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Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama

0819
2015
978-3-7720-5575-1
A. Francke Verlag 
Stefanie Schmitz

Gegenstand der Untersuchung ist die Selbstreflexion des französischen Dramas seit Mitte des 20. Jahrhunderts, zu der bisher keine umfassende Studie vorliegt. Auf der Basis eines Textkorpus von 46 Theaterstücken aus dem Zeitraum von 1948 bis 2006, in dem 26 Autoren und vier Autorinnen vertreten sind, werden Formen und Funktionen des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama analysiert und in eine Typologie des Metatheaters eingeordnet. Viele Texte sind außerhalb Frankreichs bisher nicht bekannt. Zielgruppe des Buches sind Frankoromanisten, Theaterwissenschaftler und Theaterschaffende.

Stefanie Schmitz Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama Mainzer Forschungen zu Drama und Theater herausgegeben von Wilfried Floeck, Winfried Herget und Friedemann Kreuder im Auftrag des »Interdisziplinären Arbeitskreises für Drama und Theater« der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Band 48 Stefanie Schmitz Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Printed in Germany ISSN 0940-4767 ISBN 978-3-7720-8575-8 Vorbemerkung Die vorliegende Untersuchung wurde 2015 vom Fachbereich 05 Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen. Herrn Professor Dr. Wilfried Floeck, der sie betreut hat, danke ich herzlich. Mein Dank gilt ferner allen, die durch Gespräche und Informationen zum Fortgang der Arbeit beigetragen haben, sowie den Mitarbeitern der Théâtrothèque Gaston Baty (Université Paris III) und der Bibliothèque de la Société des Auteurs et Compositeurs Dramatiques (SACD) in Paris, welche mir stets freundlich und hilfsbereit Auskunft gaben und Materialien zur Verfügung stellten. Danken möchte ich auch meiner Familie, die mich bei meinem Dissertationsprojekt kontinuierlich unterstützt hat. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme des Bandes in diese Reihe. 5 7 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung...................................................................................................9 1.1 Aktualität des Themas...........................................................................9 1.2 Forschungstand ....................................................................................10 1.3 Zielsetzung und Vorgehensweise ......................................................17 2 Definition des Begriffs „Metatheater“ ...............................................19 3 Typologie der Formen des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama .............................................................................21 4 Metatheater im französischen Drama - eine theatergeschichtliche Synopse ....................................................................................................25 5 Formen und Funktionen des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama .............................................................................55 5.1 Thematisches Metatheater ..................................................................55 5.1.1 Die Figur des Dramenautors ...................................................55 5.1.2 Die Figur des Theaterregisseurs .............................................71 5.1.3 Die Figur des Schauspielers.....................................................81 5.1.4 Die Darstellung des Theaterbetriebs ......................................91 5.1.5 Die Rezeption einer Theateraufführung ................................98 5.1.6 Funktionen des thematischen Metatheaters ........................101 5.2 Episierendes Metatheater..................................................................104 5.2.1 Prolog und Epilog als epischer Kommentar der dramatischen Handlung ........................................................104 5.2.2 Die Regiefigur als epische Mittlerinstanz zwischen Bühne und Zuschauer...........................................107 5.2.3 Der Chor als epischer Kommentator des Bühnengeschehens...........................................................116 5.2.4 Die Publikumsadresse ............................................................120 5.2.5 Funktionen des episierenden Metatheaters.........................123 5.3 Fiktionales Metatheater .....................................................................126 5.3.1 Die Theaterprobe ....................................................................126 5.3.2 Die Theateraufführung ..........................................................136 5.3.3 Funktionen des fiktionalen Metatheaters ............................147 5.4 Adaptives Metatheater ......................................................................152 5.4.1 Molière als Prätext (17. Jahrhundert) ...................................152 5.4.2 Marivaux als Prätext (18. Jahrhundert) ................................163 8 5.4.3 Antier/ Saint-Amant/ Paulyanthe und Dumas Père als Prätexte (19. Jahrhundert) ...............................................169 5.4.4 Funktionen des adaptiven Metatheaters .............................177 5.5 Figurales Metatheater ........................................................................179 5.5.1 Das Rollenspiel als Psychodrama .........................................179 5.5.2 Das Rollenspiel als Schauspielerautobiographie ................185 5.5.3 Funktionen des figuralen Metatheaters ...............................200 5.6 Diskursives Metatheater....................................................................201 5.6.1 Das diskursive Metadrama als dramatisiertes Schachspiel.....................................................202 5.6.2 Das diskursive Metadrama als Tragödie .............................211 5.6.3 Das diskursive Metadrama als Confiteor ............................216 5.6.4 Funktionen des diskursiven Metatheaters ..........................225 5.7 Nichtdramatisches Metatheater .......................................................229 5.7.1 Epistolares Metatheater..........................................................230 5.7.2 Essayistisches Metatheater ....................................................246 5.7.3 Funktionen des nichtdramatischen Metatheaters ..............262 5.8 Polymorphes Metatheater.................................................................266 5.8.1 Kombination aus Formen des thematischen, episierenden, fiktionalen und diskursiven Metatheaters...........................267 5.8.2 Kombination aus Formen des thematischen, episierenden, figuralen, fiktionalen, adaptiven und diskursiven Metatheaters ............................................................................281 5.8.3 Kombination aus Formen des thematischen, episierenden, adaptiven, fiktionalen, figuralen und diskursiven Metatheaters innerhalb eines Dramenzyklus......................298 5.8.4 Funktionen des polymorphen Metatheaters .......................328 6 Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama im Kontext der Theatergeschichte Frankreichs und des Metareferential turn 337 6.1 Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama - eine Einordnung in die Theatergeschichte Frankreichs ........................337 6.2 Metatheater im Kontext der Metaisierung in Literatur und anderen Medien..................................................................................350 Literaturverzeichnis ...................................................................................359 Anhang .........................................................................................................377 Abkürzungsverzeichnis ..............................................................................377 Übersicht über das Textkorpus mit Kapitelzuordnung .........................379 9 1 Einleitung 1.1 Aktualität des Themas Depuis les années soixante, il n’y a pas une soirée où vous ne puissiez voir, dans les théâtres parisiens, quatre, cinq ou même six spectacles avec une pièce dans la pièce, spectacles ayant pour personnages un auteur dramatique, un comédien ou une comédienne, pièces dont l’action se passe dans un théâtre, ouvrages dramatiques qui nous parlent directement de l’art théâtral - bref, une des nombreuses variantes de ce qu’on appelle couramment théâtre dans le théâtre et qui comprend aussi le vaste domaine métathéâtral, celui des pièces sur le théâtre. 1 Mit dieser in den 1990er Jahren formulierten Beobachtung konstatiert Tadeusz Kowzan das Phänomen des Metatheaters, das seit 1950 verstärkt im französischen Drama auftritt und den Ausgangspunkt für das Thema dieser Untersuchung darstellt: Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama. Auch Franck Evrard stellt in Le théâtre français du XX e siècle eine Tendenz zur Selbstreflexion im französischen Theater fest: Depuis les années 50, l’esthétique théâtrale s’intéresse de plus en plus au théâtre lui-même, à son langage, à la signification de la représentation. S’écartant de la théorie aristotélicienne de la mimésis, de l’illusion scénique qui régissait le théâtre depuis l’Antiquité, les auteurs et les metteurs en scène jouent avec le théâtre, montrent et montent les mécanismes en s’interrogeant sur les pouvoirs et la magie de leur art. 2 Diese Autoreferentialität ist gemäß Evrard ein Zeichen dafür, dass das Theater sich selbst und seine Produktionsbedingungen hinterfragt: Il semble que le théâtre du XX e siècle privilégie les jeux sur l’illusion dramatique, sur les rapports entre la réalité et la fiction comme pour s’interroger sur la nature et les modalités de l’activité théâtrale. 3 Die Präsenz und die Aktualität des Themas „Metatheater/ Metadrama“ sind unter Theaterwissenschaftlern unumstritten: Dramaturgie de la rétrospection et de la reviviscence […], le métadrame paraît omniprésent dans les dramaturgies modernes et contemporaines. 4 Im Kontext des Metareferential turn, d.h. der zunehmenden Metaisierung in der Literatur und in anderen Medien seit 1950, welche in den letzten Jahren 1 Kowzan 1994: 155. 2 Evrard 1995: 75. 3 Evrard 1995: 95. 4 Jean-Paul Sarrazac in Sarrazac (Hrsg.) 2005: 116, Stichwort Métadrame. 10 in den Fokus der Forschung 5 gerückt ist, gewinnt das Thema zusätzlich an Bedeutung. 1.2 Forschungstand Nach dem derzeitigen Forschungsstand gibt es bisher keine eingehende Untersuchung zum Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama, lediglich Aufsätze oder Kapitel in Publikationen mit einem anderen thematischen Schwerpunkt. Kowzan überschreibt seinen oben erwähnten Artikel mit der Frage „Théâtre dans le théâtre: signe des temps? “. Er weist darauf hin, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Autoren der französischen Avantgarde ebenso wie Autoren des Boulevardtheaters Techniken des „théâtre dans et sur le théâtre“ 6 verwenden und nennt Beispiele, die er nicht weiter analysiert. Er sieht den Variantenreichtum an metatheatralen Formen in der zeitgenössischen Dramenproduktion, erstellt aber keine Typologie dieser Formen: Quant aux techniques utilisées, elles sont d’une grande diversité: on trouve, dans la production contemporaine, toutes les variantes possibles du théâtre dans le théâtre et du métathéâtre. 7 Kowzan erkennt bestimmte Themenkomplexe wie „les pièces sur des auteurs dramatiques, des acteurs, des gens de théâtre“, stellt fest, dass einige Theaterstücke auf andere dramatische Werke verweisen, welche sie transformieren oder parodieren, und dass etliche Dramen die Theatrum mundi- Metapher auf ihre Weise interpretieren. 8 Der Semiotiker bezieht in seine Darstellung des Metatheaters in der französischen Theaterszene nicht nur die Texte, sondern auch die mise en scène ein und erwähnt Regisseure wie Roger Planchon, Antoine Vitez und Jean Pierre Sarrazac, die in ihren Inszenierungen metatheatrale Effekte einsetzen. Thesenartig führt er Gründe für das Phänomen Metatheater an: eine generelle Tendenz zum Spiel mit Realität und Fiktion und zur Multiplikation der Ebenen der Bühnenillusion bis hin zur mise en abyme; die Tatsache, dass viele Dramatiker heute zugleich Autor, Schauspieler und Regisseur sind; philosophische, ideologische und wissenschaftliche Gründe wie den Einfluss der Relativitätstheorie, die Infragestellung bestimmter Prinzipien und die Auswirkung der intellektuellen und politischen Krisen unserer „époque de transition“; die Theatralisierung aller Lebensbereiche („la spectacularisation de la vie pub- 5 Vgl. Hauthal/ Nadj/ Nünning/ Peters (Hrsg.) 2007 und Wolf (Hrsg.) 2011. 6 Kowzan 1994: 158. 7 Kowzan 1994: 158. 8 Kowzan 1994: 159 und 162. 11 lique et semi-publique“), die im Theater zu einer Vervielfachung der Formen der „surthéâtralisation“ geführt habe. 9 Rainer Zaiser befasst sich mit Themen und Techniken des Dramatikers Luigi Pirandello im französischen Theater der fünfziger und sechziger Jahre 10 , welche er bei Anouilh, Ionesco, Genet und Beckett nachweist. Er verwendet die Begriffe Pirandellismus, Theatralität, Spiel im Spiel, Theater im Theater und Rollenspiel und spricht bei Anouilhs und Ionescos Stücken von „metatheatralischen Reflexionen“. 11 Die Affinität des Metatheaters zur Komödie untersuchen Konrad Schoell und Almuth Voß. Schoell widmet ein Kapitel seiner Darstellung der Entwicklung der französischen Komödie der „Komödie als Metatheater“ 12 und bezieht sich darin auf Autoren wie André Roussin, Jean Anouilh, Eugène Ionesco, Samuel Beckett, Jean Genet und Jean-Claude Grumberg. Almuth Voß 13 zeigt den Zusammenhang von Autoreferentialität und Komik in „selbstbewussten“ Komödien des französischen Gegenwartstheaters (u.a. Copi: La nuit de Madame Lucienne, Victor Haïm: Les fantasmes du boucher, Robert Pinget: Abel et Bela), die das Genre Unterhaltungstheater als „Theater im Theater“ spielerisch reflektieren. Metatheatralische Komik nennt sie „diejenige Komik [...], die durch das Spiel mit verschiedenen Fiktionsebenen entsteht“ und sich auf drei Ebenen zeigt: in der Brechung der Illusion, die überraschende und witzige Effekte erzielen kann, in der Steigerung des Unterhaltungswerts einer Aufführung durch die Herausstellung des Spielcharakters, in der Erzeugung von intellektuellem Vergnügen durch das Entdecken autoreferentieller und intertextueller Verweise in einem Theaterstück. 14 Voß behandelt wie Schoell nur einen Teilaspekt des Metatheaters, Metatheater und Komik, sieht jedoch in den Komödien zwei gattungsübergreifende Funktionen der Selbstbildnisse des Theaters: 1. die „referentielle Funktion“: satirische und polemische Schilderung von Problemen und Missständen aktueller Theaterproduktionen; 2. die „poetologische Funktion“: das Selbstbildnis des Theaters zeigt, welcher poetologischen und ästhetischen Dramenkonzeption das jeweilige Stück verpflichtet ist. 15 In ihrer Studie L’énonciation au théâtre 16 , die von der „pragmatique de l’énonciation“ ausgeht und sich auf Untersuchungen zur Selbstreflexivität und Intertextualität narrativer Texte (Lucien Dällenbach, Jean Ricardou, 9 Vgl. Kowzan 1994: 166-168. 10 Zaiser 1988. Den Einfluss Pirandellos auf das französische Theater hat Bernard Dort bereits 1967 erkannt, vgl. Dort 1967. 11 Zaiser 1988: 196, 298. 12 Schoell 1983: 214-234. 13 Voß 1998. 14 Vgl. Voß 1998: 243. 15 Vgl. Voß 1998: 247-248. 16 Jung 1994. 12 Raimund Theis/ Hans T. Siepe) stützt, vertritt Ursula Jung die These, dass die Beschreibung komplexer dramatischer Texte und ihrer autoreferentiellen Merkmale einer pragmatischen Analyse bedarf. Sie analysiert sechs Theatertexte verschiedener Epochen (Molière: Amphitryon, Marivaux: Le jeu de l’amour et du hasard, Pirandello: Sei personaggi in cerca d’autore, Anouilh: La répétition ou l’amour puni, Copi: La journée d’une rêveuse, Roland Dubillard: Le jardin aux betteraves) und entwickelt ein Instrumentarium zur Beschreibung auto- und intertextueller Dramentexte. Ausschlaggebend für die Zuordnung eines Theatertextes zum „théâtre dans le théâtre“ ist nach Jung „le dédoublement énonciatif (d’une certaine envergure! ) effectué par le personnage“ 17 . Grundbedingung für die „mise en abyme“ sei die „rupture énonciative“ 18 . Ursula Jung formuliert auf der Basis ihrer „approche pragmatique de l’autotexte théâtral“ ihre eigene Definition des Spiels im Spiel: Pour qu’il y ait théâtre dans le théâtre, et a forteriori, mise en abyme théâtrale au sens propre, il est plutôt nécessaire que le personnage effectue un changement de source durable en rapport avec une fable, c.à.d. que le trait décisif est le remplacement discursif et non ponctuel des données personnelles de base (déictiques personnels) par celles qui sont définies par un rôle (= personnage dédoublé dans le cadre d’une fable). 19 Mit der Selbstreflexion im französischen Theater des 17. Jahrhunderts beschäftigt sich Georges Forestier in seiner Studie Le théâtre dans le théâtre sur la scène française du XVII e siècle, die Ursprung, Geschichte, Strukturen, Funktionen und Bedeutungen des Theaters im Theater aufzeigt und es vom Rollenspiel und der mise en abyme abgrenzt. Das Theater im Theater definiert Forestier als „dédoublement structurel“ bzw. als „un procédé qui consiste à inclure un spectacle dans un autre spectacle.″ 20 Voraussetzung für diese Struktur sei die Aufspaltung des Bühnenpersonals in Bühnenschauspieler und Bühnenzuschauer: Il y a théâtre dans le théâtre à partir du moment où un au moins des acteurs de la pièce-cadre se transforme en spectateur. 21 Forestier gibt, auch wenn er sich in seiner Darstellung auf das „Theater im Theater“ als metatheatrales Verfahren beschränkt, wichtige Hinweise für die Analyse von Metatheatertexten. Andrea Grewes Dissertation 22 über Lesage und das Théâtre de la Foire (18. Jahrhundert) behandelt den Aspekt Theater als Reflexion von Theater und beschreibt Formen des Spiels im Spiel, Formen explizit autorefe- 17 Jung 1994: 41. 18 Jung 1994: 342. 19 Jung 1994: 345. 20 Forestier 2 1996: 10 und 13. 21 Forestier 2 1996: 11. 22 Grewe 1989. 13 rentiellen Theaters (Prolog, prologähnliche Stücke) und Parodien in den für das Théâtre de la Foire konzipierten Stücken Lesages. Komparatistische Studien zum Metatheater, Spiel im Spiel, „Theater im Theater“ und zum Rollenspiel sind vorgelegt worden von Joachim Voigt, Robert Nelson, Lionel Abel, Jörg Henning Kokott, June Schlueter, Manfred Schmeling, Manfred Karnick, Richard Hornby, Karin Schöpflin, Katrin Ehlers und Tadeusz Kowzan. 23 Das französische Theater berücksichtigen Nelson, Abel, Kokott, Schlueter, Schmeling, Hornby, Schöpflin und z.T. auch Ehlers, allerdings befassen sich diese Autoren weniger mit Stücken des französischen Gegenwartstheaters als mit Dramen aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert sowie mit Stücken von Anouilh, Ionesco, Beckett und Genet. Tadeusz Kowzan, der einen kursorischen Überblick über das Metatheater von der Antike bis zum 21. Jahrhundert gibt, greift für das 20. Jahrhundert die französischen Dramatiker Sacha Guitry, Jean Giraudoux und Jean Anouilh heraus und erwähnt etliche Gegenwartsautoren, darunter Jean-Claude Grumberg, Victor Haïm, Jean-Luc Lagarce und Éric-Emmanuel Schmitt. Lionel Abel führt 1963 den Begriff „metatheatre“ein (siehe Kapitel 2 dieser Arbeit), June Schlueter spricht 1979 von „metafictional characters“ 24 im modernen Drama. Einige der komparatistischen Studien wie z.B. Voigt 1954, Nelson 1958, Schmeling 1982 und Hornby 1986 leisten einen Beitrag zur Klassifikation der Formen des Metatheaters. Seit den 1950er Jahren hat es mehrere Versuche gegeben, eine Klassifikation der metatheatralen Formen zu erstellen. Lionel Abels Analyse des Metatheaters von 1963 liefert keine Typologie der Formen des Metatheaters. Joachim Voigt entwickelt 1955 in seiner komparatistischen Dissertation Strukturtypen des Spiels im Spiel und fasst darunter metatheatrale Formen wie Prolog, Chor, Kommentator, Sprechen ad spectatores, Aus-der- Rolle-Fallen, Spielen im Spiel und das „Spiel im Spiel im engeren Sinne“. 25 Der Begriff „Spiel im Spiel“ ist allgemeiner als die Bezeichnung „Theater im Theater“ bzw. „Theater auf dem Theater“, die sich auf einen „Type de pièce ou de représentation qui a pour sujet la représentation d’une pièce de théâtre” 26 bezieht. Das Spiel im Spiel umfasst neben dem „Theater im Theater“ Formen wie das Rollenspiel, das Beiseitesprechen und das Spielbewusstsein der dramatischen Figuren: Die Tendenz eines Teiles der Kritik, das spezifisch Ereignishafte, durch regelrechte [...] Schauspieler mit den Mitteln der Mimik und der Gestik einer Aufführung vor einem Publikum Dargestellte, als ‚Theater’ zu bezeichnen, mag 23 Voigt 1955; Nelson 1958; Abel 1963; Kokott 1968; Schlueter 1979; Schmeling 1977; Schmeling 1982; Karnick 1980; Hornby 1986; Schöpflin 1993; Ehlers 1997; Kowzan 2006. 24 Schlueter 1979. 25 Vgl. Voigt 1955. 26 Pavis 2002: 365, Stichwort Théâtre dans le théâtre. 14 man akzeptieren. Es umfasst im Grunde alles, was durch ‚Theatralik’ und Bühnenmäßigkeit’ sich abhebt von anderen Spielarten und bezieht sich vor allem auf das Theaterkunstwerk selbst, also auf Gebärde, Rezitieren, Szenenfolge, Bühnenbild und Requisit. Dies alles ‚potenziert’ meint das ‚Theater auf dem Theater’, während ‚Spiel im Spiel’ mitunter schon beim Rollenbewusstsein als solchem, bei einer hierarchischen Anordnung von Bewusstseinsstrukturen im Drama, bei Imaginationsszenen, die des Publikums entbehren, beginnen kann. 27 Beide Formen, Spiel im Spiel und „Theater im Theater“, sind dem Begriff des Metatheaters untergeordnet. Robert Nelson verwendet 1958 den Begriff „Metatheater“ bzw. „Metadrama“ noch nicht, sondern spricht von der „literary form of selfconsciousness called the play within the play“ 28 , was sowohl „Theater im Theater“ als auch Spiel im Spiel bedeutet. Nelson weist dem play within the play je nach Autor eine andere inhaltliche Funktion zu: The Play as Mirror (Shakespeare), The Play as Miracle (Rotrou), The Play as Magic (Corneille), The Play as Mask (Molière), The Play as Game (Marivaux), The Play as Confessional (Legouvé and Dumas), The Play as Lie (Sartre), The Play as Clinic (Schnitzler), The Play as Life (Pirandello), The Play as Maze (Anouilh). Diese Kategorien sind nicht eindeutig; einige Komödien Marivaux’ z.B. wären sowohl dem Typ The Play as Mask als auch dem Play as Game zuzuordnen. Zudem wird in dieser Klassifikation die Vielfalt der dramaturgischen Formen des Metatheaters nicht berücksichtigt. Richard Hornby greift 1986 Abels Begriff des metatheatre auf, definiert metadrama weit gefasst als „drama about drama“und leitet daraus seine Varieties of the Metadramatic ab: „The Play within the Play, The Ceremony within the Play, Role Playing within the Role, Literary and Real-Life Reference within the Play, Self-Reference”. 29 Eine weitere Form des Metadramas sei der Typ Drama and Perception. Bei Hornby zeichnet sich der Versuch ab, auf alle Epochen übertragbare Typen zu bestimmen, doch bedarf es noch einer weiteren Differenzierung, um alle metatheatralen Erscheinungsformen zu erfassen. Während in Frankreich bisher keine Typologie zum Metatheater erschienen ist, sind auf deutscher Seite in den 1980er Jahren Klassifikationen zum Metatheater von Manfred Schmeling und KarinVieweg-Marks vorgelegt worden. Schmeling erstellt 1982 in seiner komparatistischen Untersuchung eine Morphologie der metatheatralen Formen und unterscheidet zwei übergeordnete Kategorien metatheatraler Formen, „formes complètes“ und „formes périphériques“. 30 Zu den kompletten Formen zählt er 27 Schmeling 1977: 16-17. 28 Nelson 1958: 10. 29 Hornby 1986: 31-32. 30 Schmeling 1982: 10. 15 Theaterstücke mit der Struktur des „Theaters im Theater“. Schmeling beschreibt drei Typen des „Theaters im Theater“: - des pièces où les acteurs fictifs du jeu intercalé ne sont pas identiques aux acteurs réels [du jeu au premier degré] - des pièces où les protagonistes du théâtre dans le théâtre sont identiques aux protagonistes du théâtre au premier degré - des pièces avec des protagonistes entièrement ou partiellement identiques aux deux niveaux théâtraux […] il se produit un glissement permanent d’un niveau à l’autre. 31 Anschließend schlägt er eine weitere Typologie vor, basierend auf dem zeitlichen und räumlichen Verhältnis zwischen erster und zweiter Fiktionsebene: - des pièces à cadre fermé, où le jeu commence et s’achève au premier degré théâtral - des pièces à cadre ouvert où le jeu commence au premier degré et s’achève au second et vice versa - des pièces où le théâtre dans le théâtre constitue un lieu théâtral séparé […] - des pièces avec lieu théâtral commun aux différents niveaux du jeu […]. 32 Zu den Formen ohne die Struktur des „Theaters im Theater”, den peripheren Formen, gehören nach Schmeling le prologue ou jeu préliminaire, l’épilogue, le discours aux spectateurs (ad spectatores), le chœur, l’éclatement du rôle, l’aparté, le meneur de jeu. 33 Schmelings Morphologie ist auf alle Epochen und alle Gattungen anwendbar und berücksichtigt die Vielfalt der dramaturgischen Formen des Metatheaters. Eine ebenfalls „a-historisch orientierte Typologie“ entwickelt Karin Vieweg-Marks 1989 in ihrer Studie Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, in der sie Metadrama als „ein dramatisches Prinzip, das sich in allen Gattungen manifestiert“ definiert. 34 Vieweg-Marks analysiert „Stücke, die sich in selbstreflexiver Weise mit der eigenen Kunstform befassen und im Extremfall die Form zum Inhalt erheben“ 35 , nennt Merkmale und Erscheinungsformen des Metadramas und liefert eine Typologie metadramatischer Formen, die nicht nur auf das englische Metadrama anwendbar ist. Die Autorin bezieht die oben genannten Erkenntnisse in ihre Theoriebildung ein und unterscheidet sechs Typen des Metadramas: Thematisches Metadrama, Fiktionales Metadrama, Episierendes Metadrama, Diskursives 31 Vgl. Schmeling 1982: 10. 32 Schmeling 1982: 11-12. 33 Schmeling 1982: 13. 34 Vieweg-Marks 1989: 19 und 9. 35 Vieweg-Marks 1989: 3. 16 Metadrama, Figurales Metadrama, Adaptives Metadrama. Sie stellt fest, dass diese Formen „Idealtypen“ sind und im Einzelfall „Überlagerungen mehrerer metadramatischer Formen“ 36 in einem Drama zu finden sind. Gottfried Krieger greift 1998 diese Typologie im Kapitel „Metadrama“ seiner Publikation zum englischen Drama des 20. Jahrhunderts in abgewandelter Form auf und stellt fest, dass im englischen Gegenwartstheater das thematische Metadrama bevorzugt wird. 37 Beate Blüggel 38 überträgt ausgehend von Shakespeares Dramen das Konzept „Metadrama“ auf Stücke Tom Stoppards und setzt es in Beziehung zur Postmoderne. Auch Birgit Brüster betrachtet in Das Finale der Agonie: Funktionen des „Metadramas“im deutschsprachigen Drama der 80er Jahre 39 das Metadrama im Kontext der Postmoderne. Schon der Titel resümiert Brüsters These von der Agonie des Dramas und des Theaters, die sich im Metadrama manifestiere. Im Zeitalter der Medien sei das Theater als Institution fragwürdig geworden, seine ästhetischen Mittel erschienen anachronistisch, angesichts einer allumfassenden Simulation wirke das Theater als „Ort der Fiktionalität“ überholt und antiquiert. 40 Brüster versucht zu zeigen, wie zeitgenössische Autoren wie Tankred Dorst, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Gisela von Wysocki und Botho Strauß durch die Verwendung metadramatischer Techniken über diese sozio-kulturelle Entwicklung reflektieren, in der ihrer Interpretation zufolge Agonie als letzte Metapher für Realität und Kunst zurückbleiben. 41 Sie orientiert sich in ihrem Analysekonzept an Vieweg- Marks, reduziert deren Typologie aber mit Blick auf ihr Textkorpus auf drei Kategorien: figurales, fiktionales und adaptives Metadrama. Inwieweit Brüsters These vom Metadrama als Ausdruck der Agonie des Dramas und des Theaters auf das französische Theater der Gegenwart zutrifft, wird die Analyse der hier ausgewählten französischen Theatertexte zeigen. Kristina Jensen untersucht in ihrer Dissertation 42 das Metadrama José Sanchis Sinisterras und bezieht vergleichend Theaterstücke anderer spanischer Gegenwartsautoren wie Jaime Salom, Fermín Cabal, Sergi Belbel, José Luis Alonso de Santos und Jerónimo López Mozo ein. Sie greift auf Vieweg-Marks’ Typologie zurück und beschränkt sich aufgrund der Merkmale ihres Korpus, das spanische Dramentexte von 1975 bis 2000 umfasst, auf die Kategorien thematisches, episierendes und figurales Metadrama. Dabei sieht Jensen wie Vieweg-Marks die Möglichkeit der Überlagerung einzelner Typen des Metadramas, z.B. des thematischen und des episierenden Metatheaters bei Sanchis Sinisterra. 36 Vieweg-Marks 1989: 18-19. 37 Vgl. Krieger 1998: 155. 38 Blüggel 1992. 39 Brüster 1993. 40 Vgl. Brüster 1993: 369. 41 Vgl. Brüster 1993: 369. 42 Jensen 2007. 17 In ihrer Arbeit Metadrama und Theatralität. Gattungs- und Medienreflexion in zeitgenössischen englischen Theatertexten analysiert Janine Hauthal insgesamt sechs Dramen und Theatertexte von einem kanadischen und vier britischen Autor(innen) aus dem Zeitraum zwischen 1982 und 2005 im Hinblick auf formale und funktionale Varianten der Metaisierung. 43 Das Korpus umfasst Texte von Peter Nichols, Michael Redhill, Martin Grimp, Sarah Kane und Alan Ayckbourn. Ausgehend von der medientheoretischen Differenzierung zwischen Drama und Theater unterscheidet sie zwischen Metadramatizität und Metatheatralität, d.h. „auf das Drama als Form oder Fiktion bezogenen metadramatischen Schreibweisen und auf das Theater bzw. die Aufführung oder den Medienwechsel bezogenen metatheatralen Schreibweisen“ 44 . Diese Abgrenzung ist unter dem medialen Gesichtspunkt nachvollziehbar, erscheint aber sehr eng angesichts der synonymen Verwendung der Begriffe „Metadrama“ und „Metatheater“. 45 1.3 Zielsetzung und Vorgehensweise Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über die Formen und Funktionen des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama zu geben, das Erscheinen der Vielfalt an metatheatralen Formen seit 1950 theater- und kulturgeschichtlich zu begründen und die These zu verifizieren, dass diese Metatheaterstücke in der Zusammenschau eine „histoire dramatisée du théâtre“ schreiben. Die Untersuchung basiert auf einem Textkorpus von 46 Theaterstücken aus dem Zeitraum von 1948 bis 2006. Ausgewählt wurden Texte von 26 Autoren und 4 Autorinnen, welche für das Metatheater in Frankreich seit Mitte des 20. Jahrhunderts als repräsentativ gelten können. Den Schwerpunkt bilden Metadramen, die zwischen 1970 und 2006 erschienen sind, denn gegen Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts tritt das Phänomen des Metatheaters im französischen Theater häufiger auf. Zu den Autoren zählen André Roussin, Jean Anouilh, Samuel Beckett, Jean Genet, Eugène Ionesco, Michel Vinaver, Jean-Claude Grumberg, Victor Haïm, Philippe Adrien, Valère Novarina, Maurice Regnaut, Copi, Philippe Braz, Jacques Kraemer, Alain Nadaud, Bernard Da Costa, Serge Pauthe, Enzo Cormann, Michel Deutsch, Philippe Caubère, Alain Badiou, Jean-Luc Lagarce, Denis Guénoun, Éric-Emmanuel Schmitt, Olivier Py und Louis-Charles Sirjacq. Einige von ihnen sind in dem Dossier mit mehreren Stücken oder mit einem Dramenzyklus vertreten, darunter Grumberg, Novarina, Da Costa, Py, Deutsch, Caubère und Badiou. Die Autorinnen sind 43 Hauthal 2009. 44 Krieger in Nünning (Hrsg.) 5 2013: 513. 45 Krieger in Nünning (Hrsg.) 5 2013: 512. 18 Loleh Bellon, Hélène Cixous, Evelyne Pieiller und Yasmina Reza. Eine Übersicht über die Dramen und die Autoren bzw. Autorinnen mit Angabe des Kapitels, in dem sie erscheinen, findet sich im Anhang. Aufführungsanalysen sind nicht Gegenstand dieser Arbeit, stellenweise wird aber zur Erklärung der metatheatralen Techniken auf deren Umsetzung in der entsprechenden Inszenierung hingewiesen. Die Studie beginnt mit einem theoretischen Teil, in dem nach der Definition des Begriffs „Metatheater“ (Kapitel 2) ausgehend von bisher in der Forschung bekannten Klassifikationsvorschlägen zum Metatheater und zum Metadrama sowie in Anlehnung an Vieweg-Marks eine Typologie des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama (Kapitel 3) erarbeitet wird, die auf den Charakteristika der Metatheatertexte des hier erstellten Textkorpus basiert. Das anschließende theatergeschichtliche Kapitel (Kapitel 4), das exemplarisch französische Metadramen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts behandelt, stellt den Bezug zur literarischen Tradition des Metatheaters her, illustriert den soziokulturellen Entstehungskontext der Stücke und ermöglicht einen besseren Zugang zu den Metatheatertexten des 20. und 21. Jahrhunderts, die teilweise auf traditionelle metatheatrale Verfahren zurückgreifen oder intertextuell auf Dramen vergangener Epochen verweisen. Im Hauptteil (Kapitel 5) werden auf der Grundlage der in Kapitel 3 erstellten Typologie Formen und Funktionen des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama analysiert. Die Stücke des Textkorpus werden hier den einzelnen Typen des Metatheaters zugeordnet. Treten geringfügige Überschneidungen der metatheatralen Formen in einem Drama auf, ist der darin dominierende Typ des Metatheaters für die Zuordnung ausschlaggebend. Stehen mehrere Varianten des Metatheaters in einem Metadrama nebeneinander, d.h. wird bewusst mit einer Kombination verschiedener Typen des Metatheaters gespielt, fallen diese Theatertexte in eine eigene, von Vieweg-Marks nicht einbezogene Kategorie, die in Kapitel 3 näher definiert wird. Die inhaltliche und strukturelle Beschreibung dieser z.T. jenseits der Grenzen Frankreichs wenig bekannten Dramen in der formalen Analyse ist jeweils die Voraussetzung für die Darstellung der Funktionen eines bestimmten Metatheatertyps. Abschließend (Kapitel 6) erfolgt eine Einordnung der hier behandelten Metatheatertexte in die Theatergeschichte Frankreichs seit Mitte des 20. Jahrhunderts und eine Betrachtung des französischen Metatheaters im Kontext des Metareferential turn, d.h. der Metaisierung in der Literatur und in anderen Medien, die seit 1950 vermehrt zu beobachten ist. 19 2 Definition des Begriffs „Metatheater“ Die Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart ist durch eine Tendenz zur Selbstreferentialität gekennzeichnet, die in allen literarischen Gattungen zu erkennen ist und in den metatextuellen Formen Metalyrik, Metafiktion und Metatheater auftritt. Der Begriff des Metatheaters wurde 1963 von dem amerikanischen Dramatiker und Theaterkritiker Lionel Abel geprägt. Abel fasst den Begriff des Metatheaters sehr weit und bezeichnet damit Dramen, in denen das Leben bereits als theatralisierte Wirklichkeit erscheint: Yet the plays I am pointing at do have a common character: all of them are theatre pieces about life seen as already theatricalized. […] I call them metaplays, works of metatheatre. 46 Er ordnet dem Begriff metatheatre den Begriff metaplay (Metadrama) unter und betrachtet das play within a play, das Spiel im Spiel, als „device, and not a definite form“ 47 . „Self-consciousness“, das dramatische Selbstbewusstsein des Rollen-Ichs, das sich oder andere als „playwright“ in Szene setzt, ist für Abel das Grundprinzip des Metatheaters. 48 Er führt vor allem Dramen von Shakespeare, Calderón, Genet, Beckett, Pirandello und Brecht als Beispiele an und sieht im Metatheater den Nachfolger der Tragödie 49 . In Analogie zu der Gegenüberstellung von langage-objet und métalangage, littérature-objet und métalittérature im Strukturalismus versteht Manfred Schmeling unter théâtre-objet und métathéâtre nicht-selbstreflexive und selbstreflexive Formen des Theaters und setzt das Konzept des Metatheaters in Beziehung zur Intertextualität. 50 In diesem Sinne definiert Patrice Pavis métathéâtre als Théâtre dont la problématique est centrée sur le théâtre, qui ‘parle’ donc de luimême, ‘s’autoreprésente’. 51 Metatheater betrachtet er als Theater, das sich selbst thematisiert und sich selbst darstellt. Gottfried Krieger stellt in seiner Definition des Metathea- 46 Abel 1963: 60-61. 47 Abel 1963: 60. 48 Abel 1963: 78 und 49. 49 Abel 1963: 72, „Metatheatre has replaced tragedy.“ Dies wurde u.a von Susan Sontag kritisiert: „In fact, Abel could have gone even further. Not only are most of the putative tragedies really ‚metaplays’; so are most of the histories and comedies.“ Sontag 4 1969: 135, The Death of Tragedy. Später räumt Abel ein, dass Metatheater das Komische und das Tragische vermitteln kann und ordnet es dem Konzept „theatricality“ unter, vgl. Abel 2003: VI (Preface) und Abel 2003: 172-173. 50 Schmeling 1982: 5. 51 Pavis 2002: 203. 20 ters fest, dass die Begriffe Metadrama und Metatheater trotz differenzierenden Bezugs auf das literarische Textsubstrat bzw. die performance oft synonym verwendet werden und bezeichnet das Metadrama als diejenige Form des Dramas, in der es auf sich selbst als literarische Form/ Fiktion bzw. theatralische Illusion verweist [...] und diese Selbstreflexivität/ Selbstreferentialität [...] zum Darstellungsgegenstand macht. 52 Krieger versucht das Phänomen theatergeschichtlich und gattungstypologisch zu verorten; er spricht von „einer Affinität zwischen dem Spielcharakter des Metadramas und der Postmoderne“, betont aber, dass es sich dabei um „ein ahistorisches Merkmal des Dramas“ handele, das besonders in der Komödie zu finden sei und sich in der europäischen Tradition bis zu den geistlichen Spielen des Mittelalters verfolgen lasse. 53 In Anlehnung an Abel und Krieger wird in der vorliegenden Arbeit das Metadrama als literarische Realisierung eines bestimmten Typs von Metatheater und damit als Metatheatertext aufgefasst. Die genannten Definitionen des Begriffs „Metatheater“ ergänzen sich und lassen sich auf die metatheatralen Formen des zeitgenössischen französischen Dramas anwenden, denn sie nennen wesentliche Charakteristika des Metatheaters wie das Rollenbewusstsein der dramatischen Figuren, die Spielleiterfunktion der Regiefigur, den Spielcharakter des Metadramas, die Selbstthematisierung und die Selbstreferentialität, welche sich in den verschiedenen in dieser Arbeit untersuchten Typen des Metatheaters wiederfinden. 52 Krieger in Nünning (Hrsg.) 5 2013: 512, Stichwort Metadrama/ Metatheater. 53 Krieger in Nünning (Hrsg.) 5 2013: 512. 21 3 Typologie der Formen des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama Für das in dieser Arbeit untersuchte Textkorpus hat sich die Typologie von Vieweg-Marks aufgrund ihres gattungs- und epochenübergreifenden Ansatzes und der genauen Differenzierung der dramaturgischen Formen des Metadramas als „operationalisierbar“ 54 erwiesen, diese Typologie muss aber mit Blick auf die Besonderheiten des zeitgenössischen französischen Dramas präzisiert und um die Kategorien „Nichtdramatisches Metatheater“ und „Polymorphes Metatheater“ erweitert werden. Ausgehend von dem Begriff Metatheater/ métathéâtre und den Charakteristika der hier analysierten Theatertexte werden in dieser Arbeit acht Typen der Formen des Metatheaters unterschieden: 1. Thematisches Metatheater Thematisches Metatheater ist „Theater über Theater“, es thematisiert das Theatermilieu und macht häufig ein Theater zu seinem Schauplatz. Die dramatis personae sind Dramenautoren, Theaterregisseure, Schauspieler, Theaterkritiker, Zuschauer und Bühnentechniker, denn thematisches Metatheater beleuchtet und problematisiert die Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Theaters. Dabei wird die dramatische Illusion nicht durch eine Theatereinlage bzw. eine zweite Fiktionsebene gebrochen. 2. Episierendes Metatheater Episierendes Metatheater bedeutet „Theater kommentiert Theater“, d.h. „ein episch vermittelndes Kommunikationssystem“ 55 durchbricht den geschlossenen Illusionsraum des Theaters und stellt den Kontakt zwischen Bühne und Zuschauer her. Zu den episierenden metatheatralen Formen gehören der Prolog bzw. das Vorspiel, der Epilog, der Chor, der das Geschehen kommentiert, die Regiefigur, die als Mittlerinstanz wie ein Spielleiter oder Kommentator agiert und eine Erzählerfunktion übernehmen kann, die Publikumsadresse (Sprechen ad spectatores), das Beiseitesprechen und das Aus-der-Rolle-Fallen (ex persona). 3. Fiktionales Metatheater Fiktionales Metatheater ist „Theater im Theater“ bzw. „Theater auf dem Theater“ oder „Spiel im Spiel im engeren Sinne“. Das fiktionale Metadrama 54 Krieger in Nünning (Hrsg) ( 5 2013): 512. 55 Pfister 11 2001: 120. 22 stellt die Aufführung eines Theaterstücks oder eine bzw. mehrere Theaterproben dar, sodass es zur Einbettung einer sekundären Fiktionsebene (F2) in die primäre Fiktionsebene (F1) und damit zu einer Potenzierung der Fiktion kommt. Im Einzelfall entsteht sogar eine tertiäre Fiktionsebene (F3), die in F2 integriert ist („Theater im Theater im Theater“). Die Theatereinlage ist ein unbekannter Theatertext, sie verweist nicht auf einen bereits existierenden Theatertext (Prätext). 4. Adaptives Metatheater Adaptives Metatheater ist „zitierte Fiktion“ 56 , es bezieht sich intertextuell auf einen oder mehrere dramatische Prätexte oder eine bestimmte dramatische Gattung (Farce, Kriminalstück etc.). Der Prätext kann als Theater im Theater, als Gattungsreferenz, als Zitat, Motto oder literarische Allusion erscheinen. Adaptives Metatheater ist Intertheater/ “interthéâtre“ 57 , zwischen dem adaptiven Metadrama und dem dramatischen Prätext/ den dramatischen Prätexten besteht eine Relation der Intertheatralität/ “interthéâtralité“ 58 . Das adaptive Metadrama ist ein Intertheatertext. In neueren Dramentexten werden die Dramen-Prätexte lediglich als Steinbruch verwendet, sodass das adaptive Metadrama einem intertheatralen Mosaik bzw. Patchwork gleicht, bei dem nur noch Zitate, Zitatfragmente, Motti oder Allusionen der Prätexte in den Intertheatertext montiert sind. 5. Figurales Metatheater Charakteristisch für das figurale Metatheater ist das Fingieren von Sekundärrollen, das der Figurenkonzeption zugeordnet ist, d.h. die „Rolle in der Rolle“ bzw. das „Spielen im Spiel“. 59 Es kommt zu einer Doppelung der dramatischen Rolle, dem Rollenspiel. Ausgehend von Erika Fischer-Lichtes Definition der minimalen Theatersituation, A verkörpert X, während S zuschaut 60 , lässt sich die einfachste Form des Rollenspiels mit folgender Formel beschreiben: A spielt X { X spielt Y, während X 2 zuschaut} während S zuschaut (A= realer Schauspieler; X= Rolle/ dramatis persona; Y = Rolle in der Rolle/ Sekundärrolle; X 2 = Bühnenzuschauer des Rollenspiels; S= realer 56 Vieweg-Marks 1989: 39. 57 Nabet-Egger 2000: 210. 58 Nabet-Egger 2000: 211. 59 Vieweg-Marks betrachtet das Aus-der-Rolle-Fallen als figurale metadramatische Technik und bemerkt, man könne es auch als „episierende Tendenz“ betrachten, vgl. Vieweg-Marks 1989: 31. Hier wird es gemäß Pfister 11 2001: 123 (Epische Kommunikationsstrukturen) als episierende metatheatrale Form betrachtet, da es zwischen Zuschauer und Bühne vermittelt und die Illusion durchbricht, vgl. Pfister 11 2001: 119- 120). 60 Vgl. Fischer-Lichte 2 1988: 16. 23 Zuschauer). In manchen Theaterstücken kommt es zu einer Vervielfachung der Rollen je nach Situation und Bühnenzuschauer (X spielt Y gegenüber X 2 , Z gegenüber X 3 etc.) oder zu einer Rolle in der dritten Potenz („Rolle in der Rolle in der Rolle“; X spielt Y, gibt sich als Y für Z aus und täuscht als Z eine weitere Identität W vor). Das Rollenspiel kann auf der physischen Maske (Verkleidung), der sozialen Maske (Wechsel der sozialen Rolle) und der psychologischen Maske (Verstellung) basieren, häufig auch auf einer Kombination der drei Varianten. 6. Diskursives Metatheater Im diskursiven Metatheater vollzieht sich die Selbstreflexion des Theaters ausschließlich auf sprachlicher Ebene, d.h. im metatheatralen Diskurs der Bühnenfiguren. Dieser metatheatrale Diskurs ist gekennzeichnet durch punktuell in den Repliken auftretende Theaterreferenzen. Die Figuren verwenden Theatermetaphern (z.T. verblasste Metaphern), Ausdrücke aus dem Theatervokabular und dem Bühnenjargon, verbalisieren ihr Bewusstsein, in einem theatralischen Raum zu sein (Spielbewusstsein bzw. dramatische Selbst-Bewusstheit der dramatis personae), oder nehmen explizit Bezug auf das von ihnen dargestellte Drama (z.B. auf die Dauer oder den Ausgang der Handlung, den realen Autor des Dramas etc.). Der metatheatrale Diskurs taucht häufig in Kombination mit anderen Formen des Metatheaters auf, ein diskursives Metadrama aber ist ein Drama, dessen Autoreferentialität primär auf dem metatheatralen Diskurs beruht, der im inneren Kommunikationssystem des Dramas situiert ist. 61 7. Nichtdramatisches Metatheater Nichtdramatisches Metatheater ist métathéâtre-récit. Patrice Pavis, der wie Gerda Poschmann 62 , Hans Thies Lehmann 63 und Christophe Deshoulières eine Tendenz zur „dédramatisation“ 64 , d.h. zur Entdramatisierung in zeitgenössischen Theatertexten beobachtet, versteht unter „théâtre-récit“ eine „forme de texte et/ ou de mise en scène qui utilise des matériaux narratifs non dramatiques (romans, poèmes, textes divers) en ne les structu- 61 Vieweg-Marks siedelt das Sprechen ad spectatores im Überschneidungsbereich episierender und diskursiver metadramatischer Techniken an, da es nur punktuell auftrete, vgl. Vieweg-Marks 1989: 30. Dramaturgisch betrachtet ist es jedoch dem episierenden Metatheater zuzuordnen, weil es gemäß Pfister 11 2001: 119 zwischen Bühne und Zuschauer vermittelt. 62 Poschmann 1997. 63 Lehmann 1999: 13. „Zugleich ist der neue Theatertext, der seinerseits immer wieder seine Verfassung als sprachliches Gebilde reflektiert, weithin ein ‚nicht mehr dramatischer’ Theatertext.“ 64 Deshoulières 1989: 192. 24 rant pas en fonction de personnages ou de situation dramatiques“ 65 . Ausgehend von dieser Definition wird hier nichtdramatisches Metatheater definiert als „métathéâtre-récit“, d.h. als ein Typ des Metatheaters, der kein Personenverzeichnis, keinen Dialog und keine Aufspaltung des Textes in Haupttext (Repliken) und Nebentext (Regieanweisungen) aufweist, sondern als Récit erscheint, in dem über das Theater (Geschichte, Funktion, etc.) reflektiert wird. Gegenstand dieser Untersuchung sind zwei Varianten nichtdramatischen Metatheaters, das „essayistische Metatheater“, das Theatertexte beschreibt, die wie ein „szenischer Essay“ 66 wirken, und das „epistolare Metatheater“, das Theatertexte bezeichnet, die in Briefform abgefasst sind. 8. Polymorphes Metatheater Die bereits von Vieweg-Marks festgestellte mögliche Überlagerung mehrerer Metatheatertypen in einem Theatertext wird beim polymorphen Metatheater zum Strukturprinzip. In polymorphen Metatheaterthexten spielen die Autoren bewusst mit einer Kombination aus mehreren metatheatralen Formen (z. B. Verknüpfung des adaptiven Metadramas mit Formen des thematischen, episierenden, figuralen und diskursiven Metatheaters), woraus ein „metatheatrales Totaltheater“ entsteht, das einen hohen Grad an Theatralität und Autoreferentialität besitzt. 65 Pavis 2002: 379. 66 Lehmann 1999: 203. 25 4 Metatheater im französischen Drama - eine theatergeschichtliche Synopse Ein Blick auf die Geschichte des französischen Theaters zeigt, dass metatheatrale Formen bereits in den Mysterienspielen 67 (14.-16. Jahrhundert) vorkommen, verstärkt im Theater des 17. und 18. Jahrhunderts auftreten und auch im 19. Jahrhundert zu finden sind. Der Topos des Theatrum mundi bzw. des Theatrum vitae humanae bestimmt das Weltbild des Barockzeitalters: Die Welt ist ein Theater, in dem Gott der oberste Spielleiter und beurteilender Zuschauer ist; der Mensch ist ein Schauspieler, und sein Leben entspricht der ihm von Gott zugewiesenen Rolle. Diese theatralische Weltsicht offenbart sich im Theater des 17. Jahrhunderts, das häufig auf die metatheatrale Form des „Theaters im Theater“ zurückgreift, wovon Stücke wie Scudérys La comédie des comédiens (1635), Corneilles L’Illusion comique (1636), Rotrous Le véritable Saint Genest (1647), Quinaults La comédie sans comédie (1654) und Molières L’Impromptu de Versailles (1663) zeugen. 68 Georges de Scudéry verwendet in La comédie des comédiens neben dem „Theater im Theater“, einer églogue und einer tragi-comédie pastorale die episierende metatheatrale Form des Prologs. Der Prologsprecher Mondory 69 beschreibt den Handlungsort Lyon, nennt die Namen der Figuren, die er und die Schauspieler spielen werden (Monsieur de Blandimare, Beau- Soleil, Belle-Ombre, Beau-Sejour), und zeigt sich verwundert über die Behauptung der verrückten Schauspieler, dass das Stück der Regel gemäß 24 Stunden umfasse, obwohl die Aufführung eineinhalb Stunden dauere. Er warnt die Zuschauer davor, den Schauspielern in ihrer „folie“zu glauben und sich auf die Illusion einzulassen und bewirkt so die Desillusion: [...] et cependant (Messieurs) ne les croyez pas, quoy qu’ils puissent dire; car je meure s’il y aura rien de veritable […] (CdC, Prologue, 116). Den Rahmen bildet die Geschichte Belle Ombres, eines Sohnes aus gutem Hause, der sich als portier de comédie einer Komödiantentruppe anschließt. Sein Onkel Monsieur de Blandimare spürt ihn in Lyon auf, lädt die Truppe trotz seiner Vorbehalte in seine Absteige ein, fordert sie auf, ihn mit einem guten Stück zu unterhalten, und lässt sich durch die Aufführung der Ekloge zu einer Lobrede auf das Theater bewegen: 67 Vgl. Forestier 2 1996 : 27. 68 Vgl. Forestier 2 1996: 118-121. 69 Montdory (1594-1653): Pseudonym des französischen Schauspielers und Truppenleiters Guillaume des Gilberts, der 1634 das Théâtre du Marais gründete und den Scudéry sehr bewunderte. Vgl. Corvin 1995: 622. 26 M. r de Blandimare: […] Car il faudroit estre privé de raison, pour mespriser une chose tant estimable: la COMEDIE, qui a esté en veneration dans tous les siecles, ou les sciences fleurissoient! La COMEDIE, jadis le divertissement des Empereurs, et l’entretien des bons esprits: le Tableau des passions, l’Image de la vie humaine, l’Histoire parlante, la Philosophie visible, le Fleau du vice, et le Throsne de la vertu. (CdC, II, 1, 166-168). Seinem Neffen verzeiht er den Wechsel ins Theatermilieu und lobt ihn dafür. Er will sogar im nächsten Stück, einer tragi-comédie pastorale, eine Rolle übernehmen. Die tragi-comédie pastorale beginnt mit einem Streit zwischen den allegorischen Figuren Prologue und Argument über ihre Notwendigkeit im Theater, in dem sie sich am Ende als „inutile“ respektive „superflu“ (CdC, 186) erkennen und sich zurückziehen. Scudéry, der zwar den Prolog in der Comédie des comédiens noch verwendet, distanziert sich so von antiken Vorbildern und vertritt seine eigene barocke Dramenkonzeption, basierend auf der surprise und der Peripetie: Le principal secret de pareils ouvrages, consiste à intriquer les accidens de sorte, que l’esprit du spectateur demeurant suspendu entre la joye et la douleur, entre l’esperance et la crainte, ne puisse deviner où doit aboutir l’histoire, et se trouve agreablement surpris, par cet invisible nœud, qui desbroüille toute une pièce: […]. (CdC, 184). Im Vorwort (Au lecteur) zu La Comédie des comédiens nennt Scudéry seine Werke, u.a. Le Trompeur puni, im Stück wirbt er für sich, indem er Beau- Soleil und Blandimare ein Lob des „Autheur du Trompeur Puny“ als „un de ceux qui portent une espee, qui s’aide le mieux d’une plume“ in den Mund legt (CdC, 156). Blandimare entwirft das Bild des perfekten vielseitigen Schauspielers, der seiner Meinung nach schwer zu finden ist: M. r de Blandimare: [...] il faut tant de qualitez à un Comedien, pour meriter celle de bon, qu’on ne les rencontre que fort rarement ensemble. Il faut premierement, que la nature y contribuë, en luy donnant la bonne mine; car c’est ce qui fait la premiere impression dans l’ame des spectateurs: qu’il ait le port du corps avantageux, l’action libre, et sans contrainte; la voix claire, nette et forte; que son langage soit exempt des mauvaises prononciations, et des accens corrompus, qu’on acquiert dans les Provinces, et qu’il se conserve tousjours la pureté du François. Qu’il ait l’esprit et le jugement bon, pour l’intelligence des vers, et la force de la memoire, pour les aprendre promptement, et les retenir apres tousjours. Qu’il ne soit ignorant ny de l’Histoire, ny de la fable […] il faut que toutes ces parties soient encore accompagnees d’une hardiesse modeste qui ne tenant rien de l’effronté, ny du timide, se maintienne dans un juste temperament. Et pour conclusion, il faut, que les pleurs, le rire, l’amour, la haine, l’indifference, le mespris, la jalousie, la colere, l’ambition, et bref que toutes les passions soient peintes sur son visage, chaque fois qu’il le voudra. […]. (CdC, II, 1, 148-150). Die anfängliche Kritik am Theater als Beruf kehrt sich um in eine Lobeshymne auf das Theater und die Kunst der Schauspieltruppe. Die in La Comédie des comédiens inszenierte Apologie des Theaters stellt Scudéry 1639 27 mit der Abhandlung L’apologie du théâtre, in der er die „comédie“ und den Schauspielberuf verteidigt, in einen theoretischen Kontext: Ainsi lors que la comedie sera composée, récitée, et escoutée, d’une façon aprochante, de celle dont j’ay parlé, je ne craindray point de dire d’elle, ce que j’en ay dit autrefois, qu’elle est l’objet de la veneration de tous les siècles vertueux: le divertissement des empereurs et des rois; l’occupation des grands esprits; le tableau des passions, l’image de la vie humaine; l’histoire parlante; la philosophie visible; le fleau du vice; et le throne de la vertu. C’est par cet eloge veritable que doit finir, l’apologie du théâtre. 70 Philippe Quinault, der in seine Comédie sans comédie vier verschiedene Stücke integriert (pastorale, pièce burlesque, pièce tragique, tragi-comédie), verwendet gleichzeitig die episierende metatheatrale Form des Beiseitesprechens einiger Figuren (aparté). Die Schauspieler Hauteroche und La Roque sind verliebt in die Töchter Aminte und Silvanire des Händlers La Fleur, der das Theater als gefährliche Kunst ansieht. Hauteroche verteidigt das Schauspiel (la comédie) und das Theater, er hebt die Verfeinerung, die didaktische Funktion und den Unterhaltungscharakter der dramatischen Kunst hervor: Hauteroche: […] Et c’est un Art, enfin, qui fait en même tems instruire la raison & divertir les sens. (CsC, 98). Um die Einwilligung La Fleurs in die Heirat zu erstreiten, spielen sie ihm mit einer selbst zusammengestellten Truppe vier Stücke hintereinander vor, die er beurteilen soll. Die Ortswechsel in diesen „essais“ (CsC, 123) werden in den Regieanweisungen angegeben, nur vor dem letzten Stück fordert die Figur Armide den Umbau der Bühne in eine „île agréable et couverte de fleurs“ (CsC, 119) und verweist so auf den Illusionscharakter der nun folgenden tragi-comédie. La Fleur ist am Ende von La Roques und Hauteroches Metier und vom Theater überzeugt und willigt in die Heirat seines Sohnes und seiner beiden Töchter ein: La Fleur: Oui; chacun a bien fait dans tous ses personnages; je consens, avec joie, à vos trois mariages; votre Art, dans ces essais m’a paru noble et doux […]. (CsC, 123). In Pierre Corneilles L’Illusion comique erscheint das „Theater im Theater“ in Form einer magischen theatralischen Illusion, die der Zauberer Alcandre für Pridamant inszeniert, um ihm Episoden aus dem Leben seines Sohnes Clindor vorzuführen, der nach einigen Wirren Schauspieler geworden ist. Corneille verknüpft das „Theater im Theater“ mit einer Apologie des Theaters und des Metiers des Schauspielers, die in dem Plädoyer Alcandres für die dramatische Kunst am Ende des letzten Aktes zum Ausdruck kommt: 70 Scudéry 1639 (Elektronisches Dokument 1997): 99. 28 Alcandre: [...] à présent, le Théâtre/ Est en un point si haut qu’un chacun l’idolâtre, / Et ce que votre temps voyait avec mépris/ Est aujourd’hui l’amour de tous les bons esprits, / L’entretien de Paris, le souhait des Provinces, / Le divertissement le plus doux de nos Princes, / Les délices du peuple, et le plaisir des grands; / Parmi leurs passe-temps il tient les premiers rangs, / […]. (L’Illusion comique, V,6,687). Jean de Rotrou verbindet in seiner Tragödie Le véritable Saint Genest, zurückgehend auf Lope de Vegas Lo fingido verdadero (1622) und Desfontaines L’illustre comédien ou Le martyre de Saint Genest (1644), das Schauspieler- und das Märtyrermotiv. Bei der Aufführung einer Märtyrertragödie vor Diokletian identifiziert sich der römische Schauspieler Genest so sehr mit dem Märtyrer Adrian, dass die Fiktion Wirklichkeit wird. Genest erfährt schon während der Probe seiner Rolle eine Wandlung: Genest: [...] D’effet, comme de nom, je me treuve estre un autre; / Je feints moins Adrian, que je ne le deviens / Et prends avec son nom, des sentimens Chrestiens; / [...]. (VSG, II,4,77). Im Laufe der Aufführung fällt Genest aus der Rolle: Genest: [...] Le Dieu qu j’ay haï, m’inspire son amour, / Adrian a parlé, Genest parle à son tour ! / Ce n’est plus Adrian, c’est Genest qui respire, / La grace du Baptesme, est l’honneur du Martyre; / […]. (VSG, IV,5,118). Dies bemerken anfangs nur seine Mitspieler Marcèle und Lentule, das Bühnenpublikum der ersten Fiktionsebene hält es für eine Steigerung seiner dramatischen Schauspielkunst und der Mimesis: Valérie: Sa feinte passeroit pour la vérité mesme. / Plancien: Certes, ou ce spectacle est une vérité, / Ou jamais rien de faux ne fut mieux imité. (VSG, IV,7,120). Schein und Sein können die Bühnenzuschauer erst am Ende trennen, als Genest sich zum Christentum bekennt und dafür den Märtyrertod stirbt: Genest: [...] Ce n’est plus Adrian, c’est Genest qui s’exprime; / Ce jeu n’est plus un jeu, mais une vérité, / Où par son action je suis représenté, / […] / Il est temps de passer du Theatre aux Autels; / Si j’ay merité, qu’on me mene au Martyre; / Mon roole est achevé, je n’ay plus rien à dire. (VSG, IV,7,122-123). Durch das Theater wird Genest sich seiner von Gott zugewiesenen Rolle im Theatrum mundi bewusst und spielt diese zu Ende. Die Dramaturgie des Spiels im Spiel zeigt auch die Funktion des Theaters im 17. Jahrhundert: Es unterhält den Herrscher und den Hof und übt Macht aus auf die menschliche Seele (I,3,67-68). Als Sprachrohr Rotrous erklärt Genest seine Vorliebe für das Theater der „Alten“; mit Plautus, Terenz und den Griechen sind die jüngeren Autoren („les récents“) nicht vergleichbar (I,3,69). Rotrous Tragödie spiegelt auch die Theaterpraxis des 17. Jahrhunderts wider: Vor der Aufführung, die durch ein intermède unterbrochen wird, werden Kostüme und das Bühnenbild inspiziert und die Rollen geprobt. 29 In den genannten Stücken geht das „Theater im Theater“ einher mit einer Apologie des Theaters und des Schauspielerberufs. Diese Dramen gewähren Einblick in die Theaterpraxis, die gesellschaftliche Situation des Schauspielers (u. a. seine Abhängigkeit von einem Mäzen) und geben die theatertheoretische Reflexion der damaligen Zeit wieder. Die theaterapologetische Funktion dieser Theaterstücke erklärt sich aus der wachsenden kulturellen Bedeutung des Theaters im 17. Jahrhundert. Unter dem Einfluss Richelieus und aufgrund der Theaterfreudigkeit Ludwigs XIII. und vieler Fürsten erfuhren das Theater und die Schauspieler eine gesellschaftliche Rehabilitation, die die königliche Déclaration sur la professions des comédiens vom 16. April 1641 dokumentiert, welche verlangte, dass der Schauspielerberuf dem Ansehen der Komödianten beim Umgang in der Öffentlichkeit nicht schaden dürfe. Eine Sonderstellung nimmt Molières L’Impromptu de Versailles ein, das für viele Impromptus des 20. Jahrhunderts literarisches Vorbild ist. Mit diesem Metadrama antwortete Molière seinen Kritikern Donneau de Visé und Boursault, die sich in der Figur des Autors Lysidas in Molières La Critique de l’école des femmes porträtiert glaubten und im Gegenzug Zélinde ou la véritable critique de l’école des femmes et critique de la Critique (Donneau de Visé) und Le Portrait du Peintre (Boursault) verfassten. In seinem Impromptu tritt Molière in den Kulissen seines Theaters als Autor, Schauspieler, Leiter und Regisseur der Truppe auf, parodiert die Diktion der rivalisierenden Schauspieler des Hôtel de Bourgogne in ihren Rollen aus Pierre Corneilles Werken 71 und legt seine Strategie, auf die Angriffe mit einem weiteren Erfolgsstück zu reagieren, offen. Der Aufhebung der Illusion durch das „Theater im Theater“ geht das episierende Aparte Molières in der Szene mit dem Marquis fâcheux La Thorillière, der den Beginn der Probe durch neugierige Fragen zu stören versucht, voraus. Das „Theater im Theater“ besteht in der Probe eines Stücks, in dem Molière die Rolle eines Marquis spielt, der mit einem Chevalier und einem weiteren Marquis die Porträts in Molières La Critique de l’école des femmes zu entlarven versucht. Hinzu kommen drei Frauen, die in einer Diskussion über das gegen Molière verfasste Stück Le portrait du peintre die Kritikpunkte der Gegner (u.a. die ridikülisierende Porträtierung bestimmter Personenkreise in seinen Komödien) nennen, welche Molière in dem Impromptu widerlegen will. Die Probe endet, als eine der Schauspielerinnen das Spiel unterbricht und Molière auffordert, in dem Binnenstück härter gegen seine Rivalen vorzugehen. Molières Metadrama hat zugleich eine autoaffirmative, theaterapologetische und theaterpolitische Funktion. Autoaffirmativ ist sein Impromptu, da Molière darin seine Ästhetik und seine Art der Charakterdarstellung verteidigt, sich gegen Kritiker und Rivalen wehrt und sich und seine Trup- 71 Nicomède, Horace, Sertorius, Œdipe, Le Cid. 30 pe selbstbewusst darstellt. Theaterapologie ist das Drama insofern, als es die Arbeit einer in der Gunst des Königs stehenden erfolgreichen Schauspieltruppe und ihres Leiters demonstriert, der in Personalunion Autor, Schauspieler und Regisseur verkörpert. Auf den theaterpolitischen Aspekt des Stücks verweisen der Titel des Impromptu, das in Versailles für den Sonnenkönig uraufgeführt wurde, die im Text dreimalige Erwähnung, dass das Drama auf Befehl des Königs entstehe, sowie die virtuelle Präsenz des Königs in Gestalt seines Botschafters Béjart, der Molière am Ende im Auftrag des Königs für die Premiere Aufschub gewährt. Damit dokumentiert das Stück den Sieg Molières über die Konkurrenten des Theaters Hôtel de Bourgogne in der Gunst Ludwigs XIV. Marc Fumaroli hat auf die Analogie zwischen dem „microcosme comique“ des Impromptu de Versailles und dem „macrocosme solaire“ des Sonnenkönigs Ludwig XIV. hingewiesen: La situation de Molière résume en quelque sorte la situation de sa pièce, englobant le Roi et englobée par lui: il est l’Image du Roi dans le microcosme de son œuvre et de sa troupe; le Roi devient son hypostase dans le macrocosme de l’État et de la Cour. 72 Im 18. Jahrhundert erfährt das Theater in Frankreich eine Blüte, die als „théâtromanie“ 73 bezeichnet wird. Es erscheinen viele dramentheoretische Schriften, die Zahl der Theater nimmt zu, und es kommt zu einer Rivalität zwischen den vom König protegierten Bühnen Comédie Française, Théâtre Italien, Opéra und den volkstümlichen Théâtres de la Foire Saint-Germain und de la Foire Saint-Laurent. Die Pariser Oper, die das Monopol über das Musiktheater und das getanzte Theater besitzt, kämpft zunächst gegen die Théâtres de la Foire, arbeitet dann aber mit ihnen zusammen, indem sie ihnen das Recht zu singen und ein kleines Orchester zu haben einräumt. 74 Das Metadrama La Querelle des théâtres (1718) von Lesage und Lafont thematisiert diesen „Theaterkrieg“, in dem sich die Theater die Zuschauer, die Genres und die Autoren streitig machen: La Comédie Françoise: Non, non, le Public est bizarre. La Comédie Italienne: Effectivement, on ne sait comment faire pour le contenter. Il est saoul des vieilles pièces, les nouvelles les rassasient dès la première représentation. La Foire: Il est vrai que vos nouveautés passent comme des ombres. La Comédie Françoise levant les yeux au ciel: Que Paris est aujourd’hui de mauvais goût ! (QdT, Prologue). 75 72 Fumaroli 1972: 107. 73 Couty/ Rey (Hrsg.) 2 1986: 54. 74 Vgl. Rougemont 2 1996: 44. 75 In: Lesage/ D’Orneval 1968, I (vol. 1-5): 273. 31 In diesem als Prolog 76 konzipierten Stück werden die Theaterinstitutionen Comédie Française, Comédie Italienne, Opéra und das Théâtre de la Foire personifiziert, es treten Schauspieler dieser Theater und ein Tragödiendichter auf. Die Handlung spielt auf der Foire, im Saal des Opéra Comique, wo die beiden geschwächten Theater Comédie Française und Comédie Italienne erscheinen, um im Gespräch mit der Foire die Ursache des Publikumsrückgangs in ihren Häusern zu ergründen. Als Opéra, der die Cousine Foire aus finanziellen Interessen unterstützt 77 , hinzukommt, drohen sie, ihn in Stücke zu reißen und die Théâtres de la Foire zu zerstören. Doch mithilfe des Opéra gelingt es der Foire, die Truppen der beiden Comédies in die Flucht zu schlagen. La Querelle des théâtres ist ein historisches Dokument, denn 1718 beklagten die Comédiens Français in einer an den Régent gerichteten Petition das ungesetzliche Verhalten der Forains, wiesen die Forderungen des Opéra zurück und verlangten, dass ihm die Weitergabe seiner Privilegien untersagt werde. 78 In Les Funérailles de la Foire (1718), Le Rappel de la Foire à la vie (1719-1721) und L’Opéra-Comique assiégé (1730) setzen Lesage und D’Orneval dieses Thema fort und schreiben so eine Art Chronik der Pariser Theaterszene. Im Kontext des Theaterkriegs entstehen im 18. Jahrhundert zahlreiche Parodien, die vor allem in den Théâtres de la Foire Erfolge feiern. 79 Patrice Pavis definiert die Parodie im Theater als „métadiscours critique sur la pièce d’origine“ 80 . Parodiert werden die von den offiziellen Bühnen bevorzugten Gattungen tragédie, grande comédie, tragédie lyrique, ballet und opéra. Zusammen mit Fuzelier und D’Orneval schreibt Lesage mehrere Parodien für die Foire wie z.B. Arlequin Thétis (1713, Parodie der Oper Thétis et Pelée von Fontenelle und Colasse), Arlequin Endymion (1721, Parodie der Pastorale Endymion ou l’Amour vengé von Riccoboni und Biancolelli), Pierrot Romulus ou le Ravisseur poli (1722, Parodie der Tragödie Romulus von Houdar de la Motte) und Les Amours de Protée (1728, Parodie eines gleichnamigen Balletts von Joseph de la Font). 81 Die Intention dieser adaptiven Metadramen, die eine inszenierte Theaterkritik und einen Intertheatertext darstellen, ist die Rückführung der heroischen Protagonisten auf menschliche Dimensio- 76 Es dient als Prolog zu Le jugement de Pâris von D’Orneval und La princesse de Carizme von Lesage. Vgl. Grewe 1989: 287. 77 La Querelle des théâtres, Szene VI, in: Lesage/ D’Orneval 1968: 275. „L’Opéra: Hoçà, Cousine. J’ai une prière à vous faire. Avancez-moi, de grâce, un quartier de ma pension.“ 78 Vgl. Grewe 1989: 291. 79 Einige Stücke lösen im 18. Jahrhundert eine Serie von Parodien aus, vgl. Trott 2005. Manche Werke bzw. Hypotexte, wie Inès de Castro von Houdar de la Motte, werden nicht nur in Frankreich (Agnès de Chaillot), sondern auch im Ausland, z.B. in Spanien (Inesilla la de Pinto), parodiert, vgl. Mattauch 2005. 80 Pavis 2002: 243. 81 Vgl. Grewe 1989: 310. 32 nen und die Hervorhebung der Schwächen des Originalstücks. Die Parodie steht ebenfalls auf dem Programm der Comédie-Italienne, so z.B. Jean François Regnards Les Souhaits (1723). Regnard bedient sich des „Theaters im Theater“, um Racines Tragödie Iphigénie zu ridikülisieren. Die Schauspieler des Binnenstücks mokieren sich über die Tragödie, indem sie sie auf burleske Weise verändern. 82 Manfred Schmeling betont, dass die Autoren der Parodien das „Theater im Theater“ nutzen, um sich von den ernsten dramatischen Gattungen und den traditionellen Bühnen zu distanzieren, denen es an Innovation fehlt. 83 Ziel ist die Dekonstruktion der als überholt angesehenen Theaterformen, ästhetische Alternativen werden nicht aufgezeigt, man beschränkt sich auf die Kritik. Die von Schmeling vertretene These, dass selbstreflexive und parodistische Theaterformen in Zeiten auftreten, in denen althergebrachte literarische Muster die Erwartungen eines nach Neuerungen verlangenden Publikums, das mit neuen politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen konfrontiert ist, nicht mehr erfüllen, bestätigt sich in den beschriebenen Stücken: Je dirai que les formes réfléchies apparaissent à des périodes bien précises, c’està-dire au moment où la tradition littéraire coïncide avec l’horizon d’attente jusqu’à l’ennui et là où cette tradition, ressentie comme trop canonique, est dépassée par l’évolution extralittéraire, donc économique, sociale etc. Ce n’est pas sans raison que le théâtre dans le théâtre est souvent lié à la parodie, donc à une forme qui par définition cherche la confrontation, et qu’il devient porteur d’une sorte d’anti-théâtre par opposition au prétendu théâtre bourgeois. 84 Martine de Rougemont weist wie Schmeling darauf hin, dass selbst die dramatischen Neuheiten des 18. Jahrhunderts wie das drame in sogenannten „paradrames“ 85 Opfer der Parodie werden. Das in der Entstehung begriffene mélodrame wird in Michel de Cubières La Manie des Drames sombres (1777) schon parodiert. Der Dichter Prousas hat sich auf das drame sombre, einen Vorläufer des mélodrame, spezialisiert. Den Stoff für seine drames bezieht er aus der Presse, er bevorzugt Themen wie Mord, Entführung und Vergewaltigung (36-37). Prousas versucht die Hochzeit seiner Tochter Sophie mit dem Autor Sainfort, der Corneille und Racine verehrt und sich über das neue Genre, „ce bâtard de Thalie“ (41), mokiert, zu verhindern: Prousas: [...] Mais ce qui justement me fait haïr Saintfort, c’est que je l’ai vu rire aux endroits pathétiques d’un Drame le plus noir de mes Drames Tragiques, tandis qu’il est d’un beau vraiment si sépulchral, que même des Anglois par fois s’y trouvent mal. (LMdDS, 31). 82 Vgl. Schmeling 1977: 97. 83 Vgl. Schmeling 1982: 23-24. 84 Schmeling 1982: 9. 85 Rougemont (Hrsg.) 1998: 9 (Préface). 33 Sainfort beanstandet, dass Prousas in seinen drames Arme, Kranke und bürgerliches Personal auftreten lässt und Prosa statt Verse verwendet. Prousas begründet dies mit der Orientierung an der Realität, er ist ein „amant de la nature et de la vérité“ (45). Er liest Sainfort, Sophie und seiner Freundin Dorimène als „Theater im Theater“ sein Stück Le Brigand vertueux vor. Erst als Sainfort sich aus Liebe zu Sophie dem „genre sombre“ (66) zuwendet und vorgibt, Prousas Werke vor einem Brand gerettet zu haben, akzeptiert Prousas ihn als Schwiegersohn. Prousas’ „manie des drames sombres“ wird ins Lächerliche gezogen. Titel, Motto und Vorwort des Stücks offenbaren Cubières Position. Der Titel kritisiert den übertriebenen Hang zum drame sombre, das als Motto vorangestellte Voltaire-Zitat 86 attackiert „le tragique bourgeois“ und in dem Vorwort Lettre à une femme sensible betont der Autor die Vorzüge der tragédie héroïque gegenüber der tragédie bourgeoise bzw. dem drame. Sogar die neuen Theatergattungen werden im 18. Jahrhundert also in Metadramen kontrovers diskutiert. Eine andere Art der Rezeption der Vorbilder des 17. Jahrhunderts ist im Fall Molières zu beobachten, der im 18. Jahrhundert Gegenstand von Lebensbeschreibungen (z.B. Grimarest: Vie de Monsieur Molière, 1705) und Theaterstücken wird. So transponiert Louis-Sébastien Mercier Goldonis Drama Il Moliere (1751), in dem ein Fragment aus dem Tartuffe als „Theater im Theater“ erscheint, unter dem Titel Molière ou La Maison de Molière (1787) ins Französische, Cubière schreibt in Anlehnung an Voltaires idealisierende Kurzbiographie Molières (1739) das Stück La Mort de Molière (1789) und Fabre d’Eglantine bringt Le Philinte de Molière ou la suite du Misanthrope (1790) zur Aufführung, das Rousseaus Kritik an Molières Misanthrope aus der Lettre à M. d’Alembert sur les spectacles wiedergibt. 87 Darin vertritt Rousseau die These, jegliches Schauspiel sei eine Gefahr für die öffentlichen Sitten, und wirft Molière vor, die Misanthropie falsch verstanden und in der Figur des Alceste lächerlich gemacht zu haben. Fabre d’Eglantine zitiert in dem der ersten Ausgabe seines Dramas vorangestellten Prolog, einem Dialog zwischen dem Autor des Philinte, genannt Damis, und dessen Freund Acaste, Rousseaus Brief und bezeichnet ihn als ideologische Quelle seines Stücks, an der sich seine Figurenkonzeption ausrichtet: Damis: [...] Mon cher, c’est à ce livre, à son intention, / que je dois mon ouvrage & sa conception; / je le dis hautement. Si le méchant m’assiège, / qu’il sache que Rousseau lui-même me protège! (Le Philinte de Molière, Prologue, 125). Im Zuge der Infragestellung der traditionellen Theatergenres entstehen im 18. Jahrhundert neue Formen wie die von Nivelle de la Chaussée bevor- 86 „Souvent je baille au Tragique Bourgeois, Aux vains efforts d’un Auteur amphibie Qui défigure & qui brave à la fois, Dans son jargon, Melpomene & Thalie.“ (Voltaire). Zitat auf der Titelseite. 87 Vgl. Stackelberg 1992: 18 und 146-147. 34 zugte comédie larmoyante, das bereits erwähnte drame bourgeois und die Marivaux kennzeichnende comédie psychologique. Patrice Pavis 88 zählt Marivaux zu den Vertretern des Metatheaters und spricht von den „mécanismes de l’autoreprésentation“und der „autoréférentialité de l’œuvre marivaudienne“. 89 Philip Koch betont, der Ausdruck „se donner la comédie“ sei eine der wesentlichen Komponenten der Komödien Marivaux’: Indeed, even when Marivaux does not use this term or its various synonyms, the concept is implicit in all his works for ‘se donner la comédie’ contains the very essence of Marivaux’s art. 90 In Marivaux’ Komödien lassen sich eine Reihe metatheatraler Formen nachweisen, die sich aus dem Spielcharakter und dem hohen Grad an Theatralität seiner Stücke ergeben. Rollenspiel, Täuschung, Maskerade, die Verdoppelung der Fiktionsebenen und die Intervention einer Regiefigur (meneur de jeu) charakterisieren dieses Theater, das in der Tradition der Commedia dell’arte und des Barocktheaters des 17. Jahrhunderts steht. Episierendes Metatheater findet sich z.B. in L’Île de la raison ou les petits hommes in Form eines Prologs und eines als Epilog fungierenden divertissement, das in einer Publikumsadresse endet, die eine captatio benevolentiae darstellt: AU PARTERRE Partisans du bon sens, / Vous, dont l’heureux génie / Fut formé par Thalie, / Nous en croirons vos jugements. / […] / Si notre comédie / Par vous est applaudie, / Nous craindrons peu l’envie. / […]. (IR, Divertissement, 229). Das Drama handelt von acht Europäern unterschiedlicher Herkunft, die auf einer unbekannten Insel gestrandet und von Insulanern umgeben sind, die erheblich größer sind als sie. Sie erkennen, dass ihre Körpergröße dem Grad ihrer Vernunft entspricht. In dem Maße, wie sie sich ihrer Unvernunft bewusst werden, finden sie zu ihrer normalen Größe zurück. Der Prolog dient als Einleitung und als autoreferentielles Spiel, das die Illusion bricht. Die Spekulationen der fiktiven Zuschauer über den Untertitel des Stücks (les petits hommes), den ein Schauspieler aufklärt, führen die realen Zuschauer in die Thematik der zweiten Fiktionsebene ein; der Dialog des Marquis und des Chevaliers über die Vernunft und die Mentalität der Franzosen enthält in nuce die Problematik des folgenden Stücks. Die autoreferentielle Funktion zeigt sich u.a. darin, dass in dem Prolog die Erwartungshaltung eines fiktiven Publikums im Foyer der Comédie Française vor der Aufführung wiedergegeben wird. Da L’Île de la raison in der Comédie Française uraufgeführt wurde, musste das Publikum damals den explizit autoreferentiellen Charakter des Prologs wahrnehmen. Dass es sich 88 Pavis 2002: 203. 89 Pavis 1986: 191 und 445. 90 Koch 1965: 22. 35 bei dem Folgenden um eine Fiktion handelt, wird dem realen Zuschauer durch eine Bemerkung des Marquis gegenüber dem Schauspieler vermittelt: Le Marquis: Allons donc prendre nos places. Pour moi, je verrai vos hommes tout aussi petits qu’il vous plaira. (IR, Prologue, III, 210). Der fiktive Zuschauer soll sich wie der reale Zuschauer auf die Theaterkonvention einlassen. Der Schauspieler insistiert darauf, dass die in dem Stück dargestellte Realität eine künstlich geschaffene Wirklichkeit ist, die im Theater ihre Daseinsberechtigung hat. Die Figuren des Prologs erörtern das Problem der „dénégation théâtrale“, das Anne Ubersfeld definiert als le fait que le réel présent sur scène est déchu de sa valeur de vérité, renvoyé à une négativité; c’est là, mais ce n’est pas vrai; le signe est devenu négatif: c’est Jules César, mais ce n’est pas Jules César; c’est un courtisan de Louis XIV, ou un boulanger de village, ou un salon du XVI e - mais ce n’est rien de cela. 91 Marivaux wehrt sich in dem Prolog gegen Vorwürfe, die die Kritiker nach der ersten Lektüre seines Stücks (3.8.1727) bei den Comédiens-Français vor der Uraufführung erhoben. Der Mercure behauptete, das Thema der neuen Komödie Marivaux’ sei Gullivers Reisen entnommen, die im Mai 1727 auf Französisch erschienen waren. 92 Der Prolog spiegelt diese Situation wider: Der Marquis erwartet ein Plagiat von Gullivers Reisen, der Chevalier glaubt an die Originalität der Komödie. Der Schauspieler betont, das Thema sei der Fiktion entsprungen. Marivaux verteidigt sich mit dem Prolog gegen die zeitgenössische Kritik, die intertextuelle Bezüge in seiner Komödie sah. 93 In L’Île de la raison porträtiert Marivaux einen Dramenautor, denn unter den gestrandeten Europäern ist auch ein poète. 94 Der Dramatiker ist eine karikatureske Figur, eitel, lächerlich, dumm und nicht soziabel, er wird am Ende verurteilt, am Rande der Gesellschaft, in den Petites Maisons, dem Hospital für Geisteskranke, zu leben. Der Dramatiker selbst betrachtet sich als „quelque chose de très honorable“, als „homme d’esprit et bon poète“, der geistreiche Werke verfasst (IR, I,10,214). Die Beschreibung seiner bevorzugten Genres lässt darauf schließen, dass er ein Vertreter der Anciens ist und der klassischen Tradition der tragédie héroïque und der comédie de caractère folgt. Der Insulaner Blectrue stellt den poète und seine Ästhetik in 91 Ubersfeld 1981, II: 311-312. 92 Vgl. Préface de Marivaux à L’Île de la raison, in: Marivaux 1964: 208. 93 Man weiß nicht, ob Marivaux Swifts Roman gelesen hat, daher ist schwer zu entscheiden, ob seine Komödie sich an Gullivers Reisen anlehnt. Sicher fand der Roman eine breite Rezeption bei seinem Erscheinen (1726), denn er wurde kurz danach ins Französische und ins Deutsche (1727/ 28) übersetzt. 94 Im 18. Jh. bezieht sich die Bezeichnung poète auch auf den Dramatiker. Die Encyclopédie unterscheidet unter dem Stichwort poète „des poètes épiques, tragiques, comiques, lyriques, satyriques, bucoliques.“ Vgl. Diderot (Hrsg.) 1765, XII: 841-843. 36 Frage. Marivaux als Vertreter der Modernes bedient sich der Figur des poète, um die Ästhetik der Anciens zu ridikülisieren und sich von ihr zu distanzieren. 95 Zudem spielt die Darstellung des Dramenautors als „marchand de vers“ (IR, I, 10, 214) auf die gesellschaftliche Situation des Dramatikers im 18. Jahrhundert an: D’une manière générale, l’image que le théâtre donna longtemps de l’auteur est toujours ridicule; comme le Gascon, le provincial ou le musicien, le dramaturge devient un personnage de comédie, qui y étale à plaisir ses vices ou ses travers: on le peint vaniteux, jaloux, médisant, pédant, querelleur et cabaleur, et, pour ces raisons, rejeté par la bonne compagnie. 96 Neben dem Prolog finden sich in Marivaux’ Komödien metatheatrale Formen wie die Regiefigur, das Rollenspiel, das „Theater im Theater“ und der metatheatrale Diskurs. Einige Kritiker vergleichen die psychologische Komödie Marivaux’ mit einer „catalyse amoureuse“ 97 oder einer „machine matrimoniale" 98 . Damit die Katalyse sich vollzieht und die „Maschine“ funktioniert, setzt Marivaux Regiefiguren ein, die die Handlung zum Ziel führen, der Heirat. Diese Aufgabe kommt vor allem Nebenfiguren wie Eltern, Freunden und Dienern zu. Regiefiguren treten z.B. in La double inconstance, Les fausses confidences und Le père prudent et équitable auf. In La double inconstance engagiert der Prinz Flaminia, die Tochter eines Dieners, als meneuse de jeu, um die Gunst Silvias zu erringen. Flaminia inszeniert eine Komödie, in der sie den Rivalen des Prinzen, Arlequin, verführt, Treffen zwischen Silvia und dem Prinzen arrangiert und eine Doppelhochzeit bewirkt. Noch raffinierter agiert Dubois in Les fausses confidences. Er ist ein valet d’intrigue, der seinem ehemaligen Herrn Dorante, der sich in seine neue Herrin Araminte verliebt hat, zur Heirat verhilft. Die Figuren handeln gemäß dem Szenario von Dubois, der die Handlung entwirft und antizipiert: It is by virtue of his ability to anticipate the actions and reactions of the other characters that Dubois resembles the playwright. 99 Um sein „projet” (FC, I,2,447) zu realisieren, setzt er das Umfeld von Araminte (Monsieur Rémy, Marton, Arlequin), falsche Mitteilungen gegenüber Araminte (I,14; II,12; III,9), ein Porträt und ein Bild Aramintes sowie einen falschen Brief Dorantes ein. Er manipuliert die Figuren und spielt selbst ein Doppelspiel, in dem er sich hinter der psychologischen Maske (la feinte, le 95 Die Satire auf die Anciens ist noch ausgeprägter in dem Dialog zwischen Trivelin und Frontin in der ersten Szene der Komödie La Fausse Suivante. 96 Lagrave 1992: 304-305. Erst 1777 mit der von Beaumarchais initiierten Gründung der Société des auteurs dramatiques nehmen die Rechte und die gesellschaftliche Anerkennung der Dramenautoren zu. 97 Boucher 1985: 2. 98 Deguy 1981. 99 Trott 1970: 270. 37 mensonge) versteckt. Dank seiner Vorstellungskraft gelingt die Eroberung Aramintes: Dubois: Ouf, ma gloire m’accable, je mériterais bien d’appeler cette femme-là ma bru. (FC, III,13,467). Dieser letzte Kommentar des Dieners zeigt seine leitende und fast väterliche Rolle, er ist Schauspieler, Autor und Zuschauer seiner Intrige und gleicht einem Alter Ego des Autors Marivaux. Patrice Pavis erkennt ihm einen „statut de personnage et de métapersonnage‘’zu, die Figur Dubois […] en tant que figure autotextuelle et autoréférentielle, thématise les débuts d’une conscience malheureuse du langage, d’une réflexion sur la littérature dans la littérature même […]. 100 Die Duplizität der dramatis personae Marivaux’ zeigt sich auch in Komödien wie Le jeu de l’amour et du hasard, La fausse suivante und Le triomphe de l’amour. Das Rollenspiel ist hier strukturbestimmend. In Le jeu de l’amour et du hasard geht die soziale Maske einher mit der physischen Maske, der Verkleidung. In den ersten Szenen wird das Publikum über die vierfache Kostümierung informiert und ist auf dem gleichen Stand wie die Zuschauerfiguren Mario und Monsieur Orgon, ein Effekt dramatischer Ironie. Dorante und Silvia, von ihren Eltern füreinander bestimmt, tauschen mit den Dienern Arlequin und Lisette Rang und Kleidung, um einander zu begutachten. Da keiner die Taktik des anderen kennt, finden sich Diener und Herren auf gleicher Ebene wieder und das Doppelspiel führt zur Heirat. In La fausse suivante und Le triomphe de l’amour nehmen die Protagonistinnen mehrere Rollen an und verkleiden sich u.a. als Mann, was bei den Anciens als Verstoß gegen die bienséance galt. Die Potenzierung des Rollenspiels in diesen Komödien zeigt das für das Rokoko typische Spiel mit Masken und Identitäten. Das „Theater im Theater“ erscheint bei Marivaux in dem fiktionalen Metadrama Les acteurs de bonne foi. Ort der Rahmenhandlung ist das Landhaus Madame Argantes. Madame Amelin schlägt ihrem Neffen Eraste vor, eine Komödie aufzuführen, um Madame Argante zu überraschen und seine Verlobung mit Angélique, Madame Argantes Tochter, zu feiern. Eraste beauftragt seinen Diener Merlin, das Stück zu inszenieren. Merlin engagiert als Schauspieler seine Verlobte Lisette, Blaise, den Sohn des Pächters von Madame Argante, und Colette, Blaises Geliebte. Die Rahmenhandlung beginnt damit, dass Merlin seinem Herrn mitteilt, dass die Komödie um drei Uhr nachmittags beginne und man aus dem Stegreif spielen werde. Merlin fügt hinzu, er und Colette würden ihre Partner auf die Probe stellen, indem sie beide ein Liebespaar abgäben. Die Binnenhandlung entspricht der Probe einer Komödie über Liebe und Unbestän- 100 Pavis 1986: 317. 38 digkeit, gespielt von Laienschauspielern. Merlin ist Autor, Schauspieler und Regisseur der Komödie in der Komödie, für die er in der Tradition der Commedia dell’arte die Gattung des Impromptu wählt: Merlin: Nous jouerons à l’impromptu, Monsieur, à l’impromptu. […] Oui. Je n’ai fourni que ce que nous autres beaux esprits appelons le canevas; la simple nature fournira les dialogues, et cette nature-là sera bouffonne. (ABF, I,1,559). Den Plot und die Charaktere des „psychodrame” 101 erklärt Merlin seiner Truppe: Merlin: [...] dans le plan de ma pièce, vous ne sortez point de votre caractère, vous autres: toi [Lisette], tu joues une maligne soubrette à qui l’on n’en fait point accroire, et te voilà ; Blaise a l’air d’un nigaud pris sans vert, et il en fait le rôle; une petite coquette de village et Colette, c’est la même chose; un joli homme et moi, c’est tout un. Un joli homme est inconstant, une coquette n’est pas fidèle: Colette trahit Blaise: je néglige ta flamme. Blaise est un sot qui en pleure, tu es une diablesse qui t’en mets en fureur; et voilà ma pièce. […] (ABF, I,1,559). In diesem Spiel behält jede Figur ihren Namen und ihren Charakter, ist aber mit einem fiktiven Konflikt mit dem realen Partner konfrontiert. Die Theaterprobe artet wegen Lisettes und Blaises realer Eifersucht in einen Streit aus, den Madame Argante bemerkt. Eraste setzt sie in Kenntnis, aber sie meint, die geplante Komödie sei ihrem Alter nicht angemessen, und ordnet an, das Projekt zu beenden. Madame Amelin will sich rächen und inszeniert ein Rollenspiel, in das sie nur Araminte einweiht. Madame Argante, Eraste und Angélique übernehmen darin ahnungslos die Rollen, sie sind „acteurs de bonne foi“. Madame Amelin gibt vor, die Hochzeit Erastes mit Angélique nicht zu billigen und zu verlangen, Eraste möge die reiche Witwe Araminte heiraten. Daraufhin zwingt Madame Argante Merlin und seine Truppe, das Impromptu aufzuführen, und will mitspielen. Merlin nimmt die Probe wieder auf, aber Blaise und Lisette widersetzen sich. Der Notar bringt einen Heiratsvertrag. Madame Argante und Eraste weigern sich zu unterzeichnen; erst als der Notar darauf hinweist, dass der Vertrag auf die Namen Eraste und Angélique ausgestellt ist, gibt Madame Amelin ihre „feinte“ auf und lässt den Vertrag unterschreiben. Die Rahmenhandlung endet mit der Versöhnung aller Figuren und der Aufforderung Madame Argantes, das Ende abzukürzen. Die Komödie Les acteurs de bonne foi enthält zwei Fiktionsebenen, die Rahmen- und die Binnenhandlung. Der Ort der Handlungen ist identisch, es gibt keine Bühne auf der Bühne, die Bühne des Binnenspiels wird definiert durch den Blick der jeweiligen Bühnenzuschauer, die sich um die Bühnenakteure herumsetzen. Gemäß der Typologie von Schmeling 102 gehört das Drama zu dem Typ von „Theater im Theater“, in dem die Prota- 101 Mancel 1987: 9. 102 Vgl. Schmeling 1982: 10. 39 gonisten teilweise auf beiden Fiktionsebenen identisch sind, sodass ein permanenter Wechsel von einer zur anderen Ebene entsteht: Lisette: Ce que j’aime de ta comédie, c’est que nous nous la donnerons à nousmêmes […]. (ABF, I,2, 559). Dies zeigt sich deutlich in der dramaturgischen Struktur des Stücks. Die Zeit der Probe des Impromptu erstreckt sich über die Szenen I,3, I,4 und I,5. Die Binnenhandlung weist keine lineare, sondern eine fragmentarische Struktur auf. Die Fragmente bilden Parenthesen im Ablauf der Rahmenhandlung, die zu Beginn länger sind und mit Zunahme der Unterbrechungen kürzer werden. Diese Dekomposition des „Theaters im Theater“ hat Folgen für die Rezeption: Während der Leser dank der Regieanweisungen Rahmen- und Binnenspiel stets erkennen kann, hat der Zuschauer durch den ständigen Wechsel das Problem, die erste und die zweite Fiktionsebene zu unterscheiden. Dies ist einerseits durch den Probencharakter und das Stegreifspiel bedingt, andererseits sind die Figuren Laienschauspieler und können Illusion und Realität schlecht trennen, sodass sie sich mit den Rollen identifizieren und eine kontinuierliche Verflechtung der beiden dramatischen Ebenen bewirken. Angesichts der Komplexität der Struktur der Komödie stellt sich die Frage nach der Funktion dieser Form des „Theaters im Theater“. Es handelt sich um ein fiktionales Metadrama, denn die Binnenhandlung wird von Merlin erfunden und verweist nicht auf eine bekannte Vorlage. In den Augen der dramatis personae hat die geplante Aufführung zwei Funktionen: Madame Amelin sieht darin ein „divertissement“ (ABF, I,1,559), mit dem sie ihre eigene Freude am Schauspiel befriedigen und Madame Argante, Eraste und Angélique unterhalten will. Merlin verknüpft dieses divertissement mit einer Intrige, um Lisettes und Blaises Liebe zu prüfen, und weist dem Binnenstück damit eine psychologische Funktion zu. Beinahe wird diese Komödie zur Tragödie, weil für Lisette und Blaise Fiktion und Realität verschwimmen: Merlin: [...] Ils voulaient sauter du brodequin au cothurne, et je vais tâcher de les ramener à des dispositions moins tragiques. (ABF, I,6, 563). Für Lisette und Blaise wird das divertissement zum existentiellen Konflikt, sie weigern sich ihre Rolle zu spielen und bringen das Projekt zum Scheitern. Hier scheint die These Diderots vorweggenommen, die auch schon François Riccoboni in Art du Théâtre (1750) vertritt, nach der jegliche emotionale Beteiligung des Schauspielers die Qualität seines Spiels beeinträchtigt. Aus Sicht des Zuschauers hat das „Theater im Theater“ eine autoreferentielle Funktion, denn Les Acteurs de bonne foi deckt die Mechanismen des Theaters auf. Das Stück erinnert an Molières L’Impromptu de Versailles, nimmt aber auch Bezug auf einen bestimmten Typ von Theater, der im 18. 40 Jahrhundert verbreitet war: das théâtre de société oder théâtre privé et amateur. Aristokraten und Bürgerliche spielten damals Theater im privaten Kreise. In Les Acteurs de bonne foi bildet Marivaux das Großbürgertum ab, das sich von einer Amateurtruppe aus Dienern und Bauern eine Komödie vorspielen lässt. 103 Merlin erscheint wie ein „délegué de Marivaux dans la pièce“ 104 , er ist métapersonnage und Spiegelbild des Autors. Wie Marivaux folgt er mit seinem Impromptu der Commedia dell’arte; seine erste Komödie basiert auf den für Marivaux’ Theater grundlegenden Begriffen amour, inconstance, épreuve und problematisiert die Beziehung des Schauspielers zu seiner Rolle. Die Figuren unterscheiden nicht zwischen personne und personnage, sie sind „acteurs de bonne foi“, die die „bouffonnerie“ für „vérité“ halten: Blaise: Et par-dessus, on se raille de ma personne dans cette peste de jeu-là, noute maîtresse; Colette y fait semblant d’avoir le cœur tendre pour Monsieur Merlin, Monsieur Merlin de li céder le sien; et maugré la comédie, tout ça est vrai, noute maîtresse; car ils font semblant de faire semblant, rien que pour nous en revendre […]. (ABF, I,12,566). Die Aufhebung der Grenze zwischen Spiel und Realität, die Interferenz zwischen Schein und Sein, erinnert an Pirandello 105 , doch klärt sich bei Marivaux diese Grenze stets am Ende: Die tatsächlich Verliebten finden sich und die Ordnung ist wiederhergestellt. Das dramatische „Selbstbewusstsein“ der Figuren äußert sich bei Marivaux nicht nur in ihrem theatralen Verhalten, es zeigt sich auch in ihrer von Theaterausdrücken durchzogenen Sprache. Diese Theatermetaphorik ist in Marivaux’ Komödien, Romanen und journaux zu finden. Phraseologismen wie z.B. jouer un rôle, jouer un personnage, porter un masque und faire semblant de und die Ausdrücke acteur, comédien und spectateur kehren immer wieder in Marivaux’ Komödien. Die Wendung se donner la comédie und ihre Varianten haben eine hohe Frequenz. Der Theaterjargon ist ein konstitutives Element des Vokabulars der Figuren Marivaux’, die Welt ist für sie eine Bühne, auf der jeder seine Rolle spielt in der gesellschaftlichen Komödie. Der Theatrum mundi-Begriff des Barocks ist säkularisiert, die Menschen sind nun Akteure und Zuschauer der Komödie, die sie sich gegenseitig vorspielen. Wie die untersuchten Dramen zeigen, hat das Metatheater im 18. Jahrhundert eine soziologische, theaterpolitische und theaterkritische 103 Vermutlich hat Marivaux diese Komödie für ein théâtre de société geschrieben, zu seinen Lebzeiten wurde sie jedenfalls nicht auf einer offiziellen Bühne aufgeführt. Vgl. Scherer im Kommentar zu Les Acteurs de bonne foi, Marivaux 1964: 558. 104 Le Marinel 1983: 99. 105 Scherer 1960: 42. „ [...] c’est dans les étonnants Acteurs de bonne foi que s’épanouissent de la manière la plus pirandellienne le jeu dans le jeu et la prise de conscience du jeu.“ 41 Funktion. Die soziologische Funktion ist besonders in den Komödien Marivaux’ nachzuweisen, dessen Figuren mit sozialen Rollen experimentieren, die Wirklichkeit inszenieren und die Theatralität des Rokoko reflektieren. In Les Acteurs de bonne foi und L’Île des esclaves dokumentiert Marivaux zugleich die Theaterpraxis und die Situation des Dramatikers im 18. Jahrhundert und verweist damit auf sich selbst. Eine theaterpolitische Funktion erfüllen die Stücke des „Theaterkriegs“ von Lesage, Lafont, D’Orneval, Fuzelier und Regnard, die Ausdruck des Protests gegen die offiziellen subventionierten Bühnen und deren kanonisiertes Theaterrepertoire sind. Theaterkritisch sind diese Dramen insofern, als sie eine inszenierte Theaterkritik an den traditionellen Theaterformen darstellen, welche die Autoren mittels der Parodie dekonstruieren. Dass selbst neue Theatergattungen wie das entstehende drame in La manie des drames sombres und in den paradrames parodiert werden, belegt, dass das französische Theater des 18. Jahrhunderts nach neuen Formen und Funktionen des Theaters sucht. Manfred Schmeling weist darauf hin, dass im 19. Jahrhundert das Metatheater wegen der bevorzugten realistischen und naturalistischen Darstellung der Wirklichkeit kaum vertreten ist: Ce n’est qu’après une assez longue période d’interruption que le théâtre dans le théâtre réapparaît vers 1900. Cette absence était surtout due aux principes d’une conception dramatique qui se nourrissait des idées aristotéliciennes sur la mimesis. […] Il est évident qu’un théâtre cherchant l’illusion totale, c’est-à-dire une imitation parfaite de la réalité, n’était pas propre à mettre en scène - à l’intérieur du procès dramatique - les conditions médiatrices et esthétiques du jeu, les rapports entre l’auteur et son œuvre, entre la pièce et son public, entre l’acteur et son rôle etc. 106 Einige französische Dramen des 19. Jahrhunderts, in denen das Theater sich selbst zum Gegenstand macht, relativieren diese These jedoch. Dazu zählen Casimir Delavignes Verskomödie Les Comédiens (1819), das drame Kean ou désordre et génie (1836) von Alexandre Dumas Père, das Melodrama La vie d’une comédienne (1854) von Auguste Anicet-Bourgeois und Théodore Barrière sowie Edmond Rostands heroische Komödie Cyrano de Bergerac. Wie es die ersten drei Titel suggerieren, steht der Schauspieler im Mittelpunkt, doch die Figur des Dramenautors und des Dichters ist ebenfalls präsent. Episierende metatheatrale Formen wie Prolog und Publikumsadresse kommen vor, stellenweise auch das „Theater im Theater“. Casimir Delavignes Komödie Les Comédiens spielt in Bordeaux. Sie beginnt mit einem Prolog, in dem der pensionierte Schauspieler Derville und der Schauspieler Dallainval auf einem öffentlichen Platz über das am Abend im Second Théâtre Français auf dem Programm stehende Stück Les Comédiens sprechen. Derville zweifelt an der Qualität eines Stücks, in dem man sich auf Kosten der Schauspieler amüsiert. Dallainval, der gerade 106 Schmeling 1982: 47. 42 seine Rolle probt, meint, das Publikum werde ihnen die Absicht, die Schauspieler in all ihren Facetten zu zeigen, danken. Er verteidigt die Wahl und die Neuartigkeit des Stücks, garantiert, man werde niemanden (d.h. keine realen Personen) wiedererkennen, und umreißt die Thematik: Dallainval: [...] Ne répétez-vous pas sans cesse que tous les sujets de comédie sont épuisés, qu’il n’y a plus de caractères? Vous voyez cependant que celui du Comédien reste encore à traiter! […] Un tableau fidèle doit tout peindre! …le bon et le mauvais côté. Chez nous aussi il est de rares vertus et d’estimables qualités […] Je ne prétends pas non plus dissimuler nos côtés faibles! Nous avons bien aussi nos petits travers; […] il pourrait bien être question dans la pièce nouvelle de nos petits démêlés, de nos prétentions dramatiques, de nos tournées départementales. (LCo, Prologue, 98-99). Derville glaubt nicht, dass die Schauspieler gut spielen werden, er droht, pensionierte und aktive Schauspieler zusammenzurufen, um während der Vorstellung im Parterre Protestbekundungen zu organisieren. Der Prolog nimmt die potentielle Kritik des Publikums an der Selbstbespiegelung und an einer ridikülisierenden Darstellung der Schauspieler vorweg und versucht sie in dialektischer Weise zu widerlegen. Er endet mit einer Publikumsadresse, in der Dallainval die Intention und die Funktion der Komödie erklärt, in der Missstände aufgedeckt werden sollen: Dallainval, au public: [...] vous tous, que depuis trois siècles nous avons le privilège d’amuser à vos dépens, permettez-nous de vous amuser ce soir aux nôtres. […] l’ouvrage que nous allons avoir l’honneur de présenter devant vous est une espèce de proclamation, un manifeste dramatique que nous vous adressons; car attaquer les abus, c’est prendre, autant que possible, l’engagement de s’en garantir. (LCo, Prologue, 102). Der nun folgende Fünfakter gewährt einen Blick hinter die Kulissen eines französischen Provinztheaters im 19. Jahrhundert. Der reiche Erbe Granville, der auf Wunsch seines verstorbenen Onkels seine Cousine, die Schauspielerin Lucile, heiraten soll, erfährt durch einen Zeitungsartikel, dass das Ministerium einen „inspecteur-général des théâtres de province“ (I,1,103) ernannt hat, der inkognito die Provinztheater überprüft. Granville will diese Rolle spielen und verschafft sich mithilfe seines Freundes Belrose, der am Theater Dienerrollen spielt, Zugang zu der Theatertruppe, der Lucile angehört. Belrose verspricht, ihn unerkannt einzuführen, über Missstände zu informieren und erbittet dafür Unterstützung bei seinem Schauspieldebüt in Paris. Er stellt Granville Floridore, dem „jeune premier“ und Leiter des „comité dirigeant“ der Schauspieler, als Dramenautor vor, besorgt ihm ein Manuskript und überzeugt ihn davon, die Schauspieler mit einer Einladung zum Abendessen für sich zu gewinnen. Lucile liebt den Dramatiker Victor, dessen Stück Les comédiens am selben Abend Premiere hat. Luciles Vater Bernard, Mitglied des Leitungskomitees, verlangt zur materiellen Absicherung seiner Tochter einen Publi- 43 kumserfolg, ehe er der Hochzeit zustimmt. Bernard besorgt für Victor 40 Karten, die er an Claqueure vergeben soll, und rät ihm, sich der Unterstützung einiger Journalisten zu vergewissern. Victor widersetzt sich, der gekaufte Erfolg bedeutet ihm nichts. Als er die Nachricht erhält, der königliche Zensor habe sein Stück einbehalten, will er mit ihm sprechen. Das Gremium der Schauspieler tagt, um über das Stück des Autors Florbel abzustimmen. Granville und Belrose unterbrechen die Sitzung. Floridore spricht sich für Granvilles Manuskript aus, die übrigen stimmen zu. Victor wird abgewiesen, die Schauspieler geben ihm ihre Rollen zurück. Granville macht Lucile einen Antrag, doch sie steht zu Victor. Granville gibt sich Victor als „inspecteur“ zu erkennen und erklärt, er habe in seinem Drama Anspielungen und Porträts bemerkt, die bedeutende Personen kränken könnten. Victor fragt ihn, ob man sein Stück spielen werde, wenn er diese Figuren streiche. Granville vermutet dies, Victor ist jedoch zu Korrekturen nicht bereit. Als selbst Bernard sich nicht für ihn einsetzt und Lucile von ihm fernhält, schwört Victor dem Theater ab. Dank der Schauspielerin Estelle, die vorgibt, Baronin und Autorin von Victors Komödie zu sein, soll das Stück auf Initiative ihres Verehrers Lord Pembrock, der 30 Karten für Claqueure erwirbt, doch gespielt werden. Victor will die Aufführung nicht genehmigen, Belrose ermuntert ihn aber, Floridore erneut um die offizielle Aufführungserlaubnis zu bitten. Floridore lehnt ab, da greift Granville als Inspektor ein und weist Floridore an, das Stück aufzuführen. Victor gibt den Schauspielern letzte Ratschläge. Während der Aufführung verfolgt Victor hinter den Kulissen die Spielweise der Schauspieler. Madame Blinvals Ehemann kritisiert Victors Komödie. Lord Pembrock entdeckt die Täuschung und will das Stück auspfeifen lassen, doch Victor hält ihn zurück. Das Stück hat Erfolg, Pembrock reist ab und Floridore gratuliert Victor. Victor und Lucile dürfen heiraten. Granville, der sich nun als ihr Cousin zu erkennen gibt und sich für seine „fiction“ entschuldigt, vererbt ihnen 200 000 Francs. Delavignes Metadrama thematisiert das Leben und die Konkurrenz der Schauspieler an einer Provinzbühne und zeigt die problematische Beziehung zwischen den Schauspielern und dem Dramenautor, der im 19. Jahrhundert den Proben beiwohnte und Korrekturen in seinem Text je nach Wunsch der Schauspieler hinnehmen musste. Louis Arsac beschreibt die Zusammenarbeit von Theaterdirektor, Schauspielern und Autor im 19. Jahrhundert wie Delavigne als konfliktreich: On répétait généralement de onze à deux heures; la notion de metteur en scène est absente ou pour mieux dire vacante stricto sensu et c’était le régisseur qui officiait. Directeur, comédiens et auteur sont présents ainsi que… le texte qui lui, restera rarement en l’état et aura à subir des remaniements, voire des coupes 44 sombres. De là, une certaine mythologie du théâtre quant aux rapports parfois houleux qu’entretiennent dramaturges et acteurs. 107 Die Auswahl der eingegangenen Stücke obliegt in Les Comédiens einem Leitungskomitee der Schauspieler, in dem Floridore das Sagen hat, der, wie Victor kritisiert, etliche neue Dramen in verstaubten Kartons begraben habe (IV,5,182). Die Schauspieler sind abhängig von der Gunst einflussreicher Persönlichkeiten. Estelle verspricht sich von der Heirat mit Pembrock einen sozialen Aufstieg und setzt den Lord gezielt ein, um Victors Stück zur Aufführung zu bringen. Belrose setzt auf Granville, der sein Pariser Debüt fördern soll. Estelle nutzt ihre Bekanntheit als Schauspielerin, um Autoren und neuen Stücken zum Erfolg zu verhelfen: Belrose: […] C’est peu: vive en intrigue et coquette à l’excès, elle aime tous les arts, poursuit tous les succès, protège les auteurs, arrange les querelles, rend visite aux journaux pour les pièces nouvelles. (LCo, I,V,114). Delavigne hebt die Abhängigkeit der Schauspieler und des Autors vom Publikum hervor. Die claque war im 19. Jahrhundert für den Erfolg eines Theaterstücks, des Autors und der Schauspieler entscheidend: [...] celle [l’instance] qui joue un rôle fort déterminant, c’est la claque. Chaque théâtre dispose de la sienne propre et le chef de claque est un personnage reconnu et respecté. Qu’un comédien se heurte à la claque et il est assuré d’un échec personnel. Les auteurs flattent cette corporation à coups de compliments mais plus sûrement à coups de billets. 108 Les Comédiens zeigt diese Praxis: Bernard rät Victor, Theaterkarten an Claqueure zu verteilen: Bernard: De ses admirateurs sans peupler une salle, on doit tout doucement préparer le succès. Vous pouvez disposer de quarante billets; je les ai demandés. Victor: Et moi, je les refuse. (LCo, II,1,129). Auch Pembrock wird von Madame Blinval aufgefordert, 30 Karten zu vergeben, um den Applaus zu sichern (IV,1,172). Victor lehnt solche Manipulationen ab, ist aber abhängig vom Votum des Leitungskomitees, vom Publikum und von der Zensur. Erst mithilfe des vermeintlichen Inspektors Granville bringt er sein Stück zur Aufführung. Granville sieht in der Zensur und der öffentlichen Kritik eine Ursache für den Niedergang der Kunst: Granville: […] Des sots de tous les rangs la ferveur politique transforme le parterre en arène publique; attaquez nos penseurs, vos vers sont trop méchants; bernez-vous un marquis, la noblesse est aux champs. L’auteur intimidé perd son indépendance, le naturel s’enfuit, l’art tombe en décadence; l’ennui règne, et j’enrage, à ne rien déguiser, de voir que les Français ont peur de s’amuser. (LCo, I,7,122-123). 107 Arsac 1996: 27. 108 Arsac 1996: 28. 45 Granvilles Kritik an der Zensur erklärt sich aus der Verschärfung der Zensur in Frankreich seit dem Décret du 8 juin 1806, das bis 1835 galt und dessen Auswirkungen Jacques Boncompain und Michel Corvin beschreiben: [...] le décret du 8 juin 1806: la censure redevient un des rouages avoués et officiels de la machine gouvernementale, avec une commission de censure et non plus un individu: ‘Aucune pièce ne pourrait être jouée sans l’autorisation du ministère de la Police générale (article 4) ‘. 109 So bezeichnet Blinval Victors Drama als zu bürgerlich und wirft ihm vor „pour des gens du commun“ zu schreiben: Blinval: [...] Dans votre pièce enfin la bourgeoisie abonde. Pas un comte, un marquis, pas un petit baron, pour ennoblir un peu…. (LCo, V,3,194). Victor verteidigt seine bürgerlichen Figuren und plädiert für ein Theater der Wahrheit, wie Molière will er ein „peintre fidèle“ der Wirklichkeit sein: Victor: [...] Le théâtre avant tout veut de la vérité. (LCo, III,11,164). […] Victor: […] Intérêt, vérité, naturel sans bassesse, voilà pour le public les titres de noblesse. (LCo, V,3,195). Seine Ästhetik beschreibt Victor mit der Devise „Aimons les nouveautés en novateurs prudents“ (LCo, III, 11,165); er spricht sich für gemäßigte Neuerungen aus und vertritt damit die Position Delavignes, der als Vertreter des juste milieu gilt. Der Literat solle sich in seiner Sphäre bewegen, das Institut (d.h. die Académie Française) und nicht das Ministerium bzw. die politische Karriere solle er anstreben (LCo, III,11,165). Das Porträt des Dramenautors Victor trägt autobiographische Züge. Delavigne machte als junger Dramatiker ähnliche Erfahrungen wie Victor, denn sein Stück Les vêpres siciliennes wurde von den Comédiens-Français anfangs in einer réception à correction behandelt, was einer Ablehnung gleichkam. 110 Erst 1819 wird Les vêpres siciliennes mit Erfolg am Théâtre de l’Odéon aufgeführt. 1825 wird Delavigne Mitglied der Académie Française. Les Comédiens verbindet als polymorphes Metadrama Formen des episierenden, des figuralen und des fiktionalen Metadramas. Der Prolog und die Publikumsadresse dienen als epischer Kommentar der zweiten Fiktionsebene, rechtfertigen die Autoreferentialität der Komödie mit der Neuartigkeit des Sujets „Schauspieler“ und erklären die theaterkritische Funktion des Stücks, das Missstände im Theaterbetrieb aufdecken soll. Das Rollenspiel Granvilles, der sich als „inspecteur“ und als „auteur“ ausgibt, poten- 109 Boncompain/ Corvin in Corvin 1995: 164, Stichwort Censure au théâtre. 110 „Il avait à peine terminé ses études, que, selon l’usage, il fait une tragédie; il court la présenter aux Comédiens-Français; on le traite comme un jeune homme échappé du collège; on l’accueille avec dédain, on l’écoute à peine, et sa pièce obtient seulement les honneurs d’une réception à correction, réception qui équivaut à un refus.” Évariste Dumoulin: Examen critique des Comédiens, Nachwort zu Les Comédiens, 213. 46 ziert die Fiktion auf der figuralen Ebene, die professionellen Schauspieler werden Opfer der „fiction“ des Laienschauspielers Granville. Das „Theater im Theater“ erscheint nicht als Einlage, sondern als Hintergrund der in den Kulissen spielenden Haupthandlung (IV,7,189 bis V,8,203). Vor und nach dem Auftritt besprechen die Schauspieler mit Victor Schwierigkeiten während der Aufführung (verpasster Auftritt, vergessener Text etc.), Victor weist sie an und kommentiert mit Blinval und Pembrock den Verlauf der Aufführung und die Reaktion des Publikums. Theatergeschichtlich ist Delavignes Komödie insofern interessant, als sie die Produktionsbedingungen eines Theaterstücks im 19. Jahrhundert thematisiert, d.h. die Verwaltung eines Theaters (ähnlich der der Comédie Française), den Einfluss der Schauspieler auf den Spielplan, die Konflikte zwischen Autor und Schauspielern, die Mechanismen der Korruption (Dîners mit Schauspielern, Manipulation des Publikums durch Freikarten für Claqueure, Beeinflussung der Journalisten) und die Bedeutung der Zensur für das Theater und die Autoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stehen bei Delavigne die Schauspieler als Truppe im Mittelpunkt, so konzentriert sich Alexandre Dumas Pères Kean ou désordre et génie (1836) auf den Schauspieler als Individuum. Dumas zeigt Ausschnitte aus dem Leben des englischen Schauspielers Edmund Kean (1787-1833), der wegen seiner Shakespeare-Interpretationen und seines abenteuerlichen Lebens berühmt war. Kean, damals dargestellt von dem bekannten Frédérick Lemaître, befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere, hat Zugang zu adligen Kreisen und wird von drei Frauen begehrt: Ketty, einem Mitglied seiner ehemaligen Gauklertruppe, der Bürgerlichen Anna Damby und Eléna, der Gattin des dänischen Botschafters Graf von Koefeld. Bei einer Soiree des Botschafters heißt es, Kean habe Anna am Tag ihrer Hochzeit mit Lord Mewill entführt. Kean erscheint und beweist der Gräfin mit einem Brief Annas seine und Annas Ehrenhaftigkeit. Auf der Rückseite des Briefs bittet er Eléna, die er liebt, um ein Rendezvous in seiner Theaterloge. Anna wendet sich an Kean, weil sie Schauspielerin werden will. Kean rät ab und schickt sie zu ihrer Tante, wo er sie vor Lord Mewill, der Anna ihres Geldes wegen heiraten will, sicher glaubt. Anna folgt Kean in eine Taverne, in die Mewill sie mit einem fingierten Brief Keans gelockt hat. Kean entlarvt den maskierten Mewill und fordert ihn zum Duell, aber der Adlige weigert sich, sich mit einem Schauspieler zu schlagen. Bei dem Rendezvous in Keans Loge werden Eléna und Kean vom Grafen von Koefeld und dem Prinzen von Wales gestört. Eléna flieht und vergisst einen Fächer, den der Graf findet. Kean gesteht dem Prinzen, seinem Mäzen und Rivalen, seine Liebe zu Eléna und bittet ihn, sich von ihr fernzuhalten. Als er danach als Romeo auf der Bühne steht, bemerkt er den Prinzen in Elénas Loge, entlädt seinen Zorn in einer Tirade gegen den Nebenbuhler und bricht zusammen. Eléna bittet Kean zu fliehen und erklärt ihre Liebe für 47 einen Irrtum. Kean erkennt, dass diese Liebe keine Zukunft hat. Der Graf zieht Kean wegen des Fächers zur Rechenschaft, der Prinz aber entlastet Kean und bewahrt ihn durch die Verbannung ins Exil vor dem Gefängnis. Kean beschließt Anna zu heiraten und ihr ans Theater nach New York zu folgen. Die Figur Kean orientiert sich deutlich an ihrem historischen Vorbild Edmund Kean, der anfangs einer fahrenden Schauspieltruppe angehörte, am Drury Lane Theatre in London in Shakespeare-Rollen Erfolge feierte und zwei Tourneen nach Amerika machte. Auch er wurde wegen seines unsteten Lebenswandels verfolgt. Dumas Père führt Kean als verschuldeten, skandalumwitterten Frauenhelden ein (I,2,226). Gräfin Amy warnt Eléna vor Kean, der als Schauspieler nicht gesellschaftsfähig sei und einen schrecklichen Ruf habe: Eléna: [...] Et pourquoi n’aimerait-on pas Kean? Amy: - Mais, d’abord, parce que c’est un comédien, et que, ces sortes de gens n’étant pas reçus dans nos salons… Eléna: - Ne doivent pas être reçus dans nos boudoirs… (K, I,1,225). Eine Einladung Koefelds erhält Kean, weil er die adlige Gesellschaft wie ein Narr unterhalten soll: Le Comte: [...] Le prince royal l’invite bien! D’ailleurs, inviter, inviter comme on invite ces messieurs, en qualité de bouffon: nous lui ferons jouer une scène de Falstaff après le dîner… Cela nous amusera, nous rirons. (K, I,3,228). Die soziale Kluft zwischen dem Adel und dem berühmten Schauspieler, der die Damen der noblesse verführt, ist unüberbrückbar: Amy: [...] et serait-il vrai que certaines grandes dames ont eu la bonté, vraiment inouïe, de l’élever jusqu’à elles? Le Prince: Oh! c’est une erreur! elles ne l’ont point élevé jusqu’à elles, elles sont seulement descendues jusqu’à lui! … ce qui est fort différent, ce me semble. (K, I,4,231). Einen sozialen Aufstieg ermöglichen Kean die Gunstbeweise adliger Damen nicht. Vergeblich versucht er, vom Adel akzeptiert zu werden: Lord Mewill demonstriert ihm die Distanz zwischen einem Adligen und einem „histrion“ (III,14,266) durch die Ablehnung des Duells, der Prinz von Wales entspricht seiner Bitte, Eléna nicht zu hofieren, nicht, und Eléna weist ihn am Ende aus Angst vor dem Skandal zurück. Kean erkennt, dass er nur ein „jouet“ und ein „bouffon“ dieser Gesellschaft ist (286), er bleibt ein Außenseiter, ein Paria, dem die Integration in die Kreise, in die er aufgenommen werden will, verwehrt bleibt: Kean: [...] Mais mettez-vous pour un instant à la place d’un pauvre paria… qui voit tourner autour de lui la société tout entière, et qui, pareil à un homme qui rêve, se sent enchaîné à sa place et en est réduit à plonger des regards avides dans ces jardins enchantés où il voit des êtres privilégiés cueillir les fruits dont il a soif. Oh! il faut bien que l’on vienne à nous, puisque nous ne pouvons pas aller aux autres. (K, IV,4,272). 48 Die Verbannung grenzt ihn geographisch und sozial aus. Bei der Bürgerlichen Anna, die bereitwillig in sein Milieu wechselt, und in Amerika - Sinnbild der Freiheit - findet er einen neuen Anfang. Keans Reflexion über den Schauspielberuf enthüllt dessen Schattenseiten. Kean führt Anna die Unbarmherzigkeit der Konkurrenz und der Kritiker und die Vergänglichkeit des Ruhms vor Augen: Kean: [...] Mais rappelez-vous donc que l’acteur ne laisse rien après lui, qu’il ne vit que pendant sa vie, que sa mémoire s’en va avec la génération à laquelle il appartient, et qu’il tombe du jour dans la nuit… du trône dans le néant… (K, II,4,247). Keans Welt ist Schein und Sein 111 zugleich, er begreift sich als Wesen mit zwei Identitäten und leidet unter der Zerrissenheit: Kean: [...] Oh! métier maudit... où aucune sensation ne nous appartient, où nous ne sommes maîtres ni de notre joie, ni de notre douleur… où, le cœur brisé, il faut jouer Falstaff; où, le cœur joyeux, il faut jouer Hamlet! toujours un masque, jamais un visage… (K, IV,8,281). In der Rolle des Romeo sieht er den Prinzen von Wales neben Eléna sitzen und kann von Eifersucht gepackt die Grenze zwischen Schein und Sein nicht mehr wahren: Er fällt aus der Rolle, bezichtigt den Prinzen der Ausschweifung und beschuldigt Lord Mewill, junge Mädchen zu entführen und sich dem Duell nicht zu stellen. Kean behauptet, nicht Romeo, sondern Falstaff, Shakespeares Figur aus dem Drama Heinrich IV., zu sein, die wie er den „compagnon de débauches du prince royal d’Angleterre“ (K, IV, 5 e tableau, 1, 286) darstellt. Gegenüber Mewill bezeichnet er sich als „Polichinelle, le Falstaff des carrefours“ (286), d.h. er vergleicht sich mit der lächerlichen Figur Pulcinella der Commedia dell’arte und des Marionettentheaters. Die Rollen, die er im Leben spielt, gleichen seinen Theaterrollen. Das „Theater im Theater“, das mit leichten Abweichungen vom Originaltext (einige Verse fehlen, statt Julias Mutter wird Julias Vater angekündigt) einen Ausschnitt aus der Fensterszene zwischen Romeo und Julia (Romeo und Julia III,5) wiedergibt, endet abrupt mit Keans Tirade und seinem Zusammenbruch. Es illustriert Keans schauspielerisches Können und steht mit der Rahmenhandlung in Zusammenhang, denn Shakespeares Tragödie zeigt ebenfalls eine unrealisierbare Liebe. Strukturell gesehen ist die Theatereinlage adaptives Metatheater, sie zitiert eine literarische Vorlage und ist eine 111 Sartre stellt Keans Leiden unter der Dualität von Schein und Sein/ Rolle und Leben in seiner Adaptation und existentialistischen Ausdeutung der Dumas-Fassung in den Vordergrund: „Kean: […] On joue pour mentir, pour se mentir, pour être ce qu’on ne peut pas être et parce qu’on en a assez d’être ce qu’on est. […] Est-ce que je sais, moi, quand je joue? Est-ce qu’il y a un moment où je cesse de jouer? ” (Ke, II,3,81), in: Dumas (père) 1954: 81. 49 Reminiszenz an Shakespeare, der im 19. Jahrhundert verstärkt rezipiert und insbesondere im théâtre romantique als Vorbild betrachtet wurde. 112 Dumas Père bringt in Comment je devins auteur dramatique, dem Vorwort zu seinem dramatischen Werk, seine Begeisterung für Shakespeare und die englischen Schauspieler, die 1822 nach Paris kamen, zum Ausdruck: Vers ce temps, les acteurs anglais arrivèrent à Paris. […] Je vis ainsi Roméo, Virginius, Shylock, Guillaume Tell, Othello; je vis Macready, Kean, Young. Je lus, je dévorai le répertoire étranger, et je reconnus que, dans le monde théâtral, tout émanait de Shakespeare, comme dans le monde réel, tout émane du soleil, que nul ne pouvait lui être comparé […]. 113 Kean ou désordre et génie ist eine Hommage an Shakespeare und die Schauspielerpersönlichkeit Kean zugleich. Kean ist ein romantischer Antiheld, dessen Ambitionen auf einen sozialen Aufstieg sich trotz seiner Fähigkeiten nicht erfüllen. Das von Dumas dargestellte Problem des in die Gesellschaft nicht integrierten und mit ihr in Konflikt geratenen Künstlers, das Außenseiter-Motiv, ist ein typisches Motiv der Romantik, das auch in La vie d’une comédienne aufgegriffen wird. Auguste Anicet-Bourgeois und Théodore Barrière zeichnen in dem zur Zeit der Französischen Revolution spielenden Melodrama La vie d’une comédienne (1854) den Lebensweg der Schauspielerin Olympe nach. 114 Auf dem Zenith ihrer Karriere an der Comédie Française wird Olympe vom Publikum gefeiert und von der Königin geschätzt. Comte Karl de Rudentz will sie heiraten, doch Olympe willigt erst ein, als er einen Selbstmordversuch im Theater unternimmt. Der Verzicht auf die Künstlerkarriere und das eintönige Leben als Comtesse de Rudentz, der wegen ihrer ungeklärten und nicht standesgemäßen Herkunft die Türen der adligen Gesellschaft verschlossen bleiben, führen zu Konflikten. Karls Mutter, Comtesse de Rudentz, weist Olympe öffentlich zurück und bricht mit ihrem Sohn. Als der Comte mithilfe seines Cousins Émile de Rudentz seine gesellschaftlichen Kontakte wieder aufnimmt, vereinsamt Olympe, während sich ihr Gatte amüsiert und die Tänzerin Clara zu seiner Mätresse macht. Olympe erzählt ihrem Bruder Georges ihre Geschichte. Er bittet Karl, zu Olympe zurückzukehren, und fordert ihn zum Duell. Karl und Olympe versöhnen sich, aber in den Revolutionswirren muss der Adlige fliehen und meldet sich mit Émile zum Militär. Olympe geht nach Paris zu ihrem Adoptivvater Saint-Phar und der wiedergefunden Schwester Rose zurück und nimmt ihre Schauspielkarriere wieder auf. Émile de Rudentz kommt zurück und teilt ihr mit, Karl werde verdächtigt, Beziehungen zu adligen Emigranten 112 Vgl. Gengembre 1999: 110-111, Shakespeare: la référence obligée. 113 Dumas Père 1974, I: 47-48. 114 Eine Schauspielerin ist auch Titelheldin des Dramas Adrienne Lecouvreur (1849) von Eugène Scribe und Ernest Legouvé, welches der bekannten gleichnamigen Schauspielerin des 19. Jahrhunderts gewidmet ist. 50 zu unterhalten und sei nach Deutschland geflohen. Aus Sorge um Olympe und seine Mutter kehrt Karl zurück nach Paris. Seine Mutter steht auf der Liste der Personen, die vor Gericht erscheinen sollen. Karl wird festgenommen, Olympe gibt sich als seine Frau zu erkennen und folgt ihm ins Gefängnis. Karls Mutter wird verurteilt. Sie bittet Olympe, ihr zu verzeihen, und nimmt sie als Tochter an. Olympe tritt als Comtesse de Rudentz statt ihrer den Weg zum Schafott an. Durch ein Dekret des Nationalkonvents wird Olympe von einer Menge von Bürgerlichen, Émile, Karl und Saint-Phar, der sich vor den Wagen wirft, in dem Olympe abtransportiert wird, in letzter Minute gerettet. Das Melodrama zeigt Olympes Aufstieg von der unehelich geborenen Bettlerin und Caféhaussängerin zur Schauspielerin und Comtesse de Rudentz. Saint-Phar, der „Crispin“ der Comédie-Française, holt die junge Olympe von der Straße, adoptiert sie und verschafft ihr ihre erste Rolle. Olympe, deren sprechender Name den Aufstieg andeutet und an Olympe de Gouges 115 erinnert, erscheint im ersten Akt als Schauspielerin ohne materielle Sorgen, die Tragödienrollen wie Camille in Horace und Hermione in Andromaque spielt. Saint-Phar und die Comédie-Française profitieren finanziell von Olympes Erfolg. Olympe reagiert auf Karl de Rudentz’ Antrag erst ablehnend, sie ist sich des Standesunterschieds bewusst und ahnt die Konflikte mit Karls Mutter und dem Adel voraus: Olympe: [...] vous savez bien que je ne suis rien, moi, qu’une enfant perdue, une comédienne! […] Que dirait le monde, que dirait votre mère? (VdC, I,10,22-23). Ihr Beruf und ihre ungeklärte Herkunft stehen ihrer Ansicht nach einer Ehe mit Karl im Wege: Olympe: Mais à vous noble et riche, à vous qui comptez dans votre famille des amitiés royales, à vous qui pouvez, comme vos ancêtres, rêver une union princière, j’apporterais la honte d’une naissance illégitime, le doute d’un passé inconnu! (VdC, I,10,24). Karl scheut die Mesalliance nicht, er wirft Olympe vor, sie liebe ihn nicht genug und wolle für die „couronne de comtesse“, die er ihr anbiete, ihre „couronne d’artiste“ nicht opfern (I,10,24). Saint-Phar ist gegen die Ehe mit Karl, für ihn ist die Erfüllung, die Olympe als Schauspielerin findet, mehr wert als der Titel „comtesse“: Saint-Phar: [...] qu’est-ce que vous lui offrez? ... de la fortune? elle en a assez, […] Elle sera comtesse, dites-vous? belle avance! mon Olympe était reine! vous la conduirez dans votre grand monde… mais lui rendrez-vous ces terreurs d’une première représentation qui sont notre vie à nous autres artistes? … […] Par quoi 115 Olympe de Gouges (eigentlich Marie Gouze): uneheliche Tochter des Aristokraten Jean-Jacques Lefranc de Pompignan, Autorin von Theaterstücken und der Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne, wurde, da sie König Louis XVI verteidigt hatte, 1793 guillotiniert. Vgl. Mousset 2003: 27 und 111. 51 remplacerez-vous cette joie qui vient inonder le cœur d’une artiste comme elle quand elle sent la foule suspendue à ses lèvres? … Lui rendrez-vous enfin ce que vous lui aurez pris, c’est-à-dire les bravos qu’elle provoquait, les larmes qu’elle faisait répandre? (VdC, I,11,27). Die neue „position” (I,11,25), die Karl Olympe durch die Heirat bietet, ist für Saint-Phar nicht erstrebenswert, denn die Vorzüge des Adelsstands können mit dem erarbeiteten Erfolg des Künstlers nicht konkurrieren: Saint-Phar: [...] vous avez la noblesse, la fortune, les titres, tout ce que nous n’avons pas, c’est vrai... mais vous n’avez pas ce que nous avons, c’est-à-dire la fièvre, le travail, les nuits sans sommeil que donnent les luttes du lendemain, les joyeuses insomnies que nous donnent les victoires de la veille. (VdC, I,11,27). Es gelingt Saint-Phar zunächst, Olympe von der Heirat abzuhalten. Seine enthousiastische Darstellung des Schauspielmetiers entspricht Olympes idealistischer Definition der wahren Künstlerin: Le Domino Noir [Olympe in Verkleidung]: Une artiste! C’est la femme qui a voué sa vie au culte de tout ce qui est beau, de tout ce qui est noble… c’est la femme qui n’a qu’une ambition, qu’un désir… Dérober une étincelle de ce feu sacré qu’on nomme le génie! celle qui consent à palir sur les œuvres des maîtres pour en arriver à traduire les élans de leur cœur. (VdC, IV,9,92). Als Künstlerin hat Olympe sich der Noblesse der Kunst und der Vermittlung der Werke herausragender Dichter verschrieben. Der Verzicht auf die künstlerischen Ambitionen zugunsten der Liebe und des Adelstitels führt Olympe ins Abseits. Die Legitimität ihrer Heirat wird angezweifelt, eine „fille de théâtre“ heiratet ein Adliger nicht, er nimmt sie allenfalls zur Geliebten (IV,2,45). Karls und Olympes Kampf gegen „le préjugé“ und „l’orgueil“ (III,3,47) scheitert, Olympe wird von den adligen Kreisen als Parvenü geächtet. Olympe droht, die Ehe mit Karl durch den König annullieren zu lassen, wenn er sie seiner Mutter nicht vorstellt, doch diese Einforderung der Integration führt zu weiterer Ausgrenzung. Die Kontakte, die Olympe bleiben, sind Rose, Saint-Phar und Georges. Erst die Französische Revolution verändert die Gesellschaftsstrukturen und stellt die Verhaltensmuster der Aristokratie in Frage. Die ans Théâtre de la République 116 zurückgekehrte Comtesse de Rudentz wird zur „citoyenne Olympe“(V, 7 e tableau, 112), „idole de la foule“ (V,8,109), während Karl und seine Mutter, „la ci-devant Comtesse de Rudentz“(112), verhaftet werden. Olympe gibt sich als Royalistin aus und folgt Karl als Comtesse ins Gefängnis. Sie ist bereit, für ihre Schwiegermutter, die sie nun als Tochter annimmt, zu sterben. Wie es das melodramatische Genre erfordert, wird die tugendhafte Olympe als Vorbild dargestellt, ihre Rettung ist der Lohn für ihre Treue und Opferbereitschaft. Olympe verkörpert zugleich eine Frau, die ihren Erfolg und ihre finanzielle Unabhängigkeit selbst erarbeitet. 116 Name der Salle Richelieu der Comédie Française (1792), vgl. Gengembre 1999: 48. 