zur Veränderung derselben anregen. Durch den temporären Wechsel zum Wir bekommen die Strophen 4f. den Charakter eines Bekenntnisses, aus dem weitere Lehren gezogen werden. Sie betonen die Zusammen-gehörigkeit aller Brüder durch die Taten Gottes, schließen die Singenden in diesen Kreis mit ein und wirken somit gemeinschaftsstiftend - auch wenn diese Gemeinschaftsstiftung wiederum in erster Linie der Begründung für die Notwendigkeit, sich den Nächsten zuzuwenden, dient. Dieses Ansinnen ist im Folgenden durch eine Reflexion der Taten Gottes und der eigenen Reaktionen darauf expliziert. Die Reflexion wechselt zwischen Seelengespräch und Gebet hin und her (Str. 5-7). Es dominieren rhetorische Fragen, die zu eindeutigen Antworten herausfordern und damit wiederum an das Gewissen appellieren - nun aber vermittelt durch die Erinnerung der Taten und Zusagen Gottes. In Str. 8 wird die Seelengesprächs- und Gebetsperspektive verlassen zugunsten eines wieder lehrhafteren Charakters. Die Singenden nehmen dabei die Rolle des „Jakobus“ ein, der ein unbarmherziges Gericht über den, der nicht barmherzig ist, ankündigt (Jak 2,13; vgl. Mt 25,41-45). Dadurch kommt ihnen die Rolle derer zu, die das zukünftige Gericht über Dritte ankündigen und die Kriterien dafür benennen. Das anschließende Gebet ist auch als Reaktion auf dieses provokative Rollenangebot zu verstehen. Es rückt das Urteil ins rechte Licht: Auch die Erzählstimme und damit auch die Singenden könnten im Gericht als nicht barmherzig erfunden werden. So wird verdeutlicht, dass das Kriterium des Gerichts bekannt ist, aber nicht, wer vor ihm bestehen wird. Auch kann niemand allein aus eigener Kraft barmherzig sein, sondern benötigt dazu ein von Gott geschenktes Herz, das ihn durch Liebe preist. <?page no="370"?> 370 Dieses Lied reagiert nicht auf die Angst vor dem Gericht, wie z.B. viele Lieder der Orthodoxie, die dieser Angst eine Trostperspektive entgegensetzen. Es reagiert vielmehr auf die erlebte und bereits im 1. Johannesbrief explizierte Diskrepanz zwischen dem Bekenntnis zu Gott und der Gleichgültigkeit den Geschwistern gegenüber. Der Gerichtsgedanke ist in diesem Zusammenhang eine zentrale (aber nicht die einzige) Motivationshilfe, um diese Diskrepanz zu überwinden und aktive Nächstenliebe zu üben. 4.7.5.2 Das Lied im Kirchenjahr Die ethische Ausrichtung des Liedes spiegelt sich auch in der Rubrikenzuordnung wider: Es findet sich m.W. ausschließlich in Rubriken wie „Von den Pflichten gegen den Nächsten“ (*Braunschweig 1779), „Von der Liebe des Nächsten“ (*Kassel 1784), „Vom christlichen Leben überhaupt“ (*Wittenberg 1792) oder „Früchte der Wiedergeburt“ (*Nürnberg 1855), „Heiligung.“ (*Berlin 1886, *Königsberg 1899) oder „Allgemeine Menschenliebe.“ (*Straßburg 1899), nie aber unter der Rubrik „Die letzten Dinge“ o.ä. Im EG ist es das Leitlied der Rubrik „Nächsten- und Feindesliebe“. Betont wird durch die Rubrikenzuordnung also stets der im Lied zentrale Gedanke der Nächstenliebe bzw. des tätigen Christ_inseins, nicht aber der Gerichtsgedanke. Das Lied ist also ferner weder durch seinen Inhalt noch durch seine Rubrikenzuordnung im Kirchenjahr verortet. Auch als Wochenlied ist es nicht vorgesehen. Es am Ende des Kirchenjahres zu singen wäre zwar denkbar - z.B. in Verbindung mit dem Evangelium des vorletzten Sonntags, Mt 25,31-46, jedoch hieße das, die Gerichtsbotschaft auf ihre ethische Komponente zu reduzieren. Geeigneter scheint es für Gottesdienste, die das Gebot der Nächstenliebe oder generell ethische Themen aufnehmen. Thematisch passend ist es v.a. für den 13. Sonntag nach Trinitatis, dessen Wochenspruch Mt 25,40 („Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“) in der siebten Strophe des Liedes aufgenommen ist. In seiner Gesamtheit in enger intertextueller Beziehung zur Epistel 1 Joh 4,7-12, in thematischer Hinsicht auch zum Evangelium vom barmherzigen Samariter Lk 10,25-37 sowie zum Leitvers „Selig die Barmherzigen…“ (Mt 5,7). Das Lied wäre dann ein Kontrast zum Wochenlied EG 343 Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ, das in seiner Betonung der Gnade Jesu ein Gegengewicht zu den vielen ethischen Appellen der Texte dieses Sonntags bildet. Gut denkbar wäre es bei entsprechender thematischer Ausrichtung der Predigt v.a. als Predigtlied. <?page no="371"?> 371 5 Ergebnis Im Folgenden sollen die Ergebnisse des Liederteils summarisch in thetischer Form dargestellt werden. Dies dient zunächst der Übersicht darüber, welche Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede in den Liedern dominieren und welche kaum oder gar nicht vorkommen. Es wird ferner darzustellen sein, auf welche Weise die Matthäustexte durch die Lieder gedeutet werden, welche Deutungspotentiale also an sie herangetragen werden und inwiefern die matthäischen Texte dadurch in ihrem Sinn bereichert werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf den Umgang mit den Gleichnissen gelegt sowie auf das Gottes- und Jesusbild gerichtet, das die Lieder zeichnen. Sodann wird zu zeigen sein, auf welche Weise die Gerichtsvorstellungen rezipiert werden und welche pragmatischen Funktionen sie in den Liedern erfüllen. Als Ergebnis der liedhistorischen Untersuchung erfolgt eine Zusammenschau, welche Strophen der untersuchten Lieder gestrichen wurden und was dies für den Gerichtsaspekt der Lieder bedeutet. Auch sollen Tendenzen ihrer Veränderung innerhalb ihrer Wirkungsgeschichte aufgezeigt werden. Es folgt eine Zusammenschau der Rollenangebote und Identifikationspotentiale der Lieder sowie ihre gemeinschaftsstiftenden, transzendenzeröffnenden und seelsorglichen Potentiale. Gerade im Blick auf letztere hat es sich als aufschlussreich erwiesen, auch die jeweilige Problematik, auf die das Lied reagiert, in den Blick zu nehmen. Den Abschluss bilden zusammenfassende Überlegungen zur Verwendung der Lieder im Gottesdienst, aus denen sich zudem noch ausstehende Forschungsdesiderate ergeben. 