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Begegnungen

mit geistigen Größen, an denen ich innerlich wuchs. Ein Buch des Dankes

0819
2015
978-3-7720-5573-7
978-3-7720-8573-4
A. Francke Verlag 
Joseph Peter Strelka

"Begegnungen" ist eine sehr persönliche Biographie von Joseph P. Strelka über Begegnungen mit großen, zum Teil noch lebenden Wissenschaftlern und Gelehrten aus den Bereichen Literaturwissenschaft und Philosophie. Die "Begegnungen" beginnen in seiner Studienzeit, wozu auch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges gehören, zeichnen seine Zeit als Professor in den USA nach, führen aber immer wieder auch zurück in seine österreichische Heimat. Nicht zuletzt ist dieses spannende Erinnerungsbuch auch ein Dankesbuch für viele kostbare Augenblicke mit tiefen Einblicken und Perspektiven in die Weltliteratur.

<?page no="0"?> E dition Patm os Joseph P. Strelka Begegnungen mit geistigen Größen, an denen ich innerlich wuchs. Ein Buch des Dankes <?page no="1"?> E dition Patm os Herausgegeben von Joseph P. Strelka Band 20 <?page no="3"?> Joseph P. Strelka Begegnungen mit geistigen Größen, an denen ich innerlich wuchs. Ein Buch des Dankes <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8573-4 <?page no="5"?> Für Sascha <?page no="7"?> INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Erstes Kapitel In Österreich 1927 bis 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Zweites Kapitel In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Drittes Kapitel Im Empire Staat New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Viertes Kapitel Im freien Abendland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Fünftes Kapitel Im dritten Jahrtausend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 <?page no="9"?> VORWORT Dieses Buch ist meiner Tochter Sascha gewidmet, welche die Idee zu diesem Buch hatte und mich dazu brachte, es zu schreiben. Sascha wurde von meiner Mutter aufgezogen, die viele Parallelen mit der mütterlich liebenden Hauptfigur meines Lieblingsromans von Hermann Broch Der Versucher hat. Diese Figur hat im Roman den Namen Mutter Gisson und der Name Gisson ist ein Anagramm für Gnosis. Auch Mutter Gisson wurde zu einer Großmutter. Sie ist eine fast übermenschliche Heldin von liebender Mit-Menschlichkeit. Ihr Mann, welcher der Jäger des Dorfes war, in dem der Roman spielt, wurde von einem Wilderer erschossen. Sie rettete nicht nur das Leben des Wilderers, dessen Namen sie kannte, aber verschwieg, sondern als er alt und krank, einsam auf einem Berg wohnte, schickte sie ihm von Zeit zu Zeit ein kleines Paket, entweder mit Kaffee oder mit Pfeifentabak. Meine Tochter Sascha ist solcher Mit-Menschlichkeit fähig. Sie ist dadurch wiederholt zu einem Opfer geworden, welches die Interessen des eigenen Lebens unterdrückte. Zuerst wurde sie das Opfer eines oberflächlichen und opportunistischen Verlobten mit einer Mutter, die eine solch fanatische Herrschernatur war, dass sie alles ins Unglück stürzte, was in ihre Nähe kam. Das zweite Mal wurde sie durch viele Jahre das Opfer eines tibetischen Lama namens Norhla, der nichts anderes war als ein fanatisierter Pfaffe, ein Schwindler, der sich für einen wirklichen „ Guru “ ausgab, obwohl er genau wusste, dass er keiner war. Immer wieder war sie das positive denkende, liebende Opferlamm, was ihrem praktischen Leben schadete, aber ihre Gesinnung aufrecht erhielt Nicht zuletzt hat sie mich aber auch etwas Wichtiges gelehrt. Ich hatte immer gedacht, die Geburt eines Kindes sei ein normaler, natürlicher Akt, über den man alles in einem gynäkologischen Lehrbuch nachlesen kann. Als ich Sascha sofort nach ihrer Geburt in den Armen hielt, da wusste ich plötzlich ganz tief, dass es auch ein göttlicher Akt war. Mögen ihre kommenden Jahre glückliche sein. <?page no="11"?> EINLEITUNG Vor siebenundzwanzig Jahren verließ ich für zwei Tage mein Naturparadies, in dem ich wohnte, um in das Beton-, Glas- und Steinmeer von Manhattan hinunter zu fahren, wo mir im Österreichischen Kulturinstitut eine Kassette mit zwei Festschriften zu meinem 60. Geburtstag überreicht wurde. Eine war von Kollegen und Freunden, die zweite, sehr ungewöhnliche aber, war von bedeutenden Autoren der ganzen Welt, die einen Literaturprofessor ehren wollten. Diese Kassette bildet einen Kern meiner „ Begegnungen “ . Zwar lautete auch meine Heimatadresse auf „ New York “ , aber die meisten Nicht-Amerikaner hätten schwerlich gedacht, dass ich in der herrlichen Waldeinsamkeit eines riesigen Staats-Nationalparks am Ende einer so gut wie unbesiedelten kleinen Straße auf einem Hügel wohnte. Auf der Wiese hinter dem Haus grasten vom Frühling bis zum Herbst Hirschkühe und legten sich nachmittags auf der Wiese hin wie Kühe auf einer Schweizer Alm. Mitunter kam ein Schwarzbär vorbei, von reizender Ungeschlachtheit, das Gegenteil einer wilden Bestie, sondern ein Vegetarier. Nur zwei Mal in der Woche fuhr ich hinunter in die Universität. Ich lebte allein mit meiner alten Mutter und leider bald mit ihrem Grab am Rand meiner Wiese und mit meinem Hund. Der Schweizer Verleger-Freund Peter Lang, war aus der Schweiz angereist, um mir die Kasette zu übergeben. Die große Mühe der Herausgabe der Festschrift von den Kollegen hatte sich der Bonner Germanist Karl Konrad Polheim gemacht, die große Mühe der Herausgabe der Festschrift von Autoren hatte sich der damalige Präsident des österreichischen PEN-Clubs Ernst Schönwiese gemacht. Als ich damals sechzig wurde, waren einige der größten und engsten Kollegen bereits tot, wie Robert Minder und Emil Staiger und auch einige der engsten Autoren-Freunde waren bereits abgeschieden und in den ewigen Osten eingegangen wie Friedrich Torberg und Jean Améry oder Friedrich Heer und Erich Pogats. In der Festschrift von Autoren hatte ein Jugendfreund aus meiner mir wirklich wichtigen Heimatstadt Wiener Neustadt, Albert Janetschek, ein Gedicht „ Mit Sechzig “ beigesteuert, in dem die Verse standen: „ man blickt jetzt häufiger zurück auf das, was war. “ Um wieviel mehr gilt das für den jetzt Siebenundachtzigjährigen als den Sechzigjährigen. Von den zweiundsiebzig Autoren der Festschrift sind nur mehr <?page no="12"?> zehn am Leben und nur mehr zwei leben in einer nächsten Umgebung. Ich lebe fast nur mehr in der Erinnerung. Das ist aber ganz und gar nicht eine Klage, sondern im Traumland der Erinnerung zu leben ist wunderschön. Eine meiner Absichten mit diesem Buch besteht auch darin, andere an dieser Schönheit teilhaben zu lassen. Die seinerzeitige Einsamkeit im Naturparadies schenkte mir das Gefühl der Geborgenheit in der zeitlosen Ordnung der Natur unseres Universums. Ich konnte, wenn die Zeit es gestattete, stundenlang auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald, am Rand eines dahin plätschernden schmalen Bächleins sitzen, umrauscht von nichts anderem als dem Plätschern des Bächleins und dem Ruf der Vögel. Mitunter wünschte ich, an diesem Lieblingsplatz einmal friedlich meinen letzten Atemzug zu tun. Diese herrliche Einsameit war nun durch eine neue Art Einsamkeit abgelöst worden, die von Kronos, dem Gott der Zeit beherrscht war. Bis achtzig hatte ich auch aus meiner Waldeinsamkeit heraus, immer wieder in meinem kleinen Kreis aktiv einzugreifen versucht für jeweils das, was mir für Frieden und Freiheit gut dünkte. Denn ich litt sehr unter der Dummheit und Bösartigkeit der Menschen und dem, was sie einander antaten. Wie mir die erste Einsamkeit eine geographische Schranke und damit das Gefühl der Abgeschiedenheit beschert hatte, so die jetzige chronologische Schranke das Gefühl der Abgeschiedenheit durch meine körperliche Schwäche nicht mehr dazugehören zu können Aber ich besitze noch die Gnade, schreiben zu können, und meine Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Freilich treffe ich hier in diesem Buch eine Auswahl, weil ich hauptsächlich positive Begegnungen beschreiben möchte. Sowohl die instinktive Flucht in die Distanz der Einsamkeit, wie die weitaus überwiegende Zahl der positiven Begegnungen, sind kein arrogantes Sich- Zurückziehen in einen Elfenbeinturm, sondern sind die Reaktion eines sensitiven leidenden Menschen auf eine entsetzlich dumme und bösartige Welt, in welcher der Hass ständig zunimmt. Dass Mörderbanden, welche die islamische Religion verbrecherisch für ihre sinnlosen Morde missbrauchen, einen ungeheuren Zulauf haben, ist wahrscheinlich das grausamste Beispiel für den geistigen Zustand dieser Menschheit. Ich bin überzeugt, dass Nietzsche, der im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 - 71 als Sanitäter Schreckliches mit ansehen musste und der daraufhin in jene „ siebente und tiefste Einsamkeit “ floh, die er in einem seiner Gedichte beschrieb, einen Parallelfall dazu darstellt. Was aber meine positiven Begegnungen betrifft, so sind sie nicht nur die schöne Erinnerung, die ich dadurch ins Zeitlose heben wollte, sondern sie sind darüber hinaus ein Hinweis auf Möglichkeiten, die selbst in unserer so trostlosen Zeit noch bestehen. XII Einleitung <?page no="13"?> Darum habe ich eine möglichst breite Skala verschiedener Möglichkeiten solcher Begegnungen beschrieben. Da sind die persönlichen Begegnungen mit großen lebenden Autoren besonders wichtig in einer Zeit, in welcher in der öffentlichen Meinung nur allzu oft großsprecherische Schwachköpfe riesigen Ruhm ernten. Da sind eine Art Parallele dazu die persönlichen Begegnungen mit lebenden, großen Kollegen. Dazu kommen, keineswegs weniger wichtig, die geistigen Begegnungen mit bedeutenden Büchern. Das wichtigste praktische Problem für mich stellte die Auswahl jener Begegnungen dar, die ich niedergeschrieben habe. Von den zweiundsiebzig Beiträgern der Festschrift von Autoren für mich habe ich gerade ein Achtel ausgewählt. Es war mein Wunsch, vermitteln zu können, was ich diesen Begegnungen verdanke, die mir Wissens- und Bewusstseins-Erweiterung, Trost und Lebenshilfe beschert haben. Durch sie haben meine ursprüngliche, kindliche Freude an und Ehrfurcht für das Leben und seinen Schöpfer neue und gefestigtere Bestätigung erfahren. Der Herausgeber der Festschrift von Autoren für mich hat den inneren Zusammenhang der Begegnungen besonders glücklich zu formulieren verstanden, als er schrieb, dass meine Auffassung von Dichtung, Dichtungskritik und Dichtungswissenschaft durch meine „ Berufsauffassung “ zusammen gehalten werde, da ich vom Autor genau so wie vom Kritiker und Wissenschafter als erste Pflicht die Hingabe vom „ Dienst an der Dichtung “ erblickte. Um ein praktisches Beispiel vorauszuschicken, möchte ich den Beitrag eines der Autoren in der Autoren-Festschrift beschreiben, der mir besondere Freude bereitet hat. Es ist der Beitrag von Schalom Ben-Chorin. Ich liebe nicht nur seinen Dichternamen, der „ Frieden, Sohn der Freiheit “ bedeutet, sondern auch seinen auf das Gesamtmenschheitliche ausgerichteten Blick. Sein Beitrag zur Festschrift trägt den Titel „ Eine glückliche Stunde “ . Er beschrieb darin, aus hohem Alter zurück blickend, die vielleicht glücklichste Stunde seines Lebens. Er hatte als junger Mann am Münchner Stachus an einem Abend ein Fernrohr aufgestellt gesehen, durch das man gegen Entrichtung eines kleinen Betrages den Mond und die Sterne betrachten konnte. Als er damals auf diese Weise einen Blick in das Weltall warf, war er verzaubert gewesen. „ Das Glück überflutete mich. “ schrieb er, „ Ich sah in die Ewigkeit, wurde Teil von ihr. Alles Schwere war von mir genommen. Der Atem Gottes streifte mich. “ Er hörte zudem aus dem nahen Nornenbrunnen „ Die Melodie der Urelemente “ fühlte sich „ eingetan in die Ganzheit der Schöpfung. “ „ Frei vom Pesthauch der Vergänglichkeit “ erfüllte ihn „ die Gewissheit der Unsterblichkeit, als Teil des Kosmos unvergänglich, wenn auch in der Individualität dem flüchtigen Dahingehen verhaftet. “ Man braucht übrigens gar kein Fernrohr dazu. Als ich an einem Weihnachtstag im Kriegswinter 1944 in der Finsternis und Stille des am Dorfende XIII Einleitung <?page no="14"?> Sauerbrunns abgelegenen Gartens besonders bedrückt von Kriegserleben und Todesgefahr meine Augen zum sternklaren Nachthimmel emporhob, hatte ich ein durchaus paralleles Erlebnis in voller Intensität gehabt, auch wenn ich es damals nicht so ausdrücken konnte, wie der zurückblickende alte Schalom Ben Chorin. Nicht zuletzt ist dieses Erinnerungsbuch auch ein Dankesbuch für die kostbaren Augenblicke, die ich erleben durfte und auch noch darüber hinaus ist es ein Buch, das zeigt, wie die Beschäftigung mit Weltliteratur viele wichtige Einsichten und Perspektiven des wirkliche Lebens besonders klar und innerlich bewegt ins Bewusstsein heben kann. XIV Einleitung <?page no="15"?> ERSTES KAPITEL IN ÖSTERREICH 1927 BIS 1964 Am Anfang steht die Begegnung mit meinen Eltern, denen ich nicht nur das Leben, sondern nahezu alles verdanke. Mein Vater war ein ebenso intelligenter und gebildeter, humorvoller wie auch gütiger Mensch, dessen Leben von Anfang bis zum Schluss Arbeit und Fleiß war. Er war gebürtiger Tscheche und Schneidermeister, der abwechselnd zehn bis fünfzehn Arbeiter beschäftigte. Als ich klein war, stand er an jedem Wochentag um fünf Uhr auf, um in sein Geschäft „ in die Stadt “ zu gehen, denn wir wohnten in einem großen Einfamilienhaus mit Garten in einer Vorstadt von Wiener Neustadt. Hier hatte er im Ersten Weltkrieg in der österreichischen Militärakademie meine Mutter kennen gelernt, die von seiner Bildung und fast noch mehr von seinem Humor fasziniert war. Ihr zuliebe hatte er nach dem Krieg nicht für die Tschechoslowakei, sondern für Österreich optiert, nachdem er noch von 1918 bis 1919 in der „ tschechischen Legion “ im Krieg gegen die kommunistische Diktatur in Ungarn gekämpft hatte, um die Slowakei zu befreien. Ich erinnere mich, als Dreijähriger tschechische Kinderlieder gesungen zu haben, die er mich gelehrt hatte. Mein Lieblingslied war „ Já husárek malý “ , das ich sang, wenn ich auf seinem Knie ritt. Rückblickend betrachte ich es als einen großen Vorteil, von Anfang an übernational eingestellt gewesen zu sein, ohne dass es künstlich gelernte, bewusste „ Ideologie “ war. Die Mutter aber war ein Übermensch an Liebeskraft und von einer Belesenheit in Werken der Dichtung und Philosophie, der sie tiefe Lebensweisheit verdankte. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, beobachtete ich, wie sie eines Tages in einem Ofen ein Heft Seite für Seite verbrannte. Als ich fragte, was sie verbrannt hätte, sagte sie mir, es seien Gedichte gewesen, die sie als kleines Mädchen geschrieben hatte. Die Zehn- oder Zwölfjährige war mit dem Heft sogar in eine Buchhandlung in der Stadt gegangen und wollte die Gedichte drucken lassen. Sie wurde jedoch aufgeklärt, dass der Buchhändler nur fertig gedruckte Bücher verkaufte und keine Bücher herstellen konnte. Ich erinnere mich, dass ich über den Verlust bitterlich geweint hatte. Als ich drei Jahre alt war, hängte sie über meinem „ Gitterbett “ im Kinderzimmer ein Goethebild auf und begann, mir Geschichten vom „ Herrn Goethe “ zu erzählen, und sie war eine blendende Geschichtenerzählerin. Jetzt hängt dieses Bild über meinem Schreibtisch. <?page no="16"?> Wenn der Drei- oder Vierjährige oftmals mit heftiger Verkühlung oder Grippe das Bett hüten musste, erzählte sie ihm selbsterfundene Märchen. Ich erinnere mich, dass mein Lieblingsmärchen das Märchen vom Geißbockball war, das in dem Hof spielte, dessen Dach des Hauptgebäudes wir von unserem Garten aus sehen konnten. Das Märchen beschrieb, wie die anderen Tiere zur Feier des Geburtstags des Geißbocks den Geißbockball veranstaltet hatten. Meine Mutter hatte eine blendende Phantasie. Sehr früh schon hatte ich durch die Mutter wesentliche Erlebnisse durch die Begegnung mit Dichtung: Besonders häufig durch Goethe und Emerson, aber auch durch Matthias Claudius und Jean Paul. Es waren immer sofortige, unmitttelbare, mehr oder weniger tiefe Eindrücke gewesen. Als eine besondere Begegnung empfand ich aber, wo ein mir innerlich völlig fremdes Werk, zudem durch falsche Betonungen beim lauten Vorlesen, plötzlich mit ungeheurer Wucht in einem Augenblick als ganz große Kunst aufging. Als ich aus der Luftwaffe entlassen, „ kinderlandverschickt “ , meinem Gymnasium nachgefahren war, hatte es sich ereignet. Zum Schutz vor Bombenangriffen waren der ganze Lehrkörper und sämtliche Schüler in einige Gasthöfe im Waldviertel verlegt worden. Es gab nur vier Schüler der siebenten Klasse, wie ich, da alle anderen eingerückt waren. Der Direktor entschied, dass wir vier der Einfachheit halber keine eigenen Griechisch-Stunden haben sollten, sondern in der sechsten Klasse als „ Gäste “ zuhören sollten. Ich weiß, dass das Ganze stattfand, weil ich mich dem Homertext plötzlich ohne Prüfungsangst gegenüber fand, denn wir durften nicht aufgerufen werden. Ich weiß nicht mehr, welche Stelle es war, aber ich erinnere mich genau, dass ein Schüler aus der sechsten Klasse diese Stelle griechisch und mit falscher Betonung vorlas, bevor er sie zu übersetzen versuchte. Plötzlich war mir nicht nur der Sinn der Stelle klar, sondern ich erkannte wie von einem Blitzsttrahl getroffen, die große Kunst, mit der sie gemacht war. Am zweiten Anfang meines Lebens steht die Begegnung mit meinem akademischen Lehrer Oskar Benda. Wenn ich jemals imstande war, literaturwissenschaftlich etwas zu leisten, dann verdanke ich das ihm. Er beherrschte die italienische und französische Sprache und die Literatur in einem Ausmaß, das ihn instand setzte, den vier- oder fünf Jahre vakant gewesenen einzigen neuromanischen Lehrstuhl der Universität Wien zu vertreten. Zwei Jahre lang hatte er in Oxford englische Literatur studiert. Seine Kenntnis der nachantiken, neueren europäischen Literatur war infolge seines stupenden Detailwissens von einer Breite, die man nur abendländisch nennen konnte. Aus seinen privaten Erzählungen für seinen Lieblingsschüler, der ich war, und den er sich als Nachfolger wünschte, entnahm ich, dass er für seine Ausbildung auch viel dem Umstand verdankte, dass er noch in der alten Monarchie seinen ersten Posten als Gymnasiallehrer in Triest verbrachte. Es war damals der zweitgrößte Mittelmeerhafen, offen nicht nur zu den italienischen und grie- 2 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="17"?> chischen Mittelmeer-Küsten, sondern auch zu Ägypten, Palästina und im Westen bis zu Gibraltar. Zugleich hatte Triest ihn durch seine eigene internationale Bevölkerung und einige bedeutende Geister ebenso geprägt wie James Joyce. Er war als Sohn eines ungarischen Großgrundbesitzers aufgewachsen, war als Dreijähriger bereits mit den Pferden zur Tränke geritten. Zwar musste er die öffentliche Volksschule besuchen, doch gab es auch einen wichtigen Privatlehrer. Er war von einer Geistesschärfe und einer disziplinierten Denkzucht, die sich bis in seine Schrift hinein verrieten. Die Schrecken und Ängste des Krieges waren vorbei gewesen, als ich im September 1945 zum ersten Mal auf dem „ Philosophischen Dekanat “ vor einer langen Tafel stand, auf der jeder Professor seine Lehrveranstaltungen zur Auswahl angekündigt hatte. Ein gedrucktes Vorlesungsverzeichnis gab es im ersten Nachkriegssemester noch nicht, aber die Anschläge wurden auch später beibehalten. Benda hatte eine „ Einführung in die literaturwissenschaftliche Methoden-lehre “ angekündigt und in der richtigen Vorstellung, dass es hier um Grundsätzliches ging, das mir völlig mangelte, belegte ich es. Ich war das Gegenteil von leichtgläubig und in den ersten Wochen gab es mitunter Stellen in seiner Vorlesung, die mich skeptisch stimmten, bis sich eines Tages plötzlich alles zu einer solchen einheitlichen Ordnung zusammenschloss, dass ich geradezu hingerissen war. Er hatte einen begeisterten Jünger aus mir gemacht. Er hatte nie einen Massenzulauf an Studenten gehabt, aber es stellte sich bald heraus, dass ich nicht der einzige, besonders Begeisterte war. Im dritten Semester fasste ich etwa ein Dutzend der Anhänger zu einer Gruppe zusammen, die sich einmal wöchentlich in einem leeren Hörsaal trafen, um seine Ausführungen zu besprechen, und er war als Lehrer auch interessiert genug, um selbst alle zwei Wochen zu kommen, um Fragen zu beantworten. Wenige Jahre später gab es eine unendliche Reihe von gemeinsamen Mittagessen in seinem Stammlokal, einem Wiener Beisel mit dem Namen „ Mondscheinstüberl “ , wo ich Privatissima erhielt und er von sich erzählte. Als ich mit ihm über ein Dissertationsthema sprach, schlug er ein komparatistisches Thema vor „ Die feudalromantischen Strömungen der Renaissanceliteratur “ und ich stimmte gerne zu, wenn ich nur bei ihm sein konnte. Aber schon als ich mit den Vorarbeiten dazu begann, wurde mir klar, dass am Anfang vor allem auch die burgundische Literatur stand und dass ich es ohne französisch nicht schaffen könnte. Also suchte ich ihn ein zweites Mal auf und erklärte ihm, ich könnte dieses Thema nicht behandeln. Ich käme aus einem humanistischen Gymnasium mit Latein, Griechisch und Englisch. Aber ohne französisch ginge es nicht. 3 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="18"?> Er gab mir einen erstaunten Blick und sagte nur: „ Na, dann lernen Sie es. “ Also lernte ich es. Der erstaunte Blick allein war eine neue wichtige Lektion für mich, nämlich, dass ein entschlossener und fähiger Geist alles bewältigen kann. Meine erste Auslandseinladung als Gastdozent und damit eine weitere interessante Begegnung verdanke ich meinem Lehrer Benda. Im Oktober 1952 war der Vorstand der Germanistik der Universität Zagreb Zdenko Š kreb für ein Forschungssemester nach Wien gekommen. Nach wenigen Tagen war ihm klar, dass der einzige, von dem er Wichtiges lernen konnte, Benda war und er besuchte regelmäßig seine Vorlesungen. Er war aus dem kommunistischen Tito-Jugoslawien gekommen. Nachdem sich Tito von der Sowjetunion losgesagt und gegen sie Stellung genommen hatte, wurde zwar keine Handbreit Bodens des hoffnungslosen kommunistischen Wirtschaftssystems aufgegeben, aber der stumpfsinnige Stalinismus im Kulturellen war wesentlich aufgelockert worden. Š kreb lud Benda zum Mittagessen ein und berichtete ihm, dass er im Sommer 1953 einen Kurs für sämtliche Oberschullehrer Kroatiens für das Fach der deutschen Sprache und Literatur leiten werde. Sie sollten durch besondere Fachvorträge „ entstalinisert “ werden. Das Thema der allgemeinen Renaissance-Vorlesung Bendas schien ihm von größter Wichtigkeit zu sein. Da mein Lehrer wirklich krank war und er dazu noch eine Chance für mich sah, erklärte er Š kreb, ich sei als sein Schüler genau so gut wie er und zudem körperlich besser geeignet. Š kreb glaubte das bestimmt nicht ganz, aber er schrieb mir einen Brief und lud mich zu einem Gespräch ein über einen Sommerkurs der Universität Zagreb im Kurort Crkvenica an der Adria. Aus der Bundesrepublik Deutschland hatte der durch sein Buch Das sprachliche Kunstwerk (erschienen im Francke Verlag) damals berühmteste Autor zugesagt, zu kommen, Wolfgang Kayser aus Göttingen, aus Österreich einer der Unbekanntesten, nämlich ich. Die Begegnung mit Wolfgang Kayser war ebenfalls ein Erlebnis. Seine Vorlesungen waren wie jene Staigers in Zürich und auch jene Bendas Kunstwerke. Ich besuchte die meisten und verbrachte auch Zeit mit ihm. Bis heute erinnere ich mich, dass er von einem seiner Studenten als einem wahren Wunderkind geschwärmt hatte, der aber jetzt in den USA sei. Es war das erste Mal, dass ich den Namen Karl Guthke hörte. Er blieb in Amerika, wurde ein Weltstar, wurde mein Freund. Als ich den letzten kleinen Schatz, einen dicken Leinenband in dem handschriftliche Glückwünsche von etwa hundertfünfzig der berühmtesten Literaturprofessoren der Welt zu meinem fünfzigsten Geburtstag vereinig sind, nach Amerika geben wollte und Guthke fragte, an wen ich mich in der Houghton Library, der berühmten Manuskriptsammlung Harvards wenden könnte, berichtete er mir, dass er an einem ähnlichen Buch schreibe wie dieses hier, in dem auch sein Weg von Deutschland nach Amerika beschrieben wird. Als Titel hatte er einen Goethebegriff gewählt, „ Geistiger Handelsverkehr “ und im Untertitel auf die 4 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="19"?> „ Goldenen Jahre “ der Wissenschaften verwiesen. Ich hoffe, es wird das vierte Guthke-Buch in meiner Buchreihe im Francke Verlag. Während des Kurses - die meisten meiner Schüler waren doppelt so alt wie ich - wurden Zdenko Š kreb und ich enge Freunde. Zdenko, denn das war er jetzt für mich, lud mich ein, nach dem Kurs zehn Tage lang sein Gast in Zagreb zu sein. In diesen Tagen beschlossen wir, ein österreichisches Kulturinstitut in Zagreb zu gründen, was auch gelang. In den zehn Tagen zeigte mir Zdenko alles, was ihm für Zagreb bedeutend schien und dazu gehörte vor allem die private Kunstsammlung von Werken Ernst Barlachs im Besitz der berühmten Schauspielerin Tilla Durieux, die meine nächste wichtige Begegnung wurde. Im Jahr 1933 war sie noch in Berlin umjubelt worden, musste dann aber rasch flüchten und verbrachte ihre Exilzeit in Zagreb. Die alte Dame, die Zdenko sehr schätzte, empfing uns zu einem Nachmittagskaffe mit Sachertorte. Sie war damals bereits 73, aber von einer Lebendigkeit, Bildung und Frische, die eindrucksvoll war. Sie sprudelte nur so Erinnerungen aus sich heraus. Sie hatte ja auch geschrieben. Ihr erstes Erinnerungsbuch war 1928 erschienen, das Manuskript eines zweiten, der Flucht und der Exilzeit, dessen Hauptteil längst fertig war, erschien ein Jahr nach meinem Besuch bei ihr. Sie spielte die Rolle der Mara im Film des Exil-Regisseurs Helmuth Käutner Die letzte Brücke, der in Jugoslawien gedreht wurde und einer der wenigen Nachkriegsfilme von Weltgeltung war. Es war das hohe Lied einer Ärztin, die um Leben zu retten zwischen den Fronten der Partisanen und der deutsch Besatzer ihr eigenes Leben verliert. Es ist zu Recht ein „ Denkmal der Menschlichkeit “ genannt worden. Tilla Durieux ist bald darauf in die Bundesrepublik zu neuem, späten Bühnen-Ruhm zurückgekehrt. Eine späte, denkwürdige Selbstbiographie trägt den für ihre Lebenshaltung bezeichnenden Titel Meine ersten neunzig Jahre und erschien 1971. Zdenko aber wurde ein Freund fürs Leben, den ich später nach Amerika eingeladen habe und der ebenso später eines der zwei oder drei besten Grillparzer-Bücher schrieb, die es gibt. In das Jahr 1953 fiel auch die Entdeckung, die ein Jahr später zu meiner ersten, kleinen eigenständigen Publikation führen sollte. Während der Arbeit an der Habilitationsschrift saß ich auch einige Wochen über einem Prunkmanuskript der Österreichischen Nationalbibliothek, das auf dem Titelblatt das Motto Margarethes von Österreich hatte. Feststand, dass es mit ihr zu tun hatte, aber noch niemand hatte es herausgefunden. Die überaus gründliche Handschriftensammlung hatte auf einem eigenen Blatt auch vermerkt, wer alles das Manuskript in der Hand gehabt hatte. Darunter war auch Philipp August Becker, der berühmte Romanist aus Straßburg. Aber während ich nicht einen Bruchteil dessen wusste, was ihm über mittelfranzösische Literstur bekannt war, hatte ich 5 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="20"?> seit drei Jahren alles gelesen, was ich über Margartehe und ihren Hof erfahren konnte. Mir war klar, dass das Geheimnis hier verborgen lag. Wie jedes Prunkmanuskript war auch dieses durch illuminierte Randleisten geschmückt. Es waren vier Buchstaben, die in abwechselnder Reihenfolge immer wiederkehrten: L, A, H, C. Über Wochen zerbrach ich mir jeden Wochentag mehrere Stunden den Kopf über diese vier Buchstaben bis der Moment kam, in dem es in mir aufblitzte: „ Antoine de Lalaing, Comte d ’ Hoogstraeten. Es waren ihre Lieblingshöflinge und dieser eine war offenkundig noch mehr. Denn die Gedichte waren Liebesgedichte, die an ihn gerichtet waren. Ich publizierte den Text der Handschrift mit einer Einleitung, welche alles Wichtige klärte. Als sie erschien, war mein geliebter Lehrer bereits tot. Ein Jahr nach dem Besuch in Zagreb war der so sehr geliebte und verehrte Benda für mich plötzlich und unerwartet gestorben, und nebenbei mit ihm meine Karriere in Österreich. Ich hatte vier Jahre an einer mit ihm abgesprochenen Habilitationsschrift gearbeitet. Bis heute bewahre ich seine Totenmaske, die ich anfertigen ließ. Unsere Zusammenarbeit hatte sich schicksalhaft vollzogen. Als ich im dritten Semester gewesen war, ließ mich der Bürgermeister meiner Heimatstadt Wiener Neustadt zu sich rufen und sagte zu mir: „ Sie sind hier einer der wenigen vorzeigbaren Vertreter Ihrer Generation. “ Er spielte auf meine Rolle im Widerstand und auf meine aufopfernde medizinische Hilfstätigkeit in den ersten Monaten nach der Befreiung an. „ Der Posten eines städtischen Kulturamtsleiters ist frei. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie ihn annehmen, halte ich ihn für Sie bis nach Abschluss Ihres Studiums offen. “ Ich versprach es. Als ich nach Annahme meiner Dissertation bei Benda zu meinem großen Abschlussrigorosum angetreten war, hatte er nur eine größere Frage über Schnitzler gestellt und dann an Gespräche angeknüpft, die wir fachlich über Renaissanceprobleme geführt hatten. Nach der vorgeschriebenen Stunde fragte er zuletzt: Wollen sie bei mir Assistent werden? “ Es war wie ein Traum, der Raum um mich begann sich zu drehen, aber um nicht zu lügen sagte ich „ Leider bin ich unserem Bürgermeister im Wort. “ Ich wurde ein knappes Jahr Kulturamtsleiter und in dem Jahr hatte ich unerwartet Begegnungen, durch die ich ein kleiner, aber doch bemerkenswerter Zeitzeuge in der österreichischen Nachkriegsgeschichte wurde. Ich saß gerade beim Bürgermeister, um zu versuchen, das Kulturbudget zu erhöhen, da läutete sein Telefon. Es war ein städtischer Polizist im äußersten Norden der Stadt. Dort befanden sich die teilweise wieder aufgebauten Ruinen der drei großen Rüstungswerke aus der Kriegszeit, von denen die erste Messerschmidt-Jagdflugzeuge baute, die zweite, B1-Raketen und die dritte, B2- Raketen, die nach England abgefeuert worden waren. 6 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="21"?> Die Russen hatte nach dem Einmarsch diese Betriebe zu „ deutschem Eigentum “ erklärt. Sie hatten etliche Gebäude wieder instand gesetzt und reparierten Eisenbahnwaggons und anderes. Die Betriebe hießen USIA-Betriebe, hatten einen russischen Direktor, der hauptsächlich Kommunisten beschäftigte, und eine größere, ausgesuchte Gruppe der Kommunisten hatte paramilitärische Ausbildung erhalten. Der Polizist berichtete, dass sechzehn Lastkraftwagen mit dieser paramilitärischen Truppe soeben das Hauptgebäude verlassen hatten und in die Stadt gefahren waren. Ich hatte alles mitgehört. Der Bürgermeister wies mich an, bei ihm zu bleiben, weil er mich vielleicht brauchen würde. Wir gingen auf seinen Balkon hinaus, der auf der Nordseite des Rathauses lag und von dem aus man ein Stück der Wienerstraße sehen konnte, die aus dem Norden her auf den Hauptplatz führte. Bald sahen wir die Lastwagen kommen, die etwa vier Häuser vor dem Hauptplatz stehen blieben. Die Männer sprangen ab und wir konnten nicht ausmachen, ob sie in das linke oder in das rechte Haus eindrangen. Im linken Haus war das provisorische Postamt untergebracht, in dem sich auch das Telefonamt befand. Es gab noch kein automatisches Selbstwählsystem, sondern wenn man den Hörer des eigenen Telefons abnahm, meldete sich das „ Fräulein vom Amt “ und verband einen mit der Nummer, mit der man sprechen wollte. Im rechten Haus befand sich die Bezirksleitung der Sozialdemokratischen Partei, die das Zentrum der antikommunistischen Kräfte der Stadt darstellte. Der Bürgermeister hob den Hörer von seinem Telefon ab, und kein Fräulein vom Amt meldete sich. Es war klar, dass die Männer das Postamt übernommen und jeglichen Telefonverkehr unterbrochen hatten. Der Bürgermeister wandte sich wieder zu mir und sagte: „ Ich weihe Sie jetzt als Dritten in ein Geheimnis ein, das bis jetzt nur zwei Leute gekannte haben, der Bezirkshauptmann Dr. Mohr und ich. In der Bezirkshauptmannschaft befindet sich eine Hotline zum Innenministerium. Gehen Sie hinüber und verlangen Sie, diese Hotline benützen zu dürfen. Berichten sie dem Innenminister, dass das Postamt kommunistisch besetzt wurde. Der Bezirkshauptmann war zuerst skeptisch, aber als er sein Telefon ausprobiert hatte, glaube er mir und ich rief den Innenminister an. Er sagte: „ Sagen sie dem Rudi “ , das war der Bürgermeister, „ ich lass ihn schön grüßen. Er soll sich keine Sorgen machen. In drei bis vier Stunden werde ich das Problem lösen.. “ Ich berichtete dies dem Bürgermeister, der mir auftrug, nun wieder bei ihm zu bleiben. Es dauerte keine drei Stunden und drei oder vier Überfallswagen der Anti-Riot-Polizei, die der Innenminister hatte ausbilden lassen, trafen aus Wien ein und warfen die Kommunisten wieder aus dem Postamt hinaus. Der Bürgermeister strahlte, drehte sich um und nahm aus einem Wandschrank eine Flasche städtischen Weins heraus. Er entkorkte sie und sagte: „ Jetzt stoßen wir auf die Befreiung des Postamts an “ , als wieder das Telefon läutete. Es 7 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="22"?> war der russische Stadtkommandant und sein Dolmetscher an zwei Telefonen jedoch nur auf eine Leitung, so dass sie abwechselnd sprechen konnten. Wieder konnte ich alles mithören. Der Stadtkommandant sagte: „ Ich habe soeben gehört, dass Kräfte von außen in die eigene, demokratische Entwicklung eingegriffen haben. Ich verlange die sofortige Wiederherstellung des status quo oder ich muss Panzer senden “ . Wir hatten genug Erfahrung mit den Russen, um zu wissen, wann es ernst war und wann nicht. Jetzt war es ernst. Der Bürgermeister schickte einen städtischen Polizisten zum Postamt, um den Polizeimajor, der das Kommando hatte, zu ersuchen, zu ihm zu kommen. Er würde ihm sagen, er müsse das Postamt wieder räumen. Mir aber trug er auf: „ Gehen Sie sofort wieder hinüber in die Bezirkshauptmannschaft und berichten Sie dem Innenminister, was geschehen ist. “ Ich ging wieder hinüber, ich rief wieder an und der Innenminister sagte: „ Sagen sie dem Rudi, ich lass ihn schön grüßen. Ich werde sein Problem schon lösen, aber es wird länger dauern. Ein bis zwei Tage. “ Als ich dem Bürgermeister das berichtet hatte, wies er mich wieder an, bei ihm zu bleiben. Dann ordnete er an, dass sämtliche städtische Polizisten sich zur Verteidigung des Rathauses sofort einzufinden hätten. Einige davon schickte er aus, um die strategisch wichtigen Punkte, wie den Bahnhof, das Krankenhaus, den Schlachthof und die sozialistische Parteileitung von der Gefahr zu verständigen und sich so gut wie möglich auf Selbstverteidigung einzustellen. Alle weiblichen Rathausangestellten wurden nach Hause geschickt, alle männlichen mussten auch die Nacht über im Rathaus bleiben. Eine provisorische Versorgung mit Essen für alle wurde schnell organisiert. Ich schlief auf einem Schreibtisch. Am nächsten Morgen um etwa sieben Uhr trommelte jemand mit den Fäusten ans Rathaustor. Als der Bürgermeister und ich vom Balkon hinunterblickten, sahen wir einen Freund von uns, den Bezirkssekretär der Bau-und Holzarbeiter- Gewerkschaft. Als er uns sah, rief er herauf: „ Lasst ’ s mich hinein! “ und als er vor uns stand, verlangte er. „ Rudi, Du musst mir fünf Minuten Deinen Balkon borgen. “ Nur allzu bald konnten wir sehen, wozu er den Balkon brauchte, denn auf dem Platz vor dem Rathaus versammelten sich mit unglaublicher Schnelligkeit hunderte von Bau-und Holz-Arbeitern. Der Sekretär trat auf den Balkon hinaus und rief: „ Kollegen! “ rief er, „ Die Kommunisten haben unser Postamt besetzt. “ Eine Woge von Buh und Pfui- Rufen ging über den Platz. „ Schmeißen wir sie hinaus? “ Eine Salve von Hurra-Rufen folgte und die Menge setzt sich in Richtung Wienerstraße in Bewegung. 8 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="23"?> Zum Ärger des Stadtkommandanten waren es nicht nur „ lokale demokratische Kräfte “ , sondern sogar Arbeiter, die in die Entwicklung eingegriffen hatten. Das war aber nicht nur in Wiener Neustadt so, sondern in ganz Österreich. In Wien war das Rundfunkgebäude einen ganzen Tag besetzt gewesen. Das Besondere an Wiener Neustadt war das direkte offene Eingreifen der russischen Besatzungsmacht. Als eine Woche später das Problem im Alliierten Besatzungsrat, in dem alle vier Mächte saßen, diskutiert wurde, behauptete der russische Vertreter, es seien ausschließlich demokratische Kräfte Österreichs gewesen, die beteiligt waren. Der damalige Präsident der Bau-und Holz-Arbeitergewerkschaft hieß Franz Olah, der später Innenminister wurde. Etwa zwanzig Jahre nach 1953, ich war schon in Amerika, las ich in einer österreichischen Zeitung, dass er ins Gefängnis geworfen wurde. Er war der einzige Minister, der Österreich wirklich gerettet hatte. Wieder etwa zwanzig Jahre später, 2005, erhielt der dann Neunzigjährige auf Initiative nicht seiner eigenen, sondern der Volkspartei, hohe Auszeichnungen. Die höchsten gegenwärtigen Regierungsmitglieder sind bei vielen Menschen hochberühmt, obwohl sie durch ihre Unfähigkeit mehr Schaden als Nutzen machen. Ich aber kehre hier nach dem Wiener Neustädter Erlebnis von 1950 zum Übergang des Jahres 1953 auf das Jahr 1954 zurück, zu dem Tag, an dem mein großer Lehrer plötzlich und für mich unerwartet verstarb. Ich erfuhr von seinem Tod durch eine Karte seiner Assistentin Horacek, die mir nach Wiener Neustadt schrieb, dass für mich ja auch sein Tod ein „ Schlag “ sein müsste. Als ich nach dem Erhalt dieser Karte von Schluchzen geschüttelt wurde, war es aber nicht wegen des „ Schlages “ für mich, sondern weil ein so gescheiter und großartiger Mensch, den ich so sehr geliebt hatte, so plötzlich ausgelöscht hatte werden können. Seine Gegner in der philosophischen Fakultät der Universität Wien, die auch die meinen waren, haben damals triumphiert. Als ich Jahrzehnte später von Amerika aus die Möglichkeit gehabt hätte, an die nach offizieller Bewertung erste und dritte Universität der Welt zu gehen, die ich nicht ergriff, weil ich mein Naturparadies nicht verlassen wollte, da war es für mich vor allem Bendas wegen eine Genugtuung, dessen Produkt ich war. Die Universität Wien lag bereits nahe bei der Nummer 100. In den letzten Jahren ist sie auf die Nummern 110, 120 und 130, ja 180 gerutscht und der Niedergang ist bei der Wissenschaftspolitik der gegenwärtigen Regierung, die sogar das Wissenschaftsministerium abgeschafft hat, weiterhin auf lange vorprogrammiert. Benda war anfangs Januar gestorben und es ist seltsam, wie sich harmonisch und automatisch dem ersten großen Geist, dem ich alles für die Wissenschaft verdankte, der zweite große Geist eingestellt hat, dem ich für unzählige 9 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="24"?> Begegnungen auf dem Gebiet der modernen Weltliteratur und bald später auch für kaum weniger Begegnungen auf dem Gebiet mittel- und fernöstlicher Geistigkeit und Esoterik zu danken hatte. Es war im Februar 1954, als mir Dr. Ernst Glaser eine Karte nach Wiener Neustadt schickte, mit dem Ersuchen ihn so bald als möglich im Wiener Funkhaus in der Argentinierstraße zu besuchen. Ich hatte damals bereits das neunte Jahr in der sowjetisch besetzten Zone gelebt, was ein ausgezeichneter Lehrgang war, das Wesen der Sowjets kennen zu lernen. Dr. Glaser war damals Intendant des Funkhauses Wien, der als wissenschaftlicher Referent bei der Wiener Arbeiterkammer meine Bemühungen um Habilitierung interessiert und freundschaftlich verfolgt hatte und von dem ich nur Gutes zu erwarten hatte. Ich fuhr daher bereits am nächsten Tag nach Wien und meldete mich bei ihm. Er berichtete mir, dass bis vor zehn oder zwölf Tagen sich im Haus eine russische Zensurstelle befunden hätte. Unter dem Kommando eines russischen NKWD-Oberst lasen zwei Dutzend von österreichischen Kommunisten jedes Wort sorgfältig durch, bevor es gesendet werden durfte. Dann wurde die Zensurstelle plötzlich geschlossen und ihre Mitglieder waren verschwunden. Die österreichische Seite stand nun vor der wichtigen Frage, ob sie plötzlich frei wären, alles zu senden, was sie wollten oder aber ob die Zensurstelle jetzt von außen her heimlich zensurierte und noch größere Schwierigkeiten machte als vorher. „ Wir haben beschlossen, einen Versuchsballon steigen zu lassen “ , sagte Dr Glaser „ und ich habe an Dich mit Deinem großen Wissen gedacht. Du musst ein radikal gegen die Kommunisten gerichtetes Manuskript schreiben und wir senden es. Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir Deine Deportation nach Sibirien zulassen. Fünf oder sechs Wochen im Kellergefängnis der russischen Kommandantur auf der Bellaria ist das Ärgste, was Dir passieren kann. Aber wir hoffen ja, dass alles gut geht. “ Dr. Glaser kannte mich, weil ich auf seine Einladung Vorlesungen und ein literaturwissenschaftliches Seminar im Institut für Wissenschaft und Kunst gehalten hatte und einmal, bei einer Überraschungs-Abstimmung eine Schlüsselrolle übernommen hatte, die kommunistischen Mitglieder des Vorstandes aus dem Vorstand hinaus zu wählen. Ich wusste nicht, woher er die Sicherheit hatte, meine Deportation nach Sibirien zu verhindern, aber die Aufgabe klang zu verlockend, als dass ich sie hätte ablehnen können. Schon auf der Heimfahrt mit der Bahn nach Wiener Neustadt dachte ich mir eine salomonische Lösung aus. Als der große „ Intellektuelle “ der österreichischen Kommunisten galt Ernst Fischer, der 1945 nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil sogar auch der erste Unterrichtsminister gewesen war. Es gab keinen auch nur halbwegs gebildeten Menschen, der ihn nicht kannte. Fischer 10 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="25"?> aber hatte gerade drei oder vier Monate vor meinem Gespräch mit Dr. Glaser ein Buch mit dem Titel Österreichische Literatur von Grillparzer bis Kafka herausgebracht. Es war geschickt. flüssig und überzeugend geschrieben aber er war eben nur ein intelligenter Journalist und kein Gelehrter. Ich schrieb ein Manuskript, in dem jeder zweite oder dritte Satz mit dem Namen „ Ernst Fischer “ begann, um ja sicher zu stellen, wer der Autor war, den ich attackierte. Im Verlauf er Besprechung zerlegte ich aber das Buch erbarmungslos und dokumentierte, dass das Buch besser den Titel getragen hätte Die Fehler, die österreichische Literatur von Grillparzer bis Kafka misszverstehen. Mein Manuskript wurde gesendet, ich wurde nicht sofort verhaftet, ich fuhr eine Woche später wieder nach Wien, um meinen Freund Dr. Glaser zu sehen. Er strahlte: „ Alles ist gut gegangen. Jetzt wissen wir, dass wir senden können, was wir wollen. “ Schon wollte ich mich verabschieden, da kam noch etwas ganz Wichtiges. „ Übrigens: Wir haben jetzt im Haus einen neuen stellvertretenden Programmchef für ganz Österreich. Er ist vor allem für Literatur und Wissenschaft für ganz Österreich zuständig und er liest alle Manuskripte über Literatur. Er hat mich angerufen und gesagt: Den Mann, der das geschrieben hat, den möchte ich kennen lernen. Fahr gleich hinauf in den dritten Stock zu ihm. Er heißt Dr. Schönwiese “ . Ich fuhr hinauf, ich klopfte, trat ein und stand nicht vor Schönwiese, sondern vor seiner Sekretärin, die mich mit einem herrisch-bitterbösen Blick empfing, in keiner Weise neugierig darauf, welcher Bösewicht ihren geliebten Chef schon wieder stören wollte. Ich konnte nicht hören, was sie sagte, aber eine wohltönende männliche Stimme rief. „ Herein mit ihm! “ . Sie kam verwandelt in eine gute Fee zurück und sagte nur sanft: „ Bitte. “ Ich trat ein und hinter seinem Schreibtisch erhob sich ein etwa fünfzigjähriger, nicht gerade schlanker Mann, der vor Menschenfreundlichkeit förmlich strahlte. Nach einem festen Händedruck forderte er mich auf, Platz zu nehmen und begann mich auf elegante und feine Art auszufragen. Er las gerade Aldous Huxleys Buch Pforten der Wahrnehmung über dessen Versuche mit Meskalin und wir diskutierten über die Möglichkeit echte, mystische Erlebnisse künstlich hervor zu rufen. Dann ging es weiter über die Beziehungen zwischen Mystik und Dichtung. Durch Benda hatte ich bereits Henri Brémond kennen gelernt. Noch mehr war er überrascht, dass ich einige Hefte seiner elitären Literaturzeitschrift das silberboot gekauft und gelesen hatte. Sie war von der dichterischen Qualität her bestimmt die beste in Österreich, aber eben durch die hohe Qualität die Literaturzeitschrift mit den wenigsten Lesern. Plötzlich fragte er: „ Wollen Sie mit mir essen gehen? “ Ich brachte nur heraus: „ Sehr gerne. “ Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hinunter, vor dem Gebäude wartete bereits ein Rundfunkwagen mit Fahrer und wir fuhren in die Dorotheergasse zum Graben-Hotel. Hier begann nun als Zusatz zum Essen eine Doppel- 11 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="26"?> Initiation, einerseits eine Einführung in die moderne Weltliteratur und andererseits eine Einführung in besondere Gourmet-Feinheiten von Essen und Trinken. Schönwiese begann mich als Autor für Literaturmanuskripte einzusetzen und obwohl es ein hartes Brot war, verdiente ich genug, um mein kleines Haus in Wiener Neustadt und mein Auto halten zu können. Ich konnte gar nicht genug schreiben. Da ersuchte er mich, ihm jemand aus der Universität aufzutreiben, der ähnlich gut wie ich war. Ich ging zu demjenigen der Germanistikprofessoren, die Benda dankbar waren und der freundlich mit mir redete. Er empfahl mir einen Dissertanten namens Paul Wimmer. „ Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, er soll endlich zum Rigorosum kommen. Er weiß ungeheuer viel. Es ist eine Formsache. “ Ich gewann Wimmer, sich bei Schönwiese vorzustellen, ich trieb ihn zum Rigorosum und er wurde mein Freund. Ich habe anläßlich seiner Bestattung die Totenrede gehalten. Mit Schönwiese war ich bald so gut, dass er mich eines Abends zu sich einlud. Er wohnte weit draußen in Ober St. Veit und wenn man vor dem Haus stand, konnte man über die Äcker hinweg den Lainzer Tiergarten sehen. Er war gerade in der Phase des Cocktail-Mixens. Während ich bei ihm saß und dem Mixen des ersten Cocktails zusah, ging seine Frau durch das Wohnzimmer, sah was vorging und murmelte vor sich hin „ Jetzt ruiniert er den auch. “ Im Jahr 1957 erschien endlich meine Habilitationsschrift als Buch. Sie war wie alle Habilitationsschriften in jenen Jahren vom „ Notring der österreichischen Wissenschaften subventioniert worden und erschien im Verlag der Buchhandlug Sexl, in dem auch das erste Gedichtbuch Paul Celans erschien. Ihr Titel war Der burgundische Renaissancehof Margarethes von Österreich und seine literarhistorische Bedeutung. Obwohl es ein wichtiges und bisher im deutschen Sprachraum unbekanntes Kapitel war, blieb es bis heute in Österreich eines der unbekanntesten Bücher. In Österreich wurde es nur von einem mir bekannten Wiener Neustädter Romancier in einer Literaturzeitschrift besprochen. In den USA aber wurde sie von einem Harvard-Romanisten, Marcel Françon, der ein Spezialist für das Thema war, in einer wissenschaftlichen Zeitschrift ausführlich besprochen, der es abschließend „ Die definitive Behandlung dieses Themas “ nannte. Das ist darum seltsam, weil es einer der bedeutendsten frühen Hochrenaissance-Musenhöfe Europas war. Sein bedeutendster Vertreter, Erasmus von Rotterdam, war ein bewusstes Landeskind des Großherzogs von Burgund. Wenn er auch wie fast alle seiner Landsleute Maximilian I. als einen ausländischen Eindringling betrachtete, so hat er doch dessen Gattin Maria von Burgund und ihre beiden Kinder Philipp und Margarethe sehr geliebt. Er hat einige seiner wichtigsten Jahre an der damals burgundischen Universität Louvain verbracht, die dem Hof sehr nahe war, und Margarethe hatte ihm auch sein Jahresgehalt als „ kaiserlicher Rat “ ihres Neffen Karl V., den sie elternlos an ihrem Hof aufgezogen hatte, bezahlt. 12 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="27"?> Ein noch engeres Mitglied des Hofes war der bedeutendste neulateinische unter den damals rund zweihundert neulateinischen Dichtern, Johannes Secundus, dem noch Goethe ein kleines Gedicht gewidmet hatte. Der französisch schreibende Renaissancedichter Jean Lemaire de Belges ist im deutschsprachigen Raum heute nur als „ französischer Dichter “ bekannt. Ludovicus Vives, Humanist, Begründer der modernen Pädagogik, Psychologe, der einen Sozialstaat forderte und zu einem Vorläufer der modernen Naturwissenschaften wurde, ist im deutschen Sprachraum vergessen. Lediglich der Großhumanist Adrien von Utrecht, von Margarethe zum Lehrer ihres Neffen Karl berufen, ist allenfalls als kurzlebiger Reformpapsts Hadrian VI. bekannt geworden, der nach kaum zwei Jahren in Rom wahrscheinlich vergiftet wurde. Er hatte die Größe des Erasmus erkannt und ihn ganz an die burgundische Universität Louvain binden wollen, was aber misslang. In dem provinziellen Klein-Österreich, in dem ich heute gerade lebe, werden sie alle als exotische Ausländer betrachtet. In Frankreich sieht man die frankreichfeindliche burgundische Herzogin gerne unter dem Blickwinkel des Hochverrats. Der einzige, der zu meinen Lebzeiten durch die Lektüre meines Buches, die Zusammenhänge richtig war verstand, war Herbert Zeman. Er ersuchte mich, in dem zeitlich zuständigen großen Sammelband ein Kapitel über den Hof Margarethes zu schreiben. Mir bescherte das Buch zwei neue Begegnungen. Die erste mit dem heute gleichfalls vergessenen Wiener Neustädter Romancier und Essayisten Ernst Wurm, der in einer österreichischen Literaturzeitschrift eine positive Besprechung schrieb. Die zweite war jene mit dem Harvard-Romanisten Marcel Françon, der ein wirklicher Spezialist über Margarethe war und der in einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine ausführliche Besprechung schrieb, die mit dem Satz endete: „ Das Buch ist die definitive Behandlung dieses Themas. “ Es war im Januar des Jahres 1958 als mir Schönwiese bei einem gemeinsamen Mittagessen mitteilte: „ Heuer wird Torberg fünfzig Jahre alt. Da müssen wir etwas tun. Lies Dir einmal die Romane von ihm durch, nimm den besten und mach ein Hörspiel daraus. Aber “ - er unterbrach sich selbst - „ Torberg kann sehr schwierig sein. Ruf ihn an, erzähl ihm von Deinem Auftrag und sag ihm, Du möchtest Dich vorstellen. Hier ist seine Telefonnummer. Aber nicht vor zwei Uhr anrufen, denn er ist ein Nachtarbeiter und schläft den ganzen Morgen und Vormittag durch. “ Ich rief um drei Uhr an, ein Treffen in einem Kaffeehaus wurde verabredet und er empfing mich sehr freundlich. Ich erzählte ihm, dass ich seinen Namen bereits seit meiner Studentenzeit kannte, da er 1948 das Zehn-Jahrbuch des Berman Fischer-Verlages verfasste. Es war ein 400-Seiten starker Band geworden und meine erste, breitere Quelle über die Exilliteratur geworden. Das freute ihn sichtlich. 13 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="28"?> Dann begann er, mich nach meinem Leben auszufragen. Da ich sah, dass er Schönwiese sehr schätzte, fügte ich hinzu, dass ich seine Heimwehgedichte aus Amerika nach Alt-Aussee kannte und sehr schätzte. Er war sichtlich voll zufrieden. Er freute sich, mich kennen gelernt zu haben und war neugierig, was ich machen würde. Nach meiner Überzeugung war der besten seiner Romane bis dahin Hier bin ich, mein Vater. Es ist der Roman eines jungen, jüdischen Wieners, der sich überreden lässt, ein Gestapospitzel zu werden, um seinen Vater aus dem Konzentrationslager zu retten. Er wird von der Gestapo nach Paris geschickt, um Informationen zu sammeln. Den Höhepunkt meines Hörspiels bildete die Szene, in welcher er in Paris seinen alten jüdischen Religionslehrer trifft, und im Gespräch mit ihm die entscheidende Erkenntnis seines Lebens findet. Schönwiese hatte sich die Regie des Hörspiels selbst vorbehalten. Er hatte für das Hörspiel die besten Schauspieler des Burgtheaters und des Theaters in der Josefstadt ausgewählt. Ich durfte bei der Produktion dabei sein. Die Aufführung war ein solcher Erfolg, dass der erste Grundstein meiner Freundschaft mit Torberg gelegt war. Er sollte nach Schönwiese mein bester Freund in Österreich werden, dem ich bis heute in Liebe verbunden bin. Neunzehn Jahre später, als der Österreichische PEN-Club eine öffentliche Geburtstagsfeier für mich veranstaltete, berichtete Schönwiese den Versammelten von einer Sammlung von handschriftlichen Beiträgen vieler Autoren, die mir Glückwünsche geschickt hatten. „ Einige von ihnen schickten auch Gedichte “ , sagte er, „ und eines will ich verlesen, ohne den Autor zu nennen. “ Nachdem er es gelesen hatte, brach ein wirklicher Beifallsjubel aus. Ich aber lief auf Torberg zu und umarmte ihn. Niemand anderer konnte das geschrieben haben. Der PEN- Fotograf hatte den Augenblick festgehalten. Aber bei jener tiefsten Erniedrigung, die der Österreichische PEN heute erfahren und die zu meinem Austritt geführt hatte, ist dieses Foto wahrscheinlich aus dem Archiv ausgemerzt worden. In dem Gedicht befanden sich zwei Verse, die bis heute über meinem Leben stehen könnten: Und wer ist noch bei alledem so kenntnisreich wie unbequem. Allzu bald später hatte ich beim Mittagessen im Kreis der Familie von Mutter, Gattin und Tochter erwähnt, daß Torberg in diesem Jahr siebzig Jahre alt würde. Da forderte meine unvergeßliche Mutter: „ Da mußt Du etwas tun! “ Als ich ihn zu einer Lesung nach Amerika eingeladen hatte, war er sofort der erklärte Liebling nicht nur meiner Mutter, sondern auch meiner dreijährigen, schüchternen Tochter geworden. Letztere hatte nach seiner Ankunft in unserem Wohnzimmer einen schmalen Türspalt geöffnet, um heimlich zu beobachten, wie er aussah. Dann aber öffnete sie die Tür, lief auf ihn zu und sprang mit einem Satz auf den sitzenden Torberg. Während ich aus meinem Staunen nicht heraus 14 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="29"?> kam, sagte er stolz zu mir: „ Du siehst, ich weiß wie man mit jungen Damen umgehen muß! “ Die Festschrift wurde infolge der illustren Beiträger zu einem Riesenerfolg und war in wenigen Wochen ausverkauft. Im Hinblick auf einen der berühmtesten Beiträger, möchte ich meine briefliche Begegnung mit diesem hier schildern. Da Torberg sehr schwierig sein konnte, hatte ich es nicht riskiert, die Festschrift als Überraschung erscheinen zu lassen, sondern hatte bei ihm angefragt, wen er vertreten wissen wollte. Ganz oben auf seiner Liste war der Name „ Arthur Koestler “ gestanden. Ich war Verehrer sowohl des Menschen als auch des Werks von Koestler und diese Verehrung hatte einen seltsamen Beginn. Als ich studierte, befand sich am Ring gegenüber dem Hauptgebäude der Universität die Buchhandlung Sexl. Jede Woche stand ich vor dem Schaufenster, um mich über Neuerscheinungen zu informieren. Eines Tages, ich kann es nicht besser ausdrücken, „ schaute mich ein Buch an “ . Ich war gemeint. Ich hatte keine Wahl. Ich kannte weder den Autor noch den Titel, aber ich mußte hinein gehen und das Buch kaufen. Ich fuhr mit der Straßenbahn in mein Studentenquartier weit draußen nach Dornbach, legte mich auf mein Bett und begann zu lesen. Ich las ohne Unterbrechung den Nachmittag durch, ich las die Nacht durch und in den Vormittag hinein. Als ich fertig war, atmete ich tief aus und schloß die Augen. Das Zimmer hatte sich rund um meinen Kopf zu drehen begonnen. Das Buch war Koestlers Sonnenfinsternis. Als ich einen Brief an Koestler schrieb, mit der Einladung einen Beitrag zur Torberg-Festschrift zu verfassen, da berichtete ich ihm die Geschichte, wie ich zum ersten Mal einen seiner Romane gelesen hatte. Ich wußte nicht, daß Torberg an seinen Freund Koestler, nachdem dieser erklärt hatte: „ Keine Politik mehr “ und sich den „ Lebenswissenschaften “ zugewendet hatte, einen groben Brief geschrieben hatte, in dem er sich über das große wissenschaftliche Symposium, das Koestler in Alpbach organisiert hatte, negativ äußerte. Ich wußte nicht, daß Koestler mit Recht böse auf Torberg war und ich wußte schließlich auch nicht, daß Koestler ein eigenes Buch geschrieben hatte, in dem er ausführte, daß es zweierlei Arten von Zufällen gibt. Solche, die wirklich blinde Zufälle sind, und solche, die tiefer schicksalhafter Verbundenheit entspringen. Meine Geschichte über mein Erlebnis mit der Sonnenfinsternis war ein klassischer Beispielsfall für die zweite Kategorie und meine geheime Verbundenheit mit Koestler. Aus diesem Grund schrieb er einen reizenden Beitrag für die Festschrift. Torberg fragte mich daraufhin überrascht: „ Wie hast Du den gekriegt? “ Ich hatte es selbst nicht gewußt wie. Ein Jahr später starb Torberg plötzlich an einer Injektion, die für einen unter 10.000 Personen gefährlich war. An seinem Grab sprachen mein Freund György Sebestyén, Dichter, Journalist und Flüchtling aus dem kommunistischen Ungarn, und Bruno Kreisky, der damals Bundeskanzler war. 15 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="30"?> 1959 war das Jahr, in dem mein Forschungsjahr des österreichischen Unterrichtsministeriums in Paris begann. Es war praktisch das Geschenk eines persönlichen Freundes und österreichischen Diplomaten, der eine der außerordentlichsten Begegnungen war, die ich je kennen lernte. Sein Leben gleicht dem Roman eines Wohltaten verrichtenden Abenteurers. In den frühen Dreißigerjahren hatte er Jugendbücher verfaßt und war dadurch Mitglied des Österreichischen PEN-Clubs. Dann ging er als Freiwilliger in den Spanienkrieg auf republikanischer Seite und gegen Franco, aber nicht als Infanterist im Schützengraben, sondern als spanischer Diplomat. Nach dem Krieg floh er nach Paris und wurde in Paris Nachrichtensprecher beim Rundfunk. Als ihm am Todestag Freuds sein Vorgesetzter verbot, etwas über den Tod Freuds in die Nachrichten einzufügen und er das Nachrichtenmanuskript in die Tasche steckte und statt dessen einen langen, von ihm verfaßten Nachruf auf Freud verlas, wurde er gefeuert. Als österreichischer, sozialistischer Exilpolitiker setzte er sich dafür ein, alle Hitler-Gegner einschließlich der Monarchisten zu einer einzigen großen Gruppe zusammen zu schließen, was ihm den Hinauswurf aus seiner Partei eintrug. Nachdem Frankreich den Krieg verloren hatte, wurde er Führer einer bewaffneten französischen Widerstandsgruppe. Als er gerade abwesend von seiner Truppe hörte, daß sie plötzlich in ein Feuergefecht verwickelt war, trug er seinem Motorradfahrer, in dessen Beiwagen er mit umgehängter Maschinenpistole saß, auf, sofort dorthin zu fahren. Während er von der einer Seite her eintraf, trafen von der anderen Seite her SS-Panzer ein, die aus dem gleichen Grund gefahren kamen. Er wurde gefangen genommen und in ein Lager gebracht. Er brach aus und konnte fliehen. Nach dem Krieg wurde er österreichischer Diplomat und Kriegsgefangenen- Kommissär, dem die Franzosen den Rang eines Obersten zuerkannten. Er fuhr in alle Kriegsgefangenenlager, holte die Österreicher heraus und schickte sie heim. Als seine Arbeit beendet war, fuhr er selbst nach Hause und wurde normaler Diplomat. Er war der erste österreichische Botschafter in Israel. Als er wieder zurückkam und ich ihn fragte, wie es gewesen war, gab er mir eine typische Karl-Hartl- Antwort in einem Satz: „ Nicht einmal die Israelis haben mich zum Antisemiten machen können. “ Es war die Zeit, in der er mir versprach, mir das Forschungsjahr in Paris zu ermöglichen. Als ich daraufhin den Antrag an das Unterrichtsministerium stellte, schlug ich als mein Forschungsprojekt das Werk des deutschen Exilautors Alfred Döblin mit besonderer Berücksichtigung seiner Exilzeit vor. Ich hatte in Erfahrung gebracht, daß Professor Minder in Paris, mit dem Döblin befreundet war, ein großes Konvolut unveröffentlichter Briefe von Döblin besaß und mehr über den Autor wußte, als irgendjemand sonst. 16 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="31"?> In Paris angekommen, suchte ich zuerst den ebenso tüchtigen wie freundlichen Direktor des Österreichischen Kulturinstituts Dr. Fritz Cocron auf, der mir meinen Scheck für den ersten Monat überreichte. Er fragte mich auch, wie er mir helfen könnte, und welche Personen ich in Paris kennenlernen wollte. „ Eigentlich nur zwei “ , antwortete ich, „ Professor Robert Minder und den Schriftsteller Manès Sperber. Sperber kannte damals fast niemand in Österreich. Leider stellte sich heraus, daß Sperber nicht in Paris war und Minder kannte Cocron nicht. Er schrieb mir aber seine Telefonnummer auf, was schon eine wirkliche Hilfe war. Ich rief Minder an, er lud mich zum Nachmittagskaffee ein und ich erfuhr, welches doppelte Glück ich mit meinem Projekt hatte. Es stellte sich heraus, daß Minder die Germanistik am Elite-Institut des Collège de France vertrat, das über allen Universitäten stand und es stellte sich außerdem nach kurzer Zeit heraus, daß wir uns fachlich, politisch und persönlich ungewöhnlich gut verstanden. Es war eine Liebe auf den ersten Blick, die bis zu Minders Tod anhielt. Nach zwei Stunden sagte er: „ Wenn sie schon als junger Mann in Paris sind, dann sollten sie nicht den ganzen Tag in der Bibliothèque Nationale sitzen. Sie müssen die Stadt und ihr Kulturleben kennenlernen. Ich bin zu alt, um Ihr Cicerone zu sein. Aber es gibt einen jungen Schweizer, der in meiner Schuld ist. Er wäre der ideale Einführer für Sie. Ich werde ihn anrufen und er wird sich bei Ihnen melden. “ Er kam bereits am nächsten Tag, hieß Georges Schlocker, hatte in Zürich sein Doktorat in Germanistik gemacht. Er verachtete aber die Schweiz als „ provinziell “ und liebte Paris leidenschaftlich. Es war unglaublich, was er hier alles wußte und kannte. Unter anderem kannte er alle wichtigen Theater und Galerien und durch seinen Journalistenausweis erhielt er oft Freikarten für Premieren und nahm mich mit. Er kannte jedes historisch wichtige Haus in Paris. Er führte mich in das Filmmuseum ein, in dem ich auch viele berühmte alte deutsche Stummfilme sah. Er machte mich zum Mitarbeiter der deutsch erscheinenden französischen Kulturzeitschrift Aries, die vom französischen Außenministerium herausgegeben wurde. Vor allem aber verlangte er, daß ich sofort mein Mietzimmer kündigte. Als Mann der Literatur mußte ich im „ Quartier Latin “ wohnen, „ Rive Gauche “ . Er führte mich sofort samt meinem Koffer zu einem hübschen kleinen Hotel mit dem Namen „ Au Vieux Colombier “ , das im Bezirk Saint-Sulpice lag. Dr. Cocron mußte mit Minder telefoniert haben, denn er wurde nicht nur noch freundlicher, sondern fragte mich als „ Fachmann “ , welchen Österreicher er den Franzosen für einen Vortrag über die österreichische Gegenwartslyrik vorschlagen könnte. Ich wußte wirklich keinen besseren als Schönwiese, der sowohl selbst Lyriker war, als er auch die breiteste Kenntnis der Gegenwartslyrik als Kritiker hatte. Mußte er doch laufend das Lyrikprogramm des Rundfunks zusammenstellen und war überdies in etlichen Jurys für Lyrikpreise. 17 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="32"?> Wenige Wochen später war Schönwiese in Paris, hielt an der Sorbonne (damals gab es nur eine) seinen Vortrag, gewann alle zu Freunden und Professor Coleville, der damals Chef der Germanistik war, übersetzte selbst den Vortrag ins Französische und druckte ihn in der Zeitschrift Études Germaniques ab. Es war klar, daß der Vortrag ein Riesenerfolg war. Professor Minder aber, begeistert von Schönwiese, veranstaltete seine eigene, kleine Privatfeier für ihn in seiner Wohnung. Er lud eine kleine Anzahl sorgfältig ausgewählter Gäste sowie Schönwiese und mich zum Abendessen ein und dieses Abendessen wurde zu einer meiner Hauptbegegnungen in Paris. Als die Suppe aufgetragen wurde, gab es noch einen leeren Sessel. Sie kam zu spät, aber mit ihrem Eintritt verblaßten bereits sämtliche Anwesende zu Schattengestalten. Während des Essens sprudelte sie abwechselnd deutsch und französisch heitere Beschreibungen der Einkäufe heraus, die sie in einzelnen Läden wie auf dem Markt machte. Es war eine großartige Beschreibung des Pariser Alltagslebens und alle waren enttäuscht, als sie nach dem Dessert damit endete. Aber es kam eine Steigerung. Sie setzte sich an den Flügel und begann auswendig zu spielen. Da man ihr gesagt hatte, Schönwiese käme aus Österreich, spielte sie nur Mozart für ihn. Minder erzählte mir später, ihre Mutter sei eine berühmte Konzertpianistin gewesen. Bei ihrer Virtuosität hätte auch sie eine sein können. Es war Anette Kolb, illegitime Tochter eines Wittelbachers und einer berühmten Pianistin. Zeit ihres Lebens ist sie für Frieden und Völkerverständigung eingetreten, 1933 sofort nach Frankreich emigriert, 1936 französische Bürgerin geworden, hatte die Jahre der deutschen Besetzung Frankreichs von 1941 bis 1946 in New York verbracht. Sie war eine Freundin Rilkes und René Schickeles gewesen. Thomas Mann hat sie unter anderem Namen als eine seiner Gestalten im Doktor Faustus nachgezeichnet, aber viel zu blaß und leblos. Nicht einmal er vermochte dem Liebreiz der alten Dame gerecht werden. Bei jenem Abendessen berichtete sie, neunzig Jahre alt zu sein. Minder erzählte mir später, sie hätte ihm einmal das Manuskript ihrer Memoiren geborgt und in denen konnte sie sich in einer Weise an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/ 71 erinnern, daß sie wenigstens fünfundneunzig Jahre alt sein mußte. Diese kleine, weibliche Schwäche machte sie nur noch liebenswerter. Durch sie war dieser Abend für mich zum unvergeßlichsten Abend meines Pariser Jahres geworden. Ich möchte den Pariser Vortrag Schönwieses auch gleich benützen, um einen der vielen Anwürfe, die gegen ihn - vor allem von Schwachköpfen jüngerer Autoren - erhoben worden sind, zu entkräften. Sie haben ihm unterstellt, Gegner jeglicher Vertreter moderner Lyrik und ganz besonders „ Gegner “ von Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu sein. Nun hat er seinen Pariser Vortrag nach den jeweils wichtigsten Vertretern stilistischer Entwicklungen aufgebaut 18 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="33"?> und er hat für die damals „ junge Generation “ nur zwei Namen besprochen: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Das kann in den Études Germaniques nachgelesen werden. Es tritt auch in den Lyrik-Anthologien zu Tage, die er deutsch herausgegeben hat. Eine hat er sogar mit mir gemeinsam fünf Jahre nach dem Pariser Vortrag mit dem Titel Das zeitlose Wort herausgegeben. Die Bedeutung der einzelnen Autoren wurde hier durch die Anzahl der Gedichte, die von ihnen aufgenommen wurden, verdeutlicht. Die bedeutendsten Autoren erhielten je vier Gedichte, manche drei, manche zwei, manche nur eines und manche fehlten ganz. Sowohl Paul Celan wie Ingeborg Bachmann sind mit je vier Gedichten vertreten. Auch einen bedeutenden Österreicher begegnete ich seltsamerweise in Paris. Dr. Cocron hatte Ludwig von Ficker zu einem Vortrag nach Paris eingeladen. Da ich niemals nach Tirol gekommen war, besuchte ich dessen Vortrag an der Sorbonne. Der Vortrag war ausgezeichnet besucht und zwar wegen Trakls, der im damaligen Paris überraschend gut bekannt war. Wahrscheinlich von Dr. Cocron beraten, hatte der alte Herr und Herausgeber der berühmten Zeitschrift Der Brenner das Hauptgewicht seines Vortrags auf Trakl gelegt. Er berichtete vor allem über den eigenartigen und sensiblen Menschen Trakl, dessen späte reife Gedichte er erstmalig im Brenner veröffentlicht hatte. Obwohl im Vortrag von Selbstlob keine Rede sein konnte, kam seine Wohltäterrolle deutlich heraus. Besonders berührend waren seine Ausführungen über die Schlacht von Grodek und den Tod Trakls. Der Brenner war ja die einzige geistige Zeitschrift gewesen, die wenngleich weniger aggressiv satirisch eine Parallele zur Fackel von Karl Kraus gebildet hatte. Nicht zufällig ist eines der wenigen Bücher Fickers eine Studie über Karl Kraus. Er war im Umgang so vornehm, zurückhaltend und würdevoll, wie man sich das Haupt des Brenner-Kreises vorstellte. Der philosophisch sprachmächtigste Vertreter des Brenner-Kreises war zweifellos Theodor Haecker. Sein Buch über Vergil als Vater des Abendlandes ist von einer Wissensweite, die Hermann Broch bewundert hat. Am Eingang des Friedhofs von Usterbach, wo Haecker ruht, ist am Eingang von keinem geringeren als T. S. Eliot die Würdigung angebracht: Theodor Haecker war ein wahrhaft großer Mensch, Gelehrter, Denker und Dichter zugleich. Die geistig wichtigste Begegnung meines Pariser Jahres war das Zusammentreffen mit Wladimir Weidlé. Er hatte mehrere wichtige kunstwissenschaftliche Werke verfaßt, doch das für mich wichtigste Buch trug in der deutschen Übersetzung den Titel: Die Sterblichkeit der Musen. Die Übersetzung war ein Jahr vor meiner Ankunft in Paris erschienen und hatte mich tief berührt. Ich hatte seine Nummer im Telefonbuch gefunden, hatte ihn angerufen und er hatte mich zu sich eingeladen. Bei diesem Gespräch habe ich viel über ihn erfahren. Er sagte mir, daß das französische Original des Buches bereits 1935 19 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="34"?