52 In dem Moment, da die Revolution ihre Existenz als Adlige bedroht, kann sie durch die Rückkehr in den Schauspielberuf für sich und Saint-Phar den Lebensunterhalt verdienen. La vie d’une comédienne thematisiert die Biographie einer Schauspielerin und verknüpft sie mit den selbstreferentiellen Formen Rollenspiel und „Theater im Theater“. Das Rollenspiel als Domino erlaubt Olympe, ungeladen zu einem Fest Claras zu gehen und die Rivalin als Künstlerin zu disqualifizieren. Das „Theater im Theater“ wird in Regieanweisungen erwähnt (Le Mariage de Figaro, Pastorale comique, II,1) und erscheint zweimal als Rezitation von Versen aus Corneilles Horace (II,6,37 und V,9,110). Dieses adaptive Metatheater dient als Lokalkolorit für den Handlungsort Comédie Française und demonstriert Olympes schauspielerische Praxis. Olympes Spiel wird durch ihre Emotionen beinträchtigt: Während der ersten Horace- Aufführung beunruhigt sie Karls Brief über den geplanten Selbstmord, bei der zweiten vergisst sie ihren Text aus Sorge um Karl und seine Mutter. Den Gegensatz zwischen Schein und Sein empfindet Olympe wie Kean: Olympe: [...] Je suis payée, il le faut […] parler…jouer… dire des vers… des mots… avec des larmes dans le cœur … Enfin, je suis payée! […] Mais je ne peux pourtant pas jouer la comédie, quand mon mari va se perdre peut-être, et quand on va tuer sa mère. (VdC,V,9,109). Der zweite Akt spielt hinter den Kulissen der Comédie Française, Corneilles Horace ist wie bei Delavigne vorwiegend Hintergrundgeschehen, über das die Schauspieler berichten. Bindeglied zwischen Bühne und Kulissen ist der régisseur, der die Auftritte der Schauspieler regelt. Der régisseur entspricht dem Inspizienten im deutschen Theater, ist für die „organisation matérielle du spectacle“ 117 (Licht, Ton, Bühnentechnik etc.) zuständig und existiert in Frankreich seit dem 18. Jahrhundert. Die Einbeziehung eines régisseur in die Figurenkonstellation zeigt das Bemühen der Autoren um eine realistische Darstellung des Theaterbetriebs der Comédie Française. Ein ähnliches dokumentarisches Interesse liegt der Theatereinlage in Edmond Rostands Komödie Cyrano de Bergerac zugrunde. Der erste Akt beginnt mit einer detaillierten Beschreibung des Theatersaals des Hôtel de Bourgogne und schildert das Verhalten des gesellschaftlich bunt zusammengesetzten Publikums vor der Aufführung der Pastorale La Clorise (1632) des von den Preziösen geschätzten Balthasar Baro. Die Dramenfiguren Montfleury, Bellerose und Jodelet, drei Schauspieler, die im 17. Jahrhundert tatsächlich im Hôtel de Bourgogne auftraten, verleihen dem Stück, dessen Titelheld auch eine historische Figur ist, der Dichter und Dramatiker Cyrano de Bergerac, Authentizität. Die Theatereinlage (I,3-4) ist kurz; Montfleury kann als Phédon nur wenige Verse des Prätextes La Clorise 117 Pavis 2002: 297, siehe auch Corvin 1995: 754. 53 sprechen, weil Cyrano das Binnenschauspiel unterbricht und ihn beleidigt. Montfleury sei ein dicker, dummer und erbärmlicher Schauspieler, der in einem schlechten Stück mitspiele und dem er das Auftreten einen Monat lang untersagt habe. Derart öffentlich bedroht, zieht Montfleury sich nach einigen vergeblichen Versuchen zurück, und die Vorstellung wird abgebrochen. Sein eigenes schauspielerisches Talent stellt Cyrano in einem Rollenspiel unter Beweis, in dem er die Kommentare seiner Kritiker über seine lange Nase antizipiert und in verschiedenen Tonarten (agressif, amical, descriptif etc.) durchspielt (I,4,45-46). Eine Ballade, eine Liedeinlage (I,4,49 und IV,3,161) und ein Dichterwettstreit demonstrieren Cyranos Dicht- und Vortragskunst. Als Regisseur erweist er sich in der Balkonszene zwischen Roxane und Christian (III,7,126-127), dem er souffliert und Anweisungen erteilt. Schließlich übernimmt er Christians Part, als dieser an der Poesie der Verse scheitert. In fingierten Briefen spielt er Christians Rolle weiter, bringt aber darin seine persönlichen Gefühle für Roxane zum Ausdruck. Erst als Christian gefallen ist und Cyrano Roxane sterbend Christians letzten Brief vorliest, wird die Fiktion aufgehoben: Roxane erkennt, dass sie in Wirklichkeit Cyrano geliebt hat. Cyrano ist wie Kean ein romantischer Held, ein Haudegen und empfindsamer Künstler zugleich. Seine Hässlichkeit macht ihn zum Außenseiter, der seine Liebe nur in einem Doppelspiel hinter einer schönen Maske verborgen äußern kann. Anicet-Bourgeois und Barrière sowie Dumas Père porträtieren Schauspieler bzw. Künstler als Außenseiter im Kampf gegen die Feudalgesellschaft, die sie als Schauspieler, nicht aber als Mensch akzeptiert. Delavigne charakterisiert die Schauspieler als Truppe, beschreibt ihre Rivalitäten untereinander und die Zusammenarbeit mit dem Autor und den administrativen Instanzen. Alle drei Metadramen hinterfragen das Metier und die soziale Rolle des Schauspielers und zeigen den Menschen, der sich hinter dem Rollendarsteller verbirgt. Wie erklärt sich das Interesse am Schauspieler als Sujet des Theaters im 19. Jahrhundert? Gérard Gengembre macht deutlich, dass berühmte Schauspielerpersönlichkeiten wie Talma, Frédérick Lemaître, Marie Dorval und Sarah Bernhardt im 19. Jahrhundert große Anziehungskraft auf das Publikum ausüben: Le 19 e siècle est celui de la promotion de l’acteur charismatique exerçant sur le public une véritable fascination. 118 Die Schauspieler perfektionieren ihre Diktion, Deklamation und Gestik und streben in ihrem Spiel nach Natürlichkeit. Sie avancieren zu „monstres sacrés“, und es entwickelt sich ein regelrechter Starkult um diese Künstler: 118 Gengembre 1999: 70. 54 Encensés, adulés, les monstres sacrés parachèvent ‘la starisation’ en même temps qu’ils parachèvent la figure du virtuose, apparue dans le domaine artistique vers les années 1820. 119 Manche Rollen werden bestimmten Schauspielern auf den Leib geschrieben, so z.B. Kean, konzipiert für Frédérick Lemaître, der mit seinem Ruf als „débauché faiseur de dettes“ 120 dem historischen Kean in nichts nachstand. Auch die Theatertheorie befasst sich im 19. Jahrhundert mit dem Schauspieler: 1800 vergleicht Humboldt in seinem Aufsatz Über die gegenwärtige französische tragische Bühne die Schauspielkunst des französischen und des deutschen Schauspielers, Goethe formuliert 1803 in seinen Regeln für Schauspieler eine Grammatik der Schauspielkunst, und 1830 erscheint postum Diderots Paradoxe sur le comédien. Im Roman des 19. Jahrhunderts finden sich wie im Theater Porträts von Schauspielerfiguren, z.B. Coralie in Balzacs Illusions perdues (1837-1844) oder Olympe in Alexandre Dumas Pères Roman Olympe de Clèves (1851-1852). Die Oper wird in Ruggero Leoncavallos I pagliacci (dt. Der Bajazzo, wörtlich: Die Narren, 1892) zur Schauspielertragödie. Maler wie Henri Toulouse-Lautrec wählen Schauspielerinnen wie Yvette Guilbert (1867-1944, auch Sängerin) als Modell. Schauspieler- und Künstlerfiguren werden offensichtlich im 19. Jahrhundert als Repräsentanten einer den Konventionen der Gesellschaft nicht entsprechenden, aber faszinierenden Daseinsform zum beliebten Studienobjekt von Kunst und Literatur. In den hier untersuchten Metadramen des 19. Jahrhunderts hat das Metatheater die Funktion, dem Zuschauer einen Blick hinter die Kulissen des Theaters zu gewähren, das Metier des Schauspielers möglichst wirklichkeitsgetreu abzubilden und den Schauspieler mit und ohne Maske zu zeigen. Die theatergeschichtliche Synopse, in der exemplarisch einige Metadramen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts vorgestellt wurden, hat gezeigt, dass metatheatrale Formen in jeder Epoche auftreten und die Selbstreflexion des Theaters mit unterschiedlichem Akzent und kulturgeschichtlichem Kontext in jedem Jahrhundert stattfindet. Diese Metadramen schreiben, indem sie die Produktionsbedingungen des Theaters, die theatertheoretische Diskussion, die Situation des Dramenautors sowie den Beruf, das Wesen und die soziale Rolle des Schauspielers in ihrer Zeit vor Augen führen, eine Geschichte des Theaters auf der Bühne. 119 Gengembre 1999: 70. Erika Fischer-Lichte sieht in Deutschland im 19. Jahrhundert das gleiche Phänomen, sie spricht von der „[...] herrschenden Tendenz, die sich im 19. Jahrhundert eher noch verstärken sollte: Der ‚große’ Schauspieler reiste von Ort zu Ort, um dem Publikum den Genuß seiner virtuosen Leistung zu verschaffen, wobei die örtlichen Schauspieler lediglich als Hintergrund notwendig waren, von dem sich die Leistung des ‚Stars’ umso heller abhob.“ Fischer-Lichte 1993: 152. 120 Gengembre 1999: 245. 55 5 Formen und Funktionen des Metatheaters im zeitgenössischen französischen Drama 5.1 Thematisches Metatheater Thematisches Metatheater ist „Theater über Theater“, es thematisiert das Theatermilieu und macht häufig ein Theater zu seinem Schauplatz. Die dramatis personae sind Dramenautoren, Theaterregisseure, Schauspieler, Theaterkritiker, Zuschauer und Bühnentechniker, denn thematisches Metatheater beleuchtet und problematisiert die Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Theaters. Dabei wird die dramatische Illusion nicht durch eine Theatereinlage bzw. eine zweite Fiktionsebene gebrochen. 5.1.1 Die Figur des Dramenautors Die Figur des Dramenautors ist ein beliebtes Sujet des französischen Gegenwartstheaters. In den 1970er und 1980er Jahren erscheinen Theaterstücke von Victor Haïm, Jacques Kraemer, Loleh Bellon und Jean-Claude Grumberg, in denen ein Dramenautor die Hauptfigur darstellt. Diese Stücke stehen in der Tradition des Dichterdramas und spiegeln die Psyche und die gesellschaftliche Situation des Dramatikers am Ende des 20. Jahrhunderts wider. Victor Haïms Drama La Baignoire (1979) zeigt den Dramenautor Frédéric-Arthur in der Schaffenskrise. Die Gliederung des Stücks in „première, deuxième, troisième angoisse“ und „espoir“ verweist auf die Seelenlage des Schriftstellers. In der Badewanne liegend wartet er in Gesellschaft seiner Mutter auf die Inspiration. Drei Sekretärinnen, Sophie, Mélanie und Laurencine, stehen auf Abruf zum Diktat bereit, um die Früchte der seltenen Augenblicke der Eingebung auf der Schreibmaschine zu tippen. Frédéric-Arthur hat bereits mehr als 40 Stücke geschrieben. Seit ein bis zwei Jahren arbeitet er an einer komischen Tragödie, hat aber eine schöpferische Blockade wegen einer Vergewaltigungsszene. Zu Beginn der ersten Angstphase scheint sich die Blockade zu lösen, der Autor will den Sekretärinnen die nächste Szene diktieren. Als seine Mutter ihn mit seinem Vater, einem erfolglosen Komponisten, vergleicht, verliert er jedoch den Faden. Frédéric-Arthur friert und fühlt sich dem Tod nahe. Seine Mutter misst die gesunkene Wassertemperatur und frottiert ihn. Er beginnt einen Dialog zu verfassen, wird aber sofort von seiner Mutter korrigiert. Die Angst kehrt wieder. Als die Mutter sagt, sie hätte ihn lieber als Politiker gesehen und seine Stücke seien den Kritikern zufolge immer dasselbe, will er die Schreibmaschinen verkaufen. Mit dem Vorschlag, eine positive Figur zu erfinden, ermutigt Laurencine ihn, die Arbeit fortzusetzen. Die Formu- 56 lierung des ersten Satzes dieser Figur scheitert, denn Mélanie und die Mutter kritisieren die Wortwahl. Schwach protestierend zitiert der Dramatiker einen Kritiker, der seine Sprache als „sophistiquée“ (LB, 27) bezeichnet hat, worauf seine Mutter antwortet, der Kritiker habe nicht gesagt, dies sei ein Vorzug. Frédéric-Arthur ist im Begriff zu resignieren, da erscheint in der zweiten Angstphase eine Krankenschwester, die die Mutter auf seinen Wunsch eingestellt hat. Auf dem Rand der Badewanne sitzend befiehlt die attraktive Person dem Dichter, der in der Badewanne fast versunken ist, wieder aufzutauchen. Als er sie in die Badewanne einlädt, lehnt sie ab und stellt dem Kranken eine Diagnose: Bitterkeit, Depression, Ehrgeiz, Stolz, begleitet von einem Schuldsyndrom, Herzvergrößerung aufgrund eines Übermaßes an Liebe, das die Arterien verschließe. Frédéric-Arthur erklärt, seine Organe setzten aus, ehe er zu schreiben beginne. Seine Figuren bereiten ihm Schmerzen in den Gedärmen, die dramatischen Situationen bringen ihn um. Die Krankenschwester fordert ihn auf, die Badewanne zu verlassen. Sie hat die vier Seiten, die er produziert hat, gelesen, lobt ihn und macht ihm Avancen. Begeistert diktiert der Autor vier Repliken seiner Szene. Wieder interveniert die Mutter. Sie drängt ihn, Politiker zu werden, weil alle Händler in ihrem Viertel sie nach dem Beruf ihres Sohnes fragen. Die Krankenschwester wirft ihr vor, Frédéric-Arthur immer tiefer in die Neurose zu treiben. Der Dramatiker will nun ein politisches Stück schreiben, stellt aber fest, dass es schon Brecht gibt. Die Sekretärinnen machen ihm Vorschläge für ein lustiges Stück, das den Publikumsgeschmack treffen soll. Themen wie Rassismus gelte es zu vermeiden. Frédéric-Arthur ist skeptisch, seine Mutter hält nichts davon. Zwischen ihr und der Krankenschwester kommt es zum Streit. Die Mutter verlangt, dass ihr Sohn zwischen ihr und der Krankenschwester wählt. Der Dramatiker entscheidet sich für das Theater und die Krankenschwester. Zu Beginn der dritten Angstphase sitzen der Dramatiker und die Krankenschwester in der Badewanne und planen ihre Zukunft. Frédéric-Arthur glaubt die Badewanne fortan nicht mehr zu brauchen, er hat keine Angst mehr. Allerdings fürchtet er, durch die Liebe seine Kreativität zu verlieren, und wünscht seine Mutter herbei. Während sie sich lieben, kommt diese herein und mimt Selbstmord. Die Täuschung erhält sie nicht lange aufrecht, weil sie mit dem Dialog nicht zufrieden ist. Zwischenzeitlich hat sie von Aristophanes bis Haïm die Konkurrenz gelesen und fragt sich, was der Dramatiker sich noch Neues ausdenken könnte. Abermals verlässt den Autor der Mut. Er ist erschöpft, seine Glieder sind gelähmt. In Abwesenheit seiner Mutter hat er das Genre gewechselt. Er schreibt eine bittersüße Komödie, in die er Songs in Zwölftonmusik einbaut. Die Sekretärinnen berichten der Mutter, sie hätten viel zu tun, zudem eigne sich das Stück für Film und Fernsehen. Die Krankenschwester weist sie an, der Mutter das Stück nicht vorzulesen, doch Frédéric-Arthur wünscht es. Die Lektüre mit 57 verteilten Rollen wird durch die Bemerkungen der Mutter gestört, worauf der Autor das szenische Lesen abbricht. Die Mutter befragt die Sekretärinnen. Deren Kommentare sind nicht uneingeschränkt positiv, sodass Frédéric-Arthur alle weiblichen Wesen wegschickt. Im letzten Teil des Stücks, überschrieben mit „espoir”, sitzt der Autor nachts in seinem Bad und hat aufgegeben. Seine Mitarbeiterinnen haben ihn verlassen und ein Musical geschrieben. Als seine Mutter die Szene betritt, erzählt er ihr, er habe mit einem allegorischen Thema über vier nackte Frauen begonnen. Die Mutter bezeichnet dies als pornographisches Phantasma. Sie ist inzwischen mit einem 19-Jährigen liiert, der Musik und Theater verabscheut und ins Kino geht. Der Autor befasst sich nun mit anderen kulturellen Manifestationen: Allegorie, Provokation, Agitation, dionysisches Fest, öffentliche Folter, spektakulärer Koitus. Seine dramatischen Figuren haben das Weite gesucht. Verzweifelt beschließt er erneut, sich zu ertränken, denn sein Werk als Ganzes wäre dann kolossal. Sich wieder mit dem Theater zu beschäftigen, hält er für nutzlos. Das Theater liege am Boden und seufze. Er fleht seine Mutter an, ihm zu helfen, ein einziges Mal genial zu sein. Sie verspricht, zu tun, was er verlangt, drückt seinen Kopf unter Wasser und ertränkt ihn. Viktor Haïms Porträt des Dramatikers Frédéric-Arthur erinnert an den Krankenbericht eines Psychiaters. Der Autor, dessen Neurose auf einen Ödipuskomplex zurückzuführen ist, ist weder biologisch noch geistig produktiv. Sein Scheitern erklärt sich zunächst aus der erblichen Belastung. Sein Vater war ein erfolgloser Künstler, an dessen musikalische Begabung die Mutter nicht glaubte, und wie sein Sohn wählte er den Tod als letzten Ausweg. In der ersten Angstphase steht Frédéric-Arthur völlig unter dem Einfluss seiner Mutter, mit der er durch eine Nabelschnur verbunden ist und die er als seine Muse betrachtet. Die Badewanne, aus der er sich nicht herauswagt, symbolisiert den Uterus der Mutter 121 , die mehrmals die schwierige Geburt erwähnt: [...] si je n’avais pas ouvert les jambes au moment où tu voulais expulser ta fontanelle de têtard, tu serais resté bloqué dans mes eaux comme un bateau soviétique dans les océans gelés. Qu’est-ce qu’un génie coincé dans le col de l’utérus? (LB, 37f.). Das Wasser in der Badewanne steht für das Fruchtwasser, es ist trübe von den Ausscheidungen des Dramatikers, wird nicht regelmäßig gewechselt und ist häufig zu kalt. Frédéric-Arthur steht kurz vor einer Infektion. Doch nur im Wasser glaubt er der Angst zu entkommen, die ihn hemmt. Wenn er untertaucht, ist er dem Tod nahe, der ihn inspiriert: „ [...] c’est lorsque je 121 Konrad Schoell sieht in der Badewanne eine Anspielung auf die von Jacques-Louis David dargestellte Ermordung des Jean-Paul Marat, die Peter Weiss in seinem Theaterstück thematisiert. Vgl. Schoell 1991: 140. 58 suis près de la mort que les idées me viennent.” (LB, 49). Das Stück, an dem der Autor arbeitet, ist eine Mischung aus Tragik und Komik, anfangs spricht er von einer „tragédie comique“, dann von einer „farce tragique“ (LB, 13, 19). Anspielungen auf Shakespeare, Marivaux, Goethe, Strindberg, Genet und Pirandello zeigen, dass er belesen ist. Seine Farce wird zum Plagiat von Shakespeares Hamlet und Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore, die Handlungen seiner Hauptfiguren entsprechen denjenigen Hamlets und der sechs Personen (LB, 26, LB, 35). Der Schreibprozess ist für ihn etwas Intuitives und Spontanes, langes Überarbeiten hält er für sinnlos: Frédéric-Arthur: Je n’ajouterai rien. Je ne raturerai pas. La création est éjaculation ou n’est pas. Flaubert, un vrai connard! Il n’y a que ce qu’il a raturé qui était valable […]. (LB, 13 f.). Die Realität entspricht diesem Ideal nicht, denn der Schaffensprozess ist mit Schmerzen verbunden: Frédéric-Arthur: Quand ça veut sortir et que ça ne sort pas, on se fait un sang d’encre, et cette encre-là ne permet pas de s’exprimer dans l’allégresse. (LB, 15). Der Weg von der Vorstellung zum geschriebenen Wort ist mit Dornen versehen. Er gleicht einem Kreuzweg: Frédéric-Arthur: [...] Quelle épouvantable plaie, l’imagination! Entre mes fantasmes qui sont vachement valables et cette élaboration besogneuse, quel chemin de ronces, d’épines, de bave et de lave en fusion, chemin bordé de buissons qui me brûlent. (LB, 16). Dem Dramatiker fehlen das Selbstbewusstsein und der Glaube an die eigene Kreativität. Er bezeichnet sein Werk als „mon œuvre en panne“ (LB, 12) und resümiert seine literarische Tätigkeit selbstzerstörerisch mit der Aussage „Dès que je fais quelque chose, c’est de la merde.“ (LB, 20). Die Kritiker hätten ihm dieses Zeugnis bereits ausgestellt. Die Krankenschwester versucht ihn aus der Unmündigkeit, der Passivität und Sterilität seiner vita contemplativa zu befreien. Sie glaubt an sein Theater und eröffnet ihm die Perspektive, das Künstlerdasein mit dem bürgerlichen Dasein zu verbinden. Sie verspricht ihm Liebe, ein eigenes Haus und Kinder. Der Dramatiker aber hat Angst, sich dem Eros hinzugeben, der ihm seine künstlerische Energie rauben könnte. Die Krankenschwester kämpft vergeblich gegen die schärfsten Kritiker des Dramatikers, die Mutter und die Sekretärinnen. Deren Erwartungshaltung setzt den Autor zusätzlich unter Druck. Die Mutter fordert, dass er als Politiker Karriere macht, weil sie seine schriftstellerische Tätigkeit gegenüber Vertretern anderer Berufe nicht rechtfertigen kann. Selbst die Krankenschwester fragt Frédéric-Arthur zuerst nach seinem Diplom. Die gesellschaftliche Relevanz des Dramenautors wird damit in Frage gestellt. Der Vorschlag der Sekretärinnen, ein Stück zu schreiben, das sich am aktuellen Tagesgeschehen und am Publikumsgeschmack orientiert, stem- 59 pelt den hochverschuldeten Dramatiker zum weltfremden Schreiberling. Laurencine schwebt ein kommerzielles, realistisches Stück mit Werbespots, Sexszenen, Musik- und Tanzeinlagen vor, in dem Personen aus Politik, Film und Kultur wie Gaddhafi, Shirley MacLaine und Herbert von Karajan auftreten. Die Finanzierung dieses neuen Theatertyps mit Eventcharakter übernähme zu 98% die Privatwirtschaft: Laurencine: [...] Le tout serait financé à 49 % par Dassault, par la Banque de Suez à 49 % et à 2% par le ministère de la Qualité de la vie, ça il faudra le souligner dans le texte, tu vois. Et pour que le théâtre ce soit la fête... - parce que, maintenant, bon, il n'y a pas de doute, il faut que le théâtre ce soit la fête -, le dernier tableau montrerait une partouze monstre [...]. (LB, 42). Mit dem Musical, das die Sekretärinnen nach ihrer Trennung von Frédéric- Arthur schreiben, verwirklichen sie ihre Idee eines kommerziellen Theaters. Frédéric-Arthur sträubt sich, sich diesem Konzept zu unterwerfen. In der dritten Angstphase, in der sich die schöpferische Blockade zu lösen scheint, vollzieht er aber bereits einen künstlerischen Richtungswechsel. Sein neues Stück ist eine Komödie oder „tragédie satirique” (LB, 58) mit atonalen Songs in der Tradition von Brechts epischem Theater: Frédéric-Arthur: Une comédie douce-amère, sauvage et ciselée, tempétueuse et calme, avec des couplets qui prolongent l'action et l'explicitent. (LB, 55). Als der Erfolg dieses Dramas ebenfalls von der Mutter und den Schreibkräften angezweifelt wird, schwört der Dramatiker dem Texttheater ab und wendet sich publikumswirksamen szenischen Kleinformen und Performances zu. Das Theater sieht er in der Krise: Frédéric-Arthur: [...] Le théâtre est à terre. Il gémit. On prend ses crises d'épilepsie pour des pulsions vitales, pour des signes de renaissance. (LB, 68). Die einzige Form der Produktion sei das Produzieren von Exkrementen: „Le seul vrai drame, c'est de pondre de la merde! ” (LB, 67). Um seinen Leidensweg zu beenden und seinem Werk Bedeutung zu verleihen, sucht er den Tod. Sein Tod wird durch Verweise im Stück angekündigt. Mehrfach spürt er Todeskälte, zeitweilig glaubt er zu ersticken. Die Mutter droht, das Ganze werde in einem Drama enden und ihre Autobiographie werde sie eines Tages Le Calvaire nennen. Die Einteilung des Stückes in drei Angstphasen und die Hoffnungsphase verweist auf die Zahl vier, die in der Zahlensymbolik für das Kreuz, für die Körpersäfte (humores) und für das weibliche Element steht. Den Schaffensprozess beschreibt der Autor wie einen Kreuzweg. Vier Frauen begleiten ihn auf diesem Weg, vier Frauen sind Gegenstand seines letzten kreativen Versuchs, der Allegorie, und diejenige, die ihm das Leben gegeben hat, leistet Sterbehilfe. Die Badewanne bezeichnet er einmal als seinen Heiligen Gral, in dem er sich ertränken möchte. Die Parallelen zur Passion Christi sind offensichtlich. So birgt der Tod für ihn die Hoffnung, für die Nachwelt als genialer 60 Dichter aufzuerstehen: „Au moment où la mort enfonce son poing dans ma gorge, j’ai du génie…“ (LB, 68). Victor Haïms Darstellung des Dramenautors ist nicht nur „eine psychoanalytische Betrachtung über dichterische Produktion” 122 , sondern reflektiert auch die Situation des Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts. Der Dramatiker sieht sich den ökonomischen Zwängen der Dramenproduktion und der Konkurrenz von anderen theatralen Formen, Film und Fernsehen ausgeliefert. Er steht vor der Alternative, sich dem Zeitgeist anzupassen oder zu resignieren. Dabei wird er bei Haïm zum Antihelden, zur tragikomischen Figur mit grotesken Zügen. Diese mit schwarzem Humor gezeichnete Dramenfigur hat einiges mit Haïm, der im Stück auf sich selbst verweist, gemein. Der heute mit vielen Preisen ausgezeichnete Autor kennt die Depression und den Selbstzweifel. Vor der Entstehung von La Baignoire, hatte er 1971 aufgrund von Misserfolgen eine Phase der Depression, in der er sich vom Publikum missverstanden fühlte. 123 Insofern kann das Drama auch als Selbsttherapie Victor Haïms aufgefasst werden. Die Inspiration gibt es für Haïm nicht, das Schreiben bedeutet für ihn tägliche Arbeit, bei der der Dramenautor auf seine Vorstellungskraft vertrauen muss: Il faut travailler chaque jour car l’inspiration n’existe pas. [...] Au théâtre, je compte sur l’imagination. 124 Das 1986 entstandene und 1989 veröffentlichte Stück Thomas B. von Jacques Kraemer zeigt einen weiteren Dramenautor bei der Arbeit. Der Dramatiker Thomas B. sitzt in seinem Arbeitszimmer vor der Schreibmaschine, auf der er seit 19 Jahren und vier Monaten seine Stücke tippt. Etwa 20 Stücke hat er bereits verfasst, nach drei Jahren und vier Monaten Schreibpause will er ein neues Stück schreiben. Doch seine Gedanken schweifen immer wieder ab. Seine schmutzige Wohnung erinnert ihn an die Hausfrau, die er wegen Geschwätzigkeit und antisemitischer Überzeugungen entlassen hat. Der Briefträger bringt einen Brief seiner Schwester, den er zunächst beiseite legt und zur Zeitung greift. Die Zeitungslektüre veranlasst ihn zu einer herben Kritik an der österreichischen Gesellschaft. Durch verschiedene Handlungen weicht Thomas B. dem Schreiben aus. Er legt eine Platte auf, gurgelt, schaut aus dem Fenster und überlegt, wann er den Hund ausführen soll. Das Schreibpapier ist nicht das richtige und er fragt sich, über welches Thema er schreiben könnte. An der Qualität vieler zeitgenössischer Stücke zweifelt er und kritisiert Dramenautoren wie Handke und Beckett. Viele Dramatiker seien zum Roman, zum Kino oder zum Fernsehen übergegangen. Seine alten Manuskripte hat er einige Wochen zuvor in einen Müllsack 122 Schoell 1991: 140. 123 Haïm 1983: 9. „En 1971, après le sublime échec de mes pièces, j’ai refait une petite déprime (force 7 sur l’échelle de mes propres valeurs).” 124 Haїm 1983: 17. 61 gesteckt. Da ihm das Schreiben auf der Maschine wegen körperlicher Beschwerden unangenehm ist, greift er zum Kugelschreiber, entscheidet sich dann für ein Tonbandgerät, um doch wieder die Schreibmaschine herbeizuholen. Wieder lässt er sich ablenken, diesmal durch den Brief seiner Schwester, die ihren Besuch ankündigt. Mit dem Blick zum Telefon führt er ein fiktives Gespräch mit ihr, in dem er sie bittet, nicht zu kommen, weil sie ihn am Schreiben hindere. Als sie tatsächlich anruft, freut er sich auf den Besuch und hofft, in ihrer Gegenwart besser arbeiten zu können. Er setzt sich an die Schreibmaschine, hat aber wieder eine Blockade. Darauf schluckt er Tabletten und tippt einen Text mit dem Titel Le dernier souffle. Une mort. Schon der Titel dieses Monologs spielt auf den österreichischen Autor Thomas Bernhard an, der wie kein anderer die Thematik des Scheiterns beim Schreiben thematisiert hat. Christoph Bartmann spricht von einer „Pathognostik des künstlerischen Akts in Bernhards Romanen“. 125 Kraemers Dramenfigur stellt eine Verbindung zwischen sich und Bernhard her, als Thomas B. überlegt, ob er seine Schreibmaschine mit der Schutzhülle abdecken soll oder nicht: Si je me prenais pour Thomas B. c’est-à-dire pour ce qui est censé exister sous cette appellation je dirais que l’opération de maquillage de l’outil de l’écriture est une opération proprement répugnante […]. (TB,40). Dabei nimmt er ironisch Bezug auf den Stil des österreichischen Autors. Kraemers Dramentext ist wie Bernhards Theatermacher nicht durch Satzzeichen gegliedert. Er reiht die Gedanken und Assoziationen des Dramatikers Thomas B. in einem inneren Monolog aneinander. Thomas B. bevorzugt den Monolog als dramatische Form, womit Kraemer seiner Dramenfigur ein Urteil über sein eigenes Stück in den Mund legt: La forme théâtrale la plus facile pour un auteur dramatique est sans contestation possible le monologue forme de régression si on envisage les choses sous l’angle historique si on pense aux Grecs à Eschyle l’invention du dialogue. (TB, 45). Der Dramenautor bezeichnet den Ort der Handlung, sein Arbeitszimmer, als „cabinet de travail” (TB, 44), die schriftstellerische Tätigkeit hingegen als Spiel (TB, 40). Diesem Spiel mangelt es an Freude und Inspiration. Seit drei Jahren liegen Stapel von Papier im Büro des Autors, um im richtigen Moment zur Hand zu sein. Das Konzeptpapier seines ersten Entwurfs hat er entsorgt. Von sich selbst zeichnet er ein trauriges Bild: bleich und wie erstarrt sitzt er vor dem leeren, in der Schreibmaschine steckenden Papier. Da er sich selbst nicht akzeptiert, ist auch sein Verhältnis zu anderen gestört. Im Gegensatz zu Frédéric-Arthur zieht Thomas B. es vor, beim Schreiben seine Gedanken selbst zu Papier zu bringen. Eine Zensur während des 125 Bartmann 3 1991: 26. 62 Schreibprozesses lehnt er ab. Er hält es für exhibitionistisch, sein Innerstes dabei einem anderen zu offenbaren: Donner à lire mon manuscrit ou livrer par la parole mes pensées intimes me paraît plus qu’une indécence une obscénité La machine introduit une distance entre moi-même et mes mots car je suis naturellement mon premier lecteur […] je préfère de beaucoup travailler seul. (TB, 40). Er personifiziert seine Schreibmaschine Japy, sie ist das Instrument seines künstlerischen Ausdrucks und wie ein Körperteil mit ihm verbunden: Cette „Japy“ est ma prothèse elle fait corps avec moi se confond avec moi au point que je ne la vois plus. (TB, 40). Thomas B. rechtfertigt die Schreibblockade anfangs mit körperlichen Beschwerden: Früher hat er Tuberkulose gehabt, vor dem Schreiben macht er Fingerübungen, seine belegte Stimme weist auf ein Virus hin, er hat eine Angina und wie Frédéric-Arthur hat er die letzten Tage in Angst verbracht. (TB, 47). Eine weitere Entschuldigung sind die geschwätzige Haushilfe, die ihn in den letzten Jahren vom Arbeiten abgehalten hat, und die schlechte Qualität des Papiers. Der eigentliche Grund ist die Furcht, sich selbst zu wiederholen und der fehlende Glaube an das eigene Talent: […] personnellement je n’écrivais plus pour des tas de raisons confuses il y a tant de livres à quoi bon en rajouter de mon cru? Si j’avais dû écrire une pièce importante à l’âge que j’ai et après mes multiples tentatives, ça serait fait. (TB, 43). Hinzu kommt die schwindende Bedeutung des Dramenautors in einer Welt, in der die Kunst zur Ware geworden ist: Aujourd’hui il n’y a plus d’artistes seulement des commerçants ou alors s’il y a des artistes on ne les connaît pas […] Seul l’auteur qui écrit pour de l’argent et rien que pour de l’argent a droit à quelque considération. (TB, 46). Thomas B. unternimmt einen letzten Versuch, seine Schreibhemmung zu überwinden, denn während der Schreibpause hat er die Klassiker und die Gegenwartsautoren gelesen und fühlt sich bereit. Der Wechsel von der Schreibmaschine zum Kugelschreiber und zum Tonbandgerät, das auf Becketts Krapp’s Last Tape anspielt, verhilft ihm jedoch nicht zum kreativen Durchbruch. Die Idee, es mit dem Computer zu versuchen, verwirft er. Er hasst die sogenannten Schriftsteller, die den Computer nutzen, den Fortschritt lieben und Männer der Tat sind (TB, 45), und stellt sich damit gegen die technischen Neuerungen in der künstlerischen Produktion. Die Lektüre des Briefes seiner Schwester, von der er behauptet, sie habe ein gestörtes Verhältnis zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit, hindert ihn erneut am Schreiben. Ihr Anruf motiviert ihn, doch dann fühlt er sich durch ihre bevorstehende Ankunft blockiert. Schließlich gibt er auf und schluckt verschiedene Schlafmittel. Selbstmordgedanken hatte er zuvor mit 63 der Begründung „J'ai trop lutté pour me donner la mort volontairement” (TB, 44) beiseite geschoben. Nun inszeniert er seinen Tod wie den Tod eines Helden aus einer Tragödie. Die Gewissheit, zu sterben, löst seine Schreibhemmung. Der Text, den er schreibt, ist ein autobiographischer récit über die letzten drei Jahre und vier Monate des Autors Thomas B. und seine Agonie, in der er endlich kreativ wird. Der Ausgang des Stückes von Jacques Kraemer stellt eine thematische mise en abyme dar. Die Tatsache, dass dieser letzte Text ein narrativer Text ist, unterstreicht die Unfähigkeit Thomas B.s, ein Drama zu verfassen, und spielt auf eine Tendenz des französischen Theaters zum théâtre-récit an. Kraemers Thomas B. ist wie der Dramenautor Frédéric-Arthur eine dekadente Figur, die mit den Anforderungen der künstlerischen Berufung nicht zurechtkommt. Wie das Stück La Baignoire reflektiert der Monolog Thomas B. die Situation des französischen Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts. Als Thomas B. sich mit Gegenwartsdramatik beschäftigt, stellt er resigniert fest: […] j'ai plus ou moins regardé les nouvelles pièces de théâtre précaution inutile tant la production théâtrale actuelle est insipide standardisée en dépit des proclamations creuses sur l'absence de règles de norme. (TB, 44). Das Theater hat die gesellschaftliche Bedeutung verloren, die es einmal hatte. Autoren, die mit der Zeit gehen, suchen andere Formen des künstlerischen Ausdrucks: Les auteurs qui ont compris leur 'époque' se sont détournés du théâtre pour consacrer leurs forces au cinéma à la télévision au roman le théâtre ne nourrit plus son homme de jour en jour le phénomène s'accentue le théâtre n'occupe plus dans nos sociétés la place qu'il avait dans les siècles passés. (TB, 44). Die in den beiden Stücken enthaltene Kritik an zeitgenössischen französischen Autoren spiegelt die in Frankreich viel zitierte crise des auteurs wider. Vor dem Hintergrund des Erfolgs des Regietheaters wird der Dramenautor zu einer bedauernswerten Figur. Ihm bleibt nur die Umsetzung der Erkenntnis der Figur Bruscon aus Thomas Bernhards Theatermacher: Wenn wir ehrlich sind/ ist das Theater an sich eine Absurdität/ aber wenn wir ehrlich sind/ können wir kein Theater machen/ weder können wir wenn wir ehrlich sind/ ein Theaterstück schreiben/ noch ein Theaterstück spielen/ wenn wir ehrlich sind/ können wir überhaupt nichts mehr tun/ außer uns umbringen. 126 Die Konfrontation des Dramenautors mit dem Theaterregisseur wird in L’Eloignement von Loleh Bellon und L’Indien sous Babylone von Jean-Claude 126 Thomas Bernhard: Der Theatermacher. In: Stücke 4, Bernhard 1988: 30. 64 Grumberg thematisiert. 127 Das 1987 entstandene Drama L’Eloignement spielt in der Wohnung des Dramatikers Charles Meslier am Tag nach der Generalprobe seines neuen Stücks L’Eloignement de Franz Wiederbaum. Den Inhalt dieses Theaterstücks erfährt der Zuschauer aus einer Theaterkritik: Es handelt sich um die auf eine authentische Begebenheit zurückgehende Geschichte des deutschen Juden Franz Wiederbaum und seiner Frau Ruth, die sich 1938 in Berlin bei Freunden versteckt halten. Als Franz entdeckt, dass er an einer Herzkrankheit leidet, verlässt er seine Frau und sein Versteck, um allein zu sterben und die anderen nicht zu gefährden. Im Mittelpunkt steht der Autor Charles Meslier, der sich im Anschluss an die Generalprobe, zu der Freunde, Verwandte und Theaterkritiker eingeladen waren, Gedanken über die Rezeption seines Werkes macht. Im Hintergrund verläuft ein Handlungsstrang, in dem es um die Sorgen seiner Frau Denise und seiner Tochter Nina wegen des plötzlichen Zusammenbruchs seines erkrankten Schwiegervaters geht. Loleh Bellons Drama ist eine Studie der Psyche des Dramatikers und seines Verhaltens gegenüber Freunden und Verwandten, dem Theaterregisseur und der Theaterkritik im Augenblick nach der ersten Vorführung seines Werkes. Charles Meslier charakterisiert sich selbst in dem Zustand nach der Generalprobe als „difficile“, „caractériel“ und „névropathe“, der Theaterregisseur Michel, der ihn besucht, um das Interview mit der Journalistin nicht zu versäumen, fügt noch das Adjektiv „égocentrique“ hinzu (LEL, 50). Wie Frédéric-Arthur und Thomas B. ist der Dramenautor Charles ein kranker Künstler, von Ängsten und Selbstzweifeln geplagt: Charles: [...] Il n’y a plus rien à faire, qu’à être jugé. La pièce commence… Tout me semble mauvais, rien ne passe. Je regarde, j’écoute. C’est moi qui ai écrit ça? (LEL, 13). Charles wartet nervös auf positive Rückmeldungen per Telefon oder per Presse. Nach dem Misserfolg seines letzten Dramas ist der einst erfolgreiche Autor auf gute Kritiken angewiesen. Eine junge Reporterin erscheint nicht pünktlich zum Interview, sie kennt weder Titel noch Inhalt des Stücks, das sie gar nicht gesehen hat: „Ou je fais les interviews, ou je vois les spectacles.“ (LEL, 37). Oberflächlichkeit, Desinteresse und Inkompetenz, darauf reduziert sich hier das Bild der Theaterkritik. Paradoxerweise trägt gerade die Journalistin die erste positive Zeitungskritik des Stücks von Meslier in der Tasche. Als der Theaterregisseur sie entdeckt und Charles vorliest, schwenkt dessen Stimmung um. Doch seine Hochstimmung blendet ihn ebenso wie die vorausgehende Depression für die Reali- 127 Die folgenden Inhaltsangaben und Analysen dieser beiden Stücke (bis Ende 5.1.1) wurden im Rahmen eines Aufsatzes zur Auseinandersetzung zwischen Regisseur und Dramenautor im französischen Gegenwartstheater teils wörtlich, teils mit Abweichungen vorab veröffentlicht, siehe Schmitz 2008: 222-229. 65 tät. Er nimmt das Geschehen außerhalb seiner Theaterwelt, den Schlaganfall seines Schwiegervaters, erst wahr, als es fast zu spät ist. Das Verhältnis zwischen dem Dramenautor und dem Regisseur Michel ist angespannt. In L’Eloignement wird deutlich, wie der Tag nach einer générale zur Zerreißprobe für die Beziehung werden kann. Michel spricht gegenüber Charles von Längen im Text. Charles kritisiert die Lichtregie, die Größe des Theaters und das zu pathetische Spiel der Schauspielerin Madeleine. Michel erinnert ihn an ihre enge Zusammenarbeit während der Proben, aber der Autor wirft ihm vor, er habe ihn nicht mit den Schauspielern sprechen lassen. Der Konflikt, in dem jeder versucht, dem anderen die Schuld für einen möglichen Misserfolg zuzuschieben, spiegelt die Rollenverteilung zwischen Dramenautor und Regisseur in den Zeiten des Regietheaters wider: Michel: Sur le plateau, il n’y a qu’une personne qui dirige, ou alors c’est le bordel. […] Tu devrais t’écrire des monologues, les mettre en scène et les jouer, ce serait plus simple. Et les lumières, ça ne te tente pas? C’est passionnant, tu devrais essayer! Charles: Bon. Alors le metteur en scène dirige, les acteurs répètent. Et l’auteur? Qu’est-ce qu’il fait, l’auteur? Hein? C’est quand même lui qui l’a écrite, la pièce! Michel: Oui, mais quand le rideau se lève, s’il n’y a pas d’acteurs, il n’y a pas de pièce. […] Charles: Et s’il n’y a pas de metteur en scène? Michel (souriant): Sans jardinier, il n’y a pas de jardin. (LEL, 30). Michel ist sich seiner Macht bewusst, er weist Charles einen Weg, den etliche französische Autoren, die ihre Stücke selbst spielen und inszenieren, bereits gegangen sind. Gegenüber dem lächerlich wirkenden Dramatiker erscheint der Regisseur Michel, der das Spiel seiner Schauspieler verteidigt, souverän und gelassen. Lächelnd gesteht er ein, dass auch ihm als „jardinier“ Fehler in der Regie unterlaufen können: Michel (souriant aussi): Je peux aussi me tromper. Mal préparer mon terrain, couper mes rosiers trop court. Un orage peut tout détruire. […]. (LEL, 31). Als Charles die Verantwortung für den möglichen Misserfolg übernehmen will und Michel fragt, warum er sein Stück überhaupt inszeniert habe, betont Michel den Beitrag aller Beteiligten zu der Produktion: Michel: [...] j’en ai jusque-là de tes angoisses. Il n’y a pas que toi, mon vieux. On est tous embarqués sur le même bateau, on a tous fait notre boulot, le mieux possible, alors maintenant repos! […]. (LEL, 35). Die Auseinandersetzung endet, als beide die Kritik der Zeitung, die die Journalistin mitbringt, gelesen haben, denn der Kritiker lobt darin sowohl den Theatertext als auch die Werktreue der Inszenierung (LEL, 39). Als die Journalistin das Interview fortsetzt, besteht Charles auf einer Wiederho- 66 lung der Aufzeichnung, in der sich der Dramenautor und der Regisseur nun gegenseitig Komplimente machen. Loleh Bellons Komödie ist ein psychologisches Drama, das die Figur des Dramatikers aus der Innenperspektive beleuchtet und dessen Abhängigkeit von der Rezeption seines Werkes vor Augen führt. Zugleich zeugt dieser Dramentext von der Infragestellung der Bedeutung des Bühnenautors durch den wachsenden Einfluss des Regisseurs auf die Theaterproduktion. Der Dramenautor wird zur larmoyanten Figur und gleicht damit den von Haïm und Kraemer gezeichneten Dichterfiguren. Noch offensichtlicher wird die Ohnmacht des auteur dramatique in Jean- Claude Grumbergs Theaterstück L’Indien sous Babylone (1985), das den Dramatiker in den Fängen des staatlichen Kulturapparats zeigt. Der Autor César Bysminski wird im Pyjama von den Kulturbeamten Le Premier und Le Deuxième aus seiner Wohnung entführt und in das Untergeschoss eines Verwaltungsgebäudes gebracht. Dort erwartet ihn Le Sous, der Unterstaatssekretär für kulturelle Angelegenheiten, der dem Dramatiker eine Auftragsarbeit für den französischen Staat anbietet: Bysminski soll ein Stück schreiben, das anlässlich der Feierlichkeiten zur Jahrtausendwende unter der Regie eines metteur en scène d’Etat aufgeführt werden soll. Bysminski sträubt sich und behauptet krank zu sein. Als es Le Sous mit Schmeicheleien nicht gelingt, den Autor zu überzeugen, fragt er Bysminski nach seiner finanziellen Situation und gibt zu, dass er von Bysminskis künstlerischem Werk nichts hält. Der ausersehene Regisseur Pierre Laval erscheint und mustert Bysminski verächtlich. Le Sous stellt die beiden einander vor und lenkt das Gespräch auf die Themensuche. Der Regisseur hat einen Computer nach der Zielgruppe des Gegenwartstheaters befragt und die Antwort erhalten, man müsse zeitgenössisches Theater für die breite Masse machen, die sich vorwiegend für Sex interessiere. Der Computer hat eine Textvorlage für eine „petite œuvrette“ (IsB, 27) erstellt, die dem kulturellen Auftrag des Staates sowie dem Publikumsgeschmack Rechnung tragen soll. Bei dem Stück handelt es sich um eine 1968 spielende Dreiecksgeschichte zwischen zwei Lesben und dem betrogenen Ehemann. Pierre Laval nennt dieses Boulevardstück Boulevard périphérique und hat ein Demonstrationsvideo zu dem Stoff gedreht. Nach der Vorführung reagiert Bysminski mit Krämpfen und übergibt sich. Le Sous fordert eine Verlängerung des Stücks und kritisiert ein Requisit, danach lässt er die beiden gegen den Willen Bysminskis, der seine Angst zugibt, allein. Laval ist sich ihrer guten Zusammenarbeit sicher. Bei einer autogenen Übung, deren Takte Bysminski zählen muss, schläft der Regisseur ein. Bysminski ruft seine Mutter an und bittet um die Telefonnummer seines Anwalts. Als Le Sous und die mit der Besorgung von Bysminskis Kleidern beauftragten Kulturbeamten zurückkehren, welche berichten, die Gerichtsvollzieher seien in seiner Wohnung, nimmt der Dramenautor die Auftragsarbeit des 67 Staates an. Er verlangt einen Vorschuss und ein Taxi, das ihn zu seiner Mutter bringt. Le Sous hält ihn zurück, denn er erwartet den Besuch der Präsidentin einer finanzkräftigen Stiftung. Er zwingt Bysminski, sich anzuziehen und die Dame zu empfangen, die ihm den Vorschuss gewähren kann. In Vertretung der Präsidentin kommt die Aushilfskraft Véronique und erkundigt sich nach „Sysminski“, um ihn zu fotografieren. Die Kulturbeamten, die Véronique ebenfalls für Dichter hält, fühlen sich geschmeichelt. Bysminski soll sie die Dichtkunst lehren, aber während seines Vortrags fangen sie an zu gähnen. Noch einmal bittet Bysminski vergeblich darum, zu seiner Mutter gebracht zu werden. Nachdem die Beamten ihn zurückgelassen haben, erscheint eine farbige Raumpflegerin und gibt ihm etwas zu essen. Le Sous kehrt zurück und unterrichtet Bysminski darüber, dass er keinen guten Eindruck hinterlassen habe. Der Autor soll ihm einen zehnseitigen Entwurf des Dramas geben, den die Stiftung genehmigen muss. Bysminski verlangt erst den Vorschuss und schickt den Unterstaatssekretär zu der Stiftung, um das Geld zu besorgen. Als er gegangen ist, lässt er sich von der Raumpflegerin eine Geschichte aus ihrer Heimat erzählen und den Weg aus dem Gebäude erklären. Er verschwindet im Dunkeln, und es erscheint ein Indianer, gefolgt von einem Hund. Jean-Claude Grumbergs Komödie ist eine Satire, die die Bedingungen der création contemporaine ridikülisiert. Bysminski verkörpert einen durch den staatlichen Kulturapparat und den Regisseur entmündigten Dramatiker. In Hausschuhen und Pyjama wird der etwa 50-jährige „jeune auteur“ (IsB, 18) von den Kulturbeamten, die in seine Wohnung eindringen und ihn wie einen Verbrecher behandeln, in die in das Untergeschoss eines Verwaltungsgebäudes verlegte Kulturabteilung, „sous Babylone“ (das Viertel der Rue de Babylone in Paris, wo sich einige Ministerien und die Präfektur befinden), gebracht und dort festgehalten. Schon in der Eröffnungsszene werden die Ohnmacht und die Erniedrigung des Dramenautors manifest. Bysminski wirkt weinerlich wie ein Kind. Sein Verhalten ist Ausdruck einer Regression und eines Ödipuskomplexes. Die Kulturbeamten zwingen Bysminski, dem Unterstaatssekretär in einem unwürdigen Aufzug zu begegnen. Es gelingt ihm nicht, sich der Hose des schlafenden Regisseurs zu bemächtigen. Die einzige Bekleidung, die die Beamten aus seiner Wohnung holen, ist die Tracht eines jugendlichen tschechischen Komsomolzen, in die der Autor sich hineinzwängen muss anlässlich des Besuchs der Vertreterin der Stiftung. Sie schenkt ihm Bonbons. Wie in La Baignoire ist die Mutter für den Dramenautor eine wichtige Bezugsperson. Je bedrohlicher ihm die Lage erscheint, desto häufiger verlangt Bysminski nach seiner Mutter und flüchtet am Ende ersatzweise in den Schoß der mütterlichen Raumpflegerin. In Le Sous sieht er einen Lehrer, für den er eine Dramenskizze schreiben muss. 68 Die Entmündigung des Dramatikers geht einher mit dem auch in den anderen Stücken vorhandenen Motiv des kranken Künstlers. Bysminski leidet an Inkontinenz, hat Krämpfe, übergibt sich und zeigt Burn-Out- Symptome: Bysminski (vague). Boh, …J’ai des troubles divers, et d’été… Je me sens vide surtout, voilà, vide! Je me sens très très mal quoi, en gros voilà! (IsB, 16). Die innere Leere, die seine Schaffenskraft lähmt, äußert sich in einer Art Lebensekel: „Une sorte de de grande sensation de dégoût, disons…“ (IsB, 16). Ihm mangelt es an Vitalität und Inspiration. Er wird als „fragile“, „un peu dérangé“ und „bouleversé“ bezeichnet; der Regisseur Pierre Laval, den Le Sous als „un roc“, „un marbre“ charakterisiert, hat die Oberhand (IsB, 30). Laval weist Bysminski die Rolle eines „assistant dramaturge en chef“ zu (IsB, 33); er selbst kritzelt seine „écriture scénique“ 128 auf die Tischdecken der Kantine und würde am liebsten mit einem unerfahrenen „jeune rewriter“ zusammenarbeiten, der möglichst keine Dialoge schreibt (IsB, 28). Er nutzt neue Medien (Video, Computer) zur Visualisierung seiner Ideen, der Text wird zur Nebensache, nur das Schweigen ist für ihn revolutionär. Im Vergleich zu Bellons Theaterstück, in dem Regisseur und Autor noch Dialogpartner sind, erfährt die Degradierung des Dramatikers hier eine Steigerung, was auch der geringe Redeanteil Bysminskis zeigt. Ein Gedankenaustausch zwischen ihm und dem Regisseur findet nicht mehr statt. Der Regisseur wird zum „auteur du spectacle“ 129 , der sich nicht zensieren lässt und nicht einmal einen Bühnenbildner braucht (IsB, 31). Der Autor mutiert zum Indianer des Regisseurs und des Kulturapparats, zu einer unterdrückten aussterbenden Spezies, die Grumberg im Vorwort zu seinem Drama beschreibt: Bien qu’il appartienne à chaque metteur en scène si toutefois il s’en trouve - de désigner son propre Indien, je vais cependant tenter de décrire le mien. […] Seul survivant d’un lointain massacre, dans lequel auraient disparu la totalité de sa tribu, aussi bien que sa culture et sa langue, et jusqu’à son cheval, il semblait à jamais absorbé dans son deuil. (IsB, 6). Indien bedeutet im Argot ‘malfaiteur’ und ‘individu quelconque’ 130 ; Bysminski wird wie ein Verbrecher und ein Wesen ohne eigene Identität behandelt. Seinen Namen können die Kulturbeamten kaum schreiben, der Regisseur und die Vertreterin der Kulturstiftung verunstalten ihn (Baisemain, Sysminski). Bysminski stellt seine Identität selbst in Frage, als er sich 128 Roger Planchon: „L’écriture scénique est totalement responsable, de la même façon qu’est responsable l’écriture en soi, je veux dire l’écriture d’un roman ou l’écriture d’une pièce“. Entretien avec Arthur Adamov et René Allio, Avril 1960, zitiert nach Dort 1992: 984. 129 Vinaver 1989: 251. 130 Colin/ Mével 1996: 339. 69 Laval mit dem Namen Baisemoncul (IsB, 25) vorstellt, der ein Abhängigkeitsverhältnis suggeriert 131 . Grumbergs Drama spiegelt farcenhaft den theoretischen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre über das Regietheater wider. Jean Pierre Thibaudat spricht von einer „crise d’identité“ des Autors und beschreibt dessen Entthronung: Si l’acteur fut le roi du théâtre à la fin du XIXe siècle, si l’auteur régna en maître au début de ce siècle, c’est le metteur en scène qui depuis trente ans du moins a pris le pouvoir sur le plateau des théâtres et assujetti les auteurs (morts de préférence) à son bon vouloir. On parle désormais d’’écriture scénique’ […] les auteurs jouent les seconds rôles et parfois les figurants. 132 Die schwierigen Bedingungen der Erstinszenierung zeitgenössischer Dramen, die Grumberg karikiert, schildert Raymonde Temkine, die von einem „parcours du combattant“ des Dramenautors spricht und die Subventionspraxis des französischen Staates erläutert: C'est essentiellement la Direction du Théâtre et des Spectacles qui passe commande, mais seulement à 'des auteurs dramatiques confirmés ou des écrivains de notoriété' tentés par l'écriture dramatique. 133 Demgemäß fordert Grumbergs Unterstaatssekretär von Bysminski, der zugleich Poet, Romancier, Essayist, Philosoph und Dramatiker ist (IsB, 11), ein wegweisendes Drama, „une œuvre dramaturgique majeure, originale et contemporaine“, und beschimpft ihn, als er kein Thema findet, mit den Worten seines Ministers als „double merde“ (IsB, 16ff.). Le Sous und der Regisseur, der sich über die vielen zugesandten Manuskripte beschwert, halten nichts von der création contemporaine. Den Plot liefert der Regisseur und führt ihn als „Theatervideo im Theater“ vor, wie aus der Regieanweisung hervorgeht. Die Krise des Autors und seine Abhängigkeit vom Regisseur sind bis in die 1990er Jahre Gegenstand der Reflexion. Laurence Bailloux und Olivia Burton analysieren die Folgen der Ablösung des Autorentheaters durch das Regietheater: Conséquence directe de cette révolution sur l'auteur: de sollicité il devient solliciteur. Il doit vendre ses œuvres auprès des metteurs en scène. Lui qui se trouve à la source même du théâtre, dont le texte assurera la pérennité, la mémoire, du théâtre, il doit se transformer en 'représentant de commerce'. 134 Sie erkennen aber eine neue Generation von Dramenautoren, welche aus dem Theatermilieu hervorgehen, sich nicht primär als „écrivain“, sondern 131 Colin/ Mével 1996: 185. „Baiser ou lécher le cul de qn: ‘le flatter outrageusement’.” 132 Thibaudat 2000: 8, 15, 16. 133 Temkine 1992: 185. 134 Bailloux/ Burton 1996: 67. 70 als „praticiens de la scène“, d.h. als Theatermacher definieren und mit einer Truppe zusammenarbeiten (z.B. Philippe Minyana). 135 In L’Indien sous Babylone verliert nicht nur der Dramatiker, sondern auch die Kultur ihren Status in der Gesellschaft. Die Verlegung der Kulturabteilung in das Untergeschoss irgendeines Verwaltungsgebäudes hat Symbolcharakter; die aus anderen Abteilungen dorthin versetzten Kulturbeamten interessieren sich nicht für Kultur. Der Staat ist auf Gelder aus der Privatwirtschaft angewiesen, um Theaterprojekte zu finanzieren. Grumberg registriert auch in den 1990er Jahren ein allgemeines Desinteresse an Theatertexten: Il y a un manque d’intérêt pour les écritures dramatiques sous quelque forme que ce soit. […] On remonte ainsi indéfiniment les mêmes classiques, alors que le répertoire des écritures dramatiques (contemporaine, mais aussi classique) est infini ! 136 La Baignoire, Thomas B., L’Eloignement und L’Indien sous Babylone sind Zeugnisse der Selbstbefindlichkeit des Dramatikers und des französischen Theaters in den 1970er und 1980er Jahren, in denen im Zuge der Entliterarisierung des Theaters die création collective Erfolge feiert und das Regietheater das Autorentheater verdrängt. Autoreferentiell sind diese Stücke auf autobiographischer, soziokultureller und theatergeschichtlicher Ebene: Die Stücke beschreiben den Schaffensprozess eines Dramenautors und sein Verhältnis zur Theaterkritik, sie stellen die Frage nach der Rolle des Dramatikers in Kultur und Gesellschaft und problematisieren die Funktion des Theaters als Kunstform am Ende des 20. Jahrhunderts angesichts der Konkurrenz der neuen Medien. Zugleich sind diese Dramen selbst Ausdruck der Krise, die sie in narzisstischer Selbstbespiegelung beklagen; sie enthalten keine ästhetische Innovation, sondern spielen mit Topoi und Versatzstücken der Psychoanalyse und des Künstlerdramas wie der Regression und dem Ödipuskomplex, der Antinomie Kunst-Leben, der Idee des künstlerischen Schaffens als Leidensweg, dem Zusammenhang von Künstlertum und Krankheit, Tod und Genialität. Dabei entsteht ein intertextuelles Netz von Verweisen auf Freud, Schopenhauer, Nietzsche, die Passion Christi, Shakespeare, Marivaux, Goethe, Strindberg, Beckett, Pirandello, Brecht, Thomas Bernhard und den theoretischen Diskurs über das Regietheater, welches zeigt, dass sich das postmoderne Theater vowiegend aus bekannten Quellen speist. Paradoxerweise ergibt das Lamento über die Krise jeweils doch ein Theaterstück und versieht so die Aussage über die Agonie des Autors und des Theaters mit einem Fragezeichen. 135 Bailloux/ Burton 1996: 68-70. 136 Jean-Claude Grumberg, zitiert nach Bailloux/ Burton 1996: 59. 71 5.1.2 Die Figur des Theaterregisseurs Die Figur des Theaterregisseurs, die bei Loleh Bellon und Jean-Claude Grumberg als Antagonist des Dramatikers erscheint, wird in den 1980er und 1990er Jahren in den Theaterstücken Flaminal Valaire (1980) von Maurice Regnaut, Dialogue sur Minetti (1988) von Philippe Braz und La représentation (1991) von Alain Nadaud zur Hauptfigur. Diese Theatertexte gewähren Einblick in die Regiearbeit, beleuchten kritisch die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler und reflektieren über die Rolle des Theaterregisseurs und des Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts. Alain Nadauds Komödie La représentation entstand im Rahmen des Projekts Ecrivains en Seine-Saint Denis auf der Basis von Notizen, die Nadaud sich während der Teilnahme an den Proben zur Saison 1987-88 der Maison de la culture 93 in Bobigny machte. Ort der Handlung ist eine Bühne, vor der einige Stuhlreihen aufgestellt sind. Ein Schriftsteller, der früher für das Theater geschrieben hat und nun ein Buch, eventuell einen Roman, über das Theater schreiben will, sucht den Regisseur Laurent in der Pause einer Bühnenprobe auf und versucht die Erlaubnis zu erstreiten, den Proben des Stücks, das gerade inszeniert wird, beizuwohnen. Der Schriftsteller und der Regisseur diskutieren über die Tätigkeit des Schriftstellers und des Regisseurs und vergleichen die Regiearbeit mit der literarischen Produktion. Der Schauspieler Louis, der Lichtregisseur Tonio, die Tonregisseurin Julia und die Regieassistentin mischen sich in dieses Streitgespräch, in dem auch die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler hinterfragt wird. Die Diskussion endet damit, dass der Regisseur dem Schriftsteller die Teilnahme an den Proben verwehrt und die Zuschauer in einer Publikumsadresse auffordert, ebenfalls den Raum zu verlassen. La représentation steht in der Tradition der Impromptu-Stücke, in denen nach dem Modell von Molières L’Impromptu de Versailles (1663) eine Schauspieltruppe bei der Probe gezeigt wird. Die Handlung beschränkt sich hier auf die Pause der Bühnenprobe. Welches Stück geprobt wird, bleibt offen. Es kommt nicht zu einem ständigen Wechsel der Fiktionsebenen, nur die dreizeilige Publikumsadresse des Regisseurs am Ende bewirkt eine epische Brechung der Illusion. Nadauds Drama erinnert an Jean Giraudoux’ L’Impromptu de Paris (1937), in dem Robineau zur Probe bei Louis Jouvet erscheint, um im Auftrag des Staates einen Bericht über das Theater zu verfassen. Die Figur des Eindringlings, der die Arbeit der Theaterleute kontrollieren will, ist beiden Stücken gemein und entspricht dem Marquis fâcheux La Thorillière in Molières Impromptu. Der Theaterregisseur wird bei Nadaud von einem Schriftsteller und dem Schauspieler Louis in Frage gestellt. Der Schriftsteller vertritt die Perspektive des Außenstehenden, während der Schauspieler das Verhältnis zwischen Regisseur und Schauspieler aus der Innensicht beurteilt. 72 Der Einakter beginnt mit der realistischen Darstellung der Produktionsbedingungen eines Theaterstücks. Der Regisseur lobt Louis für die soeben gespielte Szene, mahnt ihn aber, nicht unkonzentriert zu sein. Er kündigt eine Pause an und gibt dem Tonregisseur und der Lichtregisseurin Anweisungen. Da taucht der Schriftsteller auf, den Laurent für einen Journalisten hält und hinauswerfen lassen will. Erst der Hinweis, er schreibe ein Buch über das Theater, veranlasst den Regisseur, nach dem Grund seines Erscheinens zu fragen. Die Bitte des Schriftstellers um Teilnahme an den Proben stößt auf Ablehnung. Der Regisseur will keinen blinden Passagier (R, 16), der ihn ablenkt und kritisch beäugt. Obwohl der Schriftsteller beteuert, er komme nicht, um den Regisseur zu beurteilen, fürchtet Laurent, selbst zum Akteur in dem Schauspiel der Regiearbeit zu werden: Le metteur en scène: […] Non seulement vous assisteriez à la pièce elle-même, et plusieurs fois, mais par surcroît, vous prendriez part à la parodie de cet autre spectacle, qui serait celui de la pièce en train d’être montée… L’acteur (désignant le metteur en scène): Et avec monsieur comme acteur principal. […]. (R, 18). Seinen Status als Beobachter will der Regisseur nicht durch die Rolle als Beobachteter in Frage stellen lassen. Die Illusion des inzenierten Stücks und die der Arbeit hinter den Kulissen sollen erhalten bleiben, Geheimnisse und Schwächen seiner Regieführung will er nicht preisgeben. Ungern spielt der den „homme pris en sandwich“ (R, 40), der durch den Schriftsteller und den Schauspieler gezwungen wird, über sein Metier nachzudenken. Der Schriftsteller vergleicht den Beruf des Regisseurs mit seiner Tätigkeit. Schreiben ist für ihn eine zusätzliche Gabe, kein Amt und kein Beruf; „Schriftsteller“ sei ein Titel, der sich auf nichts gründe, erst am Ende seines Lebens könne der Schriftsteller bei Betrachtung seines Werkes behaupten, er sei ein Schriftsteller gewesen. Die Schriftstellerei charakterisiert er als „état quasi invisible, sans véritable réalité, si ce n’est, cette fois, une incompétence généralisée pour tout le reste’’ (R, 21), die Regiearbeit dagegen bezeichnet er als „état tangible, presque palpable“ und hält sie für konkret und in ihrer Kompetenz messbar: L’écrivain: […] Qui pourrait douter que vous êtes présent, que vous avez une action dont on peut vérifier les effets, que ce soit sur le corps des acteurs, la lumière par exemple, ou les sons? Il est indéniable que c’est ça, votre compétence, qu’on pourrait même mesurer, puisqu’elle comporte nombre d’aspects purement techniques. (R, 21). Mit diesem Berufsbild schmeichelt er Laurent und spielt die eigene Bedeutung mit Topoi über den Schriftsteller herunter, um bleiben zu dürfen. Der Regisseur durchschaut ihn und fragt, was er tun würde, wenn er die Entwürfe des Schriftstellers lesen wollte. Für Laurent haben die Notizen, die er sich zur Vorbereitung der Proben macht, den gleichen Rang wie die Konzepte des Schriftstellers, die écriture scénique eines Regisseurs entspricht der écriture des Schriftstellers und ist ein work in process: 73 Le metteur en scène: […] Qu’est-ce que c’est, des répétitions? Tout autant de feuilles de papier sur lesquelles se griffonnent des ébauches, qu’on froisse ensuite, plein d’incertitude, et qu’on jette au panier, avec la nuit dessus. (R, 24-25). Der Regisseur sieht die Aufführung durch die Präsenz des Schriftstellers gefährdet. Die mise en scène ist für ihn eine „mise à vif“ , die etwas Magisches hat und in der die „réaction chimique tant attendue“, das ideale Zusammenspiel aller Beteiligten, durch ein fremdes Element beeinträchtigt würde (R, 25-26). Als der Schriftsteller gehen will, ruft Laurent ihn zurück und rechtfertigt seine Haltung mit der Empfindlichkeit seines Berufsstands. Er mystifiziert die mise en scène als Fleischwerdung des Wortes (R, 29). Die Proben sind ein Kreuzweg, auf dem der Schauspieler zurückstecken und die Idee, die er sich von dem Stück gemacht hat, aufgeben soll. Der Schauspieler wird auseinandergenommen, damit die dramatis personae entstehen und ein Eigenleben führen können: Le metteur en scène: […] On croit que les répétitions ont habituellement pour fonction de mettre une pièce en scène. Mais ceci n’aura lieu que dans la mesure où un homme sur la scène aura été auparavant mis en pièces. Les personnages ne pourront se détacher qu’à contre-jour de cette identité qui aura été perdue. Car c’est l’opacité de ce qu’il est, lui, en tant qu’acteur et comme être vivant, qui fait obstacle à leur prise d’autonomie. (R, 36-37). Der Schriftsteller und der Schauspieler Louis fechten dieses autoritäre Regiekonzept an. Der Schriftsteller bezeichnet die Regiearbeit als „comédie d’explication“ und als Versuch der Depersonalisation des Schauspielers (R, 40). Der Schauspieler betrachtet die Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Schauspieler als „jeu de rôles“ (R, 43-44), in dem die Rollen festgelegt sind und der Schauspieler verunsichert wird. Er bestätigt den Eindruck des Autors aufgrund seiner Erfahrung mit verschiedenen Regisseuren: L’Acteur: [...] De manière dissimulée, ou alors ouvertement, un seul objectif primerait, dont ce qui s’appelle le « style » ou « la vision » seraient le masque : désarçonner l’acteur; ne lui laisser aucun répit; le harceler jusqu’à le pousser à bout et lui arracher tout ce qu’il pourrait y avoir encore de naturel en lui. En bref, l’obliger à descendre jusqu’au degré zéro de sa personne, qui serait déjà le premier degré du personnage. (R, 46-47). Unter Rückgriff auf die Begriffe style und degré zéro 137 , die Roland Barthes in Le degré zéro de l’écriture verwendet, charakterisiert Louis die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler als hierarchische Struktur, in der der Regisseur den Schauspieler auf den Nullpunkt der Person reduziert, um die Theaterfigur zu erschaffen und die Inszenierung durch seinen Stil zu prägen. Mit Zitaten aus Diderots Paradoxe sur le comédien stellt Louis seine Thesen in einen dramentheoretischen Kontext: 137 Barthes 1968: 12, 14, 15. 74 L’Acteur […]: „Le second: A vous entendre, le grand comédien est tout et n’est rien. Le Premier: Et peut-être est-ce parce qu’il n’est rien qu’il est tout par exellence, sa forme particulière ne contrariant jamais les formes passagères qu'il doit prendre.” (R, 41). Louis’ Darstellung des Schauspielers verweist auf Diderots Ideal des kühl reflektierenden Schauspielers, der keinen Charakter besitzt und daher alle möglichen Rollen spielen kann. 138 Der Regisseur mokiert sich über die Manie des Schauspielers, Diderot zu zitieren. Während er Kaffee holt, um die Diskussion abzubrechen, verteidigt die Regieassistentin die Regie. Sie erleichtere dem Schauspieler den Zugang zum Text und zur eigenen Interpretation. Louis aber sieht in den Proben, in denen ganze Textpassagen gestrichen werden, eine „mise à mort“, eine Dekonstruktion der Figuren und des Stücks; um Konflikte zu vermeiden, tut er blind, was der Regisseur sagt (R, 48-49). Für die Regieassistentin ist das Ziel der Proben, dass aus der Dekomposition etwas sinnvolles Neues entsteht. Der Regisseur kehrt zurück und erklärt dem Schauspieler, der über die Vielzahl der Proben und den Perfektionismus des Regisseurs klagt, unter welchem Erfolgsdruck die letzten Proben vor der Aufführung stehen. Er beschreibt die Probleme der Bühnentechnik und der Regieführung aus seiner Sicht: Le metteur en scène: […] Même pour nous, cela frôle parfois l’hallucination: au bout d’un moment, on voit tout en relief, sur plusieurs plans. Les sons, les couleurs, les gestes des acteurs apparaissent dédoublés. Peu à peu, le texte s’étire et ne défile plus qu’au ralenti; chaque instant s’en trouve comme décomposé. On atteint à une sorte d’immobilité qui fait que plus rien n’interfère ni ne vient troubler cette vision où les éléments sont à la fois synchrones et exactement détachés les uns des autres. (R, 64). Er betont die Notwendigkeit, sich vom Text zu lösen und ihn an den richtigen Stellen zu bearbeiten, und gibt der Regie den Vorrang vor dem Text: Le metteur en scène: Je reconnais que c’est là le côté déstructeur des répétitions […] qui nous pousse, si nous voulons garder un pouvoir sur le texte, à casser cette dépendance où celui-ci cherche à nous tenir. […] Il ne s’agirait pas de casser la pièce n’importe où, par le milieu, au hasard d’une scène. Ce serait un vrai gâchis. (R, 66-67). Den Vorwurf des Perfektionismus weist er zurück mit dem Argument, die Proben seien eine Baustelle, der Weg zur endgültigen Fassung der Inszenierung führe über viele fragmentarische Vorstadien: Le metteur en scène: […] A force d’approximations, d’ébauches, peu à peu surgira la partie dure qui donnera son squelette à la pièce. […] Est-ce ma faute si, 138 Diderot: Paradoxe sur le comédien (postum 1830): „On a dit que les comédiens n’avaient aucun caractère, parce qu’en les jouant tous ils perdaient celui que la nature leur avait donné, qu’ils devenaient faux […]. Je crois qu’on a pris la cause pour l’effet, et qu’ils ne sont propres à les jouer tous que parce qu’ils n’en ont point.” Diderot 1981: 163. 75 pour parvenir à une version qui puisse être définitive, il est nécessaire qu’une multitude de formes n’aient vu le jour qu’à titre provisoire, à l’état de bribes, d’instants morts-nés? (R, 74). Im Fokus der Regiearbeit stehe die Aufführung, der auch der Regisseur mit Versagensängsten entgegensieht (R, 90). Der Schriftsteller fragt Laurent nach der Bedeutung der Requisiten. Der Regisseur kritisiert den um Realismus bemühten Einsatz von Requisiten, er plädiert für einen sparsamen Umgang mit Requisiten, denn sie könnten die Schauspieler ablenken (R, 79). Nach einer Diskussion über die Illusion im Theater zögert Laurent weiter, dem Bleiben des Schriftstellers zuzustimmen. Julia entlarvt seine Taktik und wirft ihm vor, den inspirierten, in sein Werk vertieften Regisseur zu mimen, der sein Künstler-Ich gegen äußere Angriffe schützen müsse. Der Regisseur gibt zu, ein schlechter Schauspieler zu sein, der aber die Kunst der Irreführung und der Simulation noch beherrsche. Schriftsteller seien ebenfalls falsch, egozentrisch und empfindlich. Im Anschluss an eine Reflexion über das Verhältnis des Romans und des Theaters zur Realität will der Schriftsteller sich in den Zuschauerraum setzen, der Regisseur aber bittet ihn, sie nun im Interesse des Theaters in Ruhe weiterarbeiten zu lassen. Er verweigert ihm sowie den anwesenden Zuschauern das Schauspiel der mise en scène: Le metteur en scène: […] Le mieux serait que vous renonciez de vous-même, que vous nous laissiez travailler. Croyez-moi: je vous en serai reconnaissant. Disons que ce serait dans l’intérêt même du théâtre. Vous ne pouvez rien contre ça, hein? Julia va vous raccompagner par les coulisses […] (Se retournant vers les spectateurs) Mais qu’est-ce qu’ils font encore ici tous ceux-là Allez, hop! On me débarrasse le plancher, compris? (R, 91). La représentation gleicht strukturell Diderots theatertheoretischem Dialog Paradoxe sur le comédien, denn es werden Thesen zur Schauspielkunst und zur Regie dialektisch erörtert. Im Mittelpunkt der Figurenkonstellation steht bei Nadaud jedoch der Regisseur als Gegenspieler des Literaten und des Schauspielers. Das Motiv des Schriftstellers, das Theater aufzusuchen, entspringt dem Wunsch, Antwort auf die Frage der Funktion der Literatur und des Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts zu finden. In der Literatur erkennt er Zeichen von Dekadenz, das Theater erscheint ihm als anachronistische und archaische kulturelle Praxis: L’Écrivain: Qui ne remarque que l’époque est à la décomposition? C’est comme si nous étions cernés de toutes parts. Aujourd’hui, il y a quelque chose à la fois d’exsangue et de pourri au royaume de la littérature. On me dit qu’il en a toujours été ainsi. […] L’assistante: Et quel est le rapport avec le théâtre dans tout ça? L’Écrivain: […] je me suis mis à réfléchir à cet espace-là, anachronique et, comment dire, j’espère que vous ne m’en voudrez pas, archaïque? Non, pas archaïque! Mais primitif […] Où des gens, à l’écart de l’agitation des rues, s’enferment au beau milieu de l’après-midi, toutes portes fermées et sans témoin, pour faire germer dans l’ombre ce qui ensuite viendra éclore, en pleine 76 lumière. […] Et dans quel but? Afin de préserver un rite très ancien, où continue de se jouer - et où se perpétue? une partie de ce que sont nos origines qui, sans ça, seraient depuis longtemps perdues. (R, 28-29). Der darin anklingende Kulturpessimismus offenbart sich auch in der psychologischen Komödie Dialogue sur Minetti von Philippe Braz, die an einem unbestimmten Ort ähnlich einer Kunstgalerie, einem Theater oder einer Theaterklause spielt. Der bekannte Regisseur Wittegenski hat den Schauspieler Marc Dubourg einbestellt, um ihm die Rolle des Portiers in Thomas Bernhards Stück Minetti anzubieten. Dubourg bittet um Erklärungen zu seinem Text, der Regisseur lässt ihn aber kaum zu Wort kommen, sondern spricht über die Hauptfigur Minetti und seine Vorstellung von Theater. Als Wittegenski dem Schauspieler endlich seine Rolle erläutert, teilt er ihm anschließend mit, er werde das Stück gar nicht inszenieren. Dubourg resigniert zunächst, gewinnt aber in dem nun folgenden Dialog über den Sinn des Theaters die Oberhand. Er wirft dem verbitterten und alkoholabhängigen Regisseur vor, die Ideologie des artiste maudit zu vertreten und sich mit seinem Ideentheater nur an eine Elite zu wenden. Der Schauspieler hingegen plädiert für ein Theater der Emotionen und des Vergnügens, verabschiedet sich und lässt den Regisseur nachdenklich zurück. Wie Nadaud stellt Braz die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler zuerst als Abhängigkeitsverhältnis dar. Der Regisseur Wittegenski demütigt und verunsichert seinen „acteur subjugué“ (DsM, 16). Er hört dem Schauspieler nicht zu, unterbricht ihn und fragt mehrmals, ob er den Text Minetti gelesen habe. Die Repliken des Schauspielers beschränken sich in Szene 1 des vier Szenen umfassenden Dialogs auf Wortwiederholungen aus der Rede des Regisseurs und abgebrochene Sätze, mit denen der Schauspieler versucht, den Monolog Wittegenskis zu durchbrechen. Der Bitte Dubourgs, mit ihm seine Rolle zu besprechen, kommt Wittegenski erst in Szene 2 nach. Nachdem er dem Schauspieler die Gestik, die Mimik und die Diktion des Portiers an einer Replik erklärt hat, bricht er die Arbeit ab. In der dritten Szene gesteht er, er werde das Stück nicht inszenieren. Der Schauspieler, der seit zwei Jahren kein Engagement hat, greift zum Alkohol, beginnt dann aber, dem Regisseur und seinen Thesen über Kunst und Theater zu widersprechen. Wittegenski und Dubourg vertreten zwei verschiedene Theaterkonzeptionen. Für Wittegenski ist jedes Schauspiel ein konkretisierter Traum, jegliches Theater sollte politisch sein (DsM, 13- 15). Der Künstler muss neue Ausdrucksformen suchen. Selbst wenn das Publikum Zerstreuung verlangt, sind schwierige Themen zu wählen: Le metteur en scène: […] Le public veut de la distraction. De la distraction! Quel âge mental a le public, selon vous? Sept, dix, quinze, trente ans? Personne ne peut répondre. Alors, il faut opter pour la maturité, c’est-à-dire pour la difficul- 77 té. La difficulté, monsieur! Ceux qui ne comprennent rien aujourd’hui comprendront peut-être demain, voilà ce qu’il faut se dire. (DsM, 18). Das Theater definiert er als „art impossible” und gerade in dieser Unmöglichkeit gelte es zu arbeiten und auszuharren (DsM, 18). Damit greift er Argumente von Thomas Bernhards Figur Minetti auf: Minetti: [...] Die Welt will unterhalten sein aber sie gehört verstört verstört verstört wo wir hinschauen nichts als ein Unterhaltungsmechanismus heute. 139 Der Schauspieler setzt dem seine Theaterauffassung entgegen. Das Theater müsse das Publikum unterhalten und belehren (DsM, 16), aber im Vordergrund stehe das Vergnügen: L’acteur: [...] Le théâtre meurt, Monsieur, de refuser le plaisir au public. Supprimez la jouissance et l’art n’existe plus. […] (DsM, 23). Dubourg kritisiert das Ideentheater als langweilig und lebensfern: L’acteur: Pour un artiste, Monsieur, la catastrophe, c’est de ne pas avoir de public. C’est de jouer devant des fauteuils vides comme rien n’existait que l’Idée. Les acteurs s’ennuient, les metteurs en scène s’ennuient, le public s’ennuie, tout cela au nom de l’Idée. On ne vit pas avec une idée, Monsieur, on vit avec de la vie, avec du rire, des larmes et des émotions. Je crois dans la puissance de l’émotion. (DsM, 24). Sein optimistisches Credo lautet „Rire. Chanter. Danser. Aimer.“ (DsM, 27). Wittegenski und Dubourg unterscheiden sich in ihrem Selbstverständnis als Künstler. Der Regisseur stellt die Zukunft des Künstlers, des Schauspielers und des Regisseurs in Frage und sieht sich selbst als Vertreter einer vergangenen Epoche und einer aussterbenden Spezies von Dinosauriern: Le metteur en scène: […] Et l’artiste, dans cet univers, que devient-il? L’acteur, que devient-il? Le metteur en scène, que devient-il? Minetti est comme moi, le représentant d’une époque révolue où un homme se consacrait jusqu’à la démesure à une seule tâche. Sa mission, si vous voulez. Mais le théâtre est mort, parce que nous vivons dans un monde mort. Je suis un diplodocus, bientôt réduit à l’état de fossile. Un objet de curiosité pour les historiens de l’âme et de l’art. Sentez ces doigts. Le formol, monsieur, ça pue le formol! (DsM, 26-27). Auf diesen Kulturpessimismus reagiert der Schauspieler mit dem Vorwurf, Wittegenski lebe gleich Verlaine 140 im Mythos des verfemten und unverstandenen Künstlers, der „malédiction de l’artiste“ (DsM, 31). Der Regisseur erscheint ihm als „masochiste de l’art“(DsM, 32). Wittegenski gibt ähnlich Minetti 141 zu, die Schauspielkunst führe in eine Sackgasse: 139 Thomas Bernhard: Minetti. In: Stücke 2, Bernhard 1988: 221. 140 Paul Verlaine: Les poètes maudits (1884/ 1888). 141 Minetti: [...] Ich bin einer wahnsinnigen Idee verfallen, indem ich der Schauspielkunst verfallen bin rettungslos verloren. [...]. In: Stücke 2, Bernhard 1988: 216. 78 Le metteur en scène: […] J’ai toujours eu le théâtre en horreur. [...] Un monde effeminé, où l’on prend des poses, ou l’on mime tout à la commande, pour faire de la recette. Ces objets en carton, ces décors qui finissent aux ordures, cette exaltation feinte! Pourquoi ai-je persévéré si longtemps dans cette impasse? Une forme inouïe de la lâcheté. […]. (DsM, 32). Sein Hang zum Trinken spielt auf den alkoholabhängigen Verlaine und auf das Motiv des Trinkens in Bernhards Drama Minetti an. Dubourg stellt der elitären und intellektualistischen Ästhetik des Regisseurs seine Ästhetik des Gefühls und der Körperlichkeit gegenüber: L’acteur: [...] Je fais du théâtre, Monsieur, pour ceux qui ont tout à apprendre et même comment l’ont vit. Cela vous paraît vulgaire, ne protestez pas! J’aime la vulgarité, je ne m’en défends pas. […] Mes paroles vous confirment ce que vous avez pensé dès le début, que j’étais fait de chair et uniquement de chair. […] Je suis avant tout un ventre, une bouche et une paire de couilles. Quand je danse, ça part des reins et du sexe, je laisse mes méninges au repos. Charleston, boogiewoogie, rapp, funk, rock’n roll… Vous vous étiez vraiment trompé en me convoquant. Excusez-moi. (DsM, 33). Seiner Konzeption vom spartenübergreifenden Theater folgend, die Gesang, Tanz und Unterhaltungsmusik einbezieht, verlässt der Schauspieler den Regisseur, um einen Stepkurs zu besuchen. Philippe Braz stellt den Theaterregisseur als weltfremden Intellektuellen dar, der keine Stücke mehr inszeniert, sich mit Thomas Bernhards Figur Minetti und dessen bevorzugter Rolle Lear identifiziert und resigniert den Untergang des Theaters und des eigenen Berufsstands prophezeit. Auch Maurice Regnaut zeichnet in seinem Stück Flaminal Valaire (1980) ein trauriges Bild des Theaterregisseurs: Flaminal Valaire ist ein arbeitsloser Theaterregisseur, der sich von der Gesellschaft und seiner Familie zurückzieht. Obwohl viele Theater schließen und seine Bekannte Agonde, die ein Theater leitet, in finanziellen Schwierigkeiten ist, will Flaminal nicht an das Ende des Theaters glauben. Agonde verkauft ihr Theater und wechselt zum Fernsehen. Sie bietet Flaminal, der bereits für das Fernsehen gearbeitet hat, eine Fernsehproduktion an. Flaminal beginnt einen Film über eine Baustelle zu drehen, doch das Projekt scheitert, als Agonde Selbstmord begeht. Wieder arbeitslos verbringt Flaminal schlaflose Nächte, hungert und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Nach seiner Rückkehr verkauft seine Frau Pierra das Haus und gesteht ihm, ihr Bruder Roban habe die Familie finanziell unterstützt. Darauf tötet Flaminal sie und die Kinder und verbrennt ihre Körper mit Benzin. Regnauts tragédie domestique ist eine psychologische Studie über den materiellen und sozialen Abstieg eines Theaterregisseurs, die die Arbeitslosigkeit im Theatermilieu drastisch vor Augen führt. Das Szenario vom Sterben des Theaters und der Theaterberufe, das der Theaterregisseur in Dialogue sur Minetti entwirft, ist in diesem Drama Wirklichkeit. Flaminals wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ruin geht einher mit seiner physi- 79 schen und psychischen Degradierung. Aufgrund der finanziellen Misere der Familie entfremdet er sich von seiner Frau und seinen Kindern und wird krank. Flaminal läuft Amok und ermordet seine Familie, als er erfährt, dass sein Schwager Roban, ein Universitätsprofessor, ihm die Rolle des Ernährers der Familie schon lange abgenommen hat. Den bürgerlichen Ansprüchen seiner Frau vermag er als gescheiterter Künstler nicht zu genügen. Flaminal ist das Opfer einer Theaterkrise, die Pierra als ausweglos beschreibt: Pierra: [...] Au théâtre, aujourd’hui [...], plus rien n’est possible, ils ferment tous l’un après l’autre, les théâtres, Agonde elle-même est en difficulté… (FV, 19). Seinem Umfeld erscheint Flaminal als weltfremder Idealist, der das Theater nicht aufgeben will: Léor: Le théâtre! Vous ne changerez donc jamais? Qu’est-ce qu’il vous faut pour le comprendre, que la messe est finie? […] le théâtre est mort! (FV, 44). Flaminal glaubt an das Fortbestehen des Theaters, er sieht darin eine dem Wesen des homo ludens inhärente Kunst, die den Menschen widerspiegelt: Flaminal: Il ne mourra jamais, le théâtre, jamais! Aussi longtemps que les hommes s’intéresseront à ce qu’ils font, à ce qu’ils rêvent, à ce qu’ils vivent, il y aura un art qui leur parlera d’eux, un art facile, il ne demande rien, et pourtant le plus difficile, un art qui fait que c’est aux hommes en personne à dire ce qu’ils sont, un art qui est leur pure mesure, aussi neuf toujours qu’ils le sont euxmêmes, aussi provisoire, art humain entre tous! […] si le théâtre agonisait, c’est que les hommes seraient bons pour la mort! (FV, 44). Das Theater ist für ihn ein Ritus, er vergleicht es mit dem Brotbacken (FV, 9) und mit dem Feuer, das sein Vater und er abends machten und betrachteten (FV, 51). So ist das letzte Theater, das er inszeniert, die Verbrennung der Leichen seiner Familie. Der sprechende Name Flaminal 142 und das Motto des Dramas, „La mort dans la flamme est la moins solitaire des morts“, verweisen auf das tragische Ende. Flaminal hört Stimmen, die ihm raten, die Komik des Todes oder die Tragik des Alltags im Theater zu zeigen. Agonde erscheint ihm und erörtert mit ihm die Frage, welches Theater heute noch möglich sei. Für sie bedeuten die Brüchigkeit und die Krise des Individuums den Untergang des Theaters: Agonde: Le théâtre, Flaminal, tient tout entier à cette question non pas quoi jouer, mais qui? Heureux âge, âge d’or du théâtre, ce jeune âge de jadis où l’individu existait, où de toute sa puissance, en parole, en acte, il se présentait hautement comme un tout, où son histoire, où son échec, sa chute fatale, avait le sens d’une fin du monde! […]. (FV, 22-23). 142 Flaminal lässt sich mithilfe des Petit Robert 2012 etymologisch wie folgt herleiten: „flamine n. m. < latin flamen, inis [Priester], de flare ‘souffler (sur le feu sacré)’, Antiqu. Rom. Prêtre attaché au service d’une divinité.” Rey-Debove/ Rey (Hrsg.) 2011: 1054. 80 Dem Theater bleibt als Inhalt nur das Theater, d.h. die Selbstreflexion: Agonde: Le théâtre d’aujourd’hui, qui doit-il jouer? Lui-même. Faire un théâtre ainsi qui soit pour lui-même une question de vie ou de mort, telle est entre toutes la tâche décisive: c’est à toi qu’elle incombe. (FV, 23). Mit Flaminal Valaire setzt Maurice Regnaut dieses autothematische Theaterkonzept seiner Dramenfigur um, indem er die ökonomische Situation des Theaters und der Theaterschaffenden im Frankreich der 1980er Jahre zeigt. Der Versuch der Theaterleute Agonde und Flaminal, zum konkurrierenden Fernsehen zu wechseln und es zu beleben und zu erneuern (FV, 45), scheitert. Mit ihrem Filmprojekt über eine Baustelle gelingt es ihnen nicht, sich den schnelleren Produktionsabläufen des Films und des Fernsehens anzupassen; „ [...] un artiste, il est lent, il fait du ralenti“ (FV, 83) erklärt Flaminal seiner Tochter. Regnaut zeigt einen Weg, den Theaterregisseure wie Patrice Chéreau und Ariane Mnouchkine mit ihren Film- und Fernsehproduktionen schon erfolgreich beschritten haben, ohne das Theater aufzugeben. Flaminal Valaire, Dialogue sur Minetti und La représentation zeichnen ein facettenreiches Bild des Theaterregisseurs und seines sozialen Status in den 1980er und 1990er Jahren. Die Stücke analysieren das Verhältnis zwischen Literatur und Theater, Theatertext und Inszenierung, sie hinterfragen die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler und schildern die materielle Situation eines Theaterregisseurs. Die von Nadaud und Braz kritisierte Dominanz des Regisseurs gegenüber dem Schauspieler spiegelt den Diskurs der 1960er und 1970er Jahre wider, in denen Schauspieler Theaterregisseuren vorwerfen, sie durch tyrannische Anweisungen einzuengen, und für die création collective plädieren. Seit den 1980er Jahren gehen die jungen Regisseure, die häufig zugleich auch Autor und Schauspieler sind, mehr auf ihre Schauspieler ein. 143 Die Chronik des Abstiegs eines arbeitslosen Theaterregisseurs in Flaminal Valaire ist realistisch, dieser Beruf ist für viele Regisseure zum emploi précaire geworden, wie Michel Corvin feststellt: Mais le nombre des metteurs en scène a crû considérablement dans les deux dernières décennies et s’ils ne parviennent pas à travailler dans un cadre institutionnel, ils ont peu de chance de s’imposer et de vivre de leur métier. 144 Wie in den Stücken über den Dramenautor ist die Charakterisierung der Figur des Theaterregisseurs eingebettet in eine grundsätzliche Reflexion über die Zukunft des Künstlers und des Theaters in einer Zeit, in der Theater um Zuschauer ringen oder schließen. Doch auch hier versichern Idealisten wie der junge Schauspieler in Dialogue sur Minetti und Flaminal Valaire, dass das Theater nicht sterben wird, weil es eine mit dem Wesen des Men- 143 Vgl. Corvin 1995: 598. 144 Corvin 1995: 598. 81 schen eng verbundene kulturelle Praxis ist, die ihre Ästhetik an den Bedürfnissen des Menschen ausrichten kann. 5.1.3 Die Figur des Schauspielers Die Figur des Schauspielers, welche in den thematischen Metadramen über den Theaterregisseur als dessen Opfer und Gegenpart dargestellt wird, rückt in den Theaterstücken von Bernard Da Costa, Jean-Louis Lagarce und Louis-Charles Sirjacq in das Zentrum des Interesses. Der Schauspieler erscheint bei diesen Autoren in verschiedenen Phasen seiner Karriere: als Schauspielschüler, als Mitglied einer Schauspieltruppe und als alternder Schauspieler, der sich freiwillig oder gezwungenermaßen vom Schauspielberuf zurückzieht, weil ihm keine Rollen mehr angeboten werden. Bernard Da Costas Drama Le Boomerang (1995) ist eine psychologische Komödie in vier Bildern, die die Beziehung zwischen der Schauspiellehrerin Isabelle und ihrem Schüler Pierre thematisiert. Nach vier Jahren Unterricht teilt Isabelle Pierre mit, er sei nicht für das Metier geeignet. Als er aus dem Fenster springen will, hält Isabelle ihn auf und nimmt ihn mit in ihre Wohnung, wo eine verbale und körperliche Auseinandersetzung beginnt, die mit dem Koitus endet. Am Morgen danach will sich die erfolglose alternde Schauspielerin zu einem Vorsprechen begeben, doch Pierre hindert sie daran. Das vierte Bild zeigt ein verwüstetes Apartment. Isabelle liegt auf dem Bett. Sie kommt zu sich und erfährt, dass Pierre ihren Schauspielkurs annulliert und die Regisseure über ihren angeblichen Rückzug vom Schauspielunterricht informiert hat. Ein Selbstmordversuch Isabelles scheitert, es waren nur Vitamin B-Tabletten. Pierre sieht in der Lektion, die er Isabelle erteilt hat, den Beweis für sein schauspielerisches Talent und verlässt sie. Isabelle legt eine melancholische Musik auf und begrüßt die ins Zimmer dringende Sonne. Der Titel dieses Dramas symbolisiert den Handlungsbogen: Die Attacke der Schauspiellehrerin auf den Schauspielschüler kehrt als Boomerang zurück und trifft sie selbst. Der Dialog folgt ebenfalls dem Boomerang- Prinzip: Während Isabelles Redeanteil zu Beginn des Stücks, als sie Pierre angreift, deutlich höher ist als derjenige Pierres, gewinnt Pierre im Laufe der Handlung kommunikativ immer mehr an Boden. Seine Repliken werden länger, seine verbalen Offensiven treffsicherer. So fragt er die Schauspiellehrerin, als sie in deren Wohnung angekommen sind, zunächst wie in einem Verhör („interrogatoire“, LBo, 12) über ihre Rollen, ihr Alter, ihr Privatleben und die Gründe, Schauspielerin zu werden, aus. Da Pierre Isabelle nun zu durchschauen glaubt, fühlt er sich ihr ebenbürtig und spielt das „Boomerang-Spiel“ weiter: L’Élève: Non! Restez…On parle. À égalité… (Presque avec affection) Pour une fois que l’on est à égalité… Le Professeur: (dans un sursaut de fierté) Vous vous croyez 82 à égalité avec moi? L’Élève: Mais tout à fait! (Il la provoque à nouveau)… Oui! vous avez raté votre carrière. Moi, je n’en aurai jamais. Donc, nous sommes à égalité. (Le professeur veut s’enfuir. Il la retient) Restez! On est bien, non? (LBo, 16). Der Versuch des Schauspielschülers, sich aus dem Abhängigkeitsverhältnis zu befreien, wird zum Machtspiel, zu einem Krieg („guerre“, LBo, 21), in dem alle Mittel erlaubt sind. Die Kehrseite der Aggression ist bei beiden Figuren die Suche nach menschlicher Nähe und emotionaler Bestätigung, welche im sexuellen Akt ihren Ausdruck findet. Die Abhängigkeit ist wechselseitig und geht einher mit einem Ödipuskomplex. Pierre macht Isabelle eine Liebeserklärung und bittet sie wenig später, Erbarmen mit ihm zu haben und seine Mutter zu sein. Isabelle wirft Pierre vor, sich nie um Rollen und Engagements bemüht zu haben. Sie will die Mutterrolle nicht mehr übernehmen: Le Professeur: [...] Vous vous êtes fait de ce cours, de moi-même, un alibi, un cocon. Il fallait couper le cordon ombilical. Je l’ai fait! […]. (LBo, 11). Zugleich fühlt sie sich jedoch für Pierre verantwortlich und lässt sich mit ihm ein, um ihre verlorene Jugend und ihre Einsamkeit zu kompensieren. Der eine ist des anderen Spiegelbild, beide gehören, wie Pierre feststellt, zur Kategorie der „ratés“ (LBo, 19). Isabelle hält sich für die Präfiguration dessen, was Pierre einmal sein wird, wenn er die Schauspielausbildung nicht abbricht: Le Professeur: [...] Vous voulez savoir pourquoi je vous ai toujours détesté ? […] Parce que vous étiez, à proprement parler, le double de moi-même. Que je n’en pouvais plus de me voir en vous, et vous en moi… (LBo, 35). Isabelle hat privat und beruflich keine Zukunft und flüchtet sich in den Alkohol. Nachdem Pierre ihre Existenz zerstört und sie psychisch demaskiert hat, schluckt sie Tabletten, um sich umzubringen. Pierre wird zunächst als unmündiger Schauspielschüler ohne Talent und Perspektive dargestellt, der nach der Kritik seiner Lehrerin resigniert Selbstmord verüben will. Keinem der beiden gelingt es, seinem Dasein als mittelmäßiger Schauspieler ein Ende zu setzen. Auch gegenseitige körperliche Angriffe scheitern. Vergeblich attackiert Isabelle Pierre mit einer Flasche, Pierres Versuch, Isabelle zu erwürgen, schlägt fehl. Im Laufe der Handlung kehrt Pierre den Mechanismus der Destruktion, dem er sich als Schauspielschüler ausgesetzt fühlt, um. Er emanzipiert sich und wird vom Opfer zum Henker (LBo, 25), der Isabelle in ihrer Wohnung gefangen hält. Pierre triumphiert am Ende in dem Boomerang-Spiel. Den Zustand, in den er seine Schauspiellehrerin versetzt hat, betrachtet er als Bestätigung seiner schauspielerischen Gabe. Er behauptet, alles sei nur ein Streich gewesen, um Isabelle eine Lektion zu erteilen. Er will an einem anderen Ort Tanz-, Schauspiel- und Gesangsunterricht nehmen und Isabelle zeigen, dass er mehr Talent besitzt als sie. Durch die Entzauberung 83 der Schauspiellehrerin grenzt Pierre sich von dem Bild des Versagers, das Isabelle von ihm entwirft, ab und hält ihr den Spiegel vor: Le thème de Boomerang c’est comment l’image de soi qu’on a donnée à l’autre vous est retournée en pleine face. 145 Der Ablösungsprozess ist für beide Figuren schmerzhaft und gleicht einer Therapie. Nicht umsonst gliedert Da Costa seine psychologische Komödie in Les premières/ deuxièmes/ troisièmes/ quatrièmes nouvelles larmes. Pierre trennt sich nicht emotionslos von der einstigen Autoriätsperson Isabelle. Er fragt nach ihrem Kommentar zu seiner „mise en scène“; sie ist die Instanz, der er sein schauspielerisches Können beweisen wird (LB, 34-35). Für Isabelle, die vor den Trümmern ihrer Existenz steht, scheint am Schluss, symbolisiert durch die Sonne, ein Aufbruch möglich, Pierre hingegen bleibt in seiner Identität als Schauspielschüler verhaftet: Il ne vit que pour être commenté. 146 Jean-Luc Lagarce führt in dem Metadrama Nous les héros (Première version, 1995), das er für die Schauspieler seiner Inszenierung des Malade imaginaire von Molière schrieb, das Leben einer fahrenden Schauspieltruppe vor. Der Handlungsort wird nicht genau angegeben, Lagarces psychologische Komödie spielt in den Kulissen eines als Theater fungierenden Gebäudes (Mehrzweckhalle, Brasserie, Café oder Lagerhalle) irgendwo in Mitteleuropa kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Nach einer Vorstellung treffen sich die Schauspieler hinter den Kulissen, um die Verlobung Joséphines, der ältesten Tochter des Truppenleiters Le Père, mit dem Schauspieler Raban zu feiern. Die Truppenmitglieder unterhalten sich über die Aufführung und die Mängel des Spielorts, kritisieren gegenseitig ihre schauspielerische Leistung und erörtern Möglichkeiten zur Verbesserung der Inszenierung (Kostüme, Proxemik). Raban hat Zweifel bezüglich der bevorstehenden Verlobung, hofft aber durch die Heirat mit Joséphine eines Tages zum Leiter der Truppe ernannt zu werden. Joséphine arbeitet sich in die Verwaltungsaufgaben der Truppe ein. Ihr Bruder Karl hat vor, die Truppe zu verlassen und in Berlin oder Chicago sein Glück zu versuchen. Angesichts des drohenden Krieges überlegen die Schauspieler, in welcher Stadt sie als Nächstes spielen wollen, und entscheiden sich für den böhmischen Kurort Teplitz. Karl stellt Sulamith von Abraham Goldfaden vor, eine Operette, die das Repertoire der Truppe erweitern soll. Er erzählt die Handlung und macht Vorschläge zur Rollenbesetzung. Le Père und seine Frau La Mère bitten die Schauspieler Monsieur und Madame Tschissik, wegen der schlechten Finanzlage der Truppe auf ihre Versicherung zu verzichten, doch Monsieur Tschissik weigert sich, 145 Bernard Da Costa: L’écriture libératrice, Interview mit Monique Sueur für L’Avant- Scène théâtre 977, Da Costa 1995b: 40. 146 Bernard Da Costa: Notes de l’auteur, Da Costa 1995c: 39. 84 diesem Wunsch zu entsprechen. Zwischen dem Schauspieler Max und Le Père kommt es zum Streit. Le Père entlässt Max wegen dessen sozialistischer Gesinnung. Max nennt ihn Faschist. La Mère vermittelt zwischen ihnen, darauf verlangt Max Urlaub, um während des Krieges seinem Regiment dienen zu können. Raban gesteht Joséphine, dass er sie nicht mehr liebt. Sie bittet ihn, ihr nicht unnötig weh zu tun. Le Père erklärt seiner Frau, er sei mit ihr unzufrieden. Ihr Sohn Karl werde sie in der Nacht ohne Abschied verlassen. La Mère antwortet ihm, sie wisse Bescheid, aber dies sei kein Grund, sie wegzuschicken. Nous les héros ist inspiriert von Franz Kafkas Tagebüchern aus dem Jahr 1911 und von Lagarces Tourneeerfahrung als Leiter der 1978 von ihm gegründeten Schauspieltruppe Théâtre de la Roulotte. Die Namen der Mitglieder der Schauspieltruppe verweisen gemäß Charlotte Krauß auf Figuren aus Kafkas Werken. 147 Die Herkunft der Namen der Figuren in Nous les héros beschreibt auch Patrick Le Bœuf: Ihm zufolge ist Joséphine der Vorname der Protagonistin in Kafkas Erzählung Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, Eduardowa gehe auf den Namen einer russischen Tänzerin (Evguénia Platonovna Édouardova) aus Kafkas Tagebüchern zurück, Karl sei der Vorname Karl Rossmanns, des Helden seines unvollendeten Romans Amerika, Raban verdanke seinen Namen der unvollendeten Novelle Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, Max erinnere an Max Brod, einen der engsten Freunde Kafkas, Monsieur und Madame Tschissik seien ein Schauspielerpaar, das zu einer Truppe des jiddischen Theaters in Prag gehört habe. 148 Wie Kafkas Tagebucheinträgen vom 21., 22. und 23.10.1911 zu entnehmen ist, war Kafka fasziniert von einer jüdischen Theatertruppe, die 1911- 1912 in Prag im Café Savoy auftrat und zu der auch das Schauspielerehepaar Tschissik zählte. 149 Die Tschissiks erscheinen in Lagarces Drama als Mitglieder der Schauspieltruppe, die nostalgisch auf ihre angeblich glorreiche Vergangenheit zurückblicken und die schauspielerischen Fähigkeiten der anderen in Frage stellen. Einige Textstellen in Nous les héros spiegeln intertextuell Kafkas Tagebuch wider, so z.B. die folgenden Repliken von La Mère und der Verwalterin Mademoiselle über Monsieur und Madame Tschissik: La Mère. - Ils vivent mal. Mademoiselle. - Elle a souffert. La misère, les privations, tout cela a pu la rendre aigrie […]. Les tournées, l’âge un peu aussi, les tournées l’ont fatiguée, les accouchements, les avortements, tout ça […]. La Mère.- Ce sont, sous leur orgueil, de pauvres gens. […]. (NLH, 74). 147 Vgl. Krauß 2008: 210-213. 148 Vgl. Le Bœuf 2007: 186-193. 149 Vgl. Kafka, Tagebücher, 1911, in: Kafka 1990: 94-100. 85 Kafka schreibt am 21.10.1911 in sein Tagebuch: Die jüdischen Schauspieler. Frau Tschissik hat Vorsprünge auf den Wangen in der Nähe des Mundes. Entstanden teils durch eingefallene Wangen infolge der Leiden des Hungers, des Kindbetts. Der Fahrten und des Schauspielens [...]. 150 Die Operette Sulamith von Abraham Goldfaden, die Karl in dem Drama den anderen zur Aufführung vorschlägt, wurde laut Kafkas Tagebucheintrag vom 14.10.1911 im Savoy von den jüdischen Schauspielern aufgeführt. In Nous les héros streuen die Schauspieler einige gesungene Zitatfragmente dieser Operette während Karls Präsentation ein. Die von Lagarce zitierten Werke und Autoren (Goldfaden: Sulamith, Jakob Michailowitsch Gordin: Der wilde Mensch, Morris Rosenfeld, Edelstatt) tauchen in Kafkas Tagebuch ebenfalls auf. Die genannten Parallelen und einige Ortsangaben, die auf Böhmen (Teplitz) und auf das historische Prag (Josefplatz, Graben) verweisen, lassen darauf schließen, dass Lagarces Komödie vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in der Nähe von Prag spielt. Die Erwähnung der Zensur und der Aufmärsche auf dem Graben deuten auf die Zeit des deutschen Protektorats Böhmen und Mähren hin, das am 15. März 1939 eingerichtet wurde. Lagarce selbst gibt in den Notes de mise en scène zu Olivier Pys Inszenierung von Nous les héros Hinweise zur zeitlichen und örtlichen Situierung: Cela se passe vers la fin des années trente, au centre de l’Europe, sous la menace de la Guerre prochaine, de la catastrophe qui ravagera le Monde. 151 Die Compagnie wird wie ein Familienunternehmen geführt. Der Leiter der Truppe ist die brüchige Vaterfigur Le Père, die das Unternehmen von Le Grand Père übernommen hat. Le Père ist krank und macht sich Sorgen um die Nachfolge und die Zukunft der Truppe. Zwischen ihm und Karl schwelt ein Vater-Sohn-Konflikt. Max und er sind politische Gegner. Gegenüber den Tschissiks und ihren Versicherungsansprüchen kann er sich nicht durchsetzen. Ohne La Mère könnte er die Truppenleitung nicht bewältigen. 152 Sie ist Ehefrau, Mutter von Karl, Joséphine und Edoardowa und Mutter der Compagnie zugleich: Le Père, à la Mère. - Tu as dirigé toute la représentation comme une vraie mère de famille. Je voulais te dire ça. Tu souffles le texte à tout le monde, sans jamais te perdre toi-même, tu apprends leurs rôles aux autres et au dernier moment, tu les pousses exactement quand il faut… […]. Je ne sais pas ce que deviendrait toute cette histoire sans toi… Je t’écoutais, tu ne jouais pas, tu ne joues plus, tu 150 Kafka, Tagebücher, 1911, in: Kafka 1990: 95. 151 25.01.01, http: / / www.theatre-contemporain.net/ auteurs/ py/ nlhopy/ notes.htm, 28.03.06. 152 In der zweiten Version des Dramas (Version sans le père) übernimmt La Mère die Funktion und den Text des Vaters. Lagarce schrieb diese Version, da der betreffende Schauspieler für eine Aufführung nicht verfügbar war. 86 les surveilles, tu es là sur la scène, pour les apaiser et veiller au bon déroulement impossible de la pièce… […]. (NLH, 76). Sie hat früher selbst gespielt, souffliert nun und führt im Hintergrund Regie. Sie kontrolliert die Kasse, sorgt mit der Verwalterin Mademoiselle für den reibungslosen Ablauf der Vorstellung und vermittelt bei Konflikten. Sie spürt, dass Rabans Gefühle für Joséphine sich geändert haben, beharrt aber auf einer perfekten Inszenierung der Verlobung und bittet Raban, die Komödie weiterzuspielen. Während der Verlobungsfeier treten die Rivalitäten und Spannungen zwischen den Schauspielern zutage: Joséphine.- On veut prêcher la morale au public, on veut donner une image de générosité, laisser paraître des sentiments nobles et dignes mais aussitôt dans les coulisses, les pires vices moraux éclatent à nouveau au grand jour. (NLH, 58). Der neue Spielort Teplitz, der Ende der 1930er Jahre zu den ständigen deutschen Theatern 153 in Böhmen gehörte, ist umstritten. 154 Raban, Karl und Max planen, ihren eigenen Weg zu gehen. Raban interessiert sich für Madame Tschissik, doch sie weist ihn ab. Karl fühlt sich fehl am Platz, weil die Truppenleitung an Joséphine und Raban übergehen soll und er mit seinem Vorschlag zur Erneuerung des Repertoires nicht ernst genommen wird. Max strebt militärische Würden an, behält sich aber die Rückkehr zur Truppe vor. Die Truppe, die vorwiegend in der Provinz und an unbedeutenden Spielstätten gastiert, steht vor dem Bankrott. Außer den Tschissiks ist keiner versichert, es mangelt an Publikum. Zudem hat die Obrigkeit die Schauspieler im Visier. Im Jahr zuvor wurden sie von einer Zensurkommission kontrolliert (NLH, 93), an diesem Abend hat der „inspecteur en chef“ (NLH, 58) der Vorstellung beigewohnt. Mit ihren Produktionen trifft die Truppe den „goût traditionnel“ (NLH, 81) des Publikums, das nach Unterhaltung verlangt, nicht: Le Père.- Mais une des traditions de notre compagnie fut toujours d’alterner des instants dramatiques et émouvants […] et des scènes plus distrayantes, plus enjouées, plus dans l’esprit de ce que souhaite, souhaite ou réclame, dans l’esprit de ce que souhaite le public. On peut le regretter, je ne sais pas, mais nous ne pouvons faire une place plus grande, accorder un temps plus long et déséquilibré à la tragédie la plus noire et ses développements les plus touchants sans mettre plus encore, s’il est imaginable, sans mettre plus encore en péril notre entreprise […]. (NLH, 98-99). 153 Vgl. Rutte/ Bartoš 1938: 17, zitiert in Brauneck 2003: 609. 154 Kafka erwähnt in seinem Tagebuch am 08.11.1911 die Diskussion der jüdischen Schauspieltruppe um Teplitz und plädiert selbst für diesen Spielort. Vgl. Kafka 1990: 237-238. 87 Experimentelle Theaterformen wie die Lesung Conférence sur Hebbel, die Le Père einmal dem eigentlichen Stück in Form eines théâtre-récit vorangestellt hat, finden beim Publikum, dessen „profonde imbécillité“ (NLH, 82) La Mère anprangert, keine Resonanz: Le Père.- C’était une belle et bonne idée pour ouvrir la porte, mais ils n’étaient pas prêts, pas encore, et peut-être aurions-nous dû faire preuve d’une plus grande persévérance, ne pas craindre la difficulté et souffrir la mortification […] avec orgueil. (NLH, 81-82). Die Kreativität und die Willenskraft der Schauspieler sind erschöpft. La Mère traut Raban und Joséphine die Nachfolge als Leiter der Compagnie nicht zu: La Mère.- Les affaires de la troupe marchent mal. Son répertoire est épuisé, je suis épuisée, nous sommes épuisés, nous n’allons pas pouvoir tenir encore très longtemps… Le manque d’intérêt des gens pour nous est incompréhensible. Estce que ce jeune homme-là, lorsqu’il aura épousé Joséphine aura des idées neuves qui lui permettront de renouveler notre travail? Je ne sais pas. J’ai des doutes, il faut de la volonté, nous avions de la volonté, mon mari avait de la volonté, estce qu’il en a? (NLH, 198). Die nachfolgende Generation ist nicht fähig, Verantwortung zu übernehmen, neue Akzente zu setzen und das Fortbestehen der Truppe zu garantieren. Raban liebt Joséphine nicht mehr, bleibt aber aus Mangel an Entschlusskraft an ihrer Seite und will versuchen, sie nicht zu verletzen. Karl bricht nach der Feier zu neuen Ufern auf. Die Verlobungsfeier, die die familiäre Struktur der Truppe festigen sollte, ist der Auftakt zu deren Auflösung. Der Titel des Dramas trügt. Die Helden dieser Komödie sind Antihelden, brüchige Individuen, die für die Zukunft keine Konzepte haben oder ihre Ideen in der Truppe nicht verwirklichen können. Die Schauspieler erscheinen als Menschen mit ihren Defiziten. Der Schauspielberuf wird als emploi précaire dargestellt. Lagarce gibt die Situation des Theaters in der Tschechoslowakei Ende der 1930er Jahre wieder, in denen das Theater unter der politischen Lage in Europa und der Zensur litt, und kritisiert aus diesem historischen Blickwinkel zugleich die Visionslosigkeit und das mangelnde politische Engagement des französischen Theaters der 1990er Jahre. Der Autor, der auch Schauspieler, Regisseur und Gründer eines Theaterverlags war, zeigt den Alltag einer Schauspieltruppe hinter den Kulissen 155 und verarbeitet dabei eigene Erfahrungen mit dem Théâtre de la Roulotte, das zuerst als Amateurtheatertruppe umherzog. Das Ziel seines Theaterschaffens formuliert Lagarce 1994 wie folgt: 155 Zu den Stücken, die die Realität des Alltags der Schauspieler vor oder während einer Aufführung darstellen, zählen auch La maison des Jeanne ou de la culture (1986) von Tilly und Changement à vue (1979) von Loleh Bellon. 88 Montrer sur le théâtre la force exacte qui nous saisit parfois, cela, exactement cela, les hommes et les femmes tels qu’ils sont, la beauté et l’horreur de leurs échanges et la mélancolie aussitôt qui les prend lorsque cette beauté et cette horreur se perdent, s’enfuient et cherchent à se détruire elles-mêmes, effrayées de leurs propres démons. 156 In der Komödie Le chant du crapaud (2000) zeichnet Louis-Charles Sirjacq das Porträt eines alten Schauspielers, der von der Bühne Abschied nehmen will. Der 80-jährige Schauspieler Lucien Le Lardeux, der mit seiner Frau Zélie ein Theater leitet, beschließt, sich nach einer letzten Vorstellung von der Schauspielerei zurückzuziehen. Er geht fortan seinem Hobby, dem Angeln, nach und arbeitet mit Robert, dem Inspizienten des Theaters, an seiner Biographie. Der Regisseurin Nathalie, die ihn für die Rolle des Lear in ihrer Neuinszenierung des King Lear am Theater gewinnen will, erteilt Lucien eine Absage mit der Begründung, man müsse aufhören können. Robert schreibt historische Dramen und bietet Lucien eine Rolle in einem seiner Stücke an. Lucien wiederholt, er werde nicht mehr spielen, will das Stück jedoch lesen und aufführen. Indessen bemühen sich Zélie und Nathalie, die Rollen für King Lear zu besetzen. Nathalie hofft weiter auf Luciens Zusage, aber er lehnt ab. Zélie sagt alle Vorstellungen ab und schließt das Theater. Robert bespricht mit Lucien seine Theaterstücke und eröffnet ihm, er sei sein Sohn. Lucien hat eine Erscheinung und schließt sich mit einem Gewehr ein. Zwei Schüsse fallen, dann ruft Lucien „Raté! Raté! Encore raté! “. Die junge Schauspielerin Juliette verkündet Lucien, sie wolle als Cordelia in King Lear mit ihm zusammenspielen. Lucien öffnet die Tür, willigt ein und lässt sich seinen Gehstock, ein Souvenir von Frédérick Lemaître, bringen. Zélie und Juliette stoßen auf das Projekt der neuen Inszenierung an. Der Schauspieler Etienne Berry, Kodirektor des Théâtre Poche-Montparnasse, diente Sirjacq als Modell für die Figur des Lucien und spielte auch diese Rolle in der Uraufführung an demselben Theater. Lucien trägt Züge Berrys, so z.B. dessen Vorliebe für das Angeln. Der Titel Le chant du crapaud spielt auf Luciens neue Beschäftigung an, lässt sich jedoch auch als Abwandlung von le chant du cygne interpretieren, denn das Stück gibt den Schwanengesang eines von der Bühne abtretenden Schauspielers wieder. Crapaud bedeutet ′Kröte′, im français familier aber ebenfalls ′gamin, enfant, petit homme laid′ 157 . Ein Kritiker spricht von Luciens „silhouette de batracien“ (′Lurchgestalt′, LCC, 11). Die Kröte ist Luciens Lieblingstier, er träumt von einem Stück über die Kröte, weil Dichter wie Victor Hugo, Tristan Corbières, Robert Desnos und Max Jacob über sie geschrieben haben. Seine Abschiedsvorstellung empfindet Lucien als Beerdigung, das Anstoßen darauf erträgt er nicht. Die Gründe für seinen Rückzug sind vielschichtig. 156 Lagarce 1994: 27-28. 157 Lexis Larousse de la langue française, Sommant (Hrsg.) 2002: 458. 89 Er behauptet, man müsse den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören finden und endlich das Leben genießen. Darüber hinaus argumentiert er mit dem verengten Rollenrepertoire: Lucien: [...] Alors quand on est vieux qu’est-ce qu’il reste à jouer? (LCC, 14). Der Schauspieler hat Arthrose, fühlt sich sogar für Vaterrollen zu alt und meint beim Publikum keine Emotionen mehr hervorrufen zu können. Hinzu kommen Selbstzweifel und Versagensängste. Mehr denn je fürchtet Lucien bei seiner letzten Vorstellung, sich zu irren oder seinen Text zu vergessen. Ängstlich erkundigt er sich anschließend nach seinem langjährigen Kritiker Lestingouin. Zélies Bemerkung, er vergesse doch jeden Abend seinen Text, verunsichert ihn noch mehr. Als sie ihm sagt, sie brauche sein Talent, behauptet er, niemals Talent gehabt zu haben. Gegenüber Nathalie äußert Zélie, Lucien fühle sich, als ob er einer anderen Epoche angehöre. Nathalie glaubt, es sei für Lucien so, als ob er aufhöre zu atmen, wenn er nicht mehr spiele. Lucien gibt sich beim Angeln und bei seiner Autobiographie der Selbstreflexion und der Identitätssuche hin: Zélie: [...] Pourquoi tu t’es mis en tête de raconter ta vie? Tu t’es pris pour Krapp? Lucien : Je ne raconte pas ma vie, je réfléchis, je rétrospective. (LCC, 6). Sirjacqs Schauspielerfigur Lucien Le Lardeux hat ein reales (Berry) und einige literarische Vorbilder. Dieser Figuren-Synkretismus erschließt sich allerdings nur dem im Theater versierten Publikum: Wie Krapp in Samuel Becketts Krapp’s last tape spricht Lucien seine Erinnerungen auf Band, doch Robert und er kommen bei der Bearbeitung kaum voran. Mit Shakespeares Figur König Lear verbindet Lucien nicht nur das Alter (80) und die Initiale des Namens. Wie der König von Britannien dankt Lucien ab („J’ai abdiqué.“, LCC, 14) und überlässt sein Reich, hier das Theater, den Frauen. Die Attribute „alt“ und „kindisch“ werden Lucien ebenso zugeschrieben wie Lear. Gleich Lear scheint Lucien dem Wahnsinn zu verfallen und wird durch Cordelias alias Juliettes Einfluss davon befreit. Als weitere Referenz für die Figur des Lucien erwähnt Sirjacq Thomas Bernhards Minetti. Beim Lesen dieses Dramas, in dem der alte Schauspieler Minetti den Lear spielen will und die Affinität des Künstlers zum Wahnsinn beschreibt, denkt die Regisseurin Nathalie an Lucien und bietet ihm die Rolle des Lear an. Lucien weigert sich bis zuletzt standhaft, den Lear zu spielen. Er will sich nicht der Lächerlichkeit und der Kritik des Publikums aussetzen: Lucien: Je me fais le bouffon de moi-même, c’est plus agréable que de s’offrir en cible à autrui. Monte Lear, mais sans moi… (LCC, 12). Hilfe bei der Besetzung der Rolle des Lear leistet er jedoch ungern. Am Ende kann er den Bitten der Frauen und der Versuchung, erneut das Lampenfieber und die Erregung während des Auftritts zu spüren, nicht mehr widerstehen: 90 Lucien: J’avais peur de ne plus avoir peur. Il n’y a que les joueurs qui peuvent comprendre, ceux qui jouent au casino et ceux qui jouent au théâtre. (LCC, 30). Das Theater ist für Lucien eine Sucht, der er sich nicht entziehen kann. Sein Versuch, von der Bühne abzutreten und als Epikureer in bürgerlicher Idylle seinen Ruhestand zu verbringen, misslingt, denn für dieses Leben ist er als Schauspieler nicht geschaffen. Da Costa, Lagarce und Sirjacq beleuchten in ihren metatheatralen Komödien das Schauspielerdasein aus der Innensicht. Da Costa stellt den Schauspielschüler, der vom Bühnenerfolg träumt und in einer Vielzahl von Kursen (Schauspiel, Tanz, Gesang) die heute geforderte Polyvalenz 158 des Schauspielers erwerben will, der desillusionierten, sich mit Schauspielunterricht und mittelmäßigen Rollen durchschlagenden Schauspielerin spiegelbildlich gegenüber. Lagarce analysiert die Gruppenstruktur einer fahrenden Schauspieltruppe, der Schauspieler verschiedener Generationen und Nationalitäten angehören, und legt die politischen und ökonomischen Zwänge offen, denen eine nicht subventionierte Truppe bei der Theaterproduktion unterliegt. Sirjacq charakterisiert den alten, von der Bühne abtretenden Schauspieler, der - wie etliche Schauspieler heute - zugleich Direktor eines théâtre privé ist, und stellt den „Schauspielerruhestand“ in Frage. In diesen drei Dramen ebenso wie in den Metadramen über den Theaterregisseur wird der Schauspieler in seiner Abhängigkeit dargestellt: Abhängigkeit vom Urteil des Schauspiellehrers, vom Theaterregisseur, vom Rollenangebot in Bezug auf sein Alter, vom Publikum und von den politischen und ökonomischen Verhältnissen einer Gesellschaft. Der Schauspieler erscheint als Mitglied einer Theatertruppe, als Schauspieler mit einer Doppelfunktion (Schauspieler/ Theaterdirektor; Schauspieler/ Truppenleiter) oder als Schauspieler ohne Bindung an ein Theater bzw. eine Theatertruppe, welcher sich für eine spezielle Rolle in einer Inszenierung bewirbt und danach nicht unbedingt weiterbeschäftigt wird. Auf die Austauschbarkeit und Instrumentalisierung („instrumentalisation“) des Schauspielers und die materielle Unsicherheit der Schauspielerexistenz verweist die in Frankreich geführte Debatte über die intermittents du spectacle 159 . Mehr denn je arbeiten Schauspieler in Frankreich heute als intermittents mit befristeten Engagements (CDD: contrat à durée déterminée) und werden nur gezielt für eine Rolle in einer bestimmten Theaterproduktion eingestellt. Junge Schauspieler werden selten sofort Mitglied 158 Aslan 2005: 425. „L’acteur joue sur scène, à l’écran et pour tous les supports existants. Comédien-danseur-acrobate-chanteur, il est de plus en plus polyvalent […].” 159 Zu den Intermittents du spectacle zählen die Kategorien artiste, ouvrier und technicien. Als „intermittents“ werden Personen bezeichnet, bei denen Phasen der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit alternieren. Durch Streiks der intermittents du spectacle gegen die geplante Neuregelung der Arbeitslosenversicherung fielen beim Festival d’Avignon 2014 etliche Aufführungen aus. 91 einer festen Truppe, sondern gründen oft zuerst ihre eigene Truppe oder arbeiten in one-man-shows, um sich ein Arbeitsfeld zu schaffen. Arlette Allain, Regisseurin und Schauspielerin am Centre Dramatique National Saint Étienne, beschreibt die „précarité“ des Schauspielberufs aus ihrer Erfahrung: Enfin, être acteur aujourd’hui, et en particulier être actrice, c’est lutter au quotidien: il faut être acteur tout au long de sa vie. Il ne suffit pas d’entrer dans la carrière, il faut y rester. 160 Die Konkurrenz der Medien (Fernsehen, Kino, Internet) und die Vorliebe mancher Regisseure für unverbrauchte comédiens non-professionnels erodieren den Status des Theaterschauspielers zusätzlich. Um die Ausbildung des Theaterschauspielers aufzuwerten, hat das Ministère de la culture et de la communication 2006 erstmals ein Diplôme national de comédien eingeführt. 161 Verglichen mit dem 19. Jahrhundert können Theaterschauspieler heute selten berühmt werden (nur falls sie in den Medien und im Theater gleichermaßen präsent sind); die Stars der Gegenwart entstammen vorwiegend den Bereichen Film, Fernsehen, Sport und Politik. Durch die Theatralisierung aller Lebensbereiche kann zudem in der „société du spectacle“ 162 jeder zum Schauspieler werden, wodurch die gesellschaftliche Rolle des Schauspielers weiter dekonstruiert wird: Je crois que toute la société a été théâtralisée; nous sommes tous des acteurs et l’acteur n’a pas besoin de jouer, puisque tout le monde joue déjà. 163 5.1.4 Die Darstellung des Theaterbetriebs In den 1990er Jahren veröffentlicht Michel Deutsch vier Kurzdramen 164 , die Szenen aus dem Theaterbetrieb eines „théâtre d’État“ (TMAH, 99) darstellen. 2004 werden diese Dramen unter der Regie von Anne Sicco in einer Produktion des Théâtre de Cahors anlässlich des Theaterfestivals von Figeac erstmals wie Sequenzen eines Stücks gemeinsam aufgeführt und als „quadrature“ bezeichnet. Handlungsorte sind die Bühne, die Garderobe einer Schauspielerin, der Probenraum und die Pförtnerloge des Theaters, 160 „Le comédien: médiateur ou médiatisé.” Interventions, In: 5 e Forum du théâtre européen 2000, dem Thema Le Comédien aujourd’hui. Ombre et lumière gewidmet. Forum du théâtre européen (5, 2000) 2001: 272. 161 www.culture.gouv.fr/ culture/ actualites/ politique/ intermittents/ brochure.pdf, Seite 20, 18.06.06. 162 Debord 3 1992. 163 Klaus Hoffmeyer, Regisseur am Königlichen Theater/ Kopenhagen, Mitglied der Convention théâtrale européenne. Beitrag zu „Le comédien: médiateur ou médiatisé ‘’, Forum du théâtre européen (5, 2000) 2001: 271. 164 Die hier behandelten vier Kurzdramen sind in Le Souffleur d’Hamlet et autres textes von Michel Deutsch gemeinsam veröffentlicht. 92 auf dem Spielplan steht jeweils Shakespeares Hamlet. Die Bühnenfiguren entstammen dem am Theater beschäftigten Personal, neben einem Theaterdirektor und Schauspielern treten auch ein Souffleur, eine Garderobiere, eine Pförtnerin und eine Putzfrau auf. Le Souffleur d’Hamlet (1993) zeigt, wie ein Konflikt zwischen einem Souffleur und einem Theaterdirektor eine Theaterprobe zum Scheitern bringt. Der Theaterdirektor, der zugleich der Regisseur ist, gibt dem Souffleur in einem Monolog Anweisungen, verbietet ihm zu husten, den Hamlet-Text auswendig zu lernen und eine Gewerkschaft zu gründen, und verbannt ihn in den Souffleurkasten. Als der Schauspieler, der Polonius spielt, beim ersten Satz seinen Text vergisst und der Souffleur nicht einspringt, bemerkt der Theaterdirektor, dass er verschwunden ist. Die Putzfrau, Vorsitzende der Gewerkschaft der Bühnentechniker, teilt mit, der Souffleur hole sich eine Heizdecke gegen Zugluft, liege im Bett, lerne Latein und übe gerade, Finnegan’s Wake zu soufflieren, um später Hamlet korrekt zu soufflieren. Sie übergibt einen Brief, in dem ein Taxifahrer dem Souffleur ein ärztliches Attest ausgestellt hat. Der Direktor droht ihr und dem Souffleur mit Entlassung, doch der Schauspieler prophezeit ihm Ärger mit der Gewerkschaft. Eine Schauspielerin erscheint verspätet zur Probe in Begleitung eines amerikanischen Geschäftsmanns, der dem Theaterdirektor ein Telegramm des Souffleurs überbringt, in dem er sich verabschiedet mit der Begründung, das Theater brauche keinen Souffleur mehr. Der Theaterdirektor erleidet einen Herzinfarkt. Die Putzfrau erzählt von einem Mann, der eines Tages einen Souffleurkasten findet, ihn auf den Gepäckträger seines Fahrrads zu laden versucht und schließlich selbst hineinfällt. Le costume de la reine du Danemark, rendez-vous compte (1993) spielt in der Garderobe der Schauspielerin Mademoiselle Else, die drei Tage vor der Premiere ihr Kostüm für die Rolle der Königin von Dänemark noch nicht erhalten hat und aufgebracht die Garderobiere herumkommandiert, um das Kostüm noch rechtzeitig zu beschaffen. Totus mundus agit histrionem (1993) ist die Geschichte des arbeitssuchenden Metzgers English, der von einer Stellenvermittlung wegen des Gleichklangs von ham und Hamlet vertretungsweise als Englisch-Repetitor (Répétiteur) ins Theater geschickt wird, um mit dem Hamlet-Darsteller das Englische des 17. Jahrhunderts zu üben. In einem dunklen Probensaal trifft der Répétiteur den Schauspieler, stolpert über ein paar Stühle und verstaucht sich den Fuß. Der Schauspieler weigert sich, den Saal zu beleuchten, denn Hamlet spiele bei Nacht. Während sie diskutieren, bricht ein Arbeiter der Firma Abatout die Rückwand des Raumes auf und verkündet, er solle eine Theaterwand einreißen. Der Inspizient habe gesagt, der Saal solle vergrößert werden, um samstags abends als Tanzsaal zu dienen. Der Schauspieler und der Répétiteur vertreiben den Arbeiter. Als der Schauspieler Verse aus Hamlet zitiert, fühlt der Répétiteur sich durch den Schä- 93 del, den der Hamlet-Darsteller dabei in der Hand hält, bedroht. Den Shakespearetext scheint English nicht zu kennen. Der Schauspieler verliert die Geduld und fragt ihn, was er im Theater zu suchen habe. Der Metzger enthüllt seine wahre Identität, stellt 500 Francs in Rechnung und kündigt an, die Stellenvermittlung werde sich wegen des Unfalls mit dem Theater in Verbindung setzen. In dem Drama Une nuit au théâtre steht ein Theaterdirektor um drei Uhr morgens im Pyjama vor der Pförtnerloge seines Theaters und verlangt von der Concierge den Schlüssel. Madame Boulot ist über die nächtliche Störung nicht begeistert, umso weniger, als der Direktor sie in ein Gespräch über sein nächstes Projekt verwickelt. Er will Hamlet neu inszenieren. Bei seinen Ausführungen schläft die Pförtnerin in ihrem Sessel ein. Der Direktor weckt sie mit der Frage, ob sie in der Nacht jemanden ins Theater habe gehen sehen. Er beschwert sich über das Theaterpersonal und die Kulturbeamten und klagt der schlaftrunkenen Concierge sein Leid über seine Funktion als Theaterdirektor und Regisseur. Seine Neuinszenierung des Hamlet soll den Bürgermeister und den Kulturdezernenten, die von ihm eine konsensfähige Inszenierung für ein breites Publikum erwarten, vor den Kopf stoßen. Die Concierge hält Hamlet nicht für ein geeignetes Stück, die Figur Hamlet habe nichts mit den Jugendlichen von heute gemein. Sie und ihr Mann, Monsieur Boulot, hätten zudem kürzlich Hamlet als Fernsehproduktion gesehen. Der Direktor bedankt sich für das Gespräch. Die Concierge beschafft ihm den gewünschten Schlüssel und nutzt die Gelegenheit, ein Fenster für die Pförtnerloge zu beantragen. Michel Deutschs Metadramen sind Momentaufnahmen aus dem Alltag des Theaterbetriebs, die durch ihre humoristische Überzeichnung und die klischeehafte Figurendarstellung wie Karikaturen aus dem Theatermilieu wirken. Nicht nur der Theaterdirektor bzw. Regisseur und die Schauspieler werden porträtiert, auch das Theaterpersonal, das für das Funktionieren eines Theaters unentbehrlich ist und sonst nicht auf der Bühne steht, erhält bei Deutsch eine Rolle. Insofern als er in diesen Theatertexten die kleinen Leute der Theaterwelt auf die Bühne holt, folgt Deutsch den Prinzipien des in den 1970er Jahren von ihm mitbegründeten Théâtre du quotidien 165 , welches den Alltag und die Arbeitswelt von Angestellten und Arbeitern schildert. Das Verhalten der Figuren und ihr Redeanteil entsprechen ihrem Status in der Hierarchie der Theaterverwaltung. Die Titelfigur in Le Souffleur d’Hamlet kommt gegenüber dem Theaterdirektor/ Regisseur gar nicht zu Wort. Der Souffleur ist dem Monolog des Theaterdirektors, der ihn mit 165 Corvin 1995: 742, Stichwort Théâtre du quotidien. „ […] Son champs d’investigation est le monde des personnels humbles et l’univers des gens au travail, cadres et ouvriers. Son territoire est la quotidienneté, tout ce qui échoit, ce qui arrive d’ordinaire aux personnes.” 94 Geboten, Verboten und lateinischen Zitaten „zutextet“, ohne jegliches Recht auf Widerspruch ausgeliefert. Er zieht es vor zu handeln und mit dem Theaterdirektor über die Vertreterin der Gewerkschaft oder per Attest und Telegramm zu kommunizieren. Erst am Ende wird die Stimme des Souffleurs hörbar, als er aus dem Off den Text von Finnegan’s Wake auf Lateinisch deklamiert. Die Putzfrau, die eine leitende Position in der Gewerkschaft innehat und die Interessen des Souffleurs vertritt, wird von dem Theaterdirektor ständig unterbrochen und abgekanzelt. Sie bricht in Tränen aus und beschwert sich über die schlechte Behandlung. In dem Drama Le Costume de la reine du Danemark, rendez-vous compte wird eine Garderobiere, d.h. die Gewandmeisterin eines Theaters, Opfer der Launen der selbstgefälligen Schauspielerin Mademoiselle Else. Die Garderobiere unterrichtet sie darüber, dass ihr Kostüm noch nicht fertig sei. Der Kostümbildner habe Termine am Piccolo Teatro in Mailand und an der Schaubühne in Berlin und erwarte Mademoiselle Else zwischen zwei Flügen am nächsten Morgen zur Anprobe. Die Schauspielerin droht damit, nicht zur Premiere zu erscheinen. Statt sich selbst zu beschweren, befiehlt sie der Garderobiere wie einer Dienstbotin, das Kostüm zu beschaffen und mit dem Kostümbildner einen neuen Termin zu vereinbaren. Den Einwand der Garderobiere, sie habe andere Kostüme zu bügeln, lässt sie nicht gelten. Als die Garderobiere nachmittags zugibt, über all ihrer Arbeit den Auftrag der Schauspielerin vergessen zu haben, bringt Mademoiselle Else sie mit ihrem Gejammer dazu, ihn trotz ihrer beginnenden Arbeitspause noch zu erledigen. Die Garderobiere und der Kostümbildner sind für die Schauspielerin lediglich Erfüllungsgehilfen für ihre exzentrischen Wünsche. Allüren hat auch der Hamlet-Darsteller in Totus mundus agit histrionem. Der Schauspieler, „le premier acteur du théâtre“ (TMAH, 101), spricht mit dem von ihm eingestellten Englisch-Repetitor zunächst nur Englisch und besteht darauf, seinen Englischunterricht im Dunkeln zu absolvieren, weil der Regisseur sich Hamlet als bei Nacht spielendes Stück vorstelle. Dass der Répétiteur im Dunkeln einen Arbeitsunfall erleidet, ist ihm gleichgültig. Wesentlich mehr interessiert den Schauspieler, dass der als Englisch- Repetitor auftretende Metzger vom Theater, geschweige denn von Hamlet keine Ahnung hat. Seine Kompetenz als Englischlehrer leitet der Metzger mit dem sprechenden Namen English von seinem in Oxford und Cambridge erworbenen Metzgerdiplom her. Mit dem Schwert seines Kostüms verjagt der Schauspieler den vermeintlichen Englisch-Repetitor, der protestierend seinen Lohn und die Entschädigung für den Unfall einfordert. In Une nuit au théâtre stehen sich der Ranghöchste in der Hierarchie der Theaterverwaltung, ein Theaterdirektor, und eine Concierge, die Hausmeisterfunktionen übernimmt, gegenüber. Der Theaterdirektor definiert 95 sich als „le directeur et le premier artiste“ (UNT, 69) des Theaters, das ihm von Staat und Nation anvertraut sei. Die Doppelfunktion als Intendant und Regisseur, die directeur-metteur en scène 166 genannt wird und in etlichen französischen Theatern üblich ist, sichert ihm den Einfluss auf die Verwaltung und die künstlerische Produktion des Theaters. Der Theaterdirektor scheut sich nicht, der Concierge, die bezeichnenderweise den Namen Madame Boulot trägt, wegen einer Lappalie den Schlaf zu rauben. Ein Theater sei niemals geschlossen und schlafe nie, erklärt er an ihre Pflichterfüllung appellierend. Die Frage nach dem Theaterschlüssel nutzt der Direktor, um die Concierge mit Monologen über seine neue Hamlet-Inszenierung und die Probleme mit der Theater- und der städtischen Kulturverwaltung zu langweilen. Beide reden meist aneinander vorbei. Der Concierge ist die Arbeitswelt des Theaterdirektors fremd, sie hört ihm nicht zu, sondern versinkt in einen Halbschlaf. Als er sie weckt, schreckt sie auf und behauptet, sie habe einen Albtraum gehabt. Die Tiraden des Theaterdirektors interessieren sie nicht. Ihre Vorstellung vom Theater erwächst aus ihrer Bodenständigkeit: Dem Theater mangele es an Wahrheit und Realitätsbezug. Hamlet kennt sie nur aus einer kommerziellen gesungenen Fernsehproduktion und findet dieses Drama unzeitgemäß und zu lang. Was sie und ihr Mann, der auf der Baustelle für die Fernsehrelaisstation des neuen 15. Fernsehkanals beschäftigt ist, vom Theater wirklich halten, sagt sie dem Theaterdirektor ohne Umschweife: La Concierge: [...] Faites excuses, mais il y a quand même autre chose que le théâtre dans la vie! Mon mari d’ailleurs me dit souvent: ’Qu’est-ce qu’ils ont avec leur putain de théâtre’. J’ai beau lui faire observer que tout le monde a besoin de gagner sa vie…. […]. (UNT, 86). Das Theater ist für die Concierge ein Arbeitsplatz wie jeder andere. Wenn der Direktor sie schon nachts in ihrer Pförtnerloge aufsucht, soll er sich ein Bild von der schlechten Belüftung und Beleuchtung ihres Arbeitsplatzes machen und die Vergrößerung ihres Fensters genehmigen. Der Theaterdirektor verspricht, sich darum zu kümmern, argumentiert aber mit seiner Machtlosigkeit gegenüber der Kulturverwaltung. Die Genehmigung sei abhängig vom Kulturdezernenten und der Abteilung für historische Gebäude. Großspurig verkündet er, er werde deswegen zum Minister gehen, und überlässt die Concierge ihrer Skepsis. Der Theaterdirektor/ Regisseur erscheint in Le Souffleur d’Hamlet und Une nuit au théâtre als megalomane Autoritätsperson, die ihre Machtposition gegenüber den Schauspielern und dem übrigen Theaterpersonal ständig betont, letztlich aber selbst nur ein Rad in der staatlichen Kulturverwaltung 166 Pavis 2002: 93, Stichwort Directeur de théâtre. „Le directeur est là pour rappeler que la gestion est partie intégrante de la création: pour le budget de fonctionnement, mais déjà, en amont, pour la programmation […].” 