1. Die Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede werden im EG selektiv rezipiert. In den untersuchten Liedern des EG, die das Gericht zum Thema haben und sich auf die Endzeitrede beziehen, lassen sich einige deutliche Tendenzen feststellen. Es dominiert die Vorstellung eines Beurteilungs- und Scheidungsgerichtes. Sie wird bevorzugt mit Bildern aus der Endgerichtsszene ausgemalt, jedoch auch immer wieder mittels Motiven, die den ihr vorhergehenden Gleichnissen entstammen, vor allem dem Gleichnis von den zehn jungen Frauen (25,1-13). Die Vorstellung eines Vernichtungsgerichtes tritt dagegen stark in den Hintergrund, ebenso wie apokalyptische Motive. Auf die Parusieszene Mt 24,29-31 spielt EG 149,1f. an; das Erscheinen des Menschensohnes in Herrlichkeit, 429 den Posaunenschall und das Wehklagen der 429 Ebenso EG 9,6; EG 147,2. <?page no="372"?> 372 „Stämme“. 430 Auch lässt sich die Ankündigung der Vernichtung der Welt in der letzten Strophe von EG 387 als Anspielung an die Vorstellung der in Mt 24,29 geschilderten kosmischen Umwälzungen verstehen. Mehrfach rezipiert wird auch das Motiv der „Auserwählten“ (V.31), die bei der Parusie versammelt werden und nicht vor dem Gericht des Menschensohnes erscheinen müssen bzw. dort bestehen werden. Dies ist jedoch eher in Liedern der Fall, die das Gericht selbst nicht explizit thematisieren. 431 Die Gerichtsansagen des Übergangsteils Mt 24,32-44 werden im EG überhaupt nicht rezipiert - relevant für das Thema ist lediglich der Verweis auf die blühenden Bäume (V.32f.) in EG 151,4 sowie die Ausgestaltung der Mahnung zur Wachsamkeit (V.42) in EG 387. 432 Aus den Sklavengleichnissen werden in erster Linie die Attribute aufgenommen, mit denen die Sklaven charakterisiert werden, jedoch ohne weiteren Verweis auf das Gleichnis (Bös‘ und Fromme (EG 149,1) getreuer Knecht (EG 451,8). Sehr häufig sind Anspielungen auf die über die Bildebene des Gleichnisses hinausgehende Einladung des Sklavenbesitzers, in die Freude hineinzugehen. 433 Sie stehen in Liedern, die eigentlich primär auf die Endgerichtsszene anspielen, häufig für die Option, die basilei,a zu erben bzw. in das ewige Leben einzugehen. Oft werden die Formulierungen auch kombiniert, 434 was die Deutung des Gleichnisses auf die Vorstellung eines Beurteilungs- und Scheidungsgerichts im Sinne von Mt 25,31-46 impliziert. Die hier und auch sonst bei Matthäus häufig verwendete Umschreibung des Strafortes für die im Gericht Gescheiterten als äußerste Finsternis, in der Weinen und Zähneknirschen herrscht (Mt 24,51; 25,30), kommt im EG dagegen überhaupt nicht vor. Das im EG am häufigsten rezipierte Gleichnis der Endzeitrede ist das Gleichnis von den zehn jungen Frauen (Mt 25,1-13). Hier dominiert der an die Frauen gerichtete Ruf, aufzuwachen, 435 dem Bräutigam zu begegnen 436 sowie die Aufforderung, die Lampen bereit zu halten, 437 wie es auch die „klugen“ Frauen des Gleichnisses tun. Eine große Rolle spielt auch das Hineingehen zur Hochzeit (EG 151,3), die, als Reich Gottes gedeutet, häufig umschrieben wird als Saal (EG 23,5), Freudensaal (EG 11,10; EG 147,3) oder Himmelstür (EG 522,5) - im Gleichnis ist lediglich von einer Tür die Rede, die nach Eintritt der „klugen“ Frauen verschlossen wird. Das Motiv der ver- 430 Intensiver ist jedoch in EG 149, 2 die intertextuelle Relation zur Schilderung der Totenauferstehung in 1 Kor 15. 431 EG 478,8; EG 495,8; indirekt auch EG 5,6. 432 Vgl. auch EG 184,4. 433 EG 147,3; EG 158,4; EG 531,3; vgl. Mt 25,21.23. 434 Des Reiches Freuden (EG 5,8; EG 83,7), ewige Freude (EG 96,6), Himmelsfreuden (EG 370,8). 435 EG 147,1; EG 387,2. 436 EG 147,1; EG 151,2. 437 EG 9,6; EG 147,1; EG 151,2. <?page no="373"?> 373 schlossenen Tür, des Abgewiesenwerdens durch den Bräutigam wird dagegen nicht aufgegriffen. 438 Am häufigsten wird im EG die Endgerichtsszene selbst rezipiert: Das Kommen des Menschensohnes in Herrlichkeit, 439 sein Gericht über alle Völker, 440 die er voneinander scheiden wird (EG 5,8). Keine Rolle spielt das voneinander geschiedene Kleinvieh, wenig auch das Offenbarwerden des Tuns auf Erden (EG 149,3) sowie die Taten der Barmherzigkeit 441 und die Identifikation des Richters mit den Geringsten (EG 412,2.7). Im Fokus steht vielmehr der „doppelte Ausgang“ des hier beschriebenen Gerichtsszenarios - sei es, dass die Metapher des „ewigen Feuers“ (V.41) aufgenommen wird (EG 325,3; EG 431,3), sei es, dass die „ewige Strafe“ (V.46) umschrieben wird durch Bezeichnungen wie Hölle (EG 149,4), Fluch (11,10) oder wo sie müssen ihr Untugend büßen (EG 5,8). Die Teilhabe am ewigen Leben wird, wie gesehen, häufig mit Anspielungen auf die Gleichnisse umschrieben, jedoch auch mit Metaphern, die der Endgerichtsszene selbst entnommen sind: So ist vom Eingehen in den Himmel (EG 149,6) bzw. in sein Reich (EG 405,5) die Rede (vgl. Mt 25,46) sowie vom Ererben (V.34) des Himmelreiches (EG 134,8) - letzteres auch in Formulierungen, die den Gleichnissen und der Endgerichtsszene gleichermaßen entlehnt sind: seines Reiches Freuden erben dann die Frommen (EG 5,8) oder macht uns zu Erben in seim Saal (EG 23,5). Auch fungieren Texte der Endzeitrede mehrfach als Struktur- und Kompositionsstütze eines ganzen Liedes oder für Teile von ihm. So ist EG 149 dem in Mt 24,29-31; 25,31-46 geschilderten endzeitlichen Ablauf nachempfunden, den Texten also, die den Haupthandlungsstrang der Endzeitrede repräsentieren. Die Grundstruktur der Gleichnisse und der Endgerichtsszene findet sich in EG 9,4.5 in etwas abgewandelter Form wieder: Zwei entgegengesetzte Gruppen (die Mächtigen auf Erden und die Armen und Elenden) stehen einem Handlungssouverän, dem König, gegenüber, dessen Ankunft für sie unterschiedliche Folgen haben kann: Letzteren ist Heil versprochen, Ersteren kann, gemessen an ihrer Haltung dem König gegenüber, Unheil drohen. Ein solcher „doppelter Ausgang“ wird andernorts, wie gesehen, ebenfalls nur angedeutet (EG 5,8; EG 11,10). Häufig wird auch nur ein Handlungsstrang der Endgerichtsszene bzw. des Gleichnisses von den zehn jungen Frauen rezipiert, und zwar der positive. 442 Strukturelle Vorlage ist hierbei der Weckruf sowie der sich anschließende Handlungsstrang der „klugen“ Frauen (Mt 25,6-10). 