> unter dem Titel: Les abeilles d ’ Aristée (Die Bienen des Aristäus), erschienen war. Die Pariser Gebildeten des Jahres 1935 wußten genau, was das bedeutete, die deutschen Gebildeten von 1958 hatten keine Ahnung, weshalb er den neuen Titel gewählt hatte. Der französische Titel war eine Anspielung auf Theodor Haeckers „ Vater des Abendlandes “ Vergil gewesen, der in seinen Georgica (IV, 1, 317) wie Aristäus einem toten Bienenschwarm zur Wiedergeburt und neuem Leben verholfen hatte, indem er einen jungen Stier tötete und den Schwarm in dessen toten Leib senkte. Dann würde der Schwarm summend und zischend wieder heraus fliegen. Es war im Altertum zu einem beliebten Wiedergeburtssymbol geworden, das Weidlé auf sein Thema, die sterbenden Musen angewendet hatte. Mir wurde dabei sofort die unglaubliche Leistung klar, die Weidlé bereits 1935 durch die ausführliche Darstellung des ersten Romans von Hermann Broch für diese Wiedergeburt erkannt hatte. Er erzählte mir, wie er in seiner Petersburger Kindheit mit deutsch, jiddisch und russisch aufgewachsen war. Ich verstand, daß er dem Hauptthema Haeckers von der Einheit und Ganzheit der abendländischen Geistestradition das wichtige jüdische Element hinzugefügt hatte. Das bedeutete nicht, daß er das Jüdische allein in den Vordergrund stellte, sondern daß er die abendländische Ganzheit in der Zusammengehörigkeit aller drei Elemente verstand. Als ich ihn kennen lernte, war er Professor für Kunstgeschichte am orthodoxen Priesterinstitut in Paris. Das wäre nie möglich gewesen ohne liebende Verbundenheit mit der orthodoxen Tradition. Als wir über Rituale im Allgemeinen sprachen, empfahl er mir auch, das Osterritual in der orthodoxen Kirche in Paris zu besuchen, das ich wenige Wochen später tat und großartig fand. Seine geistige Haltung zeigte sich mir am deutlichsten in seiner Verbundenheit mit dem Eranos-Kreis, in dem er drei Jahre später den Vortag: „ Vom Sinn der Mimesis “ gehalten hat. Diese Haltung war ein halbes Jahrhundert später ein Hauptanliegen meines Buches Dante, Shakespeare, Goethe und die Traditionskette abendländischer Autoren. Da ich mit Weidlés Grundanschauung vom Austrocknungsprozeß der gegenwärtigen Literatur und Kunst völlig übereinstimmte, gegen die ich damals schon lange geschrieben hatte, schenkte er mir ein Exemplar seine Buches, in das er eine ermutigende Widmung für mich als Hoffnungsträger schrieb. Ich habe nach meiner Rückkehr sein Buch im Österreichischen Rundfunk ausführlich gewürdigt. Das war damals noch möglich. Über zwanzig Jahre später erhielt ich in Amerika einen Brief von ihm, in dem er mir mitteilte, daß er als Gastprofessor für Ikonenkunde vom orthodoxen Priesterseminar in Yonkers (New York) eingeladen worden war. Er wünschte und hoffte, daß wir uns sehen könnten. Natürlich fuhr ich zu dieser zweiten Begegnung und ich lernte eine neue Seite von ihm kennen. 20 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="35"?> Als wir in dem hübschen Park hinter dem Seminar spazieren gingen, erzählte er mir: „ Sie kennen mich und Sie wissen, daß ich mein ganzes Leben französisch gesprochen, meine Bücher französisch geschrieben und französisch gedacht habe. Seit einigen Wochen beginne ich im Alter wieder russisch zu träumen. “ Der russische Exilant, intellektuell noch bedeutender als Berdjaev, Verächter des Bolschewismus, aber von tiefer Liebe für Russland beseelt, mußte erleben, wie er von seiner Kindheit eingeholt wurde. Sein Buch Russland. Weg und Abweg besitzt zwar für mich nicht die zentrale Bedeutung des Buches Die Sterblichkeit der Musen, ist aber das Beste und tiefst Durchdachte, was ich über Russland gelesen habe. Es fügt sich außerdem insofern in die Ausführungen in der Sterblichkeit der Musen ein, als er nachweist, daß das europäische Russland seit der Aufklärungszeit von Peter dem Großen und Katharina der abendländischen Geistestradition angehört. Noch eine wichtige, wenn auch leider sehr kurze Begegnung fällt in meine Pariser Zeit. Professor Minder hatte einen öffentlichen Vortrag über Heidegger angekündigt und natürlich ging ich hin. Darin hat er den Freiburger Philosophen mit gallischer Denkschärfe und satirischer Kennerschaft analysiert. Der Vortrag hatte den Titel: „ Heidegger und die Sprache von Meßkirch “ und ist später auch in einem Inselbändchen von Minder in Druck erschienen. Nach dem Vortrag stellten sich zwölf oder dreizehn Zuhörer am Fuß des Podiums an, auf dem Minder noch stand, um ihn nach so vielen genossenen Lachsalven zu beglückwünschen. Vor mir stand ein jüngerer Mann mit einem feinen, durchgeistigten Gesicht. Als Minder seine Hand drückte und mich hinter ihm stehen sah, sagte er: „ Euch beide habe ich immer schon zusammen bringen wollen. “ Es war Paul Celan. Wir hatten in einem Café bei St. Michel ein Gespräch von etwas mehr als einer halben Stunde. Celan, dem Minder einen Posten an der Eliteschule École normale supérieure verschafft hatte, wollte höflich sein, obwohl er in düsterer Stimmung war. Als ob er noch nicht genug gelitten hätte, haben ihm sowohl seine Frau als auch sein Sohn böse zugesetzt. Er sprach aber über Czernowitz, weil er sah, daß ich darüber einiges wußte. Dann entschuldigte er sich und ging. Freund Schlocker nahm mich auch einmal in die berühmte Comédie- Française mit. Mit Spannung wartete ich bereits vor dem Beginn auf das jahrhundertealte Zeichen des dreimaligen Klopfens, bevor der Vorhang hoch geht. Es kam wirklich. Es wurde eine Komödie von Marivaux gegeben, die eine neue Version der Entstehung von Liebe in elegantem Konversationston vorführte. Ich bewunderte mit meinem holprigen Französisch diese Eleganz. Es war nicht nur so, daß Freund Schlockers große Macht nicht ausreichte, mir ein echtes, persönliches Gespräch mit den lebenden französischen Autoren zu vermitteln, die mich am meisten interessierten, sondern zusätzlich war meine Angst ein Hemmschuh, daß mein Französisch nicht ausreichte, ein Gespräch von 21 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="36"?> der Art zu führen, die nicht nur ihre Langeweile, sondern auch ihr Mitleid hervorgerufen hätte. Der erste der beiden Autoren war André Malraux, dessen Roman La Condition humaine mich fasziniert hatte. Der zweite war Albert Camus, dessen Einheit von großem Leben und Werk ich bewunderte. Malraux war damals vor kurzem als einer der „ Jungen Löwen De Gaulles “ zum allmächtigen Minister für kulturelle Angelegenheiten geworden und hätte bestimmt nicht einmal einige Minuten Zeit für mich gehabt. Als ich allerdings ein halbes Jahrhundert später die eigene freie Wahl für mein Buch Dichter als Boten der Menschlichkeit für einen Franzosen hatte, zögerte ich keinen Augenblick, Camus zu wählen. Trotz seiner ungeheuren Bildung war Malraux auf Grund seines Lebens - wie auf Grund seines berühmten Ausspruchs: „ Mit der Macht kann man nicht flirten; die Macht muß man heiraten. “ - viel zu sehr Machtmensch für dieses Buch. „ Meine “ beiden Franzosen waren einer jener Fälle, in denen ich der Entscheidung des Nobelpreis-Komitees völlig zustimmte, als es sich weigerte, Malraux den Preis zu geben, während es Camus als dem damals zweitjüngsten den Preis sofort verliehen hatte. Mein Jahr in Paris war übrigens das letzte Lebensjahr von Camus. Ich werde später auf ihn zurückkommen. Der sympathische Dr. Cocron versuchte geschickt aus meiner Anwesenheit Nutzen für sein Kulturinstitut zu ziehen. Einmal schickte er mich an die Universität von Poitiers, deren Chefgermanist ihn um einen Vortrag ersucht hatte, ob es zwischen der deutschen und der österreichischen Literatur einen Unterschied gäbe. Ein anderes Mal bat er mich, in seinem Institut einen Vortrag zu halten, und da ich in einem österreichischen Kulturinstitut nicht gut über Döblin sprechen konnte dem meine Hauptarbeit galt, schlug ich vor, über den modernen österreichischen Roman zu sprechen und nannte als Thema „ Kafka, Musil, Broch “ . Der Vortrag war zu meiner Überraschung ein großer Erfolg, obwohl zwar alle gebildeten Franzosen damals Kafka kannten, aber kaum einer Musil oder gar Broch. Die Ausnahme war natürlich Minder, der bei einem Kuraufenthalt in Deutschland bereits 1931 oder 1932 vom Mann ohne Eigenschaften gehört hatte und der nach Kriegsende auch etwas von Broch gelesen hatte. Als ich gekommen war, um mich bei ihm vorzustellen, hatte er mich bereits gefragt, welchen der beiden ich für den größeren hielte. Durch den unerwarteten Erfolg meines Vortrags beflügelt, erweiterte ich den Vortrag durch die Einarbeitung wichtiger Sekundärliteratur und etlichen Vertiefungen des Textes und machte aus dem Manuskript ein kleines Buches. Das Manuskript schickte ich per Post an Louis Piperger. Der Karl-Kraus-Verehrer, sozialistische Redakteur und Parteistratege hatte als Nachfolger von Julius Deutsch die Gesamtleitung des Medienkonzerns „ Vorwärts “ übernommen. 22 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="37"?> Zu diesem Medienkonzern gehörte auch der nach außen hin neutrale und parteiunabhängige Forum Verlag, in dem ich mein kleines Buch gerne gesehen hätte. Als Antwort auf meine Sendung erhielt ich nach wenigen Wochen bereits die Druckfahnen. Der Pariser Überraschungserfolg hatte sich bei Piperger wiederholt. Ich bin überzeugt, daß das kleine Buch trotzdem nach meinem Buch über Margarethe von Österreich mein zweiter Rekordmißerfolg geworden wäre, hätte nicht ein glücklicher Zufall die Wendung gebracht. Nach seinem Erscheinen fand in Wien eine Tagung aller großen, deutschsprachigen Verleger statt. Piperger liebte das Buch so sehr, daß er auf Grund seines Kleinformats und des niedrigen Preises jedem der anwesenden Verleger ein Exemplar als Geschenk überreichte. Der alte Rowohlt, der noch lebte und der Musil bis 1933 umworben hatte, konnte darin nachlesen, daß seine neue, erste Gesamtausgabe des Mann ohne Eigenschaften nichts wert war. Er war aber von meinem Buch so überzeugt, daß er gerne bereit war, am Schluß der billigen rororo-Ausgabe meines Lieblingsromans von Broch Der Versucher eine ganzseitige Anzeige meines kleinen Buches aufzunehmen. Vor allem durch das Geschenk an alle Verleger und auch durch diese Massenanzeige erfuhr mein kleines Buch in zwei Jahren drei Auflagen und wurde mein erster Bucherfolg. Der alte, weise Emerson hat einmal gesagt, sein Gedächtnis hätte seine eigene Persönlichkeit. So geht es mir auch mit meinem Gedächtnis. Die „ Persönlichkeit “ meines Gedächtnisses erlaubt längst vergessenen Ereignissen, Personen oder Büchern plötzlich wieder aufzutauchen, während es andere, oftmals teure und ängstliche bewahrte in den Lethestrom wirft. Einer der so plötzlich aus der Vergessenheit aufgetauchten ist ein ebenso unbekannter wie bedeutender Autor und Geistesvertreter und nur das genaue Jahr der Begegnung will sich beim besten Willen nicht einstellen. Es muß aber zwischen 1960 und 1964 gewesen sein und ich möchte ihn gleich 1960 behandeln. Sein Name ist Rolf Schott. Eine Vielzahl Erinnerungen sind plötzlich über ihn aufgestiegen. Ich weiß noch sehr genau, daß Ernst Schönwiese bei einem gemeinsamen Mittagessen, Rolf Schotts Besuch bei ihm in Wien ankündigte. Er erwähnte, daß er 1933 fluchtartig Deutschland verließ und nach Rom übersiedelte, wo er noch lebte. Zu seinen Bekannten und Briefpartnern gehörten Hofmannsthal, Thomas Mann und Hermann Hesse sowie der große Schweizer Theologe Hans Urs von Balthasar, der das Werk Die Apokalypse der deutschen Seele verfaßt hat. Außerdem der große Mythenforscher Karl Kerényi, der berühmte jüdische Mystiker Martin Buber und der zu Unrecht vergessene österreichische Autor George Saiko. Schon Schotts erstes Buch aus dem Jahr 1920 zeigt seine Geisteshaltung. Es hieß Reise in Italien und er schilderte Italien so, daß er den Geist der Antike beschwor, aus dem es als ein zentraler Teil des Abendlandes herausgewachsen war. 23 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="38"?> Es gibt zwei Bücher über Bo Yin Ra von ihm, dessen esoterischer Name auf fernöstliche Weisheit hindeutet. Hinter diesem Autoren-Pseudonym verbirgt sich jedoch Joseph Anton Schneiderfranken, ein interessanter Kenner esoterische Weisheit. Es gibt von Schott auch einen Band von sehr schönen Gedichten mit dem Titel Lebensbaum, was an den Sephirot-Baum anklingt. Ich erinnere mich, daß Schott in humorvollerweise aber mit Trauer in der Stimme von seinem einzigen Kind, einer Tochter, berichtete, die auf einer Vespa durch den starken, römischen Verkehr raste und die einen der Zeit verhafteten, oberflächlichen Freund hatte, auf den allein sie hörte. Ich erinnere mich auch, daß Schotts Hauptwerk ein utopischer Roman, Die Inseln des Domes, war, der unter der kleinen und primitiven Inselbevölkerung spielt, die den Atomkrieg des Dritten Weltkriegs überlebt hatte. Der Krieg hatte Sintflut-Charakter gehabt und diese Menschen waren die einzigen Überlebenden. Sie versuchten auch aus den verbliebenen Resten der ebenfalls zerstörten Geistkultur eine neue Kultur aufzubauen. Sie verehrten einen „ heiligen Wolfgang “ aus mythischer Vorzeit, der aus spärlichen erhaltenen Elementen von Mozart und Goethe zusammengesetzt war. Im Auftrag von Schönwiese hatte ich auch aus dem Roman ein Hörspiel gemacht, das aber nicht gesendet wurde. Es muß da eine „ höhere Macht “ im Spiel gewesen sein. Es ist leicht möglich, daß das intelligente Offizierskorps des großen österreichischen Bundesheeres den Schatten seines späteren großen Einflusses voraus geworfen hat. Unter den spärlichen Papieren, die ich aus Amerika nach Wien hatte bringen können, fand ich auch zwei hübsche esoterische Erzählungen Schotts. Die erste war ein „ Märchen “ mit dem Titel: „ Aureolus und Argentina “ , die für Animus und Anima standen, die zweite war eine Erzählung mit dem Titel: „ Traumspiel des wahnsinnigen Erbprinzen Daniel “ , der für den modernen Menschen steht und der in einer Welt wie der unseren lebt, die von „ ihrer garstigen Leidenschaft nicht lassen kann, immer ordinärer zu werden. Dazu wird sie auch noch Homer- und humorlos und versteht es nicht mehr, ihre Verkrampfung durch Lachen und Dichtung zu lockern. “ Im Jahr 1961 erlebte ich den zweiten Rekord-Mißerfolg mit einem Buch. Ich hatte in zweieinhalbjähriger Forschungs- und Herausgeberarbeit eine Dünndruckausgabe aller dichterischen Werke und Übertragungen von ausländischer Dichtung des Österreichers Felix Grafe herausgebracht, weil ich Österreich liebte. Daher konnte ich nicht glauben, auf so viel Unverstand, Vorurteil und geistige Stumpfheit zu stoßen. Als die Herrschaft des Nationalsozialismus vorbei war und jeden Monat neue Verbrechen gegen Menschlichkeit und Freiheit zu Tage traten, da wurde auch bekannt, wie viele österreichische Autoren in Konzentrationslager deportiert worden und wie viele sogar ermordet worden waren. Eine genaue Aufstellung 24 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="39"?> findet sich auf Seite 4 meines Buches Des Odysseus Nachfahren. Die österreichische Exilliteratur nach 1938. Es stellte sich im Laufe von wenigen Jahren heraus, daß den katholischen und bürgerlichen Märtyrern durch Kritiker, die der Volkspartei nahe standen, Gerechtigkeit widerfuhr, den sozialistischen Märtyrern durch sozialistische Kritiker und den kommunistischen Märtyrern und Fellow Travellern durch kommunistische Kritiker. Gerade der dichterisch bedeutendste Märtyrer hatte keiner Partei angehört, war auch keiner nahe gestanden und hatte niemand, der sich seiner annahm. Es ist das erste meiner Bücher, die wie auch spätere aus der Überzeugung heraus wuchsen, „ der braucht mich “ . Wenn aber das Buch auch ein Mißerfolg war, ich selbst bin durch die Arbeit daran sehr bereichert worden. Zudem bin ich der katholischen Wochenschrift Die Furche sehr dankbar, daß sie mir mehr als ein halbes Jahrhundert später die Chance gab, noch einmal durch einen Aufsatz „ Nur die Liebe allein schafft das Leben “ auf Grafe hinzuweisen, mit gleich negativem Erfolg (28. Februar 2013). Grafe war ein zurückgezogener, stiller Privatgelehrter gewesen, der seinen Lebensunterhalt als Kunstexperte vor allem alter, illuminierter Manuskripte verdiente. Als der strenge Dichtungskritiker Karl Kraus in den ersten Jahren seiner Zeitschrift Die Fackel mitunter noch einzelne Beiträge von anderen Autoren abdruckte, da hatte er auch einige der ersten Gedichte Felix Grafes abgedruckt. Ich selbst hatte den Namen Grafes das erste Mal in der Literaturzeitschrift meines späteren Freundes Ernst Schönwiese das silberboot gelesen, in dem ich auch sein schreckliches Schicksal erfuhr. Grafe hatte im Ersten Weltkrieg infolge seiner Krankheiten das Glück gehabt, sich aus dem ganzen Wahn- und Haß-Getriebe heraushalten zu können. Er hatte vorgehabt, im Zweiten Weltkrieg das Gleiche zu tun. Er hatte aber einen Schwager, der aktiver Leiter einer kleinen Widerstandsgruppe war. Dieser besuchte Grafe und bat ihn, er möge für ihn ein Gedicht gegen Hitler schreiben. Grafe war natürlich ein Gegner von Hitler, teilte aber keineswegs die besonderen politischen Meinungen seines Schwagers. Trotzdem setzte er dessen Vorstellungen in Verse und Reime. Der Schwager fertigte Kopien des Gedichts an und ließ sie von seinen Leuten in öffentlichen Telefonhäuschen in die dort aufliegenden Telefonbücher legen. Diese Aktion flog durch Verrat auf und Grafe wurde von einem der „ fliegenden Sondersenate “ , die von Großstadt zu Großstadt zogen, zum Tod verurteilt. Am 18. Dezember 1942 wurde er in Wien hingerichtet. Grafe hat durch sein ganzes Leben Gedichte geschrieben. Er hat einzelne Gedichte aus vier Sprachen übersetzt. Nachdichtungen von Buchlänge waren Wildes Ballade vom Zuchthause zu Reading, die sanfte und keusche Prosaerzählung Almaide von Francis Jammes und das dichterische Meisterwerk Swinburnes Atalanta auf Calydon, ein lyrisches Drama in der Form einer altgriechischen Tragödie, das mit einem „ Chorus mysticus “ endet. Es gibt 25 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="40"?> auch seltsam skurrile kleine Prosa. Aber alles ist in höchster, vollendeter dichterischer Sprache. An seine Frau schrieb er aus seiner Todeszelle: „ Ich habe meinen Frieden mit der Welt gemacht und gehe mit dem Bewußtsein meiner Unschuld, ruhig, ohne Haß, getröstet ins Jenseits . . . “ An seine frühere, erste Frau und die beiden Söhne endete sein Brief mit dem Kurzgedicht eines Platonikers: Ob Schierling oder Enthauptung Es bleibt die gleiche Handlung. Doch was sie Strafe glauben, ist heilige Verwandlung. Im Brief selbst aber heißt es: „ Die Theorie des Empedokles, daß alles Leben aus Liebe und Haß besteht, ist geistreich, aber falsch. Nur die Liebe allein schafft das Leben. Keineswegs von der Tiefe und großen Bedeutung der Begegnung mit dem Werk Felix Grafes ist eine ganz andere, persönliche Begegnung, die ich wegen der ununterbrochenen Lachsalven im Gedächtnis habe, die sie ausgelöst hat. Sehr wahrscheinlich hat sie 1962 stattgefunden. Seit einiger Zeit kannte ich den Vorstand der Germanistik einer kalifornischen Universität, Harold von Hofe, der jeden Sommer nach Europa kam. Dieser war kurz zuvor an der Universität Hamburg gewesen, um Karl Ludwig Schneider zu treffen. Als er sagte, er werde im Anschluß zwei Wochen nach Wien fahren, sagte ihm Schneider, dann müsse er unbedingt mich kennenlernen und gab ihm meine Adresse. Die Begegnung mit Harold von Hofe war eine meiner wichtigsten, denn er hat mich nach Amerika eingeladen. Auch wenn er mich später sehr enttäuscht hat, bleibt ihm dieses Verdienst. Ich sah ihn jeden Sommer in Wien und jetzt, 1962, hatte er mich am Abend zu einem sehr kleinen Kreis von Gästen in seine Ferienwohnung eingeladen. Als Mittelpunkt des Abends entpuppte sich sofort Walter Slezak. Er war der Sohn des berühmten Opernsängers Leo Slezak, von dem er dessen Humor geerbt hatte. Walter Slezak war schon früh an den Broadway und dann nach Hollywood gegangen, war seit 1936 amerikanischer Bürger und fand sich 1941 in einer Gruppe von Rekruten, die in den Krieg ziehen sollten. Aufgrund seiner Gewichtsprobleme war er gezwungen in das Charakterfach zu wechseln. Während der Kriegsjahre trat er daher in Filmen auf, unter anderem im berühmten Hitchcock-Kriegsfilm Lifeboat (Das Rettungsboot). Der halbe Abend war den Rekrutenerlebnissen gewidmet. Und es war die kombinierte Fähigkeit des pointenreichen Erzählers mit der großartig imitierten Mimik und der Aussprache eines besonders eifrigen Rekruten, der das permanente Lachen hervorrief. 26 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="41"?> Ich kann mich nur noch an eine Stelle erinnern, als sie zum ersten Mal angetreten waren und der Drill-Sergeant sie einerseits belehrte und andererseits bestimmte Fragen klärte. Slezak imitierte einen besonders eifrigen Rekruten, der über alles begeistert war und sich zu allem meldete, was auch immer gefragt wurde. Fast immer gingen alle anderen mit den positiven Antworten mit, bis auf einmal die Frage kam, wer sich zu der interessanten, aber gewiss schwierigen Truppe der Fallschirmjäger melden wollte. Hier schwiegen alle bis auf den Übereifrigen, der nicht anders als immer „ hier “ schreien konnte Als er entdeckte, daß er der einzige gewesen war, wendete er sich an seine Mitrekruten mit der Frage: „ Hab ich ’ nen Fehler gemacht? “ Mehr noch als die Frage selbst, war es die Mimik von Slezak, welche die Lachsalve auslöste. Er erzählte auch einige europäische Erinnerungen von seinem berühmten Vater und eine blieb in meiner Erinnerung. Vater und Sohn standen am 13. März 1938 am offenen Fenster eines Klubs in der Dorotheergasse 12 und hörten von der parallel dazu laufenden Kärntnerstraße Trommeln, Marschmusik und „ Sieg Heil “ der hitlerbegeisterten Wiener. Vater Slezak kommentierte dazu: „ So viel können die gar nicht plärren, daß sie sich halten könnten. “ „ Wie kannst Du so sicher sein? “ , fragte der Sohn. „ Wer gegen die Kirche und gegen die Juden zugleich anrennt, kann nur verlieren. “ Die Antwort mag im ersten Augenblick unernst klingen, aber bei genauerem Nachsinnen ist sie sehr weise. Es gibt eine tiefreichende, abendländische Kulturtradition, in welcher christliche und jüdische Elemente zusammen mit solchen der klassischen Antike verbunden sind. Liest man das Grundbuch des Ideologen des Nationalsozialismus Alfred Rosenberg, dann findet man die klassische Antike auch ausgeklammert. Nach ihm war es ein Rückfall in die heidnische Stammes-Barbarei. Hitlers Deutschland gehörte so wenig der abendländischen Kulturtradition an wie Putins „ Neu-Russland “ . Mit Sicherheit in das Jahr 1963 fällt meine Arbeit gemeinsam mit Ernst Schönwiese an einer Anthologie österreichischer Lyrik von Peter Altenberg bis zur damaligen Gegenwart. Die Einleitung würde ich heute, ein halbes Jahrhundert später, nicht anders schreiben. Beim Nachwort war ich vorsichtig genug, von der „ ebenso schönen wie undankbaren “ Aufgabe eines solchen Unternehmens zu schreiben. Denn viele Autoreneitelkeiten würden verletzt, weil sie gar nicht oder nicht ausführlich genug vertreten waren. Es würde aber auch Animositäten geben, weil andere aufgenommen wurden, die es angeblich nicht verdienen. Bei der heutigen Durchsicht habe ich nur eine wirklich schmerzliche Lücke entdeckt. Die große Lyrikerin Rose Ausländer fehlt völlig. Ihr erster Gedichtband ist aber erst 1965 erschienen und die Einzelgedichte der in die USA emigrierten Autorin kannte keiner von uns beiden. Ich war der erste, der sie kurz nach Erscheinen unseres Bandes in New York durch einen mit ihr befreundeten Kollegen kennen gelernt haben. 27 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="42"?> Die Anthologie möchte ich aber zum Anlaß nehmen, um den verlogenen Gerüchten entgegen zu treten, die schon damals, noch mehr aber nach 1972, als Schönwiese zum Präsidenten des Österreichischen PEN-Clubs gewählt worden war, gegen ihn in Umlauf gesetzt wurden, vor allem von Vertretern des Vereins „ Grazer Autorenversammlung “ . Die Wochenschrift Die Zeit hat sogar einmal berichtet, „ gehört zu haben “ , daß Schönwiese die Aufnahme der Bachmann in den PEN-Club verhindert hätte. Es spricht für Die Zeit die drei Wörter „ gehört zu haben “ eingefügt zu haben. Trotzdem spricht es gegen sie, ein solches Gerücht zu drucken. Ingeborg Bachmann ist mit vier Gedichten, dem absoluten Maximum in unserer Anthologie vertreten. Sie ist außer Paul Celan und Christine Busta die einzige, die ich in meiner Einleitung erwähnt habe. Schönwiese aber hat sich sofort nach dem Erscheinen ihrer ersten zwei Lyrikbände für sie eingesetzt. Es gab damals im „ Kleinen Haus des Theaters in der Josefstadt “ Sonntag- Matinées über je einen einzelnen, jüngeren Autor. Der Autor las Ausgewähltes aus seinem Werk, nachdem er von einem Kritiker eingeführt worden war. Der Autor suchte sich auch den einführenden Kritiker aus. Bachmann hat sich für ihre Matinée als Kritiker Ernst Schönwiese ausgesucht. Sie kannten einander noch von Rot-Weiß-Rot in Salzburg. Aber nicht nur das. Es gibt aus dieser frühen Zeit von 1958 sehr Weniges, worin mit solcher Tiefe und Überzeugungskraft das Wesentliche von Bachmanns Lyrik zum Ausdruck gebracht wird. Und auch damit nicht genug: Schönwiese wollte sein Eintreten für Bachmann allgemein bekannt machen und hat darum den Text seiner „ Einführung “ der damals wichtigsten österreichischen Literaturzeitschrift Wort in der Zeit (4. Jg., Heft 39) zum Abdruck gegeben. Ich ging nach der Matinée mit ihm und Bachmann zusammen in ein Café. Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten des Gesprächs der beiden aber eine „ Momentaufnahme “ steht lebendig in meinem Gedächtnis. Sie hatte mit unendlicher Behutsamkeit ihre Hand auf seinen Arm gelegt und gesagt: „ Aber Herr Professor, das paßt doch für uns beide nicht. “ Sowohl ihr zutiefst freundliches Wesen als auch ihre Ehrfurcht für ihn, waren in dieser Momentaufnahme festgehalten. Schönwiese hatte seine Einführung mit einem Hinweis von Bachmanns Monolog des Fürsten Myschkin beendet, der eine meiner Lieblingsfiguren der Weltliteratur aus Dostojewskis Roman Der Idiot war. Der Monolog war eine Ballett-Pantomime, zu der Hans Werner Henze die Musik geschrieben hatte. Darin findet sich der verzweifelte Ausruf: „ O Stummheit der Liebe! “ Schönwiese schloß mit den Worten. „ Ich glaube, wir haben Dichter und Dichterinnen wie Ingeborg Bachmann eine ist, zu danken dafür, daß sie der ‚ stummen Liebe ‘ mit ihren Versen für kostbare Augenblicke die Zunge gelöst haben “ . 28 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="43"?> Ingeborg Bachmann hat nachdrücklich gefordert, den Blick zu richten auf „ das Unerreichbare, sei es in der Liebe, in der Freiheit oder jeder reinen Größe “ . Sie war wie Grafe eine Platonikerin. Es ist der Weg, der in die letzte Einsamkeit führt. Sie hat in dieser Einsamkeit eines römischen Hotelzimmers geendet wie Schönwiese in seinem versteckten Bauernhof in den Wäldern des südlichen Burgenlands. Ich hatte sie in meinem Naturparadies in den Wäldern eines New Yorker Nationalparks erreicht gehabt, aus der ich mich hinreißen ließ, sie zu verlassen zu einem Unglücklichsein in einem geistentfremdeten Wien. In das Jahr 1963 fällt auch meine erste wirkliche Begegnung mit Harald Zusanek. Ich war ihm einige Male flüchtig begegnet und hatte einmal einen interessanten Vortrag von ihm über die Jahrtausende wirkende Rolle des Matriarchats gehört. Natürlich war er mir damals, bevor das Burgtheater ruiniert wurde, als der gefeierte Dramatiker des Hauses bekannt. Näher kennen gelernt habe ich ihn im Kreis einer kleinen privaten Gesellschaft. Wir gingen gleichzeitig weg und er lud mich ein, zu ihm zu kommen. Hier erfuhr ich zum ersten Mal von seiner „ anderen Seite “ , die sich bisher unter Ausschluß der Öffentlichkeit entwickelt hatte. Diese andere Seite wäre nie bekannt geworden, hätte sich nicht einer seiner Freunde, der Rechtsanwalt Johannes Hock sen., um seinen Nachlaß angenommen. Er hatte erreicht, daß eine ganze Reihe von Büchern zum griechischen Mythos herausgegeben wurden. Sie weisen ihn als ebenso interessanten wie originellen und bedeutenden Mythenforscher aus. Die zweite Auflage von Rhodos und Helios, die Untersuchungen zum Vogelkult und Poseidon fand ich am interessantesten. Zusaneks schmaler Band Kleine Schriften ist aber für meine eigenen späteren Arbeiten durch die Kapitel „ Frühkult “ und „ Johannes der Täufer “ unerläßlich gewesen. Zusanek hatte die seltene Gabe, verstecktes esoterisches Gedankengut zu entdecken und in überzeugenderweise allgemein verständlich und lebendig zu erklären. Im Fall von Johannes dem Täufer hat er gezeigt, wie dieser ein Ausläufer des „ Frühkults “ war, in welchem dem Kultkönig der Kopf abgeschlagen wurde. Er fand, daß das abgeschlagene Haupt des Johannes einen Hauptteil der Johannes-Legende darstellt und der Kategorie der „ sprechenden Häupter “ zuzuzählen ist. Um ein Orakel zu schaffen, trennte man meistens den Körper, der getrennt bestattet wurde. Solche sprechenden Häupter sind ganz wie archetypische Grundsymbole der Volksmärchen ein auf der ganzen Welt verbreitetes, menschheitliches Gut. Zusanek hatte herausgefunden, daß Johannes der Täufer nach dem Zeugnis des Josephus Flavius bereits vor seinem Tod ein geschätzter Ratgeber des Königs Herodes war. Wichtig für den Gesamtzusammenhang des Sinns ist auch die Schüssel, auf welcher das Haupt des Johannes immer abgebildet ist. Das Haupt mußte schwimmen, um Orakel verkünden zu können, wobei die Schüssel einen Brunnenersatz bildet. Wenn in den Johannesbräuchen in späterer Zeit nur 29 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="44"?> ein Fisch in der Schüssel schwimmt, dann ist auch das ein später Ersatz des Schädels. Für Zusanek war Johannes nicht nur ein moralischer Held und ein politisches Opfer, sondern auch ein Verwirklicher von Riten einer frühen Kultur, wodurch auch seine Vision Christi eine besondere Tiefendimension erhielt. Diese aber hat durch die Verbindung Johannes des Täufers mit dem Evangelisten Johannes eine weitere, kosmische Tiefendimension hinzu erhalten. „ Er tritt uns entgegen als ein Einzelner zwischen den Zeiten, offizieller Vorläufer, insgeheimer Ausläufer des Frühkults und was die ganze Wahrheit betrifft, beides zugleich. Von beiden nicht gefangen, Bild in sich nicht bindender Kraft, die darum auf alles Gegensätze wirkt und sie bindet. “ Zu der Autoren-Festschrift für mich hat er vier Kurzgedichte beigesteuert, von denen eines lautet: Nachts zwischen Liebenden, so kann es sein, bricht auf wie eine Granatfrucht Gott, bitter und rot, in vielen Kernen, sich bietend zum Mahl, das noch keiner zu Ende aß. 30 In Österreich 1927 bis 1964 <?page no="45"?> ZWEITES KAPITEL IN KALIFORNIEN UND PENNSYLVANIEN 1964 BIS 1971 Das Jahr 1964 war eines der wichtigsten Jahre meines Lebens, denn es war das Jahr, in dem ich zunächst für sechs Monate nach Amerika ging, wo ich aber bleiben sollte. Schon nach kurzer Zeit habe ich diesen Schritt „ die Überwindung der österreichischen Froschperspektive “ genannt. Das sollte nicht heißen, daß ich die Schönheit der Landschaft meiner österreichischen Heimat, noch die großen Dichter, Komponisten, Künstler und Geistesvertreter gering schätzte, von denen mich ja etliche durch meine geschilderten Begegnungen sehr bereichert hatten. Aber die Weltsicht hatte eine besonders wichtige, neue Dimension dazu gewonnen. Die erste Begegnung mit dem anderen Kontinent bedeutete freilich einen Kulturschock für mich, denn ich betrat Amerika, wo es besonders „ amerikanisch “ war. Der Mittelwesten bietet hauptsächlich Riesenweiten mit Landwirtschaft und der Osten wirkte vergleichsweise europäischer. In Los Angeles, wo ich gelandet war, gab es schon Vierteln mit Apartmenthäusern, wie Hollywood, in dem meine Wohnung lag, aber abgesehen von einem winzigen Zentrum mit festem Felsgrund, auf dem einige Wolkenkratzer standen, waren es Einfamilienhäuser mit Gärten und einigen Slums, denn das Ganze war auf Wüstensand gebaut. Freilich war die Wüste nicht mehr sichtbar, sondern war durch abgeleitetes Wasser aus dem Colorado-River in einen riesigen Rasen mit Farbenparadies verwandelt worden, in dem Orangen, Zitronen und Bananen wuchsen und die herrlichsten Blumen und Sträucher alles verschönten. Es gab nur eine Jahreszeit, einen warmen bis unerträglich heißen Sommer, nur einmal im Jahr unterbrochen durch drei Tage Starkregen. Die Frau meines Institutschefs hatte für mich eine hübsche, möblierte Zweizimmerwohnung in einem Apartmenthaus auf dem Hollywood Boulevard gemietet. Sie war nur zwei Blocks von dem berühmten Filmpalast „ Grauman ’ s Chinese Theatre “ entfernt, sodaß ich Hollywood-Atmosphäre atmete. Zwar war die einzige wirkliche Kulturstadt in Kalifornien San Francisco, doch war es unglaublich, welche wissenschaftlichen, spirituellen und künstlerischen Bildungsmöglichkeiten es auch in Los Angeles gab. Ein wirkliches Theaterleben gab es freilich nur in New York, aber es war gerade ein neues Opernhaus gebaut worden, das von Künstlern der Oper in San Francisco durch Gastspiele ein Programm erhielt. Bei der ersten Aufführung war der Dirigent Zubin Mehta und es war zugleich eines seiner ersten, wenn nicht sein erstes Engagement. Es gab genug Intellektuelle in Los Angeles, die sich nicht mit Hollywood begnügen wollten. <?page no="46"?> Ich kaufte mir um fünfhundert Dollar für die wenigen Monate einen uralten Mercury, der an ein junges Schlachtschiff erinnerte und ein Benzinfresser war. Aber das spielte damals keine Rolle, denn Benzin kostete pro Galone, das waren fast vier Liter, 39 Cent. Mein Institutschef sagte mir, ich müsse unbedingt ein Telefon haben. Da es in Wien mindestens sechs Monate dauerte, fürchtete ich, es werde nicht möglich sein. Aber er belehrte mich: Würde ich es heute bestellen, dann hätte ich es morgen. Auch die Kosten dafür waren unglaublich niedrig. Am zweiten Tag, als ich bereits ein Auto hatte, tauchte mein Chef in meiner Wohnung auf und sagte: „ Fahr mir nach und merk Dir die Route zur Universität. “ Auch händigte er mir einen Sticker aus, der mich berechtigte, auf dem riesigen Parkplatz des Campus zu parken. Im Wohnhaus gehörte ein reservierter Parkplatz im riesigen Keller des Hauses zur Wohnung. Mein Chef fuhr mir voraus und auch der Weg gestaltete sich als sehr einfach. Ich wohnte ganz in der Nähe der Auffahrt zu einer der breiten Autobahnen, welche die ganze Stadt durchzogen und auch die Universität war nahe einer Auf- und Abfahrt. Mein Gehalt war für österreichische Verhältnisse märchenhaft. Zuerst wurde ich den sechs Kollegen der Abteilung vorgestellt, drei Tage später dem Dekan und noch später einem Vizepräsidenten. Nie wurde ich nach meiner politischen Einstellung, nach meiner Religion, nach meinen Beziehungen gefragt. Interessant war nur meine Publikationsliste und ob ich ein guter Lehrer sei. Die Liste war so lang, daß der Altgermanist gemeint hatte, ich müsse mindestens den Grad eines Extraordinarius haben. Ich war nur für sechs Monate gekommen, vier Monate eines kurzen Sommersemesters in Los Angeles und zwei Monate für einen Sommerkurs in Vermont. Ich wollte nicht länger aus Wien weg bleiben. Nach sieben oder acht Wochen sagte ich meinem Chef, ich würde am liebsten ganz bleiben. Er lachte, versprach mir die Beförderung zum Ordinarius und einen höheren Gehalt. Aber er machte mich auf eine bürokratische Hürde aufmerksam. Ich war als Fulbright-Stipendiat gekommen und hatte kein Einwanderungs-, sondern ein „ Fulbright-Visum “ . Das bedeutete, daß ich zwei Jahre im Land bleiben durfte, um zu lehren, dann aber für mindestens zwei Jahre nach Österreich zurückkehren mußte. Dann könnte ich einen Antrag auf ein Einwanderungsvisum stellen. Allerdings war mein Chef der Meinung, er könnte in Washington die Visumsänderung durchsetzen. In Los Angeles hatte ich Begegnungen mit österreichischen Exilanten, die vor Hitler geflohen waren. Vor allem aber fand ich auf Schritt und Tritt Relikte von oft sehr bedeutenden deutschen und österreichischen Autoren, die im Exil verstorben waren oder aber - das waren die wenigsten - die in ihre Heimat zurückgelehrt waren. Eine der interessanteren Begegnungen war jene mit Martha Feuchtwanger, der Witwe nach Lion Feuchtwanger. Sie wohnte in einem schloßartigen Riesenhaus im mexikanischen Stil, das Feuchtwanger im Krieg 32 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="47"?> um einen Pappenstiel erworben hatte. Es war von einem kleinen Park umgeben und hatte einen herrlichen Blick auf den Pazifik. Mrs. Feuchtwanger, die intelligent, gebildet und dazu noch menschlicher und anständiger war, gab mir eine Tour durch seine riesige Bibliothek und war voll von Anekdoten und interessanten Geschichten. So erzählte sie mir, daß Feuchtwanger nach dem Ersten Weltkrieg in München wohnte, wo in seinem Stammcafé Hitler oft am Nebentisch saß. Wenn er im Winter vor dem Weggehen seinen Mantel auszog, sprang der noch unbekannte Hitler auf, um ihm hinein zu helfen. Feuchtwanger war im Januar 1933 gerade in New York gewesen. Eines Morgens besuchte der deutsche Generalkonsul den Spätaufsteher und begrüßte ihn mit den Worten: „ Fallen Sie nicht aus dem Bett. Hitler ist Reichskanzler geworden. “ Der wohlhabende Feuchtwanger hatte auch Bert Brecht die Schiffsreise von Wladiwostok nach Los Angeles bezahlt. Denn als Brecht aus Finnland in die Sowjetunion fliehen mußte, dachte er keinen Augenblick daran, sein Exil dort aufzuschlagen, sondern wollte so schnell wie möglich wieder weg. Nach Westen ging es nicht, also fuhr er mit der Bahn nach Wladiwostok und von hier weiter nach Los Angeles. Hier versuchte er immer wieder Dramen, Stoffe und Ideen bei Filmfirmen unterzubringen, in der Regel ohne Erfolg. Wenn Brecht im Nachhinein aus Europa Hollywood schlecht beurteilte, dann war es wie mit dem Fuchs mit den sauren Trauben. Nur gar zu gern hätte er Erfolg gehabt. Es gab aber in seinen amerikanischen Exiljahren zumindest zwei Aufführungen von Dramen von ihm. Die Aufführung am Broadway ist sehr bekannt geworden. Wenig bekannt ist jene, die ebenfalls durch Unterstützung Feuchtwangers in dem kleinen kalifornischen Schauspielhaus in Pasadena zustande kam. Es war die Adaption eines Stückes von Marlowes Edward II., bei dessen Übersetzung er mitarbeiten mußte. Auch darüber wußte Mrs. Feuchtwanger eine hübsche Anekdote zu berichten. Das Stück war bereits 1923 in München für die Kammerspiele geschrieben worden. Damals hatte Brecht verkündet: „ Wir wollten eine Aufführung ermöglichen, die mit der Shakespeare-Tradition der deutschen Bühnen brechen sollte, jenem gipshaften monumentalen Stil, der den Spießbürgern so teuer ist. “ Das „ wir “ in dieser Ankündigung war nicht ganz richtig. Denn obwohl der Bestsellerautor von Unterhaltungsromanen - Feuchtwanger - politisch mit Brecht voll übereinstimmte, was die Theorie vom „ epischen Theater “ betraf, mißtraute er zutiefst dieser völlig unpoetischen erfolgsfeindlichen Idee Brechts. Mrs. Feuchtwanger berichtete, daß in Los Angeles dieser Widerspruch der beiden Adapteure - denn von Autoren konnte man kaum sprechen - offenkundig bei der Übersetzung des Stücks so deutlich zum Ausdruck kam, daß es Feuchtwanger zu viel wurde und er eines Tages die Arbeit mit dem Worten abbrach: „ Jetzt lecken Sie mich im Arsch mit Ihrer Theorie vom epischen 33 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="48"?> Theater. “ Das war aber nicht das Ende des Mißerfolgs dieser Theorie in Los Angeles. Der Widerstreit spitzte sich während der Proben des Stücks in Pasadena zu, denn der amerikanische Regisseur kannte diese Theorie nicht nur nicht, sondern zeigte auch nicht die geringste Lust sie zu lernen. Das führte dazu, daß Brecht alle fünf Minuten die Probe - gottlob in Deutsch - mit den Worten unterbrach: „ Das ist ein blödes Unverständnis! “ Nachdem er vier Mal auf diese Weise in kürzester Zeit die Probe unterbrochen hatte, setzte Feuchtwanger ihm auseinander, daß er das nicht dürfe. So etwas sei im Pasadena Schauspielhaus unüblich. Würde er so fortfahren, dann könnte der Regisseur die Arbeit hinwerfen und es käme zu keiner Aufführung. Brecht sollte wenigstens rufen: „ Das ist eine sehr persönliche Auffassung! “ Um die Aufführung besorgt, rief Brecht von da an die zweite Version. Dann kam der große Tag der Premiere. Feuchtwanger und Brecht saßen in der ersten Reihe und ziemlich oft wandte sich Brecht an Feuchtwanger mit den Worten: „ Schon wieder eine persönliche Auffassung. “ Nachdem eine Viertelstunde so verstrichen war, zischte ihnen eine Dame, die hinter ihnen saß, zu: „ Wenn sie das Stück schon nicht verstehen, dann stören Sie wenigstens durch Ihr Gerede nicht die Aufführung. “ Während des Semesters konnte ich mir eine zehntägige Mexiko-Reise leisten. Eine unvergeßliche Begegnung war die mit einer besonderen Studentin, Virginia Sease. Sie war etwa zehn Jahre älter als die anderen Studenten, weil sie zunächst Opernsängerin hatte werden wollen und nicht nur fertig studiert, sondern auch bereits eine Anstellung an der Oper von Philadelphia gehabt hatte. Die Intrigen, die offenkundig mit dem Beruf verbunden waren, verleideten ihr das Leben so sehr, daß sie kündigte und nach Kalifornien ging, um Germanistik zu studieren. Auf jedem Gebiet, das sie aussuchte, war sie gleich großartig. Da sie zu meiner Freude an Mystik interessiert war und da es gerade die Periode war, in welcher die Weltgermanistik plötzlich Barock als besonders wichtig fand, verabredete ich mit ihr eine Dissertation über einen schlesischen Mystiker. Ich glaube, es war Czepko, den ich wegen seiner Schwulstlosigkeit schätzte. Da ich aber nach Pennsylvanien ging, leitete ein berühmter deutscher Forscher des Barocks - Wentzlaff-Eggebert - die Dissertation, was für sie viel besser war als der damals unbekannte Strelka. Sie fand auch sofort eine Anstellung am Pasadena City College in Kalifornien. Als sie nach sieben Jahren wie üblich eine Anstellung auf Lebenszeit erhalten und Extraordinarius werden sollte, erhob der „ Women ’ s Political Caucus “ Einspruch dagegen und verhinderte diese. Der Women ’ s Political Caucus war die Emanzen-Organisation in jedem College und Virginia Sease, der es nur um Qualität in Forschung und Lehre ging und die mit keiner Art von „ Politik “ zu tun haben wollte, hatte sich geweigert, dem Women ’ s Political Caucus beizutreten. Eine Frau, die sich derartig weigert, ist noch ärger als ein Mann. Eine solche Frau durfte einfach nicht befördert werden. Obwohl ich ziemlich sicher bin, daß es etliche schwächere Kolleginnen im Women ’ s 34 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="49"?> Political Caucus und keine bessere als Sease gab. Als ich davon erfuhr, schrieb ich einen langen Brief an den Präsidenten des Pasadena City College, aber nichts half. Es ist jedoch eine der schönen Geschichten mit einem guten Ausgang. Virginia Sease war auch Anhängerin von Rudolf Steiner und sie war als Steinerianerin so großartig wie überall. In Kalifornien gab es viele Waldorf- Schulen. Sie wurde Inspektorin aller kalifornischen Waldorf-Schulen. Wenige Jahre später war sie Inspektorin aller amerikanischen Waldorf-Schulen und wieder wenige Jahre später wurde sie in das Weltzentrum des Goetheanums nach Dornach berufen. Ich blieb mit ihr in einem losen, aber besonders herzlichen Kontakt. Als meine Tochter drei oder vier Jahre alt war, schickte sie ihr zu Weihnachten das Kinderbuch von „ Onkel Wiggly “ , einem alten Hasen, das sie selbst als Kind besonders geliebt hatte. Etliche Jahre später produzierte sie einige hervorragende Übersetzungen von Schönwiese-Gedichten ins Englische. Als das Semester zu Ende war, folgte eine abenteuerliche Fahrt in dem alten Mercury auf der berühmten Route 66 quer durch den Kontinent. Schon in der Hitze der Mojave-Wüste mußten alle vier Reifen erneuert werden. In Texas kam ich in einen Sandsturm, der das Ende meines Vergasers bedeutete. Und so ging es weiter. In Middlebury in Vermont angekommen, hatte ich zwei interessante Begegnungen. Ich lernte den amerikanischen Lyriker Robert Frost kennen und hörte eine Lesung seiner Gedichte. Er kam in einem schwarzen Cadillac mit einem Chauffeur mit weißen Handschuhen an und bewegte sich trotz der Sommerhitze nur in einem schwarzen Anzug, ein vornehmer, neuenglischer Gentleman. Das Middlebury College hatte einen Vertrag mit der berühmten alten Offiziersakademie West Point und so hatte ich in meiner Vorlesung fast ein Dutzend junger Hauptleute und Majore sitzen, die in West Point selbst Deutsch lehrten, aber hier durch „ Native speakers “ , wie ich einer war, eine möglichst perfekte Aussprache erhielten. Ein junger Hauptmann, der mich nach der Vorlesung gerne über die deutsche Armee im Krieg ausfragte, entwickelte eine solche Vorliebe für mich, daß er mich einlud, nach dem Kurs drei Tage in West Point sein Gast zu sein. Da die Straße von Middlebury nach New York City direkt an West Point vorbei führte, nahm ich die wohl einmalige Einladung gerne an. Der Aufenthalt war wirklich denkwürdig. Als ich nach drei Tagen weiter fuhr, verließ ich West Point tief beeindruckt. Ich habe selten nach dem Verlassen einer militärischen Institution ein so positives Urteil gehabt. Als Fulbright-Stipendiat hatte ich auch eine kleine Ausweiskarte, unterschrieben vom amerikanischen Secretary of State erhalten, auf der alle amerikanischen wie auch innerhalb Amerikas ausländischen Behörden ersucht wurden, mir zu helfen. 35 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="50"?> Als ich mich in New York dem Leiter des Österreichischen Kulturinstituts Dr. Willi Schlag vorstellte, zeigte ich ihm auch die Karte. Er bot mir an, ein Abendessen mit einem Dutzend oder etwas mehr Personen meiner Wahl für mich zu geben. Ich sagte, daß ich nur eine Person sehen möchte. Hier ist eine kleine Einschaltung notwendig: Als ich mit Schönwiese unsere Lyrik-Anthologie Das zeitlose Wort vorbereitet hatte, war unsere wichtigste Neuentdeckung ein Dichter namens Alfred Gong, der in New York wohnte und von dem wir zwei Lyrikbände mit Begeisterung lasen. Er stammte aus Czernowitz wie sein Freund Paul Celan. Wie dieser war er zuerst aus dem kommunistischen Machtbereich nach Wien geflohen, wie dieser war er von dem bombenzerstörten Wien mit einer mächtigen sowjetischen Besatzungsmacht enttäuscht, sodaß Celan nach Paris ging und Gong nach New York. Das war alles, was ich wußte. Als Willi Schlag fragte: „ Wer ist denn der eine? “ und ich geantwortet hatte: „ Alfred Gong “ , entfuhr ihm der Stoßseufzer: „ Um Gottes Willen, ausgerechnet der! “ Er erklärte mir, daß ich von Gongs Person nichts Genaueres wußte und er erklärte mir seinen Stoßseufzer. Gong hatte es nämlich fertig gebracht, in den literarischen Zirkeln von New York bei Empfängen, Feiern und Abendessen den Ruf aufzubauen, ein Enfant terrible zu sein, ein aufmüpfiger Stänkerer, der sich über öffentlich anerkannte literarische Größen satirisch lustig machte und mit ebenso großer Wortgewalt Fehler und Schwächen der jeweiligen Veranstaltung laut kritisierte. Es war mir gelungen, Willi Schlag zu überreden, das Wagnis zu riskieren. Als Gong kam, übergab ich ihm sofort ein Exemplar unserer Anthologie Das zeitlose Wort und erklärte ihm, daß er einer derjenigen sei, der mit dem Maximum von vier Gedichten vertreten sei. Er strahlte kurz und dann begannen sich durch fünf Minuten die Schleusen aufgestauten Leids zu öffnen. Er klagte, daß seine beiden Lyrikbände in Österreich ohne Resonanz geblieben seien. Außerdem hatte die damals berühmte „ Gruppe 47 “ wenige Monate zuvor in Princeton ein von allen Zeitungen berichtetes großes Treffen veranstaltet. Er war sicher gewesen, dazu eingeladen zu werden, aber nichts geschah. Meine nüchternen Hinweise, daß das leider alles „ normal “ sei, sowohl was den österreichischen Literaturbetrieb betraf als auch für die Reaktion der mafiaartigen „ Gruppe 47 “ , die in erster Linie ein Propagandaapparat für eine kleine Insider-Gruppe war, bedeuteten Nektar und Ambrosia für ihn. Überraschend wurde er plötzlich zum geistreichen und witzigen, blendenden Unterhalter für uns alle. Nach einer halben Stunde flüsterte Willi Schlag mir zu: „ Der ist ja gar nicht so. “ Es hätte des Weins des Kenners Schlag gar nicht bedurft, daß die Unterhaltung ständig gelöster und heiterer wurde. Willi Schlag entpuppte sich als Jäger und ein Sammler von alten Waffen und der Abend schloß im großen Schlafzimmer Schlags mit einem Armbrustschießen auf ein Ziel an der Schlafzimmertür, das wir sehr genossen. 36 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="51"?> Als ich Gong zwei Tage später allein traf, zeigte er mir sein von ihm herausgegebenes Buch Interview mit Amerika, das Beiträge von fünfzig deutschsprachigen Autoren über Amerika enthält. Darin findet sich auch sein eigenes, unvergeßliches Gedicht „ Dieses Volk “ , dessen letzte zwei Strophen lauten: Sie kamen und blieben und träumten: Pfefferminzsterne aus Riga; Geruch walachischer Rosse; Rauch der Pogrome in Kiew; Madonna sizilischer Messer; Fächermode am Huangho. Wir blieben. Am gleichen Feuer schmolz Vergangenes. Im gleichen Feuer wuchs der Guß: ein Volk, hart, unverwüstlich wie sein Gold: Kalifornischer Frühling - sein Lächeln, das Salz des Atlantik in seinen Küssen, Manhattans Neonperlen in den Pupillen, die Wucht texanischer Herden in seiner Faust, unerschöpflich wie des Niagaras laufendes Band - und es hebt seine Stirn in das Morgen und es lauscht dem Ruf fremder Sterne. Nur allzu bald sollte auch ich einen gänzlich anderen Teil dieses Kontinents als Kalifornien kennenlernen. Mein Chef hatte mir erzählt, daß sein bester Freund Institutschef in Pennsylvanien war und mit seiner eigenen Fakultät solche Schwierigkeiten hatte, daß er sich keinen Rat mehr wußte. Mein Chef fragte mich, ob ich einverstanden wäre, daß er mich für ein Jahr an seinen Freund „ ausborgt “ , damit ich helfe, Ordnung zu schaffen. Auf diese Weise fand ich mich plötzlich in Pennsylvanien. Die kalifornische Universität war mitten in der Stadt, nahe einer Autobahn im ungeheuren Verkehr gelegen. Die pennsylvanische Universität lag in einem einsamen Tal inmitten von Hügeln und tiefen Wäldern. Es gab 25.000 Studenten und ringsherum ein Nobeldorf mit einer Bevölkerung von acht- oder neuntausend Menschen, deren Mehrheit in Geschäften, Betrieben und Dienstleistungsfirmen für die Studenten und die Fakultät tätig war. Die Geisteswissenschaften waren besser als in Los Angeles, die ganze Universität solider und man wollte mich behalten. Eine meiner wichtigsten Begegnungen an dieser Pennsylvania State University, war meine Begegnung mit einem österreichischen Dramatiker. Als ich erfuhr, daß er auf einer Vortrags- und Lesetour durch die Vereinigten Staaten war, lud ich ihn nach Penn State ein. 37 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="52"?> Fritz Hochwälder hatte ursprünglich das Tapezierer-Handwerk gelernt, war aber schon früh an der Volkshochschule Leopoldstadt Besucher der Vorträge und Seminare von Ernst Schönwiese gewesen. Ein erstes Stück von ihm war schon früh in den Wiener Kammerspielen aufgeführt worden. Als Hitler 1938 Österreich annektierte, floh er ins Exil in die Schweiz. Der Siebenundzwanzigjährige fuhr nach Vorarlberg und schwamm durch den Rhein in die Schweiz. Hier durfte er während des Krieges zwar nicht als Schriftsteller Geld verdienen, fand aber viel Zeit, um zu schreiben. Hier entstand auch sein berühmtestes Stück Das Heilige Experiment über den idealen christlichen Staat, den die Jesuiten im 17. Jahrhundert in Paraguay errichtet hatten. Den Studenten erzählte er einiges aus seinem Leben, dann las er zwei wichtige Stellen aus dem Heiligen Experiment. Nach dem Mittagessen erzählte er mir eine eigene Geschichte aus seinem Leben. Da Das Heilige Experiment der Riesenerfolg bei den Salzburger Festspielen im Jahr 1947 war, begann sich der damalige Unterrichtsminister Dr. Felix Hurdes dafür zu interessieren. Er schrieb Hochwälder einen Brief in die Schweiz, er würde ihm goldene Brücken bauen, wenn er in seine österreichische Heimat zurückkehrte. Hochwälder, der seine Landsleute in den Entscheidungsjahren 1934, 1938 und 1945 kennen gelernt hatte, schreckte vor einer sofortigen Entscheidung zurück und beschloß, drei Wochen zuzuwarten. Dann würde er bei den nächsten Salzburger Festspielen in Salzburg seinen praktisch denkenden Freund Kokoschka fragen, dessen Rat er befolgen wollte. Als die beiden Herren einander im Salzburger Café Glockenspiel trafen, kam Hochwälder sofort nach der Begrüßung auf sein Problem zu sprechen. Er schloß mit der direkten Frage: „ Soll ich nach Österreich zurück gehen? “ Kokoschka zögerte keinen Augenblick mit seiner Antwort: „ Ja wenn S ’ z ’ Grund gehen wollen. “ Hochwälder starb 1986 in Zürich. In der Festschrift für mich hat er einen „ Dramatischen Jux in drei Akten “ geschrieben, der den Titel „ Leporello sucht einen neuen Herrn “ trägt. Darin fragt Leporello Alfonso weshalb er sich in Sevilla aufhalte und nicht in der Haupt- und Residenzstadt Wien. Alfonso antwortet: „ Weil ich den Wiener Intrigen entfliehen wollte “ . Ich aber flog im Jahr 1966 nach Wien, um zum ersten Mal an einem Internationalen PEN-Kongreß teilzunehmen. Schönwiese war der Präsident des Weltkongresses und hatte mich eingeladen. Etwa drei Wochen vor dem Kongreß hatte die UNO eine Resolution beschlossen, in welcher der Staat Israel bezichtigt wurde, „ rassistisch “ zu sein. Im Flugzeug überlegte ich, wie ich Schönwiese klarmachen könnte, daß etwas dagegen unternommen werden müßte. Durch diesen kam es zu den ersten beiden wichtigen Begegnungen auf diesem Kongreß: zum österreichischen Professor Heer und zum Schweizer Dramatiker Dürrenmatt. Als ich im Kongreßhotel meinen Koffer ausgepackt hatte, ging ich hinunter in die Lobby, um Schönwiese zu suchen. Er war gerade mit seinem General- 38 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="53"?> sekretär Reinhard Federmann angekommen. Es gab zwei Umarmungen und dann nötigten mich die beiden sofort in einen Raum, in dem Wiener Süßigkeiten ausgestellt waren, die man auch dort gleich bequem verzehren konnte. Zuerst mußte ich wählen, dann mußte ich essen und erst dann durfte ich reden. Ich glaubte, überzeugend zu sein, aber je länger ich sprach, desto mehr gruben sich Sorgenfalten auf der Stirn des Freundes ein. Als ich geendet hatte, entschied er: „ Würde ich auf Dich hören, dann würde hier in Wien der Internationale PEN in einen West- und einen Ost-PEN auseinander brechen. Vergiß das Ganze! “ Natürlich konnte ich es nicht vergessen, aber da ich den älteren und wissenderen Freund sehr schätzte und liebte, fiel es mir leicht, darüber zu schweigen. Aber zwei Stunden später kam Professor Heer zu ihm mit demselben Problem. Auch er wurde, wenngleich höflicher und „ diplomatischer “ abgewiesen. Als aber wieder drei Stunden später Friedrich Dürrenmatt bei ihm auftauchte und dasselbe Problem besprechen wollte, begann Schönwiese nachdenklich zu werden. Schließlich wurde eine „ Sonderveranstaltung “ eingeschoben. Da aber Torbergs Gattin Marietta Pressesekretärin des Kongresses war, erlebte die „ Sonderveranstaltung “ besondere Unterstützung. So wurde am nächsten Morgen in der Lobby eine große Tafel mit dem Titel „ Sonderveranstaltung “ aufgestellt, gab es in allen Stockwerken des Hotels kleine gedruckte Hinweise darauf und sogar zwei Zeitungen brachten Kundmachungen darüber. Nach einer kurzen Präambel sprach ich das Problem so direkt an, wie es mir richtig schien und mit einem Überraschungseffekt. Ich erinnere mich noch an den erstaunten Blick, den mir Dürrenmatt gab, als ich erklärte, die UNO- Resolution hätte auch eine sehr positive Seite. „ Denn “ , führte ich aus, „ auch dem naivsten Spießer, der sich am liebsten aus allem heraushalten möchte, ja selbst dem geschicktesten Verdreher von Wahrheiten wird es durch sie unmöglich gemacht, Grundwahrheiten verleugnen zu können. Jetzt läßt es sich nicht mehr einfach weg eskamotieren, daß der Staat Israel durch einen verzweifelten Verteidigungsakt zustande kam, durch den verzweifelten Versuch unserer Menschenbrüder, die dem antisemitischen Rassenhaß und dem im konsequent folgenden totalen Vernichtungsplan gerade noch einmal entrinnen hatten können. Wer ist es aber, der nun aufgestanden ist und seine Stimme abgegeben hat, für den Versuch der Entfesselung einer neuen Haßwelle gegen den Rest des noch nicht gänzlich vernichteten jüdischen Volkes? Es waren selbstverständlich neben den arabischen Staaten sofort die vereinigten Staaten des kommunistischen Ostblocks, die damit in aller wünschenswerten Klarheit ein offizielles Bekenntnis dazu abgelegt haben, daß ihnen damit nun auch noch die letzte Facette eignet, das ihren linken Totalitarismus von 39 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="54"?> seinem rechtsfaschistischem Zwillingsbruder unterschieden hatte: Der Antisemitismus. Ich glaube, dies war nicht nur für mich, sondern auch für die zwei anderen Redner der Sonderveranstaltung eine erinnerungswürdige Begegnung gewesen. Ich weiß, daß Friedrich Heer nicht nur für mich noch mehr eintrat als zuvor, sondern daß er selbst später in noch nachdrücklicherer und ausführlicherer Weise gegen den Antisemitismus eingetreten ist. Für Friedrich Dürrenmatt war es meines Wissens nach auch nur der erste Auftritt dieser Art, dem noch berühmtere folgten wie: „ Sätze aus Amerika “ von 1973, „ Ich stelle mich hinter Israel “ , auch von 1973, und die Rede zum 100. Geburtstag von Albert Einstein an der ETH Zürich von 1979. Als ich viel später eine Auswahl meiner Festansprachen und Reden unter dem Titel Dienst an der Dichtung in Buchform veröffentlichte, habe ich diese frühen Ausführungen bei meinem ersten Internationalen PEN-Kongreß an den Anfang gestellt. Unmittelbar nach dem Auftritt über die UNO-Resolution sprach mich H. G. Adler an und diese Begegnung betrachte ich als die wichtigste des ganzen Kongresses. Er hatte als einziger seiner Familie das Konzentrationslager überlebt und hat rückblickend die wahrscheinlich umfassendsten und objektivsten Darstellungen der Versklavung innerhalb wie außerhalb des Stacheldrahts geschrieben: Theresienstadt 1941 - 1945 und Der verwaltete Mensch. Beim Kongreß war er anwesend als Vertreter des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland, das zunächst dadurch entstanden war, daß die meisten Mitglieder, die während des Krieges dem Deutschen Exil-PEN in London angehört hatten, nach dem Krieg nicht in die alte Heimat zurück kehrten, sondern in England blieben. Da aber das durch den Hitler-Totalitarismus entstandene „ Exil “ -Zentrum jetzt kein wirkliches Exil-Zentrum mehr war, war der neue Name notwendig geworden. Dieses Zentrum hat später auch andere deutschsprachige Autoren, die außerhalb Englands im Ausland lebten, aufgenommen. Adler hatte während des Krieges im Konzentrationslager gelebt. Nach dem Krieg war er in seine Vaterstadt Prag gegangen. Schon 1938 hatte er geplant, ins Exil nach Brasilien zu gehen. Als der Vater seiner Frau schwer erkrankt war, hatte sich diese entschlossen, bis zu seinem Tod bei ihm zu bleiben. Also blieb auch er und hatte damit die Möglichkeit „ Brasilien “ versäumt. Als er nach dem Krieg beobachtete, wie sich in der Tschechoslowakei ein neuer Totalitarismus mit Konzentrationslagern, Folter und Mord anbahnte, war er dieses Mal einer der ersten, der 1947 aus Prag nach England floh. Als ich ihm begegnete, war bereits sein Buch über Theresienstadt erschienen wie auch das Auschwitz-Buch, das er gemeinsam mit Hermann Langbein und Ella Lingens herausgegeben hatte. Sein großer Roman Die unsichtbare Wand mit einem autobiographischen Helden sollte erst 1989 kommen. 40 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="55"?> Wir haben uns während des Kongresses unsere Schicksale während des Krieges erzählt. Er bat mich dringend, „ seinem “ PEN-Zentrum beizutreten, was ich auch sofort tat. Er war von 1973 bis 1985 Präsident dieses Zentrums. Nachdem er die Präsidentschaft 1985 wegen schwerer Erkrankung niederlegen mußte, ist es zu einer kommunistischen Frontorganisation abgesunken. Obwohl ich sofort nichts mehr damit zu tun haben wollte, wurde mir später ein Fragebogen über mein Leben und meine Bücher zugeschickt, die die Grundlage zu einem Mitgliederbuch sein sollte. Selbstverständlich habe ich ihn nicht ausgefüllt und bin nicht in diesem Buch vertreten. In Adlers PEN-Club zu sein, war eine Ehre. Mit einer Gruppe von Fellow Travellern wollte ich nichts zu tun haben. Im Jahr 1967 ging über die Pennsylvania State University - und nicht nur über sie - ein kleiner Geldregen nieder. Bereits 1957 war der erste „ Sputnik “ von den Russen gestartet worden und hatte in Amerika einen Sputnik-Schock ausgelöst. Der erste bemannte Raumflug mit Gagarin hatte diesen Schock noch vergrößert. Die Russen waren plötzlich den Amerikanern voraus. Da entschieden sich die Politiker Amerikas, daß die Universitäten gefördert werden müßten. Fairerweise ging der Regen auf Natur- und Geisteswissenschaften nieder. Es dauerte aber bis 1967, als der Leiter des geisteswissenschaftlichen Forschungsinstituts von Penn State John M. Anderson die erste Rate zusammen mit der Zusicherung weiterer Raten erhalten hatte. Bald darauf rief mich mein Institutschef Professor Stanley Townsend in sein Büro. Er teilte mir mit, daß unser Institut genug Geld erhalten hätte, daß wir ein Jahrbuch herausgeben könnten. „ Ich kann das nicht machen “ , sagte er. „ Könnten und wollten Sie das machen? “ Und ob ich es wollte! Ich begründete den Begriff „ Comparative Criticism “ , was man im Deutschen wohl mit „ Vergleichende Literaturkritik und Literaturtheorie “ wiedergeben könnte. Die Methodologie, die seit Benda eines meiner Hauptinteressen gewesen war, wurde von mir weiter entwickelt. Ich beschloß den ersten Band dem Sonderinteresse Schönwieses zu widmen, nämlich dem literarischen Symbol seiner Funktion als Medium für esoterisches Wissen. Ich konnte nicht anders, als an die Definition Mephistos durch Goethe zu denken, dem er die Worte in den Mund legte: „ Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. “ Das Ungeistige der Sowjetmacht hatte positive und elitäre Geistigkeit geschaffen. Was den ersten Band des Yearbooks betrifft, so bedeutete die Pedanterie des Institutschefs, der so viel wie möglich das Institut einbinden wollte, etwas Sand im eigenen Getriebe. Er wollte, daß alle Neugermanisten der Abteilung Beiträge für den ersten Band schreiben sollten. Sie waren fast alle unbelastet von esoterischen Einsichten. Zwar versuchte ich, ihnen bestimmte Themen nicht nur vorzuschlagen, sondern auch den esoterischen Sinn zu erklären. Alle drei Kollegen versuchten Interessantes zu bieten, aber bei allen dreien gab es leider 41 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="56"?> auch Probleme. Als Beispiel möchte ich einen jungen Kollegen anführen, dem ich auf Grund seiner eigenen Interessen als Thema Ernst Jüngers Buch Auf den Marmorklippen vorgeschlagen hatte. Von seinem Titel her hatte er nur die oberflächliche zweite Ebene des Buches erfaßt, die er richtig als verschlüsselten Geheimcode, als Cipher, bezeichnete. Aber in der Praxis gab es sogar hier einen Fehler, denn er hielt die wichtige Figur des „ Oberförsters “ im Buch für eine Cipher, nämlich für Hitler, während allgemein und zu Recht angenommen wird, daß sie für Göring steht. Nicht nur weil Göring auch offiziell den Titel eines Reichsforstmeisters trug, also eine Art Oberförster war, sondern weil er für den Reserveoffizier Ernst Jünger als „ Reichsmarschall “ der Oberstkommandierende war. Es gibt Stellen, wo vom Thema des Beitrags selbst durch lange, theoretische Ausführungen über die historische Entwicklung des Unterschieds zwischen den Begriffen Allegorie und Symbol abgewichen und abgelenkt wird. Beim wichtigen Schlangensymbol kommt er freilich gnostischer Deutung schon sehr nahe. Aber ganz am Schluß erinnerte sich der Autor, daß ich ihm die innere Beziehung zwischen esoterischem Symbol und der Psychologie C. G. Jungs ans Herz gelegt hatte. Im letzten Dutzend von Zeilen trifft er ins Zentrum des Wesentlichen, nur daß er mir nicht wirklich geglaubt hatte. „ Wenn “ Jünger „ Zugang zu gnostischen Ideen hatte “ und so weiter. Wir wissen, daß er sie hatte sowohl aus seinen Tagebüchern als auch aus späteren Werken, in denen sie noch stärker und überzeugender zu Tage treten. Den wichtigen Kern des Bandes stellten jene Beiträger dar, die ich selbst allein nach meinem Gutdünken einladen hatte können. Von zwei von ihnen kannte ich großartige Leistungen auf dem Gebiet dieses ersten Bandes, dem ich den Titel Perspectives in Literary Symbolism gegeben hatte. Robert John, der Wiener Romanist hatte ein Buch über Dante von Weltbedeutung geschrieben und das bahnbrechende Buch des französischen Forschers Paul Arnold über Shakespeare hatte ich in meinem Pariser Forschungsjahr kennen gelernt. In meinem Band schrieb er über Esoterik im Werk Baudelaires. Eine wichtige Absicht meines Yearbook war es auch, amerikanische und europäische Forscher nebeneinander zu stellen und zu gegenseitiger Befruchtung anzuregen. Zwei der wichtigsten Amerikaner waren Kenneth Burke und Philip Wheelwright, die beide allgemeine Arbeiten über den Symbolbegriff lieferten. Burke war zumal damals der weit bekanntere, Wheelwright der tiefgründigere und interessantere. Dazu kamen zwei amerikanische Damen, die hervorragende Beispiele über esoterische Symbole bei Goethe und Rilke untersuchten und einer der Kollegen aus meiner eigenen Abteilung, Eugene F. Timpe, welcher der beste der drei Kollegen war. Besonders interessant fand ich die Arbeit einer der beiden Damen, die in der Forschung ziemlich unbekannt war, die ich aber dadurch kennen gelernt hatte, daß sie vor meiner Zeit Altgermanistin in Penn State gewesen war. Zudem war sie 42 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="57"?