96 ist. In Une nuit au théâtre wird die Concierge zur Klagemauer für die alltäglichen Sorgen des Direktors eines Théâtre national. Gegenüber den Mitgliedern des Verwaltungsrats (administrateurs), dem Inspizienten (régisseur), der im Unterschied zu ihm den Theaterschlüssel besitze, den Schauspielern und den gewerkschaftlich organisierten Bühnenarbeitern sei ein Theaterdirektor bedeutungslos: Le Directeur: [...] Mais un directeur de théâtre, un directeur de théâtre qui est un artiste, eh bien, ce type-là n’est rien, compte pour rien! Entendez-vous! Zéro! Rien! Il ne compte pas. Une merde! Moins qu’une merde. Si, si! Vous pouvez me croire. Tout le monde s’essuie les pieds dessus. Il est l’esclave de l’auteur, de l’administrateur, du régisseur, des acteurs, des acteurs… […]. (UNT, 72-73). Seinen Beruf bezeichnet er als Berufung und als hoffnungsloses Metier, in dem es Nikotin- und Kokainsüchtige und mehr Alkoholiker als unter Schauspielern gebe. Er betrachtet sich als Zielscheibe des Publikums, der Kritiker, der Dramenautoren und der Gewerkschaft und vergleicht sich in seiner Situation mit den Dramenfiguren Hamlet und Faust: Le Directeur: [...] Quel metteur en scène, devenu directeur de théâtre, se prenant pour Tamerlan dans son ambition, dans son désir de conquête et de vengeance, dans sa haine du public et des syndicats de techniciens, ne finit pas dans l’irrésolution pathétique et l’impuissance de Hamlet? Quel metteur en scène, voyant arriver l’âge de la retraite, fatigué des sarcasmes de la critique et épuisé par les sollicitations et la mégalomanie des auteurs dramatiques, ne ressentira le besoin de monter Faust de jouer lui-même le rôle du docteur et de confier celui de Méphistophélès au regretté Gründgens! (UNT, 70). Die „metteurs en scène directeurs de théâtre“ (UNT, 75), die Künstler und Verwaltungsleute zugleich sind, sind ihm zufolge ein Fall für den Psychiater oder den Kardiologen und hochgradig suizidgefährdet. Er sieht sich als Vertreter einer aussterbenden Spezies, die von allen ermutigt wird, so schnell wie möglich zu verschwinden. Den Typ des Theaterdirektors, der nur für die Verwaltung und den Spielplan zuständig ist, verachtet er. Er verbringt schlaflose Nächte wegen seiner Kämpfe gegen die „apparatchiks de la culture“ (UNT, 77) und beschwert sich über den ungebildeten Bürgermeister, rechte und linke Poltiker und den Kulturdezernenten, der nur danach trachte, ihm die Subventionen zu kürzen. Seine Inszenierungen sind für die Kulturpolitiker keine Publikumserfolge. Man erwarte von ihm, dass er sich wie ein Fernsehmoderator verhalte und König Lear wie ein Waschpulver mit Methoden des interaktiven Fernsehens verkaufe. Seiner Ansicht nach verkommt das Theater dabei zum Freizeitpark: Le Directeur: [...] Le tourisme culturel pour tous. Son et lumière. Hamlet en dix lignes, vous avez compris? Ce théâtre à partir d’aujourd’hui est un espace culturel. Retenez ça, chère madame. Ici désormais, c’est plus un théâtre, mais un espace culturel. Une aire de détente - un parc de loisir… Ils veulent que je pro- 97 nonce des homélies à la gloire du loisir culturel du loisir administré. […]. (UNT, 79-80). Der Theaterdirektor kritisiert den erweiterten Kulturbegriff und die Idee des Theaters als Ware, welche mit den kommerziellen Strategien des Fernsehens vermarktet werden soll. Aus Protest will er eine nicht filmbare Version des Hamlet in einer Adaptation von Thomas Bernhard auf die Bühne bringen, um den Kulturbeauftragten Albträume zu bereiten. Angeprangert werden hier das mangelnde Interesse der Kulturpolitiker an literarisch anspruchsvollen Theatertexten und die Tendenz zu spektakulären publikumswirksamen Inszenierungen. Der Theaterdirektor beklagt den Niedergang des Theaters und die Dekadenz der Kultur, deren Ursprung er im grassierenden „analphabétisme“, d.h. der fehlenden Bildung sieht: Le Directeur: [...] L’analphabétisme gagne, s’étend. Rien ne lui résiste. Il va tout emporter sur son passage: les postes, l’armée, la police, l’Éducation nationale. C’est un cyclone tropical, une épidémie, une pandémie! […] Tous les analphabètes ont des adjoints à la culture. L’analphabétisme est hautement culturel! […]. (UNT, 77-78). Die überspitzt formulierten kulturpessimistischen Äußerungen des Theaterdirektors decken sich in Teilen mit der Position des Schriftstellers und Regisseurs Michel Deutsch. In Essays und Zeitungsartikeln spricht Deutsch sich für ein literarisch anspruchsvolles „théâtre d’art“ 167 aus, das dem Spektakel etwas entgegensetzen und wieder ein „lieu du commun“ 168 für das Publikum werden muss: Le problème du théâtre, c’est le spectacle. La réfutation du spectacle par le théâtre se doit - mais après tout c’est la moindre des choses! d’être impeccable. […] J’imagine alors le théâtre donnant lieu à la littérature. 169 In den beschriebenen Metadramen Michel Deutschs paart sich Realismus mit absurder Komik und herber Kritik an der staatlichen Kulturpolitik gegenüber dem Theater. Deutsch bringt die oft durch lächerliche Anlässe hervorgerufenen Krisen des Theateralltags auf die Bühne und zeigt mit seiner Tetralogie einen Längsschnitt durch die Hierarchie eines Théâtre national. Dabei schöpft er aus seinen Erfahrungen am Théâtre national de Strasbourg, wo er 1975-1983 mit Jean-Pierre Vincent zusammenarbeitete. Insbesondere in Une nuit au théâtre thematisiert Deutsch die Abhängigkeit des Theaters von staatlichen Subventionen und vom Wohlwollen der Kulturbeauftragten und attackiert den Primat des Ökonomischen über das Künstlerische. Sein Theaterdirektor will in erster Linie Künstler und nicht Verwalter sein. Das Theater wird in seinem Kampf gegen das Fernsehen und andere Freizeitangebote dargestellt, soll aber nach Deutschs idealisti- 167 Deutsch 1989, in: Deutsch 1990: 82. 168 Deutsch 1998: 41. 169 Deutsch 1988, in: Deutsch 1990: 91-92. 98 scher Auffassung nicht in den Medienverbund und die „Spaßkultur“ integriert werden, sondern seine Eigenheit bewahren und eine Kunst für sich bleiben. 5.1.5 Die Rezeption einer Theateraufführung Das Theaterstück Sortie de théâtre (2000) von Jean-Claude Grumberg gibt einige Repliken anonymer Zuschauer wieder, die eine Vorstellung von Grumbergs Drama Maman revient pauvre orphelin (1993) besucht haben und sich beim Hinausgehen über ihre Eindrücke unterhalten. 170 Diese mit Bindestrich aneinandergereihten Repliken sind laut Regieanweisung nicht an bestimmte namentlich genannte Dramenfiguren gebunden, sondern können vom Regisseur auf fünf, sechs oder mehr Schauspieler verteilt werden unter Berücksichtigung der charakteristischen Merkmale jedes Protagonisten. In Maman revient pauvre orphelin geht es um einen 62-jährigen Mann, der wegen einer Augenoperation im Krankenhaus liegt. Er träumt während seiner Anästhesie von seiner Mutter, mit der er einen glücklichen Sonntag verbringen möchte, von seinem Vater, den er nie gekannt hat und von einem Gott, der nur wenig zu tun vermag. Der 1939 geborene Autor Jean- Claude Grumberg, der als Sohn eines Deportierten das Schicksal vieler Juden teilt, spricht hier wie in etlichen seiner Theaterstücke auch das Thema der Shoah an. Zu Beginn des Metadramas Sortie de théâtre verlassen die fiktiven Zuschauer das zur Comédie Française gehörende Théâtre du Vieux-Colombier entrüstet darüber, wie die Comédie Française nur so ein Stück aufführen kann. Sie vermuten, das müsse am neuen Intendanten (administrateur) liegen, der seinen Posten wohl aus politischen Gründen erhalten habe. Sie üben Kritik am Autor des gesehenen Stücks und werfen ihm vor, er schreibe immer nur über den Holocaust, den er selbst nach 50 Jahren noch nicht bewältigt habe. Der Autor tue in dem neuen Stück zwar so, als spräche er von etwas anderem, in Wirklichkeit verfalle er aber erneut in dieselbe Thematik. Ein Zuschauer wirft ein, es habe seit dem Holocaust hunderte von Holocausts gegeben, z.B. den der Armenier. Außerdem gebe es ja noch andere, über die man schreiben könne, wie die Homosexuellen und die Zigeuner. Man solle doch eine Quote für jede Art von Holocaust einrichten, damit jeder zu Wort komme. Wenig später führt ein Zuschauer noch ironisch die Indianer, die zum Glück auf Englisch schreiben würden, und die Eskimos, die gar nicht schreiben würden, als im Theater zu behandelnde Minderheiten ins Feld. Ein Zuschauer bemängelt die Bequemlichkeit des 170 Sortie de théâtre wurde 2006 von der Compagnie Le Tapis Volant (Regie: Patrick Massiah) am Théatre Le Lucernaire in Paris als Vorspann zu Maman revient pauvre orphelin aufgeführt. Maman revient pauvre orphelin wurde 1994 am Théâtre du Vieux- Colombier uraufgeführt. 99 Theaters, das von Zwergen für Zwerge entworfen sei und Nackenschmerzen verursache. Ein weiterer Zuschauer überlegt, ob er sein Theaterabonnement weiterlaufen lässt. Als Abonnent sei man gezwungen, ins Theater zu gehen. Sein Gegenüber wendet ein, man gehe sonst gar nicht aus. Das Fernsehen wird als Alternative gesehen. Zum Ablauf des Stücks bemerken die Zuschauer, dass es zwar kurz gewesen sei, bedauern aber, dass es keine Pause mehr gebe. Einer fragt sich, warum man überhaupt noch ins Theater gehe. Ein anderer stimmt ihm zu und behauptet, das sei alles ein heilloses Durcheinander. Es gebe nichts Klassisches mehr im Theater. Um den Abend zu retten, wollen die enttäuschten Zuschauer essen gehen, das Restaurant in der Nähe des Theaters verwehrt ihnen aber den Zutritt. Als die Zuschauer die Schauspieler beim Verlassen des Theaters beobachten, nehmen sie an, dass diese sociétaires der Comédie Française auf ihre Leistung nicht stolz sind und sich schämen. Ein Zuschauer meint, den Autor zu erkennen, der nicht sehr fröhlich aussehe. Ein anderer entgegnet, dies sei der Regisseur, der wie ein Täter immer an den Tatort zurückkehre. Als einer der Zuschauer bei all der Kritik zu sagen wagt, ihm hätten die Musik und das Bühnenbild gefallen und er habe trotz des Themas lachen müssen, findet er wenig Gehör. Die Diskussion endet mit der Frage, ob man über derartige Themen lachen dürfe, welche ein Zuschauer deutlich bejaht. Jean-Claude Grumberg definiert sein autoreflexives Drama im Vorwort als une tentative de récupération de répliques glanées, pour la plupart, dans la bouche même des spectateurs sortant du Vieux-Colombier après avoir assisté - à leur corps défendant, semble-t-il - à une représentation de Maman revient pauvre orphelin, spectacle composé, justement, de cinq pièces courtes jouées par les comédiens-français. (SdT, 5). Auf diese Weise entschlüsselt er die Bezüge in Sortie de théâtre, denn aus dem Theatertext ist nicht expressis verbis zu entnehmen, welches Theaterstück die Zuschauer gesehen haben und wer der Autor ist. Grumberg stellt diese imaginierte Rezeption seines Stücks Maman revient pauvre orphelin unter ein Motto, das einer der fiktiven Zuschauer lakonisch auf den Punkt bringt: Faut toujours prévoir le pire. Surtout quand on va au théâtre. (SdT, 14). Für das in Sortie de théâtre dargestellte Publikum hat sich dieses Vorurteil gegenüber dem Theater bestätigt. Keiner bleibt von der Kritik der Zuschauer verschont. Die Institution der Comédie Française, die ihres Erachtens für Qualität bürgen sollte, wird wegen der Auswahl des Stücks und der schau- 100 spielerischen Leistung der als sociétaires 171 beschäftigten Schauspieler angegriffen, die politische Couleur des neuen Intendanten ist den Zuschauern suspekt. Die Räumlichkeiten des Theaters sind ihnen zu unbequem, außerdem fehlen ihnen die Pausen, in denen man sonst an der Bar etwas trinken und essen konnte. Sie üben Kritik am Regisseur, am Autor und an der Präsentation des Themas. Mit den Spitzen gegen den Autor, dem die Zuschauer in dem Stück vorwerfen, er thematisiere stets den Holocaust und kenne kein anderes Sujet, antizipiert Grumberg selbstironisch die Argumente seiner realen Kritiker. Viele seiner Dramen, wie z.B. Dreyfus, Zone libre und L’Atelier befassen sich aufgrund seiner eigenen Biographie mit dem Schicksal der Juden und behandeln das Problem des Antisemitismus. Grumbergs Charakterisierung der fiktiven Zuschauer in Sortie de théâtre ist alles andere als schmeichelhaft. Er beschreibt ein Abonnentenpublikum, das nur ins Theater geht, um sich zu zerstreuen und einmal auszugehen. Die Vorstellung, die den Theaterbesuchern nicht gefallen hat, wollen sie bei einem Essen im Restaurant, das sie für den ihnen entgangenen Kunstgenuss entschädigen soll, vergessen. Die Zuschauer werden als oberflächlich, unzufrieden und konservativ dargestellt. Für Gegenwartsdramatik haben sie wenig Verständnis. Sie vermissen die Klassikerinszenierungen und die Einteilung in Akte mit einem entr’acte. Sie überlegen, warum man überhaupt noch ins Theater geht, wenn es doch das Fernsehen gibt, das man viel bequemer zuhause konsumieren kann. Grumberg konterfeit Zuschauer, die sich mit dem Holocaust nicht mehr beschäftigen wollen und die Judenverfolgung mit der Verfolgung und Ausgrenzung anderer gesellschaftlicher Gruppen und ethnischer Minderheiten gleichsetzen. Damit attackiert er öffentliche Diskurse, die die Einzigartigkeit des Holocausts in Frage stellen, und warnt vor dem Vergessen. Einer der Zuschauer macht rassistische Äußerungen. Er beschwert sich darüber, dass zu viele „nègres“ (SdT, 16) in der Aufführung vorkämen. Ein anderer Zuschauer, der ihm zwar in der Sache nicht widerspricht, weist ihn darauf hin, dass er politisch korrekt „les Noirs“ (SdT, 16) sagen müsse. Die Anspielung auf das gesellschaftliche Problem des Rassismus ist offensichtlich. Grumbergs fingierte Rezeption seines Theaterstücks Maman revient pauvre orphelin demonstriert bei aller Satire, wie er sich die Rezeption seines Theaters idealerweise vorstellt. Es soll kontrovers darüber diskutiert werden, und es soll trotz der ernsten Thematik gelacht werden. Diese Botschaft vermittelt er mit den letzten Repliken seines Kurzdramas: - Moi, j’ai ri. - Justement ! 171 Corvin 1995: 200. „Le terme ‚sociétaire’ est apparu pour la première fois dans l’acte de société du 17 avril signé par les trente-quatre ‘artistes sociétaires’ (les comédiens associés portaient autrefois le titre de ‘pensionnaires du roi’). D’après les statuts [de la Comédie Française], les sociétaires participent à la gestion et à l’administration, par l’intermédiaire de l’Assemblée générale et du comité d’administration.” 101 - Est-ce qu’on a le droit de rire sur des sujets pareils? - ? ? ? - Absolument. Absolument. (SdT, 16). Die Intention Grumbergs, den Claude Roy als „l’auteur tragique le plus drôle de sa génération“ 172 bezeichnet, besteht darin, dem Theaterpublikum tragische Inhalte mit Humor und Sarkasmus näherzubringen: C’est alors que je me suis souvenu que je n’étais ni historien, ni sociologue, ni psychologue, ni analyste que j’étais - enfin que je m’efforce d’être - un auteur comique, et que mon rôle à moi, n’est pas d’éclairer la jeunesse ou de rafraîchir la mémoire de la vieillesse, mon rôle c’est de faire rire. […] Oui, oui, malgré l’angoisse, le dégoût, la boule dans la gorge, faire rire! 173 5.1.6 Funktionen des thematischen Metatheaters Das thematische Metatheater zeigt das Spektrum der an der Entstehung, Inszenierung und Rezeption von Theater Beteiligten, vom Dramatiker über den Regisseur, den Schauspieler, den Theaterdirektor und das Theaterpersonal bis hin zum Zuschauer. Victor Haїm und Jacques Kraemer geben mit ihren Metadramen La Baignoire und Thomas B. Einblick in die Problematik des künstlerischen Schaffensprozesses, bei dem der Dramenautor nicht nur von seiner Inspiration abhängig ist, sondern auch von seiner physischen und psychischen Befindlichkeit, seinem privaten Umfeld, eventuellen Kritikern sowie den ökonomischen und kulturellen Bedingungen der literarischen Produktion in der Gesellschaft, in der er lebt, beeinflusst wird. Die Materialität des Schreibens ist in diesen beiden Theatertexten noch traditionell an die Schreibmaschine gebunden, technische Neuerungen wie Tonband und Computer erscheinen in Thomas B. (1989) zwar als Alternativen, werden aber zugunsten der symbolträchtigen Schreibmaschine verworfen. Beide Dramatiker kapitulieren aufgrund ihrer mangelnden Kreativität, ihrer Selbstzweifel, der Konkurrenz von Film und Fernsehen sowie der fehlenden gesellschaftlichen Bedeutung und Akzeptanz ihrer literarischen Tätigkeit vor der künstlerischen Herausforderung, ein Drama zu schreiben, und wählen den Tod. Sie verkörpern noch den klassischen Typ des Dramenautors, der sich als Literat versteht und in seine Schreibstube zurückzieht, statt, wie es heute oft üblich ist, beim Schreiben den Kontakt zum Theater und zu den Schauspielern zu suchen. Da diese Stücke den Fokus auf das Scheitern der Theaterautoren beim Schreiben eines dramatischen Textes 172 Zitiert nach Corvin 1995: 419. 173 Jean-Claude Grumberg in einem Interview am 29.09.2001 mit Alliance France, www.alliancefr.com/ culture/ grumberg/ grumberg.html, 05.10.14. 102 setzen, können sie auch als Beispiele für „Metadramatizität“ 174 angesehen werden. Die Auseinandersetzung zwischen Dramenautor und Theaterregisseur, d.h. écriture und écriture scénique, die in Frankreich bis in die 1990er Jahre Gegenstand der Diskussion ist, wird in den Dramen L’Éloignement von Loleh Bellon und L’Indien sous Babylone von Jean-Claude Grumberg thematisiert. Sie spiegeln den theoretischen Diskurs der 1980er Jahre über das Regietheater bzw. das Verhältnis zwischen Regisseur und Theaterautor wider und verarbeiten literarisch den „Leidensdruck“ der Autoren, die sich wie Grumberg auf der Bühne von den Regisseuren verdrängt fühlen. 175 Zugleich demonstrieren diese Stücke die Abhängigkeit des Dramatikers von der Theaterkritik bzw. der Rezeption seines Werkes und von der staatlichen Kulturadministration. Die Metadramen über die Figur des Dramenautors, die einen pessimistischen Grundzug aufweisen, sind Ausdruck der in den 1970er und 1980er Jahren vielbeschworenen crise des auteurs, in denen der Autor infolge der Tendenz zur création collective, der Abkehr des Theaters vom literarischen Text und der zunehmenden Bedeutung des Regietheaters voreilig totgesagt wird. Sie fungieren als literarisches Ventil für die Selbstbefindlichkeit der Theaterautoren, die in ihren Texten die Frage nach der Rolle des Dramatikers in Kultur und Gesellschaft stellen und angesichts der Konkurrenz anderer Medien und Formen des spectacle die Funktion des Theaters im ausgehenden 20. Jahrhundert problematisieren. In den Stücken La représentation, Dialogue sur Minetti und Flaminal Valaire richtet sich der Blick auf den Theaterregisseur. Sie zeigen ihn bei der Regiearbeit, untersuchen das Verhältnis zwischen Literatur und Theater, Dramentext und Inszenierung und hinterfragen die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler. Die Reflexion über den gesellschaftlichen Status und die materielle Situation eines Theaterregisseurs, die bei Philippe Braz und Maurice Regnaut mit der Klage über den Verlust der kulturellen Bedeutung des Theaters und das Theatersterben verbunden ist, verdeutlicht, dass auch der künstlerische Beruf des Regisseurs den sozialen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen, unter denen Theater entsteht, unterworfen ist. Bernard Da Costa, Jean-Luc Lagarce und Louis-Charles Sirjacq beleuchten in ihren Metadramen Le Boomerang, Nous les héros und Le chant du crapaud verschiedene Phasen und Formen des Schauspielerdaseins aus der Innenperspektive. Da Costa analysiert das Abhängigkeitsverhältnis zwischen einem Schauspielschüler und seiner Schauspiellehrerin, die als alternde Schauspielerin beruflich keine Zukunft mehr sieht und sich ihren Lebensunterhalt mit Schauspielunterricht verdient. Jean-Luc Lagarce be- 174 Hauthal 2009: 129. 175 Vgl. Schmitz 2008: 222. 103 schreibt die Gruppenstruktur, die Konflikte und die missliche finanzielle Lage einer fahrenden Theatertruppe, stellt den Schauspielberuf als emploi précaire dar und lässt dabei seine persönlichen Erfahrungen mit dem Theâtre de la Roulotte, das zunächst als Amateurtheatertruppe umherzog, einfließen. Louis-Charles Sirjacqs Drama Le chant du crapaud befasst sich mit dem alternden Schauspieler, der sich den Anforderungen des Berufs und den kritischen Augen des Publikums zwar nicht mehr gewachsen fühlt, dem aber der Abschied von der Bühne schwerfällt, weil ein Leben ohne das Theater ihn nicht erfüllt. Michel Deutsch stellt in seinen vier Kurzdramen Le Souffleur d’Hamlet, Le costume de la reine du Danemark, Totus mundus agit histrionem und Une nuit au théâtre den Betrieb eines französischen Nationaltheaters dar, das eine Hamlet-Inzenierung vorbereitet. Vom Souffleur, der Putzfrau, der Garderobiere, dem Englisch-Repetitor des Hamlet-Darstellers, der Concierge, den Schauspielern bis hin zum Theaterdirektor ist in diesem Längsschnitt durch die Hierarchie eines Théâtre national fast das gesamte Theaterpersonal vertreten. Geschildert werden humoristisch überzeichnete Momentaufnahmen aus dem Alltag der Arbeitswelt hinter den Kulissen des Theaters, die neben dem directeur-metteur en scène insbesondere die Angestellten und Arbeiter, ohne die ein Theaterbetrieb nicht funktionieren kann, zu Wort kommen lassen. Der Theaterdirektor, der gegenüber den Schauspielern und dem übrigen Theaterpersonal seine Machtposition ständig herausstellt, offenbart in Une nuit au théâtre gegenüber der desinteressierten Concierge seine Ohnmacht, indem er sich selbst als Zielscheibe der Dramenautoren, der Gewerkschaft, des Publikums, der Kritiker und der staatlichen Kulturverwaltung deklariert, die ihm die Subventionen kürzen will und in der er selbst nur ein unbedeutendes Rad ist. Michel Deutsch will mit diesen Metadramen, die den Prinzipien des Théâtre du quotidien entsprechen, den Zuschauer für die Arbeitsbedingungen der kleinen Leute des Theatermilieus und die Sorgen und Nöte eines Theaterdirektors sensibilisieren, die er durch seine Tätigkeit in der Équipe artistique des Théâtre National de Strasbourg (1974-1983) an der Seite von Jean-Pierre Vincent aus eigener Anschauung kennt. Wie die Autoren anderer Metadramen prophezeit Michel Deutsch in seinem Stück Une nuit au théâtre kulturpessimistisch den Niedergang eines anspruchsvollen théâtre d’art und die Dekadenz der Kultur, die er durch einen grassierenden „kulturellen Analphabetismus“ und einen zunehmenden Hang des Publikums zum spectacle bedingt sieht. Jean-Claude Grumberg porträtiert in seinem Drama Sortie de théâtre, das von realen Zuschauerrepliken inspiriert ist, sarkastisch das Publikum seines Stücks Maman revient pauvre orphelin, das nach der Aufführung im Théâtre du Vieux-Colombier diesen Theaterbesuch kritisch kommentiert. Selbstironisch dramatisiert er die Rezeption eines seiner Werke, das das 104 Thema der Shoah anspricht, und attackiert dabei ein oberflächliches, konservatives Abonnentenpublikum, das nur ins Theater geht, um einmal auszugehen und Zerstreuung zu suchen, das Fernsehen bevorzugt und für Gegenwartstheater und den Holocaust kein Verständnis mehr zeigt. Grumbergs wenig schmeichelhafte Darstellung des Theaterpublikums, mit der er den tatsächlichen Rezipienten seines Metadramas Sortie de théâtre den Spiegel vorhält, zeugt auch von der Sorge der Theaterautoren um die Zukunft des Theaters, die vom Verhalten und der Nachfrage der Zuschauer abhängt. Das thematische Metatheater legt die verschiedenen Stadien der Entstehung, der Inszenierung und der Rezeption von Theater offen und gewährt Einblick in die Arbeit und die Innenwelt der Theaterschaffenden. Diese Transparenz bewirkt eine Desillusionierung des Zuschauers und eine Entzauberung des künstlerischen Prozesses der Theaterproduktion, bei der die schwierigen Bedingungen der création contemporaine manifest werden. 5.2 Episierendes Metatheater Episierendes Metatheater bedeutet „Theater kommentiert Theater“, d.h. „ein episch vermittelndes Kommunikationssystem“ 176 durchbricht den geschlossenen Illusionsraum des Theaters und stellt den Kontakt zwischen Bühne und Zuschauer her. Zu den episierenden metatheatralen Formen gehören der Prolog bzw. das Vorspiel, der Epilog, der Chor, der das Geschehen kommentiert, die Regiefigur, die als Mittlerinstanz wie ein Spielleiter oder Kommentator agiert und eine Erzählerfunktion übernehmen kann, die Publikumsadresse (Sprechen ad spectatores), das Beiseitesprechen und das Aus-der-Rolle-Fallen (ex persona). 5.2.1 Prolog und Epilog als epischer Kommentar der dramatischen Handlung Zu den Episierungstechniken, d.h. den narrativen Strukturen im Drama, welche eine metadramatische Kommunikationsebene etablieren, gehören der Prolog und der Epilog. Brian Richardson bezeichnet den Prolog und den Epilog als „marginal examples of stage narration“ 177 und betrachtet sie somit als Formen der Diegesis im Drama. Er unterscheidet bei der Narration im Drama zwischen homodiegetischen, d.h. spielinternen Erzählerfigu- 176 Pfister 11 2001: 120. 177 Richardson 1988: 194. 105 ren, und heterodiegetischen, d.h. spielexternen Erzählerfiguren. 178 In Bezug auf den Prolog und den Epilog spricht er von „frame narrators“ 179 , die außerhalb der von ihnen beschriebenen fiktiven Welt stehen und das Bühnengeschehen des inneren Spiels erläutern. Ein Beispiel für ein episierendes Metadrama, in dem eine heterodiegetische Erzählerfigur als frame narrator in Prolog und Epilog auftritt und das Binnenspiel auf der Metaebene für die Zuschauer kommentiert, liefert das Drama L’Étranger au théâtre (1948) von André Roussin. Dieses Theaterstück, das mit Ausnahme des Prologs, des Epilogs und zweier Repliken in einer in ihrer Morphologie an nordische oder slawische Sprachen erinnernden Kunstsprache verfasst ist, trägt den Untertitel saynète internationale. 180 Der Prologsprecher Complice begrüßt das Publikum und resümiert die Handlung des nun folgenden Stücks. Die Binnenhandlung (Fiktionsebene 2), die der Leser sich dank der Regieanweisungen und des Prologs vorstellen kann, spielt im Wohnzimmer einer bürgerlichen Familie in Mitteleuropa. Monsieur und Madame spielen Karten und erwarten einen jungen Mann, der sie um die Hand ihrer Tochter bitten will. Da der Heiratskandidat Pianist ist, wird er gebeten, auf dem Klavier etwas vorzuspielen. Doch dem Instrument ist kein Ton zu entlocken. Der Bruder der Angebeteten, der die Hochzeit im Einverständnis mit dem jungen Mädchen verhindern will, hat eine Decke in dem Piano versteckt. Als die Mutter den Streich entdeckt, zieht der Bewerber sich entrüstet zurück. Die Geschwister, die inzestuöse Gefühle empfinden, fallen einander in die Arme. Die verzweifelte Mutter greift zum Revolver und erschießt ihre Kinder, ihren Ehemann und sich selbst. Die Kammerzofe tritt ein, geht ungerührt um die Leichen herum und verständigt telefonisch die Feuerwehr, denn im Treppenhaus brennt es. Von Panik ergriffen erheben sich die vermeintlichen Toten, um sich vor dem Feuer zu retten. Die Erzählerfigur Complice erscheint wieder und erklärt den Zuschauern im Epilog, welche Absicht der Autor mit diesem Drama verfolgt. Die heterodiegetische Erzählerfigur Complice, die nur im Prolog und im Epilog erscheint, eröffnet den Prolog mit der Begrüßung „Mesdames, Messieurs“ und übersetzt diese Anrede in vier Sprachen. Die Zielgruppe des Dramas ist also ein international zusammengesetztes Publikum. Complice betont, es könne in Frankreich, Russland, England, Dänemark oder Japan in der Version, die die Zuschauer sehen werden, ohne Übersetzung aufgeführt werden. Der Rahmenerzähler gibt vor, beauftragt zu sein, dem 178 Richardson 2001: 682. „ [...] narratives articulated by characters who are present in the world that their discourse creates (homodiegetic), as well as narratives produced by agents that are external to the story world (heterodiegetic).“ 179 Richardson 1988: 211. 180 Pavis 2002: 313. „On emploie aujourd’hui le terme archaïsant de saynète pour toute courte pièce sans prétention, jouée par des amateurs ou des fantaisistes […].“ 106 Publikum die Handlung des Stückes vorzustellen. Es folgt ein Resümee des Inhalts, in das Complice Bemerkungen über den Akzent, die Herkunft und die Gefühle der dramatis personae einflicht. Der Zuschauer erhält so einen Informationsvorsprung, der es ihm ermöglicht, der Handlung der zweiten Fiktionsebene chronologisch zu folgen, sie aber auch zu antizipieren. Den Ausgang der Binnenhandlung deutet die Erzählerfigur nur an, um die Spannung zu erhalten. Der Prologsprecher ordnet das Binnenspiel dramentheoretisch ein; er nennt es drame und erklärt, dass es Züge einer Tragödie annehme, als die Mutter den Inzest ihrer Kinder erkennt. Der dramatische Aufbau der Binnenhandlung wird hinsichtlich der Peripetie kommentiert: Complice erklärt, auf dem Höhepunkt des drame werde sich eine Tür öffnen (gemeint ist das Eintreten der Kammerzofe), die den Dramenausgang (dénouement) einleite. Abschließend entschuldigt er sich beim Publikum für den Prolog, der nicht der mimetischen Gattung des Dramas entspreche. Zugleich rechtfertigt Complice den epischen Einstieg und kündigt sein erneutes Erscheinen im Epilog an: Complice: [...] Nous savons fort bien, mesdames et messieurs, que le préambule que nous venons de faire est parfaitement contraire aux usages du théâtre; néanmoins nous y avons tenu pour des raisons assez éloignées de celles que vous supposez et sur lesquelles, au moment voulu, je viendrai vous éclairer. À tout à l’heure donc. Good bye. A rivederci…auf…oui. (Il sort). (EaT, 370). Die Verwendung des Pronomens „nous” und der Name der Erzählerfigur, Complice, zeigen, dass der Prologsprecher sich als Gehilfe eines impliziten Autors versteht, in dessen Auftrag er dem Publikum die Informationen liefert, die zum Verständnis des Dramas erforderlich sind. Nachdem der Vorhang gefallen ist, taucht der Rahmenerzähler wieder auf und wendet sich direkt an das Publikum. Wie versprochen erklärt er den Zuschauern die Intention des Autors. Nicht „L’étranger au théâtre“ sei der Held des Stücks, sondern jeder einzelne Zuschauer selbst. Der Autor habe den Zuschauern den Eindruck vermitteln wollen, sich im Ausland zu befinden und einer Theatervorstellung beizuwohnen, denn man sei nie glücklicher im Theater als in einem fremden Land. Complice begründet, warum er dem Publikum vor Beginn des Binnenspiels den Plot erzählt hat: Complice: [...] C’était pour vous permettre de constater que l’intrigue, l’action, dans une pièce ont véritablement fort peu d’importance. Une seule chose compte, vous l’avez remarqué une fois de plus et c’est là encore la conclusion que nous tirerons de cette représentation, une seule chose compte au théâtre, le texte. […] (EaT, 386). Der experimentelle Charakter dieses Dramas verfolgt demnach den didaktischen Zweck, dem Zuschauer, der den kunstsprachlichen Text des Binnenspiels als Schallphänomen ohne Signifikat rezipiert, die Bedeutung des Textes für das Verständnis eines Dramas vor Augen zu führen und ihn so 107 von der Idee des Texttheaters zu überzeugen, welche Mitte des 20. Jahrhunderts durch andere Theaterkonzepte in Frage gestellt wurde. Der Epilog endet mit einer captatio benevolentiae, in der die Erzählerfigur Complice sich wieder auf den impliziten Autor beruft. Er sei vom Autor beauftragt, für die Schauspieler, die den Mut und die Geduld gehabt hätten, diesen schwierigen Text zu lernen, um Applaus zu bitten. In diesem Drama dienen Prolog und Epilog dem Zuschauer als Brücke, die die Transition zwischen der sozialen Realität im Zuschauerraum und der fiktiven Realität der zweiten Fiktionsebene erleichtert. Gleichzeitig übernehmen sie als Rahmen die Funktion eines metadramatischen epischen Kommentars des Binnenspiels. Ohne die Hinweise des Rahmenerzählers, der die Rezeptionshaltung des Publikums steuert, wäre die Binnenhandlung für den Rezipienten aufgrund der verwendeten Kunstsprache kaum zu verstehen. Die Selbstreflexion erstreckt sich in diesem episierenden Metadrama auf den Inhalt, den dramatischen Aufbau, die Gattung und den kunstsprachlichen Text des Binnenspiels sowie auf die intendierte Rezeptionshaltung des „idealen“ Publikums und die Intention des Autors. 5.2.2 Die Regiefigur als epische Mittlerinstanz zwischen Bühne und Zuschauer Die Regiefigur ist eine Figur, die den epischen Kommunikationsstrukturen des Dramas zuzurechnen ist. Funktional ist sie den Erzählerfiguren des Prologs und des Epilogs und dem Chor ähnlich, zeichnet sich aber durch eine kontinuierlichere Bühnenpräsenz aus. Sie vermittelt zwischen der inneren Spielebene (Fiktionsebene 2) und dem Publikum. Als Spielleiter kann sie das Spiel unterbrechen, die Chronologie der Ereignisse umstellen, Zeiträume aussparen und durch informative Exkurse überbrücken, narrative Überleitungen herstellen, die Prinizipien des eigenen Arrangements der Handlung thematisieren oder gelegentlich eine Nebenrolle übernehmen. 181 Das Dargestellte ist für die Regiefigur wie für den Erzähler in narrativen Texten in der Regel eine vergangene, abgeschlossene Handlung. Wie ein auktorialer Erzähler besitzt die Regiefigur gegenüber den Figuren ihres Spiels einen Informationsvorsprung, der es ihr erlaubt, den Informationsstand im inneren Kommunikationssystem zu durchbrechen und Zukünftiges vorwegzunehmen. Manfred Pfister bezeichnet aufgrund dieser Charakteristika „den Typ der Regie- oder Spielleiterfigur als die strukturell deutlichste Annäherung dramatischer Texte an das Kommunikationsmodell narrativer Texte“ 182 . Zu unterscheiden ist zwischen spielinternen und spielexternen Regiefiguren. Spielexterne Regiefiguren sind episch vermit- 181 Vgl. Pfister 2001: 111. 182 Pfister 2001: 112. 108 telnde, heterodiegetische Erzählerfiguren, die keine Rolle in der inneren Spielebene (F2) übernehmen. Die spielinterne oder homodiegetische Regiefigur ist in Personalunion episch vermittelnder Erzähler und dramatis personae des inneren Kommunikationssystems; sie alterniert zwischen epischer Distanz und Spielimmanenz. Ansgar Nünning und Roy Sommer bezeichnen diesen Typ des Erzählers gemäß der Typologie von Brian Richardson als „generativen Erzähler“: Als handelnde Figur ist er zwar Teil der Figurenebene, in seiner Funktion als ‚Erzeuger’ und kognitives Orientierungszentrum der fiktionalen Welt ist er - ähnlich dem auktorialen und dem Ich-Erzähler im Roman zugleich aber auch auf einer der Handlungsebene übergeordneten Kommunikationsebene anzusiedeln. 183 In Bernard Da Costas Komödie Pat et Sarah ou les deux magiciennes (1991) führt die spielinterne Regiefigur bzw. der generative Erzähler Reginald das Publikum durch das Bühnengeschehen. Ausgehend von einem authentischen Theaterereignis, der Aufführung von Maurice Maeterlincks Pelléas und Mélisande (1892) 1904 am Vaudeville Theatre in London, zeichnet Da Costa ein Porträt von Sarah Bernhardt und Pat Campbell, die damals die Titelrollen spielten. 184 Das zweiteilige Drama beginnt mit dem Prolog des Inspizienten des Vaudeville Theatres, Reginald Lambroscough, der den Zuschauern mitteilt, er habe 1904 ein Probentagebuch geführt, aus dem er nun erzählen werde. Er ruft Sarah Bernhardt und Pat Campbell auf die Bühne und stellt dem Publikum die übrigen Akteure vor: Sarahs Sohn Maurice, Pats Sohn Beo, eine Statistin. Sarah und Pat begutachten das Theater und führen Verhandlungen über Pats Gage. Sarah will direkt mit der Arbeit beginnen, Pat aber zieht sich ermüdet zurück. Sarah lässt sich inzwischen von Reginald über Pats Fähigkeiten und Launen aufklären. Die Probenarbeit wird nach Pats Erscheinen aufgenommen, endet aber sofort wieder wegen des unterschiedlichen Berufsethos der beiden Stars. Zwischen Maurice und Pat entwickelt sich ein Verhältnis, das Sarah missbilligt, zumal Pat mehrmals nicht zur Probe erscheint. Reginald greift ein, Sarah stellt Pat zur Rede und verbietet Pat den Umgang mit Maurice. Reginald fragt sich, ob die Aufführung 1904 tatsächlich stattgefunden hat. Maurice distanziert sich von Pat und schickt sie zur Probe. Pat bittet Sarah, sich bei Maurice für sie einzu- 183 Nünning/ Sommer 2002: 117. 184 Sarah Bernhardt und Stella Patrick Campbell sind historische Schauspielerpersönlichkeiten. Sarah Bernhardt (1844-1923) ist ein Pseudonym für Henriette Rosine Bernard, eine französische Tragödin. Sie spielte an der Comédie Française und am Théâtre de l’Odéon und gründete dann ihre eigene Compagnie, mit der sie die ganze Welt bereiste. In Paris leitete sie nacheinander das Théâtre de la Porte St. Martin, das Théâtre de la Renaissance und gründete 1898 das Theater, das später ihren Namen tragen sollte. Stella Patrick Campbell (1865-1940), genannt Mrs. Pat Campbell, war Ende des 19. Jahrhunderts der Star der Londoner Bühnenwelt. Vgl. Corvin 1995: 112. 109 setzen, doch Sarah lehnt ab und will weiterproben. Pat erklärt darauf die Zusammenarbeit für beendet. Sarah fleht sie an, aber vergebens. Als Pat geht, beschließt Sarah, Maeterlincks Drama trotzdem aufzuführen und stellt im zweiten Teil des Stücks die Statistin als Ersatz ein. Sie informiert das Mädchen über die Voraussetzungen einer guten Schauspielerin wie Größe, Stimme und Diktion und macht mit ihr Übungen zu Gestik und Phonetik. Maurice wird Statist. Reginald soll zusätzliche Requisiten besorgen. Da kehrt Pat zurück und bittet wieder um die Rolle der Mélisande. Sarah akzeptiert und entzieht der Statistin die Rolle. Die Statistin erschießt sich. Unbeeindruckt schminken Pat und Sarah sich für die Aufführung. Ein Blick durch den Vorhang zeigt ihnen ein zahlreich erschienenes Publikum. Sie versichern sich gegenseitig, sich trotz aller Zwistigkeiten zu mögen, und spielen einen kurzen Auszug aus Pelléas und Mélisande. Applaus erklingt, und Reginald erzählt, es sei ein Triumph gewesen. Im Schlussbild erscheinen Pat, Sarah, die wiedererstandene Statistin und der Rest der Truppe, um den Applaus entgegenzunehmen. Die spielinterne Regiefigur Reginald Lambroscough eröffnet das Drama, indem sie wie ein Regisseur ihr Pult auf die Bühne stellt, die Zuschauer begrüßt und sich vorstellt: „Reginald Lambrouscough, régisseur en chef du Vaudeville Théâtre... Enfin, j’étais régisseur au Vaudeville“ (PeS, 5). In dieser klassischen Introduktion übernimmt Reginald die Funktion eines Präsentators, der zunächst sich selbst und später die übrigen Figuren vorstellt. Durch die Selbstkorrektur „j’étais“ situiert er das folgende Bühnengeschehen in der Vergangenheit. Den Dokumentarcharakter der Handlung unterstreicht Reginald mit einer Quellenfiktion: Während der Proben habe er damals ein Tagebuch geführt, aus dem er aber nicht alles vorlesen werde. Gegen etwaige Kritiker, die an der Wahrhaftigkeit seiner Darstellung zweifeln und ihm vorwerfen könnten, er sei damals zu jung gewesen, um die beiden Schauspielerinnen zu kennen, wehrt er sich von vornherein. Das Probentagebuch, das er dem Publikum zeigt, weist ihn als Protokollanten und Chronisten der historischen Begegnung der beiden Protagonistinnen aus. Reginald definiert sich selbst als „régisseur“, „conférencier“ und „maître de cérémonie” (PeS, 5-7). Der régisseur ist in Frankreich für die Ton-, Licht- und Bühnenregie zuständig, d.h. für Aufgaben, die in Deutschland dem Inspizienten zufallen. Ein conférencier ist ein Redner oder Referent, hier also eine Figur, die aus dem Probentagebuch referiert. Als maître de cérémonie (Zeremonienmeister) sieht Reginald sich, da er als Spielleiter den anderen Figuren Anweisungen erteilen kann. Die Figuren leisten ihm jedoch wie bei Pirandello nicht immer Folge, sie werden zuweilen handgreiflich wie Sarah, die ihn am Kragen packt und schüttelt, was Reginald für die Zuschauer mit „Attention, mes personnages me brutalisent.“ (PeS, 18) kommentiert. Reginald ist eine spielinterne Regiefigur, die zwischen Bühne und Publikum aus epischer Distanz vermittelt, aber spielintern in 110 der Nebenrolle des Inspizienten Ansprechpartner für die Figuren der inneren Kommunikationsebene bleibt hinsichtlich Technik, Ton, Heizung, Requisiten bis hin zur Beseitigung der Leiche der Statistin. Auf Anweisung von Sarah soll er im zweiten Teil eine Statistenrolle in Maeterlincks Drama übernehmen und damit zum Schauspieler avancieren. Als auktorialer Erzähler und Besitzer der Textvorlage kennt Reginald die Vorgeschichte der Inszenierung von Pelléas und Mélisande, die Charaktere der Schauspielerinnen, den Verlauf der Proben und den Ausgang der Zusammenarbeit der beiden monstres sacrés. Dank seines Informationsvorsprungs ist er Informant für Sarah, die sich über Pat erkundigt, und für Pat, die ihn, nachdem sie ihre Rolle niedergelegt hat, nach Sarahs Vorgehen während ihrer Abwesenheit befragt. In den narrativen Retrospektiven verwendet Reginald Zeiten der Vergangenheit und das historische Präsens. Als Erzähler bestimmt er die Breite der Darstellung und spart Details aus: Reginald: Oh, je ne vous raconterai plus toutes les péripéties, les incidents qui vont émailler encore ces répétitions. Nous n’en sommes plus là. L’important est de savoir que le spectacle est pratiquement au point le 30 juillet, toujours en 1904. (PeS, 33). In dem Moment, da Pat ihre Rolle als Mélisande aufgeben will und Sarah sie auf Knien anfleht, weiterzuproben, bittet Pat Reginald, dies mit Rücksicht auf sie beide nicht in seine „Memoiren“ aufzunehmen. Reginald geht darauf ein. Da Sarah nicht nachgibt, beauftragt Pat den Spielleiter Reginald, da er die Broschüre habe, das Spiel zu unterbrechen, und äußert so ihre „dramatische Selbst-Bewusstheit“(PeS, 26). Die Figur Pat Campbell versucht in Reginalds Regie einzugreifen und den Gang des Spiels auf der inneren Fiktionsebene selbst zu bestimmen, was ihr allerdings nicht gelingt. Reginalds Beschreibung der Proxemik der Bühnenfiguren und des Bühnenbilds ersetzt stellenweise für die Rezipienten die Didaskalien: Reginald: […] Mrs. Pat Campbell! Madame Sarah Bernhardt! À vous! … Ne les entendez-vous pas se faufiler dans les coulisses, s’infiltrer, passer telles des lianes entre les décors et les éléments? (PeS, 5) (Proxemik). Reginald: […] Et voici le château… Et puis la forêt… Et le vent… et les nuages… Et le brouillard. Brouillard du théâtre. Seize mètres de gaze… (PeS, 40) (Bühnenbild). Dieser Gestus des Zeigens und die Erläuterung des Nebeleffekts brechen die durch das idyllische Dekor hervorgerufene Illusion und rufen dem Zuschauer das spezifisch Theaterhafte der Kulisse ins Gedächtnis. Die Regiefigur Reginald fungiert auch als Interviewer der Figuren. Seine Interviews, wie er und die Charaktere sie bezeichnen, verschaffen dem Zuschauer Hintergrundwissen über die Bühnenfiguren. So fordert die Statistin sowohl ihre Vorstellung als auch das Interview ein (PeS, 8). 111 Reginald agiert als Moderator, der den Akteuren ihre Redeanteile zuweist und ihnen gegebenenfalls ins Wort fällt. Eine weitere Aufgabe Reginalds besteht darin, die Gefühle und Reaktionen der Figuren nach dem Dialog für das Publikum, das er direkt anspricht, transparent zu machen: Reginald (très spécialiste): Vous remarquerez que Mrs. Campbell est restée un peu sur sa réserve durant cet entretien, pourtant admirablement détendu et vivant. C’est que l’on n’a pas parlé encore de ses gages. (PeS, 6). Er spielt für die schwierigen Charaktere Sarah und Pat den Psychologen, indem er sie beschwichtigt, ermuntert und ihnen Komplimente macht. Als der Streit der beiden sich zuspitzt, zieht er, obwohl er als Verfasser des Probentagebuchs den erfolgreichen Ausgang der Kooperation von Pat und Sarah kennt, das Gelingen der Inszenierung in Zweifel: Reginald: [...] Quelle histoire! Dans quoi nous étions-nous embarqués! Je vous jure, chers spectateurs, que je n’y étais pour rien. D’ailleurs, vous avez remarqué, chers spectateurs, que je n’interviens plus, presque plus. Moi aussi, je suis témoin, spectateur, affolé et passif. Craintif, malgré tout… Tout d’un coup, je me demande… Mais l’ont-elles vraiment, ces deux magiciennes, joué ce Pelléas et Mélisande, l’été 1904, à Londres? (PeS, 22). Die die Kommunikation mit dem Publikum kennzeichnende Publikumsadresse wird hier vertraulicher durch die Anrede chers spectateurs. Reginald behauptet, einer von den Zuschauern zu sein, über denselben Informationsstand zu verfügen und keinen Einfluss mehr auf den Fortgang der Binnenhandlung zu haben. Dieses klassische Spiel der Regiefigur mit dem Publikum erzeugt Spannung analog zu der Phase des retardierenden Moments, in der sich die innere Handlung gerade befindet. Dass seine Befürchtungen nur gespielt waren, offenbart sein prophetischer Kommentar zur Versöhnung Pats und Sarahs, mit dem er ankündigt, dass die geplante Theatervorstellung stattfinden wird (PeS, 40). Die Theateraufführung von Pelléas und Mélisande ist eine Theatereinlage, in der 12 Repliken aus Maeterlincks Drama zitiert werden. Sie dient der Illustration der schauspielerischen Praxis der Protagonistinnen sowie als Beweis für Pats und Sarahs gemeinsame Realisierung des Theaterprojekts. Dies führt nur sehr kurzfristig zum Entstehen einer weiteren Fiktionsebene. Der Fokus des Metadramas von Da Costa liegt eindeutig auf den episierenden metatheatralen Kommunikationsstrukturen. Während der Applaus einsetzt, packt Reginald seine Aufzeichnungen zusammen und konstatiert, dass es ein Triumph gewesen sei. Anschließend rechtfertigt er das Motiv, das ihn zu der dramatisierten Erzählung der Geschichte Pat Campbells und Sarah Bernhardts veranlasst hat, moralisierend mit dem Beispielcharakter des konfliktreichen Aufeinandertreffens zweier ebenbürtiger Menschen, welches sich in allen Lebensbereichen (Büros, Fabriken etc.) so abspielen könne. Reginalds Regiefigurenrolle endet mit einer Eloge auf die beiden Schauspielerinnen und einem Aphorismus, 112 der den Bezug zur Gegenwart der Rezeption des Dramas herstellt: „Parce que lorsque la vie s’interrompt, c’est la légende qui continue.“ (PeS, 44). Da Costas Komödie ist ein episierendes Metadrama über ein historisches Theaterereignis und eine Hommage an zwei monstres sacrés der Theaterszene der Jahrhundertwende. Sie spielt mit den Techniken des epischen Theaters, die bei Brecht, Thornton Wilder (Our Town) und Pirandello zu finden sind, und ist Ausdruck der Erinnerungskultur und der nostalgischen Selbstreflexion des Theaters der Jahrtausendwende. Verglichen mit Reginald Lambroscough erscheint die Regiefigur Jean Passemar in Michel Vinavers Drama Par-dessus bord (1969) in einem theaterfremden Umfeld. Jean Passemar ist leitender Angestellter der Firma Ravoire et Dehaze, wo er seit 10 Jahren den Posten des „chef du service d’administration des ventes“ bekleidet. Die Firma, in der er seit 30 Jahren tätig ist, vertreibt Toilettenpapier. Der Firmenchef Fernand Dehaze wird eines Tages davon überrascht, dass sein Unternehmen nicht mehr Marktführer ist. Die Konkurrenz kommt aus USA in Gestalt des Toilettenpapiers Softies, das aus dem neuen Material Zellulosewatte hergestellt wird. Es wird in Frankreich von einer Filiale der amerikanischen United Paper Company auf den Markt gebracht und findet reißenden Absatz. Um zum Gegenangriff überzugehen, bringt Fernand Dehaze sein traditionelles Toilettenpapier in einer Verpackung in den Farben der Trikolore heraus. Die Verkaufsstrategie ist ein Flop. Die Ware wird von den Händlern zurückgeschickt, die Lager quellen über und die Finanzlage des Unternehmens ist kritisch. Der Unternehmer erleidet einen Herzinfarkt. Die Söhne Olivier und Benoît machen sich die Nachfolge streitig, da wählt die Bank den Schärferen von beiden, Benoît. Er engagiert zwei Spezialisten des amerikanischen Marketings, die die Toilettengewohnheiten der Konsumenten untersuchen sollen. Leitende Angestellte werden entlassen und neue Leute eingestellt. Auch Passemar wird an eine andere Stelle versetzt, wo er sich als „assistant chef de produit“ bewähren soll. Als das Kapital fehlt und die Banken nicht mehr mitspielen, bleibt nur die Fusion mit dem amerikanischen Konkurrenten. Passemar wird, weil sein neuer Vorgesetzter Peyre und Benoît nicht mit seiner Arbeit zufrieden sind, auf seinen alten Posten zurückversetzt. Während alle feiern, liest er Stellenanzeigen, stellt aber fest, dass er zu alt ist und die modernen betriebswirtschaftlichen Methoden nicht kennt. Das Stück gliedert sich in „six mouvements“, in denen ca. 50 Personen auftreten, und hat in der hier zugrundeliegenden Originalversion eine Aufführungsdauer von etwa sieben Stunden. Passemar ist wie Reginald eine homodiegetische Regiefigur, die das innere Spiel aus epischer Distanz kommentiert und zugleich spielinterne Figur der dramatischen Situation ist. Der Kontrast zwischen Diegesis und Mimesis tritt in diesem Drama aufgrund des theaterfremden Handlungsorts noch deutlicher zutage. 113 Passemars Erscheinen zu Beginn des ersten Mouvements ist bereits ungewöhnlich für einen leitenden Angestellten einer französischen Firma. Er tritt in einem Divertissement mit drei maskierten Tänzern auf, die eine Kiste tragen. Passemar, ebenfalls maskiert, entsteigt der Kiste und wird von den Tänzern misshandelt, zerstückelt und wieder zusammengesetzt. Nachdem die Tänzer ihn auf den Deckel der Kiste gesetzt haben, tragen sie den derart Inthronisierten auf ihren Schultern wie bei einer Prozession. Passemar setzt die Maske, die sein Gesicht abbildet, ab und erklärt dem Publikum, dass ein Divertissement nach Art des Aristophanes seiner Ansicht nach als Prolog dieses Stücks dienen könne. Er führt sich als Autor und Regiefigur des gespielten Stücks ein und gibt die antike Referenz für seine Inspiration an. Die Tänzer sind die Figuren, denen er während des Stücks Anweisungen erteilt, die ihn aber ähnlich Pirandellos sieben Figuren als Autor häufig angreifen und in Frage stellen. Mit seiner Vorgeschichte, die er dem Publikum in einem Monolog erzählt, weist Passemar sich als Alter Ego des mit der literarischen wie mit der Geschäftswelt vertrauten Michel Vinaver 185 aus: Passemar hat eine Licence in Literaturwissenschaften erworben und durch Fürsprache Albert Camus’ zwei Romane bei Gallimard veröffentlicht, ehe er von dem Unternehmen Ravoire & Dehaze eingestellt worden ist. Seine literarische Tätigkeit lebt er als Regiefigur in einer Parallelwelt aus, in der er sich den Zuschauern als Autor des gespielten Dramas zu erkennen gibt. Passemar sieht dank seines Informationsvorsprungs als Autor und Regiefigur das Auftauchen der Amerikaner auf der Bühne des Firmengeschehens voraus. Er zweifelt aber an der Fertigstellung und an der Kohärenz seines Dramas, dessen Achse er nicht finden könne. Das Publikum weiht er in die Schwierigkeiten des Schaffensprozesses seines Stückes ein und suggeriert ihm, dass es gerade entsteht: Passemar: Maintenant commence la partie la plus difficile à écrire de la pièce si la pièce est si longue peut-être est-ce parce que jusqu’à présent j’ai reculé devant l’instant où il faudrait en arriver là c’est-à-dire aux épisodes relatifs à la naissance du nouveau produit cette partie pose un problème d’abord parce qu’elle risque de tomber dans une suite d’exposés didactiques que j’aurai beau dramatiser aussi habilement qu’il m’est possible […]. (PB, 121). Die Textvorlage ist demzufolge anders als bei Da Costa noch nicht vorhanden, sie ist im Entwurf begriffen. Hannelore Göbler-Lingens stellt bezüglich des Informationsvorsprungs des Spielleiters Passemar zu Recht fest, Passemar sei als fiktiver Autor seinen Figuren, aber auch dem Leser/ Zuschauer „immer nur ein wenig voraus“. 186 Der Zuschauer gewinnt durch 185 Michel Vinaver schrieb zuerst Novellen und den Roman Lataume (von Camus bei Gallimard veröffentlicht) und trat dann in die Firma Gillette ein, wo er eine Doppelexistenz als leitender Angestellter (später Président Directeur Général) und Schriftsteller führte. 186 Göbler-Lingens 1998: 91. 114 die Äußerungen Passemars den Eindruck, am Entstehungsprozess eines noch nicht fixierten Dramentextes unmittelbar teilzuhaben. Das Drama Par-dessus bord wirkt dadurch wie ein work in process. Passemar durchbricht die Illusion der zweiten Fiktionsebene, um seine dramaturgischen Einfälle zu kommentieren und seine Theaterästhetik zu beschreiben: Passemar: C’est une idée qui m’est venue de corser un peut ces récits légendaires par une action mimée et dansée qui pourrait avoir du charme beaux costumes une musique moderne pourquoi pas? […] Au fond je suis tenté par le théâtre total où toutes les formes d’art concourent au spectacle le ballet le cirque le cinéma l’opéra c’est assez exaltant d’imaginer un théâtre sans plus aucune limite au niveau des moyens d’expression pourvu que ce soit une fusion et non pas une simple juxtaposition […]. (PB, 38). Das hier skizzierte Konzept eines Totaltheaters wird in Par-dessus bord durch die Integration von Happenings, Jazzmusik, Tanzeinlagen und Filmmaterial umgesetzt. Passemar fragt sich, ob sein Stück angesichts der vielen Figuren nicht zu hohe Inszenierungskosten verursacht und seine Chancen, aufgeführt zu werden, nicht schwinden. Mit dieser autoreflexiven Selbstkritik, die er der Regiefigur in den Mund legt, kommt Vinaver Rügen der Theaterkritiker bezüglich der Disparatheit und der Länge von Par-dessus bord sowie der Fülle der dramatis personae zuvor. Vinavers Spiegelbild Passemar hofft auf einen kommerziellen Erfolg seines Dramas und auf die Anerkennung der Kritiker und Intellektuellen (PB, 212). Im Vergleich zu Da Costas Regiefigur Reginald spielt Passemar nur selten den Präsentator für die anderen Bühnenfiguren, doch bei einem Betriebsfest, dessen Verlauf er wiedergibt, stellt der den Zuschauern zwei Figuren der Firma mit dem Präsentativ „voici“ vor (M. Lubin und Joëlle). Als homodiegetischer, generativer Erzähler schiebt Passemar Rückblenden ein. Diese Retrospektiven leitet er ein, indem er die Konkurrenz zwischen seiner und der amerikanischen Firma mit der Legende über den Krieg zweier skandinavischer Völker (Asen und Wanen) vergleicht, die ihm Monsieur Onde, sein früherer Professor am Collège de France, erzählt hat. Diese Geschichte, die das Firmengeschehen auf mythischer Ebene widerspiegelt, wird immer wieder eingeblendet und parallel zu Situationen im Unternehmen durch die Figur Monsieur Onde referiert. Passemar kommuniziert nicht nur selbst mit dem Publikum, er öffnet die „vierte Wand“ auch, indem er seine Tänzer mit den Zuschauern Kontakt aufnehmen lässt. Er spielt Filme über eine Umfrage zur Benutzung von Toilettenpapier und das Verhalten der Konsumenten ein. In diese Umfrage werden die Zuschauer einbezogen. Die Tänzer erhalten ein Mikrofon, sprechen die Zuschauer an und stellen ihnen die entsprechenden Fragen. Passemar sitzt dabei in einem Korbsessel auf der Bühne und beobachtet das Geschehen. Diese Marktforschung führt ihn zu der Überlegung, ob das 115 Theater nicht auch den Gesetzen des Marktes folgen und auf die Nachfrage eines von der Konsumgesellschaft geprägten Publikums reagieren müsse. An anderer Stelle setzt Passemar die Tänzer für die Promotion eines neuen Produkts ein und lässt sie Toilettenpapier an die Zuschauer, die persönlich begrüßt werden, verteilen. Dieses interaktive Theater kritisieren die Tänzer später als repetitiv, aber Passemar verteidigt die Monotonie dieses Zwischenspiels, wenn er auch einmal die kostspieligen intermèdes mit den Tänzern grundsätzlich in Frage stellt und aus dem Stück streichen will. Zum Schluss arrangiert er sich mit den Tänzern, sie sind bereit, die interaktiven Szenen mit den Zuschauern zu spielen, wenn er ihnen am Ende eine choreographische Übung, an der sie lange gearbeitet haben, einräumt (PB, 262). Beruflich wird Passemar im inneren Kommunikationssystem des Dramas, in dem der Kapitalismus regiert, nach der Fusion der amerikanischen und seiner französischen Firma nicht mehr ernst genommen und sieht sich gezwungen, Stellengesuche zu formulieren. 187 In der Parallelwelt des episch vermittelnden Kommunikationssystems versucht er hingegen seine literarischen Ambitionen zu verwirklichen. Während alle die Fusion und eine Hochzeit feiern, bleibt Passemar zurück und denkt über seine berufliche Zukunft und die Endfassung seines Stücks nach, dessen Achse er nun zu erkennen glaubt. Er nennt nochmals die Schwachstellen seines Stücks wie die Länge und die Personenzahl und knüpft an den Anfang des Dramas an, indem er Aristophanes als Vorbild anführt. Diese Rückkopplung an die Ausgangssituation des Dramas, das mit einem Ballett und einer Prozession ausklingt, in der Passemar von den Tänzern wieder hinausgetragen wird, kommentiert er als Regiefigur mit dem selbstreflexiven Fazit: „De sorte que la fin rejoint le commencement.“ (PB, 264). Sowohl Bernard Da Costa als auch Michel Vinaver verwenden in ihrem Drama narrative Kommunikationsstrukturen. Mittels einer Regiefigur, einem homodiegetischen Erzähler, etablieren sie in den hier vorgestellten episierenden Metadramen ein episch vermittelndes Kommunikationssystem, das beim Zuschauer Distanz schafft und es ermöglicht, die Handlung der zweiten Fiktionsebene als Fiktion zu entlarven. Der Zuschauer wird von dem homodiegetischen, generativen Erzähler, der in beiden Dramen zugleich als Autor der gespielten Textvorlage auftritt, quasi an die Hand genommen und durch das Geschehen geführt. Dabei erscheint der Dramentext des gespielten Dramas bei Vinaver aufgrund der Selbstzweifel Passemars bis kurz vor dem Schluss als nicht endgültig fixiert, während Da Costas Regiefigur Reginald nur zeitweilig mit ihrer Unwissenheit hinsichtlich des Dramenausgangs kokettiert. In beiden Dramen ist das Bemühen um Interaktion mit dem Publikum zu erkennen und damit der Rückgriff 187 Ina Patricia-Hatzig zufolge spielt die Thematik des gescheiterten cadre und arbeitssuchenden Managers in Vinavers Theater eine wichtige Rolle. Vgl. Hatzig 2005: 128. 116 auf Kommunikationsstrukturen des epischen Theaters, die darauf abzielen, die „vierte Wand“ zu durchbrechen und zu zeigen, „wie Theater gemacht wird“. 5.2.3 Der Chor als epischer Kommentator des Bühnengeschehens In einem Beitrag über den Kommentar im Drama in Jean-Pierre Sarrazacs Lexique du drame moderne et contemporain (2005) bezeichnet Hélène Kuntz den Chor als eine Form des „commentaire“ und stellt zu Recht fest: La voix du chœur ne s’est pas totalement éteinte dans le théâtre contemporain […]. 188 Patrice Pavis, der in seinem Dictionnaire du théâtre die Entwicklung des Chors vom griechischen Theater der Antike bis in die Gegenwart skizziert, sieht eine Wiederkehr des Chors im zeitgenössischen Theater und im Musical: Avec le dépassement de la dramaturgie illusionniste, le chœur fait aujourd’hui sa réapparition comme moyen de distanciation (Brecht, Anouilh et son Antigone), comme tentatives désespérées de trouver une force commune à tous (T.S. Eliot, Giraudoux, Toller) ou dans la comédie musicale (fonction mystifiante et unanimiste du groupe soudé par l’expression artistique: danse, chant, texte). 189 In dem Drama La Ville parjure ou le réveil des Érinyes (UA: 1994, erschienen 1995), mit dem Hélène Cixous an die Tradition der griechischen Tragödie anknüpft, erscheint ein Chor als Gefolge des griechischen Dichters Aischylos. Politischer Hintergrund des Theaterstücks ist die sogenannte affaire du sang contaminé, die die französische Gesellschaft Mitte der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erschütterte: Durch Bluttransfusionen mit aidsverseuchten Blutkonserven wurden damals Tausende von Menschen, insbesondere französische Hämophile, mit dem tödlichen Virus infiziert. Den Opfern dieser Blutspendenaffäre hat Cixous ihr Stück gewidmet, das während der ersten Prozesse entstand, in denen die an der Affäre Beteiligten (Ärzte, u.a. Dr. Michel Garretta, der damalige Direktor des Centre national de transfusion sanguine, Politiker etc.) zur Verantwortung gezogen wurden. Der Handlungsort des Dramas ist „la Ville parjure“, die meineidige Stadt, deren Name Cixous zufolge symbolisch für Städte wie Paris, London, Berlin oder Washington steht. 190 Auf dem Friedhof beklagt eine Mutter den Tod ihrer beiden Söhne, die durch kontaminierte Blutkonserven ums Leben gekommen sind. Sie verflucht die Ärzte und den König, die in 188 Kuntz 2005, Stichwort Commentaire, in: Sarrazac (Hrsg.) 2005: 49. 189 Pavis 2002: 45, Stichwort Choeur. 190 Hélène Cixous in einem Interview mit Bernadette Fort. Fort 1997: 443. 117 ihren Augen die Schuld tragen. Eschyle, der Wächter des Friedhofs, vernimmt ihr Klagen und gewährt ihr Zuflucht in seiner Stadt der Toten. Maître Marguerre und Maître Brackmann, die Anwälte der Angeklagten X1 und X2, erkundigen sich bei Eschyle nach der Mutter, um sie mit Geld zu entschädigen. Sie fürchten, dass die Mutter sich auf dem Friedhof einer Widerstandsgruppe anschließt, die einen Aufstand plant. Eschyle verweigert den Anwälten den Zutritt. La Nuit, die Göttin der Nacht, Eschyle und der Chor unterstützen die Mutter, die das Wort „Pardon“ von den Verantwortlichen hören will, in ihrem Kampf um Gerechtigkeit. Die Erinnyen entsteigen der Unterwelt und schwören Rache. La Nuit beauftragt sie, die Schuldigen lebend herbeizubringen. Die Königin redet dem König ins Gewissen, doch er trifft sich zum Essen mit dem beschuldigten Minister und interessiert sich nur für seine Wahlumfragewerte. Die Opposition, verkörpert durch Senator Forzza und seinen Attaché, profitiert von dem Skandal. X1, genannt Directeur, und X2, der sich als Vertreter der Wissenschaft bezeichnet, beteuern auf dem Friedhof ihre Unschuld. Daniel und Benjamin Ezechiel, die toten Söhne der Mutter, zählen die durch das kontaminierte Blut gestorbenen Kinder, deren Anzahl wächst. Die Mutter, La Nuit, Eschyle, der Chor, die Erinnyen, X1, X2 und ihre Anwälte erscheinen zu einer Gerichtsversammlung. X1 und X2 schieben die Schuld auf den Staat, der den Verkauf der fragwürdigen Blutkonserven hätte verbieten müssen. Der Chor ruft die Mediziner des Conseil national zu Zeugen auf. Die Ärzte beraten und beschließen zu schweigen, mit Ausnahme von Madame Lion, die den Eid des Hippokrates zitiert. Forzza gewinnt die Wahl und fordert als Staatspräsident die Räumung des Friedhofs. Als diese nicht erfolgt, lässt er den Friedhof überschwemmen. In einem Nachspiel treffen sich La Nuit, Eschyle, die Erinnyen, der Chor und die Mutter im Jenseits, der „ville de velours noir“, wieder und betrachten die „ville parjure“ aus der Ferne. Die intertextuellen Bezüge zwischen Aischylos’ Tragödie Die Eumeniden (3. Teil der Orestie) und La Ville parjure sind offensichtlich. 191 Das Motiv des Blutes, der Kampf um Gerechtigkeit im Sinne der antiken iustitia, die Einberufung eines „Blutgerichts“ und das Erwachen der rachedürstenden Erinnyen, die Athene in der Orestie in Schutzgöttinnen Athens verwandelt hatte, verbinden die griechische Tragödie und Cixous’ Drama. Wie sein reales Vorbild Aischylos ist Cixous’ Eschyle Chorführer. Den Chor nennt er „mes myrmidons“ (VP, 36) und vergleicht ihn so mit den Gefolgsleuten des Achilleus. In La Ville parjure steht Eschyle auf der Seite der Unterdrückten und der weiblichen Figuren (Mutter, La Nuit, die Erinnyen). Dementsprechend wurde die Rolle des Eschyle in der Inszenierung 191 Fort 1997: 430. Hélène Cixous im Interview mit B. Fort: „ [...] I had translated for her [Ariane Mnouchkine] The Eumenides, where the motif of blood is all powerful. We kept in mind essential themes from The Eumenides: the institution of the law in democracy.” 118 von Ariane Mnouchkine mit Myriam Azencot besetzt. Hélène Cixous selbst charakterisiert Eschyle als eine die Moral repräsentierende idealisierte Dichterfigur: Subversive or not, in my play Aeschylus is an ideal character, morally speaking. He doesn’t belong to the establishment. He is loyal to his poetic mission. I think poets should be on the side of the repressed, of the poor, of women, of minorities. So, it’s my own image of the poet, of course, that I have given a voice to with my Aeschylus. 192 Ebenso wie in Aischylos’ Tragödien spielt der Chor in La Ville parjure eine wichtige Rolle. Er bildet eine Gemeinschaft, ist Stimme der „exclus“ (VP, 63), d.h. all derer, die zu den Armen und den Randgruppen der Gesellschaft gehören. Der Chor unterstützt als „force de contestation“ 193 die Mutter im Kampf gegen ihre Gegner, zu denen die Justiz, die Ärzte, X1, X2, die Anwälte, der Minister und der König zählen. Er verteidigt als moralische Instanz Werte wie „conscience“, „vérité“, „justice“, „honnêteté“ und „paix“ (VP, 135-136) und übernimmt eine Funktion der Idealisierung und Generalisierung 194 , indem er das Bühnengeschehen auf einer übergeordneten Ebene interpretiert und den Übergang vom Konkreten zum Allgemeinen gewährleistet. So reflektiert er in der Gerichtsszene, in der X1 und X2 ihr gewissenloses Verhalten vorgeworfen wird, rückblickend über die seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa zu beobachtende Gewissenlosigkeit. Zwei Mitglieder des Chors (choreutes), Thessalonique und Lagadoue, werden personalisiert und treten aus der Menge hervor. Sie vertreten zwei unterschiedliche Haltungen innerhalb des Chors. Die pessimistische Thessalonique glaubt nicht an den Sieg der Gerechtigkeit, Jean Lagadoue lässt sich die Hoffnung nicht nehmen. Der Chor selbst fühlt sich anfangs kraftlos und will lieber abwarten als kämpfen. Vor dreißig Jahren (bezogen auf die Entstehungszeit des Dramas in den 1960er Jahren) sei er stärker gewesen, behauptet er: Le Choeur: [...] Soyons francs, si vous m’aviez vu il y a trente ans, j’étais un lion. Maintenant je suis un moucheron. (VP, 44). Als Dichter und Koryphaios übernimmt Eschyle die Verantwortung für den Zustand des Chors, er stellt fest: Eschyle: [...] Ils manquent d’entraînement. C’est de ma faute. (VP, 45). Damit kommentiert er selbstreflexiv die heutigen Ermüdungserscheinungen des Chors, dem seit der Antike im Drama die Aufgabe zufällt, den gesellschaftlichen Protest zu artikulieren. Hélène Cixous zufolge verkör- 192 Fort 1997: 446. 193 Pavis 2002: 46, Stichwort Choeur. 194 Vgl. Pavis 2002: 45. 119 pert der Chor in La Ville parjure wie in der griechischen Tragödie die Machtlosigkeit der Bürger im Staate: The Greek chorus embodies the powerlessness of the citizens. We who live in democracies are supposed to be active: we vote. But actually, voters are caught in an illusory situation: they only think they are active, yet they have given up their power to somebody else. 195 Der Chor agiert als spielinterner bzw. homodiegetischer Kommentator des Bühnengeschehens; er steht im Dialog mit Eschyle, La Nuit, den Erinnyen, der Mutter und den Anwälten. Zeitweilig äußert er sich in der traditionellen Form von Strophe und Gegenstrophe (VP, 37-41) und wendet sich mit seinen Reflexionen direkt an das Publikum unter Verwendung des ad spectatores: „Comme vous le voyez, notre baril est plein de poudre.“ (VP, 39). Er kommentiert das Verhalten der Figuren und deutet deren Worte, so auch das warnende „sinon“, mit dem Forzza in seinem Brief die Überflutung des Friedhofs ankündigt. Der Chor plant gleich einem Erzähler den Handlungsverlauf; er schlägt vor, den Schuldigen den Prozess zu machen, und blickt voraus in die Zukunft, in der das Unternehmen Erfolg haben oder - „dans une autre version“ (VP, 43) - scheitern kann. Er steuert die Gerichtsverhandlung, indem er die ranghöchsten Mediziner zu Zeugen aufruft. In dem Prozess wenden sich die Erinnyen hilfesuchend an den Chor, bitten um unwiderlegbare Argumente und fragen, wie er die Anhörung der Angeklagten fortsetzen würde: Les Érinyes: [...] Choeur, qu’est-ce que tu dirais? (VP, 129). Der Chor antizipiert in einer Vorausblende das Fehlverhalten der Ärzte des Conseil national. Wenn sie kommen, so prophezeit er, werde es genauso sein, als wären sie nicht gekommen. Eschyle hält sich hier mit einer Voraussage zurück. Er hingegen sieht als Chorführer und Dichter das Ende des Stücks La Ville parjure, das er selbstreflexiv als „une pièce où le juste espère se faire entendre justement“ (VP, 168) definiert, voraus und manifestiert so seinen Informationsvorsprung: Eschyle: [...] Suivez-moi jusqu’à la scène finale, ça va être une scène très spéciale. (VP, 195). Während der Chor im Nachspiel desorientiert fragt, wo er sei, erkennt der Friedhofswächter Eschyle das Jenseits sofort und will als Autor und Alter Ego Cixous’ 196 seine Eindrücke schriftlich festhalten. Er fordert die Zu- 195 Fort 1997: 444. 196 „Le doublet Eschyle-Athéna se double d’un autre couple en miroir. Aeschylus-Cixous [sk-ks] - les consonnes inversées au cœur de leurs noms nous suggèrent qu’Eschyle est dans la Ville parjure un miroir de l’auteur. Il est son interprète, son porte-parole, son sosie.” Fort 2000: 445. 120 schauer auf, der Mutter während ihrer Anrede an das Publikum (VP, 219) zuzuhören, und überlässt damit der Hauptfigur die dem Chorführer traditionell zufallende Parabase. Die Mutter gibt den Zuschauern stellvertretend für Eschyle den Auftrag, sich an dem Stück La Ville parjure, d.h. an ihrer Geschichte, ein Beispiel zu nehmen und für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Der Chor erteilt dem Publikum abschließend den metaphorisch formulierten Ratschlag „Ne donnez pas un mauvais capitaine à un vaisseau vivant.“ (VP, 219) und rät damit zum kritischen Umgang mit Entscheidungsträgern aller Art. Der Chor ist in La Ville parjure einerseits dramatis persona; als Kollektiv vertritt er alle aus der Polis Ausgeschlossenen. Andererseits ist er mit seinen Kommentaren, Ausdeutungen, Rückblenden und Voraussagen epischer Kommentator des Bühnengeschehens. Er konstituiert auf der Bühne den Blickwinkel eines kritisch-didaktischen Beobachters, schafft Distanz, durchbricht mit seinen Reflexionen und dem ad spectatores die Illusion und etabliert ein Kommunikationssystem, das zwischen der Bühnenfiktion und dem realen Zuschauer episch vermittelt. 5.2.4 Die Publikumsadresse Unter der Publikumsadresse, dem sogenannten ad spectatores, versteht man im Drama eine Anrede an das Publikum, die die Figur spielextern an das Publikum richtet, entweder kurzfristig im Rahmen eines Dialogs (Aparte oder Beiseitesprechen) oder in Form eines adressierten Monologs. Patrice Pavis definiert die adresse au public als Parties du texte (improvisées ou non) que le comédien, sortant de son rôle de personnage, adresse directement au public, rompant ainsi l’illusion et la fiction d’un quatrième mur séparant radicalement la salle et la scène. 197 Die Publikumsadresse ist somit Bestandteil des Dramentextes, hat eine antiillusionistische Wirkung und erzeugt beim realen Zuschauer Distanz zur Bühnenhandlung. Im Gegenwartsdrama erscheint sie häufig in Zusammenhang mit monologischen Dramenformen: Dans les dramaturgies immédiatement contemporaines, la question de l’adresse est d’autant plus importante que son emploi devient très large, notamment en liaison avec le développement des formes monologuées. 198 Ein Beispiel für ein episierendes Metadrama, in dem die Publikumsadresse mit der monologischen Dramenform, dem sogenannten Monodrama, einhergeht, ist das Theaterstück Le Grand Théâtre (2001) der französischen Literaturkritikerin Evelyne Pieiller, die auch als Drehbuch- und Romanau- 197 Pavis 2002: 13, Stichwort Adresse au public. 198 Françoise Heulot/ Catherine Naugrette, in: Sarrazac (Hrsg.) 2005: 30. 121 torin bekannt ist. 199 Der 2000 uraufgeführte Einakter wurde für die Schauspielerin Ariane Ascaride geschrieben. Auf der Bühne des Grand Théâtre des Deux Dômes begrüßt eine Schauspielerin stellvertretend für ihre Kollegen das Publikum und kündigt die Schließung des Theaters an. Der Besitzer habe gewechselt, das Theater werde durch einen Show-Room, einen Ausstellungsraum mit neuen Medien, ersetzt. Das Theater steht vor dem Konkurs, die Schauspieler gehen fort, um eventuell in einer Lagerhalle neu anzufangen. Die heutige Vorstellung sei die letzte, erklärt die Schauspielerin, sie finde in Form einer Versteigerung statt. Das Geld sei für den Neuanfang bestimmt. Sie beginnt, einige Requisiten und das restliche Hab und Gut des Theaters zu versteigern: eine Krone, einen Tisch, Theaterutensilien wie Isolierband und Kreide, den Aschenbecher des Chefs, das Kostüm des Falstaff und zuletzt eine Spiegelkugel. Zu jedem Gegenstand erzählt sie eine Geschichte. Am Ende teilt sie den Zuschauern mit, die Cabarets, die Cafés-concerts, die Tanzlokale und die Buchhandlungen in den Stadtvierteln existierten nicht mehr. Sie vermutet, dass das Theater ebenfalls sterben wird, prophezeit aber, man werde es wiedererfinden. Das Drama entspricht einem an das Publikum adressierten Monolog, den die Protagonistin selbst in Prolog, Versteigerung und Finale gliedert. Außer ihr sind keine Schauspieler auf der Bühne. Die aufgrund von Alkohol und Beruhigungstabletten nicht präsentablen Schauspielerkollegen sind lediglich als Offstimmen zuweilen aus den Kulissen zu vernehmen. Sie weisen die Schauspielerin, wenn sie sich in Digressionen verliert, mit dem Imperativ „Passe, passe, passons.“ (GT, 30) an, mit der Versteigerung fortzufahren. Die Schauspielerin, die ihre Kollegen mit „mes chers camarades“ (GT, 31) anspricht und so deren Anwesenheit bestätigt, fühlt sich von ihnen kontrolliert. Neben den Kameraden in den Kulissen wendet sich die Schauspielerin an den Beleuchter Albert und bedankt sich bei ihm. Er antwortet aber nicht, nur das wechselnde Bühnenlicht und eine zugeschlagene Tür im Off bezeugen seine Präsenz. Ein Dialog mit den hinter der Bühne anwesenden Figuren findet im eigentlichen Sinne nicht statt. Primärer Adressat der Rede der Schauspielerin sind die Zuschauer. In ihrer Publikumsadresse vollzieht die Schauspielerin verschiedene Sprechakte, darunter Begrüßung, Bitte, Entschuldigung, Aufforderung und Dank. Der Prolog beginnt mit einer traditionellen Begrüßung des Publikums, deren Referenz die Schauspielerin den Zuschauern in dramatischer Selbstbewusstheit sofort angibt: „Pour faire comme autrefois.“ (GT, 8). In einem theatertheoretischen Exkurs erläutert sie, wie der Prologsprecher früher das Publikum zu Beginn der Vorstellung um Wohlwollen und Nachsicht bat. Sie hingegen bittet nicht um „indulgence“, sondern um 199 Mit ihrem Mann, dem Schauspieler Jacques Pieiller, leitet sie inzwischen außerdem eine Schauspielkompagnie, genannt Le Grand Théâtre Tilhomme. 122 „affection“, d.h. Freundschaft und Anteilnahme, in dem schwierigen Moment der Schließung des Theaters (GT, 8). Die Truppe werde sich heute Abend den Zuschauern anvertrauen, sagt sie, und rechtfertigt damit das ad spectatores und die Durchbrechung der „vierten Wand“. Statt der für den Abend vorgesehenen Vorstellung von Pirandellos Ce soir on improvise finde nun eine Versteigerung statt, in der sie improvisiere und eventuell die Zuschauer ebenfalls. Die Parallele, die die Darstellerin zu Pirandellos autoreflexivem Stück zieht, ist eine Anspielung auf die Metatheatralität des Dramas Le Grand Théâtre. Die Schauspielerin kündigt an, sie werde mit den Zuschauern über Liebe sprechen und ersucht das Publikum um „tendresse“, d.h. Sympathie bzw. Nachsicht mit allem, was (wie das Theater aus der Sicht derer, die es schließen) überholt sei und eine Flaute erlebe: Soyez tendres, Mesdames et Messieurs, soyez tendres. Pour nous, pour vous, pour tout ce qui est décadent, démodé, détruit, déglingué, dépassé, dérisoire, et déprimé. Nous allons parler d’amour. (GT, 15). Gemeint ist hier die Liebe zum Theater, das, wie die Sprecherin der Truppe eingesteht, nicht mehr rentabel und konkurrenzfähig sei. Die Schauspielerin klärt die Zuschauer über die finanziellen Gründe der Schließung auf. Mit leisem Vorwurf macht sie das Publikum, das nicht immer zahlreich erschienen sei, auch für die Situation verantwortlich. Mehrmals entschuldigt sie sich, ihre Rede selbstkritisch analysierend, für die zu detaillierte Darstellung und ihre Abschweifungen: „Pardonnez les détours, c’est l’émotion.“ (GT, 11). Voller Nostalgie denkt sie an vergangene bessere Zeiten des Theaters. Die Requisiten, die sie während der Versteigerung aus dem Dunkeln hervorholt, bieten Anlass zu Anekdoten über Inszenierungen wie König Lear und Onkel Wanja, in denen sie zum Einsatz kamen. Der Werkzeugkasten inspiriert die Darstellerin zu einem Vortrag über die Funktion von Hammer, Nägeln, Kreide und Isolierband für die Gestaltung des Bühnenraums und die Proxemik der Schauspieler. Der Aschenbecher des Direktors weckt Erinnerungen an die erste Aufführung des Theaters, L’Illusion comique. Als das Kostüm von Falstaff aus den Kulissen auftaucht, weigert sich die Schauspielerin, es zu versteigern, und macht Anstalten zu gehen. Falstaff, die Shakespeare-Figur, die für sie das Theater verkörpert‚ kann man ihrer Ansicht nach nicht verkaufen, um weiter Theater zu machen. Hinter der Bühne kommt es darauf zum Streit. Die Versteigerung gleicht einer karitativen Veranstaltung, denn die Requisiten und die übrigen Gegenstände sind Erinnerungsstücke, die einen emotionalen Wert für die Schauspielerin und die Theatertruppe haben, unter den Zuschauern aber schwerlich Interessenten finden werden. In diesem adressierten Monolog fungieren sie als Erzählanlass und ermöglichen während der Versteigerung eine Interaktion mit dem Publikum. 123 Das Finale beginnt mit der sich drehenden Spiegelkugel, die Licht auf den Staub des Theaters wirft. Die Spiegelkugel und den Staub will die Schauspielerin zuletzt verkaufen. Dieser Staub symbolisiert den Tod des Theaters, das, was von ihm übrig bleibt. Das Publikum soll ihn als Andenken erwerben. Doch ehe die Schauspielerin sich abschließend beim Publikum bedankt, weckt sie mit der Prophezeiung „Et un jour, plus tard, dans longtemps, on nous réinventera.“ (GT, 61) die Hoffnung, dass das Theater wiedererstehen wird. In der Zwischenzeit, so verspricht sie, werde die Truppe an einem anderen Ort Staub produzieren. Das Theater erscheint in diesem episierenden Metadrama wie ein Toter, dessen Nachlass die Schauspielerin verwaltet. Die Zuschauer sind die Adressaten der Klage. Sie sollen am Nachlass des Theaters teilhaben, den Neuanfang finanziell ermöglichen und die Geschichte des Theaters aus der Sicht einer Figur, deren Biographie mit dem Theater eng verbundenen ist, erfahren. Den epischen Charakter ihres adressierten Monologs bezeichnet die Schauspielerin, selbst die Dramenform reflektierend, als ungewöhnlich: Qu’est-ce que c’est bizarre, que je vous raconte ma vie... (GT, 53). Nicht als dramatis persona tritt sie auf, sondern angeblich als Privatperson, die die Zuschauer zu ihren Vertrauten macht und mit ihnen zu kommunizieren versucht. Diese vorgespiegelte Intimität und Dialogizität kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Publikumsadresse in diesem Dramentext eine Inszenierung ist, in der sich eine fiktive Bühnenfigur an fiktive Zuschauer wendet. 5.2.5 Funktionen des episierenden Metatheaters Das episierende Metatheater steht in der Tradition des epischen Theaters und ist von Bertolt Brecht, Luigi Pirandello und Thornton Wilder beeinflusst. Es verwendet episierende metatheatrale Formen wie den Prolog, den Epilog, die Regiefigur, den Chor und die Publikumsadresse, die zum Teil bereits seit der Antike bekannt sind und infolge der Tendenz zur Episierung des Dramas (épisation 200 oder épicisation 201 du théâtre) im zeitgenössischen Drama eine Renaissance erfahren. Im episierenden Metadrama kommentiert das Theater sich selbst durch die Etablierung eines zwischen Bühne und Zuschauer vermittelnden epischen Kommunikationssystems. Es wird eine Metaebene eingefügt, in der ein „sujet épique“ 202 , das Komplize oder Alter Ego des Autors sein kann, einen Standpunkt (point de vue) zu der dargestellten Handlung einnimmt und eine Exegese der Fabel anbietet. 200 Pavis 2002: 117. 201 Laurence Barbolosi/ Muriel Plana in Sarrazac (Hrsg.) 2005: 74. 202 Laurence Barbolosi/ Muriel Plana in Sarrazac (Hrsg.) 2005: 75. 124 Diese Erzählinstanz (narrateur) kann heterodiegetisch sein wie im Falle des Prolog- und Epilogsprechers Complice in André Roussins L’Étranger au théâtre, welcher als frame narrator den Zuschauer in das Geschehen der zweiten Fiktionsebene einführt und am Schluss eine Interpretation des Dramas liefert. Sie kann aber auch als homodiegetischer, generativer Erzähler wie Reginald in Bernard Da Costas Stück Pat et Sarah und Passemar in Michel Vinavers Drama Par-dessus bord eine Nebenrolle im Binnenspiel (F2) übernehmen und zugleich spielextern als Regiefigur, Spielleiter, Zeremonienmeister und „Erzeuger“/ Autor der Fiktion zweiten Grades auftreten. Der homodiegetische Erzähler bricht bei Da Costa und bei Vinaver die Illusion mit Resümees, Erläuterungen zum Bühnenbild und zur Proxemik, Kommentaren, Musik-, Ballett- oder Theatereinlagen und sagt ähnlich einem auktorialen Erzähler im Roman dank seines Informationsvorsprungs und der Kenntnis „seines“ Dramentextes die Ereignisse der inneren Spielebene vorher und schiebt Rückblenden ein. Er arrangiert als organisierende und kommentierende Erzählerfigur die Elemente der Fabel in der Binnenfiktion und fungiert als Vermittler (médiateur) zwischen dem Publikum und den Bühnenfiguren. Diese Einfügung einer diegetischen Reflexionsebene macht für den intendierten Leser/ Zuschauer die Mimesis, d.h. die szenisch dargestellte Handlung der zweiten Fiktionsebene, transparent. Im Gegensatz zu dem Rahmenerzähler Complice sind die Erzählerfiguren Reginald und Passemar kontinuierlich präsent und begleiten das Publikum mit ihren Reflexionen durch die dramatische Handlung. Das Gleiche gilt für den Chor in Hélène Cixous’ episierendem Metadrama La Ville parjure. Die Erzählinstanz ist in diesem Fall ein kollektives episches Subjekt, das das mimetisch dargestellte Geschehen auf einer übergeordneten Ebene deutet. Dem Chor, der wie in der Antike von einem Chorführer (Koryphaios) geleitet wird, fällt bei Cixous die Rolle des homodiegetischen Erzählers zu. Er verkörpert spielintern die Armen und die Randgruppen der Gesellschaft, betrachtet das Bühnengeschehen jedoch gleichzeitig als kritisch-didaktischer Beobachter von außen und schafft mit Kommentaren, Interpretationen, Vorausdeutungen und dem ad spectatores Distanz zur inszenierten Fiktion. Dieser antiillusionistische Effekt wird noch verstärkt in dem Theaterstück Le Grand Théâtre von Evelyne Pieiller, das ähnlich Peter Handkes Publikumsbeschimpfung mit der epischen Kommunikationsstruktur der Publikumsadresse arbeitet. Le Grand Théâtre ist ein adressierter Monolog, in dem sich eine Schauspielerin stellvertretend für ihre Kollegen im Off spielextern an die Zuschauer wendet, um ihnen die Gründe und die Konsequenzen der Schließung des Grand Théâtre plausibel zu machen und sie mit einer Versteigerung von Requisiten zu bitten, den Schauspielern einen Neuanfang zu ermöglichen. Primärer Adressat der Schauspielerin, die vorgibt, an 125 jenem Abend als Privatperson ohne dramatische Rolle zu agieren, ist das Publikum. Die vierte Wand von Anfang an durchbrechend erzählt sie dem Publikum im Laufe der Versteigerung, mit der die Zuschauer zur Partizipation und zur Interaktion aufgefordert werden, Episoden aus der Vergangenheit des Theaters. Durch die Publikumsadresse entsteht eine metatheatrale Kommunikationsebene, auf der die Protagonistin zwischen dem Publikum und den vermeintlich realen Interessen des Theaters und der Schauspieler vermittelt. Die Illusion scheint aufgehoben, denn die Zuschauer bekommen den Eindruck, dank der Anekdoten der Erzählerin zu Vertrauten und in die Theaterverhältnisse Eingeweihten zu werden und so einen authentischen Blick hinter die Kulissen des Grand Théâtre zu werfen. Das episierende Metatheater ist gekennzeichnet durch das Auftreten epischer Kommunikationsstrukturen. Das Geschehen wird nicht nur mimetisch, sondern auch diegetisch dargestellt. Das Binnenspiel wird unterbrochen durch Kommentare, Deutungen, Prolepsen und Analepsen von Erzählinstanzen, die an den Erzähler im Roman erinnern und Distanz zu der dramatischen Handlung schaffen. In adressierten Monologen wie Le Grand Théâtre stehen die narrativen Elemente im Vordergrund. Diese Tendenz des Gegenwartstheaters, epische Strukturen zu integrieren, welche sich auch im théâtre-récit offenbart, ist als „romanisation“ 203 des Theaters bezeichnet worden. Jean-Pierre Sarrazac sieht in der Mischung dramatischer und epischer Elemente ein Merkmal des Gegenwartsdramas und wählt für diese hybride Theaterform den Terminus „théâtre rhapsodique“ 204 . Die Analyse der hier ausgewählten episierenden Metadramen hat gezeigt, dass es sich um antiillusionistische Dramen handelt, die den Mechanismus der Theaterproduktion offen legen und den Zuschauer gleich dem interaktiven Fernsehen in das Bühnengeschehen einbeziehen. Michel Vinaver und Hélène Cixous folgen der Tradition des epischen Theaters dabei nicht nur formal, sondern auch ideologisch, indem sie mit ihren Metatheatertexten die politische und gesellschaftliche Realität kritisch in Frage stellen. André Roussin hingegen formuliert ein theatertheoretisches Anliegen (das Plädoyer für ein Texttheater), Bernard Da Costas Stück ist dramatisierte Theatergeschichte und Erinnerungskultur, während Evelyne Pieiller anhand des Beispiels von der Schließung eines Theaters zugunsten eines Show-Rooms mit modernen Medien die Rolle des Theaters in der heutigen Gesellschaft problematisiert. Prolog, Epilog, Regiefigur, Chor und Publikumsadresse sind episierende metatheatrale Formen, mit denen das Theater auf sich selbst verweist und die eine Reflexion im Theater über das Theater ermöglichen, ohne dass der reale Autor sich explizit zu Wort meldet. 203 Muriel Plana in Sarrazac (Hrsg.) 2005: 194. 204 Sarrazac 1999: 36. 126 5.3 Fiktionales Metatheater Als fiktionales Metatheater werden Dramen bezeichnet, in denen die metatheatrale Struktur des „Theaters im Theater“ oder „Spiels im Spiel im engeren Sinne“ auftritt. Das fiktionale Metadrama beinhaltet die Aufführung eines Theaterstücks oder eine beziehungsweise mehrere Theaterproben, sodass es zur Einbettung einer sekundären Fiktionsebene (F2) in die primäre Fiktionsebene (F1) und damit zu einer Potenzierung der Fiktion kommt. Manchmal entsteht sogar eine tertiäre Fiktionsebene (F3), die in F2 integriert ist, d.h. ein „Theater im Theater im Theater“. Die Theatereinlage ist im fiktionalen Metatheater ein unbekannter Theatertext, sie verweist nicht auf einen bereits existierenden Theatertext (Prätext). Das externe reale Publikum sieht eine Aufführung, in der ein internes fiktives, aus Bühnenfiguren bestehendes Publikum auch einer Theatervorstellung oder einer Theaterprobe beiwohnt. Patrice Pavis nennt diese potenzierte Fiktion „un jeu de surillusion“. 205 5.3.1 Die Theaterprobe Das „Theater im Theater“ in der Variante der Theaterprobe ist strukturbildendes Element des 1974 erschienenen Stücks Dreyfus von Jean-Claude Grumberg. Eine jüdische Amateurtheatertruppe probt um 1930 in einem Festsaal der polnischen Kleinstadt Vilno ein Dokumentardrama über die Affäre Dreyfus, um ein Zeichen gegen den Antisemitismus zu setzen. Der Regisseur und Autor des Stücks, Maurice, hat während der Proben mit diversen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Laienschauspieler kennen den historischen Hintergrund des Dramas nicht genau, einer erscheint nicht zur Probe, und der Hauptdarsteller Michel kann sich als Pazifist mit seiner Rolle als Capitaine in der französischen Armee nur schwer identifizieren. Rivalitäten unter den Schauspielern, Diskussionen um Rollen und die Gestaltung der Dramenhandlung sowie Streitigkeiten wegen der Kostüme und der Bühnenbilder stellen das Gelingen des Theaterprojekts ebenfalls in Frage. Bei der ersten Kostümprobe ertönen draußen patriotische Gesänge, wenig später drohen zwei angetrunkene Männer damit, die Tür aufzubrechen. Als Zalman, der Verwalter des Festsaals, öffnet, beleidigen sie den alten Mann und werden handgreiflich. Maurice greift ein, wird aber niedergeschlagen. Der als Capitaine Dreyfus kostümierte Michel schlägt die Männer mithilfe der anderen, die er als seine Armee ausgibt, in die Flucht. Zufrieden verkündet Michel, er habe seine Figur nun gefunden. Doch die Aufführung des Theaterstücks findet nicht statt, denn die Truppe zerfällt 205 Pavis 2002: 365. 127 nach diesem Vorfall. Maurice geht nach Warschau und will als Fabrikarbeiter mit den politischen Mitteln der Kommunisten für eine Veränderung der Gesellschaft kämpfen. Michel emigriert mit seiner Partnerin Myriam nach Berlin, um sich dort einer Theatertruppe anzuschließen. Zurück bleiben der Schneider Motel, der Friseur Arnold und seine Freundin Zina. Unter Arnolds Regie wollen sie zum wiederholten Male ihr bewährtes Repertoirestück Tewje, der Milchmann 206 aufführen. Historischer Hintergrund ist auf der ersten Fiktionsebene die Situation der von Nationalisten attackierten Juden in Polen um 1930 und auf der zweiten Fiktionsebene die 1894 in Frankreich beginnende Affäre Dreyfus, in der Capitaine Alfred Dreyfus, ein französischer Offizier jüdischer Abstammung, zu Unrecht der Spionage für Deutschland verdächtigt, wegen Landesverrats verurteilt und auf die Teufelsinsel deportiert wird. Seine Begnadigung erfolgt 1899, aber erst 1906 wird er rehabilitiert und wieder in die Armee aufgenommen. Das eingebettete Spiel, das geprobt wird, nennt sich Dreyfus und ist eine Textvorlage („brochure“), die der Regisseur Maurice selbst verfasst hat. Es handelt sich um ein Dokumentardrama, in das Textfragmente aus Briefen zwischen Dreyfus und seiner Frau Lucie, aus den Prozessakten und aus Émile Zolas Schrift J’accuse montiert sind. Die historische Wahrheit steht für Maurice im Vordergrund, seine Forderung nach Realismus erstreckt sich auch auf die Kostüme, die der Schneider Motel detailgetreu nach Stichen aus der Zeit von 1895 anfertigen muss. Die Rahmenhandlung (F1) spielt im Festsaal von Vilno, in dem auch die Proben des Binnenspiels (F2) stattfinden. Eine Bühne im eigentlichen Sinne gibt es zunächst nicht, ein Teil des Saals ist erleuchtet und fungiert als Bühne, der andere Teil des Saals in der Nähe des Ofens ist quasi der Zuschauerraum, wo sich alle Laienschauspieler, die gerade nicht proben, als Bühnenpublikum zusammenfinden. Erst bei der Kostümprobe mit Bühnenbildern in Szene 6 wird eine Art Bühne („un semblant d’estrade“) errichtet, die den Handlungsort von F2 räumlich deutlicher abgrenzt. Das Bühnenpersonal teilt sich während der Probe in „regardants“ und „regardés“, d.h. der Blick der Bühnenzuschauer trägt zur Konstitution der zweiten Fiktionsebene bei. Die Protagonisten sind teilweise identisch auf F1 und F2. Mit Ausnahme von Maurice, Zalman und den beiden Eindringlingen, die nur F1 angehören, sind alle dramatischen Personen wechselweise auf F1 und F2 präsent. Der Schuster Michel spielt Dreyfus, der Friseur Arnold Émile Zola, Arnolds Tochter Myriam verkörpert Dreyfus’ Ehefrau Lucie, und der Schneider Motel erscheint in der Rolle des die Anklage vertretenden Kommandanten der französischen Armee. Zina hat in F2 eine Nebenrolle als Rassistin in einer Menschenmenge. 206 Vermutlich eine Adaption von Scholem Alejchems Roman Tewje, der Milchmann (1894). 128 Die Handlung des Dramas spaltet sich in eine Fiktion 2, das geprobte Dokumentarspiel Dreyfus, und eine Reflexion über diese Fiktion, die Rahmenhandlung F1. Diese Reflexion der Truppenmitglieder über das Binnenspiel betrifft die Figur Dreyfus, die Rollenverteilung, die Intention des Autors, Kostüme und Requisiten, die musikalische Untermalung, Gestik und Proxemik sowie eventuelle Publikumsreaktionen. Die Handlung in F1 pausiert, wenn auf F2 gespielt wird. In dem aus acht Szenen bestehenden Metatheatertext wird das eingebettete Drama in Szene 1, 2, 3 und 7 geprobt. 207 Die Textbroschüre benötigen die Laienschauspieler dabei häufig als Stütze. Die Handlung des Binnenspiels (F2) umfasst das Zeremoniell der Degradierung des Capitaine Dreyfus, eine Begegnung im Gefängnis zwischen Dreyfus und seiner Frau, einen Briefwechsel zwischen den beiden und eine Szene zwischen Dreyfus und dem Kommandanten, der ihm die Wahl zwischen Selbstmord und Gefangenschaft lässt. Die zweite Fiktionsebene weist keine lineare Struktur auf, es kommt zu einem ständigen Wechsel der Fiktionsebenen, weil die Probe an mehreren Abenden stattfindet und häufig unterbrochen wird. Die erste Theaterprobe (Szene 1) wird gestört durch Arnolds verächtliche Kommentare zu Michels Schauspielkünsten, Zinas und Arnolds Beschwerden über ihre Rollen und Arnolds Kritik an Maurices Gesamtkonzeption des Stücks, dessen antirassistische Botschaft das Publikum von Vilno aufgrund mangelnder Geschichtskenntnis seiner Meinung nach nicht verstehen wird: Arnold. [...] Mais un machin comme ta pièce, sans musique, avec des lettres, des chmordereaux, des bordereaux, des cérémonies, des appels, des contre-appels, des procès, des reprocès, des Zola, des Chmola, des Mathieu, des Alfred, des Picquart, des Henry et des autres et encore des autres et des autres…fé! (Il crache.) Personne n’y comprendra rien, personne n’y croira et personne ne sera content! [...]. (D, 16). 208 Bei der Probe der Liebesszene zwischen Alfred (Michel) und Lucie (Myriam) in Szene 2 unterbricht Arnold mit seinen Reflexionen über Dreyfus die Schauspieler und kommentiert argwöhnisch die Anweisungen des Regisseurs zu Proxemik und Gestik, die Myriam und Michel einander in die Arme treiben. Die Grenzen zwischen Fiktion (F2) und Bühnenwirklich- 207 Eine probenähnliche Situation entsteht auch in Szene 4; der Referent des Vortrags über Theodor Herzls Judenstaat, Dr. Wasselbaum, bittet die Theatergruppe um Ratschläge für seine Präsentation. Die Hinweise der Truppe zur „Inszenierung“ beschränken sich aber auf die Art der Anrede der Zuhörer. Eine weitere Probe (F2B) zeigt Szene 8, in der Arnold als Regisseur und Schauspieler mit Motel 11 Repliken aus Scholem Alejchems Tewje, der Milchmann probt und damit die Rückkehr der zurückbleibenden Schauspieler zu einem ihnen bekannten, schon mehrmals inszenierten Text demonstriert. Diese Kurzeinlage ist jedoch sekundär, im Vordergrund steht die Probe des Dokumentardramas Dreyfus, das nicht auf einem real existierenden Dramentext basiert. 208 Wörter wie „chmordereaux“ und „Chmola“ ahmen Laute des Jiddischen nach. 129 keit (F1) verwischen hier, denn die Gefühle zwischen den beiden jungen Leuten sind nicht nur gespielt: Michel bittet Arnold nach der Liebesszene um die Hand seiner Tochter. Die dritte Probe (Szene 3) wird abgebrochen wegen Motels und Maurices Streit über die authentische Nachbildung der Kostümuniformen und wegen des Nichterscheinens von Nathan, der Alfreds Bruder Mathieu Dreyfus spielen soll. An einem anderen Abend (Szene 4) steht der Festsaal aufgrund eines Vortrags der Truppe nicht zur Verfügung. Der ersten Kostümprobe (Szene 7) setzt das Eindringen der beiden Rassisten und die anschließende Auseinandersetzung ein jähes Ende. Das „Theater im Theater“ wird nun zum Bluff: Dank einer improvisierten Fiktion (F2’), in der Michel sich als Capitaine Dreyfus von Vilno und die anderen als Soldaten seiner Armee ausgibt, gelingt es der Theatertruppe, die polnischen Nationalisten zu vertreiben. Dargestellt wird die Geschichte des Scheiterns des Theaterprojekts Dreyfus. Infolge der sozialen Außenseiterposition der jüdischen Theatertruppe kommt es nicht zu einer Aufführung. Selbst die Verlegung des Themas „Antisemitismus“ in einen historischen Kontext und die Wahl eines französischen Juden als Helden erweisen sich als zu riskant. Maurice will mit seinem Drama zeigen, wie sogar in einem „pays hautement civilisé“(D, 16) wie Frankreich, in dem sich die Juden in Sicherheit fühlten, aufgrund eines Justizirrtums eine antisemitische Kampagne entstehen konnte. Er ist Idealist. Mit der Inszenierung von Dreyfus will er vor der Entstehung des Antisemitismus warnen, gegen Dummheit, Hass und Vorurteile in seinem eigenen Umfeld vorgehen und dem Publikum von Vilno seine Utopie von einer Welt, in der sich alle gegenseitig achten und lieben, vermitteln: Maurice. [..] Il faut que tous les hommes s’aiment et se respectent, voilà ce que leur dira Zola dans ma pièce… L’amour! L’amour! (D, 17). Doch nach dem Angriff der beiden Rassisten, die ihn als jüdischen Intellektuellen verhöhnen und misshandeln, verliert Maurice den Glauben an die gesellschaftsverändernde Kraft des Theaters; er wechselt von der Fiktion zur Politik. Mit dem Kommunismus hofft er das zu verwirklichen, was er mit dem Theater nicht erreichen konnte: Maurice. [...] pour vaincre l’antisémitisme et toute autre forme de discrimination et d’oppression il suffit de changer les structures actuelles de la société. Le capitalisme vaincu, le communisme illuminera le monde et libérera tous les hommes, voilà le but, voilà la lutte… […]. (D, 71). Jean-Claude Grumberg verwendet in seinem Metadrama Dreyfus das Verfahren der mise en abyme, das eine Homologie- oder Ähnlichkeitsrelation und eine Hierarchie fiktionaler Ebenen voraussetzt: 130 [...] est mise en abyme toute enclave entretenant une relation de similitude avec l’œuvre qui la contient. 209 Die mise en abyme théâtrale ist gekennzeichnet durch ein „dédoublement structurel-thématique“ 210 , d.h. eine Verdoppelung bzw. Spiegelung auf formaler und inhaltlicher Ebene. Das „Theater im Theater“ ist die geläufigste Form der dramatischen mise en abyme. Grumbergs Stück Dreyfus basiert auf einer strukturellen und thematischen mise en abyme. Strukturell entspricht die dargestellte Theaterprobe, bei der sich die Bühnenfiguren in Bühnenakteure und Bühnenzuschauer des Spiels im Spiel teilen, der Situation der realen Zuschauer im Theater, die die reale Aufführung des Dramas Dreyfus sehen. Thematisch betrachtet besteht eine Parallele zwischen dem Frankreich des Capitaine Dreyfus (F2, 1895) und der Welt der jüdischen Laienschauspieler (F1, 1930): Die Degradierung und die Außenseiterstellung des Alfred Dreyfus wiederholt sich in der Herabwürdigung und Ausgrenzung der die jüdische Gemeinde von Vilno repräsentierenden Theatertruppe, die von polnischen Nationalisten angegriffen und von der „Ligue pour la Pologne pure“ (D, 58) zum Außenseiter gestempelt wird. Das eingebettete Spiel ist eine in einen historischen Kontext transponierte Spiegelung der Situation der polnischen Juden um 1930, die vorwegnimmt, was den jüdischen Laienschauspielern in der Auseinandersetzung mit den rassistischen Eindringlingen widerfährt. 211 Die Funktion dieses „Theaters im Theater“ besteht auf struktureller Ebene darin, dem realen Zuschauer durch die Potenzierung der Fiktion den Illusionscharakter des Theaterstücks, das er rezipiert, bewusst zu machen und so Distanz zu erzeugen. Auf der inhaltlichen Ebene fungiert das „Theater im Theater“ hier als Analogie und vorausdeutende Antizipation der Ereignisse auf der ersten Fiktionsebene und erinnert an die Tradition des Jüdischen Theaters. Das fiktionale Metadrama Dreyfus (1974) ist der erste Teil einer Dramentrilogie, zu der auch die Stücke L’Atelier (1979) und Zone libre (1990) gehören. Grumberg schildert darin das Schicksal und den Alltag europäischer Juden zwischen 1930 und 1950. Diese Dramen, die autobiographische Elemente enthalten 212 , gedenken der Opfer des Holocausts 213 und sind 209 Dällenbach 1977: 18. 210 Pavis 2002: 209. 211 Eine symbolische Vorausdeutung auf das Schicksal der Juden nach 1930 sind auch die Städte, in die sich Maurice, Michel und Myriam am Ende begeben: Warschau (Warschauer Ghetto) und Berlin (Reichskristallnacht, NS-Regime). 212 Jean-Claude Grumberg ist der Sohn eines jüdischen Schneiders, der in Frankreich deportiert wurde. Er spielte zuerst in einer Amateurtheatertruppe, ehe er Schauspieler und dann Schriftsteller wurde. 213 Brian Pocknell nennt diese Dramen „Grumberg’s Holocaust Plays“. Pocknell 1998: 399. 131 zugleich eine Warnung vor der Entstehung des Antisemitismus und seinen Folgen. Der argentinische Autor, Schauspieler und Karikaturist Raúl Damonte alias Copi (1939-1987) treibt in La Nuit de Madame Lucienne (1985) das Spiel mit der Illusion auf die Spitze: „Ma pièce ressemble à un oignon qu’on pèle“ 214 , sagt Copi und beschreibt mit diesem Bild die Struktur seines Theaterstücks, das „Theater im Theater im Theater“. Wie in Grumbergs Drama Dreyfus ist keine der Theatereinlagen eine Theateraufführung, sondern das „Spiel im Spiel im Spiel“ beruht auf zwei ineinander verschachtelten Theaterproben. Geprobt wird ein Theaterstück (F2), das wiederum die Theaterprobe eines Theaterstücks (F3) zeigt. Ein Autor, die Schauspielerin Françoise Brionska und der Bühnenarbeiter Miloud proben eine Woche vor der Premiere nachts in einem Theater die Parodie eines interaktiven Fernsehjournals (F3). Mehrmals wird die Probe unterbrochen durch die Anrufe der ehemaligen Schauspielerin und Stripteasetänzerin Vicky Fantômas, die den Autor zu sprechen wünscht. Der Autor weist sie ab und bespricht mit Miloud und Françoise die Kostüme, die Rolle einer Rattenmarionette im Stück und den noch nicht fixierten Theatertext, der während der Probe aufgezeichnet wird. Das Geräusch des Staubsaugers der im Theater wohnenden Putzfrau Madame Lucienne stört die Theaterleute erneut bei der Arbeit. Miloud und Françoise klagen über die Schwierigkeiten des Probens ohne Textvorlage. Darauf entwirft der Autor den weiteren Handlungsverlauf seines Kriminalstücks, in das er Vicky als Dramenfigur, die sich auf der Bühne erhängt, einbezieht. Der Autor bittet Madame Lucienne, den Staubsauger leiser zu stellen, doch sie antwortet nicht. Vergebens suchen alle nach der Putzfrau, da erscheint Vicky Fantômas. Sie hat die Proben beobachtet und will den Theaterleuten zeigen, wie man das Stück spielen muss. Von nun an sollen alle in ihrem Stück mitspielen. Vicky behauptet, Madame Lucienne sei tot. Die Tote wird in Madame Brionskas Loge entdeckt. Der Autor unterzieht Vicky einem Verhör, in dem sie zunächst die Ratte, dann Françoise des Mordes an Madame Lucienne bezichtigt. Dabei stellt sich heraus, dass Vicky und Françoise die Töchter der Putzfrau sind. Als der Autor unerwartet gesteht, Madame Lucienne ermordet zu haben, erschießt ihn Françoise. Miloud tötet darauf Françoise, und Vicky ersticht den Bühnenarbeiter. Nach einem kurzen Epilog erdrosselt sich Vicky mit der Ratte. Der Autor applaudiert (Beginn von F1) und lobt die Schauspieler für ihre Leistung in der vorausgegangenen Probe (F2). Die Schauspieler diskutieren über das Stück (F2), seinen Titel und ihre Rollen und verlassen das Theater. Eine Putzfrau kommt herein und stellt sich dem Autor als Madame Lucienne vor. Seit ihrer Kindheit habe sie unter dem Theater gelitten, denn es gaukele einfachen Leuten wie ihr etwas vor und mache ihnen 214 Copi in dem Interview „En répétant la répétition“ mit Michel Barlier, Barlier 1985: 11. 132 Angst. Am Ort seiner Verbrechen soll der Autor sterben, beschließt sie, zieht eine Pistole und erschießt ihn. Triumphierend verkündet sie, mit dem Theater sei es nun vorbei. Der Zuschauer durchschaut die mehrfache Potenzierung dieses fiktionalen Metadramas am Anfang nicht. Er steigt auf der zweiten Fiktionsebene (Theaterprobe 2) in das Geschehen ein, nimmt das surrealistisch verfremdete Fernsehjournal Télé-Lune (F3) als eingebettete Fiktion wahr, wird aber erst durch den Applaus des Autors auf die erste Fiktionsebene (Theaterprobe 1 mit Nachbesprechung von F2) versetzt, die alles Vorhergehende als Binnenspiel entlarvt und sich selbst als Bühnenwirklichkeit (F1) zu erkennen gibt. Das Fehlen einer Einteilung in Akte, Szenen oder Bilder, die den verschiedenen Ebenen zugeordnet werden könnten, und die Ähnlichkeit der Handlungsorte von F1 und F2 (Bühne, Theater) begünstigen diese bewusste Täuschung des Publikums: „On croyait être dans une fiction, et on découvre qu’on est dans une autre.“ 215 Die gesamte Bühnenhandlung verteilt sich auf drei fiktive Handlungsorte 216 : - Bühne 1 (F1): Theaterprobe 1, Ort der Nachbesprechung von F2 und der Ermordung des Autors durch die „echte“ Madame Lucienne - Bühne 2 (F2): Bühne, auf der die Theaterprobe 2 stattfindet - Fernsehstudio auf dem Mond (F3): science-fiction-artiger Handlungsort des Fernsehjournals Télé-Lune. Nicht nur örtlich, auch zeitlich bestehen Parallelen zwischen F1 und F2, denn beide Theaterproben finden nachts eine Woche vor der Premiere statt. Das Fernsehjournal Télé-Lune hingegen wird morgens ausgestrahlt und hebt sich damit in Ort und Zeit deutlich von den beiden anderen Spielebenen ab. Die drei Fiktionsebenen nehmen in der Handlung des Dramas einen unterschiedlichen Raum ein. F3 ist die Ebene mit dem geringsten Handlungsanteil (LNML, 238-243), denn die Probe wird ständig durch Einwirkungen von F2 (fehlende Requisiten, Textunsicherheiten der Schauspielerin, Vickys Anrufe) gestört. Die Parodie des interaktiven Fernsehjournals (F3) beschränkt sich auf einen Anfangsmonolog, in dem die Moderatorin unter den Rubriken Wetter, Politik, interplanetarischer Krieg, Kleinanzeigen, Sport, Sex und Werbung Botschaften aus der Galaxis verliest, Telefonanrufe und Spenden von Fernsehzuschauern entgegennimmt und den Talk-Gast Dieu interviewt, der kaum zu Wort kommt. F1 bildet den Rahmen (LNML, 284-294), zeigt die Diskussion der Theatertruppe nach der Probe von F2 und die Ermordung des Autors. F2 umfasst mit der Theaterprobe 2 und dem daraus entstehenden Kriminalstück, in dem verschiedene Mordszenarien bezüglich des Todes der fiktiven Madame Lucienne entwi- 215 Copi in Barlier 1985: 11. 216 Vgl. Voß 1998: 89. 133 ckelt werden und schließlich der Autor, Françoise, Miloud und Vicky eines gewaltsamen Todes sterben, den größten Teil der Handlung (LNML, 237- 284). Die Bühnenfiguren sind auf den drei Spielebenen teilweise identisch, einige übernehmen phasenweise Zuschauerfunktion. So spielt die Schauspielerin Françoise in F3 die Moderatorin der Fernsehsendung und der Autor tritt darin als Talk-Gast Dieu mit einer Rattenmarionette auf. Während die Comédienne F3 probt, schauen der Bühnentechniker Miloud, der Autor und die im Zuschauerraum verborgene Vicky ihrem Spiel zu. Françoise, Miloud, Vicky, Madame Lucienne und der Autor sind dramatis personae in F2, zugleich ist der Autor zusammen mit der im Zuschauerraum versteckten „echten“ Madame Lucienne Zuschauer des Binnenspiels F2. Die Situation des realen Publikums, das das Theaterstück von Copi rezipiert, erscheint also zweifach gespiegelt in diesem Metadrama wieder. Die Illusion des Publikums, das zunächst echte Schauspieler bei der Probe zu beobachten glaubt, wurde in der Uraufführung (25.07.1985, Théâtre Municipal, Avignon, Regie: Jorge Lavelli) noch dadurch gesteigert, dass die Bühnenfiguren Miloud, Françoise und Vicky (in F1 Maria genannt) die Vornamen der realen Schauspieler (Miloud Khétib, Françoise Brion, Maria Casarès) der damaligen Inszenierung tragen. Nur an den Textstellen, wo die Bühnenfiguren durch autoreferentielle Repliken dramatisches Rollenbewusstsein 217 demonstrieren, erhält der reale Zuschauer spielimmanente Hinweise auf den fiktionalen Charakter des Bühnengeschehens von F2. So bezeichnet Miloud Vickys Mordszenario, in das alle einbezogen werden, als „mise en scène“ (LNML, 273), der Autor bittet die Comédienne mit den Worten „Ne rentre pas dans son jeu! “ (LNML, 277), nicht in Vickys Kriminalstück einzusteigen, und die Comédienne ruft am Ende von F2, als sie ermordet wird, aus: „On me tue! Sur ma scène! Dans mon spectacle! “ (LNML, 283). F2 und F3 unterscheiden sich in der Art der Textvorlage: Der Dramentext von F3 ist gemäß dem Autor/ Regisseur (F2) noch nicht fixiert, er entsteht zum Teil erst während der Probe und wird aufgezeichnet. Sowohl Miloud als auch die Comédienne beschweren sich über diese (im französischen Gegenwartstheater häufig praktizierte) Form der Dramenproduktion. Miloud kritisiert die mangelnde Logik und Kohärenz des Theaterstücks, die ihm die Lichtregie erschweren, und spricht abwertend von „happening“ (LNML, 254). Die Schauspielerin wirft dem Autor/ Regisseur vor, den Text nicht vor Beginn der Proben geschrieben zu haben, denn sie kommt mit der Improvisation nicht zurecht. Sie zieht einen Vergleich zum café-théâtre und sieht in dieser Form der Inszenierung den Niedergang des Theaters: 217 Voß 1998: 95. „Einige Repliken signalisieren verstecktes oder sogar offenes Spielbewusstsein auf Seiten der Darsteller.” 134 Comédienne: [...] C’est fini le vrai théâtre! Plus de texte, plus de metteur en scène, plus de répétitions! Et le décor: regardez-moi un peu ça! (LNML, 255). Der Theatertext von F2 dagegen ist fixiert, wird durchgehend geprobt und sitzt, wie der Autor/ Regisseur (F1) in der Nachbesprechung von F2 gegenüber den Schauspielern anerkennend bemerkt: Auteur: […] On est à une semaine de la première, et c’est déjà presque, presque rodé. (LNML, 286). Copi stellt hier zwei Konzepte der Regie und der Dramenproduktion einander gegenüber: das Texttheater und die in den 1960er Jahren entstandene, auf der Improvisation basierende création collective. Die beiden Autor/ Regisseur-Figuren pflegen dementsprechend einen unterschiedlichen Umgang mit ihrem Ensemble. Während der Autor/ Regisseur in F2 mit Miloud und Françoise über F3 und ihre Schwierigkeiten mit dem Stück diskutiert, bricht der konservativere Autor/ Regisseur in F1 das Gespräch mit den Schauspielern, die die fehlende Komik, den surrealen Handlungsort von F3, das Verfahren des „Theaters im Theater“, die Anlage der Figur Vicky, die vielen Morde und den Titel La Nuit de Madame Lucienne kritisieren, ab mit der autoritären Bemerkung: Auteur: Vous avez certainement raison, mais nous ne sommes pas en mai 68, je ne discute pas de théâtre avec les comédiens. (LNML, 286) F1 und F2 sind Fiktionsebenen, auf denen das jeweils eingebettete, geprobte Theaterstück kommentiert und analysiert wird. Die Theaterkritik seines Dramas, welches die Bühnenfiguren der Gattung „comédie“ (LNML, 265) bzw. „comédie policière“ (LNML, 257) zuordnen, liefert Copi dem Zuschauer auf diese autoreferentielle Weise implizit gleich mit. Die beiden ineinander verschachtelten Theaterproben gewähren dem Publikum Einblick in die Werkstatt eines Theaters, die Probleme der Regiearbeit und die Realität des Alltags von Schauspielern, deren Beruf das Spiel mit multiplen Identitäten erfordert. So fällt der Comédienne die gedankliche Trennung von Theater- und sozialer Rolle, von Fiktion und Wirklichkeit, während der Proben nicht immer leicht: Comédienne: [...] Mais ce qu’il y a de plus éprouvant c’est que soi-même on devient théâtral, on a l’impression de jouer même pour fumer un joint! (LNML, 261) Diese Theatralisierung ihrer Lebenswelt, die an den Topos des Theatrum mundi 218 erinnert, beschreibt sie gegenüber dem Autor mit den Worten „Ça fait trente ans que je joue pour toi mon personnage au théâtre comme dans la vie.“ (LNML, 277). 218 Voß 1998: 256. „Das Theatralische wird zur Daseinsform, die das Leben auch jenseits der eigentlichen Theaterarbeit prägt.” 135 Copi führt die Professionellen des Theatermilieus „démasqués dans leur cuisine“ 219 vor. Die surillusion des „Theaters im Theater im Theater“ soll dem realen Zuschauer am Ende den Illusions- und Artefaktcharakter einer jeden Theaterinszenierung bewusst machen. Die Reaktion der „echten“ Madame Lucienne, die Realität und Fiktion als Bühnenzuschauer von F2 nicht mehr unterscheiden kann, sich mit der fiktiven Madame Lucienne identifiziert und die Fiktion sowie den Autor der Fiktion deshalb endgültig auslöschen will, steht ironisch überzeichnet für eine Rezeptionshaltung, die dem zeitgenössischen Publikum, das hinter die Kulissen schauen will, aus der Sicht von Copi nicht mehr angemessen ist: Alors que la plus grande curiosité du spectateur, une fois qu’il a vu quelques pièces, c’est de savoir comment ça marche, pour quelles raisons des gens-là sont en train de se fatiguer à crier sur scène, si ce n’est pas pour l’art… 220 Wie Grumberg arbeitet Copi in La Nuit de Madame Lucienne mit dem Verfahren der mise en abyme. Copis Drama weist strukturell eine doppelte mise en abyme auf, denn in das eingelagerte Spiel F2 ist ein weiteres Spiel F3 integriert. F2 spiegelt F1, es handelt sich um zwei ineinander verschachtelte Theaterproben, die sich in Handlungsort und Handlungszeit gleichen. Die Bühnenfiguren von F1, F2 und F3 sind teilweise identisch und verknüpfen die drei Spielebenen personell. Der Titel des gesamten Dramas, La Nuit de Madame Lucienne, entspricht wie in Dreyfus dem Titel der untergeordneten zweiten Fiktionsebene. Thematisch nimmt der fiktive Mord am Autor in F2 den „tatsächlichen“ Mord am „echten“ Autor in F1 vorweg. Der Tod der Schauspielerin in F2 wird in F3 angekündigt, da der Autor ein Attentat auf die Fernsehmoderatorin für den weiteren Handlungsverlauf des Theaterstücks F3 einplant. In F2 und F1 taucht jeweils vorausdeutend eine geladene Pistole auf, die am Schluss als Tatwaffe dient. Die Rolle der Titelfigur Madame Lucienne steht in F1 jedoch im Kontrast zu F2: Während die fiktive Madame Lucienne in der Binnenfiktion F2 als Statistin und Mordopfer erscheint, tritt die „echte“ Madame Lucienne in F1 als Täter auf, just nachdem der Autor ihre Wiederkehr als Phantom für den Ausgang von F2 konzipiert hat. Der Zuschauer verfängt sich zunächst in dieser „Zwiebel“ der fiktiven Schichten, die mit dem Tod der dramatischen Fiktion endet. Erst wenn er auf der ersten Fiktionsebene angekommen ist, erkennt er die Grenzen zwischen den Fiktionen und der Realität und durchschaut die Struktur dieses fiktionalen Metadramas, das Jorge Lavelli einmal als „exercice de style“ 221 bezeichnet hat. 219 Copi in Barlier 1985: 11. 220 Copi in Barlier 1985: 11. 221 Lavelli in einem Interview mit Irène Sadowska-Guillon, Sadowska-Guillon 1985: 9. 136 5.3.2 Die Theateraufführung In Jean Genets Drama Les Nègres (1958) nimmt das „Theater im Theater“ die Gestalt einer rituellen Zeremonie an. In Gegenwart eines aus Königin, Kammerdiener, Missionar, Richter und Gouverneur bestehenden, scheinbar weißen Hofstaats führt eine Gruppe von Schwarzen, zusammengesetzt aus vier Männern (Ville de Saint-Nazaire, Village, Archibald, Diouf) und vier Frauen (Vertu, Bobo, Félicité, Neige), ein Theaterstück auf, das einer Kulthandlung gleicht. Im Mittelpunkt des Rituals steht ein mit Tüchern verhängter Katafalk, um den herum die Schwarzen zu Beginn ein Menuett von Mozart tanzen und der angeblich die Leiche einer von ihnen ermordeten weißen Frau birgt. Die nach festgelegten Regeln ablaufende Zeremonie, die der Spielleiter Archibald inszeniert, soll den Mord an der weißen Frau rekonstruieren. An jenem Abend fällt Village die Rolle des Mörders zu, während der Vikar Diouf das Opfer spielt. Die rituelle Handlung wird häufig unterbrochen: Mal greift der Hofstaat auf seiner Empore kommentierend in das Geschehen ein, mal weigern sich die schwarzen Figuren, die Regeln des Rituals zu befolgen, haben den Text vergessen oder zeigen Gefühle, die in der von Hass dominierten Zeremonie laut Archibalds Anweisung nicht angebracht sind. Der Mord vollzieht sich, wie der Hofstaat annimmt, hinter einem Paravent. Um die tote Weiße zu rächen und den Schuldigen zu verurteilen, begibt sich der Hofstaat nach Afrika in die überseeischen Gebiete der Kolonialmacht Frankreich. Dort entdecken die Weißen, dass sich unter dem Katafalk lediglich zwei Stühle befinden. Félicité und die Königin liefern sich ein Rededuell, das durch Explosionen und ein Feuerwerk in den Kulissen jäh beendet wird. Der Hofstaat setzt die Masken ab, hinter denen fünf schwarze Gesichter zum Vorschein kommen. Ville de Saint-Nazaire berichtet von der Exekution eines schwarzen Verräters, die sich hinter den Kulissen abgespielt hat, und verkündet die Ankunft eines neu gewählten Anführers der Schwarzen. Darauf setzen die schwarzen Schauspieler, die den Hofstaat der Weißen verkörpern, ihre Masken wieder auf. Nacheinander werden die Mitglieder des Hofstaats von den Schwarzen umgebracht. Die sterbende Königin erteilt den Toten den Auftrag, sie in die Hölle zu begleiten. Archibald hält den Hofstaat zurück und lobt die Schauspieler für ihre Darstellung. Die Darsteller des Hofstaats nehmen die Masken ab, grüßen, setzen die Masken wieder auf und verlassen die Bühne. Im Hintergrund öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf einen Katafalk, um den sich nun alle Schwarzen versammeln wie zu Beginn des Stücks. Auch das Liebespaar Village und Vertu schließt sich unter den Klängen des Menuetts aus Don Giovanni der Gruppe um den Katafalk an. In dem Paratext Préface inédite des Nègres gibt Jean Genet Auskunft über den Entstehungskontext seines Dramas. Mit Les Nègres kommt er der Bitte 137 des Schauspielers und Regisseurs Raymond Rouleau nach, ein Stück für dessen neue, aus Farbigen bestehende Schauspieltruppe 222 zu schreiben: Quand il me demanda d’écrire une pièce pour sa troupe, j’acceptai. ‘Oui’, me dis-je, ‘les Noirs joueront. Mais ils organiseront un spectacle qui sera un camouflet pour les spectateurs.’ (Préface inédite, 836). Das Schauspiel, das die Schwarzen inszenieren und das sich, wie Genet in einem weiteren, dem Drama vorangestellten Paratext betont, an Weiße richtet 223 , soll die weißen Zuschauer kränken und verletzen (838, Préface inédite). Genet versichert: Cette pièce est écrite non pour les Noirs, mais contre les Blancs. (Préface inédite, 842). Die Idee zu seinem Theaterstück liefert ihm eine Spieldose aus dem 18. Jahrhundert, die vier livrierte Farbige zeigt, die sich vor einer Prinzessin aus weißem Porzellan verneigen. Die Erkenntnis, dass die Situation sich im 20. Jahrhundert nicht geändert hat, veranlasst Genet, sich des Themas anzunehmen. Eine weitere Inspirationsquelle ist Jean Rouchs ethnografischer Film Les Maîtres Fous (1954), in dem Schwarze aus der Region von Accra (Ghana), die der westafrikanischen Sekte der Hauka angehören, bei ihrem jährlich stattfindenden exorzistischen Opferritual gezeigt werden. 224 Auf diese Intermedialität hat Genet selbst hingewiesen. 225 Analogien bestehen hinsichtlich des Opferrituals der Hauka, das wie in Les Nègres mit einem Tanz beginnt, und des Rollenspiels der schwarzen Sektenmitglieder, die wie die Schwarzen in Genets Drama in die Rollen der weißen Autoritätsfiguren ihrer Kolonialmacht (les maîtres) schlüpfen. Gleich den Schwarzen in Les Nègres, deren Funktionen in der Lebenswelt der Weißen Archibald anfangs erläutert (N, 482), nehmen sie nach der Zeremonie ihre reale soziale Rolle in der Gesellschaft wieder ein. Die Entstehung von Les Nègres ist außerdem beeinflusst von der Négritude-Bewegung und der politischen Situation Frankreichs, denn in den 1950er Jahren beginnt der Prozess der décolonisation, in dem u.a. die französischen Kolonien Laos, Kambodscha, Vietnam, Marokko, Tunesien, Gui- 222 Die Uraufführung erfolgte jedoch 1959 unter der Regie von Roger Blin am Théâtre de Lutèce in Paris mit den schwarzen Schauspielern der Truppe Les Griots. 223 Genet zufolge soll das Publikum aus Weißen bestehen. Ist dies nicht der Fall, soll zu jeder Aufführung ein Weißer eingeladen werden. Wenn nur schwarze Zuschauer anwesend sind, sind Masken, die Weiße darstellen, an das Publikum zu verteilen. „Et si les Noirs refusent les masques, qu’on utilise un mannequin.“ (Les Nègres, Pour Abdallah), Genet 2002: 475. 224 White 1993: 523-524. Die Schwarzen fallen in Trance, werden von Geistern besessen, die für die ehemalige Kolonialmacht stehen (der Gouverneur, der General, die Frau des Arztes etc.), und verarbeiten so das Trauma des Kolonialismus. Höhepunkt der Zeremonie ist das Opfer eines Hundes, den die Besessenen anschließend verspeisen. 225 White 1993: 826, Brief 224 an Bernard Frechtman. 138 nea, Kongo (1960), Madagaskar (1960) und Algerien (1962) ihre Unabhängigkeit erlangen. Insofern ist Genets Drama auch eine künstlerische Auseinandersetzung mit den Themen Kolonialismus und Rassismus. Die Frage, welches Bild sich Weiße von Schwarzen und Schwarze von Weißen machen, bestimmt das Geschehen in Les Nègres. Bernard Dort hat Jean Genets Theater zu Recht als ein „théâtre de la représentation“ 226 beschrieben. Bereits mit dem Untertitel „Clownerie“ spielt Genet auf die Metatheatralität seines Theaterstücks an. Schwarze Laienschauspieler, die in der Bühnenrealität (F1a) Koch (Archibald), Medizinstudent, Wäschebeschließerin oder Vikar von Sainte-Clotilde (Diouf) sind (N, 482), führen ein Theaterstück (F2) auf, in dem die einen als Weiße maskiert den Hofstaat der Kolonialmacht Frankreich darstellen, und die anderen, mit schwarzer Schuhcreme geschminkt, afrikanische Farbige verkörpern, welche für den Hofstaat in einem Ritual einen vor Beginn des Stücks an einer weißen Frau verübten Mord nachstellen (F3). Parallel zu diesem Bühnengeschehen im Vordergrund, das die Schwarzen selbst als „comédie“ (N, 517) bezeichnen, verläuft hinter den Kulissen ein Handlungsstrang (F1b), in dem ein schwarzer Verräter von einem Gericht der Schwarzen hingerichtet und ein neuer Anführer der revoltierenden Schwarzen gewählt wird. Die Aufgabe, über dieses in den Augen der schwarzen Figuren reale Hintergrundgeschehen zu berichten, kommt Ville de Saint-Nazaire zu, der die Funktion eines Boten übernimmt. Die Koordination der verschiedenen Ebenen obliegt dem „chef d’orchestre“ 227 Archibald, der als Spielleiter und Mittler zwischen F1a, F1b, F2 und F3 auftritt. Michel Corvin bezeichnet ihn als „Genet’s actual spokesperson“ 228 und weist ihm damit den Status einer kommentierenden Metafigur zu, aus der die Stimme des Autors spricht: If Archibald, Carmen and the Envoy demonstrate humour and detachment, it is not only as characters who are granted status as voyeurs; entrusted by the author with the task of alerting the reader to the dual system of the play that of the action taking place, and that of the commentary explaining it. 229 Mit Ausnahme des kurzen Prologs zu Beginn des Stücks, in dem sich Archibald, die „vierte Wand“ durchbrechend, zugleich an das reale und an das Bühnenpublikum, den Hofstaat, wendet und die Darsteller der Gruppe der Schwarzen vorstellt, interagiert Archibald als heterodiegetische Regiefigur primär fiktionsintern mit den Figuren des Hofstaats, den Schwarzen und Ville de Saint-Nazaire. Archibald macht den realen Zuschauern in seinem Prolog bewusst, dass zwischen den Schwarzen und ihrem Spiel auf 226 Dort 1971: 179. „Son théâtre est, au sens propre du terme, théâtre de la représentation: non seulement théâtre dans le théâtre, mais encore théâtre sur le théâtre.” 227 Genet 2002: 473, Pour jouer les Nègres. 228 Corvin 2006: 27. 229 Corvin 2006: 27. 139 der Bühne und dem weißen Publikum im Saal eine unüberwindbare Distanz besteht 230 ; eine Kommunikation wollen die Schwarzen durch die Art ihres Spiels unmöglich machen: Archibald: Silence. (Au public: ) Ce soir nous jouerons pour vous. Mais, afin que dans vos fauteuils vous demeuriez à votre aise en face du drame qui déjà se déroule ici, afin que vous soyez assurés qu’un tel drame ne risque pas de pénétrer dans vos vies précieuses, nous aurons encore la politesse, apprise parmi vous, de rendre la communication impossible. La distance qui nous sépare, originelle, nous l’augmenterons par nos fastes, nos manières, notre insolence car nous sommes aussi des comédiens. […]. (N, 481). Demgemäß spricht der zu der Gruppe der Farbigen gehörende Archibald im weiteren Verlauf des Stücks von den realen Zuschauern lediglich in der dritten Person, statt sie wie die Regiefiguren im episierenden Metadrama als ständigen Kommunikationspartner zu betrachten. Genets Regieanweisung am Anfang, die keinen hochgezogenen, sondern einen an den Seiten gerafften Vorhang vorsieht („Non levé: tiré“, N, 478), markiert diese symbolische Grenze zwischen der Realität im Zuschauerraum und der Fiktion auf der Bühne auch optisch. 