438 Lediglich EG 20,8 (...und alle, alle schaun ins Licht, und er kennt jedermann mit Namen) ist ein Gegenbild hierzu sowie zu dem erwähnten Motiv der „äußersten Finsternis“. 439 EG 9,6, EG 147,2, EG 149,1. 440 EG 5,7; EG 184,4. 441 Auf diese wird jedoch häufig in Zusammenhängen angespielt, in denen z.B. Nächstenliebe das dominierende Thema ist; vgl. EG 413; EG 418; EG 428 u.ö. 442 EG 9,6; EG 147,1f.; EG 151,1-3. <?page no="374"?> 374 Insgesamt lässt sich im EG eine Reduktion auf bestimmte Bilder und Vorstellungen der Endzeitrede beobachten. So fehlen das apokalyptische Szenario der Parusie ebenso wie die kurzen Gleichnisse und Vergleiche des Zwischenteils Mt 24,32-44 - weder der Vergleich mit den Tagen Noahs noch die Ankündigung des Annehmens und Zurücklassens eng zusammenarbeitender Menschen noch der Verweis auf den wie ein Dieb in der Nacht kommenden Menschensohn 443 spielt im EG irgendeine Rolle. Verweise auf die Bedrängnisse vor der Parusie (Mt 24,4b-28) erscheinen ausschließlich in diesseitigen Kontexten, ebenso wie Anspielungen auf die beiden Sklavengleichnisse (EG 451,8). Ausführlich wird v.a. auf das Gleichnis Mt 25,1-13 Bezug genommen sowie auf die Endgerichtsszene selbst. Dabei liegt der Fokus auf dem Ergebnis des Gerichts, seinem Ausgang. Der positive Ausgang wird hierbei meist mit Bildern umschrieben, v.a. auch aus den Gleichnissen, der negative bleibt eher abstrakt. 444 Die Rezeption des matthäischen „doppelten Ausgangs“ in den Liedern, der in der Endzeitrede auf unterschiedliche Weise dargestellt ist, soll im folgenden Abschnitt noch eingehender beleuchtet werden. 2. Der Fokus der Rezeption der Gerichtsvorstellungen liegt auf dem „doppelten Ausgang“ als Resultat des Gerichts. Nach der Zusammenschau, welche Texte und welche Gerichtsmotive der Endzeitrede in den Liedern des EG rezipiert werden, soll nun ein Überblick darüber erfolgen, auf welche Weise die matthäischen Gerichtsvorstellungen rezipiert werden und welche Aspekte dabei besonders betont werden. Die Erwartung des Gerichts mit doppeltem Ausgang wird mehrfach - jedoch nicht allzu häufig - auch als solche formuliert. 445 Öfter wird nur eine Möglichkeit thematisiert. Handelt es sich hierbei um den negativen Ausgang des Gerichts, wird dieser kaum näher ausgemalt, meistens jedoch eine Hoffnungsperspektive dagegen gestellt: Jesus rettet vom ewgen Feuer (EG 325,3), gegen das Feuer des Gerichts steht Gottes Liebe, die da loht (EG 431,3) und gegen ein unbarmherzigen Gericht die Bitte um ein liebendes Herz (EG 412,8). Viel häufiger jedoch wird ausschließlich der positive Ausgang des Gerichts thematisiert, so dass das Gericht selbst nur indirekt zur Sprache kommt. Die Teilhabe am ewigen Leben wird als Indikativ formuliert 446 oft mit der Betonung, dass alle ins Licht schaun (EG 20,8) bzw. zum Freudensaal folgen werden (EG 147,2), zumindest aber als Hoffnungsperspektive. 447 Das 443 Vgl. zu letzterem das in einigen Regionalteilen enthaltene Der Herr bricht ein um Mitternacht. 444 Das beste Beispiel hierfür ist die Originalversion von EG 5,8, wo es heißt: die Frommen zur Freuden, die Bösen zur hellen in peinliche stellen… 445 EG 5,8; EG 11,10; EG 149,4.6. 446 EG 23,5; EG 83,7; EG 96,6; EG 184,5; EG 522,5. 447 EG 331,7; EG 405,5; EG 447,10. <?page no="375"?> 375 Gericht selbst und sein möglicher negativer Ausgang ist dabei durch die in diesen Texten alludierten Intertexte präsent. Wo es aber explizit thematisiert wird, geschieht dies auf unterschiedliche Weise. Es finden sich einfache, neutrale Gerichtsansagen, 448 die die Erzählstimme nicht mit sich selbst oder den Adressat_innen in Verbindung bringt. Viel häufiger jedoch ist angesichts des kommenden Gerichts das Gebet, die Bitte an Jesus, der richten wird und durch das Gericht retten kann. Er wird angesichts des drohenden Scheiterns im Gericht um Hilfe angerufen, 449 an ihn wird die Bitte um Teilhabe am ewigen Leben gerichtet. 450 Ebenso finden sich Bitten, die sich nicht auf das zukünftige Gericht selbst, sondern auf die Gegenwart beziehen; die Bitte um Mut und Willenskraft 451 und die Bitte um das Vertrauen darauf, im Gericht angenommen zu werden und das ewige Leben zu erlangen. 452 Diese Hoffnung drückt sich auch in der Bitte um das baldige Kommen Jesu aus. 453 Solche Anliegen können auch als Seelengespräch formuliert sein: Angesichts des Gerichts gilt es zu wachen, zu flehen und zu beten (EG 387,1.6) und darauf zu vertrauen, im Gericht bestehen zu können (EG 405,5). 3. Die Gleichnisse werden in einigen Elementen zitiert, aber auch inszeniert. Eine gesonderte Betrachtung verdient die Rezeption der Gleichnisse: Hier werden zum einen, wie gesehen, einzelne Stichworte zitiert. Sie werden mit Stichworten anderer Perikopen der Endzeitrede kombiniert, so dass der bildspendende Bereich auf den bildempfangenden Bereich appliziert wird. Jesus wird direkt als ihr Handlungssouverän benannt und/ oder die Erzählstimme bezieht Elemente der Gleichniserzählung direkt auf sich. 454 So wird von vornherein deutlich, dass im Lied das jeweilige Gleichnis als Gerichtsbzw. Endzeitgleichnis aufgefasst wird. Mehrfach werden Gleichnisse in den Liedern aber auch inszeniert, v.a. das Gleichnis von den zehn jungen Frauen, so dass Erzählstimme und/ oder Erzähladressat_innen die Rolle ihrer Erzählfiguren einnehmen. Oft wird dabei das im Gleichnis geschilderten Agieren der Frauen in Imperative umgesetzt. 455 Im Fokus stehen dabei die „klugen“ Frauen - auch der im Gleichnis an alle Frauen gerichtete Weckruf richtet sich hier nur an sie. 456 Mit einer 448 EG 56,3; EG 184,4; EG 331,7; EG 387,6; EG 405,5. 449 EG 149.5f.; EG 518,2. 450 EG 11,10; EG 478,8; EG 531,3. 451 EG 5,9; EG 412,8; EG 447,8f.; EG 451,7. 452 EG 82,8; EG 134,8; EG 158,4. 453 EG 6,2.5; EG 11,10; EG 149,7; EG 151,9. 454 Z.B. EG 158,4: ...dass ich...mit dir eingeh zu Freud. 455 EG 9,6; EG 147,1; EG 151,1-3; EG 387,1f. 456 EG 147,1; EG 151,1.3. An der in der EG-Fassung fehlenden fünften Strophe von EG 151 ist wieder zu beobachten, dass für den „negativen“ Handlungsstrang Gerichtsmetaphorik verwendet wird (Wer wollte nun noch schlafen? Wer klug ist, der ist wach. Gott <?page no="376"?