> eine Exilantin aus Wien. Ihr Name war Helen Adolf und sie brachte Rilkes Werk mit dem alttestamentarischen Thema des Kampfes von Jakob mit dem Engel in Beziehung. Der Band war 1968 erschienen und Ernst Schönwiese nannte ihn das wichtigste Buch, das ich bis dahin produziert hatte. Er war eines der wenigen Bücher des Penn State Universitätsverlages, der eine zweite Auflage notwendig machte und er trug mir die Achtung einiger der wichtigsten Kollegen und den festen Glauben der Verlagsleitung an mich ein. Die Grundidee des Yearbook fand ich so wichtig, daß ich 1970 einen kleinen deutschen Band Vergleichende Literaturkritik folgen ließ, um auch im deutschen Sprachraum diese Idee zu verbreiten. Schon im Jahr 1968 begann ich am zweiten Band zu arbeiten und es gelang mir, drei weltberühmte Beiträger zu gewinnen: den Polen Roman Ingarden, den Kanadier Northrop Frye und den Schweizer Emil Staiger. Sowohl in Westeuropa als auch in den USA war auch Wladimir Weidlé bekannt, dessen Mitarbeit mich besonders freute. Northrop Frye hatte ich auf einer internationalen Tagung kennen gelernt. Die zwei wichtigsten Bücher Ingardens hatte ich ausführlich besprochen, was mir einen schönen Brief von ihm eintrug. An Staiger aber schrieb ich, ohne je mit ihm in Verbindung gewesen zu sein. Da er ein enger Vertrauter bis zu seinem Tod werden sollte, möchte ich einiges über die Verbindung mit ihm berichten. Ich kannte natürlich einige seiner wichtigsten Bücher, wie Die Kunst der Interpretation, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters und die Bände seines Goethebuches. Im Jahr 1966 war durch seine Dankesrede für den Literaturpreis der Stadt Zürich eine Kontroverse ausgebrochen. Keiner der Schreier gegen ihn konnte ihm das Wasser reichen. Aber sie waren so großsprecherisch, benützten vielfach nichtwissenschaftliche Medien und vermehrten sich so, daß sie ihn durch ihr Kesseltreiben in der öffentlichen Meinung vernichteten. Ja, durch das Benehmen eines jungen Kollegen in meinem eigenen Institut entdeckte ich eine sonderbare Ausweitung der Verfolgung von Staiger. Der Kollege war im Sommer in seiner deutschen Heimat gewesen und hatte mit einem hochberühmten Ordinarius gesprochen. Dieser hatte ihn ermutigt, am Kesseltreiben teilzunehmen, und der Kollege hatte in der Wochenzeitschrift Die Zeit einen ganzseitigen Hetzartikel veröffentlicht. Der Neid des deutschen Ordinarius hinderte diesen nicht, in einem Brief an Staiger solche Angriffe zu verurteilen. Das erzählte mir dieser, als ich ihn bald daraufhin kennen lernte. Mein Kollege war aber verblendet genug, mich bald darauf für die DDR- Germanistik gewinnen zu wollen, wohin er Verbindungen hatte. Das Geschrei gegen Staiger war eine Vorschau auf die internationale große Barbarei gewesen, die 1968 mit Unterstützung östlicher Geheimdienste ausbrechen sollte. Ich aber schrieb an Staiger, er möge nicht glauben, daß die ganze Welt plötzlich von Sinnen sei, sondern daß jeder anständige Mensch dieses Treiben abstoßend finden müsse. 43 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="58"?> Gerade jetzt, schrieb ich an ihn, einen Beitrag für den nächsten Band meines internationalen Jahrbuchs zu verfassen. Als der Aufsatz 1969 erschien, hatte ich ihn längst besucht, um ihm meine Ehrerbietung zu zeigen. Er lud mich in die Kronenhalle zum Mittagessen ein und als ich die geschmackvollen Kopien französischer Impressionisten an den Wänden bewunderte, sagte er lächelnd: „ Das sind keine Kopien. Das sind Originale. “ Während seines berühmt berüchtigten Vortrags von 1966 hatte er die Lacher auf seiner Seite gehabt, denn er war ein blendender Vortragender. Aber die Massenoffensive gegen ihn hatte das Blatt gewendet. Er hatte sehr genau gewußt, daß nicht er es war, der „ eine Grenze überschritten hatte “ , wie man ihm vorwarf, sondern daß die anderen es waren, die diese Grenze überschritten, um eine weitgehend heile Welt nieder zu reißen. Ich habe noch eines seiner letzten Bücher mit dem Titel Spätzeit rezensiert, dessen Titel doppelsinnig war. Er bezog sich sowohl auf Staigers fortgeschrittenes Alter wie auf die Spätzeit unserer Kulturtradition, die Barbarenstürmen ausgesetzt war. Er schrieb mir im Jahr 1974 darüber: „ Eine so ehrenvolle und dazu so differenzierte, sprachlich subtile Rezension, wie sie sie meiner ‚ Spätzeit ‘ zu teil werden lassen, erhält man wahrhaftig nicht alle Tage. “ Er war lange nicht so eng, wie ihm von manchen der Schreier vorgeworfen wurde. In Gegenteil, sie waren die engen, weil sie sich weigerten, geistige Größe anzuerkennen. Nach 1968 kam eine Zeit der Beschimpfungen über Goethe. Einen der Schreier erinnerte Staigers Dankesrede an die ideologischen Tiraden des Nationalsozialismus. Ein anderer fand, daß Staigers Wertung von Literatur wie jede Wertung in letzter Konsequenz zum Scheiterhaufen für Bücher führen müsse. Ein dritter verglich einen der größten Goethe-Kenner und Goethe- Bewunderer mit dem Stalinismus. In den Vorwürfen, die als „ wissenschaftlich “ bezeichnet wurden, wurde er bezichtigt, rücksichtslose Einseitigkeit werkimmanenter Interpretation zu treiben. Ich bin das beste praktische Beispiel, daß auch das nicht richtig ist. Als ich ihm 1971 meine umfangreiche Literatursoziologie Die gelenkten Musen schickte, beglückwünschte er mich dazu und das war kein reines Lippenbekenntnis, sondern wie immer bei ihm das, was er wirklich meinte. Denn kurze Zeit später schrieb er mir, daß die linksradikalen Studenten von Zürich, einen Professor für Literatursoziologie forderten. Im Hinblick auf die Kandidaten, die den Studenten vorschwebten, würde er versuchen, das zu verhindern. Sollten sie sich aber dennoch durchsetzen, dann würde er mich holen. „ Die werden sich wundern, was sie da kriegen. “ Freilich hatte ich mich mit meinem Buch zwischen zwei Stühle gesetzt. Vielen reaktionären Kollegen in meiner österreichischen Heimat erschien schon die Auseinandersetzung mit soziologischen Methoden, ja schon die Verwendung des Wortes „ soziologisch “ als eine wissenschaftliche Todsünde. Viele meiner „ fortschrittlichen “ Kollegen fanden mein Buch darum schlecht, weil es rein 44 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="59"?> wissenschaftliche Möglichkeiten der Grenzen soziologischer Methoden diskutierte, aber nicht die Wissenschaft politisierte und damit nicht auf eine Forderung nach Sozialismus oder gar Kommunismus hinauslief. Aber den Schreiern gegen Staiger ging es ja gar nicht um die Wahrheit. Eine mit Recht große Berühmtheit wurde zum Abschuß freigegeben. Die Aggressionslüsternen bliesen ihr Halali. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag hat Staiger ein Gedicht auf mich geschrieben, das sein wahres Wesen sehr klar und deutlich wiedergibt: Wie auch die Winde wehen, Das Wahre wird bestehen. Bleibst du nur selbst im Rechten, So kann dich nichts anfechten. Das Gute wird dir glücken, Das Schöne dich entzücken. Da soll kein Ende kommen, Zu unser aller Frommen, Daß jedermann sich wundert Im nächsten Halbjahrhundert. Jetzt, da ich dieses Buch schreibe, ist die ganze Zeit des „ zweiten Halbjahrhunderts “ längst verstrichen. Gewiß wundert sich aber niemand, weil sich das Wahre, Gute und Schöne durchgesetzt haben, sondern weil ich noch immer ohne eine Handbreit nachzugeben, diese großen Werte unserer alten, abendländischen Kulturtradition bewußt repräsentiere, und aktiv für sie eintrete. Es gibt Kulturmanager, die in einen heftigen Wettbewerb von Schildbürgerstreichen verwickelt zu sein scheinen. In Österreich gilt als der größte Literaturwissenschafter aller Zeiten ein echter Schwachkopf, Wendelin Schmidt- Dengler, der aber wenigstens eine wirklich positive Seite aufzuweisen hat: seine gediegene Ausbildung in klassischer Philologie, wodurch er die in Österreich produzierte, deutschsprachige Auswahl aus dem Werk des großen Erasmus vor etlichen Dummheiten bewahrt hat. Am derzeitigen Österreichischen PEN- Präsidenten vermag ich auf den ersten Blick überhaupt keinen positiven Zug zu entdecken. Ich selbst war Zeitzeuge, wie die „ 68er “ sogar meine friedliche, in der Natureinsamkeit versteckte Universität in Pennsylvanien ereilten und zu ruinieren versuchten. Ich saß in meinem Büro und blickte hinaus auf den herrlichen blühenden Busch vor dem Fenster, den gepflegten Rasen und die schöne Ulmenallee, die vom Eingang des Campus zum Gebäude der Universitätsbibliothek hinauf führte. Da erblickte ich plötzlich erstaunt ein völlig ungewohntes Bild. Ein riesiger Zug von jungen Leuten - Studenten? - zog mit Demonstrations-Schriftbändern und Tafeln an mir vorbei. Bald sollte ich erfahren, wer das war. Da sich mit unseren Studenten keine „ Revolution “ 45 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="60"?> machen ließ, hatte man mit Bussen viele hundert echte „ Revolutionäre “ aus New York City und Philadelphia in unsere Waldeinsamkeit transportiert. Da aber das Ungeistige hier im Irdischen die notwendige andere Komplementärhälfte des Geistigen ist, wie auch Gut und Böse zusammen gehören, so möchte ich diese Begegnung mit dem Ungeistigen beschreiben. Die Prozession mit ihren Transparenten gegen den Vietnamkrieg und das, was die Schwachköpfe für „ Gerechtigkeit “ an den Universitäten hielten, zog im ganzen Campus herum und endete im bürokratischen Zentrum der Universität, dem Verwaltungsgebäude. Hier drangen die „ Revolutionäre “ in das Gebäude ein, zwangen die Beamten mit Gewalt, es zu verlassen und hielten das Gebäude „ besetzt “ . Sie waren vorbereitet, das Gebäude mit Stöcken, Schlagringen und Fäusten zu verteidigen. Die drei oder vier lokalen Polizisten hatten keine Chance, zumal der Präsident kein Aufsehen und schon gar keine Gewalt wollte. Der Präsident, die Verwaltungsbeamten und die Fakultätsangehörigen waren in einer Art Schockzustand und hilflos. So geschah zunächst gar nichts. Mir war klar, daß etwas getan werden müßte. Als ich über den Campus ging, traf ich einen etwas jüngeren Philosophieprofessor, der Reserveoffizier war, und begann vor ihm zu schäumen. Er genoß meinen Zorn, wir trafen zwei andere Kollegen, die genauso dachten, und wir vier gründeten unter Leitung des Philosophen eine Fakultäts-Verteidigungsorganisation. Unter den rund zwölfhundert Mitgliedern der Fakultät schlossen sich insgesamt neunzig Kollegen in dieser Organisation zusammen. Es stellte sich heraus, daß sie aus zwei Gruppen bestanden: Reserveoffizieren und Kollegen, die ihre eigenen Erfahrungen im kommunistischen Ostblock gemacht hatten. Ich hatte aus der Besetzung unseres Wiener Neustädter Postamts gelernt. Schneller als wir erwartet hatten, fanden wir ein weites Feld zur Betätigung. Die „ Revolutionäre “ begnügten sich nämlich keineswegs mit der Besetzung des Verwaltungsgebäudes, sondern hatten sich vieles ausgedacht, um die Arbeit der Universität ganz still zu legen. Es gab kleine Einzelangriffe. Zum Beispiel, tauchte beim Vorstand des Instituts für Soziologie eine Delegation der Revolutionäre auf und forderte sofort eine radikale Änderung der Studienordnung. Ab sofort sollte es weder kleine Einzelprüfungen, noch Dissertationen oder große Schlußprüfungen geben, sondern es sollte genügen, die notwendige Zahl von Semestern abzusitzen, um das Doktorat zu erhalten. Als der Dekan unseres Colleges eine Sitzung mit zahlreichen Fakultätsvertretern hielt, drangen zwei Dutzend der „ Revolutionäre “ ein, forderten und erhielten Stimmrecht und stellten seltsame Anträge. Nachts begannen sie Molotowcocktails von außen in die leeren Gebäude zu werfen. Kleine Zweiergruppen von uns kontrollierten die Gebäude und konnten immer, bevor ein großer Brand entstand, diese Molotowcocktails wieder hinaus werfen. 46 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="61"?> Nach drei Tagen war dem Präsidenten klar, daß er etwas unternehmen mußte. Er rief die nächste weit weg gelegene Kaserne der State Police an, was man am besten mit Landesgendarmerie übersetzen könnte, die sowohl körperlich als auch geistig besser trainiert war als die lokale Polizei. Der Präsident erklärte unsere fatale Situation und bat um Hilfe. Bald darauf waren zwei große Mannschaftsautos da. Der Präsident wünschte, daß sie weder Waffen noch Gummiknüppel verwenden durften. Nach zehn Minuten mußte ein Dutzend Polizisten ins Krankenhaus gebracht werden und der Rest fuhr wieder zurück. Nach weiteren drei Tagen, rief er Präsident wieder an. Der Kommandeur erklärte ihm: „ Wir kommen schon wieder, aber ohne Bedingungen. “ Dieses Mal landeten zehn der Revolutionäre im Krankenhaus und das Verwaltungsgebäude war wieder unser. Das entmutigte jedoch die bestens organisierten Demonstranten in keiner Weise. Sie erwiesen sich als genaue Kenner der Verordnungen Pennsylvaniens. Wenn in einem Gebäude ein Bombenalarm stattfand, mußte das Gebäude von allen Menschen geräumt werden, bis eine Expertenkommission durchgegangen war und das Gebäude für bombenfrei erklärt hatte. Es dauerte etliche Stunden, ehe die Kommission eintraf. Am Morgen gab es ein Dutzend Anrufe und der Betrieb war in einem Dutzend der Vorlesungsgebäude lahm gelegt. Unsere Organisation schaltete daraufhin eine Nachricht in der Lokalzeitung, daß ab sofort, bei jedem Bombenalarm sechs von uns in das bedrohte Gebäude gehen und bleiben würden. Im Fall, einer wirklichen Bombenexplosion würde sie eine Untersuchung wegen Mordes auslösen. Das half aber nur wenig. Wesentlich mehr half es, daß wir die öffentlichen Telefonzellen beobachteten und dadurch zwei der Anrufer durch die lokale Polizei festnehmen lassen konnten. Die Demonstranten gaben auch alle paar Tage eine eigene kleine „ Zeitung “ heraus, in der sie hauptsächlich die gängigen politischen Schlagworte veröffentlichten, aber versteckt auch „ praktische Ratschläge “ gaben, etwa wie man ein Gebäude erfolgreich anzünden könnte. Langsam wurde es aber allen klar, sogar den Geschäftsleuten im Ort, daß man gegen die „ Revolutionäre “ eine Abwehr organisieren mußte. Dementsprechend nahmen ihre Mißerfolge zu und sie begannen die Freude an ihrer „ Arbeit “ zu verlieren. Eines Tages kamen ihre Busse und sie verließen unseren friedlichen Ort. Trotzdem war gerade das Jahr 1968 für mich auch eines der positivsten Jahre von allen, da mir eine Tochter geboren wurde und ich das Geheimnis des Wunders des Lebens, das mir bisher völlig verschlossen gewesen war, am eigenen Leib erfuhr und ich in tiefer Ehrfurcht davor lernte. Da sich meine Frau außer dem Stillen nur sehr wenig um das Baby kümmerte und ich oft lange Stunden nicht zu Hause sein konnte, schrieb ich meiner Mutter nach Österreich und bat sie zu kommen. Sie war siebzig Jahre alt, sprach kein Wort Englisch, aber in 47 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="62"?> vierzehn Tagen war sie da und ich konnte sie vom Flughafen in New York abholen. Für das Jahr 1969 möchte ich als eine der allerwichtigsten Begegnungen jene mit Roman Ingarden und seinem Werk sowie mit den wenigen Kollegen anführen, die ihm wie mir verbunden waren. Einer der besten Kenner seines Werks war Professor Hans Rudnik, der ihn ebenso wie ich für den wichtigsten theoretischen Theoretiker der Literaturwissenschafter unserer Zeit hielt. Ich besprach nicht nur zwei seiner grundlegenden Bücher, sondern ich rief auch Viktor Lange an, der gerade dabei war, einen großen Weltkongreß der Germanistik in Princeton vorzubereiten. Ich überzeugte ihn, daß Ingarden unbedingt eingeladen werden müßte, der ebenso, in dem von den Deutschen besetzten Polen wie im darauf folgenden kommunistischen Regime Polens ein isoliertes Schattendasein fristen mußte, um ihn der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Lange lud ihn ein, rief mich aber nach drei Wochen an, um mir mitzuteilen, daß Ingarden aus Krankheitsgründen abgesagt hatte. Als er wenige Monate später starb, war mir klar, daß er wirklich sehr krank gewesen sein mußte. Rudnik hat seine Leistung besonders knapp und klar ausgedrückt: das „ Zurück-zu-den-Sachen “ der Husserlschen Phänomenologie und das Bemühen, dem Wesen der Dinge auf den Grund zu kommen. Es waren die beiden Grundsätze, welche die Phänomenologie dazu bewogen, die Seinsbeschaffenheit der Literatur exemplarisch für das Wesen aller Dinge in ihrer ontologischen Existenz zu ergründen. Es besteht kein Zweifel, daß Ingarden diese Aufgabe bis zur letzten Konsequenz durchgeführt hat. Rudnik ging aber noch weiter. Ingarden hatte seiner Meinung nach die Krise der Literaturwissenschaft aufgedeckt, die durch aufgerissene Widersprüche ihrer eigenen Vertreter bereits in ihrer Existenz bedroht war. „ Nur wenige Exponenten wie René Wellek, Eugene Falk und auch Strelka “ , schrieb er, „ haben kontinuierlich ihre Kollegen vor dem Ausverkauf der Literatur gewarnt. Was sie verbindet, ist eine Hochschätzung Ingardens Arbeit auf dem Gebiet der Vergleichenden Literaturwissenschaft und eine ursprünglich europäische Ausbildung, der es gelungen ist, den Wert der Literatur innerhalb des kulturellen Kontexts unauslöschlich zu vermitteln. “ Wenn Ingarden der größte theoretische Theoretiker der Literaturwissenschaft war, dann war René Wellek der größte praktische Literaturwissenschafter des Jahrhunderts. Besonders in seinem Buch Four Critics hatte er seine eigene theoretische Grundlage am Kapitel von Ingarden umfassend und klar dargelegt. Eugene Falk hat in seinem Buch über Ingarden dessen gesamte Theorie übersichtlich und verständlich auseinander gesetzt. Ich aber habe einen alten Wunschtraum Ingardens verwirklicht, indem ich in meinem Buch Einführung in die literarische Textanalyse vorgeführt habe, wie Ingardens Theorie direkt in die Praxis umgesetzt werden konnte. 48 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="63"?> Als Wellek mir sein Buch Four Critics mit der Widmung „ Für Peter Strelka, herzlich, René “ zugeschickt hatte und ich das letzte der vier Kapitel über Ingarden als Höhepunkt des Ganzen las, war mir klar, daß das einem nichtexistenten literaturwissenschaftlichen Nobelpreis für Ingarden gleich kam. Nicht zuletzt habe ich auch einen der schwierigsten Begriffe von Ingardens Theorie in einem speziellen Aufsatz dargelegt. Als in der Zeitschrift Analecta Husserliana eine Sondernummer für Ingarden erscheinen sollte, wurde ich eingeladen, einen Beitrag zu liefern, und ich schrieb über die „ Unbestimmtheitsstellen “ in Ingardens Theorie. Die wichtigste Begegnung des Jahres 1970 war die mit Eugene Falk, der an einer der Spitzenabteilungen für Komparatistik in Amerika lehrte, der Abteilung an der University of North Carolina in Chapel Hill. Er sollte in raschester Zeit ein enger Freund werden. Er stammte aus der Slowakei, hatte in Prag und Paris studiert und war 1939 vom Kontinent nach England emigriert, wo er in Manchester sein Doktorat machte. Bald darauf ging er in die USA. Er konnte viele Sprachen und war der einzige Nicht-Franzose, den ich kannte, der ein Angebot erhalten hatte, Ordinarius für Französisch an einer französischen Universität zu werden. Er fuhr sogar hin, um sich alles anzusehen, was nur seine Haltung verstärkte, lieber in Chapel Hill zu bleiben. Für sein Buch über Ingarden hatte er einen Orden von der polnischen Regierung erhalten und er besaß auch den hohen französischen Wissenschaftsorden der akademischen Palmen. Trotz seiner Gelehrsamkeit war er so sehr Mensch geblieben, daß wir auch durch Anderes verbunden waren. So hatte ich in meinem italienischen Schnapsgeschäft einmal einige Flaschen Borovi č ka entdeckt, einen ganz besonders guten Wacholderschnaps, der nur in zwei Bezirken Mährens und in zwei Bezirken der Slowakei produziert wurde. Ich kaufte drei Flaschen, eine für mich und zwei für Eugene. Als ich sie ihm nach der Begrüßung übergab, las er ungläubig die Aufschrift auf den Flaschen und fragte: „ Ist da wirklich drinnen, was drauf steht? “ Dann entkorkte er sofort die eine Flasche zu einem Begrüßungstrunk. Ich wußte, wie er bei aller Weltläufigkeit am kleinen, slowakischen Heimatdorf seiner Kindheit hing. Ein anderes Mal wollte er, daß wir gemeinsam ein neues ungarisches Restaurant im Ort ausprobieren sollten. Wir fuhren hin und schon als wir bestellten, konnten wir sehen, daß ein Mann, der an einem Eckpfeiler lehnte, unverwandt auf Eugene blickte. Als der Kellner gegangen war, kam er an unseren Tisch, entschuldigte sich, daß er uns störte, und sagte zu Eugene: „ Darf ich Sie fragen, ob Sie einen Max Falk kennen? Sie sehen ihm nämlich unglaublich ähnlich. “ Als Eugene sagte: „ Das war ein Onkel von mir “ , stellte sich heraus, daß der ungarische Restaurantbesitzer, denn das war der Mann, ein Bewunderer dieses Max Falk gewesen war, der Chefredakteur des Pester Lloyd war, der großen, 49 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="64"?> deutschsprachigen ungarischen Zeitung für Osteuropa. Uns brachte das ein großartiges Gratis-Abendessen ein, denn er wollte kein Geld von uns nehmen. Unvergeßlich ist mir der Abend, an dem Eugene mich zu einer Kinovorstellung einlud. Es wurde der gerade neu erschienene Film „ Fiddler on the Roof “ gegeben. Der Titel stammte von einem Bild des herrlichen Marc Chagall, das einen Geiger zeigt, der auf einem Hausdach hingerissen spielt. Chagall hatte aus den Tiefen seiner slawisch gefärbten jüdischen Seele solch surreale Bilder geschaffen, welche die geistige Wirklichkeit hinter der oberflächlichen Scheinwirklichkeit der „ empirischen Realität “ enthüllten. Im Film spielte der Fiddler on the Roof die Rolle, die in der griechischen Tragödie dem Chor als kommentierender Erklärer zukam. Die narrative Grundlage des Films war einer der reizenden, jiddischen Erzählungen Scholem Alejchems entnommen, welche die Geschichte des armen jüdischen Milchmanns Tevye in seinem Schtetl erzählt, den der Autor wohl aus eigener Erfahrung kannte und den er zuletzt mit seiner Familie dem Unglück entfliehen läßt, indem er - wie Scholem Alejchem selbst - in die USA auswanderte. Tevye ist so blutarm, daß er sich nach dem Tod seines Pferdes kein neues kaufen kann und den schweren Milchkarren selbst schieben muß. Aber von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag verliert er nicht seine Gelassenheit infolge seines Gottvertrauens. Nach jedem Schicksalsschlag reagiert er so, daß er die linke Hand hebt und den Schlag mit den Worten akzeptiert: „ On one hand “ . Worauf er die rechte Hand hebt und mit den Worten: „ On the other hand “ das versteckte Positive im Schlag beschwört. Tevye hat fünf heranwachsende Töchter von seiner Frau Golde. Die ersten beiden sind bereits verheiratet und jetzt will die drittälteste, Chava, einen Nichtjuden heiraten, um zu Geld zu kommen, und sie will darum den jüdischen Glauben verlassen. Gewohnheitsmäßig hebt Tevye die linke Hand und sagt: „ On one hand. “ Aber zum ersten Mal kann er die zweite Hand nicht heben und sagt: „ There is no other hand. “ Das Leben wird immer ärger, ein Pogrom bricht über das Schtetl herein und zuletzt kommt noch ein Ukas des Zaren, daß alle Juden mit Ausnahme des nichtjüdischen russischen Polizisten, die gesamte Bevölkerung also, das Schtetl zu verlassen haben. Tevye mit seiner Frau und den zwei noch unverheirateten Töchtern zieht nach Amerika, gefolgt von dem kommentierenden Fiddler. Wir liebten den Film so sehr, daß ich beim anschließenden Abendessen bei jeder sich bietenden Möglichkeit die Gesten Tevyes nachahmte und sagte: „ On one hand “ und „ On the other hand “ . Ich besann mich des Reichtums an jüdischen Witzen, die ich kannte und begann zu erzählen bis Eugene dies mit einer Handbewegung und der Forderung abbrach: „ Das mußt Du in einem Buch zusammenfassen. “ 50 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="65"?> Durch Jahre hatte Eugene mit sich gekämpft, ob er sein so geliebtes Dorf der Kindheit in der Slowakei noch einmal besuchen sollte, was er so gerne getan hätte. Er war ein so konsequenter Antikommunist, daß sich alles in ihm dagegen sträubte, das kommunistische Land zu betreten. Als er einen internationalen Komparatisten-Kongreß in Budapest besuchte, wo der führende ungarische Komparatist heimlich ein solcher Antikommunist war wie Eugene, der Eugene auch kannte und liebte, da ermutigte er diesen, doch zu fahren. „ Fahr doch “ , sagte er. „ Du bist ja auch nach Ungarn gekommen. “ „ Ja, aber zu Dir und außerdem ist Ungarn nicht meine Heimat. “ „ Und glaubst Du, alle Slowaken sind plötzlich Kommunisten geworden? In wenigen Stunden bist Du mit dem Schnellzug von Budapest in Bratislava. Wenn alles schief läuft, bist Du gleich wieder zurück! “ Eugene fuhr und als er nach fünf Tagen zurückkam, war er glücklich. Es hatte schon an der Grenze begonnen. Der slowakische (kommunistische) Grenzpolizist war gekommen, hatte Eugenes amerikanischen Paß genau geprüft und war beim Geburtsort darauf gestoßen, daß der Fahrgast ein Slowake war. „ Sie sind ja einer von uns “ , sagte er. „ Wann sind sie denn das letzte Mal in der Slowakei gewesen? “ „ Neunzehnhundertneununddreißig. “ Beide wußten, daß ein faschistisches Zwischenspiel und ein Zweiter Weltkrieg dazwischen lagen. Der Polizist gab den Paß zurück, salutierte und verschwand. Aber nach zehn Minuten kam er zurück mit dem Zugschaffner, einer Flasche Wodka und drei Bechern. Jetzt feiern wir, daß Sie wieder ihre Heimat besuchen. “ So war es fünf Tage weiter gegangen. Als ich einmal einen slowakischen Kollegen aus Bratislava auf einem Kongreß gefragt hatte: „ Wie geht es in der Slowakei? “ , hatte die Antwort gelautet: „ Was soll ich Ihnen sagen? So großer roter Stern, so kleines Stückl Butter. “ In das Jahr 1970 fällt auch eine der allerwichtigsten persönlichen Begegnungen, nach Oskar Benda und nach Ernst Schönwiese mit meinem dritten geistigen Vater, Professor Garma C. C. Chang oder wie er ursprünglich mit seinem chinesischen Namen hieß Chang Chen Chi. Als Dreijähriger hatte ich mich einmal an einem Sonntagmorgen wie ein indischer Fakir mit gekreuzten Beinen hingesetzt, was mir von meinem Vater untersagte wurde, weil er Angst hatte, ich könnte meine Knochen verrenken. Mit fünfzehn hatte ich etwas von Theosophie gehört. Theologie konnte es nicht sein und Philosophie auch nicht. Vielleicht war es Theosophie? Es mußte eine transrationale Bewußtseinserweiterung geben, die eine letzte mögliche Vertiefung des Geistigen darstellte. Schönwiese hatte wichtige Vorarbeit geleistet, denn er war nicht nur mein Mentor in moderner Weltliteratur, sondern hat mir auch die ersten Einblicke in Esoterik und nicht zuletzt in den ZEN-Buddhismus eröffnet. Er ist wahrscheinlich der erste, der in der österreichischen Literatur ein ZEN-Gedicht geschrieben hat. Zuerst hat er mich mit Herriegels ZEN der Kunst des Bogenschießens beschenkt und bald darauf das Bi-Yän-Lu, die größte erhaltene Koan-Sammlung. Ich hatte mir eine gar nicht so üble esoterische 51 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="66"?> Bibliothek zugelegt. Ich wußte, daß das wirkliche Ziel über die denkerische Bewältigung hinausgehen mußte. Als mein Freund Karl Hartl Botschafter in Ankara wurde, war ich drei Monate sein Gast, um der islamischen Mystik auf den Grund zu gehen. Es endete in einer Enttäuschung, weil die türkischen Derwische die Sache selbst nicht mehr beherrschten. In Pennsylvanien war ich sofort einem „ Mystic Book Club “ beigetreten und von einem Instinkt richtig geleitet, hatte ich Changs riesige Leistung, die zweibändige Übersetzung der Hundred Thousand Songs of Milarepa gekauft, mit der mir zunächst nur klar wurde, daß hier die letzte Antwort lag. Nun hatte ich erfahren, daß auch ein Professor Chang von unserem sehr guten Institut für Vergleichende Religionswissenschaft nach Penn State berufen worden war. Rasch fand ich heraus, daß er der für mich „ berühmte Chang “ war, von dem ich zwei Bücher besaß, die er verfaßt und zwei weitere Bücher, die er aus dem Tibetischen übersetzt und herausgegeben hatte. Am faszinierendsten aber war für mich, daß er auch in der vierbändigen berühmten Reihe, die Professor W. Y. Ebans-Wentz herausgegeben hatte, den Band Tibetan Yoga geschrieben hatte, in dem es nicht um isoliertes, denkerisches Verstehen ging, sondern um die wirkliche Praxis, die den ganzen Menschen erfaßte. Als mir klar war, daß „ der “ Chang in Penn State war, klopfte ich am nächsten Vormittag an seine Bürotür. Ich fragte ihn, ob er bereit wäre, mich als Schüler auf dem Gebiet der Praxis des tibetischen Buddhismus anzunehmen. Ich traute meinen Ohren nicht, als er sagte, er verstünde nicht, was ich meine. Aber mir blieb nichts übrig, als ihn wieder zu verlassen. Einige Monate später beschloß ich, den nächsten Band meines Jahrbuchs dem Thema zu widmen, durch welche große Dichtungen der Weltliteratur nur verstanden werden könnten, wenn man den mystischen Hintergrund kannte. Da der größte tibetische Dichter zugleich der größte tibetische Mystiker gewesen ist, war dies ein wichtiges Thema für meinen Band. Also klopfte ich wieder an die Tür von Professor Chang und bat ihn, diesen Beitrag für meinen Band zu schreiben. Ich setzte ihm auseinander, worum es mir ging. Er sagte mir: „ Wie Sie sehen, bin ich Chinese. Könnte ich den Aufsatz chinesisch oder tibetisch schreiben, würde ich es sofort tun. Aber englisch zu schreiben, ist sehr mühsam für mich. Sie scheinen ja allerlei zu wissen. Ich schlage vor, Sie schreiben den Aufsatz selbst und kommen mit dem Manuskript zu mir. Wir gehen ihn Satz für Satz durch. Finde ich einen groben Fehler darin, werde ich ihn ausbessern. Entdecke ich eine wichtige Lücke, werde ich sie ausfüllen. Ich bedankte mich sehr und hatte schon die Tür zum Weggehen in der Hand, als er plötzlich fragte: „ Übrigens: Sind Sie noch an der Praxis des tibetischen Yoga interessiert? “ Und ob ich interessiert war! „ Dann kommen Sie heute abends zu mir in mein Haus “ und er nannte die Adresse. Als ich weg ging, sah ich noch eine späte Rose vor meinem Haus. Instinktiv pflückte ich sie und gab sie ihm zur Begrüßung. Als ich sie übereichte, sagte er 52 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="67"?> lächelnd: „ Es ist üblich, daß der Schüler dem Lehrer zum Einstand ein Geschenk gibt. “ Er suchte eine Vase und führte mich in das „ Lehrzimmer “ . Später sollte ich nebenbei erfahren, daß die Tibeter auf Vorzeichen und unbewußte Handlungen überhaupt großen Wert legen. Mein erster Besuch bei Chang stand unter einem guten Vorzeichen. Die erste Lektion war nur über richtiges Sitzen und richtiges Atmen. Im Laufe der Zeit wurde aus dem bewunderten Lehrer ein enger Freund und ich erfuhr auch seine Lebensgeschichte. Er war im alten China als Sohn des mächtigen Gouverneurs einer Provinz in Reichtum geboren worden. Er hatte eine sorgfältige Erziehung genossen und auch Englisch gelernt. Während seine Eltern zwar nicht antireligiös, aber völlig areligiös waren, spürte er einen starken religiösen Drang in sich. Als er fünfzehn Jahre alt war, lief er von zu Hause davon und trat heimlich in ein buddhistisches Kloster in Nanking ein. Was er aber dort lernte, langweilte und enttäuschte ihn. Als er sich nach zwei Jahren einem alten Mönch anvertraute und es zu einem Gespräch kam, da klärte ihn dieser auf: „ Was du suchst, das kannst du heute in China nicht finden. Da müßtest du nach Tibet gehen. “ In wenigen Tagen hatte er die notwendigen Vorbereitungen getroffen und lief zum zweiten Mal weg, um nach Tibet zu wandern. Aber auch in Tibet war es erst das dritte Kloster, welches das richtige war, und dieses Mal war es besonders richtig. Es war die Kong-Ka Lamasery in Meinya und er wurde Schüler von Kong-Ka, der den Titel eines „ lebenden Buddha “ trug, da er als persönliche Inkarnation des Buddha selbst galt. Als Grundlage seiner geistigen Entwicklung war die Kenntnis der beiden Sprachen Tibetisch und Sanskrit wichtig gewesen. Ich habe später seine englischen Vorlesungen in Penn State besucht. Er sprach frei ein sehr gutes Englisch mit amerikanischem Akzent, denn er hatte vorher bereits Vorlesungen an der New Yorker Social New School for Social Research und an der University of Nebraska gehalten. Im alten Tibet war alles von mittelalterlich religiöser Einheitlichkeit. Was überall durch höhere Schulen und Universitäten vermittelt wurde, war hier Aufgabe der drei riesigen Klöster in Lhasa, wo auch alle säkularen Fächer immer verbunden mit der Religion gelehrt wurden. Man versuchte freilich, in den Fächern, die wichtig waren, modernes westliches Wissen zu erreichen. Chang wurde wegen seiner Englischkenntnisse nach Amerika geschickt, um modernes Wissen über Viehzucht zu lernen. Er war gerade drei Wochen in New York City gewesen, als die Rotchinesen in Tibet einmarschierten und es okkupierten. Damit blieb nicht nur seine Bezahlung aus, sondern es gab keine Rückkehr. Manche der Mönche seines Klosters wurden getötet, manche konnten fliehen. Er arbeitete drei Jahre als Taxifahrer bis er genug Geld gespart hatte, um den Flug nach Darjeeling in Indien nahe der tibetischen Grenze zu bezahlen, und auch genug, um drei Monate zu überleben. Er traf einige seiner Mitbrüder und lernte, daß jeder auf 53 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="68"?> sich selbst gestellt war. Also arbeitete er drei weitere Jahre als Englischlehrer an der taiwanesischen Militärakademie, wo ihm so viel Zeit blieb, um seine Bücher zu produzieren. Dadurch konnte er zurück in die USA, aber nicht mehr als Taxifahrer. Nach zweieinhalb Jahren Meditation nach seiner Anweisung mieteten er und ich je für eine Woche ein Zimmer im Chapel House der kleinen privaten Colgate University, wo sich in völliger Stille der letzte entscheidende Schritt vollzog. Ich hatte den ersten und untersten Erleuchtungsgrad - die Tibeter unterscheiden zehn Grade - erreicht. Der wesentliche Schritt war getan, von jetzt an konnte ich selbst versuchen, weiter zu kommen. Im Chapel House der Colgate University hatte ich beobachtet, wie ein lieber, brauner Hund, halb Biegel und halb Spaniel, an der Rückseite des Hauses, wo sich die Küche befand, auf Abfälle lauerte. Am nächsten Tag hatte ich schon etwas für ihn vorbereitet und er kam täglich um die gleiche Zeit. Von den Studenten erfuhr ich, daß es ein streunender, herrenloser Hund war, der „ Campushund “ . Ich adoptierte ihn, kaufte Halsband, Leine und Futternäpfe und taufte ihn Arro, was tibetisch ist und „ Freund “ bedeutet. Für mich war er einerseits ein Andenken an den „ großen Augenblick “ und zugleich ein Geschenk für meine damals etwa dreijährige Tochter. Obwohl ich Chang nicht mehr regelmäßig sah wie zuvor, blieben wir in Kontakt. Wenn er kam, brachte er meiner Tochter ausgestopfte Tiere, die sie liebte. Einmal berichtete er, er hätte gerade das Manuskript seines bisher wichtigsten Buches fertig und fragte, ob ich ihm helfen könnte, es heraus zu bringen. Ich fragte, ob ihm unser sehr guter Universitätsverlag gut genug sei, und als er „ selbstverständlich “ sagte, hatte ich ein Gespräch mit dem Direktor und dem Cheflektor, die mit meinen zwei Buchreihen hoch zufrieden waren, und erklärte ihnen, ich hätte etwas Besonderes für sie und wer Chang war. Sie vertrauten mir und haben es nicht bereut. Sein Buch The Buddhist Teaching of Totality verkaufte sich so gut, daß sie, was sehr selten war, auch eine Paperbackausgabe machten, von der sogar eine zweite Auflage notwendig wurde. Als mein Freund Schönwiese wenige Jahre später in Pension ging, gewann ich Chang auch, ihn als Schüler anzunehmen. Und er hatte es nicht bereut. Der späte Schönwiese wandte sich völlig Übersetzungen esoterischer Werke zu. Zuerst brachte er deutsch eine Mahamudrafibel heraus, die er aus von ihm ausgewählten Texten Changs zusammengestellt hatte, dann folgte die Übersetzung von Changs Buch The Practice of ZEN. Da ihm Chang einmal erzählt hatte, daß das beste der sehr verschiedenwertigen Bücher von Daisetz Teitaro Suzuki die erweiterte Buchfassung der Rede sei, die er am Ende des Zweiten Weltkriegs vor dem japanischen Kaiserhaus gehalten hatte, übersetzte er auch dieses Buch. Zuletzt folgte gleichsam als Höhepunkt die Übersetzung von Changs Buch The Buddhist Teaching of Totality. Nachdem ich nach New York gegangen war, sah ich Chang so 54 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="69"?> selten, daß er annahm, ich hätte mein Interesse am esoterischen Buddhismus verloren. Im Jahr 1981 war ich auf ein Buch gestoßen, daß mich darum interessierte, weil es Literatur, und dazu noch Goethe, mit dem Buddhismus verband. Der Autor hieß Bruno Petzold und war ein Deutscher, der in jungen Jahren nach Japan ausgewandert war. Er war nicht nur Buddhist geworden, sondern hatte es zu einem hohen Würdenträger, vergleichbar einem Bischof, im Kegon Buddhismus gebracht. Der Kegon Buddhismus aber war die japanische Form des chinesischen Hwa Yen Buddhismus und der Untertitel von Changs Buch über die buddhistische Totalität lautete „ The Philosophy of Hwa Yen Buddhismus. “ Petzolds Buch Goethe und der Mahayana-Buddhismus, zu dem Kegon auch gehörte, war 1939 unter Ausschluß der Öffentlichkeit in Tokyo erschienen. Die Japaner lasen nicht deutsch, und da knapp danach der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, der solch extravagante Interessen nicht zuließ, wurde das Buch niemals wirklich in Deutschland ausgeliefert. Ich gab es 1982 mit einer ausführlichen Einleitung von mir in einem kleinen Wiener buddhistischen Verlag heraus. Ich hatte das Glück, daß eine ausführliche, kenntnisreiche Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen erschien. In der darauf folgenden Woche allein verkaufte der kleine Verlag vierhundert Exemplare. Ich schickte ein Exemplar an Chang und erhielt einen beglückten Brief meines Meisters. Zusätzlich zu meinem Interesse am Thema des Buches kam noch ganz besonders die Gewißheit, daß ich meiner religiösen Überzeugung treu geblieben war. Übrigens habe ich Schönwieses deutsche Übersetzung von Changs Totalitätsbuch in der ehemals deutschen New Yorker Exilzeitschrift Aufbau ausführlich rezensiert. Als ich zwei Jahrzehnte zuvor drei Monate auf der Suche nach islamischer Mystik in der Türkei verbracht hatte und als ich als meine erste Sprache Deutsch erklärt hatte, war buchstäblich in jedem Ort, an den ich kam, die erste Frage, die mir gestellt wurde: „ Kennen Sie Frau Dr. Schimmel? “ Damit begann sie mir auf die Nerven zu gehen. Aber sie sollte sich schließlich als eine der nicht nur berühmtesten, sondern auch schönsten Begegnungen für mich erweisen. Als ich die Mitarbeiterliste für den vierten Band meines Jahrbuchs zusammenstellte, der dem Thema Dichtung und Mystik gewidmet war und den Titel Anagogic Qualities of Literature, wurde mir klar, daß Frau Dr. Schimmel die weltbeste Expertin auf dem Gebiete von „ Islamischer Mystik und Literatur “ war. Ich war doppelt glücklich, als sie meiner Einladung folgte und ich überdies herausfand, daß sie in Harvard war. Sie schrieb einen ausgezeichneten Beitrag „ The Influence of Sufism on Indo-Muslim Poetry “ und er wurde der Beginn einer engen Freundschaft. Sie hat mich wiederholt besucht. Wir sprachen nicht nur über Sufismus, sondern auch über Friedrich Rückert, den sie sehr liebte und der ja auch „ orientalische Dichtungen “ geschrieben hatte. Eines ihrer Rückert-Bücher, jenes 55 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="70"?> von 1987, habe ich auch rezensiert. Ihr vielleicht wichtigstes Buch von den rund hundert, die sie produziert hatte, war Mystical Dimensions of Islam. Es war 1975 im Verlag der University of North Carolina Press erschienen, wo Eugene Falk der Vorsitzende des Fakultätskomitees für den Verlag war. Die beiden letzten Male sah ich sie in Harvard. Das erste Mal war dies so geschehen, daß meine Tochter, die in Harvard studierte, mir am Telefon erzählte, sie hätte in diesem Semester einen Kurs „ Einführung in den Sufismus “ von einer Frau Professor Schimmel belegt. Darauf rief ich Annemarie an und verabredete mit ihr, daß wir uns das nächste Mal, wenn ich meine Tochter besuchte, um sieben Uhr abends in einem bekannten Lokal zum Abendessen sehen sollten. Meine Tochter und ich hatten eben bestellt, als Annemarie bei der Tür herein kam und sich lächelnd zu uns setzte. Es war einer der vielen vergeblichen Versuche von mir gewesen, in der jüngeren Zeit Eindruck auf meine Tochter zu machen. Das zweite Mal war es am großen Tag meiner Tochter geschehen, als sie in Harvard graduierte, und wir unerwartet auf Annemarie trafen. Später schrieb sie für einen meiner Bände einen blendenden Beitrag mit dem für sie charakteristischen burschikosen Titel „ Ein Goethe, der nicht alle wird “ , der aber das Wesentliche eindrucksvoll traf. Ich lernte, daß sie mit sechzehn Jahren das Abitur abgelegt hatte und mit neunzehn Jahren in Berlin das Doktorat erhalten hatte. Mit einunddreißig war bereits ihre Einführung in die Vergleichende Religionsgeschichte in türkischer und ihr Text zur Ausgabe des Mystikers Ibn al-Khafif in persischer Sprache erschienen. Zehn Jahre lang war sie Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Vergleichende Religionswissenschaft und sie war von einer so strahlenden Liberalität, daß ihr die Stadt Pforzheim den Reuchlin-Preis verlieh. Sie hatte auch ungewöhnliche Studenten, wie etwa Benazir Bhutto, die erste Frau, die Premierministerin des islamischen Staates Pakistan wurde. Als sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, protestierten 68er-Schreier dagegen, denen es gelungen war, Unterschriften von 270 Verlagen und 300 Buchhandlungen zu sammeln. Der Anti-Staiger-Rummel hatte sich noch verschärft. Daraufhin trat die Jury, die ihr den Preis zuerkannt hatte, noch einmal zusammen und hatte Charakter und Rückgrat genug, ihr Urteil beizubehalten und indirekt ihr den Peis ein zweites Mal zu verleihen. Quantitativ war aber die Herrschaft der Barbaren absolut geworden. Sie ist ziemlich sicher die einzige Frau gewesen, die in esoterische islamische Geheimkulte eingeweiht worden war. Ich war einer der wenigen, wenn nicht der einzige, zu dem sie davon sprach. Ihre Erfahrungen waren so negativ wie meine mit den Derwischen von Konja. Wie ich bewunderte sie die historischen geistigen Leistungen islamischer Mystik und wie ich war sie von den dichterischen Höhepunkten dieser Mystik hingerissen. Sie war stolz auf die positive, protestantische Erziehung, die sie in der Kindheit erhalten hatte. Aber wiederholt 56 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="71"?> wurde sie im Zusammenhang mit dem Islam von Schwachköpfen mißverstanden und wurde versucht, sie auf deren eigenes tiefes Niveau herunter zu ziehen. Ich habe sie - wie nur ganz wenige Menschen - als eine geistige Freundin sehr geliebt. 57 In Kalifornien und Pennsylvanien 1964 bis 1971 <?page no="72"?> DRITTES KAPITEL IM EMPIRE STAAT NEW YORK Im Sommer des Jahres 1971 war ich an die State University of New York in die Hauptstadt des Staates New York Albany übersiedelt. Da der Vorstand des Instituts mir jedes vierte Semester als vorlesungsfreies Forschungssemester versprochen hatte, was sich bald genug als falsch herausstellte, wurde mir klar, welch großen Fehler ich gemacht hatte. Für freie Zeit, um meine Bücher zu schreiben, wäre ich auch in die Sahara gegangen. Ernst war es ihm nur mit der Pflege der Exilliteratur und der beiden umfangreichen Bände in je zwei Teilen, die er - von der Auswahl der Mitarbeiter bis zur Gewinnung eines Spitzenverlages - nur mit meiner Hilfe herausgeben konnte. Er erwies sich als geistig unfähiger, reiner Opportunist und charakterloser Egoist. Dafür war ein wichtiger menschlicher Gewinn die Begegnung mit der Institutssekretärin Barbara Budka, die so tüchtig wie anständig war und die zu einer lebenslangen Freundin wurde und mit der ich noch heute in Verbindung bin. Meine New Yorker Symposien hätte ich ohne ihre tatkräftige Hilfe niemals machen können. Vor allem aber übersiedelte ich nach etwa zehn Jahren in mein Naturparadies in den Adirondack Nationalpark, in dem ich die schönsten Jahre verbrachte. Um aber nach Annemarie Schimmel zu einer zweiten der wichtigsten und wunderbarsten geistigen Begegnungen zu kommen, jener mit René Wellek, so verdanke ich sie meiner umfangeichen Literatursoziologie, die in vieljähriger Arbeit, noch in Österreich und sodann in den pennsylvanischen Jahren entstanden war und jetzt endlich im Herbst erschien. Sie trug des Titel Die gelenkten Musen und ich hatte bereits in Österreich die Unterstützung eines anderen, wirklichen Freundes, des Verlegers Erich Pogats dafür gefunden. Wenn Ingarden der bedeutendste theoretische Literaturtheoretiker des Jahrhunderts gewesen war, dann war René Wellek der bedeutendste praktische Literaturtheoretiker der Welt. Ich hatte ihm mein Buch mit einer verehrungsvollen Widmung geschickt. Wellek war in seiner Theory of Literature, die in über dreißig Sprachen übersetzt wurde, ein strikter Anhänger innerliterarischer Interpretation gewesen. Es dauerte ein wenig, ehe ein Antwortbrief kam, aber als er kam, war er eindrucksvoll. Der große Mann schrieb, mein Buch hätte seine Grundeinstellung verändert. Ja, er ging so weit, zu erklären, daß und warum er seine Theory of Literature nicht umschreiben könnte und wollte. Erstens sei sie bereits ein klassisches Werk und zweitens hätte er sie nicht allein geschrieben, sondern mit Professor Warren, und er könnte dadurch nicht allein eingreifen. <?page no="73"?> Der Brief gab mir den Mut, an ihn die Bitte zu richten, einen Beitrag für den sechsten und nächsten Band meines Jahrbuches zu schreiben, der dem Thema The Personality of the Critic gewidmet war. Er sandte einen seiner blendenden Aufsätze mit dem Titel „ Walter Benjamins Literary Criticism in his Marxist Phase “ . Er steht in dem Band gleich nach dem Beitrag von Annemarie Schimmel. Welleks Aufsatz klärte zugleich mit der für ihn üblichen, bewundernswerten Detailkenntnis die Stellung der sowjetischen Kritik. Sein Russisch war so gut wie sein Englisch, Deutsch, Französisch und Tschechisch. Wellek hat in seinem Aufsatz gezeigt, wie Benjamin die Liquidation aller Werte der traditionellen Vergangenheit vertritt, die er den „ Heiligenschein “ rings um die Kunstwerke nennt. Er setzte sich in Gegensatz zu seiner eigenen Frühphase, in welcher Mythos und das Mythische der Höhepunkt der Kunst gewesen waren. Mit Wellek sollte es aber im Laufe der Zeit wie mit Annemarie Schimmel geschehen: Aus dem distanzierten kritischen Respekt wurde ein freundschaftlicher und er wurde zu einem engen Freund. Für meine Festschrift von 1987 hat er eines der damaligen Mode-Idole, Georg Lukács, in ernüchternder Gründlichkeit zerlegt. So hat er nicht nur die fast völlig unbekannten allerersten Arbeiten dokumentiert, sondern auch gezeigt, wie Lukács auch noch in seiner zweiten Vorlesungsreise in Heidelberg Husserls Phänomenologie verkündet hatte. Er zeigte, wie die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas von Lukács von 1983 am besten durch seine Theorie der Literaturgeschichte von 1910 erklärt werden kann. Demnach ist sie keine reine literarische Forschung, sondern lediglich eine Art wirklichkeitsfremder Abstraktion. Am Beispiel des Aufsatzes „ Reichtum, Chaos und Form “ aber explizierte er, daß Lukács darin die Funktion erfüllt, die Goethe „ dilettantisch “ genannt hatte. René hat mir einmal erzählt, daß seine allererste wissenschaftliche Publikation die Rezension eines sehr schlechten Buches gewesen war. Ein Kollege von ihm, der sie las, hatte das Urteil gefällt: „ Wo der Wellek hintritt, wächst kein Gras mehr. “ Auch meine erste wissenschaftliche Publikation war die Rezension eines schlechten Buches gewesen. Als der damalige Herausgeber des Euphorion Professor Pyritz mein Manuskript erhielt, schrieb er mir einen Brief, in dem der Satz stand: „ Ich hoffe, daß Ihr kritischer Freimut nicht Ihrer Karriere schaden wird. “ Das ist gar keine schlechte Parallele dazu. Der Freundschaft mit René verdanke ich auch eine ganze Reihe interessanter Begegnungen. Besonders berichtenswert erscheint mir dabei folgende Geschichte, die sich bei einem internationalen Komparatisten-Kongreß in den USA ereignet hatte. Im großen Vortragssaal standen nicht die üblichen Bankreihen, sondern kleine Tische mit je vier Sesseln, sodaß man während der Vorträge auch einen Kaffee trinken oder ein Sandwich essen konnte. René saß mit einem 59 Im Empire Staat New York <?page no="74"?> Romanisten aus Yale und mir an einem solchen Tisch, als sich der sowjetische Komparatist Nummer eins zu uns setzte. Er war nicht nur Mitglied der sowjetischen Akademie, sondern auch von einem halben Dutzend westlicher Akademien und Ehrendoktor von Oxford. Seltsamerweise war die Lingua franca an unserem kleinen Tisch Deutsch gewesen, das er fließend sprach. Der Russe wurde zu seinem Vortrag aufgerufen, ging hinaus zum Rednerpult und sprach eine halbe Stunde. Mindestens ein Dutzend Male verwies er dabei auf den „ Sozialistischen Realismus “ , das vage Zentraldogma der sowjetischen Literaturkritik. Ich entsann mich, daß René einmal erregt mit der Hand auf den Tisch geschlagen hatte, weil ihn ein Kollege einen „ kalten Krieger “ genannt hatte. „ Ich bin kein kalter Krieger “ , protestierte er, „ ich bin ein heißer Krieger! “ Als Zhirmunsky wieder an unseren Tisch zurückkehrte, warf ihm René einen bösen Blick zu und fragte unwirsch: „ Sagen Sie, was haben Sie denn ständig mit diesem ‚ Sozialistischen Realismus? ‘“ Der Russe warf einen kurzen prüfenden Blick auf unsere kleine Runde und sagte dann in akzentfreiem Deutsch: „ Sozialistischer Realismus? Blöder Dreck! “ Diese Begegnung mit Zhirmunsky hatte mich neugierig genug gemacht, seinem Hintergrund nachzugehen. Ich setzte mich in unsere Bibliothek und fand folgendes heraus: Sein Vater war in der damals großen und berühmten jüdischen Gemeinde von Wilna, dem jetzigen Vilnius, geboren. Er war später ein berühmter Gynäkologe in Petersburg gewesen. Sein Sohn, unser Zhirmunsky, erhielt hier in Petersburg Privatunterricht von dem berühmten Historiker und Publizisten Jakobovich Krasny-Admoni. 1933, 1935 und 1941 war dieser aus politischen Gründen im Gefängnis gewesen. Seine stupende Bildung und Gelehrsamkeit hatten sich aber trotzdem immer wieder durchgesetzt. Admonis Sohn jedoch, Waldimir Admoni, war einer der größten russischen Literaturwissenschafter, aber auch Linguist, Verfasser von Lyrik und einem Roman, berühmter Rilke-Übersetzer, der etliche Jahre später, nach der „ Wende “ in Petersburg mein Freund werden sollte. Von ihm wird noch die Rede sein. Zu Renés achtzigstem Geburtstag gab ich eine zweibändige Festschrift von über 1500 Seiten heraus, unter deren Beiträgern zwar keine Modegrößen waren, aber so ziemlich alle Komparatisten, von denen ich der Überzeugung war, daß sie auf dem Gebiet des Themas Literary Criticism and Theory Bedeutendes geleistet hätten. Als ich zur Erinnerung jetzt, da ich dies schreibe, in meinem Exemplar der Festschrift blätterte, fiel mir ein Brief in die Hände, der aus der Zeit der Herausgabe stammt und den ich völlig vergessen hatte. Er illustriert schön die Bedeutung Renés und ich möchte einige Zeilen daraus zitieren. Er stammt von Professor Werner Weber, dem engsten Freund und sprachgewaltigsten Verteidiger von Emil Staiger in der Zeit des Rummels. Er war Professor für Literaturkritik an der Universität Zürich und ich hatte ihn zur Mitarbeit an der Festschrift eingeladen. Die Einladung war eingetroffen, als gerade eine Familien- 60 Im Empire Staat New York <?page no="75"?> katastrophe die Arbeit am Beitrag verhinderte, sodaß er um einen Terminaufschub ersuchte. Ich zitiere ihn, weil er die Gedanken fast aller Mitarbeiter zum Ausdruck brachte. „ Lieber Peter, helfen Sie mir. Ich wäre untröstlich, wenn ich dem Manne, dem ich als Literaturwissenschafter das meiste verdanke, nicht Verehrung und Dankbarkeit sagen könnte mit einer rechten Arbeit. “ Als ich nach der sogenannten „ Wende “ in fast alle Oststaaten fuhr, kam ich auch einmal nach Litauen, wo ich auch ein Gast des Schriftstellerverbandes war. Dieser war nach wie vor in der Tradition aller kommunistischen Staaten von besonderer Wichtigkeit. Nach meinem Vortrag und einer lebhaften Diskussion fragten mich der Präsident und sein Sekretär, welches amerikanische Grundlagenbuch, das auch für Schriftsteller von Interesse war, ich zur Übersetzung ins Litauische vorschlagen könnte. Ich schlug Renés Theory of Literature vor und ich hoffe, damit ist die Übersetzung des Buches in die vierunddreißigste Sprache geglückt. Im Jahr 1972 erhielt ich überraschend eine Einladung zu einem Musil- Symposium nach Saarbrücken von einer Frau Professor Marie-Louise Roth. Sie wollte alle zusammen bringen, die Nennenswertes über Robert Musil geschrieben hatten. In Saarbrücken angekommen, fand ich heraus, daß aus England leider niemand gekommen war, was wichtig gewesen wäre. Aus der Bundesrepublik waren mit einer oder zwei Ausnahmen alle gekommen. Aus den USA war ich der einzige. Auch Adolf Frisé war hier, der eine katastrophal fehlerhafte erste Gesamtausgabe von Musils Hauptwerk, dem großen Roman Der Mann ohne Eigenschaften herausgegeben hatte. Es war imposant, was Frau Professor Roth in Saarbrücken geschaffen hatte. Ihr „ Musil-Zentrum “ besaß alle Werke Musils in fast allen Ausgaben, es enthielt die bestimmt umfangreichste Sammlung von Sekundärliteratur über Musil und nicht zuletzt war auch der gesamte Nachlaß auf Fotokopien vorhanden. Frau Roth selbst war eine gebildete, liebenswürdige und charmante Französin. Ihr Vorsitz war nicht eine Qual, sondern eine Wohltat. Sie hatte auch bereits ein Buch mit der Sammlung von Musils Theaterkritiken herausgegeben. Eine weitaus geringere Wohltat waren die Ausführungen Frisés und fast immer, wenn sich ein deutscher Kollege äußerte, war es über die Großartigkeit seiner eigenen kritischen Schriften und weniger über Musils Werk. Am Abend des ersten Tages sandte der Saarländische Rundfunk einen Wagen mit dem Ersuchen, Frau Roth und ich - offenkundig als der „ Exote “ - sollten ins Funkhaus zu einem Live Interview kommen. Der sehr versierte Rundfunkmann stellte zuerst eine Reihe von Fragen an Frau Roth, wer Musil war, weshalb sie ihn für wichtig hielt, was sie bisher getan hatte und vor allem, worum es in dem gegenwärtigen Symposium ging. Dann wandte er sich an mich und fragte: „ Wie schätzen Sie die Möglichkeiten und die Aussichten dieses Symposiums von Frau Roth ein? “ Ich riskierte einen Scherz und sagte: „ Was Frau Roth versucht, 61 Im Empire Staat New York <?page no="76"?> erinnert mich an den Titel eines Kapitels im Mann ohne Eigenschaften. “ „ Und welches Kapitel wäre das? “ „ General Stumms Versuch, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen. “ „ Und ist General Stumm erfolgreich? “ „ Er scheitert vollständig an den Menschen, mit denen er das versucht und an den gegebenen Umständen. “ Auf der Rückfahrt im Rundfunkwagen sagte Frau Roth gekränkt zu mir: „ Ich wußte nicht, daß Sie gegen mich sind, Herr Strelka “ . „ Im Gegenteil, gnädige Frau. Sie sind die einzige, die etwas Positives tun will, aber die Eitelkeit der meisten deutschen Kollegen und besonders die dickköpfige Beschränktheit von Herrn Frisé wollen das nicht zulassen. “ „ Aber was soll ich denn tun? Was raten Sie mir? “ Mein Gerechtigkeitssinn, mein Mitleid mit Frau Roth und ein wenig wohl auch der gute, saarländische Wein versetzten mich in unüberlegten Übermut und ich sagte: „ Freiwillig wird Herr Frisé niemals einer kritischen Ausgabe zustimmen, welche die Fehler seiner eigenen enthüllen würde. Gründen Sie eine Musil- Gesellschaft, in der alle vertreten sein müssen, die in der öffentlichen Meinung berühmt und wichtig sind, und benützen Sie die Gesellschaft als Hebelarm, um Frisé zur Zustimmung zu zwingen. “ „ Gut. Das Programm für morgen wird geändert. Tagesordnung: Gründung einer Musil-Gesellschaft. Sie haben den Vorsitz. “ So hatte ich das wahrhaftig nicht gemeint. Ich hatte mich in Saarbrücken entspannen und bilden wollen. Aber wer A sagt, muß leider auch B sagen. Ich ärgerte mich über mein loses Mundwerk. Als ich am nächsten Morgen an der Kopfseite des langen Tisches meinen Platz eingenommen und Frau Roth die Änderung der Tagesordnung verkündet hatte, meldete sich sofort als erster Frisé zu Wort: „ Aber Herr Strelka, ein solcher Individualist wie Musil und eine Gesellschaft, das ist doch ein Widerspruch in sich selbst. “ „ Aber Herr Frisé, es hat schon zu Musils Lebzeiten in Wien eine Musil-Gesellschaft gegeben und Musil war sehr dafür. “ Ich spielte darauf an, daß Musil von Rowohlt laufend einen monatlichen Betrag ausgezahlt erhielt, damit er den großen Roman vollende. Allerdings hatte Rowohlt 1933 seinen Verlag verloren und Musil damit seinen Lebensunterhalt. Musil war aus Berlin in seine Wiener Wohnung geflohen und eine Gruppe von etwa zwei Dutzend wohlhabenden Leuten hatten sich zusammen gefunden und waren bereit, für Musils Lebenshaltungskosten jeden Monat einen Betrag zu spenden, der gesammelt wurde und der die Fortsetzung des Romans gewährleisten sollte. „ Aber Herr Strelka, damals ging es ja um das Werk. “ „ Sie werden lachen, Herr Frisé, aber darum geht es eben jetzt auch wieder. “ Es gelang mir, alle - mit Ausnahme Frisés - für die Gründung zu gewinnen, und nachdem alle abgereist waren, setzte ich mich mit Madame Roth zusammen und ich gab ihr Ratschläge. Ich erinnerte mich daran, daß ich vor etlichen Jahren in einem Wiener Rundfunkvortrag von Dr. Bruno Kreisky gehört hatte, daß er erzählte: „ Als ich nach Schweden ins Exil ging, nahm ich nur zwei Dinge mit: Meine Zahnbürste und den ersten Band von Musils Mann ohne Eigenschaften. Kreisky 62 Im Empire Staat New York <?page no="77"?> war zu dieser Zeit in Österreich Bundeskanzler. Ich riet daher Madame Roth: „ Melden sie sich bei Dr. Kreisky an, fahren Sie nach Wien und erzählen sie ihm Ihren Plan. “ Das tat Madame Roth mit großem Erfolg und die beiden beschlossen in Wien, die notwendige Vorbereitung zur Gründung in die Hände von zwei jungen Herrn zu legen: einem der Sekretäre Kreiskys und Frau Roths Assistenten, der nun oft nach Wien fuhr. Es wurde ein Proponentenkomitee gegründet und Madame Roth konnte hervorragende Persönlichkeiten dafür gewinnen. Unter anderem René Cheval, Olof Lagecrantz, André Malraux, Robert Minder, Ignazio Silone, den überlebenden Freund Musils Ernst Schönwiese, Friedrich Torberg und den krankhaft eitlen Nobelpreisträger Elias Canetti. An der Spitze stand Bruno Kreisky. In einer Wiener Bank wurde ein Konto angelegt, in welches Subventionsgeld Kreiskys floß. Mein kleines Buch Kafka, Musil, Broch erhielt eine neue Aktualität, denn durch die Lektüre der Kritiken des britischen Ehepaares Kaiser-Wilson hatte ich auf die Notwendigkeit einer gründlichen Verbesserung der Frisé-Ausgabe hingewiesen. Am Vorabend der Gründung fand im Auditorium Maximum der Wiener Universität eine Diskussion von fünf Professoren über Musil statt und ich war einer der fünf. Zum ersten Mal saß ich nicht unter Studenten in einer der Bankreihen, sondern oben auf dem Podium. Die Gründung kam in Wien unter ungewöhnlicher Medienunterstützung zustande. Ich hatte alles so gut vorbereitet, daß der Kollege aus Münster, der gerne eine Rolle gespielt hätte, beim Verlassen des Saals erbittert schimpfte: „ Hier geht es ja ärger zu als in der ostdeutschen Volkskammer. “ Madame Roth war Präsidentin. Aber fast so glänzend wie der Aufstieg war der darauf folgende Fall der Gesellschaft und so gut meine Ratschläge bisher gewesen waren, so schlecht war dieser, den ich jetzt gegeben hatte. Bei der ersten Sitzung des neu gewählten Vorstands in Saarbrücken, in den auch der Assistent von Madame Roth und der Sekretär von Bundeskanzler Kreisky als Dank für die Vorbereitungsarbeiten gewählt wurden, war der Assistent anwesend, der Sekretär aber fehlte, ohne daß er sich entschuldigt hätte. Madame Roth verlas als erstes den Brief von der Bank, an welcher das Konto des Vereins angelegt worden war. Es wurde ihr mitgeteilt, daß das Konto um einen Riesenbetrag überzogen worden war. Das widersprach der Abrechnung, die sie vorher erhalten hatte. Niemand anderer als der Sekretär Kreiskys hatte die Kasse verwaltet. Ich war, um Geld zu sparen, umständlich aber billig mit Icelandic Airlines nach Wien geflogen, hatte ihm eine Kopie meiner Karte gegeben und er hatte sie mir ersetzt. Der Kollege aus Münster sprang auf und rief: „ Wenn der Herr Sekretär das Geld auf die hohe Kante gelegt hat, dann müssen wir wohl zu Gericht gehen. “ Da machte ich meine Dummheit und sagte „ Nein. Ich schlage eine österreichische Lösung vor. Wenn wir zu Gericht gehen, dann kommt das ganze an die 63 Im Empire Staat New York <?page no="78"?> Öffentlichkeit. Obwohl der Bundeskanzler gewiß davon keine Ahnung hatte, wird sein Name genannt und hinein gezogen werden und seine Gegner werden das auszunützen suchen. Wenn wir zu Gericht gehen, werden wir nie mehr auch nur einen Groschen von Kanzler Kreisky sehen. Ich schlage vor, Madame Roth schreibt an Kreisky einen vertraulichen Brief. Er hat die Mittel, eine ernste Untersuchung auch vertraulich durchzuführen und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. “ Mein Vorschlag wurde angenommen und ich drängte auch darauf, daß wir mit unserer eigentlichen Arbeit beginnen sollten. Was ich nicht gewußt hatte, war, daß Kreisky damals von seinem Sohn tief enttäuscht und erbittert gegen ihn war und daß gerade „ unser “ Sekretär geschickt die Rolle des Sohn-Ersatzes zu spielen begonnen hatte. Anstatt eine Untersuchung einzuleiten, schrieb der Kanzler nicht nur an Madame Roth, sondern an jedes einzelne Mitglied des Vorstands einen bösen Brief, daß sein Vertrauen von uns mißbraucht worden sei und daß wir es waren, die das Geld veruntreut hätten. Ich war schon amerikanisiert genug, ihm einen noch ungehalteneren Brief zurück zu schreiben, in dem ich ausführte, daß wir diesen Weg gewählt hätten, gerade um ihn zu schützen und daß der Vertrauensbruch voll auf seiner Seite war. Überflüssig zu sagen, daß diese Affäre Wasser auf die Mühlen von Adolf Frisé war, der über die Musil-Gesellschaft allen, die es hören, und allen, die es nicht hören wollten, sagte, welch ein verrotteter Haufen diese Gesellschaft war. Da aber der Angriff die beste Verteidigung ist, gelang es ihm, einige der deutschen Vorstandsmitglieder zum Austritt zu bewegen, und wäre nur ein Austritt mehr erfolgt, hätte sich auf Grund der Statuten damit die Gesellschaft selbst aufgelöst. Es ist unglaublich, was alles aufgeführt und was mir alles versprochen wurde, um aus der Gesellschaft auszutreten. Frisé und der Sekretär waren eine unheilige Allianz eingegangen und beide hatten dasselbe Interesse, die Gesellschaft am besten aus der Welt zu schaffen. Das ist ihnen nicht nur mißlungen, sondern die Gesellschaft hat trotzdem vieles geleistet. Zum vierzigjährigen Jubiläum hielt ich als Vizepräsident eine Festrede im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, die in meinem Musil-Buch von 2001 abgedruckt ist. Frisé war da, saß in der ersten Reihe und mußte sich zu seinem Mißvergnügen sein Sündenregister anhören. Um aber eine rein positive und eine der schönsten Begegnungen zu schildern, so möchte ich jene mit Professor Joseph Peter Stern schildern, durch den ich 1972 eine herrliche Woche als Ehrengast des St John ’ s College in Cambridge verbringen durfte. Kennen gelernt hatte ich ihn beim Weltkongreß in Princeton, bei dem mein „ südafrikanischer “ Freund Karl Tober Professor Leonhard Forster aus Cambridge zum nächsten Weltpräsidenten der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) küren wollte. Er hatte sich zwei seiner Freunde geholt, von denen er tatkräftige Hilfe erwartete: den „ Amerikaner “ Strelka und Joseph Peter Stern, der Professor in Cambridge war. Aber Tober stammte aus Ernstbrunn in Oberösterreich, Strelka aus Wiener Neustadt in Niederösterreich und 64 Im Empire Staat New York <?page no="79"?> Stern aus Prag. Wir schätzten Forster in gleicherweise, obwohl wir keine Briten waren, wegen seiner Verdienste und seiner Fähigkeiten und vielleicht auch ein wenig, weil dann der nächste Kongreß im fünf Jahren in dem hübschen Cambridge am Cam sattfinden würde. Mir fiel von unseren Namensschildern her auf, daß Joseph Peter Stern und Joseph Peter Strelka dieselben Initialen JPS hatten, und ich fand es so lustig, daß ich Stern darauf aufmerksam machte. Wir mochten einander sofort, wobei wahrscheinlich sogar mein tschechischer Vater geholfen hat. Ich erzählte ihm kurz mein Leben und er mir seines. Der Prager war 1939, als die Tschechoslowakei von den Deutschen besetzt worden war, nach England emigriert. Als der Krieg ausbrach, meldete er sich als Freiwilliger zur britischen Armee und kam zur Royal Airforce. Als sein Flugzeug über Deutschland abgeschossen wurde, konnte er sich mit dem Fallschirm retten, hatte aber durch einen Schuß einen Finger verloren. Ich erzählte ihm von meinem tschechischen Vater, der 1918/ 19 in der Tschechischen Legion gegen den kommunistischen Diktator Béla Kun in Ungarn gekämpft hatte, um die Slowakei zu befreien. Ein Lieblingsautor von uns beiden war der große österreichische Lyriker Rilke, der in Prag geboren war und der in seiner Prager Frühzeit sogar ein Lobgedicht auf Kajetan Tyl, den Verfasser des tschechischen Nationalliedes „ Kde domov m ů j “ geschrieben hatte. Als wir einen Drink nehmen wollten, entdeckten wir, daß wir beide den Highland-Whisky „ Glenmorangie “ besonders liebten und da es ihn im Hotel nicht gab, einigten wir uns auf einen Johnnie Walker, zwar ein „ Blended Whisky “ , aber einer mit so viel Malz, daß er ähnlich schmeckte. Wir blieben in losem Briefkontakt, wobei wir beide mit J. P. S. unterschrieben. Einmal schrieb er nach dem Datum „ tschechischer Unabhängigkeitstag “ . Bis dann überraschend die Einladung als „ Ehrengast “ kam. Ich verlebte eine wunderschöne Woche im St John ’ s College. Ich hatte in einem der alten Steingebäude eine große Wohnung mit einem gleichfalls sehr großen Kamin, für den ich im Sommer aber keinen Gebrauch hatte. Ich lernte die äußeren Formen des englischen College-Lebens kennen. Das Frühstück nahm ich allein, aber das Mittag- und Abendessen zusammen mit der College-Gemeinschaft ein. Es fand in einem großen Saal mit einer Art Bühne statt, auf welcher die Fakultätsmitglieder saßen. Ich genoß es auch, daß sich die Professoren nach dem Abendessen in sehr hübsch eingerichtete Räume im Dachgeschoß zu Portwein und Schnupftabak zurückzogen. Für den Portwein erhielt ich ein Glas, für das Schnupfen die notwendigen Utensilien. Ich wurde nicht nur in die Geheimnisse des Schnupftabaks, sondern auch der Schnupftabaksdosen eingeweiht. Tagsüber streifte ich umher, zunächst in die beiden Bibliotheken, von denen ich die alte sehr interessant fand, und besonders erwartungsvoll besuchte ich „ The School of Pythagoras “ , das älteste Gebäude in Cambridge, das zum College gehörte. Auch die Rundkirche zog mich an, von der man nur wußte, daß sie nicht 65 Im Empire Staat New York <?page no="80"?