231 Das Bühnenbild erinnert an das elisabethanische Theater, entspricht der dargestellten Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen und visualisiert die Form des „Theaters im Theater“. Die Bühnenzuschauer, die Mitglieder des Hofstaats, sitzen oben links auf einer Galerie. Die Zeremonie der schwarzen Figuren, die mit einem um den Katafalk herum getanzten Menuett eröffnet wird, spielt sich unten auf der Bühnenfläche ab. Félicité, die alle „Nègres“ zur Rebellion aufruft, thront gleich einer Königin der Schwarzen auf einem Podest rechts, dem Hofstaat gegenüber. Auf einem weiteren Podest im Hintergrund steht ein grüner Paravent, hinter dem Village und Diouf den Mord an der weißen Frau simulieren. Nachdem der Hofstaat die Galerie verlassen und sich hinunter zu den Schwarzen begeben hat, tritt er von rechts (côté cour) auf und überlässt den schwarzen Figuren die linke Seite (côté jardin) der Bühne. Die Schwarzen gehen links ab, während die Weißen rechts die Bühne verlassen, dort, wo sich wie auf der Simultanbühne der geistlichen Spiele des Mittelalters die Hölle befindet 232 , in die der Hofstaat zum Schluss geschickt wird. Der der jeweiligen Gruppe zugewiesene Raum hat somit eine symbolische Bedeutung. Der Spielort des Hofstaats auf der Galerie oben links symbolisiert Frankreich und die europäische Kultur, steht aber entsprechend der mittelalterlichen Bühnenaufteilung zugleich für den Himmel, 230 Hubert 1996: 121. „Archibald, qui joue le rôle de meneur de jeu, insiste sur le caractère infranchissable de la barrière qui sépare la salle et la scène.” 231 Nur Bobo (N, 505) und Village (N, 511-513) verwenden später die Publikumsadresse und überschreiten damit diese Grenze noch einmal. 232 Vgl. Hubert 1996: 123. 140 denn die Schwarzen schicken die Toten, die sie für ihre ständig wiederkehrende Zeremonie benötigen, auf den „grenier“ (N, 496), wo sie als stumme weiß Maskierte neben dem Hofstaat auftauchen. Die Würdenträger des Hofes müssen demnach Opfer früherer Rituale sein und sich schon im Jenseits befinden. Die Geruchlosigkeit, Blässe und Müdigkeit der Weißen, welche Bobo als „race blafarde et inodore“ (N, 485) beschimpft, deuten darauf hin. Auch der Vikar Diouf erscheint als vergewaltigte, ermordete Weiße wie nach einer Metamorphose auf dem Balkon des Hofstaats, von dem aus er die Sicht Gottes, den der Missionar den Weißen zuordnet, zu haben glaubt. Der Spielort, an dem die Schwarzen ihr Ritual vollziehen, steht für die französischen Kolonien, Afrika, den Urwald. Der vermutlich auch in Afrika situierte Ort, an dem die „wahre“ Revolution der Schwarzen stattfindet (F1b), liegt hinter der Bühne, ist, wie Village Ville de Saint- Nazaire erklärt, nur über die linke Seite zu erreichen und entzieht sich den Blicken des Bühnen- und des realen Publikums. Der Text der Fiktionsebenen F2 und F3 ist fixiert und von den Schwarzen gemeinsam erstellt worden. Die Repliken sind vom Text genau vorgegeben (N, 490). Archibald wacht als Regisseur über die Texttreue der Inszenierung und ermahnt die Schauspieler, wenn sie wie Village eine eigene Interpretation vorziehen: Archibald: C’est à moi qu’il faut obéir. Et au texte que nous avons mis au point. (N, 484). Lediglich das Tempo der Diktion bleibt den Schauspielern überlassen. Auch die Stilebene ist festgelegt, denn wie Archibald in seinem Prolog verkündet, haben die Schwarzen sich den „beau langage“ (N, 482) der Weißen zueigen gemacht, der hier an die Sprache der klassischen Tragödie erinnert. Dass auch die schwarzen Schauspieler, die die Vertreter des Hofes darstellen, sich an die Textvorlage halten müssen, wird gleich am Anfang deutlich, als der Gouverneur die letzten Sätze seiner Rolle laut vorliest und von dem Kammerdiener aufgefordert wird, hinter der Bühne seinen Text zu lernen. Durch dieses Aus-der-Rolle-Fallen des Gouverneurs und des Dieners wird F2 als Binnenspiel entlarvt und kurz auf die erste Fiktionsebene (F1a) geblendet, auf der alle Figuren Schwarze sind, was die weißen Masken, die an den Seiten die Haare der schwarzen Darsteller erkennen lassen, von Beginn an signalisieren. Die Figuren zeigen offen ihr Spielbewusstsein. Das lexikalische Wortfeld des Spiels und des Theaters durchzieht den gesamten Text von Les Nègres. 233 Die dramatischen Personen wissen, dass sie sich auf der Bühne 233 Dazu zählen die Begriffe jeu, masque, spectacle, divertissement, danse, cérémonie, drame, représentation, parade, simulacre, illusion, théâtre, comédie, comédiens, comparse, rôle, public, spectateurs, coulissse, jouer, réciter. 141 befinden, eine Rolle spielen und dass ihr Spiel von realen wie von Bühnenzuschauern beobachtet wird: Archibald: [...] Des spectateurs nous observent. [...]. (N, 492) Félicité: [...] Ne quittez pas la scène sans mon ordre. Que les spectateurs vous regardent. […]. (N, 515). Der Blick der Weißen ist also die conditio sine qua non für die potenzierte Fiktion. Die Handlungsanteile der verschiedenen Fiktionsebenen sind unterschiedlich groß. F1b nimmt in der Handlung den geringsten Raum ein, da dieses politische Geschehen nur durch die Botenberichte Ville de Saint- Nazaires wiedergegeben wird. F1a bildet den Rahmen und umfasst Archibalds Prolog, das Aus-der-Rolle-Fallen des Gouverneurs und des Dieners, Villages und Bobos Publikumsadresse, das Absetzen der Masken des Hofstaats, die sich daran anschließende Diskussion der Demaskierten mit Archibald und Ville über die Revolution sowie Archibalds an die Darsteller des Hofes gerichteten Epilog. Das Binnenspiel (F2), das die Schwarzen „parade“ (N, 533) und „représentation“ (N, 535) nennen, macht den größten Teil der Bühnenhandlung aus. Die in F2 eingebettete Theatereinlage „Mord an einer weißen Frau“ (F3), die Archibald als „simulacre“ (N, 510) bezeichnet und die in eine epische Schilderung Villages eingebaut ist, umfasst nur wenige Seiten (N, 506-517). F3 wird durch Dioufs Maskierung und das Nachschminken von Village eingeleitet, beginnt mit Villages Ausruf „Écartez-vous! J’entre.“(N, 506) und endet hinter dem Paravent. Das Geschehen hinter dem Paravent, das eine Vergewaltigung und einen Mord vortäuschen soll, beschreibt der Gouverneur in einer Teichoskopie (N, 516- 517). Die Handlung von F2, deren langsames Voranschreiten der Richter und die Königin kritisieren, besteht bis zum Einsetzen von F3 in „prolégomènes pré-théâtraux“ 234 , die den eigentlichen Höhepunkt, die Nachstellung des Mordes (F3), hinauszögern. Das Binnenspiel F2 gleicht einem Enthüllungsdrama, das ins Leere läuft, denn das Verbrechen, welches der Hofstaat in seiner Funktion als Schwurgericht aufdecken will, hat nicht stattgefunden. Unter dem Katafalk befindet sich keine Tote, enthüllt werden lediglich die zwei Stühle, die auf der Empore des Hofstaats fehlen. Die „Gerichtsfiktion“ 235 (F2) mit der eingelegten Morddarstellung (F3) dient der Ablenkung der Zuschauer („divertissement“, N, 517) von dem „drame qui se passe ailleurs“ (N, 533), der Gerichtsverhandlung der Schwarzen (F1b), die die Erschießung des schwarzen Verräters und die Wahl eines neuen Anführers der aufständischen Schwarzen zur Folge hat. Ein Indiz für die geplante Exekution ist für den realen Zuschauer der Revolver, den Ville de Saint-Nazaire am An- 234 Michel Corvin, Anmerkung 36 zu Les Nègres, Genet 2002: 1221. 235 Schöpflin 1993: 461. 142 fang auf Befehl Archibalds mit in die Kulissen nimmt (N, 490). Unter den Mitgliedern des Hofstaats ahnt nur der Richter etwas von diesem Verbrechen in F1b und informiert die Königin darüber. Mit Diskussionen über die für die wiederkehrende Zeremonie benötigten Leichen, der Einräucherung des Katafalks, Liebes- und Eifersuchtsszenen zwischen Village und Vertu, Streitereien um die richtige Wortwahl, Gesängen und Litaneien sowie der Rollenverteilung für F3 halten die schwarzen Figuren das Bühnenpublikum bis zu der Morddarstellung (F3) hin. Nach der Simulation des Mordes an der weißen Frau wird F2 fortgesetzt. Der Hofstaat empfängt Diouf auf der Galerie, ehe er sich auf die Expedition zu den Schwarzen begibt. Die betrunkenen Weißen finden sich im Urwald wieder und erfahren, dass es keinen Schuldigen gibt, weil die Schwarzen ihnen eine Komödie vorgespielt haben. Als die Weißen auf der Auslieferung eines Schuldigen beharren, kommt es zu einem Wortgefecht zwischen der Königin und Félicité, in dem jede der beiden die Vorzüge ihrer eigenen Kultur herausstellt und die Oberhand gewinnen will. F2 endet, nachdem die schwarzen Figuren von Ville de Saint-Nazaire über den positiven Ausgang des Revolutionsgeschehens (F1b) unterrichtet worden sind, mit der Exekution der Weißen durch die Schwarzen. Der reale Zuschauer wird auf das Ende von F2 durch Vorausdeutungen vorbereitet. Mit der Bemerkung „Et nous savons que nous sommes venus assister à nos propres funérailles.” (N, 481) antizipiert der Gouverneur gleich zu Beginn den Tod der Weißen, die schwarze Darstellerin der Königin (F1a) sagt später noch die fiktive, poetische Art der Inszenierung ihres Todes voraus: Celle qui était la Reine: [...] Nous sommes des comédiens, notre massacre sera lyrique. […]. (N, 535). Die in F2 eingebettete Mordfiktion F3 ist eine Retrospektive, bestehend aus Récit, Dialog und Pantomime, die durch die Kommentare Archibalds, der Schwarzen und des Hofstaats, die Rückfragen Villages bei den Schwarzen und sein Zögern vor der Ausführung des Mordes oft unterbrochen wird. Der als weiße Frau kostümierte Diouf verabschiedet sich vor Beginn von F3 aus dem Land der Schwarzen und wird von ihnen gemäß einem antiken Ritual 236 nun als Weiße mit Beleidigungen überhäuft. Die „Litanie des Blêmes“ parodiert eine Marienlitanei, sie unterstreicht wie Bobos Tanz den Charakter des Opferrituals. In dem darauf folgenden „Spiel im Spiel im Spiel“ figuriert Diouf als Le Masque, in religiöser Anspielung Marie genannt, und gestaltet seine Rolle pantomimisch. Stumm gebiert Le Masque fünf Puppen, die den Gouverneur, den Diener, den Richter, den Missionar 236 Corvin in Genet 2002: 1219. „Le meurtre est une cérémonie qui obéit à tout un rituel: comme chez Homère, dans l’Iliade, avant de combattre et tuer son ennemi, on procède à l’échange d’insultes.” 143 und die Königin darstellen. Maries Text spricht Village, die Stimme einer Frau imitierend.Villages Schilderung des Verbrechens springt von der epischen Darstellung im szenischen Präsens zum Dialog und wieder zum Distanz bewirkenden Récit in den Vergangenheitstempora. Seine Erläuterungen kommentieren das Geschehen für das Publikum im Zuschauerraum, das er direkt anspricht und in sein Spiel auf der Bühne einbezieht (N, 513). Félicité spielt in den dialogisierten Passagen von F3 den Part der Mutter des Mordopfers Marie, Neige mimt Maries Schwester Suzanne, und Bobo tritt als Maries Nachbarin auf. Archibald übernimmt auf Anweisung des Missionars in F3 die Statistenrolle eines pfeifenden Passanten und agiert damit einen Moment lang als homodiegetische Regiefigur. Das Bühnenpersonal ist in F2 und F3 teilweise identisch; die in F3 nicht einbezogenen Figuren von F2 bilden zusammen mit dem Hofstaat das Bühnenpublikum von F3. Die Bühnenzuschauer bestätigen oder korrigieren Village in seinem Spiel hinsichtlich des Tons und der Anrede des Mordopfers, drängen ihn, Marie endlich zu ermorden, und nehmen so Einfluss auf die Gestaltung von F3. Vertu, die Fiktion (F3) und Realität (F2) nicht unterscheiden kann, greift in das Spiel ein, indem sie versucht, Village von dem Mord abzuhalten. Der Regisseur Archibald weist auf den Illusionscharakter von F3 hin und ruft beide zur Ordnung: Archibald: [...] Nègres, je me fâche. Ou nous continuons le simulacre, ou nous sortons. (N, 510). Die Mordfiktion (F3) wird von Bobo als „tragédié grecque et pudique” (N, 518) bezeichnet, da sich die Vergewaltigung und der Mord, wie es die antiken Autoren verlangen, hinter dem Paravent, d.h. in den Kulissen abspielen. Das Geschehen, das der Gouverneur in der Mauerschau zu erkennen glaubt, erweist sich später als Trugbild. Village und Ville de Saint-Nazaire erklären Archibald und Neige, dass wie gewöhnlich nichts geschehen sei und Diouf und Village lächelnd auf einer Bank in den Kulissen gewartet hätten. Da es weder einen Mord noch einen Sarg noch eine Leiche gibt, können die Weißen die Schwarzen nicht für dieses rein „theatrale Verbrechen“ zur Verantwortung ziehen: Le crime ontologique du nègre, ce crime qui hante l’inconscient du Blanc et justifie la réprobation du Noir, faisant de lui un éternel coupable, n’est pas plus réel qu’un crime de théâtre, et ne fait qu’appartenir au simulacre d’un rituel néfaste, le rituel dont se nourrit le racisme. 237 Der Richter konstatiert „[...] pas de mort du tout, cela pourrait nous tuer“ (N, 527) und kündigt damit die Wendung der Ereignisse in F2 an. Die weiße Frau in der Mordfiktion steht für die weiße Rasse und die europäische Kultur und Zivilisation, welche die Schwarzen auslöschen wollen. Ein Hinweis darauf, dass die weiße Frau keine reale Person, sondern 237 Chalaye 1998: 386. 144 ein Sinnbild ist, sind die verschiedenen Identitäten, die ihr im Laufe der Handlung zugeschrieben werden. 238 Von der Stadtstreicherin, die Village vor Beginn des Stücks erdrosselt und in einem Sarg herbeigebracht haben will, mutiert das Mordopfer in Villages Mordfiktion zu der jungen, begehrenswerten Marie, die gemäß traditionellen bürgerlichen Vorstellungen stricken, Klavier spielen, singen, malen und spülen kann, und wird schließlich zur mythischen französischen Nationalfigur Jeanne d’Arc stilisiert. Als Symbol für Frankreich und Stammmutter der Weißen („Admirable Mère des Héros morts en croyant nous tuer“, N, 540) gebiert die Weiße Diouf/ Le Masque vier Puppen, die ein Abbild der Autoritätsfiguren des französischen Hofstaats in Miniatur darstellen. Diese „mise en abyme au sens premier - et plastique du terme“ 239 deutet die ewige Reproduktion immer gleicher Machtstrukturen der weißen Rasse an. Zugleich befreien die Schwarzen sich mit der simulierten Geburt der Puppen von den Bildern, die sie sich von den Weißen machen und die bis zu dieser Materialisierung reine Projektionen ihrer Fantasie sind. Die Mordfiktion F3 nimmt symbolisch die Exekution der weißen Repräsentanten der französischen Kolonialmacht in F2 vorweg. Die weißen Bühnenzuschauer haben ebenso wie die weißen Zuschauer im Saal den Eindruck, ihrer eigenen Ermordung und Beerdigung beizuwohnen. 240 Die Königin, der Gouverneur, der Missionar, der Richter und der Kammerdiener verkörpern Vorstellungen („image[s]“ N, 540), die sich Genets Interpretation zufolge Schwarze von Weißen machen. Es sind emblematische Figuren der weißen Kolonialherrschaft, die die Exekutive, die Armee, die Religion, die Justiz und die Kultur repräsentieren. Diese Symbolfiguren, die in ähnlicher Weise auch in Le Balcon auftreten (la Reine, le Général, l’Évêque, le Juge, l’Envoyé), gleichen Karikaturen und zeigen dem realen weißen Zuschauer ein verzerrtes Spiegelbild seiner selbst. Dass auch der Tod der Würdenträger des Hofes nur eine Theaterinszenierung ist, beweisen neben der Demaskierung die lautlose Erschießung des Gouverneurs, der sich auf Archibalds proxemische Anweisung „Non. Viens mourir ici.“ (N, 537) noch einmal erhebt, um in der Mitte der Bühne zu sterben, sowie das Verhalten der bereits Toten, die in der Schlussszene die Köpfe heben, Diouf grüßen und danach aufstehen, um der Königin in die Hölle zu folgen. Die Schwarzen versuchen mit ihrer Komödie dem Bild zu entsprechen, das die Weißen sich von ihnen machen: 238 Von Bobo erfährt der Zuschauer, dass in früheren Zeremonien auch Männer Opfer des Rituals waren. (un chanteur de charme, un laitier, un facteur, un notaire) (N, 496). 239 Michel Corvin, Anmerkung 38 zu Les Nègres, in Genet 2002: 1221. 240 Eugène Ionesco verließ während einer Aufführung den Saal, weil er sich als Weißer von dem Stück beleidigt fühlte. Michel Corvin, Notice zu Les Nègres, in: Genet 2002: 1211. 145 Archibald: [...] Nous sommes ce qu’on veut que nous soyons, nous le serons donc jusqu’au bout absurdement. […]. (N, 541). Sie imitieren die Kleidung, die Tänze, die Gesten und die Sprache der Weißen 241 , einige unter ihnen haben französische oder englische Namen, denn die Kolonisatoren haben ihnen gestattet, die Vornamen des gregorianischen Kalenders zu tragen. 242 Diese gesellschaftliche Rollenfixierung der Schwarzen, welche „fantômes“ (Préface inédite, 841) beziehungsweise Projektionen der Vorstellung der Weißen sind, beschreibt Genet im Vorwort zu Les Nègres: En gros, la psychologie de l’opprimé est décidée par celle de l’oppresseur, ici le colonialiste, issu d’une politique capitaliste et raciste. (Préface inédite, 840). Dabei entspricht die negative Charakterisierung der Schwarzen aus dem Blickwinkel der Weißen den Klischees des rassistischen Diskurses, indem sie anspielt auf den Kannibalismus, die „odeur“ und „puanteur“ (N, 485- 486), auf den Hass und die angebliche Unfähigkeit der Schwarzen, Gefühle wie Liebe zu empfinden. Dieses falsche Bild, welches sich die Weißen von ihnen machen, wollen die schwarzen Figuren bis zur Selbstaufgabe in ihrem Spiel verkörpern: Archibald, grave: Je vous ordonne d’être noir jusque dans vos veines et d’y charrier du sang noir. [...] Que les Nègres se nègrent. Qu’ils s’obstinent jusqu’à la folie dans ce qu’on les condamne à être, dans leur ébène, dans leur odeur, dans l’œil jaune, dans leurs goûts cannibales. (N, 503). Sie sind Gefangene des herabwürdigenden Bildes, das ihnen die Weißen aufoktroyieren: Archibald: [...] Puisqu’on nous renvoie à l’image et qu’on nous y noie, que cette image les fasse grincer des dents! (N, 495). Was ihnen bleibt, ist die Welt des Theaters und der Dichtkunst. So fordert Archibald die Schwarzen auf, eine eigene Sprache des Hasses und der Poesie zu kreieren (N, 488), um sich von den Weißen abzugrenzen. Erst am Ende finden Village und Vertu zu einer authentischen Sprache und Gestik 241 Die von dem Kolonialismuskritiker Frantz Fanon in seinem Werk Peau noire, masques blancs (1952) kritisierte selbstentfremdende Assimilation kolonialisierter Farbiger setzt Genet hier in Szene. 242 Einige dieser Namen, die Archibald zu Beginn als falsche Namen, d. h. fiktive Identitäten entlarvt, sind sprechende Namen. Archibald Absalon Wellington gleicht anfangs dem gegen den Vater David rebellierenden und besiegten biblischen Absalom, nimmt jedoch im Kampf gegen die Weißen Züge des Herzogs von Wellington, des Siegers von Waterloo, an. Ville de Saint-Nazaire, nach dem Schiff benannt, das Sträflinge (u. a. Capitaine Dreyfus) nach Guyana brachte, verkörpert die Vollzugsgewalt des neuen Gerichts der Schwarzen, die den Verräter ihrer Sache bestraft. Villages Name erinnert an den Mörder Clément Village, den Genet im Gefängnis kennenlernte. Vgl. Hubert 1996: 125, Bonnefoy 1965: 107. 146 der Liebe, welche nicht die der Kolonisatoren ist. Mit der Revolution befreien sich die Schwarzen politisch von den ihnen aufgezwungenen Rollen. Die Realisierung der Liebesbeziehung zwischen Vertu und Village am Schluss des Dramas verweist auf die Utopie einer individuellen Freiheit der Schwarzen. 243 Jean Genets „nègres“ sind, wie Martin Esslin feststellt, ein „Symbol für alle aus der Gesellschaft Ausgestoßenen“ 244 . Sie stehen für die Unterdrückten und Deklassierten, die Félicité in ihrer Tirade als „Nègres des docks, des usines, des bastringues, Nègres de chez Renault, Nègres de Citroën“ (N, 515) anspricht und zur Revolte aufruft. Zu diesen marginalisierten Figuren der Gesellschaft zählt Genet aufgrund seiner Biographie auch sich selbst. In einem Interview mit Hubert Fichte sagt er 1975: Je suis peut-être un Noir qui a les couleurs blanches ou roses, mais un Noir. Je ne connais pas ma famille. 245 Für eine über die Problematik des Rassenkonflikts hinausgehende Deutung von Les Nègres sprechen auch die Fragen, welche Jean Genet in der Widmung Pour Abdallah 246 seinem Werk voranstellt und die offensichtlich den Ausgangspunkt seiner Reflexion über das zu schreibende Stück bilden: Un soir un comédien 247 me demanda d’écrire une pièce qui serait jouée par des Noirs. Mais, qu’est-ce que c’est donc un Noir? Et d’abord, c’est de quelle couleur? (N, 475). Die Farbe der exclus einer Gesellschaft und damit deren Identität und Wesenheit ist demnach nicht festgelegt, womit sich das Stück zeitlos auf alle Gesellschaften übertragen lässt, in denen es Ausgeschlossene, Diskriminierte und an den Rand gedrängte Existenzen gibt. Jean Genets Drama Les Nègres basiert auf der autoreflexiven Struktur einer doppelten mise en abyme: In die eingebettete Theateraufführung F2 ist eine weitere Fiktionsebene F3, das „Theater im Theater im Theater“ eingelagert, welches retrospektiv den in F2 erwähnten Mord an einer Weißen rekonstruiert und prospektiv durch die Darstellung dieses Mordes den Ausgang von F2, die Exekution der Würdenträger des weißen Hofstaats, symbolisch vorwegnimmt. Dass es sich bei Genets „Clownerie“ um ein rituelles Spiel handelt, das als unendliches Da capo konzipiert ist, demonstrieren Temporaladverbien wie „comme chaque soir“ (N, 519) oder 243 Hubert 1996: 126. „De même que la révolution permet la libération à l’échelle collective, de même la relation amoureuse libère l’individu.“ 244 Esslin 2006: 182. 245 „Entretien avec Hubert Fichte“, 19., 20., 21.12.1975, Paris, Die Zeit, in: L’ennemi déclaré, Genet 1991: 149. 246 Abdallah Bentaga, den Genet 1955 kennenlernte, war eine wichtige Liebesbeziehung in Genets Leben. Er war der Sohn eines algerischen Akrobaten und arbeitete seit seiner frühen Kindheit im Zirkus als Jongleur und Akrobat. 247 Es handelt sich um Raymond Rouleau. 147 „Demain, et pour les cérémonies à venir“ (N, 540), Villes an die Regiefigur Archibald gerichtete Frage „Vous voulez donc la [= cérémonie] continuer à l’infini? “ (N, 519) sowie die an die Eröffnung des Theaterstücks anknüpfende Schlussszene, in der sich alle farbigen Darsteller - nun demaskiert - abermals um den Katafalk versammeln. Auf den realen Zuschauer wirkt dieses komplexe fiktionale Metadrama, in dem sich die erste Fiktionsebene zudem in ein Vordergrund- (F1a) und ein Hintergrundgeschehen (F1b) aufspaltet, wie eine „entreprise généralisée de déstabilisation“ 248 , weil das Publikum Mühe hat, die einzelnen Fiktionsebenen deutlich voneinander zu unterscheiden. Doch zugleich weiht Genet den Zuschauer, der in den Bühnenzuschauern sein deformiertes Spiegelbild erkennt, in die Mechanismen des Theaters, die diese Illusion erzeugen, ein, indem er die Fiktion im Drama selbst immer wieder als solche entlarvt. In nuce formuliert Jean Genet in Les Nègres auch seine Konzeption des Theaters, das er mit den Worten Archibalds als „architecture de vide et de mots“ (N, 541) definiert. Genet glaubt nicht, dass das Theater, d.h. die Fiktion allein, gesellschaftsverändernd wirken kann; dem politischen Handeln des Individuums räumt er den Vorrang ein 249 : Si mes pièces servent les Noirs, je ne m’en soucie pas. Je ne le crois pas, d’ailleurs. Je crois que l’action, la lutte directe contre le colonialisme font plus pour les Noirs qu’une pièce de théâtre. De même, je crois que le syndicat des gens de maison fait plus pour les domestiques qu’une pièce de théâtre. 250 J’ai cherché à faire entendre une voix profonde que ne pouvaient faire entendre les Noirs et tous les êtres aliénés. 251 Die breite Rezeption dieses Theaterstücks, das am 25. Oktober 1959 in Paris unter der Regie von Roger Blin uraufgeführt wurde und im Ausland, insbesondere in New York, großen Erfolg hatte, zeigt jedoch, dass dieses Drama eine existentielle und eine politische Dimension besitzt, derentwegen es bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat. 5.3.3 Funktionen des fiktionalen Metatheaters Das fiktionale Metadrama greift das Modell des Impromptu auf, welches auf Molières L’Impromptu de Versailles (1663) zurückgeht, eine Nachahmung in Marivaux’ Les Acteurs de bonne foi (1757) findet und im 20. Jahrhundert 248 Corvin in Genet 2002: LXV. „ [...] entreprise généralisée de déstabilisation, le théâtre est un piège pour le spectateur, qui ne sait plus à quoi il a affaire.” 249 Entsprechend dieser Auffassung engagiert Genet sich Anfang der 1970er Jahre für die Bewegung der Black Panthers in den USA. 250 Genet spielt hier auf sein Stück Les Bonnes an. 251 „Entretien avec Madeleine Gobeil”, Januar 1964, Paris, amerikanisches Magazin Playboy, in: L’ennemi déclaré, Genet 1991: 23. 148 durch Autoren wie Luigi Pirandello (Questa sera si recita a soggetto, 1930), Jean Giraudoux (L’Impromptu de Paris, 1937), Eugène Ionesco (L’Impromptu de l’Alma, 1956) und Jean Cocteau (L’Impromptu du Palais Royal, 1962) eine Renaissance erfährt. Genre autoréférentiel (référant à lui-même et se créant dans l’acte même de son énonciation), l’impromptu met en scène l’auteur, l’engage dans l’action et met en abyme sa création. Il instaure ainsi un théâtre dans le théâtre. 252 Die hier untersuchten fiktionalen Metadramen Dreyfus, La Nuit de Madame Lucienne und Les Nègres sind gekennzeichnet durch eine Potenzierung der Fiktion und das Verfahren der mise en abyme. Während Grumbergs Theaterstück Dreyfus zwei Fiktionsebenen aufweist, gliedert sich die Bühnenhandlung in La Nuit de Madame Lucienne und in Les Nègres in drei Fiktionsebenen (F1, F2, F3), die ineinander verschachtelt sind. Dabei fungiert die jeweils übergeordnete Fiktionsebene als autoreflexive fiktionale Metaebene, d.h. als Kommentar und Analyse des eingebetteten Spiels: F1 kommentiert F2, F2 analysiert F3, gelegentlich reflektieren auch F1 und F2 über F3. Auf diese Weise wird die zu F2 beziehungsweise F2 und F3 gehörende Theaterkritik dem realen Publikum im Augenblick der Rezeption der hier vorgestellten fiktionalen Metadramen autoreferentiell und dramenimmanent gleich mitgegeben. Grumberg, Copi und Genet legen mit ihren Stücken, welche Schauspieler bei der Theaterprobe beziehungsweise während einer Theateraufführung zeigen, die Produktionsbedingungen des Theaters offen. Der Bühnenalltag mit all seinen organisatorischen und technischen Problemen (Kostüme, Maske, Requisiten, Bühnenbild, Licht- und Tonregie, Gestik, Proxemik) wird in diesen Dramen transparent gemacht. Die angespannte Atmosphäre während einer Theaterprobe und einer Theateraufführung wird eingefangen, die Theaterleute - Professionelle wie Amateure erscheinen dabei als Menschen mit Gefühlen, Fehlern und Schwächen, die die Theaterarbeit beeinträchtigen können. Realistisch werden dem Zuschauer Rivalitäten unter den Truppenmitgliedern, Streitigkeiten wegen der Unzuverlässigkeit einzelner Schauspieler bei den Proben, Textunsicherheiten oder Probleme der Schauspieler, ihre dramatische Figur zu entwickeln (Impersonation) und in ihre Rolle hineinzufinden, vor Augen geführt. Die Kunst des Theaters wird als Konstruktion und Artefakt entzaubert und damit dekonstruiert. Dem Verhältnis und der Interaktion zwischen Regisseur und Schauspielern widmen Jean Genet, Jean-Claude Grumberg und Copi in ihren fiktionalen Metadramen besondere Aufmerksamkeit. Die dramatischen Figuren Archibald, Maurice und der anonyme „Auteur“ sind Sprachrohr und Alter Ego ihres jeweiligen realen Erfinders, stehen aber zugleich für 252 Pavis 2002: 170, Stichwort Impromptu. 149 bestimmte Vorstellungen von Regieführung. Während Genet Archibald als traditionellen, eher konservativen und autoritären Regisseur konzipiert, der auf der Grundlage eines von den Schwarzen gemeinsam verfassten Dramentextes streng über die Texttreue der rituellen Inszenierung wacht, sind Grumbergs Figur Maurice und Copis „Auteur“ in Personalunion Autor und Regisseur und entsprechen dem für das Gegenwartstheater charakteristischen Typ des homme de théâtre, der als Theatermacher für den Dramentext und die Inszenierung verantwortlich zeichnet. Maurice verkörpert in Dreyfus den zeitgenössischen Theatermacher, der bei der Regiearbeit einen konstruktiven Dialog mit seiner Truppe führt. Er geht auf Fragen und Probleme der Schauspieler ein, hört sich ihre Einwände an und erklärt ihnen den historischen Hintergrund und die Intention seines Theaterstücks. Allerdings reagiert er, wenn die Probe nicht nach seinen Wünschen verläuft, emotional und weist die Schauspieler auf seine Position als metteur en scène anspielend gegebenenfalls in die Schranken. Copi stellt auf zwei Fiktionsebenen seines Stücks La Nuit de Madame Lucienne zwei Regisseurfiguren mit unterschiedlichen Regiekonzepten einander gegenüber: Die Autor/ Regisseur-Figur in F2 setzt mit Françoise und Miloud das in den 1960er Jahren entstandene Konzept der création collective um, bei dem der Text in Zusammenarbeit mit den Truppenmitgliedern in Improvisationen als work in process im Laufe der Proben entsteht; am Ende nimmt ihm die ehemalige Schauspielerin Vicky sogar die Regie aus der Hand. Der konservative Autor/ Regisseur in F1 hingegen arbeitet wie Archibald mit einem vorher fixierten Theatertext und lässt eine Mitarbeit und Kritik der Schauspieler an seinem Text und seiner mise en scène nicht zu. Diese fiktionalen Metadramen sind somit auch Ausdruck der Reflexion über zeitgenössische Regiekonzepte und der Diskussion um verschiedene Formen der Regiepraxis. Die Reflexion über die ästhetische Form stellt eine weitere Funktion der in diesem Kapitel analysierten fiktionalen Metadramen dar. Genet, Grumberg und Copi verweisen in ihren Dramen auf bestimmte Theatergattungen, die der Struktur des „Theaters im Theater“ in dem jeweiligen Stück zugrunde liegen. So orientiert sich Genet mit Les Nègres (1958) an der antiken Tragödie („tragédie grecque et pudique“ N, 518) in der Variante des analytischen Dramas, auch wenn er dieses Schema durchbricht, weil sich das zu enthüllende, vor Beginn der Handlung angeblich begangene Verbrechen aus der Sicht des Bühnen- und des realen Publikums als Täuschung herausstellt. Grumberg schildert in Dreyfus (1974) die Entstehung und das Scheitern eines Theaterprojekts, das in die Gattung des Dokumentardramas einzuordnen ist und an die Tradition des Jüdischen Theaters erinnert. Das Problem der Kreation und der Rezeption eines Dokumentardramas, das basierend auf der Collage und Montage historischer Dokumente - in diesem Fall zur Affaire Dreyfus - in einer Dramenfiktion aktuelle 150 politische und soziale Missstände der Gesellschaft anprangert, in der der Autor/ Regisseur (hier Maurice) zum Zeitpunkt der Entstehung seines Stücks selbst lebt, wird dem Publikum bewusst gemacht. Copi befasst sich in La Nuit de Madame Lucienne (1985) ironisch mit der Gattung des Kriminalstücks (comédie policière, LNML, 257), die er mittels verschiedener Mordszenarien (in F2 und F3) dekonstruiert, in denen der Tod mehrerer dramatischer Figuren durchgespielt und am Ende der Autor/ Regisseur als Urheber jeglicher Theaterfiktion von der Figur, die er geschaffen hat, in der Bühnenrealität (F1) „wirklich“ ermordet wird. Die Figuren der Fiktionsebene F1, die als Metaebene über F2 und die eingelagerte F3 reflektiert, kritisieren an diesem atypischen Kriminalstück die Häufung der Morde, den Dramenausgang, die fehlende Komik, die Rolle der Vicky Fantômas, den irrealen Handlungsort von F3 und die Manie des „Theaters im Theater“, das dem Vergleich mit Pirandello nicht standhalte. Miloud und die Comédienne wiederum, Darsteller in F3, wissen diese religions- und medienkritische Parodie eines Fernsehjournals (Télé-Lune) keiner Gattung zuzuordnen. In F2 bezeichnen sie F3 als „patchwork“und „happening“, ziehen Vergleiche zum „café-théâtre“ (LNML, 254-255) und bemängeln den nicht fixierten Dramentext, die inkohärente Form, die Unwahrscheinlichkeit der Handlung, die nicht klar umrissene Psychologie der Charaktere und die Tendenz zum Monolog. Da es sich bei den meisten der genannten Kritikpunkte um typische Charakteristika des Gegenwartstheaters handelt, verdeutlicht Copi mit dieser Reflexion über die ästhetische Form, dass eine Zuordnung zeitgenössischer Dramen zu einer bestimmten Gattung immer problematischer wird und sich die Gegenwartsautoren über Gattungskonventionen 253 bei der Dramenproduktion in der Regel hinwegsetzen. In Bezug auf die Rezeptionshaltung des Publikums erfüllen diese fiktionalen Metadramen eine autoreflexive und desillusionierende Funktion. Das metatheatrale Verfahren des „Theaters im Theater“ macht dem realen Zuschauer, der in den Bühnenzuschauern sein Spiegelbild erkennt, bewusst, dass er sich wie diese dramatischen Figuren als Rezipient in einer Theatersituation befindet und der szenischen Darstellung einer fiktiven Handlung beiwohnt. Der realen Bühne entspricht dabei eine fiktive auf der Bühne, die realen Mitwirkenden einer Theaterproduktion (Autor, Regisseur, Schauspieler, Bühnentechniker, Kostümbildner etc.) werden in diesen Metadramen durch fiktive Autoren, Regisseure, Schauspieler, Bühnentechniker etc. repräsentiert. Die Mechanismen zur Erzeugung der Theaterillusion, die dem Publikum normalerweise verborgen bleiben, legen diese antiillusionistischen Metatheaterstücke durch den Blick hinter die Kulissen einer Theaterprobe/ einer Theateraufführung bloß. Scheint es für den Zu- 253 Die im Gegenwartstheater praktizierte Öffnung gegenüber tänzerisch-choreographischen und musikalischen Elementen wird in Les Nègres bereits umgesetzt und in Dreyfus von Maurice und Arnold diskutiert. 151 schauer in Jean-Claude Grumbergs Theaterstück trotz der Diskontinuität der Theaterprobe F2 noch möglich, zwei Fiktionsebenen F1 und F2 auszumachen, so verliert das Publikum in Copis „dramatischer Zwiebel“ und Jean Genets „architecture de vide et de mots“ durch die Verschachtelung dreier Fiktionsebenen phasenweise völlig die Orientierung und durchschaut die Struktur der Über- und Unterordnung der einzelnen Fiktionssequenzen kaum noch. Diese Publikumsverunsicherung ist von den Autoren intendiert: Der Zuschauer soll nicht in eine passive Rezeptionshaltung verfallen, sondern die auf der Bühne erzeugte Illusion mit Distanz und Interesse am „Spiel im Spiel“ betrachten und aktiv die dank illusionsbrechender Mittel fortschreitende Selbstentlarvung der potenzierten Fiktion verfolgen. Die bewusste Verwischung der Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit ist ein Kennzeichen aller drei in diesem Kapitel analysierten fiktionalen Metadramen. Nicht nur der reale Zuschauer ist verunsichert, die Bühnenzuschauer ebenso wie die Bühnenschauspieler können oft Schein und Sein, Theaterrolle und soziale Rolle während der Theaterprobe beziehungsweise -aufführung selbst nicht mehr unterscheiden. Es kommt zu Interferenzen zwischen Theater und Realität. Der Gedanke Pirandellos, dass Spiel und Leben, Maske und wahre Identität im menschlichen Dasein nicht klar voneinander abzugrenzen sind, findet sich auch in Dreyfus, La Nuit de Madame Lucienne und Les Nègres. Der Topos des Theatrum mundi taucht in diesen Metadramen in säkularisierter Form wieder auf. Das Theater spielt in die Lebenswirklichkeit hinein und vice versa. Einige der fiktiven Schauspieler lassen sich in ihren „echten“ Emotionen und Reaktionen von der Fiktion und der fiktiven Identität der dramatischen Figur, die sie gerade spielen, beeinflussen und empfinden ihr „wirkliches Leben“ als theatralisiert. Andererseits stören Einwirkungen der „realen“ Außenwelt immer wieder den reibungslosen Ablauf der Probe respektive der Aufführung, sodass die fiktiven Schauspieler aus ihrer dramatischen Rolle und der entsprechenden Fiktion herausgerissen und vom „wahren Leben“ eingeholt werden. Am Beispiel des Schauspielers, dessen Beruf den ständigen Wechsel zwischen Fiktionalität und Realität und das Jonglieren mit multiplen Identitäten erfordert, wird die Duplizität und Inauthentizität menschlichen Verhaltens allgemein verdeutlicht. Das „Theater im Theater“ in den fiktionalen Metadramen Dreyfus, La Nuit de Madame Lucienne und Les nègres erfüllt demnach nicht nur die autoreferentielle Funktion der Darstellung der fabrication du spectacle, der Reflexion über Regiekonzepte, Aufführungspraktiken und ästhetische Formen und die Funktion der Desillusionierung des Rezipienten, es problematisiert auch einen Grundzug der menschlichen Existenz: die Aufsplitterung des Individuums in multiple Rollen und Identitäten in einer zunehmend theatralisierten Lebenswelt. 152 5.4 Adaptives Metatheater Adaptives Metatheater ist „zitierte Fiktion“ 254 , es bezieht sich intertextuell auf einen oder mehrere dramatische Prätexte. Der Prätext kann als „Theater im Theater“, als Zitat, Motto oder literarische Allusion erscheinen und auf eine bestimmte Gattung verweisen (Farce, Komödie, Melodrama etc.). Adaptives Metatheater ist „interthéâtre“ 255 , zwischen dem adaptiven Metadrama und dem dramatischen Prätext/ den dramatischen Prätexten besteht eine Beziehung der „interthéâtralité“ 256 . Das adaptive Metadrama ist somit ein Intertheatertext. In neueren Dramentexten wird der Dramen- Prätext bzw. werden mehrere Dramen-Prätexte lediglich als Steinbruch verwendet, sodass das adaptive Metadrama einem intertheatralen Mosaik bzw. Patchwork gleicht, bei dem nur noch Zitate, Zitatfragmente, Motti oder Allusionen des Prätextes oder der Prätexte in den Intertheatertext montiert sind. 5.4.1 Molière als Prätext (17. Jahrhundert) In den hier ausgewählten adaptiven Metadramen dienen Theatertexte jeweils aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert als Prätext. Diese Metadramen besitzen eine intertextuelle und eine metatextuelle Dimension, denn sie verweisen auf andere, ihnen chronologisch vorausgehende Theatertexte und kommentieren diese zugleich in metatheatraler Form. Die Strukturtypen der eingebetteten Fiktionsebenen, welche das fiktionale Metadrama kennzeichnen, die Theaterprobe und die Theateraufführung, tauchen auch im adaptiven Metadrama auf. Zuweilen kommen Theaterprobe und Theateraufführung in demselben Stück vor. Tadeusz Kowzan stellt 1981 in seinem Artikel „Molière, personnage théâtral mythifié et démythifié par le théâtre dans le théâtre“, in welchem er fünf Theaterstücke über Molière aus verschiedenen Jahrhunderten untersucht, fest: Si l’on considère un mythe comme «représentation de faits ou de personnages réels déformés ou amplifiés par l’imagination collective, la tradition», il faut reconnaître que le personnage de Molière - auteur, comédien et directeur de troupe - a un pouvoir mythogène exceptionnel. 257 Er bezieht sich in seiner Analyse auf die Dramen Il Moliere (1751) von Carlo Goldoni, Molière ou la maison de Molière (1787) von Louis Sébastien Mercier, 254 Pfister 11 2001: 120. 255 Nabet-Egger 2000: 210. 256 Nabet-Egger 2000: 211. 257 Kowzan 1981: 403. 153 Molière (1851) von George Sand, Kabala svjatoš (1936) von Mikhaїl Bulgakow und das aus einem Filmdrehbuch hervorgegangene Stück La petite Molière (1959) von Jean Anouilh und Roland Laudenbach. William D. Howarth listet für die Zeitspanne von 1751 bis in die 1970er Jahre allein 167 „biographical plays with Molière as protagonist” 258 auf und gibt an, es seien wohl noch mehr. In diese Tradition der dramatischen Molière-Biographie reihen sich Guy Vassal mit Holà! Hé! Sganarelle! (1988), Gildas Bourdet mit La Vie de Jean-Baptiste Poquelin, dit Molière (1975, création collective) und Philippe Adrien mit seinem Drama Le Défi de Molière (1979) ein, das hier als ein Beispiel für diese Form des Weiterschreibens des „Mythos Molière“ behandelt werden soll. 259 Philippe Adrien (* 1939), zugleich Theaterautor und Regisseur, will mit seiner pièce biographique dem Publikum vor allem den Menschen und den „Theatermacher“ Molière näherbringen: Molière, on aurait voulu se tenir près de lui, le servir, l’aider, le défendre. Nous voulons que les spectateurs aient le sentiment de s’approcher de cet homme-là et de ceux qui l’ont accompagné durant son existence. […] Molière était un homme de théâtre comme nous, et cependant mieux que quiconque. C’est pourquoi nous allons à sa rencontre: afin d’apprendre de sa singulière humanité. 260 Adrien kann bei seiner literarischen Auseinandersetzung 261 mit der Persönlichkeit Molières auf seine Erfahrungen als Regisseur von Molière-Inszenierungen wie George Dandin (1977) und Dom Juan (1978) in den 1970er Jahren zurückgreifen. In dem Dreiakter Le Défi de Molière zeigt Philippe Adrien Szenen aus dem Leben Molières und seiner Schauspieltruppe. Der erste Akt spielt im Jahr 1661. In den Kulissen des Théâtre du Palais Royal bereiten sich Molière und die Schauspieler auf die Aufführung ihrer neuesten Stücke L’École des maris und Les Fâcheux vor. Als Ehrengast wird der Sonnenkönig erwartet. Während alle ihr Kostüm anlegen und Textpassagen ihrer Rolle wiederholen, beauftragt Molière La Grange, die Schauspieler vor Vorstellungsbeginn zusammenzurufen. Er bittet seine Truppe, besonders gut zu spielen, um weiterhin in der Gunst des Königs zu stehen. Die Musiker spielen, das Stück L’École des maris beginnt. Der positive Verlauf der ersten beiden Akte wird in den Szenenanweisungen geschildert. Es folgen die 258 Howarth 1975: 559-565. 259 Mit dem Film Molière, in dem Philippe Caubère die Titelrolle spielt, setzt Ariane Mnouchkine 1977 ihre Version der Molière-Biographie in Szene. 260 Adrien 1979: 31, Paratext zu seinem Drama Le Défi de Molière. 261 Philippe Adrien bemüht sich sogar beim Sprachstil um Anlehnung an die Epoche Molières: „C’est à la fois mon écriture et pas elle. Etre auteur, [...] c’est laisser parler les gens. Les gens de ce temps pensaient dans le langage que les livres nous ont transmis.” Adrien in einem Interview mit Colette Godard, Godard 1979: 7. 154 letzten Szenen aus L’École des maris, abwechselnd mit Szenen hinter den Kulissen. Danach wendet sich Molière mit einigen Versen direkt an den König, welcher ihn seiner Protektion versichert. Molière kündigt ein intermède mit dem Titel L’Epinette fabuleuse du Sieur Raisin an. Während des musikalischen Zwischenspiels wechseln die Schauspieler die Kostüme für die Ballettkomödie Les Fâcheux und reden über Molière und Armande Béjart, eine junge Schauspielerin, die er zu heiraten gedenkt. Molière gibt Hinweise zur Diktion und zur Proxemik, ehe sich der Vorhang zu Les Fâcheux hebt. Hinter der Bühne diskutieren die Akteure Molières Regieanweisungen, warten auf ihren Auftritt und suchen die benötigten Requisiten zusammen. Die Vorstellung endet mit einem Ballett und dem Dank Molières an seine Truppe. Ein königlicher Bote, der Marquis de Soyecourt 262 , überbringt Molière Geldzuwendungen Ludwigs XIV. Ein Freund und ein an der Publikation seiner Stücke interessierter Buchhändler wollen Molière in seiner Loge aufsuchen, doch er verlangt nur nach Armande. Während er sie erwartet, verfasst er einen Brief an den König. Da erscheint Michel Baron 263 , ein kleiner Junge, der Mitglied in Molières Truppe werden möchte. Nach dessen Verschwinden schreibt Molière weiter, bis Armande eintrifft. Der zweite Akt spielt 1663 in Versailles und wird mit einem Ehestreit zwischen der schwangeren Armande und Molière eröffnet. Der Streit, in dem Armande Molière seinen Ehrgeiz vorwirft, endet, als die Schauspieler zur Probe kommen in Begleitung einiger Höflinge, die zuschauen wollen. Molière wehrt ab und verkündet, vier Tage später würden für den König die Stücke Don Garcie de Navarre, Sertorius, L’École des maris und L’Impromptu de Versailles gespielt. Molière liest der Truppe sein Manuskript zu L’Impromptu de Versailles vor. Das Stück wird geprobt, aber wegen Streitigkeiten bricht Molière die Probe ab. Armande zweifelt an der rechtzeitigen Aufführung des Impromptu, doch Molière widerspricht ihr und arbeitet am Ausgang des Stücks. Beim Schreiben schläft er ein. Im Traum erscheint ihm Ludwig XIV., der den Aufführungstermin ihm zuliebe verschiebt. Molière vollendet darauf sein Werk. Das nächste Bild zeigt eine Audienz beim König Ende November 1663 im Louvre. Einige Adlige kommentieren Molières Impromptu und seine Rivalitäten mit der Schauspieltruppe des Hôtel de Bourgogne. Der König verlangt einen Komödienwettstreit mit dem Hôtel de Bourgogne und beauftragt Molière, eine comédie galante für ein Fest in Versailles zu verfassen. Den anwesenden Racine lässt der Sonnenkönig die Ode sur la convalescence du Roi rezitieren. Indessen erscheint eine 262 Ludwig XIV. schlug Molière vor, den Marquis de Soyecourt als einen der fâcheux in seiner Komödie zu porträtieren, worauf Molière in diesem dem Sonnenkönig gewidmeten Werk einging, indem er die Figur des Jägers Dorante hinzufügte. 263 Michel Baron (Pseudonym von Michel Boiron) stieß als junger Schauspieler zu der Truppe Molières und war von 1670-1673 deren Mitglied. Vgl. Corvin 1995: 90. 155 Gestalt im Kirchengewand, die sich von den Anwesenden den Ring küssen lässt und wieder verschwindet. Der dritte Akt versetzt den Zuschauer in den August des Jahres 1664. Ort des Geschehens ist Molières Haus in Paris. Molière schläft und träumt von Armande in der Rolle der Princesse d’Élide und von der Inquisition, die ihn wegen des Tartuffe verfolgt. Ein Feuer auf seinem Schreibtisch weckt ihn. Sein Lakai Provençal versucht den Schaden zu beheben. Molière lässt ihn, da er ihn an den Inquisitor aus seinem Traum erinnert, dessen Text 264 deklamieren. Einige Tage später, am 22. August 1664, sind Armande, Madeleine, der Libertin Chapelle 265 , Nicolas Boileau Despréaux und der Mathematiker Jacques Rohaut bei Molière versammelt. Der Maler Pierre Mignard gesellt sich hinzu und spricht Molière auf seine Komödie Tartuffe an. Boileau warnt vor der Reaktion der religiösen Parteien im Falle einer Aufführung. Es entspinnt sich eine Diskussion um die Zielgruppe der Satire des Tartuffe, als Racine mit Neuigkeiten über den Erzbischof von Paris eintrifft. Alle verabschieden sich, bis auf Madeleine und Mignard, die Molière auf die Kabale der Compagnie du Saint-Sacrement hinweisen. Trotz des Aufführungsverbots will Molière nicht aufgeben. Als er allein ist, tauchen aus dem Dunkel Gestalten auf, die an Tartuffe, ein Kirchengewand und Molières Ärzte erinnern. Unter Blitz, Donner und Rauch kommt eine neue Kulisse zum Vorschein, das Modell eines Theaters. Ludwig XIV. erscheint und hebt nach fünf Jahren das Aufführungsverbot auf. Vor Glück stotternd bleibt Molière zurück, da nähert sich Armande, doch ehe er sie berühren kann, verschwindet sie wieder. Ein Affe 266 mit einem Spiegel betritt die Bühne, betrachtet sich, die Zuschauer und klettert auf Molières Schulter, ehe der Vorhang fällt. 264 Der Text des Inquisitors (DdM, 123) besteht aus Zitaten, die fast wörtlich dem gegen den Autor des Tartuffe gerichteten Pamphlet „Le Roi glorieux au monde“ des Pfarrers von Saint-Barthélemy, Pierre Roullé, entnommen sind, vgl. Molière 1971: 1143f. Philippe Adriens Dramenfigur Molière erwähnt Roullé und seine Schrift während des darauffolgenden Treffens mit seinen Freunden (DdM, 138). 265 Sein eigentlicher Name war Claude Emmanuel Luillier. 266 Der Affe ist nach Butzer/ Jacob (Hrsg.) 2 2012: 9 u.a. das Symbol der Mimikry, d.h. der Fähigkeit und der Lust zur Nachahmung. Heinrich Schneegans zufolge hatte das Haus in der Rue des Vieilles Etuves, in dem Molière seit seinem 15. Lebensjahr wohnte, einen Eckpfeiler mit Holzschnitzereien, die Affen darstellten, die an einem Orangenbaum hinaufkletterten und am Fuße des Baumes spielten. Das Haus trug den Namen Pavillon des singes. „Vielleicht hat sich Molière später an dieses Bild am Wohnhause seiner Jugend erinnert, als er im Jahre 1666 für eine Ausgabe seiner Lustspiele als Wappen ein Titelblatt machen ließ, das er dann auch für sein Silberzeug annahm, in dem ein Affe einen Spiegel, ein anderer eine Maske hielt. Oder hat er damit [...] seinen Feinden antworten wollen, die ihn so häufig wegen seines scharfen Nachahmungstalents einen ‚Affen’ seiner Nebenmenschen nannten? “ Schneegans 1902: 10. 156 Philippe Adrien orientiert sich in seinem dramatischen Porträt Molières an den historischen und biographischen Fakten, er stützt sich unter anderem auf das Registre von La Grange (Pseudonym von Charles Valet, Schauspieler in der Truppe von Molière ab 1659), dessen Aufzeichnungen im Drama erwähnt werden (DdM, 71). 267 Den Akzent setzt Adrien auf Molières Verhältnis zu Ludwig XIV., seine Rivalitäten mit der Truppe des Hôtel de Bourgogne, den Kampf gegen die religiösen Parteien um die Aufführung des Tartuffe und die Liebesbeziehung zu Armande Béjart, seiner späteren Ehefrau. Er versucht in seinem Drama verschiedene Facetten der Persönlichkeit Molières zu zeigen, die der öffentlichen und der privaten Sphäre zuzurechnen sind: zum einen Molière als Autor, Schauspieler, Regisseur, Truppenleiter, Günstling des Sonnenkönigs und Mitglied eines Intellektuellenzirkels, zum anderen Molière als Ehemann. Die Geschichte der Heirat Molières mit der um viele Jahre jüngeren Armande sowie deren ungeklärte Herkunft ist ein Thema, das auch in anderen Stücken über Molière wiederkehrt. 268 Das Verbot der Aufführung des Tartuffe kommt in La petite Molière, in La vie de Jean-Baptiste Poquelin dit Molière und in Holà! Hé! Sganarelle! ebenfalls zur Sprache. Eine weitere Konstante, die nicht nur bei Adrien, sondern beispielsweise auch bei Jean Anouilh/ Roland Laudenbach und Guy Vassal zu finden ist, ist die Abhängigkeit Molières von einem Mäzen. So wird Molière in Le Défi de Molière als ehrgeiziger, unermüdlich arbeitender homme de théâtre dargestellt, der die Gunst Ludwigs XIV. und seine Position im „literarischen Feld“ 269 im Sinne Pierre Bourdieus erkämpfen muss und der durch seine Werke, in denen er kritisch Stellung zu gesellschaftlichen, religiösen und theaterästhetischen Fragen seiner Zeit bezieht, mit staatlichen, kirchlichen und konkurrierenden kulturellen Institutionen (Hôtel de Bourgogne) in Konflikt gerät. Für sein adaptives Metadrama wählt Philippe Adrien als Prätexte Theaterstücke Molières aus, die dessen enge Beziehung zum Sonnenkönig illustrieren und den zeitkritischen Charakter seiner Werke verdeutlichen: L’École des maris (1661), Les Fâcheux (1661), L’Impromptu de Versailles (1663), 267 Adrien in Godard 1979: 8. „ [...] j’ai consulté le registre de Lagrange - une bible - et j’ai vu que c’était vrai: le 28 décembre 1661, la troupe a joué L’École des maris et Les Fâcheux en présence du Roi.” 268 Vgl. Kowzan 1981: 404-407. Philippe Adrien folgt der Version, nach der Armande die Tochter Madeleine Béjarts ist. Adrien in Godard 1979: 8: „Il était déjà malade, il avait quarante ans et s’apprêtait à épouser une fille de vingt ans, dont on ne sait pas si elle était la sœur ou la fille de sa maîtresse. J’ai opté pour la deuxième solution, elle éclaire mieux le comportement de Madeleine Béjart, et celui d’Armande, qui ne connaîtra sa véritable identité que plus tard, au cours du premier acte.” 269 Bourdieu 1992: 323. „Le champ littéraire (etc.) est un champ de forces agissant sur tous ceux qui y entrent, et de manière différentielle selon la position qu’ils y occupent (soit, pour prendre des points très éloignés, celle d’auteur de pièces à succès ou celle de poète d’avant-garde), en même temps qu’un champs de luttes de concurrence qui tendent à conserver ou à transformer ce champ de forces.“ 157 La Princesse d’Élide (1664). Letztere wurden in Versailles erstmals aufgeführt, Les Fâcheux entstand anlässlich eines Fests im Schloss Vaux-le-Vicomte zu Ehren des Königs, während die Uraufführung von L’École des maris im Théâtre du Palais Royal in Paris stattfand. In L’École des maris thematisiert Molière das damals in der Gesellschaft diskutierte Problem der freien Gattenwahl. Mit Les Fâcheux kreiert er ein neues Genre, die Ballettkomödie, die dem Interesse des Hofes an tänzerischen Darbietungen entgegenkommt. Dem entspricht auch das im Auftrag des Sonnenkönigs entstandene Hofballett La Princesse d’Élide. 270 Molières Pamphletkomödie L’Impromptu de Versailles, in der er die Spielweise seiner Rivalen, der Schauspieler des Hôtel de Bourgogne, in ihren Corneille-Rollen parodiert, selbst auftritt und Einblick in seine Arbeit als Autor, Schauspieler und Leiter seiner Theatertruppe gewährt, ist als Metadrama Vorbild geworden für viele selbstreflexive Theaterstücke bis ins 21. Jahrhundert hinein. In Adriens Dreiakter gliedert sich die Bühnenhandlung in eine Rahmenhandlung (F1), die auf der zweiten Fiktionsebene vier aufeinanderfolgende fragmentarische Theatereinlagen enthält: L’École des maris (F2.1), Les Fâcheux (F2.2), L’Impromptu de Versailles (F2.3) und einen Auszug aus der comédie galante La Princesse d’Élide (F 2.4), der in einen Traum Molières eingebettet ist. Die Akteure in F1 und den verschiedenen F2 sind teilweise identisch, denn die Mitglieder der Schauspieltruppe Molières übernehmen Rollen in der jeweiligen F2. Die Bühnenzuschauer sind bei F2.1 und F2.2 der König, einige Höflinge und Vertreter des bürgerlichen Pariser Publikums; bei der Probe von F2.3 werden die neuen Schauspieler La Thorillière 271 und Louis Béjart zu Beobachtern, bei F2.4 sind Höflinge und der träumende Molière die Zuschauer. F2.1 und F2.2 sind Theateraufführungen, die am selben Abend nacheinander im Théâtre du Palais Royal in Gegenwart des Königs stattfinden. Das Impromptu de Versailles (F2.3) erscheint anfangs in Form einer Leseprobe. Molière liest seinen Truppenmitgliedern den Text zunächst vor, ehe er ihn mit den Schauspielern improvisierend 272 in einer Theaterprobe einstudiert: Molière: [...] Je vais vous lire ce que j’ai écrit qui nécessitera sans doute d’être repris et corrigé par je [sic: le] jeu en bien des endroits. Nous verrons. Ensuite vous 270 Armande Béjart spielte, wie Adrien es in seinem Drama wiedergibt, in der Uraufführung dieses Stücks die Titelrolle. 271 La Thorillière, der zur Truppe Molières gehörte, spielt im Impromptu (Szene 3) einen marquis fâcheux, der die Probe stört. In Le Défi de Molière werden die Rollen der fâcheux, die Molière bei der Probe beobachten wollen, in Analogie dazu von den anonymen Figuren premier courtisan und second courtisan übernommen (DdM, 81ff.). 272 Dieses Verfahren des Stegreifspiels wird in zeitgenössischen Theaterproduktionen wieder aufgegriffen, insbesondere in der création collective. Indem Philippe Adrien in Le Défi de Molière gerade das Stück Impromptu de Versailles als Prätext wählt, betont er die Parallelen zwischen Molières Arbeit als Theatermacher und der Regie der heutigen hommes de théâtre. 158 copierez les paroles scène par scène et nous répéterons. Il nous faudra beaucoup de soin pour bien donner le sentiment d’un impromptu. Nous avons devant nous une semaine de temps. […]. (DdM, 98). Die vierte Theatereinlage umfasst einige Verse aus dem Stück La Princesse d’Élide (F2.4), von dessen Aufführung am Hofe Molière träumt. Manche dieser Theatereinlagen enthalten ihrerseits metatheatrale Elemente, die in den für Le Défi de Molière ausgewählten Zitaten zu erkennen sind: Les Fâcheux beginnt mit einem episierenden Prolog, den Adrien teilweise wiedergibt, L’Impromptu de Versailles zeigt die Theaterprobe eines Dramentexts (F3), dessen Fragmente in Le Défi de Molière erscheinen, in La Princesse d’Élide sind neben intermèdes Gesänge (chants) integriert, für die Adrien als Beispiel den Récit de l’Aurore zitiert. Beim Rezipienten entsteht dadurch der Eindruck einer gesteigerten Autoreflexivität dieses adaptiven Metadramas. Die Zitate aus Molières Werken werden in Le Défi de Molière typographisch durch Anführungszeichen markiert und entsprechen, wie Adrien anmerkt (DdM, 35) den Originaltexten. 273 Aus L’École des maris (F2.1) entnimmt Adrien für seinen ersten Akt Passagen der Szenen I,2, I,4, II,10, III,2, III,8 und III,9, in denen wichtige Figuren wie Valère, Isabelle, Sganarelle, Ergaste, Ariste und Lisette auftreten 274 , sodass der Molière-Kenner die Charaktere erkennen und den Handlungsbogen der dreiaktigen, farcenhaften Komödie rekonstruieren kann. Die Zitate aus Les Fâcheux (F2.2), die Adrien anschließend in den ersten Akt seines Dramas einflicht, entstammen dem als Eloge an den König gerichteten Prolog sowie den Szenen I,1, I,2, II,3, II,5 und II,6. Molière wird mit dieser Theatereinlage als vielseitiger Schauspieler dargestellt, der mehrere Rollen 275 - hier verschiedene Typen von fâcheux im selben Stück spielen konnte. Die Theaterprobe des Impromptu de Versailles (F2.3) im zweiten Akt wird im Gegensatz zu den beiden Theateraufführungen (F2.1 und F2.2), mit deren Rezeption der Zuschauer unvorbereitet konfrontiert wird, in F1 durch Informationen über die Entstehungsgeschichte dieses Theaterstücks 273 Einzelne Wörter sowie die erste Szenenangabe in den Regieanweisungen (DdM, 35, II,1 = I,4 aus L’École des maris) stimmen allerdings nicht mit der Pléiade-Ausgabe (Molière 1971) von Molières Werken überein. Z. B. sind folgende lexikalische Varianten, die leicht sinnverändernd wirken, festzustellen: DdM, 47 ces jeunes gens statt ces jeunes fous (L’École des maris, III,8); DdM, 60 Au diable statt Au diantre (Les Fâcheux, I,1); DdM, 63 continuent statt conspirent (Les Fâcheux, II,5); DdM, 100 nousmêmes statt vous-même (Impromptu, Szene 1). Adrien nimmt sich hier kleine interpretatorische Freiheiten. 274 Die von Adrien angegebene Besetzung der Rollen entspricht der Originalbesetzung Molières bei der Uraufführung des Stücks. 275 Adrien folgt der Originalversion von Les Fâcheux, in der Molière die Rollen mehrer fâcheux übernahm. Seine Kostümwechsel beschreibt Adrien in den Regieanweisungen. 159 eingeführt. Molière teilt seiner Truppe vor der Probe mit, das Impromptu habe er im Auftrag des Königs als Reaktion auf die Kritik des Hôtel de Bourgogne (Edme Boursault: Le Portrait du peintre 276 , 1663) an seiner Person verfasst. Er resümiert den Inhalt des Impromptu, ermahnt die Schauspieler, die dramatischen Figuren nicht mit realen Personen zu verwechseln und erklärt ihnen seine Intention: Molière: [...] Après avoir fort tergiversé, j’ai d’abord résolu de répondre non par une attaque particulière contre l’un ou l’autre membre de la clique qui depuis trois années me cherche querelle, à cause de mes succès, mais tout simplement en faisant moi-même le portrait - oui, c’est bien cela, l’original par lui-même, comme on dit: un auto-portrait. […]. (DdM, 88). Die geprobten Textauszüge sind der ersten Szene des Impromptu entnommen und zeigen Molière in seiner Funktion als Regisseur und Truppenleiter, der zu Beginn seine Schauspieler zusammenruft und darauf die Rollenverteilung vornimmt. Die zwei letzten Repliken aus der Schlusszene des Impromptu (I,11) sind in einen Traum Molières integriert und verdeutlichen, wie der Autor Molière um die termingerechte Fertigstellung seines unter Zeitdruck entstehenden Theaterstücks ringt und am Ende vom Sonnenkönig den ersehnten Aufschub erhält. Die Zitate aus La Princesse d’Élide, die Adrien im dritten Akt seines Dramas in Molières zweiten Traum einbettet, befinden sich im Originaltext in Szene 1 des premier intermède (Récit de l’Aurore), und in den Szenen IV,4 und IV, 6. Während der Récit de l’Aurore im Sinne des carpe diem für Liebe und Leidenschaft plädiert, belegen die anderen Textstellen (IV,4 und IV,6) die „insensibilité“der Prinzessin solchen Gefühlen und ihrem Verehrer gegenüber. Die entsprechenden Rollen werden in der Theatereinlage von einem „Double“ (DdM, 120f.) Armandes und Molières gespielt, deren in F1 dargestellte Beziehung eine gewisse Ähnlichkeit aufweist: Armande behandelt Molière oft mit einer Kühle, unter der er leidet. F 2.4 spiegelt hier die Bühnenrealität F1 wider und fungiert damit als thematische mise en abyme. Die Rahmenhandlung F1 umfasst chronologisch die Zeit vom 28. Dezember 1661, dem Tag der Aufführung von L’École des maris und Les Fâcheux im Palais Royal, bis zur Aufhebung des Aufführungsverbots des Tartuffe im Jahre 1669. F1 schildert im ersten Akt die Atmosphäre hinter den Kulissen: das Schminken und das Anlegen der Kostüme, das Wiederholen des Rollentexts, die letzten Regieanweisungen Molières vor dem Auftritt. Zugleich zeigt die Rahmenhandlung Molières erfolgreiches Werben um die Gunst Ludwigs XIV. und die Realisierung seiner Heiratspläne. Steht Molière am Ende des ersten Akts als Künstler und als Privatmann am 276 Boursault kritisiert darin Molières Stück L’École des femmes und bezeichnet Molière als „notre Singe“ (Scène 4) und als „un homme qui fait mieux les portraits que les peintres de Rome“ (Scène 2). Boursault in Molière 1971: 1053 und 1056. 160 Ziel seiner Wünsche, so beschreibt F1 im zweiten Akt, mit welchen Problemen er privat und beruflich zu kämpfen hat. Neben den Launen seiner Frau beschäftigen ihn Streitigkeiten unter den Truppenmitgliedern und der Produktions- und Erfolgsdruck, der nun auf ihm als Dramatiker, der vom König protegiert wird und Auftragsarbeiten erhält, lastet. Im dritten Akt wird Molière in F1 zunächst als von Albträumen geplagtes Opfer der Gerüchte um die Herkunft Armandes und der Intrigen der dévots dargestellt. Auf Betreiben der Compagnie du Saint Sacrement und des Erzbischofs von Paris, Hardouin de Péréfixe, ist die Aufführung des Tartuffe verboten worden. Beim König ist Molière in Ungnade gefallen, daher vertreibt er sich die Zeit mit Übersetzungen aus dem Lateinischen. Nur ein paar Intellektuelle halten noch zu ihm. Doch Molière gibt nicht auf, verfasst eine Bittschrift an den König und erreicht sein Ziel: Ludwig XIV. erscheint persönlich und hebt nach fünf Jahren das Aufführungsverbot auf. Neben der Schilderung der Höhen und Tiefen der Biographie Molières übernimmt F1 die Aufgabe einer kommentierenden Metaebene in Bezug auf die eingelagerten Fiktionsebenen F2.1, F2.2, F2.3 und F2.4 und die Komödie Tartuffe, deren Rezeptions- und Aufführungsgeschichte im dritten Akt thematisiert wird. Der reale Zuschauer erfährt durch F1, dass die Aufführungen von L’École des maris (F2.1) und Les Fâcheux (F2.2) beim Bühnenpublikum und beim König Beifall finden und sich gut ergänzen. Molière gesteht nach der Aufführung in F1 dem Marquis de Soyecourt, der die Ridikülisierung seiner Person als Bühnenzuschauer verfolgt hat, ihn auf königlichen Wunsch porträtiert zu haben, und entschlüsselt so sein Werk und sein auf Nachahmung beruhendes künstlerisches Schaffen. Gegenüber dem Buchhändler, dem er nach der Aufführung die Druckerlaubnis verwehrt, betont der Autor, die beiden Stücke seien zum Spielen konzipiert und er wolle das Druckrecht selbst erwerben. Hinsichtlich des Impromptu de Versailles (F2.3) gibt F1 Aufschluss über die Entstehungsgeschichte, Molières Intention und den simulierten Improvisationscharakter dieser Gattung und demonstriert die Schwierigkeiten der Schauspieler mit dem Stegreifspiel bei der Probe: Mademoiselle du Croisy: Surtout que nous ne savons pas nos rôles. La Grange, riant: Enfin, ne pouvez-vous pas vous rendre compte que vous êtes en train de faire au naturel, ce que nous avons à représenter sur la scène et que c’est précisément cette manière de dire et d’être qu’il nous faut attraper. Molière, approuvant: Voilà! Je veux que vous preniez l’air de ne pas jouer ou même que vous ne jouiez pas du tout. (DdM, 101). F2.3, der eingelagerte Originaltext der ersten Szene des Impromptu, nimmt in einer strukturellen und thematischen mise en abyme (Theaterprobe, Streit der Schauspieler mit dem Regisseur Molière) diese Beschwerden der Schauspieler in F1 vorweg. Eine implizite Theaterkritik des Impromptu de 161 Versailles folgt in F1, als die auf die Audienz wartenden Höflinge ihren Kommentar zu der Aufführung, die sie gesehen haben, abgeben. Während die einen Molière mit dem Verweis auf die Theatertradition der „Italiens“ (DdM, 110), d.h. die Improvisationen der Commedia dell’arte, einen Mangel an Innovation bescheinigen, ihm niedere Motive wie Hass und Rachsucht im Streit mit dem Hôtel de Bourgogne unterstellen und darüber spotten, dass der Autor eine Komödie schreibt, nur um zu sagen, er habe nicht die Zeit gehabt, sie zu schreiben, äußern die anderen positive Kritik: Molière verstehe es, seine Gegner zu schlagen, die Parodie der „grands comédiens“ (DdM, 111) des Hôtel de Bourgogne habe sie entzückt und das Stück sei hervorragend. Die Schauspieler des Hôtel de Bourgogne, deren dramatische Angriffe wie Le Portrait du peintre die Höflinge erwähnen, sollten ihrer Meinung nach die Attacken gegen Molière besser einstellen. Die uneingeschänkte Zustimmung und die Gunstbeweise des Königs (DdM, 114-115) setzen der Diskussion rasch ein Ende. Über das Hofballett La Princesse d’Élide erfährt der reale Zuschauer in F1, dass Ludwig XIV. Molière bei dieser anlässlich eines Fests in Versailles in Auftrag gegebenen comédie galante genaue Vorgaben zu Thema („le triomphe de l’Amour“, DdM, 116), Musik und Balletteinlagen macht und ihn zur Zusammenarbeit mit seinem späteren Konkurrenten, dem Opernkomponisten Jean-Baptiste Lully, veranlasst. Der König nimmt also als Mäzen immer mehr Einfluss auf die dramatische Produktion Molières, der sich dem Geschmack des Hofes anpassen muss. Die Querelle du Tartuffe, eine wichtige Episode in Molières Biographie, wird im dritten Akt in F1 Gegenstand der Diskussion bei einem Treffen Molières mit Boileau, Chapelle, Mignard, Rohaut und Racine. Die Positionen seiner Gegner, der Partei der dévots, welche ihn wie der Inquisitor in seinem Traum mit dem Scheiterhaufen drohen (insbesondere Pierre Roullé, Pfarrer von Saint-Barthélemy), ihn als gottlosen Libertin bezeichnen und ihm vorwerfen, mit dem Tartuffe die Kirche und den Klerus der Lächerlichkeit preiszugeben, werden kurz beleuchtet und Molières Argumentation gegenübergestellt: Molière behauptet, er habe sich von Paul Scarrons Figur Montufar (Les hypocrites) inspirieren lassen und erklärt, er sei über jede Form von Heuchelei („simagrées“ und „singerie“, DdM, 141), sei es in der Kirche oder in der Welt, wütend und habe einen faux dévot dargestellt. 277 277 Adrien erwähnt nicht, dass Molière nach der Aufführung der umstrittenen Erstfassung des Tartuffe (12.5.1664) unter dem Druck der Zensur und der Partei der dévots sein Stück in einer überarbeiteten, später ebenfalls verbotenen Fassung mit dem Titel Panulphe ou l’imposteur dem Publikum präsentierte (5.8.1667), ehe er nach der Aufhebung des Aufführungsverbots durch Ludwig XIV. am 5.2.1669 die endgültige Version zur Aufführung bringen konnte. Vgl. Grimm 1984: 84ff. 162 Die Rahmenhandlung F1 fungiert nicht nur als metatheatraler Kommentar der Fiktionsebenen F2.1, F2.2, F2.3, F2.4 sowie der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte des Tartuffe, sie macht auch die Ästhetik Molières, die seinen Theaterstücken zugrunde liegt, transparent. Ein Grundprinzip dieser Ästhetik ist es, wie Molière seinen Truppenmitgliedern erklärt, den König, den Hofstaat und das Publikum allgemein zu unterhalten: „divertir le Roi et la cour“ und „le public“ (DdM, 42). Dem „plaire au Roi et au public“ (DdM, 89) räumt er gegenüber dem „instruire“ den Vorrang ein. Ein weiteres Merkmal seiner Ästhetik ist, wie Adrien in F1 zeigt, die Nachahmung realer Personen wie des lästigen Höflings Marquis de Soyecourt oder religiöser Heuchler, welche Molière in seinen Komödien als Charaktere scharf überzeichnet porträtiert. Seine Vorgehensweise rechtfertigt er Ludwig XIV. gegenüber mit dem Argument, er wolle die Menschheit verbessern und die Wahrheit ans Licht bringen: 278 Molière: [...] j’ai conçu le projet de corriger les hommes, sous couleur de les divertir. […] d’une pièce à l’autre au fil des dialogues entre mes personnages, je tente de mettre à jour quelques vérités par où il m’apparaît du reste que la tolérance et le juste milieu sont les plus certaines. (DdM, 151). Molières Absicht ist es, in seinen Komödien die Menschen gemäß der Natur zu zeichnen, so wie es Dorante in der Critique de l’École des Femmes (Szene 6) fordert: „Mais lorsque vous peignez les hommes, il faut peindre d’après nature.” 279 Dementsprechend hält in F1 Adriens Dramenfigur Molière als Regisseur die Schauspieler dazu an, in ihrer Diktion und Spielweise nach dem „naturel“ (DdM, 58 und 84) zu streben, statt sich mit einem „abus des pitreries comme des préciosités“ (DdM, 43) in Szene zu setzen. Die Rahmenhandlung F1 gibt somit zugleich Hinweise zu Molières doctrine littéraire und zu seinen Vorstellungen als Regisseur. Theatergeschichtlich betrachtet liefert Philippe Adriens Metadrama Le Défi de Molière Informationen über die Situation einer Theatertruppe, die sich in der Pariser Theaterszene um 1660 zu positionieren versucht. 280 Adrien beschreibt die Bemühungen des Truppenleiters, Schauspielers, Autors und Regisseurs Molière um gesellschaftliche Anerkennung, Druckrechte, Erfolg beim Publikum und die Protektion Ludwigs XIV. Er schildert Molières finanzielle Abhängigkeit von seinem Mäzen, seinen Wettstreit mit der konkurrierenden Theatertruppe des Hôtel de Bourgogne und die Intri- 278 Diese Formulierung entstammt fast wörtlich der ersten von drei an Ludwig XIV. gerichteten Bittschriften bezüglich des Tartuffe, in der Molière die Intention der Komödie definiert: „Le devoir de la comédie étant de corriger les hommes en les divertissant, j’ai cru que, dans l’emploi où je me trouve, je n’avais rien de mieux à faire que d’attaquer par des peintures ridicules les vices de mon siècle [...].“ (Premier placet présenté au Roi sur la comédie du Tartuffe, in: Molière 1971: 889). 279 Molière 1971: 661. In diesem Stück legt Molière seine Konzeption der Komödie dar. 280 Ende 1660 überlässt Ludwig XIV. Molière das Théâtre du Palais Royal als Spielstätte. 163 gen der religiösen Partei der dévots, die seiner Karriere durch Verleumdungen und Aufführungsverbote beinahe ein Ende setzen. Dabei entsteht das Porträt eines homme de théâtre, der mit den heutigen Theatermachern, die ebenfalls hartnäckig um ihren Platz im literarischen Feld beziehungsweise in der Kulturszene kämpfen müssen, etliches gemein hat. 281 Mit seinem Stück, das als Hommage an Molière zu verstehen ist, errichtet Philippe Adrien diesem bedeutenden Komödiendichter des 17. Jahrhunderts, der bis heute einer der meistgespielten Autoren ist, ein dramatisches Denkmal und lässt die Theaterepoche der französischen Klassik, das grand siècle, wieder aufleben. Insofern ist Le Défi de Molière Teil einer theatralen Erinnerungskultur, die in Molières Werk einen lieu de mémoire sieht. 5.4.2 Marivaux als Prätext (18. Jahrhundert) Mit Blick auf sein Gesamtwerk wird Jean Anouilh von der Literaturkritik als „auteur métathéâtral“ 282 und „der direkteste Nachfolger Pirandellos in Frankreich auf dem Gebiet des Metatheaters“ 283 bezeichnet. Metatheatrale Elemente finden sich in vielen seiner Theaterstücke, so z.B. in Eurydice (1941), Antigone (1942), Colombe (1951), L’alouette (1953), La petite Molière (1959), Cher Antoine (1969) und La grotte (1961). In dem Fünfakter La répétition ou l’amour puni (1950), der sich bereits im Titel als Metadrama ausweist, greift Jean Anouilh auf eine Komödie aus dem 18. Jahrhundert zurück, La double inconstance (1723) von Pierre Carlet Chamblain de Marivaux. Damit wählt er als literarische Referenz und Prätext das Theaterstück eines Autors, den er bewundert, der damals neu entdeckt wurde und dessen dramatisches Gesamtwerk gleichfalls durch einen hohen Grad an Metatheatralität gekennzeichnet ist (siehe Kapitel 4). 284 Das adaptive Metadrama La répétition ou l’amour puni, welches Anouilh zu seinen pièces brillantes zählt, spielt in den 1950er Jahren. Die Pariser Aristokraten Graf Tigre und seine Frau wollen anlässlich eines festlichen Diners auf ihrem Schloss Ferbroques in der Normandie mit einer aus Freunden und Hausangestellten zusammengesetzten Amateurtheatertruppe in ihrem Salon La double inconstance aufführen. Mit dieser karitativen Veranstaltung soll das Waisenhaus eröffnet werden, das auf Wunsch der verstorbenen 281 Philippe Adrien in Godard 1979: 8 : „Je suis fasciné par la manière dont Molière a réussi la synthèse des fonctions du théâtre.” 282 Kowzan 2005: 183. „Quant à Jean Anouilh, dans son abondante production dramatique […] il y a une vingtaine de pièces métathéâtrales.” 283 Schoell 1983: 225. 284 Mortier 1987: 167. „On le sait, Marivaux longtemps négligé et tenu pour un génie mineur - a été réhabilité et remis à la mode par Giraudoux peu avant la dernière guerre. Disciple avoué de Giraudoux, Anouilh a exprimé à sa manière - qui est noire - l’admiration qu’il vouait à l’auteur de La double inconstance.” 164 Tante des Grafen, die ihm das Schloss vererbt hat, im linken Flügel des Gebäudes eingerichtet worden ist. Als Erzieherin für die zwölf Waisenkinder haben der Graf und die Gräfin Lucile, die Patentochter ihres geschäftlichen Beraters Monsieur Damiens, engagiert. Die beiden Angestellten sollen zusammen mit Hortensia, der Mätresse des Grafen, Villebosse, dem Geliebten der Gräfin, und Héro, einem Freund des Grafen, bei der geplanten Aufführung mitwirken. Graf Tigre hat La double inconstance ausgewählt, um sich dem Stil des im 18. Jahrhundert errichteten Schlosses anzupassen. Die Kostüme 285 , in denen er seine Amateurschauspieler proben lässt, stammen aus der Epoche Ludwigs XV. Vor Beginn der Probe gibt der Graf als Regisseur den Schauspielern ein Resümee des Stücks und erklärt ihnen ihre Rollen, indem er die Hauptfiguren charakterisiert. Er selbst spielt den Prinzen, die Gräfin die Rolle der Lisette, Hortensia übernimmt den Part der Flaminia, Villebosse verkörpert Arlequin und Monsieur Damiens Trivelin. Héro mimt Marivaux’ anonymen Seigneur, während der jungen Lucile die Rolle der Sylvia (ursprünglich bei Marivaux: Silvia) übertragen wird. Im zweiten Akt findet im Salon des Schlosses die Theaterprobe statt. Zunächst proben Lucile und der Graf, während die anderen vor der Tür warten, die Szene III,9 aus La double inconstance, in der Silvia dem als Offizier verkleideten Prinzen ihre Liebe offenbart. Da der Graf die Gelegenheit nutzt, um Lucile den Hof zu machen, wird die Probe immer wieder unterbrochen. Die anderen kommen hinzu, um gemeinsam den Anfang des zweiten Akts des Marivaux-Stücks zu proben. Hortensia und Lucile arbeiten an der Szene II,1 (Flaminia als freundschaftliche Beraterin Silvias), wobei der Graf und die Gräfin zuschauen. Anschließend studieren der Graf, die Gräfin und Lucile die Szene II,2 ein, in der Lisette als Hofdame Silvia ihrer Naivität wegen verspottet. Gräfin Éliane, die das Interesse ihres Gatten an Lucile eifersüchtig beobachtet und aus Standesgründen missbilligt, bittet den Grafen um ein Gespräch. Während der Pause, in der sich der Graf und die Gräfin zurückziehen, versucht der angetrunkene Héro sich Lucile zu nähern. Monsieur Damiens warnt Lucile vor dem Grafen und macht ihr einen Heiratsantrag, den sie ablehnt. Der zurückgekehrte Graf schickt Damiens weg unter dem Vorwand, mit Lucile vor der Abendprobe noch an einer Szene feilen zu müssen. Tigre und Lucile gestehen sich ihre Liebe und fallen einander in die Arme. Kurz ehe die anderen den Salon betreten, deklamiert der Graf rasch die Worte des Prinzen aus La double inconstance (Szene III,9), mit denen dieser Silvia seine wahre Identität offenbart und sie um ihre Hand bittet. Mit dem Üben der Schlussverbeugungen endet der zweite Akt. Im dritten 285 Auf die Perücken verzichtet der Graf und will damit der Inszenierung einen moderneren Anstrich verleihen. Der von ihm geplante fließende Übergang vom Festessen zur Theateraufführung wird für die eingeladenen Festgäste so erleichtert, d.h. die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit lassen sich bewusst verwischen. 165 Akt spinnen die Gräfin und Hortensia eine Intrige, um das Liebespaar auseinanderzubringen. Die Gräfin behauptet, man habe ihr einen Smaragdring gestohlen, und will die Zimmer des Personals durchsuchen lassen. Doch der Graf entlarvt die „mascarade“ (LRap, 884), findet den Ring in Elianes Zimmer und zwingt sie, sich bei Lucile zu entschuldigen. Sie kommt seiner Forderung nach, drängt Lucile aber zu einer Heirat mit Damiens. Als Lucile sich weigert, bindet Éliane Héro in ihren neuen Plan ein: Er soll Lucile verführen, damit sie am nächsten Tag aus Scham das Schloss verlässt. Wie der vierte Akt zeigt, gelingt der Plan: Héro, der den Grafen um seine Liebe beneidet und seinetwegen seine eigene Liebe Évangéline verloren hat, sucht Lucile in ihrem Zimmer auf und gibt vor, Tigre habe ihn geschickt, um die Beziehung mit Lucile zu beenden. Lucile glaubt Héro, gibt sich ihm unter Alkoholeinfluss hin und reist am nächsten Morgen ab. Damiens, der die Nachricht überbringt, verabschiedet sich ebenfalls. Während der Graf vergeblich Lucile hinterhereilt, hat die Comtesse bereits mit den ursprünglich vorgesehenen Schauspielern Léonor und Gontaut-Biron Ersatz für die Rollenbesetzung des Marivaux-Stücks gefunden. Im fünften und letzten Akt behauptet Héro gegenüber Villebosse, mit der Gräfin die Nacht verbracht zu haben, und provoziert so ein Pistolenduell, in dem er den Tod sucht. In seinem Resümee des Binnenspiels beschreibt der Graf La double inconstance als „pièce terrible“ und „l’histoire élégante et gracieuse d’un crime“ (LRap 851) und äußert damit vor der Probe in F1 metatextuell seine Deutung des Marivaux-Stücks, nach der die Manipulation der Gefühle Silvias durch Flaminia und den Prinzen einem Delikt gleichkommt. Die Hauptfiguren ordnet er mit wenigen Adjektiven in soziale und charaktertypologische Kategorien ein: Le Comte: […] Flaminia et sa sœur sont dures, coquettes, joueuses, amusées, le petit rustre [Arlequin] doit sentir bon aussi pour ces deux belles dames blasées. (LRap, 851). Eine ausführliche psychologische Analyse bleibt dem Charakter der Silvia vorbehalten, die ihn als Hauptfigur und mit Blick auf die Darstellerin Lucile am meisten interessiert: Le Comte: Que dire de Sylvia? Elle n’est pas romanesque, elle est tendre, elle n’est pas naïve, elle est bonne, elle n’est pas dure, elle est nette. […] Elle a la plus juste mesure du cœur. […] Sylvia est une petite âme inaccessible qui le regarde à mille lieues de lui et le trouble. (LRap, 851-852). Dass der Graf hier schon die Grenze zwischen Binnenfiktion (F2) und Bühnenrealität (F1) überschreitet und eigentlich Lucile charakterisiert, zeigt seine abschließende Bemerkung: Le Comte: Mais je n’ai pas besoin de vous expliquer le rôle, mademoiselle, vous n’avez qu’à être vous. (LRap, 852). 166 Lucile ergeht es wenig später genauso, als sie bei der Probe der Szene II,1 aus La double inconstance (LRap, 860) mit Hortensia in der Rolle Flaminias über den Prinzen spricht und dabei den Comte ansieht. Die Unterscheidung der Fiktionsebenen ist aufgrund der Verwischung der Grenzen durch die Gefühle der Figuren in F1 auch für den realen Zuschauer nicht einfach. Die Zitate aus La double inconstance sind im Text zwar durch Anführungszeichen markiert, aber bei der Rezeption für das reale Publikum nicht immer als solche zu erkennen, zumal Anouilh den Stil in F1 - insbesondere in den Szenen zwischen Lucile und dem Comte - dem marivaudage der „intra-pièce“ 286 angleicht. Die Verschachtelung der Fiktionsebenen in Anouilhs La répétition ou l’amour puni hat Ursula Jung genauer untersucht, die in diesem Zusammenhang von einer Mischung aus Intertextualiät und „’pseudo’-intertextualité partielle“ spricht: [...] il serait peut-être justifié de parler d’un mélange d’intertextualité et de ‘pseudo’intertextualité partielle: sont présentés et marqués comme citations marivaudiennes des passages provenant de Marivaux et des passages qui ne proviennent pas tels quels de Marivaux, mais qui ressemblent seulement à la version originale (exemple: il en rira - il s’en ira). 287 Im Vergleich zu Philippe Adrien geht Jean Anouilh mit dem eingelagerten Theatertext aus dem 18. Jahrhundert wesentlich freier um, indem er die Zitate häufig durch temporale, syntaktische oder semantische Varianten verändert und auf die dramatische Situation und den Dialog in F1 zuschneidet. 288 Während die im zweiten Akt von Lucile und dem Grafen geprobte Szene III,9 zwischen Silvia und dem Prinzen in den letzten drei Repliken geringfügige Abweichungen vom Originaltext enthält (tous les deux statt tous deux, sans qu’il ait statt sans qu’il y ait, pas statt point) und der Schluss derselben Szene auch fast originalgetreu wiedergegeben wird (je vous ai caché jusqu’ici statt je vous ai jusqu’ici caché), weisen die Auszüge aus II,1 und II,2 im selben Akt deutlich mehr Unterschiede zum Marivaux-Text auf, wie die folgenden Textpassagen belegen: Lucile [als Sylvia]: « [...] Je n’ai jamais vu de femmes si civiles, d’hommes si honnêtes. Ils ont [Marivaux II,1: Ce sont] des manières si douces, tant de révérences, tant de compliments, tant de signes d’amitié. Vous diriez que ce sont les meilleures gens du monde, qu’ils sont pleins de cœur et de conscience. Quelle erreur! [Marivaux: Point du tout! ] » (LRap, 859). La Comtesse [als Lisette in der Rolle der Hofdame]: « Cela m’impatiente à la fin et, si elle ne s’en va pas, je m’en irai [Marivaux II,2: je me fâcherai] tout de bon. » 286 Kowzan 2005: 183. 287 Jung 1994: 167. 288 Jung 1994: 169. „Il s’agit d’un texte hybride ou intermédiaire entretenant des rapports au texte marivaudien originaire et au contexte nouveau.” 167 Le Comte [als Prinz in der Rolle des Offiziers]: «Vous me répondrez [Marivaux II,2: Vous vous repentirez] de votre procédé. » (LRap, 863). Anouilh verschärft hier durch seine Textänderungen die Aussagen der dramatischen Figuren und passt sie der Konfliktsituation in F1 (Standesunterschied zwischen Lucile und dem Grafen, Eifersucht der Gräfin) an. Da die Komödie La double inconstance selbst metatheatrale Formen beinhaltet (Flaminia als Regiefigur, Rollenspiel des sich als Offizier ausgebenden Prinzen, Rollenspiel der als Hofdame auftretenden Lisette), welche sich in den von Anouilh ausgewählten Marivaux-Zitaten manifestieren, entstehen in La répétition ou l’amour puni drei Fiktionsebenen: - F1, die in Schloss Ferbroques spielende Rahmenhandlung, die zugleich stellenweise als metadramatischer Kommentar zu F2 dient - F2, die fragmentarische und diskontinuierliche Theaterprobe des Marivaux-Stücks (Spielort: der Salon des Schlosses) - F3, die in F2 integrierte Ebene des von Flaminia inszenierten Rollenspiels der Marivaux-Figuren. Anouilh konfrontiert damit den realen Zuschauer, der dieses Spiel im Spiel im Spiel allenfalls als Marivaux-Kenner zu durchschauen vermag, ebenso wie Adrien in seinem adaptiven Metadrama mit einer potenzierten Metatheatralität. Im dritten, vierten und fünften Akt findet trotz Ankündigung und Anfragen von Héro und Villebosse keine Probe des Marivaux-Stücks unter der Regie des Grafen mehr statt. 289 Mit dem Üben der Schlussverbeugungen am Ende des zweiten Aktes wird auch die Fiktionsebene F2 abgeschlossen. Dafür inszeniert die Gräfin zusammen mit Hortensia und Héro ihr eigenes, auf den Mechanismen der feinte und der psychologischen Maske basierendes Spiel im Spiel, das einem Melodrama 290 gleicht: Villebosse: Enfin, répétons-nous ou ne répétons-nous pas? Voilà deux heures que nous sommes habillés! Hortensia: Nous jouons, Villebosse. Nous sommes en plein jeu. Vous ne vous en étiez pas encore aperçu? (LRap, 884). 291 289 Lediglich eine Replik der Comtesse im dritten Akt („J’ai l’impression que je me suis un peu découverte en vous parlant? ” LRap, 875) lehnt sich noch an eine Bemerkung des Prinzen in La double inconstance (II,3) an. 290 Jung 1994: 173: „La Répétition est un champ de bataille entre comédie et mélodrame.” 291 U. Jung verwendet für die von der Gräfin inszenierten feintes den Begriff der „affabulation“. Jung 1994: 134-135. Im dritten Akt gibt die Gräfin vor, ihren Smaragdring verloren zu haben, im vierten Akt behauptet Héro, vom Grafen geschickt zu sein, um dessen Beziehung zu Lucile zu beenden, im fünften Akt gibt sich die Gräfin den anderen gegenüber als verständnisvolle Vorgesetzte Luciles aus, die den Vorfall mit dem Ring mit ihr geklärt hat und nicht versteht, warum sie abgereist ist. 168 Auf die Gattung des „drame“ (LRap, 876 und 909) wird in F1 mehrmals verwiesen; so sagt Héro auf Ruy Blas von Victor Hugo anspielend - im dritten Akt bereits seinen eigenen melodramatischen Abgang am Ende des fünften Akts voraus. Das Bühnenpersonal ist in F1, F2 und F3 teilweise identisch, denn die dramatis personae aus F1 übernehmen in den jeweils geprobten Szenen Rollen beziehungsweise potenzierte Rollen, während die, die gerade nicht spielen, vor der Tür des Salons lauschen oder zuschauen und wie die Gräfin Kritik am Spiel der anderen üben. Graf Tigre ist zugleich Protagonist und Regisseur der Komödie La double inconstance. Von seiner Amateurtheatertruppe wird er als „tyran“ (LRap, 848) bezeichnet, er selbst rechtfertigt seinen autoritären Regiestil mit dem Verweis auf andere erfolgreiche Regisseure: Le Comte: Tous les metteurs en scène géniaux font ainsi. Encore heureux que je ne hurle pas, que je ne déchire pas les brochures. Il n’y a pas de mise en scène de génie sans crise de nerfs. L’insulte est la monnaie courante, quelques très grands metteurs en scène vont jusqu’à la gifle. […]. (LRap, 860). Anouilh überzeichnet mit dieser Beschreibung das Bild eines Regisseurs der alten Schule, das in den 1950er Jahren noch kursierte. Mit ähnlichen Worten wie Molière im Impromptu de Versailles beklagt sich Tigre über die unmöglichen Schauspieler und stellt ästhetische Betrachtungen darüber an, dass das Natürliche, Echte des Theaters die unnatürlichste Sache der Welt sei (LRap, 858). Das Binnenstück F2 übernimmt bis zur scheinbaren Realisierung des amour von Graf Tigre und Lucile in Bezug auf F1 die Funktion einer prospektiven thematischen mise en abyme, denn zwischen F2 und F1 bestehen sichtbare inhaltliche Parallelen. Lucile stammt wie Silvia aus einfachen Verhältnissen, der Graf gehört ebenso wie Marivaux‘ Prinz der Aristokratie an. Beide Protagonistinnen sind natürlich, bescheiden, halten sich nicht für attraktiv und wehren sich zunächst gegen die Annäherungsversuche eines Aristokraten. Der Graf wie der Prinz bedienen sich einer Rolle, um Lucile/ Silvia für sich zu gewinnen. Villebosse liebt, naiv wie Arlequin, den er darstellt, eine Frau, die seine Liebe nicht erwidert. Damiens tritt gleich Arlequin in F2 als zweiter Brautwerber für Lucile auf, selbst wenn diese ihm im Gegensatz zu Marivaux’ Figur Silvia, die Arlequin anfangs liebt, keine Gefühle entgegenbringt. Héro (abgeleitet von héros), der ebenfalls zum Teil Eigenschaften Arlequins trägt (Trinkfreude), nennt ähnlich wie die von ihm verkörperte anonyme Figur Seigneur seinen vollen Namen nicht. Das in F2 eingebettete Rollenspiel Lisettes, die sich als Hofdame über Silvias mangelnde höfische Manieren und deren Naivität mokiert, deutet 169 voraus auf das despektierliche Verhalten der Comtesse Lucile gegenüber, die sie als „déclassée“ (LRap, 888) abqualifiziert. 292 Während es in Marivaux’ La double inconstance im 18. Jahrhundert zu einer Realisierung der nicht standesgemäßen Liebe kommt, scheint eine Überwindung der sozialen Barrieren zwischen Aristokratie und Kleinbürgertum durch die Liebe für Anouilh im 20. Jahrhundert nicht möglich, wie es bereits im Titel seines Dramas angedeutet wird: l’amour puni. Nur in der Binnenfiktion F2 können der Graf und Lucile ihre Liebe leben, in die Bühnenrealität F1 lässt sie sich nicht hinüberretten. Die Gräfin und ihr aristokratisches Umfeld erwarten von Graf Tigre, dass er sich dem „devoir mondain“ unterwirft (LRap, 913) und keine Mesalliance eingeht. Anouilhs Sozialkritik an der Pariser Aristokratie der 1950er Jahre, welche er als „petit monde frelaté“ (LRap, 908) beschreibt, wird hier offensichtlich. Wie Marivaux betrachtet Anouilh das Leben als gesellschaftliche Komödie. Die Weltsicht, die in La répétition ou l’amour puni zum Ausdruck kommt, ist von einem säkularisierten Theatrum mundi-Motiv geprägt. Den Aristokraten in diesem Drama erscheint ihre Wirklichkeit als theatralisiert, sie verwenden in der Rahmenhandlung Theatermetaphern wie „dramatiser“ (844), „représentation“ (863), „comparses“(870) und „rôle“ (864), um ihr Leben zu beschreiben. Für den Grafen, der das Theater nutzt, um die Gefühle Luciles zu beeinflussen, hat das Theater die Aufgabe, dem Leben eine Struktur zu geben und wahrer als die Wirklichkeit zu sein: Le Comte: [...] C’est très joli, la vie, mais cela n’a pas de forme. L’art a pour objet de lui en donner une précisément et de faire par tous les artifices possibles - plus vrai que le vrai. (LRap, 858). Mit dieser Aussage über das Verhältnis von Theater und Leben reiht sich Jean Anouilh in die Tradition des pirandellisme ein, nach der der Mensch nur in der fiktiven und provisorischen dramatischen Identität, die ihm das Theater und die Bühne verleihen, existieren kann. 5.4.3 Antier/ Saint-Amant/ Paulyanthe und Dumas Père als Prätexte (19. Jahrhundert) In seinem Jean-Paul Belmondo gewidmeten Stück Frédérick Lemaître ou le Boulevard du crime (1998) rekuriert Éric-Emmanuel Schmitt auf verschiede- 292 Weitere Analogien deckt Ursula Jung auf, vgl. Jung 1994: 152-155: Der Prinz weist Lisette an, sich bei Silvia zu entschuldigen, der Graf fordert von der Gräfin eine Entschuldigung für ihr Verhalten Lucile gegenüber. Flaminia hatte einen verstorbenen Geliebten, Héro eine verblichene Geliebte. Trivelin liebt Flaminia seit zwei Jahren, Damiens ergeht es so mit Lucile. Trivelins gespielte Eifersucht spiegelt sich in Damiens tatsächlicher Eifersucht auf den Comte wider. Flaminia behauptet in II,1, die Hofdamen seien überzeugt, der Prinz werde Silvia fallen lassen; Héro gibt im vierten Akt Lucile gegenüber vor, der Graf habe sie verlassen. 170 ne Theatertexte des 19. Jahrhunderts der Gattung des drame und des mélodrame, zieht aber auch andere Prätexte wie Racines Tragödie Bérénice und La Fontaines Fabel La cigale et la fourmi aus dem 17. Jahrhundert heran. Das durch Intertextualität und Autoreferentialität gekennzeichnete Drama zeigt einen Ausschnitt aus der Vita des Schauspielers Frédérick Lemaître (1800-1876), der im 19. Jahrhundert zu den monstres sacrés der Pariser Bühnen zählte und besonders in Rollen des drame romantique und des mélodrame brillierte. Das Stück ist in fünfzehn Tableaus und zwei Teile untergliedert und spielt um 1832 im Pariser Theater Folies Dramatiques, einem der Boulevardtheater des Boulevard du Temple, genannt Boulevard du Crime. 293 In einer Rückblende erscheint zu Beginn Frédérick Lemaître als zehnjähriger Sohn einer Wäscherin, der das Theater betritt und davon fasziniert ist. Danach wird der Zuschauer in das Jahr 1832 versetzt: Der Theaterdirektor Harel führt mit dem noch unbekannten Autor Cussonnet Verhandlungen über die Aufführung von dessen erstem Drama L’auberge des adrets. Cussonnet soll den Wünschen des Hauptdarstellers Frédérick Lemaître entsprechen, der nicht schon in der ersten Szene auftreten will. Harel verlangt, das junge Talent solle sich zur Ausarbeitung seines Dramentexts einen Carcassier 294 suchen und die Kosten der Inszenierung aufgrund der schlechten finanziellen Lage des Theaters selbst aufbringen. Bei ihrem Gespräch werden Harel und Cussonnet von Leuten, die den Direktor aufsuchen, und von Frédérick gestört, der wegen Spielschulden und schlechter Kritiken Forderungen an Harel stellt. Bérénice de Rémusat, eine junge Adlige, erkundigt sich nach Lemaître und wird ins Foyer geschickt. Frédéricks augenblickliche Geliebte, die Schauspielerin Précieuse, taucht auf, doch Frédérick ist mit den Gedanken bereits bei der schönen Unbekannten, die er jeden Abend im Publikum beobachtet. Während er sich für die Vorstellung von Vingt ans ou la vie d’un malheureux zurechtmacht, tritt Bérénice in seine Loge. Lemaître hält sie für ein Mädchen, das ihn um Protektion für seine Schauspielkarriere bittet. Als er in ihr die schöne unbekannte Zuschauerin erkennt, verliebt er sich in sie. Das Tête-à-tête wird unterbrochen durch den Hausmeister Pipelet, der seinen bei einem Attentat auf König Louis-Philippe ertappten angeschossenen Sohn Maximilien bei Frédérick verstecken will. Das dritte Tableau zeigt die Aufführung von Vingt ans ou la vie d’un malheureux (F2.1), die Frédérick mithilfe dramaturgischer Änderungen dazu nutzt, Maximilien unbemerkt aus dem Theater zu bringen. Der Herzog von York kommt zu 293 Thomasseau in Corvin 1995: 127. „Boulevard du crime. Surnom donné vers 1825 au boulevard du Temple où chaque soir les théâtres populaires montraient dans de sombres mélodrames les nombreux crimes perpétrés contre la vertu.“ 294 Corvin 1995: 158. „Carcassier/ Charpentier. Le terme, apparu vers le milieu du XIX e siècle, désigne un auteur dramatique habile, seul ou ‚en société’, à confectionner la charpente d’une pièce, à combiner les scènes entre elles, puis à les ‚ficeler’ pour faire jouer au mieux les effets dramatiques.“ 171 Frédérick, um ihm mitzuteilen, er gedenke eine Französin zu heiraten, die seinen Antrag aber bisher nicht angenommen habe und verschwunden sei. Der Innenminister, Baron de Rémusat, und Pillement, der Inspecteur du Théâtre der Regierung, erkundigen sich bei Frédérick nach dem Attentäter. Pillement hat ein Stück verfasst, das Frédérick an der Comédie Française spielen soll. Da der Schauspieler sich weigert und Pillements Werk sowie die Comédie Française als reaktionär darstellt, droht Pillement ihm mit der Zensur. Bérénice macht Frédérick Komplimente über sein Spiel und erhält von ihm die Zusage für ihre Ausbildung zur Komödiantin. Am Tag darauf erfährt die Truppe, Pillement habe für sämtliche Stücke außer L’Auberge des adrets ein Aufführungsverbot 295 erteilt. Frédérick, der von der Qualität dieses Stücks nicht überzeugt ist, probt mit Bérénice die Szene aus Racines Bérénice (F2.2), in der Titus und Bérénice aus politischen Gründen auf ihre Liebe verzichten. Beide können ihre Gefühle dabei kaum verbergen, so gesteht Bérénice Frédérick ihre Liebe. Die Probe von L’Auberge des adrets (F2.3) beginnt mit Streitigkeiten um die Rollenverteilung zwischen der ersten Schauspielerin, Mademoiselle George, und der zweiten Schauspielerin Précieuse. Der Inspizient Antoine und Frédérick rufen alle zur Ordnung und die Schauspieler proben Szenen aus L’Auberge des adrets. Frédérick stört den Ablauf mit Bemerkungen über den schlechten Text. Kurz vor der Premiere erklärt er Bérénice, er glaube nicht an einen Erfolg und habe einen Plan. Im achten Tableau verfolgen Harel und Cussonnet, der Claqueure im Publikum verteilt hat, die Premiere von L’Auberge des adrets und sehen zu, wie Frédérick in der Rolle des Robert Macaire Text und Bühnenbild verändert. Das Stück wird ein Publikumserfolg, sodass Harel und Cussonnet in die Begeisterung einstimmen und sich von Lamartine, Vigny, Dumas und Victor Hugo beglückwünschen lassen. Bérénice erklärt Frédérick, sie sei aus Liebe zu ihm vor der Ehe geflohen. Frédérick warnt sie vor seiner Unbeständigkeit, aber sie lässt sich nicht beirren. Unterdessen entdeckt Harel ihre wahre Identität: Sie ist die Tochter des Innenministers, auf der Flucht vor dem Herzog von York. Der zweite Teil von Schmitts adaptivem Metadrama beginnt mit dem Applaus nach einer weiteren Aufführung von L’Auberge des adrets, bei dem sich Mlle George und Frédérick die Anzahl der Vorhänge streitig machen. Frédérick und Bérénice sind nun ein Paar. Cussonnet hat für Frédérick eine Fortsetzung von L’Auberge des adrets mit dem Titel Robert Macaire geschrieben. Baron de Rémusat stattet Lemaître einen Besuch ab und bittet ihn, die 295 Die Zensur basierte zwischen 1806 und 1835 auf Artikel 4 eines Dekrets aus dem Jahre 1806: „Aucune pièce ne pourrait être jouée sans l’autorisation du ministère de la Police générale.” Vgl. Corvin 1995: 164, Stichwort Censure au théâtre. Nach dem Attentat auf König Louis-Philippe am 28.07.1835 am Boulevard du Temple, das Schmitt hier in das Jahr 1832 verlegt, wurde die Zensur, die 1830 aufgehoben worden war, wieder eingeführt. Vgl. Baldick 1961: 164-165. 172 Liaison mit seiner Tochter Bérénice zu beenden. Frédérick kündigt darauf seine Heirat mit Bérénice an, doch der Baron bringt ihn mit der Frage, wie lange seine Liebesbeziehungen dauern, in Verlegenheit. Aus der Zeitung erfährt Bérénice, dass Frédérick sie heiraten will. Sie lehnt ab, denn er soll sich täglich neu für diese Liebe entscheiden. Am Abend der Premiere von Robert Macaire wird die Aufführung von der Zensur verboten. Stattdessen wird Antony (F2.4) von Alexandre Dumas Père gegeben mit Frédérick als Antony und Précieuse in der Rolle der Adèle. Harel und Frédérick prophezeien Cussonnet als von der Zensur verfolgtem Autor noch größeren Erfolg. Vor der Aufführung bestellt Frédérick den Herzog von York, klärt ihn über Bérénices Verbleiben auf und bittet ihn, sich ihrer nach der Vorstellung anzunehmen und sie zu heiraten. Ehe der Vorhang sich hebt, verabschiedet er sich von der ahnungslosen Bérénice mit einem letzten Kuss. Nach dem letzten Akt aus Antony richtet Frédérick eine Ansprache an sein Publikum, die auch Bérénice, Harel und Cussonnet verfolgen. Darin charakterisiert er den Schauspieler allgemein als unbeständig und kündigt seine Hochzeit mit Précieuse an. Zehn Jahre später liegt Frédérick sterbenskrank in seiner Mansarde. Pipelet berichtet ihm von der Schließung der meisten Theater am Boulevard du Temple. Sein Sohn Robespierre rezitiert La cigale et la fourmi (F2.5). Frédérick fragt nach Bérénice, die inzwischen mit dem Herzog von York verheiratet ist. Leise tritt sie ein und erneut fallen sie und Frédérick sich in die Arme. Als Bérénice erkennt, dass Frédérick Lemaître im Sterben liegt, bringt sie ihn ins Theater zurück, wo er Harel und Mademoiselle George wiedertrifft und auf der Bühne stirbt. Frédérick ou le Boulevard du crime ist ein Amalgam aus historischen Fakten und frei Erfundenem, es treten daher sowohl historische als auch fiktive Figuren auf. Zu den historischen Persönlichkeiten der Pariser Theaterszene des 19. Jahrhunderts gehören neben Frédérick Lemaître die bekannte Schauspielerin Mademoiselle George 296 , die Schmitt als „comédienne vedette“ einführt, und der spätere Direktor des 1831 eröffneten Théâtre des Folies-Dramatiques, Tom Harel. 297 In der Originalbesetzung der Aufführung von L’Auberge des adrets am Théâtre de la Porte-Saint-Mar- 296 Mlle George (eigentlich Marguerite Joséphine Weimer, 1787-1867) spielte u.a. im Ausland (London, Brüssel, Russland), an der Comédie-Française, am Odéon und am Théâtre de la Porte-Saint-Martin, nicht aber am Théâtre des Folies-Dramatiques. www.theatre-odeon.fr/ fr/ documentation/ ressources/ biographies/ accueil-p- 464.htm, 25.09.2009. 297 Tom Harel, der Sohn von Mlle Georges cadette, wurde von Charles-Jean Harel adoptiert. Der von Schmitt porträtierte Harel ist vermutlich Charles-Jean Harel, mit dem Frédérick Lemaître tatsächlich etliche Auseinandersetzungen hatte. Vgl. Baldick 1961: 141-142. Charles-Jean Harel leitete zunächst das Théâtre de l’Odéon, dann das Théâtre de la Porte-Saint-Martin, jedoch nicht wie im Stück das Théâtre des Folies- Dramatiques. 173 tin (1832) wird allerdings für die Figur der Marie eine häufig mit der berühmten Mademoiselle George verwechselte Schauspielerin namens Mademoiselle Georges cadette aufgeführt. Ein reales Vorbild gibt es auch für die Figur des Firmin, den Lemaître in seinen Erinnerungen erwähnt. Frédérick Lemaître spielte den Banditen Robert Macaire in L’Auberge des adrets erstmals 1823 am Théâtre de l’Ambigu-Comique, dann in einer Wiederaufnahme 1832 am Théâtre de la Porte-Saint-Martin (unter der Leitung des Theaterdirektors Charles-Jean Harel) und nicht - wie Schmitt angibt - 1832 in einer Uraufführung am Théâtre des Folies-Dramatiques. Die Autoren des Dreiakters L’auberge des adrets heißen Benjamin Antier, Saint-Amant (Pseudonym von Armand Lacoste) und Paulyanthe (Pseudonym von Alexandre Chapponier), während Schmitt dieses drame der fiktiven Autorenfigur Simon Cussonnet zuschreibt. Die in Frédérick ou le Boulevard du crime erwähnte Fortsetzung von L’Auberge des adrets, das Stück Robert Macaire 298 , wurde 1834 am Théâtre des Folies-Dramatiques mit Lemaître in der Titelrolle aufgeführt. Historisch belegt ist auch, dass Frédérick Lemaître - wie Schmitt es schildert während der Erstaufführung von L’Auberge des adrets das Stück durch selbst vorgenommene Änderungen in die Parodie eines Melodramas transformierte. 299 Hinsichtlich der Lebensdaten Frédérick Lemaîtres nimmt Éric-Emmanuel Schmitt sich wiederum seine künstlerische Freiheit, denn der Schauspieler starb in Wirklichkeit nicht zehn Jahre nach den Aufführungen von Robert Macaire (1834) und Antony (1831), d.h. um 1840, sondern erst 1876. L’Auberge des adrets handelt von den aus dem Lyoner Gefängnis entflohenen Banditen Robert Macaire und Bertrand, die sich in dem Gasthof L’auberge des adrets unter Decknamen einmieten, um vor den Gendarmen zu fliehen. In dem Gasthof wird die Hochzeit von Clémentine, Tochter des vermögenden Germeuil, mit dem Adoptivsohn Charles des Gastwirts Dumont vorbereitet. Auch die verarmte Marie, die sich bald als Charles Mutter herausstellt, erhält Unterkunft in der Auberge. Als Germeuil ausgeraubt, blutüberströmt und beinahe tot in seinem Zimmer aufgefunden wird, fällt der Verdacht zuerst auf Marie, die in Robert Macaire Charles Vater wiedererkannt hat. Aber schon bald werden die beiden Banditen als die wahren Täter entlarvt. Charles, der inzwischen von der Identität seines wirklichen Vaters erfahren hat, hilft ihm zu fliehen, doch Bertrand, der sich verraten fühlt, vereitelt den Plan und erschießt Robert Macaire auf der Flucht. 298 Dieses Stück verfasste F. Lemaître gemeinsam mit Antier und Saint-Amand, nicht wie in Frédérick ou le Boulevard du crime mit dem fiktiven Autor Cussonnet. 299 In den Souvenirs de Frédérick Lemaître publiés par son fils (1880) erwähnt Lemaître dieses „mélodrame sinistre transformé en une bouffonnerie” (83), erzählt, wie er Firmin einweiht, und schreibt: „Mais il fallait bien se garder de songer à proposer cette transformation aux auteurs convaincus d’avoir fait un nouveau Cid.“ (84). 174 Die Theaterprobe dieses Melodramas ist in das fünfte Tableau eingebettet, die Premiere findet im achten Tableau statt. Im zehnten Tableau wird lediglich der anhaltende Applaus nach einer weiteren Aufführung von L’Auberge des adrets gezeigt. Bei der Theaterprobe entsteht keine durchgehende zweite Fiktionsebene (F2.3), denn Frédérick kritisiert zwischen den einzelnen Repliken immer wieder ironisch die „prose puissante“ (FL, 125) Cussonnets, den er als „le Rothschild de l’adjectif“ (FL, 123) verspottet. Die geprobte Szene, in der Dumont (gespielt von La Cressonnière) Marie (Mademoiselle George) verhört und erzählt, wie er den mit Messerstichen verwundeten Germeuil entdeckt hat, lehnt sich inhaltlich an die Szenen II,12 und III,7 aus L’Auberge des adrets an. Die Zitate der Theateraufführung entstammen - leicht variiert - den Szenen II, 14 und II,15 des Prätextes, in denen Marie und Robert Macaire (alias Rémond) von dem Gendarmen Roger (hier gespielt von Parisot) verhört werden und sich als Eltern von Charles Dumont (gespielt von Dugy) entpuppen. Die Aufführung wird nur durch die Ausrufe des ob der Textänderungen verwunderten Bühnenzuschauers Cussonnet unterbrochen. Wie im Originaltext gibt es eine Art Chor („Tous“), der einzelne Bemerkungen wiederholt, und Gesänge (Chants), die teils Frédérick, teils die Truppe mit dem fiktiven Publikum intoniert. Schmitt bemüht sich, das Ambiente der damaligen Erstaufführung, in der Frédérick Lemaître mit seiner originellen Parodie eines mélodrame das Publikum faszinierte und seinen Ruhm in der Rolle des Robert Macaire begründete, genau wiederzugeben. In den Regieanweisungen beschreibt er zudem realistisch die beeindruckende Theatermaschinerie (Windmaschine, Schneemaschine etc.), die den Theatern im 19. Jahrhundert für die Inszenierung der drames zur Verfügung stand. Die theatergeschichtliche Bedeutung des Melodramas L’auberge des adrets und seiner Fortsetzung Robert Macaire, die einen innovativen Einfluss auf die Weiterentwicklung des Genres hatten, hat Jean-Marie Thomasseau hervorgehoben: Après ce coup d’éclat qui était un coup de semonce pour le mélodrame classique, l’on assiste, dans le genre, à une inversion des valeurs et à l’introduction de nouveaux éléments dans la thématique et la typologie. Les asociaux, les marginaux, les bandits, qui, au dernier acte des mélodrames traditionnels, étaient rejetés du cercle des bienheureux, deviennent des héros. Le mélodrame de la rigueur et des conventions bourgeoises se charge, peu à peu, d’outrance et de démesure. 300 Auf intermediale Bezüge zu Jacques Préverts und Marcel Carnés Film Les Enfants du paradis (1945), der um 1835 im Pariser Theatermilieu des Boulevard du Crime spielt und in einer Sequenz ebenfalls die Aufführung von L’Auberge des adrets mit Frédérick Lemaître als Robert Macaire zeigt, hat 300 Thomasseau 1984: 52-53. 175 Yvonne Ying Hsieh 301 hingewiesen. Die verschiedenen Perspektiven, aus denen die Theateraufführung bei Schmitt in den Fokus genommen wird (von der Bühne ins Publikum/ vom Publikum aus auf die Bühne), führt sie u.a. auf die Technik des Hin- und Herblendens im Film zurück. Das dreizehnte Tableau von Frédérick ou le Boulevard du crime beinhaltet die Theateraufführung des letzten Akts von Alexandre Dumas Pères Antony. 302 Die meist wörtlichen Zitate der ohne Unterbrechung präsentierten Fiktionsebene (F2.4) entstammen, teilweise leicht gekürzt, den Szenen V,2, V,3 und V,4 dieses drame romantique, in der die mit einem Colonel verheiratete Adèle (Précieuse) sich, um ihre Reputation zu retten, von ihrem nicht standesgemäßen Geliebten Antony (Frédérick) erstechen lässt und in dessen Armen stirbt. Diese Szene präfiguriert in überspitzter Form den Schluss der Rahmenhandlung, in der Frédérick in Bérénices Armen liegend den Tod findet. Als enthüllende und vorausdeutende mise en abyme in Bezug auf F1 wirken auch die Szene aus Racines Bérénice (F2.2), die die spätere Trennung von Frédérick und Bérénice ankündigt, und die mehrfach rezitierte Fabel La cigale et la fourmi (F2.5), in der die musizierende Grille als künstlerisches Pendant zu dem leichtlebigen, stets verschuldeten Schauspieler Frédérick erscheint. Das zuerst aufgeführte Melodrama Vingt ans ou la vie d’un malheureux (F2.1), dessen Titel an andere Melodramen des 19. Jahrhunderts wie z. B. Trente ans ou la vie d’un joueur erinnert, scheint ein fiktiver Theatertext zu sein, den Éric-Emmanuel Schmitt auf die Ereignisse in F1 (Maximiliens Attentat auf König Louis-Philippe) zugeschnitten hat, denn der von der Polizei gesuchte, verwundete Maximilien ist zwanzig Jahre alt und kann nur dank Frédéricks Manipulation dieser Theateraufführung fliehen. Weitere intertextuelle Bezüge zu Aschenbrödel, La dame aux camélias und Kean hat Yvonne Ying Hsieh festgestellt: Frédérick reicht Bérénice einen Schuh, an dem sie ihn wiedererkennen soll (FL, 100); ähnlich der Kameliendame lässt er sich vom Vater seiner Geliebten überzeugen, seine Liebe zu 301 Hsieh 2006: 64-65. „Dans Frédérick ou le Boulevard du crime comme dans Les Enfants du paradis, on s’amuse de l’espièglerie et de l’irrévérence de Frédérick, de la consternation des auteurs qui voient leur texte radicalement changé, du désarroi de certains comédiens qui n’étaient pas au courant des intentions de Frédérick, et du mélange de l’espace scénique et de l’espace réel pendant la représentation (Frédérick dans le rôle de Robert Macaire s’adresse au public et quitte la scène pour s’installer dans une loge dans la salle).” 302 Die ursprünglich für das Théâtre Français geplante Uraufführung von Antony (1831) am Théâtre de la Porte Saint-Martin verlieh dem Boulevardtheater eine neue Bedeutung. Descotes 1955: 202: „En quittant la rue de Richelieu, les romantiques optaient bien pour le boulevard.“ Die Titelrolle spielte Pierre Bocage, Frédérick Lemaître war allerdings auch dafür im Gespräch. 176 opfern; gleich Kean 303 liebt er eine für ihn unerreichbare Aristokratin, heiratet schließlich eine Schauspielerin und reflektiert über Schein und Sein. 304 In seiner Ansprache an Bérénice und das Publikum nach der Aufführung von Antony kommt Frédéricks Reflexion über die Unbeständigkeit und die Inauthentizität des vom Publikum und vom Erfolg abhängigen Schauspielers, welche an Sartre/ Dumas’ Kean erinnert, deutlich zum Ausdruck: Frédérick. On prête les pires défauts aux comédiens. On nous dit fourbes, hypocrites, menteurs, intéressés, avares, flatteurs, cruels, on nous attribue autant de vices que de feuilles à une frisée. Je voudrais rétablir la vérité: on a raison! Nous ne sommes pas des hommes mais des pantins, des simulacres d’hommes. […] Si l’on nous dit ‘je t’aime’, nous préparons notre prochaine réplique. […] C’est que ce n’est pas sûr d’exister, un comédien, c’est un bipède frappé d’une sorte d’infirmité originelle: l’inconsistance. […] Est-ce que j’existe? Pour m’en assurer, il faut qu’on m’applaudisse. On m’acclame, donc je suis. (FL, 216-217). Kean, Frédérick Lemaître und Robert Macaire verkörpern aber zugleich auch den Typ des romantischen Helden, des Außenseiters, der gegen die soziale Ordnung rebelliert. Frédérick ou le Boulevard du crime ist nicht nur eine pièce biographique und eine Hommage an eine mythische Schauspielerpersönlichkeit, es ist zugleich ein Drama über die Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Rahmenhandlung F1, die die Liebesgeschichte von Frédérick und Bérénice wiedergibt und als Metaebene zu den Theatereinlagen dient, beinhaltet zudem zahlreiche Informationen über die Theatersituation um 1830: Das Panorama der Theaterszene, das dabei entsteht, zeigt den Erfolg des mélodrame und des drame romantique, die finanziellen Verhandlungen zwischen Theaterdirektoren, Autoren und Schauspielern, die Rivalität der monstres sacrés, die damalige Theatertechnik, die Rolle der Kritiker, die Bedeutung der Claque, die Zensur und besonders die Konkurrenz zwischen den offiziellen Theatern wie der Comédie Française und den Boulevardtheatern. 305 Wie seine Figur Frédérick, die das Boulevardtheater gegenüber Pillement mit den Worten „Le boulevard est le fils de la Révolution.“ (FL, 88) verteidigt, sieht Éric-Emmanuel Schmitt im Boulevardtheater den Ursprung des „théâtre populaire“, dessen Geschichte - verbunden mit der des „premier acteur populaire“er mit seinem „mélodrame“ Frédérick ou le Boulevard du crime erzählen möchte: Cela me permettait de raconter aussi l’invention du théâtre populaire, sur le boulevard du crime, un théâtre qui s’adressait, comme le cinéma aujourd’hui, à toutes les couches de la population, qui incarnait les espoirs du peuple, un 303 Alexandre Dumas Père schrieb das Stück Kean ou désordre ou génie für Frédérick Lemaître, der in der Uraufführung die Titelrolle übernahm. Vgl. Baldick 1961: 182. 304 Vgl. Hsieh 2006: 59 und 62. 305 Vgl. Hsieh 2006: 58. 177 théâtre politique né de la révolution, porté par elle, porteur d’elle, un théâtre qui voulait divertir toujours, provoquer souvent, faire réfléchir parfois, mais qui ne voulait surtout pas ennuyer comme celui d’aujourd’hui, ni éduquer didactiquement des masses supposées incultes qui d’ailleurs pour se venger du mépris que leur adressent nos intellectuels théâtreux, finissent par laisser leurs fauteuils vides. 306 5.4.4 Funktionen des adaptiven Metatheaters Die in diesem Kapitel analysierten adaptiven Metadramen zeigen, wie Literatur durch Intertextualität literarische Prätexte zum Leben erweckt und für die Nachwelt erhält. Le Défi de Molière, La Répétition ou l’amour puni und Frédérick ou le Boulevard du crime sind ein Stück dramatisierte Theatergeschichte und damit Elemente der Erinnerungskultur des Theaters, denn durch ihre Intertheatralität erinnern sie an Theaterstücke vergangener Epochen, deren Autoren, Produktions- und Rezeptionsbedingungen und deren Ästhetik. Theater wird in diesen Metadramen zum Archiv für Dramentexte aus verschiedenen Jahrhunderten, auf das schubladenartig zugegriffen wird. Entnommen werden Zitate und Zitatfragmente der dramatischen Prätexte aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert, die in die neue Dramenfiktion montiert und dabei zum Teil adaptiert und transformiert werden, um ihnen eine aktualisierte Bedeutung zu verleihen. Die neue Dramenfiktion (F1) wirkt als kommentierende Metaebene zu dem jeweiligen eingelagerten Theater-Prätext, denn sie liefert meist Informationen zur Entstehungs-, Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte sowie zur Interpretation des Prätextes. Strukturell erscheinen die dramatischen Vorgängertexte in Auszügen als Theaterprobe oder als Theateraufführung, welche auch die Resonanz des Stücks bei einem fiktiven Publikum wiedergeben kann. Wie im fiktionalen Metadrama werden in Le Défi de Molière, La Répétition ou l’amour puni und Frédérick ou le Boulevard du crime verschiedene Regiekonzepte vorgeführt: Molière ist in Personalunion Regisseur, Autor, Truppenleiter und Schauspieler und gleicht darin den heutigen Regisseuren, die sich als homme de théâtre verstehen und wie er mit Formen der Improvisation experimentieren. Graf Tigre, der mit einer Amateurtheatertruppe arbeitet, ist ein Vertreter des alten, autoritären Regiestils. Der Schauspieler Frédérick Lemaître führt als Protagonist in seinen Stücken selbst Regie und nimmt sogar noch während der Aufführung eigenmächtig Änderungen vor. 306 www.eric-emmanuel-schmitt.com/ print_work.php? oeit_id=18&section_id=2&o, 30.09.09, Éric-Emmanuel Schmitt am 25.02.2000 in Zermatt, „Frédérick ou le Boulevard du Crime - Commentaires“. 178 Das Metatheater fungiert in diesen adaptiven Metadramen, die auf die dramatischen Gattungen der Komödie, der Tragödie, des mélodrame und des drame romantique verweisen, auch als Speicher und als Gattungsgedächtnis für einen initiierten Zuschauer/ Leser, der mit dem Autor - sei es Philippe Adrien, Jean Anouilh oder Éric-Emmanuel Schmitt - das Wissen um diese Gattungskonventionen teilt und die ausgewählten Prätexte kennt. In Philippe Adriens dramatisierter Molière-Biographie Le Défi de Molière wird das Theater des 17. Jahrhunderts am Beispiel der Komödien Molières vor allem in seinem gesellschaftlichen Entstehungskontext gezeigt. Molière wird als Theatermacher dargestellt, der sich mit seinen Theaterstücken und seiner Theatertruppe einen Platz im literarischen Feld der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts erobern muss, die geprägt war von der Herrschaft und dem Mäzenatentum des Sonnenkönigs. Jean Anouilh weist Marivaux’ Komödie La double inconstance in seinem im 20. Jahrhundert spielenden Drama La répétition ou l’amour puni die Funktion eines divertissement für die Aristokratie zu und knüpft damit an die Tradition des théâtre de société in der Salonkultur des 18. Jahrhunderts an, nach der Adlige ihre Gäste auf ihrem Schloss mit einer Theateraufführung im Salon unterhielten. Éric-Emmanuel Schmitt greift in seiner Schauspielerbiographie Frédérick ou le Boulevard du crime auf die im 19. Jahrhundert an den Theatern des Boulevard du Crime gespielten mélodrames und drames zurück, um Frédérick Lemaître, eine herausragende Schauspielerpersönlichkeit der damaligen Zeit, bei der Arbeit zu porträtieren und die Geschichte der Entstehung eines volksnahen théâtre populaire an den Boulevardtheatern zu erzählen. In allen drei adaptiven Metadramen ist die nostalgische Bewunderung der Autoren für die vergangenen Theaterepochen zu spüren, deren Ambiente sie wiederaufleben lassen wollen. Philippe Adrien schreibt mit seiner dramatisierten Künstlerbiographie am „Mythos Molière“ weiter, indem er Molière als Vorbild für die Theaterschaffenden von heute darstellt. Jean Anouilh ahmt mit seinem Drama Marivaux’ Theater nach: Seine Figuren tragen Züge der Marivaux‘schen Figuren aus La double inconstance, beherrschen die gleichen Techniken der feinte und der psychologischen Maske, empfinden wie sie ihr Leben als theatralisiert und passen sich in ihrer Diktion dem marivaudage der Komödien Marivaux’ an. Éric-Emmanuel Schmitt trägt mit seinem Künstlerdrama zur Fortsetzung des Mythos vom legendären monstre sacré Frédérick Lemaître bei, in dem er einen Volksschauspieler sieht, der für ihn wie kein anderer den Erfolg des von der Revolution getragenen Boulevardtheaters im 19. Jahrhundert verkörpert. So errichtet ein jeder dieser Autoren mit seinem adaptiven Metadrama den Werken, Autoren beziehungsweise Schauspielern der Theaterepoche, die er durch Inter- 179 theatralität in Szene setzt, ein literarisches Denkmal, das für den Zuschauer zum Memento wird. 5.5 Figurales Metatheater Charakteristisch für das figurale Metatheater ist das Fingieren von Sekundärrollen, das der Figurenkonzeption zugeordnet ist, d.h. die „Rolle in der Rolle“. Es kommt zu einer Doppelung der dramatischen Rolle, dem Rollenspiel. Ausgehend von Erika Fischer-Lichtes Definition der minimalen Theatersituation, A verkörpert X, während S zuschaut 307 , lässt sich die einfachste Form des Rollenspiels mit folgender Formel beschreiben: A spielt X { X spielt Y, während X 2 zuschaut } während S zuschaut (A= realer Schauspieler; X= Rolle/ dramatis persona; Y = Rolle in der Rolle/ Sekundärrolle; X 2 = Bühnenzuschauer des Rollenspiels; S= realer Zuschauer). 5.5.1 Das Rollenspiel als Psychodrama Das figurale Metadrama Âmes sœurs (1992) des Autors, Regisseurs und Schauspielers Enzo Cormann zeichnet in vier Sequenzen die Chronologie einer Liebesbeziehung im Theatermilieu nach. Der bekannte Theaterregisseur Robert Ashland, genannt Ash, und die erfolglose Schauspielerin Margot begegnen sich eines Abends in einer Bar. Ash hat aufgehört, als Regisseur zu arbeiten, Margot hat als Schauspielerin auf der Bühne versagt. Sie erzählen einander von ihrer Einsamkeit, ihren Ängsten und dem „ennui“, den sie empfinden, und verbringen die Nacht miteinander. Einen Monat später sitzen sie in Margots Wohnung beim Frühstück. Ash behauptet, er sei niemals glücklich, Margot bezeichnet dies als Neurose. Sie erklären einander ihre Liebe und halten sich für verschwisterte Seelen (âmes sœurs). Mit Rollenspielen versuchen sie ihre Liebe zu erhalten. Margot erkundigt sich nach dem Ritual, dem sich Ash bei seiner Domina unterwirft, und mimt darauf eine Mutter, die Ash in der Rolle der Tochter Befehle erteilt. Schnell bricht Margot dieses Spiel ab und schlägt ein neues vor, in dem Ash sie wie eine Fremde, die er zufällig trifft, behandeln soll. Ash spricht sie nun auf Italienisch mit dem Namen „Bellina“ an, Margot antwortet in englischer Sprache. Auf Französisch geben sie sich Regieanweisungen und rezitieren die Repliken dreier imaginierter junger Männer, die das am offenen Fenster in Szene gesetzte, an Vergewaltigung grenzende Liebesspiel der beiden von der Straße aus kommentieren. 307 Vgl. Fischer-Lichte 1988: 16. 180 Ein Jahr später steht Margot in einem von Ash verfassten und inszenierten Theaterstück auf der Bühne, für das sich ein englischer Produzent interessiert. Nach der Aufführung diskutieren Ash und Margot in Margots Loge. Margot hasst das Stück, den Text und ihr Kostüm. Sie beschwert sich über Ashs Ehrgeiz und ihre Rolle, die sie umbringe. Ash verlangt von ihr, ihm das zu liefern, was ihrem Gehaltszettel entspreche. Margot hat das Gefühl, von Ash abhängig zu sein und droht damit, sich krank zu melden. Sie stellen fest, dass die Liebe eine Fiktion ist und sie sich gegenseitig eine Rolle vorspielen. Ash erinnert Margot daran, dass alles zwischen ihnen anfangs nur Spiel war, und beginnt mit ihr die Szene ihrer ersten Begegnung in der Bar nachzuspielen. Dabei tauschen sie zunächst die Rollen: Ash spielt Margot, Margot verkörpert Ash. Nach kurzer Unterbrechung kehren sie zu ihrem ursprünglichen Part zurück und erweitern die nachgestellte Szene um Margots Frage nach Ashs Bereitschaft, seine Frau zu verlassen. Im Rollenspiel willigt Ash ein, in der Bühnenrealität erklärt er jedoch, er lebe von seiner Frau getrennt in einem Hotel, könne sie aber wegen ihres kürzlichen Selbstmordversuchs nicht verlassen. In Erinnerung an ihre erste gemeinsame Nacht schließen sie das Rollenspiel ab, dann fragt sich Margot, ob sie jemals in Ash verliebt war. Sieben Jahre danach befinden sich Ash und Margot wieder in der Bar, in der sie sich kennengelernt haben. Margot hat einen Theaterpreis erhalten, dreht gerade einen Film und ist sehr erfolgreich. Ash hat einen Roman geschrieben, den er weggeworfen hat. Als Margot ihm das Drehbuch ihrer ersten Filmrolle gezeigt hat, hat er aufgehört zu schreiben. In einem Rollenspiel mit erneutem Rollentausch rekonstruieren sie den über Margots erste Filmrolle geführten Dialog. Anschließend teilt Ash Margot mit, er habe eine Stelle als Dozent an der internationalen Theaterakademie in Baxhma angenommen. Margot eröffnet ihm, sie sei von ihm schwanger und habe ihre weiteren Verträge annulliert. Ash sieht in ihrer Beziehung keinen Platz für ein Kind. Er schlägt Margot vor, gemeinsam zu verreisen. Doch Margot möchte auf das Kind nicht verzichten und verlässt Ash. Der Titel dieses Dramas, Âmes sœurs, verweist ebenso wie einige Textstellen 308 in der zweiten Sequenz intertextuell auf die Rede des Aristophanes in Platons Symposion, in der Aristophanes den Mythos von den Kugelmenschen erzählt. Diese kugelförmigen Wesen, die ursprünglich vier Arme, vier Beine und einen Kopf mit zwei Gesichtern gehabt hätten und rein männlich, rein weiblich oder androgyn gewesen seien, habe Zeus aus Furcht vor deren Stärke in zwei Teile zerschnitten. Seither, so Aristopha- 308 U.a. folgende Textstellen beziehen sich auf Platons Symposion: Ash: [...] Te rappelles-tu l’époque où tu étais ma sœur? (AS, 125). Margot: [...] Deux font un. Consubstantiels. Nés avec ventre mains jambes bouche et yeux consanguins - âmes sœurs. Le reste n’a poussé que plus tard. (AS, 126). 181 nes, seien diese getrennten Schwesterseelen beständig auf der Suche nach ihrer fehlenden anderen Hälfte. Ash und Margot halten sich zu Beginn für Schwesterseelen, die sich gefunden haben, und glauben an die Illusion einer möglichen Verschmelzung. Doch schon bald erkennen sie, dass ihre Liebe einem schleichenden Erosionsprozess unterliegt. Um dem entgegenzuwirken, flüchten sie sich in fingierte Rollen, die den Reiz des Neuen und des Einander-Fremdseins in ihrer Beziehung bewahren sollen. Es handelt sich dabei um soziologische Rollenspiele 309 , in denen die beiden Protagonisten im Laufe der Dramenhandlung andere soziale Rollen (z.B. Mutter, Kind, Frau, Mann) und Nationalitäten (Amerikanerin, Italiener) erproben. Auf den Zusammenhang zwischen Spiel und Erotik hat Johan Huizinga in seiner Untersuchung über den homo ludens hingewiesen und festgestellt, die Vorbereitung oder die Einleitung zum Paarungsakt, „der Weg zu ihm, [sei] öfters mit allerlei Spielmomenten durchsetzt.“ 310 Margot bereitet das erste Rollenspiel mit Fragen nach den sexuellen Ritualen, denen sich Ash bei seiner „maîtresse“ unterzieht, vor. Als sie erfährt, dass Ash sich dabei den Züchtigungen seiner Domina unterwirft, wählt sie ein Mutter-Kind-Spiel, in dem sie die Rolle der strengen Mutter übernimmt und Ash den Part der unterwürfigen Tochter zuweist. Ash identifiziert sie mit seiner „maîtresse“ und lässt sich bereitwillig auf Margots Spiel ein, in dem er durch Verkleidung das Geschlecht wechseln und sich wie in den Sexritualen unterordnen soll: Margot: - Commençons. Tu n’es certainement pas mon frère. A preuve ces deux couettes qui te pendouillent du crâne. Aussi je te demande qui tu es. Ash: - Je vous appartiens, maîtresse. Margot: - Baisse les yeux. Si tu m’appartiens, je suis ta mère. Si tu enfiles cette robe, tu es ma fille. Si tu es ma fille, tu dis: « Ce n’est pas de ma faute Notre Père qui êtes au Cieux je n’ai pas sommeil s’il vous plaît maman ». J’attends. Ash: - Je suis votre fille, maîtresse. S’il vous plaît, maman. (AS, 129-130). Margot ist in dieser Fiktion zugleich Autor, Akteur, Regisseur und Bühnenzuschauer. Sie erteilt die Anweisungen und gibt den Text und die Handlung vor, nach der Ash ein junges Mädchen spielen soll, für das sie als Mutter einen Ehemann suchen will. Erst als Ash den Text korrigierend darauf besteht, ein kleines Mädchen zu sein, und damit in ihre Regie eingreift, setzt sie dem Rollenspiel mit der Bemerkung „Arrêtons ça. Je me 309 Brüster 1993: 30. „Soziologisches Rollenspiel [...] liegt dann vor, wenn ein innerdramatischer Rollenwechsel stattfindet oder wenn Figuren nur noch durch ihre determinierte Rolle charakterisiert sind.“ 310 Huizinga 1987: 54. 182 sens devenir folle furieuse avec tes histoires.“ (AS, 130) unvermittelt ein Ende. Anlass für das zweite Rollenspiel ist Ashs desillusionierende Analyse ihrer Liebe: Ash: - [...] Une peau touchée n’est plus jamais étrangère. Dès lors l’amour se décompose. Nos baisers ont acquis une raideur toute cadavérique. […]. (AS, 131). Aus Angst, ihre Liebe könnte ein Opfer der Gewöhnung und der zu großen gegenseitigen Vertrautheit werden, bittet Margot dieses Mal Ash, einen Plot zu erfinden und sie nur noch als Fremde zu berühren. Ash situiert die Handlung des Rollenspiels in Rom und schlüpft in die Rolle eines italienischen Latin Lovers. Margot gibt eine amerikanische Touristin, die sich am Bahnhof von ihm ansprechen und in ein Hotelzimmer begleiten lässt, in dem er sie bei offenem Fenster vor den Augen dreier junger Männer, die das Geschehen von der Straße aus voyeuristisch verfolgen, beinahe vergewaltigt. Das ins Ausland verlegte Ambiente, der Wechsel von Identität und Nationalität und die in Italienisch und Englisch geführte Kommunikation erzeugen eine Illusion von Distanz und Fremdheit, die den beiden Protagonisten einen Freiraum gewährt, in dem sie spielerisch ihre Phantasien ausleben und den Beziehungsalltag vergessen können. Die Neigung zum Rollenspiel entspringt nicht nur ihrem Bedürfnis nach Realitätsflucht, sondern auch ihrer schauspielerischen Berufspraxis. Ihre Theatererfahrung verleiht dem Rollenspiel, in dem sie einander auf Französisch Regieanweisungen geben und noch zusätzliche Rollen für die drei virtuellen Bühnenzuschauer ihrer exhibitionistischen Inszenierung texten und übernehmen, Professionalität. Selbst in ihrem Privatleben können sie nicht anders als Theater spielen. Die Theatralisierung ihres Lebens wird Ash und Margot ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung bewusst, als sie in einer Theaterproduktion 311 , in der Margot die Hauptrolle spielt und Ash für Text und Regie verantwortlich zeichnet, zusammenarbeiten. Ash bezeichnet die Liebe als eine Art Fiktion, die keinen Dilettantismus verträgt. Margot glaubt, von Ash nicht mehr in ihrer Identität, sondern nur noch als Rolle wahrgenommen zu werden. Sie beklagt die Inauthentizität ihres Daseins, die sich auch aus dem Theater, das sie zu bestimmten Rollen berufen habe, ergebe: Margot: - La réduction est venue avec l’envie de nommer l’autre, Ash. Quand nous avons cessé d’être un peu tout et rien l’un pour l’autre et que nous avons une bonne fois changé notre identité contre un rôle. Interprète OU directeur, acteur OU auteur. Le théâtre nous a nommés, Ash. Depuis, nous pourrissons chacun dans notre rôle. (AS, 136). 