> 376 solchen Inszenierung geht häufig eine gleichzeitige Deutung einher, indem in den Formulierungen der Lieder bildspendender und bildempfangender Bereich des Gleichnisses kombiniert werden. So z.B. in EG 151: Ermuntert euch, ihr Frommen, zeigt eurer Lampen Schein... (Str. 1); Er (i.e. der König) ist’s, der helfen kann; halt’ eure Lampen fertig... (EG 9,6). Insgesamt werden nicht nur Gleichnismotive mit Motiven der übrigen Endzeitrede intratextuell kombiniert, sondern auch unterschiedliche biblische Gerichtsvorstellungen, so dass sich kontaminatorischen Relationen der Lieder zu verschiedenen biblischen Texten ergeben. Ein gutes Beispiel hierfür ist EG 149, das, wie gesehen, Mt 25,31-46 zur strukturellen Vorlage hat. Es ergänzt die Vorstellungen der Auferstehung der Toten zum Gericht (1 Kor 15,52) und des Buches des Lebens (Offb 20,12.15) und verallgemeinert die Kriterien: Wer das Wort Jesu verachtet und nur nach großem Gut getrachtet hat (Joh 12,48, Spr 1,13 u.ö.), wird im Gericht nicht bestehen. Auch wird der Gerichtsgedanke häufig mit der Überzeugung korreliert, dass Jesus durch seinen Kreuzestod aus dem Gericht rettet (EG 325,3; EG 405,2). 4. In den Liedern werden Leerstellen der Endzeitrede gefüllt. Auf diese Weise tragen sie zur Deutung der Rede bei und richten indirekt kritische Anfragen an sie. Die Lieder spielen nicht nur auf die Endzeitrede als Prätext an, sondern tragen auch selbst zu ihrer Deutung bei. Die Kombination verschiedener Motive, wodurch die Gleichnisse auf das Gericht des Menschensohnes gedeutet werden, wurde bereits erwähnt, ebenso die Konkretisierung matthäischer Vorstellungen durch andere biblische Intertexte. So werden häufig die Kriterien des Gerichts ausgeweitet, z.B. durch die Aufzählung unterschiedlicher Negativbeispiele (EG 412,2f.). Vor allem wird der Glaube, die Haltung dem zukünftig als Richter wiederkommenden Jesus gegenüber, mehrfach als Kriterium genannt. 457 Dies ist zugleich eine Anfrage an die matthäische Vorstellung, dass das Kriterium des Gerichts die Werke eines Menschen sind und nicht etwa sein Glaube. Als weitere kritische Anfrage lässt sich die Fokussierung vieler Lieder auf den positiven Ausgang des Gerichts 458 deuten. Sie nehmen matthäische Bilder auf, blenden aber aus, dass das Gericht auch mit einer „ewigen Strafe“ enden kann, und kritisieren damit indirekt die Vorstellung, dass in Gottes Gericht Menschen verloren gehen können. Die Inszenierungen von Mt 25,1-13 in den Liedern füllen zahlreiche Leerstellen dieses Gleichnisses: Die Rufenden werden als Wächter identifiziert und die Szene auf dem Zion, dem Ort des wiederkommenden Messias, verortet. Auch wird das Hochzeitsfest näher ausgemalt als eschatologisches kommt, die Welt zu strafen...), während der „positive“ Handlungsstrang (Str. 1-3.5-7) in Bildern des Gleichnisses bzw. des Buches der Offenbarung verbleibt. 457 EG 3,5; EG 5,5; EG 9,4; EG 11,10; EG 387,5; EG 447,10. 458 EG 20,8; EG 23,5; EG 83,7; EG 96,6; EG 147,3; EG 151,3-7; EG 184,5; EG 522,5 u.ö. <?page no="377"?> 377 Freudenszenario in Jerusalem, 459 während das Geschehen im Gleichnis „vor der Tür“ endet. Es finden sich auch Umdeutungen, z.B. die Deutung des Schlafes aller jungen Frauen als „Sündenschlaf“ und die Deutung der Aufforderung zum Wachen als Sorge um den eigenen Geist angesichts der Versuchung durch Teufel, Welt und eigenes Fleisch (EG 387), was in der Endzeitrede so nicht angelegt ist. 5. Die in den Liedern entworfenen Bilder und Vorstellungen von der Figur des Richters sind vielfältig und leben von einem spannungsvollen Ineinander seiner unterschiedlichen Rollen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Generell spielt in den Liedern auch der in der Endzeitrede zentrale Gedanke eine wichtige Rolle, dass Jesus selbst, der Immanuel und Lehrer, als Richter erwartet wird. Dieser Richter ist derselbe, der in Niedrigkeit in die Welt gekommen ist, der gekreuzigt wurde. Er lehrt in der Gegenwart Umkehr und Buße, auf dass sich die Menschen ihm zuwenden. 460 Als gerechter und strenger Richter wird er gefürchtet und dennoch als Gekreuzigter, Lehrer und Fürsprecher um Hilfe angerufen (EG 5,8f.; EG 149,4f.). Mit seinem heilvollen Wirken in Vergangenheit und Gegenwart korrespondiert die Hoffnung, dass er auch Zukunft durch sein Gericht Heil bewirken möge; Erlösung vom Leiden in der Welt (EG 9,6; EG 149,7; EG 151,8), endgültige Selbstoffenbarung (EG 6,5) und ewiges Leben (EG 5,9; EG 11,10; EG 405,5f.). Diese Hoffnung kann auch ohne expliziten Bezug auf das Gericht formuliert werden: Jesus, der auf Erden kommen arm ist, kann uns in dem Himmel reich machen (EG 23,6). Deshalb wird er sehnsüchtig erwartet wie ein Bräutigam (EG 147,1; EG 151,2f.) von seiner Braut. Das spannungsvolle Ineinander der Hoheit und Niedrigkeit Jesu, seiner unterschiedlichen Rollen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, kommt jedoch nicht in allen Liedern zum Ausdruck. So ist Jesus laut EG 9,6 zwar derjenige, der in Herrlichkeit wiederkommen und den Frommen zur Hilfe eilen wird. Der Zorn gegen diejenigen, die ihn nicht annehmen, geht jedoch von Gott, dem Höchsten, aus (Str. 4). 461 Auch in EG 387,5 wird Jesus als Mittler vor Gott, der von Sünde und Versuchung befreit, dargestellt, der Richter ist jedoch Gott (Str. 6). EG 412 ist als ganzes weitgehend auf Gott fokussiert, Jesus erscheint lediglich als Erlöser, dessen Identifikation mit den Geringsten zudem gegenüber Mt 25,40.45 abgeschwächt ist. Zwar ist all dies 459 EG 147,2f.; EG 151,7. 460 EG 3,5; EG 5,2; EG 331,6f. Somit erscheint Jesus hier wie im Matthäusevangelium in der Rolle des Lehrers. 461 Ebenso spricht die in EG 151 gestrichene Strophe 5 von Gott, der kommen wird, um die Welt zu strafen, während das übrige Lied die sehnsüchtige Erwartung des Bräutigams Jesu zum Thema hat. <?page no="378"?