> wie fast alle Rundkirchen von den Templern stammen sollte, sondern von den Johannitern. Als ich wenige Jahre später zum Weltkongreß der IVG nach Cambridge gefahren war und ein Zimmer in einem Studentenheim angewiesen erhielt, fand ich eine formelle, schriftliche Einladung zum Dinner in Peters Haus vor. Er hatte ein großes und schönes Haus, war aber in der Zwischenzeit wegen des höheren Gehalts an die Universität London gegangen. Das Haus in Cambridge hatte er jedoch nicht aufgegeben, sondern er fuhr mit dem Zug zu seinen Vorlesungen nach London. Im Jahr 1973 hielt ich zum letzten Mal einen der wenigen Briefe in der Hand, die mir ein wirklicher und großer Freund geschrieben hatte. Er war großzügig, sowohl in menschlicher als auch in geistiger Hinsicht, weltoffen und dazu von einer geradezu einmaligen praktischen Intelligenz und Tüchtigkeit: Erich Pogats. Er hätte ein begnadeter, ganz großer Autor sein können. Was ihn daran gehindert hatte, war seine mitmenschliche Verantwortung, aus der heraus er Verleger wurde und sogar Gewerkschaftspolitik trieb. In den Jahren von 1957 bis 1964 bin ich ihm als Teilzeitlektor seines Verlages besonders nahe gewesen. Noch 2004 habe ich in der Zeitschrift Germanoslavica ein hohes Lied auf ihn gesungen und in meinem Buch Vergessene und verkannte österreichische Autoren habe ich ihm ein Denkmal gesetzt. Er ist auch der Verleger zweier Bücher von mir gewesen. Das erste war ein kleines Buch über die Eigenart der österreichischen Literatur mit dem Titel Brücke zu vielen Ufern. Es erschien in seiner großen Buchserie Europäische Perspektiven und ist das einzige meiner Bücher, das, obwohl es deutsch geschrieben war, in der New York Times besprochen wurde. Das zweite war meine Literatursoziologie Die gelenkten Musen. Er hatte mir bereits in Österreich einen Vorschuß darauf gegeben und war einer der wenigen gewesen, die damals bereits an mich geglaubt hatten. Nachdem das Buch erschienen war, hat es plötzlich einen solchen Eindruck ausgelöst, das mir mein alter Freund Dr. Ernst Glaser bei meinem nächsten Wienaufenthalt das Angebot machte, ganz an die Wiener Universität zu übersiedeln, aber nachdem ich sowohl Wien als auch Amerika kannte, habe ich das sofort abgelehnt. Unglaublich war, was Pogats als Generaldirektor des Österreichischen Gewerkschaftsverlages aus diesem Verlag gemacht hat. Seinen „ Europa Verlag “ hat er zu einem Verlag von gesamteuropäischer Bedeutung gemacht. Obwohl er die Gesamtleitung behielt, hatte er für seine Mammut-Buchserie Europäische Perspektiven Persönlichkeiten vom Rang eines Hans Kelsen, Salvador de Maderiaga, Robert Minder, Friedrich Heer, Ignazio Silone, Ernst Schönwiese und das Mitglied des Nobelpreiskomitees für Literatur Max Tau gewonnen. Diese unprovinzielle Weltoffenheit und Betonung geistiger Freiheit, die seinem Charakter wie seiner Lebenserfahrung entsprangen, war auch Ausdruck seiner Beziehung zum dem von Arthur Koestler in Westberlin ins Leben 66 Im Empire Staat New York <?page no="81"?> gerufenen „ Kongreß für Kulturelle Freiheit “ . Er hat der „ Allgemeinen Jugendgesellschaft “ , der Jugendsektion des Kongreßes selbst angehört. Eines der Hauptmitglieder des Kongresses, Ignazio Silone, war im Beratungskomitee der „ Perspektiven “ . Zwei der Mitglieder des Exekutivkomitees des Kongresses hat er durch Übersetzungen ihrer Bücher in seinem Verlag betreut: Manès Sperber und auch Arthur Koestler selbst. Von Sperber hat er dessen frühen Essayband Sieben Fragen zur Gewalt neu aufgelegt und eine Neuauflage der großen Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean sowie eine Festschrift für Sperber mit dem Titel Schreiben in dieser Zeit herausgegeben. Diese Festschrift hatte ebenfalls berühmte Mitarbeiter wie Jean Améry, François Bondy, Pierre Emmanuel, André Malraux, Carlo Schmid, Friedrich Torberg und Elie Wiesel. Mir hat er einmal als Teilzeitlektor einen Band der Europäischen Perspektiven anvertraut, dessen Autor Adam Schaff war, der Chefideologe der Kommunistischen Partei Polens. Der Band hatte einen abstrakt neutralen Titel: Theorie der Wahrheit. Bei der Durchsicht des Manuskripts merkte ich aber bald, daß der Titel irreführend war und daß es um nichts anderes ging, als darum, Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus den Lesern nahe zu bringen. Durch die Auseinandersetzung zwischen den beiden Polen wurde der Eindruck einer Suche nach einer gesicherten Theorie der Wahrheit erweckt. Das einfachste wäre es gewesen, das Manuskript einfach abzulehnen. Aber ich empfand es als eine Herausforderung, zumal ich mich für mein Philosophicum in die damals neueste Form des Empiriokritizismus, den Wiener Neupositivismus, vertieft hatte. Nun ist Lenin bereits so vorgegangen, daß er um für seine Materialismus-Theorie zu überzeugen, durch Unterstellungen am Empiriokritizismus, die geschickt und unmerklich klein waren, seiner Parteidoktrin eines Materialismus die Position der „ Wahrheit “ zuwies. Es machte Spaß, in monatelanger Arbeit, Seite für Seite und Satz für Satz auch die kleinste Unterstellung nicht durchgehen zu lassen. Anfangs war Schaffs Reaktion Überraschung, Unglauben und herablassende Erklärung seiner Position, die ich nicht zu verstehen schien. Aber als er sah, daß er auf Granit biß, begann ein kleiner Wettkampf, und als das lektorierte Manuskript fertig vorlag, war sein Inhalt von dem des ursprünglichen Manuskripts sehr verschieden. Pogats hatte auch zwei amerikanische Autoren übersetzt: Mark Twain und Allen Edgar Poe. Vor allem aber hat er selbst zwei Romane geschrieben und mein Lieblingsroman ist der zweite, der 1957 unter dem Titel Ihr zwingt die Flüsse nicht erschienen war und den ich von einer Zeitschrift zur Besprechung erhalten hatte. Pogats war im Zweiten Weltkrieg als einfacher Soldat in Prag stationiert gewesen und hatte sich einer kleinen, tschechischen Widerstandsgruppe angeschlossen. Ihre Mitglieder bilden fast alle das Modell für die Protagonisten des Romans, dessen äußere Fabel die Geschichte dieser Widerstandgruppe ist. Nach dem Wort eines Kritikers haben diese kleinen Leute „ dem Chorus der 67 Im Empire Staat New York <?page no="82"?> Statisten “ angehört, wobei das Thema des Romans durch die Verbindung ihres Schicksals mit Prag und vor allem mit der Moldau vertieft wird. Den ganzen Roman hindurch klingt als Hauptmotiv immer wieder die Moldau an. Wenn Jiri seine Geliebte Jitka in die Arme nimmt und küßt, liegt die Schleife der Moldau unter ihnen. Wenn der Gestapochef Dr. Frost die unverständlichen Aufzeichnungen eines ermordeten Gestapospitzels zu entziffern versucht, fragt er sich, weshalb der Agent auf die andere Seite der Moldau gegangen war. Wenn die Ärztin Zdenka Tolorova einen Angsttraum hat, stürzt sie sich hinunter zur Moldau. Wenn Pavel Kleiner aus Angst vor der bevorstehenden Verhaftung einen letzten Ausweg sucht, findet er ihn im Freitod in den Fluten der Moldau. Wenn nach dem Scheitern der Gruppe der alte Milchfahrer Tomas Hrdina Jiri Tuma rettet, erwartet er ihn an der Moldau. Und wenn schließlich Jiri bei Tomas im Wagen und in Sicherheit sitzt, zeigt er während der Fahrt auf den Fluß hinab, der unter ihnen liegt, und diese stumme Geste hat eine tiefe, sinnbildliche Bedeutung, denn hier wird der Fluß zum Sinnbild der ganzen, großen, kosmischen Ordnung des Universums, gegenüber welcher auch die größten Katastrophen menschlicher Ideologieverdummung und des Machtwahns auf Dauer zum Untergang verurteilt sind, wie viele Opfer auch verschlungen werden und die Moldau steht für alle Flüsse der Welt, die „ sie “ nicht zwingen werden. Wie aber dem alten Milchfahrer fast mythische Züge zuwachsen, so wächst die Geschichte dieser kleinen Widerstandsgruppe der Jahre 1939/ 40 empor zu exemplarischer Bedeutung des Kampfes gegen Willkür, Machtwahn und Terror. Den Ängsten und Schrecken steht in Augenblicken der Ruhe und des Friedens der idyllische Traum der Tolorova gegenüber, die in ihrer stillen Straße dem geliebten Vasa zuflüstert, daß in dieser Straße mitunter Wunder geschehen: „ Sie gehört nämlich Honzo “ , der Märchenfigur mit der geflickten roten Hose. “ Ach, klagt Tolorova: „ Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist. “ Spannend und weise, ergreifend und packend, bedrückend und zugleich tiefe Menschlichkeit beschwörend ist dieses Prosaepos der Ängste, des Schreckens und des Mordens. Es ist aber auch tröstlich, trotz der gebrachten Opfer durch den Kontrast zur kosmischen Ordnung der Moldau als Gewähr, daß zuletzt ihr Wasser wie die Liebe auch den Haß rein waschen wird und sodann das verlorene, ersehnte Leben neu geboren wird. Geboren geheimnisvoll aus dem Dunkel, wie der Fluß, der strömt und strömt, unaufhörlich, unbezwingbar bis er den Tag erreicht. Ein Gruppenfoto aus dem Jahr 1974 mit Jean Améry in der Mitte hat die nächste Begegnung mit ihm beschworen. Auf dem Foto steht rechts von Améry Marie-Louise Roth, links von ihm, stehe ich und er hat seine Arme um unsere Schultern gelegt. Links von Madame Roth steht aber Schönwiese, der ihn am längsten von uns kannte. Damals hieß Améry noch Mayer oder Maier und war Bibliothekar im Volksheim Leopoldstadt, in dem Schönwiese seine Literatur- 68 Im Empire Staat New York <?page no="83"?> vorlesungen und -seminare hielt. Hier hat er Hermann Broch kennen gelernt, lange bevor er durch die Umstellung der Buchstaben seines Namens Améry geworden war. In seinem späten Roman Lefeu oder der Abbruch hat er an Brochs Romane angeknüpft. Als Sohn eines Vorarlbergers, der im Ersten Weltkrieg als Soldat im Tiroler Regiment der Kaiserjäger fiel, hat er, als Hitler 1938 in Österreich einmarschierte, nicht einmal gewußt, daß er Jude war. Ich erinnere mich, daß er mit Madame Roth, die wie er im Zweiten Weltkrieg in einem „ Lager “ war, sehr gut befreundet war, und ich erinnere mich auch, daß es zwischen ihm und mir, als wir uns zum ersten Mal sahen, sofort einen seltsamen Blick des Einverständnisses gab, weshalb er wollte, daß ich neben ihm stehe. Ich spürte eine große Sensibilität und einen Hauch tiefer Traurigkeit, die von ihm ausgingen, sodaß ich ihm geradezu ehrfürchtig gegenüber trat. Ich kannte seine „ Bewältigungsversuche eines Überwältigten “ , die KZ-Erinnerungen Jenseits von Schuld und Sühne. Ich wußte nicht, daß er bereits einige Monate zuvor einen Versuch gemacht hatte, sich das Leben zu nehmen, aber ich spürte förmlich, daß er am Leben litt. Vielleicht mochte er mich, weil ich ein amerikanischer Germanist war, fast ebenso jung wie die amerikanische Germanistin, die er gerade sehr liebte. Von ihr war aber nicht die Rede, dafür aber sehr viel von seiner Fassungslosigkeit, daß so viele Linksintellektuelle gegen Israel waren. Schon ein Jahr nach dem verhängnisvollen Jahr 1968 hatte er sich, der selbst von links her kam, gegen die Verteufelung der Staates Israel gewendet, und als ich eine meiner üblichen Verachtungsreden gegen die „ linken Schreier “ los ließ, verschwand für kurze Zeit der Hauch tiefer Traurigkeit aus seinen Zügen. Seine Analyse der Zeit in dem späten Roman Lefeu, die im selben Jahr 1974 erschien, aus dem das Gruppenfoto stammte, war noch negativer als Brochs Theorie vom Wertzerfall und ließ keine positive Lösung mehr zu. Unsere Gegenwart scheint ihm Recht zu geben. Vier Jahre später war ich wieder in Österreich und saß gemeinsam mit Schönwiese in einem Lokal, als der Rundfunk die Meldung von Amérys Freitod in Salzburg brachte, den er ein „ Privileg des Humanen “ genannt hatte. Als jüdisches Hitler-Opfer war er 1938 nach Belgien geflohen mit fünfzehn Mark fünfzig Pfennig in der Tasche. Die alte Heimat war von ihm abgefallen. Seine persönliche Heimat war Antwerpen, seine geistige Frankreich. In seinen KZ-Erinnerungen hatte er gefragt: „ Wie viel Heimat braucht der Mensch? “ Er begann in Belgien ein neues Leben. Aber Hitler hatte ihn sehr rasch eingeholt. Er ließ Belgien besetzen. Améry wurde in ein Lager gesteckt. Er brach aus. Er wurde gefangen und in ein zweites, strengeres Lager gesperrt. Er brach wieder aus. Er schloß sich einer Widerstandsgruppe an, wurde verhaftet und wieder in ein KZ deportiert, und von da an von einem Lager in das andere überstellt. Einmal entging er durch Zufall der Liquidation. 1945 von britischen 69 Im Empire Staat New York <?page no="84"?> Truppen befreit, hatte er erklärt, daß das immerwährende Exil, das er wählte, die einzige Authentizität für ihn sei, die er sich erringen hatte können. In diesem Exil war er nun vom neuen Antisemitismus der 68er eingeholt worden, mit ihrer Behauptung, sie seien „ nur gegen den Staat Israel, der das Ergebnis der Rettung der wenig Überlebenden geworden war. „ Die Ekelschwade wurde dichter, die Frequenz der depressiven Phasen stärker “ , hatte er geschrieben. Der Freitod hatte die Befreiung aus der Verzweiflung über diese unheile Welt gebracht. Das Jahr 1975 war das Jahr, in dem ich meinen Freund Reinhard Federmann zum letzten Mal gesehen habe. Ernst Schönwiese wurde 1972 Präsident des Österreichsichen PEN-Clubs und Federmann sein Generalsekretär. Im vergangenen Jahrhundert, in dem ich den Österreichischen PEN-Club kannte, hat es niemals wieder einen so gut informierten, aktiven und in jeder Weise den PEN-Idealen entsprechenden Generalsekretär gegeben wie Reinhard. Dabei war er eine andere Art von Opfer des Machtwahns von Hitler als Améry. Er war das Opfer des „ verheizten Landsers “ , des Soldaten, der sein Leben im russischen Feldzug nur dadurch bewältigen hatte können, daß er zuerst zum Kettenraucher und sodann zum Alkoholiker wurde. Trotz dieser Behinderungen und seiner stark angeschlagenen Gesundheit war Federmann als Autor, Übersetzer und Herausgeber von einer Leistungsfähigkeit gewesen, die ihresgleichen sucht. Zuletzt hatte er die praktische Arbeit für die Organisation des Internationalen PEN-Kongresses in Wien im Jahre 1975 geleistet, bei dem ich ihn sah. Bald darauf wurde er ein Opfer seiner Krebserkrankung. Schon die ersten fünf Prosastücke seines frühesten Bandes Es kann nicht ganz gelogen sein sind seinem Leiden als Soldat in Russland gewidmet. Eines schildert die hoffnungslose Lage des durch die Russen eingekesselt zu sein: den Hunger, den Durst und die Verzweiflung mit den Toten und Verwundeten zu leben. Ein zweites Stück berichtet von seinem Leben als Gefangener in einem russischen Lager. Gleichsam aus epischer Distanz beschreibt er nüchtern von einem Leben, das „ nicht schön war, aber archaisch einfach “ . Alles war selbstverständlich, auch das Sterben, das immer nahe war und jeden Tag kommen konnte, mit dem eisigen Wind, der dünnen Suppe und der großen Sehnsucht, und er kam zu vielen. Auch sein letzter Roman, Chronik einer Nacht, ist ein Roman über die Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft. Er selbst war früh, 1945, wegen seiner Krankheit entlassen worden und kam mit gelber Gesichtsfarbe vom Leberleiden in das Elternhaus zurück, in dem er nur seinen verwahrlosten, jungen Bruder antraf. Seit er 1972 Generalsekretär des Österreichischen PEN-Clubs geworden war, gab er auch eine Literaturzeitschrift heraus, Die Pestsäule, an der ich durch Beiträge mitarbeitete. Wie sich aber Schönwiese mit seiner Zeitschrift das silberboot gegen die Barbarisierung von 1933 mit der vornehmen Waffe weltliterarischer Größe von Proust bis Jocye und von Musil bis Broch zur Wehr 70 Im Empire Staat New York <?page no="85"?> gesetzt hatte, so wendete sich Federmann in seiner Pestsäule nur gelegentlich durch weltliterarische Größe gegen die Barbarisierung von 1968, wie etwa mit einem Aufsatz über Paul Celan. In der Regel war er handgreiflich in einer Weise, wie er von den 68ern verstanden werden konnte: gegen die „ Grazer Autorenversammlung “ oder gegen die Schmährede Handkes, die dieser gegen Österreich am Staatsfeiertag gehalten hatte. Ich hatte Federmann bei einer sehr wenig bekannten Aktion geholfen. Kreisky hatte erreicht, daß die Sowjetunion jüdischen Bürgern, die sie verlassen wollte, erlaubte, nach Wien zu reisen, wo sie in einem Auffanglager aufgenommen wurden. Hier entschieden sie sich, ob sie nach Israel oder in die USA gehen wollten. Diejenigen, die in die USA wollten, mußten freilich ungefähr ein Jahr warten, bis sie aus Washington ihr „ Clearence “ erhielten. Für einige wenige, die in die USA wollten, nämlich für alle Schriftsteller, trat ich in Aktion. Wenn der tüchtige Federmann wieder einen Schriftsteller entdeckt hatte, schrieb er mir Namen, Datum und Ort der Geburt und ich verständigte den Vizepräsidenten einer jüdischen Hilfsorganisation in New York City. Wenn es so weit war, daß sie anreisten, fanden sie nicht nur eine Wohnung und einen kleinen Scheck vor, sondern am wichtigsten von allem: einen amerikanischen Agenten, denn in den USA wendet sich der Autor zumeist nur durch einen Agenten an einen Verlag und für einen unbekannten Autor aus dem Ausland ging es einfach nicht ohne Agenten. Einmal ist Federmann und mir auch ein peinlicher Fehler passiert, der im Rückblick durch seinen guten Ausgang freilich lustig ist. Reinhard hatte wieder einen Autor angekündigt. Er kam, wurde abgeholt und in seine Wohnung gebracht. Aber drei Tage später rief mich der Vizepräsident an und klagte: „ Der ist ja gar kein Jude. “ Da die Sowjets nur Juden ausreisen ließen, muß er sich als Jude ausgegeben haben, aber offenkundig konnte die jüdische Hilfsorganisation Juden besser und schneller identifizieren als die Sowjets. Wir lösten das Problem, indem wir ihn zum Juden erklärten. Gemeinsam mit seinem Freund Milo Dor hat Federmann ein Buch über ermordete Dichter der russischen Revolution Die gemordete Literatur herausgegeben und allein herausgegeben hat er Russland aus erster Hand: Geschichte und Gegenwart in Berichten von Augenzeugen und Zeitgenossen. Federmann hatte aber auch historische Romane geschrieben: über Österreich 1934: Das Himmelreich der Lügner, über Österreich 1848: Barrikaden. Ein Roman aus dem Sturmjahr 1848. Und er hatte sehr interessante Sachbücher geschrieben, wie etwa Die königliche Kunst: Eine Geschichte der Alchimie oder Botschaft aus dem Jenseits: Zeugnisse des Okkulten. Einzigartig geistreich und heiter ist sein satirisch-komisch-utopischer Roman Die Chinesen kommen: Aus den Memoiren unserer Enkel - nach dem Untergang des Abendlandes. Sein verfrühter Tod hat eine schmerzliche Lücke in die österreichische Literatur der Zeit gerissen. Hilde Spiel hat es fertig gebracht, in dem von ihr 71 Im Empire Staat New York <?page no="86"?> herausgegebenen Buch von fast siebenhundert Seiten Die Österreichische Literatur nach 1945 seinen Namen tot zu schweigen, während armselige Werke ausführlich besprochen wurden. Dazu wimmelte das Buch so sehr von Fehlern, daß die erste Auflage eingestampft werden mußte. Im Jahr 1976 schrieb ich einen Beitrag zur Festschrift von Erich Heller. Es war insofern eine besondere Festschrift, als das Thema der Beiträge streng abgegrenzt war. Alle Beiträge mußten zum Thema Goethe verfaßt sein, sodaß es von vornherein unmöglich war, über eine Spreu der Gegenwartsliteratur zu schreiben. Außerdem stand fest, daß der Titel der Festschrift „ Versuche über Goethe “ lauten sollte. Da das Wort Versuche das deutsche Äquivalent für „ Essay “ war, legte das den Wunsch nahe, daß die Beiträge so flüssig geschrieben sein sollten, daß sie sich soweit wie möglich der künstlerischen Sprachqualität der Bücher von Erich Heller annähern sollten. Es war im Grunde eine Kampfansage gegen die Tendenzen zur Einebnung und Barbarisierung des Faches, wie sie immer weitere Kreise zog und ich war glücklich unter den Eingeladenen zu sein. Seit Erich Hellers Buch Enterbter Geist 1954 erschienen war, bin ich ein Bewunderer von ihm gewesen. Abgesehen von dem im Grunde platonischen Titel hatte er programmatisch darin ausgesprochen, daß es jetzt in den Geisteswissenschaften eine Art von Pedanterie gäbe, die vom Wesentlichen ablenkt, „ der listigste Feind der Wahrheit, der wahres Verstehen nicht befördert, sondern verhindert “ . Dazu kommt noch, daß der Geist nicht nur den Körper braucht, sondern genauso die Transzendenz. Das Spirituelle sei nicht etwas Abstraktes, sondern etwas Reales. Was er praktisch über Goethe, Karl Kraus, Rilke und Nietzsche geschrieben hatte, eröffnete neue Einsichten, die unvergeßlich waren. Ich schrieb einen Essay über ein kleines Briefgedicht Goethes, das auf ein nur allzu oft übersehenes Element seiner Spiritualität, auf sein Rosenkreuzertum hinweist. Es war die dichterische verkürzte Verdichtung und Sublimierung der ersten von vier Absätzen einer Kantate von Johann Valentin Andreaes aus seinem Buch Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz. Anno 1459. Mein Essay zeigte außerdem die hohe dichterische Qualität, da sie darauf hinwies, wie viel Goethe mit wie wenig leisten hatte können. Der Grund zur Einladung war der, daß Heller mich kurze Zeit vorher näher kennen gelernt hatte. Er mußte Arbeiten von mir gelesen und geschätzt haben, denn er hatte mich zu einem Vortrag an seiner Universität, der anspruchsvollen privaten „ Northwestern University “ des Mittelwestens einladen lassen. Ich erlebte, daß er wie ein grandseigneurialer Patriarch über seiner ganzen Umgebung thronte. Ich wurde von einem intelligenten und geistig regsamen jungen Mann, Volker Dürr, abgeholt, der die Funktion eines Vorstands der Abteilung versah. Nach meinem Vortrag gingen wir in Hellers Lieblingsrestaurant. Herr Dürr ging vor uns und trug in jedem Arm eine Flasche besonderen Rotweins, denn Heller liebte das Essen des Restaurants, fand aber die Weinkarte 72 Im Empire Staat New York <?page no="87"?> nicht gut genug für sich, sodaß er seinen eigenen Wein mitbrachte. Der Besitzer selbst brachte uns Gläser für den mitgebrachten Wein und nahm mit großer Achtung die Bestellung entgegen. Ich fand heraus, daß es außer Heller noch einen bekannten Kollegen in der Abteilung gab: Hans Egon Holthusen, den ich seit seiner frühen Rilke-Monographie sehr schätzte. Er kam jedes Jahr für ein Semester als Gastprofessor aus Deutschland. Etliche Jahre bevor ich ihn an der Northwestern University kennenlernte, hatte er als Direktor des New Yorker Goethe-Instituts Günter Grass nach Amerika eingeladen. Nach zwei Semestern geistiger Nachbarschaft mit Erich Heller wäre das nicht mehr möglich gewesen. Fünf Jahre nach der Festschrift hat er zu Hellers 70. Geburtstag in einem eigenen Aufsatz dem Meister seine Reverenz erwiesen. Erich Heller hat einmal in einem seiner Essays die Frage gestellt, ob es sich die Menschheit überhaupt leisten könne, die Bedeutung des Holocaust zu ignorieren, ohne sich seiner Bedeutung bewußt zu werden. Der in seiner Jugend Hitler aufgesessene Holthusen hat in seiner Zeit in Evanston die Meinung Hellers voll geteilt. Ein Jahr später hat Holthusen für meine Festschrift zum sechzigsten Geburtstag einen Beitrag mit dem Titel „ Erinnerungen an Gottfried Benn “ geschrieben, in dem er Benns Ausspruch zitiert: „ Von Homer bis Goethe ist eine Stunde. Von Goethe bis heute sind vierundzwanzig Stunden. “ Das war der Holthusen, der 1963 aus der Berliner Akademie austrat, weil sich die Akademiemitglieder Grass und Böll zu politisch engagiert hatten. Es ist der gereifte Holthusen von der Northwestern University und seines Buches Kreiselkompaß von 1977, das er mir schickte und das ich besprach, womit der Übergang zum Jahr 1977 geglückt ist. Im Jahr 1977 veranstaltete der Österreichische PEN-Club im Festsaal des Palais Palffy auf dem Josefsplatz eine große Geburtstagsfeier für mich. Ich kam mit meinen drei Vorgesetzten - Mutter, Frau und Tochter - in der ebenso verwegenen wie aussichtslosen Hoffnung auf meine Tochter Eindruck zu machen. Beeindruckt war sie nur von dem eigenen, kleinen Strauß von weißen Rosen, der ihr überreicht wurde. Abgesehen von den unvermeidbaren paar Reden gab es nur zwei nennenswerte Ereignisse. Ernst Schönwiese hatte an zweihundert Persönlichkeiten, die mich kannten, je ein weißes Blatt ausgeschickt, mit der Bitte, sie mögen irgendetwas nach ihrem Geschmack zu meinem Geburtstag auf dieses Blatt schreiben. Alle Blätter zusammen wurden in Leinen gebunden und mir überreicht. Schönwiese ließ es sich aber nicht nehmen, einige, wenige Proben daraus vorzulesen. Als Höhepunkt hatte er sich aufgehoben zu berichten, es seien auch einige Gedichte eingeschickt worden und eines davon wollte er auch - natürlich ohne Angabe des Autors - verlesen. 73 Im Empire Staat New York <?page no="88"?> Als er geendet hatte, war der Beifall dreimal so groß, als bei allen Reden vorher zusammen genommen. Ich aber lief auf Torberg zu und umarmte ihn. Kein anderer Autor konnte das geschrieben haben. Meine zwei Lieblingsverse daraus sind: Wer außer dir ist außerdem So kenntnisreich wie unbequem. Das zweite Ereignis ist, daß ich zum fünfzigsten Geburtstag meine erste Festschrift präsentiert erhielt, herausgegeben von Marie-Louise Roth, Renate Schröder-Werle und Hans Zeller. Die Tabula Gratulatoria ist in dieser Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag länger als in allen anderen folgenden Tabulae, denn damals waren alle großen Träger von Weltnamen noch am Leben, denen ich nahe gestanden bin. Marie-Louise Roth nannte mich in ihrem „ Festgruß “ einen „ Weltbürger im wahrsten Sinn des Wortes “ und von allen den guten Eigenschaften, die sie mir zuschrieb, hat sie mir die größte Freude mit der Zuerkennung meiner „ Unabhängigkeit “ gemacht. Eine ebenso große Freude war ein Goethe-Zitat aus dem West-Östlichen Divan, das sie auf mich münzte: Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben, Bleib im Dunkel unerfahren, Mag von Tag zu Tage leben. Im Jahr 1978 fand meine erste Begegnung mit Professor Herbert Zeman statt. Ich war schon in vielen Ländern bekannt, aber in Österreich, das in meinem Fach schon damals auf dem Vormarsch in den Provinzialismus war, kannten mich nur wenige Fachkollegen. Zeman kam, um für ein Semester in Stanford den „ halbjährigen, rotierenden Lehrstuhl “ einzunehmen, den Österreich zum zweihundertsten Geburtstag Amerika gestiftet hatte und der von Österreich aus besetzt wurde. Er rief mich an, stellte sich vor und lud mich zu einem Symposium über „ Österreichische Komponisten und die Literatur “ ein, das er in Stanford organisieren wollte. Als ersten Eingeladenen gab er mir die Wahl, den Komponisten zu wählen, und ich wählte Mozart. Als ich in Stanford ankam, klopfte es an meiner Zimmertür und ein kanadischer Kollege stellte sich vor und berichtete mir, daß er eben durch einen Anruf erfahren habe, seine Frau sei plötzlich zu einer gefährlichen Operation ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er sei eingeteilt, seinen Vortrag am dritten Tag zu halten. Er bat mich, mit ihm zu tauschen, da ich gleich am Beginn des ersten Tages eingeteilt war. Dann könne er mit dem nächsten Flug zurück zu seiner Frau fliegen. Überflüssig zu sagen, daß ich gerne einwilligte. Er verständigte den Vorstand des Germanistischen Instituts in Stanford davon. 74 Im Empire Staat New York <?page no="89"?> Dieser eröffnete das Symposium, begrüßte den Gastprofessor Zeman und teilte sodann - ohne Begründung - mit, daß eine Programmänderung stattgefunden hätte: der Kanadier anstatt am dritten Tag jetzt sofort, Strelka stattdessen am dritten Tag. Im Publikum, das hauptsächlich aus Kollegen bestand, saß ein gutes Dutzend von meinen Freunden, die sofort eine Intrige gegen mich witterten und einen Sprechchor begannen: „ We want Strelka, we want Strelka. “ Ich konnte geradezu die Rädchen im Kopf von Zeman laufen hören. Der Vorstand teilte geistesgegenwärtig den Grund der Verschiebung mit und alles war in Ordnung. An den Anfang meines Vortrags stellte ich die heiteren, aber einfachen und etwas kindlichen Gedichte, die der kleine Mozart einigen der frühesten seiner Briefe eingefügt hat. Im Hauptteil des Vortrags aber zeigte ich, wie Mozart immer wieder in seine Textbücher eingegriffen hatte und mit wie wenigen, geringen Änderungen er sehr viel erreicht hatte. Es war eine solide, philologische Vergleichsarbeit und die Zuhörer waren verblüfft. Der Erfolg war groß, Zeman druckte den Vortrag und führte mich in die österreichische Literarturwissenschaft ein. In jedem der umfangreichen Bände, die er nur mit Unterstützung der Burgenländischen Landesregierung - und das heißt nur mit Unterstützung meines Jugendfreundes Gerald Mader, der Burgenländischer Landesrat für Kultur war - veröffentlichen konnte, war auch ich mit einem Beitrag vertreten. Sowohl für seine kleine Österreichische Literaturgeschichte als auch für den siebenten Band seiner Großen Geschichte der Literatur in Österreich schrieb ich Beiträge. Als ich ihn vor kurzem wieder traf, schlug er vielleicht im Scherz, vielleicht im Ernst vor: wer immer von uns beiden überlebt, sollte für den anderen einen Nachruf in seinem Goethe-Jahrbuch schreiben. Bis heute bin ich ihm dankbar, daß er mir in diesem Goethe-Jahrbuch Raum zu Verfügung stellte, um einen ausführlichen Nachruf auf meinen Freund Ernst Schönwiese zu schreiben. Eines der wenigen Daten, die mir genau in Erinnerung sind, ist der Neujahrstag des Jahres 1978. Wir saßen beim Mittagessen und ich verkündete: „ In diesem Jahr wird Torberg siebzig. “ Als er wenige Jahre zuvor bei uns zu Besuch gewesen war, hatte er vor allem auf meine dreijährige Tochter und meine Mutter tiefen Eindruck gemacht. Die Tochter hatte ihn vergessen, aber meine unvergeßliche Mutter sagte nur kurz: „ Da mußt Du etwas machen. “ Also setzte ich mich sofort hin und dachte mir den Plan zu einer Festschrift aus. Da Torberg schwierig sein konnte, riskierte ich nicht, ihm die fertige Festschrift als Überraschung zu übergeben, sondern schrieb ihm einen Brief und fragte: „ Wen möchtest Du drinnen haben? “ Eine eindrucksvolle Liste kam zurück. Von Österreich Milan Dubrovi ć , Herbert Eisenreich, Ernst Häussermann und Fritz Molden, für die Tschechen Ota Filip, für Amerika Erich Heller, für Israel Ephraim Kishon, für England Arthur Koestler, der als erster ganz oben stand, für Frankreich Manès Sperber, für die Schweiz Leopold Lindtberg, für Deutschland zwei sehr gegensätzliche 75 Im Empire Staat New York <?page no="90"?> Personen, Abrecht Goes und Marcel Reich-Ranicki und dazu noch Franz Heinrich Hackel vom Insel Verlag. Meine Mutter ahnte nicht, was sie da in Bewegung gesetzt hatte. Im Jahr 1979 arbeitete ich an dem wichtigen Band meines Jahrbuchs Literaturkritik und Mythos. Darin steht der Beitrag eines großen Komparatisten aus Leiden, Sem Dresden. Er beginnt zunächst mit dem Einzelbeispiel Thomas und seiner schließlichen Hinwendung zum jüdischen Mythos in seiner Josephs- Tetralogie. Er zitiert aus dem Briefwechsel Thomas Manns mit Karl Kerényi, in dem Thomas Mann diese Wendung auf das einsetzende Alter zurückführt, nicht im Sinn der Jahre, sondern im Sinn der zunehmenden Lebensweisheit. Die jugendliche, vergleichsweise naive naturalistische Ästhetik der Buddenbrooks reichte nicht mehr aus. So erfolgte die Hinwendung zum allgemein Typischen und zugleich Sakralen des mythischen Alten Testaments, das eine ganz andere Tiefendimension besaß. Natürlich konnte Thomas Mann seine eigene Mythosferne nicht einfach überwinden, sondern was er ästhetisch schuf, waren Pastiches. Es ist nicht mehr der Mythos selbst, sondern es sind dichterische Nachbildungen des Mythos. Dann aber weitet Dresden sein Thema aus und zeigt auch im Werk von Proust diese Pastiches. Ja, er legt eigentlich den Finger an die Krise der Dichtung in unserer Zeit, die auch in ihren größten Vertretern nur noch zu Pastiches fähig ist. Broch hatte mit seiner „ Erbschaft der mythischen Dichtung “ und mit dem Beispiel von Ulysses des Joyce dies vorweg genommen. Steigende Leistungen gibt es heute auf den Gebieten der darstellenden Künste und des Sports, aber nicht in den schöpferischen Künsten. Außerdem arbeitete ich an einem kleinen Buch über ausgesuchte Stellen aus dem Werk Goethes, das den Titel Esoterik bei Goethe trug und das ich dem Goethe-Verehrer und Esoteriker Ernst Schönwiese widmete. Es trug mir die Freundschaft des damaligen Präsidenten der deutschen Goethe-Gesellschaft und führenden Goethe-Experten Werner Keller ein. Im Jahr 1980 ging ich für ein Semester als Lehrstuhlvertreter für den gerade emeritierten Wilhelm Emrich an die Freie Universität Berlin. Es war damals mit rund achtzig Professoren die größte Germanistikabteilung der Welt. Freilich hatte sich diese Abteilung der erst 1948 durch amerikanische Hilfe unter dem Motto: „ veritas - justitia - libertas “ gegründeten Universität in den Jahren nach der Gründung sehr verändert. Durch die „ Revolution “ von 1968 war die Leitung allein in der Hand des sogenannten „ Fachbereichs “ , der aus je einem Drittel von Vertretern der Studenten, des „ Mittelbaus “ , also der Assistenten und Dozenten, und des „ Oberbaus “ , von Professoren, bestand. Auch im „ Oberbau “ hatten sich viele Vertreter auf die 68er-Doktrin eingelassen. Es gab vier politische Gruppen: zwei große kommunistische, eine ziemlich große sozialdemokratische und eine kleine, die nur aus sieben Professoren bestand, die sich Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft nannte und die amerikaorientiert war. Die erste 76 Im Empire Staat New York <?page no="91"?> kommunistische Gruppe trug saubere Anzüge, Krawatten und Anzüge und war ganz auf die DDR hin ausgerichtet. Die zweite Gruppe war abenteuerlich angezogen und ein Sammelsurium von Che-Guevara-Anhängern, Maoisten, Anarchisten, Fidel-Castro-Freunden und anderen. Meine Einladung war durch einen Trick gelungen. Da die erste Gruppe etwas zivilisierter aussah, versuchte ich mein Glück und lud einen von ihnen ein, mit mir die paar hundert Meter zur Mauer zu gehen, hinauf zu steigen, und den brandenden Verkehr in Westberlin mit dem fast toten Osten zu vergleichen. Ich traute meinen Ohren nicht, als er sagte: „ Wenn wir das in die Hand nehmen, wird es ganz anders sein. “ Ich hatte meine Tochter nach Berlin mitgenommen, damit sie ihr Deutsch verbessern könnte und der Direktor des nahen Arndt-Gymnasiums nahm sie freundlich in die ihr altersmäßig zustehende Klasse auf. An ihrem ersten Schultag hatte sie eine Biologiestunde und der Biologielehrer, der seine antiamerikanischen Vorurteile an ihr abreagieren wollte, verlangte, daß sie auch die Prüfung schreibe. Sogar Kinder der Klasse machten ihn darauf aufmerksam, daß sie neu war und den Stoff nicht kennen konnte, es half nichts. Er korrigierte mit preußischer Korrektheit und sie schrieb trotzdem immerhin ein Gut. Das gab mir den Glauben an das verachtete öffentliche Schulsystem in Amerika zurück. Meine wichtigste fachliche Begegnung war jene mit Wilhelm Emrich. Emrich hielt auch als Emeritus weiter eine Vorlesung und ein Seminar. Er war eine Berühmtheit, er hatte mit meiner Einladung nichts zu tun gehabt und wir begegneten einander durch Zufall. Ich lud ihn zu einem Glas Rotwein nach dem Abendessen ein. Dies war deshalb so geplant, weil ich tagsüber sehr beschäftigt war und am späten Abend meine Tochter bereits schlummerte. Da ich am selben Tag durch einen Zufall die ebenso intelligente wie charmante Frau Professor Nethersole traf, die mich bereits für 1981 nach Johannesburg eingeladen hatte, lud ich sie ebenso ein und sie erbot sich, guten südafrikanischen Rotwein mitzubringen. Sie kannte in Berlin eine Quelle dafür. Der südafrikanische, schwere Rotwein fand in Professor Emrich geradezu einen leidenschaftlichen Liebhaber, wir drei paßten gut zusammen und so folgten diesem Abend viele andere. Ich wußte nichts von Professor Emrichs Berührungen mit dem NS- Regime. Für mich war er berühmt, weil er als einer der ersten, wenn nicht überhaupt als erster nach 1945 Thomas Mann nach Deutschland eingeladen hatte. Vor allem seine Bücher über Kafka und über Faust II waren Grundlagenwerke. Ich war vor allem an seinen im Jahr 1953 geführten privaten Gesprächen mit Thomas Mann interessiert. Das Überraschendste, das ich zu hören bekam, war die Antwort auf Emrichs Frage, welche Person seinem Zauberberg seinem Herzen am nächsten stand. Es war nicht Settembrini, sondern Naphta. Emrich leitete gerade ein George-Seminar und fragte mich nach meiner Reaktion dazu. Ich glaubte, ihm etwas Neues bieten zu können, wenn ich ihn auf 77 Im Empire Staat New York <?page no="92"?> ein kleines Buch meines Lehrers Benda aufmerksam machte, das er im Jahr 1931 veröffentlicht hatte. Es hatte den Titel Die Bildung des Dritten Reiches. Und es waren Randbemerkungen zum gesellschaftsgeschichtlichen Sinnwandel des deutschen Humanismus. Darin hatte Benda Stefan George klar und eindeutig, mehr als ein Jahr vor Ernst Cassirers Mythos des Staates, als bewußten Schrittmacher für Hitler aufgezeigt. Benda hat damit gezeigt, daß Mythen nicht immer aus dem Fernen oder Unbewußten kommen, sondern planmäßig erzeugt werden können. Nach Benda entscheidet es sich aus der Bilderwelt der Mythen, ob das Paradigma der europäischen Aufklärung Bestand hat oder ob es kulturpessimistischen, autoritären und reaktionären Tendenzen zum Opfer fällt. Das gilt übrigens nicht nur für Hitler, sondern auch für Putins Mythos vom „ neuen Russland “ . Benda hielt den George-Kreis für den einflußreichsten und darum gefährlichsten Mythos-Produzenten der Zeit. Freilich hatte George selbst zwei Jahre später mit einem Fluch und einem Steinwurf Deutschland verlassen und war in die Schweiz gegangen. Manche Jünger Georges gingen ins Exil, manche gingen in den Krieg. Claus Schenk Graf von Stauffenberg war am Tag der Machtübernahme Hitlers 1933 als Jünger Georges stolz an der Spitze seiner Eskadron durch Bamberg geritten. Elf Jahre später legte er ins Führer-Hauptquartier eine Bombe für Hitler, weil er erkannt hatte, daß er der „ falsche Führer “ war. Ich hatte über Wunsch der Universität ein Oberseminar über deutsche Exilliteratur angekündigt. Als ich den mir zugewiesenen Seminarraum betrat, war er übervoll mit fast hundertfünfzig Studenten. Sie standen an den Wänden, sie saßen unter den Tischen, auch mein Sessel war besetzt. Es war mir klar, was sie erwarteten: Nichtssagende linksradikale Schlagworte und Geschimpfe. Ich schrieb mein Programm an die Tafel. Das Semester hatte sechszehn Wochen, für jede Woche einen anderen wichtigen Autor. Einen Kommunisten gab ich ihnen: Bert Brecht. Hätte es Protest gegeben, den ich erwartete, hätte ich ihn auch gestrichen. Dann gab ich einen gedrängten Überblick über die gegenwärtige Forschungslage und verlangte, daß jeder eine schriftliche Seminararbeit von zwanzig bis dreißig Seiten über einen dieser Autoren zu schreiben hatte. Als sie sahen, daß hier gearbeitet werden mußte, verschwanden sie fast so schnell, wie sie gekommen waren. Nach drei Wochen gab es nur noch fünfzig Studenten, die im Seminar blieben. Eine amerikanische Kollegin, die man als Barockexpertin für ein Semester geholt hatte, berichtete mir von einem seltsamen Telefonanruf, den sie eines Morgens erhalten hatte. Eine Männerstimme sagte nur: „ This is Moscow speaking. Happy day of revolution! “ Nach einigem Nachdenken wurde ihr klar, daß es der Tag der Oktoberrevolution war. Es gab aber auch viele positive Erlebnisse. Ein Kollege kannte eine Familie, die einen Sohn im Alter meiner Tochter hatte und die sie jedes Wochenende einlud, um mit einem Gleichaltrigen zu verkehren. 78 Im Empire Staat New York <?page no="93"?> Besonders wohl fühlte ich mich in dem kleinen Kreis der „ Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft “ . Joachim Wohlleben und Alfred Behrmann schrieben noch 1987 Beiträge zu meiner zweiten Festschrift. Einmal hörte ich aus Neugierde die Probevorlesung an, die einer der Kandidaten hielt, der sich um Emrichs Lehrstuhl beworben hatte. Beim Weggehen traf ich auf Wohlleben, der mich nach meinem Urteil fragte. Da der Vortragende die halbe Zeit damit zugebracht hatte, einen Hymnus auf Georg Lukács zu zelebrieren, war mein Urteil recht abfällig. Ich sagte, das sei wohl nicht das, was sie gerade jetzt und hier besonders dringend brauchten. Wohlleben meinte, ich sei derjenige hier, der das mit Erfolg vorbringen könnte. Aber es widerstrebte mir, mich ungefragt vorzudrängen und einzumischen. Die Studenten hatten damals die Wahl zwischen drei Möglichkeiten, den Prüfungsteil des „ alten Teils “ abzulegen: 1. eine bestimmte Anzahl von alten Werken in althochdeutscher und mittelhochdeutscher Sprache zu lesen, 2. die gleiche Anzahl von Werken in neuhochdeutschen Übersetzungen zu lesen oder 3. gar keine mittelalterliche Literatur zu lesen, sondern Bücher über den deutschen Bauernkrieg und andere „ revolutionäre “ Geschehnisse. Sehr gerne erinnere ich mich an einen sonntäglichen Besuch mit meiner Tochter in dem schönen Zoo. Sie war und ist bis heute nämlich eine große Tierliebhaberin. Das Jahr 1981 stand vor allem im Zeichen meiner Einladung als Gastprofessor nach Johannesburg. Nethersole hatte durch meine Bücher und eine Kongreßbekanntschaft solches Interesse in mich entwickelt, daß sie auch einverstanden war, als ich sie fragte, ob ich denn meine Tochter mitbringen dürfte, damit sie Südafrika kennenlernen könnte. Meine Tochter wieder hatte so viele schlechte Erfahrungen mit ihrem Vater, daß er in Arbeit vertieft und unzugänglich war, daß sie in kluger Voraussicht forderte, nur wenn eine Art junger Spielgenossin mitkäme, käme sie auch mit. Nun kannte ich ihre Klassenkameraden gar nicht und konnte mich nicht erkundigen. Aber eine junge Undergraduate-Studentin von mir, die mich sehr verehrte, die Tochter eines Arztehepaars, war bereit mitzukommen. Die Eltern mußten nur den Flug bezahlen. Ich traf also mit zwei jungen Damen auf dem Flugplatz in Johannesburg ein. Ursprünglich war geplant gewesen, daß ich mit meiner Tochter als Gast in der großen Wohnung von Familie Nethersole aufgenommen werden sollte. Jetzt, da sie eine Gefährtin mitbrachte, gingen die beiden Mädchen zur Familie Nethersole und ich erhielt eine Wohnung in einem eigenartigen Hotel, das nicht Zimmer, sondern ganze Wohnungen vermietete. Jeden Vormittag, wenn ich in der Universität war, erschienen acht bis zehn schwarze Damen, machten gemeinsam notdürftig das Bett und hielten darauf ein dreibis vierstündiges Palaver, worauf sie wieder verschwanden. Professor Nethersole hatte sogar 79 Im Empire Staat New York <?page no="94"?> durchgesetzt, daß mir die Universität auch ein Auto zur Verfügung stellte, damit ich das Land kennenlernen konnte. Dazu gab es auch noch eine Überraschung. Seit dem Weltkongreß in Princeton war ich mit dem Oberösterreicher Karl Tober befreundet. Zusammen mit Peter Stern hatten wir unter Tobers Leitung einen Briten als Präsidenten der germanistischen Weltorganisation durchgesetzt. Es war um fachliche und nicht um nationale Probleme gegangen. Das einzig „ Britische “ an Karl Tober war, daß seine Universität eine britische und keine „ afrikaanische “ (burische) war, und zwar die bedeutendste des Landes. Tober erfuhr erst in Johannesburg, daß ich kam, als er als Vizekanzler oder Vizeprovost, der die Universität managte, mein Ernennungsdekret zu unterschreiben hatte. Wir waren eine Woche zu früh angereist, weil Professor Nethersole für uns als Auftakt eine Fahrt im berühmten „ Blue Train “ organisiert hatte. Saschas Gefährtin brachte vorsorglich einen Fotoapparat mit. Der „ Blue Train “ durchquert in ununterbrochener, mehrtägiger Fahrt das ganze Land von Johannesburg bis Kapstadt, sodaß man von den Fenstern aus die verschiedenen Landschaften, die wechselnde Flora und Fauna sehen konnte. Schon am ersten Tag sahen wir eine Nashornherde, laufende Giraffen und Zebras. Ich reiste mit drei Damen, denn Frau Professor Nethersole, die Gastgeberin, hatte es sich nicht nehmen lassen, auch mitzufahren. Wir hatten das Drittel eines Salonwagens mit mehreren Räumen, einem riesigen Kühlschrank und einem eigenen Stewart zur Verfügung, der uns kulinarisch auf das Herrlichtste verwöhnte. Aus Kapstadt flogen wir in mehreren Stunden wieder zurück nach Johannesburg. Das Auto leistete hervorragende Dienste. Einmal fuhr ich mit den beiden jungen Damen zu den Goldgruben, einmal zu den Diamantenfeldern, einmal zu einer Groß-Winzer-Firma, die den herrlichen schweren Rotwein erzeugte. Der Höhepunkt war eine Viertagesreise, auf der uns wiederum Frau Professor Nethersole als Cicerone begleitete in den sagenhaft großartigen Krüger-Nationalpark. Das war ein von Menschen völlig unbewohnter Naturpark des Urwalds von der Größe etwa Dänemarks mit einigen in allen Teilen des Parks befestigten Blockhaus-Siedlungen für Touristen. Wir konnten die unwahrscheinlichsten Tiere auf freier Wildbahn beobachten. Zum Leidwesen meiner Tochter bekamen wir aber keinen Löwen zu Gesicht. Einmal kamen wir an einem „ Lions kill “ vorbei, wo ein Löwe ein Tier geschlagen und Teile davon verspeist hatte. Als wir vorbei kamen, war der Rest bereits von Hyänen und Geiern übernommen worden. Nach Soweto, das war der schwarze Teil von Johannesburg durch ein Stück Niemandsland getrennt und eine einzige Straße verbunden, ging ich allein. Es war für Weiße genau so streng verboten in den weißen Teil zu gehen wie umgekehrt. Hätte mich wirklich ein Polizist angehalten, hätte ich meinen 80 Im Empire Staat New York <?page no="95"?> amerikanischen Paß gezückt und argumentiert, ich hätte angenommen, mein Reisepaß wäre doch wohl für das ganze Land gültig und nicht nur Teile davon. Ich hatte aber keinen weißen Polizisten zu Gesicht bekommen. Es war überraschend für mich, daß ich außer dem sehr großen Elendsteil auch gute Einfamilienhäuser sah. Am meisten verwundert war ich, inmitten von Soweto ein großes, stattliches und sehr gut erhaltenes, einstöckiges Gebäude zu finden. Auf meine Frage erfuhr ich, daß es eine „ Pädagogische Hochschule “ war. Noch neugieriger ging ich hinein und als ich einen der Professoren ansprach und er herausfand, daß ich aus Amerika kam, fragte er mich, ob er mich zum Direktor führen sollte. Der begrüßte mich sehr herzlich und erklärte mir, diese Schule werde von der Anglo-American Society finanziert, der fast alle Goldgruben und Diamantenfelder gehörten und die schwarze Facharbeiter dringend benötigten, die wiederum Schulen mit Lehrern brauchten. Dann fragte er mich, ob er mich in eine der Klassen führen dürfte, um Fragen über Amerika zu beantworten. Leichtsinnig sagte ich: „ natürlich “ . In der Klasse erfuhr ich, daß sie wohl wußten, daß es auch in Amerika ein Rassenproblem gab, daß Amerika aber trotzdem das gelobte Land war, weil die Schwarzen volle Bürgerrechte besaßen. Ich erfuhr auch, daß die Studenten dieser Schule keinerlei Minderwertigkeitskomplexe hatten, sondern stolz drauf waren, schwarz zu sein. Die ersten zwei oder drei Fragen waren harmlos, aber dann kam eine, die schon schwierig für mich war. Sie lautete: „ In einem weißen Staat, dem Staat Hitlers ist die jüdische Minderheit einfach ermordet worden und es gab nur Willkür und kein Recht. Ob ich zustimme, daß so etwas in einem rein schwarzen Staat unmöglich sei. Zum Glück fiel mir Idi Amin ein. Eine Reihe weiterer, neutraler Fragen über Amerika waren leicht zu beantworten. Aber dann kam eine besonders schwierige und der Direktor, der sehr wohl verstand, daß ich das Gegenteil eines Rassisten war, rettete mich, indem er erklärte, dafür sei keine Zeit mehr. Für einige Jahre hatte es ein erfindungsreicher, armer Schwarzer verstanden, aus der Apartheidpolitik Vorteile zu ziehen. Auf der einzigen Straße die den weißen Teil mit dem schwarzen verband, stand ein großer, gemauerter Torbogen, in dem auch eine Art Pförtnerhäuschen Platz gefunden hatte. Der Schwarze setzte sich da hinein und kassierte von jedem Auto, das durchfuhr, eine Kleinigkeit ab. Die weißen Behörden glaubten, die schwarzen Behörden hätten ihn hingesetzt, die schwarzen Behörden glaubten, die weißen hätten ihn da hingesetzt. Nur seine Erfindungsgabe hatte ihn hingesetzt und er tat mir leid, als er entdeckt wurde. Besonders tief beeindruckt war ich aber, als ich erfuhr, was Karl Tober alles für die Universität und für das Land geleistet hatte. Die wenigen Zeilen über diese Begegnung sollen ein Gedenkstein für ihn sein. 81 Im Empire Staat New York <?page no="96"?> Karl hatte ein schönes Haus und einen schönen Garten. Das Haus war infolge der wahnsinnigen Apartheid-Gesetzgebung in zwei Teile geteilt. Der große Teil wurde von Karl und seiner Gattin bewohnt, der kleinere von seiner ebenso tüchtigen wie jungen und schönen schwarzen Haushälterin und Köchin. Die Tobers durften den schwarzen Teil des Hauses überhaupt nicht betreten, die Haushälterin den „ weißen Teil “ nur für ihre Dienstleistungen. Mitunter, wenn ich mit Professor Nethersole die Küste entlang fuhr, deutete sie auf eine Insel draußen und sagte: „ Aus dem Gefängnis da draußen wird unser nächster Präsident kommen. “ Mandela kam tatsächlich aus diesem Gefängnis. Bei den Tobers verhielt es sich allerdings so, daß sie selbst, bescheiden, nur billiges Obst der Jahreszeit entsprechend aßen, in der es geerntet wurde, während die Haushälterin fast nur „ Luxusobst “ aß, das nicht der Jahreszeit entsprach und überhaupt ein Leben führte, das mit dem einer „ schwarzen Sklavin “ nichts gemein hatte. Karl erzählte mir, daß es im Land zweierlei Universitäten gab: „ Afrikaans Universities “ , das heißt von den Buren gegründete und verwaltete Universitäten, und liberale „ British Universities “ . Tobers Universität, die „ University of the Witswatersrand “ war nicht nur britisch, sondern war die von allen anderen unerreichte Universität. Aber das allein war es gar nicht. Die Apartheid-Regierung hatte für einzelne, besondere Ausnahmefälle die Erlaubnis eingeräumt, daß schwarze Studenten oder Mischlinge für weiße Universitäten zugelassen werden konnten. In der Praxis wurde das dadurch sehr erschwert, daß in solchen Fällen von der jeweiligen Universität ein Akt angelegt werden mußte, in dem der Fall und die zugelassenen Gründe der Besonderheit nicht nur dargelegt, sondern auch durch amtliche Bestätigungen bewiesen werden mußten. Die University of the Witwatersrand hatte fünfzehntausend Studenten und darunter waren nicht weniger als tausend schwarze Studenten und Mischlinge. Diese Riesenzahl von Ausnahmen hatte Karl Tober durchgesetzt. Er hatte die Südafrikanische Germanistenvereinigung gegründet und hatte auch auf hohem Niveau eine wissenschaftliche Zeitschrift Südafrikas ins Leben gerufen, die Acta Germanica. Aber dies war noch nicht alles. Kurze Zeit nach meinem Gastspiel in Johannesburg unterzeichnete er gemeinsam mit vier Amtskollegen der wichtigsten Universitäten (Natal, Western Cape, Rhodes und Capetown), die sich als „ offene Universitäten “ deklarierten, eine öffentliche Erklärung, welche die Einstufung jeder kritischen akademischen Diskussion als „ subversiv “ sowie die willkürliche Verhaftung von Studenten zurückwies. Erst die verzögerte Zuerkennung grundlegender politischer und bürgerlicher Rechte an die Bevölkerungsmehrheit hatte die gegenwärtige Krise, inklusive von Gewalt und Unruhe herbeigeführt. 82 Im Empire Staat New York <?page no="97"?> Von der Regierung forderten die Unterzeichneten die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Freilassung oder gerichtliche Anklage aller Verhafteten, die Aufhebung der Zensur sowie die Aufnahme von Verhandlungen über die Reform des schwarzen Bildungswesens. Sie bekannten sich nachdrücklich zur Demokratie, akademischer Freiheit sowie Versammlungs- und Redefreiheit und zur Rechtsstaatlichkeit. Die Südafrikanischen Sechs erinnerten mich an die berühmten „ Göttinger Sieben “ . Aber auch das war noch nicht alles. Karl Tober war der eigentliche Gründer des „ Österreichischen Balls “ in Johannesburg, der eine gewisse Auflockerung des gesellschaftlichen Lebens mit sich brachte. Der erste dieser Bälle wurde vom Österreichischen Botschafter, offenbar einem Gesinnungsgenossen Karls mit dem schönen Satz eröffnet: „ Die Welt blickt mit Pessimismus in die Zukunft, wir Österreicher blicken mit Optimismus in die Vergangenheit. “ Ob er wirklich nur die alte, große Wiener Ballsaison in der Monarchie meinte? Fünfunddreißig Jahre nach meinem Johannesburger Auftritt schrieb ich in meiner kleinen Wiener Wohnung diese Zeilen und fragte mich, ob es den nur ein Jahr jüngeren Karl Tober wohl noch gäbe. Ich fand eine Telefonnummer in seinem heimatlichen Attnang-Puchheim. Ich rief an und als er sich mit einem „ Ja? “ meldete, fragte ich nicht sehr geistreich: „ Bist Du es Karl? “ Als er mit unveränderter, alter Stimme „ Ja “ sagte, war ich unendlich glücklich. Verglichen mit den gegensätzlichen Eindrücken von Johannesburg waren die Eindrücke meines Augsburgers Gastspiels von gemütlicher Ruhe und einer ungewöhnlich angenehmen Atmosphäre geprägt. Der wissenschaftlich einfach großartige und menschlich so sympathische und hilfsbereite Professor Helmut Koopmann, der mich eingeladen hatte, machte mir das Ganze zu einem kleinen Paradies, das ich in vollen Zügen genoß. Dazu kam noch, daß das schwäbische Augsburg noch im Bundesstaat Bayern lag und die Bayern im Gegensatz zu den Berlinern klug genug gewesen waren, vor den 68er-Schwachköpfen nicht in die Knie zu gehen. Ich kam in eine heile Welt. Ganz abgesehen von dem Glück mit Koopmann, bereitete mir mein Lieblingsrestaurant „ Zu den sieben Schwaben, “ die reizende Assistentin, die mir Koopmann zugewiesen hatte und die mich liebte, weil ich ihre oft mehrtägigen Reisen zu ihrem Verlobten nach Italien unterstützte, sowie die schöne Wohnung in einem modernen Hochhaus, der ursprünglich ein Holiday Inn gewesen war, ein sagenhaft angenehmes Leben. Mein Wohnungsnachbar im Hochhaus, den ich im Lift kennen lernte, war ein amerikanischer Major und Kommandant, der in Augsburg stationierten Einheit, der mich mitunter zu einem Glas schottischem Malt Whisky einlud. Einmal ist er illegal nach Ostdeutschland gefahren, hatte in der Nacht in einer Kaserne die ostdeutsche Kriegsflagge vom Fahnenmast geholt, die er sich um den Leib band, um sie zurück zu bringen. Hier verwendete er sie häufig als Tischtuch. 83 Im Empire Staat New York <?page no="98"?> Die außerordentlich gebildete Gattin Koopmanns saß in meiner Musil- Vorlesung. Sie war zwar anfangs ein wenig enttäuscht, weil ich mich zu lange mit dem frühen Musil aufgehalten hatte, aber schon die erste Vorlesung über den Mann ohne Eigenschaften brach das Eis. Es war eine detaillierte Interpretation des ersten Kapitels „ Woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht “ , welche Zusammenhänge aufzeigte, die man bisher nirgends lesen hatte können. In meinem abendlichen Hauptseminar über Exilliteratur saß ein älterer Herr, der sich als Kommunist erwies, der durchaus nicht unsympathisch und dazu noch höflich war. Verglichen mit den Rowdies meiner Berliner Zeit eine wahre Lichtgestalt. Ich bemerkte während meines Vortrags sein häufiges Kopfschütteln, doch wartete er meiner Bitte gemäß mit seinen Fragen und seiner Kritik bis ich fertig war. Ich schloß früher als geplant, um ja genügend Zeit zum Beantworten und zum Erklären zu haben. Im Interesse der Lehrveranstaltung war er eine wirkliche Hilfe, denn durch den Widerspruch und die darauf folgende Erklärung und Lösung sank der Stoff schneller und tiefer ein als durch einen reinen Vortrag. Am zweiten Abend war die Fragenliste so lang wie am ersten Abend. Am dritten Abend war sie etwas kürzer und am siebenten und achten Abend war sie ganz kurz und verschwand schließlich ganz. Die ungewöhnlich angenehme Atmosphäre hing zweifellos auch mit der großartigen Persönlichkeit von Professor Koopmann zusammen, an den ich oft dankbar zurück denke. Eine Überraschung war 1981 die Einladung zu einem Vortrag an der Universität Frankfurt. Denn damals galt Frankfurt zumal in der Germanistik als eines der Zentren der ultralinken 68er-Bewegung, die jegliche Freizügigkeit unterband und ich war ein besonders bekannter und ungeliebter Gegner dieser Burschen. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich den Namen des einladenden Professors nicht kannte. Der Vortrag sollte in einer seiner normalen Vorlesungsstunden stattfinden. Ich kam rechtzeitig an, suchte zwischen einigen von den Studentenkrawallen leicht zerstörten und mit den üblichen Sprüchen bemalten Gebäuden meinen Weg zum Hörsaal, in dem ich sprechen sollte. Professor Ernst Erich Noth begrüßte mich herzlich. Der Raum war alles andere als überfüllt, aber immerhin halb voll. Die Studenten hörten nicht nur höflich zu, sondern nach der einen oder anderen schlagwortartigen These gegen die 68er gab es sogar mäßigen Applaus. Das Beste kam aber nach dem Vortrag. Zuerst lud mich Professor Noth zum Mittagessen ein. Er beschämte mich dadurch, daß er etliche meiner Bücher kannte. Er klagte über seine Isolation in der jetzigen Lage und erklärte mir, wieso er nach Frankfurt gekommen war. Der junge Ernst Erich Noth hatte im Jahr 1933 seine Doktorarbeit eingereicht, die approbiert worden war. Wegen seiner feindlichen Haltung gegen Hitler hatten jedoch die neuen nationalsozialistischen Machthaber verboten, daß er zur mündlichen Prüfung antreten dürfe. Als er 84 Im Empire Staat New York <?page no="99"?> 1970 aus Frankreich in die Bundesrepublik zurückgekehrt war, machte die Goethe-Universität Frankfurt das alte Unrecht gut, verlieh ihm den Doktortitel und gab ihm eine Honorarprofessur. Er lud mich ein, wenn ich Zeit hätte, das Wochenende als sein Gast bei ihm zu verbringen. Ich hatte bereits genug Interessantes erfahren, sodaß ich mit Freude und Dankbarkeit die Einladung annahm. Ich habe an diesem Wochenende viel Neues gelernt. Da er bis 1940 Herausgeber der Zeitschrift Cahiers du Sud war, erfuhr ich interessante Details über die besondere kulturelle Sonderstellung des französischen Südens. In den Jahren 1939 und 1940 war er wie fast alle Flüchtlinge vor Hitler in Frankreich in Lagern interniert gewesen. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen lebte er im Untergrund, bis es ihm mit privater amerikanischer Hilfe gelang, in die USA zu emigrieren. Damit begann für ihn plötzlich die Zeit der Entfaltung seiner Möglichkeiten. Von 1942 bis 1948 war er Leiter des deutschsprachigen Rundfunkprogramms der National Broadcasting Company. Vor allem aber war er in den Kriegsjahren Mitglied der amerikanischen Abwehr und einer Gruppe zugeteilt, die der Entwicklung der deutschen Geheimwaffen nachging. Als er amerikanischer Bürger wurde, nahm er seinen Schriftstellernamen Ernst Erich Noth als wirklichen Namen an. Nach dem Krieg lehrte er an amerikanischen Universitäten und gründete die damals weit verbreitete, sehr gute Zeitschrift Books abroad. Als 1982 sein Buch Weg ohne Rückkehr erschien, schrieb ich in der kleinen Zeitschrift Exil eine hymnische Besprechung darüber. Ein Jahr nach seinem Tod zitierte ich im Frankreich-Kapitel meines Buches über österreichische Exilliteratur die Darstellung Frankreichs der Jahre 1939/ 40 von Ernst Erich Noth als vorbildlich richtig. Mit einer Pechsträhne begann mein Geschick als österreichischer Delegierter beim Internationalen PEN-Kongreß in Lyon. Der Generalsekretär des Österreichischen PEN hatte mich benachrichtigt, ich möge ruhig nach Lyon fliegen, ich würde an der Rezeption des Hotels einen Umschlag mit meinem Beglaubigungsschreiben und meinen Direktiven finden. Ich flog nach Lyon, fand meinen Weg zum Kongreßhotel und fand nicht nur heraus, daß kein Briefumschlag aus Wien für mich eingelangt war, sondern daß das Kongreßhotel keine Kreditkarten, sondern nur Cash akzeptierte. Ich setzte mich auf eine gepolsterte Bank in der Rezeption und musterte die laufend eintreffenden Delegierten. Ich besaß eine Fünfdollarnote. Wenn einer kam, der so aussah, daß er einem wildfremdem Menschen etliche hundert Dollar borgen würde, wollte ich ihn auf einen Drink für meine fünf Dollar einladen und sodann meine Bitte vorbringen. Ich hatte Glück. Als ein hochgewachsener Mann mit amerikanischem Anzug und Selbstbewußtsein seinen Zimmerschlüssel erhalten hatte, hielt ich ihn an. Er nahm nicht nur an, sondern entnahm nach dem Drink ohne Umstände aus 85 Im Empire Staat New York <?page no="100"?> seiner Brieftasche sechs Einhundert-Dollarnoten und gab sie mir. Er hieß Jascha Kessler und lehrte „ Lyrik “ -Schreiben am Los Angeles Campus der University of California. Er war ein Freund des Nobelpreisträgers Saul Bellow und nicht weniger stockkonservativ wie dieser. Beim Mittagessen erzählte er mir, er sei aus Los Angeles zuerst nach Paris geflogen und sei mitten unter einem Dutzend ausgesucht hübscher Mädchen gesessen. Es waren Modelle von Dior, die zu einer Modenschau in Los Angeles gewesen waren. Er hatte den Flug benutzt, um die Namen und Telefonnummern der zwei nettesten aufzuschreiben. Da nur die ersten drei Tage des Kongresses in Lyon stattfinden würden, die zweite Hälfte aber in Paris, würden wir an einem Abend eine Modenschau besuchen und anschließend mit zwei hübschen Modellen ausgehen. Da ich ein Pflichtmensch war, ließ ich nicht nur keine Minute der Sitzungen aus, sondern verwendete auch die Abende sehr überlegt und planmäßig mit Delegierten, um meine Anliegen zu betreiben. Es hatte sich ergeben, daß der Kongreß in Frankreich voll von Überraschungen und Aufgaben war, sodaß ich vier Nächte nur wenige Stunden Schlaf fand. Am Vormittag des ersten Kongreßtages war ich vor dem Hauptsitzungssaal gesessen, da das Beglaubigungsschreiben noch immer nicht da war und hatte gerade im Geist den österreichischen Generalsekretär mit einigen unschönen Namen belegt, als eine vornehme, ältere britische Dame auftauchte, die mich fragte, weshalb ich hier draußen sitze. Wir mochten einander und da sich herausstellte, daß sie im Londoner PEN-Zentrum eine wesentliche Rolle spielte, war ich plötzlich glücklich, dort gesessen zu sein und es ergaben sich während des Kongresses zusätzliche Gespräche und Verbindungen. Am vorletzten Abend verließ ich mit Jascha das Hotel, um zu einer Modenschau zu gehen. Er hatte alles organisiert. Die beiden jungen Damen erwiesen sich nicht nur als besonders hübsch, sondern auch als besonders freundlich und herzlich. Sie hatten für uns die Plätze in der ersten Reihe, direkt am Laufsteg und bei der Wende reserviert. Da ich todmüde war, half mein ernsthafter Kampf gegen den Schlaf nicht, sondern ich fiel sofort in tiefen Schlaf. Das hatte unerwartete Folgen. Zuerst war der schnarchende alte Professor nur eine kleine Sensation für die Modelle. Dann aber begannen sich auch Leute aus dem Publikum für den ungewöhnlichen Schnarchenden zu interessieren. Die Modelle begannen es als heiter zu empfinden. Sie hatten sich winzige Löcher in den Vorhang geschnitten, der sie vom Publikum trennte, durch die sie sowohl die Kolleginnen wie das Publikum betrachteten. Zuletzt blickten alle lachend auf mich. Nachdem Jascha zwei Mal vergeblich mich wach zu rütteln versucht hatte, legte er in seinem unzerstörbaren Humor seinen Arm liebevoll um mich. Als die Schau vorbei war, erwies ich mich als ausgeschlafen und wir gingen mit unseren beiden Modellen zuerst in ein ruhiges Kaffeehaus. Das war den 86 Im Empire Staat New York <?page no="101"?> Modellen auch lieber als eine Bar mit ihren künstlichen Aufpeitschmethoden. Das eine der beiden Modelle, das sich um mich angenommen hatte, erzählte uns, daß sie religiös-buddhistisch interessiert sei. Sie kannte einen „ Meister “ , der es bis jetzt aber abgelehnt hatte, sie als Schülerin anzunehmen, weil sie ein Modell war und er ihr keine wirklich ernsten religiösen Interessen zutraute. Da war der Schnarchende plötzlich besonders hell aufgewacht. Sie tat mir leid, weil ich spürte, daß ihre Interessen ernst waren. Ich besprach mit ihr die wahrscheinlich wichtigsten Fragen des Meisters beim unmittelbar bevorstehenden Gespräch. Jascha und die andere junge Dame hörten verblüfft, aber interessiert zu, was in dem Schnarchenden steckte. Sie verließ uns dann und wir gingen zu dritt in ein kleines, ruhiges, aber ausgezeichnetes Restaurant, das Jascha entdeckt hatte. Und Jascha war für die nächsten Weltkongresse ein verläßlicher Freund geworden. Im Jahr 1983 war ich vom Senat der Stadt Bremen eingeladen worden, zur offiziellen großen Feier des 85. Geburtstages des Dichters Manfred Hausmann einen Vortrag zu halten. Mein Vortrag war einer meiner großen Erfolge. Die anwesende neue Besitzerin seines Verlages, des S. Fischer Verlages, sagte mir, die wolle den Vortrag drucken, aber aus einer dummen, arroganten Stimmung heraus erklärte ich patzig: „ Alle meine Vorträge werden gedruckt. “ Er wurde auch tatsächlich zwei Mal gedruckt, das erste Mal in der Zeitschrift der Humboldt- Gesellschaft und das zweite Mal in dem Buch mit der Auswahl meiner Festansprachen. Überglücklich war ich, daß Hausmann selbst überglücklich und tief beeindruckt war. Er lud mich ein, nach der „ offiziellen “ Feier mit ihm in sein Haus zu kommen, wo für einen ganz kleinen Kreis die „ wirkliche Feier “ stattfinden sollte. Außer mir war als Außenstehender auch ein Pianist aus Amerika eingeladen worden, der für den Musikfreund Hausmann spielen sollte. Hausmann wurde ein zweites Mal tief beeindruckt, denn als er den Pianisten fragte, was er spielen wollte, drehte dieser die Frage um und fragte ihn, was er hören wollte. Hausmann wünschte sich eine bestimmte Beethoven-Sonate und der Pianist setzte sich hin und spielte sie auswendig. Und so ging es weiter. Das Haus des Dichters lag übrigens unmittelbar am Ufer der Weser zwischen Bremen und Bremerhaven und wir konnten die großen beleuchteten Schiffe am Riesenfenster seines Wohnzimmers vorbei fahren sehen. Drei Wochen nachdem ich heimgekehrt war, erhielt ich von Hausmann als Dankgeschenk überraschend die neue zwanzigbändige Gesamtausgabe seiner Werke und auf dem Blatt gegenüber der Titelseite des ersten Bandes hatte er handschriftlich ein Gedicht für mich eingeschrieben. Ich glaube, daß es auch 1983 war, als ich als Gastprofessor an die Universität Parma ging. Die energische und tüchtige Professor Maria Enrica d ’ Agostini hatte mich eingeladen. Als ich am festgesetzten Tag zur festgesetzten Zeit mit einem großen Koffer in Parma eintraf, stellte sich heraus, daß man noch keine Wohnung für mich hatte. Es gab aber einen deutschen DAAD-Lektor, der 87 Im Empire Staat New York <?page no="102"?> eine große Wohnung besaß und den Professor d ’ Agostini überredet hatte, mich für kurze Zeit aufzunehmen, bis eine Wohnung gefunden war. Ich erhielt eine Adresse, ein Taxi wurde gerufen und ich fuhr hin. Als er die Tür öffnete, erblickte ich eine Gestalt, die mich an die Fahndungsbilder der Baader-Meinhof-Gruppe erinnerte. Er zog aber keine Pistole, sondern war sehr freundlich und räumte mir gleich zu Beginn den großen Wohnzimmertisch als Schreibtisch ein. Er saß in einer Ecke des Zimmers an seinem Schreibtisch. Mir wurde klar, daß ich kurze Zeit eine Don-Camillo- und Peppone-Rolle zu spielen hatte. Es stellte sich rasch heraus, daß seine Weltanschauung seinem Äußeren entsprach und daß er wußte, daß er einen bösen Reaktionär vor sich hatte. Wir nahmen es beide mit Humor und mehr zum Spaß als im Ernst ließ er mitunter einen seiner revolutionären Sprüche los und ich konterte mit einem meiner Sprüche. Da ich auch sein Telefon benützen durfte, erhielt ich nach wenigen Tagen einen Anruf des Chefs der Germanistik der altehrwürdigen Universität Bologna. Ich wußte, daß Parma eine Ausnahme war und daß die weitaus meisten Germanistikinstitute sowohl in Oberals auch in Mittelitalien in kommunistischen Händen waren. Der Kollege aus Bologna begann mit der Einladung: „ Herr Strelka, ich habe gerade gehört, daß Sie in Italien sind. Ich möchte Sie mit zwei Vorträgen zu uns nach Bologna einladen. “ „ Es ist mir eine Ehre. “ „ Sie sind ein bekannter Heine- Fachmann. Wir möchten einen Heine- und einen Karl-Kraus-Vortrag. “ „ Heine ist einer der Autoren, über den ich mein ganzes Leben noch nie gearbeitet habe. “ „ Keine falsche Bescheidenheit, Herr Strelka. Bitte um einen Heine- und einen Karl-Kraus-Vortrag. “ Mir kam ein sehr unhöflicher, aber lustiger Gedanke. „ Also gut. Ich brauche aber drei Wochen zur Vorbereitung. “ „ In genau drei Wochen also. Vielen Dank! “ Ich hatte wirklich noch nie über Heine geschrieben, aber ich kannte Heine ein wenig. Ich würde über Deutschland. Ein Wintermärchen sprechen und die Bologneser Kommunisten wütend machen. Mein Zimmergenosse hatte alles mitgehört. Ich machte auch aus meinem Herzen keine Mördergrube. Mitunter, wenn mir beim Schreiben eine hübsche Formulierung für Bologna eingefallen war, las ich sie ihm laut vor und versuchte, nicht in Lachen auszubrechen. Ich wurde freundlich von acht oder neun Kollegen, auch dem einladenden, empfangen. Zuerst war der Karl-Kraus-Vortrag an der Reihe. Ich wurde in einen drei Viertel vollen Hörsaal geführt und sprach über Kraus. Dann ging es in ein Restaurant und es gab ein hervorragendes Mittagessen mit großartigen Weinen. Nach dem Kaffee wurde mir diskret ein Briefumschlag zugeschoben. Ich schaute hinein. Es war das Honorar für zwei Vorträge. „ Und wo ist jetzt der Heine- Vortrag? “ „ Welcher Heine-Vortrag? “ 88 Im Empire Staat New York <?page no="103"?