311 Die Theateraufführung wird zu Beginn der dritten Sequenz nur in den Regieanweisungen erwähnt. Es liegt daher kein „Theater im Theater“ im engeren Sinne vor. 183 Margots Selbstbild entspricht hier dem des homo sociologicus, des „Menschen in der entfremdeten Gestalt eines Trägers von Positionen und Spielers von Rollen“ 312 , in denen sie sich gefangen fühlt. Ash interessiert sich nicht für Margots psychische Befindlichkeit, die er als „cuisine interne“ (AS, 137) abtut, sondern verlangt von Margot, die sich einer Depression nahe fühlt und unter der Abhängigkeit von Ash leidet, ihren beruflichen Pflichten als Schauspielerin nachzukommen. Da Margot eine Analyse der Fehler in ihrer Beziehung wünscht, leitet Ash das nächste Rollenspiel ein, in dem sie ähnlich einem Psychodrama in einer Retrospektive ihr erstes Zusammentreffen rekonstruieren. Dabei experimentieren sie zunächst jeweils mit der anderen Geschlechterrolle: Ash spielt Margots Rolle, Margot übernimmt Ashs Part. Der Dialog dieses Rollenspiels mit Rollentausch, das eine thematische mise en abyme des Beginns der ersten Sequenz darstellt, entspricht nicht wortgetreu dem Dialog in der Eröffnungsszene, greift aber die darin enthaltenen wichtigsten Aussagen der beiden Protagonisten auf. Als sie nach einem Kuss in ihre eigentlichen Geschlechterrollen zurückkehren, variieren und erweitern sie im Rollenspiel die Szene, die ursprünglich stattgefunden hat. Dient das Rollenspiel bis dahin der rückblickenden Verarbeitung des Anfangs ihrer Beziehung, so wird es nun zur Projektionsfläche für Ashs und Margots unausgesprochene Wünsche: Ash sichert Margot in dieser Fiktion zu, seine Frau eines Tages zu verlassen, und entwirft das Szenario einer gemeinsamen Zukunft, in der Margot als seine Frau mit ihm alt wird und nach einem Unfall aufgrund einer Lähmung bis zum Tod von seiner Pflege abhängig ist. Margot bricht das Rollenspiel ab mit der Bemerkung „Maudit tricheur.“ (AS, 143) und erfährt nun in der Bühnenrealität, dass Ash sich nicht von seiner Frau, deren Existenz er ihr lange verschwiegen hat, scheiden lassen will. Mehrmals fordert Margot Ash auf, damit aufzuhören, ein falsches Spiel zu spielen („Ne triche pas.“, „Cesse donc de tricher.“AS, 139), doch ihrem Verlangen nach Wahrheit und Authentizität stellt Ash lediglich seine Definition von Wahrheit gegenüber: Ash: - […] La vérité, Margot, n’est qu’une façon de match entre le monde et ton rêve du monde. (AS, 144). Das Theater stellt für ihn die Brücke zwischen der Realität und der Idealwelt dar, die Margot sich erträumt: Ash: - Entre le monde et ton rêve du monde, Margot, il y a le théâtre. […] Tu me reproches de t’avoir réduite à un rôle. Mais, loin d’être une cage, un rôle est une manière de véhicule interstellaire. Une navette qui relie instantanément plusieurs constellations. (AS, 144). 312 Dahrendorf 16 2006: 85. 184 Eine Rolle, d.h. eine fiktive Identität, ist aus seiner Sicht das Vehikel und die Verbindung zwischen diesen beiden Welten. Nach dieser Diskussion verwickelt Margot Ash wieder in ein retrospektives Rollenspiel, in dem sie die Szene nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht nachspielen. Als sie darin seine Frage, wie sie es gefunden habe, lakonisch mit „Passablement.“ beantwortet und er ihr mit „Rien à redire.“ beipflichtet, wirft sie ihm erneut vor, ein falsches Spiel zu treiben (AS, 144- 145). Auch wenn Ash zugibt, in Wirklichkeit damals applaudiert zu haben, betrachtet er seine gespielte Replik nicht als Falsifizierung ihrer gemeinsamen Vergangenheit, sondern als Teil einer Fiktion, in der er sich seinen kreativen Freiraum nimmt: Ash: - Je ne triche pas puisqu’on recommence. (AS, 145). Ashs Geständnis, er habe mit dem Schreiben aufgehört, als Margot ihm das Drehbuch zu ihrer ersten großen Filmrolle zu lesen gegeben habe, wird zum Auslöser für das letzte Rollenspiel, in dem sie sich den an jenem Tag geführten konkfliktgeladenen Dialog in Erinnerung rufen. Der nochmalige Geschlechterrollentausch, der von Margot initiiert wird und das gesamte retrospektive Rollenspiel durchzieht, ermöglicht es ihnen, die Situation nun aus der Perspektive des anderen zu erleben und dessen Argumente zu verbalisieren. Der rekonstruierte Dialog offenbart ihre Differenzen: Während Margot die Filmrolle als Karrierechance ansieht, hat Ash für das Kino und für die Rolle, die man Margot anbietet, nur Verachtung übrig: Ash: - ON M’OFFRE UNE CHANCE INESPÉRÉE, ASH. JE N’AI NULLEMENT L’INTENTION DE LA LAISSER PASSER. Margot: - CE QUE TU APPELLES UNE CHANCE, MARGOT, POUR MOI ÇA N’EST QUE DU VENT: UN RÔLE BIDON DANS UN FILM TOC. (AS, 150-151). Das Rollenspiel dient Ash und Margot zugleich zur Reflexion über die Rolle, die sie in ihrer Partnerschaft spielen. Im siebten 313 Jahr ihrer Beziehung stellen sie fest, dass sie eine entgegengesetzte Entwicklung durchlaufen haben. Aus Margot ist eine emanzipierte, finanziell unabhängige, erfolgreiche Filmschauspielerin geworden; der bekannte Regisseur Robert Ashland hingegen hat einen Abstieg erlebt: Er schreibt und inszeniert nicht mehr, hat finanzielle Probleme und ist allenfalls noch als Dozent an einer Schauspielschule in einer unbekannten Stadt im Ausland gefragt. Die Machtverhältnisse in ihrer Beziehung, mit denen sie auch in ihren Rollenspielen experimentieren, haben sich seit Margots Entscheidung für das Kino umgekehrt. Ashs Reaktion auf Margots Schwangerschaft lässt ihre unterschiedlichen Lebensentwürfe und ihre Entfremdung zutage treten. 313 Die Zahl Sieben verweist einerseits auf das oft als problematisch angesehene siebte Ehejahr, andererseits auf die Theorie der Lebensrhythmen, nach der das Leben eines Menschen in Zyklen von sieben Jahren verläuft. 185 Margots bürgerliche Vorstellungen von Mutterrolle und Familiengründung vertragen sich nicht mit Ashs antibürgerlicher Haltung, seiner Ablehnung der Normalität und seiner Affinität zum Tode. Während Margot das Leben bejaht, sich aus der Welt der Fiktion vorläufig verabschiedet und das Wort „création“ (AS, 154) nicht mehr künstlerisch, sondern biologisch interpretiert, will Ash sich weiter in der Fiktion installieren und das reale Leben verneinen: Ash: - Quand voudrons-nous enfin croire, Margot, que nos fictions sont infiniment plus réelles que la surdose de normalité dont nos semblables engraissent leurs ambitions? (AS, 155). Die Fusion der Schwesterseelen ist gescheitert. In diesem psychologischen Drama, in dem die Figuren ihre Zeit damit verbringen, ihr Inneres zu analysieren 314 und einander zu erklären, trägt das Rollenspiel Züge eines Psychodramas. Es hat eine kathartische beziehungsweise psychohygienische Funktion, denn es gibt Ash und Margot die Gelegenheit, sexuelle Bedürfnisse auszuleben, unausgesprochene Wünsche zu artikulieren, Machtstrukturen in ihrer Beziehung auszuloten und probeweise in die Geschlechterrolle des Partners zu schlüpfen. Die in den retrospektiven Rollenspielen rekonstruierten Dialoge decken unterschwellig vorhandene Konflikte auf und machen sie ihnen bewusst. 315 Theater hat hier eine „therapeutische“ Aufgabe, es ist ein Mittel zur Selbsterkenntnis und zum besseren Verständnis der „cuisine interne“(AS, 137) des Anderen. So beschreibt Enzo Cormann sein Theater selbst als ein „théâtre de l’explication“, das analytischen und diagnostischen Charakter hat und durch das Erklären und Einander-Erklären der Ziele und der Beweggründe der ablaufenden Handlung gekennzeichnet ist: Enfin, l’explication. J’écris en effet pour un théâtre de l’explication. Dans tous les sens du mot. Expliquer, s’expliquer les buts et les motifs de l’action en cours. Méditer à voix haute. Décortiquer, risquer une analyse, un diagnostic, et cetera. Mais aussi dans le sens d’ « expliquons-nous », « sors dehors on va s’expliquer » […]. 316 5.5.2 Das Rollenspiel als Schauspielerautobiographie Unter dem Stichwort „théâtre réflexif“ wird in Alain Vialas Theatergeschichte Le théâtre en France Philippe Caubères aus elf Episoden bestehen- 314 Ash: - […] Qu’avons-nous donc tant fait? Margot.- Décortiqué nos cœurs, Ash. Comme Peer Gynt l’oignon. (AS, 121). 315 Jean-Pierre Sarrazac sieht in der Retrospektion ein typisches Merkmal der Stücke Enzo Cormanns: „Et, ce qui me frappe dans tes pièces, c’est que ce sont des pièces qui vont toujours dans le sens de la rétrospection. De la remémoration. De la reviviscence.” Cormann/ Sarrazac 2010: 107, Le Mouvementeur. Entretien, 06.12.2004. 316 Cormann/ Sarrazac 2010: 108. 186 der Dramenzyklus Le Roman d’un acteur (1994) als Metadrama beschrieben, in dem die Inkarnation wechselnder Rollen durch einen einzigen Schauspieler strukturbildend ist: L’entreprise la plus audacieuse en ce domaine est sans doute celle de Philippe Caubère. Acteur au Théâtre du Soleil puis au cinéma y compris dans des films commerciaux adaptés des récits autobiographiques de Pagnol -, il a composé et joué, seul en scène, de 1981 à 1997, Le Roman d’un acteur. En 11 spectacles (longs) dont il incarne tous les personnages, il y déploie la chronique de trente ans de théâtre. Outre le défi que constitue le fait de jouer une telle fresque, cet ensemble constitue aussi le moyen de figurer un itinéraire personnel en même temps que le cheminement de la génération issue de 1968. 317 Le Roman d’un acteur ist eine auf der Basis von Improvisationen entstandene One-man show 318 , in der Philippe Caubère zugleich Autor, Schauspieler, Regisseur und Produzent dieses Werkes - unter Einsatz minimaler Requisiten nicht nur alle auftretenden dramatischen Personen, sondern auch Tiere, Gegenstände und meteorologische Phänomene (z.B. den Wind) verkörpert und auf einer Bühne ohne Dekor nur durch sein Spiel die fiktiven Handlungsorte vor den Augen der Zuschauer entstehen lässt. Caubère bezeichnet seinen Dramenzyklus, der den Untertitel épopée burlesque trägt, als Theaterroman: La vie est un roman. On le sait. Mais alors, pourquoi ce roman ne serait-il pas de théâtre? Oui, un grand roman de théâtre. Un roman vivant où personnages et situations, sortis directement de la mémoire du comédien, seraient réincarnés là, devant nous, au présent. 319 Mit den Gattungen des Romans und des Epos verbindet dieses dramatische Werk seine epische Breite, das Episodenhafte 320 , die Fokussierung auf die Darstellung der Abenteuer und des Schicksals eines Helden, des Schauspielers Ferdinand Faure, und die durch den autobiographischen Charakter bedingte Narrativität. In elf Dramen (insgesamt ca. 38,5 Stunden Aufführungszeit) schildert Caubère die Höhen und Tiefen der Lehr- und Wanderjahre seines Alter Egos Ferdinand Faure 321 und inszeniert damit seine autobiographie théâtrale. Zur Verdeutlichung der Parallelen zwischen dieser fiktionalen Biographie 317 Souchard/ Favier 2009: 461. Bei den Filmen handelt es sich um Yves Roberts La Gloire de mon père und Le Château de ma mère nach Marcel Pagnol. 318 „Le one-man (ou one-woman) show est un spectacle interprété par une seule personne jouant un ou plusieurs personnages.“ Pavis 2002: 235. 319 Programme des „Enfants du Soleil“, Théâtre Hébertot, Automne 1988. In: Caubère/ Laurent 1994: 22 (Der Text ist auch auf dem Cover des Stücks abgedruckt). 320 Die Theaterkritik spricht häufig von einer Saga, Caubère hingegen von einem „feuilleton burlesque et romantique en plein d’épisodes“. Caubère/ Laurent 1994: 22. 321 Der Nachname Faure spielt auf Ferdinands südfranzösische Herkunft an, denn dieser Name kommt im Süden Frankreichs häufig vor. 187 und dem Leben des Autors seien hier zunächst einige Stationen der Biographie 322 Philippe Caubères genannt: Caubère wird am 21.09.1950 in Marseille geboren, arbeitet von 1968- 1971 als Schauspieler am Théâtre-d’Essai d’Aix-en-Provence (TEX), ist 1971-1978 Mitglied des Théâtre du Soleil und wirkt dort in den Theaterproduktionen 1789, 1793 und L’Âge d’or mit. 1977 übernimmt er in Ariane Mnouchkines Film Molière die Titelrolle. Darauf inszeniert und verkörpert er selbst Molières Dom Juan am Théâtre du Soleil, ehe er diese Truppe verlässt und 1979 am Atelier Théâtral de Louvain-la-Neuve in Belgien seine Schauspielkarriere fortsetzt. Nachdem er in Mussets Lorenzaccio die Rolle des Lorenzo und in Tschechows Drei Schwestern den Baron Tusenbach gespielt hat, beginnt er zu improvisieren und zu schreiben und führt 1981 beim Festival d’Avignon sein erstes eigenes Stück auf, La danse du diable 323 , welches als Prolog zu Le Roman d’un acteur betrachtet werden kann und bereits autobiographische Züge trägt. In den folgenden Jahren entstehen sukzessive die elf Episoden seines Roman d’un acteur, die er mit seiner neu gegründeten Produktionsgesellschaft La Comédie Nouvelle zur Aufführung bringt, um 1993 beim Festival d’Avignon erstmals eine version intégrale seines Roman zu zeigen. 1994 nimmt Caubère diese Version, die von Bernard Dartigues gefilmt wird 324 , am Théâtre de l’Athénée in Paris wieder auf und publiziert den ersten Band von Le Roman d’un acteur, der die Stücke Les Enfants du Soleil, Ariane ou l’Âge d’Or (Ariane I), Jours de colère (Ariane II), La Fête de l’Amour, Le Triomphe de la Jalousie und Les Marches du Palais enthält. Der zweite Band, der die Dramen Le Chemin de la Mort (Le Vent du Gouffre I), Le Vent du Gouffre (II), Le Champ de Betteraves, Le Voyage en Italie und Le Bout de la Nuit umfasst, ist bis heute nicht veröffentlicht, sodass diese Dramen nur als gefilmtes Theater zugänglich sind. Nach einigen anderen Theaterproduktionen (u.a. Aragon) widmet sich Caubère von 2000 bis 2008 wieder seiner Schauspielerautobiographie mit dem achtteiligen Dramenzyklus L’Homme qui danse 325 , welchen er im Untertitel als „autobiographie comique et fantastique“ 326 definiert und der seine mit La Danse du 322 Vgl. www.philippecaubere.fr/ dossier_bio/ bio.htm, 15.02.2011. 323 La Danse du diable zeigt Ferdinands Jugend, das Verhältnis zu seiner Mutter Claudine, Figuren, die ihn in dieser Zeit begleiteten wie Mauriac, De Gaulle, Sartre und Johnny Halliday (alias Ouliday im Theaterstück), und beschreibt seine ersten Schritte als Schauspieler unter der Anleitung seiner Schauspiellehrerin Micheline. 324 Die Filme werden in VHS und als DVD von der Comédie Nouvelle vertrieben. 325 L’homme qui danse beginnt mit der Geburt Ferdinands, schildert ähnlich La Danse du diable seine Kindheit und Jugend, den ersten Schauspiellunterricht und seine Bewunderung für Gérard Philipe, zeigt das Festival d’Avignon von 1968, die Arbeit mit Ariane Mnouchkine am Théâtre du Soleil, die Dreharbeiten zum Film Molière und endet mit einem zweiteiligen Epilog, in dem Ferdinand zuerst nicht mehr fähig ist, all die anderen Figuren zu spielen und schließlich beim Festival d’Avignon 1979 einen Misserfolg als Lorenzo in Mussets Lorenzaccio erlebt. 326 http: / / philippecaubere.fr/ dossier_les_pieces/ les_pieces.htm, 22.02.2011. 188 diable und Le Roman d’un acteur bereits vorliegenden szenischen Memoiren ergänzt. 327 Le Roman d’un acteur wird eröffnet mit dem Stück Les Enfants du Soleil, das mit Ferdinand Faures Ankunft in der Cartoucherie des Théâtre du Soleil in Begleitung seiner Marseiller Schauspielkollegen Jean-Claude und Max einsetzt. Ferdinand spielt in 1789 und 1793 mit und fliegt mit Ariane Mnouchkine und ihrer Truppe nach Martinique. In der Cartoucherie lernt er auch Clémence kennen, seine spätere Frau, die er schon bald seiner Familie vorstellt. In der darauffolgenden Episode Ariane ou l’Âge d’or beginnen Ferdinand, Max und Jean-Claude unter Arianes Regie mit den Proben zu L’Âge d’or 328 . Bruno Gaillardini, ein Schauspielkamerad Ferdinands aus Aix, stößt zur Truppe und wird vorwiegend in der Küche eingesetzt. Ariane lässt die Schauspieler zunächst mit Masken der Commedia dell’arte improvisieren, dann begibt sich die Truppe in das Dorf Lussac, um die Wirkung ihres improvisierten Maskenspiels auf die Dorfbewohner zu testen. Nach dem ersehnten Erfolg setzen Ariane und die Schauspieler ihre Arbeit mit den Masken und dem neuen Bühnenbild in der Cartoucherie fort. Die dritte Episode, Jours de colère, gibt die Spannungen zwischen Ariane und der Truppe wieder. Ferdinand probt den Aufstand und will die Regie übernehmen. Doch Ariane lässt sich nicht beirren, wählt unter den improvisierten Szenen die besten aus und bittet die Schauspieler weiterzumachen. Bei der Premiere sind die Theaterkritiker Bernard Dort, Gérard Bonvillain und Gilles Sandier anwesend. Das Stück wird ein Erfolg. Im vierten Teil, La Fête de l’Amour, beschließen Ferdinand und Clémence im Théâtre du Soleil zu heiraten. Ariane erklärt sich einverstanden, und die Zeremonie findet in Gegenwart der gesamten Truppe in der Cartoucherie statt. Episode V, Le Triomphe de la Jalousie, beschreibt Szenen aus Ferdinands Eheleben. Ferdinand wird von Eifersucht geplagt, weil Clémence ein Verhältnis mit dem Truppenmitglied Jonathan anfängt. Selbst bei einer Tournee nach Polen und während der Aufführungen von L’Âge d’or kann Ferdinand seine Gefühle nicht beherrschen, verändert den Text seiner Figur Abdallah und wird von Ariane zur Rede gestellt. In der sechsten Episode, Les Marches du Palais, muss Ferdinand den Tod seiner Mutter verarbeiten, die während der Dreharbeiten zu Ariane 327 Patrice Ruellan charakterisiert Caubères Verfahren als „réécriture“: „Si l’autobiographie est déjà une réécriture, l’évolution de l’œuvre et de la présentation scénique de ce travail autobiographique d’un texte à l’autre de La Danse du diable à L’Homme qui danse, en passant par Le Roman d’un acteur - est alors surenchère d’un palimpseste.” Ruellan 2003: 299. 328 L’Âge d’or (1975) ist eine création collective des Théâtre du Soleil, die sich mit der sozialen und politischen Realität Frankreichs während der 1970er Jahre (u.a. der Situation der travailleurs immigrés) beschäftigt. 189 Mnouchkines Film Molière, in dem Ferdinand die Titelrolle spielt, stirbt. Nachdem die Dreharbeiten und die Synchronisation des Films abgeschlossen sind, reist die Truppe des Théâtre du Soleil in Begleitung ihrer Produzenten - Arianes Vater und Claude Lelouch zum Filmfestival nach Cannes, wo der Film präsentiert wird. Als der Film von der Kritik verrissen wird, kommt es zum Bruch zwischen Ferdinand und Ariane. Ferdinand bricht auf zu neuen Ufern. Der zweite, noch nicht edierte Teil 329 des Roman spielt in Belgien. In Episode VII und VIII, überschrieben Le Chemin de la Mort (Le Vent du Gouffre I) und Le Vent du Gouffre (II), setzt Ferdinand seine Karriere unter der Regie eines anderen Regisseurs fort. Armand Delbarre, Direktor des Atelier Théâtral de la Nouvelle Belgique, engagiert Ferdinand für eine Aufführung des Lorenzaccio beim Festival d’Avignon. Als ein Schauspieler ausfällt, wird Ferdinands Freund Bruno als Ersatz herbeigeholt. Zwei Schauspielerinnen des Conservatoire, Christine und Réjane, werden eingestellt. Ferdinand sieht sich in der Cartoucherie das neueste Stück von Ariane Mnouchkine an, „Le Roman d’une ordure“, in dem sie ihn angreift, und ist entsetzt. Zurück in Belgien bereitet er sich unter Anweisung des Regisseurs Otomar Zabranou auf die Aufführung des Lorenzaccio im Papstpalast in Avignon vor. Die neunte Episode, Le Champ de Betteraves, handelt von der Rückkehr der Truppe des Atelier Théâtral nach Belgien nach dem Misserfolg des Lorenzaccio in Avignon und von der Aufnahme der Arbeit an Tschechows Stück Drei Schwestern. Ariane und ihre Truppe kommen nach Belgien, und bei einer Soiree versammeln sich alle und singen zum Abschied Les feuilles mortes (entspricht Autumn leaves). In der zehnten Episode, Le Voyage en Italie, hat Ferdinand vor, Romeo und Julia am Atelier Théâtral de la Nouvelle Belgique zu inszenieren. Wegen der Kosten dieses Unternehmens scheut er sich aber, mit Armand Delbarre darüber zu sprechen. Clémence reist indessen mit Jerôme Savarys Magic-Circus durch Europa. Ferdinand will sich mit ihr in Rom treffen, als plötzlich die Nachricht vom Selbstmord eines Schauspielers des Théâtre du Soleil eintrifft. Ferdinand begibt sich zur Totenfeier in die Cartoucherie. Kurz darauf nimmt er einen Flug nach Rom. Als er in Rom ankommt, stellt Clémence fest, dass sie umgehend die Poebene durchqueren müssen, um zum Auftritt in Rimini zu sein. Die elfte und letzte Episode, Le Bout de la Nuit, beginnt damit, dass der Bankier Van der Beck Ferdinand und seine Schauspielkollegen in sein Haus einlädt. Johnny Hallyday gibt ein Konzert in Brüssel, das sie gemeinsam besuchen. Jacques, der Tonassistent des Films Molière, zeigt Ferdinand 329 Informationen zum Inhalt des zweiten Teils sind den von Caubère gefilmten Inszenierungen und dem Programmheft des Théâtre de l’Athénée in Paris zur Version intégrale von 1994 zu entnehmen. Vgl. Caubère/ Coquet 1994: 2-3, Programmheft, Résumé des épisodes par Philippe Caubère et Véronique Coquet. 190 Ausschnitte aus einem von ihm gedrehten Film über Molières Dom Juan, den Ferdinand kurz vor seinem Abschied in der Cartoucherie inszeniert hat. Gontard, der einzige Käufer dieses Films, hinterlässt eine vernichtende Kritik auf Ferdinands Anrufbeantworter. Ferdinand fängt an ein Theaterstück über sich, sein Leben und das Theater zu schreiben. In einem Gespräch mit Pierre Charvet im Jahre 2006 beschreibt Philippe Caubère sein Werk als „autofiction“ 330 : Pierre Charvet: Je suis très étonné des affinités que vous reconnaissez entre votre œuvre et l’autofiction littéraire. […]. Philippe Caubère: Mais je suis un des précurseurs de l’autofiction d’aujourd’hui! Ce qui ne veut pas dire que je me prendrais pour son inventeur. D’abord l’autofiction existe depuis que le monde est monde tout au moins depuis que le livre est livre - ; [...] Il n’empêche que quand j’ai décidé, en 1981, de faire de ma vie la matière de mon travail, à part Zouc, personne ne le faisait alors au théâtre; et encore très peu d’auteurs de la jeune littérature. 331 Inspiriert wird der Schaupieler bei dieser dramatischen Fiktion seiner Lebensgeschichte von Céline (daher der Name seiner Hauptfigur: Ferdinand), Flaubert (L’Éducation sentimentale) und Proust. 332 Er bezeichnet seine dramatisierte Schauspielerautobiographie als „quelque chose entre Tintin et À la recherche du temps perdu qui raconterait l’Histoire d’aujourd’hui du point de vue personnel, polémique et farfelu de l’un de ses acteurs.“ 333 Das Rollenspiel manifestiert sich in Philippe Caubères One-man show auf zwei Ebenen, und zwar in der Theateraufführung und im Theatertext. Ausgehend von der Theateraufführung von Le Roman d’un acteur lässt sich das Rollenspiel in Anlehnung an die in Kapitel 5.1 erstellte Formel des Rollenspiels hier wie folgt definieren: A spielt X + X 2 + X 3 + X 4 ...+X n , während S zuschaut (A = Philippe Caubère; X= Ferdinand, X 2 = Ariane, X 3 = Clémence, X 4 = Max, X n : dafür sind alle weiteren Personen, Gegenstände und meteorologischen Phänomene einzusetzen, die im Laufe des Dramenzyklus nacheinander allein von Philippe 330 Den Begriff „Autofiktion“, den Serge Doubrovsky 1977 im Vorwort seines autofiktionalen Werks Fils einführt, erläutert Frank Zipfel: „Das Charakteristikum der Autofiktion ist die Verbindung von zwei sich eigentlich gegenseitig ausschließenden Praktiken: die referentielle Praxis und die Fiktionspraxis.“ Zipfel 2009: 311. 331 Caubère/ Charvet 2006: 35. 332 Caubère/ Charvet 2006: 39. Caubère: „Mais, à l’origine de tout ce travail, ma première idée en somme, c’était d’appeler mon personnage ‘Ferdinand’. À cause de Céline, bien sûr. Moi qui voulais évoquer mon enfance et mon adolescence, je m’identifiais au personnage de Mort à crédit. Quand j’ai improvisé ce qui est devenu ensuite Le Roman d’un acteur, je m’appelais ‘Philippe’. Mais j’étais encore loin du projet général, ce roman d’apprentissage dont l’idée m’est venue d’ailleurs de L’Éducation sentimentale de Flaubert. ” 333 Caubère/ Laurent 1994: 22. 191 Caubère verkörpert werden; S = der reale Zuschauer). Werden zusätzlich noch Sekundärrollen auf einer zweiten Fiktionsebene fingiert, gilt: A spielt X { X spielt Y, während VBZ zuschaut } während S zuschaut (A = Philippe Caubère, X = Ferdinand, Y = Sekundärrolle, z.B. Ferdinand als Figur Abdallah aus L’Âge d’or, VBZ = virtueller Bühnenzuschauer, z.B. die auf der Bühne virtuell präsente Regisseurin Ariane, S = realer Zuschauer). Der Rollenwechsel vollzieht sich während der Aufführung durch den Einsatz von Mimik, Gestik, Proxemik, Körper, Intonation, Stimme, und einer minimalen Anzahl von Requisiten (z.B. Schal, Mütze, Maske, Stuhl). Marc Zitzmann hat Caubères Spieltechnik treffend beschrieben: Die frappierende Gabe zur Imitation, die es Caubère erlaubt, innert Sekundenbruchteilen eine beliebige Figur zu inkarnieren und von dieser zu einer völlig anderen überzuwechseln - in Anlehnung an eine Mnouchkine- Übung spricht er von ‚Maskenspiel ohne Maske’ - ist dabei das eine. Die Stilisierung das andere: Der Schauspieler geht - Proust verfuhr nicht anders - von real existierenden Zeitgenossen aus, greift bei diesen aber gezielt bestimmte markante Eigenschaften heraus, die er leitmotivisch wiederkehren und, Pars pro Toto, den ‚ganzen Menschen’ verkörpern lässt. Beobachtung - Abstrahierung - Neukombination, so könnte die Schöpfungsformel für seine Kunstfiguren lauten, die oft lebendiger wirken als das wirkliche Leben: eben weil sie das Konzentrat einer Quintessenz sind. 334 Die von Gegenständen wie einem Auto, einem Mofa, einem Telefon, einer Türklingel und einem Wecker hervorgerufenen Geräusche produziert Caubère mit eigener Stimme anhand comicähnlicher Onomatopoetika: [Arianes 2CV.-] Gneng-gneng-gneng-gneng-gneng (RdA, 175), Les voitures.- Bib-Biip! ... Dûût! (RdA, 375), La mobylette.- Gagagagaga… (RdA, 462), Le téléphone, à côté du lit.- Dring! (RdA, 537), La sonnette.- Gêêêêk! (RdA, 406), Les réveils.- Tchi-tchac-tchica-tchac… (RdA, 453). Ebenso verfährt er mit Tieren und Naturerscheinungen wie dem Wind: Les chiens.- Rhaaaa! Rhaaa! Rhaaaa! (RdA, 320), Le vent.- Foouououhh…(RdA, 485). 334 Zitzmann 2004: 2, www.nzz.ch/ 2004/ 03/ 23/ fe/ article9H1F4.html, 15.02.2011. 192 Insgesamt verkörpert er über 200 verschiedene Rollen allein im edierten Teil des Dramenzyklus (Episode I-VI). 335 Die Entwicklung seiner Spielmethode, die bei Improvisationen mit Jean-Pierre Tailhade entstand, hat Philippe Caubère, der ursprünglich einen Monolog schreiben wollte, in dem Dokumentarfilm En plein Caubère 336 und in dem oben erwähnten Gespräch mit Pierre Charvet geschildert: Caubère: Mais c’est Tailhade qui m’a sauvé la vie. Il m’a vu dans ce monologue de Ferdinand où je m’évanouissais, où je m’étouffais dans une espèce de complète autarcie et il m’a dit: ‘Joue Ariane! ’ Et j’ai commencé à faire Ariane sur le tournage de Molière. Et là (c’était vraiment le fil d’Ariane, c’était aussi le phénomène proustien) tout est arrivé: le tournage, les séquences de travail… […] C’est lui [Tailhade] donc qui a été le catalyseur, l’élément déterminant de tout le système. Il m’a fait comprendre que je pouvais jouer plusieurs personnages sans me déplacer, que ce n’était pas grave si l’on ne voyait pas Ferdinand tout le temps, que je pouvais faire les demandes et les réponses (on peut lire sur le visage la réponse à une question posée). 337 Caubères One-man show ist also kein Monolog beziehungsweise Monodrama im eigentlichen Sinne, sondern ein Drama in Dialogform, das auch von einer Truppe von Schauspielern gespielt werden könnte. 338 Daher wehrt sich Caubère auch gegen die in der Theaterkritik verbreitete Anwendung des Begriffs „One-man show“ auf sein Werk. 339 Auf der Ebene des Dramentextes wird das Rollenspiel in Le Roman d’un acteur durch die Potenzierung der dramatischen Rolle (im Text beispielsweise als „Ferdinand-Abdallah“ kenntlich gemacht) und durch die Regieanweisungen (in den Didaskalien z.B. mit „Il refait Max.“ eingeleitet) erkennbar. Ausgehend von dem als Dialog vorliegenden Theatertext (Episode I-VI des Roman d’un acteur) lässt sich das Rollenspiel hier folgendermaßen definieren: A spielt X{ X spielt Y, während BZ zuschaut }, während S zuschaut (A = Philippe Caubère, X = Ferdinand, Y = Sekundärrolle, z.B. die von Ferdinand gespielte Figur Abdallah aus L’Âge d’or, BZ = jedweder Bühnenzuschauer, z.B. die im Text als eigene Figur X 2 aufgeführte Regisseurin Ariane, S = realer Zuschauer). 335 Proust in Corvin 1995: 163. „Il [Philippe Caubère] crée ainsi plus facilement l’illusion de la démultiplication des personnages et des points de vue. Une excellente maîtrise corporelle et vocale permet aussi une interprétation subtile et nuancée dans la composition de chaque personnage.“ 336 Anne-Laure Brénéol hat diesen Film über Philippe Caubère im Jahr 2006 gedreht. 337 Caubère/ Charvet 2006: 52-53. 338 Die Episoden Les Enfants du Soleil und Ariane ou l’Âge d’or sind schon einmal von jungen Amateurtheatertruppen aufgeführt worden. Vgl. Caubère/ Charvet 2006: 49. 339 Caubère/ Charvet 2006: 67. Caubère: „Je n’ai ni mépris, ni condescendance pour le one-man show, bien au contraire. J’ai la plus grande admiration pour le music hall. […] Il faut savoir où l’on est. Moi, je suis dans le théâtre. Mes spectacles ont une durée, un système, un rythme de pièces de théâtre.” 193 Das Fingieren von Sekundärrollen, die auch in der Gestaltung des Dramentexts sichtbar werden, ist vor allem in den Episoden Les Enfants du Soleil, Ariane ou l’Âge d’or und Jours de Colère nachzuweisen. In Les Enfants du Soleil simuliert Ferdinand Faure bei einem Rendezvous mit Clémence, um sie zu beeindrucken, ein Orchester, das unter anderem aus seinen imaginären Freunden Max und Jean-Claude zusammengesetzt ist: Clémence.- Ben, où il est votre orchestre? Ferdinand.- Il est là. Clémence.- Boh! Y a personne. Ferdinand.- Comment ça, y a personne? Vous les voyez pas? Y en a partout: sur le lit, sous le lit. Tenez, par exemple, sur le canapé, là-bas, y a Max avec sa clarinette: (Il refait Max.) ‘Je suis là, avec ma clarinette! ’ Voyez? Et puis regardez sur le buffet, y a Jean-Claude avec son cornet: (Il refait Jean-Claude.) ‘Connerie, connerie! Cornet, cornet! ‘ Vous les voyez? Vous voulez qu’on la joue? (Aux deux copains imaginaires.) Messieurs, qu’est-ce que vous en pensez? (RdA, Episode I, 49- 50). Diese Textpassage beschreibt autoreferentiell Philippe Caubères eigene Schauspielmethode, die darin besteht, dem Zuschauer die Präsenz einer Fülle von imaginären Personen auf der Bühne vorzuspiegeln, welche real gar nicht vorhanden sind. Wie bei dem Stelldichein mit Clémence nutzt der Schauspieler Ferdinand auch in anderen Situationen seines Privatlebens die Techniken des Theaters. So greift er, um sich wegen seiner Eifersucht auf Clémences Freund zu beruhigen, auf eine Übung aus dem Schauspielunterricht zurück, bei der er ein Tier (hier einen Stier 340 ) verkörpert: Ferdinand.- [...] Elle est là. (Il commence à se métamorphoser en taureau). Mûûûh! […] Ferdinand.- […] Mûûûh! Faut que je me calme. Je me sens pas bien. Mûûh! (Il tombe par terre et commence à faire le taureau à quatre pattes.) Mûûh! … Ça va pas ; c’est pas normal, là, je me retrouve tout seul dans ma chambre en train de faire l’exercice des animaux, c’est pas normal. Mûûûûh! Mûûûh! (RdA, Episode I, 89- 92). Am Telefon gibt Ferdinand sich gegenüber Clémence, die sich nach ihm erkundigt, als sein Mitbewohner Ryad aus, indem er sich verstellt und dessen Akzent nachahmt (RdA, Episode I, 144). Illusion und Wirklichkeit liegen in Ferdinands Schauspielerdasein dicht beieinander. Selbst die Hochzeitszeremonie („la fête de l’Amour“, RdA, Episode IV, 407), die ja im Theater, d.h. in der Cartoucherie, stattfindet, wird wie ein Schauspiel in- 340 Der Stier gilt als ein Symbol für Männlichkeit. 194 szeniert, bei dem der Ablauf, die Rollen, die Kostüme, die Musik und der Text vorher genau festgelegt werden. Das Rollenspiel ergibt sich in Le Roman d’un acteur auch aus Ferdinands schauspielerischer Berufspraxis im Théâtre du Soleil und erscheint damit in der Form des ästhetischen Rollenspiels 341 . Mithilfe von Masken der Commedia dell’arte (u.a. Arlequin, Pantalone, Matamore) lässt Ariane Ferdinand und die anderen Schauspieler ihre Rollen und den Text von L’Âge d’or in Improvisationen finden. 342 Ariane Mnouchkine hat die Bedeutung dieser Übung, die Caubère wiedergibt (RdA, Episode II, 195ff.), für die Ausbildung ihrer Schauspieler im Théâtre du Soleil herausgestellt. 343 Während Ferdinand in die Maske des Arlequin 344 schlüpft, um sich mit seiner Rolle als Abdallah vertraut zu machen, improvisiert Bruno Gaillardini, der eine traditionelle Ausbildung am Conservatoire mitbringt, vergeblich mit der Maske des Matamore und des Pantalone und findet bei Ariane keine Gnade. Bei dem Maskenspiel vor den Dorfbewohnern von Lussac in den Cevennen testet Ariane die Wirkung ihrer Rollenimprovisationen auf ein unvoreingenommenes ländliches Publikum, welches den Schauspielern die Themen einer Improvisation zurufen soll: Ariane.- Il était une fois... […] dans un pays que vous ne connaissez pas, un théâtre au milieu des forêts, qui s’appelait la Cartoucherie. Et c’est là, dans les briques et les drames, dans la terre et le coco, que nous avons inventé des personnages. […] Ils sont là, derrière moi, à votre disposition. Vous pouvez leur 341 Brüster 1993: 30. „’Ästhetisches’ Rollenspiel liegt dann vor, wenn eine Schauspielerfigur auftritt, oder wenn Namensidentität besteht zwischen einer fiktiven Dramenfigur und einem Schauspieler.“ 342 Neuschäfer 2002: 39f. „La création collective, telle qu’elle fut pratiquée par le Théâtre du Soleil se rapproche en effet du principe de production de la commedia dell’arte. Le spectacle se crée à partir d’improvisations collectives et individuelles sur un sujet donné ou même d’après des extraits de pièces d’auteurs. Au cours des répétitions se crée en quelque sorte un canevas d’où sortira potentiellement un ‘texte’ […] mais qui peut également rester au niveau des indications scéniques, destiné uniquement à l’usage de la troupe, ce qui fut décidé pour le texte de L’Âge d’or.” 343 Josette Féral im Gespräch mit Ariane Mnouchkine (1998/ 99). In: Brauneck 2009: 463f. „J.F.: Die Schulung des Schauspielers verläuft im Théâtre du Soleil über die Maske. Worin liegt das Wesentliche dieser Schulung? A.M.: Diese Ausbildung ist im Théâtre du Soleil äußerst wichtig. [...] Die Maske ist selbst Metapher, Ausdrucks- oder Offenbarungsmittel. [...] Die Maske verbirgt nicht den Schauspieler, sondern vielmehr sein Ego. Aber eigentlich verbirgt sie überhaupt nichts, im Gegenteil: Sie öffnet. Sie ist ein Vergrößerungsglas zur Seele hin, eine Öffnung zur Seele. Mit der Maske sind plötzlich alle Gesetze des Theaters da. Der Schauspieler kann sich dem nicht entziehen. Die Maske verleiht der Figur Größe, erlaubt ihr, der Seele zu begegnen. Sie zwingt den Schauspieler, das Kleine zu erarbeiten, um das Große zu finden. Sie ist ein strenger Meister, der alle Fehler sichtbar macht.“ 344 Neuschäfer 2002: 69. „La fonction du masque dans le contexte du jeu corporel est la caractéristique sociale du type - Abdallah en tant qu’ouvrier immigré porte un masque de zanni […].” 195 voir jouer ce que vous voulez. (Silence.). Qu’est-ce que vous aimeriez leur voir jouer comme histoire? Je peux vous proposer les problèmes de l’agriculture. Ou le problème de la femme dans le village lorsque le mari est à la chasse au sanglier. […] Un villageois. - On voudrait voir les embouteillages à Paris! (RdA, Episode II, 217). Die anschließende Rollenimprovisation des Truppenmitglieds Philippe Mottier, der mit der Maske des Polichinelle einen modernen Polichinelle mimt, der in einem imaginären Autobus mit den Pariser Staus und den anderen Autofahrern kämpft und dabei die Geräusche des Autobusses und der Autos in Form von Onomatopoetika produziert, wird in den Regieanweisungen ausführlich beschrieben (RdA, Episode II, 222f.). 345 Die Dorfbewohner sind so begeistert, dass sie hinterher durch die Straßen laufen und diese improvisierte Szene nachahmen. Es handelt sich bei dieser „représentation de masques“ (RdA, Episode II, 210) also nicht um die Aufführung eines vorgefertigten Texts im Sinne des „Theaters im Theater“, sondern um ein spontanes, vom Bühnenpublikum gesteuertes Rollenspiel. Immer wieder werden in Ariane ou l’Âge d’or und in Jours de Colère Improvisationsszenen gezeigt, in denen die Schauspieler des Théâtre du Soleil die zu ihren Rollen in L’Âge d’or gehörenden Masken aufsetzen und in Improvisationen unter Arianes Anleitung Szenen des Stücks erarbeiten. Die Truppenmitglieder Ferdinand, Max, Clémence, Violaine, Jean-Claude, Henri und Jonathan schlüpfen respektive in die Rollen Abdallah, Max, Sylvette beziehungsweise Juliette (Clémence spielt zwei Figuren), M’Boroh, Moulé, Le Prince, Johnny Walker, Roméo und Arlequin (Jonathan übernimmt die letztgenannten drei Rollen). Dabei gehen die Improvisationen der Schauspieler teilweise auch in eine Richtung, die von der Regisseurin nicht intendiert ist, und werden daher verworfen. Eine der Improvisationen, die jedoch für die Aufführung festgehalten wird und die Caubère in Ariane ou l’Âge d’or wiedergibt, verweist intertextuell direkt auf L’Âge d’or. 345 Dieser Aufenthalt der Truppe des Théâtre du Soleil in den Cevennen (jedoch in Lussan, nicht in Lussac) sowie die Improvisationen vor den Dorfbewohnern fanden tatsächlich im November 1974 statt.Vgl. Bablet/ Bablet 1979. www.theatre-du-soleil.fr/ thsol/ nos-spectacles-et-nos-films,3/ nos-spectacles,157/ lage-d-or-1975,167/ l-age-d-or-raconter-notre-aujourd, 1179, 06.06.2011. 196 Es ist die Szene „La mort d’Abdallah“ (RdA, Episode II, Szene IX, 268-272), in der Ferdinand in der Rolle Abdallahs von einem Baukrahn stürzt. 346 Ariane selbst übernimmt in einer Szene, um Ferdinand zu assistieren, der als Abdallah das Publikum begrüßen soll, den Part des potentiellen Publikums von L’Âge d’or, das sich an den mit Kokosfaser bestreuten Boden der rutschigen Bühnendekoration und die im Théâtre du Soleil übliche freie Platzwahl erst gewöhnen muss: Ariane, jouant le public.- Oh! la la! … Comme c’est joli tout ce coco! […] Alors, estce que je vais me mettre là ou est-ce que je vais me mettre là? On peut se mettre où c’est qu’on veut. J’hésite. Ziip! Tiens, ça glisse… […] Oh! formidable: on peut faire des glissades! […]. (RdA, Episode III, 365). An anderer Stelle mimt die Regisseurin den Mond, um Clémence in ihrer Rolle als Juliette zu helfen, sich das nächtliche Ambiente ihres Treffens mit Jonathan als Roméo besser vorstellen zu können (RdA, Episode III, 371). Das „Theater im Theater“ im engeren Sinne erscheint in dem edierten Teil des Roman d’un acteur nur in Episode III und Episode V und spielt im Verhältnis zu den in dem gesamten Dramenzyklus dominierenden Formen des figuralen Metatheaters eher eine untergeordnete Rolle. In Episode III, Szene 9 (RdA, 388) werden anlässlich der Premiere von L’Âge d’or die ersten vier Repliken dieses Stücks in einer adaptiven Metatheatereinlage (F2a) gezeigt, die das Gelingen des Theaterprojekts des Théâtre du Soleil demonstriert. Die vierte Szene der fünften Episode (RdA, 580-592) trägt den Titel „L’enfer ou le spectacle inversé“ und führt dem Zuschauer eine transformierte Version eines Ausschnitts aus L’Âge d’or (F2b) vor, denn Ferdinand verändert den Text und die Handlung, weil er außer sich ist vor Eifersucht auf Jonathan. F2b wird dabei mehrmals durch die hinter der Maske an Ferdinand gerichteten Ermahnungen der anderen Schauspieler unterbrochen, welche ihn auffordern, sich an seinen Text und seine Rolle zu halten. Eine dritte Theatereinlage (F2c) ist in Episode V, Szene 6 (RdA, 611-617) integriert. Sie ist jedoch fragmentarisch, da nun Ariane die Aufführung von L’Âge d’or ständig stört, indem sie den Schauspielern und den Bühnenzuschauern Anweisungen gibt, bis letztere die Regisseurin ungehalten aus dem Saal werfen. Alle drei adaptiven „Theater im Theater“- Einschübe fungieren als Beweis dafür, dass diese für die Truppe des Théâtre du Soleil und Ariane Mnouchkine schwierige Theaterproduktion, deren 346 Neuschäfer 2002: 88. „L’improvisation considérée comme la plus importante est sans doute la chute d’Abdallah dans la séquence du Chantier et sa mort. Philippe Caubère l’a reprise et rejouée à la fin de son spectacle, et bien que cette scène impressionne toujours - même un public non averti qui n’a jamais vu L’Âge d’or - il l’a rendue bien plus grossière et spectaculaire qu’elle ne l’était à l’origine.“ Diese Szene wird in Episode V im Rahmen einer kurzen „Theater im Theater“-Sequenz aufgrund Ferdinands Eifersucht in überzeichneter Form wiederholt (RdA, Episode V, 590-592). 197 Entstehungsgeschichte Caubère in seinem Roman nachzeichnet, mit Erfolg realisiert wurde. Intermediale Bezüge zu Ariane Mnouchkines Film Molière finden sich in Episode VI, welche Einblick in die Dreharbeiten und die Synchronisation des Films gibt und im Rahmen der Vorführung des Films beim Festival in Cannes einige Filmsequenzen auf einer Kinoleinwand zeigt (RdA, 716-719 und 749-752). Ähnlich wie in einem Film setzt Caubère in Le Roman d’un acteur die Lichtregie und die Musik (u.a. die Filmmusik zu Molière, Bach, Verdi, Puccini, Purcell, Johann Strauss, die Internationale, Bob Dylan) zur atmosphärischen Untermalung oder zur Überbrückung zwischen den einzelnen Szenen ein. In einem Interview mit Frédéric Ferney im Jahre 2006 hat Philippe Caubère seine Beziehung zum Théâtre du Soleil mit den Worten „[...] si le Théâtre du Soleil est un arbre, j’en suis une branche“ 347 beschrieben. Seinem Dramenzyklus Roman d’un acteur stellt er dementsprechend die Widmung „à Ariane et au public“ voran. Sein Werk ist nicht nur eine selbstbespiegelnde Schauspielerautobiographie, sondern porträtiert zugleich eine bekannte Regisseurin der französischen Theaterszene, Ariane Mnouchkine, und beschreibt die Arbeit der Truppe des Théâtre du Soleil aus der Innensicht eines ihrer Mitglieder. Dabei wird die insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren verbreitete Methode der création collective, mit der das Théâtre du Soleil in seinen Produktionen 1789, 1793 und L’Âge d’or experimentiert, dokumentiert. Caubères Figur Ariane charakterisiert das Ergebnis dieses auf Improvisationen basierenden Verfahrens einmal als „l’ébauche de l’esquisse du début de l’essai de l’ombre d’un brouillon, dont on pourra un jour, peut-être, éventuellement, faire un spectacle” (RdA, Episode III, 326). Caubères Porträt Ariane Mnouchkines mag karikatureske Züge tragen, dennoch ist es zugleich eine Hommage an eine herausragende Persönlichkeit der französischen Theaterszene, die Caubère in einem Gespräch mit Agnès Olive als „un être exceptionnel, probablement un des plus grands personnages du théâtre et de l’histoire du théâtre contemporain” 348 und als „le meilleur metteur en scène du monde“ 349 bezeichnet. Ariane Mnouchkine habe ihn als Schauspieler entscheidend geprägt, wie er betont: „Mais bon, mon vrai maître, j’en ai eu un seul: Ariane Mnouchkine.“ 350 Seine Darstellung dieser für ihn wichtigen „künstlerischen Mutterfigur“ begründet er mit folgenden Worten: 347 Ferney 2006. www.lepoint.fr/ archives/ article.php/ 15834, 06.06.2011. 348 Caubère/ Olive 2009: 83. 349 Caubère/ Olive 2009: 31. 350 Caubère/ Olive 2009: 72. 198 [...] dans ma rencontre avec Ariane, je me suis dit que j’avais rencontré une femme extraordinaire, et qu’il fallait que je le raconte, que j’en parle aux autres, pour que tout le monde connaisse ce personnage hors du commun. 351 Dabei lag es ihm entgegen der Meinung einiger Kritiker fern, die Regisseurin durch seine Charakterisierung zu verletzen: Je voulais la jouer, la raconter, me moquer d’elle certes, mais certainement pas la trahir, ni lui manquer de respect. Je voulais jouer la vérité, même si c’était la mienne. 352 Die Theaterkritik hat Caubère Exhibitionismus und Narzissmus vorgeworfen und behauptet, er betreibe mit seinem Werk Roman d’un acteur Nabelschau und Psychoanalyse auf der Bühne. Philippe Caubère räumt in einem Interview, das Anne-Laure Brénéol 2006 gefilmt hat, durchaus ein: „Je suis quand même exhibitionniste [...]. Comme tous les acteurs je suis narcissique”. 353 Er besteht in diesem Zusammenhang aber auch darauf, dass der Schauspieler ebenso wie andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (Politiker, Minister, Dramatiker, Journalisten etc.) ein Recht auf Selbstdarstellung habe. In dem bereits erwähnten Gespräch mit Agnès Olive (2009) erklärt Caubère, er sei in die Figur Ferdinand wie in eine Maske geschlüpft, um einen Blick auf sich selbst zu richten, und bestreitet nicht, dass das Theater für ihn eine psychoanalytische Funktion hat: Je suis arrivé à dire ‚je’ mais pas en parlant de Philippe Caubère! Ceci dit, parvenir à dire ‚je’, même sous forme de Ferdinand Faure, n’était déjà pas si mal à une époque où il était totalement interdit de dire ce ‚je’. C’était considéré comme petit-bourgeois, ça n’avait aucun intérêt! ! ! Sauf que pour moi dire ‚je’ était devenu une question de survie. Une forme de psychanalyse. Ma psychanalyse à moi, à ma façon. Je n’ai jamais ressenti la nécessité d’en suivre une, disons classique, dans la mesure où je disposais de cet outil extraordinaire qu’est le théâtre. 354 Auf der Suche nach seiner Identität 355 rekonstruiert Philippe Caubère in seinem Roman d’un acteur Szenen und Personen, die ihn in seinem Leben geprägt haben. Das Schreiben ist für ihn ein Akt der Erinnerung, eine Art Retro- und Introspektion, in der er sich diese Szenen und Personen vergegenwärtigt, um sie in seinem Spiel auf der Bühne vor den Augen der Zu- 351 Caubère/ Olive 2009: 59. 352 Caubère/ Charvet 2006: 27-28. Agnès Olive weist ihrerseits darauf hin, dass Philippe Caubère ihr anvertraut habe, er habe kurz nach dem Interview mit ihr (29.04.2008) einen Stage bei Ariane Mnouchkine besucht, bei dem sie sich wiedergesehen hätten. Vgl. Caubère/ Olive 2009: 83. 353 Caubère/ Brénéol 2006. DVD 2 zu En plein Caubère. 354 Caubère/ Olive 2009: 81. 355 Caubère/ Olive 2009: 34. Caubère: „Et je crois tout simplement que c’est la recherche d’une identité. Essayer de savoir qui je suis. […] Le Roman d’un acteur, L’Homme qui danse, c’est pour savoir qui je suis. Et le paradoxe c’est que je suis sans arrêt les autres. Je n’existe que dans le regard des autres.” 199 schauer wiederaufleben zu lassen. Bei aller Subjektivität entbehrt seine fiktionale Schauspielerautobiographie 356 nicht der Selbstironie. So bezeichnet Caubère sein Alter Ego Ferdinand mit den Worten seiner Figur Papi (Arianes Vater) im Zusammenhang mit der Kritik an seiner Rolle als Molière im gleichnamigen Film Ariane Mnouchkines als „Cet ersatz de comédien“ (RdA, VI, 727). Der Moderator der Pressekonferenz, die auf die Filmvorführung in Cannes folgt, bescheinigt Ferdinand „un rare niveau de nullité“ (RdA, VI, 741) in diesem Film. Ariane Mnouchkine bringt in der Cartoucherie eine Persiflage auf Le Roman d’un acteur zur Aufführung mit dem Titel „Le Roman d’une ordure“ (nicht edierter Teil, Episode VII-VIII). Ferdinand Faure ist also kein strahlender Held, sondern eher ein Typ mit Fehlern und Schwächen, der den Selbstzweifel kennt und mit dem sich der Zuschauer dieses dramatischen roman d’apprentissage identifizieren kann: Caubère: Ferdinand Faure, c’est moi, un petit comédien qui veut être Gérard Philippe et qui n’y arrive pas. Un acteur de base, banal, lambda, avec des idées que tout le monde a eues en 68. La seule chose, c’est qu’il n’écoute pas ce qu’on lui dit et qu’il poursuit son rêve. 357 Caubère definiert seinen Roman als épopée burlesque, seine Intention ist es demnach auch, das Publikum mit seiner Darstellung der Lehr- und Wanderjahre Ferdinands, die durch eine ausgeprägte Komik gekennzeichnet ist, zu unterhalten. Es bleibt die Frage, an welches Publikum sich sein selbstreflexives dramatisches Werk richtet. Sicher findet er mit diesem Künstlerdrama sein Publikum vor allem unter Eingeweihten, d.h. Kennern der französischen Theaterlandschaft, denen das Théâtre du Soleil, die Pariser Theaterszene und das Festival d’Avignon ein Begriff sind und die Caubères schauspielerische Entwicklung verfolgen. Dennoch hat er neben diesen Initiierten über die Jahre hinweg mit seinen Theaterproduktionen Zuschauer aller Altersstufen für sich gewonnen, die er durch sein Spiel, seine Publikumsnähe und die allgemein menschliche Dimension seines Theaterschaffens fasziniert. Mit Le Roman d’un acteur schreibt und spielt der Schauspieler Philippe Caubère nicht nur seine szenischen Memoiren, in denen er die Rollen der Figuren verkörpert, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet haben, sondern zeigt auch einen Auschnitt aus der Geschichte des französischen und des belgischen Theaters der 1970er Jahre, in dem er als Zeuge die Arbeit der Truppe des Théâtre du Soleil unter Leitung Ariane Mnouchkines, die 356 Caubère/ Charvet 2006: 90. Caubère: „Je joue ma vie mais ce n’est pas du tout ma vie. D’abord, ce n’est que ma jeunesse et pas ma vie d’homme. J’ai cinquante-cinq ans alors que l’histoire de mon personnage s’arrête à l’age de trente. Et puis l’autobiographie est une fiction. Ce n’est que l’humeur avec laquelle on regarde ses souvenirs.” 357 Caubère/ Olive 2009: 39. 200 Methode der création collective und die Theaterproduktion am Atelier Théâtral de Louvain-la-Neuve (Belgien) unter der Leitung Armand Delcampes und der Regie von Otomar Krejca schildert. Caubères fiktionale Schauspielerautobiographie ist Metatheater, das als Gedächtnismedium 358 zugleich Ausdruck seiner mémoire individuelle und der mémoire collective ist: Caubère: […] L’histoire du théâtre est toujours écrite par des dramaturges, des metteurs en scène, des journalistes ou des chercheurs, bref des spectateurs. Elle n’a jamais été racontée par un acteur. Et pas par une vedette, non: un petit comédien qui s’appelle Ferdinand Faure, qui veut être Gérard Philipe et qui n’y arrive pas. 359 5.5.3 Funktionen des figuralen Metatheaters Die figuralen Metadramen Âmes sœurs und Le Roman d’un acteur basieren auf der metatheatralen Technik des Rollenspiels, d.h. des Fingierens von Sekundärrollen. In beiden Werken lässt sich „ein in der Figurengestaltung angelegtes Nebeneinander mehrerer Seinsweisen feststellen, das sich [...] in der Übernahme mehrerer Rollen, Identitäten, in Verstellung, Verkleidung oder dem Wechsel von Spiel [F2] und Realität [F1] manifestiert.“ 360 Eine dramatische Figur inszeniert sich selbst vor einer oder mehreren anderen Bühnenfiguren. Diese Duplizität der dramatischen Personen bewirkt eine Potenzierung der Fiktion und eine Steigerung der Theatralität. Steht in Enzo Cormanns Stück das soziologische Rollenspiel im Vordergrund, das sich im Experimentieren der Protagonisten mit anderen sozialen Rollen äußert, so zeigt Philippe Caubères Dramenzyklus Formen des soziologischen wie auch des ästhetischen Rollenspiels, bei welchem eine Schauspielerfigur in einem Theater eine dramatische Rolle übernimmt beziehungsweise in einer Rolle improvisiert. In Âmes sœurs und in Le Roman d’un acteur entstammen die Figuren dem Theatermilieu, das Spiel mit wechselnden Identitäten und das Leben zwischen Fiktion und Realität ist ihnen daher vertraut. Allerdings gelingt es den Figuren in diesen Theaterstücken nicht immer, Fiktion und Realität, d.h. Schein und Sein voneinander abzugrenzen. Illusion und Wirklichkeit überschneiden sich, es kommt phasenweise zu einer Fiktionalisierung und Theatralisierung des Lebens der dramatis personae, die Fiktionsbewusstsein zeigen. Wie in etlichen anderen Metadramen ist auch hier der Topos des Theatrum mundi präsent. 358 Erll 2009: 86. „Die Biographie ist eine Gedächtnisgattung par excellence - eine Gattung, die auf verschiedenen Ebenen Gedächtnis prägt und von Gedächtnis geprägt ist. Biographien stiften, kontinuieren, zirkulieren und hinterfragen kulturelles Gedächtnis.“ 359 Caubère/ Charvet 2006: 57. 360 Vieweg-Marks 1989: 39. 201 Während Enzo Cormann in seinem Drama das Rollenspiel in einer Liebesbeziehung darstellt, lässt Philippe Caubère in seiner Autofiktion durch das Rollenspiel vor allem Szenen und Figuren aus seiner Vergangenheit wieder aufleben, die er auf der Suche nach seiner Identität mit seinem Dramenzyklus aus der Erinnerung rekonstruiert. Der Aspekt der Erinnerung, der Retrospektion ist für beide Werke charakteristisch und geht mit dem Akt der Introspektion einher. Cormanns Figuren Ash und Margot versuchen, sich durch retrospektive Rollenspiele ihre Emotionen und die Motive ihres Verhaltens in vergangenen Situationen und Konflikten zu vergegenwärtigen und zu erklären. Caubère blickt in sein Inneres mithilfe seines Alter Egos, der Figur Ferdinand Faure, die er in seinem roman théâtral die Höhen und Tiefen seiner Lehr- und Wanderjahre als Schauspieler, seiner privaten wie beruflichen Entwicklung und seine Begegnungen mit Personen, die für ihn von Bedeutung waren (z.B. Ariane Mnouchkine), erleben lässt. In Le Roman d’un acteur und in Âmes sœurs dient das Rollenspiel somit unter anderem der Selbstanalyse, es hat „psychoanalytischen“ und „therapeutischen“ Charakter. Mit seinen szenischen Memoiren schreibt und inszeniert Philippe Caubère seine fiktionale Schauspielerautobiographie und ein Stück Theatergeschichte zugleich und lässt auf diese Weise den Zuschauer an seiner mémoire individuelle und am kulturellen Gedächtnis des französischen und belgischen Gegenwartstheaters teilhaben. Sowohl in Âmes sœurs als auch in Le Roman d’un acteur erscheint der Mensch als Rollenspieler, als homo ludens, der in verschiedenen Situationen bewusst mit der Identitätsauffächerung seiner Person spielt. Dieser Identitätspluralismus ist kennzeichnend für die Postmoderne, in der im Zuge der Entwirklichung und Virtualisierung der Realität eine zunehmende Tendenz zum Rollenspiel, zur Inauthentizität bis hin zur Subjektauflösung der Individuen zu beobachten ist. 361 Die figuralen Metadramen Âmes sœurs und Le Roman d’un acteur reflektieren das Rollenspiel des homo sociologicus in der Gesellschaft und das Rollenspiel des Schauspielers im Theater. Der Schauspieler als Rollenspieler erscheint als Sinnbild der menschlichen Existenz. 5.6 Diskursives Metatheater Im diskursiven Metatheater vollzieht sich die Selbstreflexion des Theaters primär auf sprachlicher Ebene, d.h. im metatheatralen Diskurs der Bühnenfiguren. Dieser metatheatrale Diskurs ist gekennzeichnet durch punktuell in den Repliken auftretende Theaterreferenzen. Die Figuren verwenden 361 Das Rollenspiel nimmt im 21. Jahrhundert neue Formen an, die sich in Computer- Rollenspielen, Videospielen, im Internet, in Chatrooms, in sozialen Netzwerken und im Live-Rollenspiel (Live Action Role Playing) manifestieren. 202 Theatermetaphern, Ausdrücke aus dem Theatervokabular und dem Bühnenjargon, verbalisieren ihr Bewusstsein, in einem theatralischen Raum zu sein (Spielbewusstsein beziehungsweise dramatische Selbstbewusstheit der dramatis personae) oder nehmen explizit Bezug auf das von ihnen dargestellte Drama (z.B. auf die Dauer oder den Ausgang der Handlung). Der metatheatrale Diskurs taucht häufig in Kombination mit anderen Formen des Metatheaters auf, ein diskursives Metadrama aber ist ein Drama, dessen Autoreferentialität vorwiegend auf dem metatheatralen Diskurs beruht, der im inneren Kommunikationssystem des Dramas situiert ist. 5.6.1 Das diskursive Metadrama als dramatisiertes Schachspiel Auf die metatheatralen Züge der dramatischen Werke Samuel Becketts hat die Theaterkritik immer wieder hingewiesen. 362 Karin Vieweg-Marks betont ebenfalls deren autoreferentiellen Charakter und ordnet Becketts 1957 zuerst in französischer Sprache aufgeführten 363 Einakter Fin de partie in ihrer Typologie des Metatheaters unter der Rubrik des diskursiven Metadramas ein: Auch Samuel Becketts Dramen demonstrieren durch die Wortsemantik begründete Selbstbewußtheit, die sich in einigen Fällen (Fin de partie/ Endgame, Comédie/ Play, Acte sans paroles/ Act Without Words) schon in der Titelgebung manifestiert. Mit besonderer Evidenz treten Theatervokabeln in Endgame hervor, vor allem in zahlreichen Äußerungen Hamms. 364 Franck Evrard stellt fest, dass die Figuren in Becketts Theaterstücken Schauspielern gleichen und dramatische Selbstbewusstheit zeigen, und führt En attendant Godot (1953) und Fin de partie als Beispiele an: Les personnages-acteurs de Beckett laissent entrevoir de temps à autre une conscience de leur essence théâtrale. 365 Die Handlung von Fin de partie spielt in einem nicht näher zu lokalisierenden, in gräuliches Licht getauchten, bunkerähnlichen Raum ohne Möbel mit zwei kleinen, hoch gelegenen Fenstern, deren Vorhänge zuge- 362 Worton 1994: 74. „We may consequently describe Beckett’s plays as being metatheatrical, in that they simultaneously are and comment upon theatre.“ 363 Esslin 2006: 28. „Becketts zweites Stück, ‚Endspiel’ [...] sollte in seiner französischen Urfassung unter der Regie von Roger Blin in Paris uraufgeführt werden. Als aber die Theaterdirektionen zögerten und der Start in Paris dadurch verpaßt wurde, stellte das Londoner Royal Court Theatre gastfreundlich seine Bühne zur Verfügung, so daß London am 3. April 1957 das seltene Ereignis einer französischen Welturaufführung feiern konnte.“ 364 Vieweg-Marks 1989: 34. Vieweg-Marks geht von der englischen Fassung aus, führt Endgame unter anderen diskursiven Metadramen als Beispiel an und zitiert einige Sätze mit Theaterlexik. 365 Evrard 1995: 76. 203 zogen sind. In diesem univers clos leben der blinde, gelähmte, im Rollstuhl sitzende Hamm, sein Diener und Adoptivsohn Clov, der nicht sitzen kann und schlecht sieht, sowie Hamms Eltern Nagg und Nell, die bei einem Fahrradunfall in der Nähe von Sedan ihre Beine verloren haben und nun verkrüppelt jeder in einer Mülltonne vor sich hinvegetieren. Jenseits der Mauern sei der Tod, die andere Hölle, erklärt Hamm. „Zéro... [...] Tout est [...] Mortibus.“ (FdP, 45-46) stellt Clov fest, der Hamms Wunsch folgend wiederholt auf eine Leiter steigt und mit dem Fernrohr aus den Fenstern sieht, die zum Land und zum Meer hin liegen. 366 Nur einmal erspäht Clov draußen einen „procréateur en puissance“ (FdP, 105), einen kleinen Jungen, der angelehnt an einen Hünenstein seinen Nabel betrachtet. Hamm und Clov sind aufeinander angewiesen, nur Hamm besitzt den Schlüssel zu den Vorräten und allein Clov kann ihn füttern und ihm täglich morgens sein Stimulans und abends sein Beruhigungsmittel verabreichen. Hamm teilt Clov, Nagg und Nell das Essen zu, pfeift nach Clov und gibt ihm Befehle. Hamm fordert Clov auf, ihn in die Mitte des Raumes und später ans Fenster zu schieben. Er verlangt von Nagg und Clov, sich eine Geschichte, die er gerade für seinen Roman verfasst, anzuhören. Nagg und Nell heben zuweilen den Deckel ihrer Mülltonne, um Essen zu erbitten, sich miteinander zu unterhalten oder sich Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen. Für eine gegenseitige Umarmung ist der Abstand zwischen ihren Mülltonnen jedoch zu groß. Auf Hamms Anweisung schaut Clov ab und zu nach den Eltern und vermutet, dass Nell, die keinen Puls mehr hat, tot ist. Während Hamm keine Regung zeigt, beginnt Nagg zu weinen. Als Clov einen Floh an seinem Körper findet, fürchtet Hamm, daraus könnte sich die ganze Menschheit neu entwickeln, und erteilt Clov den Auftrag, den Floh mit Insektizid zu vernichten. Clov gehorcht Hamm zunächst, aber dann kündigt er im Laufe des Stücks mehrmals an, er werde Hamm verlassen und revoltiert gegen dessen Befehle. Am Schluss steht Clov in Reisekleidung mit gepacktem Koffer an der Tür. Ob er wirklich gehen und das „refuge“ (FdP, 17) verlassen wird, bleibt offen. Wie es der Titel des Dramas bereits andeutet und Theodor W. Adorno im Folgenden näher ausführt, agieren die dramatischen Figuren in Fin de partie wie in einem Schachspiel: 366 Clovs apokalyptische Beschreibung der Landschaft erklärt Andrew Gibson aus dem historischen Kontext der Entstehung des Dramas, dem Kalten Krieg und der nuklearen Bedrohung, er sieht aber auch Ähnlichkeiten zu anderen Kriegsszenarien: „The impact of the Cold War on Beckett produced, above all, the great play Endgame (Fin de partie). [...] So, too, in the play itself, the post-nuclear scenario looms large or recedes according to how far vestiges of other historical contexts make themselves felt. [...] Beckett’s Theatrical Notebooks suggest that he had also the First World War in mind.“ Gibson 2010: 133-137. 204 Schema des Verlaufs ist das Endspiel des Schachs, eine typische, einigermaßen normierte Situation, durch Zäsur vom Mittelspiel und seinen Kombinationen getrennt; diese fehlen auch im Stück. Intrige und plot [sic] werden stillschweigend suspendiert. Nur Kunstfehler oder Unglücksfälle wie der, daß irgendwo noch Lebendiges wächst, könnten Unvorhergesehenes stiften, nicht der findige Geist. Fast leer ist das Feld, und was zuvor geschah, ist kümmerlich nur aus den Stellungen der paar Figuren abzulesen. Hamm ist der König, um den alles sich dreht und der selber nichts vermag. [...] Ob die Partie mit einem Patt oder einem ewigen Schach ausgeht, oder ob Clov siegt, wird, als wäre die Gewißheit darüber schon zuviel Sinn, nicht eindeutig; übrigens ist es wohl auch gar nicht so wichtig, im Patt käme alles zur Ruhe wie im Matt. 367 Samuel Beckett, der ein passionierter Schachspieler war, hat der Interpretation seines Einakters als dramatisiertes Schachspiel während der Proben zu seiner Berliner Inszenierung des Endspiels (1967) zugestimmt: Beckett bestätigt, was sein Exeget Hugh Kenner schon beobachtet hat: Hamm und Clov verhalten sich wie König und Springer einer imaginären Schachpartie. Und die Bewohner der Mülltonnen? Man dürfe den Vergleich nicht zu weit führen. 368 Während Beckett sich zur Rolle Naggs und Nells in dem Schachspiel nicht weiter äußert, erklärt er Hamms Rolle als König des Schachspiels später gegenüber dem Schauspieler Ernst Schröder, der in Berlin 1967 den Hamm spielte, noch genauer: Beckett gibt Erläuterungen zur Rolle: ‚Jetzt spiele ich: er ist der König in dieser von Anfang an verlorenen Schachpartie. Er weiß von Anfang an, daß er lauter sinnlose Züge macht. Daß er etwa mit dem Bootshaken gar nicht vorankommt. Nun macht er zuletzt noch ein paar sinnlose Züge, wie sie nur ein schlechter Spieler macht, ein guter hätte längst aufgegeben. Er versucht nur, das unvermeidliche Ende hinauszuschieben. Jede seiner Gesten ist einer der letzten nutzlosen Züge, die das Ende aufschieben. Er ist ein schlechter Spieler.’ 369 Als Hamm am Ende des Stückes annimmt, Clov habe ihn endgültig verlassen, weil dieser seinen letzten Befehl nicht ausführt, glaubt er das Spiel verloren: „A moi. (Un temps.) De jouer. [...] Vieille fin de partie perdue, finir de perdre.“ (FdP, 110). Doch Clov bleibt in Reisekleidung neben sei- 367 Adorno 1974: 316. 368 Haerdter 1976: 72. 369 Haerdter 1976: 83. 205 nem Koffer regungslos an der Tür stehen bis zum Schluss, worauf Hamm konstatiert: „Egalité“. (FdP, 110). 370 Die Figuren in Fin de partie sind nicht nur Schach-, sondern auch Schauspieler. Der Name Hamm lässt sich herleiten von ham actor ‚Schmierenkomödiant’ 371 , wird aber auch in Verbindung gebracht mit Shakespeares Hamlet und Noahs Sohn Ham im Alten Testament. 372 Clovs Namen führen Esslin und Adorno auf das Wort Clown zurück, Adorno spekuliert weiter, er klinge ähnlich wie englisch glove ‚Handschuh’. 373 Auch die Namen Nagg und Nell hat man zu deuten versucht 374 , doch Beckett hat während der Proben zu der Berliner Inszenierung des Endspiels 1967 gegenüber Ernst Schröder selbst eine Interpretation der Namen seiner dramatis personae gegeben: Hamm ist die Abkürzung des deutschen Wortes Hammer, Clov ist französisch clou, der Nagel, und daher nicht Clav auszusprechen. Nagg, Abkürzung des deutschen Nagel, Nell kommt von englisch nail, der Nagel. Also ein Spiel für einen Hammer und drei Nägel? ‚Wenn Sie so wollen! ’. 375 Vermutlich ist aber gerade die Vielfalt der möglichen Assoziationen, die diese Namensgebung bei den Rezipienten des Endspiels weckt, von Beckett intendiert. In ihrer Biographie über Samuel Beckett gibt Deirdre Bair Äußerungen Becketts wieder, in denen der Autor Hamm und Clov mit Vladimir und Estragon, den Protagonisten aus En attendant Godot, in Verbindung bringt sowie einen biographischen Bezug herstellt: Several times, in rare unguarded moments, Beckett has said that Hamm and Clov are Vladimir and Estragon at the end of their lives. Once he qualified this remark, stating that Hamm and Clov were actually himself and Suzanne as they were in the 1950’s - when they found it difficult to stay together but impossible to leave each other. 376 Die beiden Hauptfiguren in Fin de partie hinterfragen selbst die Bedeutung ihrer Rolle in diesem absurden Spiel für einen Hammer und drei Nägel: 370 Der Ausdruck „Égalité“, der in der englischen Version Endgame „Deuce“ lautet, stammt im Englischen aus dem Tennisspiel. Im Französischen wird „égalité“ für einen Gleichstand der Punkte auch in anderen Spielen verwendet und entspricht in der Schachterminologie dem „pat“, d.h. dem Patt, einer Stellung, bei der der König mit jedem ihm noch möglichen Zug ins Schach geriete. In diesem Fall gilt das Schachspiel als unentschieden. Im Übrigen wurde während der Französischen Revolution in den Kartenspielen der „Valet“ durch die Karte „Egalité“ ersetzt, http: / / atilf.atilf.fr/ dendien/ scripts/ tlfiv5/ advanced.exe? 8; s=3375805005, 17.06.12. 371 Vgl. Esslin 2006: 46, Adorno 1974: 312 und Heitmann 1970: 36. 372 Vgl. Adorno 1974: 312, Heitmann 1970: 36 und Schoell 1967: 116. 373 Vgl. Esslin 2006: 46 und Adorno 1974: 313. 374 Vgl. Schoell 1967: 116. 375 Schröder 1976: 112. Beckett antwortet hier auf die Fragen der Schauspieler. 376 Bair 1978: 468. 206 „On n’est pas en train de...de... signifier quelque chose? ”, fragt Hamm Clov, der ihm, sich über den guten Witz amüsierend, hellsichtig antwortet: „Signifier? Nous, signifier! (Rire bref.) Ah elle est bonne! ” (FdP, 49). Alle Figuren dieses Stücks zeigen Fiktionsbewusstsein, d.h. dramatische Selbstbewusstheit. Sowohl Nagg und Nell als auch Hamm und Clov haben den Eindruck, in einer Komödie beziehungsweise Farce 377 gefangen zu sein, die sie tagtäglich nach denselben Ritualen spielen: „Pourquoi cette comédie, tous les jours? “(FdP, 29), fragt Nell Nagg, nachdem sie feststellen müssen, dass es ihnen, selbst wenn sie in ihren Mülltonnen steckend die Köpfe aufeinander zubewegen, nicht gelingt, sich zu küssen. Wenig später stellt Clov Hamm, nachdem er wieder einmal auf die Leiter gestiegen ist und an den Fenstern Ausschau gehalten hat, genau die gleiche Frage (FdP, 49). „La routine.“ (FdP, 49) erwidert Hamm und entlarvt damit den repetitiven Charakter dieses Schauspiels. Alles sei auf Analogien und Wiederholungen aufgebaut, versichert Beckett und erklärt: „Das Stück ist voller Echos, alle antworten einander.“ 378 Leitmotivisch kehren Sätze wie Clovs Drohung 379 „Je te quitte.“ (FdP, 55, 57, 59, 67, 79, 90, 106) und seine Prophezeiung „Fini, c’est fini, ça va finir, ça va peut-être finir.” in all ihren Variationen (FdP, 15, 92, 95, 105, 110) wieder. Das Verb jouer, welches auf die Spielzüge in dieser Endphase des Schachs Bezug nimmt und zugleich das Fiktionsbewusstsein der dramatischen Figuren offenbart, taucht ebenfalls mehrmals auf. Hamm, Clov, Nagg und Nell empfinden ihr Dasein als theatralisiert. Sie verwenden in ihren Dialogen einen metatheatralen Diskurs, der Fachbegriffe aus dem Theatervokabular enthält. 380 So bezieht sich Hamms Äußerung „A [...] à moi [...] De jouer.“ (FdP, 16, 110) nicht nur auf seinen bevorstehenden Zug in diesem dramatisierten Schachspiel, sondern auch auf seine Rolle in dem Theaterspiel, bei dem er den Einsatz nicht verpassen darf. Auf diese Äußerung folgt an beiden Textstellen ein Monolog Hamms. Das Theaterspielen der Figuren beginnt bereits mit Clovs Pantomime am Anfang, in der er die übrigen Akteure, Nell, Nagg und Hamm von den Tüchern, die über sie gebreitet sind, befreit und die Vorhänge an den Fenstern zur Seite schiebt. Man könnte dies im übertragenen Sinne als ein Öffnen des Theatervorhangs deuten. 381 Hamms Umgang mit dem blutgefleckten Taschentuch, das er zu Beginn von seinem Gesicht abhebt und zum Schluss wieder vor sein Gesicht hält, interpretiert Klaus Heitmann glei- 377 In Endgame ist das Wort „comédie“ mit „farce“ ins Englische übersetzt. 378 Haerdter 1976: 54 und 46. 379 Worton 1994: 73. „Godot is grounded in the promise of an arrival that never occurs, Endgame is the promise of a departure that never happens.” 380 Theaterlexik in Fin de partie: comédie, comique, à moi de jouer, cessons de jouer, puisque ça se joue comme ça, jouons ça comme ça, aparté, réplique, soliloque. 381 Vgl. Breuer 2005: 56. 207 chermaßen als „lever du rideau“ zur Eröffnung und als Herablassen des Vorhangs am Schluss des Schauspiels. 382 Die Thematik des Spielens durchzieht das gesamte Stück. Einen Ausstieg aus dem Spiel gibt es für Hamm nicht: „Cessons de jouer! “, fleht Clov ihn an und wird mit einem „Jamais! “ von Hamm in seine Schranken gewiesen (FdP, 102). Den Regeln des Spiels, d.h. der „comédie“(FdP, 29, 49), muss man sich beugen, wie Hamm am Ende, als Nagg und Clov ihm nicht mehr antworten, resigniert erkennt: „Puisque ça se joue comme ça... [...]... jouons ça comme ça… […] et n’en parlons plus [...] ne parlons plus (FdP, 112). Dass sich die Komödie ihres Daseins vor Publikum abspielt, ist den dramatischen Personen bewusst: Clov erspäht aus dem Fenster mit dem auf den Theatersaal gerichteten Fernrohr „une foule en délire“ (FdP, 45) und durchbricht damit ironisch für einen kurzen Moment die „vierte Wand“. Hamm ist in diesem Theaterspiel auf die Repliken Clovs angewiesen, denn die Stille kann er nicht ertragen. „À quoi est-ce que je sers? “, fragt ihn Clov, worauf Hamm lakonisch antwortet: „À me donner la réplique.” (FdP, 79-80). Nur dadurch, dass ihm jemand antwortet, zuhört und seinen Befehlen folgt, kann der blinde und gelähmte Hamm sich seiner Existenz vergewissern, an der er zweifelt: „Je n’ai jamais été là. [...] Absent, toujours.“ (FdP, 97-98). Diese Interdependenz der häufig in Paaren 383 erscheinenden Beckettschen Figuren erkennt auch Michael Worton, der den Einfluss George Berkeleys auf Becketts Werk hervorhebt: All of Beckett’s pairs are bound in friendships that are essentially powerrelationships. Above all, each partner needs to know that the other is there: the partners provide proof that they really exist by responding and replying to each other. In this respect, Beckett was much influenced by the contention of the eighteenth-century Irish philosopher, Bishop Berkeley: Esse est percipi (To be is to be perceived.) This postulate, which informs much Existentialist thinking and which Beckett quotes in Murphy and places as the epigraph to Film, underpins the anxious desire of his characters to be noticed: ‘Vladimir: … […] There you are again’ (WFG 59); ‘Hamm: You loved me once’ (E, 14). 384 „Nec tecum, nec sine te“, so hat Samuel Beckett die Hass-Liebe-Beziehung zwischen Clov und Hamm charakterisiert. 385 Zuweilen zieht Hamm sich jedoch aus dem Dialog mit Clov zurück, spricht beiseite oder verfällt in ein Selbstgespräch: 382 Vgl. Heitmann 1970: 36. 383 Badiou 1995a: 73. „Il n’y a théâtre qu’autant qu’il y a dialogue, discord et discussion entre deux personnages, et la méthode ascétique de Beckett restreint la théâtralité aux effets possibles du Deux. L’exhibition des ressources illimitées d’un couple, même quand il est vieilli, monotone, presque haineux, la saisie verbale de toutes les conséquences de la dualité: telles sont les opérations théâtrales de Beckett.“ 384 Worton 1994: 71-72. 385 Haerdter 1976: 72. 208 Clov: […] - Quoi? [...] C’est pour moi que tu dis ça? Hamm (avec colère).- Un aparté! Con! C’est la première fois que tu entends un aparté? […] J’amorce mon dernier soliloque. (FdP, 102). Die Theaterlexik („aparté“, „soliloque“) zeigt dabei Hamms hohe dramatische und sprachliche Selbstreflexivität. Das Vokabular des Theaters und der Literatur ist der Dichter- und Schriftstellerfigur Hamm ebenso vertraut wie ihrem Schöpfer Samuel Beckett. Hamm spricht von den „personnages“(FdP, 75) seiner „histoire“ 386 (FdP, 67) beziehungsweise seinem „roman“ (FdP, 80), dessen Auszüge er Clov und Nagg in einem „ton de narrateur“(FdP, 70) vorträgt, sich dabei sprachlich ständig korrigiert, Sätze reformuliert und sich am Ende mit „Un peu de poésie.“ (FdP, 110) zu einer poetischen Ausdrucksweise ermahnt. Die Figuren in Fin de partie empfinden nicht nur ihr Dasein als fiktionalisiert, Hamm und Nagg sind auch selbst Verfasser beziehungsweise Erzähler von Fiktionen. Hamm schlüpft bei der Präsentation seiner Geschichte immer wieder von der Autorin die Erzählerrolle oder versetzt sich in seine Romanfigur, einen sich nähernden, für sein Kind um Brot bettelnden Mann; Nagg erzählt Nell seine Geschichte über den Engländer und den Schneider mit einem kurzen Rollenspiel, in dem er abwechselnd die Stimme des Erzählers, des Engländers und des Schneiders übernimmt. In beiden Fällen handelt es sich um narrative Sequenzen, die im Inneren des Kommunikationssystems dieses Dramas situiert sind, denn die von Hamm und Nagg angesprochenen Adressaten und Hörer der jeweiligen Geschichte sind primär die übrigen Bühnenfiguren, nicht das reale Publikum. Kurz vor dem Ende des Stücks, als Clov dem Ausgang zustrebt und aufbrechen will, danken Hamm und Clov einander wie zwei Schachspieler für eine gute Partie oder zwei Schauspieler für eine gelungene Vorstellung. Clov: C’est ce que nous appelons gagner la sortie. Hamm: Je te remercie, Clov. Clov (se retournant, vivement): Ah, pardon, c’est moi qui te remercie. (FdP, 109). Das Ende des Spiels, das im Laufe des Stücks immer wieder heraufbeschworen wird, versucht Hamm durch den Dialog mit Clov hinauszuzögern: Hamm: [...] Assez, il est temps que cela finisse, dans le refuge aussi. […] Et cependant j’hésite, j’hésite à … à finir. Oui, c’est bien ça, il est temps que cela finisse et cependant j’hésite encore à - (bâillements) - à finir. (FdP, 17). 386 In der englischen Fassung wird „mon histoire“ mit „my chronicle“ ‚meine Chronik’ übersetzt und so oft mit Hamms eigener Geschichte gleichgesetzt. Schoell 2008: 27. „Die Geschichte, die Hamm erzählt, ist seine eigene, die seiner Herrschaft.“ http: / / www.uni-kassel.de/ upress/ online/ frei/ 978-3-89958-398-4.volltext.frei.pdf, 11.06.12. 209 Die Zeit, d.h. ihr Leben bis zu diesem Ende, empfinden Hamm und Clov als eine Häufung sich aneinanderreihender, langsam verstreichender Augenblicke 387 , die sie mit den Hirsekörnern des griechischen Philosophen Zenon von Elea in seinem Paradoxon vom Fuder Hirse vergleichen 388 : Hamm [...]: Instants sur instants, plouff, plouff, comme les grains de mil de... (il cherche)… ce vieux Grec, et toute la vie on attend que ça vous fasse une vie. (FdP, 93). Clov: […] Les grains s’ajoutent aux grains, un à un, et un jour, soudain, c’est un tas, un petit tas, l’impossible tas. (FdP, 15-16). Hamm unternimmt wie Clov am Schluss einen Versuch, „von der Bühne abzutreten“, indem er Clov bittet, ihn wieder mit dem Tuch vom Anfang zu bedecken, doch Clov hört ihn und sein Pfeifen nicht mehr. So bleibt Hamm nur das Taschentuch („Vieux linge! “ FdP, 112), das er sich abschließend vor das Gesicht hält. Die Frage, ob das Spiel der beiden Protagonisten sich von Tag zu Tag endlos wiederholt, lässt Beckett letztlich unbeantwortet. Sollte Clov Hamm tatsächlich verlassen, würde dies den Tod aller dramatis personae bedeuten, denn außerhalb des Refugiums wartet gemäß Hamm der Tod, und innerhalb würden ohne den Koch und noch beweglichen Pfleger Clov angesichts der zu Ende gehenden Vorräte alle verhungern. Das Motiv des Todes klingt während des Stücks immer wieder an. Die Figuren tragen von Anfang an Zeichen des körperlichen Verfalls und der Versehrtheit, sie scheinen dem Tod schon anheimgegeben zu sein: Hamm: Tu pues déjà. Toute la maison pue le cadavre. Clov: Tout l’univers. (FdP, 65). Clov spielt mit dem Gedanken, Hamm umzubringen (FdP, 43), Hamm will seine Eltern in ihren Mülltonnen entsorgen lassen („Mon royaume pour un boueux! “ 389 , FdP, 48). Er schlägt Clov vor, ihn im Austausch gegen den Code für das Büfett mit den Vorräten zu erledigen (FdP, 55) und bittet Clov, ihn in seinen Sarg zu betten (FdP, 102). „Alors que ça finisse! ”, wünscht Hamm sich, als Clov ihm antwortet, es seien keine Särge mehr da. Das Leitmotiv des Endens und die das Drama prägende Endzeitstimmung sind also eng mit der Idee des Todes verbunden. Die Nähe des Endspiels zur schwarzen Komödie hat unter anderem Klaus Heitmann hervorgehoben, dem zufolge sich dieses groteske Züge 387 Haerdter 1976: 81. „Die Zeit ist in eine Vielzahl von Augenblicken aufgelöst, in einem einzigen erstarrt.“ 388 Heitmann 1970: 33. „Dieses scheinbar unendliche Tröpfeln der Augenblicke, die zusammengenommen doch nur jene winzige Spanne ausmachen, läßt sich weder abkürzen noch beschleunigen.“ 389 Intertextuelle Anspielung auf das Zitat „My kingdom for a horse“ aus Shakespeares Richard III. 210 tragende Schauspiel als Clownerie verstehen lässt. 390 Clov, mit dessen Namen man bereits den Begriff ‚Clown’ assoziieren kann, ist ebenso wie Hamm rot geschminkt. Die auf ihren Rumpf reduzierten Eltern Nagg und Nell wiederum haben laut Regieanweisung einen sehr weißen Teint. Auch der Charakter der Wiederholung in der Gestik und der Proxemik der Figuren, z.B. das wiederholte Auf-die-Leiter-Steigen Clovs und das mehrmalige Heben der Mülltonnendeckel durch die beiden Insassen, unterstreichen die clownesken Merkmale dieses Dramas. Bei seiner Berliner Inszenierung von Fin de partie (1967), welches Beckett als das liebste seiner Stücke 391 bezeichnete, legte der Autor viel Wert auf das Lachen und die Komik in diesem Drama: Ich möchte, daß in diesem Stück soviel wie möglich gelacht wird, erklärt Beckett. Es ist ein Spielstück. Er meint das Lachen seiner Figuren, nicht das Amüsement des Publikums. 392 Wir wollen so viele Lacher wie möglich aus diesem schrecklichen Zeug herausholen; er meint das Stück. 393 Der wichtigste Satz in Fin de partie, so Beckett, sei für ihn Nells Aussage „Rien n’est plus drôle que le malheur [...]“ (FdP, 33). Samuel Becketts diskursives Metadrama Fin de partie verweist in mehrerlei Hinsicht auf sich selbst. Die im Dialog der Bühnenfiguren verwendete Theaterlexik wirkt illusionsstörend, sie macht dem Zuschauer kontinuierlich bewusst, dass er einer Theateraufführung beiwohnt und einen aus Monologen, Dialogen mit Replikenverhakung und Beiseitesprechen bestehenden Theatertext rezipiert. Der metatheatrale Diskurs wird ergänzt durch selbstreflexive Elemente in der Gestik und Proxemik der Figuren wie Clovs Enthüllung der Akteure zu Beginn des Dramas, sein Durchbrechen der „vierten Wand“ mit dem Fernrohr, Hamms Spiel mit dem blutbefleckten Taschentuch sowie durch die sprechenden Namen der beiden Protagonisten Hamm und Clov, welche eine Theaterreferenz (ham actor und clown) aufweisen. Hinzu kommen im Rahmen narrativer Sequenzen kurze Rollenspiele und eine intertextuelle Anspielung auf Shakespeares Drama Richard III. Alle dramatis personae empfinden ihre Existenz als theatralisiert, fühlen sich in der Komödie ihres Lebens gefangen und zeigen Spielbeziehungsweise Fiktionsbewusstsein. Fin de partie ist somit Theater, das sich selbst thematisiert und kommentiert, es ist „Theater in der Potenz“ 394 . 390 Vgl. Heitmann 1970: 37. 391 Vgl. Haerdter 1976: 88. 392 Haerdter 1976: 65. 393 Haerdter 1976: 24. 394 Heitmann 1970: 36. 211 5.6.2 Das diskursive Metadrama als Tragödie Ein weiteres Beispiel für ein diskursives Metadrama ist Eugène Ionescos Stück Le Roi se meurt aus dem Jahre 1962. Metatheatrale Züge weist nicht nur dieses Drama, das Ionesco in einem Interview mit Nelly K. Murstein als „tragédie“ 395 bezeichnet, auf, sondern finden sich in Ionescos dramatischem Werk auch in L’Impromptu de l’Alma, Amédée, La soif et la faim und Victimes du devoir. 396 Der Einakter Le roi se meurt, den Ionesco nach einer schweren Krankheit 397 schrieb, zeigt wie im Titel 398 angedeutet die Agonie eines Königs. Die verschiedenen Phasen des Sterbens des Monarchen Bérenger I., der ein von Verfall und Sterilität gezeichnetes Reich regiert, werden begleitet von den beiden Königinnen Marie und Marguerite, seinem Hofarzt Le Médecin, dem Wächter Le Garde und der Haushälterin und Krankenschwester Juliette. Einst war Bérenger ein Kriegsheld, Erfinder, Ingenieur, Städtegründer und Historiker, der Kommentare zu Homer verfasste. Gemäß der Apologie des Wächters hat er sogar die Ilias und die Odyssee sowie Tragödien und Komödien unter dem Pseudonym Shakespeare geschrieben. Nun leidet er an einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, und seine erste Gemahlin Marguerite prophezeit ihm, er werde in eineinhalb Stunden am Ende der Theateraufführung sterben. Der Hofarzt, zugleich Chirurg, Henker, Bakteriologe und Astrologe, bestätigt, der König sei nicht zu operieren. Sein Königreich weist Anzeichen des Niedergangs und des Verfalls 399 auf, die als Vorboten des Todes gedeutet werden können: ein Riss in der Mauer, ein Erdbeben, der Palast in Trümmern, Spinnweben, brach liegende Ländereien, vom Meer überschwemmte Deiche, vom Krieg zerstörte Städte, ausgebrannte Schwimmbäder, verlassene Bistros, eine Jugend, die zuhauf das Land verlässt (Rsm, 744-745). Der Hofarzt und Juliette entwerfen ein „Weltuntergangsszenario“ 400 , das apokalyptisch anmutet: 395 Murstein/ Ionesco 1972: 613. „I[onesco]: [...] j’ai cru vraiment que Le Roi se meurt était une vraie tragédie comme on en écrivait.” 396 Vgl. Ionesco 1996: 164 und Zaiser 1988: 265ff. und 282ff. Zaiser untersucht Form und Funktion des potenzierten Theaters im Werk Ionescos, sieht Parallelen zu Pirandello und stellt die These auf, „dass Ionesco zumindest unbewusst Pirandellosches Gedankengut absorbiert hat.“ Zaiser 1988: 224. 397 Ionesco 1996: 82. In diesen Entretiens avec Claude Bonnefoy sagt Ionesco: „Je venais d’être malade et j’avais eu très peur. Puis, après ces dix jours, j’ai rechuté et j’ai été à nouveau malade quinze jours. Après ces quinze jours, j’ai recommencé à écrire. Les dix jours suivants j’ai terminé. [...] la maladie m’a déterminé à écrire cette pièce.“ 398 Se mourir bedeutet ‚être en train de mourir’ oder ‚être sur le point de mourir’. 399 Hubert 1990: 168-169. „L’espace, tout au long de la pièce, est traité comme un énorme corps malade. […] Le corps du roi est un microcosme qui vit au même rythme que l’univers.“ 400 Geyer 2003: 472. 212 Le Médecin: La foudre s’immobilise dans le ciel, les nuages pleuvent des grenouilles, le tonnere gronde. On ne l’entend pas car il est muet. Vingt-cinq habitants se sont liquéfiés. Douze ont perdu leur tête. Décapités. (Rsm, 746). Juliette: La terre s’effondre avec lui. Les astres s’évanouissent. L’eau disparaît. Disparaissent le feu, l’air, un univers, tant d’univers. (Rsm, 786). Bérenger I. durchläuft während der Etappen der „cérémonie“ (Rsm, 743) des Sterbens, die gemäß Marguerite einem „programme“(Rsm, 757, 781) folgen, mehrere Stadien: Ungläubigkeit, Verdrängung des nahenden Todes, Auflehnung, Verzweiflung, Regression, Resignation, Todesangst, Panik, Vergessen, Delirium, einen somnambulen Zustand und Desorientierung. Entgegen den Bestrebungen seiner jüngeren, hedonistischen und lebenszugewandten Frau Marie, ihn durch ihren Zuspruch am Leben zu erhalten, versuchen Marguerite und der Arzt den König davon zu überzeugen, dass sein Tod unausweichlich ist. Sie raten ihm, moralisch, administrativ und physisch abzudanken. Man demonstriert ihm die Dekadenz seines Reiches, die Instabilität von Krone und Szepter, den Verlust seiner königlichen Macht wie seiner physischen und geistigen Kräfte. Bérenger I. beginnt zu hinken, fällt öfter hin, altert zusehends, wird blind und taub, zeigt Lähmungserscheinungen und findet sich im Rollstuhl statt auf dem Thron wieder. Königin Marguerite, die in sich Züge der Parze Atropos 401 (römisch: Morta), des griechischen Seelenführers Hermes, des Fährmanns Charon und der Beatrice aus Dantes Inferno vereint, führt den König, schneidet seinen Lebensfaden ab und geleitet Bérenger am Ende in das Reich des Todes, symbolisiert durch graues Licht und Nebel, in dem der König auf seinem Thron sitzend verschwindet. Sie übernimmt die Funktion eines meneur de jeu in der Zeremonie der Agonie. Dabei wird sie assistiert von Le Médecin. Beide Figuren sind „adjuvants de l’action“ 402 , d.h. Katalysatoren, die die Handlung dieses handlungsarmen Dramas vorantreiben, indem sie den König, dem Marguerite seine „Todesvergessenheit“ 403 vorwirft, dazu anhalten, dem Tod ins Auge zu sehen. Die Figur Bérenger erscheint in anderen Rollen (Durchschnittsbürger, Verlagsangestellter, Dichter) in Ionescos Werken Tueur sans gages (1959), Rhinocéros (1959) und Le piéton de l’air (1963), gewinnt dadurch eine allge- 401 Atropos gehört neben Klotho und Lachesis zu den drei Schicksalsgöttinnen (griechisch: Moiren, römisch: Parzen) und schneidet wie auch Marguerite den Lebensfaden ab. 402 Charvet/ Gompertz 1977: 23. 403 Geyer 2003: 470. 213 meinmenschliche Dimension und wird quasi zum „Jedermann“ 404 . In Le Roi se meurt gleicht Bérenger einem absoluten Herrscher, was intertextuelle Anspielungen auf den dem Sonnenkönig Ludwig XIV. zugeschriebenen Ausspruch „[Mais] l’Etat, c’est moi.“ (Rsm, 765) und auf die beim Tode eines Königs in Frankreich verwendete Heroldsformel Le roi est mort, vive le roi („Vive le roi, le roi est mort.“ Rsm, 772) signalisieren. Der metatheatrale Diskurs, der in den Repliken der dramatischen Personen dieses Stücks in Form von Theatervokabular und Theatermetaphern auftritt, wird eingeleitet durch zwei prospektive Aussagen Marguerites. Königin Marguerite, die wie eine auktoriale Bühnenfigur agiert, welche allwissend das gesamte Bühnengeschehen überblickt, kündigt Marie zu Beginn an: „Vous avez encore un rôle à jouer, tranquillisez-vous.“ (Rsm, 744). Noch deutlicher äußert sich das Fiktionsbewusstsein Marguerites in der an den König gerichteten Prophezeiung „Tu vas mourir dans une heure et demie, tu vas mourir à la fin du spectacle.“ (Rsm, 751). Die Spielzeit ist in diesem Drama identisch mit der gespielten Zeit. 405 Ionesco hält sich buchstäblich an die Einheit der Zeit, denn der angekündigte Todeszeitpunkt Bérengers entspricht dem Ende der Aufführung: Ionesco verweist dadurch auf Strukturhomologie, oder sagen wir einfach: Spiegelung zwischen der dargestellten fiktionalen Zeremonie im Stück und der Zeremonie einer Theateraufführung, in der menschliche Existenzialien beschworen werden. [...] Wie in einem Count-Down wird bis zum Ende des Stücks immer wieder die Restlebenszeit des Königs ausgerufen. 406 Spielzeit und gespielte Zeit werden dem Zuschauer durch diesen Count- Down, der illusionsstörend wirkt, immer wieder bewusst gemacht. Das Hofzeremoniell, das Spiel des Königs, Maries, des Wächters und Juliettes, die dem geschwächten, mehrmals hinfallenden König mit dem Zuruf „Vive le roi! “ akklamieren, entlarvt Marguerite als Theater mit dem Kommentar „Quelle comédie.“ (Rsm, 753). Die Theatralität dieser Szene unterstreicht Ionesco mit der Regieanweisung „Cette scène doit être jouée en guignol tragique.“ (Rsm, 753). Durch die von Marguerite eingeführte Bezeichnung „cérémonie“ (Rsm, 743) und die Ankündigung des Wächters „La cérémonie commence! “ (Rsm, 757) wird der theatralische, rituelle Cha- 404 Schoell 1970, II: 60-61: „Dieser Bérenger [Berenger I.], den man in Beziehung zu Shakespeares Richard II. und zu Becketts Hamm gebracht hat, ist ein Jedermann, aber ein Jedermann einer besonderen Art. Ionesco hat die Gattung des Mysterienspiels wiederbelebt, mit guten und bösen Kräften, die in einer Psychomachie um den Jedermann kämpfen, aber sein Mysterienspiel ist profanes Drama, in dem nicht die Seele des einzelnen Streitpunkt der (durchaus persönlich interessierten) Kräfte ist, sondern zumindest nach außen hin die rein physische Kraft und das Durchstehvermögen des Jedermann-Bérenger.“ 405 Vgl. Schoell 1970, II: 61. 406 Geyer 2003: 474-475. 214 rakter der im Tod des Königs gipfelnden Dramenhandlung hervorgehoben. Dramatische Selbstbewusstheit und Einsicht in die Rollenhaftigkeit seines Daseins zeigt auch Bérenger I., der sich, weil er sich in seinem bisherigen Leben nicht auf den Tod eingestellt hat, mit einem schlecht vorbereiteten Schüler, Redner oder Schauspieler, dem sein Publikum fremd ist, vergleicht: Le Roi: Je suis comme un écolier qui se présente à l’examen sans avoir fait ses devoirs. Sans avoir préparé sa leçon… […]. Le Roi: … Comme un comédien qui ne connaît pas son rôle le soir de la première et qui a des trous, des trous, des trous. Comme un orateur qu’on pousse à la tribune, qui ne connaît pas le premier mot de son discours, qui ne sait même pas à qui il s’adresse. Je ne connais pas ce public. Je ne veux pas le connaître, je n’ai rien à lui dire. (Rsm, 759-760). Als der König begreift, dass das, was enden muss, bereits zu Ende ist und die Sonne pathetisch um Hilfe anfleht, spottet Marguerite: „Il n’y a que sa tirade qui n’en finit plus.“ (Rsm, 769) und weist den Zuschauer mit diesem dramentechnischen Ausdruck erneut auf die Fiktionalität des Bühnengeschehens hin. Bérenger selbst gibt einen metasprachlichen Kommentar zu seiner Rede ab, denn es gelingt ihm nicht, die Erkenntnis, dass er sterben wird, in Worte zu fassen: Le Roi: Je meurs, vous entendez, je veux dire que je meurs, je n’arrive pas à le dire, je ne fais que de la littérature. (Rsm, 769). Ionesco spielt in den folgenden Repliken mit der Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ne faire que de la littérature (c’est de la littérature ‚das ist doch nur Blabla’ im français familier). Der Wächer interpretiert diese Wendung im konkreten Sinne (faire de la littérature ‚schriftstellerisch tätig sein’). Während Marguerite Bérengers Klagen abwertend als „littérature“ bezeichnet, greifen der Arzt und Bérenger, der in diesem Stück auch als Dichter von Epen, Tragödien und Komödien dargestellt wird, die konkrete Bedeutung des Begriffs auf: Marguerite: C’est cela la littérature. Le médecin: On en fait jusqu’au dernier moment. Tant qu’on est vivant, tout est prétexte à littérature. Marie: Si cela pouvait le soulager. Le Garde, annonçant: La littérature soulage un peu le roi! Le Roi: Non, non. Je sais, rien ne me soulage. Elle me remplit, elle me vide. […]. (Rsm, 769). 215 Die autoreferentielle Anspielung auf Eugène Ionesco, der infolge einer schweren Krankheit das Drama Le roi se meurt schreibt, um seine Angst vor dem Tod zu überwinden, ist offensichtlich. In Notes et contre-notes offenbart Ionesco seine Obsession: J’ai toujours été obsédé par la mort. Depuis l’âge de quatre ans, depuis que j’ai su que j’allais mourir, l’angoisse ne m’a plus quitté. C’est comme si j’avais compris tout d’un coup qu’il n’y avait rien à faire pour y échapper et qu’il n’y avait plus rien à faire dans la vie. 407 In den Bérenger-Stücken fungiert die Typenfigur Bérenger häufig als „personnage porte-parole“ 408 und Alter Ego des Autors. Bérenger I. werde, so der Hofarzt, einmal selbst eine Seite in einem Buch von 10.000 Seiten sein, das man in eine Bibliothek mit einer Million Büchern stellen werde, eine Bibliothek unter einer Million Bibliotheken (Rsm, 787). Die Möglichkeit, sich in den Archiven der Literatur oder der Geschichte zu verewigen, relativiert Ionesco selbstironisch mit diesem Bild sofort wieder. Die Welt, von der sich König Bérenger I. allmählich löst, beschreibt Marguerite als „rêve“(Rsm, 793), d.h. als Schein und Illusion. Nachdem sie die Fäden, die Bérenger noch im Diesseits halten, zerschnitten und ihn von aller irdischen Last befreit hat, stellt sie fest: „Le rêveur se retire de son rêve.“ (Rsm, 793). Erwachen wird Bérenger aus diesem Traum erst im Tode. Diese Weltsicht, die an Calderón (La vida es sueño) erinnert, entspricht dem Topos vom Leben als Traum, von der Welt als Schein. Ionesco formuliert ein ähnliches Weltbild in dem in Notes et contre-notes enthaltenen Text Mes pièces et moi: [...] nous sommes étonnés d’être, dans ce monde qui apparaît illusoire, fictif et le comportement humain révèle son ridicule, toute histoire, son inutilité absolue; toute réalité, tout langage semble se désarticuler, se désagréger, se vider, si bien que tout étant dénué d’importance, que peut-on faire d’autre que d’en rire? 409 In Le Roi se meurt wird die Bühnenwirklichkeit durch Marguerites Bemerkungen dramenimmanent als Theater, Fiktion und Illusion entzaubert. Die Metapher vom Theatrum mundi ist in diesem Theaterstück wie in vielen anderen Metadramen präsent. Anders als im Barock gibt es hier jedoch keinen Gott, der Bérenger zuschaut und eine Rolle auf der Weltbühne zuweist, sondern nur die ihm in das Reich der Schatten vorausgegangenen „morts heureux“ 410 (Rsm, 770) und das „Grand Rien“(Rsm, 771), das der Wächter um Hilfe für den König anruft. 407 Ionesco 1962: 204. 408 Hubert 2011: 109. 409 Ionesco 1962: 140. 410 Marie-Claude Hubert sieht in Bérengers Anrufung der Toten einen Hinweis auf das Tibetische Buch der Toten: „Comme dans ce vieux Livre des morts tibétain, dont la lecture bouleversa Ionesco, Bérenger voudrait que ceux qui l’ont précédé l’escortent et lui ouvrent l a voie.“ Hubert 1990: 173. 216 Das Metadrama Le roi se meurt ist geprägt von der metaphysischen Angst Bérengers. Ionesco bringt die innere Entwicklung seines Alter Egos Bérenger auf die Bühne und betreibt damit eine seelische Introspektion, um seine eigene existenzielle Angst literarisch zu verarbeiten: Je tâche de projeter sur scène un drame intérieur (incompréhensible à moimême) me disant, toutefois, que, le microcosme étant à l’image du macrocosme, il peut arriver que ce monde intérieur, déchiqueté, désarticulé, soit, en quelque sorte, le miroir ou le symbole des contradictions universelles. 411 Ausgehend von seiner Furcht vor dem Tod und dem Nichts schildert Ionesco die Agonie Bérengers I., welcher stellvertretend für den Menschen allgemein in der Tragödie Le roi se meurt symbolisch den psychologischen Prozess der Ablösung von allem Irdischen vollzieht: And when I wrote Exit the King, I put myself in the position of someone to whom one would say: ‘You are going to die tonight.’ That was all. The action was set in motion from this starting point. 412 Die Aufgabe des Königs ist es, würdig zu sterben („mourir dignement“, Rsm, 760). Er soll im Laufe der Dramenhandlung lernen zu sterben. Diesen apprentissage de la mort will Ionesco mit seinem Stück in Szene setzen, um sich selbst und dem Zuschauer die Auseinandersetzung mit dem Tode zu erleichtern: I[onesco]: [...] Mais cette pièce-là, à mon avis, devrait plutôt réconforter; c’est une pièce qui devait aider les gens à mourir. C’était la pièce du dépouillement. C’était pour leur apprendre à mourir et pour m’apprendre à mourir, comme je l’ai déjà dit d’ailleurs, comme je l’ai déjà écrit. C’est pour m’apprendre à mourir que j’ai écrit cette pièce. M[urstein]: Et elle vous a appris à mourir? I[onesco]: Pas du tout. 413 Dass der Wirkung der Literatur hier jedoch Grenzen gesetzt sind, erkennt Ionesco selbst. 5.6.3 Das diskursive Metadrama als Confiteor Das 1998 erschienene und unter der Regie von Michel Raskine in Lyon uraufgeführte Stück Théâtres von Olivier Py weist sich schon im Titel als Metadrama aus. Bei diesem Theatertext dominiert der metatheatrale Diskurs, er ist aber kombiniert mit einigen episierenden Elementen, was Karin Vieweg-Marks’ These, nach der sprachliche Formen dramatischer Selbstreflexivität im diskursiven Metadrama häufig mit anderen metadramatischen 411 Ionesco 1962: 136. 412 Jacquart/ Ionesco 1973: 46. Interview mit Emmanuel Jacquart. 413 Murstein/ Ionesco 1972: 614. 217 Techniken zusammen auftreten 414 , bestätigt. Der Dramatiker, Schauspieler, Theater-, Opern- und Filmregisseur Olivier Py ist in der Kulturszene auch bekannt als früherer Direktor des Centre dramatique national d’Orléans, ehemaliger Intendant des Pariser Odéon-Théâtre de l’Europe sowie als Leiter des Festival d’Avignon 2014. In zwölf Szenen, die das Confiteor der Dichterfigur Moi-Même wiedergeben, zeigt Olivier Py in Théâtres die Situation eines von schweren Kindheitserinnerungen und Inzesterfahrungen geprägten Mannes, der selbst drei Jahre nach dem Algerienkrieg geboren ist, sich jedoch mit den Verbrechen seiner Eltern, die er hasst, auseinandersetzt. In der ersten Szene, überschrieben „Une plaie peinte pour le drame“, erscheint Moi-Même und kündigt seinem Henker Mon Bourreau und den Zuschauern an, er werde sich mit einem Pinsel und Gouachefarben eine Theaterwunde („une plaie de théâtre“, Th, 9) malen, wie er sie im Herzen seiner im Kampf gefallenen Brüder gesehen habe. Das Publikum solle ihm dabei zusehen. Er blute sein letztes Confiteor, blute durch diese geträumte Wunde die Wörter, die ihn rächen würden. Die Einleitung („l’exorde“, Th, 10) seines „drame“ (Th, 10) folgt: Eines Tages wurde er in einer Ortschaft ohne Museum, einer Provinzstadt, von einem Unbekannten, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, auf der Straße niedergeschlagen und erstochen. Dann habe ein Traum begonnen, wie man ihn träume, wenn man sterbe. Dieser exakte Traum habe ihm erlaubt, zu sagen, was er stets verborgen habe. Das Gesicht des Henkers, der einen Goldhelm trägt, stellt Moi-Même sich vor und beschreibt es näher in der zweiten, „Le visage de mon bourreau“ betitelten Szene, in der er erneut seinem Henker gegenübertritt. Auf dessen Schulter ist die französische Fahne tätowiert. Moi-Même fragt Mon Bourreau, warum er ihn geschlagen habe, und fordert ihn auf, es wieder zu tun. Als der Henker Geld verlangt, übergibt Moi-Même ihm seine Geldbörse. Moi-Même soll für den Henker Grimassen schneiden und dafür bezahlen, dass er ihn schlägt. Mon Bourreau wirft Moi-Même vor, ihn und die Rasse seiner Väter beleidigt zu haben. Statt Moi-Même, wie er es verlangt, sein Gesicht zu zeigen, uriniert der junge maskierte Mann lachend auf den Erstochenen. Moi-Mêmes Agonie beginnt. Er erinnert sich an eine Erfahrung mit seinem Vater, die er in der dritten Szene, „Le sanglier“, schildert. Als noch nicht Zehnjähriger fügt Moi-Même sich selbst körperliche Verletzungen zu. Eines Nachts erlebt er, wie seinVater, Mon Père, ein erjagtes Wildschwein zerlegt. Er identifiziert sich mit dem Tier, das der Vater enthäutet, ausweidet und dessen Körper er unter den Jägern verteilt. Dem Publikum sagt Moi-Même, er wolle ihm in der vierten Szene („La photographie“) ein Foto seines Vaters zeigen, und kündigt den Auftritt seiner Mutter an, die das Foto aufbewahrt. 414 Vgl. Vieweg-Marks 1989: 30. 218 Die Mutter erinnert sich an ihr Leben in Algerien vor dem Algerienkrieg und beschreibt den Vater als „un Africain au sens grandiose du terme“ (Th, 23). Sie prophezeit Moi-Même, er werde niemals eine Kindheit wie die seiner Eltern haben. Moi-Mêmes Blick trübt sich, er fällt und wünscht sich, auf oder in ein Theater zu fallen. Immer noch blutend erwacht er in einer Art verbranntem Zimmer. Szene 5 („Le chien du voisin“) schildert eine spätere Episode aus dem Leben der Familie, in der der Vater den Hund des kommunistischen korsischen Nachbarn erschießt, der seiner Jagdhündin nachstellt. Moi-Même bittet seinen Vater, ihm den Algerienkrieg zu erklären, damit er weiß, woher sein eigenes unbezähmbares Bedürfnis nach Buße rührt. Mon Père erzählt, sein Bruder Abdel sei im FLN (Front de libération nationale) gewesen. Er selbst wäre, wenn er nicht zu jung gewesen wäre, der OAS (Organisation armée secrète) beigetreten. Moi-Mêmes Großvater sei ein landbesitzender rechter Anarchist gewesen, der eines Tages den grauen Anzug des Kolonisten gegen einen Blaumann eingetauscht habe. Moi-Même, der sich darauf als „horrible bâtard français“ (Th, 31) bezeichnet, wird ohnmächtig, zeigt dem Vater seine frische Wunde und sagt, er möge ihn auf ein Theater betten. Dort möchte er sterben. In der sechsten Szene („Le livre détruit“) erwacht der sterbende Moi- Même im Olivenhain seines Großvaters. Sein Vater sucht Moi-Mêmes erstes, ihm gewidmetes Buch, welches er als Schüler geschrieben hat. Doch davon bleiben nur leere Seiten und ein paar Bleistiftstriche, denn Mon Père hat das Manuskript versehentlich mit einer zerbrochenen Flasche Branntwein beschädigt. In Szene 7 („Le livre célé”) erhält Moi-Même von seiner Mutter sein zweites, verheimlichtes Buch, in dem er als Fünfzehnjähriger den Inzest mit seiner Mutter verarbeitet. Dieses Buch, das er vergessen will, stehe zwischen ihnen wie ein Kriegsbericht, erklärt er ihr. Moi-Même klagt sie an, doch sie rechtfertigt sich mit den Umständen jener Zeit: Krieg, Massenexekutionen, die Trennung von Moi-Mêmes Vater. Die Gedichte ihres Sohnes hat sie verkauft, um die Bedachung ihres Herrensitzes zu bezahlen. Wieder wird der Dichter ohnmächtig. Er wünscht sich an einen anderen Ort, ein Theater. Sein Vater soll ihn zum Sterben in den Wald bringen. Die achte Szene („Questions pour Artémis“) spielt im Olivenhain des Großvaters, wo Moi-Même und sein Vater auf Wild lauern. Dem Vater, der ihn auf der Suche nach Wild verletzt zurücklässt, hat er sein schönstes Gedicht mit dem Titel „À mon père, nous les chasseurs“ gewidmet. In der neunten Szene („Apparition du bouc“) erscheint der Ziegenbock aller Theater, Feste und Scheiterhaufen und hilft dem Dichter bei der Selbstanalyse. Le Bouc erklärt Moi-Même, sein Vater verfolge ihn aus Liebe, und teilt ihm mit, das Schloss seiner Mutter brenne. Er kündigt die 219 zehnte Szene an, in der Moi-Même ein Lamento erheben werde, und gibt ihr den Titel „Les sandales d’Empédocle“. In seinem Lamento (Szene 10) beklagt Moi-Même den Tod eines Dichters und stimmt das Requiem aller anonymen Geopferten unserer Zeit an: Opfer des letzten Krieges, deportierte Homosexuelle, Harkis, Senegalesen, denen die Augen ausgestochen wurden, Opfer finanzieller Manipulationen, die Schwarzen unserer codierten Eingangshallen, unbrauchbare Fünfzigjährige, Palästinenser, Arbeiter, Cheyennes und Sioux. Moi-Même liebt es, geschlagen zu werden, und braucht die Erniedrigung, nur so kann er sagen, ob er zur Familie der Henker gehört. Er sterbe nicht an einem Messerstich, sondern vor Scham. Er habe für die Verbrechen seiner Eltern sühnen wollen und versagt. Die elfte Szene, überschrieben „Une bonne parole“, zeigt ein weiteres Zwiegespräch zwischen Le Bouc und Moi-Même. Le Bouc kündigt den Titel der Szene an und fragt Moi-Même, ob er etwas sagen könnte, das nicht Theater der Schuld, Theater des schmerzlichen Erbes und Theater der Vergeltung sei. Er fordert den Dichter auf, den Zuschauern etwas zu nennen, worauf man noch eine Hoffnung gründen könne. Moi-Mêmes Traum werde wahr, er sei auf einer Theaterbühne. Moi-Même erzählt, es gehe ihm manchmal, wenn er in einem Café sitze, die Leute beobachte und einen Kaffee trinke, gut. In jenem Augenblick bedürfe sein Leben keiner Rechtfertigung. Dann habe er das Gefühl, ihm sei vergeben und er könne vergeben. Er sei dann ein Mensch in der Menschenmenge. Le Bouc erwidert, die Tartüffs würden niemals demaskiert, es sei der Gerechte, den man demaskiere, auf frischer Tat ertappe und dem Gespött preisgebe. Die zwölfte Szene kündigt Moi-Même als letzte Szene an, gibt ihr den Titel „L’irreprésentable“ und versichert den Zuschauern, sie würden den Grund für diesen Titel verstehen. Es sei das Ende, er sei tot, erstochen in einer anonymen Stadt, weil er einen jungen Kerl mit seinem schiefen Blick gegen sich aufgebracht habe. Auf dem Bürgersteig verblutend habe er geglaubt, mit seinen Eltern zu sprechen, ehe ein Bock gekommen sei, um ihm zu sagen, sein Schmerz existiere nur in seiner Vorstellung. Eines Tages habe ihm ein Regisseur geraten, ein Stück voll unaufführbarer Dinge zu schreiben. Doch er habe es nicht vermocht. Moi-Même erklärt, er hätte ein paar verrückte Regieanweisungen schreiben können, und zählt mögliche Themen für ein Stück auf wie den Leichnam einer jungen Frau in sichtbarer Verwesung, einen Mann, der beim Singen eines alten Liedes ertrinkt, die aufkeimende Liebe zwischen zwei Wesen, die sich zum ersten Mal sehen, eine Horde von Chimären, die eines seiner besten Gedichte im Sturm zertrampelt. Auf einmal sei da nichts mehr. Der Sohn betrachte sich lächelnd im Spiegel, in der Ferne zögen kleine Segelboote für Kinder vorüber, die man mit dem schönen Namen Optimisten bezeichne. 220 In dieser Tragödie 415 führt der Poet Moi-Même die Zuschauer in einer „plainte imaginaire“ (Th, 12) durch seine „théâtres personnels“ 416 , Schauplätze seiner traumatischen Erinnerungen und seiner Imagination. Der Ziegenbock, eine symbolische Figur, die auf den Bocksgesang, d.h. die Tragödie 417 und die in Bocksfelle gekleideten Satyrn des Dionysoskults, verweist, charakterisiert die Theater des Protagonisten als „théâtre de la culpabilité, théâtre de l’héritage douloureux, théâtre de vengeance“(Th, 54). Die Bruchstücke der Erinnerungen Moi-Mêmes tauchen in einem Traum („rêve exact comme on en fait quelquefois quand on meurt“, Th, 10) während seiner Agonie auf, die er als theatralisiert empfindet: Moi-Même: [...] Commence alors mon agonie, la parfaite mise en scène de mon agonie, et c’est d’abord un souvenir qui s’impose, un souvenir qui revient à moi, je ne sais pas. (Th, 17). Er ist sich des fiktiven Charakters seiner Klage, seiner Verwundung und seines inszenierten Todeskampfes bewusst, der einem imaginären Publikum vor Augen geführt wird, das seinem imaginären Tod Beifall spendet: Moi-Même: Je vous apparaîtrai, peignant à moi-même une plaie de théâtre, son vermillon de fard rance, et vous m’entendrez dire ‘la plaie que je peins pour vous n’est pas de ce monde’. Exagérément béante, complaisamment entretenue, c’est de là que, public imaginaire, vous entendrez ma plainte imaginaire, et moi, peintre de vermillon démodé, j’entendrai vos applaudissements imaginaires applaudir ma mort imaginaire. (Th, 12). Moi-Même bezeichnet seine Agonie als Kreuzweg („calvaire“, Th, 13 und 20), wie Jesus blutet er langsam aus einer Wunde, gleich ihm begibt er sich, als der Tod naht, in einen Olivenhain. Vor dem Tod legt er sein Confiteor ab. Die christliche Symbolik durchzieht das gesamte Stück und stilisiert Moi-Même zur Figur des Geopferten, der die Verbrechen seiner Eltern sühnen will: Moi-Même: [...] J’ai voulu racheter les crimes de mes parents et j’ai échoué. (Th, 51). Der Ziegenbock vergleicht den Vater, als er sich von Moi-Même entfernt und ihn verletzt im Olivenhain, seinem Jagdgebiet, zurücklässt, mit Abraham 418 und spielt damit auf die Bereitschaft der alttestamentarischen Figur 415 Confortès 2000: 322. Das Stück wird in diesem Répertoire du théâtre contemporain als “tragédie“ klassifiziert. 416 Vernay 1998. www.liberation.fr/ culture/ 0101262274-theatre-michel-raskine-s-attaque-a-theatresd-olivier-py-par-sa-face-sombre-lecon-de-mise-en-peine-theatres-d-olivier-py-miseen-scene-de-michel-raskine-jusqu-au-13-novembre-a-20-h-30-au-theatre-le-po, 30.04.2012. 417 Griechisch: tragos ‚Ziegenbock’, ode ‚Gesang’. 418 „Le Bouc: [...] Abraham monte sur la colline, l’éternelle histoire.“ (Th, 43). 221 Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, an. Le Bouc erklärt Moi-Même, sein Vater habe, auch wenn er ein Wildschwein oder einen Hund töte oder die Hörner eines Ziegenbocks als Trophäe trage, immer nur ihn im Visier und verfolge ihn aus Liebe. Obwohl Moi-Même drei Jahre nach dem Algerienkrieg geboren ist, den seine Eltern früher mit dem verschleiernden Wort „événements“ (Th, 29) verdrängten, identifiziert er sich mit den Opfern seiner Vorfahren: Moi-Même: J’étais le chien noir et j’étais la famille communiste humiliée, et j’étais les Arabes torturés et les filles qui cueillent les roses du portail. […] Nous étions des tueurs de chiens et des tueurs d’Arabes. (Th, 28-29). Schon als Kind zeigt er einen Hang zur Selbstverletzung und zur Flagellation (Th, 20) und verspürt „un irrésistible besoin d’expier“ (Th, 30). Als Opfer und Gemarterter („supplicié“, Th, 18) erscheint Moi-Même auch in der dritten Szene, in der er sich mit dem erlegten Keiler identifiziert, dessen Fleisch der Vater an die Jäger verteilt. 419 Die Szene erinnert an die Menschen- und Tieropferung zu Ehren der griechischen Göttin Artemis, die in der Antike als Göttin der Jagd und der Fruchtbarkeit verehrt und oft mit Hekate, der Göttin der Unterwelt, gleichgesetzt wurde. So fragt Moi-Même seinen Vater in Szene 8, ob er manchmal zu den Banketten 420 der Artemis eingeladen werde. Die Art, in der Moi-Même zu Tode kommt, durch die Schläge und den Messerstich eines nationalistisch gesinnten jungen Mannes aus der Provinz (Th, 12), der ihn auf der Straße verbluten lässt, weist ihm von Anfang an die Rolle eines Opfers zu. Die Identität seines Henkers, dessen Haut weiß ist, bleibt ungeklärt, doch scheinen neben der dritten Szene und der Bezugnahme auf Abraham einige weitere Textstellen auf Mon Père zu deuten: Moi-Même behauptet in der ersten Szene, der, den er liebe, habe ihn erdolcht (Th, 10). Die französische Fahne, die auf die Schulter des Henkers tätowiert ist, symbolisiert dessen nationalistische Einstellung, die an die der OAS 421 erinnert, in die Mon Père als junger Mann eintreten wollte. „Voir le visage de son père […]” ist aus der Sicht des Ziegenbocks das Thema in Moi-Mêmes Theater (Th, 45). 422 419 „Moi-Même: [...] J’ai conscience déjà de la prédestination de ma chair d’enfant. Chair blanche pour un sacrifice qui est mon honneur. Déjà, enfant, je rêve d’être attaché et frappé, fouetté. J’ai moins de dix ans et il ne me semble pas de place plus haute et plus enviable que celle du supplicié.” (Th, 18). 420 Die Opferrituale zu Ehren der griechischen Götter endeten meist mit einem sakralen Bankett, bei dem das Opferfleisch verzehrt wurde. 421 Der Wahlspruch der OAS lautete „L’Algérie est française et le restera“. 422 Die Mutter vergleicht das Gesicht des Vaters mit dem des Henkers: „Ma Mère: [...] Et ton bourreau, lorsqu’il cachait son visage dans le contre-jour de la lampe, ne pouvait pas avoir d’autre visage.“ (Th, 24). 222 Moi-Même ist eine Künstlerfigur, ein Poet, der schon als Kind Bücher und Gedichte schreibt und auf einer Theaterbühne sterben möchte: Moi-Même: [...] je voudrais mourir sur un théâtre. Fais ce dont je rêve, emportemoi sur ton dos et couche-moi sur un théâtre. (Th, 33). Dieser Dichter, der in Olivier Pys Stück Illusions comiques (2006) wieder auftaucht, ist ein Alter Ego des Autors, dessen Biographie einige Parallelen zu der Olivier Pys aufweist: Wie Olivier Py ist Moi-Même Schriftsteller, Poet, liebt das Theater, ist drei Jahre nach dem Algerienkrieg geboren und stammt aus einer Familie von Pieds-Noirs, Algerienfranzosen, die zur Kolonialzeit nach Algerien ausgewandert sind. In Olivier Pys Film Méditerranées 423 (2011), der auf privaten Filmen seiner Eltern aus den 1960er Jahren basiert 424 , zitiert Py einen Satz seines damals in der Algérie française lebendenVaters („J’étais en parfait accord avec mon destin.“), den die Figur Ma Mère in Théâtres Moi-Mêmes Vater zuschreibt: Ma Mère: [...] Il est en parfait accord avec son destin. N’a-t-il pas dit cela un jour, qu’il était un jeune homme né à sa place? Il l’a dit et qui pourrait aujourd’hui encore dire cela, ‘en parfait accord avec son destin’? (Th, 23). Bis 1962 lebten Olivier Pys Eltern in Algerien, dann siedelten sie über nach Südfrankreich; sein ebenfalls im Film erwähnter Großvater, der wie Moi- Mêmes Großvater schon lange in Algerien lebte, blieb dort noch bis 1965. 425 Bei eingehender Analyse ließen sich vermutlich weitere intermediale Bezüge zwischen dem Stück Théâtres und dem Kurzfilm Méditerranées aufdecken, dies steht jedoch hier nicht im Vordergrund. Moi-Même wirkt wie ein Dramatiker 426 und Regisseur, der seine eigene Agonie und die damit einhergehenden, in einer Art Traum aufsteigenden Erinnerungen, Rückblenden und Visionen inszeniert. Mit Aussagen wie „Je vous apparaîtrai peignant à moi-même une plaie de théâtre“ (Th, 9), „je représenterai mon père comme un héros d’un autre âge“ (Th, 18), „j’aimerais vous montrer la photographie de mon père jeune homme“ (Th, 23) und der Reflexion darüber, was auf der Bühne darstellbar ist (auch in der Schlussszene, „L’irreprésentable“ 427 , Th, 57) kennzeichnet er das Bühnengeschehen als Aufführung und somit als Fiktion: Moi-Même: [...] J’imagine qu’il ne sera pas possible de représenter sur cette scène un enfant de moins de dix ans, nu et s’infligeant à lui-même des souf- 423 Es handelt sich um eine Produktion von Sombrero Films. 424 Vgl. Mickrociné, 15.11.2011, www.facebook.com/ note.php? note_id=225182767547695, 28.04.2012. 425 Vgl. www.algeriades.com/ news/ previews/ article2066.htm, 07.05.2012. 426 Virginie Lachaise: „En une dizaine de tableaux, Moi-Même recompose sa vie comme un dramaturge.“ www.flucuat.net/ scenes/ chroniq/ pytheatre.htm, 08.12.2011. 427 Die Unterstreichungen stehen nicht im Originaltext, sondern dienen der Illustration. 223 frances enivrantes et murmurant des mots incompréhensibles, simulacres, sévices, fustiger, réquisitoire, flagellation, confiteor, représentations, icônes, sacrifices… (Th, 20). Der deiktische Hinweis „sur cette scène“ unterstreicht den Gestus des Zeigens noch, der meist von Publikumsadressen in Form des Pronomens vous, d.h. episierenden metatheatralen Elementen, die das innere Kommunikationssystem des Dramas für einen kurzen Moment durchbrechen, begleitet wird. Die Ankündigung der Titel der einzelnen Szenen durch Moi-Même beziehungsweise Le Bouc sowie die Einführung der in der folgenden Szene auftretenden Figur Ma Mère (Th, 22) entsprechen ebenfalls den metatheatralen Techniken des episierenden Metadramas. Moi-Mêmes Rede ist von Theatermetaphern und Theaterlexik durchsetzt. Die Liste 428 der Theaterreferenzen, die in diesem diskursiven Metadrama eine gesteigerte Autoreferentialiät und Theatralität erzeugen, umfasst Fachtermini der Dramatik wie drame, scène und rôle, Begriffe der Regie wie mise en scène, metteur en scène und didascalies, Verweise auf Shakespeare und Molière (Tartufe) sowie Wörter, die die Aufführungssituation betreffen, z. B. public, applaudir, coulisse, entre en scène. Der Dichter ist dem Theater so verbunden, dass er in Theaterkategorien denkt und auf ein Theater gebettet sterben will. Das Wort „théâtre“ steht für ihn in engem Zusammenhang mit dem Begriff „simulacre“: Moi-Même: [...] Dès la petite enfance le mot simulacre cambre effroyablement mon corps, je sue en le murmurant, je durcis, je m’étrangle et j’attends tout de lui. Plus tard, le terme ‘simulacre d’exécution’ sera pour moi comme un éclat de quelques vérités entrevues et inavouables […]. Mais avec le mot théâtre, je dissimule, je dis sans dire l’adoration pour le acre et simulé du mot simulacre. (Th, 19). Moi-Mêmes Hinrichtung ist ein Simulakrum, ein Gegenstand der Simulation auf dem Theater. Neben den Theaterreferenzen verwendet Moi-Même in Bezug auf seine schriftstellerische Tätigkeit und das Werk seiner „poètes alliés“ (Th, 11) literaturwissenschaftliche Termini, beispielsweise œuvre, littérature, métaphores, poète, poèmes, livres, recueils, und spielt damit selbstreflexiv auf die Tätigkeit des Literaten allgemein an. So charakterisiert er sein Confiteor, seine Theaterwunde, die er dem Publikum darbietet, als exzessive Literatur: 428 Die Liste enthält folgende Ausdrücke: drame, scène, titre (de la scène), masque, masqué, plaie de théâtre, rôle que je leur fais jouer, fard, public, applaudir, applaudissements, planches, costume, mise en scène, je représenterai,théâtre, scène de théâtre, représenter sur cette scène, entre en scène, fange de théâtre, coulisse, le bouc […] de tous les théâtres, théâtre de la culpabilité, théâtre de l’héritage douloureux, théâtre de vengeance, demasqués, on démasque, Shakespeare, Tartufe, l’irreprésentable, metteur en scène, écrire une pièce, didascalies, danseur, danse. 224 Moi-Même: Voilà la vertu de nos planches, chausse-trappe pour le réel, trompette pour le réel en marche, ma plaie n’est pas de ce monde, elle est l’orgueil du demain, vermillon surfait et littérature excessive. (Th, 13). Implizit liefert Olivier Py dem Publikum dabei schon in der ersten Szene eine Kritik seines Stücks Théâtres, das mancher Zuschauer als hermetisch empfinden mag. Die Fragen des Ziegenbocks, der wie ein Korrektiv des Poeten Moi-Même erscheint, fügen dieser theaterimmanenten Dramenkritik noch den Aspekt der Wahl des Themas und des lamentierenden Grundtons seines Theaters hinzu: Le Bouc: [...] Voir le visage de son père, tu ne saurais pas trouver d’autres fables à ton théâtre […]? (Th, 45). Le Bouc: Pourrais-tu dire quelque chose qui ne soit pas théâtre de la culpabilité, théâtre de l’héritage douloureux et théâtre de vengeance? Une chose qui soit bonne. Sincère, simple, heureuse. N’as-tu pas assez pleuré? (Th, 54). In der Schlussszene, in der Moi-Même erzählt, ein Regisseur habe ihm geraten, eines Tages ein Stück voll undarstellbarer Dinge zu schreiben, listet er ähnlich einer Rechtfertigung eine Fülle von möglichen Regieanweisungen und Themen, über die er hätte schreiben können, auf. Von vornherein gibt er jedoch zu, er habe ein solches Stück nicht schreiben können: „Je n’ai pas su.“ (Th, 57). Begleitet wird diese Diskussion um die Inhalte und den Tenor seines Stücks von metasprachlichen Reflexionen. So fragt der Ziegenbock Moi- Même, ob man überhaupt noch in französischer Sprache dichten könne: Le Bouc: [...] Mais être réconcilié avec la langue maternelle cela est-il encore possible? En français! Un poème en français, cela est-il possible? (Th, 45). Moi-Même äußert inmitten seines Lamentos (Th, 50), er sei der Metaphern müde, und demonstriert damit, dass er sich seiner Sprache, die reich an komplexen Metaphern ist, bewusst ist. Den für Leser wie Zuschauer nicht leicht erschließbaren Titel seiner letzten Szene, „L’irreprésentable“, kommentiert er mit den Worten „Vous verrez la raison de ce titre.“ (Th, 57). Die Figuren dieses Theaterstücks zeigen also nicht nur dramatische, sondern auch sprachliche Selbstbewusstheit. Virginie Lachaise charakterisiert Olivier Pys Théâtres in ihrer Theaterkritik zu Michel Raskines Inszenierung, die auch am Théâtre des Abbesses in Paris gezeigt wurde, als „auto-représentation“ und „auto-analyse“ und stellt fest: Sans narcissisme, ou si peu, et du meilleur goût, Olivier Py brosse un autoportrait en forme de drame, une pièce-gigogne où s’enchevêtrent les morceaux de souvenirs. 429 429 www.flucuat.net/ scenes/ chroniq/ pytheatre.htm, 08.12.2011. 225 Dass es sich bei Théâtres um ein dramatisiertes Selbstporträt Olivier Pys handelt, suggerieren der Name der Hauptfigur Moi-Même, deren Beruf, ihre Affinität zum Theater und die Parallelen zur Biographie des Autors. Mithilfe seines Alter Egos, der Künstler- und Dichterfigur Moi-Même, hält Olivier Py sich selbst den Spiegel vor, verarbeitet und analysiert literarisch das Trauma des Algerienkriegs und damit einen Teil der familieneigenen Vergangenheit. Welch entscheidene Rolle für Olivier Py als homme de théâtre bei dieser Selbstanalyse das Theater spielt, zeigt die Sprache Moi- Mêmes, die gespickt ist mit Theatermetaphern, Theaterlexik und Theaterreferenzen, die diesem diskursiven Metadrama einen hohen Grad an dramatischer Selbstreflexivität verleihen. 5.6.4 Funktionen des diskursiven Metatheaters Das diskursive Metatheater macht dem Zuschauer vorwiegend durch spielimmanente Hinweise die Fiktionalität und den Inszenierungscharakter des Bühnengeschehens bewusst. Mit Theaterlexik und Theatermetaphern, die in der Rede der dramatischen Personen auftreten, referiert das diskursive Metadrama primär durch sprachliche Mittel auf sich selbst und etabliert so eine autoreflexive Metaebene. Samuel Becketts zweites dramatisches Werk Fin de partie/ Endgame deutet schon im Titel auf seinen Spielcharakter hin. Das Spiel vollzieht sich auf zwei Ebenen, der eines dramatisierten Schachspiels, in dem der Kampf zwischen dem König Hamm und dem Springer Clov nach den Regeln des Schachspiels abläuft, und der Ebene eines Theaterspiels, in dem die Schauspieler den Einsatz und ihre Replik nicht versäumen dürfen. Die Figuren in Fin de partie demonstrieren dramatische Selbstbewusstheit, sie haben den Eindruck, eine täglich nach denselben Ritualen verlaufende, sich wiederholende absurde Komödie zu spielen, und verwenden in ihren Dialogen Fachtermini aus dem Theater und der Literatur. Dieser metatheatrale Diskurs wirkt illusionsbrechend, legt die Mechanismen des Theaters offen und kommentiert die Handlung und die Struktur des Dialogs der Bühnenfiguren (z. B. soliloque, réplique, aparté). Hamm ist wie Bérenger und Moi-Même eine Künstler-, Dichter- und Schriftstellerfigur, die mit dem Vokabular des Theaters und der Literatur vertraut ist und eine hohe sprachliche Sensibilität besitzt, die sich in metasprachlichen Kommentaren zu seinen Repliken und dem Text seines Romans manifestiert. Wie Bérenger bezieht Hamm sich auf Shakespeare, wie er ist er ein kranker „König“ auf einem instabilen Thron (symbolisiert durch den Rollstuhl), der das Ende hinauszögern will, und wie er empfindet Hamm eine metaphysische Leere, wenn er, als er Gott mit dem Vater unser anruft, feststellt: „Le salaud! Il n’existe pas! “ (FdP, 76). 226 In Fin de partie und in Le roi se meurt ist der Gedanke des Endens des Spiels beziehungsweise des Schauspiels (spectacle) stets präsent und eng mit dem Todesmotiv verbunden. Der Topos des Theatrum mundi erscheint in Becketts Drama in säkularisierter Form. Nagg, Nell, Hamm und Clov spielen eine festgelegte Rolle in der absurden Komödie ihrer Existenz, diesem Spiel, das keine göttliche Instanz mehr lenkt und das seinen eigenen Regeln folgt, wie Hamm am Ende resigniert feststellt. In dem diskursiven Metadrama Le roi se meurt erinnert die auktoriale Bühnenfigur Marguerite das Publikum dramenimmanent durch ihren Count-Down, die Verwendung der Lexik zu Drama und Theater, und ihre selbstreflexiven Aussagen immer wieder daran, dass es sich im Theater befindet und einer Aufführung („spectacle“, Rsm, 751) beiwohnt. Doch auch die anderen Dramenfiguren wie der Arzt und die Hauptfigur König Bérenger I. zeigen Fiktionsbewusstsein und empfinden die Bühnenrealität als theatralisiert. Die illusionistische Erwartungshaltung des Rezipienten wird durch diesen illusionsstörenden metatheatralen Diskurs unterminiert. Ionescos Stück erzeugt Distanz und verlangt vom Zuschauer, der ohne Unterlass auf die Identität von Spielzeit und gespielter Zeit hingewiesen wird, Aufmerksamkeit und Reflexion. Gleich zu Beginn des Dramas wird dem Publikum offenbart, dass seine Aufmerksamkeit für eineinhalb Stunden beansprucht wird. Das Verrinnen der Zeit bis zum Tode des Königs und damit dem Ende der Vorstellung kann der Rezipient nun mit dem Blick auf die eigene Uhr verfolgen und nachvollziehen. Die Dramenhandlung bzw. der Prozess des Sterbens des Protagonisten verläuft, wie Marguerite versichert, nach einem wohlkalkulierten Programm: „ [...] c’était prévu, c’est dans le programme.“, Rsm, 781). Der Topos des Theatrum mundi, der schon bei Platon, den Stoikern der römischen Kaiserzeit, Shakespeare und Calderón erscheint 430 , taucht in Le roi se meurt ähnlich wie in Becketts Drama in säkularisierter Variante wieder auf. Die Vorstellung von der Welt als einem Theater, auf dem die Menschen eine Rolle spielen, bestimmt auch das Denken Bérengers, der sich selbst mit einem Schauspieler vergleicht, der auf den Tod und das metaphysische Vakuum nicht vorbereitet ist. An die Stelle Gottes, des Weltenlenkers, der dem Menschen seine Rolle im Welttheater zuweist und ihm beim Spiel zusieht, tritt bei Ionesco nur das große Nichts. Bérengers Leben stellt Marguerite als Traum, als Welt des Scheins dar, in der die Dinge nicht real gewesen sind: Marguerite: Y a-t-il eu des portes, y a-t-il eu un monde, as-tu vécu? […]. (Rsm, 793). 430 Vgl. Weber 2008 und Floeck 1999. 227 Den Übergang vom Leben zum Tod setzt sie metaphorisch mit dem Rückzug des Träumers aus dem Traum gleich. Die Idee von der Scheinhaftigkeit, Theatralität und Inauthentizität der Welt, die Ionesco selbst in seinen Notes et contre-notes als fiktiv und illusorisch bezeichnet, prägt viele Autoren des zeitgenössischen Theaters und erweist sich bei Ionesco erneut als Paradigma der Moderne. Das Leben ist ein Schauspiel, in dem der Mensch seine Rolle bis zum Ende würdig zu spielen hat. Olivier Pys Tragödie Théâtres ist ein diskursives Metadrama, in dem der metatheatrale Diskurs dominiert, das aber mit einigen punktuell auftretenden episierenden metatheatralen Elementen, der Publikumsadresse und der Ankündigung von Szenentiteln durch die dramatischen Figuren, spielt. 