> 378 in trinitätstheologischer Hinsicht nicht falsch, transportiert aber ein problematisches, antagonistisches Gottesbild, in dem Gott-Vater der strafende, richtende Gott, Jesus aber der Erlöser ist. Trinitätstheologisch zu Ende gedacht ist dagegen EG 56. Es spricht zwar (beinahe) konsequent von Gott, verdeutlicht aber von vornherein, dass es ihm um den Menschgewordenen geht (Str. 1). 6. Die Gerichtsvorstellungen nehmen in den Liedern die Funktion einer „Negativfolie“, einer Trostperspektive und der Motivation zur Umkehr ein. Der Gerichtsgedanke erfüllt in den Liedern ganz unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Funktionen. So kann er - explizit genannt oder nicht - als „Negativfolie“ dienen, der eine Trostperspektive entgegengesetzt wird. Das kommende Gericht ist dann eine Perspektive, die vor allem Angst verursacht, der mit dem Wissen entgegengeblickt wird, dass es unmöglich ist, zu bestehen. Dieser Angst setzen viele Lieder die Zusage des ewigen Lebens entgegen, die Zusage, dass Jesus selbst aus dem Gericht rettet und die Teilhabe am Reich Gottes erwirkt. 462 Solche Lieder zielen darauf ab, in der Anfechtung zu trösten und im Leben wie im Sterben von der Angst vor dem Gericht befreien. Der Gerichtsgedanke selbst verliert durch solche Darstellungen jedoch letztlich seinen Eigenwert und seine Relevanz. Die Hoffnung, dass durch das Gericht Gottes Gerechtigkeit aufgerichtet und damit letztlich Heil erwirkt wird, gerät aus dem Blick. 463 In anderen Liedern wird jedoch gerade die Heilsperspektive des Gerichts betont: Jesu Kommen zum Gericht ist Gegenstand freudiger und sehnsüchtiger Erwartung, ist selbst eine Perspektive der Hoffnung angesichts gegenwärtigen Leidens. Dies kann explizit formuliert sein, 464 lässt sich aber auch aus der Intensität erschließen, mit der die Vorstellungen des Gottesreiches ausgemalt werden, so dass diese zum Gegenbild zu einer als leidvoll erfahrenen Realität werden können, so z.B. die Vorstellung des Freudensaales und des Chores der Engel hoch um deinen Thron (EG 147,2f.). 465 Das Gericht selbst kann auch hierbei aus dem Blick geraten als Voraussetzung, um am ewigen Leben teilhaben zu können. Das zukünftige Kommen Jesu wird dann ausschließlich als Erlösung verstanden, was zum einen zu kurz greift und zum anderen als Vertröstung auf das Jenseits wirken kann. Jedoch kann eine solche Befreiungshoffnung, die Hoffnung auf die Umkehrung der Verhältnisse (vgl. v.a. EG 9,4f.) auch in die Gegenwart hineinwirken und sie verän- 462 EG 82,8; EG 83,7; EG 325,3; EG 431,3; EG 518,2f. u.ö. 463 Diese Tendenz ist auch in historischer Perspektive zu beobachten: Stehen in vielen Liedern aus der Zeit der Reformation und der lutherischen Orthodoxie der Gerichtsgedanke und die Zusage der Rettung noch nebeneinander, verschwindet ersterer in neueren Liedern zusehends. 464 EG 6,5; EG 9,6; EG 149,7. 465 Vgl. auch EG 20,7f.; EG 151,5-8. <?page no="379"?> 379 dern: Sie kann Mut und Zuversicht vermitteln, indem sie versichert, dass Gott auf der Seite der Leidenden steht und für sie Partei ergreift. Die dritte Funktion des Gerichtsgedankens in den Liedern ist die Motivation zum Überdenken des eigenen Lebens - prägnant ausgedrückt in EG 56,3: Er sieht dein Leben unverhüllt, / zeigt dir zugleich dein neues Bild. Der Gerichtsgedanke weckt das Bewusstsein, dass weder der eigene Lebenswandel, das eigene Tun, noch die Haltung Jesus gegenüber, der Glaube, keineswegs gleichgültig, sondern von eschatologischer Relevanz sind. 466 Eine solche Verwendung des Gerichtsgedankens birgt immer die Gefahr des Missbrauchs, der „schwarzen Pädagogik“, und leistet einer unheilvollen Selbsterforschung Was soll das sein? Vorschub. Andererseits ist die Einsicht, dass das eigene Leben und Tun relevant ist, nötig - und das nicht nur als Imperativ, sondern als Würdigung menschlicher Freiheit. Ebenso nötig ist die Umkehr, das immer wieder neue Sich-Ausrichten auf Gott. Hierin liegt die ernsthafte Seite seines Kommens in die Welt, das uns zu Frommen geschieht, aber kein Heilsautomatismus ist. 7. In der Wirkungsgeschichte der Lieder wurde der Gerichtsgedanke entschärft und zum Teil getilgt, aber auch verdeutlicht und verschärft. Die meisten Änderungen wurden später rückgängig gemacht, sind aber zur Identifikation von Bestimmtheits- und Unbestimmtheitsstellen von bleibender Bedeutung. Textstellen in den Liedern, die in der Wirkungsgeschichte bevorzugt geändert wurden, verlangen besondere Aufmerksamkeit, weil sich hier Bestimmtheitsbzw. Unbestimmtheitsstellen zeigen. Erstere sind in erster Linie auf einen bestimmten zeitlichen oder theologischen Kontext zugeschnitten und erscheinen deshalb für nachfolgende Generationen nicht mehr passend, letztere sind so allgemein gehalten, dass sie in überarbeiteten Versionen des betreffenden Liedes präzisiert werden. Beides ist auch in Bezug auf die Gerichtsvorstellungen in den Liedern zu beobachten. Es kann keine Rede davon sein, dass der Gerichtsgedanke in der Wirkungsgeschichte der analysierten Lieder generell verschwindet. Wohl aber gibt es die Tendenz zu seiner Entschärfung: So wird die Ausmalung des Strafortes als hellen und peinliche stellen durch eine weniger drastische Umschreibung ersetzt und stattdessen der positive Ausgang des Gerichts betont und ausgeschmückt (EG 5,8). Auch wurde die Andeutung des zukünftigen Gerichts in EG 387,1f - eindeutig eine Unbestimmtheitsstelle - mehrfach rein diesseitig gedeutet und die böse Zeit als innerweltliche Versuchung verstanden. Im selben Lied wurde die abschließende Gerichtsstrophe häufig entschärft oder durch eine Erlösungshoffnung ersetzt. In Überarbeitungen der Schlussstrophe EG 412,8 wurde zudem häufig betont, dass Gottes Gericht nicht unbarmherzig, sondern streng und höchst gerecht sei. 466 EG 3,5; EG 5,7-9; EG 9,4; EG 11,10; EG 149,3f.; EG 387,6; EG 412,8. <?page no="380"?