> Mein Baader-Meinhof-Zimmergenosse hatte es nicht lassen können, seine Bologneser Gesinnungsgenossen zu warnen und nicht ich hatte sie überlistet, sondern sie hatten mich auflaufen lassen. Das konnte ich nicht auf sich beruhen lassen. Nach einigem Nachdenken, veröffentlichte ich meinen Vortrag als Einleitung des Textes von Heines Deutschland. Ein Wintermärchen als Insel- Taschenbuch und als er erschienen war, schickte ich ein Widmungsexemplar an die Germanistikabteilung von Bologna, daß der kleine Band „ ihm seine Existenz verdankte “ . Professor d ’ Agostini war eine ehrgeizige Dame, die so viel wie möglich für ihre Universität leisten wollte. Darum wollte sie auch meine Gastrolle besonders ausnützen und ersuchte mich, zusätzlich zu den abgemachten Vorlesungen auch noch einen großen, allgemeinen Vortrag zu halten, zu dem alle Lehrer und alle Studenten eingeladen wurden. Da aber wesentlich mehr englisch als deutsch verstanden, sollte ich den Vortrag englisch halten. Seit ich mit fünfzehn Jahren Dante für mich entdeckt hatte und seit außerdem mein Lehrer Benda mehrere Monate nur über Dante gelesen hatte, war er mir ein besonderes Anliegen. Daher schien mir der größte italienische Dichter ein würdiges Thema für meinen „ großen Vortrag “ . Nach dem Vortrag kam ein vornehmer Mann zu mir, der in der ersten Reihe gesessen war. Er stellte sich vor als der leitende akademische Beamte der ganzen Universität und ersuchte mich, ihn am nächsten Vormittag in seinem Büro zu besuchen. Er empfing mich sehr freundlich und erkundigte sich zuerst, wie ich zu Dante gekommen war und wie ich solche Detailkenntnisse erworben hatte. Dann aber sprach er und fragte noch viel mehr über amerikanische Politik. Er fand, daß Präsident Reagan in Europa viel zu sehr unterschätzt sei. Als ich nicht nur zustimmte, sondern mich als „ Reaganite “ bekannte und ihm einige für ihn neue Einzelheiten über Reagan erzählte, geriet er in richtige Begeisterung. Zum Abschied sagte er: „ Ich werde Ihnen den Verdienstorden unserer Universität verleihen. Er existiert seit fünfhundert Jahren und Sie werden der dritte Ausländer sein, der ihn erhält. Es wird zwei bis drei Wochen dauern, weil er erst für Sie graviert werden muß. “ Die Verleihung war ein großer Festakt. Es gab eine Musikkapelle und ein Carabinieri-Aufgebot zu meinem Schutz. Der Mann, der mir den Orden verliehen hatte, sprach und natürlich hielt auch ich eine längere Dankesansprache, in der ich berichtete, wie ich Dante für mich entdeckt hatte, und in der auch Ronny Reagan nicht zu kurz kam. Die größte Freude für mich bei der Zeremonie aber war, daß mein alter Baader-Meinhof-Wohngenosse kam, rasiert, mit weißem Hemd, Krawatte und einem Anzug. Ich stürzte förmlich auf ihn los, um ihm die Hand zu schütteln und ich konnte sehen, wie sehr das auch ihn freute. 89 Im Empire Staat New York <?page no="104"?> Zu den schönsten Erinnerungen für mich in Parma gehört auch die Begegnung mit einigen Familien, welche praktisch die ganze Wirtschaft von Parma in Händen halten. Es ist eigentlich eine Habsburger-Geschichte. Ein Herzogtum Parma gab es seit 1545. Mitunter ging es auch in größeren Staaten auf, so etwa 1808, als es von Napoleon für Frankreich annektiert wurde. Als er auf der Höhe seiner Macht war, war es für ihn förderlich, eine Ehe mit einer Habsburgerprinzessin einzugehen. Als Napoleon nach Waterloo endgültig in die Verbannung geschickt wurde, wurden der Ex-Kaiserin Marie Louise (eigentlich Maria Ludovica) die Herzogtümer Parma und Piacenza sowie Guastalla zugesprochen. Marie Louise kam aus Paris mit einem Gefolge von etwa zwanzig französischen Aristokraten und ihren Familien angereist. Diese Gruppe war immer eng miteinander verbunden und hatte bis heute alle Macht inne. Alle alten Adelsfamilien trafen sich jeden Monat einmal zu einem Abendessen. Da die Assistentin von Professor d ’ Agostini das Mitglied einer dieser Familien war und mich sehr mochte, erhielt ich eine Einladung zu einem dieser Abendessen. Sie sprachen zwar nicht mehr französisch, aber der Wein, den sie tranken, kam aus einer französischen Traube. Es war ein Sauvignon blanc, aber ein ganz besonderer. Sauvignon blanc wurde nur in drei kleinen Regionen Italiens angebaut. Aber nur der aus der Region Parma moussierte auf natürliche Weise wie ein Champagner. Mein Tischnachbar war ein großer, beleibter Mann, der Schinken und Tomaten von Parma monopolisiert hatte. Gleich zu Beginn erklärte er mir, ein wirklich großes Abendessen sei nur vollständig, wenn man nachher ein Nobelbordell aufsucht und er lud mich ein, sein Gast zu sein. Er war bitter enttäuscht, als ich ablehnte. Etwas später, mitten in die Stille einer ganz ungewöhnlichen Gesprächspause hinein, fragte er: „ Pietro, wo wohnst Du eigentlich? “ Als ich antwortete: „ in der Avenida Silvio Pellico “ , brachen alle in lautes Gelächter aus. Ich hatte den Verdacht, das Nobelbordell müsse dort sein, aber dann sagte mir mein Tischnachbar: „ Dort ist das Hauptquartier der Kommunistischen Partei von Parma Und ausgerechnet Du wohnst dort! “ Nachdem ich aufmerksam geworden war, beobachtete ich öfters die Straße und fand heraus, daß der Vorstand am Abend jedes Donnerstags Sitzung hatte. Die Herren kamen in schwarzen Anzügen und noblen Wintermänteln, die Damen in Pelzmänteln. Es war eben eine italienische Kommunistische Partei. Im Jahr 1984 habe ich das wahrscheinlich wichtigste, von mir herausgegebene Buch veröffentlicht: eine zweibändige Festschrift von 1461 Seiten zu Ehren des achtzigsten Geburtstages meines Freundes René Wellek. Der amerikanische Romanist, Henri Peyre, Träger des französischen Ordens der Ehrenlegion und Vorsitzender der gesamten amerikanischen „ Modern Language Association “ hat es einen eindrucksvollen Tribut nicht nur an René Wellek selbst, sondern an die amerikanische Leistung auf dem Gebiet der Literaturkritik und Literatur- 90 Im Empire Staat New York <?page no="105"?> theorie der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft überhaupt genannt. René selbst aber schrieb mir: „ . . . ich bin Dir aus vollem Herzen tief dankbar, daß Du diese große Arbeit auf Dich genommen hast. Wir können beide nur stolz darauf sein. “ Da ich wegen einer kleinen Verzögerung der Herausgabe ein schlechtes Gewissen hatte, tröstete er mich, das sei gewiß nicht meine Schuld gewesen. Aber sie war es gewesen. Von Werner Weber, dem Inhaber eines Lehrstuhls für Literaturkritik an der Universität Zürich, einem engen Freund Emil Staigers, dem ich mein Stefan- Zweig-Buch widmete, hatte ich einen Brief erhalten, der mit den Worten begann: „ Lieber Peter, helfen Sie mir. “ Er berichtete wie sein Sohn vor etlichen Wochen als „ Notfall “ in das St. Galler Kantonsspital eingeliefert worden war, wie sich sein Zustand verschlechtert hatte, bis endlich jetzt der Alarm abgeblasen werden konnte. Dadurch war die Arbeit an seinem Beitrag für die Wellek- Festschrift in Rückstand geraten. „ Ich wäre untröstlich “ , schrieb er, „ wenn ich nicht dem Mann, dem ich als Literaturwissenschafter das meiste verdanke, nicht meine Verehrung und Dankbarkeit sagen könnte . . . “ Ich schreibe das so ausführlich, weil ich weiß, daß fast alle, wenn nicht alle Beiträger genau so fühlten. Darum war es für mich auch entsetzlich, zu beobachten, wie schnell Wellek nach seinem Tod vergessen war. Daran waren nicht zuletzt auch die 68er schuld mit ihrer Barbarisierung des Faches. Eine zweite Persönlichkeit von Weltniveau, die ich später als Wellek kennen lernte und die sehr rasch zu einer engen Freundin wurde, war Annemarie Schimmel. Ich glaube, es begann, als ich Mitarbeiter für den vierten Band meines Jahrbuchs suchte, das unter dem Titel Anagogic Qualities of Literature dem Problem nachging, welche besonders großen Dichtungen nur verstanden werden konnten, wenn man den mystischen Hintergrund der Thematik verstand. Ganz wie René war Frau Schimmel im Hinblick auf Sprachenkenntnisse, Universalität und souveränes Detailwissen ein einmaliges Weltgenie. Ihr zentralstes Thema war islamisch-sufische Mystik. Sie hatte aber auch kleine Neben-Lieblings-Gebiete und ich erinnere mich, daß ich ihr Rückert-Buch von 1987 besprochen habe. Sie hat mich wiederholt besucht, wir verstanden uns blendend und haben viel miteinander gelacht. Das Jahr 1985 trägt für mich einen dicken, schwarzen Trauerrand, denn es ist das Todesjahr meiner Mutter. In meinem ganzen langen Leben hat mich kein Ereignis so tief getroffen wie dieses. Ich war gleichsam von innen nach außen umgestülpt, aber nicht nur das Innen war verschwunden, das Außen war da, jedoch völlig sinnlos geworden. Ich warf unersetzbare Dokumente weg, ich wollte alles weg werfen, es war alles egal, es war ein privater Weltuntergang. Als meine damals siebzehnjährige Tochter mich in meinem ganzen, tiefen Elend sah, da bewies sie mir zum ersten Mal ihre tiefe Liebe, denn sie ließ mich 91 Im Empire Staat New York <?page no="106"?> zwei Wochen nicht allein. Wenn schließlich alles langsam zu heilen begann, dann verdanke ich das diesen zwei Wochen. Beinahe wären diese zwei Wochen auch schicksalsbestimmend für ihr Leben geworden, denn ich beschloß, mit ihr nach Pennsylvanien zu fahren, um ihren Geburtsort und auch den Ort und die Stätte ihrer frühen Kindheitsjahre zu besuchen. Die Suche nach dem Krankenhaus in Belleville, in dem sie geboren war, verlief enttäuschend, denn das Gebäude war kein Krankenhaus mehr. Ein wirklicher Erfolg war dagegen der Besuch in State College bei meinem verehrten Lehrer Chang. Er war daheim und freute sich, mich zu sehen. Seine Frau kochte uns Tee und er betrachtete interessiert Sascha, die er zuletzt dreijährig gesehen hatte und die jetzt fast erwachsen war. In seiner direkten Art den Dingen auf den Grund zu gehen, fragte er sie: „ Was möchtest Du denn studieren, Sascha. “ Ich hatte niemals solche Fragen berührt, weil ich sie von klein auf als Persönlichkeit behandelt hatte, die ich auch nicht in einer Richtung beeinflussen wollte, die ich gemocht hätte. Zu meiner Überraschung antwortete sie: „ Mathematik oder Medizin “ . Ich erinnerte mich, daß sie in der Mittelschule ihren Mathematiklehrer vergöttert hatte und mir Vorträge hielt, daß alle wirklich großen Lehrer Mittelschullehrer waren, während die Universitätslehrer Forscher waren, die von Pädagogik keine Ahnung hatten. Changs Antwort darauf verblüffte Sascha, weil sie so klare Direktiven nicht gewohnt war. Chang sagte nämlich: „ Das ist doch keine Alternative. In diesem Fall mußt Du Medizin studieren. “ „ Aber warum? “ „ Weil Du da viel mehr Menschen helfen könntest. “ Ich sah sofort, daß er ihr die Wahl abgenommen hatte. Ich begrub meine Mutter, die mit mir gelebt hatte, auf der Wiese hinter meinem Haus, da wo der Wald begann. Nach drei Tagen holte ich einen Pfarrer aus der unitarischen Kirche von Schenectady, fuhr mit ihm die fast zwei Stunden zu meinem Haus und er betete an ihrem Grab. Er war ein gebildeter Mann und als ich ihm erzählte, daß sie Emerson geliebt hatte, sagte er, daß Emerson diese Grabstätte sehr gefallen hätte. Das Jahr 1986 war das Jahr, in dem ich zu einem Symposium an der Hebrew University in Jerusalem eingeladen war. Wenige Jahre zuvor war ich bei einem Symposium über Literaturtheorie in Tel Aviv gewesen, aber das bleibende Erlebnis war Jerusalem im allgemeinen und die Hebrew University im besonderen, die auf einem Berg lag, getrennt durch ein Tal von der Stadt, die man mauerumgürtet in naher Entfernung sehen konnte. Es war ein Max-Brod-Symposium gewesen und ich habe über Brods Jesus- Roman Der Meister gesprochen. Ich habe der Organisatorin Professor Margarita Pazi angeboten, die Beiträge in einem Band meiner Buchserien zu veröffentlichen und sie hat es mit Dank angenommen. 92 Im Empire Staat New York <?page no="107"?> Ein täglicher, lokaler Zuhörer war ein älterer, fein gebildeter Herr, der möglicherweise aus Wien stammte. Er hatte jedenfalls nach dem Ersten Weltkrieg in Wien studiert. Hofmannsthal und Beer-Hofmann waren seine Trauzeugen gewesen. Nach dem Schluß jeder täglichen Sitzung saß ich noch zwei bis drei Stunden mit ihm zusammen und genoß das Gespräch über österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit. Unvergeßlich ist mir auch der Besuch bei Werner Kraft, dem mich Schönwiese angekündigt hatte. Kraft hatte ein Buch über österreichische Lyrik geschrieben, in dem es auch ein eigenes Schönwiese- Kapitel gibt. Ich entsinne mich der märchenhaft durch Grün zugewachsenen Wohnung in der Alfasi-Straße, zu deren Eingang man über etliche Stufen hinabsteigen mußte. Kraft blieb der deutschen Sprache treu, auch wenn er nicht im Traum daran dachte, nach Deutschland zurück zu kehren. Damals gab es noch einen ganzen Kreis von deutsch schreibenden Israelis wie Gershom Scholem, Ludwig Strauß und Ernst Simon, mit denen allen er befreundet war. Ich fand in ihm eine bedeutende Persönlichkeit, die freilich etwas Besonderes war. Das Besondere zeigt sich darin, daß er ein völlig haßfreier Karl-Kraus-Anhänger war. Er hatte einen Weg gefunden, den Widerspruch, der darin lag, zu überspielen. Damals fragte ich ihn, ob sein Sohn, der ein erfolgreicher israelischer Diplomat war, genauso dachte. Heute weiß ich, daß er Recht hatte und die gesamte Menschheit ohne Ausnahme eine Einheit bildet. In früheren Jahren hatten auch Else Lasker-Schüler, Paul Engelmann und Martin Buber zu seinem Kreis gehört, die nicht mehr lebten. Die Zeit des Gesprächs mit ihm verflog wie im Flug. So viel Interessantes und Neues hätte ich noch viele Stunden länger hören können, obwohl ich mich erst nach Mitternacht verabschiedete. 1986 war auch das Jahr, in dem Ernst Schönwiese für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen wurde. Der Vorschlag wurde bei meinem Besuch bei ihm von Professor Harry Zohn auf dem Kopfpapier der Brandeis University geschrieben. Es war ein Gruppenvorschlag. Sieben Literaturprofessoren aus fünf Staaten hatten ihn unterzeichnet. Ein zweiter Antrag wurde von Jan Aller, Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie, geschrieben, der unbedingt allein einreichen wollte. Einen dritten Antrag stellte die deutsche Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung, ebenfalls für sich allein. Für mich war das darum wichtig, weil besonders, wenngleich keineswegs allein, Autoren der „ Grazer Autorenversammlung “ jedes Jahr Schönwiese in den Schmutz zogen, wobei oft ein Kübel Schmutz auch für mich abfiel. Im Jahr 1986 wurde ich schließlich auch ein enger Freund Herbert Kesslers, der mich zwei oder drei Mal eingeladen hatte, eine Buchbesprechung für die Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft zu schreiben, deren Präsident er war. Auf die letzte der Rezensionen hatte ich einen Brief von ihm erhalten, in dem er mir mitteilte, daß er von einigen meiner Formulierungen so begeistert war, daß er 93 Im Empire Staat New York <?page no="108"?> mich zum Vorstandsmitglied machen wollte. Als ich einverstanden war, folgte ein weiterer Brief, in dem er mich einlud, ihn bei meinem nächsten Aufenthalt in der Bundesrepublik in Mannheim zu besuchen. Durch Zufall fand dieser Aufenthalt bald darauf statt. Er holte mich vom Bahnhof ab und wir fuhren in seine Wohnung. Ich erfuhr, daß er ursprünglich Rechtsanwalt war und unser Verhältnis vertiefte sich rasch und tief. Ich schrieb eine begeisterte Rezension seines Buches Einführung in die Esoterik und bald darauf auch einen langen Aufsatz: „ Ergründer esoterischer Einsicht “ . Das Ausschlag gebende Auslandsgutachten zum Vorschlag, ihm den Titel Professor zu verleihen, habe ich geschrieben. Ein Meister im Umgang mit Menschen war Kessler. Er war nicht zufällig auch Begründer einer „ Sokratischen Gesellschaft “ und einer der unersetzbarem Organisatoren und Anreger, die so wichtig sind. Bei unserem ersten Zusammentreffen hatte er mir erzählt, wie er im Zweiten Weltkrieg widerwillig als Wachtmeister bei der Artillerie eingezogen worden war. Er machte den Frankreichfeldzug mit und war überrascht gewesen, daß er bei der fehlerhaften Ausrüstung und der mangelnden Begeisterung zu einem Blitzsieg wurde. Als ich etliche Jahre später Hans Habes großartigen Erlebnisroman Ob tausend fallen las und seine Erfahrungen als Freiwilliger in der französischen Armee im Zweiten Weltkrieg, auf der Gegenseite las, erhielt ich die Erklärung zu Kesslers Verwunderung. Hitlers „ Fünfte Kolonne “ war so gut gewesen wie Kesslers Artillerieabteilung schlecht. Zu meinem sechzigsten Geburtstag im Jahr 1987 erhielt ich zwei Festschriften. Der Bonner Kollege, der mich erst vor kurzer Zeit kennen lernte, hatte sich die große Mühe gemacht, sie zu sammeln und herauszugeben. Er hat mich sehr gut verstanden, denn er schrieb in seinem Vorwort: „ Die Dunkelmänner aller Lager, die Parteidogmatiker unzerreißbarer Weltanschauungen jeglicher Provenienz lieben Strelka nicht. “ Sie stehen mir heute in noch größerer Mehrheit und mit mehr Macht gegenüber als damals. Aber mein Freund Polheim kannte keine Details aus meinem Leben, kannte meine Freunde so wenig wie meine Gegner und einige der letzteren benützten das in schamloser Weise, um ihm „ Beiträge “ einzureden, die mich ärgern sollten. Zum Glück drang das Gerücht von der vorbereiteten Festschrift, die eine Überraschung werden sollte, zu meinem Freund Schönwiese durch, dem es gottlob gelang, Polheim zu überreden, mir die Liste der Eingeladenen zu senden. Einer der Gegner, der mit seinen Sprachkursen in Neu-Mexiko großen Propagandalärm machte, hatte ihm sogar seinen Beitrag schon geschickt. Da er gar nicht fähig war, einen ernsthaften, und bedeutenden literaturwissenschaftlichen Beitrag zu schreiben, hatte er sich als Thema die schmutzigen, tagespolitischen Grabenkämpfe gewählt, die mir leider als österreichischem Delegierten bei den Internationalen PEN-Kongressen mitunter aufgezwungen 94 Im Empire Staat New York <?page no="109"?> wurden und die ich niemals vom Zaun brach. Es kostete große Mühe, Kollegen Polheim zu überzeugen, den Beitrag zurück zu senden. Das soll in keiner Weise davon ablenken, daß die Festschrift ein wahres Glanzstück unter den germanistischen Festschriften darstellte. Ich greife nur etliche der bekanntesten Namen der Beiträger heraus, in der Reihenfolge in der sie aufscheinen: Werner Keller, Gerwin Marahrens, Joachim Wohlleben, Pierre Grappin, René Wellek, Margarita Pazi, Karl S. Guthke, Hans Rothe und Hans H. Rudniks Schlußbeitrag, der zum Besten gehörte, was je über mich geschrieben wurde, nicht zum Lobendsten, sondern zum Richtigsten. In demselben Verlag und gleichsam als zweiten Band hatte ich eine Festschrift von Autoren erhalten, weil ich mit besonders vielen Autoren befreundet war. Sie waren alle keine Tagesberühmtheiten und Modegrößen, sondern mir persönlich nahestehend. Um nur fünf der bedeutendsten Namen zu nennen: Da war Jean Blot, der französische Romancier, Biograph und auch politische Historiker. Seine Romane Les Cosmopolites und Le Juif Margolin, seine Biographien Ossip Mandelstam und Marguerite Yourcenar, seine Bücher über Les Enfants de New York, La Montagne sainte und Bloomsbury sind nur einige wenige seines Gesamtwerks, für das er den Prix de l ’ Académie erhielt und die seinen weltweiten Horizont bezeugen. Sein wirklicher Name war Alexandre Blokh und er war zuerst Berufsdiplomat bei der UNO in New York und Genf, später bei der UNESCO in Paris. Ich wurde sein Freund, als er in Pension gegangen war, und Generalsekretär des Internationalen PEN in London geworden war. Er sprach russisch, französisch und englisch wie seine Muttersprache und dazu einige andere Sprachen ausreichend. Wir waren so gut, daß er einmal nach Amerika flog, nur um mich zu besuchen. In der Festschrift hatte er ein langes englisches Gedicht für mich geschrieben: „ On turning sixty “ . Ich mochte auch seine hoch gebildete Gattin sehr. Er war 1923 in Moskau geboren worden und war zweijährig von seinen Eltern ins französische Exil mitgenommen worden. Dann war da Aharon Megged, damals gerade Präsident des Israelischen PEN. Er war 1920 in Polen geboren, kam sechsjährig nach Palästina, war während des Krieges in einem Kibbuz und nach dem Krieg Botschafter der Kibbuz-Bewegung in Amerika. Er war Kulturattaché an der israelischen Botschaft in London und leitete später ein „ International Writing Program “ an der University of Iowa. Er schrieb Romane und Short Stories, aber auch Dramen, die zuerst im Habimah- Theater und später in anderen Ländern aufgeführt wurden. Sein Beitrag zur Festschrift war eine Geschichte über den jüdischen Großvater Zisskind. Der dritte war Edouard Roditi, amerikanischer Lyriker, Short-Story-Autor und Übersetzer. Er war ein Sprachengenie, der französische, deutsche, spanische, portugiesische, dänische und türkische Werke ins Englische übersetzte. Als Sprachgenie wurde er während des Zweiten Weltkriegs Mitarbeiter des berühmten Colonel Donovan und seines Amtes als Informationskoordinator, aus dem 95 Im Empire Staat New York <?page no="110"?> später das „ Office of War Information “ wurde. Mit der amerikanischen Militärregierung kam er nach Berlin, wo er gemeinsam mit dem französischen Lyriker Alain Bosquez die avantgardistische Zeitschrift Das Lot herausgab. Roditi schrieb in der Festschrift einen Beitrag über einen durchaus bedeutenden Autor, der trotzdem kaum bekannt ist. Obwohl er im amerikanischen Süden Virginias geboren ist, findet sich sein Name nur in sehr wenigen Lexika der amerikanischen oder der Weltliteratur. Er hat sich nämlich ganz in die subarktische Welt Alaskas zurückgezogen und ist ihr großer Dichter geworden. Er heißt John Haines und Roditi hat ausgeführt, daß er nicht nur ein Naturalist und Dichter der Wildnis, sondern auch ein Dichter des Wunderbaren ist. Der vierte Autor Arved Viirlaid repräsentiert nur eine kleine Literatur, die estnische, und als die Festschrift erschien, wurde er in seiner Heimat Estland von der kommunistischen Polizei gesucht und war Präsident des Estnischen PEN- Clubs im Exil mit Sitz in Kanada. Als die Sowjets in Estland einmarschiert waren, wurde er zuerst Partisan und sodann ein Freiwilliger in der finnischen Armee, die ihr kleines Land erfolgreich gegen die große Sowjetunion verteidigen konnte. In verschiedenen Ländern im Exil hielt er sich in zahlreichen Berufen am Leben: als Holzschnitzer, Farmarbeiter, Hausmann, Matrose und Fotograf. Die ganze Zeit hindurch blieb er jedoch ein fruchtbarer Autor, der sechs Lyrikbände und nicht weniger als neun Romane geschrieben hatte. Sein bekanntester Roman Gräber ohne Kreuze wurde in Englische, Finnische, Französische, Lettische, Spanische, Schwedische und Chinesische übersetzt. Für die Festschrift schrieb er als Beitrag die Geschichte eines skurrilphantastischen Traums von sich selbst nieder. Er träumte in einer langen Warteschlange zu stehen, um sich als Freiwilliger für die Freiheit Estlands zu registrieren und wird zuletzt im Kampf durch Maschinengewehrfeuer getötet. Arved Viirlaid war eines Abends mit verschwörerischer Miene in mein Hotelzimmer gekommen und wollte mich dazu gewinnen, daß er mich bei der nächsten Wahl als Präsidenten des Internationalen PEN vorschlagen könne. Der ebenso einflußreiche wie geschickte Alex Blokh, der ein Freund von uns sei, würde das schon durchsetzen. Ich hatte große Hochachtung für Arved. Jedes Mal, wenn ich ihn wieder sah, fragte ich mich, ob ich imstande wäre, die Hälfte der Strapazen und Belastungen auf mich zu nehmen, die er alljährlich im Kampf seines kleinen Volkes um seine Freiheit ertrug. Dadurch, daß er selbst schier Unmögliches leistete, konnte ihm auch ein solch absurder Gedanke gekommen sein. Ich erklärte ihm langsam und ausführlich, daß wir es niemals schaffen würden, mich durchzusetzen und selbst wenn wir es schaffen sollten, könnte ich es nicht annehmen, da ich mein Brot als Professor verdiente und eine solche Position nicht nur nebenbei ausgefüllt werden konnte. Aber es gab noch viel mehr zu bedenken. Zum Beispiel, daß er in seiner Situation gar keine andere 96 Im Empire Staat New York <?page no="111"?> Wahl hatte, als ein Homo politicus zu sein, während ich mir den Luxus leisten konnte, ein Homo spiritualis zu sein, der nicht zuletzt dem Dienst an der Dichtung als Kunst lebte. Natürlich hatte es gute Gründe, daß ich ihn in seinem Kampf um die Freiheit nach besten Kräften und bedingungslos unterstützte. Die Kunst konnte nicht im luftleeren Raum oder in einem Elfenbeinturm leben. Die Freiheit war eine unbedingte Vorbedingung. Wir schieden mit einer langen Umarmung. Die Wahl des fünften Autors hier ist ein Salut an die Stadt meiner engsten Heimat, die Stadt meiner Kindheit Wiener Neustadt. Er ist in allen Ländern und Kreisen gleich wenig bekannt. Für mich gab es drei Gründe, ihn zu wählen. Er war mir erstens schon deshalb nahe, weil seine Mutter mit meiner Mutter in dieselbe Schulklasse gegangen war. Wir hatten uns zweitens gleich nach Kriegsende zum ersten Mal gesehen, als er aus dem Feld heimkam und ich aus dem Untergrund. Die Abscheu und Gegnerschaft gegen die Verantwortlichen für diesen entsetzlichen Krieg war ein festes Bindemittel. Der dritte und wichtigste Grund aber war der, daß Schönwiese ein Gedicht von ihm in die Festschrift aufgenommen hatte, das er für mich geschrieben hatte und das von edel vornehmer Einfachheit und wirklicher sprachlicher Kraft war. Ich zitiere aus jeder Strophe nur wenige Verse. Der Titel des Gedichts ist: „ Mit sechzig “ I Der umgang mit den abgeschiedenen wird intensiver man sieht jetzt deutlich wie alles fließt II Am himmel der erinnerung glänzt ein sanftes gestirn kindheit genannt III nichts größeres ist zu erringen als daß man in liebe an uns denkt. Ich denke in Liebe an ihn. Er heißt Albert Janetschek, war Schulmeister in einer Vorstadt von Wiener Neustadt. Er hat ganz allein die Stadtgewaltigen, von denen mich nur einer noch kannte, überredet, mir den Kulturpreis von Wiener Neustadt zu geben. Damals war ich mit meiner Tochter nach Wien geflogen und wir wurden von einem alten VW-Kastenwagen der Stadt abgeholt. Ich 97 Im Empire Staat New York <?page no="112"?> wollte Sascha die Häuser meiner Kindheit zeigen. Sie waren in der Realität kleiner als in meiner Erinnerung. Da ihr Koffer verloren gegangen war, hatte ich ihr für den Abend ein Kostüm gekauft. Mit den beiden Flugkarten und dem Kostüm war das Preisgeld aufgebraucht. Janetschek war es auch gelungen, die Stadtväter dazu zu bewegen, Ernst Schönwiese für die Laudatio einzuladen. Dieser entschuldigte sich später bei mir, daß er gesagt hatte, keiner meiner Preise würde mich so freuen wie dieser. Die Behauptung hatte aber einen wahren Kern gehabt. In meiner Dankesansprache führte ich als Beispiel für das tiefste Heimwehgefühl, das ich jemals erlebt hatte, Wladimir Weidlé an. Als ich den Grund seiner Heimatferne erwähnte, er hätte der ersten russischen Emigrantenwelle nach der Oktoberrevolution angehört, verließ ein kommunistischer Gemeinderat aus Protest den Saal. Beim Essen nach der Preisverteilung war meine amerikanische Tochter mit ihrem leicht neustädterisch gefärbten Deutsch ein großer Erfolg beim Finanzstadtrat. Er holte aus seinem Büro eine goldene Anstecknadel mit dem Wappen von Wiener Neustadt und schenkte sie ihr. Als er zurückkam, konnte er hören, wie ich meiner Tochter für ihren täglichen Drei-Meilen-Morgenlauf den schönen, großen Park der Militärakademie empfahl, weil es dort keinen Verkehr gab. Sie lief mit einem T-Shirt, das quer auf der Brust den Namen „ Harvard “ trug. Der Finanzstadtrat meinte lächelnd, da könnte sie ja auch auf einen ebenso laufenden feschen Akademiker stoßen. Ich unterließ es aus Höflichkeit, ihm zu erklären, was eine Harvard-Studentin von einem feschen Neustädter Akademiker halten würde. Das Jahr 1988 stand im Zeichen von zwei Freunden, die insofern miteinander zusammen hingen, weil ich den einen durch den anderen kennen lernte. Der erste war György Sebestyén, der 1956 als junger ungarischer Flüchtling nach dem Zusammenbruch der Revolution gegen die Sowjets nach Österreich gekommen war. Er war damals bereits ein durch Jahre bewährter und verläßlicher Freund. Mit seiner Intelligenz war er im Handumdrehen ein angesehener, deutsch schreibender österreichischer Schriftsteller geworden. Er hatte auch sehr schnell herausgefunden, daß man in Österreich am schnellsten Karriere macht, wenn man nachdrücklich katholisch ist. Er galt als sehr katholisch, obwohl er im Herzen so liberal war, wie ich. Er hatte seine eigene Methode, Widersprüche harmonisch zu vereinigen. Hätte es eine Wahl in Österreich für den Mister Charmant gegeben, er hätte sie mit Abstand gewonnen. Dazu war er ein Arbeitstier, das in einmaliger Weise Posten und Funktionen akkumulierte, die er alle erfolgreich und in vorzüglicherweise ausfüllte. In Niederösterreich, wo er ein Freund des Landeshauptmanns Ludwig war, gründete er zwei interessante Zeitschriften, die er selbst redigierte, den Morgen und die Pannonia. Er war Kulturredakteur der angesehenen katholischen 98 Im Empire Staat New York <?page no="113"?> Wochenschrift Die Furche. Ich hatte ihn als Präsidenten des Österreichischen PEN-Clubs vorgeschlagen und durchgesetzt. Er war auch der Vorsitzende eines geheim gehaltenen Beraterkomitees von Außenminister Mock in Osteuropafragen. Ich bin überzeugt, daß es auch kein Zufall war, das er in seinem späten und besten Roman Die Werke der Einsamkeit, den ich in der Neuen Zürcher Zeitung besprach, als Modell für den wichtigsten positiven Charakter meinen Freund Karl Hartl genommen hatte. Erst als ich den Roman las, entdeckte ich, wie nahe im Charakter die beiden waren. Es war auch kein Zufall, daß er mir nach Amerika mit dem dringenden Ersuchen schrieb, ich möchte an einer Art Symposium teilnehmen, das er in Niederösterreich, ich glaube es war in Melk, abhielt. Das war im Jahr 1988 und Landeshauptmann Ludwig mußte ihm das Geld dafür gegeben haben. Neben wenigen, ausgesuchten Österreichischen PEN-Mitgliedern waren vor allem PEN-Delegationen aus den kommunistischen Oststaaten eingeladen. Im Flugzeug von New York nach Wien las ich in der Herold Tribune, daß der amerikanische Botschafter in Bonn bei einer großen Veranstaltung den Fall der Berliner Mauer gefordert hatte. Er hatte sich bestimmt nicht unabsichtlich lächerlich gemacht und ich glaubte deutlich die Handschrift von Präsident Reagan zu erkennen. Damit war mein eigenes, persönliches Programm für das Symposium in Niederösterreich gesichert. Inmitten der Phrasen von gegenseitigen Freundschaftsversicherungen zwischen Ost und West, meldete ich mich zum Wort und verlangte eine Abstimmung über meinen Antrag, die Berliner Mauer hätte endlich zu fallen. Nach einer kurzen Schocksekunde kamen die Anwesenden zu sich, und nachdem die Ungarn und Polen dem Antrag offen zugestimmt hatten und es zur Abstimmung kam, wurde der Antrag zur Überraschung aller und auch meiner eigenen einstimmig angenommen. Am selbstzufriedenen Lächeln Györgys konnte ich sehen, daß er gewußt hatte, weshalb er mich eingeladen hatte. Vom unerwarteten Erfolg geblendet und von Wunschdenken paralysiert, ließ ich sofort einen zweiten Antrag folgen, das Ergebnis der Abstimmung der Presse mitzuteilen. György, der neben mir saß, rammte mir seinen Ellbogen mit solcher Macht in die Rippen, daß mich das nüchterne Denken wie ein Blitz durchfuhr und ich den Antrag im nächsten Satz sofort zurückzog. Wären alle osteuropäischen Delegierten mit dem positiven Abstimmungsergebnis heimgehrt und hätten es höchstens einigen Vertrauten mitgeteilt, hätten sie ein großes Erfolgserlebnis gehabt. Hätte die Presse dieses Abstimmungsergebnis gedruckt, wären sie ohne Unterschied eingesperrt worden und aus dem Erfolgserlebnis wäre ein Mißerfolgserlebnis geworden. Überraschenderweise hatte aber der wenngleich nur kurz geäußerte zweite Vorschlag von mir auch ein positives Ergebnis gebracht. Ein polnischer Delegierter hatte sich zu Wort gemeldet und einen noch viel tollkühneren 99 Im Empire Staat New York <?page no="114"?> Antrag gemacht. György weigerte sich einfach, ihn zur Abstimmung zu bringen. Darauf erhob sich der Pole beleidigt und verließ den Raum. Ich lief ihm nach, um ihn zu trösten. Er war stehen geblieben und hatte mich lächelnd erwartet. „ Ich wußte, daß mir einer nachkommen wird und ich habe vermutet, daß Sie es sein werden “ , sagte er. Dann stellte er sich vor: „ Andrzej Stojowski, nennen Sie mich Andrzej. “ Ich verriet ihm meinen Vornamen Peter. Im folgenden vertrauten Gespräch, erzählte er mir, daß er ein polnischer Hocharistokrat sei, der fünf Jahre im Gulag war und nur unter der Bedingung entlassen wurde, daß er einen bestimmten Posten annahm. Es war der Posten des Empfangschefs beim Verlag der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er hatte als Feigenblatt zu dienen, denn dieser Verlag war in Wahrheit eine geheime KGB-Organisation. Wenn ein so gefährlicher und bekannter Regimegegner dort Empfangschef war, mußte der Verlag in Ordnung sein. Natürlich war es György gewesen, der bei einem Besuch beim Polnischen PEN-Club in Warschau diesen Mann entdeckt und eingeladen hatte. Aus meiner Freundschaft mit ihm ist in dem einen Jahr vor der Wende und in den ersten Jahren nach der Wende sehr viel Gedeihliches entstanden. Schon in den ersten Monaten hat er mir etliche seiner Bücher geschenkt, Romane und historische Biographien, die ich aber nicht lesen konnte. Einen ausgezeichneten Überblick über sein literarisches Werk erhielt ich erst als der bedeutende österreichische Slawist Alois Woldan, den ich gut kannte und der wußte, wie sehr ich Andrzej liebe, einen langen, ausführlichen und kritischen Aufsatz darüber unter dem Titel: „ Galizien - ein Raum des Mythos “ in meiner Festschrift zum siebzigsten Geburtstag geschrieben hatte, die unter dem Titel Ein Leben für Dichtung und Freiheit erschienen ist. Ich lernte auch, daß er eine wunderbare, verläßliche Frau hatte und daß er zwei Widerstandsgruppen gegründet hatte. Die ältere und größere bestand darin, daß er Staatsbeamte, die aus politischen Gründen ihren Posten verloren hatten, „ sammelte “ . Sie kamen einmal in der Woche in den Keller einer Kirche, in dem er ein Lebensmittellager angelegt hatte. Das Geld dafür hatte er aus Frankreich erhalten. Als er nach der Wende seine beiden Schlösser zurück erhielt, wollte er mir allen Ernstes das kleinere schenken. Es war ein Geschenk, das ich mir einfach nicht leisten konnte. Ich hätte mir ja weder die Wiederherstellung nach den Jahren des Mißbrauchs noch die Steuern leisten können. Einmal als ich zu ihm kam, und er mich am Bahnhof abholte, begrüßte er mich mit den Worten: „ Peter, Du bist ein Genie. “ Ich scherzte: „ Da bist Du erst jetzt draufgekommen? Wieso? “ „ Deine Interpretation des Gedichts von Walther. “ Ich hatte ihm mein kleines Buch Einführung in die literarische Textanalyse geschickt, in dem ich als Beispiel mittelhochdeutscher Dichtung die Elegie Walthers von der Vogelweide interpretiert hatte. „ Was hat Dich so beeindruckt? “ „ Dein Hinweis auf die Templer. “ Ich hatte auf versteckte Wendungen aufmerk- 100 Im Empire Staat New York <?page no="115"?> sam gemacht, aus denen hervorging, daß Walther ein Templer gewesen sein mußte. „ Warum interessieren Dich die Templer so? “ „ Ich bin ein Templer. “ Es stellte sich nicht nur heraus, daß das Geld aus Frankreich für das Lebensmittellager Geld von den Templern gewesen war. Er gab mir auch eine Führung durch Warschauer Kirchen vom Standpunkt der Templer aus. Wann immer er eine Kirche betrat, bekreuzigte er sich nicht, sondern hob die rechte Hand zum Gruß. In seiner Begeisterung, daß er mit mir ein Gespräch über die Templer führen konnte, schlug er auch vor, daß wir einmal gemeinsam nach Krakau fahren müßten, weil es dort in einer Marienkirche ein riesiges Isis-Fresko gab, in dem die Isis für den Kenner sichtbar als Maria aufgeputzt ist. Er zeigte mir ein geheimes Kennzeichen, das er gleichsam als eine Art „ Ausweis “ besaß. Im letzten Jahr, in dem ich ihn sah, hatte er in „ seinem Dorf “ unter dem Schloß eine Pferdezucht aufgebaut und ich bewunderte die wirklich herrlichen Pferde. Er erzählte mir, daß sich einmal ein großer Mercedes mit deutschen Touristen in das Dorf verirrt hatte. Als die Touristen die Pferde sahen, wollten sie sofort eines oder zwei kaufen. Als er ihnen sagte, die Pferde seien nicht verkäuflich, fragten sie überrascht: „ Wozu sind sie denn da? “ Als er ihnen wahrheitsgemäß antwortete: „ Um geliebt zu werden “ , fuhren sie kopfschüttelnd weiter. György Sebestyén unterstützte ich in mehrfacher Weise. Ich schrieb in seinen Zeitschriften. Ich hatte für ihn durchgesetzt, daß der nächste Internationale PEN-Kongreß in Wien stattfinden würde, was ihn automatisch zum Präsidenten des ganzen Kongresses machte. Ich flog immer wieder zu seinen Veranstaltungen in Niederösterreich im Hinblick auf Ostverbindungen, für die ihm Landeshauptmann Ludwig das Geld gab, dessen Freund er war. Als mich bei diesen Veranstaltungen Ludwig kennen lernte und herausfand, daß ich gebürtiger Niederösterreicher sei, nannte er mich nur noch „ unseren Amerikaner “ und betrachtete György und mich als ein Dioskurenpaar. Das Jahr 1988 war auch das Jahr einer besonderen, persönlichen Auseinandersetzung mit den Barbaren von 1968, die wieder einmal ihre organisatorische Tüchtigkeit unter Beweis stellten. Durch jahrelange, intensive Beschäftigung mit deutschsprachiger Exilliteratur war mir aufgefallen, daß es eine ganze Bewegung von Kritikern dieser Literatur gab, die in ihren Lügen einheitlich wie einem Dogma einem theoretischen Modell folgten, das von zwei Hauptideen bestimmt wurde. Erstens teilten sie nicht in ihrem theoretischen Programm, aber in ihrer täglichen Praxis die Exilliteratur in drei Kategorien ein. Erstens in die Autoren der Parteikommunisten, welche die besten Werke verfaßt hatten. Zweitens in die Autoren der „ Fellow Traveller “ , die nicht immer so großartig waren, aber mitunter insofern von ganz besonderer Wichtigkeit waren, weil man sagen konnte, obwohl sie gar keine Parteikommunisten sind, verfechten sie völlig kommunistische Standpunkte, was ein Beweis für deren Richtigkeit ist. Die dritte Kategorie waren die minderwertigen bürgerlichen Autoren, wie Thomas 101 Im Empire Staat New York <?page no="116"?> Mann, Musil und Broch die man am besten totschwieg, weil sie nicht mehr wert waren, oder bei denen man angebliche minderwertige Einzelheiten feststellen zu können meinte. Das zweite Dogma war, daß es weder vor noch nach Hitler „ Exil “ -Literatur gegeben hatte. Das war besonders wichtig, wegen der Literatur nach Hitler. Es gab ja aus den kommunistischen Oststaaten eine Reihe sehr bedeutender Autoren, die in die Freiheit westlicher Länder geflohen waren. Aber die waren keine „ Exilautoren “ , weil das Dogma verhinderte, sie als solche anzuerkennen. Mir wurde bald klar, woher der Wind wehte, und ich habe nach der Wende sowohl in Frankfurt als auch in Moskau Beweise für meinen Verdacht gefunden, daß sie das gemeinschaftliche Werk von KGB und Stasi waren, die ja auch das ganze Szenario in Schwung gebracht hatten. Da sich einige meiner Insel-Taschenbücher recht gut verkauften, schlug ich meinem Freund Franz Heinrich Hackel vor, mir eine Anthologie deutscher Exilliteratur als Taschenbuch anzuvertrauen. Ich konnte nicht allein gegen eine kleine Armee von Mode-Schwachköpfen anschreiben, aber ich konnte sie durch eine reine Dokumentation als unfähig erweisen. Ich hatte Beispiele von großen Autoren aus drei Kategorien: Exilautoren seit dem 18. Jahrhundert und lange vor Hitler, Autoren aus der Zeit Hitlers, aber wirklich große: Broch, Musil, Sperber, Thomas Mann, Polgar und deutschsprachige Exilautoren, die aus der DDR in den Westen geflohen waren. Das durchbrach beide Dogmen durch einzigartige praktische Beispiele. Quod erat demonstrandum. Der Verlag schlug als Titelblatt ein paar verhungerte, hoffnungslos traurige, müde Gestalten vor. Ich verlangte die „ Statue of Liberty “ mit der erhobenen Freiheitsfackel und erhielt sie. Der Band erschien unter dem Titel Flucht und Exil. Als ich das erste Exemplar in der Hand hielt, freute ich mich über meine gute Idee. Aber die beste Idee scheitert an einer großen, quantitativen Übermacht. Viele Hunde sind des Hasen Tod. Etwa vier Wochen nach Erscheinen des Buches erhielt ich vom Verlag einen Brief, in dem er mitteilte, daß er sich leider genötigt sah, das Buch einzustampfen. Er hätte noch niemals von einem Buch so viele Remittenten-Exemplare erhalten. Als ich ein Jahr später in Berlin war, ging ich zu dem Buchhändler, bei dem ich in der Zeit meines Gastsemesters mitunter Bücher gekauft hatte. Ich fragte ihn, ob er sich an das Paperback Flucht und Exil mit der Freiheitsstatue auf dem Umschlag erinnern könnte. Er konnte sich sehr gut erinnern. „ So etwas ist mir noch nicht vorgekommen “ , sagte er. „ Eine Woche nachdem ich mir zwanzig Exemplare auf Lager gelegt hatte, kam ein junger Mann, offenkundig ein Student, und sagte, wenn ich dieses Buch verkaufe, würde er nie mehr ein Buch bei mir kaufen. Fünf Tage später hat sich das wiederholt. Und wieder drei Tage später war ein dritter da. Ich verdiene an einem Paperback wenige Pfennige. Das ist es mir nicht wert, Kunden zu verlieren. Ich hatte erst eines verkauft. Ich sandte die neunzehn an den Verlag zurück. “ 102 Im Empire Staat New York <?page no="117"?> Das laute Geschrei gegen Staiger brachte ihm auch Freunde wie mich. Diese stille Tot-schweige-Methode brachte keine Freunde. Sie wird in anderem Zusammenhang vor allem in Österreich gegen mich fortgesetzt. Ich kehre zu Freund Sebestyén zurück. Den Fall des Eisernen Vorhangs hat György noch erleben dürfen. Am 27. Juni 1989 durchschnitt Außenminister Mock auf der österreichischen Seite und Außenminister Gulya Horn auf der ungarischen mit einer Drahtschere den Stacheldraht. Kurze Zeit später wiederholte sich dieser Akt in der Nähe von Laa an der Thaya an der tschechischen Grenze, wo Mock gemeinsam mit Landeshauptmann Ludwig auf der österreichischen Seite und Außenminister Ji ř i Dienstbier auf der tschechischen die Freiheitszeremonie vornahm. Den Internationalen PEN-Kongreß, den ich für György nach Wien geholt hatte, erlebte er nicht mehr. Ein bösartiger Blutkrebs hatte ihn in kürzester Zeit dahin gerafft. Mit seinem Körper ist der Krebs fertig geworden, mit seinem Charme und Humor nicht. Ich war noch am letzten Tag bei ihm im Wilhelminenspital. Den Weltkongreß habe ich trotzdem später für einen weitaus minderen, oberflächlichen und eitlen Mann organisiert. Dabei gab es ein ungewöhnliches Erlebnis. Der Litauische PEN-Präsident hatte denselben Namen wie der Präsident das Staates Litauen. Die Post hatte die österreichische Einladung fälschlich dem Staatspräsidenten zugestellt. Wir erhielten seine Zusage einen Tag vor Kongreßbeginn. Er kam mit einem Privatflugzeug und drei Bodyguards, die keine Pässe hatten. Es waren gottlob drei Staatspolizisten anwesend, denen es gelang, die Bodyguards abzuholen und im Hotel unterzubringen, wo sie im Grunde unter Kontrolle der Polizisten waren. Der Präsident wurde bei der Kongreßeröffnung besonders begrüßt, da er der einzige anwesende Staatspräsident war. Nicht nur für die Menschheit und die Weltpolitik, sondern sogar für meinen winzigen, persönlichen Bereich war das Jahr 1989 von großer Bedeutung. Es erschien das Buch von mir, das sich am besten von allen verkaufte und mit ihm zugleich gewann ich den wichtigsten Verleger meines Lebens. Schon vor einigen Jahren hatte mich ein Berliner Kollege auf seiner Amerika- Tour besucht, war vor dem Bücherkasten mit den von mir verfaßten Büchern gestanden und hatte mich für würdig befunden, in seine großangelegte Organisation germanistischer Werkreihen einbezogen zu werden. Er war ein echter „ Macher “ und Aktivist, durch seinen Witz und seine Schlagfertigkeit eine erfreuliche Erscheinung. Für eine seiner Serien suchte er gerade einen Autor für das Thema Einführung in die literarische Textanalyse und er entschied, in mir hätte er diesen Autor gefunden. Ich aber hatte meinen Plan sofort fertig. Die phänomenologische Methode Ingardens mußte als Rahmen dienen und ich wolle damit auch wissenschaftlich gänzlich Neues bieten, indem ich das Buch der Praxis zu seiner Theorie schrieb, das er sich im Leben immer gewünscht hatte. 103 Im Empire Staat New York <?page no="118"?> Drei Wochen nachdem ich dem Berliner Kollegen das Manuskript geschickt hatte, kam seine Antwort. Grundsätzlich gefiel es ihm, aber zwei Dinge müßten ergänzt werden. Meine sämtlichen praktischen Beispiele stammten aus der Neuzeit. Im „ alten Fach “ des Mittelalters galten zum Teil andere Methoden. Er hatte Recht, ich wählte als Beispiel mein Lieblingsgedicht des Walther von der Vogelweide, seine Elegie. Die zweite Sache, die ihn störte, war, daß ich auf einen damals gerade recht landläufigen Mißbrauch von etlichen Linguisten nicht eingegangen war, unter dem Titel „ angewandte Linguistik “ Dichtungen auf einige trockene, linguistische Kategorien zu reduzieren. Sie vergaßen, daß der französische Großvater der modernen Linguistik selbst zwischen „ Langue “ und „ Parole “ unterschieden hatte, und daß es in der Linguistik um die „ Langue “ , in der Literaturwissenschaft um die „ Parole “ geht. Was für das linguistische Verständnis seinen Wert hat, ist für die Literaturwissenschaft vielfach sinnlos. Den Kern des Sinns meines Buches hatte der Berliner Kollege nicht verstanden und ich weigerte mich, die zweite „ Ergänzung “ zu machen, die nur Sand in meinem eigenen Getriebe gewesen wäre. Was mich noch besonders störte, war der Umstand, daß ich bei meinem Besuch bei ihm in Berlin herausgefunden hatte, daß er regelmäßig ohne Grund zu Besuchen bei Linguisten in die DDR fuhr. Wenn es dafür überhaupt einen Grund gab, dann war es Opportunismus. Die Lage in Westberlin war ja völlig ungesichert und die westdeutschen Kollegen, die damals dort tätig waren, erhielten dafür eine besondere Gehaltszulage, die sie mit Berliner Humor die „ Zitterprämie “ nannten. Wie so oft erwies sich die Ablehnung meines Manuskripts als ein Glücksfall. Als mich bald darauf mein Freund Steinecke in meinem Wald besuchte, fuhr ich mit ihm zu meinem Lieblingsrestaurant in Lake Pleasant und berichtete ihm nach dem Essen, daß ich auf einem fertigen Manuskript einer Literaturanalyse säße. Er hatte ein umfassenderes Wissen über deutsche Verlage als ich und machte mir schon nach zwei Minuten den Vorschlag, meine Textanalyse als Manuskript für ein Uni-Taschenbuch an den Francke Verlag in Tübingen zu schicken. Der rührige und geschickte Tübinger Verleger Gunter Narr hatte den Namen und die Rechte des alten Berner Francke Verlages aufgekauft, dessen Autor ich durch etliche Jahre gewesen war. Ich schickte mein Manuskript nach Tübingen und erhielt in kürzester Zeit eine positive Antwort. Es war eines der ersten Bücher, die Gunter Narr von mir als Uni-Taschenbuch heraus gab und das eine zweite Auflage erforderlich machte. Dadurch kam ich in Beziehung zu dem wunderbaren Verleger Gunter Narr, der bis heute mein Verleger geblieben ist. Die Textanalyse war übrigens jenes Buch, das meinen polnischen Freund Andrzej bewegt hatte, mich scherzhalber „ ein Genie “ zu nennen. 104 Im Empire Staat New York <?page no="119"?> VIERTES KAPITEL IM FREIEN ABENDLAND Das Jahr 1990 war das erste Jahr, in dem eine solche Überschrift möglich ist. Denn der okzidentale, westliche, atlantische Kulturkreis war durch den Weitblick und die Anerkennung der Realität Präsident Gorbatschows ein freies Gesamtgebiet geworden. Seit neuestem gibt es freilich wieder eine Einschränkung. Durch die russische Entwicklung unter Peter dem Großen und Katharina II. hatte Russland Anschluß an die europäische Aufklärung gefunden und war Teil der europäischen Kultur geworden. Der Bolschewismus hatte dies zu einem vorübergehenden Ende gebracht. In den letzten Jahren freilich hat eine machtvolle Gegenströmung eingesetzt. Es ist eine neue Welle von Chauvinismus, Machtwahn und Reaktion durch Wladimir Putin, der nicht zufällig Russland mit dem asiatischen Kasachstan verbunden und der Europäischen Union entgegen gestellt hat. Nach der Wende von 1989 im Jahr 1990 gab es etliche wahre Helden der Anständigkeit und Moral, durch die eine wirkliche Hoffnung möglich schien. Der kommandierende General des ersten KGB-Direktorats, welches das Elite- Direktorat war, hatte sich von seiner Vergangenheit los gesagt. Liest man die Memoiren dieses ehemaligen KGB-Generals Oleg Kalugin, dann ist man von Bewunderung erfüllt. Oder: Der Direktor der Staatlichen Archive der Russischen Föderation, der Geheimnisträger war, und auch als Rektor der neuen, kleinen Privat-Universität - nur für Geistes- und Sozialwissenschaften - gewirkt hatte, die für Demokratie und Freiheit eintrat. Ich hatte 1994 in Alpbach seine ernste Warnung gehört. Vor einem Publikum von führenden politischen und geistigen Vertretern Westeuropas hatte er erklärt, daß sie es bitter bereuen würden, wenn sie sich weiterhin so wenig um Russland kümmerten wie bis jetzt. Durch die übliche geistige Stumpfheit, die Oberflächlichkeit und die kurzsichtige Konzentration auf die eigenen, kleinen Interessen der Westeuropäer blieb er ein Rufer in der Wüste. Sie waren nur an materieller und finanzieller Leistungssteigerung interessiert. Mir fällt dazu nur eine der blendenden Wendungen des Sprachgenies Alfred Polgar ein: „ Ungemeiner Geist ist oft gepaart mit gemeiner Seele. Aber Dreck bleibt Dreck, auch wenn er phosphoresziert. “ Nicht nur in Russland war das Jahr 1990 voll der schönsten Hoffnungen. Ich erlebte einige meiner schönsten Begegnungen. Da war der Internationale PEN- Kongreß, den ich nach Wien gebracht hatte. <?page no="120"?> György hatte genug Geld gesammelt, um interessante Programme haben zu können. Dazu kam, daß die ganze Atmosphäre der Kongresse durch den Hoffnungsgeist der Wende verklärt war. Mein Freund Arved Viirlaid war bereits 1988 in seine Heimat Estland eingeladen worden und wußte, daß ihm eine ehrenvolle Rückkehr und die Rolle des führenden Autors seines Landes bevor stand. Schon beim PEN-Kongreß in Toronto, war in meinem Zimmer - von György zu mir geschickt - ein antikommunistischer Slowake aus Bratislava aufgetaucht. Wir beide hatten einen neuen, freiheitlichen slowakischen und einen neuen Tschechischen PEN aus der Taufe gehoben und ich hatte dafür Sorge getragen, daß der Taufakt in ganz Osteuropa bekannt gemacht wurde, wo in Prag ein moribunder „ tschechoslowakischer “ KP-PEN dahin tümpelte. Ein Freund von Radio Free Europe hatte den ganzen Taufakt „ live “ übertragen. Die bösesten PEN-Unterdrücker, in der DDR und in Bulgarien, die ihre Kollegen terrorisiert hatten, waren von der Bildfläche verschwunden. Einige freiheitlich eingestellte russische Autoren - in Russland hatte es niemals einen PEN gegeben - hatten schon vor der Wende eine Übereinkunft mit dem Internationalen PEN treffen können. Sie konnten bald genug ihre freiheitliche Einstellung unter Beweis stellen. Denn als es einen kurzen Rückschlag in der politischen Entwicklung ihres Landes gab, war der neue Russische PEN das erste Opfer, dessen Büroräume besetzt und dessen Möbel auf die Straße geworfen wurden. Im Jahr 1990 hatte auch meine Tochter in Harvard graduiert und hatte damit etwas erreicht, wovon ich nur träumen konnte. Wenn es auch nur ein „ privates Weltereignis “ war, so war es doch mit dem Jahr des wirklichen Weltereignisses verbunden. Meine Tochter hatte gemeinsam mit einem der beiden Söhne von Bundeskanzler Helmut Kohl studiert. Sie hatte ihn sogar ganz gut kennengelernt. Denn die Studentenwohnheime in Harvard waren damals so angelegt, daß je vier Mädchen eine Wohnung teilten, in der jede ihr eigenes Schlafzimmer hatte, während sie einen größeren Wohnraum und eine Küche miteinander teilten. Kohl Junior hatte sich als Freundin eine Studentin ausgesucht, die mit Sascha die Wohnung teilte, sodaß er täglich kam, um sie zu besuchen. Wohl weil Kohl Junior 1990 graduierte, hatte Harvard den Kanzler eingeladen, die berühmte Graduierungs-Ansprache zu halten. Er hat in hervorragendem Englisch über Freiheit und Frieden gesprochen. An diesem Tag habe ich übrigens Annemarie Schimmel das letzte Mal gesehen. Bald darauf nahm sie eine Berufung nach Bonn an, das damals Bundeshauptstadt war. Meine Tochter erhielt als Belohnung für ihre Tüchtigkeit eine mehrwöchige Weltreise mit mir. Die erste Station war London, die zweite Berlin. Wenige Jahre zuvor hatten wir Berlin mit der „ Mauer “ kennen gelernt. Jetzt pilgerten wir zum Checkpoint Charlie und konnten frei und offen durch das Brandenburger Tor 106 Im freien Abendland <?page no="121"?> nach dem „ Osten “ gehen. Am Checkpoint Charlie kaufte sich meine Tochter ein winziges Stück „ Mauer “ , die von erwerbstüchtigen Händlern an einer Stelle in kleine Stücke geschlagen worden war. Neben den westlichen Mauerstück- Verkäufern saßen friedlich östliche Händler, die den Kapitalismus rasch gelernt hatten und die sowjetische Uniformstücke und Kriegsauszeichnungen verkauften. Die nächste Station war Moskau, was für beide von uns das Entdecken einer bisher völlig verschlossenen Welt bedeutete. Wir wohnten privat bei einer Kollegin. Und der Neffe einer anderen Kollegin, der ein Auto besaß, hatte uns vom Flugplatz abgeholt. Wieso das möglich war, muß erläutert werden. Schon im Jahr 1988, als Präsident Gorbatschow bereits einige Erleichterungen durchgeführt hatte, war ich zu einer Komparatisten-Tagung nach Innsbruck geflogen. Der Chef der Innsbrucker Komparatistik war damals ein Serbe, der den österreichischen Ministerialbeamten die Rolle eines österreichischen Monarchisten vorspielte und der ein besonders aktives Mitglied der Belgrader Akademie war, welche das Haßzentrun der Offiziersverschwörung durch ein Haßzentrum der Wissenschafter ersetzt hatte. Unter den Teilnehmern befand sich auch eine Vertreterin der Moskauer Akademie, deren Namen ich leider vergessen habe. Sie war alt und häßlich, aber sehr intelligent und die Rechnung des Serben auf ihre Hilfe war in keiner Weise aufgegangen. Am Vorabend war ich beim Abendessen neben ihr gesessen und hatte ein Gespräch über die russische Periode der NEP-Politik geführt, in dem sie mir aus ihrer Lebenserfahrung heraus neue Einblicke gegeben hatte. Besonders überraschend war, wie offen, freiheitlich und antisowjetisch sie eingestellt war. Die größte Gruppe der Teilnehmer waren Ostdeutsche, die von der harten Parteilinie der DDR keine handbreit abwichen. Als ich bereits am ersten Tag eine erbitterte Auseinandersetzung mit einem der ostdeutschen Kollegen hatte, meldete sich auch die Russin zu Wort und ergriff zur Verblüffung aller meine Partei. In der Mittagspause verließ ich kurz die Sitzung, kaufte einen großen Strauß roter Rosen und trug sie auf das Zimmer der Russin. Von da an erschienen wir immer gemeinsam und in der Zeit, in der ich mit ihr allein sprechen konnte, erfuhr ich eine Menge über ihre Kollegen in der Akademie und besonders über ihre beste Freundin, die in der sowjetischen Hierarchie der Germanisten Nummer eins war. Für den Fall, daß ich nach Moskau käme, gab sie mir auch den Rat, nicht in ein Hotel zu gehen, sondern privat zu wohnen und lud mich in ihre Wohnung ein. Besonders wichtig war mir dabei zu erfahren, daß ihre Freundin so freiheitlich dachte wie sie. Am zweiten Tag hatte sich der Innsbrucker Chef für Komparatistik bei mir beschwert, daß er für sein Symposium so gut wie gar kein Medieninteresse erfuhr. Ich sagte ihm, München liege nicht weit von Innsbruck entfernt. Wenn es ihm recht sei, könnte ich das Münchner Büro von Radio Free Europe anrufen und in 107 Im freien Abendland <?page no="122"?> wenigen Stunden wäre ein Reporter hier. Aber da war ihm gar kein Medieninteresse noch lieber als ein solches. Denn dem Münchner Reporter wäre weder die ungewöhnlich starke, parteifeste DDR-Riege entgangen noch die ungewöhnliche Amerika-Russland-Verbindung durch die Moskauer Kollegin. Das aber hätte vieles enthüllt, was er geplant hatte und vieles, was ihm nicht gelungen war. Als ich mit meiner Tochter nach Moskau flog, hatten wir jedenfalls hohe Erwartungen und wurden nicht enttäuscht. Nach der unfreundlichen und fast feindseligen Paß- und Zollkontrolle traten wir ins Freie. Der große Parkplatz vor dem Gebäude war fast völlig leer. In der Nähe des Ausgangs stand ein kleiner Wagen, an dessen Kühler ein junger Mann lehnte, der uns sofort erkannte und freundlich begrüßte. Die Karosserie des Wagens war an einigen Stellen durch Draht zusammen gehalten und als der Wagen anfuhr, bemerkten wir, daß zumindest ein Teil der Auspuffgase nicht nach außen, sondern ins Wageninnere geleitet wurde. Der breite Boulevard, der vom Flugplatz ins Zentrum führte, war fast völlig leer und auf Schritt und Tritt gepflastert mit Schlaglöchern. In Abständen von ein bis zwei Minuten begegneten wir einem einsamen, entgegenkommenden Auto. Mir ging der Gedanke durch den Kopf: „ Vor denen haben wir Angst gehabt “ und mir fiel ein, daß ein hoher amerikanischer Offizier, dem ich bei einer Dinner-Party gegenüber saß, mir einmal gesagt hatte: „ Was ist denn die Sowjetunion anderes als der Kongo mit Raketen. “ Als wir vor einem Apartmenthaus hielten und ich unserem Fahrer als Dank zwei Stangen amerikanischer Zigaretten gegeben hatte, strahlte er und trug unsere Koffer. Die Gastgeberin empfing uns mit herzlichen Umarmungen. Sie stellte uns ihr Schlafzimmer zur Verfügung und schlief selbst auf einer Matratze in der Küche. Wir revanchierten uns ausgiebig, indem wir sie in eines der wenigen Geschäfte einluden, die es damals gab und die nur für Diplomaten oder Kunden mit Dollar oder Deutschen Mark zugänglich waren. Es war auch eine einundzwanzigjährige Enkelin anwesend, um beim Kochen zu helfen. Die Wohnung war freilich ein Schock wie bisher alles andere. Mittags tauchte Nina Pawlowa, die „ Nummer eins “ auf. Es gab eine nicht weniger herzliche Begrüßungsumarmung und sie entschuldigte sich, daß sie uns nicht zu sich in ihre Wohnung eingeladen hatte. Ihr Mann war ein trauriger Pflegefall, an das Bett gefesselt, der vor jeder Störung geschützt werden mußte. Er war ein berühmter Naturwissenschafter, der lebenswichtig für die Rote Armee gewesen war, die ihre Hand gleich über die ganze Familie hielt und auch der Frau ungewöhnliche Privilegien verschaffte, von denen das Wichtigste wohl war, daß man ihr in ihrem Fach ungewöhnliche Freiheiten ließ. Am Nachmittag besuchten wir mit den beiden Damen eines der „ Ausländergeschäfte “ . Es wurde ein großer Erfolg. Für den nächsten Vormittag war 108 Im freien Abendland <?page no="123"?> von den beiden Damen der „ Tourismus-Höhepunkt “ unseres Aufenthalts gcplant worden. Ein Moskauer Historiker und Kreml-Spezialist würde mit uns eine fünfstündige Tour durch den Kreml machen. Als wir am nächsten frühen Morgen mit unserem Führer an der U-Bahnstation „ Roter Platz “ ausstiegen, fanden wir den ganzen Platz von einer Zeltstadt übersät. Unser Führer, der sehr gut englisch sprach, erklärte uns, es handle sich um Russen, die Flüchtlinge aus baltischen und südlichen, moslemisch asiatischen Republiken waren, die sich dort besonders unbeliebt gemacht hatten, vertrieben worden waren und jetzt nicht wußten wohin. Die Zeltstadt war ein einziges, schreiendes Elend. Vor vielen der Zelte fanden sich demonstrative Aufschriften, welche die Abschaffung der Not forderten. Wir konnten gar nicht anders, als daß uns diese Menschen - und ganz besonders die Kinder - unendlich leid taten. Unser Führer drängte uns, so rasch es ging, in den Kreml und versuchte, uns durch seine geradezu spannend vorgetragene Gelehrsamkeit auf andere Gedanken zu bringen. Am nächsten Tag wollte ich meiner Tochter Zagorsk zeigen, obwohl ich es selbst nur aus Büchern kannte. Wir fuhren mit der Bahn bis zur Station Zagorsk, die in einiger Distanz zur kleinen Stadt selbst liegt. Es ist eine mauerumgürtete Stadt vom Mittelalter bis ins achtzehnte Jahrhundert erbaut und besteht nur aus Kirchen und Klöstern, eine Art Vatikan der russisch-orthodoxen Kirche. Da keine unserer beiden Gastgeberinnen orthodox gläubig war, hatten sie nicht daran gedacht. Die Szenerie wird von mir nur deshalb beschrieben, weil ich hier den fast unheimlichen Instinkt meiner Tochter kennen gelernt habe. Wir traten durch ein großes offenes Tor in die Stadt ein und bevor ich noch beginnen konnte, meiner Tochter die große Rolle zu beschreiben, welche die russische orthodoxe Kirche als Staatskirche sogar in der Zeit der Aufklärung gespielt hatte, hatte sie schon einen ersten Blick auf den ersten hohen Turm aus dem achtzehnten Jahrhundert nach dem Eingang geworfen und enttäuscht gefragt: „ Was macht denn dieser Rathausturm hier in einer religiösen Stadt? “ Genau das hatte ich ihr erklären wollen und erklärte es jetzt auf ihre Frage hin. Die nächste Station war Kairo und wieder waren wir beide gespannt, denn wir waren beide niemals in Ägypten gewesen, obgleich es in vieler Hinsicht die Wiege der abendländischen Kultur gewesen ist. Leider war schon damals, im Jahr 1990, der Einfluß der Moslembruderschaft sehr groß, die im Missionierungswahn ihrer unzerreißbaren Ideologie keinerlei Verständnis für die Wiege der alten Kultur hatten, sondern diese zerstören und vergessen wollte. Es hatte schon bei der Ankunft am Flugplatz beim Zoll begonnen. Vielleicht war es der heilige Freitag, an dem wir gelandet waren oder ein besonders bigotter Zöllner, der sich nicht um unsere Koffer, sondern um die in der Hitze unbedeckten Arme meiner Tochter kümmerte, die ihm tiefe Besorgnis um ihr Seelenheil bereiteten. Gottlob hatte ich mein Sakko an, weil ich die 109 Im freien Abendland <?page no="124"?> Reisepapiere, die wir ständig brauchten, bei mir trug, sodaß ich ihr das Sakko umhängen konnte. Der Vertreter des Hilton-Hotels, der uns gleich hinter dem Zoll erwartet hatte, verfolgte kopfschüttelnd die Szene. Er brachte uns in einem Wagen des Hotels durch den verrückten Verkehr. Als ich im zwölften oder dreizehnten Stock in unserem Zimmer aus dem Fenster blickte, sah ich tief unter mir den Nil, auf dem langsam Schiffe auf und ab fuhren. Noch am selben Abend machten sich die Moslembrüder wieder bemerkbar. Als wir unseren Tisch vom Abendessen verließen, hörten wir weit unter uns Musik und gingen neugierig in die Bar, aus der sie kam. Da erst erkannten wir, daß es keine moderne Tanzmusik war, sondern islamische Musik. Mindestens drei sprachkundige und elegante Ägypter standen auf der Tanzfläche. Als der Kellner uns in die erste Reihe gesetzt hatte, fiel der Blick der drei sofort auf mich. Ich wurde höflich gebeten, mich als Ausländer zur Verfügung zu stellen, um ägyptische Tanzschritte zur Musik zu lernen. Erst als der Tanz voll in Schwung war, entsann ich mich der Islamstudien vor vielen Jahren, als ich in der Türkei auf der Suche nach dem Geheimnis des Derwischordens gewesen war. Plötzlich war mir klar, daß meine Tanzschritte nichts mit einem ägyptischen Gesellschaftstanz zu tun hatten, sondern rhythmische Bewegungen einer islamischen Gebetsausübung waren. Der dumme Amerikaner sollte, ohne es zu wissen, islamisch beten. Von dem Augenblick an, als ich das entdeckt hatte, begann ich solche Fehler zu machen, daß ich wegen Unbelehrbarkeit zu meinem Tisch zurück geschickt wurde. Hier bestellte ich ein Glas Bordeaux, weil ich wußte, daß Mohamed dies gar nicht schätzte. Am nächsten Tag hatten wir eine Führung durch ein historisch interessantes Stück Land außerhalb von Kairo bestellt. Der Führer war ein Moslem. Er führte uns auch zu einer alten Moschee und berichtete uns, sie sei auf den Grundfesten eines Isis-Tempels erbaut worden, dessen Steine für die Moschee verwendet worden waren. Als ich neugierig fragte, ob man etwas über den alten Isis-Tempel wisse, wurde der Führer richtiggehend böse und belehrte mich, ich solle mich nicht um so dummes, heidnisches Zeug kümmern, sondern nur um die rechtmäßige Religion und ich erhielt eine ausführliche Baugeschichte der Moschee. Natürlich sahen wir die Pyramiden und die Sphinx, die Ausgrabungen im „ Tal der Könige “ sowie das großartige Archäologische Museum in Kairo. Für den letzten Tag hatte ich eine Fahrt auf dem Nil nach der Insel Angikia gebucht, auf welcher sich der berühmte Tempel von Philae befindet, die letzte Stätte, auf der Isis-Mysterien durchgeführt worden waren. Wir waren bis zur Endstation des großen Schiffes gefahren, wo wir auf ein kleines Schiff umsteigen mußten. Wir hatten bereits Fahrkarten und Eintrittskarten gekauft. Als ich nach einer halben Stunde vergeblichen Wartens dringlicher nachfragte, wurde mir gesagt, das 110 Im freien Abendland <?page no="125"?> kleinere Schiff sei schon abgefahren. Wir mußten sieben Stunden warten, ehe das letzte große Schiff zurückging. Es ist natürlich möglich, daß ein geldgieriger Reisebüro-Angestellter das Geld eingesteckt hatte. Aber nach all den bisherigen Erfahrungen war es wahrscheinlicher, daß man dumme ausländische Touristen vor der größten Gedenkstätte des antiken Mythos schützen hatte wollen, damit ihre Seele keinen Schaden nähme. Die nächste Station war Jerusalem. Das war in der geographischen Reihenfolge richtig, aber politisch sehr unüberlegt, denn die Spannungen zwischen Ägypten und Israel waren groß. Das Flugzeug war auch sehr klein und halb leer. Mit unseren amerikanischen Pässen ging zwar alles reibungslos, aber an den Mienen der Grenzpolizisten und Zollbeamten war deutlich abzulesen, daß sie wenig Verständnis für das Interesse an ägyptischen Altertümern hatten. Da ich mit meiner Tochter reiste, hatte ich ein Zimmer im ersten Hotel der Stadt, dem „ King David “ , genommen. Es war gut, daß sie ein besonders gutes Bett hatte. Denn während sie nach dem Flug glaubte, nur von der Hitze ermattet zu sein, brach bald darauf eine Dysenterie mit hohem Fieber aus. Zum Glück war eine sehr gute Apotheke ganz in der Nähe und am nächsten Morgen war sie bereit, Jerusalem zu sehen. Wir gingen auf den Moria-Hügel, auf dem jetzt eine riesige Moschee stand. Der Hügel ist allen drei monotheistischen Religionen heilig: den Moslems, weil von hier aus Mohamed auf seinem weißen Roß in den Himmel gesprungen war, den Juden, weil hier ihr größtes Heiligtum, der Tempel Salomonis gestanden war und den Christen, weil der Rabbi Jesus hier in diesem Tempel Salomonis gepredigt hatte und auf Betreiben der orthodoxen Pharisäer auf Golgatha hingerichtet worden war. Wir besuchten die Klagemauer und genossen die Faszination der Altstadt. Ich wollte auch, daß meine Tochter das Holocaust- Museum sieht und wir hatten eine hervorragende Führerin. Von Jerusalem ging es weiter nach Indien. Wir hatten in Neu-Delhi für einige Tage einen Wagen mit Fahrer gemietet, der uns an einige der wichtigsten Orte brachte. Der Höhepunkt war das Taj Mahal in Agra, das ein Großmogul für seine große Liebe hatte bauen lassen. Von Indien flogen wir nach Kathmandu in Nepal. Dies hatte einen besonderen Grund. Wegen meiner engen Beziehung zum tibetischen Buddhismus wollte ich mit meiner Tochter das geheimnisumwitterte Tibet besuchen. Da Tibet bereits Teil der Volksrepublik China war, hatte ich in New York um ein chinesisches Visum angesucht, das mir aber abgelehnt worden war. Nun kannte ich durch den Internationalen PEN eine britische Autorin, die in das nepalesische Königshaus eingeheiratet hatte. Meine Rechnung ging auf. Sie konnte uns ein Visum verschaffen und wir flogen nach Lhasa. Die Begleitumstände waren freilich umständlich und kostspielig. Ich mußte für die ganze Woche einen Dolmetscher - das war der chinesische Aufpasser - einen Fahrer und einen neuen Geländewagen bezahlen. 