431 Wie in Ionescos Drama Le roi se meurt steht eine Künstler- und Dichterfigur im Mittelpunkt, deren Agonie auf der Bühne inszeniert wird. Ähnlich Bérenger empfindet Moi-Même seine Agonie als theatralisiert und zeigt Fiktionsbewusstsein. Sowohl in Le roi se meurt als auch in Théâtres ist der Tod mit dem Motiv des Traums, des Imaginären verbunden. In beiden Dramen wird auf die Parzen Bezug genommen: In Le roi se meurt verkörpert Marguerite die Parze Atropos, die den Lebensfaden abschneidet; in Théâtres beschließt Moi-Même, dass die „femmes squelettes de Srebrenica“ (Th, 48), die von den französischen Truppen geschützt werden sollten, seine Parzen sein werden. Im Unterschied zu Bérenger I., der langsam an einer fortschreitenden Krankheit stirbt, kommt Moi-Même gewaltsam zu Tode und stilisiert sich zur Figur des Geopferten und Gemarterten, die Züge der biblischen Gestalt Isaak, des geopferten Christus und eines der Artemis dargebrachten Opfers trägt. In Le roi se meurt wie in Théâtres erscheint der Protagonist jeweils wie ein Alter Ego 432 des Autors, er ist ein Poet 433 und Schriftsteller, der auch Dramenautor ist. Der metatheatrale Diskurs, der in Fin de partie, Le roi se meurt und Théâtres mit metasprachlichen Reflexionen einhergeht, ist in Olivier Pys Drama stärker ausgeprägt als in Becketts und Ionescos Stück: die Theatermetaphern (z.B. plaie de théâtre, fange de théâtre) sind komplexer, Theaterlexik und Theaterreferenzen treten vermehrt auf. Moi-Même denkt und 431 Karin Vieweg-Marks sieht die Publikumsadresse ohnehin im Überschneidungsbereich zwischen episierenden und diskursiven metatheatralen Formen: „Im Überschneidungsbereich von episierenden und diskursiven metadramatischen Techniken ist das Sprechen ad spectatores anzusiedeln, da es rein sprachlich zwischen Bühne und Publikum vermittelt, ohne jedoch, wie Prolog, Epilog, Chor und epischer Erzähler langfristig die Struktur des Dramas zu beeinflussen. Vielmehr treten Direktanreden an das Publikum, wie andere Formen des diskursiven Metadramas auch, nur punktuell auf.“ Vieweg-Marks 1989: 30. 432 Nathalie Macé spricht in Bezug auf Ionescos selbstreflexive Dramen von einer „mise en scène autobiographique de l’écrivain“. Macé 2011: 181. 433 Olivier Py bezeichnet sich selbst in Interviews oft als poète. 228 spricht in Theaterkategorien und will auf einer Theaterbühne sterben. Im Gegensatz zu Bérenger, in dessen Todeskampf die Figuren Marguerite und Le Médecin Regie führen, ist Pys literarisches Pendant Moi-Même der Dramatiker und Regisseur seiner eigenen Agonie, der das Publikum stellenweise in seine oft wie ein „soliloque“ 434 erscheinenden Reflexionen miteinbezieht. In der Tragödie Théâtres wirken die Theaterreferenzen des metatheatralen Diskurses, die Publikumsadressen und die Szenenankündigungen illusionsstörend und erinnern das Publikum immer wieder an den fiktiven, artifiziellen Charakter des Bühnengeschehens. Der Zuschauer wird von der ersten Szene an als Adressat der „plaie de théâtre“ und des Confiteors des Protagonisten angesprochen. Mit deiktischen Angaben wie „sur cette scène“ (Th, 20) und Le Boucs an Moi-Même gerichteter Aussage „Ton rêve s’est réalisé, tu es sur une scène de théâtre.” deuten die dramatischen Figuren direkt auf den realen Theaterraum und das Hic et nunc der Aufführungssituation hin. In Olivier Pys Drama, dem jüngsten der hier untersuchten diskursiven Metadramen, wird auch ein theatertheoretischer Diskurs über die Aufführbarkeit bestimmter Themen auf dem Theater und das Schreiben 435 von Theaterstücken mit unaufführbaren Sujets geführt, der an die Kontroversen um die bienséance in der Theatertheorie früherer Jahrhunderte erinnert und zugleich die aktuelle Diskussion um das auf der Bühne Darstellbare widerspiegelt. Ein Kind unter zehn Jahren, nackt, das sich geißelt und sich selbst betörende Qualen auferlegt, ist für Moi-Même auf der Bühne nicht darstellbar. Ein Stück voll von unaufführbaren Dingen wie z.B. der Verwesung des Leichnams einer jungen Frau oder der Geschichte eines Familienvaters, der unter absurden Prophezeiungen sein Haus in Brand steckt, hat Moi-Même entgegen den Ratschlägen eines Regisseurs nicht zu schreiben vermocht. Neben diesen Überlegungen zu den potentiellen Inhalten eines Theaterstücks wird dem Publikum in Théâtres implizit und autoreferentiell eine Theaterkritik dieses dramatischen Werkes an die Hand gegeben. Die mythische Gestalt des Ziegenbocks des Theaters, der als Korrektiv des Dichters Moi-Même auftritt, kritisiert den larmoyanten Ton, die Thematik des Vater-Sohn-Konflikts und die Auseinandersetzung mit „la mère patrie“ (Th, 45) in Moi-Mêmes Theater. Le Bouc fordert, Moi-Même solle den Zu- 434 Vernay 1998: „Moi-Même soliloque plus qu’il dialogue avec les figures de son propre théâtre: Mon Bourreau, Mon Père, Ma Mère, Le Bouc.” www.liberation.fr/ culture/ 0101262274-theatre-michel-raskine-s-attaque-a-theatresd-olivier-py-par-sa-face-sombre-lecon-de-mise-en-peine-theatres-d-olivier-py-miseen-scene-de-michel-raskine-jusqu-au-13-novembre-a-20-h-30-au-theatre-le-po, 30.04.12. 435 Gemäß Hauthal kann diese Reflexion des Dramas über das Drama als literarischen Text als Metadramatizität bezeichnet werden. Vgl. Hauthal 2009: 129. 229 schauern etwas Positives, auf das man noch eine Hoffnung setzen könne, mitteilen, statt ihm nur sein Theater der Schuld, Theater des schmerzlichen Erbes und Theater der Vergeltung vorzuführen. Moi-Même selbst charakterisiert seine Theaterwunde als exzessive Literatur. Die schriftstellerische Tätigkeit und die Rolle des Literaten allgemein, der isoliert ist und nicht mehr an seine herausgehobene Stellung und prophetische Rolle in der Gesellschaft glaubt, ist ebenfalls Gegenstand der Reflexion in diesem Theatertext: Moi-Même: […] Livres! N’y a t-il pas assez de livres? [...] Que m’ont donné les livres sinon l’illusion d’être un prince? Une irrémédiable distance entre moi et mes proches. Ou bien quand je n’aimais plus me faire croire à mon rôle prophétique, j’étais le dernier des derniers, mais ma fange n’était que fange de théâtre et je ne suis pas descendu assez bas. (Th, 44). Selbst die eigenen Eltern haben Moi-Mêmes literarische Erstversuche nicht gewürdigt und seiner schriftstellerischen Tätigkeit keine Anerkennung gezollt. Dennoch versteht sich Olivier Pys Alter Ego, der Dichter Moi- Même, als Stimme der anonymen Geopferten unserer Zeit, denen er als „Chanteur“ Gehör verschaffen will: Moi-Même: Qui chantera jamais le requiem des sacrifiés anonymes de notre temps? Qui chantera ce chant en l’honneur des inconnus poignardés sur l’autel de nos cités, sans travail, sans droits, sans papiers, sans images, sans voix? (Th, 47). Olivier Pys vielschichtiges Drama Théâtres ist offensichtlich in Teilen auch ein sehr persönliches literarisches Selbstporträt des Autors, in dem Py Elemente aus seiner Biographie und der Vergangenheit seiner Vorfahren verarbeitet und über seine Rolle als Schriftsteller und homme de théâtre reflektiert. 5.7 Nichtdramatisches Metatheater Nichtdramatisches Metatheater ist métathéâtre-récit. Patrice Pavis, der wie Gerda Poschmann 436 , Hans Thies Lehmann 437 und Christophe Deshoulières eine Tendenz zur „dédramatisation“ 438 , d.h. zur Entdramatisierung in zeitgenössischen Theatertexten beobachtet, versteht unter „théâtre-récit“ eine „forme de texte et/ ou de mise en scène qui utilise des matériaux nar- 436 Poschmann 1997. 437 Lehmann 1999: 13. „Zugleich ist der neue Theatertext, der seinerseits immer wieder seine Verfassung als sprachliches Gebilde reflektiert, weithin ein ‚nicht mehr dramatischer’ Theatertext.“ 438 Deshoulières 1989: 192. 230 ratifs non dramatiques (romans, poèmes, textes divers) en ne les structurant pas en fonction de personnages ou de situation dramatiques“ 439 . Ausgehend von dieser Definition wird hier nichtdramatisches Metatheater definiert als „métathéâtre-récit“, d.h. als ein Typ des Metatheaters, der kein Personenverzeichnis, keinen Dialog und keine Aufspaltung des Textes in Haupttext (Repliken) und Nebentext (Regieanweisungen) aufweist, sondern als Récit erscheint, in dem über das Theater (Geschichte, Funktion, etc.) reflektiert wird. Gegenstand dieser Untersuchung sind zwei Varianten nichtdramatischen Metatheaters, das „epistolare Metatheater“, das Theatertexte bezeichnet, die in Briefform abgefasst sind, und das „essayistische Metatheater“, das Theatertexte beschreibt, die wie ein „szenischer Essay“ 440 wirken. 5.7.1 Epistolares Metatheater Auf die Tendenz des Gegenwartstheaters zur Dramatisierung nicht genuin dramatischer Texte (Roman, Essay etc.) haben nicht nur Gerda Poschmann und Hans Thies Lehmann hingewiesen, auch Jean-Pierre Sarrazac stellt in dem Lexique du drame moderne et contemporain unter dem Stichwort „dialogue (crise du)“ eine zunehmende Heterogenität und Hybridisierung der den zeitgenössischen Theatertexten zugrunde liegenden Texte fest: Comment dès lors caractériser ce texte théâtral où - à côté de longs monologues, de moments de choralité, de récits non assujettis au régime dramatique, voire de lettres, de rapports, de nomenclatures, de fragments de journaux intimes et autres matériaux hétérogènes - subsistent néanmoins des vestiges (ou se manifestent des reprises) de dialogues? 441 An die Stelle der für das traditionelle Drama geltenden Kategorien wie Figurenkonstellation, Fabel, Dialog und Handlung treten im „nicht mehr dramatischen Theatertext“ 442 bedingt durch die Verwendung anderer Textsorten neue Ausdrucksformen. Als Beispiele für ein nichtdramatisches Metadrama, das auf der von Sarrazac erwähnten Kommunikationsform des Briefes basiert, sollen hier die Theatertexte Lettre au directeur du théâtre (1996) von Denis Guénoun und Lettre aux acteurs (1986) von Valère Novarina herangezogen werden. Denis Guénoun (*1946) ist ein homme de théâtre, der nicht nur Philosoph, Dramenautor, Schauspieler, Regisseur, Gründer und Leiter der Kompagnie L’Attroupement (1975 bis 1983) und ehemaliger Theaterdirektor des Centre dramatique national (CDN) de Reims ist, sondern auch bis 2013 einen Lehr- 439 Pavis 2002: 379. 440 Lehmann 1999: 203. 441 Sarrazac in Sarrazac (Hrsg.) 2005: 68. 442 Poschmann 1997. 231 stuhl als Professor für französische Literatur (mit Schwerpunkt Theater) an der Universität Paris-Sorbonne (Paris IV) innehatte. Sein Mitte der 1990er Jahre entstandenes Stück Lettre au directeur du théâtre, dessen problematische gattungstypologische Einordnung Guénoun in diesem Theatertext unter anderem thematisiert, könnte man in Anlehnung an die hybriden Gattungen des Briefromans und des Briefgedichts als sogenanntes „Briefdrama“ bezeichnen. Guénoun verwendet für sein Drama bewusst nicht den Begriff pièce („Ce n’est pas une pièce.“, LD, 86), sondern beschreibt gegenüber dem fiktiven Adressaten, einem befreundeten Theaterdirektor, der ihm, „Denis“ (LDT, 87), angeblich den Auftrag erteilt hat, ein Stück für sein Theater zu schreiben, seinen Theatertext als Brief: Je ne t’enverrai pas de pièce. Ni personnages, ni dialogues. Seulement cette lettre longue, chantée, reprise. Une lettre est un dialogue aussi, mais Je [sic] le regrette, je t’assure. J’ai tenté. J’ai fait, refait, tant de fois. (LDT, 12). Da er den Brief als eine Form des Dialogs betrachtet, wehrt sich der Briefschreiber dagegen, dass der Theaterdirektor sein Stück als „monologue“ (LDT, 87). auffasst. An anderer Stelle nennt das „dramatische Ich“, das hier mit dem Autor Denis Guénoun identisch zu sein scheint, sein Werk „poème“ (LDT, 70) und „ce texte-ci que je t’adresse“ (LDT, 85). Joseph Danan charakterisiert Guénouns Drama dementsprechend als „un texte inclassable, à la fois poème, essai philosophique et polémique sur le théâtre, peut-être texte de théâtre.” 443 Die Trennung zwischen Autor und dramatischer Figur scheint in diesem Theatertext aufgehoben. Das schreibende Ich, der „récitant“ 444 , tut in dem Brief seinen Vornamen kund (Denis) und macht biographische Angaben, die mit Guénouns Biographie übereinstimmen: Aujourd’hui je fais le philosophe. Je suis, moi aussi, un ancien ami du théâtre recyclé en philosophie. (LDT, 7). Moi, j’ai séjourné longtemps sur les scènes. […] j’ai joué, madame, j’ai passé par les planches. (LDT, 8). D’abord, je suis devenu professeur […]. (LDT, 10). Der Theaterdirektor hingegen, an den Denis sich wendet und mit dem er, wie viele Briefschreiber es tun, einen Pseudodialog führt, indem er Fragen und Antworten des Adressaten antizipiert und darauf reagiert, bleibt ano- 443 Danan 1996: 88. 444 Danan 1996: 88. 232 nym. René Solis, der die erste Inszenierung dieses Stücks unter der Regie von Hervé Loichemol (1997, Chartreuse de Villeneuve-les-Avignon) in der Zeitung Libération kommentiert (22.07.1997), vermutet angesichts der Erfahrung Guénouns als Theaterdirektor des CDN de Reims: „ [...] l’auteur s’adresse autant à une tierce personne qu’à l’homme de théâtre et au directeur qu’il a été.“ 445 Die Beziehung zwischen dem Verfasser des Briefs und dem Theaterdirektor, der seit einem Jahr ein Theater leitet, ist eng: Denis duzt ihn, nennt ihn mehrmals „Mon ami“ (LDT, 5) und bittet ihn immer wieder, ihm zuzuhören und gedanklich zu folgen. Mit der persönlichen Anrede, Fragen („Veux-tu un exemple? “, LDT, 52) und Imperativen wie „figure-toi“ (LDT, 9), „écoute“ (LDT, 13) und „Suis-moi“ (LDT 30, 31), die eine phatische Funktion haben, hält er den Kontakt zu seinem fiktiven Adressaten und erweckt beim Publikum den Eindruck, der Theaterdirektor sei auf der Bühne präsent. Anlass für die Entstehung der Lettre au directeur du théâtre sei, wie Denis gleich zu Beginn behauptet, die Bitte des Theaterdirektors gewesen, für sein Theater ein Stück zu schreiben, das sich mit dem Theater befasst: Mon ami, tu as voulu de moi un morceau d’écriture. Un texte, bon à jouer. Tu avais un titre: Leçons de théâtre. Pièce un peu singulière: écrite pour des acteurs, mais aussi pour instruire. Parole tenue sur le théâtre, aux deux sens: l’ancien, qui dit: sur la scène, et l’actuel, quand le théâtre est la question débattue. (LDT, 5). Mit dieser Auftragsfiktion rechtfertigt der Verfasser des Briefes die Entstehung seines Theatertextes. Dem Wunsch des Theaterdirektors kommt er jedoch nur zum Teil nach. Er ändert den Titel und die Textsorte, weil ihm der vorgeschlagene Titel Leçons de théâtre zu didaktisch erscheint und er dem Publikum nicht wie ein Allwissender professorale Lektionen erteilen will: „Je ne peux donner aucune Leçon, je serai ferme.“ (LDT,11). Er sieht sich vielmehr in der Tradition von Aristophanes, Diderot und Brecht, wenn er seine Axiome auf die Bühne wirft. Der Theaterdirektor hat ihn aufgrund der schwierigen Situation der Theater in der heutigen Zeit gebeten, auf dem Theater über das Theater nachzudenken und ihm damit den Auftrag gegeben, ein Metadrama zu schreiben: Sur le théâtre: c’est-à-dire, premièrement, d’examiner ce que tu fais, ce que nous avons fait, tous, […]. Deuxièmement, tu disais par là autre chose: que ces pensées doivent se dresser sur la scène, que les colloques n’y suffisent plus, parce qu’on y cause toujours entre comparses, et qu’il faut tenir séance désormais devant le public, sous ses yeux, sous contrôle, quand c’est de lui qu’il s’agit, à la fin, 445 www.liberation.fr/ culture/ 0101219620-in-avignon-herve-loichemol-met-en-scenelettre-au-directeur-de-théâtre-philosophique-guenoun-pris-a-la-lettre-lettre-audirecteur-du-théâtre-de-denis-guenoun-m-s-de-herve-loichemol-l-usage-de-la-vie-d, 02.04.12. 233 quand c’est lui dans ce débat qui est le plus à son affaire, quand au bout c’est lui qui décide, de tout […]. (LDT, 6-7). Die Reflexion über das Theater soll nicht mehr nur auf Kongressen unter Theaterwissenschaftlern und Theaterleuten stattfinden, welche eine Komparsenrolle spielen, sondern in der Öffentlichkeit, d.h. auf der Bühne im Beisein des Publikums, von dem die Zukunft des Theaters letztendlich abhängt. Über seinen Adressaten, den Theaterdirektor, wendet sich Denis an die Zuschauer mit seinem Brief, welchen er als Theatertext betrachtet, den der Theaterdirektor zur Aufführung bringen soll: Fais théâtre sans pièces. […] Avec ce texte-ci, que je t’adresse, s’il peut servir. Prends-en des bouts, des jets, des chutes, colle, accroche, […]. Aucun scrupule. Ce n’est pas une pièce. […] Prends cette lettre, déchire les pages, jette à la salle. [...] Et à qui je parle, au travers de ta chair et du théâtre qui te ceinture, c’est à ce public que tu as demandé, sollicité, séduit, et qui ce soir même est assemblé, là, pour former un morceau du peuple qui manque, et qui vient. (LDT, 85-86). In welcher Form sein Text, den er als „offenen Brief“ und indirekte Adresse an das Publikum versteht, aufgeführt wird, überlässt der Autor des Briefes der künstlerischen Freiheit des Theaterdirektors, der den Brief auch nach eigenem Gutdünken bearbeiten darf. Denis Guénouns Lettre au directeur du théâtre ist ein fingierter literarischer Brief, der philosophische Reflexionen über das Theater enthält, persönliche Erfahrungen des Autors mit dem Theater wiedergibt, die Probleme des Theaters am Ende der 1990er Jahre analysiert und Vorschläge zur Überwindung der Krise des Theaters unterbreitet. Der Briefschreiber fragt sich zunächst, ob die Philosophie ein bühnentaugliches Sujet sei: „À la fin, philosophie, peux-tu monter sur la scène? “ (LDT, 8). Da er die Bühne im philosophischen Sinne als einen Ort des Denkens betrachtet, kommt er zu dem Schluss, die Bühne sei ein „lieu d’élection pour la philosophie“ (LDT, 11). Guénoun geht von einer philosophischen Definition des Theaters aus, nach der sich das Theater aus der Kombination zweier Elemente ergibt: einer bestimmten Art des Zeigens von Dingen und Wesen, die vorhanden oder nicht vorhanden sind, und der Prämisse, dass Theater beginnt, wenn Abwesendes sich im Körper dessen zeigt, was da ist (LDT, 19): „Le théâtre montre ce qui n’est pas là dans ce qui est là, en tant que c’est là.“ (LDT, 18). Es folgen Überlegungen zur Semantik und zur Ortsbestimmung des deiktischen Begriffs là im Theater, welcher den Punkt darstelle, wo alle Augen konvergieren (LDT, 28). Theater, so der Verfasser des Briefes, bedeute Ort, von dem aus man sieht (LDT, 24). Theater ist für ihn auch ein gemeinschaftsstiftendes Erlebnis, bei dem er und sein Nachbar für die Dauer von zwei Stunden das gleiche Schicksal teilen. Das Theater sei eng mit dem Gemeinwesen verknüpft: „La mort du théâtre dit quelque chose de la mort commune.“ (LDT, 26). 234 Zwei Komponenten bestimmen Guénoun zufolge das Theater, „assemblée“ und „imitation“ beziehungsweise „représentation“(LDT, 30). Aus ihnen leitet er unter Rückgriff auf die griechischen Etyma mimesis und agora zwei Funktionen des Theaters ab: „mimétique“ und „agoreutique“ (LDT, 31). Das Spiel, das Gegenstand einer endlosen Theorie (Kommentare, Reflexionen, Kontroversen, Regieanweisungen, Interviews mit Schauspielern, Habilitationen etc.) sei, gehöre zum Theater und habe ebenfalls diese beiden Funktionen. Guénoun bezeichnet das Spiel als „procédure imitative“ (LDT, 33), denn Spielen bedeute Nachahmen, Darstellen, so tun, als ob. Daraus resultiert gemäß dem Autor eine weitere Definition von Theater: „Le théâtre serait faire semblant. Jouer: cela même.“ (LDT, 33). In seiner Lettre au directeur du théâtre schildert Denis Guénoun die Probleme des Theaters der 1990er Jahre und prangert Missstände an, die aus seiner Sicht für die Krise des Theaters ursächlich sind. Er beklagt zunächst, dass der Chor, die Musik (z. B. das Air in den Komödien) und die Publikumsadresse, der er eine besondere Bedeutung beimisst, aus dem zeitgenössischen Theater verschwunden seien: Eh bien, le chœur a disparu de nos pièces. […] Eh bien, la musique s’évade de nos pièces, s’éclope, se dégonfle. La voilà congruë, la voilà serve, diversion aux levées de décors, renfort d’ambiance aux effusions fades. […] L’adresse est bannie du théâtre, elle est hors de sa doctrine. Connais-tu un traité de l’adresse, de l’adresse une pédagogie quelconque? (LDT, 38-45). In den Schauspielschulen werde vielmehr die Kunst gelehrt, sich nicht an das Publikum zu wenden und es nicht anzusehen, wenn zum Saal hin gespielt werde (LDT, 40). Zudem stellt Guénoun fest, dass das Gegenwartstheater durch eine zunehmende Tendenz zur Monologisierung gekennzeichnet sei. Die adresse der Bühnenfigur sei nicht mehr an andere dramatische Personen oder den Zuschauer, sondern nach innen gerichtet: Et les monologues! Que de travail, pour les privatiser! Sur scène, il n’y a personne, on veut parler à quelqu’un, et là, devant, des dizaines qui regardent, écoutent, disponibles. Non. Ne pas leur parler! - c’est d’un mauvais style. Plutôt cette invention ridicule: parler à soi-même. L’adresse interne, endophagique. (LDT, 39). Da die Publikumsadresse aus den Monologen und den Gesängen des Theaters verdrängt worden sei, räche sie sich, indem sie in Form von Gesten und „apartés“ (LDT, 40), insbesondere in den Komödien, wiederkehre. Die Verbannung der Publikumsadresse aus dem Theater geht einher mit der Krise des Theaters, das krankt, weil es ihm an Substanz, Elan, Kraft und Farbe mangelt: À notre théâtre, plus aucune soufflée qui porte. Images grêles, flétries, intenables. […] Notre théâtre : imitation veuve, mélodie sans portée, image de peu de corps. […] Notre théâtre: cette peinture dont le support s’effrange, ce film à la 235 pellicule mangée. […] Mais le corps du théâtre est atteint. […] La matière du théâtre est pâle. Le corps penche, le corps tombe. (LDT, 51). Das Theater der 1990er Jahre trägt nach dieser Beschreibung Züge der Dekadenz. Es erreicht die Zuschauer nicht mehr, die an ihm vorbeigehen, es jedoch nur noch selten und wenn überhaupt, dann aus anderen Anlässen (Konzert, Schulfest im Theater) betreten (LDT, 53). Der Grund für diesen Zuschauermangel, so Guénoun, sei nicht nur der teure Eintrittspreis, sondern auch der Eindruck des potentiellen Zuschauers, dass das Theater seinen Interessen und Bedürfnissen nicht mehr gerecht werde: [...] le théâtre n’est pas à son intention, le théâtre ne lui est pas voué. […] Ton théâtre n’est pas pour lui. (LDT, 55). Der Briefschreiber überlegt, an welche Zielgruppe sich das anspruchsvolle Theater, das er „théâtre d’art“ (LDT, 56) nennt, richtet. Während das Boulevardtheater heute nicht mehr das Großbürgertum, sondern das wenig gebildete mittlere Bürgertum („les bourgeux“ 446 , LDT, 56) im Visier habe, sei das théâtre d’art zunächst für Lehrer und Schüler sowie für einen Teil des kleinen und mittleren Bürgertums bestimmt, der Kultur wünscht, in die Kultur Hoffnungen setzt und an das Theater glaubt. Darüber hinaus zählt Guénoun zur Zielgruppe des Theaters einige „militants“ (LDT, 57), d.h. aktive Theaterbesucher, außerdem Bürgermeister, Verwaltungsbeamte und Funktionäre des staatlichen Kulturapparats. Das Theater sei für den Staat, der es ja finanziere und für die, die es bezahlen (LDT, 58). Ein weiterer Adressat des Theaters ist für Guénoun die Presse, auf deren Urteil sich die Kulturbeamten stützten. Die Journalisten, deren Theaterkritik für die Künstler und vor allem die Regisseure von Bedeutung sei, kritisiert Guénoun scharf: [...] meneurs fantômes de toutes les répétitions, sélectionneurs fictifs de toutes les troupes, de toutes les œuvres, décisionnaires par contumace de tous les choix. Ils ne viennent pas souvent. Pensent ailleurs. Ecrivent peu, souvent mal. […] Les journalistes, s’ils pèsent, écoutent peu. (LDT, 58-59). Schließlich, so der Autor des Briefes, sei das Theater für die Theaterleute selbst, was seines Erachtens die Gefahr der Nabelschau und des Narzissmus birgt: Le théâtre est pour les gens de théâtre, sans fin, sans trêve. Le théâtre est devenu miroir, étang, théâtre où le regard s’admire, s’aime avant que le reflet le happe, la mort le boive. (LDT, 60). Staat, Presse und die Theaterleute bilden zusammen für Guénoun ein Publikum ähnlich einer geschlossenen Gesellschaft, „un petit milieu clos, mor- 446 Guénoun prägt die Neologismen bourgeux, bourgesie und bezeichnet damit pejorativ ein bürgerliches Publikum, das vor allem die Boulevardtheater, „les théâtres de comédie bourgeuse“ (LDT, 56) frequentiert. 236 tifère, autophage“ (LDT, 60). Das Theater in dieser Form sei elitär. Aus seiner Sicht soll das Theater für die bestimmt sein, an die es sich wendet: „Le théâtre est pour ceux à qui il s’adresse. [...] quiconque, mais quelqu’un.“ (LDT, 61-63). Die Konkurrenz des Fernsehens erwähnt Guénoun zwar, sie stellt für ihn aber nicht eine der Hauptursachen der Krise des Theaters dar, weil dem Fernsehereignis (z.B. der Aufzeichnung einer Molière-Inszenierung), auch wenn es für alle zugänglich, simultan, aktuell und direkt sei, im Gegensatz zum Theater die physische Präsenz, d.h. das être là fehle. Einen Grund für die Krise sieht Guénoun vielmehr darin, dass es einem innovativen Theater, wie er es sich vorstellt, an Autoren und geeigneten Texten mangelt: Mais les pièces? […] où sont les pièces? Où les poèmes de ce théâtre de l’à-venir […] Que faire à ce manque des œuvres […] reste que les pièces nous manquent, que le poète nous fait défaut, qu’il faut vivre avec cette mancance, comme disent les Italiens, nous avons la mancanza du poète […]. (LDT, 78-81). Eine weitere Ursache ist für den Verfasser des Briefes das Geld, d.h. die Finanzierung der Theater. Wie der „coryphée“ (LDT, 38) des antiken Chors tritt Denis, dramatische Selbstbewusstheit zeigend, vor das Publikum und spricht von den finanziellen Problemen der Theaterproduktion: Voici ma parabase, tardive. Je sors du cadre, m’avance. J’y appelle par son nom cette figure qui disconvient au poème: l’argent. Allons, j’en parle: problème nerveux, crise de nerfs du théâtre, qui est au fond une question logique. (LDT, 70). Aus ökonomischer Sicht sei das Theater das Bedürfnis einiger weniger, das der Steuerzahler bezahle: „Le besoin des uns, que tous paient. Une sorte d’exploitation.“ (LDT, 72). Daher sei es wichtig, die Bedürfnisse des Publikums, an welches das Theater sich wenden möchte, zu analysieren. Der Staat soll die Theater nicht mehr als nötig subventionieren, sondern sich bei der Finanzierung der Theaterproduktion gezielt an der Nachfrage orientieren: [...] l’argent de l’Etat, donné au-delà de ce qu’exige le besoin de ceux à qui l’on parle, de ce qu’il exige entends-tu, l’argent donné au delà de sa demande impérieuse et brutale, lutteuse, avide, rend fou. (LDT, 75). Ohne die Berücksichtigung der Interessen des Publikums sieht Guénoun die Gefahr, dass das Theater stirbt. Er kritisiert Antoine Vitez’ Konzept des „théâtre élitaire pour tous“ 447 , spricht von „maladie du théâtre“ und „mort du théâtre“ (LDT, 26), nimmt diesen Befund aber zum Anlass, Strategien zur Bewältigung der Theaterkrise zu entwickeln. 447 „Te souviens-tu de cet oxymore obscène: élitaire pour tous. Quelle tricherie, […] Quelle menterie, quelle honte. Quelle pensée de patronesse. L’Aumône de théâtre, avec conscience. Pour tous, ce théâtre-là ne l’a jamais été, bien sûr.” (LDT, 61). 237 Um zu vermeiden, dass das Theater „clos, ghettoїque, identitairement plié sur soi“ (LDT, 77) werde, müsse das Theater zunächst seine jeweilige Zielgruppe beobachten: „Le théâtre doit lorgner son public.“ (LDT, 67). Mit den potentiellen Zuschauern müsse ein Dialog geführt werden, denn das Publikum liebe es, wenn man mit ihm spreche (LDT, 74). Guénoun schlägt vor, das Publikum stärker in den Prozess der Theaterproduktion einzubeziehen: Il faut que le public se supprime comme consommateur de la marchandise théâtrale, pour produire les œuvres qu’il demande et fait venir au jour. Alors, seulement alors, que la représentation ait lieu, tous frais déjà payés avant que la soirée commence (LDT, 76). Das Publikum soll Produzent eines Theaterstücks werden, d.h. bereits im Vorfeld mitbestimmen, welches Theater es wünscht, und so an der Finanzierung beteiligt werden. Ein solches Theater müsse gratis und für alle zugänglich sein: Le théâtre doit être gratuit. […] Afin que le public, producteur, offre à quiconque à lui voudra se joindre, dans le respect de la dignité de son acte, la donation sans retour de ce qu’il a été singulièrement convoqué à produire, à financer. (LDT, 76-77). Diese Utopie eines rein nachfrageorientierten, für alle Zuschauer kostenfreien Theaters erscheint angesichts der Realität sehr idealistisch, ja fast illusorisch. Auch in ästhetischer Hinsicht hält Guénoun einen „renouveau“ (LDT, 89) für erforderlich. Er plädiert dafür, die Publikumsadresse im zeitgenössischen Theater wieder einzuführen und fordert die Autoren auf, neue Stücke für das Theater zu schreiben: Que faire? Écrire des pièces? Oui! c’est urgent! Qu’on écrive! Qu’on persuade chacun d’écrire! - de vraies bonnes pièces pour aujourd’hui, charnelles, adressées - mais enfin: c’est difficile. (LDT, 82). Eine „écriture pour aujourd’hui, adressée, charnelle” (LDT, 82) und damit eine neue Ästhetik müsse entwickelt werden, die sich vom Althergebrachten, von der Zeit der Konformität, des Anstands und von der Mimesis löse. Wenn neue Theaterstücke nicht zu finden oder unspielbar sind, soll der Theaterdirektor Theater ohne Stücke machen und beliebige, lebensnahe Texte als Grundlage nehmen, die er für das Theater dramatisiert: Prends sous ta main, ce qui s’y trouve, pourvu que de chair, pourvu que de la vie du temps. Ce que tu veux: morceaux de discours, pages arrachées aux journaux, poèmes esseulés qui attendent dans les rayons vides, ou des lettres, morceaux de philosophie, images, morceaux de films, photos de guerre ou de fête, moments de télé captés sur le scope, chansons, airs de rengaine, poèmes, profils de voiture, tracés de stylistes, revues de coiffeurs. (LDT , 83-84). 238 Gekennzeichnet ist diese neue Ästhetik, die auf Antoine Vitez’ Prinzip des „faire théâtre de tout“ basiert, durch Intertextualität, Intermedialität und Hybridität. Guénouns Lettre au directeur du théâtre fällt unter zwei der Kategorien nichtdramatischer Texte (lettres, morceaux de philosophie), die der Autor des Briefes dem Theaterdirektor zur Inszenierung vorschlägt. Bereits beim Schreiben setzt sich der Verfasser des Briefes mit der möglichen Rezeption seines Theatertextes auseinander, der, wie er zu Beginn betont, kein Brechtscher Messingkauf (LDT, 12) sei. Er erklärt dem Theaterdirektor, er habe in seinem Brief nur wenig zitiert, lediglich einige Texte der Theatertradition (z.B. Cinna ou la Clémence d’Auguste von Pierre Corneile), wenig Theorie (z.B. Artaud), wenige Philosophen (u.a. Deleuze), und rechtfertigt so die Intertextualität seines Dramas. Denis fordert den Theaterdirektor zwar auf, seinen Brief zur Aufführung zu bringen, antizipiert aber bereits dessen Kritik an diesem Theatertext und rezensiert damit selbst sein Metadrama: - Mais Denis, dis-tu alors, l’écrit n’est pas jouable! Ce monologue, des heures perdurant! Aucune action! Aucun drame! - Aucune action, je n’en suis pas sûr: s’il n’en comporte aucune, jette-le, il ne vaut rien. S’il dure des heures, coupe, coupe, sans gêne, les écrits d’auteur veulent être forcés, chevauchés. (LDT, 87). Denis Guénouns Lettre au directeur du théâtre ist nicht nur eine Aufforderung an einen Theaterdirektor, innovative, unkonventionelle Theatertexte zu inszenieren, sich gegebenenfalls vom Texttheater zu distanzieren und in der Verwaltung, der Finanzierung und der Produktion von Theater neue Wege zu beschreiten. Er will mit seinem Brief auch das Publikum provozieren, es aus seiner Passivität reißen und mit ihm in Dialog treten. Er entlässt sein Publikum, das der Briefschreiber stellvertretend einmal mit „madame“ (LDT, 8) anspricht, daher mit der Ankündigung, dass er darauf warte, welche Reaktion aus dem Zuschauerraum komme: „ [...] rumeur, grondement, levée ou pas, la gestation, le travail, la convulsion publique ou pas […].“ (LDT, 90). Sein Briefdrama, das auch die für einen Brief charakteristische Subjektivität und Emotionalität aufweist, trägt utopische Züge, denn es ist geprägt von der Vision einer Erneuerung des Theaters, welche das Theater am Ende der 1990er Jahre sucht: Or le théâtre qui le nierait? - a besoin d’utopistes. Il a besoin, périodiquement, qu’on le réveille lorsqu’il s’assoupit. Le texte de Denis Guénoun, qui est un long poème scandé par le vers libre, a la brillance de l’utopie. 448 Valère Novarinas Lettre aux acteurs (1979 449 ), die zu einer Sammlung von Texten des Autors mit dem Titel Le Théâtre des paroles gehört, ist ebenfalls 448 Danan 1996: 89. 449 Erstmals wurde der Text 1979 in den Editions de l’Énergumène publiziert. 1986 erschien er bei Actes Sud. 1989 wurde er in Novarinas Le Théâtre des paroles bei P.O.L. veröffentlicht. Die hier zitierte Ausgabe ist die 2007 bei P.O.L. erschienene. 239 ein „nicht mehr dramatischer Theatertext“, dem die Kommunikationsform des Briefes zugrunde liegt. Der Text entstand 1973 während der Proben zu Novarinas erstem Stück L’Atelier volant 450 , das unter der Regie von Jean- Pierre Sarrazac im Januar 1974 uraufgeführt und von Novarina selbst 2012 am Théâtre du Rond-Point in Paris neuinszeniert wurde. Als Sarrazac den Autor damals bat, den Proben nicht mehr beizuwohnen, schrieb Novarina, wie er in einem Gespräch mit Noëlle Renaude 1986 zugibt, unter dem Eindruck dieser Verbannung einen Brief an die Schauspieler: A l’époque où L’atelier volant a été monté, j’étais dans une excitation incroyable, je m’introduisais sans cesse, de force, dans les répétitions. J’étais intenable. Jean- Pierre Sarrazac, qui assurait la mise en scène, m’a demandé de ne plus venir. J’ai écrit la Lettre aux acteurs dans la fureur du bannissement. 451 Der Adressat seines Briefes sind also primär die Schauspieler 452 , die er mit „Hé les acteurs, les actoresses“ (LA, 24) anspricht: „J’écris par les oreilles. Pour les acteurs pneumatiques.“ (LA, 9). Mittels rhetorischer Fragen wie „Pourquoi on est acteur, hein? “ (LA, 35) und der einmal auftretenden Anrede „Madame“ (LA, 21) wendet Novarina sich aber mit seinen Reflexionen über das Theater und den Schauspieler zugleich an das Publikum. Valère Novarina (*1947) ist Schriftsteller, Philosoph, Dramatiker, Regisseur, Maler, Bildhauer und Fotograf und inszeniert seine Theaterstücke, die lange als schwer aufführbar galten, inzwischen häufig selbst. Ursprünglich wollte er Schauspieler werden, wurde jedoch am Pariser Conservatoire nach einem concours d’entrée abgelehnt. 453 Seine Motivation, Texte für das Theater zu schreiben, begründet er in seiner Lettre aux acteurs: C’est rien d’autre que le désir du corps de l’acteur qui pousse à écrire pour le théâtre. (LA, 24). 450 L’Atelier volant schildert die Zustände in einem Unternehmen Ende der 1960er Jahre, den Klassenkampf zwischen den Angestellten und ihrem Patron Monsieur Boucot, der immer mehr auch zu einer lutte des langues wird. Den Angestellten ist der Mund verboten, also beginnen sie mit dem Anus ihre eigene, subversive Sprache zu sprechen, die sich gegen die langue du pouvoir richtet. 451 Novarina/ Renaude 1986: 7. Jean-Pierre Sarrazac äußert sich 2002 ebenfalls zu der damaligen Zusammenarbeit: „Nous avons eu des difficultés pour monter le spectacle. Je souhaitais que Valère assistait aux répétitions mais il restait muet pendant ces moments-là - il s’est exprimé autrement. Il y a eu des conflits, des tensions, neuf comédiens à diriger, et j’étais tout jeune metteur en scène: mais j’avais une foi complète, une entente sur bien des choses avec Valère, notamment la gestuelle.“ Sarrazac/ Hersant 2002: 120. 452 Novarina schickte diesen Brief damals tatsächlich an die Schauspieler: „ [...] dans ma fureur, j’ai écrit cette lettre que j’ai envoyé [sic] à chacun des acteurs stupéfaits.” Méreuze 1986: 17. 453 Méreuze 1986: 16. „Adolescent, il formulait deux rêves: être acteur et poète. Pour ce qui est du premier, il s’est rapidement évanoui après un échec au concours d’entrée au Conservatoire.” 240 Während Novarina ein Theaterstück schreibt, versetzt er sich in den Schauspieler hinein, er wird, wie er sagt, selbst innerlich zum Schauspieler: „L’ecrivain est un acteur intérieur, un parleur de dedans.“ 454 Was ihn am Schauspieler fasziniere, sei, dass er die Wörter eines anderen spreche. 455 Der Briefschreiber, das „dramatische Ich“, ist in Lettre aux acteurs Stimme des Autors. Die Gedanken, die Valère Novarina beschäftigen, als er am 9. Dezember 1973 an einer Probe zu seinem Stück L’Atelier volant teilnimmt, beschreibt er wie in einem Tagebucheintrag in Lettre aux acteurs: 9 décembre. Suite des répétitions. Suite et faim. Parce que je suis bien avide qu’il me dise, l’acteur, comment c’est là-bas dedans. Je le dévore des yeux, je ne me rassasie pas de ses paroles. Est-ce parce qu’il me mange sur ce plateau? Qu’il dévore mes paroles? Ça m’réactive mes mémoires de voir les corps se batailler avec le vieux livret, l’irriguer l’vieux textus, l’inonder l’cadavre, de leurs spermes masculines et féminines, l’incarner comme on dit… […] Hé, les acteurs, les actoresses, ça brame, ça appelle, ça désire vos corps! […] Est-ce qu’on l’entend? Ce que j’attendais, ce qui me poussait? Que l’acteur vienne remplir mon texte troué, danser dedans. (LA, 23-24). 456 Die enge Beziehung zwischen Autor, Schauspieler und Theatertext, die Novarina in den letzten Jahren durch die Inszenierung seiner eigenen Werke noch intensiviert hat, wird hier deutlich. Von den Schauspielern erwartet Novarina, dass sie den Text seines Theaterstücks, der all seinen Körperöffnungen entströmt sei, auch unter Einsatz ihres gesamten Körpers in Szene setzen: J’ai pas écrit ça avec la main ou avec la tête ou avec la queue, mais avec tous les trous du corps. Pas d’l’écriture à plume, mais d’l’écriture à trou. (LA, 24). Seine écriture ist von einer Körperlichkeit geprägt, die der Schauspieler beim Artikulieren des Textes zu Gehör bringen soll. Der Theatertext wird nach der Vorstellung Novarinas für den Schauspieler zu einer Nahrung, zu einem Körper. Er nennt ihn „c’vieux cadavre imprimé“ (LA, 26), dessen Muskulatur der Schauspieler suchen muss. Der Text sei kein Text, sondern „un corps qui bouge, respire, bande, suinte, sort, s’use“. (LA, 27). Désirée Lorenz und Tatiana Weiser sehen darin eine Sexualisierung des Sprechakts: [...] on relève à ce sujet une comparaison prégnante entre la déclamation de l’acteur et l’acte sexuel. Il y a une sexualité de l’acte de parole, un désir de la 454 Novarina/ Renaude 1986: 10. 455 Novarina/ Renaude 1986: 10. 456 Novarinas Texte sind gekennzeichnet durch einen spielerischen Umgang mit der Sprache, d.h. Neologismen, Trunkierungen und Regelverstöße hinsichtlich der Orthographie, die in den Zitaten daher nicht durch [sic] gekennzeichnet werden. 241 langue, c’est-à-dire une langue autre qui demande à être révélée en soubassement dans toute graphie, et une autre langue désirée dans toute diction. 457 In einem Interview anlässlich der Neuinszenierung seines Dramas L’Atelier volant erklärt Novarina, „retrouver le langage comme zone érogène“ 458 sei die Aufgabe der Schauspieler. Der Autor verlangt von einem Schauspieler, dass er den Akt des Entstehens des Textes erneut vollzieht, ihn mit seinem Körper neu schreibt: […] refaire l’acte de faire le texte, le ré-écrire avec son corps […] Refaire la parole mourir du corps. Descendre aux postures. Trouver les postures musculaires et respiratoires dans lesquelles ça s’écrivait. Parce que les personnages c’est des postures d’organes et les scènes des séances de rythme. (LA, 27-28). Alle großen Schauspieler, so Novarina, seien Frauen und spielten aus dem Uterus heraus, das Sprechen entspringe nicht den Lippen, sondern komme aus der Körperöffnung: Tous les grands acteurs sont des femmes. Par la conscience aiguë qu’ils ont de leur corps dedans. Parce qu’ils savent que leur sexe est dedans. Les acteurs sont des corps fortement vaginés, vaginent fort, jouent d’l’utérus; avec leur vagin, pas avec leur machin. […] Ils ne parlent pas du bout des lèvres, toute la parle 459 leur sort du trou du corps. Tous les acteurs savent ça. (LA, 33-34). Novarina empfindet seine eigene Rolle während der Proben als die eines Gelähmten, der machtlos im Rollstuhl sitzt und denen zuschaut, die tanzen und springen. Den Dramatiker definiert er als einen, der geschrieben hat, welcher zu einem spricht, der spielt. Novarinas Brief an die Schauspieler ist eine Anweisung des Autors an die Darsteller der Inszenierung seines Dramas L’Atelier volant, das unter der Regie von Jean-Pierre Sarrazac geprobt wird. In seinem Brief gibt Novarina den Schauspielern konkrete Hinweise darüber, wie sie das Stück spielen, die dramatischen Figuren Monsieur Boucot, Madame Bouche und die Angestellten verstehen, den Text artikulieren und ihren Körper einsetzen sollen. Eine wichtige Rolle übernehmen für ihn die Atmung und das Bauchgefühl des Schauspielers. Novarina schreibt, wie er betont, ein Theater für pneumatische Schauspieler (LA, 9). Im Griechischen bedeutet pneuma ‚Luft, Wind, Hauch, Atem’, aber im philosophischen und theologischen Sinne auch ‚Geist’. Für Novarina ist „der Geist des Schauspielers sein Atem“. 460 Der kognitive Aspekt des Schauspielerns ist aus seiner Sicht dem physischen beziehungsweise materiellen untergeordnet: 457 Lorenz/ Weiser 2009: 68. 458 Videos.france5.fr/ video/ 94be0e67a24s.html, 12.11.2012. 459 Der von Novarina kreierte Begriff la parle wird in der deutschen Übersetzung der Lettre aux acteurs von Katja Douvier und Leopold von Verschuer mit „die Spreche“ übersetzt. Douvier/ Verschuer 2007: 27. 460 Verschuer 2007: 81. 242 Faut pas faire les intelligents, mais mettre les ventres, les dents, les mâchoires au travail. (LA, 11). Faut des acteurs d’intensité, pas des acteurs d’intention. Mettre son corps au travail. Et d’abord, matérialistement, renifler, mâcher, respirer le texte. (LA, 26). Mit Imperativen wie „Respirez, poumonez! “ (LA, 9), „Mange, gobe [..], mastique“ (LA, 10) und injunktiven Infinitiven wie „Attaquer net […] Arrêter net”, „Mâcher et manger le texte.“ (LA, 10) wendet sich der Briefschreiber gleich einem Regisseur direkt an die Schauspieler und erweckt den Eindruck, als seien die Akteure auf der Bühne präsent. Am liebsten würde der Autor den lebenden Körper eines Schauspielers von der Medizin öffnen lassen, um zu wissen, was darin geschieht, während der Schauspieler spielt (LA, 28). Mit der Betonung der Körperlichkeit des Theaterspielens steht Valère Novarina in der Tradition Antonin Artauds, der in seinem Théâtre de la cruauté den langage corporel in den Vordergrund stellt und sich gegen ein vom Körper losgelöstes logozentrisches Theater wehrt. 461 Auch Novarina kritisiert die, die den Schauspieler wie ein folgsames Gehirn behandeln, befähigt, die Gedanken der anderen in körperliche Zeichen umzusetzen, und bezeichnet dies als „répression du corps“ (LA, 30). Der Schauspieler ist für ihn weder Interpret noch ausführendes Organ, sondern ein lebender Organismus, der sich auf der Bühne verausgabt, sich als Person und als Mensch auflöst und sein „visage défait“ (LA, 33) zeigt: L’acteur n’exécute pas mais s’exécute, interprète pas mais se pénètre, raisonne pas mais fait tout son corps résonner. Construit pas son personnage mais s’décompose le corps civil maintenu en ordre, se suicide. C’est pas d’la composition d’personnage, c’est de la décomposition de la personne, d’la décomposition d’l’homme qui se fait sur la planche. (LA, 32). Die Geschichte des Theaters, schriebe man sie aus der Perspektive des Schauspielers, wäre Novarina zufolge die Geschichte einer „protestation contre le corps humain“ (LA, 33). Wenn der Schauspieler spielt, ist er dem Blick des Zuschauers ausgeliefert, der in ihn hineinsehen kann: „[...] quand il joue l’acteur a la peau absolument transparente et [...] on voit tout ce qu’il y a dedans.“ (LA, 30). Das wirkliche Fleisch des Schauspielers muss sichtbar werden (LA, 32). Der Schauspieler steht für Novarina im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens: „L’acteur n’est pas au centre, il est le seul endroit où ça se passe et c’est tout.“ (LA, 22). Aus seinem Körper dringt die Sprache, er ist der Ort des Ausstoßens des Wortes, der „parole“, die Novarina „la parle“ (LA, 31) nennt und die in seinem Theater eine Sonderstellung einnimmt: 461 Novarina schrieb 1964 eine Arbeit (D.E.S., Diplôme d’études supérieures de lettres modernes) mit dem Titel Antonin Artaud, théoricien du théatre. Vgl. Galtsova 2009: 49 und www.novarina.com/ spip.php? article8, 03.11.2012. 243 Toute mon œuvre tourne autour du langage, c’est l’obsession centrale, dès les premiers textes. 462 Novarinas dramatisches Werk ist gekennzeichnet durch eine „théâtralisation de la langue“ 463 , die seine von Oralität, Neologismen, Trunkierungen, orthographischen Regelverstößen und Registerwechseln geprägte Sprache inszeniert und zum strukturbestimmenden Akteur seiner Stücke macht: En faisant du langage le héros principal de son drame, il anéantit toute dualité entre texte et représentation. C’est la parole même qui se fait spectacle, c’est elle qui fait structure. 464 In seiner Lettre aux acteurs wendet Novarina sich gegen die übliche französische Diktion, nach der die Arbeit des Schauspielers darin bestehe, den Text wie eine Salami aufzuschneiden, bestimmte Wörter zu betonen, sie mit Intentionen aufzuladen und den Satz wie in der Schule in Subjekt, Verb und Objekt zu segmentieren. Seiner Vorstellung nach soll die „parole“ organisch der Physis des Schauspielers entfließen: [...] la parole forme plutôt quelque chose comme un tube d’air, un tuyau à sphincters, une colonne à échappée irrégulière, à spasmes, à vanne, à flots coupés, à fuite, à pression. (LA, 11). Sprachkritisch attackiert er die kopflastige, normative Sprache des kapitalistisch ausgerichteten „système domineur“ (LA, 21), dessen Vertreter den Körper unterdrücken und dem Schauspieler befehlen, die Sprache seiner Herkunft aufzugeben und die nationale Sprache zu erwerben. Harsche Kritik übt Novarina auch am Regietheater, das dem Schauspieler, seiner Individualität und seinem Körper keinen „Spielraum“ lässt: Le metteur en chef, il veut que l’acteur se gratte comme lui, imite son corps. Ça donne le ‘jeu d’ensemble’, le ‘style de la compagnie’; c’est-à-dire tout le monde cherche à imiter le seul corps qui se montre pas. Les journalistes raffolent de ça: voir partout le portrait-robot du metteur en scène qui ose pas sortir. Alors que je veux voir chaque corps me montrer la maladie singulière qui va l’emporter. (LA, 20). Man hindere die Schauspieler daran, Frau zu sein und zu vaginieren und reduziere sie stattdessen darauf, Telegraphen zum Senden und Ausführen, Phalli des Sinns, männliche zum Bezeichnen ausgestreckte Glieder zu sein, die mit ihrem Körper Signale von einem Kopf zum anderen übermitteln (LA, 34). Niemand wisse mehr über den Text als der Schauspieler und von niemandem habe er Befehle zu empfangen, denn einem Körper erteile man keine Befehle (LA, 27). Der Schauspieler sei kein Interpret, weil der Körper kein Instrument sei. Nicht der Regisseur, sondern der Schauspieler ist für 462 Valère Novarina in einem Interview mit Jean-Albert Mazaud in der Zeitschrift Cassandre. Novarina/ Mazaud 1997. 463 Di Meo 1988: 7. 464 Martin 2002: 146. 244 Novarina die oberste Instanz, die alles umstürzen wird (LA, 20). 465 Seine Idealvorstellung von einer schauspielerzentrierten Regieführung, die sich aus seiner persönlichen Erfahrung als Regisseur ergibt, beschreibt er 2009 in einem Gespräch mit Olivier Dubouclez: J’ai très vite pris conscience qu’il n’y avait pas de ‘direction d’acteurs’, que cette expression était inappropriée. […] Les fausses pistes prises par l’acteur viennent souvent du metteur en scène: vous devez penser toujours que c’est vous le fautif. Un enseignant doit penser cela aussi, non? De même, c’est toujours au metteur en scène de se faire mieux comprendre. 466 Das Theater bezeichnet Novarina in seinem Briefdrama Lettre aux acteurs als einen reichen Misthaufen, den die Regisseure mit der Mistgabel immer wieder umschichten, um Reste ehemaliger Aufführungen und Haltungen früherer Menschen hervorzuholen, statt sich der immensen Masse dessen, was heute gesagt und gesprochen wird, zu öffnen: Le théâtre est un riche fumier. Tous ces metteurs qui montent, ces satanés fourcheurs qui nous remettent des couches de dessus par-dessus les couches du fond, de c’bricabron d’théâtruscule d’accumulation d’dépôts des restes des anciennes représentations des postures des anciens hommes, assez, glose de glose, vite, vive la fin de c’theâtre qui ne cesse pas de s’recommenter l’bouchon et d’nous rabattre les ouïes, oreilles et oreillons d’gloses de gloses […]. (LA, 19). Wie Denis Guénoun plädiert Valère Novarina mit seinen Invektiven gegen die Regisseure und gegen das Regietheater für eine Erneuerung des Theaters. Nach Michel Corvin wendet sich Novarina hier insbesondere gegen das Theater der 1970er Jahre, das noch in der Tradition Brechts verhaftet gewesen sei: Le manque d’audace et de spontanéité du théâtre dans les années 1970-1975, il faut le chercher du côté de Brecht, dont c’est la grande époque, après Mai 68; un Brecht devenu une autorité intouchable, dieu d’un temple dont les gardiens contrôlent étroitement […] ceux qui osent s’emparer de ses œuvres; du côté peutêtre aussi de ces intellectuels dépravés qui forts de leurs connaissances - approximatives - en linguistique, veulent ‘scientificiser’ à coups de sémiotique l’analyse des œuvres (textes et mises en scène) en entassant gloses sur gloses. 467 Auch die Theaterkritiker bleiben von Novarinas Kritik nicht verschont, der Autor sieht sie im Einvernehmen mit den Regisseuren: [...] la parole aujourd’hui, dans le théâtre, n’est donnée qu’aux metteurs en scène et aux journalistes et […] le public est poliment prié d’laisser son corps dans l’ vestiaire, et l’acteur, bien dressé, prié gentiment de pas tout foutre la mise en scène en bas, de pas troubler […] l’échange joli des signes de connivence entre le 465 Verschuer 2007: 80-81. „Valère Novarina horcht auf die Schauspieler, ihnen lauscht er sein Theater ab. ‚Der Schauspieler schreibt den Text, der Autor wiederholt ihn nur! ’, hörte ich ihn sagen und wunderte mich.“ 466 Novarina/ Dubouclez 2011: 78-80. 467 Corvin 2012: 123. 245 metteur et les journaux (on s’envoie des signaux de culture réciproque). (LA, 20). Im zeitgenössischen Theater wird seines Erachtens den Regisseuren und den Journalisten zuviel Gehör geschenkt, während die Bedürfnisse der Schauspieler und des Publikums zu wenig beachtet werden. Dabei komme der Zuschauer ins Theater, um zu sehen, wie der Schauspieler sich verausgabe. Das Theater ist für Novarina keine „antenne culturelle pour la diffusion orale des littératures“ (LA, 23), sondern der Ort, an dem das Wort materiell aus dem Körper herausstirbt. Das Theater soll nach seiner Auffassung systemverändernd wirken und das herrschende Reproduktionssystem, das auf der Unterdrückung des Körpers basiert, zu Fall bringen: Tout théâtre, n’importe quel théâtre, agit toujours et très fort sur les cerveaux, ébranle ou perpétue le système domineur. Je veux qu’on m’y change mes perceptions. Faut qu’urge la fin du syste. Faut urger! Il urge qu’on mette fin, commence la chute du système de reproduction en cours. (LA, 21). In seinem Theater sucht Valère Novarina die „quadrature du langage“ 468 und stellt das Experimentieren mit der Sprache, die aus seiner Sicht in unserer Gesellschaft im Rückgang begriffen ist, in den Vordergrund: Aujourd’hui le langage régresse, se compresse et se rétracte et nous avons commencé à devenir des animaux sans paroles. Le théâtre encore une fois nous réunit pour assister à l’exercice périlleux du langage. 469 Seine Lettre aux acteurs, die inzwischen in viele Sprachen (u.a. ins Deutsche, Italienische, Spanische und Katalanische) übersetzt ist und mehrfach aufgeführt wurde, ist nicht nur eine briefliche Anweisung an die Schauspieler der Erstaufführung seines Dramas L’Atelier volant, sondern auch ein Manifest über den Schauspieler und die Kunst des Schauspielerns, das in Schauspielschulen rezipiert wird: Contre le metteur en scène, contre l’espace encombré, contre les ‘sorbonagres’, contre un texte sans nécessité et contre un acteur soumis aux objurgations signifiantes de tous ordres, Novarina écrit son manifeste avec un humour brutal. Il entend secouer la langue française […]. Il s’adresse à l’acteur ‘pneumatique’ et à tous ses orifices, puisque c’est en lui et par lui que ça se passe et que tout passe […]. 470 Rückblickend betrachtet Valère Novarina seinen Brief an die Schauspieler heute als Liebeserklärung an die Schauspieler: En 1974, lorsque Jean-Pierre Sarrazac m’a chassé des répétitions de L’Atelier volant - je devais être insupportable j’ai écrit Lettre aux acteurs. C’était une lettre 468 Gespräch mit Jean-Marie Thomasseau. Novarina/ Thomasseau 2002: 164. 469 Novarina/ Thomasseau 2002: 164. 470 Ryngaert 1993: 135-136. 246 d’amoureux éconduit. Je voulais être le Spartacus des acteurs, les replacer au centre du théâtre, eux qui mangeaient, dansaient et donnaient vie à mon texte. 471 5.7.2 Essayistisches Metatheater In seiner Untersuchung über das postdramatische Theater definiert Hans- Thies Lehmann eine neue Form des Theaters, die sich seit Ende des 20. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Theaterszene manifestiert: Symptomatisch für die Landschaft des postdramatischen Theaters sind Arbeiten, in denen statt einer Handlung oder Szenen die öffentlich gemachte Reflexion über bestimmte Themen dargeboten wird. ‚Theoretische’, philosophische oder theaterästhetische Texte werden aus ihrer Behausung des Lesezimmers, der Universität oder der Theaterschule geholt und auf der Bühne präsentiert durchaus in dem Bewusstsein, dass das Publikum der Ansicht zuneigen könnte, solcher Beschäftigung sollten die Schauspieler vor der Aufführung nachgehen. Gruppen und Regisseure bedienen sich der Mittel des Theaters, um lautes Nachdenken zu zeigen oder wissenschaftliche Prosa zu Gehör zu bringen [...]. Solche Übergänge zu einer Form, die man als theatralen oder szenischen Essay bezeichnen könnte, stellen übrigens die Kehrseite der merklich gestiegenen umgekehrten Bestrebungen dar, Vermittlungsprozesse in Schule und Universität zu theatralisieren. 472 Valère Novarinas nichtdramatischen Theatertext Pour Louis de Funès (1986), den der Autor zusammen mit der Lettre aux acteurs veröffentlicht hat und auch zum Théâtre des paroles zählt, charakterisiert Philippe Di Meo dementsprechend als „étrange soliloque“ 473 , der nur schwer zu klassifizieren ist: Ecrits autour du théâtre, aperçus techniques, expérience de spectateur, leçon d’écriture, déclaration de poétique, la Lettre aux acteurs et Pour Louis de Funès sont tout cela à la fois. 474 Novarina selbst bezeichnet sein nichtdramatisches Metadrama Pour Louis de Funès, das 1986 beim Festival d’Avignon von André Marcon 475 in einer Lesung vorgestellt und 1998 unter der Regie von Renaud Cojo am Théâtre d’Angoulême uraufgeführt wurde, als ein Werk über den Künstler: 471 Liban 2012, www.lexpress.fr/ outils/ imprimer.asp? id=1157509, 12.11.2012. 472 Lehmann 1999: 203-204. 473 Di Meo 1988: 79. 474 Di Meo 1988: 79. 475 Pour Louis de Funès entstand, wie Jean-Pierre Thibaudat in Libération (12.12.1985) schreibt, auch auf Anregung André Marcons, der, während er Novarinas Le monologue d’Adramélech am Théâtre de la Bastille spielte, mit Novarina zusammenarbeitete: „Là, Novarina lui parlait du théâtre, de l’acteur et Marcon le poussait à écrire ce qu’il disait car ‚c’était très dru’. Un jour Marcon lit dans une revue que dix ans auparavant Novarina avait songé à écrire sur de Funès. Un acteur auquel Marcon voue une passion. Il lui a donc demandé d’écrire un texte. Pour de Funès.” Thibaudat 1985. 247 L’artiste est un médium, il distribue une énergie qui ne vient pas de lui. Voilà ce qui m’obsède dans l’acteur. Pour Louis de Funès est un livre sur l’artiste en général. 476 Als Modell für den Künstler wählt Novarina den Film- und Theaterschauspieler Louis de Funès (1974-1983), der besonders durch seine Filmkomödien bekannt ist. In einer in Le Monde erschienenen Kritik der Inszenierung von Renaud Cojo bezeichnet Jean-Louis Perrier Louis de Funès als „comédien symbole de la France des années 60 et 70“ 477 und damit als Teil der mémoire collective. Novarinas in der Ich-Perspektive verfasster szenischer Essay Pour Louis de Funès, der auch als Monodrama betrachtet wird, ist also zunächst eine Eloge und eine Hommage an Louis de Funès, für dessen Schauspielkunst der Autor eine unverhohlene Bewunderung hegt: Mais j’ai toujours voué une admiration profonde à Louis de Funès en tant qu’acteur. Lorsque j’étais élève de Bernard Dort à l’Institut d’études théâtrales, j’avais envisagé de le prendre comme sujet de maîtrise… Et il se trouve qu’André Marcon l’admirait aussi. Nous en avons parlé et c’est comme ça que l’idée est venue de le faire intervenir dans ce texte. Mais c’est vrai qu’il sert un peu de masque ici et qu’au début il s’agissait pour moi d’écrire une nouvelle lettre aux acteurs, comme celle que j’ai écrite il y a dix ans. 478 Die Faszination, die Louis de Funès auf Valère Novarina ausübt, spiegelt sich in seinem nichtdramatischen Metadrama wider: Louis de Funès était au théâtre un acteur doué d’une force extraordinaire, un danseur fulgurant qui semblait aller au-delà de ses forces, excéder la demande et donner au public dix fois plus que les figures attendues, tout en restant parfaitement économe de son effort et toujours prêt à recommencer. Un athlète de la dépense. Un maîtriseur d’énergie […]. (PLF, 163). Novarina vergleicht De Funès mit Helene Weigel und lobt seine Energie und Intensität, seine Mimik und seine Art, sich zu bewegen, die er „marché-dansé [...], Schrittgetanz“ (PLF, 164) nennt. In diesem Schauspieler sieht er einen großen Menschenkenner, der aufgrund seiner Bühnenerfahrung mehr über den Menschen wusste als alle Wissenschaftler und Experten. Seiner „Maske“ Louis de Funès legt Novarina angebliche Zitate in den Mund 479 , in denen er seine eigenen philosophischen Reflexionen über den Schauspieler formuliert: 476 Novarina/ Renaude 1986: 9. 477 Perrier 1999. 478 Méreuze 1986: 16-17. Novarina besuchte den Schauspieler André Marcon regelmäßig bei seinen Vorstellungen; aus diesem Austausch entstand Pour Louis de Funès. 479 In Novarinas Le Théâtre des paroles (2007: 250) sowie in der Erstausgabe des Stücks von 1986 wird versichert: „Tous les propos prêtés à Louis de Funès y sont imaginaires.“ 248 Louis de Funès savait bien tout ça. Qu’être acteur c’est pas aimer paraître, c’est aimer énormément disparaître. […] Louis de Funès disait: ‘Le vrai acteur qui joue, aspire à rien avec autant de violence, qu’à pas être là.’ (PLF, 169). Wenn Louis de Funès im Theater auftrete, dann einfach nur, um zu versuchen, jeden Tag noch einmal anders wiedergeboren zu werden. In jeglicher Rolle sei er immer jemand gewesen, der etwas anderes im Inneren eines Körpers, der erscheine, habe machen wollen. Novarina glorifiziert Louis de Funès, er erhebt ihn zu einer prophetischen Lichtgestalt, die Vorbild für jeden Schauspieler ist: Il y a funèbre dans Funès et ça veut dire Jean-qui-meurt mais il y a aussi lumière dedans et c’est pourquoi j’ai toujours appelé secrètement et simultanément Louis de Funès: Louis de Funèbre et de Lumière. Il savait mourir comme personne en chaque endroit du plateau comme un point lumineux qui passerait partout rapidement pour la dernière fois. (PLF, 178). 480 De Funès ist für ihn ein „Acteur Nul et Parfait“ 481 (PLF, 185) zugleich, der vernichtend und verneinend wie ein Wirbelsturm die Bühne betrat. Das Gesicht von Louis de Funès, behauptet Novarina, sei ihm immer als die Gestalt selbst der Transfiguration des Komischen erschienen. Das Theater bezeichnet Novarina als den ersten Ort der Welt, an dem man die Tiere, d.h. den Menschen sprechen sieht (PLF, 185). Louis de Funès habe das stets gewusst und im Angesicht der Tiere gespielt. Den Journalisten habe er gesagt, man müsse das Theater immer als etwas nehmen, was man den Tieren öffnen müsse; ehe der Schauspieler auftrete, lasse er die Tiere los auf das Publikum und auf sich selbst. Das Animalische ist demnach ein Element der Schauspielkunst: L’acteur n’est pas du tout un déchaîné, une bête lâchée, mais au contraire un enchaîneur qui triomphe des bêtes par la douceur. Tous les acteurs savent ça: qu’on entre comme dans une fosse au lion, pacifier le public comme un animal. [...] Dans la fosse, en précipice, l’acteur joue parmi les bêtes pour faire sortir les bêtes. (PLF, 209-210). Die Künstlerfigur Louis de Funès und ihre angeblichen Aussagen über das Selbstverständnis des Schauspielers bieten Novarina Anlass, theaterästhetische Überlegungen über den Schauspieler und das Theater allgemein anzustellen, indem er solche Zitate und Aphorismen auslegt und deren Gedankengänge weiterspinnt: 480 Lateinisch funus bedeutet ‚Tod, Begräbnis, Leichnam’, aber auch ‚Schatten der Verstorbenen, Manen’. Lateinisch funale, wovon Novarina vermutlich ‚Licht’ herleitet, bedeutet ‚Strick, Fackel’. 481 Corvin 2012: 90. Michel Corvin definiert Novarinas acteur nul et parfait wie folgt: „Un acteur ‚Nul et Parfait’, comme l’était Louis de Funès ou Daniel Znyk, est parfait parce qu’il est nul, parce qu’il n’existe pas en tant qu’individu ayant quelque chose à dire en son nom (presque) propre, en tant que personnage: il n’est qu’une caisse de résonance, un néant sonore.” 249 Louis de Funès disait en sortant: ‚Ils sont venus assister à la passion de l’acteur qui représente les passions.’ Il voulait dire que le théâtre est le ring de l’acteur et le lieu de sa luttre contre lui. (PLF, 215). Nichts, so stellt Novarina fest, sei nackter als der Schauspieler. Er bewohne seinen Körper nicht wie ein Einfamilienhaus, sondern wie eine Höhle des Zufalls und des gebotenen Übergangs. Jeder gute Schauspieler müsse beim Auftritt über seinen Körper hinweggegangen sein. Schauspieler zu sein bedeute nicht, begabt zu sein, um den Hominiden nachzuahmen, sondern um seine Menschenkleider abzustreifen. Der Schauspieler müsse sich zerstören und eine bemerkenswerte Neigung dazu haben, nichts zu sein: „L’acteur-né est par profession négateur d’homme.“ (PLF, 180). Der Zuschauer komme nur ins Theater, um zu sehen, wie der Schauspieler sich seiner Identität entäußere: L’acteur, dans sa vie d’entrées à perpétuité, c’est un qui s’avance devant nous pour disparaître. On ne vient que pour ça. Qu’il sorte d’identité. Et non pour en savoir plus sur les lois du monde ou sur les caractères des sociétés. Car l’homme n’aspire qu’à ça: changer le corps donné. (PLF, 171). Das Herausschlüpfen aus dem Körper und der eigenen Identität, das zum Beruf des Schauspielers gehört, betrachtet Novarina als ein menschliches Grundbedürfnis, das das Interesse des Zuschauers am Schauspieler und am Theater erklärt. Novarina richtet ähnlich wie in der Lettre aux acteurs mit Imperativen immer wieder Aufforderungen an einen virtuell auf der Bühne präsenten Schauspieler, mit dem er wie ein Regisseur einen Pseudodialog führt, in dem er sich mit Fragen vergewissert, ob er auch verstanden wird: N’entre en scène que détruit soixante-six fois! Recommence tout ça dans le vide! […] Tu m’entends? Rejoue tout ça par le trou qui chute! (PLF, 174). Acteur, montre-moi la matière physique comme elle est: sortie d’un mot. Montre le corps sortir par la parole. (PLF, 183). Der Dramatiker entwirft hier seine Idealvorstellung vom Schauspieler, die der eines konventionellen, mimetischen Illusionstheaters widerspricht: L’acteur qui entre, je ne veux pas qu’il soit un algébriste télégraphié par quelqu’un d’autre qui m’énumère les vingt-trois stations mécaniques d’un alphabet d’emprunt, un pantin, dont on manipule le mouvement, je ne veux pas qu’il me représente des figurines, des silhouettes d’humanoïdes, ni qu’il me représente moi ou mon voisin, mais qu’il vienne détruire et couper nos visages, qu’il apparaisse devant moi non comme un autre en face, mais comme mon propre corps, sorti du monde, en son et en limon. (PLF, 183). Novarina beschreibt seinen acteur novarinien, der in der Lage sein soll, das théâtre novarinien zu verstehen und zu spielen. Er definiert ihn als „une machine à renaître en paroles, pas un locuteur” (PLF, 182). Das Wort dient nicht nur dazu, zu kommunizieren und Dinge zu bezeichnen, es ist nach 250 Novarina das Licht und der Geist des Körpers. Der gute französische Schauspieler müsse jeden Tag das Französische neu erwerben und dieses Idiom nicht als natürlich betrachten. Er soll den Spracherwerb des Kindes nachvollziehen. Wie ein Kind soll er durch die Ohren sprechen, d.h. vom gesprochenen und gehörten Wort ausgehen. Er, Novarina, komme nicht ins Theater, damit man ihm irgendetwas zeige, sondern um zuzusehen, wie der Schaupieler in seinem unsichtbaren Wiederkäuen all seine Worte von vorher verspeise. Wie in seiner Lettre aux acteurs betont Novarina auch hier die corporéité der parole. Er verlangt vom Schauspieler, dass er das Wort hinterfragt und ein hohes Sprachbewusstsein besitzt. Neben der Beziehung des Schauspielers zur Sprache analysiert Novarina in seinem szenischen Essay auch das Verhältnis des Schauspielers zum Raum. Sich wiederum auf Louis de Funès berufend erklärt Novarina, der auftretende Schauspieler komme aus der Leere. Zwischen dem Raum und dem Schauspieler bestehe eine Art Sexualität (PLF, 189). Im Raum sei der Schauspieler ein Negatives, ein widerspenstiger Bewohner, der ihn auf andere Weise bewohne: „Tout homme qui est, n’habite pas l’espace, mais fait un trou dedans.“ (PLF, 195). Novarina wendet sich mit seinen Anweisungen und Reflexionen nicht nur an einen fiktiven Schauspieler, er spricht auch direkt die Zuschauer, die er „Messieurs, Mesdames“ (PLF, 214) nennt oder vertraulich duzt, in einer Publikumsadresse an und fragt, ob sie seine Reflexion über den Schauspieler verstehen: L’acteur apparaît pour que je me ressouvienne un instant, d’un trait, que le monde est fabriqué de mon limon et de mon verbe parlé. Tu comprends ça, spectateur? Tu comprends ça? Que tu as tout fait. (PLF, 184-185). Erneut übt Novarina wie schon in seinem Brief an die Schauspieler - Kritik am Theater und an den Theaterregisseuren, deren Kopflastigkeit, Dogmatismus, ständige Medienpräsenz und Hang zur Adaptation nichtdramatischer Texte für die Bühne er sprachkreativ aufs Korn nimmt. Mithilfe des tyrannischen Arztes Monsieur Purgon, einer Figur aus Molières Le Malade imaginaire, will er sie symbolisch aus dem Theater verjagen: [...] loin d’ici metteurs en choses, metteurs en ordre, adaptateurs-tout-à-la-scène, poseurs de thèses, phraseurs de poses, imbus, férus, sclérotes, doxiens, dogmates, segmentateurs, connotateurs, metteurs en poche, adaptateurs en chef, artistes autodéclarés, as de la conférence de presse, médiaturges, médiagogues, encombreurs de plateau, traducteurs d’adaptations et adaptateurs de traductions, vidéastes de charité, humains professionnels, librettistes sous influence, sécheurs d’âmes, suiveurs de tout, translateurs de tout, improvisateurs de chansons toutes faites, loin d’ici, Monsieur Purgon! mettez-les loin d’ici! (PLF, 162). 251 Ähnlich Michel Vinaver, der 1988 den Begriff der „mise en trop“ 482 prägt, wettert Novarina gegen die „mise en poses“, „mise en gloses“ und „mise en ornements“, die seines Erachtens verschwinden muss, und gegen die mise en scène als Kunst, signierte Ideen zu haben, die auffallen (PLF, 175), d.h. er kritisiert das Regietheater scharf. Der Regisseur soll sich nicht als Autor und Kommentator einer Aufführung verstehen, sondern eine Inszenierung im übertragenen Sinne „zur Welt bringen“, den Schauspielern den Rhythmus geben, ihnen Worte reichen und im Hintergrund wirken: Tous les vrais metteurs en scène savent ça: qu’ils ne sont pas les auteurs du spectacle, mais des metteurs au monde, des donneurs de rythme, des passeurs de paroles et que leur art doit devenir invisible. (PLF, 175). Novarinas Kritik richtet sich auch allgemein gegen das institutionalisierte Theater, dessen Tendenz zur Ästhetisierung durch eine üppige Bühnendekoration („Chromomanie, décoratite“, PLF, 176) und dessen Mangel an Konzentration auf den Menschen, den Schauspieler und den Klang der Sprache er beanstandet: Énormément de décor toujours à chaque fois - mais j’ai très peu vu de chair d’homme, peu entendu sonner le français, peu entendu les consonnes, les rythmes, peu vu entrer l’acteur en vrai. (PLF, 161-162). Er wendet sich gegen ein mimetisches, realistisches Illusionstheater, das die Wirklichkeit, den Alltag und die ewig gleichen Kategorien eines Repertoires von Menschentypen abbildet: Quelques répétiteurs nous reproduisent le monde tel qu’il est. […] Arrêtez le boléro réaliste! la toujours même petite courte valse de reconnaissance et de reproduction: jérémiades des petits faits vrais, tours pendables et vraisemblables, quotidienneries, cortège des habits d’habitude, sempiternelles silhouettes: le romancier alcoolique, le journaliste mondain, le prolétaire laborieux, le petitbourgeois qui monte et celui qui descend. Cent quatre-vingt-dix-sept peaux répertoriées. (PLF, 170-171). Das französische Theater tue sich schwer, sich von dreißig Jahren geistiger Mechanisierung zu erholen, behauptet Novarina und listet sprachspielerisch die Strömungen, die das Theater seit den 1950er Jahren seines Erachtens besonders beeinflusst haben, auf: Le théâtre français a du mal à se remettre de trente ans de mécanisation mentale: critico-positivisme, constricto-calculisme, pluvalisme psychique, huminanisme, socio-nabotisme, terreur du trou, psittacisme néo-doctien, pessimisme postdogmate, sorbonographie, tronquisme petit-français, haine de soi. (PLF, 201). Michel Corvin stellt diese Kritik am französischen Theater, das aus der Sicht Novarinas in den Jahren 1950 bis 1985 zu theorielastig, ideologiege- 482 Vinaver 1988. 252 bunden und intellektualisiert war, in den theatergeschichtlichen Kontext und versucht sie zu erklären: En donnant une référence précise de date, Novarina invite à faire un peu d’histoire du théâtre. Trente ans avant 1985 (date de rédaction de ce texte) c’était (à peu près) à la fois la naissance du théâtre d’avant-garde (Beckett, Ionesco, Adamov…), les grandes heures du TNP et la découverte de Brecht en même temps que la diffusion […] du théâtre classique français et étranger dans les Centres dramatiques nationaux (CDN). Hormis le théâtre d’avant-garde dont la connaissance était réservée à quelques milliers de passionnés fréquentant des salles minuscules de la Rive gauche, toute la gent théâtrale était prise de prosélytisme politico-social: le théâtre devait ouvrir la culture à tous ceux qui, naguère, n’y avaient pas accès, tout en leur donnant, avec l’insistance propre aux néophytes, des directives claires d’interprétation, dans le sens d’une critique appuyée des nantis et des méchants. C’est ce que Novarina épingle avec les termes ‘critico-positivisme’, de ‘socio-nabotisme’ et de ‘mécanisation mentale’. Anticipant quelque peu sur l’histoire, il s’en prend aussi aux sorbonnards et autres structuralo-linguistes qui ajouteront à l’édifice terroriste leur pierre de dogmatisme. 483 Novarina plädiert für eine Erneuerung des Theaters und formuliert in seinem Metadrama Pour Louis de Funès vier programmatische Punkte, die das Theater berücksichtigen muss, um wieder den Schauspieler, seinen Körper, seine Arbeit und den „flux central de l’émission des paroles“ (PLF, 177) zu fokussieren: Premier slogan à appliquer immédiatement : ‘Au travail à la table, faire surtout tourner les tables: voir resurgir, ressusciter.’ Le second: ‘Engloutir l’argent dans l’acteur, non dans les choses.’ Le troisième: ‘Tout décor pouvant se traduire par une idée est à déconstruire immédiatement.’ Le dernier: ‘Tout déplacement dramaturgique est à ne pas bouger.’ (PLF, 177-178). Das Theater soll sich nach Novarinas Vorstellung wieder auf das Wesentliche, d.h. die Kunst des Schauspielers und die Sprache besinnen. Valère Novarinas essayistisches Metadrama Pour Louis de Funès ist eine Fortsetzung und Vertiefung der bereits in seiner Lettre aux acteurs dargelegten Reflexionen über das Theater, den Schauspieler und die Schauspielkunst. Beide Texte sind metatheatrale Manifeste, in denen Novarina in den 1970er und in den 1980er Jahren vehement einen renouveau du théâtre durch die Rückkehr zu einem schauspielerzentrierten und auf der Oralität und der Körperlichkeit der Sprache basierenden Theater fordert. Ein weiteres Beispiel für ein essayistisches Metadrama ist das 1991 erschienene Theaterstück La Bataille de Chaillot des Schauspielers, Dramatikers und Regisseurs Serge Pauthe (*1939). Auch hier stellt sich die Frage der Einordnung dieses Theatertextes. Der Verlag Actes Sud, in dem er veröffentlicht wurde, klassifiziert ihn als „un texte polémique entre le dis- 483 Corvin 2012: 116. 253 cours, la conférence, la reconstitution historique, le théâtre“ und als „monologue[s]“. 484 In Anlehnung an Hans Thies Lehmann lässt sich La bataille de Chaillot als biographischer szenischer Essay über Jean Vilar (1912-1971) beschreiben. Das Stück wurde im Juli 1984 während des Festival d’Avignon in einer lecture spectacle in der Maison Jean Vilar vorgestellt und am 21. März 1985 in der Comédie de Rennes (CDN de Bretagne) von Serge Pauthe uraufgeführt. Es folgten weitere Inszenierungen, unter anderem in Avignon beim Festival-Off 1991 (Théâtre du Balcon), in Marokko und in Spanien. Im Jahr 2012 wurde La Bataille de Chaillot anlässlich des 100-jährigen Geburtstags von Jean Vilar auf Einladung der Maison Jean Vilar und des Festival des Nuits de l’Enclave in Valréas erneut aufgeführt. Der Theatertext entspringt der Bewunderung Serge Pauthes für Jean- Vilar und ist, wie der Autor angibt, „inspiré de l’œuvre de Vilar“ (BCH, 7). Jean Vilar, der 1947 das Festival d’Avignon ins Leben rief und von 1951 bis 1963 Direktor des Théâtre National Populaire (TNP, auch Chaillot genannt wegen seines ursprünglichen Sitzes 485 im Palais de Chaillot) in Paris war, ist eine mythische Figur der französischen Theatergeschichte und nicht erst seit der Eröffnung der Maison Jean Vilar in Avignon (1979) Teil der mémoire collective. La Bataille de Chaillot ist eine Erinnerung und Hommage an den Schauspieler, Regisseur und Theaterdirektor Jean Vilar, die seine Bedeutung für das französische Theater würdigt und den Mythos Jean Vilar fortschreibt. 486 Serge Pauthe erklärt die Intention, die er mit seinem Theatertext über Jean Vilar verfolgt, im Avant-Propos seines Metadramas und in einem Prospekt zur Aufführung des Stücks beim Festival d’Automne du Théâtre de la Haute Ville in Vaison la Romaine: Je laisserai le mythe et l’épopée dans le lointain. […] Je ne chercherai pas le sosie de Vilar pour le représenter tel qu’il était à la scène comme à la ville. Je veux gratter nos racines et chercher d’où l’on vient, reconstruire notre préhistoire théâtrale qui date d’à peine trente ans. Faire vibrer les textes qu’il écrivait la nuit au retour du théâtre ou qu’il improvisait sous l’effet de la colère ou de l’ironie mordante. Il s’agit j’en suis sûr de découvrir un poète. 487 484 Siehe Klappentext (Rückseite) des 1991 bei Actes Sud veröffentlichten Stücks La Bataille de Chaillot. 485 Seit den 1970er Jahren hat das Théâtre National Populaire seinen Sitz in Villeurbanne. 486 Neben La Bataille de Chaillot gibt es noch andere französische Theaterproduktionen, die an Jean Vilar erinnern, so z.B. das 1997 am Théâtre de Chaillot unter der Regie von François Duval aufgeführte Stück Vilar: Notes de service, das auf einer Adaptation Duvals der von Vilar verfassten Notes de service, die er zwischen 1944 und 1967 am Tableau de service des jeweiligen Theaters anschlagen ließ, basiert. 487 Avant-propos zu La Bataille de Chaillot, S. 5 und Prospekt zur Aufführung in Vaison la Romaine, http: / / issuu.com/ Mairie-Vaison-la-Romaine/ docs/ programme__thv/ 3, 03.01.2013. 254 Es geht Pauthe weder um eine verklärende noch eine realistische Darstellung Jean Vilars, sondern darum, einen wichtigen Abschnitt der französischen Theatergeschichte zu rekonstruieren, die Persönlichkeit Jean Vilars aus der Innenperspektive zu beleuchten und ihn selbst inmitten der Höhen und Tiefen seiner Kämpfe um das Théâtre National Populaire (TNP) zu Wort kommen zu lassen. Pauthe versteht sich als Récitant, der den bedeutenden Phasen des Lebenswegs Jean Vilars nachspürt: Je suis comédien, j’aime jouer des personnages Et [sic] raconter des itinéraires. (BCH, 13). Der Theatertext setzt sich zusammen aus deskriptiven und erzählenden Passagen, in denen das „dramatische Ich“, der Récitant, im historischen Präsens oder im Imparfait biographische Informationen zu Vilar gibt, und Zitaten aus Vilars Schriften, die in diesen Text montiert werden. Eine bibliographisch genaue Quelle für die Zitate, mit denen die Figur Jean Vilar evoziert wird, nennt Serge Pauthe jedoch nicht. Auch eine typographische Kennzeichnung der Vilar zugeordneten Äußerungen durch die Angabe der Figur, wie sie im konventionellen Drama üblich ist, fehlt, sodass der Leser bzw. Zuschauer den Wechsel zwischen dem Ich des szenischen Essays und dem Ich der Figur Jean Vilar, wenn er nicht eingeleitet wird durch Aussagen des Récitant wie „Et un jour, nous dit-il“ (BCH, 16), „J’imagine alors Vilar...“ (BCH, 31) oder „Je le devine cerné par les tracasseries ministérielles“ (BCH, 27), nur durch den Kontext und die unterschiedliche Diktion erkennen kann. La Bataille de Chaillot richtet sich also vor allem an ein Publikum von Initiierten, das die Geschichte Jean Vilars, des Festival d’Avignon und des Théâtre National Populaire in Paris kennt. La Bataille de Chaillot folgt chronologisch der Biographie Jean Vilars und versetzt den Zuschauer an Orte und Stationen seines Lebens wie den Geburtsort Sète, das TNP in Paris, die Bretagne, das Festival d’Avignon und verschiedene Tourneeorte des TNP in und außerhalb Frankreichs. Das essayistische Metadrama beginnt im Jahr 1932 im Hafen von Sète, als der junge Jean Vilar auf das Meer blickt und beschließt, den Zug nach Paris zu nehmen. In Paris verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Pion im Collège Sainte-Barbe und begegnet bei einer Vorstellung von Richard III im Théâtre de l’Atelier Charles Dullin. Vilar schildert seine Erfahrungen beim Vorsprechen als junger Schauspieler und kritisiert 1940 den Luxus und die museale Verstaubtheit der Pariser Theater. Nach einem Aufenthalt in der Bretagne mit einer Truppe 488 fahrender Schauspieler spielt er 1943 in einem kleinen Theater in Paris Strindberg, wird von der Presse gelobt und feiert 488 Es handelt sich vermutlich um die Truppe La Roulotte, mit der Jean Vilar 1942 eine Tournee in der Bretagne machte. Vgl. Chronologie zu Jean Vilar in Simon 2001: 215. 255 erste Erfolge. 489 Vier Jahre später, nach Kriegsende, organisiert Jean Vilar im September 1947 das erste Festival d’Avignon 490 und beschreibt die Atmosphäre, den Kontakt zum Publikum und die Anstrengungen der Schauspieler während dieses Theaterfestivals, das als „nouvelle renaissance théâtrale“ (BCH, 23) in die Theatergeschichte eingehen wird. Mehrere Festivals in Avignon unter der Leitung Vilars folgen in den Jahren 1948, 1949, 1950 und 1951. Vilar reflektiert über die Bedeutung und den Sinn dieses Festivals und denkt an eine Rückkehr nach Paris. 1951 wird er zum Direktor des Théâtre National Populaire in Paris ernannt: „Bientôt va commencer la légendaire Bataille de Chaillot.“ (BCH, 26), prophezeit der Récitant und erinnert sich, dass er selbst zur damaligen Zeit 20 Jahre alt war. Heute habe er nach der Lektüre von Jean Vilars Mémento, den Aufzeichnungen, die Vilar in den Jahren 1952 bis 1955 machte, verstanden, welchen Attacken Vilar als Direktor des TNP ausgesetzt gewesen sei. Er stellt sich vor, wie Vilar das Cahier des charges, das er als zukünftiger Leiter des TNP unterzeichnen musste, liest, und zitiert sinngemäß dessen wichtigste Artikel. 491 Vilar zögert, überlegt, ob er sich mit diesem Vertrag in die Hand des Staates begeben soll, und unterschreibt schließlich. Er engagiert Schauspieler und Mitarbeiter. Da der Palais de Chaillot in Absprache mit der französischen Regierung noch von den Vereinten Nationen genutzt wird, zieht Vilar mit dem TNP vorübergehend durch die Banlieue; Spielorte sind u.a. Suresnes, Clichy, Gennevilliers, Porte Maillot, Porte de Montreuil, Versailles und Aulnay-sous-Bois, wo das TNP mit einer Vorstellung des Cid begeistert aufgenommen wird. Die Darsteller des Rodrigue und des Don Diègue fragen sich jedoch, ob die Tournee des TNP durch die Banlieue auch sozial und politisch etwas bewirken kann. Im April 1952 kann die Truppe des TNP endlich den Palais de Chaillot beziehen und die Saison mit Molières L’Avare eröffnen. Jean Vilar führt Regie und übernimmt die Rolle des Harpagon. Seine Maßnahmen zur Demokratisierung des TNP wie die Reduzierung des Eintritts- und Programmpreises, das Verbot der Trinkgelder und die Vorverlegung der Anfangszeiten der Vorstellungen erregen Aufsehen. Vilar tritt als Harpagon auf die Bühne und klagt über die Last des Cahier des charges und die Kürzung der Subvention des TNP durch den Staat. Das nächste Bild zeigt Vilar 1952 als Kardinal Cibo bei der 489 „Il donne en juillet deux représentations privées de La Danse de mort de Strindberg à la salle Vaneau. Les quelques critiques présents à ce spectacle sont enthousiasmés par son jeu et sa mise en scène. […] Jean Vilar inaugure le théâtre de Poche-Montparnasse à la mi-septembre avec son spectacle suivant qui comprend deux pièces, Orage de Strindberg, et Césaire de Jean Schlumberger […].” Simon 2001: 216. 490 Im ersten Jahr nannte es sich noch „Semaine d’art dramatique en Avignon“ (4.- 11. September 1947). Vgl. Simon 2001: 218. 491 Jean Vilars Mémento enthält im Anhang den Text des Cahier des charges, das Vilar mit dem Secrétariat d’Etat aux Beaux-Arts der Direction générale des Arts et des Lettres vereinbarte. Vgl. Vilar 1981: 255ff. 256 Probe des Lorenzaccio mit Gérard Philipe. Vilar hat nun auch alle Privilegien für betuchte Zuschauer aufgehoben und muss gegen die Attacken der Comédie Française, der théâtres privés, der Autoren der Boulevardtheater, der Presse, eines Parlamentariers, der Administration und des Inspecteur général des finances kämpfen, der seine Konten überprüft. Ihm wird vorgeworfen, Kommunist zu sein, und man behauptet, er würde die Gelder des TNP nicht korrekt verwalten. Der Figaro kündigt bereits an, der Minister werde Vilar am nächsten Tag seines Amtes entheben. Das TNP begibt sich auf Tournee durch die französische Provinz, zum VIII. Festival d’Avignon, nach Den Haag und nach Amsterdam. Gespielt werden Dom Juan von Molière, Le Cid, Le Prince de Hombourg, Ruy Blas, Meurtre dans la cathédrale, Cinna und Macbeth. Vor dem Château de Beaumesnil lässt Vilar seine Truppe selbst bei Regen und Nebel spielen, um den Zuschauern, die aus der ländlichen Umgebung gekommen sind, getreu seiner Idee eines théâtre populaire den Dom Juan näherzubringen. Nach der Rückkehr in die Hauptstadt wird Vilar ins Ministerium einbestellt. Man hält ihm vor, in seiner Schauspieltruppe seien Kommunisten. Vilar erkundigt sich bei Gérard Philipe, ob er Mitglied der kommunistischen Partei sei, fordert ihn trotzig auf, dort einzutreten und vermutet, das Ministerium halte ihn selbst für einen Agenten. Acht Tage später steht Hugos Ruy Blas auf dem Programm des TNP. Der Récitant versichert den Zuschauern, die Schlacht um das Théâtre de Chaillot sei gewonnen dank des Publikums, das immer zahlreicher werde. Er erinnert sich, im TNP einst Bertolt Brechts La Résistible Ascension d’Arturo Ui 492 gesehen zu haben, ein Stück über den Aufstieg des Faschismus in Deutschland, in dem Jean Vilar ihn in der Rolle des Arturo Ui und als „acteur civique“ (BCH, 49) beeindruckt habe. 1954, so erzählt das „dramatische Ich“, sei Vilar im Begriff, einen neuen, weniger drakonischen Vertrag mit dem Staat zu unterzeichnen. Nun sei Frieden. Jean Vilar fragt sich, ob Frankreich sich nach dem Krieg in Indochina weiter in Kolonialkriege, vielleicht mit Algerien einlassen wird. Er beteuert, niemals Politik betrieben oder einer Partei angehört zu haben. Sein Leben sei das Theater, und dieses subventionierte, staatliche Theater werde seine Pflicht tun, indem es auf seine Weise für die Rückkehr des Friedens und der Gerechtigkeit demonstrieren werde. Stolz gibt Vilar die Zuschauerzahlen der Statistik des TNP für das Jahr 1954 bekannt und beziffert die Einnahmen des Theaters. Doch was am Ende des Jahres zähle, 492 Das Drama wurde 1960 am TNP aufgeführt: „Le retentissement de la Résistible Ascension d’Arturo Ui, seconde pièce de Brecht jouée au cours de la saison, confirme un étonnant redressement du TNP. Antigone et Arturo Ui, montés en pleine guerre d’Algérie, s’adressent à un public motivé. Le TNP devient un théâtre vraiment engagé et touche un public plus populaire.” Simon 2001: 229. 257 betont er abschließend, sei nicht die Zahl, sondern das gute oder schlechte Gewissen des Künstlers. Im Anhang des Theatertextes La Bataille de Chaillot führt Serge Pauthe weitere unbelegte Zitate Vilars als Paratexte auf, die er dem Zuschauer bzw. Leser zur Kenntnis geben will, um das Bild der Persönlichkeit Jean Vilars zu komplettieren. Theatergeschichtlicher Hintergrund dieses Metadramas sind die in den Jahren 1952 bis 1954 stattfindenden Auseinandersetzungen Jean Vilars mit seinen Kritikern in der Pariser Theaterszene, der Presse, der Politik und dem Ministère de l’Education nationale. Die in La Bataille de Chaillot erwähnte Jeanne Laurent, Sous-directrice des spectacles et de la musique à la direction générale des Arts et des Lettres (1946-1952), bietet Vilar 1951 die Leitung des Théâtre national du Palais de Chaillot an, damit er das Werk Firmin Gémiers fortsetzt. Jean Vilar akzeptiert und greift den früheren Namen des Theaters, Théâtre National Populaire, wieder auf. 493 Bereits kurz nach seiner Nominierung warnt Jeanne Laurent Vilar vor möglichen Attacken: [...] je le prévins qu’il devait s’attendre à être injustement attaqué et même détesté, il ne me crut pas. […] Je crus devoir insister: ‘Eh bien, vous serez haï.’ L’événement me donna malheureusement raison. Dès le lendemain de sa nomination, il fut l’objet d’attaques injustifiées. Des campagnes de calomnies se développèrent pendant qu’il menait les batailles épuisantes des premiers temps de son mandat. 494 Nachdem die Kulturbeamtin Jeanne Laurent, wie Serge Pauthe es überspitzt darstellt, von ihrem Minister entlassen wird, weil sie etwas zu häufig ins Theater geht (BCH, 22), verliert Vilar eine wichtige Fürsprecherin im Ministerium. Ausgangspunkt der Kritik sind das Cahier des charges, dessen genaue Erfüllung einige Kritiker öffentlich anmahnen, Vilars Maßnahmen zur Demokratisierung des TNP sowie sein Umgang mit den Finanzen des TNP. Das Cahier des charges empfand Jean Vilar tatsächlich, wie Pauthe es schildert, als Last und als Einschränkung, was er in einem Brief an Jeanne Laurent vom 20. August 1951 zum Ausdruck bringt: Le cahier des charges? Après l’avoir lu et relu, j’en ai eu peur, moins peur, puis à nouveau, j’ai éprouvé bien des craintes. Une sorte de froid dans le dos. Bigre, s’enchaîner! Comme bien des êtres, je suis fidèle dans la mesure où le lien qui me lie ne devient pas un carcan. 495 493 Vgl. Simon 2001: 221. 494 Jeanne Laurent 1986. Projet de livre inachevé. Zitiert nach: Jean Vilar par lui-même, Vilar 1991: 110. 495 Brief an Jeanne Laurent vom 20.08.1951, zitiert nach Jean Vilar par lui-même, Vilar 1991: 101-102. 258 Dieses Verzeichnis der Leistungen, die zu erfüllen Jean Vilar sich als Direktor des TNP verpflichten musste, sah unter anderem Folgendes 496 vor: Vilar musste eine Summe von 500 000 Francs als Kaution hinterlegen, die Subvention des TNP sollte jedes Jahr neu festgesetzt werden, pro Jahr waren mindestens 200 Theatervorstellungen zu organisieren (darunter 150 außerhalb des TNP und bevorzugt in der Pariser Banlieue), die aufgeführten Werke sollten dem klassischen und modernen Repertoire angehören und sowohl französische wie ausländische Autoren berücksichtigen. Der Minister hatte das Recht, die Aufführung von Stücken, die die öffentliche Ordnung stören könnten, zu verbieten. Der Inspecteur des Finances kontrollierte jedes Jahr die Buchhaltung des TNP. Serge Pauthe lässt seine Figur Jean Vilar diese Auflagen in der Ich- Perspektive rezitieren (BCH, 28-29) und verleiht ihnen durch die Subjektivierung noch mehr Gewicht. Im Kostüm des Harpagon 497 klagt Vilar in La Bataille de Chaillot über die Kürzung der staatlichen Subvention des TNP von 52 auf 45 Millionen 498 und beziffert die Abgaben, die Ausgaben und das mögliche Defizit seines Theaters (BCH, 36). Sein „style dit ‚dépouillé’“ 499 (BCH, 37), der bei den Inszenierungen auf unnötige Bühnendekoration verzichte, subventioniere das TNP ohnehin. Ein Gehalt war für den Direktor des TNP nicht vorgesehen, Vilar war abhängig von den Einkünften des TNP: Et comme je suis responsable de la gestion financière de l’entreprise, je ne percevrai aucun salaire. Je devrai me payer sur les très éventuels bénéfices que j’accomplirai au terme de ma misssion. Par contre, toutes les dettes provenant d’une éventuelle mauvaise gestion seront entièrement à ma charge. (BCH, 29). Dies nahmen Vilars Gegner 1953 zum Anlass, ihn wegen angeblicher Unterschlagung von Geldern des TNP anzugreifen und, wie in La Bataille de Chaillot beschrieben, seine Konten zu überprüfen: Pendant ce temps, pendant que je répète dans mon propre théâtre, l’inspecteur général des finances contrôle tous mes comptes. Il entre sans frapper dans le bureau du chef comptable, se place devant le coffre-fort, ordonne à un employé de lui donner la combinaison exacte dans les cinq minutes qui suivent. Après quoi, il se met à compter, je dis bien à compter, jusqu’à la dernière pièce de vingt sous. (BCH, 40). 496 Vgl. Cahier des Charges im Anhang des Mémento, Vilar 1981: 257-272. 497 Vilar vergleicht sich in seinem Mémento auch mit dem sparsamen und geizigen Harpagon, den er 1952 am TNP spielte: „Ah, comme je comprends de plus en plus profondément les mobiles et les terreurs d’Harpagon.“ Vilar 1981: 84. 498 Dies entspricht der Realität: „Elle était fixée, pour l’exercice 1952, à 52 millions de francs. On l’a réduite à 45 millions.“ Vilar 2 1986: 157. 499 Dieses Zitat entnimmt Pauthe Vilars Mémento. Vgl. Vilar 1981: 102. 259 Den historischen Hintergrund dieser scharfen staatlichen Kontrolle, die Serge Pauthe aus der Perspektive Jean Vilars darstellt, schildert Alfred Simon: La succession de Jean Vilar paraît ouverte. On met en cause sa gestion. On l’accuse plus ou moins ouvertement de détournement de fonds, parce que, aucun traitement n’étant prévu pour le directeur, il a dû prélever une somme à valoir sur les bénéfices escomptés qui dut être, à la date du 8 novembre 1953, intégralement remise en caisse. 500 Eine Reihe von kritischen Artikeln, bezeichnet als „Enquête“ von Jean Carlier, erscheint im November 1952 unter dem Titel Malaise au TNP in der Zeitung Combat. 501 Im Mai 1953 veröffentlicht Paris-Presse weitere Artikel gegen Vilar und verbreitet die Nachricht, Jean Vilar werde angeblich das TNP verlassen. 502 Auch wegen der Auswahl der Stücke auf dem Spielplan des TNP wird Vilar attackiert. Man nimmt ihm übel, Bertolt Brechts Mutter Courage auf das Programm zu setzen und unterstellt ihm, Kommunist zu sein. 1968 äußert sich Jean Vilar dazu in einer Radiosendung mit Roger Pillaudin: D’autre part jouer, comme premier spectacle un chef d’œuvre populaire, c’est-àdire Mère Courage, un auteur non pas seulement communiste mais vivant à Berlin-Est, directeur d’un théâtre national de la République Démocratique Allemande, c’était en 1951, pour un jeune directeur d’un théâtre national, vouloir provoquer toutes les colères. J’ai monté l’œuvre de Brecht en 1951, non pas par acte de courage, mais parce que lisant le manuscrit, je me suis aperçu que c’était une œuvre qu’il fallait tout de suite monter. […] À ce moment-là sévissait non pas seulement aux Etats-Unis, mais en Europe et notamment en France un Maccarthysme qui était assez lâche. 503 In dem Drama La Bataille de Chaillot zeigt sich Jean Vilars Befindlichkeit angesichts dieser öffentlichen Anschuldigungen während einer Probe 504 des Lorenzaccio mit Gérard Philipe, die Vilar in Gedanken versunken verfolgt. Er weiß, während er im TNP probt, stellt ein Abgeordneter ein Dossier gegen ihn zusammen. Vilar hat Zeitungen mitgebracht und liest Gérard die bösen Schlagzeilen der Presse vor, die eine Kampagne gegen das TNP und seinen Direktor betreibt: „‚Le T.N.P. est un repaire de communistes! ’ ‚Nos impôts servent-ils à entretenir des agents de Moscou? ’ ‚Vilar est communiste. Pourquoi? Il monte une pièce de Brecht! ’ ‚Vilar est 500 Simon 2001: 223. 501 Siehe Anhang des Mémento, Vilar 1981: 285-299. 502 Vgl. Mémento, Vilar 1981: 34-37. 503 Radiosendung von Roger Pillaudin, Un homme, une œuvre: Jean Vilar, 1968, zitiert nach Jean Vilar par lui-même, Vilar 1991: 107. 504 Es liegt kein „Theater im Theater“ vor, denn Pauthe gibt bei dieser Probe lediglich persönliche Gedanken Vilars und Gérard Philipes wieder und nicht den Text des Lorenzaccio. 260 un fasciste. Pourquoi? Il monte le prince de Hombourg de Kleist encensé par les nazis.’ ‚C’est un déséquilibré, un malade, un gaspilleur, il faut confier Chaillot à des mains plus expertes.’ ‚Il ignore la valeur de l’argent. Il ne sait pas diriger. Il est mal conseillé.’ “(BCH, 40-41). Dann tritt Jean Vilar als Kardinal Cibo, dessen Charakter er mit dem des bewussten Abgeordneten vergleicht, auf die Bühne, um für kurze Zeit seine Gegner zu vergessen: Et quand je quitte la répétition, l’âme légère, libéré de mes chaînes, Maurice Clavel, mon secrétaire général, me cueille dans le couloir: ‘Le Figaro annonce que tu vas être démissionné demain par le ministre.’ La bataille continue. Sourde. La meute se déchaîne. Les successeurs rôdent déjà autour du ministère. La meute attendra. (BCH, 42). Was Jean Vilar wirklich damals während dieser hier als Hetzjagd beschriebenen Angriffe empfand, offenbart er in seinem Mémento, welches die einzige Referenz unter Vilars Schriften ist, die Serge Pauthe in seinem Drama explizit nennt (BCH, 26): Répondre à toutes ces attaques par un article, un seul? Le titre: Non. 505 Jean Vilar wehrte sich schließlich in mehreren, z.T. auch offenen Briefen 506 , die im Anhang des Mémento veröffentlicht sind, gegen seine Kritiker. Vilars Bedeutung für das Festival d’Avignon, sein Konzept eines Théâtre national populaire und seine Bestrebungen zur Demokratisierung des Theaters werden in La Bataille de Chaillot deutlich herausgestellt, um ihn als Reformer und als Visionär der damaligen Theaterszene erscheinen zu lassen. Das erste Festival d’Avignon 1947 charakterisiert Pauthe als „nouvelle renaissance théâtrale“(BCH, 23) und als Aufbruch, mit dem Vilar beweisen wollte, dass das Theater lebendig ist und nicht nur hinter den geschlossenen Türen der etablierten Theaterinstitutionen stattfinden muss: Et le chef de la troupe [Vilar] s’adresse une dernière fois à ses amis parisiens: À nos amis de Paris qui ont bien voulu nous suivre en Avignon, nous avons prouvé que le vrai mystère du théâtre se passe de rideaux, de paravents, de toiles et de rampes. L’Avenir du théâtre n’est pas dans le huis clos. Il est prouvé désormais que, comme toujours, il préfère l’air, le soleil, la pierre et l’eau. (BCH, 23). Vilars Idee eines théâtre national populaire, das alle Schichten des Pariser Publikums ebenso wie die Zuschauer in der Banlieue und in der französischen Provinz erreichen sollte, wird in La Bataille de Chaillot illustriert durch die Beschreibung der Tourneen des TNP durch die Banlieue und durch die Provinz. Die Philosophie des TNP, das gemäß Vilar allen zugänglich sein 505 Aufzeichnung ohne Datum, aber vermutlich aus dem Jahr 1953, Vilar 1981: 23. 506 Siehe Vilar 1981: 277-282. 261 sollte, gibt Serge Pauthe mit einem fast wörtlichen Zitat Jean Vilars aus dem Text Le T.N.P. service public 507 (1953) wieder: Mon ambition est donc évidente: faire partager au plus grand nombre ce que l’on a cru devoir réserver jusqu’ici à une élite. Et j’affirme que le Théâtre National Populaire est un service public, tout comme l’eau, le gaz et l’électricité. (BCH, 30). Die sich daraus ergebenden Maßnahmen Vilars zur Popularisierung und Demokratisierung des Theaters bezeichnet Serge Pauthe auf die Erklärung der Menschenrechte anspielend als „première Déclaration des droits du spectateur“(BCH, 35) und unterstreicht damit den zu jener Zeit revolutionären Charakter der Reformen Vilars: 1. Le prix du fauteuil du théâtre bourgeois est à 850. Le fauteuil à Chaillot sera à 250. 2. Les pourboires seront interdits, le vestiaire gratuit, les ouvreuses salariées. Elles n’auront plus à mendier pour gagner leur vie. 3. Et j’ouvre à 18 heures les portes de mon théâtre. Il y aura de la musique, des sandwiches jambon-beurre et des repas bon marché. […] ‚Quand les portes du travail ferment, s’ouvrent celles du Théâtre National Populaire’ telle sera notre devise. 4. Le programme sera aussi cher qu’un paquet de gauloises. […] le texte complet de la pièce que l’ouvrier ou l’employé emportera chez lui. […]. 5. Et le spectacle commence à vingt heures. […] Je ne peux pas transformer la société mais je peux avancer l’heure de mes spectacles. (BCH, 35-36). Auch hier orientiert sich der Text von La Bataille de Chaillot im Wesentlichen an den historischen Fakten, die in den Werken über Jean Vilar genannt werden. 508 Neben Vilars Verhältnis zum französischen Staat, d.h. seinen Auseinandersetzungen mit der Kulturadministration und den Anfeindungen der Presse, beschreibt Pauthe Vilars enge Zusammenarbeit mit Gérard Philippe und hebt sein Engagement für das Publikum, insbesondere das der Ban- 507 Die Referenz nennt Pauthe nicht, das Zitat ist aber dem Text Le Théâtre, service public, Vilar 2 1986: 173 entnommen: „Le T.N.P. est donc, au premier chef, un service public. Tout comme le gaz, l’eau, l’éclectricité. […] Notre ambition est donc évidente: faire partager au plus grand nombre ce que l’on a cru devoir réserver jusqu’ici à une élite.“ 508 Simon 1981: 224-225. „Le TNP prend une série de mesures destinées à gagner un nouveau public et à affirmer le caractère populaire de l’entreprise: outre la modicité du prix des places (100, 200, 300 et 400 anciens francs) imposée par le cahier des charges, on décida l’ouverture des portes du théâtre à 18 h 30 pour permettre aux spectateurs de venir directement de leur travail, avec accueil et repas en musique, commencement du spectacle à 20 h 15 (au lieu de 21 heures dans les autres théâtres), […] vestiaires et toilettes gratuits, pourboires interdits.“ Eine genauere Beschreibung dieser Reformen gibt Philippa Wehle, siehe Wehle 1991: 74-76 . 262 lieue 509 und der unteren sozialen Schichten hervor, das er als „dévouement à l’égard des classes laborieuses“ (BCH, 31) bezeichnet: J’imagine, alors, Vilar... plantant son estrade à une porte de Paris, la porte de Clignancourt par exemple, tournant le dos aux théâtres bourgeois de la capitale, et s’adressant aux millions d’habitants qui peuplent la banlieue. Oui, je vais rendre visite à mes amis de banlieue, dans ce Paris plus grand que Paris, aux habitants des cités ouvrières où veille un admirable public. […] Je sais qu’en jouant Le Cid avec Gérard Philipe, n’importe quel théâtre privé parisien m’ouvrirait ses portes mais ce qui m’intéresse, ce n’est pas seulement de jouer, c’est de jouer pour ceux qui ne peuvent payer que deux cents francs. (BCH, 31). Serge Pauthes biographie théâtrale endet im Jahr 1954. Jean Vilar kann guten Gewissens die jährliche Statistik der Zuschauer und der Einnahmen bekanntgeben und belegt damit den Erfolg des TNP. Dieser szenische Essay über das Leben und Wirken Jean Vilars, der die Jahre 1932 bis 1954 fokussiert, nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise in die glorreiche Vergangenheit des französischen Theaters. La Bataille de Chaillot gewährt Einblick in die Geschichte des Théâtre National Populaire, welche untrennbar mit der des Schauspielers, Regisseurs und Theaterdirektors Jean Vilar verknüpft ist. Serge Pauthe begibt sich auf die Spuren einer bedeutenden Persönlichkeit der französischen Theatergeschichte und zeichnet aus der Innensicht ein Porträt dieses homme de théâtre, der mit seinen für jene Zeit revolutionären Theaterreformen in der Politik, der Kulturadministration, der Theaterszene und in der Öffentlichkeit auf Widerstand stieß und trotz dieser Kämpfe seinen Weg unbeirrt fortsetzte: Je montre à quel point Jean Vilar fut la cible de ceux qui n’acceptaient pas qu’un tel théâtre vivant puisse exister en plein Paris et concurrencer les spectacles affligeants offerts au public parisien dans les théâtres de boulevard. Je dis que Vilar est actuel par son verbe, sa pensée et l’intelligence de sa vive réflexion sur ce théâtre enfin ouvert au public populaire. Je le prouve par cet acte théâtral qui n’est pas une conférence. Il n’est surtout pas question d’une évocation du ‘cher disparu’ mais d’une parole impertinente et qui interpelle. Et fait revivre Vilar autant dans ses instants de conquête que dans ses moments d’abandon. 510 5.7.3 Funktionen des nichtdramatischen Metatheaters Bei den analysierten Beispielen für das nichtdramatische Metatheater stellt sich zunächst das Problem der Klassifizierung, denn es handelt sich um „nicht mehr dramatische Theatertexte“, die sich gattungstypologisch in traditionelle Kategorien schwer einordnen lassen. Die Theaterkritik behilft sich bei der Beschreibung dieser Theaterstücke einerseits mit herkömmli- 509 Hier bezieht sich Pauthe auf Vilars Text La banlieue (1957), vgl. Vilar 2 1986: 350-351. 510 Serge Pauthe, www.fol07.com/ spip.php? article2782, 16.12.12. 263 chen Begriffen wie monologue, soliloque, monodrame, andererseits bezeichnet sie sie als texte inclassable oder als hybride Form. So wird Denis Guénouns Lettre au directeur du théâtre zugleich als poème scandé par le vers libre, als philosophischer und polemischer Essay und als unklassifizierbarer Text, der vielleicht ein Theatertext ist, charakterisiert. Der Autor selbst wehrt sich gegen den Begriff monologue und definiert sein Werk nicht als pièce, sondern als poème und als lettre longue, chantée, reprise, die er an einen befreundeten Theaterdirektor und ein potentielles Publikum richtet und insofern als eine Art Dialog versteht. Valère Novarinas Metatheatertexte Lettre aux acteurs und Pour Louis de Funès etikettiert ein Kritiker gleichzeitig als „écrits autour du théâtre, aperçus techniques, expérience de spectateur, leçon d’écriture und déclaration de poétique” 511 und zeigt mit diesem Spektrum von Textsorten, dass es sich um heterogene, nicht genuin dramatische Theatertexte handelt, die sich einer eindeutigen Klassifizierung entziehen. Novarina betrachtet Lettre aux acteurs als eine Anweisung an die Schauspieler, wie sein Text L’Atelier volant zu spielen ist, aber auch als Liebeserklärung an die Schauspieler, die seinen Text verschlingen, ihn tanzen und ihm Leben verleihen. Pour Louis de Funès ist für den Autor ein Buch über den Künstler, eine Fortsetzung seiner in Lettre aux acteurs dargelegten Gedanken über den Schauspieler und eine Hommage an Louis de Funès. La Bataille de Chaillot beschreibt der Verlag Actes Sud als texte polémique entre le discours, la conférence, la reconstitution historique, le théâtre, d.h. als eine Mischform zwischen Rede, wissenschaftlichem Vortrag, geschichtlicher Rekonstruktion und Theater. Serge Pauthe betont, sein Theatertext sei keine conférence und keine Evokation eines Verstorbenen. Er betrachtet La Bataille de Chaillot vor allem als historische Rekonstruktion eines wichtigen Abschnitts der französischen Theatergeschichte und des Lebensweges des bedeutenden Schauspielers, Regisseurs und Theaterdirektors Jean Vilar, dessen Stimme er mit authentischen Texten aus Vilars Nachlass Gehör verleihen will. Die vier hier vorgestellten nichtdramatischen Metadramen wirken wie eine theatertheoretische, theaterästhetische beziehungsweise theaterhistorische Abhandlung, in der über das Theater reflektiert und philosophiert wird. Die metatheatrale Selbstreflexivität dieser Theaterstücke ist nicht mehr an eine dramatische Handlung mit entsprechender Figurenkonstellation und dialogischer Figurenrede 512 gebunden, sondern äußert sich in den Kommunikationsformen des Briefes und des Essays. Die Briefdramen 511 Di Meo 1988: 79. 512 Relikte eines Dialogs sind allenfalls in La Bataille de Chaillot in dem Gespräch zweier Dom Juan-Darsteller und in dem Probengespräch zwischen Vilar und Gérard Philipe zu erkennen. Diese erinnern aber in ihrer Struktur eher an Dialogpassagen aus einem Roman. 264 Lettre à un directeur du théâtre und Lettre aux acteurs lassen sich dementsprechend als epistolares Metatheater bezeichnen, während die szenischen Essays Pour Louis de Funès und La Bataille de Chaillot als essayistisches Metatheater klassifiziert werden können. Alle vier Texte sind Formen des métathéâtre-récit, in denen ein Récitant, hier ein Briefschreiber oder ein essayistisches Ich, autoreferentiell seine Gedanken über ausgewählte Themen des Theaters und der Theaterwissenschaft formuliert. Der Récitant ist dabei ein schreibendes, erzählendes und reflektierendes Ich, das mit dem Autor des jeweiligen Metatheatertextes identisch zu sein scheint. Die nichtdramatischen Metatheatertexte Lettre au directeur du théâtre, Lettre aux acteurs und Pour Louis de Funès gleichen theatralen Manifesten, in denen die Autoren dem Publikum, das sie zuweilen direkt ansprechen, ihre Reflexionen über das zeitgenössische Theater, den Schauspieler, das Regietheater, die Theateradministration, die Theaterkritik und die Krise des Theaters mitteilen und eine Erneuerung, einen Renouveau des Theaters, fordern. Denis Guénoun sieht sich dabei in der Tradition von Aristophanes (Die Frösche), Diderot (Paradoxe sur le comédien) und Brecht (Der Messingkauf). 513 Valère Novarinas und Serge Pauthes Stücke Pour Louis de Funès und La Bataille de Chaillot sind zudem Erinnerung und Hommage an zwei Persönlichkeiten der französischen Theater- und Filmgeschichte, Louis de Funès und Jean Vilar, deren Mythos sie fortschreiben. Während Novarina fiktive Zitate des französischen Theater- und Filmschauspielers Louis de Funès intertextuell in seinen szenischen Essay integriert und den Schauspieler zum Modell stilisiert, ist Pauthes biographie théâtrale des legendären Begründers des Festival d’Avignon und Direktors des Théâtre National Populaire de Chaillot von Dokumenten aus Jean Vilars Artikeln, Schriften und Korrespondenz inspiriert, die, fast wörtlich zitiert und in die erzählenden Passagen des Récitant montiert, seinem Metadrama einen historischdokumentarischen Charakter geben. Denis Guénoun, Valère Novarina und Serge Pauthe äußern in ihren nichtdramatischen Metadramen auch laut ihre Kritik am Theater. Denis Guénoun beschreibt aus der Perspektive des homme de théâtre, ehemaligen Theaterdirektors und Theaterwissenschaftlers die Missstände im Theater der 1990er Jahre und übt Kritik an der Institution Theater, an der Theateradministration, den Regisseuren, den zeitgenössischen Autoren, den Theaterkritikern und dem Theaterpublikum. Valère Novarina beklagt den Hang des Gegenwartstheaters zur décoratite und chromomanie, d.h. zur Ästhetisierung bei der Bühnengestaltung, und kritisiert die Theorielastigkeit, Ideologiegebundenheit und Intellektua- 513 Guénoun erwähnt nur den Messingkauf explizit, die beiden anderen hier genannten Werke, an die Guénoun vermutlich denkt, beinhalten jedoch auch Reflexionen über das Theater und den Schauspieler. 265 lisierung des Theaters in den Jahren 1950 bis 1985. Er wehrt sich gegen ein verkopftes, den Körper unterdrückendes Theater, in dem der Schauspieler vom Regisseur nur als Interpret und ausführendes Organ betrachtet wird und seine Diktion den Regeln der sprachlichen Norm des Französischen anpassen soll. In Pour Louis de Funès beschimpft er die Regisseure unter anderem als metteurs en choses und metteurs en ordre, bezeichnet die mise en scène als mise en poses, mise en gloses und mise en ornements und kritisiert die ständige Medienpräsenz der Regisseure. Zwischen den Theaterkritikern und den Regisseuren, denen seines Erachtens in der Öffentlichkeit zuviel Gehör geschenkt wird, sieht er ein heimliches Einvernehmen. Nicht der Regisseur, sondern der Schauspieler ist für Novarina, der seine Texte inzwischen häufig selbst inszeniert, die oberste Instanz. Serge Pauthe kritisiert mit seiner Darstellung der bataille de Chaillot, in der er die Kämpfe Jean Vilars mit den Funktionären der französischen Theateradministration um sein Cahier des charges und die Subventionen des Théâtre National Populaire schildert und die Attacken der Theaterkritik und der Politik auf Vilar beschreibt, indirekt auch die Bedingungen, unter denen die Theaterdirektoren bis heute in der Theaterproduktion arbeiten (Auflagen der Kulturverwaltung, Probleme der Finanzierung und der Programmgestaltung, Druck der Öffentlichkeit etc.). Indem er Jean Vilar, den Begründer des Festival d’Avignon und Verfechter eines théâtre national populaire, porträtiert und die Aktualität seiner Ideen hervorhebt, erinnert er auch daran, dass das französische Theater seiner Geschichte gedenken und wieder gemäß Vilar ein théâtre ouvert à tous werden muss. Denis Guénoun, dessen Lettre au directeur du théâtre (1996) das jüngste der hier untersuchten nichtdramatischen Metadramen ist, geht über die Kritik hinaus und analysiert die Ende der 1990er Jahre vielbeschworene Krise des französischen Theaters. Er beklagt das Verschwinden des Chors, der Musik und der Publikumsadresse aus dem Theater, das seiner Auffassung nach zu einer mangelnden Einbeziehung des Publikums in das Theatergeschehen führt, und beobachtet eine zunehmende Tendenz zur Monologisierung im zeitgenössischen Theater. Das Theater zeigt ihm zufolge Züge der Dekadenz, es fehlt ihm an Substanz, Kraft, Elan und Innovation. Guénoun spricht von „maladie du théâtre” und warnend von „mort du théâtre “ (LDT, 26). Er stellt fest, dass das théâtre d’art den heutigen Bedürfnissen der Zuschauer nicht mehr gerecht werde und zu elitär sei. Außerdem mangele es an Autoren und geeigneten Theatertexten. Das stets aktuelle Problem der Finanzierung von Theaterproduktionen, das in La Bataille de Chaillot in einem theatergeschichtlichen Zusammenhang behandelt wird, thematisiert Guénoun als ehemaliger Theaterdirektor ebenfalls in seiner Lettre au directeur du théâtre. Aus seiner Sicht ist das Theater das Bedürfnis einiger weniger, dass der Staat - und damit letztlich der Steuerzahler - finanziert. 266 Guénoun und Novarina fordern in ihren manifestartigen Metatheatertexten eine Erneuerung des französischen Theaters. Novarina sieht einen solchen Renouveau vor allem in der Rückkehr zu einem schauspielerzentrierten, auf der Körperlichkeit und Oralität der Sprache basierenden Theater, das mit der parole experimentiert, und erstellt dazu ein Programm in vier Punkten. Guénoun erwartet von den Autoren, dass sie innovative Texte schreiben, die die Publikumsadresse wieder berücksichtigen. Den Theaterdirektoren rät er, gegebenenfalls Theater ohne Text zu machen oder nicht genuin dramatische Texte zu dramatisieren und in der Verwaltung und der Theaterproduktion neue Wege zu beschreiten. Er plädiert für ein zielgruppen- und zuschauerorientiertes Theater, in dem mit dem Publikum ein Dialog über seine Bedürfnisse geführt wird, um es direkt an der Finanzierung, der Programmgestaltung und den Produktionen des Theaters zu beteiligen und so wieder für das Theater zu gewinnen. Guénoun entwickelt in seiner Lettre au directeur du théâtre die Utopie eines nachfrageorientierten Theaters, das aus seiner idealistischen Sicht für alle Zuschauer gratis sein könnte. Serge Pauthe stellt Jean Vilar und sein Konzept eines théâtre national populaire als historisches Vorbild für ein volksnahes, allen Bevölkerungsschichten offen stehendes Theater dar und mahnt mit dieser Rückkehr zu den Wurzeln eine Rückbesinnung des zeitgenössischen französischen Theaters auf seinen eigentlichen Auftrag an. Die hier behandelten nichtdramatischen Metadramen sind Zeugnisse eines intensiven Nachdenkens, Reflektierens und Philosophierens über das Theater, den Schauspieler und die Geschichte des Theaters, welches nun nicht mehr allein in Paratexten zu diesen Theaterstücken, theoretischen Schriften der Autoren oder im Rahmen von Kongressen unter Theaterwissenschaftlern stattfindet, sondern, wie Denis Guénoun es verlangt, metatheatral, direkt auf der Bühne im Beisein des Publikums, das an diesen Reflexionen teilhaben soll. 5.8 Polymorphes Metatheater Beim polymorphen Metatheater wird die bereits von Karin Vieweg-Marks festgestellte, mögliche Überlagerung mehrerer Metatheatertypen zum Strukturprinzip. In polymorphen Metadramen spielen die Autoren bewusst mit einer Kombination aus mehreren metatheatralen Formen, woraus ein „metatheatrales Totaltheater“ entsteht, das einen hohen Grad an Theatralität und Autoreferentialität besitzt. 267 5.8.1 Kombination aus Formen des thematischen, episierenden, fiktionalen und diskursiven Metatheaters Die Dramatikerin, Romanschriftstellerin, Schauspielerin und Drehbuchautorin Yasmina Reza (*1959) zählt heute zu den meistgespielten Bühnenautorinnen der Gegenwart und wurde international vor allem durch ihre Theaterstücke Art (1994), Trois versions de la vie (2000) und Le Dieu du carnage (2006) bekannt. Ihr Drama Une pièce espagnole (2004), das unter der Regie von Luc Bondy im Jahre 2004 am Théâtre de la Madeleine in Paris uraufgeführt wurde, gibt sich bereits im Titel als Metadrama zu erkennen. Fünf namenlose Schauspieler proben in Frankreich ein spanisches Stück des fiktiven Dramatikers Olmo Panero, der extra zu den Proben aus Madrid angereist ist. In imaginierten Interviews, Bekenntnissen, Monologen, Dialogen und Gesprächen treten sie aus ihren Rollen heraus, um dem Publikum und Figuren, die selbst nicht in Erscheinung treten, darunter die Kostümbildnerin Françoise, der Autor Olmo Panero und ein Interviewer, Einblick in ihre Gedanken und Gefühle zu geben und ihre Rolle in dem spanischen Stück zu kommentieren. Die Handlung des spanischen Stücks, dessen Titel nicht genannt wird, spielt vermutlich in Madrid 514 und zeigt ein Familientreffen bei Pilar, ehemals Empfangsdame in einem Friseursalon, die ihren Töchtern Nuria und Aurelia ihren etwas jüngeren Freund, den verwitweten Hausverwalter Fernan, vorstellen will. Pilars dritte Tochter Cristal, die ein Kind erwartet, lebt in Barcelona und kann an der Zusammenkunft nicht teilnehmen. Nuria ist eine attraktive, erfolgreiche, mit einem Hollywoodstar liierte Filmschauspielerin, die sich auf die Verleihung des spanischen Filmpreises vorbereitet, bei der sie einen Goya erhalten wird. Aurelia, verheiratet mit Mariano, einem dem Alkohol verfallenen Mathematiklehrer, ist Theaterschauspielerin und probt in einem Vorstadttheater ein bulgarisches Stück aus den 1970er Jahren. Nuria und Aurelia begegnen der neuen Liebe ihrer Mutter mit Skepsis, auch wenn Fernan sich redlich bemüht, die beiden Töchter Pilars näher kennenzulernen. Konflikte brechen auf. Aurelia, unzufrieden mit ihrem kleinbürgerlichen Dasein als Ehefrau und Mutter der kleinen Lola, ist eifersüchtig auf Nuria und fühlt sich als Schauspielerin von ihrer Familie nicht anerkannt. In ihrer Ehe mit Mariano ist sie nicht glücklich. Nuria verbietet ihrer Mutter, Fernan Privates über ihre Töchter zu erzählen, und macht sich über Aurelias Tochter Lola lustig. Mariano studiert mit Aurelia ihre Rolle in dem bulgarischen Theaterstück ein. Pilar 514 Einen Hinweis darauf enthält Szene 13, in der Fernan behauptet, mehrmals im Jahr das Theater Maria Guerera besucht zu haben (PE, 52). In Madrid gibt es das Teatro María Guerrero. In Szene 26 erwähnt Fernan die Rue Velázquez (PE, 116), die der Calle Velázquez in Madrid entsprechen könnte. Die Szenen, die in einem öffentlichen Park spielen, deuten ebenfalls auf Madrid hin. 268 und Fernan fragen nach dem Inhalt des Stücks, das Aurelia probt. Aurelia erklärt, sie spiele darin eine Klavierlehrerin, die sich in ihren Schüler, einen Mann, der verheiratet und älter als sie sei, verliebe. Mariano unterhält sich mit Fernan über dessen Tätigkeit als Hausverwalter und erzählt ihm von Problemen mit der eigenen Hausverwaltung. Während Nuria der Familie die Kleider vorführt, die sie zur Goya-Preisverleihung tragen könnte, äußern Aurelia und Fernan deutlich ihr Missfallen daran und verunsichern die Filmschauspielerin. Aurelia teilt Nuria mit, Cristal sei nicht von ihrem Mann, sondern von einem Geliebten schwanger. Mariano probt mit Aurelia eine weitere Szene aus ihrem bulgarischen Drama. Pilar beklagt sich bei Fernan über ihre Töchter, denen Hochzeiten, Kommunionen, Geburtstage und Weihnachten nichts mehr bedeuteten. Pilar ist überrascht über die Nachricht von Cristals Schwangerschaft. Nuria und Aurelia erkundigen sich bei Pilar über die Kinder Fernans. Die Situation eskaliert, als Aurelia ihre Mutter beleidigt und von Pilar eine Ohrfeige erhält. Kurz darauf wird Aurelia von einer Panikattacke erfasst. Pilar bricht in Tränen aus. Nachdem Aurelia und Nuria ein Beruhigungsmittel genommen haben, verlassen die beiden Töchter Pilar, die mit der Frage zurückbleibt, was sie ihnen Böses tue. Bei einem Spaziergang im Park macht Fernan Pilar einen Heiratsantrag. In einem anschließenden Monolog, der sich an Aurelia und Olmo Panero richtet, spricht der Schauspieler, der Mariano spielt, über seine Beziehung zu Aurelia und seine Alkoholabhängigkeit und gibt Olmo Panero den Ratschlag, seine dramatischen Figuren lieber zu töten, ehe sie sich auflösen. Yasmina Rezas Drama endet mit einer Szene aus dem bulgarischen Stück, in der Aurelia in der Rolle der Klavierlehrerin Mademoiselle Wurtz ihrem Schüler Monsieur Kiš ihre Gefühle offenbart und ihm zum Abschied das Präludium Nummer 5 von Mendelssohn vorspielt. Une pièce espagnole setzt sich aus 28 nummerierten Szenen zusammen, die Sequenzen drei verschiedener Fiktionsebenen darstellen, zwischen denen wie in einem Film hin- und hergeblendet wird. 515 Barbara Métais- Chastanier sieht in diesem Verfahren Parallelen zur kinematographischen Montagetechnik, die Yasmina Reza aufgrund ihrer Erfahrung als Drehbuchautorin kenne: Cette approche d’une écriture théâtrale fondée sur l’esthétique du montage se radicalise dans sa dernière pièce: si avec « Art », le travail d’intercalation reste fortement influencé par les techniques du montage parallèle, Une pièce espagnole force le trait, explore ce jeu de confrontation dans une structure beaucoup plus complexe, se déroulant sur près de trois niveaux de fictions. 516 515 Michael Mönninger schreibt in seiner Kritik für die Zeit, Yasmina Reza habe das Stück wie „ein Schubladensystem in 28 Kurzakten aufgebaut, die in schneller Folge auf- und zugeschoben werden, wodurch abwechselnd Rolle und Person zum Vorschein kommen.“ Mönninger 2004. 516 Métais-Chastanier 2006: 16, www.fabula.org/ lht/ 2/ metais.html, 26.03.13. 269 Die erste Fiktionsebene (F1) bilden die apartés, d.h. die imaginierten Interviews, Bekenntnisse, Monologe, Dialoge und Gespräche (Szene 1, 3, 5, 7, 9, 11, 12, 14, 16, 19, 22, 25 und 27), in denen die anonymen französischen Schauspieler aus der Rolle fallen und die anderen Fiktionsebenen kommentieren. Die zweite Fiktionsebene (F2) umfasst die Szenen 2, 4, 6, 8, 10, 13, 15, 17, 18, 20, 21, 23, 24, 26 und 28 der pièce espagnole, ein wohl in Madrid spielendes Boulevardtheaterstück, in dem die familiären Beziehungen und Probleme der spanischen Schauspielerinnen Nuria und Aurelia mit ihrer Mutter Pilar, die entgegen den Vorstellungen ihrer Töchter eine Zukunft mit ihrem neuen Geliebten Fernan plant, im Vordergrund stehen. Die dritte Fiktionsebene (F3), das bulgarische Theaterstück, in welchem die Klavierlehrerin Mademoiselle Wurtz sich in ihren verheirateten Klavierschüler Monsieur Kiš verliebt, ist als „Theater im Theater“ in F2 eingebettet und erscheint in Szene 10, 20 und 28. Diese Verschachtelung der drei Fiktionsebenen ist für den Zuschauer nicht leicht zu durchschauen, denn in der Regieanweisung zu Beginn ihres Dramas gibt Yasmina Reza fließende Übergänge zwischen den 28 Sequenzen vor: „Les passages entre la pièce et les apartés des acteurs doivent se faire sans rupture; il faut jouer ‚legato’ comme on dit en musique.“ (PE, 9). In einem Interview mit dem Nouvel Observateur (10.03.2010) über ihren auf der Basis von Une pièce espagnole entstandenen Film Chicas (2010) vergleicht Yasmina Reza die komplexe Struktur ihres Dramas mit einer russischen Matrjoschka, d.h. einer hölzernen Steckpuppe: Y. Reza.- C’était une pièce conçue comme une poupée russe, dans laquelle des acteurs français répétaient une pièce espagnole d’un certain Olmo Panero et où j’avais enchâssé une pièce bulgare. 517 Denis Guénoun spricht in seiner Monographie Avez-vous lu Reza? von einer Verschachtelung „à la façon de poupées gigognes“ 518 und auch Andrea Grewe erkennt in Yasmina Rezas Une pièce espagnole „trois niveaux d’action ou de jeu qui s’emboîtent à la manière des poupées russes, les uns dans les autres.” 519 Die drei Fiktionsebenen spielen an drei verschiedenen Handlungsorten: in Frankreich (F1), Spanien (F2) und Bulgarien (F3). Das Bühnenpersonal wechselt entsprechend in jeder der drei Fiktionsebenen die Nationalität: französisch (F1), spanisch (F2), bulgarisch (F3). Amanda Giguere stellt fest, dass die drei Fiktionsebenen zudem durch einen unterschiedlichen Grundton gekennzeichnet sind: 517 bibliobs.nouvelobs.com/ actualites/ 20100310.BIB5027/ chicas-raconte-par-yasminareza.html, 20.03.13. 518 Guénoun 2005: 233. 519 Grewe 2007: 23-24. 270 But at the same time, there is a different tone for each reality: the actor interviews seem stark and truthful, the Spanisch play is reminiscent of Chekhov, and the Bulgarian play within the Spanisch play feels slightly more melodramatic and contrived. 520 Die von vielen Kritikern hervorgehobene metatheatrale Komplexität des Stücks Une pièce espagnole resultiert nicht nur aus der Verschachtelung der drei Fiktionsebenen, sie entsteht auch dadurch, dass Yasmina Reza in diesem polymorphen Metadrama vier verschiedene Typen des Metatheaters kombiniert: thematisches Metatheater, episierendes Metatheater, fiktionales und diskursives Metatheater. Thematisches Metatheater ist Une pièce espagnole insofern, als das Stück den Alltag von Schauspielern wiedergibt, die ein Theaterstück proben, und dabei über den Status des Schauspielers und dessen Beziehung zu seiner Rolle, zum Regisseur, dem Dramatiker des geprobten Stücks und dem Publikum reflektiert. Merkmale des episierenden Metatheaters trägt dieses Drama, weil die erste Fiktionsebene, wie Reza selbst es beschreibt, aus apartés besteht, in denen die Schauspieler der zweiten beziehungsweise der dritten Fiktionsebene aus der Rolle fallen und sich zu den von ihnen in F2 und F3 gespielten Charakteren äußern. Dieses Sprechen ex persona der Figuren kann gemäß Janine Hauthal als eine Form der „metatheatralen figuralen Metalepse“ 521 bezeichnet werden Den Charakteristika des fiktionalen Metatheaters entspricht Une pièce espagnole aufgrund der Struktur des „Theaters im Theater“, die hier in Form der Einbettung einer Theaterprobe eines fiktiven 522 Theaterstücks (pièce bulgare, F3) in die Theaterprobe eines anderen, in diesem Fall ebenfalls fiktiven Theaterstücks (pièce espagnole, F2) auftritt. 523 Elemente des diskursiven Metatheaters beinhaltet Rezas Stück, da der Text einen metatheatralen Diskurs aufweist, der durch Theaterlexik, Theaterreferenzen und Theatermetaphern in den Repliken und den Szenenüberschriften gekennzeichnet ist. Mit Gattungsbegriffen wie „comédie 520 Giguere 2010: 109. 521 Hauthal 2007: 105. „Eine weitere Form der metatheatralen figuralen Metalepse ist das ‚Aus-der-Rolle-Fallen’ bzw. Sprechen ex persona, das ein Spielbewusstsein der jeweiligen Figur anzeigt und Rezipienten die Dualität von Schauspieler und Figur bewusst macht.“ 522 Weder für F2 noch für F3 gibt es eine reale dramatische Vorlage, auf die Yasmina Reza Bezug nimmt, daher handelt es sich um fiktionales Metatheater. 523 Denis Guénoun betont zu Recht, hier liege kein „Theater im Theater im Theater“ im eigentlichen Sinne vor, da F1 aus apartés bestehe und darin keine Bühnenzuschauer von F2 aufträten: „Aucune pièce française ne contient la pièce espagnole, ne l’encadre. La pièce française et la pièce espagnole sont identiques, à ceci près que les acteurs (« français ») de la pièce espagnole décrochent pour nous parler de ce qu’ils font.” Guénoun 2005: 235-236. 