> 380 Ebenso werden Gerichtsstrophen ganz gestrichen - so wurden in EG 5 die ursprünglichen Strophen 6-8 und damit sämtliche Verweise auf Eschatologie und Gericht aus diesem Adventslied getilgt. Bis in das EG durchgehalten hat sich die Streichung der Gerichtsstrophe aus EG 151, die bereits im Vorfeld häufig verändert wurde - v.a. die Offb 20 entstammende Metaphorik wurde dabei durch nichtmetaphorische Rede ersetzt und damit der Chiliasmusverdacht ausgeräumt. Ebenso wurde der Gerichtsgedanke jedoch verschärft oder an Unbestimmtheitsstellen verdeutlicht. So gab es neben einer Verdiesseitigungstendenz von EG 387 auch die Tendenz, den endzeitlichen Aspekt stärker herauszustellen. Auch wurde in EG 9,4 die Formulierung Gottes zoren mehrfach als Gerichtsansage und auch in Bezug auf das Bild des Richters präzisiert - im EG heißt es des Höchsten Zorn. Ebenso wurde in EG 149,4 das Tun genauer beschrieben, das zum Scheitern im Gericht führt. Auch die in diesem Lied schon durch die erste Zeile Es ist gewisslich an der Zeit betonte Naherwartung wurde teilweise verschärft (Str. 1.7; vgl. auch EG 387,2), teilweise aber auch relativiert (Str. 7, vgl. auch EG 9,6). Zudem wurde das in EG 412,1f. ausgesprochene Urteil über denjenigen, der seine Brüder hasst, in der Wirkungsgeschichte mehrfach weit deutlicher formuliert. In einigen Bearbeitungen von EG 147 wurden Gerichtsaussagen, teilweise mit drohendem Impetus, ergänzt, die offenbar im Original, das nur den Handlungsstrang der klugen Jungfrauen des Gleichnisses Mt 25,1-13 thematisiert, vermisst wurden. Ansonsten lässt sich in der Wirkungsgeschichte einiger Lieder die Tendenz zur Verallgemeinerung der Gerichtsaussagen beobachten, augenscheinlich mit dem Ziel, ihren Adressat_innenkreis zu erweitern. So wird in EG 9,4f. mehrfach die Unterscheidung von Mächtigen und Armen und Elenden zugunsten allgemeiner Aussagen nivelliert. Ähnlich wurden in EG 412,7 häufig der Fromme zu einem Menschen, Nächsten oder Armen, was eine Annäherung an Mt 25,40 darstellt - letztere Formulierung hat sich auch im EG durchgesetzt. Ein Großteil der genannten Veränderungen entstammt der Zeit der Aufklärung. Generell lässt sich für diese Epoche eine große Bereitschaft beobachten, Lieder zu verändern oder nachzudichten. Im Blick auf Gerichtsvorstellungen lässt sich über das Genannte hinaus die Tendenz zur Individualisierung, Entmetaphorisierung und Diesseitsorientierung feststellen - so wie es allgemein in rationalistischen Bearbeitungen von Liedern der Fall ist. So wird z.B. die abschließende Bitte in EG 149,7 von der Wirin die Ich-Form umgebildet und der Wunsch, samt den Brüdern mein in den Himmel einzugehen (Str. 6), getilgt. Des Weiteren finden sich in den veränderten Versionen häufig Versuche, Metaphern wie das Feuer oder das Freilesen aus dem Buch der Seligkeit (EG 149,5f.) oder auch den Sündenschlaf[e] (EG 387,2) in nichtmetaphorische Sprache zu übersetzen. Zudem liegt der Fokus statt auf dem Eschaton oft auf dem Diesseits und der innerweltlichen Tugendhaftigkeit (EG 387). <?page no="381"?> 381 Die meisten Änderungen wurden im Zuge der Restauration des 19. Jahrhunderts rückgängig gemacht. Trotzdem bleiben die Änderungen - wenn auch unter den Vorzeichen ihres historischen Kontextes - von Interesse, da sie Punkte aufzeigen, die, wie gesehen, präzisionsbedürftig sind oder Anstoß erregen und Widerspruch hervorrufen. Im EG sind in erster Linie kleinere sprachliche Änderungen erhalten geblieben, die zumeist heute nicht mehr verständliches Vokabular betreffen und damit auch sinnvoll sind, wie z.B. bekleyben (EG 5,5), kalt bestehn (EG 149,4) und Potentaten (EG 9,4). Jedoch haben sich gerade im Bezug auf Gerichtsvorstellungen Veränderungen und Streichungen durchgehalten. So ist in EG 5,8 nicht mehr von der hellen und peinlichen stellen die Rede, in EG 9,4 nicht mehr von Gottes, sondern des Höchsten Zorn und in 412,7 nicht mehr von einem Frommen, sondern einem Armen. Gestrichen bleiben in EG 387 die ursprünglichen Strophen 3-6, in 412 die Strophen 4-9 und in EG 151 die Gerichtsstrophe 5 sowie eine der Strophen, die die Stadt der Freuden ausmalt. 8. Die in den Liedern dominierenden Rollenangebote sind die Rollen von Predigenden und Betenden. Bei den Identifikationsangeboten stehen die assoziative und die kathartische Identifikation im Vordergrund. Die Rollenangebote, die die Lieder den Singenden vermitteln, sind vielfältig und häufig mehrdeutig; die Singenden sind oft Verkündigende und Adressat_innen zugleich. Sie kündigen das Kommen Jesu zum Gericht an 467 und nehmen damit die Rolle von Predigerinnen und Lehrern ein. 468 Sehr häufig bieten die Lieder die Rolle einer/ s oder mehrerer Betender an 469 sowie die Rolle des Ichs im Gespräch mit sich selbst, dem eigenen Geist bzw. der eigenen Seele, das sich selbst erforscht und/ oder ermuntert. 470 Auch Rollen von Erzählfiguren der Gleichnisse wie die Jungfrauen 471 und ein getreuer Knecht (EG 451,8) bieten die Lieder an sowie Rollen von Menschen, die an biblischen Szenen wie dem Einzug Jesu in Jerusalem (EG 9,2) oder am endzeitlichen Freudensaal 472 teilhaben bzw. darauf vertrauen, dass dies so sein wird (EG 522,5). All diese Rollen eröffnen die Möglichkeit zur assoziativen Identifikation, d.h. zur Annahme einer neuen Rolle im Akt des Singens. Wenn explizit Adressat_innen angesprochen werden, handelt es sich häufig um positiv konnotierte Gruppen wie die Frommen (EG 9,1; EG 151,1), die erwähnten klugen Jungfrauen (EG 147,1; EG 151,3) oder Menschen, die 467 EG 5,7; EG 6,1f.5; EG 11,10; EG 149,1; EG 405,5 u.ö. 468 EG 9; EG 387,4-6; EG 412 u.ö. 469 EG 3; EG 5,9; EG 6,5; EG 134,8; EG 149,7; EG 151,8; EG 158; EG 331; EG 412,8; EG 447; EG 451,3-10; EG 478,2-5.8f.; EG 518; EG 531. 470 EG 387,1-3; EG 451,1. 471 EG 147,1; vgl. auch EG 9,6; EG 151,2f. 472 EG 147,2f.; EG 151,7; vgl. EG 83,7. <?page no="382"?> 382 des Trostes bedürfen (EG 9,5; EG 11). Angesprochen werden aber auch Gruppen wie die Mächtigen auf Erden (EG 9,4), die im Gericht potentiell scheitern könnten und mit denen sich daher eine kathartische Identifikation anbietet. Generell sind kathartische Identifikationspotentiale in den untersuchten Liedern ausgeprägt: Mit den Bösen (EG 5,8), dem Menschen, welcher hat des Herren Wort verachtet (EG 149,4), dem Menschen, der nicht barmherzig ist, der nicht / die rettet, die ihn flehen (EG 412,8) u.a.m., und die deshalb im Gericht nicht bestehen werden. 