111 Im freien Abendland <?page no="126"?> Wir sahen den Jokhangtempel, den Potala-Palast und den Norbulingka. Die dünne Luft der dreieinhalbtausend Meter hohen Landschaft, aus der noch viel höhere, majestätische schnee- und eisbedeckte Gebirgsgipfel weiter aufragten, hinterließen einen unvergeßlichen Eindruck. Nur einige kleine, aber überraschende Begegnungen möchte ich mitteilen. Wir wurden pünktlich und sehr höflich vom Flugplatz abgeholt. Ich stand noch unter dem Eindruck des Anblicks der Himalaya-Gipfel, die ich immer nur Sekunden sehen konnte, wenn Nebel und Wolken es erlaubten. Im Hinblick auf meine Liebe für die chinesische Küche fand ich es sonderbar, daß das Essen, das ich auf dieser kleinen, provinziellen ostchinesischen Fluglinie erhielt, zum Teil für mich ungenießbar war. Da ich Essen grundsätzlich nicht wegwerfe, hielt ich es auf meinem Schoß. Als wir nach zehn Minuten Fahrt in freier Hochgebirgslandschaft an einem ärmlichen Haus vorbei kamen, bat ich anzuhalten, klopfte an die Haustür und gab mein Essen ab. Es war noch im Karton der Fluglinie und wurde mit großer Dankbarkeit aufgenommen. Nach zwanzig oder dreißig Minuten sah ich nahe an der Straße einen Bau, der sichtlich religiöser Natur war. Wieder bat ich anzuhalten und ging mit dem Dolmetscher hinein. Zwei Mönche saßen einander gegenüber und hatten eine offenkundig aufregende Debatte. Ich fragte den Dolmetscher, ob er etwas fragen könnte und als er bejahte, bat ich ihn über das Thema der Debatte zu fragen. Es ließ sich kurz und bündig auf einen kleinen Satz bringen: „ Wer ist größer: Buddha oder Padmasambhava? “ Es war ein sehr tibetisches Thema. Padmasambhava war einer der wesentlichen Verkünder des Buddhismus in Tibet gewesen und was er lehrte, enthielt noch etliches an magischer Geisterbeschwörung der Bon-Religion und besonders viel Tantrismus. Das Ziel unserer Fahrt war ein Hotel etwas außerhalb von Lhasa, über dessen Eingang die Inschrift „ Holiday Inn “ prangte. Es stellte sich heraus, daß es infolge der Schwierigkeiten für die Einreise so schlecht gebucht war, daß es längst in chinesischen Händen war. Unser Dolmetscher war eine große Hilfe beim Einchecken und er verabschiedete sich sodann mit dem Satz: „ Für die meisten Menschen stellt die große Höhe von Lhasa eine so große körperliche Belastung dar, daß sie starke Kopfschmerzen bekommen und todmüde werden. Aus diesem Grund rate ich Ihnen, den Nachmittag in Ihrem Zimmer zu bleiben, sich hinzulegen und sich in dieser Ruhelage an die dünne Höhenluft zu gewöhnen. Morgen um neun Uhr früh hole ich Sie ab. “ Wir packten zwar in unserem Zimmer aus, aber dann sagte ich zu Sascha: „ Das ist unsere Chance, daß wir uns ohne Bewachung umsehen können. Laß uns gehen. “ Vor dem Hotel standen zwei oder drei Tibeter, die illegal Dollar in normales tibetisches Geld einwechselten, denn wir erhielten in der Bank ein als solches gekennzeichnetes Sondergeld. Vor dem Hotel standen auch fünf oder sechs Rikschas, die von Tibetern gezogen wurden. Wir gingen zu der uns nächsten, 112 Im freien Abendland <?page no="127"?> stiegen ein und ich ersuchte, zum Jokhangtempel zu fahren. Auch wenn der Fahrer nur das Wort Jokhang verstand, wußte er Bescheid. Zuerst gingen wir in die Haupthalle und standen lange und schweigend vor dem Jowo-Shakyamuni-Buddha, einer der heiligsten Statuen des tibetischen Buddhismus. Dann erkaufte ich mir das Recht, innerhalb des Tempels zu fotografieren, und da mir die Kenntnisse fehlten, meiner Tochter als Führer zu dienen, gingen wir einzeln durch das Labyrinth der dunklen Nebenkapellen. Ich entdeckte zu meiner Freude ein kleines Bild meines geliebten Milarepa, den ich an den langgestreckten Ohren erkannte und fotografierte ihn. Als wir den Tempel verließen, entdecken wir erst, daß rings um den Tempel Buden und Stände errichtet waren, in denen man alles Erdenkliche kaufen konnte: Lebensmittel, Textilien, Gegenstände für das Haus und es gab auch einige Stände für Devotionalien. Meine Tochter machte auch das mit großer Gründlichkeit. Dann ergriff wirklich die vorausgesagte tiefe Müdigkeit Besitz von mir, wir gingen wieder zu einer Rikscha und fuhren zurück zum Hotel. Am nächsten Tag gab es ein eigenartiges Erlebnis beim Frühstück. Wir frühstückten ausführlich und unterhielten uns deutsch über den Unterschied eines nepalesischen und eines tibetischen Frühstücks. Nach dem Frühstück gingen wir auf unser Zimmer, um Kopfbedeckung, Fotoapparat und andere Dinge für den Tag zu holen. Durch den Gang zur Treppe folgte uns ein Mann, der uns von hinten plötzlich zurief mit der seltsamen Frage: „ You are Americans? “ Ich war so verblüfft, daß ich in meine hintere Hosentasche griff, in der ich unsere Pässe trug und sie ihm hinhielt. Er war offenkundig so verstört wie ich, denn er ging kopfschüttelnd weg. Nun erst fiel mir ein, daß ich ihn ja während des Frühstücks am Nebentisch gesehen hatte. Er hätte unsere Gespräche belauschen sollen, was nicht einmal bei fließender Deutschkenntnis funktioniert hätte. Unser Dolmetscher und Fahrer erschienen pünktlich um neun Uhr und der ganze Tag war dem berühmten Potala-Palast gewidmet, dem früheren Regierungspalast des Dalai Lama und zusammen mit dem Joghank die Hauptattraktion von Lhasa. Es gab über tausend Räume, von denen wir nur die wichtigsten und auch diese nur flüchtig sehen konnten. Unser Dolmetscher war ein guter Führer, der viel über Tibet gelernt hatte, auch wenn er keine Gelegenheit ausließ, den Tibetern seine Verachtung zu bekunden. In den Tempeln galt es als Sakrileg, durch das Gebäude von rechts nach links herum zu gehen, er ging niemals anders. Was mir besonders auffiel, war, daß Dutzende von Menschen aller Art von Mönchen bis zu Reinigungsfrauen auf mich als Ausländer zukamen und bescheiden fragten, ob ich ein Foto des Dalai Lama hätte, das sie mir abkaufen wollten oder das ich ihnen schenken sollte. Als ich schließlich den Dolmetscher fragte, ob es keine Dalai-Lama-Bilder gäbe, widersprach er heftig. Natürlich gäbe es sie, die Tibeter bettelten eben gerne. 113 Im freien Abendland <?page no="128"?> Am nächsten Tag stand der Jokhangtempel auf dem Programm. Der Dolmetscher begann seine Führung mit den Buden und Ständen rings um den Tempel. Plötzlich deutete er auf einen Stand und sagte: „ Bitte. Hier werden nur Dalai-Lama-Bilder verkauft. “ Den Stand hatte es nicht gegeben, als wir alleine da waren. Ich wollte sofort welche kaufen. „ Wie viele? “ , wurde ich gefragt. Ich genoß es, zu sagen: „ sechzig. “ „ Das geht nicht “ , stotterte er. „ Mehr als vier sind nicht gestattet. “ Ich kaufte also vier und verteilte sie an Bittsteller, denen es besonders ernst zu sein schien. Wir lächerliche Touristen waren es ihnen wert gewesen, einen eigenen Stand für uns aufzubauen. Das ganze Tibet-Abenteuer habe ich nachher in einer Wiener buddhistischen Zeitschrift Bodhi Baum beschrieben und in einer der berühmtesten italienischen Zeitschriften wurde der Artikel übersetzt abgedruckt. Von Tibet ging es über Taiwan nach Tokio, das wir beide schon, wenn auch nur flüchtig, kannten. In Tokio teilte mir meine Tochter mit, daß sie jetzt unbedingt sofort nach Hause mußte, sodaß ich die letzten drei Tage in Hawaii allein zu genießen versuchte, was aber nicht so recht gelang. Es gab in diesem Jahr der Erfüllung aber noch eine Begegnung, die ich erwähnenswert finde. Einerseits hatte ich in der letzten Zeit den größten Karl- Kraus-Experten kennen gelernt und mich mit ihm angefreundet. Er hieß Edward Timms und lehrte damals noch in Cambridge. Andererseits hatte ich ihn einige Male gemeinsam mit dem damaligen Chef der Kultursektion des österreichischen Außenministeriums Bernhard Stillfried getroffen, der mich als Zwischenträger und Verhandlungspartner für die Gründung eines germanistischen, österreichischen Jahrbuches in England einsetzte. Es begann schließlich mit den Herausgebern Edward Timms und Ritchie Robertson unter dem Titel Austrian Studies zu erscheinen und ich war in das Herausgeberkomitee aufgenommen worden. Das Jahr 1991 war eines der traurigsten für mich, denn es war das Todesjahr meines besten Freundes Ernst Schönwiese. In den siebenunddreißig Jahren unserer Freundschaft hatte sich so vieles an gemeinsam genossenem Schönen, an erlangtem Wissen, an gegenseitiger psychischer Verbundenheit angesammelt, daß der Schmerz noch Jahre später immer wieder aufflammte. In mir gelebt hat er schon immer, da wird sich kaum viel ändern, es sei denn, daß sein Beispiel noch stärker wirken wird. Denn er führte beispielhaft das Leben des Dienstes an der Dichtung, des Dienstes am Geist, des Dienstes an der Menschheit und des Dienstes am Freund. Ein Blick allein auf die Quantität seines Schaffens versetzt in Bewunderung. Neben den vierzehn Bänden seiner eigenen Lyrik steht da die Arbeit als Buch und Zeitschriftenherausgeber, vor allem des einmaligen silberboots und der niemals endenden Arbeit am Werk seines Freundes Hermann Broch. Dazu kommt noch die riesige Rundfunkarbeit als Programmchef und -manager, aber auch als Autor 114 Im freien Abendland <?page no="129"?> und Regisseur. Dann sind da drei Bände an Nachdichtungen dreier großer Lyriker aus dem Englischen, Spanischen und Flämischen. Nur zeitlich zuletzt, an Wichtigkeit vieles andere überragend ist das eine ganze Reihe von Übersetzungen großer mystischer Texte, bei denen ihm diejenigen seines Lehrers Garma C. C. Chang besonders am Herzen lagen. In seiner sehr knappen Anthologie von Texten seines Yoga- und Lebens- Lehrers Chang findet sich auch der Absatz: „ Wer Mahamudra praktiziert, wie es ihm gelehrt wurde, wird nicht in Verwirrung geraten und in Schrecken versetzt werden, wenn es zum Sterben kommt. Er wird ohne Furcht alle Erfahrungen durchleben, die im Verlauf des Sterbens stattfinden. Ohne sich an das Leben zu klammern oder an irgendwelche Erwartungen wird er das Licht der Mutter und des Sohnes zu einem einzigen großen Ganzen zu verschmelzen vermögen. “ Erinnern wir uns aber Ernsts, dann ist es kein Zufall, daß wir sofort das warme Gefühl seines gütigen Lächelns in unserer Herzgrube spüren, denn trotz allen körperlichen Wandels ist sein Geist natürlich mitten in uns. Ich sprach als vierter und letzter an seinem Grab. Die drei Herren vor mir hatten alle im Namen ihrer Vereinigung gesprochen. Ich aber begann mit dem Satz: „ Ich spreche hier als sein bester Freund und ich spreche nur für mich. “ Als ich geendet hatte und sich alle zum Gehen wandten, trat eine Dame auf mich zu, die Briefe mit ihm gewechselt hatte, drückte mir warm die Hand und sagte mit deutschem Akzent: „ Keiner hier hat so viel verloren wie Sie. “ Es war ihm selben Jahr, in dem ich aus dem bundesdeutschen Innenministerium in Bonn den Anruf eines sehr höflichen und kulturbewußten Herrn erhielt, der die Frage an mich richtete, ob ich bereit sei, die zeitraubende Arbeit auf mich zu nehmen, alle wichtigen Ideen der Literatur- und Geistesgeschichte der Ostprovinzen des alten Reiches (also der ehemaligen DDR) für die neue, deutsche Bundesverfassung zusammen zu stellen und zu einem einzigen, weniger als einstündigen Vortag zu verdichten. Das Honorar sei gut, aber in keinem Verhältnis zum Arbeitsaufwand. Flug und Hotel zum Vortrag in München seien gut dotiert. Aus der Formulierung der Anfrage war mir klar, daß er mehr als einen deutschen Kollegen, die sich dazu mindestens ebenso gut eigneten, vor mir angerufen hatte, daß aber alle die damit verbundene große Mühe scheuten. Infolge meines Interesses an demokratischen Verfassungen reizte mich das Thema, wozu noch kam, daß mir zu jenem Zeitpunkt nach dem Tod von Ernst die Flucht in eine harte Arbeit sehr willkommen war. Ich sagte zu und schrieb einen Vortrag mit dem Titel: „ Die Literatur der Ostprovinzen des alten Reiches und der Geist des Grundgesetzes der deutschen Bundesrepublik “ . Ich habe ihn in meinem Band Literatur und Politik veröffentlicht. Der schwierigste Teil für mich, weil vollständig neu, war die Voraussetzung des Ganzen, mich in Geschichte und Wesen des deutschen Grundgesetzes genau 115 Im freien Abendland <?page no="130"?> einzulesen. Daß ich früher einmal von Einflüssen der amerikanischen Verfassung auf das deutsche Grundgesetz gelesen hatte, erhöhte noch den Anreiz. Bei der Konferenz zu diesem Thema in München stellte sich heraus, daß der Spiritus rector der berühmte Bonner Slawist Hans Rothe war, den ich in vieler Hinsicht sehr hoch schätzte. Er war ja selbst Flüchtling vor den Russen aus Ostpreußen und wollte das geistig Positive aus der alten Zeit der traurigen Zeit der DDR und der russischen Besetzung gegenüber stellen. Das Jahr 1991 war auch das Jahr, in dem ich meinen Freund kennen lernte, den ich immer nur „ meinen großen Amerikaner “ nannte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer uns bekannt machte. Er hieß Jon Van Zandt und wohnte etwa einundeinhalb Autostunden entfernt von meiner Waldeinsamkeit im Kurort Saratoga Springs, der nicht nur durch seine Bäder und Trinkkuren bekannt war, sondern noch mehr durch seine Pferderennen und seine großen Musikveranstaltungen. Van Zandt war ein West-Point-Graduate und Berufsoffizier. Für den ersten großen Auftakt unserer Begegnung waren zwei Dinge wichtig: erstens, daß mich ein halbes Jahr zuvor ein früherer Assistent meines Freundes Zdenko Š kreb, namens Ivo in Amerika besucht hatte, der damals schon selbst längst Ordinarius gewesen war. Er hatte mir berichtet, daß er der zentralen Gruppe eines kroatischen Geheimklubs angehörte, der alles für die Gründung eines freien, kroatischen Staates einschließlich der Anlage von Waffenlagern vorbereitet hatte. Ein kroatischer General war der Leiter des Ganzen. Zweitens aber war für die Chronologie wichtig, daß damals Mr. Clinton Präsident der USA war, dessen Interesse für weibliche Schönheit weitaus größer war als sein Interesse für amerikanische Außenpolitik. „ Mein “ großer Amerikaner ist auch ein sehr einflußreicher Amerikaner. Vielleicht war er Mitglied einer einflußreichen Offiziers-Lobby oder aber hatte sein ältester Sohn eine so hohe politische Stellung, daß sein Arm bis in das Büro des Präsidenten reichte. Aber auch mein Freund Ivo mußte auf seiner Seite eine sehr wichtige Position inne haben. Denn als der Aufstand ausbrach, der Krieg begann und das erste Regierungsmitglied, der Informationsminister, nach Amerika flog, um Kontakt mit Washington aufzunehmen, da kam er auf Ivos Rat zuerst zu mir in meine Waldeinsamkeit, bevor er nach Washington weiter flog. Als ich bereits 1990 zu einer internationalen PEN-Veranstaltung zum PEN Liechtenstein eingeladen worden war, um über die „ Schwierigkeiten “ zu sprechen, im ehemaligen Jugoslawien Frieden zu finden, da hatte ich erklärt, daß es keinen Frieden geben könnte, solange nicht Belgrad bombardiert worden sei. Das hatte ich auch meinem „ großen Amerikaner “ geschrieben. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, Präsident Clinton zu überzeugen, daß dies der Weg sei. Er brachte es jedenfalls fertig, Belgrad wurde bombardiert und der Friede wurde geschlossen. 116 Im freien Abendland <?page no="131"?> „ Mein “ großer Amerikaner ist ungewöhnlich gebildet, ein Mann der Freiheit und stets hilfsbereit. Ich bin sehr stolz, daß ich ihn meinen Freund nennen darf und ebenso stolz, daß auch sein „ Prince of Dobermanndogs “ namens „ Prince “ mein Freund ist. Ich hoffe, daß meine Erinnerung im Hinblick auf das Jahr korrekt ist und daß 1992 wirklich das Jahr meiner denkwürdigen Begegnung mit Taiwan ist. Es könnte freilich auch bereits einige Jahre früher gewesen sein. Meine Einladung nach Taiwan hatte eine Vorgeschichte. Als 1949 die „ Volksrepublik China “ ausgerufen wurde, floh die Regierung der alten Republik China nach Formosa, das als staatlichen Namen Taiwan annahm. So gut wie alle Mitglieder des Chinesischen PEN waren mit der alten Regierung nach Taiwan gegangen. Da die Volksrepublik China ebenso wie die Sowjetunion durch Jahrzehnte es abgelehnt hatte, die demokratische PEN-Charta zu unterschreiben und gar keinen PEN wollte, gab es durch zweiundzwanzig Jahre kein Problem. Das änderte sich mit einem Schlag, als drei chinesische Herren bei einem Weltkongreß auftauchten, die eine Liste von Mitgliedern mitgebracht hatten, die alle die Charta unterschrieben hatten. Wegen der riesigen Ausdehnung Chinas und der großen Bevölkerungszahl forderten sie zugleich vier oder fünf Zentren in China. Zugleich forderten sie, daß der alte Chinesische PEN-Club in Taiwan die Anerkennung eines PEN-Zentrums verlieren sollte. Was sich durch Nixons Entscheidung in der UNO vollzogen hatte, sollte nun auch beim PEN durchgespielt werden. Der Unterschied war aber der, daß der Internationale PEN demokratisch organisiert war und er nicht wie ein gut abgerichteter Hund die Wünsche eines mächtigen Politikers apportierte. Dazu kam noch etwas anderes. Von Anfang an und durch viele Jahre war der alte Chinesische PEN von derselben Dame als Delegierte vertreten worden, die liebenswürdig, bescheiden, gebildet und freundlich war und von allen gemocht wurde. Sie meldete sich nur selten zu Wort und begann jedes Mal mit dem Satz: „ Ich bin nur eine Hausfrau. “ Wegen dieses Satzes hatte ich sie zwei oder drei Mal in den Jahren zum Mittagessen eingeladen, was sie mit großem Dank angenommen hatte. Niemand wollte der kleinen, zierlichen Person weh tun. Vom ersten Augenblick an stellten sich zwölf oder dreizehn Zentren hinter sie, wobei das Zentrum Amerika-West durch meinen Freund Jascha Kessler und Österreich durch mich besonders aktiv waren. Da die Chinesen immer mit dem Namen Nixon operierten, operierte Jascha immer mit dem Namen Amerika, wodurch ihm besondere Bedeutung zukam. Der Streit zog sich durch Jahre hin, bis Jascha die glänzende Idee hatte, die Diskussion vom Forum des Weltkongresses weg in das Zimmer des Leiters der chinesischen Delegation zu verlegen, wo er ihn zu einem privaten Gespräch aufsuchte. Da ich mit Jascha alles vorher durch besprochen hatte, weiß ich, was er gesagt hat. „ Was wollen Sie? Sie vertreten ganz China und eine Weltmacht. Was bringt 117 Im freien Abendland <?page no="132"?> Ihnen denn der Ärger des Streits um Taiwan? Das ist doch für Sie ein Fliegenschiß. Sie können sich den Ärger ersparen und Ihre wahre Größe zeigen, indem sie das Taiwan-Zentrum nicht ernst nehmen. Außerdem würden wir Ihnen dann alle bei der Zahl der Zentren für Mainland China entgegen kommen. “ Von diesem Augenblick an war Ruhe auf dem Weltkongreß, aber dafür wurde unsere „ Hausfrau “ in Taiwan aktiv. Sie war gerührt vom Einsatz ihrer Anhänger und argumentierte so geschickt, daß die Regierung von Taiwan dies als außenpolitischen Erfolg ausschlachten konnte. Nach drei oder vier Jahren war es so weit, daß je zwei Delegierte von jedem der PEN-Zentren, die Taiwan aktiv unterstützt hatten, von der Regierung Taiwans als Dank für zwei Wochen eingeladen wurden. Ich weiß nicht mehr, weshalb ich nicht mit der ganzen Gruppe nach Taiwan geflogen war, sondern erst einen Tag später kam. Unvergeßlich aber ist mir die Abholung am Flugplatz. Als das Flugzeug ausgerollt war, wurde zuerst eine Leiter herangeschoben, damit man aussteigen konnte. Sodann tauchte ein Mann mit einem Polizisten auf, der sich unten neben der Leiter aufstellte. Schließlich kam ein Bus, der die Passagiere aufnehmen sollte. Als ich festen Boden erreicht hatte, trat der Mann auf mich zu, begrüßte mich freundlich und ging mit mir und dem Polizisten auf die nächste Tür im Flughafengebäude zu. Es gab keine Grenzkontrolle und keinen Zoll und vor allem kein Anstellen. Wir gingen zu einem Auto mit Chauffeur und nahmen am Rücksitz Platz. Der Polizist wurde ausgeschickt, um meinen Koffer zu holen und ihn ins Hotel zu bringen. Es stellte sich rasch heraus, daß mein „ Abholer “ Wang Lan hieß und ein berühmter Autor war. Sein wichtigster Roman trug den Titel Blau und Schwarz und zeigte, daß er Stendhals Rot und Schwarz kannte. Der Roman war damals ein ungewöhnlicher Erfolg gewesen. Es gab eine Verfilmung und es war ein Lied über den Inhalt entstanden, das zu einem wahren Volkslied geworden war und nicht nur in Taiwan, sondern auch in der Volksrepublik China gesungen wurde. Der Hauptunterschied zwischen Stendhals Rot und Schwarz und Wang Lans Blau und Schwarz besteht darin, daß Stendhals Hauptheld ein Ausnahmemensch ist, der aus Enthusiasmus und geballter Willenskraft Höhepunkte seines Lebens erreicht, während für Wang Lans Haupthelden nichts höher steht als die Erfüllung moralischer Prinzipien und die Gleichheit aller vor den demokratischen Gesetzen. Der Roman erfüllte die Doppelfunktion in dem bis vor etlichen Jahren autoritären Taiwan die höchsten Ideale der Demokratie zu erfüllen, wie auch einen Kontrast zu dem noch immer totalitären Staat der kommunistischen Volksrepublik China herzustellen. In der Volksrepublik China gab es allerdings Leser, die alles so mißverstanden, daß die höchsten Ideale des Helden zugleich die Erfüllung der kommunistischen 118 Im freien Abendland <?page no="133"?> „ Moral “ darstellten, denn der Gegensatz der ursprünglich idealen kommunistischen Idee und der korrupten Wirklichkeit des kommunistischen Staates durfte nicht zugegeben werden. Die Regierung der Volksrepublik fand offenbar durch ihren Geheimdienst einen Weg, Wang Lan ein sagenhaft großartiges Angebot zu machen, wenn er auf das Festland zurück übersiedelte. Er hat das Angebot natürlich abgelehnt. Jetzt brachte er mich vom Flugplatz zum Hotel unserer ganzen Gruppe. Es war das riesige Luxushotel in chinesischem Stil, welches das Vorzeige-Hotel der Regierung war. Dort empfing uns unsere kleine Hausfrau und eröffnete mir, daß ihr Mann der Architekt des Hotels war, sodaß sie die Gattin eines Multimillionärs war. Ich hatte sie zu einem bescheidenen Essen im jeweiligen Kongreßhotel eingeladen und sie hatte sich noch bescheidener sehr bedankt. Taiwan hatte damals bereits zweiundzwanzig Millionen Einwohner und einen solchen Aufschwung genommen, daß es als einer der vier Tigerstaaten Asiens galt. Jetzt verstand ich auch, weshalb sich der Aufenthalt unserer PEN- Gruppe zu einem überwältigenden Luxusurlaub entwickelte. Der Direktor des Nationalmuseums führte uns selbst durch die ungeheuren historischen Schätze seines Museums, welche die Regierung der Volksrepublik gerne gehabt hätte, aber nicht hatte. Der ungewöhnlich gebildete Herausgeber der größten Zeitung führte uns durch eine eigene Ausstellung, in die fast alle Schüler geführt wurden. Sie war aber auch für ausländische Touristen von großem Interesse, weil sie die Geschichten von „ Volksfiguren “ der chinesischen Geschichte in hübschen Bilderfolgen wieder gab. Ich entdeckte mit Entzücken eine vereinfachte Bilderfolge des Romans von Wu Cheng ’ en Der rebellische Affe, den ich in Rowohlts Klassiker-Bibliothek gelesen hatte. Vom wahren historischen Kern der in der Tang-Zeit stattgefundenen Reise des chinesischen Mönchs Xuanzang nach dem Westen war fast nichts geblieben als der Name des Mönchs Xuanzang, der von China nach Indien gereist war, um die Lehre des Buddhismus nach China zu bringen. Im zweiten Teil des Romans wird die Reise nach dem Westen völlig unhistorisch beschrieben, wobei einer seiner drei Begleiter, der Affe Sun Wukong zur Hauptfigur wird. Dieser Affe wurde zur vielleicht beliebtesten Gestalt der chinesischen Volksliteratur. Was mich bezaubert hatte, war das Geschick des Autors, die religiöse Grundidee mit einem wahren Schatz von chinesischen Mythen und esoterischen Symbolen zu verbinden. Das ist der ernsthafte, wichtige Gehalt des Romans, der alles so beherrscht, daß der Name des reisenden Mönchs Xuanzang erst ganz am Schluß erwähnt wird. Der vom Himmel und von der Erde geborene steinerne Affe Sun Wukong hat überirdische Fähigkeiten. Er macht sich zum Affenkönig und es gelingt ihm, sogar im Himmel Aufruhr zu stiften. Alle Mittel des Himmelskaisers, sich zur 119 Im freien Abendland <?page no="134"?> Wehr zu setzen, versagen, sodaß er zuletzt Buddha selbst zu Hilfe ruft, der Wukong durch Zauber an einen Felsen fesselt. Jahrtausende später wird er vom chinesischen Mönch Xuanzang befreit, dessen Schüler er wird. Er begleitet seinen Lehrer zehn Jahre auf dessen Reise, die vor dem Antlitz Buddhas endet. Die Leidenswege, die Xuanzang auf dieser Reise zurücklegt, sind Wukongs Buße, bis er die letzte Prüfung vor Buddha selbst besteht. Es gab eine ganze Reihe Verarbeitungen des Romans im Fernsehen, sodaß die Schüler einem bekannten Stoff gegenüber traten. Einmal machten wir einen Ausflug an einen See, ein anderes Mal trafen wir uns mit einer kleinen Gruppe von Gourmets in herrlicher Umgebung im Freien zu einer Grillparty. Für mich von großem Interesse war ein Besuch in der Nationalbibliothek, die in so guten, kundigen Händen war, daß ich an den Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek einen Brief mit dem Vorschlag eines Austausches schrieb, der natürlich unbeantwortet blieb. Das Jahr 1993 stand im Zeichen Petersburgs. Es war der am Osten so interessierte, Außenminister Mock, der die Eröffnung der Österreich-Bibliothek selbst vornahm. Da mein Freund György bereits drei Jahre tot war, wußte ich nicht, wem ich die Einladung verdankte, die Eröffnungsansprache zu halten. Ich hatte als Höflichkeitsbeweis für das neue Russland nach der Wende als Thema: „ Der Einfluß der russischen Literatur auf die österreichische “ gewählt. Bereits zwei Tage vor meinem Vortrag war ich nach Moskau zu meiner Freundin Nina Pawlowa nach Moskau geflogen. Da sie die russische Literatur sehr viel besser kannte als ich, zeigte ich ihr das Manuskript meines Vortrags und besprach es mit ihr. Sie machte mich mit einer ebenso sympathischen, wie klugen und hilfsbereiten Frau Dr. Wästfeld bekannt, die den Posten eines österreichischen Kulturattachés bekleidete. Wir besprachen zu dritt die Einladungsliste der Gäste sowohl für den Vortrag als auch für das anschließende Festessen. Als der Name Admoni fiel, setzte ich mich sehr für ihn ein. Ich wußte, daß er einer der besten, wenn nicht der beste russische Rilke-Übersetzer war und ich wußte auch, daß er ein Kenner Thomas Manns und Ibsens war. Auch war er Mitglied der Akademie der Wissenschaften, was nur wenige schafften. Als Frau Dr. Wästfeld fragte, wie er zum Bolschewismus stünde, erklärte ich im Brustton fester Überzeugung, daß er unmöglich jemals dafür hätte sein können, obwohl ich keine Einzelheiten wußte. Das gab den Ausschlag. Ich ahnte freilich nicht, daß er die bleibende Begegnung für mich in Petersburg werden sollte. In Petersburg traf ich bereits am Morgen der Eröffnung ein und wollte mir vorsichtshalber den Saal ansehen, in dem ich sprechen sollte. Vor allem wollte ich ein Rednerpult haben. Als ich den Saal durch einen Eingang betrat, betrat ihn durch einen anderen Eingang ein stattlicher Mann mit zwei Begleitern, mit denen er etwas besprach. Dann kam er neugierig zu mir herüber. Nachdem ich seine russische Frage nicht verstand, versuchte er es deutsch: „ Wer sind denn Sie? “ „ Ich bin der 120 Im freien Abendland <?page no="135"?> Amerikaner, der am Abend den Vortrag hier halten wird. “ Er warf einen Blick auf meine breiten, tschechischen Backenknochen und meinte: „ Sie sehen aber nicht wie ein Amerikaner aus. “ Ich war verärgert. „ Sie sehen auch nicht wie ein Russe aus. Wer sind denn Sie? “ „ Ich bin der Bürgermeister. “ Er war damals der zweitmächtigste Mann nach dem Präsidenten in Russland. Ich schluckte und entschuldigte mich. Er sagte freundlich: „ Wir sehen uns am Abend “ und verließ mit seinen beiden Bodyguards den Saal. Knapp vor der Eröffnung sah ich zum ersten Mal Professor Admoni, und obwohl es nur Zeit für ein ganz kurzes Gespräch gab, war ich fasziniert und bat ihn, daß wir beim Abendessen nebeneinander sitzen sollten. Das Abendessen fand im sogenannten „ Marmorpalast “ Petersburgs statt und es bestand nicht nur aus einer ausgesuchten Speise- und Getränkefolge, sondern gleichzeitig und vor allem in den Pausen zwischen den Gängen wurden die Gäste besonders unterhalten. Ein Jugendchor sang russische Volkslieder, Akrobaten zeigten ihre Kunststücke, ein Balalaika-Spieler und Sänger produzierten sich. Das Essen dauerte über fünf Stunden und ich hatte viel Zeit, um Professor Admoni kennen zu lernen. Die ersten Sätze, die er zu mir sagte, waren: „ In diesem Gebäude bin ich bisher nur ein einziges Mal in meinem Leben gewesen. Es war im Jahr 1937, in der Zeit der Säuberungen. Ich war angeklagt, bürgerlich-reaktionäre Literatur verbreitet zu haben, weil ich in meiner Vorlesung auch über Thomas Mann gesprochen hatte. Das Tribunal bestand aus drei Kollegen, die radikale Kommunisten waren. Ich wurde freigesprochen, aber der Vorsitzende des Tribunals wurde ein Jahr später in den Säuberungen hingerichtet. “ „ Wieso sind Sie davongekommen? “ fragte ich. Er dachte kurz nach und dann sagte er: „ Erstens habe ich den Mund gehalten und zweitens Glück gehabt. “ Ich sagte ihm, es gäbe unter meinen russischen Kollegen einige so ausgezeichnete, daß ich sie nur bewundern könnte, wie sie unter diesen Umständen ein solches Wissen akkumulieren hatten können. Meine Freundin Nina sei ein solcher Fall. Trotzdem werde in seinen Arbeiten mitunter ein Horizont sichtbar, der einfach einzigartig ist. Ohne zu überlegen antwortete er: „ Das ist ein Jahrgangsproblem. Ich war verblüfft: „ Wieso? “ „ Ich bin der weitaus älteste. Die ersten fünf Jahre meiner Schulzeit liegen vor der Revolution und ich habe sie in einer Eliteschule absolviert, die ein liberaler Großfürst für besonders begabte Petersburger Kinder gegründet und finanziert hatte. Da habe ich bereits Rilke kennen gelernt. “ Die amerikanischen Russen, die in den USA Radio Liberty betrieben, das nur Sendungen in russischer Sprache ausstrahlte, wußten, wer er war, und haben ihn nach der Wende zur Mitarbeit gewonnen. Admoni hat auch immer schon eigene Lyrik geschrieben. Nach der Wende schrieb er zwölf Hymnen an seine Vaterstadt Petersburg, das damals noch Leningrad hieß. Die zwölf Hymnen hatten den Sammeltitel „ Petersburg “ . Radio 121 Im freien Abendland <?page no="136"?> Liberty sendete sie und die Sendung war ein solcher Erfolg, daß sie mehrfach wiederholt werden mußten. Nach der siebenten Wiederholung wurde die Idee geboren, eine Volksabstimmung abzuhalten und die Bürger der Stadt traten mit großer Mehrheit für die Rückbenennung in Petersburg ein. Ich sagte ihm, das sei eine der schönsten Geschichten, die ich über die mögliche Macht der Dichtung je gehört hatte. Er erzählte mir auch, daß er immer wieder in Zeiten der Aufweichung das Wort für die Freiheit ergriffen habe. Im Jahr 1960 schrieb er etwas über Thomas Mann und 1965 ging er sogar so weit, im Gericht als Sachverständiger im Prozeß gegen Joseph Brodsky aufzutreten. Er hatte Brodsky einen bedeutenden Dichter und Übersetzer genannt, wozu großer Mut gehört hatte. Brodsky, der bereits als amerikanischer Bürger zwei Jahre vor der „ Wende “ den Nobelpreis erhalten hatte, war wohl auch der Mann, der die Leute von Radio Liberty auf Admoni aufmerksam gemacht hatte. Als ich das nächste Mal nach Petersburg kam, wollte ich ihn natürlich sehen. Man sagte mir, daß er schwer an Krebs erkrankt sei und das Haus nicht mehr verlasse. Ein junger Kollege führte mich zu ihm. Er war angekleidet und bot mir ein Glas Wodka an. Dann berichtete er mir die letzte für ihn wichtige Neuigkeit. Er hatte gemeinsam mit seiner Frau T. I. Silman, die getrennt von ihm gewohnt hatte, ein letztes Buch fertig stellen können. Es war eine Geschichte der Entwicklung Russlands von der Revolution bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion nach den unabhängigen Erfahrungen und Eindrücken der beiden Zeitzeugen. Dann kam es zu einer letzten Abschiedsumarmung und bald darauf war er tot. Ich hatte ihn um zwei Exemplare des Buches gebeten und sie erhalten: eines für mich und eines für einen deutschen Verlag. Das eine Exemplar schickte ich einem wichtigen Mann des Insel Verlags, Dr. Honnefelder, mit dem ich bekannt war und der mich schätzte. Unglücklicherweise war er wenige Wochen zuvor zu einem großen Kölner Reiseverlag gewechselt. Mein Exemplar ging mit meiner gesamten Bibliothek als Geschenk an die Niederösterreichische Landesbibliothek in St. Pölten, wo man gewiß keine Ahnung hat, welcher Schatz dieses Buch ist. Das Jahr 1994 trägt ohne Zweifel für meine wichtigste Begegnung den Ortsnamen Kiew und es handelt sich nicht um die Begegnung mit einem Lebenden, sondern mit einem Toten, den ich in diesem Jahr für mich entdeckte. Zum zweiten Mal nach der Wende war ich von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften eingeladen worden, an einem Symposium teilzunehmen. Dieses Mal war es ein großes Symposium mit Dutzenden von Vortragenden aus der ganzen Welt. Es ging um die Gedenkfeier des hundertsten Geburtstages des großen ukrainischen Literaturwissenschafters Dmitrij Tschi ž ewskij und da er einmal auch sechs Jahre in Harvard war und ich ihn flüchtig getroffen hatte, wählte ich 122 Im freien Abendland <?page no="137"?> mir als Thema die Gesamtwürdigung seines Werks ohne Rücksicht darauf, daß es eine intensive Arbeit von vielen Monaten für einen einzigen Vortrag sein werde. Wieder einmal fand die harte Arbeit ihre Belohnung, denn dadurch, daß ich der einzige war, der sie nicht gescheut hatte, erhielt ich den Eröffnungsvortrag mit den Diplomaten, der Presse und dem Festtagspublikum. Ich begann mit dem Hinweis auf die große Festschrift, die ihm zu seinem siebzigsten Geburtstag unter dem Titel Orbis Scriptus dargebracht worden war. Sie enthält unter den Autoren der fast hundert Beiträger so gut wie alle hervorragenden Vertreter der Slawistik mit Ausnahme jener der Sowjetunion. Der sehr bezeichnende Titel erfüllte eine Doppelfunktion. Er war eine Anspielung auf das Werk des großen mährischen Humanisten, Gelehrten und Dichters Jan Amos Comenius, den Tschi ž ewskij verehrte und dem er sich geistesverwandt fühlte, und zugleich war der Titel ein Hinweis auf die wahrhaft weltweite Geltung der Leistung des Gelehrten Tschi ž ewskij selbst. Ich wies darauf hin, daß auch Männer von allgemeiner geistiger Bedeutung jenseits von Sprache und Literatur in dieser Festschrift vertreten waren, wie Hans Georg Gadamer, Roman Ingarden und Fedor Stepun. Denn Tschi ž ewskij war nicht nur Literaturkritiker und Literaturtheoretiker gewesen, sondern war auch theologisch geschult und zudem Komparatist und Philosoph. Ich zitierte aus den Wiener Vorlesungen von Friedrich Schlegel vor fast zwei Jahrhunderten, in denen er sagte „ Eine jede bedeutende und selbstständige Nation hat . . . ein Recht darauf, eine eigene und eigenständige Literatur zu besitzen und die ärgste Barbarei ist diejenige, welche die Sprache eines Volkes unterdrückt. “ Ich führte aus, daß sich die Russen dieser ärgsten Barbarei schuldig gemacht haben. Schon 1994 hatte ich kritisiert, daß im ukrainischen Parlament auch russisch gesprochen wurde und daß die Russifizierung des Donezk-Gebiets schneller fortschritt als in der Sowjetzeit, was nur unter massivem russischen Druck möglich war. Ich ging auf das eigenartige Verhältnis von Unterdrücker und Unterdrückten ein. Selbst ein fähiger Vertreter der Unterdrücker wird sich kaum jemals mit der Sprache, Literatur und Geistigkeit der Unterdrückten beschäftigen, während ein geistig begabter Vertreter der Unterdrückten sich neben der eigenen Sache oft auch für die Sprache und Geistigkeit der Unterdrücker interessiert. Mein Musterbeispiel war Tschi ž ewskij und ich dokumentierte im einzelnen, welche allgemeinen, großen Verdienste ihm für die Erforschung der russischen Literatur zukommen. Ich dokumentierte seine abendlandweiten komparatistischen Studien. Tief sinnbildlich ist es, wenn er sich so ausführlich mit dem Topos der vertriebenen Wahrheit auseinander setzte. Ich sprach vom Ureigensten seiner Arbeiten, jener über ukrainische Sprache und Literatur. Ich erwähnte die wichtige Neuausgabe des Paterikons des alten Höhlenklosters des heiligen alten Kiew nach jener von Abramoviy č . Ich betonte 123 Im freien Abendland <?page no="138"?> seine Arbeit über den intellektuellen Romantiker Pantelejmon Kuli š , dessen Lyrik, dessen Versuch ein großes Nationalepos Ukrajina zu schreiben und dessen weltliterarische Übersetzungen sowie dessen wichtigen Beitrag zur Schaffung der modernen ukrainischen Literatursprache. Er hatte gehofft, daß Dichtung die Macht und Kraft sein würde, um die Ukraine zu erneuern. Er war nicht der einzige, der das geglaubt hatte. Auch die Feinde der Ukraine hatten das gefürchtet. Denn sehr viel später steht der empörungs- und haßfreie Satz als nüchterner Faktenbericht: „ Die Terrorwelle nach 1930 kostete etwa zweihundert ukrainischen Dichtern das Leben. “ In seinen sechs Jahren in Harvard hat Tschi ž ewskij es niemals weiter als bis zur Position eines „ Visiting Lecturer “ gebracht. Sein russischer Kollege Roman Jakobson, berühmt und tyrannisch, Sowjetexilant wie Tschi ž ewskij selbst, war so eifersüchtig auf den großen Ukrainer, daß er alles daran setzte, um dessen lokalen Erfolg zu verhindern. Dennoch brachen Tschi ž ewskijs Beziehungen auch nach seinem Verlassen zu Harvard nicht ab. Eines seiner wichtigsten Bücher, die letzte, definitive Fassung seines Werks über den Mystiker Skovoroda ist zwar in deutscher Sprache, aber in der Reihe The Harvard Series in Ukrainian Studies erschienen. Obwohl Tschi ž ewskijs Deutsch fließender war als sein Englisch, war er in Deutschland keineswegs glücklicher als in Amerika. Er war nur ein Jahr vor Hitlers Machtantritt nach Halle berufen worden. Er war aktives Mitglied der inneren Emigration gewesen. Um sein Leben erträglicher zu gestalten, verbrachte er jedes Jahr fünf Monate in der Tschechoslowakei, wo er in Prag die Zusammenkünfte des berühmten Prager Linguisten- Zirkels besuchte, dem er von Anfang an wie Roman Jakobson und René Wellek angehörte. Ab 1937 wurde ihm aber von der deutschen Behörde das Reisen nach Prag verboten. Seine Beiträge zu einem in Prag erscheinenden Sammelband mußte er unter dem Pseudonym Fritz Erenbusch unterbringen. Nach 1948 verhinderten die Kommunisten seine Reisen nach Prag. Im Jahr 1930 hatte er einen Beitrag zur Festschrift für den damaligen Präsidenten (und Gelehrten) Thomas Masaryk geschrieben. Er war überzeugt, daß seine eigene Arbeit am ehesten von den Tschechen gewürdigt würde, bei denen seine Beiträge zur Comenius-Forschung, zur tschechischen altslawischen Literatur und zu tschechischen Liedern des Mittelalters regen Widerhall gefunden hatten. Tschi ž ewskij stellte sich im Grund immer wieder allein gegen festgefahrene, falsche Konventionen der Forschung und hat sie überwunden. Das ungewöhnliche Ausmaß an geistiger Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, sein Mut, seine Durchsetzungsenergie und Wahrheitsliebe kennzeichnen sein gesamtes Werk. Es war sehr passend und sinnvoll, daß Tschi ž ewskij den anderen großen Ukrainer der Vergangenheit Pantelejmon Kuli š einen „ ukrainischen Philosophen des Herzens “ genannt hat. Möge die Liebe dieser Großen und nicht zuletzt jene 124 Im freien Abendland <?page no="139"?> von Tschi ž ewskij selbst dieser Ukraine zu einem glücklicheren Schicksal verhelfen, als sie es bisher gehabt hat. Das Jahr 1995 stand ganz im Zeichen von Czernowitz, das nach einem seltsamen und vielfachen Wandel seiner Zugehörigkeit heute Teil der Ukraine geworden ist. Im Jahr 1995 habe ich gemeinsam mit einer slawistischen Kollegin ein Buch herausgegeben, das die Frucht einer Reise gewesen ist, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1994 stattgefunden hatte. Die wichtigste geistige Begegnung des Jahres war die mit dem ukrainischen Komparatisten Peter Rychlo. Als ich im September 1994 nach zweitägiger Fahrt aus Wien mit unserem Gruppen-Autobus am späten Nachmittag in unserem Czernowitzer Hotel eingetroffen war, zog ich zitternd vor Kälte auch innerhalb des Hotels einen zweiten Pullover an und ging dann vor das Hotel, um einen Blick auf die malerisch unter uns liegende Stadt zu werfen. Vor dem Hotel stieß ich auf den ebenso intelligenten wie humorvollen Wiener Historiker Wolfgang Häusler, der aus demselben Grund vor das Hotel getreten war. Häusler drehte sich zu mir und sagte lächelnd: „ Die Stelle, an der wir hier stehen, ist genau der Platz, von dem aus gesehen Czernowitz am schönsten ist. Denn man sieht die ganze Stadt, braucht aber das Hotel nicht anzusehen, weil man es im Rücken hat. “ Ich ergänzte geistesgegenwärtig: „ Das betrifft nur die Außenseite. Innen ist das Hotel das, was man in Amerika treffend „ Inside Camping “ nennt. Wir lachten und gingen zurück auf unsere Zimmer, einem ungewissen Abendessen entgegenblickend. Denn vielleicht war die Küche in diesem sowjetischen Bauwerk seiner Architektur angepaßt. Ich war zu einem Symposium an der Universität Czernowitz eingeladen worden und hatte in meinem Koffer mein Manuskript über die deutschsprachige Literatur von der Übernahme der Bukowina im 18. Jahrhundert durch Österreich bis zur Gegenwart. Dabei war die Gegenwart besonders wichtig, denn zu ihr gehörten drei Spitzenlyriker des 20. Jahrhunderts, die sich alle drei besonders bewußt waren, der österreichischen Geistigkeit zu zugehören: Celan - Ausländer - Gong. In diesem Zusammenhang hatte ich ein Jahr zuvor auch Peter Rychlo kennen gelernt. Die ukrainische Akademie hatte mich zu einem Symposium über ukrainisch-österreichische Literaturbeziehungen nach Kiew eingeladen. Ich hatte als Thema „ Schewtschenkos Einfluß auf die österreichische Literatur “ gewählt. Keiner der anwesenden Österreicher kannte den größten ukrainischen Lyriker und keiner der anwesenden Ukrainer wußte, daß er Einfluß auf die österreichische Literatur gehabt hatte. Nach meinem Vortrag kam ein junger Mann zu mir, der bescheiden hinten auf der letzten Bank gesessen war, stellte sich als Peter Rychlo vor und übergab 125 Im freien Abendland <?page no="140"?> mir als Geschenk ein kleines Büchlein, das von ihm ins Ukrainische übersetzte Gedichte von Czernowitzer Lyrikern enthielt. Ich warf einen Blick hinein und sah sofort, daß es fast ausschließlich Celan-Übersetzungen waren und dahinter einzelne Gedichte von anderen. Da wußte ich, daß ich mir den Namen Rychlo merken mußte. Heute ist Peter mein Freund und weltbekannt. Bei dem Czernowitzer Symposium im September 1994 hatte er bereits einen denkwürdigen Vortrag gehalten. Mich hatte der Initiator der ganzen Reise Bernhard Stillfried, Leiter der Kultursektion des österreichischen Außenministeriums, als Gast des Ministeriums eingeladen. Stillfried war ein geschäftiger Aktivist in der Erschließung österreichischer Kultur in den östlichen Kronländern der alten Monarchie. Er wußte, daß es eine gute Investition war, mich einzuladen, weil er eine gute Buchpublikation dafür erhalten werde. Nachdem die Sowjets die gesamte alte Kultur der Bukowina auszulöschen versucht hatten und der neue ukrainische Staat eine Rückbesinnung ermutigte, war ein solches „ Czernowitz-Symposium “ sehr sinnvoll und positiv. Was der Vielvölkerstaat der alten Donaumonarchie vorstellen hätte können und was durch die Dummheit der Regierenden fast auf ihrem ganzen Gebiet gescheitert war, jene multinationale, multiethnische Symbiose der verschiedenen kulturellen Kräfte war noch am ehesten in der Residenzstadt Wien und noch fugenloser in Czernowitz verwirklicht worden, das seinen Spitznamen „ Klein-Wien “ wirklich verdient hatte. Die ersten die hier einen Keil des Hasses in die Harmonie hinein getrieben hatten, waren die Deutschnationalen gewesen. Sie hatten aus berechtigten Minderwertigkeitsgefühlen heraus jene große Arroganz kompensiert, die dazu notwendig war. In Czernowitz hatte sich eine rund zweihundertjährige österreichorientierte Dichtungstradition ergeben, die in der Lyrik Paul Celans gipfelte. Seine Dichtung enthält ukrainische und russische, rumänische und französische Züge, die sich mit dem tragenden Grundgerüst der österreichischen Dichtung verbinden, wozu noch vor allem beim späten Celan bewußt und stark ausgeprägt Züge jüdischer Mystik treten. Professor Rychlo hielt bei unserem Czernowitz-Symposium einen Vortrag über den ukrainischen Dichter Jurij Fed ’ kovy č , der mir nicht nur aufs Neue sein dichterisches Einfühlungsvermögen bewies, sondern auch seine wissenschaftliche Gründlichkeit. Wir sind einander später immer wieder begegnet, meistens in Wien. Sein Beitrag in der Festschrift zu meinem siebzigsten Geburtstag: „ Damals mündete der Jordan in den Pruth “ über das Gesamtwerk Rose Ausländers ist selbst ein Werk der Sprachkunst. Im Jahr 1996 hielt ich in Moskau einen Vortrag über eines der wichtigsten Werke der österreichischen Literatur in den Neunzigerjahren, den Roman Hexeneinmaleins meines Freundes Hans Heinz Hahnl. Der Roman war bereits 126 Im freien Abendland <?page no="141"?> 1993 erschienen und von solcher Wichtigkeit, daß ich ihn in meinem Buch Mitte, Maß und Mitgefühl von 1997 abgedruckt habe. Zum Unheil für die österreichische Literatur jener Jahre und auch noch nachher gehört, daß sie in einem Wellental nicht nur, aber besonders auch der Literatur geschaffen worden ist. Das hing vor allem damit zusammen, daß sich eine Art literarischer Mafia konstituiert hatte, die eine wirklich freie Entwicklung der Dichtung auf weiter Ebene fast unmöglich machte. Ich lege Wert darauf festzustellen, daß es mir hier nicht um eine Begegnung mit diesem negativen Phänomen geht, sondern um die positive Begegnung mit einem großen Roman, der sich diese Mafia zum Thema gemacht hat. Ich hatte Hahnl schon als Student kennen gelernt, aber richtig nahe kam ich ihm erst, weil wir beide österreichische PEN-Mitglieder waren. Hahnl war durch etliche Jahre Vizepräsident des Österreichischen PEN, den ich durch zwanzig Jahre bei allen Weltkongressen als Delegierter vertreten habe. Man kann wohl sagen, daß Hahnl nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Friedrich Torberg und Hans Weigel einer der drei bedeutendsten Literaturkritiker gewesen ist. Hahnl war offiziell der Kulturredakteur der sozialistischen Arbeiterzeitung. Aber viele haben diese Zeitung gelesen und sogar gekauft nur wegen der Buchkritiken Hahnls. Hahnl hat auch eine ganze Reihe anderer Romane geschrieben, die ihre oftmals groteske Originalität besitzen, aber keiner davon hat auch nur annähernd den Rang des Hexeneinmaleins. Der Rahmen des Ganzen ist Pirandellos berühmtem Stück Sechs Personen suchen einen Autor entnommen. Da sie kein passendes, gutes Stück haben, suchen sich bei Pirandello sechs Schauspieler einen Autor für ihr Stück. In Hahnls Roman geht es darum, daß es im österreichischen Wellental der Zeit keinen wirklich guten Autor gibt, sodaß sich drei sehr verschiedene Kritiker zusammen schließen, um einen zu suchen und sie den „ guten Autor “ erfinden. Alle Personen des Romans - mit Ausnahme des erfundenen Autors - sind der Wirklichkeit entnommen wie auch die drei Kritiker selbst. Aber keine der Personen tritt mit ihrem wirklichen Namen auf, sondern es sind Schlüsselfiguren. Hahnl hat sich Dutzende von Ehrenbeleidigungsklagen auf diese Weise erspart. Ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner Kunst besteht in der Prägung der Schlüsselnamen. Sie mußten so beschaffen sein, daß er bei Gericht die Identität der Personen mit seinen Schlüsselfiguren bestreiten konnte, daß sie aber für den Literaturkenner eindeutig erkennbar waren. Damit litt auch zugleich der Massenerfolg des Romans, denn je mehr man über die Literatur der Zeit weiß, umso mehr wird man den Roman genießen können. Der Vollgenuß war so auf die wenigen wirklichen Literaturkenner beschränkt. Auch die drei Kritiker sind wie alle anderen Personen Schlüsselfiguren. Der wichtigste Kritiker heißt im Roman Meissner und steht für Hahnl selbst. Der zweite, konservative Kritiker heißt im Roman Dr. Moser und steht für den Redakteur der Presse Hans Haider. Der dritte, superlinke Kritiker heißt im 127 Im freien Abendland <?page no="142"?> Roman Stiefel und steht für den Redakteur der Wochenzeitung Falter Franz Schuh. Der fiktive, „ große “ Autor, den sie erfunden haben und den es nicht gibt, ist von ihnen Tomassoni genannt worden. Natürlich erblickt jeder der drei Erfinder im fiktionalen Gemeinschaftsprodukt Tomassoni etwas anderes, auch wenn sich die verschiedenen Facetten und Perspektiven nicht nur berühren, sondern auch überschneiden. Tomassoni ist gleichzeitig Odysseus, der Wanderer, Merlin, der Hexenmeister und Elfenbeschwörer und der unheilige Geist, der große Einflüsterer, Ideenverführer. Der Hinweis auf Odysseus von Meissner-Hahnl enthüllt übrigens einen weiteren Einfluß, der weitaus tiefer geht als jener Pirandellos. Es ist der Einfluß des Ulysses-Romans von James Joyce und die dichterische Größe des Romans beruht vor allem darauf, daß er eine ganze Reihe von Methoden des modernen, großen Romans wie ihn Joyce begründet hat, auf das Hexeneinmaleins und auf Tomassoni anwendet. Dies allein stellt schon eine Satire für sich selbst dar, denn die Romane der Literatur des „ Wellentals “ stellen in ihrer Simplizität das Gegenteil der differenzierten Romanpoetik eines Joyce dar. Außerdem ist Tomassoni selbst auch noch Teil der Satire. Denn der erfundene große Autor schreibt selbst auch einen Roman mit mehreren Handlungen und mehreren Perspektiven, in dem zudem der Standort dauernd gewechselt wird. Diese primitive, ja stumpfsinnige Art von Kompliziertheit, alle negativen Tendenzen zu summieren, ergibt natürlich keinen neuen Joyce. Deshalb legt Hahnl seinem Dr. Moser die Frage in den Mund: „ Tatsächlich frage ich mich, warum wir einen Tomassoni erfinden, wenn es den Bernhard gibt, einen Zeitgenossen, der mit seiner Identität nicht zurechtkommt, sich deshalb immer neue Identitäten gibt, die immer auswechselbarer werden. “ Thomas Bernhard war zwar nicht Mitglied der Mafia, aber er galt als der berühmteste Autor der Zeit, der es geschafft hatte, Burgtheater-Autor zu werden, bei dem aber niemals ernsthaft die Rede davon sein konnte, ein neuer Joyce zu sein. Abgesehen davon, daß das Burgtheater längst nicht mehr das ist, was es einstmals gewesen ist. Als Meissner einmal mit seinem Kollegen Moser eine Burgtheater-Premiere verläßt, fragt er sich und ihn, warum da überhaupt noch jemand hinein geht. Worauf Dr. Moser mit Überzeugung sagt: „ aus Gewohnheit “ . Dann kommt Meissner auf die Hauptstützen der Mafia selbst zu sprechen. Das ist in der Realität die „ Grazer Autorenversammlung “ , die im Roman die „ Schloßberggruppe “ heißt. Er gibt auch gleich zwei respektlose Enthüllungen der neuen „ Möchte-gern-literarischen Götter “ , denen Dutzende Literaturredakteure, die Mafia-Mitglieder sind, ihre Anmaßungen und Wunschideen glauben. Der ungläubige Realist Meissner nennt die beiden Götter den „ großen Buchenwäldler “ und „ das scheue Reh. “ Er, Ernst Jandl, ein „ Schmierenkomödiant “ seines Genies, sie, die Mayröcker, da jede Literatur ein scheues, äsendes Reh 128 Im freien Abendland <?page no="143"?> braucht, das vor sich hinmeckert und dem die Nahrung nicht ausgeht, so lange der Vorrat an Kunstblumen reicht. “ Dann wird auch der akademische Spiritus Rector der ganzen Mafia beschworen, „ der schwachsinnige Literaturprofessor Reichartsebner-Lambrecht “ , der für Wendelin Schmidt-Dengler steht. Er „ klagt das Establishment an “ , daß es Yussufs - das ist Konrad Beyer ’ s - Bedeutung so lange übersehen hatte. Es gab keine Yussuf-Ausgabe. Kein Wort über Yussuf im Schulunterricht! Die Studenten staunten beeindruckt. Die Figur des Dr. Moser bringt es auf den Punkt: „ Diese Trottel huldigen dem Zeitgeist. “ Wie der Ulysses-Roman von Joyce immer wieder durch kursiv gesetzte Stellen unterbrochen wird, die verschiedene Funktionen erfüllen, so auch der Roman Hexeneinmaleins von Hahnl. Ebenfalls wie bei Joyce sind manche Figuren gar keine Menschen, sondern Symbolfiguren. Ein Beispiel bei Hahnl ist die „ polnische Germanistin aus Lublin “ , die den Namen „ Borowicka “ trägt. Das ist nichts anderes als der Name von einem besonders guten Wacholderschnaps, der nur in je zwei Bezirken Mährens und der Slowakei gemacht wird. Im Register der germanistischen Lehrkräfte von Lublin, wird man ihn vergeblich suchen. In Finnegans Wake von Joyce fällt die Jahreszahl der Schlacht von Clontarf mit der Telefonnummer eines von Joyce gerne besuchten Pubs in Dublin zusammen. Die Liste der Narreteien, die Hahnl in seinem Roman über die „ Schloßberggruppe “ auflistet, nimmt fast kein Ende. Aber nach Hahnl war es der „ Höhepunkt des Wahns “ der Studentenbewegung von 1968, der die Mafia- Autoren angehörten, ihr Wunsch nach „ Mao “ zu rufen, dem Massenmörder. Sie riefen nach „ Freiheit “ und schwenkten dabei das rote Büchlein der absoluten Unterdrückung. Sie würden auf ihrer Suche nach einem Freiheitshelden auch sofort einen neuen russischen Massenmörder küren. Tatsächlich besitzt Hahnls Roman seinen eigenen, literarischen Wert jenseits aller Satire oder besser mit ihr. Er wollte im Grunde genau das Gleiche wie Hermann Broch, der aus einzelnen Partikeln der Realität ein ganzheitliches Kunstwerk zu schaffen suchte. Auf diese Weise entstand ein Roman; der aus den negativen Realitätspartikeln des Zerfalls und der Negation ein positives und beispielhaftes Werk gestaltete, das die Grenzen unseres Lebens- und Weltverständnisses erweitert. Rilke hat es in zwei kurzen Versen beispielhaft zusammengefaßt: Der Dichter einzig hat die Welt geeinigt, die weit in jedem auseinanderfällt. Als ich 1996 in Moskau einen Vortrag über diesen Roman hielt, stand ein würdevoller, älterer und freundlicher Herr auf und sagte: „ Der Roman, den Sie vorgestellt haben, schildert eine Dichtergruppe in Österreich, welche die gesamte 129 Im freien Abendland <?page no="144"?> Entwicklung einschränkt. Aber Österreich ist doch eine Demokratie, in welcher Geistesfreiheit herrscht. Wie ist da eine solche Einschränkung möglich? “ Ich mußte mich besinnen, wie ich das glaubwürdig und überzeugend erklären könnte, als eine jüngere Frau aufsprang und erregt mitteilte: „ Es ist alles ganz genau so, wie der Roman es schildert. Ich bin Mitglied der Grazer Autorenversammlung gewesen und habe in dieser Zeit leicht Verleger gefunden und Preise erhalten. Seit ich ausgetreten bin, habe ich als Autorin die größten Schwierigkeiten. “ Ein größeres Glück hätte mir kaum widerfahren können. Ich war der Frau sehr dankbar. Das Jahr 1997 war das Jahr, in dem ich meine dritte und umfangreichste Festschrift erhielt. Sie hatte über 650 Seiten und enthielt zudem meine gesamte Bibliographie. Von den drei Herausgebern möchte ich einem hier gedenken. Ich habe ihn sehr geschätzt und geliebt und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Bevor er Literaturwissenschaft studierte, war er bereits ein junger katholischer Priester gewesen. Ich weiß, daß ihm das in zweifacher Weise sehr geholfen hat, als er wegen eines Schwindels seinen Posten verlor: Praktisch, weil er nicht verhungern mußte und seelisch, weil er metaphysische Trostmöglichkeiten besaß, die tief griffen. Trotzdem habe ich bis heute das Gefühl der Trauer um ihn nicht überwinden können, daß ein so intelligenter, liebenswürdiger und im Grunde anständiger Mensch wegen einer leichtinnigen Verfehlung durch einen Verfolger, der ihn haßte, so aus der Bahn geworfen wurde. Er war von einer wahrhaftig unvergleichlichen Tüchtigkeit und war von allen, die mit ihm zu tun hatten, geliebt. Er hieß Karlheinz F. Auckenthaler. Als ich die Festschrift zum ersten Mal aufschlug, stach mir sofort der Titel seines Beitrags in die Augen: „ Gegen die Cholera hilft keine Neutralität “ . Es war ein Ausspruch Arthur Koestlers 1950 auf dem Kongreß für Kulturelle Freiheit in Berlin. Koestler war der von mir am tiefsten bewunderte Geistesvertreter, und Auckenthaler hatte den Titel gewählt, weil er in seinem Beitrag mich, den kleinen Strelka, mit diesem Giganten an Geistigkeit und Charakterstärke verglich - auf ein und dieselbe Ebene stellte! Die ersten Sätze seines Beitrags waren an mich direkt gerichtet und stellten die Vergleichsbasis her. „ Dieser Satz “ , der Titel seines Beitrags, „ könnte genauso gut als Untertitel Deines Lebens und Deiner Festschrift stehen. “ „ Koestler war ein streitbarer Geist “ , schrieb er weiter, „ der sein Leben in den Dienst der freien Welt stellte und immer wie auch Du, vor den Gefahren der anderen Seite warnte. “ Bei Rudnicks Aufsatz habe ich mich als Literaturtheoretiker bis in die letzte Kleinigkeit verstanden gefühlt, hier im Hinblick auf die Freiheit und Menschenrechte. Ich war geradezu betroffen von dieser „ Begegnung “ . Der zweite Beitrag, den ich erwähnen möchte, ist der von Helmut Koopmann, bei dem es auch bereits der Titel war, der mich traf. Er lautete „ Brüderlichkeit auf große Distanz. Zu Thomas Manns Doktor Faustus und 130 Im freien Abendland <?page no="145"?> Hermann Hesses Glasperlenspiel “ . Einer der größten Thomas-Mann-Experten und Bewunderer von dessen Welt hatte hier das Verhältnis von zwei der größten deutschen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts auf den Punkt gebracht und in den vier Worten des Haupttitels das Endergebnis enthüllt. Er hat in einem kurzen Satz die Gemeinsamkeit der beiden Werke sichtbar gemacht, als er schrieb: „ Denn auch Hesses Roman war ein Zeitroman wie Doktor Faustus, allerdings in der spezifischen Form des Zeitablehnungsromans. “ Hesse hatte bereits zehn Jahre vor Thomas Mann gesehen, was am Ende des wahnsinnigen Despoten Hitler stehen mußte: der Untergang der Kultur. Er hatte das Wesen dieser Despotie auch in einen einzigen Satz gebannt. Die Sprache sei damals entheiligt worden, die Wahrheit entthront, das Leben in Frage gestellt. Am Schluß seines Beitrags aber hat der jahrzehntelange Thomas-Mann-Bewunderer plötzlich in üblicher, redlicher Wahrheitsliebe zusammengefaßt: „ Wir dürfen aus dem Wenigen “ , was wir von Hesses Meinung über den Doktor Faustus wissen, „ wohl schließen, daß er durch den Doktor Faustus weniger berührt wurde, als Thomas Mann durch das Glasperlenspiel beunruhigt worden war. “ In den Worten über die „ große Distanz “ seines Beitragstitels steckte die Enttäuschung der Entdeckung der Schwäche seines jahrzehntelangen Idols. Als ich etwa ein Jahrzehnt später in meinem Buch Dichter als Boten der Menschlichkeit den größten deutschen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts darstellen wollte, da zögerte ich keinen Augenblick das Glasperlenspiel zu nehmen. Ich brauchte aber nur darum nicht zu zögern, weil ich Hermann Brochs Tod des Vergil in einem eigenen Österreich-Kapitel untergebracht hatte. Einen dritten Beitrag möchte ich nennen, aber nicht besprechen. Er stammt von meiner Tochter Sascha, die formell als Alexandra Strelka auftrat. Sie war damals Assistentin einer Professorin an der University of North Carolina in Chapel Hill und schrieb über Kleists „ Marionettentheater “ . Ihr Beitrag war von einer Gedankentiefe, wie sie keineswegs alle beitragenden Professoren erreichten. Im Jahr 1998 möchte ich meine Begegnung mit Professor Stefan H. Kaszy ń ski berichten, obgleich ich ihn schon bald nach der Wende kennen gelernt hatte. Er stand damals zu Recht im Ruf die beste germanistische Abteilung in Polen zu leiten, die zudem frei von kommunistischer Mißwirtschaft war. Er hatte in Pozna ń 1989 ein großes Karl-Kraus-Symposium veranstaltet, dem 1990 ein großes Karl-Kraus-Symposium von mir folgte. Hätte ich damals von seinem Symposium gewußt, ich hätte ihn als einen der wichtigsten Beiträger eingeladen. Er hatte einen eigenen Lehrstuhl für österreichische Literatur und Kultur. Ich erinnere mich, daß ich bei meinem ersten Besuch bei ihm besonders dadurch beeindruckt war, daß es in seiner ganzen Fakultät keinen Sowjetanhänger gab. Es waren einige sehr interessante Leute da und es war sogar noch aus der kommunistischen Zeit ein versteckter Hocharistokrat darunter. Wir waren durch einige Jahre in enger Verbindung. Er schrieb je einen Beitrag zu zwei meiner Festschriften und ich schrieb einen zu seiner, die unter dem Titel 131 Im freien Abendland <?page no="146"?> Labyrinthe der Erinnerung erschien und ausschließlich österreichischer Literatur gewidmet war. Ich gab in einer meiner Buchreihen seine erste Kleine Geschichte des österreichischen Aphorismus heraus und er besprach den von mir herausgegebenen Sammelband zu Ernst Schönwieses hundertstem Geburtstag. Im Jahr 1998 habe ich wohl meinen Freund Alexej zum letzten Mal gesehen. Er sagte damals deutsch zu mir: „ Peter, ich liebe Dich. Dein einziger Fehler ist, daß Du nicht russisch kannst. “ Daraufhin grub ich in meiner Erinnerung an zehn Jahre russischer Besatzungszeit meiner Heimatstadt und es gelang mir, einen primitiven russischen Satz zusammen zu stoppeln. Das trug mir eine stürmische Abschiedsumarmung ein. Ich hatte Alexej durch einen Zufall kennen gelernt. Bereits Jahre vor der Wende hatten Kollegen aus den Oststaaten mitunter auch die Erlaubnis erhalten, zu Konferenzen nach Österreich zu reisen. Der bulgarischen Kollegin Emilia Staitschewa begegnete ich in Österreich und in Ungarn. Die wenigen Nicht- Kommunisten waren leicht festzustellen, denn sie kannten sich fast alle und steckten immer zusammen. Daher wußte ich, daß Emilia Nicht-Kommunistin war. Als ich sie nach der Wende einmal fragte, wo ich in Sofia ein paar Tage wohnen könnte, sagte sie sofort: „ Am besten bei mir. Ich habe für bulgarische Verhältnisse eine sehr große und luxuriöse Wohnung. “ Also läutete ich eines Tages nach einer Vorwarnung an ihrer Wohnungstür. Der alte Herr, der öffnete, war Alexej. So lernten der aus Sachsen stammende Russe und der aus Niederösterreich gebürtige Amerikaner einander kennen und waren darüber gleichermaßen überrascht. Nach dem dritten Glas Wodka waren wir Freunde und Alexej sagte zu mir in sächsischer Betonung: „ Ich bin ein Kartoffelsachse. “ Es stellte sich heraus, daß Emilia ihre wirklich ungewöhnlich große Wohnung zuletzt nur dadurch behalten konnte, weil er bei ihr gewohnt hatte. Als er erfuhr, daß ich von einer amerikanischen Universität kam, erzählte er mir seine seltsame Geschichte. Der Vater war im Ersten Weltkrieg zur Armee eingezogen worden und in Russland gefangen. Als die Revolution ausbrach, schloß er sich den Revolutionären an. Er spielte eine gewisse Rolle, blieb und ließ im Jahr 1919 seine Frau mit dem Sohn Alexander nachkommen. Dieser ging bereits in die Schule, war aber zu jung, um sich allein durchzuschlagen und wollte bei der Mutter bleiben. In Russland ergab sich bald als leicht und aussichtsreich eine Karriere in der Armee. Infolge seiner Intelligenz und Sprachkenntnisse kam er zum militärischen Geheimdienst. Im Jahr 1943 empfahl ihn sein Vorgesetzter für eine besondere Auslandsaktion an Stalin. Stalin teilte ihm mit, daß sich die Sowjetunion mit Bulgarien nicht im Kriegszustand befinde, aber der sowjetischen Einflußsphäre zugeteilt worden 132 Im freien Abendland <?page no="147"?> war. „ Ich schicke Dich nach Sofia “ , sagte Stalin, „ und du mußt alles vorbereiten, damit es keine Schwierigkeiten gibt, wenn wir einmarschieren. “ Der intelligente und freundliche Alexej hatte sich in Sofia bald wichtige Freunde gemacht, die nicht wußten, wer er wirklich war, aber die helfen konnten, „ daß es keine Schwierigkeiten gab “ . Es gefiel Alexej in Sofia und man war froh, einen so tüchtigen und verläßlichen Mann schon am Platz zu haben, sodaß er blieb. Die alten Freundschaften pflegte er weiter. Nach etlichen Jahren sowjetischer Herrschaft begann er, unzufrieden damit zu werden, und versuchte, nicht zuletzt auch im Interesse Russlands, zu vermitteln und ein gutes Einvernehmen herzustellen. Als der bulgarische, kommunistische Diktator alles noch schlechter machte, begann er auch bei seinen bulgarischen Freunden zu schimpfen. Als die Entwicklung weit genug gediehen war, sandte die größte bulgarische Widerstandsgruppe zwei Vertreter zu ihm, um ihm vorzuschlagen, daß ihre Arbeit gemeinsam mit dem pensionierten russischen Geheimdienstoberst nunmehr umgekehrt, viele Schwierigkeiten vermeiden könnte. Zu seiner Überraschung fand sich Alexej plötzlich als Mitglied einer „ Union demokratischer Kräfte “ . Ende 1990 gab es eine freie Wahl und es erfolgte eine Annäherung an die USA. Seine Tüchtigkeit, Schwierigkeiten zu vermeiden, hatte aus Dankbarkeit reiche Früchte getragen. Als er mir die Tür öffnete, war er Präsident der St. Cyril and St. Methodius International Foundation und ein mächtiger Mann. Als ich ihm sagte, daß ich gerne bulgarische Provinzuniversitäten besuchen würde, versprach er mir bereits für den nächsten Tag einen Mercedes mit Chauffeur, der auch dolmetschen könnte. Als Emilia von der Universität nach Hause kam und mich begrüßte, erfuhr sie bereits, daß ich am nächsten Morgen schon weiterfahren würde. Alexejs Rückhalt und die niedrige Nummer meines weißen Mercedes haben mir sehr geholfen. Im Jahr 2000 fuhr ich zu einem internationalen Germanistenkongreß, durch den Rumänien wieder Anschluß an die Welt zu finden versuchte. Es war meine zweite Fahrt nach Rumänien nach der Wende und die Fortsetzung der ersten, die zehn Jahre früher stattgefunden hatte. Bei dieser ersten Fahrt habe ich die Begegnung mit einer geistig so faszinierenden Person gehabt, wie ich sie nicht nur bei meiner zweiten Fahrt nach Rumänien hatte und wie ich nicht nur in Rumänien keinen vergleichbaren Menschen mehr getroffen habe. Darum schreibe ich zuerst von dieser großartigen Frau und erst danach vom Germanistenkongreß im Badeort Neptun am Schwarzen Meer. Sie hieß Ana Blandiana und war nicht nur eine Schönheit, sondern eine durch ihren Mut hinreißende Dissidentin und Bürgerrechtlerin und auch noch darüber hinaus eine begnadete Dichterin. Sie war die Tochter eines orthodoxen Priesters, den die Kommunisten in den Kerker geworfen hatten, was sie zu ihrem Mut motiviert hat. 133 Im freien Abendland <?page no="148"?> Auf ihr erstes Gedicht in der Zeitschrift Tribuna hatte sie vier Jahre Schreibverbot erhalten und inmitten des stalinistischen Terrors hatte sie furchtlos dem Sender Free Europe ein Interview gegeben. Ich traf sie auf einem Kongreß in Ungarn, auf dem ich einen Vortrag zu halten hatte. Ich war so überwältigt von ihrer Persönlichkeit, daß ich in Budapest einen rumänischen Konsularbeamten überredete, am Sonntag das Konsulat aufzusperren und mir ein Visum zu geben. Da am darauf folgenden Montag die Veranstaltung etwas verspätet eröffnet worden war, brach ich meinen Vortrag zehn Minuten vor Schluß ab, ergriff den bereit stehenden Koffer und fuhr mit dem Taxi zum Flugplatz, um das Flugzeug zu erreichen, mit dem auch sie nach Bukarest zurück flog. Die Begeisterung war aber eine gegenseitige. Sie lud mich am nächsten Tag zu einem Abendessen in ihre Wohnung ein, das nicht nur aus besonders ausgesuchten Speisen bestand, sondern so umfangreich war, daß ich eine Woche davon leben hätte können. Dabei lernte ich ihren Mann kennen, den ich sofort zu einem Freund machte, nicht nur weil er ihr Mann war, sondern weil ich sehen konnte, daß sie auch aus der gegenseitigen Gattenliebe zusätzlich zu der Motivation durch ihren Vater Kraft für ihren Mut zog. Der Mann kam übrigens - wie auch sie selbst - aus einer Region, die bis 1918 zu Ungarn gehört hatte und in der in jener Zeit die Ungarn die rumänische Bevölkerung zu magyarisieren versuchten. Seine Eltern hatten ihm darum bei der Geburt den Vornamen Romulus gegeben, weil dieser Name sich nicht magyarisieren ließ. Zugleich war der Name eine Anspielung auf die römische Abstammung der Rumänen, auf die sie stolz waren. Ana hatte den Herausgeber der größten Zeitung in Bukarest angerufen, ich glaube, sie hieß România liber ă , und ihn überredet, anläßlich meines Aufenthalts in Bukarest ein ganzseitiges Interview mit mir zu machen. Ich mußte ihr erklären, daß ich nicht daran interessiert war, in Bukarest bekannt zu werden, sondern umgekehrt daran, möglichst viel von dem kennen zu lernen, was hier vor sich ging. Ich war aber sehr interessiert daran, den Herausgeber zu treffen, was auch geschah. Sie erzählte mir, daß zwar der kommunistische Diktator Nicolae Ceau ş escu erschossen worden war, daß aber auch nach der Wende die gesamte Nomenklatura an der Macht geblieben war. Es paßt zu ihr, daß sie später Leiterin der Gedenkstätte Sighet wurde, einem Institut zur Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Rumäniens. Einige Wochen später schrieb sie mir nach Amerika, daß sie eine interessante Einladung zu einem vertraulichen PEN-Treffen in Oslo erhalten hätte. Sie würde sich freuen, wenn ich sie begleiten könnte. Da ich sicher war, welche norwegische Dame, die ich sehr schätzte, hinter einem solchen Unternehmen stehen mußte, wäre ich umso lieber mit der von mir so tief verehrten Ana gefahren, doch banden mich dringliche berufliche Verpflichtungen an meine Universität. 