271 familiale“ (PE, 37) und „un drame“ (PE, 96) ordnen die Bühnenfiguren selbstreflexiv das Drama Une pièce espagnole gattungstheoretisch ein. Bezeichnungen wie une pièce espagnole, une pièce bulgare sowie Verweise auf Tschechows Dramen Onkel Wanja und Die Möwe und die Figuren Onkel Wanja und Sonia zeigen die Vertrautheit der fiktiven Schauspieler mit dem internationalen Theaterrepertoire und spielen intertextuell auf Ähnlichkeiten zwischen Rezas und Tschechows Dramen an. Mit Ausdrücken, die den Autor, das Schreiben und das Künstlertum thematisieren, z. B. auteur, un jeune auteur, écrivain, écriture, art, artiste deutet Yasmina Reza auf sich selbst. Lexik, die sich auf die Theaterprobe, die Inszenierung und den Theaterraum bezieht, wirkt illusionsstörend, zeigt das Spielbewusstsein der dramatis personae und macht dem Zuschauer bewusst, dass er Rezipient einer Theaterproduktion ist: la lecture de votre propre pièce, répétitions, metteur en scène, mise en scène, acteur, actrice, comédienne, scène de séduction, scène plutôt comique, costumière, costumes, rôle, personnage, monologue, dialogue, réplique, un interprète, interpréter, j’interprète..., je joue le rôle de..., je répète une pièce..., un plateau, la scène, la salle, une rangée du fond, spectateur. Auch die Schauspielausbildung ist Gegenstand der Reflexion: „Quand je prenais des cours de théâtre, on nous disait, tu es une pomme, tu es le vent, tu es le rire [...] je faisais la chaise, l’eau, le moustique [...].“ (PE, 113). Das Bühnenpersonal ist auf F1 und F2 identisch, da die fünf namenlosen Schauspieler der ersten Fiktionsebene in F2, dem spanischen Stück von Olmo Panero, die Rollen Pilar, Fernan, Mariano, Aurelia und Nuria spielen. In F1 kommen noch die Adressaten der Szenen, die den Titel dialogue imaginaire oder entretien imaginaire tragen, hinzu, d.h. die Kostümbildnerin Françoise (Szene 3) und der Dramenautor Olmo Panero (Szene 12 und 22), die jedoch während des gesamten Dramas keinen Redeanteil haben. Die mit interview imaginaire überschriebenen Szenen setzen quasi das Publikum als einzigen Rezipienten dieser Monologe mit einem imaginierten Interviewer gleich, denn der Interviewer ist im gesamten Drama weder physisch noch verbal, etwa durch Fragen, präsent. In F2 taucht als Statistin zusätzlich Lola, Aurelias und Marianos Tochter, auf. Die Schauspieler, die in F2 Aurelia und Mariano spielen, übernehmen als einzige auf F1, F2 und F3 einen Part. Mariano wirkt bei der Probe des bulgarischen Theaterstücks mit, indem er Aurelia in ihrer Wohnung bei der Einstudierung ihres Textes als Dialogpartner assistiert. Zugleich ist Mariano Bühnenzuschauer von F3, als Aurelia ihrem Mann zuhause eine zweite Szene aus der pièce bulgare vorspielt und ihn danach um einen Kommentar bittet (PE, Szene 20, 83-85). Die Schlussszene des Dramas (Szene 28), die allein einer weiteren Probe des bulgarischen Stücks und dem Auftritt Aurelias als Klavierlehrerin gewidmet ist, besteht aus einem Monolog, der sich an die nicht in Erscheinung tretende Figur des Klavierschülers Monsieur Kiš richtet, und dem 272 Klaviervortrag Aurelias (Präludium Nr. 5 von Mendelssohn), den Andrea Grewe als „mise en abyme intermédiale“ 524 bezeichnet. Auf der ersten Fiktionsebene, die im Bereich des Imaginären liegt, treten die dramatischen Figuren nicht miteinander in Dialog, sie „outen“ sich in ihren apartés gegenüber dem Zuschauer, der durch diese episierende Metaebene, welche in regelmäßigen Intervallen eingeblendet wird, einen tieferen Einblick in die Handlung und die Charaktere von F2 und F3 erhält. 525 Das Beiseitesprechen hat hier unter anderem eine psychologische Funktion. 526 Die namenlosen Schauspieler stellen sich vor, indem sie angeben, welche Rolle sie in Olmo Paneros Stück spielen und diese kurz charakterisieren: ACTEUR (qui joue Fernan). […] En ce moment je répète une pièce espagnole d’Olmo Panero. J’interprète un gérant d’immeuble, un veuf, qui entame une liaison avec une femme plus âgée que lui qui a deux filles actrices. Un homme bon et ennuyeux. Une composition. Je me flatte, n’est-ce pas, de n’être, dans la vie réelle, ni bon ni ennuyeux. (PE, 14). In dieser ersten Szene führt der Schauspieler, der Fernan spielt, das Publikum zugleich in nuce in die Handlung der pièce espagnole ein und grenzt seine Rolle (F2) und seine Person (F1) deutlich voneinander ab. Am Ende der ersten Szene kündigt er in einer kurzen Beschreibung die Verführungsszene zwischen Pilar und Fernan an, die in der folgenden Sequenz der pièce espagnole (F2) geprobt wird. Dabei gewichtet er seinen Anteil an der Szene und den seiner Dialogpartnerin: Ma partenaire ne dit pas un mot, pour ainsi dire, et rafle la mise, elle n’ouvre pas la bouche et on ne voit qu’elle. Je lui sers la scène sur un plateau d’argent. (PE, Szene 1, 15). Er erinnert in diesem Interview imaginaire an die Figur eines homodiegetischen Erzählers. Die Darstellerin der Pilar, die sich in ihrer Rolle, aber nicht in ihrem Kostüm wohlfühlt, charakterisiert ihre Figur in einem Dialogue imaginaire mit der Kostümbildnerin Françoise. Die Zuschauer erfahren, dass Pilar Spanierin ist, früher als réceptionniste in einem Friseursalon gearbeitet hat, und ihr rotes Kostüm sie semiotisch als „femme séduisante“ (PE, Szene 3, 524 Grewe 2007: 34. „En recourant à une sorte de mise en abyme intermédiale […] Reza utilise donc ici un morceau musical pour insérer une réflexion sur l’art qui reflète, au moins en partie, certains principes de ses propres œuvres.” 525 In einigen Inszenierungen wenden sich die Akteure bei diesen apartés direkt zum Publikum hin, um das Beiseitesprechen auch durch die Proxemik zu unterstreichen 526 Fournier 1991: 259. „Fonction essentielle selon P. Larthomas, qui rapproche l’aparté du monologue, en ce qu’ils permettent tous deux d’’illuminer’ ‘l’intérieur’ des hommes, comme le dit Hugo, la fonction psychologique est le fait des apartés qui apportent au spectateur une information sur l’âme du personnage qu’eux seuls peuvent apporter […].” 273 18) kennzeichnet. Die am Tag zuvor erstmals geprobte Verführungsszene mit Fernan interpretiert die Actrice als „scène plutôt comique au premier abord que nous devons jouer avec la plus touchante vérité“ (PE, Szene 3, 20). Die Schauspielerin, die Aurelia spielt, stellt in F1 ihre Rollen in F2 und F3 vor und gibt ein Resümee des bulgarischen Stücks, um dem Publikum das Verständnis der eingebetteten Probensequenzen von F3 zu erleichtern: ACTRICE (qui joue Aurelia). Je répète une pièce espagnole dans laquelle je joue une actrice qui répète une pièce bulgare. J’enseigne le piano à un homme marié dont je m’éprends. Nous travaillons un prélude de Mendelssohn, une œuvre peu connue […]. L’homme ne travaille pas son piano, il ne fait aucun progrès, au fur et à mesure, je n’ai plus de raison de venir, je suis de moins en moins légitime, car aimer ne signifie pas être légitime. Lui ne me dit jamais de ne plus venir, j’ai peur de cette phrase, je la redoute à chaque fois. Nous travaillons un piano qui n’avance pas. Le temps passe. C’est une pièce sur la solitude et le temps qui passe, deux sujets irréparablement liés. Mon mari dans la pièce espagnole trouve cette pièce bulgare sinistre, ma mère voudrait que je joue des choses gaies. (PE, 14, 53-54). In diesem Interview imaginaire legt die Akteurin, die Aurelia darstellt, die „Puppenstruktur“ des Dramas, d.h. die Verschachtelung der drei Fiktionsebenen, offen, lässt den Zuschauer in die Gefühlswelt ihrer potenzierten Rolle Mademoiselle Wurtz blicken und liefert dem Publikum eine Interpretation des bulgarischen Stücks, die ihre Sicht und die der dramatischen Figuren Pilar und Mariano aus F2, der pièce espagnole, schildert. Das Publikum erhält dadurch einen Informationsvorsprung, der ihm den Zugang zur dritten Fiktionsebene in den Szenen 20 und 28 erleichtert. Auch die Darstellerin der Aurelia erscheint wie eine homodiegetische Erzählfigur, die hier die zwei anderen Fiktionsebenen kommentiert. Die Schauspielerin, die in F2 die Rolle der Nuria hat, klassifiziert in ihrem zweiten Interview imaginaire das spanische Stück als „comédie familiale“ (PE, Szene 9, 37) und schildert ihre Schwierigkeiten, darin eine Schauspielerin zu verkörpern, ohne in den Gestus des Zeigens zu verfallen: ACTRICE (qui joue Nuria). […] C’est bizarre d’interpréter une actrice, j’ai l’impression de devoir signaler que c’est une actrice, le metteur en scène dit, contente-toi d’être toi-même, mais c’est quoi moi-même? C’est quoi moi-mêmeactrice? (PE, Szene 9, 37). In einem Entretien imaginaire (Szene 22) berichtet sie von der Begegnung der Schauspieler mit dem Dramatiker Olmo Panero und analysiert selbstkritisch ihr Spiel als Nuria in der zuvor geprobten Szene der Vorführung der Kleider für die Goya-Preisverleihung (Szene 15), dem es ihrer Meinung nach an „insolence“ (PE, 87) mangelt. Auf ihre erniedrigende Selbstkritik habe der Autor zu ihrer Enttäuschung nur mit Schweigen reagiert. 274 Der Schauspieler, der Mariano darstellt, charakterisiert in einer Confession imaginaire ebenfalls seine dramatische Rolle und analysiert Marianos mangelnde Willenskraft und Moral: ACTEUR (qui joue Mariano). Je répète une pièce d’Olmo Panero. Je joue Mariano. Un prof de maths qui a épousé une actrice. Un type mou et sans moralité. Sans moralité est séduisant. […] Un type sans volonté donc sans moralité. Car on ne peut pas s’attendre à une moralité sans volonté. (PE, Szene 5, 25-26). In seinem Dialogue imaginaire (Szene 12) mit Olmo Panero erklärt der Schauspieler dem Autor, er habe vor Mariano schon andere Bedürftige, Alkoholiker, brüchige Russen und Unglückliche jeglicher Kategorie gespielt und ordnet damit seine Figur für den Zuschauer in ein bestimmtes Raster ein. Die polyphone Struktur der episierenden Metaebene F1, in der F2 und F3 von den fünf anonymen Schauspielern resümiert, interpretiert und analysiert werden, erlaubt es Yasmina Reza, die autoreflexive Theaterkritik der pièce espagnole (F2) und der darin eingelagerten pièce bulgare (F3) auf verschiedene Standpunkte beziehungsweise Figurenperspektiven zu verteilen. Die Figuren und die Handlung von F2 und F3 erhalten durch die episierende F1 in den Augen des Publikums eine tiefere Dimension. Der Zuschauer wird bei seiner Rezeption der pièce espagnole und der pièce bulgare durch die Kommentare der Akteure in F1 begleitet, aber aufgrund dieses kontinuierlichen Illusionsbruchs auch immer wieder zu einer kritischen Haltung der Distanz ermahnt. Die zweite Fiktionsebene, die pièce espagnole des Dramatikers Olmo Panero, trägt Züge eines Boulevardtheaterstücks. Das in F1 als Familienkomödie bezeichnete Drama zeigt einen Ausschnitt aus dem Privatleben einer spanischen Familie und spielt im kleinbürgerlichen Milieu einer spanischen Großstadt, aus dem Nuria und Aurelia durch ihren Schauspielberuf auszubrechen versuchen. Während Nuria dies mit einer Filmkarriere und der Beziehung zu dem Hollywoodstar Gary Tilton zu gelingen scheint, muss ihre eifersüchtige Schwester Aurelia, die sich in ihrer familiären Situation und der Ehe mit dem alkoholabhängigen Mathematiklehrer Mariano gefangen fühlt, sich mit einem Engagement an einem Vorstadttheater begnügen. Im Vordergrund steht der Generationenkonflikt zwischen der geschiedenen, ehemaligen Friseurempfangsdame Pilar (60-65 Jahre) und ihren Töchtern, der noch verschärft wird durch Pilars neue Liebe zu ihrem jüngeren verwitweten Hausverwalter Fernan (55-60 Jahre). Anders als in der traditionellen Komödie widersetzt sich hier die junge Generation, selbst schon in den 40ern, der Liebe der älteren Generation, welche trotz aller Widerstände nach einer Familienkrise, bei der alle die Beherrschung verlieren, klassisch zur Heirat führt. Der Ausgang des Konflikts zwischen Pilar und ihren Töchtern bleibt allerdings offen. Die beschriebenen boulevardesken Merkmale versteht Dorothee Hammerstein in ihrer Kritik der 275 Pariser Inszenierung von Luc Bondy „als eine Abrechnung mit der Form von Theater [Boulevardtheater], der man sie [Yasmina Reza] vor allem in Frankreich hartnäckig zuordnet“, und spricht auch angesichts des Spielorts der Uraufführung, des Privattheaters Théâtre de la Madeleine, von einer „umfassenden Ironisierungsstrategie [...], mit der Stück und Regie operieren.“ 527 Darüber hinaus beschreibt das Stück Olmo Paneros kulturkritisch den Werte- und Traditionsverlust, die brüchigen Liebesziehungen, die zerrütteten Familienverhältnisse und die „incommunicabilité“ 528 in der heutigen Gesellschaft sowie die Mediokrität und die Banalität des Alltags. F2 zeigt eine Episode aus dem Privatleben zweier Schauspielerinnen jenseits der „apparences“ (PE, Szene 24, 102). Mit der Wahl einer Film- und einer Theaterschauspielerin, die einander klischeehaft gegenübergestellt werden, thematisiert Reza die auch in anderen Metadramen problematisierte Konkurrenz zwischen Film und Theater. So geht Fernan, der eine literarische und philosophische Bildung genossen hat und früher regelmäßig das Theater Maria Guerera besuchte, nun lieber ins Kino und kennt Nurias sämtliche Filme. Während der aktuelle Film der glamourösen, reüssierenden Filmschauspielerin Nuria in Rezas Drama jedoch optisch nur in Gestalt eines Fotos in einem Magazin, das Pilar und Aurelia durchblättern, auftaucht, wird das wenig bekannte bulgarische Theaterstück (F3), in dem Aurelia mitspielt, in drei in F2 eingebetteten Szenen geprobt, um Aurelias schauspielerische Berufspraxis zu demonstrieren. Nuria erscheint als selbstbewusst, weltgewandt, eitel und oberflächlich, Aurelia hingegen wirkt unsicher, sensibel, auf Bestätigung angewiesen, nervös und psychisch labil. Die pièce bulgare (F3) ist ein Melodrama über eine unerfüllte Liebe, das in F1 und F2 eingeführt, analysiert und kommentiert wird. In Luc Bondys Inszenierung sind die in Aurelias und Marianos Wohnung stattfindenden Proben des bulgarischen Stücks (Szenen 10, 20, 28) vor den verschlossenen Theatervorhang verlegt und damit als „Theater im Theater“ auch räumlich von der zweiten Fiktionsebene abgegrenzt. Die melancholische Grundstimmung des handlungsarmen und pausenreichen bulgarischen Dramas, das einen Dialog (Szene 10) und zwei an Monsieur Kiš gerichtete Monologe (Szene 20 und 28) der Klavierlehrerin Mademoiselle Wurtz umfasst, wird durch die Musikeinlage am Schluss, Felix Mendelssohn Bartholdys Präludium Nr. 5 in f-Moll (Andante lento), noch unterstrichen. Die unglückliche Liebe der beiden Protagonisten steht in Kontrast zu Pilars und Fernans Beziehung in der pièce espagnole. Während Pilar und Fernan ihre Liebe le- 527 Hammerstein 2004: 31. Seit einigen Jahren hat jedoch ein Wandel in der Beurteilung des dramatischen Werks Yasmina Rezas in Frankreich eingesetzt, vgl. Grewe 2007: 22-23. 528 Bouchetard 2011: 82. 276 ben und optimistisch in eine gemeinsame Zukunft blicken, will Mademoiselle Wurtz weder in der Musik noch in der Liebe Gefühle zulassen und verabschiedet sich von Monsieur Kiš: Rien de sentimental, monsieur Kiš. Jamais. Ne rien laisser de sentimental dans le jeu et dans la sonorité. (PE, Szene 20, 82). […] levez-vous, n’ayez pas peur, je ne veux pas être aimée pour de vrai. (PE, Szene 28, 122). Eine Kritik der aus den 1970er Jahren stammenden pièce bulgare erhält der Zuschauer autoreferentiell in F1 und F2. Die Darstellerin der Aurelia beschreibt das Werk in F1 als ein Stück über die eng zusammenhängenden Themen der Einsamkeit und der vergehenden Zeit, welches Mariano düster und Pilar traurig finde. Sie selbst spielt gern „des choses gaies“, d.h. Komödien, findet aber, dass „les choses tristes“, d.h. Tragödien, länger in ihr nachwirken (PE, Szene 14, 54). In F2 charakterisiert die Figur Aurelia das bulgarische Drama als „une histoire très banale en elle-même“ (PE, Szene 13, 52), erklärt, man müsse sich, um es zu sehen, in die Banlieue begeben, und qualifiziert es lakonisch als „une pièce bulgare à base de silence et de Mendelssohn“(PE, Szene 15, 66). Den Autor und den Titel des Theaterstücks hält sie offenbar nicht für erwähnenswert. Mariano fragt nach der Probe, in der er den Part des Klavierschülers übernommen hat, despektierlich: „Qui peut aller voir ça? “ (PE, Szene 10, 40). An anderer Stelle äußert er sich literatur- und sprachkritisch über das zeitgenössische Theater allgemein, dem er die klassische Literatur und die klassischen Autoren mit ihrer stilistischen Klarheit und Eleganz gegenüberstellt: MARIANO. Le théâtre, non. La littérature classique, oui. [...] Les classiques, oui. Le mot juste. La phrase qui ne peut pas être remplacée par une autre, oui. Ça n’existe plus aujourd’hui. [...] L’exercice de la pensée, terminé. La recherche de l’exactitude, l’élégance, la clarté de l’expression, c’est mort tout ça. (PE, Szene 23, 89). Nicht nur das Drama, auch Aurelias schauspielerische Leistung bei ihrer privaten Probe kommentiert Mariano. In der zweiten Probensequenz (Szene 20), in der er als Bühnenzuschauer fungiert, fordert er Aurelia, da beide nicht ganz zufrieden sind, auf, ihren Monolog zu wiederholen und beurteilt ihre Darstellung anschließend als exzellent. Als Aurelia ihn vergeblich um ein positives Feedback bittet, gibt er zu, wie er die Rolle des Monsieur Kiš wirklich sieht: MARIANO. Ecoute Aurelia tu me fatigues, tout ça me fatigue, et si j’étais ce Kiš, je me serais tiré depuis longtemps! AURELIA. Pourquoi tu n’es pas plus rassurant, pourquoi tu n’es jamais rassurant? (PE, Szene 20, 84). 277 Wie die episierende Metaebene F1 dient das fiktionale Metatheater, die Einbettung der Theaterprobe F3 in die Theaterprobe F2, dazu, die Illusion zu brechen und die Rezeption des Zuschauers durch kritische Kommentare des Bühnenpersonals zu beeinflussen. Gleichzeitig wird das Publikum durch diese antimimetische metatheatrale Struktur daran erinnert, dass es selbst der Aufführung eines Theaterstücks beiwohnt, und so zur Reflexion über die eigene Rezeptionssituation aufgefordert. Das thematische Metatheater zeigt sich in Yasmina Rezas Drama in der Darstellung des Alltags von Schauspielern und in Form von Reflexionen über das Wesen des Schauspielers, dessen Verhältnis zu seiner Rolle, die Beziehung zwischen Schauspieler und Dramenautor, Schauspieler und Regisseur sowie Schauspieler und Zuschauer. Diese Reflexionen erscheinen vor allem in den imaginären Interviews, Bekenntnissen, Monologen und Dialogen der anonymen Schauspieler, d.h. in den apartés der episierenden ersten Fiktionsebene. Gleich die erste Szene, das Interview imaginaire des Schauspielers, der Fernan verkörpert, beginnt mit einer Reflexion über das Wesen des Schauspielers, der keinen Mut habe und dessen Gefallsucht mit der einer Frau zu vergleichen sei: ACTEUR (qui joue Fernan). Les acteurs sont des lâches. Les acteurs n’ont pas de courage. Moi le premier. Les qualités humaines habituelles dans le monde normal sont contraires au bien de l’acteur. Toute ta vie tu exerces une activité de femelle, tu veux être désiré, tu veux plaire. Quand on a dit à mon père, il veut être acteur, il a répondu, ah bon il veut être pédé. (PE, Szene 1, 13). Mit diesem provozierenden Statement hinterfragt der Schauspieler von Anfang an seine eigene Tätigkeit und reißt das Publikum aus seiner Passivität. Es folgt eine Analyse des sozialen Status des Schauspielers, der sich aus der Sicht des Interviewten im Laufe der Geschichte gewandelt hat. Schauspieler seien heute angesehene Persönlichkeiten, gefeiert und respektiert, die man zur Immigration und zu gentechnisch veränderten Organismen, d.h. gesellschaftlich relevanten Themen befrage. Früher seien Schauspielerinnen Prostituierte gewesen und exkommuniziert worden, nun seien sie Bürgerliche geworden. Es gebe darunter sogar Katholikinnen. Die Darstellerin der Nuria problematisiert die Daseinsform des Schauspielers, der mit verschiedenen Rollen und Identitäten operiert, und fragt sich, ob ihr Ich eigentlich existiert: „C’est quoi moi-même-actrice? Ça existe? “(PE, Szene 9, 37). Sie erinnert sich an ihren Schauspielunterricht, in dem sie Tiere, Gegenstände, Farben, den Wind, Nähe, Ferne und das Lachen spielen und so tun musste, als ob sie existiere oder nicht existiere, nicht mehr liebe und gefühllos sei. Sie beruft sich auf ein Zitat Tsche- 278 chows 529 in einem Brief an seine Frau Olga Knipper, demzufolge eine Schauspielerin gefühlskalt, d.h. innerlich unbeteiligt sein müsse: ACTRICE (qui joue Nuria). [...] je ne pouvais ne plus rien aimer et faire l’aridité du monde… On trouve cette phrase dans une lettre de Tchékhov à Olga Knipper: tu es d’une froideur infernale, comme, en fait, doit l’être une actrice. (PE, Szene 25, 113). Der Schauspieler, der Mariano spielt, setzt sich ebenfalls mit dem Wesen der Schauspieler kritisch auseinander, behauptet, sie existierten nicht und definiert sie als „des êtres égoïstes, inconstants, veules, des vides ambulants, des riens.“ (PE, Szene 19, 81). Egoismus, Unbeständigkeit, Willenlosigkeit, Substanzlosigkeit und der Zweifel an der eigenen Existenz sind demnach Charakteristika des Schauspielers, der nur in seinen Rollen eine Identität zu finden scheint. Der Interpret der Figur Mariano thematisiert zugleich die Beziehung des Schauspielers zu seinem Publikum und diskutiert dabei die These des fiktiven Theaterkritikers oder -wissenschaftlers Wilhelm Bolochinsky, nach der Schauspieler keine Künstler seien, weil sie dem Wahn der Verführung verfielen: ACTEUR (qui joue Mariano). […] toute forme d’art entravé par le désir de séduction est à jeter aux ordures, ne peut même pas, selon Bolochinsky, prendre le nom d’art […]. Cette folie de la séduction qu’on dirait, dit Bolochinsky, inhérente à la nature de l’acteur, le précipite dans les bras du spectateur, son pire ennemi […]. (PE, Szene 19, 79). Gemäß Bolochinsky degradiert der Zuschauer den Schauspieler zum Partner, mit dem er Hand in Hand gehe, während der Künstler gegen den Zuschauer sei. Der Darsteller des Mariano distanziert sich von den Thesen Bolochinskys in einem Brief und weist so den Vertreter der Theatertheorie, der seines Erachtens die Schauspieler auf eine Definition reduzieren will, in seine Schranken. Yasmina Reza stellt damit in Une pièce espagnole auch die Autorität der Theaterkritiker beziehungsweise Theaterwissenschaftler in Frage: ACTEUR (qui joue Mariano). [...] monsieur Bolochinsky, l’acteur qui rédige ces lignes, se fout comme de l’an quarante d’être considéré comme un artiste, vos valeurs l’emmerdent et vos leçons aussi […]. (PE, Szene 19, 80). Die Beziehung zwischen Schauspieler und Regisseur wird in Rezas Metadrama in einem Interview imaginaire der Darstellerin der Nuria (Szene 9) und in der Confession imaginaire der Schauspielerin, die den Part der Pilar spielt, Gegenstand der Reflexion (Szene 16). Der anonym bleibende metteur 529 Une pièce espagnole enthält zudem intertextuelle Verweise auf Anton Tschechows Drama Onkel Wanja, die darin auftretende Figur der Sonia Alexandrowna, welche die Darstellerin der Nuria gern einmal gespielt hätte, und auf sein Stück Die Möwe, in dem auch eine Schauspielerin und ein Theaterautor erscheinen. 279 en scène gibt für die Rolle der Nuria die Anweisung, die Schauspielerin solle sich damit begnügen, sie selbst zu sein, d.h. sich an ihrer realen Identität als Schauspielerin zu orientieren, hilft ihr damit aber nicht weiter. Auch die Interpretin der Pilar hat Schwierigkeiten mit der Regieführung des Theaterregisseurs, der ihr keine klaren Vorgaben macht, auf ihre Fragen nicht eingeht und erwartet, dass die Impulse von ihr ausgehen: ACTRICE (qui joue Pilar). Le metteur en scène déteste quand je dis, et moi je fais quoi à ce moment-là, il dit, ne dites pas je fais quoi, je vais où, comment dois-je réagir, il dit, c’est vous l’actrice, c’est vous qui avez appris ce métier, ce n’est pas moi, il dit, faites, proposez, nous gardons, nous jetons, alors je ne pose plus de questions […]. (PE, Szene 16, 70). Die Beziehung zwischen Schauspieler und Regisseur wird hier als ein hierarchisches Verhältnis beschrieben, in dem die Schauspieler auf Rat und Hilfe angewiesen sind und sensibel auf jegliche Äußerung des Theaterregisseurs reagieren, der seinerseits hohe Anforderungen an sie stellt. Reza zeichnet in ihrem Drama selbstironisch das Porträt eines spanischen Dramatikers, Olmo Panero, der Züge der Autorin, die häufig zur Uraufführung ihrer in viele Sprachen übersetzten Theaterstücke ins Ausland reist, widerspiegelt: Yet again, as is evident in many of Reza’s earlier works, she transfers aspects of her own identity (a playwright visiting another country to see his play in rehearsal) to one of her male characters. 530 Die Gegenwart Olmo Paneros bei den Proben der pièce espagnole und seine Beziehung zu den Schauspielern wird von den Akteuren, die Fernan, Nuria und Mariano spielen, in F1 kommentiert. Der Schauspieler, der Fernan verkörpert, charakterisiert Panero als „jeune auteur, bien qu’il ne soit pas spécialement jeune“ (PE, Szene 11, 41), der einen gewissen Erfolg in seinem Land habe. Er habe die Pyrenäen überquert, um ihnen zu sagen, dass die Wörter Parenthesen des Schweigens 531 seien. Er habe sich hinten in den Saal ins Dunkle zurückgezogen, sodass man keinen seiner Züge habe erkennen können. Die Anwesenheit des Dramatikers übt dennoch eine Wirkung auf den Schauspieler aus, die ihn zu Höchstleistungen anspornt: ACTEUR (qui joue Fernan). [...] je fabrique au jugé un personnage sorti de l’ordinaire, mes gestes, mes intonations, mes fausses humeurs, mes plaisanteries d’ambiance, je fais mon magnifique pour la tache d’ombre au fond, je veux qu’Olmo m’adore, qu’il soit saisi par ma dimension, je veux qu’il pense que je suis le plus somptueux, l’acteur le plus somptueux, le plus grand Fernan qu’il ait vu le plus grand Fernan de tous les temps. (PE, Szene 11, 42). 530 Giguere 2010: 108. 531 Bouchetard 2011: 101. „Mise en abyme d’elle-même? On peut le penser, quand on sait que Yasmina Reza aime suivre l’évolution de ses pièces et insiste sans cesse sur l’importance des silences.” 280 Die in Rezas Stück mehrfach erwähnte Gefallsucht des Schauspielers erreicht in Gegenwart des anspruchvollsten Zuschauers, des Dramenautors, ihren Höhepunkt. Der Schauspieler, der Fernan spielt, wünscht sich, von dieser Autorität in besonderer Weise wahrgenommen, anerkannt und bewundert zu werden. Marianos Darsteller hingegen, der sich selbstbewusst als großer Spezialist für brüchige und unglückliche Figuren präsentiert, wendet sich in einem dialogue imaginaire mit Imperativen direkt an Olmo Panero und verbittet sich dessen Einmischung: „ [...] ne venez pas m’expliquer comment on fait, ne venez pas désenchanter votre écriture avec vos explications, ne m’expliquez rien, ne m’adressez pas la parole [...] ne m’obligez pas à me montrer humblement heureux de votre satisfaction.“ (PE, Szene 12, 43). Seiner Ansicht nach soll der Dramatiker die Schauspieler mit seinen Figuren allein lassen, nur ein Name auf dem Plakat oder eine graue Eminenz im dunklen Saal sein. Die Selbstzufriedenheit des Autors ist ihm zuwider: ACTEUR (qui joue Mariano). […] la satisfaction de l’auteur est obscène pour être tout à fait franc, à défaut d’être mort monsieur Panero, qui est, si on réfléchit, le seul statut qui convienne à votre profession […]. (PE, Szene 12, 44). Der Schauspieler muss sich ihm zufolge bei seiner Interpretation vom Schriftsteller emanzipieren, sich über ihn hinwegsetzen und seinen eigenen Weg finden: [...] l’acteur est là pour anéantir l’écrivain, savez-vous, l’acteur qui ne veut pas anéantir l’écrivain est foutu, l’acteur qui capitule, qui ne veut pas, d’une manière ou d’une autre, piétiner votre belle ordonnance, ne vaut rien. (PE, Szene 12, 45). Die Schauspielerin, die Nuria spielt, tritt in ihrem Entretien imaginaire (Szene 22) ebenfalls mit Olmo Panero in einen virtuellen Dialog. Sie erwartet, dass der Autor ihr Antwort auf die Fragen zu ihrer dramatischen Figur und konkrete Hinweise für die Szene, in der sie die Kleider vorführen muss, gibt. Ihre Erwartung wird jedoch enttäuscht, da Panero auf ihre Fragen, und sei es nur, weil er die französische Sprache nicht versteht, gar nicht reagiert. Eine Kommunikation mit dem Dramatiker, wie die Schauspielerin sie sich wünscht, findet nicht statt. Die Beziehung zwischen Schauspieler und Dramenautor ist, wie sie in Une pièce espagnole geschildert wird, nicht frei von Konflikten. Die drei Schauspieler stehen hier stellvertretend für verschiedene Haltungen, die Schauspieler gegenüber einem Dramatiker, der am Probenprozess teilnimmt, annehmen können und denen Yasmina Reza bei ihrer Zusammenarbeit mit den Regisseuren und Schauspielern, die ihre Theatertexte aufführen, vermutlich öfter begegnet. Rezas Figuren spielen nicht nur Theater, sie empfinden auch ihr Leben als theatralisiert. Diskursiv spiegelt sich dies in Theatermetaphern wider. So bezeichnet Nuria die Auseinandersetzung zwischen Aurelia und Pilar 281 als „drame“ (PE, Szene 24, 96) und behauptet, diese Szenen brächten sie um. Nach der Panikattacke Aurelias erklärt Mariano Fernan: „ [...] vous êtes au théâtre, vous qui aimez le théâtre […]. ” (PE, Szene 24, 110) und qualifiziert das Geschehen damit als Inszenierung. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind fließend. Die Fiktion, d.h. ihre Rollen im Theater, erscheinen den Figuren erstrebenswerter als die Realität, mit der sie nicht zufrieden sind: ACTRICE (qui joue Nuria). [...] les personnages sont ceux que nous sommes, mieux que nous […]. (PE, Szene 9, 36). Imaginäre, d.h. fiktive Interviews mag die Schauspielerin lieber als echte, in denen man nicht so spielen könne, wie man wolle, und Konzessionen machen müsse. Wie die Darstellerin der Nuria gibt auch der Schauspieler, der Fernan spielt, dem Theater den Vorzug gegenüber dem realen Leben 532 , das er nicht zu fassen vermag und das ihm langsam und inhaltslos vorkommt: ACTEUR (qui joue Fernan). Bien que je ne puisse dire exactement en quoi consiste la vie réelle. Quand tu quittes un personnage et ses alentours, tu as plus de nostalgie que si tu avais quitté un lieu réel. La vie réelle est lente et vide. (PE, Szene 1, 14). Diese Aussagen erinnern an Pirandello und zeigen, dass Yasmina Reza wie die Autoren anderer Metadramen auf den Topos des Theatrum mundi zurückgreift. Ihre Figuren flüchten angesichts einer Realität, in der sie nicht glücklich sind, in die Welt des Theaters und in fiktive Interviews, Bekenntnisse, Monologe und Dialoge, in denen sie ihre persönlichen Gedanken, Gefühle und Wünsche zur Sprache bringen. In einem Interview mit dem Spiegel (2005) erklärt Yasmina Reza, dass die Idee des Theatrum mundi und die Vorstellung vom Menschen als Rollenspieler für ihr Stück Une pièce espagnole grundlegend sei: Reza: [...] Aber in diesem Fall geht es mir tatsächlich um das Verhältnis zwischen Schauspieler, Figur und Mensch. Denn diese Trias ist ja für uns grundsätzlich prägend. Wir sind immer in komplexen Verschachtelungen gefangen. Wir spielen doch unser Leben. 533 5.8.2 Kombination aus Formen des thematischen, episierenden, figuralen, fiktionalen, adaptiven und diskursiven Metatheaters Ein weiteres Metadrama, das mit mehreren Formen des Metatheaters spielt, ist das Stück Illusions comiques (2006) von Olivier Py, das 2006 am 532 Grewe 2007: 26. „C’est cette opposition entre ‚vie’ et ‚théâtre’ qui revient tel un leitmotiv dans les répliques des acteurs qui, en réfléchissant sur leur métier, en pèsent les avantages et les désavantages. En général ils préfèrent le ‚théâtre’ á la ‚vie’.” 533 Interview mit Martina Meister. Meister 2005: 142. 282 Centre dramatique national Orléans-Loiret-Centre unter seiner Regie uraufgeführt wurde und in dem er selbst die Rolle des Dichters und Dramatikers Moi-Même übernahm. Die Figur Moi-Même trägt wie in anderen Theatertexten Olivier Pys, in denen sie auftaucht, Züge des Autors: Moi- Même ist wie Olivier Py Regisseur, Leiter einer Schauspieltruppe, Poet und Dramatiker, Autor der Stücke Le Visage d’Orphée (IC, 31) und Illusions comiques (IC, 74). 534 Das Drama, das Olivier Py als „farce, pièce satirique, comédie philosophique“ (IC, 6) klassifiziert, verweist im Titel auf Pierre Corneilles L’Illusion comique und ist, wie der Autor in seinem Vorwort erklärt, eine „paraphrase de L’Impromptu de Versailles de Molière“ (IC, 5). Py versteht sein Stück als Hommage an die Schauspieler seiner Truppe, Elizabeth Mazev, Olivier Balazuc, Michel Fau und Philippe Girard, die bei verschiedenen Theaterproduktionen immer wieder mit ihm zusammenarbeiten. Zugleich ist das Drama eine Reminiszenz an Jean-Luc Lagarce, der 1995 im Alter von 38 Jahren an Aids starb und heute einer der meistgespielten Dramatiker Frankreichs ist: C’était pour moi l’occasion de sculpter une sorte de tombeau de Jean-Luc Lagarce, comme on le disait de ces textes qui, au Grand Siècle, servaient de mausolée littéraire à un homme disparu. (IC, Vorwort, 7). Die beiden Autoren verband eine lange Freundschaft: Lagarces Verlag Les solitaires intempestifs veröffentlichte die ersten Stücke Olivier Pys, Olivier Py spielte 1993 535 unter der Regie von Lagarce in Le Malade imaginaire mit und inszenierte 1997 posthum Jean-Luc Lagarces Stück Nous les héros. 536 Das Metadrama Illusions comiques zeigt in drei Akten den Aufstieg, den Fall und die Wiederkehr des Dramenautors Moi-Même. Mit seiner Schauspieltruppe, den Schauspielern Mademoiselle Mazev, Monsieur Balazuc, Monsieur Girard und Monsieur Fau probt Moi-Même zu Beginn des ersten Akts das Stück Le Poète et la Mort. Die vier Schauspieler, welche im realen Leben zur Schauspielfamilie Olivier Pys gehören, spielen sich selbst und schlüpfen zudem in die Rollen von insgesamt 38 dramatischen Figuren, die in Illusions comiques auftreten. Die Theaterprobe wird unterbrochen, als Monsieur Balazuc Moi-Même auf einige Presseartikel aufmerksam macht, die den Autor und das Stück, obwohl es noch gar nicht aufgeführt worden ist, schon vorab loben. Alle lesen und kommentieren die Theaterkritiken, bis Mademoiselle Mazev die Fortsetzung der Probe anmahnt. 534 Jean-Pierre Thibaudat sieht weitere Parallelen zwischen Fiktion und Realität: Olivier Pys Mutter habe tatsächlich eine Kleiderboutique, Elizabeth Mazev sei eine Jugendfreundin des Autors und sei auch mit Jean-Luc Lagarce befreundet gewesen. Vgl. Thibaudat 2007, blogs.rue89.com/ balagan/ les-illusions-comiques-a-l-odeon-lejeu-jubilatoire-de-py, 07.03.13. 535 www.lagarce.net/ scene/ detail_spectacle/ idspectacle/ 277/ from/ auteur_mes, 26.05.13. 536 Vgl. Krauß 2008: 201 und Thibaudat 2007, blogs.rue89.com/ balagan/ les-illusionscomiques-a-lodeon-le-jeu-jubilatoire-de-py, 07.03.13. 283 Moi-Même sieht nach der Ära der Religion und der Ära der Wissenschaft nun eine Ära des Theaters anbrechen. Fanatische Anhänger feiern den Theaterautor, der Bürgermeister von Paris erklärt Moi-Même zum Nationalhelden, der Kulturminister nimmt ihn in die Ehrenlegion auf, bietet ihm sein Amt sowie die Verantwortung für weitere Ministerien an, der französische Staatspräsident und der Papst empfangen ihn. Gott bittet den Dramatiker, seinen Platz einzunehmen, und möchte einer seiner Schauspieler werden. Moi-Mêmes Mutter, Inhaberin einer Boutique, ist begeistert vom Aufstieg ihres Sohnes. Seine Tante Geneviève, die eine Confiserie betreibt, beginnt Schauspielunterricht zu nehmen. Moi-Mêmes Schauspieler hingegen begegnen dem plötzlichen Erfolg des Theaterautors und dem Eindringen des Theaters in alle Bereiche mit Skepsis. Sie verlassen ihn, weil sie meinen, Moi-Même solle sich auf die Theaterprobe, das Schreiben seines neuen Stücks und das Theater selbst konzentrieren. Während die Schauspieler sich nach Verdun begeben, wo sie Jean-Luc Lagarce alias Le Poète mort trop tôt gedenken 537 , über das Theater und die Kunst reflektieren und die Abwesenheit eines poète beklagen, hält Moi- Même über Satellit eine Ansprache an die Menschheit über die Aufgabe des Dichters. Als er dabei von einem geräucherten Hering spricht, wird er von fiktiven Zuschauern unterbrochen, die sich darüber streiten, ob ein hareng fumé in diesem Zusammenhang ein geeignetes Thema sei. Den Angriffen des Publikums und dem Skandal kann sich der in Ungnade gefallene Moi-Même nur entziehen, indem er in einem Kaninchenkostüm flüchtet. Von seiner eigenen Mutter verraten, wird er von Schergen festgenommen, vor Gericht gestellt und sämtlicher Schandtaten des Jahrhunderts für schuldig befunden. All seine Werke werden zerstört. Im Gefängnis nimmt ihm der Papst die Beichte ab, ehe der Henker ihn exekutieren soll. In letzter Minute begnadigt der französische Staatspräsident Moi-Même unter der Bedingung, dass er mit dem Satz „La beauté n’existe pas en soi“ (IC, 56) seiner künstlerischen Überzeugung abschwört. Der Theaterautor unterschreibt und verabschiedet sich. Seine Mutter nennt ihn altmodisch und geht zur Generalprobe des interaktiven Theaterstücks eines Konkurrenten, seines schlimmsten Feindes, in dem keine Schauspieler auftreten, sondern fliegende Plastiktüten und ein Video in Endlosschleife über einen verstopften Ausguss zu sehen sind und die Publikumsreaktionen das Werk selbst bilden. Der dritte Akt beginnt mit einer philosophischen Reflexion über das Theater, an der sich der Papst, Monsieur Fau und La Mort beteiligen. Monsieur Girard erklärt Tante Geneviève, das Theater gehöre ihnen nicht mehr. Nach dem Sturz des poète sei die „ère des professeurs de dramaturgie“ (IC, 60) gekommen und die Dramatiker seien von „opérateurs culturels“ (IC, 537 Jean-Luc Lagarce starb am 30.09.1995 in Cochin, während seine Truppe La Roulotte mit seiner Inszenierung des Stücks La Cagnotte in Verdun auf Tournee war. 284 61), d.h. Kulturakteuren, entlassen worden. Shakespeare sei weniger wert als die öffentliche Lesung jegliches Regieassistenten aus Leipzig. Der Regisseur entscheide für einen. Das drame lyrique habe die Bühnen verlassen. Das Theater schäme sich seiner selbst, das Wort sei tot. Die Concierge des Theaters verjagt die Schauspieler mit ihrem Hund Concept von der Bühne, die sie für die neue Truppe mit dem StückVide- Shakespeare-hypothèse-antimatière-numéro 26 reinigen soll. Die Schauspieler gehen und wollen Exil bei einem Marionettentheater oder Volksliedensemble suchen. Man bietet ihnen lediglich Arbeit im Fernsehen, in der Werbung und als Clown bei einem Lehrgang zur Prävention gegen Mobbing in Unternehmen an. Nostalgisch erinnern sie sich an den Applaus und ihre Verbeugungen in früheren Zeiten und wünschen sich den Poeten zurück. Da tauchen Moi-Même, die Concierge und Concept auf. Die Concierge und der Hund verlangen, dass Moi-Même alle Relikte und Requisiten des Theaters verbrennt, damit keine poetischen Mikroben übrig bleiben. Als er sich weigert, erscheint im Halbdunkel des Theaters die Figur Le Poète mort trop tôt. Monsieur Balazuc schlüpft in die Rolle eines Jugendlichen, L’Adolescent, der Kaffee und ein Werk, das es zu schreiben gilt, wünscht. Es ist Moi-Même im Alter von 15 Jahren. Le Poète mort trop tôt erklärt Moi-Même, die Schauspieler bräuchten ihn. Moi-Même erkennt, dass er sich an seinen ursprünglichen Wünschen versündigt hat, und bittet um Absolution, die er nur im Theater finden kann. Sein Vater, der den Namen Brecht angenommen hat, um nicht mehr mit seinem Sohn in Verbindung gebracht zu werden, fordert ihn auf, wieder zu dem Jungen zu werden, der sich über sein Werk beuge. Moi-Même will seine Schauspielkameraden nun um Verzeihung bitten. Er ruft die Schauspieler, die sich mit ihren neuen Arbeitsverhältnissen schwer tun, zusammen und verkündet, er werde mit ihnen sein neues Stück Illusions comiques proben, dessen Inhalt er in einer mise en abyme kurz beschreibt. Seine Mutter teilt mit, die Vorstellung Vide-Shakespeare-hypothèse-animatière-numéro 26 habe eine Publikumsrevolte provoziert. Sie rät ihm, ein Manifest zu schreiben. Tante Geneviève entdeckt, dass Moi-Même das neue Werk noch nicht verfasst hat, und schickt ihn an die Arbeit. Sie fordert alle auf, währenddessen 100 Definitionen des Theaters für die mit Botschaften versehenen Bonbons ihrer Confiserie zu suchen. Das Stück endet mit 100 durchnummerierten Definitionen des Theaters, die die Bühnenfiguren nacheinander mit Blick zum Publikum rezitieren. Die Autoreflexivität erreicht in Olivier Pys Metadrama Illusions comiques eine hohe Intensität, denn der Autor kombiniert in diesem Theatertext Formen des thematischen, des episierenden, des figuralen, des fiktionalen, adaptiven und diskursiven Metatheaters. Charakteristika des thematischen Metatheaters weist das Stück insofern auf, als das Theater sich hier selbst thematisiert und dem Zuschauer einen 285 Blick hinter die Kulissen gewährt: Py gibt Szenen aus dem Leben eines Theaterautors wieder, der Regisseur und Leiter einer Schauspieltruppe ist, mit der er seine eigenen Stücke inszeniert. Handlungsort ist meist ein Theater, zum Bühnenpersonal gehören neben dem Dramatiker und den Schauspielern ein Theaterdirektor, ein Bühnentechniker, eine Garderobenfrau und verschiedene Typen von Zuschauern. Der Schauspielunterricht, d.h. die Ausbildung des Schauspielers, wird mit Lektionen, die Moi-Mêmes Schauspieler Tante Geneviève erteilen, veranschaulicht. Die Arbeit der Theaterkritiker, die Py zufolge ihre Kritiken bereits geschrieben haben, noch ehe die Stücke überhaupt aufgeführt worden sind, ist Gegenstand der Satire. Auch die Beziehung des Bühnenautors zum staatlichen Kulturapparat, verkörpert durch den Kulturminister und den Bürgermeister von Paris, wird hinterfragt. Die 100 Definitionen des Theaters, mit denen Olivier Py sein Metadrama beschließt, beinhalten darüber hinaus thesenartig formulierte theoretische und philosophische Reflexionen über das Theater. Züge des episierenden Metatheaters tragen Olivier Pys Illusions comiques, da einige dramatische Personen ähnlich einem homodiegetischen, d.h. spielinternen Erzähler Szenenwechsel und Auftritte der anderen Bühnenfiguren ankündigen, das Publikum über die Anzahl der Akte informieren („Fin du premier acte, il y en a trois.“ IC, 35) und Rollendistanz demonstrieren, indem sie ex persona ihre eigenen Rollen und Texte kommentieren 538 . Szenenwechsel werden mit der Angabe „Pendant ce temps...“ (IC, 46) eingeleitet, Auftritte anderer dramatischer Personen mit dem Satz „Entre (Name der Figur)“ (IC, 19,20, 21 etc.). Die 100 Definitionen des Theaters am Schluss sind, wie auch in Olivier Pys Inszenierung 539 seiner Illusions comiques durch die Proxemik der Schauspieler deutlich wird, zudem als apartés direkt an das Publikum gerichtet. Merkmale des figuralen Metatheaters zeigt das Theaterstück, weil die vier Schauspieler Mademoiselle Mazev, Monsieur Balazuc, Monsieur Girard und Monsieur Fau aus ihrer Rolle in F1 im Laufe des Stücks immer wieder in weitere Rollen schlüpfen. Der Rollenwechsel wird dabei von den Akteuren mit der Formel „Je fais (Name der Figur)” angekündigt. Jeder der vier Akteure spielt mehrere Rollen auf einer zweiten Fiktionsebene, sodass es jeweils zu einer Potenzierung der Rolle und zu einer Auffächerung der dramatischen Figur in mehrere Identitäten auf F2 kommt. In Olivier Pys Inszenierung der Illusions comiques vollzieht sich der Rollenwechsel meist in Gegenwart des Zuschauers, was die Brechung der Illusion noch hervor- 538 Kommentar zur Diktion z.B.: „Monsieur Girard. Nous n’avons pas besoin d’épée d’or, mais viens nous retrouver quand il te faudra une épée de bois! Je l’ai bien fait, non? La voix qui détimbre sous le coup de l’émotion.“ (IC, 22). 539 Das Stück wurde am 29.03. 2006 im CDN Orléans uraufgeführt und ab 10.05.2006 im Théâtre du Rond-Point gezeigt, wo es auch gefilmt wurde und inzwischen als DVD vorliegt. 286 hebt: Ein Kostümständer, von dem die Schauspieler immer wieder unterschiedliche Kostüme nehmen, und die Spiegel der Schauspielgarderobe, vor denen sich die Schauspieler schminken, gehören zum Bühnenbild. Den Kriterien des fiktionalen Metatheaters entspricht das Drama Illusions comiques aufgrund der metatheatralen Form des „Theaters im Theater“. Sie manifestiert sich zum einen in der Theaterprobe (F2a) des Theaterstücks Le Poète et la mort am Anfang des Dramas, zum anderen in der von Moi-Même und seiner vierköpfigen Schauspieltruppe gespielten Geschichte des Aufstiegs, des Falls und der Wiederkehr (F2b) des Dramenautors Moi-Même, welche durch die Rollenwechsel der Schauspieler und das Einschreiten mehrerer fiktiver Bühnenzuschauer 540 im zweiten Akt als „Theater im Theater“ gekennzeichnet und kommentiert wird. Das Stück Le Poète et la mort (F2a) wird nur auszugsweise geprobt und zeigt eine Diskussion zwischen den Figuren Moi-Même, La Mort, Monsieur Fau und Le Poète mort trop tôt über das Schreiben von Dramen, deren möglichen Nachhall in der Geschichte und den Ruhm des Theaterautors, welcher dem zu früh verstorbenen Dichter erst nach seinem Tode zuteil wird. Die Kommentare der verschiedenen Typen von fiktiven Zuschauern (un spectateur de gauche, un révolté, un analysé, un théâtreux, un directeur de théâtre etc.) zu F2b betreffen einen Satz in der Ansprache Moi-Mêmes über die Aufgabe des Poeten, in dem der Autor einen geräucherten Hering als Beispiel für die Widerspiegelung der Totalität in allen Dingen anführt. Durch den Schauspielunterricht Tante Genevièves entsteht für einen kurzen Moment eine weitere Fiktionsebene, als Tante Geneviève den Satz „Même les dieux ne peuvent défaire ce qui a été“ nach verschiedenen Regieanweisungen rezitiert und einen Monolog gemäß den Intonationen, die ihr Monsieur Girard vorgibt, nachspricht (IC, 42-46). Die beschriebenen eingelagerten Fiktionsebenen basieren textuell nicht auf einer real existenten, früher verfassten Dramenvorlage, daher handelt es sich hier um fiktionales Metatheater. Formen des adaptiven Metatheaters im weiteren Sinne sind in den Illusions comiques insofern zu erkennen, als das Drama auf zwei dramatische Prätexte des 17. Jahrhunderts Bezug nimmt, L’Illusion comique von Pierre Corneille und L’Impromptu de Versailles von Molière, welche hier jedoch nicht in Textauszügen als „Theater im Theater“ eingebettet sind. Charakteristisch für das adaptive Metatheater ist außerdem die Gattungsreferenz, die Olivier Py in einem Paratext aus dem Jahre 2005, der als Vorwort des Stücks fungiert, angibt: „Cette farce, pièce satirique, comédie philosophique, c’est l’art de faire du rire avec notre impuissance.“ (IC, 6). Sowohl bei Corneilles L’Illusion comique als auch bei Molières Impromptu de Ver- 540 In Olivier Pys Inszenierung der Illusions comiques agieren die fiktiven Zuschauer mit Mikrofonen zwischen den realen Zuschauern im Zuschauerraum. 287 sailles handelt es sich um eine Komödie 541 , beide Stücke weisen wie die Illusions comiques die metatheatrale Form des „Theaters im Theater“ auf (siehe Kapitel 4). Py wählt für sein Drama zudem die klassische Form des Dreiakters. In der Tradition der Farce stehen die Illusions comiques aufgrund ihrer karnevalesken Elemente, ihrer ausgeprägten Komik und Theatralität, der typisierenden Zeichnung der Figuren aus Politik und Gesellschaft und infolge ihres subversiven Charakters, der Satire, welche selbst vor höchsten religiösen und politischen Instanzen wie dem Papst und dem französischen Staatspräsidenten keinen Halt macht. Ähnlichkeiten zu Corneilles Drama L’Illusion comique lassen sich in Olivier Pys Illusions comiques beobachten, weil in beiden dramatischen Werken der Beruf des Schauspielers Gegenstand der Reflexion ist, eine Apologie des Theaters am Schluss steht 542 und der Topos des Theatrum mundi auftaucht: „Nous ne sommes que des personnages de fiction. Il faut mettre fin à la dictature de l’authenticité. [...] L’être ne se contente pas d’un personnage. Derrière le masque, un autre masque, et ainsi de suite jusqu’à […]”, erklärt Monsieur Fau Tante Geneviève (IC, 33). Alles ist Fiktion, alles ist Illusion. Wie in Corneilles Komödie L’Illusion comique, in der der Zauberer Alcandre dem Vater Pridamant in Illusionen das Leben seines verlorenen Sohnes Clindor vor Augen führt, erscheint die Bühnenrealität auch in den Illusions comiques als theatralisiert und inszeniert. In einem Interview mit Philippe Jousserand erläutert Olivier Py den Zusammenhang zwischen seinem und Corneilles Drama: [...] l’Illusion optique et métaphysique que propose Corneille devient Illusions avec un s, c’est presque les illusions perdues, ce sont les illusions politiques, et puis comiques qui veut dire ‘théâtre’ dans le lexique du XVII e siècle, là veut dire ‘farce’. Ce sont mes propres illusions […]. J’ai cru à un certain moment à un théâtre qui pouvait changer le monde, à un théâtre qui pouvait être proprement révolutionnaire. Faut-il perdre cet espoir, je ne crois pas. Mais il faut savoir en rire aussi, parce que si on fonde le geste théâtral dans une volonté d’action efficiente sur le monde, alors on le brise, on tue le dieu théâtral… et on a plus rien, plus rien que du journalisme finalement. 543 Die Parallelen zu Molières Impromptu de Versailles (1663) sind offensichtlich. In seiner „paraphrase“ (IC, Vorwort, 5) des Molièreschen Dramas erscheint Py gleich Molière im Impromptu als Hauptfigur. Wie Molière ist Moi-Même Autor, Schauspieler, Regisseur und Leiter einer Theatertruppe, mit der er ein Theaterstück probt. Die Schauspieler spielen im Impromptu de Versailles 541 Jürgen Grimm bezeichnet L’Impromptu de Versailles als „comédie-pamphlet“, in der die Bühne zum Schauplatz literarischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wird. Grimm 1984: 51. 542 „Das Prinzip eines abschließenden Plädoyers für das Theater übernimmt Olivier Py ebenfalls von Corneille; aus wenigen Versen im klassischen Stück werden jedoch [...] 100 Definitionen.“ Krauß 2008: 215 . 543 Interview aus dem Jahre 2006 auf der DVD der Illusions comiques, Sopat 2011. 288 wie in den Illusions comiques sich selbst und schlüpfen in einem Spiel im Spiel in weitere Rollen. In beiden Stücken geht es um die Konkurrenz mit einem anderen Autor und einer anderen Theatertruppe: Molière attackiert in seinem Impromptu die Emphase und die Diktion der mit seiner Truppe rivalisierenden Schauspieler des Hôtel de Bourgogne und den Autor Edme Boursault, der ihn mit seiner im Théâtre Royal de l’Hôtel de Bourgogne aufgeführten Komödie Le portrait du peintre ou la Contre-critique de l’École des femmes (1663) angegriffen hat. Moi-Même konkurriert mit dem Dramatiker Mon pire ennemi und seiner Kreation Vide-Shakespeare-hypothèse-antimatière-numéro 26. Im Impromptu de Versailles wie in den Illusions comiques stehen sich jeweils mit den künstlerischen Konkurrenten auch zwei unterschiedliche theaterästhetische Konzepte gegenüber. Beide Werke demonstrieren zugleich die Beziehung des Theaterautors zum Staat: Molière versucht mit seinem Impromptu, den Ansprüchen und Vorstellungen seines Mäzens und Gönners, König Ludwig XIV., gerecht zu werden 544 ; Moi- Même ist abhängig von den Vertretern des staatlichen Kulturapparats, dem Kulturminister 545 und dem Bürgermeister von Paris, und muss sich sogar gegenüber dem französischen Staatspräsidenten verantworten. Die beschriebenen Typen des Metatheaters in Oliviers Pys Illusions comiques gehen einher mit Formen des diskursiven Metatheaters, d.h. Theaterlexik und Theaterreferenzen, die diesen Dramentext wie ein metatheatraler Diskurs durchziehen. Zur Theaterlexik zählen Theatergattungen wie comédie, comédie philosophique, farce, pièce satirique, tragédie, drame, drame satyrique, vaudeville, poème dramatique und im weiteren Sinne Begriffe, die mit dem Theater verwandte Kunstformen bezeichnen, d.h. opéra, drame lyrique, danse und cirque. Theaterkategorien, die die Figuren in ihren Dialogen erwähnen, darunter théâtre classique, théâtre absurde, théâtre de boulevard, théâtre de marionnettes, théâtre religieux, théâtre politique, théâtre citoyen, théâtre bourgeois, réaliste, psychologique reflektieren das Spektrum des Theaters. Die Namen französischer Theaterinstitutionen wie Comédie-Française, Odéon, Châtelet, Théâtre national populaire stehen für die Pariser Theaterszene. Der Verweis auf die Dramatiker Corneille, Molière, Shakespeare, Brecht und Jean- Luc Lagarce demonstriert Pys Affinität zum klassischen französischen, zum elisabethanischen und epischen Theater sowie seine Verbundenheit mit Jean-Luc Lagarce. Mit Bezeichnungen wie le poète, le dramaturge, l’homme de théâtre referiert Olivier Py auf sich selbst. Termini wie l’acteur tragique, l’acteur de boulevard, l’art de l’acteur, l’art théâtral, l’art dramatique, la science 544 Stenzel 1987: 123. „In einer ersten Annäherung kann man in diesem Ablauf der Rahmenhandlung des Impromptu ein Modell der Funktionsbestimmung sehen, die Molière seinem Theater in Bezug auf den Herrscher gibt. Dieses erscheint hier als in den Funktionszusammenhang absolutistischer Machtausübung integriert, jedoch mit einer kritischen Distanz, die von der politischen Macht toleriert wird.“ 545 Im Dezember 2006 wurde Olivier Py vom französischen Kulturminister zum Direktor des Théâtre de l’Odéon ernannt, vgl. Darge/ Herzberg 2007 in Le Monde (04.05.2007). 289 théâtrale, la théâtralité spiegeln den Diskurs der Theaterwissenschaft wider. Die im Theatertext zitierten Dramentitel L’Impromptu de Versailles (IC, 5), Illusions comiques (IC, 74) und Visage d’Orphée (IC, 31) spielen intertextuell auf Molières, Corneilles und Olivier Pys eigene Werke an. Mit dem Hinweis der Figur Tante Geneviève auf Stanislavski 546 (IC, 33) und dessen Schauspieltheorie knüpft Py an historische Regiekonzepte an. Viele Lexeme des metatheatralen Diskurses beziehen sich auf den Theaterraum, so die Ausdrücke salle, scène, en avant-scène, plateau, tréteaux, l’entrée des artistes, coulisses, salle de répétition, rideau, public, concierge du théâtre, portes du théâtre. Der größte Teil des Theatervokabulars der Illusions comiques entstammt dem Bereich der Inszenierung und der Aufführung und entlarvt das dramatische Geschehen auf der Bühne in den Augen des Rezipienten so als Illusion und Artefakt: théâtre, troupe, acteurs, comédiens, tragédiennes, bouffon, clown, metteur en scène, assistant de metteur en scène, mise en scène, répétitions, répéter la scène, entrer en scène, personnage, rôle, monologue, costume, masque, se déguiser, se démasquer, je fais…, jouer la comédie, faire du théâtre, surjouer, décors, régie, preneur de son, spectacle, représentation, premier acte, l’acte deux, troisième acte, entracte, public, spectateurs, applaudir, applaudimètre, saluer, les saluts, rideaux, tournées. Einige Begriffe wie le directeur de théâtre, le ministre de la Culture, le ministère de la Culture, la décentralisation, Avignon und la défense de l’intermittence nehmen Bezug auf die Theater- und Kulturadministration Frankreichs. Die Intensität der Metaisierung, die sich in dem polymorphen Metadrama Illusions comiques durch die Verknüpfung verschiedener Typen des Metatheaters ergibt, erklärt sich unter anderem aus dem Entstehungskontext dieses Stücks, dem Festival d’Avignon 2005 547 , dessen kontrovers diskutierte Fragen zu Wesen und Funktion des Theaters Olivier Py in seinem Vorwort erwähnt und zum Teil in seinen 100 Definitionen des Theaters am Ende des Dramas aufgreift: Le théâtre peut-il être encore politique? Le théâtre est-il une image? Le théâtre est-il sacré et par quel mystère? Le théâtre est-il une sorte de religion du sens ou, au contraire, ce qui nous apprend à vivre dans l’absence du sens? Les différentes questions qui ont agité le bocal avignonnais en cet an de grâce 2005 sont réfléchies dans tous les miroirs possibles, théologie, révolution, statut de l’image, civisme, politique culturelle, etc. (IC, Vorwort, 6). 546 Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863-1938). 547 Banu/ Tackels 2005 : 28. „Vincent Baudriller: Cette année avec Jan Fabre, on a interrogé le théâtre dans ses limites en faisant dialoguer un travail de création qui s’effectue à partir de l’écriture, du texte, et un autre qui s’appuie sur l’image ou les corps. Il ne s’agit pas de prendre position pour ou contre mais de mettre en dialogue la diversité du théâtre.” Diese Konzeption des 59. Festival d’Avignon 2005 unter der Leitung von Vincent Baudriller und Hortense Archambault löste damals heftige Reaktionen des Publikums und der Presse aus. 290 Die öffentliche Debatte zwischen den Verfechtern eines théâtre des images und den Anhängern eines théâtre de texte, die sich auch in den Illusions comiques widerspiegelt und 2005 zu einer neuen Querelle des anciens et des modernes führt, analysiert Olivier Py am 30.07.2005 in Le Monde: Avignon résonne d’une controverse inattendue. Pour la première fois dans l’histoire du Festival, le théâtre du dire est mis en minorité par toutes les autres formes. La cour du Palais des papes elle-même, lieu paradigmatique d’Avignon, n’accueille pas cette année de théâtre, au sens traditionnel. C’est cette année que s’invente la formule ‘théâtre de texte’, qui serait passée autrefois pour un pléonasme mais s’entend désormais comme une catégorie théâtrale. Un grand nombre d’artistes invités, mutatis mutandis, avouent, par leurs œuvres, qu’ils sont ou que nous sommes lassés des mots. Cette édition du Festival sera donc celle d’un théâtre plus proche des arts plastiques que de l’écriture, plus visuel que littéraire. 548 Olivier Py hält am Texttheater und an der „parole“ 549 fest, verschließt sich aber nicht der Öffnung des Theaters gegenüber dem Bild und den anderen Künsten, er betont vielmehr die befruchtende Wirkung des Theaters auf andere künstlerische Ausdrucksformen: Est-ce encore une stérile querelle des anciens et des modernes? Ou bien le théâtre est-il vivant justement en étant une image et des mots reconciliés? On aurait tort d’opposer l’image au mot au nom de la mode ou au nom de la morale. On aurait tort pour autant de les confondre. Un mot n’est pas une image. […] L’opéra a interpellé des metteurs en scène de théâtre pour sortir d’une mortifère répétition de traditions viellies, la danse s’est inventée introspection et engagement en créant cette forme de la danse théâtre qui a donné au geste une légitimité nouvelle, le cirque épuisé a soudainement trouvé de nouvelles frondaisons en théâtralisant sa pratique, aujourd’hui les arts plastiques poussent leurs performances vers les plateaux pour échapper à la réification marchande de l’art. N’inversons pas la perspective, c’est le théâtre qui vient en aide aux autres arts, qui les refonde et les repense, pas l’inverse! 550 Die Konkurrenz zwischen Texttheater und Bildertheater zeigt sich in dem Metadrama Illusions comiques in den Theaterkonzeptionen des Dramatikers Moi-Même und seines künstlerischen Opponenten Mon pire ennemi. Während Moi-Même für ein théâtre d’art steht, das auf der Schönheit, der Spiritualität und der Liebe zur parole gründet (IC, 51 und IC, 56), setzt Mon pire ennemi mit seiner Inszenierung Vide-Shakespeare-hypothèse-antimatièrenuméro 26 den Akzent auf visuelle Effekte, Interaktion mit dem Publikum und die Performance und verzichtet auf Text und Schauspieler. „Un théâtre sans mots, c’est comme une musique sans notes! “ (IC, 75), urteilt Tante Geneviève, während Moi-Mêmes Mutter, die eine Erneuerung der Formen des Theaters fordert, entgegnet, das Theater habe mehrere Defini- 548 Py 2005. 549 Py 2005. 550 Py 2005. 291 tionen. Wie beim Festival d’Avignon provoziert ein solches Stück auch in den Illusions comiques beim Publikum, das die Mutter des Dramenautors als „bande de bourgeois réactionnaires“ bezeichnet, einen Aufstand der Entrüstung, „une catastrophe sans précédent“ (IC, 75). Olivier Py stellt hier beide in der Querelle d’Avignon vertretenen Positionen einander gegenüber, in seinem Drama gibt er aber dem Texttheater letztlich den Vorrang: Der Poet Moi-Même kehrt am Ende zurück und will mit seinen Schauspielern sein neues Stück Illusions comiques proben, „texte su! “ (IC, 74). Das Theater ist für Moi-Même mehr als ein Reservoir an Bildern, denn es vermag das Bild zu hinterfragen: Moi-Même: Le théâtre est bien plus qu’un réservoir d’images, il est la possibilité de voir derrière l’image et du dehors de l’image et de l’intérieur de l’image. (IC, 28). Die Metatheatralität seines Dramas begründet Py in seinem Vorwort mit dem Wunsch des Publikums nach Transparenz: „’Comment travaillezvous? ’ Et le trou de la serrure est au fond le suprême désir du spectateur. Voir de l’autre côté.” (IC, 7). Mit dem Outing des Theaters will er dem Voyeurismus des Zuschauers Rechnung tragen und wie die Autoren anderer Metatheatertexte die Reflexion über das Theater auf die Bühne selbst verlegen. Im Fokus der Selbstreflexion steht die Stellung des Dramenautors und des Theaters in der Gesellschaft. In einem Interview mit Laurent Carpentier in Le Monde (19.7.2013) charakterisiert Olivier Py das Verhältnis des Künstlers zur Politik, das er in seinen Illusions comiques selbstironisch analysiert: J’ai écrit Illusion comique [sic] justement pour me moquer de ma volonté d’agir ailleurs que sur mes tréteaux. Parce que je crois que dans tout homme de théâtre, il y a un artiste qui rêve de faire de la politique. 551 Der erste Akt zeigt die Apotheose des Dramatikers Moi-Même, der als Nationalheld, Prophet, Priester der Kultur, Politiker und König gefeiert wird. Er erscheint wie ein „nouveau messie“. 552 Ihm soll eine Statue errichtet werden, um ihn wird ein Starkult betrieben wie bei einem Popstar. Moi- Même lässt sich von der plötzlichen Macht verführen, die Insignien des Theaters, symbolisiert durch die „épée de bois“, hat er gegen die „épée d’or“ eines weltlichen Herrschers eingetauscht (IC, 22) und will sich in den Dienst der Geschichte stellen. Die Schauspieler schickt er weg, er behauptet, er brauche sie nicht mehr, von ihren Schauspielerproblemen und den „petites questions d’interprétation dérisoires“ (IC, 22) habe er genug. Er wirft ihnen Realitätsferne vor: „ [...] vous voulez répéter une pièce de 551 Carpentier 2013: 21. Der Artikel Py, un multiple d’Avignon erschien anlässlich Olivier Pys Übernahme der Leitung des Festival d’Avignon im September 2013. 552 Darge 2006. 292 théâtre qui est déjà un triomphe, vous avez trois combats de retard sur le réel.” (IC , 22). Seine ursprüngliche Rolle als Theaterautor, der im Hintergrund als Gewissen der Nation operiert und der Gesellschaft aus der Außenperspektive den Spiegel vorhält, hat er aufgegeben: Il sort de son rôle de contradicteur et d’exilé, il n’est plus excentrique, il est le centre. On remet dans ses mains le pouvoir suprême de changer le monde, on laisse son théâtre agir sur le réel et non plus sur le symbolique. Le pape luimême vient lui demander conseil. Lui seul est à même de donner ce qui est plus précieux que l’égalité sociale, le sens de la vie. (IC , Vorwort, 5). Sein Konkurrent Mon pire ennemi will ihm zu Ehren eine Akademie gründen mit dem Namen „Triomphe de la Parole“ (IC, 25). Die ganze Welt hört auf das Wort des Poeten Moi-Même, alle sind von einer „épidémie d’amour du théâtre“ (IC, Vorwort, 5) erfasst. Das Theater wird zu einer Ersatzreligion, einer neuen Ideologie, an der die Welt genesen will. Die Theatrokratie scheint ausgerufen. Für Moi-Même ist das Theater das einzige Gegenmittel gegen die société du spectacle und das Überhandnehmen des Virtuellen: Moi-Même: Je le savais, le théâtre seul peut s’opposer au spectacle, à la société du spectacle, le théâtre seul peut contredire cette grande entreprise de virtualité abrutissante. (IC, 18). Diese Ansicht entspricht Olivier Pys eigener Überzeugung, denn in einem Interview mit der Zeitschrift Télérama gibt er auf die Frage, was die Zukunft des Theaters sei, die Antwort: „La révolte contre le virtuel! “. 553 Das Verhältnis zwischen théâtre und spectacle gleicht ihm zufolge dem zweier feindlicher Brüder: „Le théâtre et le spectacle sont Abel et Caїn.“ (IC, 79). 554 In der société du spectacle beobachtet Py, wie er es in der 26. Definition seiner 100 Definitionen des Theaters beschreibt, eine zunehmende Theatralität, die er deutlich vom Theater an sich abgrenzt: 26 - Les modernes, les publicitaires, les politiques, les artistes, les marchands de mode, tous veulent la théâtralité. Ils veulent la théâtralité mais non pas le Théâtre [sic]. (IC, 79). 553 Py ergänzt: „Au théâtre, il y a aussi cette présence réelle. Mais des acteurs. Et dans un monde de plus en plus virtuel, où même à notre amoureux nous parlons la plupart du temps virtuellement - via le téléphone portable - , elle acquiert une force qu’elle a perdue partout ailleurs. On vient au théâtre pour confirmer que tout n’est pas virtuel.” (Télérama, Edition parisienne, 22.04.2006), zugänglich über folgende Website: www. theatre-odeon.eu/ fichiers/ t_downloads/ file_319_dpd_illusions.pdf, 06.05.13. 554 Diese These der 30. Definition des Theaters in den Illusions comiques führt Py gegenüber Télérama aus: „Théâtre et spectacle sont Abel et Caïn, c’est-à dire frères ennemis, indispensables l’un à l’autre. Fondamentalement, le spectacle est ce qui est pulsionnel, qui ne nous laisse pas cette liberté de nous diviser. Face à un spectacle, nous sommes souvent tous conquis. Face à du vrai théâtre, nous sommes au contraire divisés.” www.theatre-odeon.eu/ fichiers/ t_downloads/ file_319_dpd_illusions.pdf, 06.05.13. 293 Der Fall des Theaterautors Moi-Même im zweiten Akt wird ausgelöst durch eine scheinbare Lappalie: Moi-Même verwendet in einer weltweit per Satellit übertragenen Fernsehansprache über die Aufgabe des Dichters, um seine Rede mit einem Beispiel zu veranschaulichen, den Ausdruck „hareng fumé“ (IC, 40) und macht sich damit politisch und gesellschaftlich unmöglich. Das Publikum, die Gesellschaft und die Medien geißeln und verstoßen ihn, sodass er nur noch in einem lächerlichen Kaninchenkostüm 555 wie ein Feigling flüchten kann. Wenn auch stark ridikülisiert, so demonstriert Py hier doch deutlich die Brüchigkeit der herausgehobenen sozialen Stellung des bekannten Dramatikers in der Mediengesellschaft und dessen Fallhöhe, wenn er nur eine unbedachte Bemerkung in der Öffentlichkeit macht. Moi-Même wird zum Feind der Modernität, des Fortschritts, der Kommunikation, des Kunstmarkts und der Mode erklärt. Seine frei gewordene, gesellschaftlich exponierte Position wird sofort von dem konkurrierenden Dramenautor Mon pire ennemi besetzt, der eine Trendwende im Theater einleitet: Maman: [...] Ton pire ennemi vient de faire jouer une pièce de théâtre où les acteurs sont remplacés par des cochons en rut. C’est sur la difficulté de communiquer, la trahison des mots, c’est pas toi qui aurais inventé ça avec ton vieux théâtre, et aussi ça a un regard un peu plus critique que toi sur la société du spectacle, et ça passe très bien à l’écran. C’est le triomphe. (IC, 47). Zu Beginn des dritten Akts sind der Theaterautor Moi-Même und die parole entthront, die obsolet gewordenen Schauspieler finden nur noch Arbeit, die allenfalls entfernt etwas mit der Schauspielkunst zu tun hat. Doch schon bald muss auch der Dramatiker Mon pire ennemi ins Exil nach Verdun gehen, um den opérateurs culturels zu weichen. Der Dramenautor generell fällt dem neuen Zeitgeist zum Opfer: Monsieur Girard: [...] le poète a été égorgé dans une rue sombre de l’aprèsguerre, le dramaturge vient d’être saigné dans le renouveau des formes par un vendeur de modes qui agence le pulsionnel sur les podiums de la mondialisation (IC, 61). 555 Das Kaninchen ebenso wie der Hase ist ein Symbol der Fruchtbarkeit, der Erotik, der Friedfertigkeit, der List und Verschlagenheit, der Ängstlichkeit, Einfalt und Überheblichkeit, vgl. Butzer/ Jacob 2 2012: 175-176. In der Spätantike waren Hasen und Kaninchen u.a. ein Symbol für das Weiterleben nach dem Tode, im frühen Christentum verwies ein weißer Hase auf die Auferstehung, vgl. Kretschmer 2 2011: 179. Das Kaninchenkostüm Moi-Mêmes steht also nicht nur für die Feigheit, sondern kann auch als Symbol für die Auferstehung des Autors am Dramenende gedeutet werden. 294 Die Concierge und der Hund Concept 556 verlangen „Tabula rasa! “ (IC, 68): Sie wollen die Schauspieler vertreiben und die Relikte des Theaters, die alte Literatur, die Schönheit, die Mystik, die letzten Spuren von Sinn, die Lyrik, die Metaphern und alle poetischen Mikroben wegfegen, um der perfekten Leere und der absoluten Modernität Raum zu verschaffen. Mit dem Stück Vide-Shakespeare-hypothèse-antimatière-numéro 26 versucht Mon pire ennemi noch, sich der „nouvelle éthique“(IC, 61) weiter anzupassen, reüssiert aber nicht, denn das von Bilderflut und Performances saturierte Publikum fordert bereits die Rückkehr zum Texttheater. Der Wunsch der Schauspieler nach einer „renaissance du drame“(IC, 67) und der Wiederkehr des poète wird am Ende erfüllt: Einen Blutfleck auf der Bühne hinterlassend taucht Moi-Même wieder auf und beginnt mit der Arbeit an seinem neuen Theaterstück Illusions comiques. Charlotte Krauß 557 deutet dies als Wiederauferstehung des Autors, was auch durch die bereits erwähnte Symbolik des Kaninchenkostüms suggeriert wird. Am Schluss siegt also das théâtre de texte über das théâtre des images. Olivier Pys Metadrama Illusions comiques wird damit zum klaren Plädoyer für das Texttheater und den Vorrang der parole. Diese Position vertritt Py auch in seiner Épître aus jeunes acteurs pour que soit rendue la parole à la parole (2000), einem Theatertext, den er im Jahr 2000 für die Schauspielschüler des französischen Conservatoire national supérieur d’art dramatique geschrieben hat: Et moi, dans mon costume de tragédienne ridicule, je dis cela encore: l’homme peut être sauvé par la parole et le rôle du théâtre est de montrer cela. De raconter cela et tout en racontant cela, faire vivre cela, cette Expérience [sic]. Entre les acteurs, on raconte cela de part et d’autre de la rampe, on ne le raconte pas, on le vit, on le vit comme vérité vérifiée. (Épître aux jeunes acteurs, 16). Schon in diesem früheren Text kritisiert Olivier Py die Nivellierung der Bedeutung des Wortes und des Dichters in der modernen Kommunikationsgesellschaft und problematisiert die Konkurrenz zwischen der „parole“ und „les autres formes de spectacle vivant“ (Épître aux jeunes acteurs, 20). Eine Welt, in der die Wörter keinen Wert mehr haben, bezeichnet er darin als Hölle (ibid., 23). Der Niedergang der parole und des poète geht aus seiner Sicht einher mit der Dekadenz der Kultur und der Zivilisation. 558 556 Der Name des Hundes spielt vermutlich auf die Kunstrichtung Concept Art an, die auf der Visualisierung von Konzepten, d.h. Ideen und Vorstellungen, durch Installationen, Performances, Plastiken oder Objekte beruht. 557 „La Concierge: Vous n’avez pas bien passé la serpillière. C’est une tache de sang. Moi-Même: Rien que de la peinture rouge, le sang des Atrides.“ (IC, 67). Vgl. Krauß 2008: 215. 558 „[…] cette ultime déchéance de notre civilisation qui ne parle plus de la Parole que comme du bla-bla, qui a mis au même rang le poète et le dresseur d’otaries, qui a nivelé la place des mots à la basse-cour des spectacles charitables, promotionnels et très divertissants.” (Épître aux jeunes acteurs, 20). 295 Neben den Theaterautoren Moi-Même und Mon pire ennemi tauchen in den Illusions comiques zwei weitere Dramatikerfiguren auf, zum einen Le Poète mort trop tôt, der Geist des verstorbenen Jean-Luc Lagarce, zum anderen Brecht, Moi-Mêmes Vater. Beide haben die Funktion, den von der Macht verführten Moi-Même auf den rechten Weg zurückzuführen und ihn an seine ursprüngliche Berufung, welche er als 15-Jähriger verspürte, zu erinnern: das Schreiben und das Aufführen dramatischer Werke: L’Adolescent. [...] Je veux quelques amis et un espace où jouer les drames que j’écris. Rien d’autre. Et s’il y a deux spectateurs pour nous, alors c’est assez. […] Un café et une œuvre à écrire. Voilà, pas d’autre miséricorde. […]. (IC, 70-71). Le Poète mort trop tôt ist für Moi-Même Freund, innere Stimme, Gewissen und verehrtes Vorbild zugleich. Lob, Ruhm und Erfolg sind für das Phantom des zu früh verstorbenen Dramatikers nicht erstrebenswert. Wie dem jungen Moi-Même sind ihm eine Tasse Kaffee und ein Theaterstück, das es zu schreiben gilt, Freude genug. Die Konzentration auf das künstlerische Schaffen und die Bescheidenheit, in der Le poète mort trop tôt mit seiner Theatertruppe (in der Realität: Jean Luc Lagarces Théâtre de la Roulotte) lebte, kontrastieren mit Moi-Mêmes hochfliegenden Ambitionen. Das Credo des Poète mort trop tôt lautet: „Le théâtre fait pour le monde du théâtre, c’est bien suffisant.” (IC, 19). Moi-Même soll ihm weder ein Mausoleum noch eine Kathedrale errichten. Er hätte „un tréteau sur le Pont-Neuf“ (IC, 19) vorgezogen. 559 Keinen Grabstein, keinen Namen auf einer Gedenktafel, keine Begräbniszeremonie, so die letzten Worte seines Testaments. Le Poète mort trop tôt verkörpert den Typus des zu seinen Lebzeiten nicht anerkannten, nach seinem Tode jedoch hochgeschätzten und vielgespielten Theaterautors. Die Figur des Dramatikers Brecht, dessen Identität der Vater des Protagonisten zeitweise annimmt, um sich von seinem Sohn zu distanzieren, mahnt Moi-Même eindringlich, seine vocation nicht zu vergessen und sich auf seine Wurzeln, d.h. die literarische Arbeit an seinem Drama, symbolisiert durch das „cahier bleu“(IC,73) seiner Kindheit, zu besinnen. Erst als Moi-Même sich bekehrt, bekennt der Vater sich wieder zu seinem ursprünglichen Namen. Da hier im Drama über das Schreiben von Dramen reflektiert wird, kann man auch von Metadramatizität 560 sprechen. Der Verweis auf Bertolt Brecht, als dessen Nachfahre Moi-Même erscheint, zeigt, dass Olivier Py sich nicht zuletzt in der Tradition Brechts und des 559 Auf den tréteaux du Pont-Neuf wurden unter anderem Farcen gespielt. Dieses théâtre des tréteaux faszinierte auch den jungen Molière. „Andere Quellen, aus denen sich später Molières Kunst herleiten wird, sind die derbe Komik der Jahrmarktsgaukler des Pont-Neuf und der zahlreichen Straßentheater (bei denen Jean-Baptiste nach dem ‚Bruch’ mit dem Vater debütiert haben soll) [...].“ Grimm 1984: 2; vgl. auch Krauß 2008: 215. 560 Vgl. Hauthal 2009. 296 epischen Theaters sieht, wie es die beschriebenen episierenden metatheatralen Formen in seinen Illusions comiques nahelegen. Eine Theaterkritik der Illusions comiques erhält der Zuschauer in einer mise en abyme: Moi-Même gibt seinen Schauspielern am Schluss eine Beschreibung seines neuen Stücks Illusions comiques: Es sei die Rede vom Theater, es gebe viele amüsante Szenen, die die Tyrannei des Realen anprangerten, Momente der Emotion, in denen der poète seine Irrtümer eingestehe, lyrische Exkurse, in denen die Kunst des drame besungen werde, philosophische Reflexionen über das Mysterium der parole, „une lucidité sans concession“, Hoffnung, geräucherte Heringe, einen komischen Hund, „maman“ und eine große Rolle für alle Schauspieler (IC, 75). Mit dieser inhärenten Theaterkritik der Illusions comiques rezensiert Olivier Py selbstironisch sein eigenes Stück, unterstreicht nochmals die Identität des fiktiven Theaterautors Moi-Même mit dem realen Dramenautor Olivier Py und steuert die Rezeption des Publikums, indem er bereits bestimmte ihm wichtige Aspekte der Illusions comiques hervorhebt. In seiner Komödie zeigt Olivier Py keine Scheu, sich als Theaterautor selbst zu inszenieren und zu ridikülisieren: „ [...] il y a deux sortes de comiques, ceux qui rient des autres et ceux qui rient d’eux-mêmes.“ erklärt er (Vorwort, IC, 8). Die Selbstironie, die der Autor der Illusions comiques betreibt, von der Kritik als „l’art de l’autodérision“ 561 beschrieben, wird noch auf die Spitze getrieben, indem Py in der Inszenierung persönlich die Rolle des Protagonisten Moi-Même übernimmt. Er stellt sich in seinem Stück als narzisstischen, unter Selbstüberschätzung leidenden, der Macht und der Ruhmsucht verfallenen Dramatiker dar, der im Zuge der in der Gesellschaft grassierenden Epidemie der Liebe zum Theater demagogische Züge annimmt. Auch Anspielungen auf seinen Katholizismus und seine Homosexualität (IC, 21) spart Py nicht aus. Seine Figur Moi-Même steht stellvertretend für den zunächst verblendeten, dann tief gefallenen und schließlich geläuterten Theaterautor, der am Schluss desillusioniert erkennen muss, dass sein Einfluss auf Politik und Gesellschaft begrenzt ist und die literarische Arbeit, d.h. das Schreiben und Inszenieren von Theaterstücken, im Mittelpunkt seines Interesses stehen sollte. Wie Olivier Py es in dem Interview mit Philippe Jousserand (s.o.) bereits andeutet, so hat auch er die Illusion, der Dichter und das Theater könnten die Welt verändern, inzwischen verloren, selbst wenn er die Hoffnung nicht aufgibt. Seine persönliche Auffassung vom Verhältnis zwischen Theater, Politik und Gesellschaft beschreibt er 2007 realistisch in einem Gespräch mit Le Monde: [...] nous avons fait le deuil du théâtre comme grand média, porteur de changements pour la société. […] Les choses sont plus simples: on fait du théâtre. Du 561 Catherine Richon, 24.05.2006 auf www.fluctuat.net, zitiert nach www.theatre-odeoneu/ fichiers/ t_downloads/ file_319_dpd_illusions.pdf, 06.05.13. 297 théâtre qui peut être politique, mais on ne fait pas de politique. […] Cette idée d’utilité civique du théâtre me gêne. On ne peut pas demander au théâtre de résoudre la fracture sociale ou de réparer la couche d’ozone. En revanche, on peut faire ce que j’appellerais un théâtre de l’inquiétude, ou de l’impatience. Un théâtre qui se soucie du monde avec ses propres armes: l’actualité, c’est le vent dans les yeux d’Homère. […] Ce mortel qui peut réfléchir sur les institutions démocratiques ou la place de l’étranger dans la société doit aussi méditer sur sa propre caducité, sur la vanité du pouvoir, sur des choses qui dépassent les faits de société. C’est ce que je veux dire quand je parle de théâtre populaire plus que de théâtre citoyen. 562 Ähnlich Corneille lässt Py seine Illusions comiques mit einer Apologie des Theaters ausklingen. Seine 100 Definitionen des Theaters, die die verschiedenen dramatischen Figuren dem Publikum am Ende in apartés mit auf den Weg geben 563 , wirken wie ein Manifest über das Theater. 564 In diesen aphorismenartig formulierten Thesen geht es um den Ursprung, das Wesen, die Funktion und die Bedeutung des Theaters für den Menschen und die Gesellschaft: Mademoiselle Mazev. 3 - Le théâtre est la première pensée humaine et sa dernière question. […] Monsieur Fau. 9 - Le théâtre est le miroir du monde qui est le miroir du théâtre. […] Le Maire de Paris. 55 - Le théâtre n’est pas un phénomène culturel, encore moins cultuel, il est un phénomène naturel. La nature du théâtre est le théâtre de la nature. […] Maman. 77 - Le théâtre qui ne cherche pas une définition du théâtre n’est pas du théâtre. […] Moi-Même. 100 - Le théâtre est récompense de n’avoir rien attendu. (IC, 77-82). Die metatheatralen Definitionen, die z.T. auch die beim Festival d’Avignon 2005 entfachte Diskussion um den Sinn und den Zweck des Theaters in der Gesellschaft widerspiegeln, gleichen philosophischen Lehrsätzen, die den Zuschauer zur kritischen Rezeption des Stücks Illusions comiques und zum Weiterdenken über das Theater allgemein anregen sollen. Ein Theater, das nicht über sich selbst reflektiert, ist nach Olivier Py kein Theater. Die Verlegung der Reflexion über das Theater auf die Bühne selbst und damit die Metatheatralität seines Dramas rechtfertigt Olivier Py mit der Aussage: C’est quand le théâtre parle de lui-même qu’il parle paradoxalement le plus justement du monde. (Vorwort, IC, 8 und Definition 18, IC, 78). 562 Darge/ Herzberg 2007. 563 In Olivier Pys Inszenierung sitzt Moi-Même im Publikum und betätigt von dort aus einen auf der Bühne stehenden Zähler, auf dem vor jeder Definition, die eine Bühnenfigur rezitiert, die zugehörige Nummer aufleuchtet. 564 Etliche dieser Definitionen greift Py in seiner im Jahr 2013 veröffentlichten Sammlung Les mille et une définitions du théâtre wieder auf, z.B. Definition 18 in Definition 866, Definition 26 in Definition 108, Definition 34 in Definition 192, Definition 77 in Definition 1200, vgl. Py 2013. 298 5.8.3 Kombination aus Formen des thematischen, episierenden, adaptiven, fiktionalen, figuralen und diskursiven Metatheaters innerhalb eines Dramenzyklus 5.8.3.1 Der Handlungsverlauf der Tétralogie d’Ahmed von Alain Badiou Der Philosoph, Mathematiker, Dramatiker, Romancier und professeur émérite der École Normale Supérieure Alain Badiou (* 1937) ist durch seine Publikationen und politischen Äußerungen in internationalen Medien über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt. In den 1990er Jahren erscheint sukzessive sein „cycle d’Ahmed“ 565 , der vier Theaterstücke umfasst: Ahmed le Subtil - Scapin 84 (1994), Ahmed philosophe (1995), Ahmed se fâche (1995) und Les citrouilles (1996). 566 Diese Dramen bilden eine Tetralogie, deren Hauptfigur der junge Algerier Ahmed ist und die Badiou 2010 unter dem Titel La Tétralogie d’Ahmed 567 noch einmal in einem Band zusammengefasst bei Actes Sud veröffentlicht. Christian Schiaretti hat diese Tetralogie in den Jahren 1994 bis 1996 an der Comédie de Reims inszeniert. Der erste Teil der Tetralogie, die dreiaktige Farce Ahmed le Subtil - Scapin 84, entstand 1984 in Anlehnung an Molières Les Fourberies de Scapin (1670). Als Jugendlicher spielte Alain Badiou in einer Schulaufführung dieses Stücks die Rolle des Scapin, welche ihn einige Jahre zuvor bereits in einer Inszenierung der Fourberies durch die Compagnie Le Grenier de Toulouse sehr beeindruckt hatte: J’étais pour toujours hanté par Scapin. Que cette hantise ait finalement pris la forme d’une réécriture de la pièce de Molière (c’est mon Ahmed le Subtil) montre à quelle longue distance opèrent les charmes de l’enfance […]. D’un seul coup, un peu comme un souvenir intense vous saisit, un retour d’enfance, comme on parle d’un retour de flamme, je me jetai sur les [sic] Fourberies de Scapin et j’entrepris, scène à scène, ligne à ligne, leur transposition dans une cité de banlieue contemporaine, avec Ahmed comme héros, comme maître des intrigues, de la langue, et du bâton. 568 Ort des Geschehens ist Sarges-les-Corneilles, eine fiktive Vorstadtsiedlung mit den typischen Problemen der französischen Banlieue. Ahmed trägt eine Maske der Commedia dell’arte und erscheint als moderner Scapin, der dem jungen Arbeiter Antoine und seiner farbigen afrikanischen Freundin Fenda sowie der Chemiestudentin Sabine und dem Terroristen Alexandre durch eine Intrige dazu verhilft, ihre Liebesbeziehung trotz familiärer und politischer Widerstände zu realisieren. Einige der Figuren, die hier eingeführt werden, kehren in den anderen Stücken der Tetralogie wieder, so z.B. der Vorarbeiter Albert Moustache, Antoines Vater, der Sozialarbeiter Rhubar- 565 Badiou 2010: 13, Préface. 566 Die Zitate aus den Stücken sind den Einzelausgaben der Dramen entnommen. 567 Badiou 2010. 568 Badiou 2010: 7-8, Préface. 299 be, der Mitglied der Gewerkschaft aller Arbeiterinnen und Arbeiter ist, und Madame Pompestan, Abgeordnete des konservativen Parti républicain pour le rassemblement et le redressement de la France und Gattin des Generaldirektors der Firma Capitou-Nuclée. Hinzu kommen Camille, ein junges Mädchen aus der Banlieue, und Sabines Vater Lanterne, Bürgermeister von Sarges-les-Corneilles und Mitglied des Parti de la qualité communiste française. Im großen Hof der Vorstadtsiedlung treffen Antoine, Camille und Ahmed aufeinander. Antoine erzählt Ahmed, sein Vater wolle mit Unterstützung von Madame Pompestan seine bei Capitou-Nuclée arbeitende Freundin Fenda, die falsche Papiere habe, ausweisen lassen. Sein Freund Alexandre, ein Terrorist der Gruppe Passion oblique, laufe Gefahr, von Rhubarbe an Lanterne verraten zu werden. Er, Camille und Fenda hätten zudem Alexandre mit dem Verkauf von in der Firma Capitou-Nuclée gestohlenen elektronischen Teilen finanziell unterstützt. Antoine bittet Ahmed, ihnen mit einem Komplott zu helfen. Ahmed lässt sich nicht lange bitten und übernimmt als meneur de jeu die Regie in der Intrige. Mit einem Rollenspiel, in dem Ahmed Moustache mimt, bereitet er Antoine auf die Konfrontation mit seinem Vater Moustache vor. Als Moustache erscheint, behauptet Ahmed, Fendas Familie bedrohe Antoine, wenn er mit ihr breche, und versucht den Vorarbeiter davon abzubringen, die Afrikanerin des Landes zu verweisen. Er erzählt Moustache, Sabine habe noch Schlimmeres als sein Sohn begangen. Moustache denunziert darauf Sabine bei Madame Pompestan, damit sie ihren politischen Gegner Lanterne ausschalten kann. Da Moustache nichts Konkretes weiß, weigert sie sich, im Gegenzug Fenda auszuweisen. Sie erkundigt sich bei dem Gewerkschafter Rhubarbe, der sich von Lanterne die Bewilligung eines Büros für seine animation sociale et culturelle erhofft, nach Sabine, doch Rhubarbe schweigt. Nachdem Madame Pompestan Sabine bei Lanterne angeschwärzt hat, stellt dieser seine Tochter zur Rede. Sabine spielt die Unschuldige und informiert Alexandre über Ahmeds vermeintlichen Verrat. Alexandre bedroht Ahmed mit einer Pistole, aber der junge Algerier redet sich heraus, indem er dem Terroristen von seinen subversiven Streichen erzählt. Inzwischen haben die Polizei und der Gerichtsvollzieher bei Antoine gestohlene Gegenstände beschlagnahmt. Wieder lässt Ahmed, nachdem er Alexandre eine Lektion erteilt hat, sich von den jungen Leuten, die nun eine Summe von 10 000 Francs aufbringen müssen, dazu bewegen, ihnen aus ihrer misslichen Lage zu helfen. Dank einer List will er das Geld beschaffen. Mithilfe von Camille, die sich als afrikanischer Cousin Fendas verkleidet, ringt Ahmed dem eingeschüchterten Moustache 5000 Francs ab. Lanterne erzählt er, Sabine sei in der Hand der Terroristen von Passion oblique, die vorhätten, das Gewerkschaftshaus zu sprengen, und 5000 Francs Lösegeld verlangten. Der Bürgermeister lässt sich täuschen und 300 zahlt. Ahmed gibt Antoine und Sabine das Geld. Er verpflichtet Rhubarbe, Alexandre und Sabine nicht bei Lanterne zu denunzieren, und überzeugt ihn davon, dass er die Stimmen der Jugendlichen und der Immigranten nutzen muss, um bei den Gemeindewahlen für den Parti démocratique socialiste zu kandidieren und Bürgermeister zu werden. An Madame Pompestan will Ahmed sich rächen und macht sie daher glauben, eine Bande von Terroristen und Jugendlichen trachte ihr nach dem Leben. Im Kofferraum ihres Autos versteckt übersteht sie den fiktiven Angriff, den Ahmed ihr durch die Zerstörung des Wagens und das Spiel der Rollen von vier bis fünf Personen vorspiegelt. Als sie unvermittelt den Kofferraum öffnet und Ahmeds Spiel durchschaut, läuft sie ihm schimpfend hinterher. Nichtsahnend erzählt Fenda dem ihr unbekannten Moustache in einer mise en abyme die Intrige Ahmeds, deren Opfer er geworden ist. Wütend wünscht Moustache allen die Todesstrafe. Kurz darauf wird er von Monsieur Pompestan, der erfahren hat, dass der Vorarbeiter aus dem Fenster auf arabische Kinder schießt, entlassen. Rhubarbe wird von seiner Partei nach seiner Wahlrede verlacht. Durch Ahmeds Ränkespiel ist Madame Pompestan zum Gespött der Öffentlichkeit geworden und Lanterne seines Amtes als Bürgermeister enthoben. Die Väter stehen Antoine, Fenda, Sabine und Alexandre nun nicht mehr im Wege. Alexandre gibt den Terrorismus auf und will die Politik neu erfinden. Rhubarbe und Lanterne trennen sich von ihren politischen Vereinigungen, Moustache flüchtet sich in Drogen, Madame Pompestan lässt sich mit Rhubarbe ein. Lanterne, Moustache, Madame Pompestan und Rhubarbe verfolgen Ahmed, der von den Behörden ausgewiesen werden soll. Schließlich verzeihen ihm doch alle und wollen eine neue Politik begründen. Ahmed bietet sich dabei als Schatzmeister an und bleibt mit Alexandres Koffer zurück, ehe auch er sich den anderen, die die Bühne verlassen, anschließt. Ahmed philosophe besteht aus 22 an Kinder und Erwachsene gerichteten, von Alain Badiou als „saynètes“ 569 und „Vingt-deux petites pièces“ 570 bezeichneten Szenen, die mit philosophischen, politischen, religiösen und literarischen Begriffen wie Le rien, Le sujet, L’infini, Le langage, La vérité, La philosophie, La morale, La politique, La nation, La société, Dieu und La poésie überschrieben sind, welche die dramatischen Figuren miteinander erörtern. Ahmed ist nun ein Philosoph und „maître de la langue française“ (AP, 18), der einzelne Begriffe der französischen Sprache kritisch durchleuchtet und Kinder und Erwachsene die Philosophie lehren will. Fenda, Moustache, Rhubarbe und Madame Pompestan tauchen als Gesprächspartner Ahmeds wieder auf. Häufig wendet sich Ahmed auch wie ein orientalischer Ge- 569 Badiou 2010: 22, Préface. 570 Badiou 2010: 163. 301 schichtenerzähler (AP, 27) direkt an sein Publikum, das er durch Improvisationen, narrative Passagen und Reflexionen über die eigene Rolle einbezieht. Ahmed se fâche, eine „Comédie en quatre mouvements” (ASF, 103), knüpft an Ahmed le Subtil, den ersten Teil der Tetralogie, an und zeigt, wie Ahmeds Double La Doublure den Applaus des Publikums für die Aufführung von Ahmed le Subtil entgegennimmt. Ahmed selbst sitzt im Zuschauerraum, erhebt sich und will den Applaus verhindern. Ein Zuschauer mischt sich ein, und es entspinnt sich ein Streit zwischen Ahmed und La Doublure um die Rolle des Ahmed. Der anwesende Theaterkritiker Pierre Bétilarion hält das Stück Ahmed le Subtil für nicht modern genug. Ahmed schiebt die Schuld seinem Double zu und diskutiert mit La Doublure über die Interpretation seiner Rolle. Die Zuschauer fragen Bétilarion nach seiner Meinung über das Stück. Der Kritiker nennt das von Ahmed vertretene Theater ein „théâtre du désir et de l’idée“ (ASF, 111) und fordert stattdessen ein „théâtre du corps sacré et de la compassion“ (ASF, 111). Als Bétilarion das zu spielende Stück Ahmed se fâche im Vorhinein als aufgewärmten Brecht bezeichnet, applaudieren einige Zuschauer und wollen gehen. Ahmed hindert sie daran und widerspricht dem Kritiker. Bétilarion verschärft seine Kritik, worauf Ahmed ihn erschießt und den Schauspielern die Anweisung gibt, mit dem Stück von vorn zu beginnen. Die Schauspielerin Camille wiederholt die letzten Sätze von Ahmed le Subtil, da erscheint der wiedererstandene Kritiker und behauptet, das Stück sei nun noch schlechter als zuvor. Ahmed schießt erneut, verfehlt Bétilarion zunächst, doch nach einem Feuergefecht mit La Doublure gelingt es ihm, beide Widersacher zu töten. Im zweiten Teil (Deuxième mouvement) von Ahmed se fâche stellen Ahmed und Camille fest, der Weg sei nun frei für das Ideentheater. Während Camille dem toten Bétilarion beipflichtet und meint, das Theater sei heute weder tragisch noch komisch und voller Weltschmerz, vertritt Ahmed weiter eine idealistische Konzeption des Theaters. Komödie und Tragödie seien so lebendig wie bei den Griechen. Bei seinen Ausführungen stolpert er über L’homme-araignée, einen Hausbesetzer, der sich für Spiderman hält. Er und Camille werden zu Bühnenzuschauern, denen Ahmed eine Tragödie vorspielt, in der er abwechselnd die Rolle des Regisseurs und des Schauspielers übernimmt. Da die Bühnenzuschauer mehr Interesse für das zerrissene Kostüm des Spinnenmanns zeigen, spielt Ahmed die anschließende Komödie ohne Zuschauer. Darin versucht er vergeblich La Doublure zu töten. Der dritte Teil des Stücks beginnt mit einem Streit zwischen Ahmed und dem wiedererstandenen La Doublure über ihre Identität als Araber, in welchen Camille und ein Zuschauer verwickelt werden. Er wird unterbrochen durch den Auftritt eines Mörders, Le Tueur, der Ahmed auffordert, 302 das besetzte Haus zu verlassen. Der Zuschauer denunziert den richtigen Ahmed (genannt Ahmed titulaire), doch diesem gelingt es mithilfe des Spinnenmanns, den Mörder und sein Double zu überwältigen. Plötzlich betritt die Schauspielerin Elizabeth Chaminade in der Rolle der Athena die Bühne und rezitiert Verse aus Aischylos’ Eumeniden. Sie hat sich im Stück geirrt. Ahmed, La Doublure, Le Tueur und Camille übernehmen als antiker Chor die Repliken, der Spinnenmann wird zum Bühnenzuschauer. Als Athena abgeht, verlangt Ahmed die Fortsetzung seines Stücks Ahmed se fâche. Zu Beginn des vierten Teils von Ahmed se fâche sitzt Camille auf dem Dach. Ahmed klettert wie Romeo zu ihr hinauf, fällt hinunter und scheint tot zu sein. Alle trauern um ihn, da erhebt er sich und verkündet, mit ihm werde das Theater ewig stattfinden. Von Athena geführt verlassen die Schauspieler in einem Zug zu Ehren des Theaters die Bühne. Das letzte Stück der Tetralogie, Les Citrouilles, ist eine von Aristophanes’ Komödie Die Frösche (405 v. Chr.) inspirierte Komödie in drei Akten. Handlungsort ist zunächst Sarges-les-Corneilles. Von hier aus unternehmen Ahmed, Madame Pompestan, inzwischen Kulturministerin Frankreichs, und La Doublure, nun Ahmeds Hausangestellter, eine Reise in das Inferno des Theaters. Der Zugang zum Verbindungstunnel liegt in Sarges-les- Corneilles, Rhubarbe ist der Pförtner. In der Unterwelt des Theaters wollen sie Claudel und Brecht aufsuchen, um ein Mittel gegen die Krise des Theaters zu finden. Auf die Frage Madame Pompestans, worin diese Krise bestehe, antwortet Ahmed mit einer botanischen Parabel, in der er die dramatischen Werke, das Publikum, die Theaterleute, den staatlichen Kulturapparat und die Theaterkritik mit fünf Bäumen verschiedener Größe vergleicht, deren Zustand er analysiert. Rhubarbe gibt Ahmed, der in der Theaterhölle Scapin treffen möchte, eine Wegbeschreibung des Infernos, dann verschwinden alle im Tunnel. In der Unterwelt begegnen ihnen der Chor der Arbeiter des Theaters und die Schauspielerin Sarah Bernhardt, die sie mit einem Traktor durch das Feld der Kürbisse fährt. Der Chor der Kürbisse verlangt von Madame Pompestan Geld für das Boulevardtheater. Die Hölle des Theaters ist in vier Höllenkreise unterteilt. Ahmed fragt nach Scapin und wird an den Lautsprecher verwiesen, durch den Corneille Mitteilungen der Verwaltung an die vier Kreise weiterleitet. Im Kreis der Doubles und Dämonen trifft Ahmed seinen Dämon, der seine Wut über die soziale Misere in der Banlieue in einer Art Rap artikuliert und ihn und Madame Pompestan attackiert. La Doublure, den die Kürbisse zermalmt haben, taucht als Double Pirandellos wieder auf. Durch ein Rollenspiel mit Zitaten aus Pirandellos Dramen entlocken Ahmed und die Kulturministerin ihm den Aufenthaltsort von Claudel. Der Chor der Arbeiter des Theaters informiert Ahmed darüber, dass an jenem Abend in der Theaterhölle Les Citrouilles gespielt 303 wird, und bereitet das Bühnenbild für den dritten Akt vor. Ahmed wendet ein, Alain Badiou, der Regisseur Christian Schiaretti und er seien noch nicht tot, das Stück werde im Diesseits gespielt, aber die Bühnenarbeiter fordern ihn auf, sich für seine Rolle vorzubereiten. Im dritten Akt finden Ahmed und Madame Pompestan endlich Brecht und Claudel. Die beiden Dramatiker streiten um den Thron des besten Autors des 20. Jahrhunderts, den die Riesen der Berge wählen, Figuren aus Pirandellos letztem Stück, die hier das Publikum und das Nicht-Publikum verkörpern. Der Chor der Riesen der Berge und Claudels Kammerzofe erläutern die Hintergründe des Dichterstreits. Brecht und Claudel geben Plädoyers ab für ihre Dramen- und Theaterkonzeption und zitieren Passagen aus ihren Stücken. Der Chor der Riesen der Berge begrenzt den Vergleich der Autoren auf die Art der Dramenexposition und des Dramenschlusses und verlangt das Vorspielen einer Szene nach Wahl. Brecht wählt Szene 3 aus dem Leben des Galilei, Claudel Szene 10 (Dritter Tag) aus Le soulier de satin. Brecht, Madame Pompestan, Claudel und Ahmed spielen die Szenen. Bei der anschließenden Wahl kommt es zur Stimmengleichheit. Ahmed, der sich enthalten hat, schlägt wie die Römer in Krisenzeiten ein Triumvirat für den Thron vor: Brecht, Claudel, Pirandello. Die Kulturministerin, die nun das Theater liebt, will sich dafür einsetzen oder, falls Chirac sie ärgert, selbst Schauspielerin werden. Als Ahmed nach Scapin fragt, antwortet Brecht, Ahmed selbst sei Scapin, Scapin stecke in seiner Maske. Zum Schluss fordert der Chor das Publikum auf, diejenigen, die nicht ins Theater gehen, dorthin zu bringen. 5.8.3.2 Die polymorphe metatheatrale Struktur der Tétralogie d’Ahmed In seinem Ahmed-Zyklus spielt Alain Badiou mit mehreren Formen des Metatheaters. Schon die einzelnen Dramen enthalten Kombinationen aus verschiedenen Typen des Metatheaters. So zeigt der erste Teil der Tetralogie, Ahmed le Subtil, Elemente des adaptiven, figuralen und episierenden Metatheaters, das zweite Stück, Ahmed philosophe, kombiniert Charakteristika des episierenden und des adaptiven Metatheaters, das dritte Drama, Ahmed se fâche, weist Merkmale des adaptiven, episierenden, figuralen, fiktionalen und thematischen Metatheaters auf, während der vierte und letzte Teil des Zyklus Formen des adaptiven, episierenden, figuralen und thematischen Metatheaters beinhaltet. Die genannten Formen werden in allen vier Stücken von einem für das diskursive Metatheater typischen metatheatralen Diskurs begleitet, der durch Theatermetaphern und Fachtermini aus dem Theaterbereich, die in den Repliken der dramatischen Figuren erscheinen, gekennzeichnet ist (siehe 5.8.3.7). Diese polymorphe metatheatrale Struktur verleiht Alain Badious Tetralogie einen hohen Grad an Metaisierung und ist für den Rezipienten 304 aufgrund ihrer Komplexität nicht leicht durchschaubar. Daher soll hier zunächst ein kurzer Überblick über die in den einzelnen Dramen der Tetralogie auftretenden Formen gegeben werden, ehe in einem zweiten Schritt (siehe 5.8.3.3 bis 5.8.3.8) der Dramenzyklus als Ganzes im Hinblick auf die verschiedenen Typen des Metatheaters näher untersucht wird. Ahmed le Subtil trägt Züge des adaptiven Metatheaters, da der Dramentext intertextuell auf Molières Les Fourberies de Scapin referiert (siehe 5.8.3.3.1). Gleichzeitig sind in diese Farce in drei Akten mehrere Rollenspiele integriert, in denen die dramatischen Figuren Ahmed und Camille jeweils eine bzw. mehrere weitere Identitäten annehmen. Zu diesen Formen des figuralen Metatheaters kommen Elemente des episierenden Metatheaters, die auch für Molières Dramen typischen apartés, welche dem Publikum durch das Beiseitesprechen der dramatis personae Einblick in die Gedanken Moustaches und Ahmeds geben. In dem Stück Ahmed philosophe stehen Techniken des episierenden Metatheaters im Vordergrund, denn das ad spectatores nimmt hier einen großen Raum ein, wenn Ahmed wie ein Lehrmeister der Sprache und der Philosophie seine Worte direkt an das Publikum richtet. Dabei fällt er gelegentlich aus der Rolle und reflektiert ex persona über seine Maske und seine Rolle als Ahmed, wie z.B. im zehnten saynète, überschrieben Le sujet (1). Merkmale des adaptiven Metatheaters finden sich in Ahmed philosophe insofern, als die Figur Ahmed als moderner Scapin in diesem Drama weiterlebt und in die neunte Szene (La poésie) ein Gedichtvortrag eingelagert ist, der als szenische Lesung und zweite Fiktionsebene interpretiert werden kann: Ahmed rezitiert in einer „improvisation de lecture“ (AP, 45) laut die beiden letzten Verse des Gedichts Le vin des chiffonniers aus Baudelaires Gedichtsammlung Les Fleurs du Mal und wendet sich anschließend Beifall heischend an das Publikum. Die Komödie Ahmed se fâche weist Charakteristika des adaptiven Metatheaters auf, denn auch darin taucht Ahmed als „Scapin vulgaire“ (ASF, 109) wieder auf und stellt so den intertextuellen Bezug zu Molières Farce her. Außerdem wird zu Beginn in einer „Theater im Theater“-Sequenz der erste Teil der Tetralogie Badious, Ahmed le Subtil (F2a), gespielt und am Schluss ein Auszug aus Aischylos’ Eumeniden (F2b). Badiou zitiert als Prätext zunächst sein eigenes Werk und greift dann auf einen griechischen Dichter der Antike zurück. Auf diese Weise verbindet er die Stücke seines Ahmed-Zyklus untereinander, verknüpft sein Drama aber zugleich mit der Tradition der griechischen Klassiker. Episierende metatheatrale Formen treten in Ahmed se fâche an den Textstellen auf, wo Ahmed die „vierte Wand“ durchbricht, als Regiefigur der Lichtregie und den Theatertechnikern Kommandos erteilt, die Rollen der anderen Schauspieler kommentiert oder sich mit einer Publikumsadresse 305 wie „Mesdames, messieurs! Rideau! “ an die Zuschauer wendet (ASF, 119- 123). Figurale und fiktionale metatheatrale Techniken zugleich setzt der Autor ein, wenn Ahmed als „Theater im Theater“ eine auf einen real nicht existierenden Prätext verweisende Tragödie (F2c) spielt, in der er in einer Doppelrolle einen metteur en scène und einen acteur tragique mimt (ASF, 130). Die vierte Theatereinlage (F2d), Ahmeds Komödie, in der er versucht, La Doublure zu töten, ist rein fiktional. Zu den Formen des thematischen Metatheaters, die in diesem dritten Teil der Tetralogie zu erkennen sind, gehören die Reflexion über das Theater allgemein, die Kritik am zeitgenössischen Theater, die Persiflage auf Theaterkritiker wie Bétilarion und die damit einhergehende autocritique des Stücks Ahmed se fâche: Pierre Bétilarion: [....] ‘Ahmed se fâche, ou quand le vide fait le plein.’ […] Le vide complet et total sur la scène fait le plein dans la salle. […] spectacle qu’on dirait du Brecht réchauffé… Didactique, volontariste, raide… […] Théâtre artisanal, théâtre traditionnel … Gros effets simples… Les femmes absentes. […] Banlieue invraisemblable. Nous fait croire qu’il y a là de la ressource, de la force, du désir maîtrisé. Alors qu’on espère l’impasse, la haine, le cul-de-sac de l’existence. Spectacle à fuir. Trouver pour l’article une chute féroce. La formule qui tue. Dans le genre: ‘Un Ahmed plus fâcheux que fâché.’ [...] J’ai pour moi le droit de l’opinion. J’ai dit que ce spectacle était théâtralement archaïque et politiquement dangereux. (ASF, 113-115). Badiou analysiert hier selbstironisch seine Komödie und attackiert gleichzeitig literarisch die Theaterkritiker, die sein Stück Ahmed le Subtil schlecht rezensiert hatten: Pourquoi ne pas faire monologuer Ahmed, furieux, contre les critiques qui n’avaient pas su voir sa nouveauté littéraire et scénique? Ce fut la première idée d’Ahmed se fâche. 571 Alain Badiou: Dans une première version, le critique, qui s’appelait ‚Long Kabuki’, jeu de mot évoquant ‚courtNo’, était clairement le critique du Monde qui avait éreinté Ahmed le subtil. La pièce est du reste écrite comme une revanche, un peu comme La critique de l’école des femmes de Molière, ou La sortie du Revizor de Gogol. Mais je me suis éloigné peu à peu de cet esprit de revanche, pour une poétique plus générale. Du coup, Bétilarion est devenue [sic] une [sic] critique d’aujourd’hui, avec tous ses tics, mais sans allusion à une personne précise. 572 571 Badiou 2010: 16, Préface. 572 Alain Badiou in einer E-Mail an mich vom 02.03.2002 im Anschluss an ein Gespräch , das ich mit ihm am 23.01.2002 in Heidelberg geführt habe. Der Kritiker Michel Cournot schrieb am 27.07.1994 in Le Monde eine Kritik mit dem Titel Parce que ce n’était pas drôle zur Aufführung von Ahmed le Subtil beim Festival d’Avignon, vgl. Cournot 1994. 306 Im letzten Teil der Tetralogie, Les Citrouilles, fallen zunächst die adaptiven Formen des Metatheaters ins Auge, denn das Stück basiert auf Aristophanes’ Komödie Die Frösche (siehe 5.8.3.3.2), beinhaltet Zitate aus Stücken von Brecht, Claudel, Pirandello und verweist auf eine Aufführung von Sophokles’ Antigone in der Hölle. Die Hauptfigur Ahmed, die sich in der Hölle auf die Suche nach Molières Scapin, ihrem literarischen Pendant, begibt, setzt die „Ahmed-Chronik“ fort und stellt auch in diesem Drama den intertextuellen Bezug zu Molières Les Fourberies de Scapin her. Zu den episierenden Elementen in Les Citrouilles zählen die Publikumsadresse, die Ankündigung des dritten Akts durch die Regiefigur Ahmed (ASF, 61) sowie die Chöre, die in diesem Stück das Geschehen kommentieren (siehe 5.8.3.4). Merkmale des figuralen Metatheaters trägt das Drama Les Citrouilles insofern, als darin eine Aufspaltung der Figur Ahmed in zwei Figuren, d.h. eine Doppelrolle, angelegt ist: Ahmed trifft seinen Dämon, der in der Inszenierung von demselben Schauspieler, Didier Galas, gespielt wird (siehe 5.8.3.5). Formen des thematischen Metatheaters nehmen im Schlussteil der Tétralogie d’Ahmed einen wichtigen Raum ein, da nun die Kulturpolitik Frankreichs, die Krise des französischen Theaters, die Konkurrenz zwischen théâtre privé und théâtre public, der Kampf um das Publikum und die Frage nach möglichen Wegen aus der Theaterkrise thematisiert werden (siehe 5.8.3.8). Der vierte Teil des Ahmed-Zyklus mündet somit in einem Fazit des Autors. 5.8.3.3 Formen des adaptiven Metatheaters in der Tétralogie d’Ahmed 5.8.3.3.1 Intertextuelle Bezüge zu Molières Farce Les Fourberies de Scapin Alain Badious 1984 entstandenes Stück Ahmed le Subtil - Scapin 84 verweist bereits im Untertitel auf Molières Les Fourberies de Scapin. In einem Interview mit der Zeitschrift Théâtre/ Public erklärt Badiou, bei seiner „réécriture“den „canevas d’intrigue“ 573 von Molière übernommen zu haben. In dieser Transformation 574 , die eine Form des adaptiven Metatheaters dar- 573 Badiou/ Boiron 1996: 56. 574 Genette 1982: 13. „ [...] hypertextualité. J’entends par là toute relation unissant un texte B (que j’appellerai hypertexte) à un texte antérieur A (que j’appellerai, bien sûr, hypotexte) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du commentaire. […] posons une notion générale de texte au second degré […] ou texte dérivé d’un autre texte préexistant. Cette dérivation peut être soit de l’ordre, descriptif et intellectuel, où un métatexte (disons telle page de la Poétique d’Aristote) ‘parle’ d’un texte (Œdipe Roi). Elle peut être d’un autre ordre, tel que B ne parle nullement de A, mais ne pourrait cependant exister tel quel sans A, dont il résulte au terme d’une opération que je qualifierai, provisoirement encore, de transformation, et qu’en conséquence il évoque plus ou moins manifestement, sans nécessairement parler de lui et le citer.” 307 stellt, überträgt Badiou den Stoff Molières, der wiederum auf Terenz’ Komödie Phormio (161 v. Chr.) und Tabarins 575 Farce Le jeu du sac zurückgeht, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der fiktiven Vorstadtsiedlung Sarges-les-Corneilles Ende des zweiten Jahrtausends. Parallelen zwischen Hypertext und Hypotext, d.h. Prätext, zeigen sich zunächst auf der Ebene der Figurenkonstellation: Die Hauptfigur Ahmed, die die vier Dramen leitmotivisch verbindet, gibt sich nicht nur durch ihre Maske als modernes Pendant Scapins zu erkennen, einer Figur, die Molière aus der Commedia dell’arte 576 entlehnt hat. Wie Scapin ist Ahmed ein meneur de jeu, eine Regiefigur, die die Fäden der Intrige in der Hand hält und die Figuren wie Marionetten agieren lässt. Er erinnert mit seiner Maske 577 an ein „personnage en bois“ 578 , wie Badiou ihn bezeichnet, und steht damit in der Tradition der auf bestimmte Typen festgelegten Figuren der italienischen Komödie wie Scapino und Arlecchino. Dies zeigt sich auch in seinem Spiel, das reich ist an Improvisationen und Spieltechniken ähnlich den Lazzi. Gleich Scapin hat Ahmed, der sich mit der Polizei und der Justiz angelegt und im Gefängnis gesessen hat, eine kriminelle Vergangenheit. Doch Ahmed ist keine Dienerfigur mehr wie Scapin, sondern ein politisch interessierter junger Algerier, den Moustache als „un Arabe [...] très fortement assimilassionné“ bezeichnet (ALS, 28) und dem die Ausweisung droht. Badiou beschreibt Ahmed als „le prolétaire du Sud”, sieht in ihm „un personnage ‚diagonal’“ und charakterisiert ihn genauer im Vorwort zur Gesamtausgabe seines Dramenzyklus: Disons que l’œil du prolétaire du Sud voit loin. […]. Au théâtre, c’est le référent réel de ce que j’appelle un personnage ‘diagonal’. Il est une condition majeure de la comédie, depuis toujours. […] Alors, libéré en même temps qu’à nouveau asservi, le prolétaire du Sud peut et doit, sur la scène et sous l’éternité du masque, faire valoir le devenir-farce du monde, traverser tous les milieux en les dévastant de sa ruse, retourner contre leurs utilisateurs naturels tous les lan- 575 Gleichnamige Truppe von Farcenspielern, zu der Jean Salomon und Philippe Girard gehörten. Vgl. Georges Forestier in Corvin 1995: 871. 576 In der Commedia dell’arte gibt es die zu den Zanni gehörende maskierte Figur Scapino, auch Scappino geschrieben, vermutlich abgeleitet von italienisch scappare ‚davonlaufen, weglaufen’. Ähnlich Scapino, der ein Kurzschwert aus Holz trägt, hat Ahmed einen Stock, den er immer wieder einsetzt. In der Commedia dell’arte trägt allerdings Arlecchino den Stock. 577 Für Christian Schiarettis Inszenierung wurde Ahmeds Maske von Erhard Stiefel angefertigt. Stiefel 1996: 65. „Ahmed est un personnage issu de Scapin. Donc il a quelque chose d’Arlequin. En même temps, c’est un jeune Maghrébin. J’ai pensé à un masque entre la commedia dell’arte et le théâtre balinais.” 578 Badiou/ Boiron 1996: 53. 308 gages disponibles. C’est cet effet qui est ‘diagonal’, au sens où la diagonale du carré n’est pas commensurable à son côté. 579 Ahmed besitzt eine hohe sprachliche Kompetenz und Sensibilität, sein Name ist ein im maghrebinischen Raum verbreiteter Name, sein Beiname, le Subtil, steht für Einfallsreichtum und Scharfsinn, den er einsetzt, um wie Scapin zwei jungen Paaren zu helfen, die sich gegen ihre Väter durchsetzen müssen. Zugleich nutzt er seine sprachlichen Fähigkeiten, um den Diskurs der Politiker und der Wirtschaft zu hinterfragen und zu dekonstruieren. 580 Bei Molière widersetzen sich die Väter Argante und Géronte der Verbindung ihrer Söhne Octave und Léandre mit Hyacinte und der für eine Ägypterin gehaltenen Zerbinette, zwei Frauen ungeklärter Herkunft. Argante und Géronte finden in Badious Version des Stoffes ihre Entsprechung in Moustache, dem rassistisch eingestellten Vorarbeiter der Firma Capitou-Nuclée, und dem kommunistischen Bürgermeister Lanterne. Beide werden zum Spielball ihrer beruflichen und politischen Ambitionen und büßen dadurch gegenüber Argante und Géronte an väterlicher Autorität ein. Moustaches Karriere ist abhängig von der konservativen Abgeordneten Madame Pompestan, der Frau seines Chefs; Lanterne will wiedergewählt werden, kämpft aber gegen den Gewerkschafter Rhubarbe und seine Kontrahentin Pompestan. Moustaches Sohn Antoine und Lanternes Tochter Sabine, die an die Stelle von Octave und Léandre treten, lieben wie in Molières Drama zwei von der Gesellschaft Ausgeschlossene: Antoine die illegal eingewanderte afrikanische Arbeiterin Fenda und Sabine den linksextremistischen Terroristen Alexandre. Den Part der zweiten Dienerfigur Molières, Silvestre, übernimmt in Ahmed le Subtil Camille, ein junges Mädchen, das einer der typischen Jugendbanden der Banlieue angehört. Bei Badiou erhalten die Figuren und der Konflikt damit zusätzlich eine politische Dimension. Badious Farce besteht wie Molières an die Farce angelehnte Intrigenkomödie aus drei Akten. Ein Vergleich der Handlungsstruktur der beiden Dramentexte zeigt, dass Alain Badiou die wesentlichen Elemente der Intrige des Hypotextes (= Prätextes) übernimmt. Scapins ebenso wie Ahmeds Ränkespiel wird dadurch ausgelöst, dass Octave bzw. Antoine sich hilfesuchend respektive an Scapin und Ahmed wenden, nachdem sie in der Eröffnungsszene durch Nebenfiguren darüber informiert worden sind, dass ihre Väter ihren Liebesbeziehungen im Wege stehen. Mit einer Lügengeschichte erpresst Ahmed von den beiden Vätern je 5000 Francs für Antoine, 579 Badiou 2010: 18-19, Préface. 580 „Car Ahmed, diagonal, montre par la pure énergie théâtrale que ce qu’on nous déclare être la nécessité du réel (l’économie de marché, les élections, les droits de l’homme, la gauche et la droite, la mondialisation financière…) peut être vu et démonté comme un pur discours.“ Badiou 2010: 19, Préface. 309 Fenda, Alexandre und Sabine und folgt so Scapins Beispiel, der bei Géronte und Argante Geld und Pistolen für Léandre und Octave besorgt. Auch das Thema des Verrats, das die Intrige strukturiert, findet sich in beiden Dramen: Wie Léandre glaubt Alexandre sich zuerst von dem modernen Scapin verraten. Zerbinette und Fenda verraten jeweils unwissentlich dem Vater ihres Geliebten in einer mise en abyme eines Teils der Dramenhandlung, wie Scapin beziehungsweise Ahmed ihn überlistet haben (Molière: III,3; Badiou: III, 4). Die bekannte Szene III,2, in der Géronte von Scapin in einen Sack gesteckt, durch ein Rollenspiel getäuscht und mit einem Stock verprügelt wird, erscheint in Ahmed le Subtil in abgewandelter Form: Madame Pompestan steigt in den Kofferraum ihres Mercedes, um vor einer von Ahmed in einem Rollenspiel simulierten multikulturell zusammengesetzten Jugendbande zu fliehen (III, 3), die ihr Auto demoliert. Beibehalten wird ebenfalls die Rehabilitation Scapins, denn wie er bittet Ahmed, den die Behörden ausweisen wollen, zum Schluss alle für sein Intrigenspiel um Verzeihung. Der Dramenschluss, in dessen Mittelpunkt bei Molière die Enthüllung der Identität Zerbinettes und Hyacintes steht, die anschließend von den beiden Vätern akzeptiert werden, steht bei Badiou unter politischen Vorzeichen. Lanterne muss sein Amt wegen angeblicher krimineller Kontakte niederlegen, Moustache wird, weil er mit der Schrotflinte auf arabische Kinder und Jugendliche schießt, entlassen, Rhubarbe wird von den Sozialisten nicht als Kandidat aufgestellt und Madame Pompestans Wahlkampagne wird nach ihrem lächerlichen Auftritt im Kofferraum nicht mehr finanziert. Nachdem Moustache und Lanterne beruflich und politisch gescheitert sind, versöhnen sie sich mit ihren Kindern, denn nun hat es für sie keine Relevanz mehr, wen Antoine und Sabine lieben (III, 6). Der Konflikt, der bei Molière innerfamiliär gelöst wird - Hyacinte und Zerbinette entpuppen sich als Gérontes beziehungsweise Argantes Tochter ist bei Badiou eng mit der Politik verknüpft und löst sich erst, als die Väter nicht mehr von wirtschaftlichen und politischen Interessen geleitet werden. Neben dem Happy-End der beiden Paare steht bei Badiou daher am Schluss auch der Vorschlag Alexandres im Vordergrund, gemeinsam über eine neue Politik nachzudenken. Badiou wählt die Farce als Dramenform, um an eine lange literarische Tradition anzuknüpfen, wie er in einem Interview mit Gilles Grandpierre in der Zeitung L’Union am 02.10.1995 erklärt: L’Union: Pourquoi la farce vous attire-t-elle à ce point? A. B.: C’est une attirance qui procède d’une ambition forte: créer un type comique contemporain, comme il existait autrefois Sganarelle, Arlequin ou Scapin. L’essentiel du comique théâtral a longtemps résidé dans le comique boulevardier, aujourd’hui usé. Il s’agit de renouer avec une longue tradition qui réconcilie les formes élémentaires du 310 comique et sa forme artistique. Ce qu’en leur temps avaient réussi Aristophane, Goldoni ou Molière… 581 Es ist seine Absicht, dieses komische Genre wiederzubeleben, allerdings mit Dramenfiguren, die den zeitgenössischen komischen Gestalten entsprechen: Quels sont les vrais types comiques de notre temps? Je soutiens que ce sont les parlementaires, spécialement les municipaux, les journalistes, les syndicalistes, animateurs sociaux, curés, laïques en tout genre; ce sont aussi les hommes ‘réactifs’, les costauds porteurs de moustaches et les femmes ‘libres’ du féminisme bourgeois. 582 Im Vergleich zu Molières Figuren wirken Badious dramatische Personen mit Ausnahme des vielschichtigen Ahmed und der jungen Leute wie typisierte Karikaturen, die der Autor wie folgt charakterisiert: Autour d’Ahmed, visages nus, les deux camps: la jeunesse, indolente et brimée, espérant toujours se tirer d’affaire à moindres frais, les minuscules notables, le maire communiste Lanterne, la députée réactionnaire Madame Pompestan, le contremaître fascisant Moustache, l’animateur culturel et syndical Rhubarbe, figures ramenées à leurs tics de langage, à leur énergie obtuse, à leur vision toujours mutilée de la situation, qui fait qu’Ahmed, seigneur de son propre désir, parvient à utiliser jusqu’au mépris que ces petits chefs sociaux lui vouent, pour les rouler dans la farine. 583 Sprachlich werden den Figuren entsprechende Stilebenen und ein bestimmtes Vokabular zugeordnet. 584 Badiou spricht im Zusammenhang mit seinen Charakteren von einer Poetik der Sprache, die er im Vorwort zur Gesamtausgabe seiner Tetralogie beschreibt: Même les notables ridicules sont d’abord caractérisés par leur jargon. En sorte que les corps doivent servir la langue, et non l’inverse. Soit une langue stéréotypée et restreinte, dont le comique est qu’elle est assénée avec d’autant plus de conviction qu’elle ne se rapporte à aucun réel (Lanterne, Pompestan, Rhubarbe), soit une langue pauvre et impuissante, qui se désole de cette impuissance sans en discerner l’origine (les jeunes), soit une langue brutale tout entière composée des déchets du ressentiment (Moustache), soit enfin la langue diagonale, celle qui jongle avec toutes les ressources et toutes les subtilités, celle qui maîtrise toutes les situations, la langue de l’intelligence anarchiste et volubile (Ahmed). C’est à cette poétique de la langue, toujours directe, mais aussi variée ou compo- 581 Grandpierre 1995. 582 Solis 1994. Alain Badiou, zitiert von René Solis in der Zeitung Libération vom 25.07.1994. 583 Badiou 2010: 12-13, Préface. 584 Coquelin 1996: 61. „Alors que dans Les fourberies les niveaux linguistiques sont peu distincts d’une catégorie de personnages à une autre, dans son écriture [celle de Badiou], chaque individu semble défini par une utilisation particulière des mots. Les dialectes des jeunes s’opposent à ceux de la députée conservatrice, du communiste, du syndicaliste ou du raciste.” 311 sée qu’un paysage, que j’ai rapporté finalement les types théâtraux, c’est bien ainsi que Christian Schiaretti et les merveilleux comédiens de Reims les ont créés. 585 Trotz dieser stilistischen Transformation sind Übereinstimmungen zwischen Repliken in den Fourberies de Scapin und Ahmed le Subtil deutlich zu erkennen: Antoine (arrêtant brutalement le transistor): Ah! Laisse tomber Majestous Brown Egg! Cause un peu, ne te fais pas tirer les vers du nez un par un! Je suis la proie de l’exaspération. (ALS, I,1, 8). Octave: Ah! Parle, si tu veux, et ne te fais point, de la sorte, arracher les mots de la bouche. (Fourberies, I,1, 898). Camille: Ne me fous pas le judiciaire et le pénitentiaire sur le dos! Ça chauffe déjà assez! Ahmed (lui fait une bise): Va! On partagera fity-fifty! Trois ans de Fleury-Mérogis [Staats- und Hochsicherheitsgefängnis in Fleury-Mérogis] de plus ou de moins n’arrêteront pas ton noble cœur. (ALS, I,5, 27). Silvestre: Je te conjure au moins de ne m’aller point brouiller avec la justice. Scapin: Va, va: nous partagerons les périls en frères; et trois ans de galère de plus ou de moins ne sont pas pour arrêter un noble cœur. (Fourberies, I,5, 910). Die Adaptation erfolgt in Badious Drama, wie der Vergleich dieser Zitate zeigt, also auch auf sprachlicher Ebene, denn der Autor transponiert Molières Repliken anhand von Anglizismen, Argotismen, idiomatischen Redewendungen und Lexik aus dem langage des jeunes in das français contemporain des ausgehenden 20. Jahrhunderts. 5.8.3.3.2 Intertextuelle Bezüge zu Aristophanes’ Komödie Die Frösche und zu Dramen von Brecht, Claudel und Pirandello Der vierte Teil der Tetralogie Badious lässt schon durch die Morphologie des Titels, Les Citrouilles, lautmalerisch anklingen, dass Bezüge zu Aristophanes’ Komödie Die Frösche (griechisch: Batrachoi, französisch: Les grenouilles) bestehen, die im Jahre 405 v. Chr. während des Lenäenfests in Athen uraufgeführt wurde. Einen expliziten Hinweis auf den Hypotext gibt Rhubarbe dem Zuschauer im Dialog mit Ahmed zu Beginn in Les Citrouilles: „Méfie-toi d’Eschyle et d’Euripide. Ils jouent pour l’éternité les Grenouilles d’Aristophane. Ils se disputent éternellement la couronne de l’Enfer.“ (LC, 22). Wieder handelt es sich bei Alain Badious Stück um die Transformation eines Hypobeziehungsweise Prätextes, um ein Metadrama, das adaptiv auf ein historisches Produkt seiner Gattung verweist 586 . Von dem griechischen Dichter, der sich nach dem Hinscheiden des Euripi- 585 Badiou 2010: 15, Préface. 586 Vgl. Vieweg-Marks 1989: 39. 312 des und des Sophokles Gedanken über die Zukunft der Tragödie macht, übernimmt Badiou den „canevas de construction“: A.B.: Dans Ahmed le subtil, il y a canevas au sens traditionnel: un canevas d’intrigue. Dans Les citrouilles, je dirais que c’est un canevas de construction. Je n’ai pas cherché, par exemple, à calquer les péripeties des Citrouilles sur les péripéties des Grenouilles. […] J’ai conservé une construction en deux volets. Il y a une espèce de premier volet picaresque dont l’enfer est le lieu et le prétexte. Et un deuxième volet, plus esthétique, qui porte sur le théâtre. 587 Nach dem Beispiel der Hadesfahrt des Theatergottes Dionysos und seines Dieners Xanthias, welche in Aristophanes’ Metadrama nach dem Tod der griechischen Tragiker Sophokles und Euripides aus der Unterwelt einen guten Dichter 588 heraufholen wollen, begeben sich Ahmed, sein Angestellter La Doublure und die Kulturministerin Pompestan in die Hölle des Theaters, um Bertolt Brecht und Paul Claudel zu konsultieren und einen Ausweg aus der Krise des Theaters zu suchen. 589 Eine Selbstreferenz findet sich zu Beginn des Dramas Les Citrouilles, denn die Bühnenarbeiter der Hölle teilen Ahmed mit, laut „Enféroscope“ 590 (II, 6, 59-60) werde an jenem Abend im Inferno das Stück Les Citrouilles gespielt, und raten ihm, sich zu schminken und für seinen Auftritt im dritten Akt vorzubereiten. Mit dieser Allusion verweist Badious Drama auf sich selbst im Moment der Inszenierung. Ahmeds Einwand, dass das Stück im Diesseits gespielt werde und er, der Autor, der Regisseur und die realen Zuschauer noch nicht gestorben seien, unterstreicht die Deixis und die Autoreferentialität und bricht die Illusion: Ahmed: Les Citrouilles? Mais c’est ma pièce, les Citrouilles! C’est là-haut, les Citrouilles! L’auteur Alain Badiou n’est pas mort! Le metteur en scène Christian Schiaretti n’est pas mort! Et moi, qui joue ici Les Citrouilles, je ne suis pas mort non plus! Et ces gens, là, qui regardent, ils sont bien vivants! (LC, 60). Die Hölle erinnert nicht nur an den Hades in den Fröschen, sondern auch an Dantes Inferno aus der Divina Commedia. Wie bei Dante gibt es in Les Ci- 587 Badiou/ Boiron 1996: 56. 588 Dionysos bevorzugt anfangs Euripides. 589 In den Fröschen klagt Dionysos ebenfalls über eine Krise des Theaters, insbesondere der Tragödie: „Dionysos: Ich brauche einen echten Dichter, denn die einen sind nicht mehr, die aber sind, sind schlecht. [...] Herakles: Gibt’s denn aber hier nicht übergenug andere Jüngelchen, die Tragödien machen - noch meilenweit geschwätziger als Euripides? Dionysos: Ja, geile Triebe - lose Mäuler, Schwalbenmusenhaine und Schandflecke für die Kunst! Die gleich wieder in der Versenkung verschwinden, wenn sie wirklich einmal einen Chor erwischt und die hehre Tragödie angepisst haben! Aber einen zeugungskräftigen Dichter, der eine anständige Zeile zustande brächte, den kann man suchen und findet doch keinen mehr! “ (Die Frösche, I, 2, 21- 23). 590 Anspielung auf den Pariser Veranstaltungskalender Pariscope, der an jedem Kiosk erhältlich ist. 313 trouilles eine Architektur der Hölle, einen „plan des enfers“(LC, 38), die sogenannten Höllenkreise. Während Dantes Inferno aus der Vorhölle und neun Höllenkreisen besteht, gibt es bei Badiou nur vier Höllenkreise: „le cercle des citrouilles de la culture“, „le cercle des doubles, des mimes, des imitations et des simulacres“, „le cercle du public et des metteurs en scène“ und „le cercle des auteurs et des poètes“ (LC, 38-39). Ähnlich Dante treffen Ahmed und sein Gefolge in der Hölle unter anderem auf Dichter und Dämonen. Eine stilistische Transformation nimmt Badiou auch in Les Citrouilles vor, indem er z. B. die derb-komische Ausdrucksweise des Xanthias in der Eingangsszene der Frösche bei dessen Pendant La Doublure in das francais familier und français vulgaire des 20. Jahrhunderts transponiert: Xanthias: Auch nicht, dass mir entweder jemand die Zentnerlast abnimmt, die ich da mit mir herumschleppe, oder - dass ich einen fahren lasse? (Die Frösche, I, 1, 16). La Doublure: Est-ce que je peux posément et explicitement chier sur la scène? […] Est-ce que je peux au moins pisser sur le premier rang de spectateurs? […] Quel est pour moi le gain, d’avoir à porter sur mon dos l’Ahmed titulaire, si je ne peux même pas faire rire les gens à l’ancienne, par le soulagement bénéfique de mes sphincters? (LC, I, 1, 8-10). Der Weg in die Hölle führt Ahmed, La Doublure und Madame Pompestan durch das Feld der Kürbisse, die wie der Chor der Frösche 591 des Unterweltsees bei Aristophanes ihren onomatopoetischen Gesang anstimmen. Sarah Bernhardt, die an den in Batrachoi auftretenden Fährmann Charon erinnert, welcher nach der griechischen Mythologie die Toten für einen Obolus über den Acheron setzt, geleitet die Expedition gegen Bezahlung mit dithyrambischen Komplimenten auf einem Traktor sicher durch das Feld der Kürbisse. In dem antiken Drama Batrachoi sind die Frösche Ureinwohner der Sümpfe eines alten Heiligtums des Gottes Dionysos, mit dem sie alljährlich das Chytrenfest 592 feiern. Die „citrouilles de la Culture” (LC, 21) in Alain Badious Komödie repräsentieren dagegen das schlechte, kommerzielle Theater, unter anderem das Boulevardtheater: Alain Badiou: Les Citrouilles représentent symboliquement le mauvais théâtre, démagogique, commercial, éloigné de toute pensée. Le théâtre qui rêve des gros succès du cinéma. 