9. Im Hinblick auf Gerichtsvorstellungen können die Lieder Sprache schulen. Auf diese Weise können sie gemeinschaftsstiftende und transzendenzeröffnende, vor allem aber seelsorgliche Wirkpotentiale entfalten. Die im ersten Kapitel des dritten Teils dargestellten Wirkpotentiale beziehen sich zunächst auf das Singen im Allgemeinen, lassen sich aber, wie gesehen, auch an einzelnen Liedern zeigen. Lieder zum Gericht schulen generell die Sprache für den Bereich der „letzten Dinge“, also einen Bereich, der, wie gesehen, in Gottesdienst und Predigt immer weniger vorkommt und für den viele Menschen der Spätmoderne keine Sprache mehr haben. 473 Sie helfen Hoffnungen 474 aber auch Ängste 475 in Bezug auf das Gericht zu formulieren sowie die biblischen Gerichtsvorstellungen samt ihrer Abgründigkeit zu vergegenwärtigen und doch nicht bei ihnen zu verbleiben, sondern der Hoffnung auf die Teilhabe am Reich Gottes Ausdruck zu verleihen. 476 So können die Lieder zu einer Auseinandersetzung mit dem Gerichtsgedanken beitragen sowie zu einer eigenen Positionierung dazu, die im Leben wie im Sterben tragen kann. Das gemeinschaftsstiftende Wirkpotential der Lieder liegt häufig darin begründet, dass das Gericht wie in der matthäischen Vorlage nicht als Beurteilung Einzelner imaginiert wird. Vielmehr werden sich alle Menschen, Lebende wie Tote, vor dem Thron des Richters verantworten müssen. 477 Auch das häufig zur Sprache kommende Leiden in der erzählten Gegenwart ist ein kollektives, und so ergeht auch die Bitte um das baldige, erlösende Kommen Jesu aus der Mitte einer Gemeinschaft. 478 473 Ob es jedoch genau die in den Liedern zum Ausdruck kommenden Fragen, Ängste und Hoffnungen sind, die Menschen in der heutigen Zeit umtreiben, wäre in einer gesonderten, empirisch angelegten Studie zu klären. Das Gerichtsthema als solches bleibt auch gegenwärtig relevant, wie in der Einleitung (1.2 im ersten Teil) gezeigt wurde. 474 EG 5,6.8f.; EG 6,2.5; EG 9,6; EG 149,7. 475 EG 5,8; EG 149,4; EG 387,6; EG 412,8. 476 EG 147,2f.; EG 151,7f. 477 EG 5,7; EG 149,2f.; EG 184,4; EG 387,6; anders EG 412,8, wo das Gericht als individuelle Beurteilung vorgestellt wird. 478 EG 5,9; EG 6,5; EG 11,10; EG 149,7; EG 151,8. <?page no="383"?> 383 Die transzendenzeröffnenden Wirkpotentiale gehen häufig mit den gemeinschaftsstiftenden einher: Die zur Sprache kommenden Vorstellungen der basilei,a sind als Vorstellungen von Gemeinschaft angelegt, von einem gemeinsamen Leben an einem Ort der himmlischen Freuden 479 und einem Chor, der das Lob Gottes singt. 480 Das gemeinschaftsstiftende Potential liegt bei diesen Liedern nicht nur im Akt des gemeinsamen Singens bzw. im Gebet begründet, sondern ist in den Liedtexten selbst angelegt. Somit wird der Akt des Singens selbst zur Prolepse des hier Geschilderten. Und schließlich wird in den Liedtexten die Schau Gottes bzw. die Gemeinschaft mit Jesus Christus imaginiert. 481 Die größte Rolle spielen in den analysierten Liedern jedoch seelsorgliche Wirkpotentiale. In seelsorglicher Hinsicht kommen dem Gerichtsaspekt in den Liedern verschiedene Aufgaben zu: Es ist einerseits ein Bedrohungsszenario, angesichts dessen die Perspektive vor Augen gestellt wird, mit Jesu Hilfe darin bestehen zu können. 482 Andererseits ist das Gericht eine Perspektive des Trostes und der Zuversicht für die in und an der jeweiligen Gegenwart Leidenden. Solches Leiden, solche Bedrohung kann explizit formuliert sein, z.B. als Angst und Leid (EG 9,5) oder Streit (EG 151,8). Auch Erfahrungen der Anfechtung - sei es durch den Teufel (EG 6,4) oder die Erkenntnis der eigenen Sünden (EG 11,8) - werden formuliert. Häufiger noch werden Leid- und Bedrohungserfahrungen durch Intertexte wie Nicolais Ausführungen zur Pest in Unna im Freudenspiegel des ewigen Lebens (EG 147) oder enzyklopädisches Wissen wie die Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts (EG 20) in die Liedtexte eingespielt. Dabei sind gerade explizit formulierte Leiderfahrungen aus der jeweiligen Entstehungszeit der Lieder heraus zu verstehen, also z.B. vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges oder den Pestepidemien. Jedoch sind sie stets so offen formuliert, dass Singende zu jeder Zeit ihre eigenen Leiden dort eintragen können - und nicht zuletzt aus dieser Eigenschaft speist sich das Trostpotential dieser Lieder. 10. Die analysierten Lieder sollten im Gottesdienst gesungen, aber mit Bedacht eingesetzt werden. In den jeweiligen Überlegungen zur gottesdienstlichen Verwendung der Lieder hat sich gezeigt, dass sie Gottesdienste überwiegend bereichern. Jedoch sind sie - vor allem an Sonntagen, an denen kirchenjahreszeitlich bedingt mehrere seelsorglich brisante Themen zusammenkommen - z.B. am Volkstrauertag und am Ewigkeits-/ Totensonntag - mit Bedacht einzusetzen: Mögliche Wechselwirkungen mit den anderen gottesdienstlichen Stücken müssen ebenso bedacht werden wie aktuelle Ereignisse in der Gemeinde - 479 EG 11,10; EG 23,5f.; EG 147,2; EG 151,7; EG 531,3; anders EG 83,7; EG 111,10. 480 EG 147,3; EG 151,2; EG 447,10. 481 EG 6,5; EG 20,8; EG 82,8; EG 83,7; EG 158,4; EG 184,5; EG 358,6. 482 EG 82,3; EG 325,3; EG 405,2; EG 518,2f. u.ö. <?page no="384"?> 384 was also generell der Fall ist, gilt für Lieder zum Thema „Gericht“ ganz besonders, da sie im überwiegenden Fall sperrig sind und immer auch ein Stück Provokation beinhalten. Auf Grund dessen ist noch einmal die Bedeutung der Institution der Wochenlieder zu betonen. Ohne diese bestünde gerade für die genannten Lieder überwiegend die Gefahr, im Gemeindealltag in Vergessenheit zu geraten. Darüber hinaus wurde in dieser Arbeit das Plädoyer formuliert, das Gericht an einem Sonntag jenseits des Endes des Kirchenjahres und der Adventszeit zu thematisieren, ohne dass es mit anderen nicht zu umgehenden Themen konkurrieren muss - wie am 9. Sonntag nach Trinitatis. Wünschenswert sind darüber hinaus Liedpredigten zu den genannten Liedern sowie ihre Einbeziehung und Aktualisierung in Predigt und Liturgie, was eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen nicht aussondern selbstverständlich einschließt. Ob die Lieder tatsächlich in Gottesdiensten der Gegenwart gesungen werden und wie sich ihre Wirkpotentiale dann im konkreten Fall entfalten, wäre in einer empirischen Untersuchung zu klären, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden konnte, aber sicherlich lohnenswert wäre. 483 Wichtiger noch erscheint mir jedoch eine Untersuchung über neuere Lieder, in denen Gerichtsvorstellungen der Endzeitrede - oder anderer biblischer Texte - rezipiert werden, die aber (noch) nicht in einem flächendeckend gebrauchten Gesangbuch wie dem EG enthalten sind. Gemeinsam mit den in dieser Arbeit analysierten Liedern sind sie zukunftsweisend für die Art und Weise, in der Gerichtsvorstellungen im Bewusstsein von Glaubenden und Gemeinden präsent sind und sein werden. 