134 Im freien Abendland <?page no="149"?> Zehn Jahre später hatte ich eine Einladung zum „ Dritten Internationalen Rumänischen Germanistenkongreß “ erhalten, der nach der Wende aber der Erste war. Der einladende Kollege und leitende Germanist der Universität Bukarest, wollte damit den Eindruck einer Kontinuität erwecken, von der keine Rede sein konnte. Er war einer der bösartigsten Mitarbeiter der Securitate gewesen und als Leiter der eigenen Abteilung für die DDR im Außenministerium von Bukarest zweifellos auch Mitglied der Nomenklatura. Ich war aber neugierig, sagte zu, zu kommen und flog nach Bukarest. Ich war zu vorsichtig, um vom Flugplatz einfach gleich zum Bahnhof zu fahren, um einen Zug nach Neptun zu nehmen. Ich wußte, welches Abenteuer ich zu bestehen haben würde. Ich vermutete, daß die Österreichische Botschaft von dem Kongreß unterrichtet worden war, fuhr zur Botschaft und wurde überraschend reich belohnt. Es stellte sich heraus, daß der Kulturattaché Dr. Michael Schwarzinger, der einer der wenigen österreichischen Berufsdiplomaten war, der nicht Jurist, sondern Germanist war, sich gerade fertig machte, um mit seinem Wagen nach Neptun zu fahren. Er freute sich sofort fast so auf die Fahrt zu zweit wie ich. Aber auch Dr. Schwarzinger hatte Glück. Er war noch nicht sehr lange im Lande und wollte über den Einladenden und die rumänische Germanistik einiges herausfinden und das meiste konnte ich ihm bereits auf der Fahrt erzählen, sodaß er einen viel besseren Start hatte. Aus den vielen Schlaglöchern auf der Straße, die er geschickt umfuhr, konnte ich mir ausrechnen, welches Eisenbahnabenteuer ich durch ihn vermieden hatte. Er wiederum konnte mir sagen, daß Neptun ein Vorzeige-Badeort war. Der Diktator hatte in jedem der - ich glaube es waren einundzwanzig Kreise des Landes - eine Prunkvilla für sich. Sie waren fast alle von einer Art privatem Park umgeben, der eingezäunt war. In jeder der Villen gab es nicht nur Gästezimmer, sondern auch kleine Dienstwohnungen für ständiges Personal, das sich um Haus und Park kümmern mußte. Das Besondere am Park von Neptun war, daß hier über ein Dutzend von Pfauen gehalten wurden, die stolz umherschritten und mitunter einen durchdringenden Schrei ausstießen. Es stellte ich heraus, daß zwar viele, aber kaum bedeutende Germanisten gekommen waren. Ich erinnere mich nur an eine wirkliche Vertreterin des Westens, eine Deutsche, Barbara Wiedemann, die schon damals die Frühwerke von Paul Celan herausgegeben hatte und die auch einen Celan-Vortrag hielt. Sie hielt mich für einen naiven Amerikaner und machte mich höflich und vorsichtig darauf aufmerksam, daß der Kongreßchef Prof. George Gu ţ u ein Kommunist sei. Als sie meine Detailerkenntnisse bemerkte, war sie erleichtert und enttäuscht zugleich. Ihr Vortrag war einer der besten. Meine große persönliche Begegnung war nicht die mit einem ehrfurchtgebietenden Forscher, sondern die mit einer der zahlreichen rumänischen Mittelschullehrerinnen, die als Zuhörerinnen gekommen waren. 135 Im freien Abendland <?page no="150"?> Als ich nach dem Mittagessen einen Spaziergang eingelegt hatte, traf ich auf eine solche Mittelschullehrerin aus Constan ţ a mit einer Kollegin von ihr vor dem Parktor der Villa. Ich sprach sie höflichkeitshalber an, indem ich fragte, ob sie mit dem Kongreß zufrieden sei. Sie war überrascht, daß ich sie ansprach, und ich war noch überraschter, als sie mir sagte, sie hätte nach meinem Vortrag ein Gedicht gemacht. Ich fragte sie, ob ich es sehen dürfe. Sie war nur einen Augenblick verschüchtert, dann sagte sie: „ Ich schreibe meine Gedichte nie auf. Aber ich werde es für Sie rekonstruieren. “ Keine drei Meter von uns entfernt stand eine Holzbank mit einem Tisch in den Boden eingelassen, wir setzten uns hin, sie holte aus ihrer Handtasche ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber, stützte das Kinn in die Hand wie Walther in seiner Elegie und Werfel in einem seiner schönsten Gedichte. Sie sann nach, schrieb einen Vers und nach einer kleinen Pause wieder einen. Dann wurde einer gestrichen, sodann die Stellung eines anderen weiter nach hinten gestellt. Als es fertig war, reichte sie es mir. Ich las es, las es wieder und war bezaubert. Ich habe dieses Gedicht dreizehn Jahre lang in meiner Brieftasche bei mir getragen, bis der Zettel so auseinander gefallen war, daß ich es leider wegwarf. Ich hatte auf eine Gelegenheit gewartet, es niederschreiben zu können. Das ist erst über ein Jahr her und hier wäre jetzt die ideale Gelegenheit es mitzuteilen. Es hatte den Charme eines Goetheschen Gelegenheitsgedichts und der einzige Vers, es war freilich der Zentralvers, den ich mir gemerkt habe, lautete: „ Der Pfau hat geschrien. “ In diesem Pfauenschrei war alles konzentriert und beschlossen, der Kongreß, der Vortrag, die alte Korruption und der alte herrliche Park, die Verkündung der neuen Freiheit und die Ungewißheit mit der wir in sie hinein gehen. Ich hielt das Gedicht in der Hand und einer der Pfauen erkannte den Augenblick seiner Pflichterfüllung und stieß seinen unmelodiösen, schrillen Schrei aus. Sie erlaubte mir, das Gedicht zu behalten und ich notierte ihren Namen und ihre Adresse und fand sie gottlob in einem alten Adreßbuch. Ich hatte ihr nämlich zwei oder drei Jahre nachher zu Weihnachten immer eine Kleinigkeit geschickt. Wenn ich schon das Gedicht nicht festhalten kann, ihren Namen kann ich hier festhalten. Sie hieß Mihaela Rosianu. Offiziell galt als der Höhepunkt des Kongresses die Fahrt von zehn ausgewählten Mitgliedern mit einem Führer auf einem Motorboot in das Donaudelta. Für mich aber war der Höhepunkt Mihaela. 136 Im freien Abendland <?page no="151"?> FÜNFTES KAPITEL IM DRITTEN JAHRTAUSEND Für das Jahr 2001 möchte ich die plötzlich zustande gekommene Begegnung mit China berichten, die sich auf ebenso seltsame wie überraschende Weise ergeben hatte. Längst in Pension war ich in Albany von einem ehemaligen Kollegen zu einem Dinner eingeladen worden. Als Tischdame hatte ich eine junge, hübsche, chinesische Studentin. Ich sprach aus Höflichkeit zu ihr über das I-Ging und über Lao Tse sie hörte in erster Linie meine Verehrung über die Weisheit des alten China heraus. Plötzlich sagte sie: „ Ich sehe, daß Sie gutes Essen sehr schätzen. Wenn mich das nächste Mal mein Vater besuchen kommt, müssen Sie zu uns kommen und er muß für Sie kochen. Niemand kocht chinesisches Essen besser als er. “ Einige Monate später erfolgte tatsächlich die Einladung. Ich läutete an der Wohnungstür und ein kleiner Mann im Schlafrock und mit Hausschuhen öffnete und ließ mich ein. Das Essen war tatsächlich vorzüglich. Der Vater erwies sich als neugierig und begann mich auszufragen. Auf diese Weise kamen wir darauf zu sprechen, daß ich meine letzten Moskauer Vorträge an der kleinen, aber ausgezeichneten Privatuniversität gehalten hatte, die in den Neunzigerjahren entstanden war. Da sagte er auf einmal: „ Ich lade Sie auf meine Kosten nach China ein. “ Ich erwiderte: „ Sie laden den falschen Mann ein. Ich bin ein böser Bub. Als ich 1990 beim chinesischen Konsulat in New York um ein Visum ansuchte, wurde es abgelehnt. “ Er lächelte überlegen: „ Wenn ich Sie einlade, dann erhalten Sie es. “ Dann erklärte er sein Interesse: „ Ich möchte die erste chinesische Privatuniversität gründen. Die chinesischen Universitäten sind alle schlecht, weil sie Staatsuniversitäten sind. “ Offenkundig war er nicht der chinesische Unterrichtsminister, wie konnte er eine Universität gründen. Dazu kam noch, daß sein Satz nicht gerade vor Obrigkeitsverehrung strahlte. Wie wollte er das durchsetzen? Waren meine Vorstellungen vom kommunistischen China so falsch? Sie mußten es sein, denn er erklärte: „ Ich habe bereits das notwendige Stück Land gekauft und ich habe einen Architekten mit der Ausarbeitung eines Plans der Gebäude beauftragt. Sie könnten bei der Erstellung eines Curriculums für das Studium behilflich sein. “ Das war für mich ein sehr verlockendes Angebot. Er sagte noch: „ Sie kaufen Ihr Flugticket und alles andere geht auf meine Kosten. “ Ich mußte völlig falsche Vorstellungen von der neuen chinesischen Sozialstruktur gehabt haben, denn ich hätte nie geglaubt, daß ein einziger Mann die Möglichkeit haben könnte, eine <?page no="152"?> Universität aus dem Boden zu stampfen. Ich sah, daß es ihm ernst war und sagte zu. Meine erste große Sorge war, daß ich mich auf diese Weise in die finanzielle Schuld eines Rotchinesen begab. Ich hatte das Glück, damals in Mailand einen Freund zu haben, der einen Archäologen kannte, welcher in Sizilien grub, von dem er mir für den Preis von sechshundert Dollar eine altgriechische Figur im Wert von vierbis fünftausend Dollar verschaffen konnte. Ich kaufte sie als Gastgeschenk. Als nächstes schrieb ich an die Kultursektion des österreichischen Außenministeriums, mir zwei bis drei Vorträge an Universitäten in Shanghai zu verschaffen, für die sie sich die Reisekosten sparen konnten. Mr. Cai holte mich in einem langen, schweren Cadillac mit Chauffeur in weißen Handschuhen vom Flugplatz ab. Nach weit über einer Stunde Fahrt erreichten wir seine Heimatstadt, eine „ Provinzstadt “ , die immerhin über eineinhalb Millionen Einwohner hatte. Er brachte mich in ein sehr schönes Hotel, in dem er ein Apartment für mich gemietet hatte und in dem ich auch sehr gut essen konnte. Er versprach, mich holen zu lassen, wenn er Zeit für mich hätte. Am nächsten Morgen klopfte eine junge Dame an meine Tür und stellte sich als „ die Dolmetscherin “ vor, die er für die Zeit meines Aufenthalts angestellt hatte. Mit den Gebräuchen in kommunistischen Staaten wohl vertraut, fragte ich sie, ob sie vom staatlichen Reisebüro käme. Nein, sie war die Tochter der besten Freundin von Mr. Cai. Sie führte mich ein wenig in der Stadt herum und war eine reizende Gesellschafterin. Am Abend des dritten Tages wurde ich von Mr. Cai zum Abendessen eingeladen. Ich hatte mich vorbereitet, ihm vorzuschlagen, in das Zentrum des Curriculums Vorlesungen über die verschiedenen Sektoren aller chinesischer Weisheit zu stellen, wodurch für seine Privatuniversität gleich zwei Vorzüge gegenüber den staatlichen erreicht würden: Erstens würde gegenüber der Geschichtsfeindlichkeit des Maoismus eine weit höhere, überaus relevante Bildungsstufe erreicht und zweitens würde seine Universität eine weitaus höhere Achtung durch westliche Universitäten erringen. Ich hatte gesehen, daß mein Gastgeschenk bereits einen Ehrenplatz in einer hohen Glasvitrine seines Wohnzimmers erhalten hatte und war auf ein schönes und kultiviertes Gespräch nach dem Essen vorbereitet. Es folgte aber sodann die Ernüchterung. Da er nicht zu sprechen begann, ergriff ich die Initiative und dankte ihm für die große Ehre seiner Einladung, mich als Ratgeber für das Curriculum heranzuziehen. Wir hatten uns in zwei schwere Fauteuils, die vor einem kleinen Tisch nebeneinander standen, zu einer Tasse Tee zurückgezogen. Er blickte mich nicht an, sondern blickte starr geradeaus und schwieg. „ Sie hatten doch schon das Land für Ihre Universität gekauft? “ Wieder Schweigen. „ Sie hatten doch schon einen Architekten mit der Planung der Gebäude beauftragt? “ Noch einmal Schweigen. „ Ich dachte, Sie wollten von mir am 138 Im dritten Jahrtausend <?page no="153"?> heutigen Abend die Grundzüge über meine Ideen für das Curriculum hören? “ Nichts als Schweigen. Ich erhob mich und wollte mich verabschieden, doch er brachte mich in seinem Wagen in mein Hotel und verabschiedete sich in ausgesuchter Höflichkeit. Am nächsten Morgen konnte ich die Ankunft meiner „ Dolmetscherin “ kaum erwarten. Nach der Begrüßung bat ich sie sofort: „ Sie müssen mir helfen, ein chinesisches Rätsel zu lösen. “ Sie hörte sich die Geschichte meines Gesprächs nach dem Abendessen an und lächelte: „ Dieses Rätsel ist sehr leicht zu lösen. “ Dann folgte sofort die Erklärung: „ Das Ärgste, was einem Chinesen und besonders einem angesehenen geschehen kann, ist das Gesicht zu verlieren. Mr. Cai war in einer für ihn schrecklichen Situation. Er konnte unmöglich zugeben, daß er Ihnen falsche Versprechungen gemacht hatte, ob dies nun sein eigenes Verschulden war oder nicht. Er konnte Sie aber ebenso unmöglich belügen. Er hatte die einzige Möglichkeit ergriffen, die ihm hier gerblieben war: zu schweigen. “ Mein Rückflug war erst in sechs Wochen geplant, sein Versprechen einer Gastfreundschaft hielt. Ich hatte nicht nur die Dolmetscherin für sechs Wochen, sondern in Tagen, in denen er seinen Wagen nicht benötigte, auch seinen Wagen mit Chauffeur zur Verfügung. Aber nicht nur das: Ich konnte sehen, wie überlastet er war. Trotzdem verbrachte er an Sonntagen oft viele Stunden mit mir, zeigte mir in seiner Stadt interessante Orte und erklärte mir Zusammenhänge. Einmal hat er mir erklärt, weshalb die Päonie die Landesblume von China ist. Er hat niemals den geringsten Versuch unternommen mir den Maoismus nahe zu bringen. Er war ein Gentleman. Dagegen gab es zahleiche Leute überall, die außer China nichts kannten und die glaubten, der arme naive Amerikaner müßte durch ihre wohlmeinenden und stupiden Argumente beglückt werden, die mir auf die Nerven gingen. Mr. Cai wollte, daß ich mit meiner Dolmetscherin China sehen sollte. Als sie mir einmal von einem taoistischen Kloster erzählte, wollte ich es sofort sehen und wie fuhren hin. Ich war sehr enttäuscht, denn der Taoismus der Mönche war maoistisch eingefärbt. Im Laufe der Zeit wurde mir klar, daß es von jeder Konfession zwei Arten gab. Eine vom Staat zugelassene und kontrollierte und eine wirkliche und wahre, aber illegale. Mr. Cai ’ s Gattin studierte an der Universität seiner Heimatstadt Englisch und lud mich ein, ihre Klasse zu besuchen. Als ich kam, merkte ich sofort, daß sie sich auf mein Erscheinen vorbereitet hatte. Denn kaum war ich gekommen, war sie aufgestanden und hatte erklärt, wer ich sei, worauf ich mit lautem Applaus begrüßt wurde. Ich wechselte brav einige englische Sätze mit einem Dutzend ihrer Klassenkollegen. Mr. Cai wollte mir auch etliche chinesische Kleidungsstücke schenken. Da der Dollar hoch stand und meine Dolmetscherin tüchtig war, hatte ich längst für 139 Im dritten Jahrtausend <?page no="154"?> meine Tochter, meine Freundin und auch für die Dolmetscherin etliche malerische Stücke gekauft. Mr. Cai wußte, wann ich meine Vorträge in Shanghai hatte, und als er in dieser Zeit gerade sehr beschäftigt war, schickte er seine Frau, die mich in ihrem Wagen nicht nur in die Stadt, sondern auch gleich zum Gästehaus der Universität bringen sollte, an welcher die ersten beiden stattfinden sollten. Das Thema meines ersten Vortrages war der Roman Zuflucht in Shanghai eines wenig bekannten österreichischen Exilautors, Alfred A. Kneucker, der darin sein eigenes Schicksal als Flüchtling vor Hitler in Shanghai geschildert hatte. Da Shanghai damals von den Japanern besetzt war, die ihren eigenen Terror gegen die Flüchtlinge entwickelt hatten, wurde der Vortrag mit großem Zuspruch aufgenommen. Nach dem Mittagessen sollte der zweite Vortrag über das Thema: „ Franz Kafka und China “ stattfinden, doch wurde mir mitgeteilt, daß er abgesagt worden war. Ich erinnerte mich, daß mich vor meiner Abreise ein junger Chinese in meiner Waldeinsamkeit besucht hatte. Er erklärte, er hätte sich um das Visum zu kümmern, das mir Mr. Cai versprochen hatte. Sein ganzes Benehmen verriet vom ersten Augenblick an den Geheimdienstmann, der nicht von Mr. Cai, sondern vom Konsulat geschickt worden war. Als ich ihm wahrheitsgemäß sagte, ich würde drei Vorträge halten, wollte er die Manuskripte sehen. Sie waren zwar fertig, aber ich erklärte ihm, ich würde zu chinesischen Germanisten sprechen und daher seien die Vorträge deutsch. Darauf verlangte er von mir eine genaue Inhaltsangabe. Ich gab sie ihm und berichtete auch, daß ein Professor aus Peking ein Werk Kafkas falsch, weil wörtlich verstanden hatte, weil der Dichter China nur als Metapher benützt hätte. Jetzt wurde mir klar, daß ein Professor aus Peking keine Fehler machte. Zwei Tage später hielt ich an einer anderen, vor allem Fremdsprachen gewidmeten Universität einen Vortrag über „ Hofmannsthal und die chinesische Geistigkeit “ . Ich sprach über die drei Phasen chinesischer Geistigkeit in seinem Werk und am längsten über die dritte und letzte Phase. Hier konnte ich nämlich wenig Bekanntes mitteilen. Das Manuskript des Fragments vom letzten Stück Hofmannsthals lag nämlich in der Houghton Library in Harvard und sollte ein „ Chinesisches Trauerspiel “ werden. Ich hatte mir eine Kopie des Manuskripts kommen lassen und konnte darüber genau berichten. Nach dem Vortrag gab es ein besonders langes und besonders gutes Mittagessen, an dem ein gutes halbes Dutzend von Kollegen teilnahmen, von denen die meisten gar nicht den Vortrag gehört hatten. Sie waren sich aber einig, von mir etwas über eine verbreitete und gefährliche gegen die chinesische Regierung gerichtete Organisation in Amerika etwas zu erfahren. Wenn ich mich recht erinnere, hieß die Organisation Fulong Dong und ich hatte zum Glück wenigstens zwei Mal eine relativ kurze Notiz darüber in der New 140 Im dritten Jahrtausend <?page no="155"?> York Times gelesen. Ich wurde über zwei Stunden über diese zwei kleinen Notizen befragt. Nachdem das von so ungeheurer Wichtigkeit sein sollte, habe ich mir nach meiner Heimkehr eine englische Übersetzung der „ Bibel “ dieser Organisation gekauft. Es war eine Mischung aus teilweise sogar mißverstandenen Lao-Tse- Zitaten mit blankem Unsinn. Daß solcher Unsinn für eine so mächtige Regierung gefährlich sein konnte, war mir unverständlich, es sei denn, man stellte die totale Ungeistigkeit des Maoismus in Rechnung. Als ich mich aber erinnerte, wie viel Schaden der blanke Unsinn von Hitlers Mein Kampf in Deutschland und Österreich hatte anrichten können, wunderte ich mich nicht mehr. Die vier Tage in Shanghai waren für mich auch darum besonders interessant gewesen, weil ich mit Hilfe meiner Dolmetscherin ein Medizin-Museum fand. Dort gab es nicht nur Ausstellungsräume über geheime Rezepte der alten chinesischen Medizin, sondern man konnte die alten Arzneien auch herstellen lassen und kaufen. Hilft es nicht, so schadet es auch nicht, dachte ich und ließ ein altes Geheimrezept für meine Krebserkrankung herstellen. Es war nicht billig, ich zahlte im voraus und konnte es am folgenden Tag abholen. Ich wickelte es in Plastik und legte es in meinen Koffer. Als ich es daheim auspackte und die Plastikhülle entfernte, stank das Zeug so diabolisch, daß ich es so rasch wie möglich im Müll entsorgte. Durch Zufall konsultierte ich etwa eine Woche später eine Ärztin, die durch ihre Akupunkturbehandlungen einen sehr guten Ruf hatte. Als ich ihr Ordinationszimmer betrat und einer Chinesin gegenüberstand, folgte ich einem Impuls und erzählte die Geschichte. Sie lächelte wissend und erklärte mir: „ Wenn Sie so etwas suchen, dann werden sie es nicht in China, sondern nur in New York City finden. “ Für das Jahr 2002 möchte ich meine erste Begegnung mit einem baltischen Land schildern. Ich hatte die größeren Oststaaten mehrmals besucht und es war Zeit, sich den interessanten baltischen Staaten zuzuwenden. Obwohl mir Estland durch meinen Freund Viirlaid besonders nahe war, ergab es sich, daß ich mit Litauen begann. Ich hatte herausgefunden, daß mein alter Freund, der frühere rumänische Kulturattaché, Michael Schwarzinger, jetzt Botschafter in Litauen war und als ich anfragte, wurde ich sofort herzlich eingeladen, sein Gast zu sein. Man führte mich zur Dünenlandschaft der Kurischen Nehrung, zur Inselburg Trakai, wo der Großfürst von Litauen, Vytautas, geherrscht hatte und man erzählte mir von der berühmten Schlacht bei Tannenberg, wo der Deutsche Orden eine schwere Niederlage erlitt, sodaß Polen-Litauen zu einer europäischen Großmacht aufstieg. Vor allem aber war ich an Zeitgeschichte interessiert. Man zeigte mir jene Stelle beim Parlament, wo in letzter Stunde vor der Wende litauische Freiheits- 141 Im dritten Jahrtausend <?page no="156"?> kämpfer gegen die Russen gefallen waren. Ich besuchte das Museum der Opfer des Genozids, das früher das Hauptquartier und Gefängnis des KGB war. Ich sah auch den Gr ū tas Park, ein seltsames Freilichtmuseum, in dem unter anderem Skulpturen aus der sowjetischen Zeit ausgestellt waren. Es werden aber auch Gemälde der sowjetischen Führer, Alltagsgegenstände sowie Uniformen der kleinen sechsjährigen litauischen Pioniere bis hin zu sowjetrussischen Uniformen und Orden gezeigt. Wie in allen kommunistischen Oststaaten hatte auch der „ Schriftstellerverband “ eine besondere Rolle gespielt, und obwohl der prorussische Vorstand längst abgeschafft war, spielte der Verband im literarischen Leben noch immer eine Hauptrolle. Der Botschafter hatte mich mit einem Grillparzer-Vortrag an den Verband vermittelt. Als sie entdeckt hatten, daß ich aus Amerika kam, fragten sie mehr über Amerika als über Grillparzer. Zuletzt fragte mich der Präsident des Verbandes, welches wichtigste amerikanische Grundlagenbuch über Literaturwissenschaft ich zur Übersetzung ins Litauische vorschlagen würde. Die Literaturtheorie meines Freundes René Wellek war bis jetzt in dreiunddreißig Sprachen übersetzt, aber noch nicht ins Litauische. Also schlug ich das von René Wellek und Austin Warrens verfaßte Buch Theory of Literature vor. Nicht nur die wichtigste Begegnung, sondern auch die schönsten Stunden des Tages waren die Gespräche mit Botschafter Schwarzinger und seiner Frau während der gemeinsamen Mahlzeiten und gleich nachher. Fast jedes Mal wurde ein anderes Thema besprochen. Im Jahr 2003 erschien mein Buch Exil, Gegenexil, Pseudoexil. Nachdem ich mit den beiden umfangreichen Bänden über deutschsprachige Exilliteratur in Amerika ein Grundlagenwerk geschaffen hatte, mit einem einfach Exilliteratur betitelten Buch von 1983 die Grundprobleme der Exilliteratur dargelegt hatte und schließlich überdies auch noch die erste Gesamtdarstellung der österreichischen Exilliteratur geschrieben hatte, leistete ich mir den Luxus, Sonderprobleme zu behandeln. Mit Gegenexil bezeichnete ich jene Fälle, in denen ein Autor aus einem freien Staat in eine Diktatur zurückging. Das kam selten genug vor, aber es kam vor. Aber es kam auch vor, daß Bürger, die keine Autoren waren, aus einem freien Land in eine Diktatur gingen. Das beschreibt einer der interessantesten Romane, die ich kenne Der vor dem Löwen flieht . . . Hier geht der Gutsbesitzer Lutz Alda auf Bitte seines Freundes, des rumänischen Abwehrchefs, General Baderesch freiwillig für einige Monate in das östliche Polen, das soeben durch die sowjetische Besetzung als „ West-Ukraine “ ein Teil der ukrainischen Sowjetrepublik geworden war. Er sollte erkunden, was es mit dem Leben in der geheimnisumwitterten Sowjetunion wirklich auf sich hat und womöglich herausfinden, ob Rumänien womöglich der nächste Staat sein werde, der eingenommen werden sollte. 142 Im dritten Jahrtausend <?page no="157"?> Lutz Alba überschreitet bei Nacht und Nebel den Grenzfluß Czeremosch und gibt nach seiner Rückkehr vier Monate später einen tendenzfreien Bericht über die Wirklichkeit des sowjetischen Lebens, wie er es in Lemberg durchgemacht hat. Der Autor des Romans Jacob Klein-Haparash hat damit eine lebendige, ja spannende Erzählung von zeitloser Großartigkeit geliefert. Alda posiert als Ukrainer und hat sich Wassile Wassilejitsch Chomiuk genannt. Der Autor stammt aus der nördlichen Bukowina, welcher nun der Einmarsch der Russen droht, und er hat offenkundig aus einem reichen Schatz von Erfahrungen gegriffen. Klein-Haparash selbst floh nach Israel. Als normales, klassisches Beispiel des Gegenexils stelle ich in meinem Buch den durchaus bedeutenden Autor Ernst Glaeser vor. Er floh nach der Machtergreifung Hitlers als bekannter Aktivist des kommunistischen Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller nach Zürich, von wo er sechs Jahre später, 1939, nach Hitlerdeutschland zurückkehrte. Sein erster, großer Erfolgsroman Jahrgang 1902 war gegen Hitler gerichtet gewesen. Sein in der Schweiz entstandener Exilroman Der letzte Zivilist, der ebenso in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde, war gegen den Kommunismus gerichtet. Weit wichtiger als Glaesers finanzielle Misere in der Schweiz und das oft überbetonte „ Heimwehgefühl “ war die jetzt erkannte große Gefahr des Kommunismus für die menschliche Freiheit für ihn. Ignazio Silone hat in einem Brief die Schlußbilanz gezogen: „ Ernst Glaeser “ schrieb er, „ avec sa famille, est rentré hier en Allemagne. S ’ il n ’ en était jamais sorti, aurait épargné les frais d ’ aller-retour. Enfin, le ‚ dernier civiliste ‘ est mort. “ Zu seiner Ehre sei gesagt, daß er nach 1945 taktvoll genug war, keine Romane mehr zu schreiben. Ein Beweis für seine Intelligenz und Anständigkeit war, daß er nun Camus übersetzte, dessen Bild einer absurden Welt er in seinem Leben in erschütternder Schwere erfahren hatte. Eine zweite Sonderform, die sich aus der wirklichen Exilliteratur entwickelt hat, war das Pseudoexil. Der erste, der auf dieses Phänomen in größerem Zusammenhang hingewiesen hat, war Jan Buruma in einem Aufsatz der Neuen Zürcher Zeitung vom 28.-30. September 2001. Buruma zeigt, daß dieses Phänomen keineswegs auf die deutschsprachige Literatur beschränkt ist. Er nennt Edward Said als Plästinenser im Exil, Eva Hoffmann als Polin im Exil, Bharati Mukheree als Bengalin im Exil und André Aciman als Exilierten aus Alexandrien. Dieses Peudoexil ist zu einer großen Bewegung angewachsen. Während die wirklichen Exilautoren wegen Verfolgung und Lebensgefahr, zumindest aber aus Gewissenszwang das für die meisten harte Schicksal des Exils auf sich nahmen, kann bei den Pseudoexilanten davon keine Rede sein. Buruma beginnt damit, zu zeigen, daß es für die Pseudoexilanten einfach schick ist, die „ Mode des Exils “ oder den „ Kult des Exils “ mitzumachen. 143 Im dritten Jahrtausend <?page no="158"?> Große Autoren der deutschsprachigen Literatur, wie Thomas Mann, Alfred Döblin, Franz Werfel, Robert Musil oder Hermann Broch waren Exilautoren. In unserer totalen Zerfallszeit der Kultur gibt es nichts Vergleichbares. Was die Pseudoexilanten kennzeichnet, ist Verachtung der Fakten und Wahrheit, Neigung zur Lüge und ideologischer Propaganda, sowie der Stolz auf die eigene Dummheit. Die Verbindung zur Exilliteratur wird oft von den Pseudoexilautoren selbst hergestellt aus Anmaßung gegenüber etwas ihnen Fremden. Buruma schrieb darüber: „ Der Punkt hierbei ist nicht, daß Intellektuelle sich nicht für die Opfer der Gesellschaft einsetzen sollten. Das sollten sie durchaus - aber nicht indem sie so tun, als ob sie selbst Opfer wären “ , ohne es zu sein. „ Sich den blutigen Mantel der Opfer umzuhängen, trivialisiert tatsächlich das Leid; das Opfer-Sein wird dadurch zum Modeartikel. “ Die Großen der wirklichen Exilliteratur werden von den Pseudoexilautoren abgelehnt oder zumindest verschwiegen. Lediglich die durch sie geschaffene Wirkung des Begriffs „ Exil “ hängen sie sich gern „ als blutigen Mantel “ um. Ein besonders bezeichnendes Beispiel, das so obskur ist, daß Buruma es gar nicht kennt, gibt es in der österreichischen Literatur dafür. Im Jahr 1954, neun Jahre nachdem es in Österreich wieder Geistesfreiheit gab, etablierte sich eine Gruppe österreichischer Autoren, H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer als „ Klub Exil. “ Es war ein reiner Akt der Anmaßung, der Unverfrorenheit und der Lüge: Echtes Pseudoexil. Damals war der Begriff „ Exil “ noch von einer positiven Aura umgeben. Heute, wo sich die „ geistigen “ Erben des Nazismus, wie etwa der österreichische Politiker Strache ebenfalls verlogene „ Pseudo-Mäntelchen “ umhängen, ist es damit auch vorbei. Strache posiert als Anhänger des russischen Diktators Putin. Daß ausgerechnet seine Partei „ Freiheitliche “ Partei heißt, paßt großartig dazu. Um aber beim österreichischen „ Klub Exil “ zu bleiben, sei ein Gedicht von Gerhard Rühm angeführt. Das „ Gedicht “ hat den Titel: „ Die österreichische Bundeshymne einen Schritt weiter “ . Es ist dadurch entstanden, daß der „ Dichter “ den Text der ersten Strophe der Bundeshymne nahm, das Österreichische Wörterbuch daneben legte und jedes Wort der Hymne durch ein anderes Wort ersetzte und zwar jenes, das im Wörterbuch auf das Wort der Hymne folgte. So entstand ein völlig geist- und sinnloses Tohuwabohu von Wörtern. Es ist ein anschauliches Beispiel der Pseudoexildichtung. Wo ist die Zeit, in welcher der Dichter als ein Vates, als Seher und Prophet, als Ergründer orphischer Geheimnisse galt? Er ist zu einem Wörterbuch-Abschreiber abgesunken. Aber in unserer Zeit des Kulturzerfalls fand sich nicht nur ein Verleger, der dieses Gedicht druckte, sondern ein österreichischer Universitätsprofessor hat gerade dieses Gedicht in seinem Kapitel über die österreichische Literatur nach 1945 zur Gänze abgedruckt und die Behauptung aufgestellt, es besitze „ hohes 144 Im dritten Jahrtausend <?page no="159"?> weltliterarisches Niveau “ . Er hat damit als Parallele zur Pseudoexildichtung ein Beispiel von „ Pseudowissenschaft “ geliefert. Abgedruckt im Band sieben des Werkes über Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts, des sonst seriösen Professor Herbert Zeman, dem dieses Beispiel entgangen sein muß. Vor dem Kapitel steht ein Kapitel von mir über österreichische Exilliteratur. Der große Dichter Gerhard Rühm erhielt 1991 den „ Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur “ . Zumindest auf dem Gebiet der Literatur scheint in Österreich die Phase eines Schildbürgerstaates eingesetzt zu haben. Im Jahr 2004 schrieb ich zum ersten Mal einen eigenen Aufsatz über das „ Wiener Literatur Café “ . Der tüchtige Chef der Germanistik von Sarajewo, Vahidin Preljevi ć , dem ich in Freundschaft und Dankbarkeit verbunden bin, begann eine bosnische Zeitschrift über Literaturwissenschaft und Linguistik mit dem Titel Pismo herauszugeben und wünschte sich einen Beitrag für die erste Nummer. Da Sarajewo lange genug mit Wien verbunden war, wählte ich dieses Thema, über das sehr oft, aber fast immer oberflächlich geschrieben worden war, obwohl ihm für die Wiener Literatur nicht zu unterschätzende Bedeutung zukam. Der direkte Beginn liegt wohl in der Zeit des Josephinismus beim „ Kramerschen Kaffeehaus “ . Hier hatte sich zudem wahrscheinlich zum ersten Mal nicht Habsburgisches, sondern ein richtiges österreichisches Nationalbewußtsein entwickelt. Die bekannten Autoren der Zeit hatten sich so gut wie alle in dem kleinen Kaffeehaus getroffen. Sogar eine Zeitung lag bereits auf, der „ Reichspostreiter “ . Im nächsten Kaffeehaus, dem „ Griensteidl “ am Michaelerplatz hatte bereits einer der größten, wenn nicht sogar der größte der österreichischen Biedermeier- Autoren, Grillparzer, verkehrt. Zu seiner höchsten Bedeutung als erstes der wirklich großen österreichischen Literaturcafés war es freilich erst in der Zeit von Jung-Wien aufgestiegen, in der die berühmte erste Begegnung von Hermann Bahr mit dem jungen Hofmannsthal stattfand. Am Beginn hatte auch Karl Kraus dort verkehrt, der sich bald genug zu einem Gegner von Jung-Wien entwickelt hatte und zunächst eher vereinsamt in das zweite große Literarturcafé, das Café Central in der Herrengasse, umgezogen war. Als erster war ihm Peter Altenberg gefolgt. Als das Haus, in dem sich das Griensteidl befand, 1904 abgerissen wurde, schrieb er seine berühmte Broschüre Die demolierte Literatur. Jetzt folgten die meisten bekannten Autoren in das Central, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das Wiener Literaturcafé war. Zu den berühmtesten Gästen des Central gehörten Karl Kraus, Peter Altenberg zusammen mit Egon Friedell und Alfred Polgar. Polgar hat sogar eine „ Theorie des Café Central “ entworfen. Es sei kein gewöhnliches Kaffeehaus, erklärte er, sondern eine Weltanschauung, nämlich die Weltanschauung, die Welt nicht anzuschauen. Denn was sieht man schon. Nach Polgars Theorie liegt 145 Im dritten Jahrtausend <?page no="160"?> das Central am wienerischen Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. Die Gäste des Cafés kennen, lieben und geringschätzen einander. Aber selbst gegenseitiger Widerwille hat im Café Central Bindekraft. Nicht einmal Polgar blieb dem Central treu. Seine große Zeit war von 1904 bis 1918 und als sie vorbei war, wechselte auch Polgar zum Café Herrenhof, das nur einige Häuser weiter in der Herrengasse lag und das Erbe des Central angetreten hatte. Es war das große unvergeßliche Wiener Literaturcafé der Ersten Republik, dem - wie so vielem anderen Großen und Schönen in der Kultur - erst der Einmarsch der deutschen Truppen im Jahr 1938 ein Ende bereitet hat. Ich liebe es, als besonders interessanten „ Sonder-Café-Kreis “ den Blei-Kreis hervorzuheben, genannt nach seinem „ Vorsitzenden “ Franz Blei, einem der größten Kritiker und von so faszinierender Wirkung, daß bei seinem Auftauchen automatisch ein Kreis um ihn entstand, der bei seinem Abgang sofort wieder zerfiel. Es war noch im Ersten Weltkrieg, als Blei in das Café Central kam und sich sofort ein Kreis zusammenschloß. Zu ihm gehörten Musil, Broch, die später als amerikanische Drehbuchautorin bekannt gewordene Gina Kaus, der Philosoph Paul Schrecker und der Flaubert-Biograph Otto Kaus. Als Blei nach Mallorca ging, zerfiel der Kreis sofort. Das Gleiche wiederholte sich im Café Herrenhof. Als Blei auf der Flucht vor dem Spanischen Bürgerkrieg Mallorca verlassen hatte und in Wien auftauchte, gab es sofort den „ Zweiten Blei-Kreis “ . Wieder waren Musil und Broch dabei, dazu noch Albert Paris Gütersloh, Ernst Polak-Schwenk, der zwar nicht selber schrieb, aber für Werfel und für Broch ein Ratgeber war, und der als Gatte von Kafkas Milena eine Verbindung zu Kafka herstellte. Der jüngste war Ernst Schönwiese, der freilich mit seiner Zeitschrift das silberboot nicht nur Bleis und Brochs Ratschlägen folgte, sondern auch ein Sprachrohr für Blei und für Broch war. Werfel war schon ein Stammgast im Central gewesen und war es wieder im Herrenhof. Der jüngere Friedrich Torberg tauchte erst im Herrenhof sichtbar auf, aber dafür in besonders wichtiger Rolle. Man könne ihn geradezu den Historiographen des Herrenhofs nennen. Wie Torberg ja auch sein ganzes berühmtes Buch von der Tante Jolesch ein „ Buch vom Kaffeehaus “ hätte nennen können, wobei des Herrenhof gemeint war. Im Kapitel des Tante-Jolesch-Buches „ Kaffeehaus ist überall “ führt er denn auch sofort das Mitglied des zweiten Blei-Kreises Ernst Polak-Schwenk als idealtypisches Beispiel eines Stammgastes an. Torberg war es auch, der drei Gründe nannte, weshalb alle Versuche, nach 1945 wieder ein großes Literaturcafé zu installieren, fehlschlagen mußten. 146 Im dritten Jahrtausend <?page no="161"?> Als Erstes hat er an die Vertreibung und Vernichtung der Juden erinnert. Zweitens hat er darauf aufmerksam gemacht, daß das heutige Leben durch eine viel größere Gehetztheit der Menschen bestimmt ist. Und Zeit zu haben, ist die wichtigste und unerläßlichste Voraussetzung jeder Kaffeehaus-Kultur. Schließlich aber und drittens hat er zwischen dreierlei Arten von Österreich unterschieden: dem der alten Monarchie, dem der Ersten Republik mit der Zwischenkriegszeit und dem, was 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg folgte. Dieses dritte war bereits ein Fremdkörper und wurde mit der Zeit immer fremder. Dieses dritte Österreich war es auch, das in ein Wellental der Kultur und in Vielem in richtigen Kulturzerfall hinein stolperte. Torberg selbst, Historiograph des dritten großen Wiener Literaturcafés, ist auch schon wieder seit drei Jahrzehnten tot. Das Literaturcafé Herrenhof ist noch viel länger tot und nur die Tante Jolesch lebt noch in den Herzen vieler Leser. So lange ich aber noch lebe, leben sie in mir noch alle drei, das Herrenhof, die Tante Jolesch und vor allem Torberg. Für mich war das Jahr 2005 das Jahr des hundertsten Geburtsages meines Freundes Ernst Schönwiese. Da die Damen und Herrn, welche jetzt die österreichische Literaturszene beherrschten, mit Sicherheit nichts für ihn tun konnten, da sie ihn gar nicht kannten, beschloß ich eine erste Schönwiese- Monographie zu schreiben, damit wenigstens in Bibliotheken eine Erinnerung an ihn erhalten bliebe. Ich drehte absichtlich den üblichen Untertitel „ Leben und Werk “ um und nahm stattdessen als Untertitel „ Werk und Leben “ , weil ich das Werk objektiver besprach, während die Beschreibung des Lebens in diesem Fall ein vielfach subjektives Werk persönlicher Erinnerung war. Zu meiner Überraschung brachte sogar der Österreichische Rundfunk eine längere Geburtstagssendung, in deren Verlauf ich auch interviewt wurde. Trotzdem wollte ich auch meine persönliche Geburtstagsrede in Amerika halten. Da ich mit der damaligen österreichischen Botschafterin in Washington Eva Novotny befreundet war, rief ich sie an und sie war zu meiner Freude sofort bereit, am Geburtstag, dem 5. Januar oder sofort danach einen Vortrag organisieren zu lassen. Ihre einzige Bedingung war, daß der Vortrag englisch gehalten werden müsse, damit man mit einem genügend großen Publikum rechnen könne. Mein verständlicher Wunsch, nach dem Vortrag mein Buch verteilen zu können, trug dann leider Schuld daran, daß das Buch eine wahre Fundgrube von Druckfehlern geworden ist. Mein Freund, der Schweizer Verleger, der in England gelebt hatte, war längst tot. In Frankfurt, wo das Buch hergestellt wurde, kannte mich kein Mensch im Verlag. Der Hersteller empfand den Quälgeist, der auf so schnelle Fertigstellung drängte, als Plage und druckte das Buch ohne Rücksicht auf Korrekturen so schnell wie möglich. Daß das Druckfehlerbuch dann infolge der langsamen Post sogar noch zu spät in Washington eintraf, um nach dem Vortrag verteilt werden zu können, empfand ich als besonders bitter. 147 Im dritten Jahrtausend <?page no="162"?> Ein Trost für mich war es, daß der Vortrag ein wirklich großer Erfolg wurde. Es kam ein zahlreicheres Publikum als erwartet und ich wußte, wie ich Schönwiese den Amerikanern nahe bringen konnte. Dazu kam, daß ich einen wirklichen Höhepunkt für den Abschluß vorbereitet hatte. Ich hatte eine bedacht zusammengestellte, kleine Anzahl von Gedichten Schönwieses in englischer Übersetzung zusammengestellt, die besonders gut zum Vortrag und zum amerikanischen Publikum paßten. Da meine Aussprache für einen hochgestochenen, künstlerischen Vortrag von Gedichten nicht gut genug war, hatte ich meine Tochter, die gebürtige Amerikanerin ist, gewonnen, nach Washington zu fahren und die Gedichte zu lesen. Ich begann sofort mit der Schilderung von Schönwieses neunjähriger Leitung der Literaturabteilung der amerikanischen Sendergruppe Rot-Weiß-Rot in Salzburg im Jahr 1945. Zum Beispiel hatte er die nach dem Krieg in Österreich so gut wie völlig unbekannte Gattungsform der amerikanischen Short Story am Beispiel Hemingways analysiert und gewürdigt und mit Nachdruck klar gemacht, daß er nicht nur ein interessanter Abenteurer war, sondern ganz hohe Sprachkunst geschaffen hat. Ich zitierte aus der folgenden Zeit in Wien Glanzlichter seiner Hörspielregie von amerikanischen Stücken. Mein Höhepunkt war die Darstellung seiner Regie eines Stücks des größten. modernen amerikanischen Dramatikers Eugene O ’ Neill Mourning Becomes Electra. Ich zeigte, wie er des Autors Bemühen die menschliche Konfliktsituation in der Weise der antiken Dramaturgie besonders packend dargestellt hatte. Ich endete mit dem Hinweis, daß er einer der ganz wenigen österreichischen Autoren war, dessen persönlicher Vortrag seiner eigenen Gedichte vom Stimmarchiv der Library of Congress aufgenommen worden war. Die Lesung seiner Gedichte durch meine Tochter war nicht nur ein würdiger Abschluß, sondern ein wirklicher Höhepunkt. Da ein Gästebuch auflag, konnte ich am nächsten Tag lesen, was viele Zuhörer darüber geschrieben hatten und konnte nicht nur meine Tochter, sondern auch mich selbst beglückwünschen. Im Jahr 2006 erschien mein Buch über Arthur Koestler. Schon das ganze Jahr 2005 hatte ich mich mit ihm beschäftigt. Als ich im Sommer 2005 in Wien war, besuchte ich einen Journalisten, der mir empfohlen worden war. Als ich bei ihm Koestler erwähnte, erklärte er, daß er ihn so schätzte, daß er sich das ausführlichste Buch über ihn gekauft hätte. Er holte es aus dem obersten Fach seiner Bücher heraus und reichte mir den umfangreichen Band. Er war ziemlich neu, erschienen 1998 und von seinem Autor David Cesarani hatte ich nie etwas gehört. Ich blätterte darin, las immer wieder zwei, drei Sätze und es stellte sich als das umfangreichste Buch der Unwahrheiten heraus, das ich in meinem Leben je gesehen hatte. Es war dieses Buch, das den Ausschlag gab, mein Buch zu schreiben. Wenn man meinem bewunderten Idol so etwas antun konnte, dann 148 Im dritten Jahrtausend <?page no="163"?> mußte mein nächstes Buch ein Buch „ Die Wahrheit über Arthur Koestler “ sein, auch wenn das Thema nicht direkt im Titel aufschien. Als er im Spanischen Bürgerkrieg in der Todeszelle eines faschistischen Gefängnisses von Franco saß und auf seine Hinrichtung wartete, zeigte er keine Unruhe. Es war ein in jeder Weise unvorhergesehener Glücksfall, daß er gegen den erfolgreichsten Jagdflieger Francos, welcher der republikanischen Regierungstruppe in die Hände gefallen war, ausgetauscht wurde. Oder: Als er im Blitzkrieg auf der Flucht vor den deutschen Truppen im Süden von Paris plötzlich keine Möglichkeit mehr hatte, ein Fahrzeug zu finden, das ihn mit nahm, erinnerte er sich an einen französischen Film, in dem der gejagte Kriminelle sich als Freiwilliger zur Fremdenlegion meldete, dadurch eine neue Identität erhielt und dem Zugriff der Verfolger entzogen war. Frankreich hatte noch nicht kapituliert, in der Provinzstadt, in welcher er gestrandet war, fand er ein Rekrutierungsbüro der Fremdenlegion und im Handumdrehen besaß er einen neuen Ausweis samt Uniform, sodaß er sich bis zum Meer durchschlagen konnte. Er wollte nicht in die Sicherheit des damals noch neutralen Amerika, sondern wollte sich der englischen Armee anschließen, um gegen Hitler zu kämpfen. Er schlug sich über Oran und Casablanca nach Lissabon durch, schwindelte sich auf eine britische Transportmaschine, wurde am Landeplatz bei Bristol von der Polizei verhaftet, von einem deutschen Exilanten, der für die Briten arbeitete, verhört und kam frei. Im Jahr 1950 war er in Westberlin der Begründer des Kongresses für Kulturelle Freiheit. Er hatte Tausenden zugerufen: „ Die Freiheit hat die Initiative ergriffen “ und eine Weltbewegung gegen den Kommunismus ins Leben gerufen. Wenige haben wie er durch ihre Romane praktisch Politik machen können. Im Krieg hatte man ihn aus London in einer Mission nach Palästina geschickt. Er blieb dort und schrieb den Palästina-Roman Diebe in der Nacht. Die UNO hatte 1948 eine Kommission eingesetzt, um die Lage zu studieren und einen Vorschlag zu machen, ob ein Staat Israel gegründet werden sollte oder nicht. Nachdem die Kommission die Staatsgründung empfohlen hatte, wurde ihr Vorsitzender, ein hoher schwedischer Richter in einer Pressekonferenz interviewt. Dort sagte er, mehr als alle Memoranda jüdischer Politiker hätte ihn Koestlers Roman überzeugt, daß dieser Staat notwendig sei. Mein Buch beschreibt auch, wie es ihm gelang, seine zuerst einsame Initiative in seiner Wahlheimat England den Kampf gegen die Todesstrafe zum Sieg zu führen. Es war ein eindrucksvoller Sieg der Menschlichkeit. Wiederholt hatte er sich bei der Durchsetzung seiner Ideen ein mittleres Heer von Gegnern gemacht. Seine Abkehr vom Kommunismus hat ebenso wie seine späte Hinwendung zur Parapsychologie viel Druckerschwärze für Koestler- Verurteilungen verschwenden lassen. Ich kenne nur sehr wenige Autoren, die so viele ernsthafte Gedanken an die Überlebenschancen der Menschheit verwendet haben und ebenso wenige, die 149 Im dritten Jahrtausend <?page no="164"?> vor der Erfolglosigkeit einen Atomkrieg zu verhindern, gewarnt haben. Ich bewundere und verehre ihn als einen der Größten. Das Jahr 2007 war das Jahr, in dem ich meine vierte Festschrift erhielt, in der ich zumindest drei geistige Begegnungen erfuhr, die für meine eigene Entwicklung von Bedeutung waren. Der erste Beitrag stammt von meinem verehrten Freund Karl S. Guthke und trägt den Titel „ Die große Öffnung in die weite Welt “ und den fast ebenso wichtigen Untertitel „ Globale Bildung in der Goethezeit “ . Ich fand es bereits interessant, daß er mit Georg Forster begann, der die Idee verbreitete, die Zeit wäre bereit für eine neue „ Bildung “ . Es erinnerte mich an eine meiner frühesten Arbeiten, die „ Erste Folge “ , einer literarhistorischen Schriftenreihe des Instituts für Wissenschaft und Kunst, die ich 1955 herausgegeben hatte. Sie trug den Titel „ Georg Forsters literarhistorische Bedeutung “ , da auch ich von ihm fasziniert gewesen war und sie ist seltsamerweise in keiner meiner Bibliographien je aufgelistet worden. Guthkes Beitrag aber zeigt darüber hinaus eine stupende Bildung und Kenntnis von Anthropologen und Ethnologen der Goethezeit zu Forsters Idee einer globalen Bildungsöffnung, die interessanterweise alle dem Universalgenie Goethe bekannt waren und seine Weltschau mitprägten. Guthke zeigt, wie sich auch andere Große der Goethezeit dieser Einsicht öffneten: die beiden Humboldts, Wieland, Schiller. „ In Wielends Weimar liegt damals nicht nur der Geruch des Kuhstalls in der Luft, sondern auch der Duft der großen, weiten Welt “ , heißt es. Universale, weltweite „ Menschenkenntnis “ oder die „ Wissenschaft vom Menschen “ sind für Wieland die „ nötigste und wichtigste aller Wissenschaften “ . Jetzt war man in Weimar auch so weit wie es Pico della Mirandola bereits im Italien der Renaissance gewesen war. In Diderots Enzyklopädie hatte es schon im 18. Jahrhundert geheißen, daß „ Voyage “ die wichtigste Lebensschule sein kann. Die wichtigste Antwort auf die Frage: „ Wer bin ich? “ oder „ Was ist der Mensch? “ ließe sich hier finden, wobei die Betonung auf dem Wort „ kann “ liegt, denn es gibt zweierlei Gründe für Reisen. Emerson hat mit Recht erklärt, daß diejenigen, die aus „ Flucht vor sich selbst reisen “ , dadurch nur verdummen. Guthke zeigt, daß bei den ernstzunehmenden Deutschsprachigen am Anfang dieser Erkenntnis Georg Forster steht, „ Goethes bewunderter Gesprächspartner “ bei Ihren Begegnungen in Kassel, Weimar und Mainz. Der zweite Beitrag, der mich sehr beeeindruckt hat, war der Aufsatz der polnisch-galizianischen Maria K ł a ń ska über Manès Sperber, den ich in seinen letzten Jahren meinen Freund nennen durfte und der den ersten Band seiner Autobiographie Die Wasserträger Gottes genannt hat. In dem ostjüdischen „ Schtetel “ Zablotow, in dem er geboren war, wurden die Bürger des Städtchens durch Wasserträger mit Wasser versorgt, die für ihre schwere Arbeit sehr wenig Geld erhielten. 150 Im dritten Jahrtausend <?page no="165"?> Schon als Kind verstand Sperber diesen Begriff der Wasserträger Gottes als Metapher für das Schicksal des jüdischen Glaubens, durch den die Juden der Armut ausgesetzt waren, wie die Wasserträger nur wenige Groschen dafür erhielten, indem sie das Leben spendende Wasser in das Haus der Menschen trugen. K ł a ń ska arbeitet großartig heraus, wie sich gerade durch ihren Glauben die ostjüdische Gemeinschaft trotz der Armut und Häßlichkeit des Städtchens von den sie umgebenden Andersgläubigen wie durch eine „ innere Schönheit “ und „ Vergeistigung “ abhoben. Über seine Religiosität als Kind, von der ihm der Kern blieb, berichtet Sperber wie folgt: „ Aber die Zuversicht, mit der ich den Messias erwartet hatte, blieb . . . In allem, was ich da lernte und erlebte und unternahm hörte ich nicht auf, Gründe für die messianische Zuversicht zu finden . . . Es mag sein, daß ich . . . seit ich denken kann, keiner Idee begegnet bin, die mich so überwältigt und meinen Weg stetig bestimmt hat wie die Idee, daß die Welt nicht bleiben kann, wie sie ist und daß sie ganz anders und besser werden kann und daß sie es werden wird. “ Der ausgebildete und hervorragende Individualpsychologe, der er ist - ein Schüler von Alfred Adler selbst - hat die exoterischen Dogmen wohl abgelegt. Freilich hatte auch hier bereits die Jugend in Zablotow den Schlüssel geliefert, denn das Städtchen besaß auch ein kleines chassidisches Zentrum mit einem „ Zadik “ , einem „ Gerechten “ als geistlichen Führer, der denen, die er auswählte, die Grundlagen der jüdischen Mystik vermittelte. K ł a ń ska macht am Schluß ihrer Arbeit völlig klar, daß Sperber das jüdische Erinnerungsgebot befolgte, durch welches Juden trotz der Jahrtausende in der Diaspora als Kultur- und Geistesgemeinschaft überdauert haben. Sie erklärt, daß er sich dadurch noch im Alter als getreuer „ Ketzer und Jude “ bekannt hat. Aber Ketzer sind immer noch gläubiger als die rationalistisch-exoterischen Befolger äußerlicher Bestimmungen. Der dritte Beitrag stammt von der größten russischen Germanistin der Zeit Nina Pawlowa und trägt den Titel „ Archaischer Code in Rilkes Dichtung: Das Stundenbuch “ . Hier möchte ich zum allgemeinen Verständnis etwas vorausschicken. Nicht allzu viele wußten, daß es nicht nur eine größere deutschsprachige Flucht von Gelehrten in das innere Exil gegeben hatte, sondern auch eine russische. Ich hatte gewußt, daß Frau Pawlowa eine in jeder Hinsicht bedeutende innere Exilantin war. In ihrem Beitrag hat sie jedoch ein Dutzend sehr ernste, sachliche und kenntnisreiche russische Kollegen zitiert, von denen ich nur einen vorher gekannt hatte und ich habe plötzlich auch einen Einblick in die ausgedehnte innere Emigration in Russland gehabt. Der Beitrag Ninas ist ein wahrhaft originell erweiterter Beitrag von Rilkes Stundenbuch. Sie hat das Werk nicht einfach zum Thema gewählt, weil fast alle Gedichte des Bandes einem orthodoxen russischen Mönch als Rollengedichte in 151 Im dritten Jahrtausend <?page no="166"?> den Mund gelegt sind und auch nicht einfach, weil sie ein Lob Gottes dem sowjetischen Materialismus entgegensetzen wollte. Ihr differenzierter Beitrag führt in davon völlig unberührte Bereiche. Sie ist eine der wenigen, die wie Erich Heller von der engen Verwandtschaft Rilkes mit Nietzsche weiß. Sie führt die deutsche Erforschung des Frühexpressionismus über Karl Ludwig Schneider einen Schritt weiter, indem sie dokumentiert, daß in Rilkes Stundenbuch die kühnen Vergleiche, auf die sie hinweist, mehr sind, als normale Metaphern und daß sie über die normalen „ Wie-Vergleiche “ hinausgehen. Sie zeigt, daß sie den Symbolen im russischen Symbolismus gleichen, die ein „ kumulatives “ Prinzip verwirklichen. Ihr wesentliches Ergebnis ist der Nachweis eines „ archaischen Codes “ , den sie im Stundenbuch verwirklicht gefunden hat. Sie zitiert die so wichtige Arbeit von Ulrich Fülleborn, die alt-testamentarischen und antiken Mythen in Rilkes Werk gewidmet ist. Während er aber die einzelnen Mythen einfach auflistet, macht sie einen zusammenhängenden archaischen Code sichtbar. Sie weist gleich am Beginn auf Rilkes Quellen hin: Alfred Schulers Vorträge über die Orphiker und altrömische Gräbersymbolik, auf die Arbeiten Bachofens und Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Sie kennt Rilkes Abneigung gegen die Fesseln der Kirche, weshalb er von der simplen, doch tiefen russischen Bauerngläubigkeit fasziniert war, die er durch seine Russlandreisen mit Lou kennen gelernt hatte. Sie nennt auch seine Beziehung zu einem „ Sinn der Lebens- und Gotterschaffung “ und die Suche nach einem neuen „ Ganzen “ als etwas „ zutiefst Persönliches “ , und sie zeigt, wie diese im Stundenbuch verwirklicht worden sind. Eines ihrer Hauptergebnisse ist, daß so wie die russischen Lyriker und Blok in seiner Lyrik Symbole darstellen, deren „ letzter Sinn nicht ausdrückbar ist “ , das Gleiche ebenso für die Symbole des Stundenbuchs gilt. Nina Pawlowa zeigt das Sprengen der Grenzen von Zeit und Raum und die dadurch besonders deutlich gemachte Neigung zum Synkretismus. Sie verweist zur Klarstellung auf eine Skulptur des Gnostikers Ernst Barlach „ Das Wiedersehen “ durch die Jesus und Thomas als zwei sich betastende blinde Bettler dargestellt werden. Die letzte, zusammenfassende Einsicht ihrer Untersuchung hat Nina Pawlowa in einem einzigen Satz ausgedrückt: „ Die Kraft von Rilkes Dichtung, die das von anderen Ausgesprochene um vieles übertrifft, liegt nicht nur darin, daß diese Ideen für ihn zutiefst persönliche Erfahrung waren, sondern auch darin, daß seine Dichtung nicht nur einen, sondern zwei Sinngehalte birgt: sowohl die Stimme des Mönchs als auch den vom Autor ausgesprochenen Gedanken an die ursprüngliche und zuletzt wieder anzustrebende Einheit der Welt. “ Im Jahr 2008 hatte ich mich durch meine Begegnung mit Hans Thomas Hakl, seinem Bücherturm und seiner Zeitschrift erstmals wirklich ausführlich 152 Im dritten Jahrtausend <?page no="167"?> der Beschäftigung mit der Gnosis zugwendet. Besonders erweitert war dies durch sein für mich interessantes Buch Der verborgene Geist von Eranos geworden. Immer schon hatten mich Eranos-Autoren besonders bewegt, jedoch durch diese großartige Zusammenfassung der Geschichte des Kreises hatte dies eine besonders tiefe Wirkung erfahren. Da Hakl offenkundig auch an mir Gefallen fand, lud er mich ein, für seine Zeitschrift Gnostika einen Aufsatz über ein Thema meiner Wahl zu schreiben. Ich hatte als Thema die zwei größten Romane meines bewunderten und geliebten Hermann Broch gewählt und bereits 2007 einen Aufsatz „ Der Gnostiker Hermann Broch “ geschrieben. Überrascht, in welch hohem Ausmaß die beiden Romane von gnostischen Ideen geprägt waren, begann mir aufzugehen, welch ein Fehler es gewesen war, mich der Gnosis und ihrer Wirkung auf die abendländische Geistes- und Literaturgeschichte nicht mehr zu widmen, und das Jahr 2008 war das erste Jahr, in dem ich mich diesem Thema ausführlich widmete, das mich bis heute beschäftigt hat. Ich entdeckte eine innere Verwandtschaft von Gnosis und Kabbalismus und ich begann Grundlegendes über die Gnosis zu lesen. Die frühe Einführung von Leisegang, die mir meine Mutter bereits 1955 gekauft hatte, war von mir nicht verstanden worden und erhielt jetzt plötzlich einen hohen Wert, so hoch, daß sie auch durch das viel aktuellere Buch des großen Kenners Hans Jonas, Gnosis. Die Botschaft vom fremden Gott nicht völlig überholt worden war. Ich schätzte im Buch von Jonas auch das Nachwort von Christian Wieser sehr, dem er den guten Titel „ Revolte wider die Weltflucht “ gegeben hatte. Mit exoterischen, rabbinischen Jenseitstüfteleien, die mitunter sogar eine Parallele zur verrückten, christlichen Spätscholastik bilden, hat das nichts zu tun. Einer der größten Kenner des Kabbalismus der Welt, Gershom Scholem, hat in der Einleitung zu seinem Kabbalismus-Buch geschrieben: „ Vom Beginn ihrer Entwicklung an umfaßte die Kabbala eine Esoterik, die mit der Geistigkeit der Gnosis auf das engste verwandt war. “ Sogar zwischen der „ Einheit der Welt “ in Nina Pawlowas Rilke-Aufsatz und Guthkes „ Globaler Bildung “ gibt es eine lockere Beziehung zum säkularen Teil einer Kosmogonie, wie sie die Gnosis kennzeichnet. Guthke zitierte Wieland, der gesagt hatte, dies sei eine wichtige Voraussetzung für die „ Wissenschaft des Menschen “ . Der große Gnostiker Clemens von Alexandrien hatte erklärt, das Wesen der Gnosis bestünde in der „ Erkenntnis, wer wir sind und was wir geworden sind; woher wir stammen; wohin wir eilen und wovon wir erlöst sind; was es mit unserer Geburt, was es mit unserer Wiedergeburt auf sich hat. Der kommende, göttliche Messias von Sperber, entspricht dem „ werdenden Gott “ des Stundenbuchs. Was diese „ Wissenschaft vom Menschen “ betrifft, so ist Rilkes Überraschung und Betroffenheit zu wenig bekannt, als er auf das Buch 153 Im dritten Jahrtausend <?page no="168"?> Histoire du genre humain des Antoine de Fabre d ’ Olivet stieß. Er hat ihn nicht „ benützt “ , sondern er war verblüfft, wie sehr dessen Kenntnisse und Wissen seinen eigenen Ideen und Vorstellungen so vollständig entsprachen. Fabre d ’ Olivet hatte schon früh verschiedene kosmogonische Modelle studiert, denen alte Weisheitslehren zugrunde lagen, die im alten Ägypten begründet und durch Moses, Pythagoras und Orpheus weiter gegeben wurden. Er mag dabei auf die abendländische Traditionskette gestoßen sein, die von der Platonischen Akademie in Florenz im 15. Jahrhundert entdeckt worden war. Fabre d ’ Olivet hat die „ Goldenen Verse “ von Pythagoras neu übersetzt, hat Moses einen Eingeweihten genannt, dessen Weisheit in seinen Schriften unzugänglich geworden war, weil die dazu notwendigen esoterischen Kenntnisse des Hebräischen verloren gegangen waren. Und er machte der konventionellen Geschichtsschreibung den Vorwurf, daß ihr die Voraussetzung zum richtigen Verständnis fehle, weil man dazu zuvor die ursprüngliche, spirituelle Natur der Menschen und ihre Stellung in der Hierarchie des Universums erkennen müsse. Eine der besten Darstellungen des Fabre d ’ Olivet, jene des Arthur McCalla, ist in Wouter J. Hanegraaff ’ s Sammelwerk Dictionary of Gnosis and Western Esotericism erschienen. „ Gnosis “ wäre auch eine genauere Bezeichnung als jene eines „ Archaischen Codes “ . Plötzlich begann ich überall gnostische Ideen zu entdecken, die ich früher übersehen hatte. Ich möchte auch für das Jahr 2009 auf solche Entdeckungen aus meiner letzten Festschrift eingehen. Der erste stammt von der französischen Musil-Expertin Marie-Louise Roth. Sie listet eine ganze Reihe von Stellen aus Goethes West-Östlichen Divan auf, die alle Ideen der Gnosis zum Ausdruck bringen. Schon auf der ersten Seite heißt es, daß Goethes letztes Bemühen einer Weisheitslehre galt, die eine „ Philosophia spiritualis “ gewesen sei. Sodann heißt es, Goethes Bedürfnis sei eine „ geistige Neuordnung “ gewesen, um den „ eigentlichen Lebenssinn “ zu gewinnen. Sie zitiert einen Brief Goethes an Zelter, in dem er bekennt, „ selbst nicht gewußt zu haben “ , welches wunderliche Ganze sich daraus vorbereitet hat. Roth erklärt, daß es im Divan um eine „ neue Perspektive des Bewußtseins “ geht und unterstreicht die Wichtigkeit eines einzelnen Worts, wenn es heißt, der ganze Divan gleiche einem „ Siegelring “ , der seine Bedeutung in sich hat. Sie zitiert: Ein Siegelring ist schwer zu zeichnen, Den höchsten Sinn im engsten Raum; Doch weißt du hier, ein Aechtes anzueignen, Gegraben steht was Wort, du denkst es kaum. Es ist eine Strophe aus dem Gedichte „ Segenspfänder “ und in der Strophe davor, wird das „ eine “ Wort genannt, um das es geht. Es lautet „ Abraxas “ . Abraxas aber 154 Im dritten Jahrtausend <?page no="169"?> ist der Name eines gnostischen Gottes und der Siegelring mit der Inschrift Abraxas ist keine Erfindung Goethes, sondern war einer der Siegelringe des Großmeisters des Templerordens, dessen Geistigkeit die Templergnosis war. Im Zusammenhang mit dem wichtigen Eingangsgedicht „ Hegire “ zum ganzen Divan zitiert Roth zur Kennzeichnung von Goethes Stil Emil Staigers treffenden Grundbegriff von der „ geeinten Zwienatur des Symbols “ . Das Symbol, das bereits im Eingangsgedicht erscheint, ist Chiser oder Chadir, ein Paraklet wie der „ heilige Geist “ und damit die Krönung der gnostischen Psychiker. Er war schon vor Mohamed hier gewesen, hatte von der Quelle der Unsterblichkeit getrunken und war zum Hüter der Quelle gemacht worden. „ Chisers Quelle “ verjüngt, wie Goethe im Divan verjüngt wurde. Chiser war auch Goethes geistiger „ Zwillingsbruder “ . Chiser hatte Hafis einen Becher des Tranks aus der Quelle der Unsterblichkeit gebracht. Für C. G. Jung war Chiser zugleich das tiefste seiner Symbole, jenes des kollektiven Unbewußten gewesen, des „ Selbst “ . Roth weist darauf hin, wie im Gedicht „ Suleika “ „ die Pracht des Kosmos, die gestirnte Unendlichkeit “ erscheinen wie in gnostischer Kosmogonie. Sie vergleicht Goethe mit Swedenborg, weil er wie dieser die Wirklichkeit als „ Totalität “ erfährt, als Entsprechung zwischen Körperlichem und Geistigem als „ androgynes Geheimnis des Alls “ . Sie weist wie Burdach darauf hin, daß Goethe der Schüler des Fräuleins von Klettenberg, Swedenborgs und Hamanns, der Kenner Platons, Plotins und Heraklits „ einen Strom von Mystik in den Divan einfließen hat lassen “ . Sie weiß, daß die Kosmogonie Goethes aus der platonisch-plotinischen Tradition kommt und sie sagt, „ sein Wort greife zum Uranfänglichen “ . Roth ist zumindest mit dem Wort „ Abraxas “ direkt auf die Gnosis gestoßen. Der junge Naser Š e ć erovi ć weist schon auf der zweiten Seite seines Beitrags auf den Begriff „ Gnosis “ hin und schreibt direkt über den Gnostiker Hermann Broch. Der Name der Hauptgestalt von Brochs Bergroman, der sein Thema ist, „ Mutter Gisson “ ist ein Anagramm für Gnosis. Er hat hier eine ungewöhnliche Höhe seiner Brochwie seiner Gnosis-Kenntnis erreicht. Er kennt das Buch Leisegangs, das Eranos-Jahrbuch und C. G. Jung und deckt mit wirklichem Einfühlungsvermögen die reiche Weisheit der bei Broch oft versteckten gnostischen Symbole auf. Es ist bedauerlich, daß er sich seither weniger ergiebigen Themen zugewendet hat. Durch mein Buch über Romane des zwanzigsten Jahrhunderts, das 2010 erschienen ist, erlebte ich neben Begegnungen mit Autoren, deren Werk ich bereits kannte auch solche mit für mich neuen Autoren. Ich will mit drei beginnen, deren Werk ich bereits kannte. Der erste davon war Albert Camus, den ich bei meinem Forschungsjahr in Paris als junger Mann freilich nur einmal sah. Mein Wunsch, ihn kennen zu lernen, war weit größer als seine Bereitschaft, seine Zeit an mir zu verschwenden. 155 Im dritten Jahrtausend <?page no="170"?> Den Mut ihn zu sehen, hatte ich überhaupt erst durch seinen Ausspruch gefaßt hatte: „ Jede einen Menschen zugefügte Beleidigung ist eine Herabwürdigung der ganzen Menschheit. “ Ermöglicht hatte den Kontakt ein Algerier, der zwei Wochen in dem Hotel wohnte, wo auch ich logierte, und den ich beim Frühstück kennen gelernt hatte. Der freundliche Afrikaner war viel optimistischer als ich über die gewünschte Begegnung gewesen und hat zweifellos insofern geirrt, als Camus sich bekanntlich als Fürsprecher aller Algerier bei De Gaulle fühlte und hatte vergessen, daß Österreich nicht in Algerien lag. Von alledem, was ich ein halbes Jahrhundert später in meinem Buch über Camus geschrieben hatte, hatte ich damals fast keine Ahnung. Was ich bereits damals, vor dem Aufsatz in meinem Buch besaß, war die Ehrfurcht für ihn und das hat er bestimmt auch gefühlt. Die beiden anderen Autoren in meinem Buch, die ich hier erwähnen möchte, kannte ich wesentlich länger und besser. Durch mehrjährige Teilnahme an den Internationalen PEN-Kongressen war ich den Umgang mit Großen gleichsam schon gewohnt und war in meiner Haltung selbstsicherer und im Urteil gewisser. Dem ersten der beiden, Czes ł aw Mi ł osz, fühlte ich mich auch nahe, da er als kalifornischer Professor ein Kollege von mir war. Auf dem Kongreß vertrat er freilich Polen. Ich möchte eine kleine Episode berichten, die sich während eines Kongresses in New York City ereignete, weil in ihr seine echte und tiefe Vornehmheit sichtbar wird. Es war am ersten Kongreßtag und alle Teilnehmer hatten sich auf der Straße in einer Reihe angestellt. Bei der Eröffnung war der amerikanische Außenminister erwartet und drei FBI-Beamte am Eingang in das Gebäude musterten jeden Eintretenden und mitunter stellten sie an einen auch eine Frage. Die Warteschlange bewegte sich nur langsam vorwärts. Czes ł aw Mi ł osz stand mit einer ungarischen Autorin und mir in einer Reihe. Die Ungarin war eine Baronin, die während der Revolution von 1956 nach Amerika geflohen war. Wir unterhielten uns glänzend, bis wir von einem schlecht angezogenen jungen Mann unterbrochen wurden, der einen Block mit Papier und einen Kugelschreiber bei sich hatte. Er gab uns ein Unterschriftenblatt auf dem oben stand: „ Ich bin für die weitgehende Abrüstung der amerikanischen Streitkräfte “ . Und er ersuchte uns, um unsere Unterschrift. Ich bedauerte nicht zu unterschreiben, weil ich eine einseitige Abrüstung für völlig falsch hielte. Czes ł aw Mi ł osz in seiner feinen, entgegenkommenden Art entschuldige sich vielmals und erklärte mit großem Bedauern nicht unterschreiben zu können. Die ungarische Baronin aber, uns gegenüber von ausgesuchter Höflichkeit und aristokratischer Zurückhaltung begann den jungen Mann unflätig, wie ein Waschweib zu beschimpfen. Der junge Mann zuckte zusammen und stand verschreckt und bekümmert da. 156 Im dritten Jahrtausend <?page no="171"?> Der dritte Autor, den ich längere Zeit kannte und den ich für das Buch ausgewählt hatte, war Mario Vargas Llosa. Richtig lernte ich ihn kennen, als er Präsident des Internationalen PEN geworden war und ich ihn vor allem darum schätzte, ja verehrte, weil er mutig für persönliche Freiheit gegen alle Unterdrückungsversuche von links wie von rechts eintrat. Als er wenige Monate nach dem Erscheinen meines Buches den Nobelpreis erhielt, war das eine besondere Freude für mich. Ich erinnere mich an das erste Mal seines Auftretens als Präsident, als er die Wichtigkeit erkannte, daß sich der PEN um die allzu vielen Exilliteraturen kümmern mußte, und daher die Bildung eines eigenen, dauernden Komitees dafür vorschlug. Eines der ersten Länder, das sich zur Teilnahme an dem Komitee meldete, war Bulgarien. Nun war der Bulgarische PEN einer der zwei oder drei, die womöglich noch ärger für Unterdrückung eintraten als ihre Regierungen. Ich sprang erregt auf und forderte, daß kein Land, das selbst Exilliteratur „ produzierte “ , Mitglied dieses Komitees sein konnte. Der Bulgarische PEN verstieß gegen die PEN-Charta, die er unterschrieben hatte, wenn er nicht gegen die eigene Regierung auftrat. Mario nahm es zur Kenntnis und notierte es. Nach dem Mittagessen verkündete er, daß er in dieser Sache eine Beratung mit einigen Zentren abgehalten hatte, die alle meiner Meinung waren, weshalb es hiermit eine eiserne Regel war. Das war noch viel besser, als wenn er einfach abgelehnt hätte und es spricht für seine Klugheit. Von Mario habe ich für mein Buch die beiden Romane Tod in den Anden und Das Fest des Ziegenbocks ausgewählt: eine Terrorgeschichte fernöstlicher rotchinesischer Unterdrückung der Geheimorganisation „ Leuchtender Pfad “ , die unsäglich grausame Morde in Marios Heimat Peru verübte und eine Terrorgeschichte westlicher Unterdrückung, die Unterdrückung des Volkes der Dominikanischen Republik durch den westlich-heimatlichen Diktator Rafael Leonidas Trujilo Molina, der vom Volk den Spitznamen der Ziegenbock erhalten hatte, weil er sexbesessen wie ein Ziegenbock war und der gerne Sex mit Kindern hatte. Beide Romane lesen sich wie Thriller. Aber wenn ein Kritiker sie mit den Romanen von Stephen King verglichen hat, dann ist ihm das Wichtigste entgangen, nämlich ihre hohe literarische Qualität. Sie sind Thriller, aber keine Reisser. Für das Jahr 2011 möchte ich fortsetzen mit drei anderen Autoren meines Buches, die ich niemals gesehen habe, sondern bei denen es nur eine geistige Begegnung durch Lesen gegeben hat. Mein erster Autor ist Chinua Achebe, der im Unterschied zu einem anderen nigerianischen Autor niemals den Nobelpreis erhalten hat. Ich habe trotzdem Achebe gewählt, weil er sich durch seine Rundfunksendungen den Ehrennamen „ Die Stimme Schwarzafrikas “ zu Recht erworben hat. 157 Im dritten Jahrtausend <?page no="172"?