593 591 Der Frosch erscheint bei Dante, Angelus Silesius und Goethe als Bewohner der Hölle und ist zugleich „Symbol der Sünde und der Dämonen, der Lebensfreude und des Frühlings, der Prahlerei und der Dummheit, des Gestaltwandels sowie der Unreinheit und des Todes, aber auch der Unsterblichkeit.“ Butzer/ Jacob 2 2012: 135. 592 Das Chytrenfest (Topffest) gehörte zu dem im Frühling gefeierten Fest der Anthesterien und galt den Toten, denen man in Töpfen Speisen vorsetzte. 593 Alain Badiou in seiner E-Mail an mich vom 02.03.2002. 314 Im Inferno findet nach dem Vorbild der Frösche ein Agon, d.h. ein Dichterstreit, statt, in dem Bertolt Brecht und Paul Claudel wie Aischylos und Euripides um den Thron des besten Dramenautors ihres Jahrhunderts wetteifern. Im Streit zwischen Aischylos und Euripides (Die Frösche, IV, 4 - 6) geht es um den Vergleich der Prologe, der Chorlieder und zuletzt der Verse, deren Bedeutungsschwere die Dichter in einer Waage gegeneinander abwiegen. Beide zitieren dabei aus ihren Tragödien. Brecht und Claudels Disput beginnt wie jener der antiken Autoren mit gegenseitigen Vorwürfen. Sie kritisieren gegenseitig die Wahl der dramatis personae, den Stil und ihre Ästhetik: Brecht: Je ne laissais jamais rien d’inactif sur la scène. Et aux spectateurs, je montrais les ressorts de l’action, le dessous des cartes. Toujours formaliste, jamais réaliste! Pour ça, je créais une distance entre l’acteur et son rôle. L’acteur faisait voir son rôle, et le jeu social de ce rôle avec tous les autres, au lieu de glapir ses tourments psychologiques. Claudel: Et moi donc! Tu crois que tu es le propriétaire de ta fameuse distanciation? Espèce d’escroc! Au début de mon Soulier de satin, il y a un Annoncier qui dit, en montrant le décor: ‚On a parfaitement bien représenté ici l’épave d’un navire.’ Il n’est pas à distance, par hasard, celui-là? […] Il n’est pas épique et didactique, comme tu le dis dans ton jargon allemand? (LC, 83). Wie die antiken Dichter in ihrem Agon führen Brecht und Claudel Zitate aus ihren dramatischen Werken an, um einander zu übertrumpfen oder die Dichtkunst des Gegners in Frage zu stellen. Brecht zitiert zunächst in deutscher Sprache u.a. aus Rundköpfe und Spitzköpfe, der Dreigroschenoper, dem Kaukasischen Kreidekreis und der Heiligen Johanna der Schlachthöfe. Die Rolle des Übersetzers übernimmt dabei Ahmed, der Kopf der „délegation terrestre“ (LC, 86). Hinzu kommen im Laufe des Dichterstreits u.a. noch Passagen aus Baal, Die Mutter, Der gute Mensch von Sezuan, Mutter Courage und ihre Kinder, Leben des Galilei, Die Kleinbürgerhochzeit, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui und Im Dickicht der Städte. Die auf Claudel zurückgehenden Textstellen entstammen vor allem seinen Werken Le Soulier de satin, L’Otage, Partage de midi, Tête d’or, Jeanne d’Arc au bûcher, Le Repos du septième jour, La Ville, L’Annonce faite à Marie und der Schrift Mes idées sur le théâtre (1966). Verglichen werden wie bei Aristophanes die Prologe (LC, 92) und einzelne Verse, aber auch der Dramenschluss (LC, 96). Einige der Auszüge aus den Dramen der beiden Autoren werden im Finale des Künstlerstreits von Ahmed, Madame Pompestan, Brecht und Claudel mit verteilten Rollen als kurze „Theater im Theater“-Sequenzen in Szene gesetzt, z.T. sogar wie im epischen Theater unter Gitarrenbegleitung gesungen. Die Quellen dieser Zitate, die Alain Badiou als intertexte beziehungsweise interthéâtre mosaikartig in seinen Dramentext Les Citrouilles montiert, sowie den Grad deren Transformation (déformé = D oder très déformé = TD) gibt der Verfasser im Anhang an. Re- 315 zeptionsästhetisch betrachtet richten sich sowohl Aristophanes als auch Alain Badiou mit dieser Montagetechnik an ein Publikum, das Theatererfahrung und eine profunde Kenntnis dramatischer Werke besitzt. Der Chor, der wie in Aristophanes’ Drama das Geschehen kommentiert, fragt die konkurrierenden Dichter, wie sie glauben, über Shakespeare hinausgegangen zu sein, und stellt fest, dass es weniger Unterschiede zwischen Brecht und Claudel gibt als erwartet: Le Chœur: La cause est difficile. Nous comprenons peu à peu, que Brecht et Claudel, vus de loin et dans la sérénité de l’art établi, sont beaucoup moins différents qu’on ne pouvait le croire il y a cinquante ans. Car l’un et l’autre ont été les poètes épiques d’un grand récit de l’univers. (LC, 88). Beide Dramatiker des 20. Jahrhunderts stehen jeweils für eine bestimmte Theaterkonzeption: Claudel für ein christlich inspiriertes Theater, das bereits Techniken des epischen Theaters antizipiert, der vom Marxismus beeinflusste Brecht für das epische Theater, das den Zuschauer in Distanz versetzen, mit gesellschaftlichen Problemen konfrontieren und politisch aktivieren will. Ahmed kommt bei diesem „dramatischen Wettkampf“ ähnlich Dionysos in den Fröschen eine Schiedsrichterfunktion zu. Dionysos wählt schließlich Aischylos aufgrund der Frage, welcher Tragiker der Stadt, die politisch in Bedrängnis 594 ist, mit seiner Tragödie und seinem klugen Rat den größten Nutzen bringt. Die politische Funktion der Tragödie in der Antike spielt dabei eine wesentliche Rolle. Ahmed entscheidet sich weder für Claudel noch für Brecht. Er erklärt sie, als bei der Abstimmung im Inferno Stimmengleichheit eintritt, für ebenbürtig und fordert angesichts der Krisensituation des Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts die Bildung eines Triumvirats aus Brecht, Claudel und Pirandello, die dem Theater zu einem neuen Aufbruch verhelfen sollen: Ahmed: [...] C’est pourquoi il faut repartir, pour saisir à bras-le-corps la violence du monde, et la changer en pensée volubile, en manifestation saisissable, de Brecht et de Claudel. Déclarons-les égaux, soul l’œil universel du théâtre. […]. Saluons aussi le roi déchu, le grand Pirandello. […] Je vous propose, changeant en l’honneur de ce siècle terrible et fécond vos usages constitutionnels, d’élire un triumvirat, comme le formèrent en temps de crise les implacables Romains. Que soient mis sur le trône, quand l’époque vient à son achèvement, Brecht, Claudel, [sic] et Pirandello. (LC, 106). Intertextuelle Bezüge zu Pirandello finden sich in Les Citrouilles besonders in der fünften Szene, in der La Doublure sich für Pirandello hält und mit Madame Pompestan auf Ahmeds Geheiß Repliken aus Pirandellos Wer- 594 Athen lag im Krieg mit Sparta (Peloponnesischer Krieg, 431-404 v. Chr.); die attische Flotte hatte 406 v. Chr. bei den Arginusen einen Seesieg errungen, erlitt jedoch 405 v. Chr. in der Schlacht bei Aigospotamoi durch Lysandros eine Niederlage, sodass Athen belagert wurde und schließlich im Jahre 404 v. Chr. kapitulieren musste. 316 ken, u.a. La signora Morli, una e due, Pensaci Giacomino, L’imbecille, Come tu mi vuoi, Enrico IV und I giganti della montagna rezitiert. Der Chor der Riesen der Berge im vierten Teil der Tétralogie d’Ahmed, der an Figuren namens Riesen vom Berge in I giganti della montagna, kunstfeindliche, technikbegeisterte Förderer großer Bauprojekte, erinnert, ist eine weitere intertextuelle Anspielung auf Pirandello: Alain Badiou: Dans la pièce de Pirandello, les Géants de la montagne sont d’obscurs ennemis du théâtre, des sortes de puissances mauvaises, dont on ne sait pas trop du reste ce qu’elles sont, puisque la pièce est inachevée. Par une sorte d’inversion, j’ai fait de ces géants le chœur des amants du théâtre, du plaidoyer lyrique pour le théâtre, de sa puissance universelle. 595 Pirandello ist in Alain Badious Drama, wie schon der Rollenwechsel seiner Figur La Doublure zeigt, eine wichtige Referenz für die Thematisierung der Rollenhaftigkeit der menschlichen Existenz und die damit einhergehende Problematik der Identität (siehe 5.8.3.5), aber auch allgemein für das Metatheater, das viele Stücke des italienischen Dichters kennzeichnet. Gibt in den Fröschen das Wohl der antiken griechischen Polis den Ausschlag, so fällt die Entscheidung für ein Triumvirat aus Brecht, Claudel und Pirandello in Les Citrouilles, um der Dekadenz des Theaters und der Kulturpolitik im ausgehenden 20. Jahrhundert entgegenzuwirken. Alain Badiou begründet die Wahl dieser drei Klassiker der Moderne mit deren Innovationspotential in thematischer, dramaturgischer und sprachlicher Hinsicht: A.B. [...] je pense que le débat Brecht/ Claudel signifie quelque chose. Avec ces deux auteurs, le siècle a été porteur d’une théâtralité épique, absolument éloignée de toute psychologie et restituant au théâtre une espèce de force d’établissement et de composition qui n’est pas celle, exactement, du rôle du personnage, de l’intrigue, mais tout autre chose. Avec, dans les deux cas, la nécessité de recourir à des dispositifs de langue novateurs. Chez Claudel, le verset… Chez Brecht, l’utilisation de la musique, de la chanson, du rythme, des techniques empruntées au montage cinématographique… Ce sont des révolutionnaires de la forme, au service d’une théâtralité dont l’enjeu est de construire sur scène les grands problèmes du devenir du monde et non pas le réseau des états d’âme. […] Je me suis dit: ‘Mais il y a, dans le siècle, un génie de la comédie mondaine qui est Pirandello.’ […] Pirandello s’est installé dans des histoires d’adultère, de famille… Simplement, il injecte, à la comédie mondaine, une espèce de métaphysique particulière qui fait qu’au lieu de rester ce que c’est, cela devient une espèce de piège, de chausse-trappe, d’angoisse du sujet, de problématique de l’identité vacillante. […] Je me suis dit: ‚À prendre la première moitié du siècle jusqu’aux années cinquante, Claudel-Pirandello-Brecht, c’est un trio solide, un trio incontestable qui, de toute évidence, fait maintenant répertoire. Ce sont les grands classiques de l’époque.’ 596 595 Alain Badiou in einer E-Mail an mich vom 02.03.02. 596 Badiou/ Boiron 1996: 57. 317 5.8.3.4 Formen des episierenden Metatheaters in der Tétralogie d’Ahmed Episierende Formen der dramatischen Selbstreflexion finden sich in allen Teilen der Tétralogie d’Ahmed. Die Hauptfigur, der facettenreiche Ahmed, ist eine Dramenfigur, die wie ein Regisseur, ein Spielleiter operiert. In Ahmed le Subtil spielt er die klassische Rolle des Intriganten, des meneur de jeu, der das dramatische Geschehen steuert. Seine Regie bezieht sich nicht nur auf die Intrige, er gibt den anderen dramatischen Personen auch konkrete Anweisungen zu ihrem Spiel, wie z.B. Antoine, dessen breite Darstellung der vorausgegangenen Ereignisse im ersten Akt er kritisiert: Ahmed: Tu l’as déjà dit. Abrège ta scène d’exposition, si tu veux bien. (ALS, 12). Zu Beginn des Stückes Ahmed philosophe bittet Ahmed Moustache, ihn dem Publikum vorzustellen und durchbricht so die „vierte Wand“: Ahmed: Mon cher Moustache, dis-leur un peu qui je suis, moi, Ahmed. (APH, 12). Im dritten Teil der Tetralogie, Ahmed se fâche, gibt Ahmed aus dem Zuschauerraum den spielimmanenten Zuschauern und den anderen Theaterfiguren Hinweise und verlangt, als das Stück nicht nach seinen Vorstellungen gespielt wird, ähnlich einem strengen Regisseur, dass die Schauspieler von vorn beginnen: Ahmed: [...] Recommençons! J’avais tort de ne pas avouer plus tôt que j’étais le maître du théâtre. Recommençons! Lumières, décor, musique! On reprend! (ASF, 116). Er hat gegen verschiedene Widerstände zu kämpfen wie z.B. gegen sein Spiegelbild La Doublure, das ihm die Regie aus der Hand zu nehmen versucht, oder die Schauspielerin Elizabeth, die unvorhergesehen Verse von Aischylos deklamiert: Ahmed: [...] À Camille. Tu reconnais pas? C’est Elizabeth Chaminade. Elle récite Eschyle. Elle s’est gourée de pièce. Camille: Quel carnaval! Qu’est-ce qu’il fout aujourd’hui, le régisseur? Il pouvait pas barrer la route à ce fantôme? Ahmed: On va enchaîner, mine de rien. (ASF, 144). Dieser Blick hinter die Kulissen bricht die Illusion und verdeutlicht den Artefaktcharakter des Theaterstücks. Verstärkt wird Ahmeds Spielleiterfunktion durch seine Improvisationen und das Sprechen ad spectatores, d.h. das Spielen mit dem Publikum. Die Publikumsadresse ist eine Grundstruktur des Dramas Ahmed philosophe. Gleich die erste Szene zeigt dies in den Regieanweisungen und im Dialog: 318 Ahmed monte sur la scène, et pointe, menaçant, son bâton sur les spectateurs. Ahmed: Qu’est-ce que vous regardez là? Il n’y a rien là. Moi, Ahmed, je ne suis absolument rien. Superlativement rien. (APH, 11). Ähnliche Kommunikationssituationen ergeben sich zu Beginn fast jeder Szene, was sich daraus erklärt, dass dieses Stück ursprünglich für Kinder 597 konzipiert war und bei der Arbeit 598 mit den Schauspielern der Comédie de Reims und mit Schiaretti entstand. Alain Badiou bezeichnet Ahmed als ein „personnage frontal“ 599 , das er als Sprachrohr nutzt: A.B.: Ahmed est évidemment, pour moi, un médium comme le sont, j’imagine, tous les grands personnages de théâtre pour leurs auteurs. […] La possibilité de cette adresse au public très frontale, très immédiate, très physique, fait qu’on peut faire dire à Ahmed tout ce que l’on a envie que le théâtre dise, tout ce que l’on pense que le théâtre est en état de dire. 600 Eine weitere Form des episierenden Metatheaters, mit der Badiou an die Tradition der Antike und an das epische Theater anknüpft, ist der Chor, der in Les Citrouilles eine wichtige kommentierende Funktion übernimmt. Drei verschiedene Chöre begegnen Ahmed und seinem Gefolge auf ihrer Reise in die Unterwelt: der Chor der Arbeiter des Theaters, der Chor der Kürbisse der Kultur und der Chor der Riesen vom Berge. Der Chor der Arbeiter des Theaters führt der Kulturministerin vor Augen, welche Verantwortung sie für das Theater als Institution trägt. Der Chor der Kürbisse der Kultur, die das schlechte, kommerzielle Theater, u.a. das Boulevardtheater symbolisieren, verlangt Geld von ihr und macht prophetische Aussagen über Madame Pompestans positive Haltung den Kürbissen gegenüber, welche sich kurz darauf auch zeigt: Les Citrouilles: Grosses productions et bell’pépettes / On aura tout par Pompestan! / On va palper des sall’de fêtes / Et r’faire partout du french cancan. / Au théâtr’on f’ra les andouilles / Dramouillassons et comédouilles. [sic] (LC, 34-35). Der Chor der Riesen vom Berge, inspiriert von Figuren aus Pirandellos letztem Stück, eröffnet mit seinem Gesang prologähnlich den dritten Akt und stellt sich den Zuschauern selbst vor: 597 Badiou 2010: 26, Préface. „Si j’ai écrit Ahmed philosophe pour les enfants, c’est que je pensais qu’au gai savoir de ce genre de ‘philosophie’ ne pouvait convenir qu’un théâtre élémentaire (au sens des éléments, l’air, le feu, l’eau), un théâtre pur.” 598 Alain Badiou: „Je crois que le théâtre écrit très souvent sur le théâtre, en particulier parce que l’expérience de l’écriture théâtrale est tout à fait singulière. J’ajoute que certaines pièces, en particulier Ahmed philosophe, ont été écrites au contact direct des improvisations, avec les comédiens de la Comédie de Reims et Schiaretti. D’où évidemment und tendance à intégrer dans l’écriture les péripeties matérielles du théâtre.” Alain Badiou in einer E-Mail an mich vom 02.03.2002. 599 Badiou/ Boiron 1996: 53. 600 Badiou/ Boiron 1996: 53. 319 Et on dit en effet que nous sommes les géants de la montagne, parce que de toutes parts nous descendons au théâtre, des ruelles et des cités, des usines et des cafés, des dortoirs et des hôtels de passe, comme si le théâtre était dans la vallée des villes. (LC, 64). Er repräsentiert das potentielle Publikum und das Nicht-Publikum, „ceux qui vont au théâtre et ceux qui n’y vont pas“ (LC, 65). Der Chorführer des Chores der Riesen vom Berge äußert seine Kritik am zeitgenössischen Theater und seine Idealvorstellung von der Funktion des Theaters am Schluss der ersten Szene des dritten Akts in einer Parabase: Le Coryphée: [...] Le théâtre ne devrait-il pas être une école de courage? Une proposition magnifique? Une certitude d’agrandissement? Est-il juste qu’il soit le reflet déconfit, le morose miroir, de ce que déjà nous savons et expérimentons dans nos vies incertaines? […] Et le théâtre s’adresse à la pensée des gens, non comme à des nains qui consomment des friandises, ou ne veulent que gérer leur similitude à tout autre, mais comme à des géants que l’artifice et l’artisanat du théâtre dilatent et excèdent […]. Que le théâtre parle aux gens vivants d’ici, sans distinction, sans restriction. (LC, 64-65). Diese Parabase, die an jene des Chorführers in Aristophanes’ Komödie Die Frösche (II, 6) erinnert, ist eine Ansprache an das Publikum, in welcher der Koryphäe für ein théâtre d’art und ein théâtre de la pensée plädiert, das sich vom kommerziellen Theater der Kürbisse der Kultur abhebt und allen Bevölkerungsschichten offen steht. Er formuliert die Forderung nach einer Änderung der passiven Rezeptionshaltung der Zuschauer: Le Coryphée: Changeons nos façons d’agir! Ne soyons pas au théâtre comme dans l’arrière-cour d’une ville dévastée! Méditions dans le rire, suscitons dans la tristesse, levons-nous dans le sérieux de la farce… (LC, 65). Geht es in der Parabase des Prätextes Die Frösche um die politische und gesellschaftliche Situation der attischen Polis, so reflektiert der Chorführer in Badious Drama Les Citrouilles über einen Ausweg aus der Krise des französischen Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts. Während des Dichterstreits beurteilt der Chor der Riesen vom Berge wie der Chor in den Fröschen (z.B. IV, 2 und IV, 4) die Leistungen der Kontrahenten und kommentiert das Geschehen reportagenartig, wodurch eine Distanz zum Spiel der übrigen Figuren erzeugt wird. Zum Schluss wendet er sich in einer Art Epilog direkt an die Zuschauer mit der Aufforderung, auf der Erde die Rolle der Riesen vom Berge, d.h. eines kritischen und anspruchsvollen Theaterpublikums, zu übernehmen: Le Coryphée: Vous tous, spectateurs, pensez à ce combat, Et soyez sur la terre les géants de la montagne. Pas des nains qu’on engraisse. Pas des moutons de la mode façonnée. Mais vous-mêmes, capables de voir et de penser ce qui est vu. Découvrez en vous votre propre exigence! (LC, 107). 320 Die Vielfalt der episierenden metatheatralen Formen in seinem Ahmed- Zyklus ergibt sich Alain Badiou zufolge aus dem „rapport discipliné et frontal que la farce impose entre la scène et la salle“ 601 . Die Interaktion zwischen den Figuren auf der Bühne und dem Publikum ist intendiert und entspricht Badious Theaterkonzeption, die wie bei Denis Guénoun auf der Idee eines théâtre adressé au public basiert, das die traditionellen Formen der Aktivierung und der Einbeziehung der Zuschauer in das dramatische Geschehen wiederbeleben soll. 5.8.3.5 Formen des figuralen Metatheaters in der Tétralogie d’Ahmed Die Dramenfigur Ahmed ist gekennzeichnet durch das Doppelspiel, die Aufspaltung einer Persönlichkeit in mehrere Facetten. Dieser multiplen Struktur seiner Persönlichkeit ist Ahmed sich durchaus bewusst: Ahmed: Qui suis-je? Xanthias ou Scapin? Sganarelle et Arlequin? Figaro. Je suis Ahmed. Et vous croyez que je vais mourir? Jamais ici, en tout cas… Car je suis, ici, le corps immortel des vérités successives. Ahmed, seul en ce monde, est du bois (Il montre son masque.) dont se font les mensonges de la vérité. (ASF, 153). In Ahmed le Subtil schlüpft Ahmed zunächst in die Rolle Moustaches, um Antoine auf die Begegnung mit seinem Vater vorzubereiten (ALS, 17-18). Die junge Camille, die er in seine Intrige einbezieht, schminkt er und verkleidet sie als afrikanischen Cousin Fendas, der Moustache einschüchtern soll (ALS, 52-54). Später mimt Ahmed, während Madame Pompestan im Kofferraum sitzt, die Mitglieder einer Jugendbande durch ein Rollenspiel, d.h. er fingiert mehrere Sekundärrollen. Zu einer Aufspaltung seiner Persönlichkeit kommt es mit dem Erscheinen von La Doublure, seinem Alter Ego, das ihm die Regie aus der Hand nehmen will und ihm seinen Part als Ahmed streitig macht. Die Auseinandersetzung von Ahmed und La Doublure zu Beginn des Dramas Ahmed se fâche, in der beide die Rolle des Ahmed beanspruchen, zeigt diese Infragestellung der Identität des Protagonisten: La Doublure (depuis la scène): Saloperie de titulaire! C’est le titulaire! Le titulaire du rôle! Le Ahmed titulaire. Il n’a jamais supporté que je reprenne le rôle. Ahmed: C’est toi que je ne supporte pas, doublure! Qu’as-tu fait du masque, du jeu, de la rigueur du jeu? Tu n’as pas repris le rôle de Ahmed, tu l’as détruit. (ASF, 107). Dieses Double ist hartnäckig, es widersetzt sich mehreren Tötungsversuchen durch ständiges Wiederauferstehen. Erst im letzten Teil der Tetralogie gelingt es Ahmed, La Doublure auf seinen Platz zu verweisen, als seinen Hausangestellten. La Doublure übernimmt damit die Rolle von Dionysos’ 601 Badiou 2010: 12, Préface. 321 Diener Xanthias in den Fröschen. Er taucht, nachdem ihn die Kürbisse der Kultur verschlungen haben, als Double Pirandellos wieder auf, das in Pirandellozitaten spricht, und verkörpert damit einen Dramatiker, der sich mit dem Thema Identität in etlichen seiner Werke beschäftigt hat. Eine weitere Komponente der Persönlichkeit Ahmeds ist sein Dämon, den er in der Unterwelt trifft. Dieser Dämon wird laut Regieanweisung von demselben Schauspieler gespielt und symbolisiert das Innere Ahmeds, den jeune beur, der sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt. Er ist kein maître de la langue française wie Ahmed, seine Sprache ist die der Jugendlichen der Banlieue. Wie sie artikuliert er seinen Frust in einer Art Rap, der die Situation in einer Vorstadtsiedlung, die fracture sociale wiedergibt (LC, 42-43). Nicht zuletzt ist auch Scapin, den Ahmed verzweifelt in der Unterwelt sucht und schließlich in seiner Maske findet, integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit: Ahmed. [...] Cher Bertolt Brecht, sauriez-vous par hasard, vous qui furetez et complotez partout, si Scapin, le valet fourbe de Molière, est quelque part dans cet Enfer du théâtre? Tel que je vous connais, et tel que je le connais, ce subtil prolétaire devrait être de vos amis. Brecht (fixant Ahmed): Scapin? Mais c’est toi, Scapin! Il n’y a pas d’autre immortel Scapin que toi, aujourd’hui, ici et maintenant. L’immortel Scapin passe dans le mortel Ahmed. Il est dans le bois de ton masque, Scapin! (LC, 107). Die Reflexion der dramatischen Rolle, die ein Kennzeichen des figuralen Metatheaters ist, zeigt die Aktualität von Alain Badious Dramen, sie spiegelt die Situation des Menschen wider, der sich in der postmodernen Gesellschaft zunehmend nach seiner Identität fragt. 5.8.3.6 Formen des fiktionalen Metatheaters in der Tétralogie d’Ahmed Eine Form des fiktionalen Metatheaters, die Einlagerung eines Theaterstücks, das nicht auf einen real existierenden Prätext zurückgeht, zeigt sich innerhalb der Tetralogie in dem Drama Ahmed se fâche. Ahmed will Camille und L’Homme-araignée durch das Vorspiel einer Tragödie (F2c) 602 und einer Komödie (F2d) beweisen, dass diese traditionellen Theatergattungen im 20. Jahrhundert noch lebendig sind. Auf dem Proszenium von F1 steckt Ahmed eine kleine Fläche ab, die er als spielimmanente Bühne für seine Theatereinlagen nutzt. In einem thematischen Metatheaterstück verkörpert er nun einen Regisseur, der einem Schauspieler beibringen möchte, wie er eine Tragödie zu spielen hat. Dabei übernimmt er abwechselnd den Part des Regisseurs und jenen des Schauspielers, sodass Elemente des themati- 602 Siehe 5.8.3.2. F2a ist eine Einlage aus Ahmed le Subtil, F2b ist ein Auszug aus den Eumeniden. F2a und F2b sind daher Formen des adaptiven Metatheaters. 322 schen, figuralen und fiktionalen Metatheaters zusammenwirken und die Theatralität dieser Fiktionsebene noch steigern. Camille und L’Homme-araignée, die als Zuschauer von F2c auf zwei Stühlen vor der Spielfläche sitzen, unterbrechen Ahmeds Vorstellung durch Applaus, Kritik und Kommentare und wenden sich dann desinteressiert ab, um das Spinnennetz des Spinnenmanns zu reparieren. Ahmed ist wütend wegen der Reaktion der beiden Bühnenzuschauer auf seine Tragödie und beschließt daher, die darauffolgende Komödie (F2d) ohne spielinternes Publikum zu spielen. Über die nächste Variante des Theaters im Theater, die wiederum auf keine in der Realität existierende Textvorlage verweist, erfährt man aus den Regieanweisungen, dass Ahmed eine Komödie spielt, in welcher er in einer Improvisation mehrmals vergeblich versucht, La Doublure zu töten (ASF, 133-134). Camille, die wider Willen doch Zuschauerin dieser Komödie wird, kommentiert das Geschehen von F2d aus einem Winkel der Bühne, während sie das Netz des Spinnenmanns flickt. Sie macht Ahmed darauf aufmerksam, dass sein Double noch lebt und ihn sucht. Die Komödie endet mit einem Disput zwischen Ahmed und La Doublure über das Recht, den dritten Teil des Dramas Ahmed se fâche anzukündigen: La Doublure (ressuscitant et quittant l’aire du jeu): La comédie est finie. On commence la troisième partie de Ahmed se fâche. Tu es en retard, titulaire! C’est ça, la morgue des titulaires. Toujours en retard de plusieurs répliques. […] Ahmed: C’est avec ma réplique qu’on passe au troisième mouvement de Ahmed se fâche. Et je vais me fâcher! (ASF, 133). Wie diese Repliken deutlich machen, wird das fiktionale Metatheater durch eine episierende metatheatrale Form abgeschlossen und textuell mit F1 verknüpft: die Mitteilung über das Ende von F2d und die Fortsetzung von F1. Sie offenbart das Spielbewusstsein der dramatischen Figuren, richtet sich an das reale Publikum im Zuschauerraum und hat einen desillusionierenden Effekt. 5.8.3.7 Formen des diskursiven Metatheaters in der Tétralogie d’Ahmed Formen des diskursiven Metatheaters, d.h. Theatermetaphern, -referenzen und Fachtermini des Theaters, die in der Rede der dramatischen Figuren auftreten, erscheinen in allen vier Teilen der Tetralogie. Die Frequenz der Begriffe aus der Welt des Theaters erhöht sich innerhalb des Ahmed- Zyklus vom ersten bis zum vierten Teil, denn im Laufe der Tétralogie d’Ahmed ist ein immer stärkerer Rückzug des Theaters auf sich selbst zu beobachten. So tauchen in Ahmed le Subtil, dem ersten Stück, in dem die Intrige Ahmeds und die familiären, sozialen und politischen Konflikte der Charaktere im Vordergrund stehen, noch relativ wenige Wörter aus dem semantischen Wortfeld des Theaters auf, während in den folgenden Tex- 323 ten, Ahmed philosophe und Ahmed se fâche, deren Anzahl zunimmt und in Les Citrouilles durch die Expedition der Figuren in die Theaterhölle und den Dichterwettstreit die im Vergleich höchste Frequenz erreicht. Die Theaterlexik entstammt verschiedenen Bereichen des Theaters. Zunächst fallen Gattungsbegriffe wie comédie, tragédie, farce, drame, mélodrame und vaudeville ins Auge, die auf traditionelle Gattungen des Theaters und z.T. auf die Dramen der Tétralogie d’Ahmed selbst verweisen (comédie und farce). Andere Termini beziehen sich auf den Aufbau eines Dramas, darunter prologue, exposition, scène, didascalies, interlude, intermède, péripéties, dénouement, le finale, fable. Die Struktur eines dramatischen Dialogs bezeichnen die in den Repliken des Bühnenpersonals verwendeten Ausdrücke tirades, répliques, vers, alexandrins, hexamètres dactyliques, compliments [...] dithyrambiques, le passage de l’ange du théâtre 603 . Die dramatischen Figuren charakterisieren einander als comédiens, acteurs, actrices, soubrette, personnage, doubles, mimes, choeur, coryphée und geben damit ihre eigene Fiktionalität zu erkennen. Einige Fachtermini aus der Theatertheorie wie simulacre de théâtre, distanciation, jeu distancié, épique, didactique, die u.a. zwischen Bertolt Brecht und Paul Claudel in dem Stück Les Citrouilles erörtert werden, verleihen dem metatheatralen Diskurs der Charaktere im Dichteragon einen Anflug von Wissenschaftlichkeit. Etliche Lexeme verweisen auf die Inszenierung und die Aufführung eines Dramas, so z.B. metteurs en scène, mise en scène, représentation, spectacle, soirées, matinées, lever du rideau, scène, rampe, souffleur, coulisse, ouvriers du théâtre, costumiers, costume, masque, déguisement, maquiller le faciés, acteurs, actrices, figurants, spectateur, spectatrice, public, les rangs, la salle, le critique. Sie machen dem Zuschauer bewusst, dass er sich selbst gerade in einer Aufführung befindet, die das Produkt einer Inzenierung ist. Bekannte Regisseure wie Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, Jean Vilar, Antoine Vitez, Claude Régy und Christian Schiaretti (LC, 60), der für die Uraufführung der Tétralogie d’Ahmed verantwortlich zeichnet, werden, um den Effekt der Desillusionierung noch zu steigern, zudem in der Figurenrede genannt. Hinzu kommen Wörter aus dem Theaterjargon wie plancher, les planches, révérence, trucs de théâtre, mort de théâtre, welche die Kommunikation der Theaterleute widerspiegeln. Die Sprache der Kulturadministration und der Theaterkritik wird durch Ausdrücke wie „crise du théâtre“(LC, 9), „difficultés du théâtre, [...] réformes du théâtre“ (LC, 13), „la dignité culturelle du théâtre“ (LC, 40) „mission artistique“(LC, 7), die hier wie Versatzstücke wirken, nachgeahmt. Die Namen zahlreicher Theaterautoren, die insbesondere in Les Citrouilles als Bewohner der Theaterhölle erwähnt werden, bilden eine weite- 603 Das Schweigen im Dialog wird in französischen Dramen oft durch die Formulierung Un ange passe angezeigt. 324 re semantische Kategorie des metatheatralen Diskurses der Tétralogie. Auf die griechische Antike wird durch Euripides, Sophokles, Aischylos und Aristophanes verwiesen. Die französische Klassik verkörpern Molière, Corneille und Racine, Victor Hugo vertritt das französische Theater des 19. Jahrhunderts. Calderón steht für das spanische Theater des Siglo de Oro, Shakespeare 604 für das English Renaissance Theatre. Die Moderne repräsentieren Samuel Beckett, Jean Genet, Sean O’Casey, Luigi Pirandello, Paul Claudel und Bertolt Brecht. Mit dieser Riege der Dramatiker verschiedener Theaterepochen erinnert Alain Badiou das Publikum an die glorreiche Vergangenheit des Theaters. Die Nennung der Titel bekannter Theaterstücke, die z.T. in Fragmenten zitiert werden (siehe intertextuelle Bezüge, 5.8.3.3), sowie die Anspielung auf dramatische Figuren bestimmter Dramen (z.B. le valet Matti, maître Puntila, Scapin) in der Rede der dramatischen Personen der Tétralogie unterstreicht diesen Diskurs der Erinnerung an die Theatergeschichte noch. Die theatrale Selbstbewusstheit der Figuren offenbart sich in Formulierungen wie „Fais la comédie [...]“ (ALS, 17), „Abrège ta scène d’exposition [....].“ (ALS, 12), „Ça dure le temps d’une tragédie classique en cinq actes mise en scène par Claude Régy.” (LC, 21), „jouer un rôle devant tous ces gens“ (AP, 77), „je joue le personnage d’Ahmed“(AP, 49), „Avec ton jeu sec et bêtement dirigé droit sur le public, tu ne communiques rien! ” (ASF, 109) und „Je m’avance masqué.“ (AP, 47), mit denen die Charaktere ihr Agieren auf der Bühne autoreflexiv beschreiben. Sie empfinden ihre Welt als theatralisiert und bezeichnen sie im übertragenen Sinne als „scène du monde“ (ASF, 147), d.h. als Theatrum mundi. Theatermetaphern wie „l’Enfer du théâtre“(LC, 8) , „les potirons du théâtre” (LC, 21), „le potage théâtral” (LC, 22) und „le socle prolétaire du théâtre” (LC, 29) zeigen gleichermaßen, wie sehr die Figuren Alain Badious in Kategorien des Theaters denken und sprechen. Die Dichte und die Komplexität des metatheatralen Diskurses, die sich in der Tétralogie d’Ahmed nachweisen lassen, sind insofern auch ein Gradmesser für die Intensität der Autoreferentialität dieses Dramenzyklus. 5.8.3.8 Formen des thematischen Metatheaters in der Tétralogie d’Ahmed Die Geschichte von Ahmed ist nicht zuletzt eine metatheatrale Reflexion des Theaters über das Theater, mit der Alain Badiou seine Vision des Theaters der 1990er Jahre thematisiert. Den Zustand des Theaters im ausgehenden 20. Jahrhundert beschreibt die Figur Camille im dritten Teil der Tetralogie, Ahmed se fâche, als dekadent und larmoyant: Camille: [...] Il l’a bien dit, le journaliste que tu as flingué, Bétilarion. Il n’y a plus que soupirs de fin du monde, au théâtre. Des mecs et des nanas qui marinent 604 Shakespeare wird in Badious Theaterhölle vermisst, was eventuell eine Anspielung auf die umstrittene Urheberschaft seiner Stücke ist. 325 dans leur jus. Ni tragique, ni comique, le jus. Ce monde pourri a le théâtre qu’il mérite. Le théâtre luxueux et cadavérique du feu Bétilarion.”(ASF, 126). Der Chor der Riesen vom Berge, der das Publikum und das Nicht- Publikum symbolisiert, charakterisiert das Theater in Les Citrouilles als trist, museal, zurückgezogen, rückwärtsgewandt und am Publikum nicht interessiert: Le Chœur: Est-il juste que souvent le théâtre nous traite, nous, les géants de la montagne, comme si nous étions des nains? Le théâtre attristé, replié, aussi désolé que le monde. […] Le théâtre musée, décorant son histoire, croque-mort de sa gloire, marchant, comme le monde, à reculons. (LC, 64). Der Koryphäe als Sprecher des Chors der Riesen vom Berge fordert, das Theater solle eine Schule des Mutes statt das niedergeschlagene Abbild und der morose Spiegel des Lebens der Riesen vom Berge sein. Ahmed beklagt kurz darauf die mangelnde Energie, die Weltferne und die Betonung des Dekors im théâtre contemporain: Ahmed: [...] Le théâtre, aujourd’hui, est souvent comme une petite plaine coupée de haies, un bocage, un paysage provincial et sans horizon. Ça et là fleurissent quelques vivacités, qu’on arrose, qu’on préserve. Et l’on sait partout bien faire les choses, comme le font les jardiniers consciencieux. Seulement, l’énergie fait défaut, et la proximité du monde est presque toujours perdue. Si ornés et subtils que puissent être les spectacles, ils sont comme dans un enclos potager. On les oublie comme on oublie sur l’étagère le bibelot qui fit un temps notre délectation. (LC, 105). Auf die Frage Madame Pompestans, worin die Krise des Theaters bestehe, antwortet Ahmed in Les Citrouilles mit einer botanischen Parabel, in der er von fünf Bäumen unterschiedlicher Größe, die auf einer Anhöhe in der Steigung hintereinander stehen, spricht: Der erste Baum ist der Baum der großen Dichtungen des Theaters, dahinter steht der Baum des Publikums. Es folgen der Baum der Theaterkünstler, d.h. all derer, die an der Aufführung beteiligt sind (Regisseure, Schauspieler, Bühnentechniker, Bühnenarbeiter, Kostümbildner etc.), der Baum der Finanziers und Geldgeber (Theaterdirektoren und -produzenten, Kulturfunktionäre,Vertreter der staatlichen Administration etc.) und der Baum der Theaterkritik (LC, 13-14), welche Alain Badiou in Gestalt des Kritikers Pierre Bétilarion schon in dem Drama Ahmed se fâche persifliert (siehe auch 5.8.3.2) : Ahmed: Le critique ne juge pas un spectacle, il juge l’idée que depuis toujours il s’en fait. (ASF, 113). Ist der erste Baum, „l’arbre des poèmes“ (LC, 14) gesund, groß und verzweigt, nimmt der Beobachter ausschließlich ihn wahr, wenn er die Bäume vom Fuße des Hügels aus betrachtet. In diesem Fall gibt es keine Krise. Wenn der erste Baum aber krank oder geschwächt ist oder von den ande- 326 ren Bäumen durch einen zu großen Schatten erstickt wird, wenn die Theaterstücke den Bedürfnissen der Zeit nicht mehr entsprechen, dann sieht der Betrachter nur mehr den Baum des Publikums und beginnt eine Publikumsstatistik zu erstellen. Mit spektakulären, humanitären und kinoähnlichen Produktionen versucht er, die Massen ins Theater zu ziehen, doch das Publikum widersetzt sich der Statistik. So fokussiert der Beobachter einzig noch den Baum der Theaterkünstler und entscheidet sich für bekannte, brillante Schauspieler, einen etablierten Regisseur und alte, bewährte Theatertexte, um mit den „professionnels les plus cotés du spectacle universel“ (LC, 15) konkurrieren zu können. Sind Theaterkünstler aber allein zur Schau versammelt und erfahren nicht den Einfallsreichtum der Dichtungen ihrer Zeit, sind sie im Niedergang begriffen: „L’arbre des artistes meurt à l’intérieur de son éclat superficiel.“ (LC, 15). Der Betrachter hat nun lediglich noch den „arbre financier“ (LC, 15) der Geldgeber im Blick, vertraut ihn der Marktwirtschaft an und will ihn durch die finanziellen Mittel interessierter Investoren regenerieren. Das wirkliche Theater aber hat Ahmed zufolge keinerlei Beziehung zum Kapital: Malheureusement, le théâtre n’a aucune espèce de vertu, pour ce qui est la circulation des capitaux. Le théâtre véritable est une opération matérielle de la pensée, et cette opération reste sans prix fixe, sans gains suffisants; pour tout dire, elle est gratuite. (LC, 15). Daher wird auch dieser Baum zugrunde gehen und der Beobachter erkennt nur noch den letzten Baum, den mageren und boshaften „arbre de la critique“ (LC, 15), der das Desaster konstatiert und den Tod des Theaters diagnostiziert. Ahmed setzt dieser pessimistischen Darstellung der Welt des Theaters seinen Optimismus entgegen und verlangt eine Sanierung der Bäume. Auf Brecht und Claudel setzt er seine Hoffnungen: Ahmed: Il faut replanter l’arbre des poèmes, régénérer l’arbre du public, discipliner celui des artistes du théâtre! Travail herculéen! Et c’est pourquoi nous allons voir ceux dont l’écriture a dominé le siècle théâtral, Bertolt Brecht et Paul Claudel. […] le gros tambour - Brecht de la révolution marxiste avec la trompette - Claudel de la réaction catholique, cela vous fait une fanfare du siècle à réveiller les morts. (LC, 16). Alain Badiou sieht in seiner botanischen Parabel in der unglücklichenVerkettung und in der Unausgewogenheit der Faktoren, die das Theater bestimmen und sich gegenseitig bedingen, die Krise. Er beklagt aber auch die mangelnde Vitalität und Qualität der zeitgenössischen Theatertexte und Theaterproduktionen und stimmt so in das Lamento der Theaterleute in Frankreich um die Jahrtausendwende ein. Die Kürbisse, die das kommerzielle Theater, u.a. das Boulevardtheater und damit das théâtre privé symbolisieren, stellt er als gierige, alles verschlingende Wesen dar. Rhubarbe bezeichnet sie als „Les Citrouilles de la Culture. Les potirons du théâtre, 327 celui qui est comme de la soupe.“ (LC, 21). Auf Sarah Bernhardts Anweisung singen sie das Lied der Forderung (le chant de la revendication): Les Citrouilles: Théâtrotrouille et mollasson. / Pothéâtron qui malencouille. / Dramouillassons et comédouilles. / Quêtons quêtons de la ministre / Pour boulevard des sous sinistres! / Pour vaudeville et rires gras / Pour castagnette et bla-bla-bla! / […] / Acteurs fourchus le pied devant / Actric’mam’lues pétaradant / Décors croulants de formica / Cocus banquiers et gigolettes / Employés chauves et nymphettes / Théâtre pour télé caca. (LC, 33) . Diese Darstellung des Boulevardtheaters, dessen Produktionen und Akteure hier durch Argotendungen, Reime, Wortspiele und Ausdrücke aus dem français familier ridikülisiert werden, ist parodistisch. Die Kulturministerin Madame Pompestan, die den staatlichen französischen Kulturapparat repräsentiert, lässt sich von den Kürbissen, welche von ihr Subventionen für ihr Theater, das mit dem Fernsehen kokettiert, verlangen, durchaus verführen: Madame Pompestan: J’ai bien écouté vos revendications, mes braves citrouilles de la Culture. L’audiovisuel et le théâtre doivent marcher la main dans la main. Je rendrai bientôt mes arbitrages. (LC, 35). Ahmed als Sprachrohr des Autors, der hier die französische Kulturpolitik gegenüber den théâtres privés kritisiert, warnt sie jedoch davor, den Kürbissen der Kultur Geld zuzuwenden. Er attackiert das „théâtre de pacotille“, das „théâtre vendu à la télévision“ und den „infâme boulevard privé“ (ASF, 114), d.h. die privaten Boulevardtheater. Der moderne Scapin vertritt eine idealistische Konzeption des Theaters: Ahmed: Le théâtre pense. […] Admettons que le théâtre produise des idées. Nous le pouvons! Nous avons liquidé Pierre Bétilarion, partisan du sensible mortel contre l’intellect immortel. […] Désormais la voie est libre pour que le théâtre produise des idées. (ASF, 120). Für Ahmed ist das Theater pensée und idée, d.h. Ideentheater, ebenso wie für den Philosophen Alain Badiou, der in seinen Dix thèses sur le théâtre schreibt: 1. […] Nous poserons alors que cet événement - quand il est réellement théâtre, art du théâtre - est un événement de pensée. Ce qui veut dire que l’agencement des composantes produit des idées. Ces idées - c’est un point capital - sont des idéesthéâtre. 605 Die reinste Umsetzung dieses theoretischen Postulats des Autors findet sich innerhalb der Tetralogie in dem Stück Ahmed philosophe, dessen Struktur aufeinanderfolgenden Philosophielektionen gleicht, die der Protagonist Ahmed Moustache, Rhubarbe, Fenda, Madame Pompestan und dem Publikum erteilt und in denen jeweils eine bestimmte philosophische Idee 605 Badiou 1995b: 5. 328 behandelt wird. Im Vorwort zur Gesamtausgabe seines Ahmed-Zyklus analysiert Badiou das zeitgenössische Theater, plädiert für ein „théâtre élémentaire“, ein „théâtre pur“ (Préface, 26) und erläutert seine Theaterkonzeption, mit der er sich von dem seines Erachtens morosen Theater seiner Zeit abheben will: Le théâtre, aujourd’hui, est le plus souvent lourd. Il est matériellement lourd (productions qui montrent l’argent dont elles disposent, décors d’opéra, etc.), et il est spirituellement lourd: sentiments moroses, déplorations, nihilisme triste, compassion… Cette lourdeur est à mon avis la conséquence d’une sorte de résignation générale, tout à fait extérieure à la ressource de pensée et de force que je veux au contraire typifier sur la scène. D’où la nécessité d’un théâtre certes ‘parfait’ (virtuosité des acteurs, soin infini des lumières, beauté simple du dispositif scénique, langue travaillée, rude et poétique à la fois), mais léger et pur, c’est-àdire dirgé vers l’essentiel, frontal, énergique, demandant au public son appui, par le rire, par la présence, par la concentration. Un théâtre dont la pureté mobile bouscule la morosité peureuse des opinions établies. Je voudrais que le théâtre ne soit pas un miroir, ou un double, du monde à la fois confus, frénétique et stagnant où nous entraîne la sombre dictature du profit. Qu’il soit une éclaircie, une élucidation, une incitation. 606 Leicht, rein, auf das Wesentliche konzentriert, kraftvoll, frontal, publikumsbezogen, erhellend und ein Anstoß soll das Theater nach der Vorstellung Badious sein und eine derbe und zugleich ausgefeilte poetische Sprache sprechen. Der Ahmed-Zyklus spiegelt diese Prinzipien der Theaterkonzeption des Philosophen wider. Mit seiner autoreflexiven Tétralogie d’Ahmed zieht Alain Badiou eine kritische Bilanz des Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts, sucht nach möglichen Auswegen aus der crise du théâtre, mahnt Rückbesinnung auf die Theatertradition sowie Theaterreformen an und greift dazu auf Ideen, Zitate und Techniken von Brecht, Pirandello und Claudel sowie Dramen von Molière und Aristophanes zurück. Daraus entsteht ein metatheatrales Totaltheater, das Theaterapologie und Appell an die Theaterschaffenden sowie an das Publikum ist und den Glauben an ein Fortbestehen der kulturellen Praxis des Theaters bewahrt. 5.8.4 Funktionen des polymorphen Metatheaters In Metadramen, die man als polymorphes Metatheater bezeichnen kann, bedienen sich Theaterautoren wie Yasmina Reza, Olivier Py und Alain Badiou aus dem „Werkzeugkasten“ metatheatraler Formen. Mehrere Typen des Metatheaters greifen ineinander, überlagern und ergänzen sich, sodass die Theatralität und die Selbstreflexivität dieser Stücke eine hohe Intensität erreicht. 606 Badiou 2010: 26, Préface. 329 Yasmina Reza kombiniert in ihrem Drama Une pièce espagnole vier Arten des Metatheaters, das thematische, episierende, fiktionale und diskursive Metatheater. Olivier Py arbeitet in seinen Illusions comiques mit sechs verschiedenen metatheatralen Kategorien, dem thematischen, episierenden, figuralen, fiktionalen, adaptiven und diskursiven Metatheater, ebenso wie Alain Badiou, der in seinem Dramenzyklus La Tétralogie d’Ahmed mit denselben Typen des Metatheaters spielerisch experimentiert. Yasmina Rezas Stück ist eine Studie über den Beruf, das Wesen und die Befindlichkeit des Schauspielers. Sie analysiert die Beziehung des Schauspielers zu seiner Rolle, zum Regisseur, zum Dramatiker und zum Zuschauer und zeigt ihn im Schnittpunkt der Erwartungshaltungen, die an ihn herangetragen werden. Das Problem der Abgrenzung von Rolle und Person, Schein und Sein, d.h. Schauspieler, Figur und Mensch, das in Rezas Metadrama im Vordergrund steht, ist für die Autorin auch eine existentielle Frage, denn in der gesellschaftlichen Komödie, im Theatrum mundi, spielen wir alle Theater. 607 Une pièce espagnole zeigt das Operieren des Menschen mit verschiedenen Rollen und Identitäten, die sich potenzieren. Rezas Figuren fallen aus der Rolle, „outen“ sich und gewähren einen Blick hinter die Fassade. In ihren apartés, der episierenden Metaebene F1, betrachten die anonymen Schauspieler ihre Rolle aus der Distanz und entlarven die Bühnenrealität der zweiten (pièce espagnole) und dritten Fiktionsebene (pièce bulgare) als „Theater im Theater“. Die Montagetechnik des Hin- und Herblendens zwischen den einzelnen Sequenzen der drei Fiktionsebenen, die wie eine poupée russe ineinander verschachtelt sind, erlaubt es der Autorin, die inhärente Theaterkritik des spanischen und des bulgarischen Stücks auf verschiedene Standpunkte beziehungsweise Figurenperspektiven zu verteilen. Diese polyphone und multiperspektivische Struktur wirkt antiillusionistisch und richtet sich an einen aktiven, durch filmisches Sehen geschulten Zuschauer, der solche kontinuierlichen, schnellen Fiktionsebenen- und Standpunktwechsel nachvollziehen kann. 608 Olivier Py problematisiert in seinem Metadrama Illusions comiques die Stellung des Theaterautors und des Theaters in der Gesellschaft. Vier verschiedene Typen von Dramatikern erscheinen in seiner Komödie: sein Alter Ego, der Poet Moi-Même, der sich zunächst von der Macht verführen lässt und der Illusion hingibt, mit dem Theater die Gesellschaft verändern zu können, Mon pire ennemi, der Verfechter des Bildertheaters, Le Poète mort trop tôt (alias Jean-Luc Lagarce), der den zu Lebzeiten nicht anerkannten, nach seinem Tod hochgeschätzten Theaterautor verkörpert, und Brecht, der das epische Theater repräsentiert, welches politisch und gesellschaftsverändernd wirken wollte. Mit der Figur Moi-Même, die auch in an- 607 Siehe Goffman 1969. 608 Ein Hintereinanderschalten verschiedener Figurenperspektiven kennzeichnet auch Yasmina Rezas Roman Heureux les heureux (2013). 330 deren Theatertexten Pys auftaucht, porträtiert, inszeniert und ridikülisiert Olivier Py sich selbst als Dramenautor, Poet, Regisseur und Schauspieltruppenleiter. Sein Metadrama versteht er als eine Paraphrase des Impromptu de Versailles, in dem Molière sich und seine Truppe und das Verhältnis zu seinem Mäzen, dem Sonnenkönig Ludwig XIV., darstellt. Ähnlich Molière analysiert Py die Beziehung des Bühnenautors zur Macht und zum staatlichen Kulturapparat, hier vertreten durch den französischen Staatspräsidenten, den Kulturminister und den Bürgermeister von Paris. Darüber hinaus spiegeln Pys Illusions comiques die öffentliche Kontroverse um das Text- und das Bildertheater wider, die 2005 das 59. Festival d’Avignon bestimmte. 609 Alain Badiou lässt in seinem Dramenzyklus Scapin, eine literarische Figur Molières und der Commedia dell’arte, wieder erstehen und nutzt sie als Sprachrohr. Dieser moderne Scapin ist ein junger, politisch interessierter Algerier, der sich als personnage diagonal seinen Weg durch alle sozialen Milieus bahnt und den Diskurs der Mächtigen und Einflussreichen der französischen Gesellschaft dekonstruiert. In Ahmed le Subtil ist er ein maître d’intrigues, eine Regiefigur, die in einer Banlieue gegen Rassismus und parteipolitischen Konservatismus kämpft und den Jugendlichen mit subversiven Streichen hilft, trotz politischer und familiärer Widerstände ihre Liebe zu realisieren. In dem Stück Ahmed philosophe avanciert er zum Philosophen und maître de la langue française, der Kindern und Erwachsenen Philosophielektionen erteilt und ausgewählte Begriffe der französischen Sprache kritisch durchleuchtet. Das Drama Ahmed se fâche zeigt Ahmed als maître du théâtre, Regisseur und Schauspieler, der den anderen Bühnenfiguren eine Komödie und eine Tragödie vorspielt, sich eines Theaterkritikers entledigt und gegen ihn seine Konzeption eines Ideentheaters durchsetzt. Schließlich steigt Ahmed in Les Citrouilles zum „conseiller secret“(LC, 9) der Kulturministerin Madame Pompestan auf und wird mit der Mission beauftragt, eine Expedition in die Theaterhölle zu leiten, um dort Brecht und Claudel zu konsultieren und Rezepte gegen die crise du théâtre zu finden. Badious Tetralogie gipfelt in einer Analyse der Krise des französischen Theaters der 1990er Jahre, die er mit seiner Baumparabel anschaulich beschreibt. Er beklagt die Dekadenz, Larmoyanz und Rückwärtsgewandtheit des Theaters, die mangelnde Vitalität und Qualität der zeitgenössischen Theatertexte und kritisiert die Subventionspolitik der Kulturfunktionäre gegenüber den kommerziellen Boulevardtheatern. Ein möglicher Weg aus der crise du théâtre ist nach Alain Badiou die Rückbesinnung auf die Theatertradition und das Theater dreier Klassiker der Moderne: Brecht, Claudel und Pirandello. 609 Siehe Banu/ Tackels 2005, Le Cas Avignon 2005. 331 Das Funktionspotential 610 der untersuchten polymorphen Metadramen ist, da in diesen Dramen mehrere metaisierende Verfahren zusammenwirken, größer als in anderen Metadramen. Neben der Unterhaltungsfunktion ergibt sich aus der komplexen Metaisierung in diesen Theatertexten ein ganzes Spektrum von Funktionen. Vergleicht man die Stücke Rezas, Pys und Badious, so fällt zunächst auf, dass darin eine Reflexion über verschiedene dramatische Gattungen stattfindet: Yasmina Rezas namenlose Schauspieler spielen und kommentieren ein spanisches Stück, das sie als comédie familiale (PE, 37) und drame (PE, 96) bezeichnen, ein Genre, das im Boulevardtheater sowie in Film und Fernsehen sehr verbreitet ist. Mariano charakterisiert die pièce bulgare als „sinistre“ (PE, 14), Aurelia beschreibt ihren melodramatischen Grundton und erwähnt die Vorliebe ihrer Mutter für die „choses gaies“(PE, 14). Olivier Py klassifiziert seine Illusions comiques im Vorwort als „farce, pièce satirique, comédie philosophique” (IC, 6), transformiert Molières Impromptu und zeigt in seinem Drama einen innovativen Umgang mit diesen traditionellen Theatergattungen. Seine Schauspielerfiguren fordern eine Renaissance des drame und unterhalten sich über das vaudeville, drame satyrique, drame lyrique und die Tragödie. Alain Badiou aktualisiert in seinem Ahmed-Zyklus gleich mehrere Gattungen der Theatergeschichte. Mit Ahmed le Subtil will er die Farce wiederbeleben, gemäß deren Mustern „la tromperie, le déguisement, la bastonnade, les poursuites, les fonctions naturelles (pisser, péter […]), la parodie“ 611 seine Hauptfigur agiert. Ahmed se fâche und Les Citrouilles stehen in der Tradition der Komödie, während die Sequenzen in Ahmed philosophe eine moderne Form des saynète 612 darstellen, die Badiou als „scènes très brèves qui obligent à concentrer en quelques pages la totalité d’une situation théâtrale“ 613 definiert. Auch die Figuren der Tétralogie d’Ahmed beziehen sich in ihren Repliken auf Gattungen wie comédie, tragédie, farce, mélodrame und vaudeville. Eng verbunden mit dieser Funktion der polymorphen Metadramen als Gattungsgedächtnis und Aktualisierung einer traditionellen dramatischen Gattung ist die erinnerungskulturelle Funktion, die bei Olivier Py und Alain Badiou besonders ausgeprägt ist. Olivier Py erinnert mit seinen Illu- 610 Die Funktionsanalyse orientiert sich weitgehend an den Funktionsbestimmungen von Literatur nach Gymnich/ Nünning 2005: 3-27 und an den Funktionspotentialen von Metaisierung in Hauthal/ Nadj/ Nünning/ Peters 2007: 1-21. 611 Badiou 2010: 27, Préface. 612 Pavis 2002: 313. „Saynète: [...] La sainete est, à l’origine, une courte pièce comique ou burlesque en un acte dans le théâtre espagnol classique; elle sert d’intermède (entremés) au cours des grandes pièces. [...] On emploie aujourd’hui le terme archaïsant de saynète pour toute courte pièce sans prétention, jouée par des amateurs ou des fantaisistes (gag ou sketch).“ 613 Badiou 2010: 27, Préface. 332 sions comiques an das Theater der französischen Klassik, repräsentiert durch Molière und Corneille, und an den zu früh verstorbenen Jean-Luc Lagarce, dem er mit seinem Drama einen Gedenkstein, ein literarisches Mausoleum errichten will. Alain Badiou folgt in seinen Stücken Ahmed le Subtil und Les Citrouilles dem adaptiven Prinzip der réécriture beziehungsweise Transformation eines Prätextes und verweist damit einerseits wie Py auf Molière und die französische Klassik, andererseits auf Aristophanes, einen Dichter der griechischen Antike. Ein weiterer Vertreter jener Epoche ist Aischylos, dessen Eumeniden in Ahmed se fâche als Theatereinlage auszugsweise rezitiert werden. Im letzten Teil seiner Tetralogie nutzt Badiou die dramatischen Werke Brechts, Claudels und Pirandellos als Steinbruch für den Dichteragon, indem er Zitate dieser Klassiker der Moderne als Intertexte in seinen Text montiert und so den Beitrag dieses „Triumvirats“ zur Entwicklung des Theaters im 20. Jahrhundert würdigt. Yasmina Reza spielt auf Tschechows Dramen Onkel Wanja und Die Möwe an und dokumentiert in ihrem Stück mit der pièce espagnole und der pièce bulgare, die auf französischen Bühnen gegeben werden, die Internationalität des Theaterrepertoires und der Theaterproduktionen im 21. Jahrhundert. Olivier Pys und Alain Badious polymorphe Metadramen zeugen nicht nur von der Erinnerungskultur des französischen Gegenwartstheaters, sie haben zudem eine theaterapologetische Funktion. Bei Py manifestiert sich die Theaterapologie in der Utopie einer Theatrokratie und in den 100 Definitionen des Theaters, mit welchen die Illusions comiques ausklingen. In Alain Badious „Ahmed-Chronik“ offenbart sich diese Funktion am Schluss der Komödie Ahmed se fâche im Zug aller Schauspieler zu Ehren des Theaters, in der Darstellung der Theaterhölle in Les Citrouilles und in Brechts und Claudels Dichterwettstreit, der zur Gründung des Triumvirats führt. Reza, Py und Badiou wenden in ihren Dramen metaisierende Verfahren an, die den Artefaktcharakter ihrer Stücke zeigen und stellenweise die „vierte Wand“durchbrechen. Sie haben eine illusionsstörende Funktion und richten sich an einen aktiven Zuschauer, der die Fiktionaliät des Bühnengeschehens durchschauen soll und als direkter Adressat immer wieder in das Spiel der dramatischen Figuren einbezogen wird. Zu solchen metatheatralen Techniken zählen insbesondere episierende Formen wie das ad spectatores, der Chor, die apartés und das Aus-der-Rolle-Fallen, außerdem Elemente des figuralen Metatheaters wie das Rollenspiel. Die Struktur des „Theaters im Theater“ und die Präsenz von Bühnenzuschauern, die das „Spiel im Spiel“ kommentieren, unterstreichen die antillusionistische Wirkung dieser Metadramen noch, denn sie machen dem realen Publikum seine eigene Rezeptionssituation in der Aufführung bewusst. 333 Der Rezeptionsprozess des Zuschauers wird in den hier analysierten polymorphen Metadramen von den Autoren bewusst gesteuert. Diese rezeptionslenkende Funktion der Metaisierung zeigt sich bei Reza in den apartés, welche eine autoreferentielle Theaterkritik der pièce espagnole und der pièce bulgare beinhalten. Olivier Py lässt in seinem Metadrama einige Figuren wie spielinterne Erzähler agieren, die Szenenwechsel, Auftritte der anderen dramatischen Personen sowie das Ende und die Anzahl der Akte ankündigen. Er legt seinem Protagonisten Moi-Même eine autoreflexive Kritik (IC, 74-75) der Illusions comiques in den Mund und stellt seiner modernen Farce einen Paratext (IC, 5-8) voran, in dem er den Rezipienten in sein Drama und dessen Entstehungskontext einführt. Auch Alain Badiou leitet die Gesamtausgabe seiner Tétralogie d’Ahmed mit einem Paratext, der Préface ein, in der er die Entstehung seines Dramenzyklus beschreibt, die Figuren und ihre Sprache charakterisiert und die intertextuellen Beziehungen seiner Tetralogie zu den ausgewählten Prätexten erläutert. Dramenintern lenkt der Autor die Rezeption des Publikums ähnlich Reza und Py durch episierende metatheatrale Formen wie die Regiefigur Ahmed, die Publikumsadresse, den Chor und die Parabase. Eine vernichtende selbstironische Kritik der Komödie Ahmed se fâche lässt Badiou den Theaterkritiker Bétilarion formulieren (ASF, 113-115), den Ahmed dafür symbolisch mit dem Tod bestraft. In Olivier Pys und Alain Badious Metadramen lässt sich unter anderem eine didaktische Funktion erkennen. Während sie in den Illusions comiques vor allem in den Passagen des Schauspielunterrichts und den 100 aphorismenartigen, teils philosophischen Definitionen des Theaters zutage tritt, äußert sie sich im Ahmed-Zyklus in den Philosophielektionen des Dramas Ahmed philosophe, der Publikumsadresse und dem abschließenden Appell des Chorführers an das Publikum in Les Citrouilles. Die Intention beider Autoren ist es, den Zuschauer aus seiner Passivität zu reißen und zur kritischen Reflexion über das Theater aufzufordern. Badious Komödie Les Citrouilles und Pys Illusions comiques erfüllen des Weiteren eine dokumentarische und theatergeschichtliche Funktion. Beide Autoren beziehen sich in ihren Werken intertextuell auf bedeutende Epochen der Theatergeschichte, beschreiben aber gleichzeitig theaterhistorisch relevante Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts. Olivier Py will in seinem Drama den cas Avignon 2005, d.h. die öffentliche Kontroverse um das Text- und das Bildertheater während des Festival d’Avignon, dokumentieren und literarisch verarbeiten. Alain Badious Drama zeugt von der Krise des Theaters, die in Frankreich um die Jahrtausendwende beklagt und theaterwissenschaftlich analysiert wird. 614 Reza, Py und Badiou diskutieren in ihren polymorphen Metadramen verschiedene Theaterkonzeptionen und weisen ihnen damit eine poetolo- 614 Siehe Danan/ Ryngaert (Hrsg.) 2002, L’avenir d’une crise. 334 gische beziehungsweise theaterästhetische Funktion zu. Une pièce espagnole ist eine Studie über den Schauspieler, die an Diderots Paradoxe sur le comédien erinnert. Rezas Figuren reflektieren aber nicht nur über den Status des Schauspielers, sondern auch über das zeitgenössische Theater. So zieht der Lehrer Mariano dem heutigen Theater die klassische Literatur mit ihrer stilistischen Präzision, Klarheit und Eleganz vor und kritisiert dessen Mangel an „exercice de la pensée“ (PE, Szene 23, 89). Die Konkurrenz zwischen Film und Theater, zwei Medien, mit denen Reza selbst vertraut ist, zeigt sich in der Präferenz des literarisch und philosophisch gebildeteten, ehemaligen Theatergängers Fernan für das Kino und der klischeehaften Gegenüberstellung des Filmstars Nuria und der erfolglosen Theaterschauspielerin Aurelia. Olivier Py kontrastiert in den Illusions comiques die Theaterkonzeptionen des Text- und des Bildertheaters und plädiert für ein théâtre de la parole, in dem das Wort seinen Stellenwert behält. Ihm zufolge muss das Theater sich immer wieder neu definieren, so wie er es in den 100 Definitionen der Illusions comiques und in seinen 2013 publizierten Mille et une définitions du théâtre versucht. Alain Badiou vergleicht in seiner Tetralogie die Theaterästhetik Brechts, Claudels und Pirandellos, erklärt ihre poetologischen Prinzipien zum Modell, entwirft aber zugleich seine eigene Theaterkonzeption, nach der das Theater eine Schule des Mutes, ein théâtre d’art, théâtre de la pensée und théâtre des idées sein soll, das erhellend, weltbezogen, komisch und publikumsadressiert ist und sich an einen kritischen und anspruchsvollen Zuschauer wendet. Sowohl Yasmina Reza als auch Olivier Py und Alain Badiou referieren in ihren polymorphen Metadramen augenzwinkernd auf sich selbst. Rezas spanischer Autor Olmo Panero trägt Züge der Autorin 615 , denn wie sie reist er zu den Proben seines Stücks aus dem Ausland an, um den Regisseur und die Schauspieler zu treffen, die sein Stück inszenieren. Er ist ein schweigender, sich im Hintergrund haltender Beobachter der Theaterproduktion, dessen Präsenz auf die Schauspieler jedoch nicht ohne Wirkung bleibt. Olivier Py treibt in seinen Illusions comiques die Selbstironie und die autodérision auf die Spitze, indem er den Aufstieg, den Niedergang und die Läuterung seines Alter Egos Moi-Même schildert und sich über dessen politische Ambitionen und die Illusion, die Gesellschaft durch das Theater verändern zu können, mokiert. Alain Badiou verweist im vierten Teil seiner Tetralogie auf sich als Autor des Stücks Les Citrouilles, den Spielort (Comédie de Reims) und Christian Schiaretti, den Regisseur der Inszenierung (LC, 60), bricht damit die 615 In einem Interview mit Ariane Heimbach vom 29.01.2014 äußert Yasmina Reza: „Ich könnte ja selbst alle meine Figuren sein, jede einzelne.“ Heimbach 2014: 131. 335 Illusion und betont die Autoreferentialität seines Metadramas. Reza, Py und Badiou bespiegeln sich auf diese Weise selbst, kokettieren mit dem Publikum und verewigen sich in ihren Werken. Mit ihren polymorphen Metadramen, in denen sie ein breites Spektrum an metaisierenden Verfahren einsetzen, tragen Yasmina Reza, Olivier Py und Alain Badiou dem Voyeurismus des Zuschauers, der hinter die Kulissen blicken will, Rechnung, hinterfragen die Rolle des Schauspielers, des Theaterautors und des Theaters in der Gesellschaft und verlegen wie die Autoren anderer Metadramen die Reflexion über das Theater gezielt auf die Bühne. 337 6 Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama im Kontext der Theatergeschichte Frankreichs und des Metareferential turn 6.1 Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama - eine Einordnung in die Theatergeschichte Frankreichs Das Korpus der hier behandelten Metatheatertexte umfasst die Zeit von 1948 bis 2006 und spiegelt die Geschichte des französischen Theaters seit Mitte des 20. Jahrhunderts wider. Der literarische Diskurs über das Theater, der in diesen Metadramen geführt wird, weist Parallelen zum theoretischen Diskurs der Theaterkritik, der Theaterwissenschaft und der Professionellen des Theatermilieus in dieser Epoche auf. In der von Robert Abirached herausgegebenen Theatergeschichte Le théâtre français du XX e siècle 616 betont Jean-Pierre Sarrazac, dass bereits ab Mitte der 1940er Jahre unter dem Einfluss der Rezeption Pirandellos im französischen Drama eine Tendenz zur Autoreferentialität, d.h. zum Metatheater, zu erkennen ist, die sich in einer „théâtralité avouée, affichée“ äußert: Ce n’est pas simplement le regard sur le monde du dramaturge qui change, c’est également, c’est peut-être avant tout son regard sur son art - sur le théâtre luimême. De nombreux auteurs ressentent désormais la nécessité d’interrompre le déroulement de la fiction dramatique, de déconstruire, sur la scène même, la pièce qu’ils sont en train d’écrire, de rappeler aux spectateurs qu’il s’agit bien de théâtre et non d’une fenêtre ouverte sur la réalité. Bien avant que le théâtre français, au milieu des années 1950, découvre véritablement Brecht et le brechtisme, c’est Pirandello qui a porté l’idée moderne d’une théâtralité avouée, affichée, en surimpression du déroulement de la fiction. […] c’est surtout la création de Six personnages en quête d’auteur par Pitoëff en 1923 qui va susciter une vague déferlante de pirandellisme, laquelle […] laisse derrière elle un nouveau paysage dramatique où toute fiction, toute fable théâtrale est à prendre au second degré, où le jeu ne cesse de s’insinuer dans le drame et où le théâtre dans le théâtre - menue monnaie du pirandellisme - n’en finit pas de fleurir. 617 Die für Pirandellos Werke charakteristische „distance métadramatique et métathéâtrale“ 618 kennzeichnet gemäß Sarrazac auch Sartres Drama Huis clos (1944) sowie die meisten Stücke Jean Genets seit Les Bonnes (1947). Der „vague pirandellienne” 619 ordnet Sarrazac Genet, Beckett, Adamov und Ionesco, die bedeutenden Autoren der 1950er Jahre, zu. Michel Corvin zählt zu den Nachfolgern Pirandellos außerdem Jean Anouilh, den er in 616 Abirached 2011. 617 Sarrazac 2011: 293. 618 Sarrazac 2011: 293. 619 Sarrazac 2011: 294. 338 seinem Dictionnaire du théâtre als „héritier direct de Pirandello“ 620 bezeichnet. Merkmale des Pirandellismus 621 , der das zeitgenössische Theater entscheidend beeinflusst hat, und Verweise auf Pirandello finden sich in vielen der in dieser Arbeit untersuchten Metadramen. Im Vordergrund stehen dabei das „Theater im Theater“, die Dualität von Schein und Sein und die von den Bühnenfiguren empfundene Theatralisierung ihrer Lebenswirklichkeit. So erscheint bei Jean Anouilh in La répetition ou l’amour puni (1950) das Leben als gesellschaftliche Komödie, in Samuel Becketts Fin de partie (1957) als immer wiederkehrende absurde comédie und in Eugène Ionescos Le roi se meurt (1962) als spectacle, in dem der Mensch seine Rolle bis zum Ende mit Würde zu spielen hat. Jean Genet legt in seinem Drama Les Nègres, in dem das Theater Zeremonie und Ritual ist, ähnlich Pirandello durch das théâtre dans le théâtre die Produktionsbedingungen des Theaters offen. Alain Badiou betrachtet Pirandello in Les Citrouilles neben Brecht und Claudel als einen der großen Dramatiker des 20. Jahrhunderts, auf den das Theater der 1990er Jahre, um einen Weg aus der Krise zu finden, zurückgreifen soll. Auf die vague pirandellienne folgt die „vague brechtienne“ 622 , die 1954, als das Berliner Ensemble mit Mutter Courage in Paris gastiert, einsetzt. Der Einfluss des epischen Theaters auf das französische Theater der Moderne und der Gegenwart ist prägend. Seine Auswirkungen zeigen sich in einer Tendenz zur Episierung des Dramas, die sich insbesondere in den hier analysierten Stücken des episierenden Metatheaters manifestiert: Épiciser le théâtre, ce n’est donc pas le transformer en épopée ou en roman, ni le rendre purement épique, mais y incorporer des éléments épiques au même degré qu’on y intègre traditionnellement des éléments dramatiques ou lyriques. L’épicisation (ou épisation, sur le modèle allemand Episierung) implique donc le développement du récit sans être une simple narrativisation du drame. […] Dans un théâtre épicisé, plus narratif, on introduit de la discontinuité, de la distance, des messages, de la réflexivité: devant la fable qu’on lui raconte, le spectateur doit en appeler à sa raison. 623 620 Corvin 1995: 47. 621 Jana O’Keefe Bazzoni beschreibt den Pirandellismus ausführlich: „Appearance and reality, mask and face, form and life, gaming, disguise, ambiguity, irony, the problem of identity, the nature of illusion, madness, life as a play, relativity, multiplicity of personality, the break of aesthetic distance, the participatory audience, the mirror - any one of these themes and techniques may come immediately to mind on hearing the term pirandellismo, Pirandellism. […] Virtually all of the modern theatre is post- Pirandellian in some sense, and perhaps theater since the 1960s is even more so.” O’Keefe Bazzoni 1991: 47. 622 Sarrazac 2011: 294. 623 Laurence Barbolosi/ Muriel Plana in Sarrazac (Hrsg.) 2005: 74-76. 339 Die Abkehr vom Illusionstheater, die bereits seit Pirandello zu beobachten ist, und die Hinwendung zu einem antiillusionistischen, antimimetischen Theater ist in den Dramen des episierenden Metatheaters deutlich spürbar. Mit den metatheatralen Formen Prolog, Epilog, Regiefigur, Chor und Publikumsadresse, die zum Teil schon seit der Antike bekannt sind, etablieren sie ein episch vermittelndes Kommunikationssystem, das die „vierte Wand“ durchbricht, Distanz zum Bühnengeschehen erzeugt und als kommentierende Metaebene der Dramenhandlung fungiert. Während die heterodiegetische Erzählerfigur Complice in André Roussins L’étranger au théâtre (1948) sich noch dafür entschuldigt, dass ihr Prolog nicht den üblichen Gepflogenheiten des Theaters entspreche, ist die episch vermittelnde Metaebene in den nach 1960 erschienenen episierenden Metadramen fest verankert. Prolog und Epilog dienen bei Roussin dazu, den Zuschauern die Handlung und die Intention des kunstsprachlichen Binnenspiels zu erklären und die Bedeutung des Textes für das Verständnis eines Theaterstücks herauszustellen. Einflüsse Pirandellos, Brechts und des Théâtre total sind in Michel Vinavers Metadrama Par-dessus bord (1969) zu erkennen. Die homodiegetische Regiefigur Passemar, die ein Alter Ego des Autors darstellt, lässt darin den Zuschauer an der sukzessiven Entstehung seines Theatertextes, eines work in process, teilhaben. Der generative Erzähler Reginald in Bernard Da Costas episierender Komödie Pat et Sarah ou les deux magiciennes (1991), die die Schauspielerinnen Pat Campbell und Sarah Bernhardt porträtiert, erinnert an den Stage Manager in Thornton Wilders Our Town (1938) und bedient sich der Verfahren des epischen Theaters. Hélène Cixous, „auteur ‚épique’ à la Brecht” 624 , greift in La Ville parjure ou le réveil des Érinyes (1994) auf die antike Form des Chors zurück, der als Kollektiv das dramatische Geschehen mit Ausdeutungen, Voraussagen und Rückblenden erzählend kommentiert. Evelyne Pieillers Le Grand Théâtre (2001) ist ein an die Zuschauer adressierter Monolog, in dem sich eine Schauspielerin stellvertretend für ihre Kollegen im Off an das Publikum wendet, um ihm die Gründe und Konsequenzen der Schließung des Grand Théâtre zu erklären und es mit einer Versteigerung von Requisiten zu bitten, den Schauspielern einen Neuanfang zu ermöglichen. Die narrativen Strukturen, die in die episierenden und in die polymorphen Metadramen integriert sind, sind auch Ausdruck einer Tendenz des zeitgenössischen französischen Theaters zur „romanisation de la forme dramatique“ 625 . In den 1960er Jahren entsteht ein neues Regiekonzept, die création collective, das in Frankreich bis in die 1970er Jahre hinein Erfolge feiert und vor allem in Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil, im Théâtre de l’Aquarium und im Théâtre du Campagnol praktiziert wird. 626 Diese Methode zur kol- 624 Marie-Claire Pasquier in Corvin 1995: 189. 625 Sarrazac 2011: 290. 626 Vgl. Ryngaert in Corvin 1995: 244. 340 lektiven Erarbeitung eines Theaterstücks, welche auf Improvisationen und Recherchen der Schauspieler statt auf einer zuvor fixierten Textvorlage basiert, beschreibt Patrice Pavis in seinem Dictionnaire du théâtre: Spectacle qui n’est pas signé d’une seule personne (dramaturge ou metteur en scène), mais qui a été élaboré par le groupe engagé dans l’activité théâtrale. Le texte a souvent été fixé après les improvisations lors des répétitions, chaque participant proposant des modifications. Le travail dramaturgique suit l’évolution des séances de travail ; il n’intervient dans la conception d’ensemble que par une série d’ ‘essais et d’erreurs ’. 627 Häufig wird der Text der Theaterproduktionen einer création collective gar nicht publiziert. 628 Die création collective ist Gegenstand der Reflexion in Copis fiktionalem Metadrama La nuit de Madame Lucienne (1985) und in Philippe Caubères zum figuralen Metatheater gehörenden Roman d’un acteur (1994). Copi kontrastiert die Methode der création collective, die seine Bühnenfiguren, der Bühnentechniker Miloud und die Comédienne, kritisieren und aufgrund der Improvisationen und der mangelnden Textvorlage als schwer umsetzbar empfinden, mit dem traditionellen Regiekonzept des Texttheaters, bei dem der Regisseur die Schauspieler auf der Grundlage eines literarischen Textes proben lässt. Philippe Caubère, ehemals Mitglied des Théâtre du Soleil, dokumentiert parodistisch in seinem Roman d’un acteur persönliche Erfahrungen mit der Regiearbeit Ariane Mnouchkines und der création collective bei den Theaterproduktionen 1789, 1793 und L’Âge d’or. In der Begeisterung der Theaterschaffenden für die création collective sieht Jean-Pierre Ryngaert eine der Ursachen für die Infragestellung des Autors und des literarischen Textes, die die 1970er Jahre kennzeichnet und deren Folgen bis in die 1980er Jahre im französischen Theater zu beobachten sind: En France, cet engouement fut en partie responsable d’un blocage durable des écritures nouvelles par la dénonciation des textes littéraires et des auteurs. 629 Der Status des Dramenautors gerät erheblich ins Wanken. „Auteur en péril“, „L’auteur, un statut controversé“, so charakterisiert Gérard Lieber in der Theatergeschichte Le théâtre français du XX e siècle die damalige Situation des Dramatikers: La formation de l’acteur est en pleine mutation. Dans ce théâtre qui donne la priorité au corps, au mouvement, à l’espace et à l’interaction avec le public, le rapport au texte n’est plus premier. […] Autre mutation, les metteurs en scène sont désormais au centre du dispositif de production artistique. […] L’art de la mise en scène connaît un véritable âge d’or […]. Les conséquences se font sentir 627 Pavis 2002: 74. 628 Vgl. Lieber 2011: 254. 629 Ryngaert in Corvin 1995: 244. 341 peu à peu, de façon alarmante. Les grands éditeurs de littérature générale suppriment ou mettent en sommeil leurs collections de textes de théâtre. Les parutions diminuent. Les journaux rendent compte des spectacles mais rarement des livres et des auteurs. 630 Ein weiterer Grund für die Krise des Autors und des Theatertextes ist demnach der unaufhaltsame Aufstieg des Regisseurs seit den 1970er Jahren, den der Theaterkritiker Alfred Simon in Le théâtre à bout de souffle? als „la prise du pouvoir par le metteur en scène“ 631 beschreibt. Den theoretischen Diskurs über die crise des auteurs und die Allmacht des Regisseurs reflektieren die thematischen Metadramen La Baignoire (1979) von Victor Haïm, L’Indien sous Babylone (1985) von Jean-Claude Grumberg, L’Éloignement (1987) von Loleh Bellon und Thomas B. (1989) von Jacques Kraemer, in denen jeweils ein Theaterautor erscheint. Victor Haïm zeigt einen von Angst und Selbstzweifeln geplagten Dramatiker in der Schaffenskrise, der nicht mehr an die eigene Kreativität glaubt und sich den ökonomischen Zwängen der Dramenproduktion sowie der Konkurrenz anderer theatraler Formen wie Musical, Film und Fernsehen ausgesetzt sieht. Jacques Kraemers Autor Thomas B., der an Thomas Bernhard erinnert, hat eine Schreibblockade, die sich erst löst, als er beschließt, Selbstmord zu begehen, weil er sich den Anforderungen der künstlerischen Berufung nicht gewachsen fühlt. Auch Loleh Bellons Theaterautor Charles mangelt es an Selbstbewusstsein: Nach der Generalprobe seines Stücks in Gegenwart der Freunde, Verwandten und Theaterkritiker zeigt er, wie sehr er abhängig ist von der Rezeption seines Werkes und von dem Regisseur Michel, gegen den er sich nicht durchzusetzen vermag. Jean-Claude Grumberg zeichnet in seinem Metadrama ein satirisches Porträt des Dramatikers César Bysminski, der durch den Regisseur Pierre Laval und den staatlichen Kulturapparat entmündigt wird, und ridikülisiert damit die Bedingungen der création contemporaine. Die Konkurrenz zwischen der écriture dramatique des Autors und der écriture scénique des Regisseurs, die Loleh Bellon und Jean-Claude Grumberg in ihren Dramen problematisieren, ist bis in die 1990er Jahre in der französischen Theaterszene Gegenstand der Diskussion. 632 So nennt Michel Vinaver, der 1987 im Compte rendu d’Avignon 633 die Dominanz des Regietheaters scharf kritisiert, 1988 die mise en scène eine „mise en trop“ 634 . Valère Novarina attackiert in seiner Lettre aux acteurs (1979) und insbesondere in seinem nichtdramatischen Metadrama Pour Louis de Funès (1986) ebenfalls die Regisseure, die keine auteurs de spectacle seien, und wettert gegen deren 630 Lieber 2011: 253-254. 631 Simon 1979: 42. 632 Vgl. Schmitz 2008: 220. 633 Vinaver (Hrsg.) 1987. 634 Vinaver 1988. 342 mise en poses, mise en gloses und mise en ornements. Während bekannte Regisseure wie Roger Planchon, Jean-Pierre Vincent und Patrice Chéreau mit spektakulären Klassikerinszenierungen die Aufmerksamkeit der Medien auf sich lenken, schwindet das Interesse an neueren Dramentexten und zeitgenössischen Autoren. Jean-Claude Grumberg beklagt 1996 in einem Dossier der Zeitschrift Du théâtre mit dem Titel „L’auteur et le théâtre: au cœur du drame“ das Desinteresse der Theaterprofessionellen an der écriture dramatique allgemein, den Ausschluss des Dramenautors aus dem Prozess der Theaterproduktion und dessen oft prekäre finanzielle Situation: Un auteur peut mettre des années à écrire une pièce, il travaille ‚en amont’ de la production, mais‚ ses textes étant créés en moyenne une fois tous les trois ans et pour des durées de vie limitées, il lui est difficile de vivre de sa plume’, dénonce Jean-Claude Grumberg. 635 Eine „Résurgence“ 636 des Autors und eine Rückkehr zum literarischen Text sehen die Theaterwissenschaftler jedoch bereits ab Ende der 1970er 637 bzw. Anfang der 1980er Jahre. 638 Die Figur des Theaterregisseurs steht im Mittelpunkt der Stücke Flaminal Valaire (1980) von Maurice Regnaut, Dialogue sur Minetti (1988) von Philippe Braz und La représentation (1991) von Alain Nadaud. Sie zeigen die Regiearbeit aus der Innensicht, analysieren kritisch die Beziehung zwischen Regisseur und Schauspieler und hinterfragen die gesellschaftliche Rolle des Theaterregisseurs und des Theaters am Ende des 20. Jahrhunderts. Diese thematischen Metadramen zeugen wie die genannten Theatertexte Loleh Bellons, Grumbergs und Novarinas von der Debatte um den Regisseur, die in Frankreich das 20. Jahrhundert durchzieht, welches Béatrice Picon-Vallin als „Le siècle du metteur en scène“ 639 bezeichnet. Alains Nadauds Theaterregisseur Laurent ist ein Perfektionist unter Erfolgsdruck, der der Regie den Vorrang vor dem Text gibt und bei den Proben Eindringlinge wie den Schriftsteller und eventuelle Zuschauer, die ihm als empfindlichem Künstler in die Karten schauen, nicht duldet. Die Bezie- 635 Bailloux/ Burton 1996: 62. 636 Lieber 2011: 256. 637 Floeck 1988: 35. „Die Rückkehr des Theaters zum literarischen Text seit Ende der siebziger Jahre hat bislang nicht zur Durchsetzung neuer Autoren geführt, sondern hat in erster Linie den literarischen Klassikern sowie zeitgenössischen ausländischen Dramatikern zu einer Aufwertung bzw. den Regisseuren zur Festigung ihrer Herrschaft über die Theater verholfen.“ 638 Corvin 1992: 956. „Depuis 1980 environ, et très sensiblement avec Vinaver, le texte conquiert (ou reconquiert) son autonomie et se délivre du spectacle.“ 639 Picon-Vallin 2011: 535-536. „L’histoire du metteur en scène en France se développe donc dans un climat de suspicion et de perpétuelle remise en question, à la différence d’autres pays européens où son statut sera bien plus rapidement légitimé, reconnu et honoré, et où cet art fera rapidement l’objet d’un enseignement dans les écoles de théâtre, comme celui de l’acteur et du scènographe.“ 343 hung zwischen Regisseur und Schauspieler charakterisiert Nadaud ebenso wie Braz als ein hierarchisches Verhältnis, in dem der Schauspieler vom Regisseur abhängig ist. Philippe Braz stellt den Theaterregisseur Wittegenski als weltfremden Intellektuellen dar, der für ein politisches Ideentheater plädiert, keine Stücke mehr inszeniert, sich mit Thomas Bernhards Figur Minetti und dessen bevorzugter Rolle Lear identifiziert und resigniert den Untergang des Theaters wie des eigenen Berufsstands prophezeit. Maurice Regnaut, der wie Philippe Braz und Evelyne Pieiller in seinem Metadrama auf das Theatersterben in Frankreich anspielt, stimmt in diesen Kulturpessimismus ein mit seiner psychologischen Studie über den materiellen und sozialen Abstieg des Regisseurs Flaminal, die die Arbeitslosigkeit im Theatermilieu drastisch vor Augen führt. Die Reflexion über den Schauspieler, die seit Diderots Paradoxe sur le comédien (postum 1830) und im Zuge der Entwicklung der mise en scène in den Vordergrund rückt, nimmt René Farabet zufolge in der Theatertheorie des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Platz ein: [...] au cœur des nombreuses théories théâtrales qui verront le jour au cours de notre siècle, l’acteur occupe presque toujours une place centrale. 640 So widmet Jean-Loup Rivière unter dem Titel L’art de l’acteur dem Schauspieler in der Theatergeschichte Le théâtre français au XX e siècle ein ausführliches Kapitel. 641 Viele der in dieser Arbeit analysierten Metadramen beschäftigen sich mit der Figur des Schauspielers. Valère Novarinas Metatheatertexte Lettre aux acteurs und Pour Louis de Funès wirken wie theatrale Manifeste über den Schauspieler und die Schauspielkunst, in denen der Autor sich für ein schauspielerzentriertes und auf der Körperlichkeit und Oralität der Sprache basierendes Theater einsetzt, das mit der parole experimentiert. In den thematischen Metadramen über den Schauspieler stellen die Autoren den Schauspieler in verschiedenen Phasen seiner Karriere dar, als Schauspielschüler, als Mitglied einer Schauspieltruppe und als alternden Schauspieler. Bernard da Costas psychologische Komödie Le Boomerang (1995) beschreibt die komplizierte Beziehung zwischen der Schauspiellehrerin Isabelle, einer erfolglosen alternden Schauspielerin, und ihrem Schauspielschüler Pierre. Jean-Luc Lagarce schildert in seinem Metadrama Nous les héros (1995), das von Franz Kafkas Tagebüchern inspiriert ist, das Leben einer fahrenden Schauspieltruppe Ende der 1930er Jahre in der Tschechoslowakei und verarbeitet dabei Erfahrungen mit seiner Theatertruppe Théâtre de la Roulotte. In der Komödie Le chant du crapaud (2000) zeichnet Louis-Charles Sirjacq das Porträt eines 80-jährigen Schauspielers, dem der Abschied von der Bühne schwerfällt. 640 René Farabet in Corvin 1995: 9. 641 Rivière 2011: 453-533. 344 Einblicke in die Innenwelt des Schauspielers bzw. der Schauspielerin geben auch Philippe Caubères Autofiktion Roman d’un acteur, Yasmina Rezas polymorphes Metadrama Une pièce espagnole (2004) und Enzo Cormanns figurales Metadrama Âmes sœurs (1992). Reza und Cormann problematisieren in ihren Stücken unter anderem die Konkurrenz zwischen Film und Theater. Bei Reza stehen sich eine Film- und eine Theaterschauspielerin gegenüber, bei Cormann hat die Theaterschauspielerin Margot, die mit einem Regisseur liiert ist, erst als Filmschauspielerin Erfolg. An historische Schauspielerpersönlichkeiten erinnern die Stücke Pat et Sarah ou les deux magiciennes von Bernard da Costa, Pour Louis de Funès von Valère Novarina und Frédérick ou le Boulevard du crime (1998) von Éric- Emmanuel Schmitt. Die Erinnerungskultur, die in diesen Metadramen über einige monstres sacrés, Ereignisse und Epochen der Theatergeschichte zum Ausdruck kommt, entspricht einer Tendenz zur Retrospektion des zeitgenössischen französischen Theaters, die Jean-Pierre Sarrazac beschreibt: On n’en finirait pas d’énumérer les pièces et les dispositifs dramaturgiques originaux qui […] ont pour but, depuis des décennies, de faire en sorte que le passé occupe le centre de l’intérêt dramatique - le théâtre devenant jeu avec le passé, mise en présence du passé. Désormais, la rétrospection devient une opération majeure de la composition dramatique. 642 Die nostalgische Rückschau und die Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit des Theaters kennzeichnet auch die Dramen Le Défi de Molière (1979) von Philippe Adrien, La répétition ou l’amour puni (1950) von Jean Anouilh, La Bataille de Chaillot (1991) von Serge Pauthe und Les Citrouilles (1996) von Alain Badiou. Philippe Adrien lässt das Theater des 17. Jahrhunderts, des grand siècle, wieder aufleben und setzt dem homme de théâtre Molière mit seinem adaptiven Metadrama ein literarisches Denkmal. Jean Anouilh erinnert mit seinem Stück an Marivaux, einen bedeutenden Dramatiker des 18. Jahrhunderts, der im 20. Jahrhundert von den Regisseuren neu entdeckt wird. Serge Pauthe blickt mit seinem essayistischen Metadrama auf den Schauspieler und Regisseur Jean Vilar zurück, der als Begründer des Festival d’Avignon und Direktor des Théâtre National Populaire eine mythische Gestalt der französischen Theatergeschichte ist. Alain Badiou schafft in seiner Tetralogie mit der Figur Ahmed einen modernen Scapin und bezieht sich intertextuell auf Molières Farce Les Fourberies de Scapin und Aristophanes Komödie Die Frösche. In Les Citrouilles erinnert Badiou mit der Darstellung der Theaterhölle und ihrer illustren Bewohner an bedeutende Epochen und Autoren der Theatergeschichte seit der Antike. Jean-Claude Grumberg verweist in seinem Drama Dreyfus (1974), das den Antisemitismus gegenüber einer jüdischen Amateurtheatertruppe in Polen um 1930 schildert, auf die Tradition des Jüdischen Theaters. 642 Sarrazac 2011: 292. 345 Theater wird in diesen Metadramen zum Archiv und zum Gedächtnis. Die Tendenz zur Rückschau, zur Archivierung und zur Erinnerungskultur ist umso ausgeprägter, je näher für die Autoren dieser Metatheatertexte die Jahrtausendwende rückt. Eine besondere Art der Retrospektion, die seit den 1970er und 1980er Jahren im französischen Gegenwartstheater auftritt, ist der „récit de vie“ 643 , in dem ein „dramatisches Ich“ sein Leben oder wichtige Abschnitte seines Lebens auf der Bühne meist in Form eines Monologs wiedergibt. Dieser literarische Trend zum Récit de vie, zur fiktionalen Biographie bzw. Autobiographie, zeigt sich in Serge Pauthes Text La Bataille de Chaillot und in Philippe Caubères Roman d’un acteur. Pauthe rekonstruiert in seinem Drama den Lebensweg des Schauspielers, Regisseurs und Theaterdirektors Jean Vilar, dessen Stimme er mit authentischen Texten aus Vilars Nachlass zu Gehör bringt. In seiner One-man show schildert Caubère die Lehr- und Wanderjahre seines Alter Egos, des Schauspielers Ferdinand Faure, und inszeniert, indem er im Rollenspiel alle auftretenden dramatischen Personen, Tiere, Gegenstände und meteorologischen Phänomene verkörpert, in einem elfteiligen Dramenzyklus seine autobiographie théâtrale. Merkmale einer Retrospektion weisen auch das diskursive Metadrama Théâtres (1998) von Olivier Py und das Stück Âmes sœurs von Enzo Cormann auf, in denen die Hauptfiguren rückblickend Episoden aus ihrer Vergangenheit verarbeiten. Die Tendenz zum théâtre-récit und zur Dramatisierung nicht genuin dramatischer Texte (Roman, Brief, Essay etc.), welche im théâtre français contemporain festzustellen ist, offenbart sich vor allem in den hier analysierten nichtdramatischen Metatheatertexten, die man als métathéâtre-récit bezeichnen und in die Kategorien epistolares und essayistisches Metatheater einordnen kann. Denis Guénouns Lettre au directeur du théâtre (1996), Valère Novarinas zum Théâtre des paroles 644 zählende Texte Lettre aux acteurs und Pour Louis de Funès sowie Serge Pauthes Metadrama La Bataille de Chaillot wirken wie eine theatertheoretische, theaterästhetische und theaterhistorische Abhandlung, in der über das Theater reflektiert und philosophiert wird. Das Metatheater ist in diesen Theatertexten nicht mehr an eine dialogisierte dramatische Handlung mit interagierenden Bühnenfiguren gebunden, sondern manifestiert sich in den Kommunikationsformen des Briefes und des Essays. Damit spiegeln diese Metadramen auch die im französischen Gegenwartstheater von den Theaterwissenschaftlern beobachtete 643 Sarrazac 2011: 292. 644 Sarrazac 2011: 297. „Apparaît un théâtre - on le nomme quelquefois ‚Théâtre de la Parole’ - dont le sens ne tient plus à ce qu’il advient, à l’‚ensemble des actions accomplies’ (définition stricte de la fable selon Aristote […]) mais à des microconflits dans la langue.“ Novarina hat etliche seiner Texte selbst unter dem Titel Théâtre des paroles in einem Band veröffentlicht. 346 crise de la fable, crise du personnage und crise du dialogue wider. 645 Sie lassen sich daher in Anlehnung an Hans Thies Lehmann auch als Varianten des postdramatischen Theaters charakterisieren: Le postdramatique n’est ni un style, ni un genre, ni une esthétique. Le concept rassemble des pratiques théâtrales multiples et disparates dont le point commun est de considérer que ni l’action, ni les personnages au sens de caractères, ni la collision dramatique ou dialectique des valeurs, ni même des figures identifiables ne sont nécessaires pour produire du théâtre (Lehmann). 646 Gleichzeitig entsprechen die nichtdramatischen Metadramen ebenso wie die episierenden und polymorphen Metadramen der von Jean-Pierre Sarrazac beobachteten Tendenz des französischen Theaters zur hybridation und rhapsodisation 647 : Une forme dramatique de plus en plus hybride et rhapsodique - c’est-à-dire cousue d’éléments disparates - qui déborde sur les deux territoires qu’elle va coloniser: celui de l’épique, du narratif, de la description plus ou moins objective du monde; et celui de l’expression la plus subjective et la plus lyrique de l’individu. 648 In den 1990er Jahren flammt die Debatte über die crise du théâtre in Frankreich wieder auf. Dabei geht es nicht mehr nur um die Auseinandersetzung zwischen Regisseur und Dramatiker, denn inzwischen arbeiten einige Regisseure eng mit bestimmten Autoren zusammen (z.B. Ariane Mnouchkine mit Hélène Cixous, Robert Cantarella mit Philippe Minyana, Philippe Adrien mit Enzo Cormann). Außerdem gibt es eine neue Generation von Autoren, die wie Jean-Luc Lagarce und Olivier Py auteurs-metteurs en scène bzw. hommes de théâtre sind und ihre Stücke häufig selbst inszenieren. Die Suche nach bedeutenden Autoren und guten zeitgenössischen Theatertexten, die beim Publikum noch Anklang finden, beschäftigt nun die Theaterprofessionellen. So erschallt in den Medien und in der Theaterszene der Ruf „Mais où sont donc les grands auteurs d’aujourd’hui? “ 649 . Zugleich 645 Siehe die entsprechenden Stichwörter in Jean-Pierre Sarrazacs Lexique du drame moderne et contemporain, Sarrazac (Hrsg.) 2005. 646 Jean-Louis Besson in Sarrazac (Hrsg.) 2005: 169. 647 Sarrazac (Hrsg.) 2005: 19. Sarrazac definiert hier diesen von ihm entwickelten Begriff: „Le concept de rhapsodie - de pulsion rhapsodique à l’œuvre dans la forme dramatique […] s’efforce de rendre compte de cette poussée des écritures dramatiques vers la forme la plus libre (qui n’est pas l’absence de forme). Le théâtre, le drame forçant ses propres frontières, porté hors de lui-même, se débordant lui-même afin de sortir de la peau de ce ‚bel animal’ où, dès l’origine, on a voulu l’enfermer. Le théâtre, le drame regardant du côté du roman, du poème, de l’essai afin de se réaffranchir sans cesse de ce qui a toujours été sa malédiction : son statut d’art ‚canonique’. Le théâtre, le drame aspirant à devenir […] ‚a-canonique par excellence’.” 648 Sarrazac 2011: 290. 649 Bailloux/ Burton 1996: 64. 347 beklagen die Autoren den fehlenden Mut der Regisseure und der Theaterhäuser, Gegenwartsdramatik zu inszenieren. 650 Dieser Diskurs über die crise du théâtre schlägt sich auch in Denis Guénouns Lettre au directeur du théâtre (1996) und Alain Badious Metadrama Les Citrouilles (1996) nieder. Denis Guénoun kritisiert die zunehmende Monologisierung im Gegenwartstheater und plädiert für eine Rückkehr zur Publikumsadresse. Gründe für die Krise sind seines Erachtens ein Mangel an Autoren und Theatertexten, die Kraftlosigkeit des Theaters der 1990er Jahre und die finanziellen Probleme der Theaterproduktion. Einen möglichen Ausweg aus der Krise sieht er als ehemaliger Theaterdirektor in einer stärkeren Ausrichtung des Theaters an den Wünschen und Bedürfnissen des Publikums. Alain Badiou analysiert mit seiner Baumparabel ebenfalls die Krise desTheaters, beklagt die mangelnde Vitalität und Qualität der zeitgenössischen Theatertexte und Theaterproduktionen und attackiert die Subventionspolitik der staatlichen Kulturbeauftragten. Um dem französischen Theater zu einem neuen Aufbruch zu verhelfen, schlägt er in seinem Drama eine Rückbesinnung des Theaters auf das Triumvirat Brecht, Claudel und Pirandello vor. Guénoun und Badiou artikulieren in ihren Metadramen ihre Sorge um die Zukunft des Theaters und spielen bereits auf das Fernbleiben des Publikums an. Das Publikum wird in Jean-Claude Grumbergs thematischem Metadrama Sortie de théâtre (2000) über die Rezeption seines Stücks Maman revient pauvre orphelin Gegenstand der Kritik. Grumberg beschreibt darin ein konservatives, oberflächliches Abonnentenpublikum des zur Comédie Française gehörenden Théâtre du Vieux Colombier, das nur ins Theater geht, um sich zu zerstreuen und einmal auszugehen, und wenig Verständnis für Gegenwartsdramatik und ernste Themen wie den Holocaust hat. Das Fernsehen erscheint in den Gesprächen der fiktiven Zuschauer durchaus als Alternative zum Theater. Einen Längsschnitt durch den Betrieb und die Hierarchie eines Théâtre national der 1990er Jahre zeigt Michel Deutsch in seinen vier Kurzdramen Le souffleur d’Hamlet (1993), Le costume de la reine du Danemark, rendez-vous compte (1993), Totus mundus agit histrionem (1993) und Une nuit au théâtre (1993). Den Prinzipien des Théâtre du quotidien folgend, das den Alltag von Angestellten und Arbeitern schildert, lässt Deutsch in diesen thematischen Metadramen auch die kleinen Leute der Theaterwelt, die für die Theaterproduktion unentbehrlich sind, zu Wort kommen. Ihr Gegenspieler ist in Le souffleur d’Hamlet und Une nuit de théâtre ein autoritärer Theaterdirektor und Regisseur (metteur en scène directeur de théâtre), der selbst nur ein Rad in der staatlichen Kulturverwaltung ist und das geringe Interesse der Kultur- 650 Bailloux/ Burton 1996: 65. „Bon nombre de programmateurs hésitent à présenter dans leur théâtre des textes contemporains car ils pensent que c’est un risque par rapport à leur public.” 348 politiker an literarisch anspruchsvollen Theatertexten sowie deren Hang zu spektakulären publikumswirksamen Inszenierungen anprangert. Die préoccupation pour le théâtre, d.h. die Besorgnis um das Fortbestehen eines théâtre d’art, kommt in diesen Metadramen der 1990er Jahre deutlich zum Ausdruck. Das Lamento und der Kulturpessimismus der Autoren ist jedoch sicher auch im Kontext einer gewissen Endzeitstimmung um die Jahrtausendwende zu sehen, in der durch die Tendenz zur Rückschau der Verlust der kulturellen Bedeutung und der internationalen Resonanz des französischen Theaters gegenüber früheren Zeiten besonders stark empfunden wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint das französische Theater die Krise überwunden zu haben. „Crise et renouveau“ 651 , so überschreibt Gérard Lieber ein Kapitel in Le théâtre au XX e siècle, verweist auf Michel Azamas 2004 und 2005 publizierte dreibändige Anthologie des auteurs dramatiques de langue française (1950-2000) und erkennt eine „effervescence de la production dans les premières années du nouveau siècle“ 652 . Die Autoren seien präsent, würden gelesen und gespielt. „L’avenir d’une crise” 653 lautet der Titel einer Ausgabe der Zeitschrift Études théâtrales, die die Écritures dramatiques contemporaines (1980-2000) analysiert. Im Vorwort zu diesem Band beschreibt Jean-Pierre Ryngaert die Krise als Chance zum Wandel und spricht von einem „foisonnement récent des écritures“: Nous posons ici que la crise est une situation paroxystique dont on sort transformé, un passage dont il s’agit de mesurer les effets bénéfiques et les conséquences, qui ne sont pas pour autant ou nécessairement des solutions. On peut également entendre dans le titre ‚l’avenir d’une crise’ une sorte de pari optimiste sur le futur, un accueil du foisonnement récent des écritures, un rappel de l’importance des écrivains de théâtre et des poètes. 654 Die Rede vom Tod des Autors, gegen die sich auch Michel Azama mit seiner Publikation wendet, gehört offensichtlich der Vergangenheit an. Die Bemühungen zur Förderung der écriture dramatique, die mit Lucien und Micheline Attoun und ihrem Théâtre Ouvert einsetzen und seit den 1990er Jahren durch neue Theaterverlage, die lieux de résidences d’auteurs und die Unterstützung des französischen Staates verstärkt werden, der eine Aide à la création de textes dramatiques vergibt 655 , wirken sich positiv aus. 656 Autoren 651 Lieber 2011: 253. 652 Lieber 2011: 258. 653 Études théâtrales 24-25 (2002). 654 Danan/ Ryngaert (Hrsg.) 2002: 8. 655 Bis 2007 wurde dies vom Kulturministerium verwaltet, seit 2007 ist damit das Centre national du Théâtre beauftragt, das einen Pôle auteurs gegründet hat, der die Autoren unterstützt, Manuskripte in Empfang nimmt und begutachtet und seit 2011 jedes Jahr den Grand prix de littérature dramatique für einen frankophonen dramatischen Text, der im Jahr vor der Preisvergabe veröffentlicht worden ist, vergibt. Vgl. www.cnt.asso.fr/ auteurs/ presentation.cfm, 30.08.14. 656 Vgl. Schmitz 2008: 230-231. 349 wie Yasmina Reza, Éric-Emmanuel Schmitt, Olivier Py und Jean-Luc Lagarce werden zudem im Ausland rezipiert und inszeniert. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts beschäftigt die Theaterschaffenden die Veränderung der Theaterlandschaft durch den Einfluss und die Konkurrenz des Films, des Fernsehens, des Videos, der neuen Technologien, der Performance und der anderen Künste, z.B. des Tanzes und der arts plastiques. Es entsteht ein Bildertheater, das den Text und die parole erneut in Frage stellt: Tout contamine le théâtre et le théâtre contamine tout. […] Les frontières entre les arts, théâtre, danse, cirque, marionnettes, deviennent poreuses. On peut faire théâtre de tout, et partout. […] Il n’y a plus de centre de référence. On expérimente. Un théâtre d’images se développe […]. 657 Während Yasmina Reza in Une pièce espagnole (2004) die Konkurrenz zwischen Film und Theater thematisiert, verarbeitet Olivier Py in seinen Illusions comiques (2006) literarisch die Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern des Texttheaters und den Anhängern des Bildertheaters, die beim Festival d’Avignon 2005, das sich dem Visuellen und den arts plastiques stärker öffnete, zu einem Eklat führte. Py kontrastiert in seinem polymorphen Metadrama die Theaterkonzeption seines Alter Egos, des Dramatikers Moi-Même, der für ein auf dem Text basierendes théâtre d’art und théâtre de la parole plädiert, und diejenige seines Gegenspielers Mon pire ennemi, der den Akzent auf visuelle Effekte, Video und Performance setzt und auf Text und Schauspieler verzichtet. Zugleich ist Pys Metadrama eine Reflexion über die Stellung des Theaterautors und des Theaters in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Die 100 Definitionen, die das Stück Illusions comiques beschließen, greifen die durch die Konzeption des 59. Festival d’Avignon 2005 ausgelöste öffentliche Kontroverse auf und zeigen Olivier Pys Bestreben, Theater immer wieder neu zu definieren. Theater ist für ihn ein Gegenmittel gegen die société du spectacle und ein Überhandnehmen des Virtuellen. Der literarische Diskurs über das Theater, der in den Metadramen des Textkorpus dieser Arbeit geführt wird, reflektiert Tendenzen, theatertheoretische Diskurse, Produktionsbedingungen, Ereignisse und Probleme der Geschichte des Theaters in Frankreich seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist in etlichen dieser Metatheatertexte besonders seit Ende der 1970er Jahre eine zunehmend theoretische Reflexion über das Theater, den Theaterautor, den Regisseur, den Schauspieler, das Publikum, die Theaterkrise und die Geschichte des Theaters zu erkennen. Für Manfred Schmeling stellen Metadramen beziehungsweise das théâtre dans le théâtre eine Art „histoire littéraire dramatisée“ 658 dar: 657 Picon-Vallin 2011: 601. 658 Schmeling 1982: 3. 350 Le théâtre dans le théâtre constitue une sorte d’histoire littéraire à l’intérieur de l’œuvre même. Car, comme toute forme réfléchie, il comporte une critique ou un jugement sur un passé littéraire en général et sur les conditions de production et de réception du genre en particulier. 659 In diesem Sinne können die hier analysierten Metadramen in der Zusammenschau als Spiegel des theoretischen Diskurses in Frankreich über das Theater seit etwa 1950 und damit als „histoire dramatisée du théâtre“ betrachtet werden. 6.2 Metatheater im Kontext der Metaisierung in Literatur und anderen Medien Das Phänomen des Metatheaters muss im Kontext der Metaisierung gesehen werden, die seit den 1950er Jahren nicht nur die Literatur, sondern auch andere Medien erfasst. Das Metadrama ist eine von vielen Formen der Metaisierung, die auf eine „metareferentielle Wende“ in der zeitgenössischen Kultur hindeuten: Die massive Häufung und Vielfalt der Erscheinungsformen von Metaisierung und Selbstbezüglichkeit [...] in zeitgenössischer Literatur, Kunst und Medien stützt die These, dass man von einer ›metareferentiellen Wende‹ bzw. einem metareferential turn sprechen kann (vgl. Wolf 2011). 660 Den Begriff des metareferential turn definiert Werner Wolf in der Einleitung seiner Publikation The Metareferential Turn in Contemporary Arts and Media: The term ‘metareferential turn’ does not denote that the majority, let alone all, of the works/ performances of a given medium have become ’meta‘ within the past few decades (say, since the 1950s). Rather, it can only mean that the relative proportion of meta-elements within given works, elements which ultimately form ’meta-works’, has considerably increased in comparison to the average of previous times. 661 Das Metadrama ist demnach eine literarische Ausdrucksform des metareferential turn. Der Trend zur Metareferenz lässt sich durch Beispiele aus der Literatur und anderen Medien belegen. Das Metadrama ist nicht nur in Frankreich vertreten, wie die Stücke Publikumsbeschimpfung (1966) von Peter Handke, Rosencrantz and Guildenstern Are Dead (1966) von Tom Stoppard, ¡Ay Carmela! (1987) von José Sanchis Sinisterra und Der große Marsch (2011) von Wolfram Lotz zeigen. Beispiele für die metareferentielle Erzählliteratur außerhalb Frankreichs sind u.a. Mario Vargas Llosas Roman La tía Julia y el 659 Schmeling 1982: 8. 660 Nünning (Hrsg.) 5 2013: 515. Stichwort Metaisierung. 661 Wolf 2011: 7. 351 escribidor (1977), Italo Calvinos Werk Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979), Peter Handkes Nachmittag eines Schriftstellers (1987), Manuel Vásquez Montalbáns El premio (1996) und Paul Austers Travels in the Scriptorium (2006). Für die französische Metafiktion können hier stellvertretend Yasmina Rezas Roman Adam Haberberg (2003) und die Erzählung Le manuscrit trouvé à Sarcelles (1998) von Didier Daeninckx genannt werden. Adam Haberberg ist ein 47-jähriger, desillusionierter, in Paris lebender Schriftsteller, der an einer thrombose oculaire und an einem Glaukom leidet und vom Selbstzweifel geplagt ist. Mit seiner Frau, einer erfolgreichen Ingenieurin, kann er nicht konkurrieren. Sein erstes Buch wurde eher gut aufgenommen, das zweite radikal zerrissen, das letzte wurde von allen nicht beachtet, außer von dem Kritiker Théodore Onfray, der sich skeptisch fragte, wie auf wunderbare Weise das erste gelobt werden konnte. Nicht einmal seinen Kindern vermag Adam Haberberg mehr eine Geschichte zu erzählen. Er steht vor einem literarischen Fiasko, mag sein letztes Buch nicht mehr und bezeichnet sich aufgrund des Misserfolgs als raté und écrivain maudit. Er beschließt von nun an séries populaires zu schreiben. Für den erfolgreichen Schriftsteller Goncharki, der solche Serien, die man an Bahnhöfen und Kiosken verkauft, verfasst, hat er bereits als Ghostwriter einen Science-Fiction-Roman über den intergalaktischen Helden Richard Blade mit dem Titel Le Prince noir de Mea-Hor geschrieben. Es ist das einzige Buch, das Haberberg am Herzen liegt. Eine Fortsetzung dieser Tätigkeit stellt man ihm in Aussicht, doch er kann das Angebot, vier Titel pro Jahr zu schreiben, aus Krankheitsgründen nicht annehmen. Gegenüber seiner ehemaligen Schulkameradin Marie-Thérèse, die er im Jardin des Plantes wiedertrifft, äußert er resigniert: „ [...] j’ai voulu qu’on m’aime et qu’on me vante, j’ai voulu être quelqu’un, mon Dieu. [...] J’ai voulu, je ris de la formule, occuper une place dans notre temps.” (Adam Haberberg, 112). Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, verzichtet er auf seinen Stolz und will nun livres de gare schreiben. Reza porträtiert in ihrem Roman, der auch das Verhältnis zwischen Autor und Verleger bzw. Verlagswesen anspricht, einen Romancier mit hohen literarischen Ambitionen, der seinen Platz im „literarischen Feld“ und in der Gesellschaft sucht, sich aber, als er nicht reüssiert, aus ökonomischen Zwängen mit der littérature populaire arrangiert. Adam Haberberg ist ein Antiheld, der den Dramenautoren in den hier behandelten thematischen Metadramen ähnelt. In Didier Daeninckx’ Erzählung Le manuscrit trouvé à Sarcelles erscheint der arrivierte und zur Pariser Oberschicht gehörende Schriftsteller Gaston Tasson-Vasseur, Mitglied der Académie Française, dessen literarische Werke allgemein Anerkennung finden und zum Teil mit Preisen ausgezeichnet wurden. Selbst in der bekannten Literatursendung Bouillon de Culture war er schon zu Gast. Nach einem Treffen mit der Abschlussklasse einer Schule 352 im Pariser Vorort Sarcelles, den der Dichter noch nie betreten hat, lässt Gaston Tasson-Vasseur aus Versehen das Manuskript seines neuesten Romans, Parures d’automne, an dem er gerade arbeitet, in einem Taxi liegen. Eine Suchanzeige in der Zeitung Le Parisien hilft dem Autor nicht weiter. Freddy Moerdeley, ein erfolgloser Schriftsteller, dessen unfertige Manuskripte in einem Koffer seines Kellers lagern und der sich mit Zeitarbeit und Umschulungen über Wasser hält, findet Tasson-Vasseurs Manuskript zufällig in dem bewussten Taxi. Nachdem er die Suchanzeige des Académicien gelesen hat, beschließt er, aus dem Manuskript ein Plagiat mit dem Titel Le Démon de minuit zu machen. Er gibt sich als dessen Autor aus und schickt es an 141 Verlage, erhält aber nur Absagen, ehe der 142. Verlag das Buch endlich veröffentlicht. Moerdeley verkauft davon nur zehn Exemplare, der Rest landet bei seinen gescheiterten Romanprojekten im Keller, bis ein neuer Mieter seines Appartements die Bücher einem Trödelhändler übergibt, der sie einem modernen Antiquariat überlässt. Während einer literarischen Soiree der Mitglieder der Académie Française, bei der sie ihnen zugesandte Werke begutachten, schlechte aussortieren und dem Kaminfeuer überlassen, gerät Le Démon de minuit von Freddy Moerdeley in die Hände Gaston Tasson-Vasseurs. Unter den Augen seiner illustren Kollegen, die das Buch zerreißen, wirft der bekannte Schriftsteller, ohne sich als eigentlicher Autor des Romans zu erkennen zu geben, seine Parures d’automne schweigend ins Feuer. Didier Daeninckx mokiert sich in seinem metareferentiellen conte über die Académie Française und ihre Mitglieder, die sogenannten Immortels. Er charakterisiert ihren Stil als manieriert und recherché, prangert ihren intellektuellen Hochmut an und demonstriert, dass selbst ein Académicien nicht nur Erfolgsromane schreiben kann. Zugleich veranschaulicht seine Erzählung die Situation eines unbekannten Schriftstellers, der es mit seinem Manuskript, sei es auch das Plagiat eines renommierten Literaten, bei den Verlagen und auf dem literarischen Markt mehr als schwer hat. Dass die Metaisierung bis in die Gegenwart in der französischen Literatur sehr verbreitet ist, zeigt der selbstironische Roman L’Écrivain national (2014) von Serge Joncour, der Anekdoten aus dem Leben des Schriftstellers Serge schildert. Auch in der Lyrik lässt sich ein Hang zur Metaisierung, d.h. ein autoreferentieller Metadiskurs beobachten, in dem Gedichte beispielsweise auf den Dichter, den Prozess des Dichtens, auf ältere Gedichtformen oder auf die Rezeption eines Gedichts verweisen. Als Beispiele für Metalyrik können die Gedichte La chair chaude des mots (1958) von Raymond Queneau und Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs (1979) von Robert Gernhardt herangezogen werden. In Raymond Queneaus metapoetischem Sonett werden die Wörter des Gedichts wie animalische Lebewesen aus Fleisch und Blut beschrieben, 353 deren Herzschlag der Leser spüren kann und die oft, wenn sie außer Atem kommen, sterben. Wie bei einem Hund soll der Leser das Fell der Wörter streicheln und sie auf den Schoß nehmen, um sie zu beruhigen, d.h. zu zähmen, und zum Schweigen zu bringen. Das lyrische Ich, das auf die Wörter des Gedichts selbst, ihren Versfuß, ihren Klang und ihre Anordnung anspielt, wendet sich direkt an den Rezipienten und bittet ihn, diese Wörter in die Hand zu nehmen und zu sehen, wie sie gemacht sind: Prends ces mots dans tes mains et sens leurs pieds agiles Et sens leur cœur qui bat comme celui d’un chien Caresse donc leur poil pour qu’ils restent tranquilles Mets-les sur tes genoux pour qu’ils ne disent rien […] Prends ces mots dans tes mains et vois comme ils sont faits. 662 Queneau fordert mit diesem Metagedicht den Leser bzw. Hörer zu einer aktiven Rezeptionshaltung auf und durchbricht mit seiner „Rezipientenadresse“ ähnlich wie die Figuren im episierenden Metatheater die unsichtbare Wand der Fiktion des Gedichts. Robert Gernhardts selbstreflexives Sonett Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs suggeriert in seinem literaturwissenschaftlich anmutenden Titel, es handele sich um Interpretationshilfen bzw. eine Literaturkritik zur Gedichtform des Sonetts. Tatsächlich distanziert sich jedoch das lyrische Ich in diesem metalyrischen Text vom traditionellen, als zu formstreng und nicht mehr zeitgemäß empfundenen Sonett mit einer Beschimpfung in der Sprache des Substandards, die im Widerspruch zu der im Sonett üblichen hohen Stilebene steht: Sonette find ich sowas von beschissen, so eng, rigide, irgendwie nicht gut; es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut hat, heute noch so’n dumpfen Scheiß zu bauen; allein der Fakt, daß so ein Typ das tut, kann mir in echt den ganzen Tag versauen. Ich hab da eine Sperre. [...] 663 Bewusst mit der Ironie spielend verfasst Gernhardt diese „Kritik an der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs“ in Sonettform, nimmt sich dabei aber die dichterische Freiheit, mit der Tradition stilistisch und 662 Raymond Quenau: La chair chaude des mots. Das Gedicht ist in der Sammlung Le chien à la mandoline (1965) enthalten. Queneau 1965: 193-194. 663 Robert Gernhardt: Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs. In: Marquardt (Hrsg.) 1992: 54. 354 hinsichtlich des Reimschemas (hier: abab cbcb ded eaa) zu brechen und widerlegt so die beklagte Rigidität des Sonetts. Die Tendenz zur Metaisierung offenbart sich auch im kinematographischen Bereich, z.B. in den Filmen The Player (1992) von Robert Altman und Inside Hollywood (2008) von Barry Levinson, die Einblick in die Filmindustrie Hollywoods geben. Ein jüngerer Beleg für die Metaisierung im Film ist das vielfach ausgezeichnete Werk The Artist (2011) des französischen Regisseurs und Drehbuchautors Michel Hazanavicius. Der Metafilm, der in Schwarz-Weiß als Stummfilm gedreht wurde, ist eine Hommage und eine Erinnerung an die Ära des Stummfilms im Hollywood der späten 1920er Jahre. Er spielt zwischen 1927 und 1932 und zeigt den Übergang vom Stummzum Tonfilm. The Artist erzählt die Geschichte des gefeierten Stummfilmschauspielers George Valentin, Star der Kinograph Studios in Hollywood, und seiner jungen Verehrerin Peppy Miller, die, anfangs gefördert von Valentin, von der tanzenden Statistin zur bekannten Tonfilmschauspielerin avanciert. Den Tonfilm hält George Valentin für eine vorübergehende Erscheinung. Die Ankündigung seines Produzenten Al Zimmer, die Kinograph Studios würden von nun an Tonfilme drehen, bereitet ihm jedoch Albträume. Zimmer erklärt ihm, der Film brauche nun „frisches Fleisch“ und Gesichter, die sprechen. Während Valentin am Stummfilm festhält, sich von seinem Produzenten trennt, auf eigene Kosten den erfolglosen Stummfilm Tears of Love produziert und sich im Zuge des Börsencrashs von 1929 verschuldet, setzt Peppy Miller auf den Tonfilm und macht in den Kinograph Studios Karriere. Valentin, vom Publikum vergessen und dem Alkohol verfallen, verbrennt seine alten Filmrollen bis auf einen mit Peppy gedrehten Film. Dank seines Hundes entgeht er knapp einem Wohnungsbrand. Peppy, die davon erfährt und Valentin immer noch liebt, besucht ihn im Krankenhaus und nimmt den gescheiterten Stummfilmschauspieler in ihrer Villa auf. Sie verschafft ihm ohne sein Wissen durch Verhandlungen mit Al Zimmer eine Rolle in einem ihrer Filme. George Valentin, der in Peppys Villa sein bei einer Auktion versteigertes Hab und Gut entdeckt, will sich gekränkt und verzweifelt in seiner ausgebrannten Wohnung erschießen, da wird er durch Peppy, die ihm gefolgt und mit dem Wagen gegen einen Baum vor dem Haus gefahren ist, davon abgehalten. Sie berichtet ihm von der Filmrolle und überzeugt ihn trotz seiner Skepsis davon, in dem Film mit ihr in einem Stepptanz-Duo, bei dem er nicht sprechen muss, aufzutreten. Nachdem die Tanzszene, die an Fred Astaire und Ginger Rogers erinnert, im Studio gedreht ist, antwortet George Valentin auf Al Zimmers Bitte um Wiederholung nun laut „Mit Vergnügen! “ Das Thema des Aufstiegs und Falls des Künstlers, das auch einige in dieser Arbeit analysierte Metadramen behandeln, taucht hier wieder auf. The Artist zeigt, wie sehr der Künstler den technologischen, gesellschaftli- 355 chen und ökonomischen Entwicklungen seiner Zeit unterworfen ist und sich ihnen anpassen muss, um zu bestehen. Die Auswirkungen des metareferential turn sind auch im Fernsehen zu erkennen. Ein Beispiel für die Metaisierung in diesem Medium ist die vierteilige 664 Serie Lerchenberg, die 2013 anlässlich des 50. Geburtstags des Zweiten Deutschen Fernsehens auf den Kanälen ZDF und ZDFneo ausgestrahlt wurde. Die Sitcom, eine Produktion der Redaktion des Kleinen Fernsehspiels mit Sascha Hehn in der Hauptrolle, spielt im ZDF- Sendezentrum des Mainzer Stadtteils Lerchenberg. Die idealistische junge ZDF-Redakteurin Sybille Zarg, genannt Billie, die innovative, geistreiche Sendungen machen möchte, erhält von ihrer Redaktionsleiterin, Frau Dr. Wolter, die Anweisung, ihr anspruchsvolles Filmprojekt über einen Behinderten im Rollstuhl der Volontärin Judith zu überlassen und stattdessen ein Format für das Comeback des in die Jahre gekommenen Schauspielers Sascha Hehn zu finden. Zusammen sprechen Billie und Sascha Hehn bei mehreren Redaktionen vor, doch der frühere 665 Star der ZDF-Serien Schwarzwaldklinik und Traumschiff steht inzwischen beim ZDF auf der sogenannten „Giftliste“ der Künstler, mit denen der Sender nicht mehr zusammenarbeiten will. Zudem zeigt Hehn, dessen Agent kündigt, weil der Schauspieler seine Rechnungen nicht zahlt und keine Rollenangebote mehr erhält, die Allüren einer alternden Filmdiva: Nebenrollen will er nicht spielen, Nachwuchsfilme außerhalb der Prime Time lehnt er ab und in das Konzept der geplanten Sendungen redet er Billie ständig herein. Für Billies ursprüngliches Filmprojekt hat sich der Darsteller als untauglich erwiesen, weder bei „Ein Fall für zwei“ an der Seite von Wayne Carpendale noch als Fernsehkoch in der Weihnachtskochshow Du bist, was du isst! reüssiert er. Da Frau Dr. Wolter, die an eine frühere Affäre mit Sascha Hehn anknüpft, Billie auf Hehns Wunsch unter Druck setzt, versucht sie es mit einer Home- Story. Doch auch diese Doku-Soap mit dem Titel Sascha hautnah scheitert, denn der verschuldete Schauspieler, der dem Fernsehteam zunächst ein trautes Heim vorspielt, hat in Wirklichkeit keine Bleibe und kein Auto mehr und zeltet nun auf der Wiese vor dem ZDF. Entschlossen erklärt Billie der Redaktionsleiterin, sie werde mit Hehn nicht mehr zusammenarbeiten und trete das Projekt Sascha hautnah an ihre Kollegin Judith ab. Darauf wird sie degradiert: Bei der ZDF-Fastnachtsshow muss sie als rasende Reporterin im Mainzelmännchenkostüm die Lokalprominenz, darunter die heute-Moderatoren Claus Kleber und Gundula Gause, interviewen. Als Sascha Hehn in der Uniform des Traum- 664 Eine vierteilige Fortsetzung der Serie, die 2014 in der Kategorie „Unterhaltung“ für den Grimme-Preis nominiert und mit dem Bayrischen Fernsehpreis 2014 ausgezeichnet wurde, ist bereits in der Produktion. 665 Im selben Jahr, in dem die Sitcom gesendet wurde, kehrte Sascha Hehn, nun zum Kapitän aufgestiegen, in die Serie Traumschiff zurück. 356 schiffkapitäns erscheint und sich bei Billie entschuldigt, gelingt es den beiden, in letzter Minute durch das Löschen der Bänder zu verhindern, dass „der Müll“ Sascha hautnah gesendet wird. Beim Verlassen des Senders spekuliert Hehn über weitere Projekte mit Billie: eine History Show oder einen Wiedereinstieg beim Traumschiff, „natürlich nur als Kapitän“. Mit dieser metareferentiellen Sitcom, die am Originalschauplatz gedreht wurde, ridikülisiert das ZDF sich selbst und gewährt einen Blick hinter die Kulissen eines öffentlich-rechtlichen Senders, der die Konkurrenz und die Machtspiele in den Büros und den Redaktionen nicht ausspart. Bestimmte, derzeit allgemein im Fernsehen sehr verbreitete Formate des Unterhaltungsfernsehens wie Serien, Krimis, Kochshows und Doku-Soaps werden überspitzt dargestellt und hinsichtlich ihrer Qualität kritisch hinterfragt. Die Mitwirkung von Schauspielern wie Sascha Hehn und Wayne Carpendale sowie den heute-Moderatoren Claus Kleber und Gundula Gause, die in der Serie jeweils sich selbst spielen, verleiht der Serie eine Pseudorealität. Bei aller Selbstironie und Satire ist die Sitcom aber zugleich eine tragikomische Studie über den alternden Fernsehschauspieler, dem sich, wenn er einmal „ausrangiert“ ist, beim Fernsehen kaum noch Türen öffnen. Das Problem des alternden Schauspielers bzw. Künstlers, das auch im französischen Metatheater thematisiert wird, ist in diesem Medium ebenfalls Gegenstand der Reflexion. Ein Beispiel für die Metaisierung im Bereich der Musik ist das Metamusical A Chorus Line 666 (1975) in dem das Casting für ein Broadway-Musical gezeigt wird, bei dem sich die Tänzer in einem strengen Auswahlverfahren des Regisseurs und Choreographen als Tänzer, Sänger und Persönlichkeit für die Teilnahme am Musical, d.h. die endgültige Besetzung der chorus line, qualifizieren müssen. Das Musical will einen Einblick geben in die Welt des Broadways und der Tänzer, die, um einer drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen, um ein Engagement hart kämpfen müssen. Wie in etlichen der behandelten Metadramen wird hier ein Teil des Produktionsprozesses einer Inszenierung offengelegt. In der Malerei finden sich weitere Belege für die Metaisierung, die als Metamalerei bezeichnet werden. Ein bekanntes metareferentielles Gemälde ist René Magrittes Werk Les deux mystères (1966), das eine Staffelei darstellt, auf der sein Bild La trahison des images (1929) steht, rechts unterhalb von einer großen Pfeife. Auf dem berühmten Bild von 1929 ist die Pfeife und darunter der Satz Ceci n’est pas une pipe zu sehen, mit dem Magritte den Unterschied zwischen Abbild und realem Objekt hervorhebt. In Les deux 666 Das Musical entstand nach einer Idee von Michael Bennett, das Buch schrieben James Kirkwood und Nicholas Dante, die Musik stammt von Marvin Hamlisch, die Gesangstexte schrieb Edward Kleban. Das Musical entstand auf der Basis von Tonbandaufnahmen der Lebenserfahrungen der Broadway-Tänzer, die bei der Uraufführung des Musicals mitwirkten. 357 mystères, das mit der Staffelei auch auf den Malprozess anspielt, verweist der Maler interpiktorial auf sein früheres Bild, dessen Aussage er durch diesen Bild-Bild-Bezug explizit macht und verstärkt. Die Metaisierung ist, wie die zitierten Beispiele aus den literarischen Gattungen der Dramatik, Epik und Lyrik und aus anderen Medien zeigen, ein „transgenerisches und transmediales Phänomen“ 667 , das insbesondere seit den 1950er Jahren viele Bereiche der Kultur erfasst. Das Metatheater im zeitgenössischen französischen Drama erklärt sich also nicht nur aus der Theatergeschichte Frankreichs seit Mitte des 20. Jahrhunderts, sondern ist zugleich Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zur Metaisierung in den Medien. 668 Die Selbstbezüglichkeit gilt als ein Merkmal der Postmoderne, auch wenn sie bereits in literarischen Texten und anderen Medien früherer Epochen erscheint. Weitere Kennzeichen der Postmoderne, die sich in den Metadramen der vorliegenden Arbeit widerspiegeln, sind die Ironie, die Hybridisierung der Gattungen, die Intertextualität, die Auflösung oder Aufsplitterung des Subjekts, die Illusionsstörung und die Offenlegung des Konstruktbzw. Artefaktcharakters, welche die Gemachtheit und die Artifizialität eines Kunstwerks betont. In Anlehnung an Werner Wolf 669 , der Erklärungsansätze für den metareferential turn, d.h. die zunehmende Metaisierung in der Literatur und anderen Medien, formuliert, lassen sich mehrere Gründe für die Metaisierung im zeitgenössischen französischen Drama seit etwa 1950 anführen, die die Erklärung aus der Theatergeschichte Frankreichs (siehe 6.1) ergänzen. Die Metaisierung entspringt in vielen Metadramen dem Bestreben, künstlerische Produktionsprozesse und künstlerisches Schaffen für den Rezipienten transparent zu machen und so dessen „Voyeurismus“ zu befriedigen. In den neueren Metadramen erscheint die Metaisierung als inzwischen etablierte Konvention 670 . Das Metatheater ermöglicht den Autoren darüber hinaus die Problematisierung des existentiellen Gegensatzes zwischen Realität und Fiktion bzw. Sein und Schein. Die Metaisierung im zeitgenössischen französischen Theater ist auch Ausdruck eines kulturellen Krisenbewusstseins, das sich auf die Krise des Autors, die Krise des Theaters, die crise de la parole und allgemein auf die 667 Wolf 2007. 668 Dies zeigt die von Werner Wolf herausgegebene Publikation Metareference across Media. Theory and Case Studies, Wolf (Hrsg.) 2009. Die Autoren dieses Bandes nennen u.a. noch Beispiele zur Metaarchitektur, zur Metareferenz im Tanz, im Comic, in der Fotografie und in Computerspielen. Auch in der Werbung finden sich Beispiele für die Metareferenz, so z.B. in der Werbekampagne Trink was Gutes von Bionade aus dem Jahr 2011, in der Verbraucher im Werbefilm in einer Art Casting Vorschläge für mögliche Bionade-Werbespots machen. 669 Vgl. Wolf 2011: 25-39. 670 Wolf 2011: 20. 358 Krise der hohen Literatur und Kultur bezieht, welche in der Gesellschaft immer weniger verankert sind. Einer kritischen Sichtweise zufolge wird die Metaisierung als Symptom der Dekadenz einer sogenannten „literature of exhaustion“ 671 betrachtet, die unter einem Mangel an Inspiration leidet, den Vorrat an traditionellen literarischen Gestaltungsmöglichkeiten aufgezehrt hat und sich narzisstisch auf sich selbst zurückzieht. Metaisierung wird dabei als Abkehr von heteroreferentiellen Darstellungsweisen aufgrund der „Krise der Repräsentation“ und des Endes der großen Erzählungen interpretiert, die meist mit einer Entideologisierung und Entpolitisierung der Literatur einhergeht. Einige der Autoren der Metadramen diedieses Textkorpus, so z. B. Hélène Cixous, Jean-Claude Grumberg und Alain Badiou, demonstrieren mit ihren Stücken La Ville parjure, Dreyfus und Ahmed le Subtil jedoch, dass das Metatheater durchaus mit politischen Inhalten verknüpft werden kann. Unter positiven Vorzeichen erscheint die Metaisierung als Zeichen des kreativen Experimentierens und Spielens mit traditionellen Gattungsmustern, die auf innovative Weise transformiert und aktualisiert werden. Das Nachdenken des Theaters über sich selbst bietet damit auch die Chance zu einer Weiterentwicklung. Bei etlichen hier behandelten Metadramen ist die Metaisierung außerdem durch einen Hang zur Erinnerungskultur begründet, die die Erinnerung an frühere bedeutende Persönlichkeiten, Werke und Epochen des Theaters in das kulturelle Gedächtnis einschreibt. Das Phänomen der Metaisierung, das im zeitgenössischen französischen Theater, in der Literatur allgemein und in anderen Medien seit 1950 verstärkt auftritt, ist nicht zuletzt anthropologisch zu erklären, denn es ist Ausdruck einer dem Menschen eigenen Fähigkeit und Neigung zur Selbstreflexion, die ihn als „metareferential animal“ 672 ausweist. Es bleibt die Frage, an welche Zielgruppe bzw. welches Publikum sich die in dieser Arbeit untersuchten Metatheaterstücke richten. Ein Zuschauer, der nicht mit der französischen Theatergeschichte und der Theaterszene in Frankreich vertraut ist, mag schwer Zugang finden zu diesem metareferentiellen Theater. Die Stücke wenden sich daher primär an Eingeweihte, d.h. ein intellektuelles, elitäres Publikum von Theaterkennern und -liebhabern, das dem Theater treu bleibt und die Sorge um den Verlust dieser Jahrtausende alten kulturellen Praxis in einer Zeit des Umbruchs und der Entstehung neuer Medien und künstlerischer Ausdrucksformen versteht und mitträgt. 671 Barth 1967. 672 Wolf 2011: 7. 359 Literaturverzeichnis Quellen: Adrien, Philippe (1979): Le Défi de Molière. In: Théâtre, Revue-Programme Centre dramatique national de Reims 3 (1979), Reims, S. 29-156. Anicet-Bourgeois, Auguste/ Barrière, Théodore (1854): La vie d’une comédienne. Paris. Anouilh, Jean: La répétition ou l’amour puni. 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