483 Eine nicht repräsentative Durchsicht der in der Reihe GottesdienstPraxis und der Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt (ZGP) enthaltenen liturgischen Entwürfe hat gezeigt, dass zumindest die in dieser Arbeit eingehender analysierten Lieder dort - mit Ausnahme von EG 147 und zum Teil EG 412 - so gut wie ausschließlich dann vorkommen, wenn sie als Wochenlied vorgesehen sind. <?page no="385"?> Anhang <?page no="387"?> 387 Literaturverzeichnis Die Abkürzungen richten sich, sofern sie nicht gesondert angegeben sind, nach Siegfried M. Schwertner, TRE Abkürzungsverzeichnis, Berlin u.a. 2 1994. Die Abkürzungen der biblischen Bücher richten sich nach Klaus D. Fricke (Hg.), Ökumenisches Verzeichnis der biblischen Eigennamen nach den Loccumer Richtlinien, Stuttgart 2 1981. 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Locis parallelis evangeliorum apocryphorum et patrum adhibitis, hg. v. Kurt Aland, Stuttgart 15 2005. Gesangbücher *Altona 1785: Allgemeines Gesangbuch, auf Königlichen Allergnädigsten Befehl zum öffentlichen und häuslichen Gebrauche in den Gemeinen des Herzogthums Schleswig, des Herzogthums Hollstein, der Herrschaft Pinneberg, der Stadt Altona, und der Grafschaft Ranzau gewidmet und herausgegeben. Altona. Vierte Ausgabe. 1785. *Barby 1783: Gesangbuch, zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1783. *Basel 1831: Sammlung Geistlicher Lieder. Nebst einem Anhang von Gebeten, Basel 1831. *Basel 1854: Evangelisches Gesangbuch für Kirche, Schule und Haus in Basel-Stadt und Basel-Land, Basel 1854. <?page no="388"?> 388 *Basel 1891: Gesangbuch für die Evangelisch=reformirte Kirche der deutschen Schweiz, Basel 1891. *Bayern 1938: Gesangbuch für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Ansbach 1938. *Crüger 1640: Newes vollkömliches Gesangbuch/ Augspurgischer Confession, Auff die in der Chur= vnd Marck Brandenburg Christliche Kirchen/ Fürnemlich beyder Resi-dentzStädte Berlin vnd Cölln gerichtet… In richtige Ordnung gebracht/ vnd mit beygesetzten Melodien… verfertiget/ Von Johan Crüger/ … Berlin 1640. *Berlin 1695: Geistliche Lieder und Lobgesänge/ Aus der lebendigen und reinen Quelle des Geistes Gottes entsprungen/ und zur Ermunterung der Kinder Gottes publicirt. Im Jahr 1695. *Berlin 1766: Lieder für den öffentlichen Gottesdienst, Berlin 1766. *Berlin 1829: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen. Mit Genehmigung Eines hohen Ministerii der geistlichen Angelegenheiten. Berlin. *Berlin 1853: Gesangbuch zum Gottesdienstlichen Gebrauch für Evangelische Gemeinen. Mit Genehmigung Eines hohen Ministerii der geistlichen Angelegenheiten. Achte mit einem Anhange vermehrte Auflage, Berlin 1853. *Berlin 1886: Evangelisches Gesangbuch. Nach Zustimmung der Provinzialsynode vom Jahre 1884 zur Einführung in der Provinz Brandenburg mit Genehmigung des Evangelischen Oberkirchenrats herausgegeben vom Königlichen Konsistorium, Berlin 1886. *Braunschweig 1779: Neues Braunschweigisches Gesangbuch, nebst einem kurzen Gebetbuche, zum öffentlichen und häuslichen Gottesdienste, Braunschweig 1779. *Bremen 1700: EVANGELIA MELODICA, Das ist: Geistliche Lieder/ Und Lobgesänge/ Nach dem Sinn der ordentlichen Sonn= und Fest=Tages Evangelien … Von Laurentio Laurenti, … Bremen 1700. *Breslau 1772: Allgemeines und vollständiges Evangelisches Gesang=Buch für die Königl. Preußis. Schlesis. Lande … Nebst angefügtem Gebeth=Buch, und einer Vorrede von Johann Friedrich Burg, Königl. Ober=Consistorial=Rath und Inspector, Breßlau 1772. *Brüder 1544: Ein Gesangbuch der Brüder inn Behemen vnd Merherrn/ Die man auß haß vnd neyd/ Pickharden/ Waldenses/ &c. nennet. Von jnen auff ein newes (sonderlich vom Sacrament des Nachtmals) gebessert/ vnd etliche schöne newe Geseng hintzu ge=than./ M. D. XLIIII. *Brüder 1749: Alt= und Neuer Brueder=Gesang. Londoner Gesangbuch, Nachdruck der Ausgabe London 1749-54, hg. v. Erich Beyreuther/ Gerhard Meyer u.a. (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente 4.4.), Hildesheim/ New York 1980. *Darmstadt 1815: Allgemeines Evangelisches Gesangbuch für das Großherzogthum Hessen. Zweite Auflage, Darmstadt 1815. *Darmstadt 1816: Allgemeines Evangelisches Gesangbuch für das Großherzogthum Hessen. Dritte Auflage, Darmstadt 1816. *Darmstadt 1881: Gesangbuch für die Evangelische Kirche im Großherzogthum Hessen, Darmstadt 1881. *Darmstadt 1935: Gesangbuch für die evangelische Landeskirche in Hessen, Darmstadt 1935. *DC 1941: Großer Gott wir loben dich. Der neue Dom. Verlag für deutschchristliches Schrifttum, Schneider & Co., Weimar 1941. <?page no="389"?> 389 *DEG 1915: Deutsches Evangelisches Gesangbuch für die Schutzgebiete und das Ausland. Herausgegeben vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß. Berlin 1915. *DEG 1926: Deutsches Evangelisches Gesangbuch. Vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß den deutschen evangelischen Gemeinden des Auslandes dargeboten…, Berlin 1926. *Dortmund 1893: Evangelisches Gesangbuch für Rheinland und Westfalen, Dortmund 1893. *Dresden 1785: Das Privilegirte Ordentliche und Vermehrte Dreßdnische Gesang=Buch, Wie solches sowohl in der Churfl. Sächsis. Schloß=Capelle, als in denen andern Kirchen bey der Churfl. Sächsischen Residenz, Nach den Lieder=Nummern an den Tafeln, Hiernebst auch in den gesamten Chur= und Fürstlich=S