> Es gibt auch echte Terroristen in Schwarzafrika, die für das Gegenteil dessen stehen, wofür dieser Erdteil wirklich steht. Ich habe mit Achebes Roman Alles fällt auseinander begonnen, der die tragische Geschichte des tapferen Stammeshelden Okonkwo erzählt, der zudem ein Mann von Gewissen und mit Liebe für die Seinen war. In der alten Stammeskultur des Clans gab es auch eigene Unmenschlichkeiten, wie das „ Orakel der Berge und der Höhlen “ , das mitunter Morde und die Aussetzung von Kindern in der Wildnis anordnet, was alles unbedingt vollzogen werden muß. Durch die Übernahme des Landes durch die Weißen wurden diese Unmenschlichkeiten unterbunden, aber mitunter durch andere, größere der weißen Zivilisation ersetzt und ganz zuletzt führt die Entwicklung folgerichtig bis zum Völkermord. Für Achebe, der dem Stamm der Ibo angehört hat, der ein schreckliches Schicksal erlitten hat, ist es so, daß das wahrhaftig böse Chaos des Wertzusammenpralls der alten Welt des Clans mit der modernen Welt der Kolonisatoren immer noch viel begrenzter und erträglicher gewesen ist, als das Bürgerkriegschaos der neuen, unabhängigen afrikanischen Staaten. Der „ Fortschritt “ hat einen hohen Preis gefordert. Der chinesische Autor, den ich wählte, Gao Xingjan gilt in seiner eigenen Heimat China als ein geradezu bösartiger und ganz schlechter Autor. Aber nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat er mit seiner Tragödie Die Flucht die Ausgesetztheit des modernen Menschen schlechthin in meisterhafter Weise geschildert. Als er im Jahr 2000 den Nobelpreis erhielt, schrieb die Zeitung Yangcheng Evening News, daß er ein „ scheußlicher Schriftsteller “ und die Vergabe des Nobelpreises an ihn „ lächerlich “ sei. Sein Opus magnum ist Der Berg der Seele, eine monologische Erzählung im Stil von Joyce. Er schildert die Wanderung des Helden, dessen Ziel es ist, den Seelenberg des Titels zu erreichen. Die Wanderung erweist sich als eine einzige Flucht vor der geist- und phantasielosen Welt unserer Zeit und ihrem antireligiösen Materialismus. Liest man den Roman im Sinn jener „ inneren Reise “ , um die es Gao wirklich geht, dann schließt sich das Gewirr der 81 kleinen Kapitel zu einem einzigen, umfassenden Abbild der chaotischen Menschenwelt der Volksrepublik China, ihrer Wahnhaftigkeit und Krise zusammen. Der zweite große Roman von Gao Das Buch vom einsamen Menschen ist eine packende, dichterische Darstellung der sogenannten „ Kulturrevolution “ Maos von 1966 bis 1974, die Hitlers Konzentrationslager und Stalins Gulag an Entsetzlichkeit in den Schatten stellt. Als ich mich in der deutschen Literatur bei der Auswahl des Autors gegen Thomas Mann und für Hermann Hesse entschied, wußte ich noch nicht, daß er längst der meist gelesene, und meist übersetzte europäische Autor war. 158 Im dritten Jahrtausend <?page no="173"?> Er war aus der kleinen Schwarzwaldstadt Calw und kam aus einer protestantischen Missionarsfamilie, die in Indien gearbeitet hatte. Rückblickend hat er geurteilt, daß es in seinem Leben drei starke, die gesamte Lebenszeit wirkende Einflüsse gegeben hatte: den christlichen, nahezu nicht vorhandenen nationalistischen Geist des Hauses seiner Eltern, die Lektüre der großen, alten Chinesen und den einzigen Historiker, dem er je mit Verstand und Ehrfurcht zugetan war: Jakob Burckhardt. Für seine entscheidende frühe Entwicklung war C. G. Jung von Wichtigkeit gewesen. Da aber hier immer wieder in den letzten Seiten von der Gnosis die Rede war, sei erwähnt, daß in seinem frühen und wohl ersten wichtigen Roman Demian der gnostische Gott Abraxes eine wichtige Rolle spielte. Seine beiden wichtigsten Romane sind der so oft mißverstandene Steppenwolf und Das Glasperlenspiel. Im Glasperlenspiel tritt uns gleich zu Beginn voll entwickelt das die Welt mehr und mehr beherrschende Chaos gegenüber, das seither in unserer Welt noch größer, noch beherrschender und noch mächtiger geworden ist. Diesem Chaos stellt er als Gegengewicht und Modell einer neuen geistigen Ordnung das Glasperlenspiel gegenüber. Im Roman heißt es, daß schon lange vor der völligen Ausarbeitung des Glasperlenspiels von kleinen Gruppen die Idee als Chaos-Abwehr vertreten worden war, „ die dem Geist treu geblieben waren “ und die mit allen Kräften eines Kerns von guter Tradition, von Zucht und Methode und intellektuellem Gewissen die Idee über die Chaos-Zeit hinweg gerettet hatte. Diese Hauptidee der Chaos-Abwehr ist nach meinem Wunsch die Hauptidee dieses, meines Buches gewesen. Ob es mir gelungen ist, sie zu verwirklichen, möge der Leser beurteilen. Das ist auch der Grund, weshalb ich dem Roman Glasperlenspiel einen so großen Raum eingeräumt habe. In diesem Zusammenhang fällt mir ein, daß ich als Siebzehnjähriger einen Roman mit dem Titel „ Der Wanderer “ geschrieben und das Manuskript auch an einen Wiener Verlag geschickt hatte. Der Cheflektor fand das Manuskript recht gut, aber als eine Hesse-Nachahmung unpublizierbar. Ich hatte bis dahin keine Zeile von Hesse gelesen. Besonders wichtig für das Glasperlenspiel ist, daß seine Ideen und Themen sich nicht zu einem völlig geschlossenem System zusammenschließen wie eine dogmatische Summa Theologiae, sondern ein offenes System bilden, und dabei trotzdem einer „ Unio mystica “ gleicht, in der sämtliche getrennten Glieder der Universitas Literara Platz finden. Im Binnenroman des gesamten Glasperlenspiels, der Lebensgeschichte des Magisters Ludi Josef Knecht, werden alle „ Begegnungen “ seiner inneren Entwicklung geschildert, bei denen jene mit dem chinesischen Weisen „ älterer Bruder “ und dem Jakob Burckhardt nachgebildeten katholischen Vater Jakobus die Höhepunkte darstellen. Josef Knechts Geschichte reicht von der eigentümlichen Geschichte seiner Berufung als junger Knabe in eine Eliteschule der 159 Im dritten Jahrtausend <?page no="174"?> kastalischen Provinz bis zu seiner Wahl als der höchste Vertreter dieser Provinz, als „ Magister Ludi “ des Glasperlenspiels, „ Führer und Vorbild der geistig Kultivierten und geistig Strebenden “ . Fast jeder andere Roman hätte allenfalls mit der spektakulären Arbeitsführung Josef Knechts an diesem Höhepunkt geschlossen. Aber der späte Hesse ist ein viel zu wissender und zu bedeutender Autor, als daß er die Utopie seiner kastalischen Provinz im imaginären Raum stehen lassen würde. Er zeigt viel mehr, wie Knecht aus dem musterhaften, geregelten Leben in einer hierarchischen Ordnung, das sich als ein völlig unpersönliches, opferreiches Leben erwiesen hatte, auszubrechen versuchte. Er hatte das Verlangen nach Jugend nach unverbildeten Schülern, nach einer bescheidenen Tätigkeit ohne Glanz und Repräsentation, nach der Tätigkeit etwa eines Musiklehrers an einer einfachen Schule. Sein spektakulärer Ausbruch gelang ihm dahin gehend, daß er den hohen Posten loswurde. Er wurde Privatlehrer und Erzieher von Tito Designori, dem Sohn eines Freundes. Es war sein vorletzter Schritt. Sein letzter war, daß er sich schon in den ersten Tagen des neuen Berufs zu einem Wettschwimmen mit seinem Schüler einläßt, um sein Vertrauen ganz zu gewinnen. Er wußte, daß er bei der Kälte des Wassers sein Leben riskierte und er verlor es. Aber den Schüler hatte er dadurch von Grund auf geändert und in dieser Hinsicht hatte er voll gewonnen. Der Roman schließt aber auch nicht mit diesem Opfertod, sondern es gibt zwei „ Anhänge “ , von denen der zweite und letzte der wichtigste ist, der den Titel „ Drei Lebensläufe “ trägt. Hier weitet sich der Roman von der anfänglichen Entwicklungsgeschichte eines Protagonisten zu einer Darstellung des menschlichen Dramas schlechthin aus. Er zeigt am Beispiel einer Seelenwanderung, von deren Existenz Hesse fest überzeugt war, daß Josef Knecht die späte Wiedergeburt eines Menschen war, der in mehreren Wiedergeburten die großen Epochen der Menschheitsgeschichte durchlebt hat. Der Held der ersten Lebensbeschreibung namens Knecht ist in der Frühzeit der Menschheit der Zauberer und Wettermacher seines Stammes. Da er eines Tages als Wettermacher plötzlich versagt hat, bietet er dem Stamm sein Leben als Selbstopfer an, um die Dämonen zu versöhnen. Sein Tod bringt tatsächlich den lebensnotwendigen Regen. Der Held des zweiten Lebenslaufes, namens Josef (wie „ Josef Knecht “ ) genannt Josephus führt als Einsiedler und Wüstenvater ganz wie Antonius der Große ein Leben als Eremit und übt Armut und Nächstenhilfe gegenüber Trostsuchenden, die ihn aufsuchten. Auch er gelangt an den Punkt einer Krise, wo er an sich zu zweifeln und zu verzweifeln beginnt und aus dem Verlangen nach einem noch größeren Einsiedler zu einer Wanderung durch die Wüste aufbricht. Unterwegs trifft er auf diesen, der Dion Pugil heißt und eben solche Zweifel gehabt hatte. 160 Im dritten Jahrtausend <?page no="175"?> Josephus zieht mit Dion zurück zu seinem Platz in der Wüste und beschließt sein Leben als untergeordneter Diener und Helfer Dions. Der Held des dritten Lebenslaufs ist Dasa, der Sohn eines menschgewordenen Teils des indischen Gottes Vishnu, der den Namen des Fürsten Ravana angenommen hatte, dessen Sohn er offiziell war. Durch eine Hofintrige, in der er ermordet werden sollte, um einen falschen Sohn des Fürsten an die Macht zu bringen, flieht er zuerst zu Schäfern und sodann in den tropischen Urwald. Hier trifft er auf einen sehr fortgeschrittenen Yogi und wird dessen Schüler. Nachdem er ihm sein bewegtes Leben geschildert hatte, wurde der Yogi zuletzt von Lachen geschüttelt und sagte nur: „ Maya, Maya. “ Dasa verstand das Wort nicht. Er diente dem Yogi und hoffte, die Yogakunst zu erlernen. Als er endlich nach „ Maya “ fragte, gab ihm der Yogi keine Antwort, sondern wies ihn mit einer Handbewegung an, den leeren Krug zu nehmen, um durch den Urwald zur Quelle zu gehen und Wasser zu holen. Auf dem Weg trifft Dasa die alte Geliebte, Paravati, die ihn sucht. Die Hofintrige ist aufgedeckt worden und alle suchten den rechtmäßigen Prinzen, um ihn auf den Thron zu heben. Dasa folgt ihr, wird gekrönt, heiratet sie, feiert Feste, unterstützt die Kunst, bis ein böser Nachbarherrscher mit seinem Heer in Dasas Land einfällt. In der entscheidenden Schlacht wird Dasa geschlagen, flieht, wird gefangen, erwartet im Kerker seine Hinrichtung und fällt in tiefen Schlummer. Als er erwacht, steht er mitten im Urwald und hält den mit Wasser gefüllten Krug in der Hand. Den zweiten Teil seines Lebens hatte ihm der Yogi durch Hypnose vermittelt. Nun beginnt Dasa zu ahnen, daß der erste Teil seines Lebens auch nur „ Maya “ gewesen war und das Wort erhält einen lebendigen Sinn. Der Yogi empfängt ihn mit einem Blick und mit dem nächsten Blick nimmt er ihn als Schüler auf. Dasa hat den Urwald nicht mehr verlassen. Der zweite Autor, den ich nur durch Lektüre kannte und den ich hier nennen möchte, ist Vidyadhar Surajprasad Naipaul und ich möchte hier sein Essay-Buch Eine islamische Reise besprechen, das durch den gegenwärtigen Terror des „ Kalifats “ von ISIS eine große Aktualität besitzt. Naipauls „ islamische Reise “ ging durch die Staaten Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien. Als er das Buch verfaßte, hatten im Iran und in Pakistan bereits Entwicklungen stattgefunden, wie sie heute noch in entsetzlicherer Weise im Iran und in Irak stattfinden. Als Naipaul sechs Monate nach der „ Revolution “ im Iran in das Land kam, hatte sich der neue Diktator Ayatollah Khomeini bereits als Vollzieher des Willens Gottes deklariert, wie sich ja auch die Mörderbanden der ISIS- „ Gotteskrieger “ nennen. Der mißliebige Autor Salman Rushdi war in Abwesenheit zum Tod verurteilt worden. Es wurde ein „ Kopfgeld “ auf ihn ausgesetzt. Man kann darüber streiten, welche Blasphemie die größere ist: jene Rushdis in seinem Buch oder die von 161 Im dritten Jahrtausend <?page no="176"?> Khomeini, der sich für seine Untaten zur Vollzugsperson Gottes ernannt hatte. Die Verfolgung wurde dann auf alle Personen ausgedehnt, die mit diesem Buch zu tun hatten, vom Übersetzer bis zum Buchhändler, der es verkaufte. Als Naipaul ein halbes Jahr nach der „ Revolution “ in den Iran kam, gab es immer noch Hinrichtungen. Zuletzt waren es gerade Bordellbesitzer und Prostituierte. Die Herren der neuen Scheinordnung schrieen besonders laut nach Moral, um ihre eigenen Verbrechen zu kaschieren. Als Naipaul nach Pakistan kam, gab es keine politischen Parteien, keinen Widerspruch gegen die Machthaber, kein Parlament, ja sogar keine Gerichtshöfe mehr. Fast alle Institutionen waren als „ un-islamisch “ erklärt und abgeschafft worden. Nichts durfte bestehen als der „ Glaube “ und in dem entstandenen Vakuum herrschte willkürlich die Armee nach ihrem Willen. Ein pakistanischer Bekannter Naipauls erklärte ihm, das Land sei nur auf Haß aufgebaut. Fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten, der Fundamentalismus erstickte die Universitäten, die Wirtschaft mußte von Auslandsaufträgen leben und es gab keine Wissenschaft. In seinem Kapitel über Indonesien schreibt Naipaul dann von der Austauschbarkeit der „ Revolutionen “ . Hier traf er den „ sanften Masod “ , der ihm erzählte: „ Millionen werden sterben müssen. “ Ein Geschäftsmann aus Djakarta äußerte sich ähnlich in einem vornehmen Luxushotel. „ Der Kampf, der kommen wird “ , sagt er, „ wird zwischen den Menschen an den Universitäten und den Menschen aus den ‚ Pesantren ‘ (den Koranschulen) stattfinden. Eines Tages werden Schüler aus den ‚ Pesantren ‘ kommen und dieses schöne Hotel niederbrennen. “ Und er gab noch eine zusätzliche Erklärung ab: „ Der Islam “ , sagte er, „ kann ein Rauschgift werden. Du gehst in eine Moschee und der Rausch setzt ein. Und wenn er eingesetzt hat, dann ist alles, was geschieht, Allahs Wille. “ So lange hier nicht eine ernstzunehmende Abwehr entsteht, hat die Menschheit kaum eine Hoffnung zu überleben. Im Jahr 2013 vertiefte ich mich noch einmal in größerem Umfang und in weiterer Tiefe in das Problem der Gnosis am Beispiel eines der differenziertesten Werke: in Dantes Weltdichtung seiner Commedia. Schon als Fünfzehnjähriger hatte mich ahnungsweise die Größe dieser Dichtung fasziniert und schon als Einundzwanzigjähriger hatte ich Robert Johns Dante-Buch in der Hand, in dem er dokumentierte, daß die Commedia als Ganzes den Ausdruck der Spezialvariante der Templergnosis darstellte. Ich hatte beschlossen, dies noch eingehender als John in dieser Geistigkeit zu beschreiben. Ich begann das Buch bereits 2010 und hatte es 2013 abgeschlossen. Obwohl es mir nur um Dantes Werk ging, erwies es sich als unumgänglich, auch einiges über die Templer zu erfahren. Während der Arbeit lernte ich nicht nur die geistige Größe von Dantes Werk mehr denn je zu bewundern, sondern auch die Größe von Johns Arbeit, sein Wissen, seinen Scharfsinn und seine Gründlichkeit. 162 Im dritten Jahrtausend <?page no="177"?> Das Anliegen meines Buches war ein zweifaches: Erstens wollte ich die historische Tatsache noch weiter und ausführlicher als John dokumentieren, daß und auf welche Weise die Templergnosis als innere Grundlage des Templertums in Dantes Göttlicher Komödie zum Ausdruck gekommen ist, und zweitens die zeitlose Größe und zugleich die geistige Aktualität von Dantes Werk aufzeigen. Daneben wollte ich auch noch die innere Beziehung von Dantes Werk zur Gralsdichtung aufzeigen. Das hängt einerseits mit dem Umstand zusammen, daß die Gralslegende genauso wie die Templergnosis die Zerstörung des Tempels in Jerusalem als Grundlage für die Gralstafel durch Josef von Arimathia hat. Die vorchristliche Gralstradition aber stellte den Gral als einen Kelch der Fülle und Wiedergeburt dar, in dem das Leben der Welt aufbewahrt wurde und der auch die gnostische „ große Mutter “ symbolisierte. In der berühmtesten deutschen Gralsdichtung Wolframs von Eschenbach Parzival wird diese Verbundenheit genau dargestellt. In seinem großen Epos sind nicht nur die „ Templeisen “ , wie er die Templer nennt, die Hüter des Grals, sondern es wird, wenn auch die christliche Gralslegende im Vordergrund steht, auf die vorchristliche zurückgegriffen. Das zweite, was mein Buch ebenfalls zu bieten versuchte, war das Fortleben der Templergnosis nach dem Untergang des Ordens und dem Tod des letzten Großmeisters. Mein Buch beschreibt, wie der letzte Großmeister in den letzten Jahren vor seinem Tod noch aus dem Kerker vier Hauptzentren gründete, von denen aus diese Fortsetzung durchgeführt werden sollte. Es waren dies Paris, Neapel, Edinburgh und Stockholm. Nur zwei dieser Zentren fanden eine Fortsetzung und es wurden zwar keine Ritterorden, aber andere Arten von Bruderschaften geschaffen, die in verschiedenerweise voneinander die Templergnosis geistig fortsetzten: Paris und Edinburgh. Die Geschichte der Templergnosis ist nur ein Teil der viel längeren und umfassenderen Geschichte der Gnosis überhaupt, von denen in den letzten Kapiteln dieses Buches die Rede war. Jegliche Gnosis zeigt die Geschichte der Menschen im Ringen um Erkenntnis und Erleuchtung, ja um Erlösung und Heil. Die gnostische Menschengeschichte zeigt auch die eigenartigen, labyrinthischen Wendungen, welche geistige und spirituelle Entwicklungen nehmen können, bei denen ganz im Sinne des gnostischen Dualismus stets positive und negative Kräfte einander gegenüberstehen. Sie zeigt uns, wie aus guten Absichten negative Folgen entstehen können und wie doch immer wieder bedeutende Geister eine Segen spendende Kraft entfalten können, wie eben etwa Dante. In das Jahr 2013 fällt die Begegnung mit einem Autor, der für mich eine große Entdeckung bedeutete. Ich hatte ihn bisher nur flüchtig gekannt und las nun zum ersten Mal gründlich seinen Roman Ob tausend fallen. 163 Im dritten Jahrtausend <?page no="178"?> Hans Habe wurde mit dem Namen János Békessy am 12. Februar 1911 in der ungarischen Reichshälfte der alten Monarchie geboren. Schreiben und Lesen lernte er von seiner Mutter, einer durch besondere Fähigkeiten begnadeten Persönlichkeit. Seine Gouvernante, die Deutsche Adele Bienert, sprach gar nicht ungarisch, sodaß er deutschsprachig aufwuchs. Sie führte ihn in die deutsche Literatur ein und der Achtjährige konnte bereits Gedichte von Goethe und Schiller auswendig. Als nach dem kurzen, kommunistischen Terrorregime Béla Kuns ein kaum weniger schrecklicher, antisemitischer, weißer Terror ausbrach, flohen die Eltern mit dem Achtjährigen nach Wien, wo Habe das Franz-Joseph-Gymnasium besuchte. Während der Vater seinen meteorhaften Aufstieg als Wirtschaftsjournalist hatte, verschlang der Sohn die 220 Bände von „ Kürschners Deutscher Nationalliteratur “ und las auch wichtige Werke der Weltliteratur. Der Vater, Imre Békessy, verlor in seiner Voraussicht durch die Inflation kein Geld und begann als Jude und Ungar Zielscheibe des Neids zu werden. Als Karl Kraus begann, ihn als „ Erpresserjournalist “ zu verfolgen, erhielt er rasch eine ungeheure, negative Berühmtheit. Vor allem die Gemeinde der Karl-Kraus-Leser übertrug diesen bösen Ruf auch gleich auf den Sohn. Es klingt kaum glaubhaft, aber der Sohn, Hans Habe, wurde über seinen Tod hinaus von Karl-Kraus-Lesern willkürlich abgelehnt und verfolgt, wodurch er an einer Vater-Neurose erkrankte. Der Vater war übrigens niemals von den Behörden, weder in Österreich noch in Ungarn, wegen Erpressung vor Gericht gezogen worden. Als der Vater zurück nach Ungarn floh, blieb der Sohn, der noch Gymnasiast war, absichtlich in Wien. Nach der Matura schickte ihn der Vater zum Studium in das neutrale Heidelberg. Da Habe aber die Bekanntschaft einer antisemitischen Burschenschaft machte, blieb Heidelberg nicht lange neutral. Er ging nach Wien zurück und wurde Korrespondent der ungarischen Zeitung Reggeli Újság in Wien. Hier wurde für ihn von seinem Chef der Name Habe erfunden und hier hatte er Riesenerfolge. Unter anderem dokumentierte er, daß Hitler eigentlich Schickelgruber hieß. Einige Jahre vor dem tatsächlichen Anschluß Österreichs an Deutschland verhinderte der junge Habe, der noch gar nicht mündig war und vom Vater die Zustimmung zur Teilnahme an der entscheidenden Gerichtsverhandlung erhalten mußte, einen solchen Anschluß, der schon als gemacht galt. Nachdem Österreich von Hitler okkupiert worden war, wurde Habe Korrespondent des international berühmten Prager Tagblatts in Genf. Er hatte hier in eine Millionärsfamilie eingeheiratet und schrieb auch den ersten Exilroman, der je erschien: Drei über die Grenze. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, fragte er an, ob die englische oder französische Armee Ausländer als Freiwillige annehmen. Als er erfuhr, daß dies nur die französische tat, verließ er das für ihn sichere Genf und fuhr nach Paris, um in der französischen Armee gegen Hitler zu kämpfen. Er hatte aber hier mit 164 Im dritten Jahrtausend <?page no="179"?> Schwierigkeiten zu kämpfen, mit denen er nicht gerechnet hatte. Zuerst entdeckte er, daß man ohne „ Protektion “ nicht einmal den Platz findet, an dem man sich melden kann. Dann wurde er zwar angenommen, aber es war gar nicht so einfach, seine Einheit zu finden. Nachdem er sie gefunden hatte, begannen erst die ganz großen Schwierigkeiten. Sowohl die Uniform als auch die Bewaffnung waren elend. Das Ausbildungslager konnte nur von einem Narren oder Saboteur ausgesucht worden sein. Lediglich die Vorgesetzten, vom Regimentskommandeur bis herunter zum Sergeanten waren vorbildliche Soldaten der Fremdenlegion. Habe war ein Mustersoldat und, als das Regiment ausrückte, um Einheiten an der Front zu entlasten, marschierte er in der ersten Reihe und trug die Regimentsfahne. Schon der Marsch zur Front zeigte die Schwierigkeiten, mit denen niemand gerechnet hatte. Sie marschierten täglich dreißig bis vierzig Kilometer, um am Ende fünfzehn Kilometer vom Aufbruchsort entfernt zu sein. Obwohl sich die elend bewaffnete Truppe von Ausländern tapfer schlug, mußte Habe beobachten, wie die Generale alles daran setzten, keinen Krieg zu führen und daß sie nicht im mindesten an einem Sieg interessiert waren. Er sah Hitlers „ Fünfte Kolonne “ in voller Entfaltung. Als sie eingekesselt waren und die Gefangenschaft sicher war, schickte ihn ein Oberleutnant von der Einheit weg und riet ihm, alle Abzeichen zu vernichten, die seine Truppeneinheit erkennen lassen. Er war nicht nur jüdischer Ausländer, der freiwillig gegen Hitler gekämpft hatte, sondern er wurde von der Gestapo auch schon wegen der drei Bücher gesucht, die er verfaßt hatte und die von Goebbels verbrannt worden waren. Er entdeckte, daß die Deutschen so gut organisiert waren wie die Franzosen schlecht, und aber umgekehrt die französische Zivilbevölkerung im besetzten Lothringen, wo sich das Gefangenenlager befand, weit mehr Abwehrwillen und Todesmut gegen die Deutschen bewies als die Generale der Armee. Unter abenteuerlichen Umständen und in zahlreichen Gefahrmomenten gelang ihm die Flucht, doch konnte er nicht zu seiner Familie nach Genf zurück, weil der Chef der Schweizer Fremdenpolizei erklärte, wegen Herrn Habe fängt er keinen Krieg mit Hitler an. So geht das Abenteuer der Flucht, wenn auch weniger lebensgefährlich und mit Unterstützung seiner Frau, die mit einem teuren Wagen gekommen war, um ihn abzuholen, weiter bis nach Portugal, dem damaligen Tor nach dem Westen. Hier entdeckte er durch Zufall, daß er auf einer Liste war, die verfolgten Antinazi-Autoren Visa zusicherten. Er fuhr nach New York, wo er sich natürlich sofort wieder als Freiwilliger zur amerikanischen Armee meldete. Er beschrieb sein Frankreich-Abenteuer in seinem Roman Ob tausend fallen, der schon ein Bestseller war, als dieser sich noch im Druck befand und der mit dem Titel „ Cross of Lorraine “ verfilmt wurde. Zu Weihnachten 1942 rückte er in 165 Im dritten Jahrtausend <?page no="180"?> ein ganz anderes Ausbildungslager ein, als es in Frankreich war. Aber nicht nur das: Nach wenigen Wochen wurde er in das Büro des Generals gerufen, der das Lager kommandierte und wurde in das besondere „ Military Trainings Center “ im Camp Ritchie in Maryland geschickt, wo er in seiner Baracke mit Hallo empfangen wurde. Sein linker Bettnachbar war Hans Wollenberg, der Sohn des früheren Chefredakteurs der Berliner Zeitung am Mittag in Berlin, sein rechter Bettnachbar war Klaus Mann, der Sohn von Thomas Mann. Die Küche wurde vom Chefkoch des New Yorker Luxushotels Waldorf Astoria geleitet. Im großen Speisesaal hörte man kein Wort Englisch, aber mehr als ein Dutzend anderer Sprachen. Daß diese Ritchie-Boys, wie sie sich nannten, von einem Korpsgeist der Zusammengehörigkeit vereinigt waren, die sich an allen Fronten bewähren sollte, tatsächlich den Krieg gewannen, ist vielleicht etwas zu weit gegriffen. Aber sie dienten in den geheimsten Missionen, nicht einer hat je sein neues Vaterland verraten. Hunderte waren gefallen oder wurden verwundet. Die meisten sind mit hohen Orden zurückgekehrt. Habe erhielt nach seiner Ausbildung, bereits Unteroffizier, im beschleunigten Verfahren seine amerikanische Staatsbürgerschaft, erhielt eine Woche Heimaturlaub und erhielt am Tag der Rückkehr seinen Marschbefehl. Er wurde als Mitglied der „ Ersten amerikanischen Rundfunkeinheit “ auf dem Kriegsschiff USS Barnett eingeschifft und landete im nordafrikanischen Oran. Zuerst machte er mit der 82. Fallschirmjäger-Division die Eroberung von Neapel mit. Er drang mit einigen Offizieren und Mannschaften als Stoßtrupp vor allen anderen in Neapel ein. Die Deutschen hatten „ Radio Neapel “ in die Luft gesprengt. Aber er fand eine alte, von den Italienern aufgegebene, leicht reparierbare alte Radiostation. Vierundzwanzig Stunden später meldete sich der amerikanische Armee-Rundfunk über die alte Station als „ Radio Neapel “ wieder. Habe wurde Oberleutnant. Nach Washington zurück beordert, erhielt er sein eigenes, geheimes Trainingscamp. Es sollte vier neue Kompanien für die Landung in Frankreich vorbereiten. Das Lager hieß „ Camp Sharp “ und befand sich in der Nähe von Gettysburg. Im August nach England geschickt, nahm er an der Landung teil und drang als einer der ersten in Paris ein. Er vollbrachte Heldentaten bei der Beseitigung von Heckenschützen auf der Place de la Concorde und leitete dann sieben Monate die deutsche Abteilung des „ Freien Senders Luxemburg “ , der einer der stärksten und wichtigsten Sender der ganzen Region war. Nachdem er in höchster Gefahr, von deutscher Besetzung bedroht, an seinem Posten festgehalten und weiter gesendet hatte, wurde er Hauptmann und erhielt die Bronze Star Medal. Im Januar 1944 ließ ihn sein vorgesetzter Oberst rufen und teilte ihm mit, daß Mr. S. Jackson, der Berater von General McClure und er selbst ihn 166 Im dritten Jahrtausend <?page no="181"?> vorgeschlagen hatten, nach dem Überschreiten des Rheins die neue deutsche Presse aufzubauen. Dies führte dazu, daß Habe zum ersten Mal grundsätzlich seine Position Deutschlands gegenüber klar stellte, umso mehr, als es Vorwürfe gegen ihn von antideutschen Ressentiments gab. Es war ihm klar, daß diese Vorwürfe ihre Begründung in seinem Judentum und seinem Amerikatum hatten. Er fand jedoch die Resultate dieser Vorwürfe einfach grotesk und hat es zusammenfassend wie folgt formuliert: Wenn ein Regime ein halbes Dutzend friedlicher Nationen überfällt, sechs Millionen Unschuldige ausrottet. Den fürchterlichsten Krieg der Geschichte vom Zaun bricht: das eigene Volk vergewaltigt und dem öffentlichen Haß preisgibt; einen verlorenen Krieg schließlich bis zur Vernichtung des eigenen Landes und seiner schuldlosen Kinder fortsetzt - dann ist die Suche, warum ein halbwegs normaler Mensch diesem System gegenüber Ressentiments empfindet, schon an und für sich absurd. Ist der Nationalsozialismus jene Krebskrankheit, als die sie Deutschland und die Welt allmählich erkannt haben, dann ist es zwar der Mühe wert, zu analysieren, warum jemand nichts gegen Krebs hat: aber es ist blödsinnig, zu untersuchen, warum jemand etwas gegen den Krebs hat. Eines der positivsten Abenteuer seines Lebens war seine Gründung der ersten deutschen Zeitungen nach 1945. Die „ Public Information Division “ zerfiel in zwei Abteilungen. In der ersten wurden lokale Verleger und Redakteure gesucht. In der zweiten Abteilung, deren Chef Habe war, gründete die Armee in eigener Regie Zeitungen, die so lange erscheinen sollten, bis es eigene, lizensierte deutsche Zeitungen gab. Habe gründete achtzehn solcher Zeitungen, deren Chefredakteur er war. Sie wurden zuletzt alle abgelöst von einem einzigen, ständigen Organ der Militärregierung, die Habe als richtige Zeitung gestaltete und der er den Namen Neue Zeitung gab. Habe erlebte den „ Höhepunkt seines Lebens “ , als er in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1945 in der Münchner Schellingstraße die Rotationsmaschinen des ehemaligen NS-Zentralblattes Völkischer Beobachter in Bewegung setzte und die ersten Exemplare der Neuen Zeitung über das Rotationsband rollten. Major Habe hatte mit einem Knopfdruck dieses Wunder bewirkt. Die Auflage stieg rasch auf zweieinviertel Millionen und dreieinhalb Millionen Abonnenten mußten aus Mangel an Zeitungspapier abgewiesen werden. Habe erhielt täglich zweitausend Briefe - ein einmaliges Ereignis in der Zeitungsgeschichte. Als er Zeuge wurde, wie Ungarn einer Diktatur Stalins anheimfiel, sammelte er Material zu seinem Roman Black Earth über den tragischen Helden einer ungarischen Kolchose. Ein weiterer Roman Weg ins Dunkel (Walk in Darkness) war ein solcher Erfolg, daß er verfilmt wurde. Es war ein Rassismus-Film und der damals berühmte Neger-Schauspieler Kitzmüller spielte die Hauptrolle im Film ohne Gage, weil er so ergriffen davon war. Durch Familienprobleme und vor 167 Im dritten Jahrtausend <?page no="182"?> allem durch eine schier unglaubliche Scheidungsgeschichte erreichte Habe einen Tiefpunkt seines Lebens und mußte in ein Elendsquartier übersiedeln. Die Wende kam, als ihn die Zeitung Daily News anstellte und er durch seine Tüchtigkeit bald als Korrespondent nach Europa geschickt wurde. Es war ein Anfang, weil er nicht allein war, sondern viele Freunde gefunden hatte, ein Anfang, weil seine neue Frau Eloise bedingungslos an seiner Seite stand und ganz besonders ein Anfang, weil ihm in der Winternacht des 23. Februar in einem Münchner Krankenhaus seine Tochter Marina geboren wurde. Mit dem Kind wuchs in ihm die Erkenntnis des göttlichen Sinns der menschlichen Aufgabe zu und waren ihm Aufgabe und Glück identisch geworden. „ Es war der Anfang aber von allem “ , schloß er seine Autobiographie, „ weil ich keine Mauern mehr fürchte. Man wird in einem Kerkerhof geboren, in den Mauern aber sind tausend unsichtbare Türen. Man geht hinein und ist in einem andern Kerkerhof. Die Wahrheit aber ist, daß es keine Mauern gibt ohne eine Tür Gottes. Mögen sie von einem Kerkerhof in einen anderen führen, sie führen endlich ans Licht. “ Damit endet zwar die Autobiographie, aber das Leben noch lange nicht. Habe hatte noch etliche Stationen zu passieren: sowohl Beglückung als auch tiefstes Unglück und nicht zuletzt weitere Einsichten und Erkenntnisse. Im Jahr 1955 heiratete Habe in Salzburg eine Bekannte seiner heißgeliebten, toten Mutter, Licci Balla. Er lebte mit ihr zunächst in St. Wolfgang im Salzkammergut, das er sehr liebte. Aber es blieb nicht bei Österreich. Es mußte etwas schief gelaufen sein. Er ging in den Schweizer Tessin und obwohl dort ein weitaus besseres Klima herrschte, wird es wohl nicht das Klima allein gewesen sein. Zum Wichtigsten seines späten Lebens gehören zwei Reisen nach Israel. Er hat deren Ergebnis in seinem Buch Wie einst David zusammengefaßt. Er fand eine für ihn wichtige Vertiefung seiner Beziehung zum Judentum. Auf seinem Schreibtisch stand jetzt eine Menora. Auch wenn es weiterhin Madonnenbilder und Weihnachtsbäume gab. Er lebte in Ascona in der herrlichen Landschaft des Tessins. Im Jahr 1968 stellte sich Habe als geistiger Mensch natürlich gegen die sogenannten „ 68er “ , die vielfach unter Anleitung östlicher Geheimdienste alle Kultur des Westens zu zerstören suchten. Er stellte sich auf die Seite Axel Springers. Er hatte einen Sondervertag, um für die Welt am Sonntag und die Bildzeitung zu schreiben. Die 68er verpaßten ihm den Namen „ Springers Edelfeder “ . In der Silvesternacht von 1968/ 69 traf ihn der härteste Schlag seines Lebens. Seine sechzehnjährige Tochter, die in Los Angeles lebte, wurde entführt und ermordet. Habe vermutete wahrscheinlich zu Recht den Mörder aus dem Umkreis jenes Charles Manson, dessen grausame Morde bald ganz Los Angeles in Angst und Schrecken versetzten. Trost gab es keinen für Habe aber einen der 168 Im dritten Jahrtausend <?page no="183"?> üblichen Fluchtversuche in die Arbeit. Er schrieb den erfolgreichen Roman Palazzo. Im Jahr 1976 wurde eine Drüsenkrankheit festgestellt und ein Jahr später starb er in Locarno. Am Grab sprach Ernst Cramer, enger Lebensgefährte vieler Stationen von Habes Leben. Er war der einzige seiner Familie gewesen, der den Todeslagern entkommen war und in die USA emigrieren konnte. Als Habe das Trainingscamp „ Camp Sharp “ leitete, war er sein Sergeant gewesen. Wie Habe war er bei der Landung in Europa dabei und war schließlich stellvertretender Chefredakteur von Habes Neuer Zeitung. Als engster Mitarbeiter Axel Springers hatte er sich um Habes Beiträge für die Springer-Blätter bemüht. Auf Grund des Testaments von Habes letzter Gattin wurde in Lachen (Kanton Schwyz) am 25. Juli 1996 eine Habe-Stiftung ins Leben gerufen, die dem Eidgenössischen Department des Inneren untersteht. Das Jahr 2014 möchte ich meinem letzten Buch widmen und den historischen Personen, die darin vorkommen. Ich habe mich in meinem letzten Buch bemüht, durch meine Kenntnis westlicher Dichtung die geistige Einheit des westlichen, okzidentalen oder atlantischen Kulturkreises zu dokumentieren und als geistige Ganzheit nachzuweisen. Sollte es möglich sein, dieses Ergebnis zu verbreiten, dann könnte es vielleicht ein wesentlich besseres, tieferes und verläßlicheres Zusammengehörigkeitsgefühl begründen und den chauvinistischen Vertretern übertriebener nationalistischer Rückständigkeit den Wind aus den Segeln nehmen. Dazu, daß mir dieser Nachweis der Einheit gelang, bedeutete das Buch daneben auch noch eine wesentliche Erweiterung meiner Gnosis-Kenntnisse, denn es hat sich herausgestellt, daß in der einen, geistigen Traditionskette, welche diese Einheit begründet, starke Elemente der Gnosis wirksam waren. Diese machtvolle Traditionskette verbindet eine Reihe der größten Geister des Altertums zu einer synkretistischen Einheit: ausgehend vom hellenistischägyptischen Hermes Trismegistos und den ägyptischen Mysterien über die Griechen Pythagoras und Platon sowie dem römischen Stoiker Seneca bis zu dem in Ägypten geborenen, hellenistischen Griechen Plotin. Hermes Trismegistos, der Urvater der Traditionskette, stellt selbst wieder die synkretistische Verbindung zweier antiker Götter dar: die Vereinigung des griechischen Gottes Hermes mit dem ägyptischen Gott Thot. Jeder der beiden Götter stellte schon vorher, jeder für sich, eine Verbindung des Diesseits mit dem Jenseits dar. Hermes Psychopompos geleitete die Seelen in den Hades. Auch der „ Schreiber der Unterwelt Thot “ geleitete die Seelen vom Diesseits ins Jenseits. Thot galt auch als Erfinder des Schreibens und Wissens, der Weisheit und der Magie. Er soll der Autor des Ägyptischen Totenbuches gewesen sein, das die Reise der Seele vom Diesseits ins Jenseits beschreibt. In der Gnosis hat Hermes Trismegistos vor allem durch seine Schrift Poimandres einen wichtigen Platz eingenommen. Der Name Trismegistos 169 Im dritten Jahrtausend <?page no="184"?> bedeutet „ der drei Mal Mächtige “ , weil er drei Gebiete abdeckte: Alchemie, Astrologie und Magie. Er reicht durch die beiden Götter Hermes und Thot in mythische Zeiten zurück, hatte sich aber auch schon mit der Jüdischen Kabbala beschäftigt. In seiner allumfassenden Kosmogonie und Anthropologie ist der Dualismus der Gnosis von Sinnlichem und Geistigem von Körper und Geist und von Gut und Böse voll lebendig. Den Mittelpunkt des Poimandres stellt die Gestalt des göttlichen Urmenschen dar und sein Herabsinken aus seinem göttlichen Herkunftsreich in die Materie des Irdischen. Der letzte Abschnitt ist dem Aufstieg der Seele in den Himmel, ihrer Rückkehr in die ursprüngliche Heimat gewidmet. Das sind gnostische Grundideen. Mein letzts Buch Dante, Shakespeare, Goethe ist nicht diesen drei bekanntesten der behandelten Autoren gewidmet, sondern verfolgt die Entwicklung der ganzen abendländischen Gesamtbewegung der Renaissance, die weiter ausgreift als die konventionelle kunsthistorische Begriffsbestimmung von Vor-, Früh-, Hoch- und Spätrenaissance. Sie behandelt dem jeweiligen dichterischen Höhepunkt von sieben Dichtern: Jean de Meung, Dante, Erasmus, Rabelais, Shakespeare, Goethe und Emerson. Jean de Meung ist der modernere der beiden Autoren des Romans de la Rose, der bereits aus dem Mittelalter in die Zukunft verweist. Emerson ist eine der Hauptfiguren der sogenannten „ American Renaissance “ , die sich später als die europäischen Renaissance-Höhepunkte entwickelt hat. Es gibt selbstverständlich im gesamten Abendland mehr dichterische Höhepunkte als die in meinem Buch besprochenen. Es ging um eine Auswahl, durch welche die Gesamtstruktur sichtbar gemacht werden konnte. Schon aus der Auswahl geht hervor, daß sich die Renaissance-Entwicklung nicht synchron im Gleichschritt, sondern geographisch gestaffelt vollzogen hat. Die Bewegung begann in Italien und in den Burgundischen Niederlanden. Es folgten die frühesten Nationalstaaten Frankreich, England und auch Spanien. Die großen dichterischen Vertreter wurzelten alle in ihrer nationalen Kultur, waren aber in ihrem Werk übernational, gesamtmenschheitlich, kosmopolitisch orientiert. Um aber am vereinfachten Beispiel der drei Titel-Autoren: Dante, Shakespeare, Goethe klarzustellen, wie die Gnosis ihr Werk geprägt hat, sei daran erinnert, daß sie alle drei Eingeweihte in esoterische Geheimlehren gewesen sind. Dante war Templer, Shakespeare kannte die Geistigkeit der Rosenkreuzer und Goethe war Freimaurer und Illuminat. Wenn nicht jeder Katholik ein Heiliger ist, so war natürlich kein Templer ein Dante, kein Rosenkreuzer ein Shakespeare und kein Freimaurer ein Goethe. Das Werk dieser Autoren ist so aus dem Gewöhnlichen herausragend, daß ihr Werk nicht zur Gänze erklärbar und sein Entstehen schöpferisches Geheimnis ist. Das Erstaunliche ist, was diese Autoren aus der Geistestradition gemacht haben. In meinem letzten Buch wird aber auch 170 Im dritten Jahrtausend <?page no="185"?> auf die Größe der Renaissance-Literatur hingewiesen und der Kontrast dieser Größe zu so vielen armseligen Leistungen der Gegenwartsliteratur betont. Die Enge des gegenwärtigen Zeitgeistes hat sogar dazu geführt, daß die Existenz solcher Größe selbst überhaupt in Zweifel gezogen wird. Freilich wird bereits in der Zeit der drei großen Autoren Dante, Shakespeare und Goethe und sogar auch von ihnen selbst über den oberflächlichen Materialismus der Zeit geklagt. Aber in jener Zeit waren sie möglich gewesen und hat es sie gegeben, während in unserer Zeit kaum jemand von solcher Größe existiert. Vor allem aber ist dieser oberflächliche Materialismus heute ungemein machtvoller und verbreiteter als in jener Zeit. In unserer Zeit ist sie der Kern eines nihilistischen Weltbildes, das menschheitliche Verantwortung mit Füßen tritt, ganz besonders, wenn es um die Errichtung eines modernen Totalitarismus geht oder um eine sinnlose Kriegserklärung geht wie jene Österreichs und Deutschlands in Ersten Weltkrieg und diejenige Hitlers im Zweiten Weltkrieg. Ja, durch solchen Materialismus kann die menschliche Stumpfheit zum höchsten Grad getrieben werden und ist dann zu den allergrößten Untaten fähig. Je größer aber die Unterdrückung wurde, desto mehr haben sich oft die Gegenkräfte verbreitet. In den entsetzlichsten totalitären Staaten Europas im zwanzigsten Jahrhundert haben sich die in den Hintergrund gedrängten fundamentalistischen Konfessionen, sonst selbst oft Unterdrücker sogar, als wirklich verläßliche Gegenwehr bewährt. Wichtige Hilfe kam auch von einzelnen Menschen. Im deutschsprachigen Raum hat ein übrigens gnostischer, besonders tiefer Denker, Hermann Broch, seine „ Massenwahntheorie “ entwickelt, eine schlechthin ideale Analyse des Totalitarismus und außerdem noch die detaillierte „ Therapie “ , was zur Stärkung wirklicher Demokratie notwendig wäre. Aber natürlich müßte man sie lesen und nachdem sie ein nicht leicht zu lesendes Buch ist, wurde sie sein unbekanntestes Werk. Hilfe muß man nicht nur wirklich wollen, sondern auch ergreifen. Der Weg in den direkten Widerstand war lebensgefährlich. Dennoch haben ihn immer wieder Menschen gemacht und es hat Tausende von Opfern gegeben. Erstaunlich ist, was ungewöhnliche Einzelkämpfer erreichen konnten. So hat Arthur Koestler mit seinem 1950 in Westberlin gegründeten „ Kongreß für Kulturelle Freiheit “ , der zuerst nur als einmalige Veranstaltung geplant war, eine Weltbewegung gegen den kommunistischen Totalitarismus ausgelöst, die viele Jahre hindurch wirksam geblieben ist. Ich kann nur ein oder zwei Beispiele von „ großen Einzelnen “ anführen. Bei den Autoren möchte ich Albert Camus nennen, bei den Politikern Winston Churchill und Franklin Delano Roosevelt. Alle drei haben Einmaliges zur Niederwerfung des Totalitarismus Hitlers geleistet. Einen allgemeinen großen Hilfe- und Trostspender habe ich in meinem letzten Buch behandelt: Ralph Waldo Emerson, der zuletzt den Beinamen „ Buddha des Westens “ erhalten hat. 171 Im dritten Jahrtausend <?page no="186"?> Einmal hat er gesagt, das Krebsübel der Zeit sei Unglaube und Unsicherheit, was wir tun sollen, sowie Mißtrauen in die Werte. „ Ich glaube, die Menschen haben niemals das Leben so wenig geliebt “ wie in der jetzigen Zeit. Die richtige Haltung sei die eines spirituellen Menschen, der alles abweist, „ was absolut feststehend, dogmatisch oder persönlich-subjektiv ist “ . Der Mensch sollte von der „ Quelle der Liebe “ inspiriert sein. Was Emerson vermochte, zeigt der Umstand, daß sogar Nietzsche, der in seiner Götzendämmerug Sokrates und Platon als „ Verfallserscheinungen “ attackiert hat und das Christentum - wie auch Kant - der „ Dekadenz “ bezichtigte, den Platoniker und Kantianer Emerson in den höchsten Tönen preist. „ Emerson “ , schrieb er, „ viel aufgeklärter, raffinierter als Carlyle, vor allem glücklicher . . . Ein Solcher, der sich instinktiv bloß von Ambrosia nährt, der das Unverdaute in den Dingen zurückläßt. Gegen Carlyle gehalten, ein Mann des Geschmacks. Carlyle der ihn liebte, sagte von ihm, er giebt uns nicht genug zu beißen, was mit Recht gesagt sein mag, aber nicht zu Ungunsten Emersons. Emerson hat jene gütige und geistreiche Heiterkeit, welche allen ernst entmutigt, er weiß schlechterdings nicht, wie alt er schon ist und wie jung er noch sein wird . . .. Sein Geist findet immer Gründe, zufrieden und selbst dank bar zu sein. “ Übrigens hat Emerson seine Abschaffung so vieler Vorurteile durch so viel weiter durchdachte und tiefer empfundene Menschenliebe ergänzt, daß er eine wesentlich überzeugendere „ Götzendämmerung “ zustande gebracht hat als der deutsche Dichter-Philosoph des „ Herrenmenschentums “ Nietzsche. Ich hatte gedacht, daß ein Buch - wie dieses - für sich allein stehen könnte, um einen tragfähigen, festen Grund für Trost, Hilfe und Menschlichkeit zu bieten. Daß mich eine mittlere Armee von 68er-Schwachköpfen ablehnte und haßte, konnte ich leicht ertragen. Als erfahrener Lehrer kannte ich die unerschütterliche Wahrheit des Homer-Wortes: „ Gegen Dummheit kämpfen Götter vergebens. “ Ich wußte, daß ich in einer Zeit lebte, in der, wie Hesse es so treffend und schön beschreibt, nur noch eine kleine Minderheit wirkliche Dichtungs- und Kunstkenntnis besaß. Daß ein 68er nicht plötzlich ein Dichtungs- und Kunstkenner werden konnte, war ebenso felsenfeste Gewißheit, wie dies umgekehrt ein wirklicher Kenner in einem Augenblick alles vergessen konnte und zum Schwachkopf wurde. Genau die zweite, scheinbare Unmöglichkeit ist aber mir, auf meine Kosten, widerfahren. Eine sehr intelligente und ungewöhnlich gebildete belgische Kollegin, hatte mir versprochen mein Buch zu besprechen. Sogar das Versprechen selbst bewies ihre ungewöhnliche Bildung, denn sie sagte, sie wisse bereits den ersten Satz ihrer Rezension. Er würde lauten: „ Seit George Steiner werden solche Bücher nicht mehr geschrieben. “ George Steiner war ein von amerikanischen Eltern in Paris geborener Literaturwissenschafter, der ein wahrhaftes Genie war und den längst 172 Im dritten Jahrtausend <?page no="187"?> fast kein Mensch mehr kannte. Mir gegenüber hat ihn nur mein Freund Wellek einmal erwähnt. Ich wollte, daß die Kollegin möglichst viel von mir kennenlernen sollte und wollte ihr auch unter anderem meine Gesamtdarstellung der österreichischen Exilliteratur schicken. Sie ersuchte mich, das Buch gleich an ihren Exilliteratur- Experten zu senden, da ihr das Gebiet fremd war. Nachdem ich das getan hatte, habe ich nie mehr ein Wort von ihr gehört. Befremdet und erstaunt habe ich einen Blick auf die Beschreibung dieses Experten im Internet geworfen. Ich lernte, daß er sich ganz besonders mit drei großen Exilautoren beschäftigt hatte: mit Anna Seghers, mit Lion Feuchtwanger und mit Albert Drach. Anna Seghers war eine radikale Kommunistin, die einen einzigen guten Roman geschrieben hatte, Das siebte Kreuz. Die anderen waren kommunistische Traktate in Romanform. Sie wollte ausdrücklich nichts vom „ sentimentalen Quatsch “ wie Freiheit und Menschenwürde wissen, wenn es „ um Probleme der Taktik “ der kommunistischen Partei ging. Lion Feuchtwanger produzierte historische Bestseller gehobener Unterhaltungsliteratur, denen der Exilliteraturkenner Manfred Durzak zu Recht „ zur Trivialität absinkenden traditionellen Erzählduktus “ als Stilmittel nachgesagt hatte. Er war nach Kalifornien geflohen und erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg einen DDR-Buchpreis nach dem andern. Er getraute sich niemals, hinzufahren und die Preise entgegenzunehmen. Er hatte berechtigte Angst, die amerikanischen Behörden würden ihn nicht wieder zu seiner palastartigen Traumvilla mit Meerblick und Park einreisen lassen. Der dritte Autor, Drach, war ein Nicht-Kommunist, der mich kannte und schätzte und zu der Festschrift von Autoren für mich einen Beitrag beigesteuert hatte. Er war zudem der einzige Österreicher. Letzteres erwähne ich, weil ich einem belgischen 68er auch zutraue, mir nachzutragen, daß die beiden deutschen Autoren naturgemäß in meinem Buch über österreichische Literatur nicht vorkamen. Dann hätte ich seine beiden Genies gar nicht gekannt! Ein wahrhaft unverzeihlicher Fehler. Wie hatte jemand vom Format meiner belgischen Kollegin auf solchen Unsinn hereinfallen können? Ich leistete mir den Spaß ihr eine E-Mail zu schicken mit dem Wortlaut: „ Haben Sie ein gutes Gewissen? Ihr George Steiner. “ Aber mir war klar geworden, welch ein Nichts ich verglichen mit dem belgischen Exilliteratur-Experten war. Daß ich diese Welt nicht nur ertragen kann, sondern im Grunde ein fröhlicher Bursch bin, verdanke ich nicht nur meinem niemals versagenden Humor, sondern vor allem auch den geradezu heldenhaften positiven Beispielen von mitmenschlicher Hilfe und Edelmut. Meine Freundin Susanne Moser- Zweymüller, eine bedeutende Lyrikerin, ist durch ihre niemals endende, warme Hilfsbereitschaft ein solcher Mensch, ebenso wie der so beispielgebend mensch- 173 Im dritten Jahrtausend <?page no="188"?> liche Beamten-Manager Wolfgang Domian aus Leoben, die mir beide helfen, Verzweiflungsaugenblicke zu überwinden. Wahre große Freunde und Förderer sind auch der langjährige Rektor der Wiener Universität für Bodenkultur und Vorsitzende der Österreichischen Rektorenkonferenz Manfried Welan, der langjährige Rektor der Universität Wien Wolfgang Greisenegger, der Chef des Wiener Kulturamts Senatsrat Bernhard Denscher und die Rechtsanwälte Johannes Hock, Senior und Hans Wagner. Auch der beliebte ehemalige Wiener Kulturstadtrat Peter Marboe darf nicht vergessen werden. Aber auch nicht die Präsidentin des Österreichischen Schriftstellerverbandes Dr. Sidonia Gall. Der große Hermann Broch hat einem seiner Romanhelden, der ein einfacher Landarzt ist, die Worte in den Mund gelegt, daß er als Arzt zur Pflicht des Helfen- Wollens mitunter auch die Gnade des Helfen-Könnens findet. Auch mein Haupt-Beispiel ist ein Arzt, ein praktischer Arzt, der nichts anderes sein will, auch kein protziger Professor. Er will nur seine Pflicht tun, aber wie er sie tut! Er opfert sich für seine Patienten auf. Auch bei schlechtem Wetter schultert er seinen Sanitätstornister und marschiert auf Hausbesuch. Niemals habe ich ihn schlechter Laune gesehen. Niemals versagte er Trost zu spenden und schon gar nicht verließ ihn seine wunderbare Diagnose-Sicherheit. Er ist ein wirklicher Held des Alltags. So lange es solche Menschen gibt, ist Grund zur Hoffnung für die Menschheit und für das eigene Leben. Er ist intelligenter als so mancher Facharzt und protziger Professor mit hohen Honoraren. Er ist für alle Patienten da und er opfert sich für sie auf. Niemals bin ich enttäuscht von ihm weggegangen. Sein großer Vorteil ist, daß er die Medizin holistisch betreibt unbehindert durch einzelfachliche Scheuklappen. Als mich einmal einer der berühmtesten Wiener Professoren für Onkologie und gleich darauf ein berühmter Oberarzt für Urologie mit dem einzigen Hormon-Präparat, das mir half, im Stich gelassen hatte, da verschrieb er, der praktische Arzt, es mir und spritzte es auch. Im „ Doc-Finder “ des Internets hat er fünf Sterne. Vor einiger Zeit lag unter den Zeitschriften in seinem Wartezimmer auch ein kleines Buch mit dem Titel Eine Minute Weisheit auf, das ein indischer Jesuit verfaßt hatte. Es war in einem berühmten, liberalen katholischen Verlag erschienen und so angelegt, daß es mittel- und fernöstliche Weisheit vermitteln sollte. Es bestand aus aneinander gereihten kleinen Dialogen, in denen immer nur vom „ Meister “ und „ Schüler “ die Rede war. Der Autor hatte offenkundig genug indische Gene in sich, um ein durchschnittlich gutes Verständnis für Probleme östlicher Erleuchtung zu besitzen, wenn er auch nicht in die letzten Tiefen blickte. In einem seiner Kapitel erfand er sogar zu einem westlich-christlichen Begriff - „ heilig “ - einen östlichen Dialog. Der Schüler fragt: „ Woran erkennt man, daß jemand - oder etwas - wirklich heilig ist. “ Der Meister antwortet: „ Daran, daß niemand erkennt, daß es heilig ist “ . 174 Im dritten Jahrtausend <?page no="189"?> Im Winterurlaub geht Dr. Walter Harrant Ski fahren. Das kann doch kein Heiliger sein. Er ist es. Ein „ moderner “ . Er hat großen Zulauf. Wer er wirklich ist, erkennt keiner seiner Patienten, sondern vielleicht nur ich. Aber ich bin beglückt, beseligt, wann immer ich ihn sehe. Als sein Schwager, um zu überleben, dringend eine Niere brauchte, gab es in der Verwandtschaft eine Verschwörung, daß er niemals erfahren dürfte, daß die Niere gebraucht würde, damit nicht er eine seiner beiden Nieren anbieten könnte. Er kam aber hinter diese Verschwörung und spendete natürlich sofort eine seiner Nieren. Knapp bevor ich das Buch abschloss, erfuhr ich noch eine große Freude. Mein Freund Markus Kupferblum, ein Regisseur von Weltruf, sandte mir den Text seiner neuen Operette Venus am Broadway, die im Schönbrunner Schlosstheater aufgeführt wurde. Ich habe noch selten bei einer Lektüre so atemlos gelacht, wie bei der Lektüre dieser „ Venus “ , höchstens vielleicht bei Nestroytexten. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Markus auch im Jahr 2007 den Nestroy-Preis erhalten hat. Er müsste ihn eigentlich jedes Jahr bekommen und mit einem zusätzlichen goldenen Lorbeerkranz in diesem Jahr der Venus. 175 Im dritten Jahrtausend <?page no="191"?> PERSONENREGISTER Abramovy č , Dmytro 123 Abraxas, gnostischer Gott 154, 155, 159 Achebe, Chinua 157 Achleitner, Friedrich 144 Aciman, André 143 Adler, Alfred 151 Adler, Hans Günther 40, 41 Admoni, Wladimir 60, 120, 121 Adolf, Helen 43 Adrian von Utrecht siehe Hadrian VI. Alejchem, Scholem 50 Altenberg, Peter 27, 145 Améry, Jean XI, 67, 68, 69, 70 Amin, Idi 81 Anderson, John M. 41 Andreae, Johann Valentin 72 Aristäus 20 Arndt, Ernst Moritz 77 Arnold, Paul 42 Artmann, H. C. 144 Auckenthaler, Karlheinz F. 130 Ausländer, Rose 27 Bachmann, Ingeborg 19, 18, 19, 28, 29 Bahr, Hermann 145 Balla, Licci 168 Balthasar, Hans Urs von 23 Barlach, Ernst 5, 152 Baudelaire, Charles 42 Bayer, Konrad 144 Becker, Philipp August 5 Beer-Hofmann, Richard 93 Beethoven, Ludwig van 87 Behrmann, Alfred 79 Békessy, Imre 164 Békessy, Janos 94,164, 165, 166, 167, 168 Ben-Chorin, Schalom XIII, XIV Benda, Oskar 2, 4, 6, 9, 51, 78, 89 Benjamin, Walter 59 Benn, Gottfried 73 Berdjaev, Nikolai A. 21 Bernhard, Thomas 128 Beyer, Konrad 129 Bhutto, Benazir 56 Bienert, Adele 164 Blandiana, Ana 133, 134 Blei, Franz 146 Blokh, Alexandre 95 Blot, Jean siehe Blokh Bo Yin Ra siehe Schneiderfranken Böll, Heinrich 73 Bondy, François 67 Bosquez, Alain 96 Brecht, Bert 33, 34, 78 Brémond, Henri 11 Broch, Hermann IX, 19, 20, 22, 23, 63, 69, 70, 102, 114, 144, 146, 153, 155, 171, 174 Brod, Max 92 Brodsky, Joseph 122 Buber, Martin 23, 93 Buddha 53, 112, 113, 120, 171 Budka, Barbara 58 Burckhardt, Jakob 159 Burdach, Konrad 155 Burke, Kenneth 42 Buruma Jan 143, 144 Busta, Christine 28 Cai, Mr. 138, 139, 140 Camus, Albert 22, 143, 155, 156, 171 Canetti, Elias 63 Carlyle, Thomas 172 Cassirer, Ernst 78 Castro, Fidel 77 <?page no="192"?> Ceau ș escu, Nicolae 134 Celan, Paul 13, 18, 19, 21, 28, 36, 71, 126, 135 Cesarani, David 148 Chagall, Marc 50 Chang, Garma C. C. 51, 52, 53, 54, 55, 92, 114 Che-Guevara siehe Guevara de la Serna Cheval, René 63 Chider, ein Paraklet 155 Churchill, Winston 171 Claudius, Matthias 2 Clemens von Alexandrien 153 Clemens, Samuel Langhorne 67 Clinton, Bill 116 Cocron, Fritz 17, 19, 22 Colleville, Maurice 18 Comenius, Jan Amos 123, 124 Cramer, Ernst 169 Czepko, Daniel 34 D ’ Agostini, Maria Enrica 87, 88, 90 Dalai Lama 113, 114 Dante Alighieri 20, 89, 162, 163, 170, 171 De Gaulle, Charles 22, 156 De Meung, Jean 170 Denscher, Bernhard 174 Diderot, Denis 150 Dienstbier, Ji ř i 103 Döblin, Alfred 16, 144 Donovan, William J. 95 Dor, Milo siehe Doroslovac Doroslovac, Milutin 71 Dostojewski, Fjodor 28 Drach, Albert 173 Dresden, Sam 76 Dschugaschwili, Wissarion Wissarionowitsch 132, 158 Dubrovic ˙ , Milan 75 Durieux, Tilla 5 Dürr, Volker 72 Dürrenmatt, Friedrich 38, 39, 40 Durzak, Manfred 173 Einstein, Albert 40 Eisenreich, Herbert 75 Eliot, Thomas Stearns 19, 92 Emerson, Ralph Waldo 150, 170, 171, 172 Emmanuel, Pierre 67 Empedokles 26 Emrich, Wilhelm 76, 77 Engelmann, Paul 93 Erasmus von Rotterdam 13, 170 Erenbusch, Fritz siehe Tschi ž ewskij Fabre d ’ Olivet, Antoine de 154 Falk, Eugene 48, 49, 56 Falk, Max 49 Fed ’ kovy č , Jurij 126 Federmann, Reinhard 39, 70, 71 Feuchtwanger, Lion 32, 33, 34, 173 Feuchtwanger, Martha 32, 33 Ficker, Ludwig von 19 Filip, Ota 75 Fischer, Ernst 10 Flaubert, Gustave 146 Flavius, Josephus 29 Forster, Georg 150 Forster, Leonard 64 Franco, Francisco 149 Françon, Marcel 13 Freud, Sigmund 16 Friedell, Egon 145 Frisé, Adolf 61, 62, 64 Frost, Robert 35 Frye, Northrop 43 Fülleborn, Ulrich 152 Gadamer, Hans Georg 123 Gagarin, Jurij 41 Gall, Sidonia 174 George, Stefan 77, 78 Glaeser, Ernst 143 Glaser, Ernst 10,11, 66 Goebbels, Josef 165 Goes, Albrecht 76 178 Personenregister <?page no="193"?> Goethe, Johann Wolfgang 1, 2, 4, 20, 24, 41, 44, 55, 72, 73, 74, 75, 76, 150, 154, 155, 155, 164, 170, 171 Gong, Alfred 36 Gorbatschow, Michael S. 105, 107 Göring, Hermann 42 Grafe, Felix 24, 25, 26, 29 Grappin, Pierre 95 Grass, Günter 73 Greisenegger, Wolfgang 174 Grillparzer, Franz 5, 11, 142, 145 Guevara de la Serna, Ernesto Rafael 77 Gütersloh, Albert Paris 146 Guthke, Karl 4, 95, 150, 153 Gu ț u, George 135 Habe, Licci siehe Balla Habe, Hans siehe Békessy, Janos Habe, Marina 168 Hackel, Franz Heinrich 76, 102 Hadrian VI., Papst 13 Haecker, Theodor 19, 20 Hahnl, Hans Heinz 126, 127 Haider, Hans 127 Haines, John 96 Hakl, Hans Thomas 152, 153 Hamann, Johann Georg 155 Handke, Peter 71 Hanegraff, Wouter J. 154 Harrant, Walter 175 Hartl, Karl 16, 52, 99 Häusler, Wolfgang 125 Hausmann, Manfred 87, 93 Häussermann, Ernst 75 Heer, Friedrich IX, 38, 39, 40, 66 Heidegger, Martin 21 Heine, Heinrich 88, 89 Heller, Erich 72, 73, 75 Hemingway, Ernst 148 Henze, Hans Werner 28 Heraklit 155 Herodes, König 29 Herriegel, Eugen 51 Hesse, Hermann 23, 130, 132, 158, 160 Hitchcock, Alfred 26 Hitler, Adolf 25, 26, 27, 33, 42, 69, 70, 78, 81, 84, 85, 94, 102, 124, 131, 140, 143, 158, 164, 165, 171 Hochwälder, Fritz 38 Hock, Sen., Johannes 29, 174 Hofe, Harold von 26 Hoffmann, Eva 143 Hofmannsthal, Hugo von 23, 93, 140, 145 Holthusen, Hans Egon 73 Homer 2, 24, 73, 172 Honnefelder, Gottfried 122 Horacek, Blanka 9 Horn, Gulya 103 Humboldt, Alexander 150 Humboldt, Wilhelm 150 Hurdes, Felix 38 Huxley, Aldous 11 Ibn al-Khafif 56 Ingarden, Roman 43,48, 58, 123 Jackson, S. 166 Jakob, Jüdischer Patriarch 43 Jakobson, Roman 124 Jammes, Francis 25 Jandl, Ernst 128 Janetschek, Albert 97, 98 Jean Lemaire des Belges 13 Jesenská, Milena 146 Jesus 152 Johannes der Täufer 29, 30 Johannes Secundus 13 John, Robert 42, 162 Jonas, Hans 153 Josef von Arimathia 163 Joyce, James 70, 76, 128, 129, 158 Jung, Carl Gustav 42, 155, 159 Jünger, Ernst 42 Kafka, Franz 11, 22, 63, 77, 140, 146 Kalugin, Oleg 105 Kant, Immanuel 172 Karl V., Kaiser 12, 13 Kaszy ń ski, Stefan K. 132 179 Personenregister <?page no="194"?> Katharina II. 105 Kaus, Gina 146 Kaus, Otto 146 Käutner, Helmuth 5 Kayser, Wolfgang 4 Keller, Werner 76, 95 Kelsen, Hans 66 Kerényi, Karl 23, 76 Kessler, Jascha 86, 117 Khomeini, Ayatollah 161 Kishon, Ephraim 75 Kitzmüller, John 167 K ł a ń ska, Maria 150, 151 Klein-Haparash, Jacob 143 Klettenberg, Susanne von 155 Kneucker, Alfred A. 140 Koestler, Arthur 14, 66, 67, 75, 130, 148, 171 Kohl, Helmut 106 Kokoschka, Oskar 38 Kolb, Anette 18 Kong-Ka 53 Koopmann, Helmut 83, 84, 130 Kraft, Werner 93 Krasny-Admoni, Jakobovich 60 Kraus, Karl 19, 22, 25, 72, 88, 93, 114, 131, 145, 164 Kreisky, Bruno 62, 63, 64 Kuli š , Pantelejmon 123 Kun, Béla 65, 164 Kupferblum, Markus 175 Lagecrantz, Olof 63 Lalaing, Antoine de, Count d ’ Hoogstraeten 5 Lang, Peter XI Langbein, Hermann 40 Lange, Victor 48 Lao-Tse 137 Lasker-Schüler, Else 93 Leisegang, Hans 153, 155 Lenin siehe Uljanow Lindtberg, Leopold 75 Lingens, Ella 40 Ludwig, Friedrich 98, 99, 103 Lukács, Georg 79 Mader, Gerald 75 Maderiaga, Salvador de 66 Malraux, André 22, 63, 67 Mann, Klaus 166 Mann, Thomas 23, 76, 77, 102, 122, 130, 131, 144, 158 Manson, Charles 168 Mao Zedong 129, 158 Marahrens, Gerwin 95 Marboe, Peter 174 Margarethe von Österreich 5, 13 Marie Louise, Großherzogin von Parma 90 Marivaux, Pierre Carlet de 21 Marlowe, Christopher 33 Masaryk, Thomas 124 Mayröcker, Friederike 128 McCalla, Arthur 154 McClure, Robert A. 166 Megged, Aharon 95 Mehta, Zubin 31 Milarepa 52, 113 Mi ł osz, Czes ł aw 156 Minder, Robert XI, 16, 17, 21, 63, 66 Mock, Alois 99, 103, 120 Mohr, Ludwig 7 Molden, Fritz 75 Moses 54 Mozart, Wolfgang Amadeus 18 Mukheree, Bharati 143 Musil, Robert 22, 23, 61, 62, 63, 70, 102, 144, 146, 154 Naipaul, Vidyadhar Surajprasad 161, 162 Napoleon 90 Narr, Gunter 104 Nethersole, Reingard 77, 79, 80 Nietzsche, Friedrich XII, 72, 152, 172 Nixon, Richard 117 Norhla, Lama IX Noth, Ernst Erich 84, 85 Novotny, Eva 147 180 Personenregister <?page no="195"?> O ’ Neill, Eugene 148 Olah, Franz 9 Orpheus 154 Padmasambhava 112 Paul, Jean 2 Pawlowa, Nina 108, 120, 151, 153 Pazi, Margarita 92, 95 Peter der Große 105 Petzold, Bruno 55 Peyre, Henri 90 Piperger, Louis 22, 23 Pirandello, Luigi 127 Platon 155, 169, 172 Plotin 155, 169 Poe, Allan Edgar 67 Pogats, Erich XI, 58, 66, 67 Polak-Schwenk, Ernst 146 Polgar, Alfred 105, 145, 146 Polheim, Karl Konrad XI, 94, 95 Preljevic ˙ , Vahidin 145 Proust, Marcel 70 Putin, Wladimir 27, 78 Pyritz, Hans 59 Pythagoras 65, 154, 169 Rabelais, François 170 Reagan, Ronald 89 Reich-Ranicki, Marcel 76 Rilke, Rainer Maria 60, 72, 129, 151, 152, 153 Robertson, Ritchie 114 Roditi, Edouard 95, 96 Roosevelt, Franklin Delano 171 Roseanu, Mihaela 136 Rosenberg, Alfred 27 Roth, Marie-Louise 61, 62, 63, 68, 69, 74, 154, 155 Rothe, Hans 95, 116 Rowohlt, Ernst 23 Rückert, Friedrich 55 Rudnik, Hans 48, 95, 130 Rühm, Gerhard 144, 145 Rushdi, Salman 161 Rychlo, Peter 125 Said, Edward 143 Saiko, George 23 Schaff, Adam 67 Schiller, Friedrich 150, 164 Schimmel, Annemarie 55, 56, 58,59, 91,106 Schlag, Willi 36 Schlegel, Friedrich 123 Schlocker, Georges 17, 21 Schmid, Carlo 67 Schmidt-Dengler, Wendelin 129 Schneider, Karl Ludwig 26, 152 Schneiderfranken, Joseph Anton 24 Scholem, Gershom 93, 153 Schönwiese, Ernst XI, 11, 14, 17, 18, 23, 24, 25, 28, 29, 38,39,51, 63, 66, 68, 69, 70, 73, 75, 93, 94, 98, 114, 132, 146, 147, 148 Schott, Rolf 23, 24 Schrecker, Paul 146 Schröder-Werle, Renate 73 Schuh, Franz 127 Schuler, Alfred 152 Schwarzinger, Michael 135, 141 Sease, Virginia 34, 35 Sebestyén, György 98, 101, 103 Š ec ˙ erovic ˙ , Naser 155 Seghers, Anna 173 Seneca 169 Shakespeare, William 20, 33, 42, 170, 171 Silman, Tamara I. 122 Silone, Ignazio 63, 66, 143 Simon, Ernst 93 Skovoroda, Hryhorii 124 Š kreb, Zdenko 4, 5, 116 Slezak, Leo 26, 27 Slezak, Walter 26, 27 Sokrates 172 Sperber, Manès 17, 67, 75, 102, 150, 151, 153, 155 Spiel, Hilde 71 Springer, Axel 168, 169 Staiger, Emil XI, 4, 43, 44, 45, 60, 91, 103 181 Personenregister <?page no="196"?> Staitschewa, Emilia 132 Stalin, Josef siehe Dschugaschwili Stauffenberg, Claus Schenk, Graf 78 Steinecke, Hartmut 104 Steiner, George 172 Steiner, Rudolf 35 Stepun, Fedor 123 Stern, Joseph Peter 64, 65, 80 Stillfried, Bernhard 114, 126 Stojowski, Andrzey 100 Strauß, Ludwig 93 Strelka, Joseph P. 34, 48, 49, 62, 65, 75, 88, 94, 130 Strelka, Maria 1 Strelka, Sascha (Alexandra) IX, 92, 98, 131 Strelka, Sen., Josef 1 Suzuki, Teitaro 5 Swedenborg, Emanuel 155 Swinburne, Algernon Charles 25 Tau, Max 66 Thomas, Apostel 152 Thot, ägyptischer Gott 169 Timms, Edward 114 Timpe, Eugene F. 42 Tober, Karl 64, 80, 81, 82, 83 Torberg, Friedrich XI, 13, 14, 15, 39, 63, 67, 74, 75, 127, 146, 147 Torberg, Marietta 39 Townsend, Stanley 41 Trakl, Georg 19 Trismegistos, Hermes 169 Trujilo Molina, Rafael Leonidas 157 Tschi ž ewskij, Dmitrij 122, 123, 124 Twain, Mark siehe Clemens Uljanow, Wladimir Iljitsch 67 Van Zandt, Jon 116 Vargas-Llosa, Mario 157 Vergil 19, 20 Viirleid, Arved 96, 106, 141 Vives, Ludovicus 13 Wagner, Hans 174 Walther von der Vogelweide 136 Wang, Lan 118, 119 Warren, Austin 58 Wästfeld, Margit 120 Weber, Werner 60, 91 Weidlé, Wladimir 19, 20, 21, 43, 98 Weigel, Hans 127 Welan, Manfried 174 Wellek, René 48, 49, 58, 59, 60, 90, 91, 95, 124, 142, 173 Wentzlaff-Eggebert, Friedrich- Wilhelm 34 Werfel, Franz 136, 146 Wheelwright, Philip 42 Wieland, Christoph Martin 150, 153 Wiener, Oswald 144 Wiesel, Elie 67 Wieser, Christian 153 Wilde, Oscar 25 Wimmer, Paul 13 Wohlleben, Joachim 79, 95 Woldan, Alois 100 Wolfram von Eschenbach 163 Wollenberg, Hans 166 Wu Cheng ’ en 119 Wurm, Ernst 13 Xingjan, Gao 158 Xuanzang 119 Zeller, Hans 73 Zelter, Carl Friedrich 154 Zeman, Herbert 13, 74, 75, 145 Zhirmunsky, Viktor M. 60 Zohn, Harry 93 Zusanek, Harald 29 Zweymüller-Moser, Susanne 173 182 Personenregister <?page no="198"?> Den Ausdruck „geistiger Handelsverkehr“ hat Goethe 1830 im Zusammenhang seines Nachdenkens über „Weltliteratur“ geprägt. Gemeint ist damit der in erster Linie literarische Austausch über die Grenzen der Länder, Sprachen, Kulturen und Denkweisen hinweg. Einem solchen Grenzüberschreiten ist auch dieser Band verpflichtet. Von mehr oder weniger unscheinbaren Details her wird der Blick frei auf übergreifende Zusammenhänge im geistigen Leben der europäischen Länder seit dem späten 18. Jahrhundert. Die Rede ist von der goethezeitlichen Verbreitung deutscher Sprache und Kultur in Großbritannien, von Goethes Interesse an Reiseberichten über Afrika, Lessings und Mendelssohns „Gespräch“ über den Selbstmord, Ernst Schönwieses Literaturverständnis im Hinblick auf Schiller und Eliot, von der Lösung des Rätsels um den Deutsch-Mexikaner B. Traven und von Michael Krügers Roman Himmelfarb, ein Buch über den interkontinentalen „Schwarzhandel“ mit geistigem Eigentum. Der Band schließt mit nicht nur akademischen Erinnerungen des Germanisten, Anglisten und Komparatisten Karl S. Guthke an den „geistigen Handelsverkehr“ in den „Goldenen Jahren“ der Migration deutscher Wissenschaftler nach Nordamerika. Karl S. Guthke Geistiger Handelsverkehr Streifzüge im Zeitalter der Weltliteratur. Mit Erinnerungen von Karl S. Guthke an die „Goldenen Jahre“ der akademischen Migration EDITION PATMOS, Vol. 19 2015, X/ 295 Seiten, €[D] 39,90 ISBN 978-3-7720-8572-7 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! <?page no="199"?> Joseph P. Strelka Dante - Shakespeare - Goethe und die Traditionskette abendländischer Autoren Edition Patmos, Vol. 18 2014, XIV, 280 Seiten, €[D] 19,99 ISBN 978-3-7720-8530-7 In der platonischen Akademie von Florenz wurde im 15. Jahrhundert entdeckt, dass sich durch die ganze abendländische Geistesgeschichte eine synkretistische Traditionskette zieht, die Ideen von Hermes Trismegistos, Plato, Pythagoras, Seneca, Plotin und des Neuplatonismus vereinigt. Strelkas ideengeschichtliche Untersuchung zeigt in faszinierender Weise durch eine Art literarischer Gipfelwanderung, wie sich diese Traditionskette kontinuierlich weiter bis ins späte 19. Jahrhundert zieht, vom Rosenroman über Dante, Erasmus, Rabelais, Shakespeare und Goethe bis zu Emerson. Es kommt orts- und zeitbedingt zu kleinen Variationsformen, doch die platonische Grundidee bleibt unverändert gleich. Sie stellt eine Art Brücke bedeutender Geistigkeit dar, vom Altertum über das Mittelalter hinweg zum Gipfel der amerikanischen Renaissance. Eine Ideenkette, welche die abendländische Kultur verbindet und begründet. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! <?page no="201"?> „Begegnungen“ ist eine sehr persönliche Biographie von Joseph P. Strelka über Begegnungen mit großen, zum Teil noch lebenden Wissenschaftlern und Gelehrten aus den Bereichen Literaturwissenschaft und Philosophie. Die „Begegnungen“ beginnen in seiner Studienzeit, wozu auch die Schrecken des Zweiten Weltkrieges gehören, zeichnen seine Zeit als Professor in den USA nach, führen aber immer wieder auch zurück in seine österreichische Heimat. Nicht zuletzt ist dieses spannende Erinnerungsbuch auch ein Dankesbuch für viele kostbare Augenblicke mit tiefen Einblicken und Perspektiven in die Weltliteratur.